226 36 8MB
German Pages 274 [280] Year 1998
Linguistische Arbeiten
378
Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Herbert E. Brekle, Gerhard Heibig, Hans Jürgen Heringer, Heinz Vater und Richard Wiese
Martina Penke
Die Grammatik des Agrammatismus Eine linguistische Untersuchung zu Wortstellung und Flexion bei Broca-Aphasie
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Penke, Martina: Die Grammatik des Agrammatismus : Eine linguistische Untersuchung zu Wortstellung und Rexion bei Broca-Aphasie / Martina Penke. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Linguistische Arbeiten ; 378) ISBN 3-484-30378-6
ISSN 0344-6727
D 61 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Buchbinder: Industriebuchbinderei Hugo Nädele, Nehren
Inhaltsverzeichnis Vorwort
VID
Einleitung
1
I. Agrammatismusforschung und Linguistik
5
1. Die Geschichte der Agrammatismusforschung
5
2. Autonomie, Modularität und selektive Defizite
20
3. Charakteristika des Agrammatisms
22
4. Repräsentationales oder prozedurales Defizit?
25
Π. Methode und Datenbasis der Untersuchung
29
1. Auswahl der Versuchspersonen
29
2. Spontansprachdaten
30
3. Experimentelle Untersuchungen 3.1. Kurze Charakteristik der Versuchsteilnehmer 3.2. Die experimentellen Designs 3.2.1. Elizitation 3.2.2. Eingeschränkte Satzvervollständigung 3.2.3. Nichtsprachlicher Test 3.2.4. Auswertungsverfahren
33 33 35 35 36 39 40
4. Die Nullhypothese
42
ΠΙ. Wortstellung im Agrammatisms
45
1. Die syntaktischen Phänomene 1.1. Stellung des Verbs 1.2. Besetzung des Vorfelds
49 52 55
2. Theoretische Ansätze zur Wortstellung im Agrammatismus 2.1. Verlust der Landeplätze 2.1.1 Globale Syntaxstörung 2.1.2. Reduktion auf lokale Teilstrukturen 2.2. Verlust von Spuren
60 60 61 63 67
3. Verbstellung 3.1. Bisherige Befunde 3.1.1. Kanonische Wortstellung 3.1.2. Partikelverben
75 75 75 78
VI 3.1.3. Verb-rechts-Strategie 3.1.4. Verbstellung in eingeleiteten Nebensätzen 3.2. Auswertung der Daten 3.2.1. Kanonisches SVO 3.2.2. Verbstellung und Verbflexion 3.2.3. Partikelverben 3.2.4. Verbstellung in eingeleiteten Nebensätzen 3.2.4.1. Spontansprachdaten 3.2.4.2. Experimentelle Daten 3.3. Zusammenfassung 4. Spuren 4.1. Bisherige Befunde 4.2. Vorhersagen 4.3. Auswertung der Daten 4.3.1. Spontansprachdaten 4.3.2. Elizitierte Daten 4.4. Zusammenfassung und Diskussion IV. Flexion im Agrammatisms
79 80 83 83 88 95 97 98 101 107 110 110 114 118 118 119 124 135
1 .Theoretische Ansätze zur Flexion im Agrammatismus 1.1. Ein phonologisches Defizit 1.2. Ein syntaktisches Defizit 1.3. Ein syntaktisches Defizit bei erhaltener lexikalischer Flexion 1.4. Selektive Störungen morphologischer Prozesse
136 136 139 142 146
2. Pluralflexion 2.1. Beschreibung und theoretische Erfassung 2.2. Bisherige Befunde 2.3. Auswertung der Daten 2.3.1. Spontansprachdaten 2.3.2. Elizitierte Daten 2.4. Zusammenfassung und Diskussion
151 151 154 158 158 161 166
3. Partizipflexion 3.1. Beschreibung und theoretische Erfassung 3.2. Bisherige Befunde 3.3. Auswertung der Daten 3.3.1. Spontansprachdaten 3.3.2. Elizitierte Daten 3.4. Zusammenfassung und Diskussion
171 171 174 176 176 179 182
4. Kongruenz 4.1. Kongruenz als syntaktische Relation 4.1.1. Bisherige Befunde
185 186 187
νπ 4.1.2. Auswertung der Daten 4.1.2.1. Spontansprachdaten 4.1.2.2. Experimentelle Daten 4.1.3. Zusammenfassung und Diskussion 4.2. Kongruenz in der morphologischen Realisierung 4.2.1. Bisherige Befunde 4.2.2. Auswertung der Daten 4.2.3. Zusammenfassung und Diskussion 4.3. Analyse der morphologischen Fehler 4.4. Testfall Determiniererflexion 4.4.1. Syntaktische Relation 4.4.2. Morphologische Realisierung 4.4.3. Fehleranalyse 4.5. Testfall Paradigmenorganisation nichtsprachlicher Informationen 4.6. Zusammenfassung und Diskussion
190 190 192 195 196 199 200 201 202 210 210 211 213 215 220
V.Resümee
223
Literaturverzeichnis
231
Anhang
243
A. Beschreibung der untersuchten Agrammatiker
243
B. Spontansprachdaten der untersuchten Agrammatiker 1. Auszug aus dem Spontansprachkorpus von Herrn L 2. Auszug aus dem Spontansprachkorpus von Herrn E 3. Spontansprachdaten der Versuchsperson A 4. Spontansprachdaten der Versuchsperson Β 5. Spontansprachdaten der Versuchsperson C 6. Spontansprachdaten der Versuchsperson D 7. Spontansprachdaten der Versuchsperson E 8. Spontansprachdaten der Versuchsperson F
247 248 249 251 252 253 254 255 256
C. Ergebnisse der letzten AAT-Untersuchung für die Versuchspersonen
257
D. Experimentmaterial 1. Experiment - Verbstellung in Hauptsätzen 2. Experiment - Verbstellung in Nebensätzen 3. Experiment - wÄ-Fragen 4. Experiment - Pluralflexion 5. Experiment - Partizipflexion 6. Experiment - Subjekt-Verb-Kongruenz 7. Experiment - nichtsprachliche Paradigmenorganisation
258 258 259 260 261 262 263 264
E. Vorgehen bei Bestimmung und Auswertung der Reaktionszeitdaten
266
Vorwort An dieser Stelle möchte ich all denen danken, die hilfreich und unterstützend die Fertigstellung dieser Arbeit gefördert haben. Die Probleme einer empirischen Untersuchung beginnen bei der Suche nach Versuchspersonen. Daher möchte ich denjenigen danken, die mir halfen, diese Schwierigkeit zu überwinden. Walter Huber von der RWTH Aachen stellte mir freundlicherweise die Sprachproduktionsdaten von Herrn E. zur Verfügung. Auch Josef Stachowiak und die Sprachtherapeuten der Rheinischen Landesklinik sowie Achim Winkelmann von der Lehranstalt für Logopädie in Köln leisteten wertvolle Unterstützung bei der Vermittlung aphasischer Versuchspersonen und der Bereitstellung von Untersuchungsräumen für die Durchführung der Experimente. Herr Kock und Frau Daniels vermittelten mir den Kontakt zu Aphasiker-Selbsthilfegruppen in Köln und Bonn. Klaus Fielenbach übernahm mit generalstabsmäßiger Gründlichkeit nicht nur die Organisation der Kontrollpersonen, sondern auch das Korrekturlesen dieser Arbeit. Mein besonderer Dank gilt jedoch allen Teilnehmern dieser Untersuchung für ihr Vertrauen sowie ihre Kooperationsbereitschaft und Geduld in für sie gewiß nicht immer leichten Stunden. Auch die Planung, Implementierung und statistische Auswertung der Experimente profitierte von tatkräftiger Unterstützung. Michael Niedeggen und Rainer Loose halfen mit wertvollen Hinweisen sowohl bei der Planung der Experimente als auch bei der statistischen Auswertung der Daten. Die Implementierung der Experimente übernahm Ralf Teige, der mir auch bei diversen „Computemotfallen" hilfreich zur Seite stand. Dank auch an Bettina Teige für ihre Mithilfe beim Eintippen des Experimentmaterials und an Silke Lambert für ihre Mithilfe bei der Überarbeitung dieser Arbeit. Danken möchte ich auch all denjenigen, die ein offenes Ohr für meine Fragen und Probleme hatten und mir mit fachlichem Rat zur Seite standen. Insbesondere Sonja Eisenbeiß, die mich nicht nur beständig mit wertvollen Anregungen und hilfreichen Kommentaren, sondern auch mit diversen chinesischen Nudelgerichten bedachte, bin ich zu Dank verpflichtet. Für helfende Unterstützung insbesondere bei den Frequenzauswertungen mit der CELEX-Datenbank danke ich Ingrid Sonnenstuhl-Henning. Dieter Wunderlich stellte mir nicht nur die logistische Ausstattung des Seminars für Allgemeine Sprachwissenschaft zur Verfügung, sondern unterstützte diese Arbeit auch mit wichtigen Anregungen. Dank für Anregungen und Hinweise auch an Richard Wiese, Herman Kolk und insbesondere Harald Clahsen für seine langjährige und sehr wertvolle Unterstützung, die mir nicht nur die Durchführung dieser Arbeit ermöglicht hat. Schließlich möchte ich auch Hans und Irene Penke, Frau Dr. Bröschen-Zywietz und vor allem und allen Lutz Fielenbach danken: Ihre mitfühlende und liebevolle Anteilnahme war mir eine große Unterstützung.
Dir zur Heilung und Freude werde ich erzählen. Gott soll nur dem ein langes und glückliches Leben schenken, der gut zuhört. (Rafik Schami, Erzähler der Nacht)
Die Sprache ist ein Roß, das dich in ferne Länder trägt. (Arabisches Sprichwort)
Einleitung Der Agrammatisms, eine Sprachstörung, die durch eine Schädigung des Gehirns verursacht wird, ist durch eine Vereinfachung syntaktischer Strukturen und Auslassungen bzw. Ersetzungen gebundener und freier grammatischer Elemente gekennzeichnet. Diese Beeinträchtigung syntaktischer und morphologischer Strukturen hat den Agrammatismus ins Blickfeld der Linguistik gerückt, denn es ist möglich, daß diese Störung durch eine selektive Schädigung des grammatischen Wissenssystems verursacht ist (vgl. Friederici 1984, Fanselow & Felix 1987). Zwei zentrale Fragestellungen leiten sich aus dieser Annahme für die linguistische Aphasieforschung ab: • Welche Komponenten des grammatischen Wissenssystems sind im Agrammatismus betroffen? • In welcher Weise können Daten agrammatischer Sprecher zur Entscheidung zwischen konkurrierenden linguistischen Theorien beitragen? Demgegenüber hat gerade in jüngster Zeit eine Gruppe von Erklärungsansätzen große Popularität in der Aphasieforschung erlangt, die den Agrammatismus nicht durch eine Beeinträchtigung sprachlicher Repräsentationen verursacht sehen, sondern eine Beeinträchtigung der zeitlichen Koordination der schnellen und automatischen Verarbeitungsprozesse annehmen, die bei der Sprachverarbeitung ablaufen (vgl. z.B. Haarmann & Kolk 1994, Kolk 1995, Friederici & Kilborn 1989, Friederici 1994, 1995, Zurif et al. 1993, Swinney & Zurif 1995). Da die Möglichkeit einer spezifischen selektiven Beeinträchtigung sprachlicher Repräsentationen in diesen eher psychologisch orientierten, prozeduralen Ansätzen ausgeschlossen wird, käme der Untersuchung aphasischer Defizite durch die Linguistik keine Relevanz mehr zu, denn sie könnte keinerlei Aufschlüsse über die mentale Repräsentation des grammatischen Wissenssystems mehr liefern. Die Abkehr von der linguistisch orientierten Agrammatismusforschung, die sich in diesen Ansätzen abzeichnet, erscheint jedoch aus empirischen und heuristischen Gründen verfrüht: Zum einen ist die Frage, welcher dieser Erklärungsansätze der zutreffende ist, eine empirische Frage, die zur Zeit jedoch noch nicht abschließend geklärt ist. Vielmehr wird die Kontroverse zwischen Ansätzen, die von repräsentationalen Defiziten bzw. einer zeitlichen Koordinationsstörung schneller, automatischer Sprachverarbeitungssprozesse ausgehen, gerade in jüngster Zeit wieder mit großem Engagement geführt. So enthält z.B. die im Sommer 1995 herausgekommene dreibändige Sonderausgabe der Zeitschrift Brain and Language (Nr.50) zum Agrammatismus neben einer Anzahl von Arbeiten, die ein prozedurales Defizit zur Erklärung des Agrammatismus ansetzen (vgl. z.B. Friederici 1995, Kolk 1995, Swinney & Zurif 1995, Shapiro & Nagel 1995), auch eine ganze Reihe von Beiträgen, die den Agrammatismus auf ein repräsentationales Defizit zurückführen (vgl. z.B. Grodzinsky 1995a/b,
2 Hagiwara 1995, Reznik 1995). Dementsprechend kommt Fromkin in ihrer Gesamtschau der aktuellen Erklärungsansätze in der Einleitung zu dieser Sonderausgabe zu dem Schluß: „It is not yet clear whether agrammatism is a representational or processing deficit or both, [...]" (Fromkin 1995:6) Zum anderen sprechen auch heuristische Gründe gegen ein vorschnelles Umschwenken der Agrammatismusforschung auf diese eher psychologisch orientierten, prozeduralen Erklärungsansätze. Ansätze, die repräsentationale Defizite des grammatischen Wissenssystems für den Agrammatisms verantwortlich machen, postulieren 'größere', alle Sprachmodalitäten beeinträchtigende Defizite als Ansätze, die von einer Beeinträchtigung der zeitlichen Koordination schneller, automatischer Sprachverarbeitungsprozesse ausgehen. Sie sind daher empirisch leichter zu falsifizieren. Repräsentationale Defizite des grammatischen Wissenssystems sollten dazu fuhren, daß sich die Störung in all den sprachlichen Modalitäten und Aufgabenstellungen auswirkt, die auf diese beeinträchtigte Repräsentation zugreifen (Weigl & Bierwisch 1970, Berndt & Caramazza 1981). Zeigt sich daher in einer der überprüften sprachlichen Modalitäten keine Evidenz für das Wirken der postulierten repräsentationalen Beeinträchtigung, dann kann ein repräsentationales Defizit ausgeschlossen werden. Der Weg ist dann für andere Defizittheorien frei, die gegenüber einer repräsentationalen Störung 'geringere', z.B. nur bestimmte zeitliche Verarbeitungsabläufe oder Performanzkomponenten betreffende Defizite annehmen. Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag zur Klärung der Kontroverse zwischen repräsentationalen und prozeduralen Erklärungsansätzen zum Agrammatisms leisten. Dafür sollen zum einen solche Agrammatismustheorien empirisch getestet werden, die den Agrammatisms durch eine Beeinträchtigung sprachlicher Repräsentationen verursacht sehen. Zum anderen soll auf der Basis empirischer Daten untersucht werden, inwieweit agrammatische Daten externe Evidenz für Konzeptionen der linguistischen Theoriebildung liefern können, also Einblicke in die mentale Repräsentation unseres sprachlichen Wissenssystems erlauben. Hier ist insbesondere die Aufdeckung von Defiziten relevant, die selektiv lediglich eine Funktion X nicht aber eine Funktion Y betreffen und damit Evidenz dafür liefern, daß X und Y mental unterschiedlich zu repräsentieren sind. Die Untersuchung dieser beiden Fragestellungen stützt sich dabei sowohl auf umfangreiche Spontansprachkorpora als auch auf experimentell erhobene Produktionsdaten von insgesamt elf deutschsprachigen Agrammatikern. Die Datenbasis der Untersuchung, eine Beschreibung der untersuchten Aphasiker und das methodische Vorgehen bei der empirischen Analyse sind in Teil II der Arbeit aufgeführt. Repräsentationale Beeinträchtigungen hat man vor allem für den Aufbau syntaktischer Strukturen angenommen. Der Agrammatisms soll hier dazu führen, daß vollständige normalsprachliche Phrasenstrukturen nicht mehr aufgebaut werden können (vgl. Kap. III.2.). Die postulierten Beeinträchtigungen sollten dabei insbesondere Auswirkungen auf Wortstellungsoperationen wie die Verbbewegung oder die Topikalisierung haben, denn die Bewegung von Satzkonstituenten setzt nicht nur den Aufbau vollständiger Phrasenstrukturen voraus, Start-
3 und Landeplätze bewegter Konstituenten müssen auch durch eine syntaktische Kette verbunden sein, über die z.B. Kasus an ein bewegtes Argument vergeben werden kann. Die Datenanalyse zur Verbstellung und Topikalisierung von Objekten, die in Teil III dieser Arbeit präsentiert wird, konnte jedoch keine Evidenz für qualitative Unterschiede zwischen normalsprachlichen und agrammatischen Repräsentationen erbringen. Nicht nur wurde die Verbstellung wie in der Zielsprache von der Finitheit des Verbs und dem Satztyp (eingeleitet versus nicht-eingeleitet) abhängig gemacht (vgl. Kap. III.3.), die untersuchten Agrammatiker waren auch in der Lage, Argumente zu topikalisieren und ihnen einen Objektkasus zuzuweisen (vgl. Kap. ΠΙ.4.). Diese Ergebnisse sprechen dafür, daß der Aufbau vollständiger normalsprachlicher Phrasenstrukturrepräsentationen im Agrammatismus nicht beeinträchtigt ist. Die Agrammatismustheorien, die ein entsprechendes Defizit im Agrammatismus postulieren, konnten damit als empirisch unzutreffend zurückgewiesen werden. Selektive Beeinträchtigungen einer Funktion X bei Erhalt einer Funktion Y zeigten sich in den hier analysierten Daten im Bereich der Flexionsmorphologie, die Gegenstand von Teil IV der Arbeit ist. Die Analyse von Daten zur Plural- (Kap. IV.2.), Partizip- (Kap. IV.3.) und Kongruenzflexion (Kap. IV.4.) erbrachte, daß reguläre und irreguläre Flexionsformen durch das agrammatische Defizit unterschiedlich betroffen werden können. Dieses Ergebnis liefert Evidenz für die Annahme, daß reguläre und irreguläre Flexion auf verschiedenen kognitiven Prozessen basieren. Nicht nur die selektive Störbarkeit, sondern auch die Art der auftretenden Fehler spricht dabei für dualistische Konzeptionen der Flexion, wie sie im Rahmen des DualMechanism-Modells (Pinker & Prince 1988, 1994) und des Ansatzes der Minimalistischen Morphologie (Wunderlich & Fabri 1993, Wunderlich 1996, 1997) postuliert werden. In diesen Ansätzen werden reguläre Formen durch die Anwendung regelbasierter Operationen gebildet, während irreguläre Formen als Vollformen in einer assoziativen Netzwerkstruktur gespeichert sind. Unitäre Modelle der Flexion, die von einer einheitlich regelbasierten (z.B. Halle & Mohanan 1985, Halle & Marantz 1993) oder assoziativen Repräsentation (z.B. Rumelhart & McClelland 1986) der Flexion ausgehen, können die selektive Schädigung nur einer der beiden Flexionsarten dagegen nicht erklären. Obwohl die hier durchgeführte Datenanalyse keine Evidenz für repräsentationale Defizite im Bereich des Phrasenstrukturaufbaus erbringen konnte, bestätigt die Untersuchung dennoch die Relevanz der Linguistik für die Aphasieforschung. Linguistisch basierte Analysen stellen nicht nur Beschreibungs- und Erklärungsrahmen, in denen aphasische Defizite erfaßt werden können. Die Untersuchung aphasischer Beeinträchtigungen kann auch für die linguistische Theoriebildung genutzt werden. Daten sprachgestörter Sprecher können hier zur Entscheidung zwischen konkurrierenden linguistischen Theorien beitragen und damit einen direkten Blick in unser mental repräsentiertes, sprachliches Wissenssystem ermöglichen.
Jedes Wort meines Unglücks hockt wie ein Berg auf meiner Brust. Jeder Buchstabe verwandelt sich in ein Messer. (Rafik Schami, Erzähler der Nacht)
I. Agrammatismusforschung und Linguistik Die Erforschung des Agrammatisms war lange Zeit fast ausschließlich eine Domäne der Neurologie. Erst mit der Entwicklung der Generativen Grammatik in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts rückte die Erforschung von Sprachstörungen ins Blickfeld der Linguistik. Thema des folgenden Teils der Arbeit ist es, die Entwicklungen in Psychologie und Linguistik aufzuzeigen, die die Entstehung einer linguistisch orientierten Agrammatismusforschung ermöglichten. Kapitel 1 gibt zunächst einen kurzen Überblick über die Geschichte der Agrammatismusforschung bis zur Entstehung der Generativen Grammatik. Angesichts des in der Generativen Grammatik entwickelten Konzepts eines mental repräsentierten, autonomen sprachlichen Wissenssystems, stellte sich die Frage, ob dieses Wissenssystem selektiv gestört werden könne (vgl. Kap.1.2.). Da die spezifischen Auswirkungen des Agrammatismus auf syntaktische und morphologische Strukturen (vgl. Kap. 1.3.) eine selektive Schädigung dieses grammatischen Wissenssystems vermuten lassen, rückte der Agrammatismus ins Blickfeld der Linguistik. Linguistisch orientierte Erklärungsansätze versuchen dementsprechend, den Agrammatismus auf eine Beeinträchtigung sprachlicher Repräsentationen, d.h. auf ein repräsentationales Defizit, zurückzuführen. Im Gegensatz zu diesen linguistischen Ansätzen betrachten aktuelle Ansätze innerhalb der Neuropsychologie den Agrammatismus als Auswirkung eines prozeduralen Defizits. Die Kontroverse, die zwischen repräsentationalen und prozeduralen Ansätzen zur Erklärung des Agrammatismus geführt wird, ist Gegenstand von Kapitel 4.
1. Die Geschichte der Agrammatismusforschung Menschliche Sprachstörungen und also auch die spezifische Sprachstörung des Agrammatismus sind in der Geschichte der Menschheit niemals unbekannt gewesen. Und ebenso bekannt war über die Zeiten hinweg auch ihre Verursachung durch Verletzungen des Schädels und des Gehirns. Eines der frühesten Dokumente, das über das Auftreten von Sprachstörungen nach Schädelverletzungen berichtet, ist eine Papyrusrolle aus dem 17. Jahrhundert v. Chr., bei der es sich wahrscheinlich um die Abschrift eines Textes - eines Lehrbuches der Chirurgie - handelt, der um 3000 v. Chr. verfaßt wurde. So steht dort z.B. zu lesen: "Wenn du einen Menschen untersuchst, dessen Schläfe eingedrückt ist [...] so antwortet er dir nicht, denn er ist der Sprache nicht mehr mächtig." (zitiert nach Changeux 1984:14).
6 Auch in den Hippokratischen Schriften sind Sprachstörungen nach Hirnverletzungen erwähnt (vgl. Benton & Joynt 1960). Im Laufe der Jahrhunderte kam eine beachtliche Anzahl von Beschreibungen von Sprachstörungen zusammen, und gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren fast alle Arten von aphasischen Sprachstörungen detailliert beschrieben worden (Benton & Joynt 1960). So datiert die wahrscheinlich erste eindeutige Beschreibung einer Broca-Aphasie von Peter Rommel aus dem Jahr 1683. Dort wird ausführlich der Fall einer 52jährigen Senatorengattin beschrieben, deren Sprachproduktion nach einem Schlaganfall auf die Worte ja und nein sowie religiöse Formeln reduziert war, während das Sprachverständnis erhalten blieb (siehe Benton & Joynt 1960:209-210). Auch über die physiologischen Ursachen dieser Sprachstörungen wurde nachgedacht, seitdem sich die platonische Auffassung vom Gehirn als Sitz der Gedanken gegen die aristotelische Auffassung durchgesetzt hatte, die diese im Herzen lokalisierte und das Gehirn lediglich als einen Kühlmechanismus gegen die Überhitzung des Blutes ansah. Diese Wende machte es möglich, kognitive Fähigkeiten im Gehirn zu lokalisieren und bereitete damit den Weg, Störungen dieser geistigen Fähigkeiten auf Hirnschäden zurückzuführen. Unter den ersten 'Lokalisierern' befinden sich die Kirchenväter Nemesius und Augustinus, die im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. die geistigen Fähigkeiten des Vorstellungsvermögens, der Vernunft und des Gedächtnisses den beiden Seitenventrikeln, dem dritten und dem vierten Ventrikel zuordneten (vgl. Changeux 1984:19-20). Diesem Lokalisationsmodell folgend mutmaßte Antonio Guainerio im frühen 15. Jahrhundert, daß Sprachstörungen durch eine Anreicherung von Phlegma im hinteren, vierten Ventrikel verursacht seien, die das Gedächtnisorgan (nämlich den vierten Ventrikel) schädige (vgl. Benton 1964). Erst in der Renaissance wurde durch die Wiederaufnahme der Sektion von menschlichen Leichnamen eine eingehendere Beschreibung des Gehirns ermöglicht. Durch sie gelangte man zu der Überzeugung, daß nicht die Gehirnkammern, wie noch von den Kirchenvätern angenommen, der Sitz geistiger Funktionen seien, sondern die eigentliche Hirnsubstanz. Welche Bedeutung diesen neuentdeckten Hirnstrukturen zukam, blieb jedoch weiterhin unklar. Der Arzt und Anatom Franz Joseph Gall (1758-1828) war der erste, der die Bedeutung dieser neuentdeckten Strukturen erkannte. Angesichts der Erkenntnisse, die bereits über den Zusammenhang zwischen Art und Lokalisation einer Hirnschädigung und ihre funktionellen Auswirkungen vorlagen, erscheint es verwunderlich, daß die funktionelle Bedeutung des Gehirns so lange unbeachtet blieb. Gall ist der erste, der die Ansicht vertritt, intellektuelle und moralische Fähigkeiten seien in verschiedenen Regionen des Gehirns lokalisiert. Das Gehirn war seiner Ansicht nach nicht als eine einheitliche, gleichförmige Masse anzusehen, sondern es bestand aus einer Reihe von funktionell spezialisierten Organen, die die materielle Grundlage für spezifische kognitive Funktionen bildeten. Interessanterweise lokalisierte er diese verschiedenen Fähigkeitsorgane in der Großhirnrinde, obwohl zu seiner Zeit noch keinerlei Hinweise auf anatomisch-histologische Unterschiede zwischen verschiedenen Arealen des Cortex vorlagen. Um sein Ziel zu erreichen, die Funktionen des Gehirns feststellen und lokalisieren zu können, mußte jedoch erst einmal ein Weg gefunden werden, um kognitive Funktionen im Gehirn zu orten. Das Verfahren, das Gall entwickelte, die 'Kranioskopie' basiert auf der Idee, der Schädel liefere ein Abbild der darunterliegenden Hirnrinde. Aus der genauen Vermessung des Schädels ließen sich so Rückschlüsse auf besonders gut bzw. wenig entwickelte Rinden-
7 regionen ziehen. Mit diesem Verfahren nahm Gall eingehende Vermessungen der Schädelformen von Verbrechern, Geisteskranken und Berühmtheiten vor, bei denen bestimmte Fähigkeiten bzw. Charaktereigenschaften seiner Meinung nach besonders hervorstachen, und erstellte Karten der Großhirnrinde, auf denen die Lokalisation der von ihm aufgelisteten 27 geistigen Fähigkeiten vermerkt war, von denen jedoch nur sieben spezifisch für den Menschen waren (vgl. Changeux 1984:26-28). Da Gall als Schüler aufgefallen war, daß diejenigen seiner Mitschüler, die besonders gut Vokabeln lernten, große, vorstehende Augen hatten, wies er den Sprachfunktionen des Sprachgefühls und des Wortgedächtnisses eine Lokalisation im Frontalhirn zu (vgl. Arbib et al. 1982:9, Brown & Chobor 1992). Auch wenn Galls methodisches Vorgehen heute eher skurril anmutet,1 darf doch nicht übersehen werden, wie revolutionär seine Ideen waren, die der vorherrschenden philosophischen Konzeption einer immateriellen, unteilbaren und unsterblichen Seele als Sitz all dessen, was das Menschsein ausmacht, diametral entgegengesetzt waren. Mehr als seine innovative aber auch ungewöhnliche Untersuchungsmethode dürfte es denn auch der Materialismus seiner Position gewesen sein, der eine sofortige heftige Diskussion und Kritik auslöste. Einer der heftigsten Kritiker Galls war der französische Physiologe Marie Flourens, der die Ansicht vertrat, alle Teile der Hirnrinde seien zu denselben Funktionen fähig, und diese experimentell zu beweisen suchte. Mit der Kontroverse zwischen den Anhängern Galls und Flourens beginnt der Streit zwischen Holisten und Lokalisationisten, der die Aphasieforschung insbesondere in Frankreich und England für die folgenden 100 Jahre bestimmen sollte. Erste Schritte zur Lokalisation der Sprachfähigkeit: Die Sprachfähigkeit und ihre Lokalisation war im folgenden insbesondere das Thema JeanBaptiste Bouillauds (1796-1881), eines eifrigen Verehrers Galls. Er untersuchte gezielt die Auswirkungen von Hirnverletzungen auf die menschliche Sprache. Dabei stellte er 1825 zwei Typen sprachbezogener Störungen fest: eine, die das Wortgedächtnis betraf und eine, die die zur Artikulation erforderlichen Muskelbewegungen betraf (vgl. Benton 1964:323). Diese zwei Störungsbilder ließen seiner Ansicht nach auf zwei Prozesse schließen, die beim Sprechen eine Rolle spielten: die Fähigkeit, Wörter als Abbilder der Ideen zu benutzen und die Fähigkeit, diese Wörter zu artikulieren (vgl. Benton 1981:6). Entsprechend der Lokalisation von Gall schrieb er den Sitz dieser Fähigkeiten dem Frontalhirn zu..Indem er Aussagen über die Sprachfahigkeit direkt aus der Untersuchung von Sprachstörungen ableitete, begründete Bouillaud eine Vorgehensweise, die bis zur Begründung der modernen Linguistik bestimmend blieb. Da die von ihm als Evidenz für seine These aufgeführten Fallbeschreibungen im Hinblick auf die genaue Lokalisation der Hirnschädigungen jedoch recht unspezifisch waren und da seine These insbesondere aus diesem Grund weiteren empirischen Überprüfungen - z.B. von Andrai im Jahr 1834 - nicht standhielt, vergingen weitere 40 Jahre, bevor die Lokalisation einer kognitiven, sprachlichen Fähigkeit akzeptiert werden sollte.
Obwohl auch heute das Verfahren der Schädel Vermessung noch angewendet wird, etwa um Aussagen über die Entstehung des Sprachvermögens in der Entwicklungsgeschichte der Primaten zu gewinnen (siehe z.B. Geschwind 1987, Brown & Chobor 1992).
8 Am 4.4.1861 hielt der Schwiegersohn Bouillauds, Ernest Auburtin - wie Bouillaud ein Verfechter der Lokalisationslehre und Galischer Thesen - eine Rede vor der Anthropologischen Gesellschaft in Paris über das Thema 'sur le siège de la faculté du langage' (vgl. Critchley 1970). In dieser Rede über den Sitz der Sprachfähigkeit wiederholte Auburtin die These Bouillauds, die Sprachfahigkeit sei im Frontallappen zu lokalisieren. Im Auditorium saß auch ein Gründungsmitglied der Gesellschaft, der Mediziner und Anthropologe Paul Broca (18241880). Dieser hatte kurz zuvor einen neuen Patienten bekommen, der bis auf die Silbe tan nichts mehr sprechen konnte, dessen geistige Verfassung und Sprachverständnis jedoch intakt zu sein schienen. Broca lud Auburtin ein, diesen Patienten zu untersuchen, und da der Patient kurz darauf verstarb, konnte auch eine Autopsie des Gehirns durchgeführt werden. Dabei zeigte sich - wie von Auburtin vorhergesagt - eine Läsion des Hirngewebes im Frontalhirn, und zwar am Fuß der zweiten und dritten Stirnwindung (vgl. Joynt 1964). Brocas Vortrag dieser Krankheitsgeschichte in der Pariser Gesellschaft für Anthropologie erregte zunächst keine große Beachtung. Erst als er kurze Zeit später einen zweiten Fall mit nahezu identischer Läsion vorstellte, brach der Streit zwischen Lokalisationisten und Holisten mit neuer Heftigkeit los, und Broca wurde - gegen seinen Willen - zu einem Hauptexponenten der Lokalisationslehre (vgl. Critchley 1970, Springer & Deutsch 1987:7-8). In seinen Vorträgen führte Broca aus, daß seine Beobachtungen die Thesen von Gall und Bouillaud unterstützten. Offensichtlich war in beiden der von ihm beschriebenen Fälle die Fähigkeit, Sprache zu artikulieren, an die Intaktheit des Fußes der dritten Stirnwindung gebunden,2 denn eine Läsion dieses Hirnareals führte zum Verlust der Fähigkeit zu sprechen. Diese Störung, die bei Erhalt des allgemeinen Intellekts, des Sprachverständnisses und des artikulatorischen Apparats nur das Unvermögen, Sprache zu artikulieren, betraf, bezeichnete Broca als Aphemie (vgl. Joynt 1964, Arbib et al. 1982). Da die generelle Sprachfähigkeit, die er als die Fähigkeit auffaßte, eine Relation zwischen Ideen und Wörtern herzustellen, bei den von ihm untersuchten Patienten erhalten zu sein schien, lehnte er den Begriff Aphasie, der von Armand Trousseau zur Bezeichnung dieser Störung vorgeschlagen wurde, ab. Dieser hatte den Begriff Aphemie heftig kritisiert mit dem Hinweis darauf, daß Aphemie im modernen Griechisch Ehrlosigkeit oder Schande bezeichne (vgl. Joynt 1964). Broca wies vergeblich darauf hin, daß der Begriff Aphasie, eine Störung bezeichne, bei der es durch einen Verlust der Ideen zu einer Sprachlosigkeit komme, dies bei der von ihm entdeckten Störung aber gar nicht der Fall sei. Der Begriff Aphasie und damit auch die mit ihm verbundene Auffassung über die Ursachen aphasischer Sprachstörungen setzte sich jedoch durch. Mit der Untersuchung dieser beiden Fälle, denen in den folgenden Jahren noch eine Reihe weiterer Untersuchungen folgte, hatte Broca gezeigt, daß es aufgrund einer eng umschriebenen Läsion des Gehirns tatsächlich zu einer spezifischen funktionellen Störung kommen konnte. Erst 1865 publizierte Broca seine Beobachtung, daß in den von ihm untersuchten Fällen von Aphemien die Läsionen immer in der linken Hemisphäre lagen, was ihn zu dem SchluB veranlaßte: "nous parlons avec l'hémisphère gauche" (zitiert nach Joynt 1964:210). Zwar war die Beobachtung, daß die menschliche Sprachfähigkeit offensichtlich in der linken Hirnhälfte anzusiedeln ist, bereits 1836 von dem französischen Landarzt Marc Dax in einem Vortragsmanuskript für eine medizinische Tagung in Montpellier festgehalten worden (Dax 1836); unklar ist jedoch, ob dieser Vortrag gehalten oder das Manuskript veröffentlicht wurde, so daß Broca davon Kenntnis haben konnte (Joynt 1964).
9 Damit hatte er nicht nur den ersten allgemein akzeptierten Beweis für die kortikale Lokalisation einer spezifischen Fähigkeit erbracht, er hatte vielmehr aufgezeigt, daß es tatsächlich möglich war, spezifische kognitive Fähigkeiten im Gehirn zu lokalisieren. Dieser Beweis, der wohl die eigentliche Bedeutung Brocas ausmacht, führte im Laufe der folgenden Jahrzehnte zu einer Flut von Studien, die sich mit der funktionellen Lokalisation spezifischer Fähigkeiten bei Mensch und Tier beschäftigten. Ein großer Teil dieser Studien widmete sich insbesondere in Deutschland der weiteren Untersuchung aphasischer Störungen. Eine bedeutende Rolle in der Geschichte der Aphasiologie kommt dabei Carl Wernicke (1848-1905) zu, einer zentralen Figur der deutschen Aphasiologie im 19. Jahrhundert (vgl. de Bleser 1987). Wernickes Ziel war es, durch die Lokalisation und Beschreibung funktioneller Störungen Hinweise auf den Ablauf normaler, ungestörter Funktionen und damit auf die Arbeitsweise des Gehirns generell zu erlangen. Die Untersuchung der verschiedenen aphasischen Sprachstörungen, so hoffte er, werde es ermöglichen, das normale Sprachverarbeitungssystem des Menschen zu verstehen. Im Jahre 1874 faßte er die bis dahin gemachten Beobachtungen zu Aphasien zusammen und stellte ein Modell der sprachlichen Verarbeitung im Gehirn auf, das nicht nur die bis dahin gemachten Beobachtungen umfaßte, sondern auch Ursachen für das spezifische Störungsmuster aphasischer Störungen benannte und - wichtiger noch - die Existenz und das Erscheinungsbild bis dahin unbekannter aphasischer Syndrome vorhersagte (Caplan 1987:49-50, Huber 1981). Damit war den auf dem Gebiet der Aphasiologie arbeitenden Neurologen erstmals eine Theorie der aphasischen Sprachstörungen in die Hand gegeben worden, vor deren Hintergrund sie gezielt Untersuchungen vornehmen und empirische Ergebnisse überprüfen konnten. Wernickes Modell basierte auf assoziationistischen Vorstellungen und der damals sehr aktuellen Reflextheorie, nach der sich das Sprachvermögen als ein senso-motorischer Reflex darstellt, bei dem der Höreindruck eines Wortes ein sensorisches Klangbild weckt, das mit einer zugrundeliegenden Idee oder einem Abbild des bezeichneten Gegenstandes verbunden ist. Diese Idee ist wiederum mit einem Bewegungsbild, einem motorischen Engramm verknüpft, das die Artikulation des Wortes steuert (vgl. de Bleser 1987, Caplan 1987:52-53). Die Berliner Ärzte Frisch und Hitzig hatten gerade ein Rindenareal entdeckt, das die Motorik des Körpers zu steuern schien (vgl. Changeux 1984:46-47), und das von Broca entdeckte, für die Artikulation - also für die motorischen Bewegungsbilder der Wörter - zuständige Rindenareal lag direkt vor diesem motorischen Areal. Ebenso hatte Meynert die Verbindung zwischen der Insel bzw. dem Temporallappen und dem Gehör hergestellt. Es lag also nahe, in der Nachbarschaft zu diesen Arealen ein Gebiet anzusetzen, in dem die sensorischen Klangbilder der Wörter gespeichert werden konnten. Aus diesen zwei kortikalen Zentren für die Bewegungs- bzw. Klangbilder der Wörter und aus der Postulation von Faserzügen, die diese zwei Komponenten des Reflexbogens notwendig verbinden mußten, ergab sich dann die Vorhersage von Hirnläsionen, die diese Zentren bzw. die sie verbindenden Faserstränge betreffen konnten, und deren Auswirkungen aufgrund ihrer Lokalisation genau vorhersagbar sein mußten. Wernickes lokalisationistisches Modell der Sprachrepräsentation in Verbindung mit einigen anderen zur damaligen Zeit vorherrschenden Ansichten führte in Deutschland zu einer wahren Explosion an Studien, die sich mit aphasischen Sprachstörungen beschäftigten. Zum einen war da die durch Aristoteles geprägte Vorstellung, die Seele dächte nicht ohne Abbilder, die in den
10 Sinnesorganen bei der Wahrnehmung entstünden und den wahrgenommenen Gegenstand bildhaft nachbildeten (vgl. Changeux 1984:16), die zu der Annahme von Engrammen - eben Speichern für solche Bilder - führte. Zum anderen legten die damals populären Ansichten zur Sprachfähigkeit des Menschen, wie die auf Piaton basierende These des Linguisten Max Müller, Denken sei nichts anderes als ein leises Sprechen (vgl. Marx 1966) und die Vorstellung, die Äußerung von Sätzen beinhalte nichts anderes als die Aneinanderreihung von Wörtern (vgl. de Bleser 1987), nahe, daß hinter der menschlichen Sprachfähigkeit keine komplizierten Probleme lauerten, sie also ein einfach zu handhabendes Forschungsgebiet sei. Zusammen mit der bestechend einfachen Auffassung, daß das Sprachvermögen - wie alle Vorgänge im Zentralnervensystem - nichts weiter als ein senso-motorischer Reflex sei, der Zentren mit motorischen und sensorischen Engrammen verbinde, schien einer Erforschung des menschlichen Sprachvermögens über eine Analyse der aphasischen Sprachstörungen von neurologischer Seite aus nichts mehr entgegenzustehen. Die Zentrenlehre, nach der das Gehirn aus verschiedenen spezifischen Einzelorganen besteht, deren Läsion zu einem funktionsspezifischen Ausfall führt, wurde zum wissenschaftlichen Forschungsparadigma der Neurologie im 19. und 20. Jahrhundert (vgl. Clarke & Dewhurst 1973). Sie erlaubte es, die Lokalisation und Arbeitsweise kognitiver Funktionen anhand der Untersuchung von Funktionsstörungen und Läsionsorten zu bestimmen. Doch diesem bestechend einfachen Forschungsparadigma, das auch heute noch die linguistische Beschäftigung mit dem Agrammatismus leitet, standen von Anfang an die Bedenken der 'Holisten' entgegen. Holistische Konzeptionen: Schon zu Brocas Zeiten hatte der englische Neurologe Hughüngs Jackson (1834-1911) mit einer Reihe von Bedenken Kritik an diesem assoziationistisch-lokalisationistischen Vorgehen geübt. So wies er darauf hin, daß man nach einer Hirnschädigung nicht davon ausgehen könne, das Gehirn arbeite mit Ausnahme der gestörten Funktionskomponente normal weiter. Seiner Auffassung nach waren es zwei völlig verschiedene Dinge, die Schädigung zu lokalisieren, die zum Verlust einer Funktion führte, oder die Funktion selbst zu lokalisieren. Rückschlüsse vom Läsionsort auf den Sitz einer kognitiven Funktion hielt er nicht für gerechtfertigt (vgl. Head 1915, Clarke & Dewhurst 1973:117). Die Radio-Metapher von Richard L. Gregory macht diesen Gedankengang klar: "Wenn man aus einem Radiogerät irgendeinen von mehreren Widerständen ausbaut, kann dies dazu führen, daß es merkwürdige Geräusche von sich gibt, aber daraus kann man nicht schließen, die Aufgabe der Widerstände sei es, das Pfeifen zu unterdrücken." (Zitiert nach Gardner 1992:285)
Ebenso klar sah er, daß sich die menschliche Sprachfähigkeit nicht auf die Fähigkeit, Wörter aneinanderzureihen, beschränken ließ. Vielmehr bestand die Fähigkeit zu sprechen seiner Ansicht nach darin, Sätze, Propositionen, zu bilden, und die waren mehr als Abfolgen von Wörtern (vgl. Head 1915). Vor der Untersuchung von Sprachstörungen mußte nach Auffassung von Jackson, Freud und anderen Kritikern des Lokalisationismus daher erst eine psychologische Konzeption der Sprachverarbeitung stehen (vgl. Marx 1966, Gardner 1992:280). Die einfache Konzeption, die Sprachfähigkeit als Ausfluß eines senso-motorischen Reflexbogens
11 anzusehen, Verhalten also rein neurophysiologisch zu erklären, mußte ihrer Meinung nach vor der Komplexität der bei der Sprachverarbeitung wirksamen Prozesse scheitern. Zudem war nach holistischer Auffassung das Gehini als Ganzes an der Ausübung kognitiver Funktionen beteiligt. Durch eng umgrenzte Läsionen konnten also gar keine spezifischen Defekte verursacht werden, vielmehr zeigten Läsionsstudien an Tieren, daß das Ausmaß einer Schädigung vom Ausmaß der Läsion und nicht etwa von ihrer Lokalisation abhängig zu sein schien (vgl. Gardner 1992:284). Demzufolge konnten distinkte, umgrenzte Läsionen auch nicht zu unterschiedlichen aphasischen Störungen führen, sondern aphasische Störungen mußten auf einem einheitlichen, generellen Defizit beruhen. Möglich war, daß Aphasien lediglich durch eine Störung der Intelligenz hervorgerufen wurden, wie z.B. Trousseau postulierte, der der erste gewesen war, der die allgemeine Intelligenz von Aphasikern untersuchte und verschiedenste intellektuelle Defizite festgestellt hatte (vgl. Benton 1981, Huber 1981). Der Streit zwischen Holisten und Lokalisationisten über die Anzahl, die Lokalisierung und das ursächliche Defizit aphasischer Störungen beeinflußte insbesondere die Aphasieforschung in England und Frankreich (vgl. Benton 1981, Leischner 1992). Hauptvertreter der holistischen Position wurden dort Pierre Marie (1853-1940) und Henry Head (1861-1940). In Deutschland dagegen konnten sich die Lokalisationisten mit ihrer "Schwäche für die Unterschiede bei erwachsenen Aphasikern" (Gardner 1992:286), zunächst unbeschadet "wichtigeren Themen" zuwenden, wie Leischner (1992:144) formuliert. Immer spezifischere aphasische Störungen wurden entdeckt und untersucht, darunter auch der Agrammatismus.
Die Entdeckung des Agrammatismus: Der Sprachwissenschaftler Heymann Steinthal (1823-1899) war der erste Linguist, der die vorliegenden klinischen Daten über aphasische Sprachstörungen einer Untersuchung unterzog, da er die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Grundlage für die Sprachwissenschaft erkannte (Marx 1966). Obwohl von den oft oberflächlichen Beschreibungen und den unklaren Vorstellungen über die Sprachverarbeitung enttäuscht, leistete er 1871 mit der Unterscheidung zwischen Störungen, die die Wortbildung betreffen - und solchen, die die Satzbildung betreffen - den Akataphasien, einen ersten Schritt in der Geschichte des Agrammatismus (Steinthal 1871). Der Begriff Agrammatismus selbst wurde 1877 von dem Mediziner Adolf Kussmaul geprägt. Seiner Auffassung nach litt bei den Störungen der Satzbildung "das Vermögen, die Gedankenbewegung zur Darstellung zu bringen" (Kussmaul 1877:193), was normalerweise über die sprachlichen Mittel der Wortbeugung - der Grammatik - und der Wortstellung - der Syntax - erfolge. Dementsprechend ließen sich zwei Störungen der Satzbildung unterscheiden: • Zum einen identifizierte Kussmaul das Störungsbild des Agrammatismus, das durch Störungen der Flexion, also durch "das Unvermögen, die Wörter grammatisch zu formen" (ebd.: 155), gekennzeichnet ist. Kussmaul wies darauf hin, daß der Agrammatismus gewöhnlich mit Intelligenzstörungen - besonders mit einer "Schwäche der geistigen Kraft" (ebd.: 195) - verbunden sei, und agrammatische Erscheinungen häufig bei geistig gestörten Patienten beobachtet werden könnten. "Hierher gehört, was man so häufig bei Geistes-Schwachen und Irren beobachtet, dass sie nicht mehr decliniren und conjugiren, nur noch des unbestimmten Hauptwortes und Infinitivs oder vielleicht noch des vergangenen Particips sich bedienen, die schwache Beugung der starken vorziehen,
12 die Artikel, Bindewörter, Hilfszeitwörter auslassen, Präpositionen auswerfen oder verwechseln, statt der Pronomina die Nomina benutzen." (ebd.: 195-196) • Zum anderen konnten sich Störungen der Satzbildung in Wortstellungsproblemen äußern, in einem "Unvermögen, die Wörter in ihrer richtigen Ordnung in Sätze einzustellen" (ebd.: 199). Dieses Störungsbild faßte Kussmaul jetzt als eigenständige Erscheinung unter den Begriff Akataphasie (ebd.: 155, 277). Fast vom Augenblick seiner Entdeckung an wurde der Agrammatismus zum Gegenstand heftiger Kontroversen, die sich insbesondere um die Probleme des Syndromcharakters, der Lokalisation, der Symptomatik und der Ursache des Agrammatismus drehten. 1922 faßte Max Isserlin (1879-1941) den damaligen Stand der Diskussion in einem fünf Punkte umfassenden, leider noch heute aktuellen Fragenkatalog zusammen: 1. "Gibt es klinisch-psychologisch einwandfrei unterscheidbare Formen agrammatischen Sprechens, Formen des expressiven Agrammatismus? 2. Gibt es für sich bestehende Störungen des grammatischen Verstehens bzw. mangelndes Verständnis - [...] - impressiver Agrammatismus? [...] 3. Bestehen Beziehungen zwischen den verschiedenen Formen von expressivem und impressi vem Agrammatismus einerseits und den bekannten Formen von Aphasie [...] andererseits? 4. Welche Anschauungen können wir bei der zur Zeit möglichen Beantwortung der aufgeworfenen Fragen über die den Agrammatismen zugrunde liegenden Mechanismen gewinnen? [...] 5. Welche Auffassung können wir heute auf Grund der klinischen und anatomischen Daten von der Lokalisation der Agrammatismen gewinnen?" (Isserlin 1922:374)
Agrammatismus - Paragrammatismus: Praktisch mit der Entdeckung des Agrammatismus stellte sich die Frage, ob es verschiedene klinisch distinkte Formen agrammatischer Störungen gäbe, oder ob alle beobachteten Störungen der Satzbildung auf einer einheitlichen Störung beruhten. Diese Frage drängte sich auf, da klare Unterschiede zwischen den untersuchten 'Agrammatikern' ins Auge fielen. Mal bestand die agrammatische Rede vorzugsweise aus Inhaltswörtern, dann wieder schienen insbesondere diese von der Störung betroffen zu sein, während die grammatische Satzform erhalten blieb. Eine Charakteristik dieser verschiedenen 'Agrammatismen', die heute unter die Begriffe Agrammatismus und Paragrammatismus gefaßt werden, gab 1902 der Neurologe Karl Bonhoeffer. "Bei dem motorisch-aphasischen findet man die für den Sinn wesentlichen Hauptworte [...] gut reproduziert. Es fehlt aber die geordnete Satzform, es fehlen, wenn auch nicht alle, so doch wesentliche Bindeglieder. Bei Störungen in der sensorischen Sprachregion findet man dagegen eine Menge von indifferenten Füll Worten, [...] aber einen Mangel an Haupt Worten und konkreten Wortbegriffen." (Bonhoeffer 1902:221) 1914 begründete Kleist dann die noch heute gültige Dichotomie zwischen Agrammatismus und Paragrammatismus - allerdings nicht an Aphasikern sondern an Psychiatrie-Patienten, da bei diesen grammatische Störungen reiner und selektiver aufträten als bei aphasischen Herderkran-
13 kungen. Auf jeder Ebene des Sprachsystems, der Ebene der einzelnen Laute, der Wörter, der Wortbildungen und der Wortfolgen vermutete er zwei Arten von Sprachstörungen: engraphische Sprachstörungen, die eine frontale Lokalisation haben und zum Verlust motorischer Engramme führen und koordinatorische Sprachstörungen mit temporaler Lokalisation, bei denen es zu einem fehlerhaften Gebrauch, einer fehlerhaften Koordination vorhandener und ungestörter Engramme komme (Kleist 1914:10). Diese Zweiteilung der Sprachstörungen tritt nach Kleist auf allen Ebenen des Sprachsystems in Erscheinung. So zeigen sich auf der Ebene der Wortfolgen die engraphische Sprachstörung des Agrammatismus, der durch einen Verlust bzw. eine herabgesetzte Erregbarkeit der Engramme für Wortfolgen verursacht ist, und die koordinatorische Sprachstörung des Paragrammatismus, die durch eine falsche Auswahl bzw. eine Vermischung solcher Satzengramme bedingt wird (ebd.: 12). Diesen Ursachen entsprechend ergab sich für die Störung des Agrammatismus das folgende Erscheinungsbild, das mit den heute noch gebrauchten Beschreibungen dieser Störung übereinstimmt: "Der Grundzug des Agrammatismus ist die Vereinfachung und Vergröberung der Wortfolgen. Kompliziertere Satzgefüge (Unterordnung von Sätzen) kommen nicht zustande. Die Kranken sprechen nur noch in kleinen, primitiven Sätzchen, sofern sie überhaupt noch Sätze bilden. Es werden alle minder notwendigen Worte, insbesondere die Pronomina und Partikeln eingeschränkt oder weggelassen. [...] Aber auch die bei der Konjugation, Deklination und Komparation an den Worten selbst vor sich gehenden Aenderungen [...] unterbleiben mehr oder weniger. In schweren Fällen bleiben nur Hauptworte und Adjektiva im Nominativ und Zeitworte im Infinitiv und Partizip übrig." (ebd.: 11-12)
Lokalisation der Schädigung: Mit der Unterscheidung von agrammatischen und paragrammatischen Störungen bot Kleist auch für die Frage der Lokalisation der grammatischen Sprachstörungen eine Lösung, nämlich einen klassischen Kompromiß, an. In dem Streit, ob diese Störungen durch Läsionen des Frontal- (z.B. Heilbronner 1906, Bonhoeffer 1902) oder des Temporallappens (z.B. Pick 1913) verursacht seien, hatten seiner Meinung nach beide Parteien recht: Der Paragrammatismus war im Schläfenlappen, der Agrammatismus im Frontallappen zu lokalisieren (Kleist 1914:12). Auch wenn diese Lösung nicht auf alle Argumente, die für eine temporale Lokalisation des Agrammatismus vorgebracht wurden, eine Antwort gab 3 und die Lokalisation des Agrammatismus weiter umstritten blieb (vgl. de Bleser 1987), ist dies doch die Lösung, die sich bis heute durchgesetzt hat, wenn der Agrammatismus mit einer Broca-Aphasie und einer frontalen Läsion, der Paragrammatismus dagegen mit einer posterior lokalisierten Wemicke-Aphasie assoziiert wird (z.B. Kerschensteiner et al. 1978, Huber 1981, Huber et al. 1982, Goodglass & Kaplan 1983, vgl. aber Heeschen 1985, Kolk & Heeschen 1992).
So nahm z.B. Pick (1913) eine temporale Lokalisation des Agrammatismus (unter den er alle grammatischen Störungen faßte) an, da seiner Ansicht nach der Satzbildungsprozeß beim Sprechen verschiedene Gehirnzentren von temporal nach frontal durchlaufe. Die erste Phase einer Äußerung - die Satzbildung konnte also nicht im Stirnlappen bzw. im Brocaschen-Areal lokalisiert sein, einem Areal, das anerkannterweise erst für die Artikulation - also den letzten Schritt der Äußerung - zuständig war. Da es relativ akzeptiert war, Prozesse der Wortfindung im Temporallappen anzusiedeln, konnten die Prozesse der Satzbildung, die der Wortfindung in Picks Modell vorangingen, nicht frontaler als im Temporallappen lokalisiert sein ( P i c k 1913:63, 117).
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Rezeptiver Agrammatisms: Auch die bereits von Isserlin aufgeführte Frage, ob der Agrammatisms in der Spontansprache von einem parallelen, 'agrammatischen' Verständnisdefizit begleitet wird, ist noch heute nicht abschließend geklärt (für eine Diskussion siehe z.B. Tesak 1990 und 1991, Kelter 1990). Isserlins Antwort auf diese Frage faßte die damals vorliegenden Befunde salomonisch zusammen: "Es muß also als festgestellt gelten, daß expressiver Agrammatismus nicht mit impressivem verknüpft zu sein braucht" (Isserlin 1922:376). Die Frage nach einem parallelen agrammatischen Defekt des Sprachverständnisses war 1902 von Bonhoeffer aufgeworfen worden, der bei zwei Patienten, die infolge einer Hirnoperation durch ein resultierendes Hämatom eine motorische Aphasie mit Agrammatismus entwickelten, ein paralleles Defizit im Sprachverständnis festgestellt hatte: "[...], daß nicht allein der sprachliche Ausdruck der das Satzgefüge bildenden Worte fehlte, sondern daß man in derselben Zeit auch das sprachliche Verständnis für diese Begriffe fehlen sieht. Es scheint mir wenigstens, daß das defekte Verständnis für komplizierte Sätze und Satzperioden in diesem Sinne aufzufassen ist. Dies legt es näher, an einen wirklichen Ausfall zu denken." (Bonhoeffer 1902:223) Weitere Evidenz für die Existenz einer parallelen Sprachverständnisstörung im Agrammatismus - und damit für die Idee eines 'zentralen Defizits', welches das sprachliche Wissen selbst berührt (vgl. Berndt & Caramazza 1980, 1981), erbrachte Salomon (1914), mit einer für damalige und heutige Verhältnisse beispielhaft gründlichen Studie, in der nicht nur eine Vielzahl sprachlicher Aufgaben in allen Modalitäten, sondern auch außersprachliche Aufgaben getestet worden waren. Auch in diesem Fall zeigte sich bei sorgfältiger Testung eine parallele Beeinträchtigung des Sprachverständnisses. Die Interpretation dieser Befunde wurde jedoch nicht nur dadurch erschwert, daß damals (z.B. Heilbronner 1906, Isserlin 1922) wie heute (vgl. z.B. Miceli et al. 1983, Kolk et al. 1985, Nespoulos et al. 1988 und 1990, Caramazza & Hillis 1989, Druks & Marshall 1991, Bastiannse 1995) immer wieder Fälle ohne eine Störung des Verständnisses beschrieben wurden. Ebenso bereitete ein konzeptuelles Problem Unbehagen. Mit dem in Deutschland vorherrschenden lokalisationistischen Ansatz, der ja von zwei auch lokalisatorisch distinkten Zentren für motorische und sensorische Engramme ausging, konnte nur schwer vereinbart werden, daß es nach einer frontalen Hirnschädigung im Zentrum für motorische Engramme zu Sprachverständnisstörungen kam (vgl. de Bleser 1987).4
Verschiedene Lösungen für dieses Problem wurden diskutiert. So schlug Salomon (1914) vor, die Verständnisstörung auf eine Störung des Zusammenspiels zwischen motorischen und sensorischen Zentren zurückzuführen, die durch die Schädigung des motorischen Zentrums verursacht sei. Und Heilbronner (1906) wies darauf hin, daß sich beim Auftreten oder Fehlen von Sprachverständnisstörungen individuelle Unterschiede zeigen könnten. So wären Personen, die für ein Verständnis zusammenhängender Rede auf den Rhythmus der Rede, einer motorischen Komponente, angewiesen seien, bei einer Läsion des motorischen Sprachzentrums natürlich auch in ihrem Sprachverständnis beeinträchtigt. Bei Personen, bei denen das Verstehen dagegen unabhängig von Sprechrhythmen sei, wären dagegen keine Beeinträchtigungen des Sprachverständnisses zu erwarten.
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Ursachen des Agrammatismus: Auch die zugrundeliegenden Ursachen des Agrammatismus wurden damals - wie heute kontrovers diskutiert: So gab es Ansätze, die den Agrammatismus nicht als Folge einer sprachspezifischen Störung sahen. Hierzu zählen z.B. die Ansätze, die unter der Prämisse, Denken und Sprechen seien identisch, von der Annahme ausgingen, daß der Agrammatismus durch eine Störung der allgemeinen Intelligenz, also der Denkvorgänge verursacht sei, die sich dann in der Sprache widerspiegele. Ebenfalls wurde die Vorstellung vertreten, daß es sich beim Agrammatismus gar nicht um eine eigenständige Störung handele, sondern lediglich um die Folgeerscheinung einer anderen zugrundeliegenden Störung. Die Idee, den Agrammatismus nur als eine Anpassung an eine andere Störung anzusehen, prägt z.B. den Ansatz von Isserlin (1922): Für Isserlin war der Agrammatismus "ein aus der Sprachnot des motorisch Aphasischen entsprungenes Einstellungsphänomen" (ebd.:395). Die Sprachnot motorisch aphasischer Patienten beruhte seiner Ansicht nach auf einer Erschwerung der Produktion motorisch eingeprägter 'Reihen'. Zu diesen motorisch eingeprägten Reihen zählten auch die grammatischen Formen, die seiner Ansicht nach durch die motorische Aphasie gestört würden. Die resultierende Sprachnot führe dann zu einer völligen Veränderung der Satzgestaltung. Statt auf vollständige Sätze sei die sprachliche Äußerung des motorisch Aphasischen von vornherein nur auf das 'Skelett des Gedankenganges' auf eine telegrammartig verkürzte Äußerung ausgerichtet. Dieser Telegrammstil stellte für Isserlin nicht etwa eine gestörte Sprachproduktion dar, sondern eine "gesetzmäßig vorkommende Form der Rede" (ebd.:394), die so auch im Spracherwerb, bei Taubstummen, 'Primitiven' und eben in Telegrammen beobachtet werden könne (ebd.:394395). Als Evidenz für diese These - die heute ähnlich wieder von Heeschen und Kolk (vgl. Heeschen 1985, Heeschen & Kolk 1988, Kolk & Heeschen 1992, Hofstede & Kolk 1994, Kolk 1995) vertreten wird - führte er die Beobachtung an, daß der Agrammatismus in der Schriftsprache, wegen der dort fehlenden Sprachnot, fehle. Zwei Zitate des für diese These aufgeführten Patienten D. belegen seine Auffassung recht eindrücklich: "Auf die Frage, warum er in der Spontansprache den Telegrammstil verwende, erwidert D.: 'Sprechen keine Zeit - Telegrammstil.'" (Isserlin 1922:397)
Ganz anders dagegen die schriftlichen Ausführungen des Patienten zu diesem Thema: "Aber wie viele Schwierigkeiten oft bei dem kleinsten Sätzlein muß der Sprachgeschädigte überwinden, das ein gesunder Kopf nur mechanisch aussprechen kann. Der kranke Kopf muß ganz bewußt tun, was er sprechen will. [...] Da muß man das betreffende Wort und seine Artikulation genau kennen, dann probieren, wie der Artikel lautet, die Stellung einzelner Wörter und das Verbum kennen, ob es haben oder sein verlangt, ob es aktiv oder passiv, persönlich oder unpersönlich angewandt wird, ob es im Singular oder im Plural steht usw. Da aber diese Erwägungen sehr schnell hintereinander folgen müssen, so schleichen sich viele Fehler ein oder aber weiß man, wie es oft vorkommt, überhaupt nicht, worüber man gerade sprechen wollte. Darum wende ich, um diesen Übelständen auszuweichen, oft den Telegrammstil an." (ebd.:399-400)
16 Eine dritte Gruppe umfaßt die Ansätze, die lediglich von einer zugrundeliegenden grammatischen Störung ausgehen, der Kleistschen Dichotomie zweier eigenständiger grammatischer Störungen also widersprachen. Dies ist die Position, die Kleist selbst, nach einer drastischen Abkehr von seiner 1914 veröffentlichten Arbeit, 1916 und 1918 vertrat.5 Die Störungsbilder des A- und Paragrammatismus betrachtete er nun lediglich als verschiedene Erscheinungsformen ein und derselben Störung, die im Temporallappen - jedoch hinter dem sensorischen Sprachzentrum - anzusetzen sei und eine Dissoziation zwischen einem konzeptuellen Zentrum und dem Zentrum für Klangbilder verursache. Könnten grammatische Elemente nicht mehr aktiviert werden, resultiere Agrammatismus, würden die falschen grammatischen Elemente aktiviert, sei das Ergebnis paragrammatisch (de Bleser 1987). Das Ergebnis dieser Prozesse war jedoch nicht länger als Agrammatismus oder Paragrammatismus aufzufassen. Lediglich die Prozesse, die zu einer grammatisch abweichenden Äußerung führten, konnten seiner Meinung nach als agrammatisch oder paragrammatisch beschrieben werden. Das bedeutet, daß nicht nur agrammatische, sondern auch paragrammatische und völlig intakte sprachliche Äußerungen bei einem Aphasiker auftauchen konnten, je nachdem ob und welcher der beiden Fehlerprozesse gerade wirksam war. Einen ähnlichen Gedankengang verfolgte auch Kurt Goldstein (1913). Seiner holistisch geprägten Konzeption nach gab es nur eine Form der Aphasie, die das mentale Sprachsystem betraf: die 'zentrale Aphasie', die alle Bereiche des Sprachsystems schädige und dazu führe, daß Probleme im Bereich der Funktionswörter und Flexionsformen aufträten. Der Telegrammstil, den man im Gefolge der 'zentralen Aphasie' beobachten könne, sei lediglich die Folge einer rein motorischen Behinderung der Sprachproduktion, die durch die Läsion des motorischen Sprachzentrums hervorgerufen werde. Wegen der motorischen Probleme, die zusätzlich zu der 'zentralen Aphasie' hinzuträten, konzentriere sich der Patient auf die kommunikationstechnisch relevanteren Inhaltswörter, was zum Telegrammstil führe. Der 'sensorische Agrammatismus' der Paragrammatismus, der bei sensorischer Aphasie zu beobachten ist, basierte seiner Ansicht nach ebenfalls auf dieser 'zentralen Aphasie', zu der sich in diesem Fall eine amnestische Aphasie geselle. Da der Aphasiker bei diesem Typ des 'Agrammatismus' sein Augenmerk wegen der amnestischen Störung der Inhaltswörter hauptsächlich auf die Funktionswörter richte, erscheine dieser Agrammatismus anders als der Telegrammstil, obwohl beiden dieselbe Störung zugrunde liege (vgl. Isserlin 1922, de Bleser 1987). Während man als gemeinsamen Nenner dieser Ansätze bezeichnen könnte, daß sie den Agrammatismus nicht als sprachspezifische oder eigenständige oder vom Paragrammatismus distinkte Störung verstehen, bildet die Annahme, der Agrammatismus beruhe auf einer spezifischen Störung des Sprachsystems, die Basis der Ansätze der vierten Gruppe. Hier ist der Ansatz von Bonhoeffer (1902) zu nennen, der aufgrund einer zur Spontansprache parallelen Verständnisstörung zum erstenmal das Konzept eines 'zentralen Defizits' einbringt. Das motorische Sprachzentrum stellte für ihn den Sitz der grammatischen Begriffe dar. Eine Läsion in diesem Areal führte also nicht nur zu den bekannten motorischen Proble1934 kehrte Kleist - nach umfangreichen Patientenstudien - wieder zu seinem 1914 vertretenen Ausgangspunkt zweier distinkter grammatischer Störungen zurück (vgl. de Bleser 1987).
17 men der motorischen Aphasie, sondern durch eine Schädigung dieses grammatischen Zentrums auch zu einer Störung des feineren Wortgefüges und der Satzbildung, die sich in Paraphasien und dem Agrammatismus - für ihn nur eine Form der Paraphasie auf Satzebene - äußerte (Bonhoeffer 1902:223). Auch Heilbronner (1906) und Salomon (1914) wandten sich aufgrund paralleler agrammatischer Leistungen in anderen sprachlichen Modalitäten als der Spontansprache (i.e. beim Schreiben und beim Verständnis) gegen die These, den Agrammatismus als Folgeerscheinung rein motorischer Probleme anzusehen. Für Salomon lag ihm vielmehr eine 'mangelhafte Kenntnis von Grammatik und Syntax' zugrunde (Salomon 1914:244); Heilbronner ging von einer Schädigung aus, die besonders die Satzbildung als komplexen aber labilen - und daher flir motorische Störungen besonders anfalligen - motorischen Reihenverband betraf (Heilbronner 1906:681). Auch der oben besprochene Ansatz von Kleist (1914), der von einem Verlust der Engramme für Wortfolgen ausgeht, gehört in diese Kategorie, der auch viele der heute verfolgten Ansätze zuzurechnen sind.
Von einem neurologischen zu einem linguistischen Untersuchungsgegenstand: Ein besonderes Kapitel in der Geschichte der Aphasiologie gebührt Arnold Pick (1851-1924). 1913 leitete er mit seinem Werk 'Die agrammatischen Sprachstörungen' ein völlig neues Forschungsparadigma für die Aphasiologie ein. Der Untertitel 'Studien zur psychologischen Grundlegung der Aphasielehre' macht bereits deutlich, worum es ihm mit diesem programmatischen Werk ging. Die assoziationistisch-lokalisationistische Aphasiologie gründete sich insbesondere auf die psychologischen Erkenntnisse der Leipziger Schule, die von Wilhelm Wundt (1832-1920) gegründet worden war. Wundt hatte sich als Ziel gesetzt, psychische Prozesse auf physiologische Grundlagen zurückzuführen und damit meßbar zu machen. Seiner Psychologie - auch Elementen- oder Assoziationspsychologie genannt - ging es darum, die einfachen Grundelemente des Denkens und die Assoziationsgesetze, nach denen sie sich zu komplexen mentalen Aktivitäten verbanden, zu entdecken. Dabei beinhaltete jedes Denken Wundts Auffassung nach bildhafte Vorstellungen (vgl. Lück 1991, Gardner 1992). Dieser Psychologie zufolge stellte sich ein Satz als eine zusammengesetzte Abfolge von Wörtern dar, die diese Erinnerungsbilder wachriefen. Die Auffassungen Wundts und seiner Anhänger waren in der Psychologie jedoch durch ein neues Denkgebäude kritisiert und abgelöst worden, durch die von Oswald Külpe (1862-1915) und Karl Bühler (1879-1963) begründete Würzburger Schule. Diese neue Denkpsychologie hatte sich zum Ziel gesetzt, auch komplexe mentale Aktivitäten zu untersuchen, ein Vorhaben, das von den Verfechtern der Leipziger Schule bislang als unmöglich abgelehnt worden war. Eines der ersten experimentellen Ergebnisse der neuen Schule war, daß Denkprozesse nicht notwendig bildhafte Vorstellungen beinhalteten. Vielmehr zeigten sich abstrakte Prozesse mit unanschaulichen Bewußtseinsinhalten - eben Gedanken (vgl. Lück 1991). Im Zuge dieses Paradigmenwechsels stellten sich natürlich auch Sätze nicht mehr als bloße Aneinanderreihungen von Wörtern dar, sondern man wurde sich der komplexen Verarbeitungsschritte auf dem Weg von einem nicht-bildhaften Gedanken zu einer sprachlichen Äußerung bewußt. Der Satz wurde die Einheit der Sprache. Damit wurden nach Picks Ansicht die neuen
18 Ansätze der Sprachpsychologie, die sich um eine Erhellung der Vorgänge zwischen Denken und Sprechen bemühten, für die Aphasiologie von grundlegender Bedeutung. Die neuen Erkenntnisse der Psychologie hatten in die neurologisch geprägte Aphasiologie jedoch noch keinen Einzug gefunden, eine Tatsache, die Pick vehement kritisierte und mit seinem Werk ändern wollte. "Die vorliegende Schrift stellt den Versuch des Verfassers dar, von einem kleinen Kapitel der Aphasielehre aus zu zeigen, welcher Nutzen für die gesamte Sprachpathologie aus den Hilfswissenschaften zu schöpfen ist." (Pick 1913:11) Das 'kleine Kapitel', das er für diesen Zweck wählte, war das der agrammatischen Sprachstörungen. Dem Agrammatismus als einer "Pathologie des Redens in Sätzen" (ebd.: 131) mußte in den neuen sprachpsychologischen Konzeptionen, für die der Satz im Mittelpunkt der sprachlichen Fähigkeiten stand, eine ganz besondere Bedeutung zukommen. Nach Picks Auffassung trat er in den "Mittelpunkt der Aphasielehre" (ebd.: 16). Da eine Vielzahl von zur damaligen Zeit noch gar nicht bekannten Schritten auf dem vielschichtigen Weg vom Gedanken zum Satz lagen, war Picks Definition des Agrammatismus entsprechend weit gespannt und unspezifisch. Er definierte: "Agrammatismus ist die Form pathologisch veränderten Sprechens, in welcher die bei dem grammatischen und syntaktischen Aufbau der Sprache wirksamen Vorgänge in verschiedenfältiger Weise gestört [...] sich vollziehen." (ebd.:124) Mit dieser neuen, von Pick angestrebten Aphasiologie verbindet sich ein ganzes Forschungsparadigma. Sein Werk enthält zahlreiche Vorschläge und Anregungen für neue Forschungsgegenstände: so z.B. den Hinweis, der Agrammatismus solle auch in nicht-indogermanischen Sprachen untersucht werden - ein Hinweis, der erst in der Mitte der 80er Jahre wieder aufgegriffen werden sollte -, da sich dort aufgrund anderer grammatischer Prozesse der Agrammatismus anders auswirken müsse (ebd.:69, 167). Und auch die aktuelle Idee, die Untersuchung aphasischer Sprachstörungen - insbesondere des Agrammatismus - könne externe Evidenz für die Evaluierung theoretischer Konstrukte liefern, klingt an: "Immer und immer wieder, auf Schritt und Tritt ist bei der Beurteilung pathologischer Besonderheiten auf Tatsachen der Sprachpsychologie zu rekurieren; so wenn es von motorisch Aphasischen heißt, daß einzelne nur Substantiva oder nur Verba zur Verfügung haben; da wohl kaum jemand noch annehmen dürfte, daß in einem solchen Falle nur die die Verba aufspeichernden Ganglienzellen intakt geblieben, wird die Aufklärung über diesen Sachverhalt doch nur in Tatsachen und Deutungen zu suchen sein, die einzig und allein der Sprachpsychologie in weiterem Sinne entnommen werden können. [...] es wird vielmehr nachzusehen sein, ob sich bei entsprechender, bisher noch gar nicht geübter Beachtung dieses und ähnlicher Gesichtspunkte nicht auch im Pathologischen entsprechende kasuistische Differenzen ergeben, die natürlich ihrerseits zur Unterstützung und Aufklärung der sprachpsychologischen Aufstellungen werden dienen können." (ebd.:34-35) Indem Pick die Aphasiologie auf die Grundlagen der Sprachpsychologie und Sprachwissenschaft stellte, besiegelte er jedoch das Ende der neurologisch orientierten Aphasiologie. Mit der Entwicklung der modernen Linguistik durch Noam Chomsky wandelte sie sich von einer Domäne der Neurologen zu einem Untersuchungsgegenstand der Linguistik. Dieser Wandel
19 wurde jedoch zunächst durch das Aufziehen der Ära des Empirismus mit seinen Ausprägungen des amerikanischen Strukturalismus in der Linguistik und des Behaviorismus in der Psychologie verzögert. Ein strukturalistisch-behavioristisches Intermezzo: Das Bestreben des amerikanischen Strukturalismus war es, die strukturellen Gesetzmäßigkeiten, denen natürliche Sprachen folgen, mittels sukzessiv durchgeführter Segmentations- und Klassifikationsoperationen an einem Datenkorpus zu entdecken und mit Regelmechanismen zu beschreiben. Diese Grammatiken waren allein auf der Basis von Inputdaten mit Hilfe von bedeutungsfreien, standardisierten und auf einem Computer implementierbaren Arbeitsschritten zu erstellen. Das System einer Sprache ergab sich für den amerikanischen Strukturalismus allein aus induktiven Verallgemeinerungen des Inputs, die für jeden nachvollziehbar sein mußten (vgl. Newmeyer 1980, Vater 1982). Da sich die Grammatik einer Sprache allein aus den Sprachdaten ergab, war die Erforschung von Sprachstörungen unnötig. Ihre Beschreibung konnte - im Gegensatz zu heutigen Vorstellungen - keine weiteren Aussagen über die menschliche Sprachfähigkeit und die Prozesse der ungestörten Sprachverarbeitung liefern. Die Notwendigkeit, durch die Untersuchung aphasischer Sprache externe Evidenz für Theorien des menschlichen Sprachsystems bereitzustellen, ergab sich für den amerikanischen Strukturalismus nicht. Andere Auffassungen zur Linguistik, wie die der Prager Schule um Roman Jakobson, der es um die Herausarbeitung von sprachlichen Universalien ging, konnten sich demgegenüber zum damaligen Zeitpunkt nicht durchsetzen. Dementsprechend stehen auch Jakobsons Arbeiten zu Aphasien, in denen er den Agrammatismus als Kontiguitätsstörung - als eine Beeinträchtigung der Fähigkeit, linguistische Elemente zu kombinieren - beschreibt (Jakobson 1956/1971:251), in dieser Zeit allein auf weiter Flur.6 Auch für die Psychologie bestand kein Interesse an der Erforschung der Aphasien. Vom Behaviorismus geprägt, konnte sie gar keine Aussagen über Prozesse der Sprachverarbeitung machen, denn dem Behaviorismus zufolge waren Aussagen nur über Dinge möglich, die der direkten Beobachtung zugänglich waren - etwa Input und Output eines Systems, nicht jedoch über dazwischenliegende Verarbeitungsprozesse (vgl. Gardner 1992:122ff.). Nicht nur verbot der Behaviorismus Aussagen über ein Sprachverarbeitungssystem des Menschen, auch über die Störungen dieses Verarbeitungssystems konnte nichts ausgesagt werden. Die Untersuchung solcher Verarbeitungsprozesse und ihrer Störung war für den Behaviorismus verbotenes Terrain, auf dem naturwissenschaftlich nicht gearbeitet werden konnte.
Nach Jakobson betrifft die den Agrammatismus kennzeichnende Kontiguitätsstörung zum einen die Kombination von Wörtern zu Sätzen. Durch die Beeinträchtigung der syntaktischen Regeln kommt es zu einer bloßen Aneinanderreihung von Wörtern; die Wortstellung sowie Kongruenzbeziehungen sind gestört, und in schweren Fällen sind die Äußerungen agrammatischer Sprecher auf Einwortäußerungen reduziert (Jakobson 1956/1971:251). Zum anderen betrifft die Störung der Kontiguität auch die Wortebene, da Flexion und Derivation ebenfalls in einer Kontiguitätsbeziehung zu ihrem Stamm stehen. Hier führt die Störung, Morpheme zu Wörtern zusammenzufügen, zu einem Verlust der Derivations- und Flexionsmorpheme bzw. zum Gebrauch unmarkierter Formen, wie z.B. der Infinitivform bei Verben und des Nominativs bei Nomen (ebd.:252).
20
Da weder Psychologie noch Linguistik Ansprüche auf das Forschungsgebiet der Aphasiologie erhoben, verblieb es bis in die 70er Jahre in der Hand der Neurologen. Deren Ansichten über Aphasien wurden zwar auch durch den Behaviorismus geprägt, dieser erlaubte ihnen jedoch nach wie vor Aussagen über die Lokalisation von Läsionen und ihre Auswirkungen auf den beobachtbaren Sprachoutput. Doch auch hier bewirkte der Siegeszug des Behaviorismus eine Neuorientierung der Forschung. Die behavioristische Aphasiologie hatte sich von ihren lokalisationistisch geprägten Anfängen inzwischen völlig entfernt. Von einer Sprachfähigkeit konnte ihrer Auffassung nach gar nicht mehr gesprochen werden, da sie von der allgemeinen Intelligenz und der Persönlichkeit eines Menschen nicht getrennt werden konnte. Dementsprechend wurde auch der Idee, der Agrammatismus könne eine Störung grammatischer Prozesse widerspiegeln, wenig Sympathie entgegengebracht: "[...] the whole conception of 'agrammatism' is unsatisfactory, in that it implies the loss of some alleged function of grammar which of course has no reality whatsoever." (Critchley 1970:19)
Auch eine Lokalisation der menschlichen Sprachfahigkeit wurde nicht mehr als möglich erachtet. Die Abkehr vom Lokalisationismus ging soweit, daß bereits die Beobachtung, daß Sprachstörungen fast ausschließlich nach Läsionen der linken Hirnhemispäre auftraten, als Problem gesehen wurde (vgl. Critchley 1970:18). Dementsprechend war die neurologische Aphasiologie zum einen geprägt durch die Suche nach rechtshemisphärischen Sprachfunktionen, zum anderen durch Arbeiten, die Veränderungen des Intellekts und der Persönlichkeit zu dokumentieren suchten (z.B. Weisenburg & McBride 1935) und darüber hinaus durch die Frage, ob die Unterschiede zwischen normaler und aphasischer Sprache rein quantitativ - wie vom neuen Forschungszweig der Informationstheorie vorgeschlagen - beschrieben werden konnten (vgl. Critchley 1970:21-22). Daß der Linguistik bei der Erforschung der Aphasien von Seiten der Neurologen generell wenig Bedeutung beigemessen wurde, zeigt eine Äußerung Critchleys in der Schlußrede zu einem internationalen Neurologiekongreß, der 1961 in Rom stattfand: "It is very odd that up to now linguists have been singularly blind to the help which they might have obtained had they consulted us - the specialists in the pathology of language. [...] up to now linguists have not contributed very much to aphasia; less perhaps than neurologists have contributed to linguistics." (Critchley 1970:21)
2. Autonomie, Modularität und selektive Defizite 1957 jedoch erschien Chomskys Buch Syntaktische Strukturen, mit dem er sein Konzept der Generativen Grammatik und damit einen revolutionären Umschwung in der Linguistik begründete. Chomsky ging es nicht lediglich darum, rein strukturalistisch Sprachstrukturen zu beschreiben, er wollte Sprachstrukturen auch erklären und die Mechanismen erfassen, mit denen Sprecher Sätze generieren können. Sein Ziel war, die Regeln aufzudecken, die hinter der menschlichen Sprachfähigkeit stecken: d.h. die Regeln, mit denen man Sätze erzeugen, verstehen und hinsichtlich ihrer Grammatikalität beurteilen kann. Um all dies zu können - soviel war
21 Chomsky klar - mußte man über einen mental repräsentierten Regelapparat verfugen, über eines der mentalen Wissenssysteme, die im Strukturalismus und Behaviorismus so lange verleugnet worden waren. Dieses Wissenssystem bezeichnet Chomsky als sprachliche Kompetenz und unterscheidet sie vom konkreten Sprachgebrauch - der Performanz (Chomsky 1965). Nach Chomsky läßt sich das als Kompetenz bezeichnete Sprachvermögen nicht auf allgemein kognitive Fähigkeiten reduzieren. Es stellt vielmehr eine autonome - d.h. von anderen Bereichen der Kognition unabhängige - Wissenskomponente dar, die durch die biologische Grundausstattung des Menschen im Gehirn verankert ist. Ziel der Generativen Grammatiktheorie wurde und ist die Spezifizierung dieses Wissenssystems. Chomskys Idee eines mental repräsentierten Sprachsystems leitete eine Revolution in der Linguistik ein, in deren Strudel auch die bis dahin neurologisch geprägte Aphasieforschung geriet. Traf Chomskys Konzept eines mental, im Gehirn verankerten Sprachorgans zu, dann sollte dieses Sprachorgan durch Schädigungen der Hirnsubstanz betroffen werden können. Die Himschädigung sollte dabei zu Veränderungen bzw. Störungen des grammatischen Wissenssystems führen, die sich wiederum im konkreten Gebrauch dieses Wissenssystems - der Performanz - zeigen sollten (vgl. Berndt & Caramazza 1980 und 1981, Tesak 1990). Auf diesem Gedankengang basieren die zwei Fragestellungen, mit denen sich die linguistische Aphasieforschung noch heute beschäftigt: Zum einen stellte sich die Frage, ob man bei Aphasien - also durch Schädigung der Hirnsubstanz verursachten Sprachstörungen - Fälle dieser theoretisch vorhergesagten Beeinträchtigungen der grammatischen Kompetenz vor sich habe. Dementsprechend beschäftigte man sich damit, ob sich die aphasischen Beeinträchtigungen als Kompetenzstörungen beschreiben ließen, und wie diese Kompetenzstörungen zu fassen seien, um die beobachteten Beeinträchtigungen verursachen zu können. Zum anderen war die Hoffnung, bei der linguistischen Beschreibung aphasischer Symptome Störungsmuster zu entdecken, die sich an grammatiktheoretisch postulierten Klassifikationen orientierten, und so externe Evidenz für die psychologische Realität dieser Klassifikationen zu erbringen. Beide Fragestellungen bedingen die Annahme von vier Prämissen, die der Suche nach einem Kompetenzdefizit und der Annahme, die Untersuchung des gestörten Systems könne Hinweise auf die Arbeitsweise des ungestörten Systems liefern, zugrunde liegen. i) Modularitätshypothese: In der Generativen Grammatik wird die sprachliche Kompetenz als ein von anderen Bereichen der menschlichen Kognition unabhängiges Modul betrachtet. Die Annahme eines sprachspezifischen, mental repräsentierten Sprachmoduls wird als Modularitätshypothese bezeichnet. Die Modularitätshypothese postuliert nicht nur einen modularen Aufbau der menschlichen Kognition, sondern geht auch von der Annahme aus, daß das sprachliche Wissen seinerseits wiederum aus eigenständigen, aufgabenspezifischen Subkomponenten besteht.
22 îi) Autonomiehypothese: Die Autonomiehypothese besagt, daß diese sprachspezifischen Module von anderen Bereichen oder Modulen der menschlichen Kognition völlig unabhängig arbeiten (vgl. Caramazza 1984, Fanselow & Felix 1987). iii) Fraktionierungshypothese: Dem Interesse, das von linguistischer und psycholinguistischer Seite erworbenen Sprachstörungen entgegengebracht wird, liegt nun die Annahme zugrunde, die Störung könne selektiv nur eine oder mehrere der sprachspezifischen Teilkomponenten betreffen. Diese Fraktionierungshypothese bezeichnet nach Caramazza "the belief that brain damage can result in the selective impairment of components of cognitive processing" (Caramazza, 1984:10). iv) Transparenzhypothese: Bedeutsamkeit für die linguistische Forschung erlangen Sprachstörungen jedoch erst durch eine weitere Annahme - die Transparenzhypothese (Caramazza 1984). Sie besagt, daß die verbleibenden, von der Störung nicht betroffenen Komponenten unverändert wie im ungestörten System arbeiten. Nur wenn diese Annahme gemacht wird, erlaubt die Beobachtung des gestörten Sprachsystems Rückschlüsse auf das normale System. Unter Annahme der Transparenzhypothese läßt sich das durch die Störung ausgelöste Verhalten als Arbeit des intakten Systems ohne die gestörte Komponente auffassen.7 Die Suche nach einem Defizit, das selektiv die grammatische Kompetenz betrifft, rückte insbesondere den Agrammatismus ins Zentrum der linguistischen Aphasieforschung, denn eher als bei jeder anderen aphasischen Beeinträchtigung schien hier eine isoliert die Grammatik betreffende Störung vorzuliegen.
3. Charakteristika des Agrammatismus Der Agrammatismus gilt neben großer Sprachanstrengung und einem in der Kommunikation mit den Patienten gut erhaltenen Sprachverständnis als eines der Leitsymptome der BrocaAphasie (vgl. z.B. Kerschensteiner et al. 1978, Huber et al. 1982 und 1983, Poeck 1992). Aphasien - zentrale Störungen der menschlichen Sprachfähigkeit, hervorgerufen durch eine Hirnsubstanzschädigung nach Abschluß des Spracherwerbs (Friederici 1984, Kelter 1990) -
Die Annahme der Transparenzhypothese wird von Heeschen und Kolk (vgl. Heeschen 1985, Kolk et al. 1985, Heeschen & Kolk 1988, Kolk & Heeschen 1992, Hofstede & Kolk 1994, Kolk 1995) jedoch in Frage gestellt. Ihrer Ansicht nach spiegelt der in der Spontansprache auftretende Agrammatismus nicht das zugrundeliegende Defizit selbst wider. Er ist vielmehr die Folge einer Vermeidungs- oder Adaptationsstrategie, mit der Agrammatiker auf die sprachliche Beeinträchtigung reagieren. Aus der Untersuchung des Agrammatismus in der Spontansprache kann ihrer Ansicht nach also nicht auf das zugrundeliegende Defizit geschlossen werden.
23 werden heute im allgemeinen in vier große aphasische Syndrome klassifiziert: die BrocaAphasie, die Wernicke-Aphasie, die globale und die amnestische Aphasie (Huber 1981, Huber et al. 1982 und 1983, Poeck 1992). Diese Klassifikation beschreibt Gefäßsyndrome, die im Versorgungsgebiet der Arteria cerebri media durch eine Gefäßschädigung entstehen. Eine Broca-Aphasie wird dabei meist durch einen Infarkt im Versorgungsgebiet der Arteria präcentralis verursacht, der zu einer präzentral gelegenen Läsion führt (Kerschensteiner et al. 1978, Huber 1981, Huber et al. 1982). Das Syndrom der Broca-Aphasie umfaßt die folgenden klinischen Symptome (Kerschensteiner et al. 1978, Huber 1981, Huber et al. 1982 und 1983, Friederici 1984, Poeck 1992): • In der Spontansprache zeigt sich ein erheblich verlangsamter, durch viele Pausen unterbrochener und verringerter Sprachfluß. • Die Patienten zeigen eine große Sprachanstrengung in der Spontansprachproduktion. Ihr Verhalten während des Gesprächs drückt Unzufriedenheit und Verzweiflung über die eigene Sprachproduktion aus. • Neben mühevoller und undeutlicher Artikulation, zeigen sich oft Störungen der Prosodie mit Abweichungen in Wort- und Satzakzent, Beeinträchtigungen der Satzintonation sowie phonematische Paraphasien. • Im Gegensatz zu den ausgeprägten und deutlichen Beeinträchtigungen der Spontansprache wirkt das Sprachverständnis der Patienten in normalen Kommunikationssituationen meist ungestört. Neben diesen Symptomen zeigt die Sprachproduktion von Broca-Aphasikern noch spezifische Störungen der Satz- und Wortbildung, die unter den Begriff Agrammatismus gefaßt werden. Der Agrammatismus ist gekennzeichnet durch eine generelle Verarmung der syntaktischen Struktur, die sich in einer Reduktion der Äußerungslänge auf wenige Konstituenten und der Bevorzugung kanonischer Stellungsmuster äußert. Gebundene oder freie funktionale Elemente, wie Determinierer, Auxiliare oder Verbflexive, werden ausgelassen (vgl. Bsp. (1)) oder im Falle gebundener grammatischer Morpheme, wie der Subjekt-Verb-Kongruenzflexion oder der Kasusflexion, auch durch unmarkierte Formen (z.B. den Infinitiv oder einen Default-Kasus) (vgl. Bsp.(3c-e)) ersetzt (vgl. z.B. Tissot, Mounin, Lhermitte 1973, Kerschensteiner et al. 1978, Friederici 1984, Menn & Obler 1990b, Tesak 1991). Insbesondere die sprachvergleichenden Studien zu aphasischen Beeinträchtigungen, die Ende der 80er Jahre durchgeführt wurden, haben gezeigt, daß die konkreten Ausprägungen dieser allgemein akzeptierten Definition des Agrammatismus von den spezifischen Charakteristika einer Sprache abhängig sind (vgl. Menn & Obler 1990a, Bates & Wulfeck 1989, Bates et al. 1991a). Ob ein gebundenes grammatisches Morphem im Agrammatismus einer spezifischen Sprache ausgelassen oder ersetzt wird, scheint z.B. davon abzuhängen, ob der Stamm des zu flektierenden Wortes in der jeweiligen Sprache ein lexikalisch wohlgeformtes Wort ist (vgl. Grodzinsky 1984, 1990). Ist dies der Fall, dann kommt es im Agrammatismus zu Auslassungen gebundener grammatischer Morpheme (Bsp. (la)). Ist der Stamm kein lexikalisch wohlgeformtes Wort wie der russische Stamm grustn- in Beispiel (lb), dann werden gebundene grammatische Morpheme nicht ausgelassen, sondern ersetzt (vgl. auch Bsp. (2b)). Zudem scheint die Größe der Flexionsparadigmen der jeweiligen Sprache die Häufigkeit fehlerhafter Realisierun-
24 gen flektierter Wortformen zu beeinflussen: Je größer ein Flexionsparadigma ist, d.h. je mehr Formen es enthält, desto eher kommt es zu Ersetzungen richtiger durch falsche Formen (vgl. Bates et al. 1987, Bates & Wulfeck 1989, Menn & Ohler 1990c). Auch der zu beobachtende Rückzug auf kanonische Wortstellungsmuster führt zu einzelsprachspezifischen Ausprägungen des Agrammatisms: Realisiert wird dabei das in der jeweiligen Sprache kanonische Wortstellungsmuster (vgl. aber Reznik et al. 1995). Während dies z.B. bei italienischen und englischen Broca-Aphasikern die SVO-Stellung ist (Bsp. (2a, b)) (vgl. z.B. Bates et al. 1988), überwiegt bei türkischen Broca-Aphasikern die Stellung SOV, die der kanonischen Wortstellung des Türkischen entspricht (Bsp. (2c)) (Slobin 1991). (la)
the woman wipe_ a plate
(Englisch, Goodglass et al. 1993)
(b)
grustn-q/α malcik traurig-fem. Junge (mask.)
(Russisch, Tsvjetkova & Glozman, 1978)
(2a)
boy kissing the dog (Englisch, Bates et al. 1988) Junge küssen, progressive def. Artikel Hund S V O
(b)
il braccio muov-evo poco der Arm bewegen-Prät. l.Sg. etwas S V Adv
(Italienisch, Lonzi & Luzzatti 1993)
(c)
o on-a sie, NOM. sie-DAT. S O
(Türkisch, Slobin, 1991)
ver-d-i geben-Prät.-3.Sg. V
Der Agrammatisms deutschsprachiger Aphasiker, der in dieser Arbeit untersucht werden soll, zeigt folgende Charakteristika: Die Äußerungslänge ist auf ein oder zwei Konstituenten umfassende Äußerungen reduziert (Bsp. (3a)). Werden ganze Sätze produziert, dann zeigt sich eine Bevorzugung der kanonischen SVO-Hauptsatzstellung (vgl. Tab. 3 in ΠΙ.3.2.2.). Freie grammatische Morpheme wie Artikel oder Auxiliare werden ausgelassen (Bsp. (3b)). Gebundene grammatische Morpheme wie die Subjekt-Verb-Kongruenzflexive oder die Kasusflexive werden durch unmarkierte Formen wie den Infinitiv (Bsp. (3c)) oder den Nominativ (Bsp. (3d, e)) ersetzt. (3a) (b) (c) (d) (e)
da Schrank. ich in Bett gegangen drei Monate ich überhaupt nicht reden Rotkäppchen, warum hast du so ein roter Mundi Werner spielt mit seine Freundin Karten.
25
4. Repräsentationales oder prozedurales Defizit? Die Beeinträchtigung syntaktischer und morphologischer Strukturen, die den Agrammatisms kennzeichnet, bildet den Grund für die Bedeutung, die der Erforschung des Agrammatismus in der linguistischen Aphasieforschung zugemessen wird. Denn der Agrammatismus scheint, wie schon die Bezeichnung andeutet, die Möglichkeit einer isoliert die grammatische Kompetenz betreffenden Störung anzuzeigen (vgl. Friederici 1984, Fanselow & Felix 1987). Erklärungsansätze, die versuchen, den Agrammatismus auf ein Kompetenzdefizit zurückzuführen, das zu einem Verlust bzw. einer Veränderung sprachlicher Repräsentationen bei gleichzeitigem Erhalt aller anderen allgemein kognitiven Fähigkeiten führt, bestimmten insbesondere die Anfänge der modernen Aphasieforschung in den frühen 80er Jahren. Störungen der grammatischen Kompetenz sollten sich in jeder sprachlichen Modalität oder Aufgabenstellung zeigen, die den Zugriff zu diesem Wissenssystem erfordert (Weigl & Biewisch 1970, Berndt & Caramazza 1981). Daher rückte insbesondere die Untersuchung anderer sprachlicher Modalitäten als der offensichtlich beeinträchtigten Sprachproduktion in den Vordergrund des Interesses. Eine Reihe von Arbeiten beschäftigte sich dementsprechend mit den Satzverständnisleistungen agrammatischer Aphasiker und versuchte, Evidenz für das erwartete zentrale Defizit im Bereich der Syntax zu erbringen (vgl. z.B. Caramazza & Zurif 1976, Saffran et al. 1980, Schwartz et al. 1980, Berndt & Caramazza 1980, Caplan 1983a und 1985). Demgegenüber standen Arbeiten, die eine Beeinträchtigung der grammatischen Kompetenz ausschlossen, da sie keine Evidenz für ein modalitätsübergreifendes Defizit finden konnten. Hier sind insbesondere die Arbeiten von Linebarger und Kollegen zu nennen, die die Annahme eines Kompetenzdefizits ablehnten, da die von ihnen untersuchten Agrammatiker in einer Grammatikalitätsbeurteilungsaufgabe keine Beeinträchtigungen gezeigt hatten, die auf eine Störung der grammatischen Kompetenz hindeuteten (vgl. z.B. Linebarger et al. 1983, Schwartz et al. 1985, Linebarger 1990, 1995). Demgegenüber nahmen sie ein 'mapping* Defizit an, nach dem Agrammatiker nicht mehr in der Lage sind, die semantische Struktur einer Äußerung in eine syntaktische Stuktur (und vice versa) zu überführen. Während bei der Suche nach einem Kompetenzdefizit zunächst noch eher allgemein gehaltene Beeinträchtigungen der syntaktischen Komponente postuliert wurden, beschäftigte sich die Forschung ab Mitte der 80er Jahre damit, das angenommene Defizit grammatischer Repräsentationen genauer zu spezifizieren. Eine Reihe von Erklärungsansätzen entstand, die direkt auf Modellen der Generativen Grammatik basierten und versuchten, systematische Abweichungen agrammatischer von normalsprachlichen Repräsentationen an grammatiktheoretisch relevanten Punkten festzumachen (sogennante 'natural classes' siehe Grodzinsky 1990). Die erste dieser Arbeiten stammt von Kean (1977). Während ihr auf der Generativen Phonologie (Chomsky & Halle 1968) basierender Erklärungsansatz dem Agrammatismus ein phonologisches Defizit zugrunde legte, das die natürliche Klasse der phonologischen Klitika betraf (vgl. Kap. IV. 1.1.), verlagerte sich die Suche nach dem verursachenden repräsentationalen Defizit im weiteren Verlauf auf die Syntax. Erklärungsansätze wurden propagiert, die repräsentationale Veränderungen syntaktischer Strukturen, ob durch die Schädigung funktionaler Kategorien (vgl. z.B. Ouhalla 1993, Hagiwara 1995, Friedmann & Grodzinsky 1997, sowie Kap.
26 III.2.1.2.) oder durch Beeinträchtigungen syntaktischer Spuren (vgl. z.B. Grodzinsky 1984, 1990, 1995a/b) sowie Kap. III.2.2.) bedingt, für das agrammatische Defizit verantwortlich machten. Diesen Ansätzen, die bei der Beschreibung und Erklärung des agrammatischen Defizits auf linguistische Klassifikationen und Beschreibungsrahmen Bezug nehmen, steht eine Gruppe von Ansätzen gegenüber, die nicht mehr linguistisch relevante Faktoren, sondern Beeinträchtigungen allgemeinerer Art für das agrammatische Defizit verantwortlich macht. Goodglass (1968) griff diesen Erklärungsansatz mit seiner 'Stress-Saliency'-These auf, nach der der Agrammatismus in der Sprachproduktion durch eine Erhöhung der Schwelle des Sprachausgabesystems (z.B. Goodglass 1968) verursacht ist. Diese Schwelle kann lediglich durch ein 'salientes', Akzent tragendes Element überwunden werden. Da gebundene und freie grammatische Morpheme im Sinne Goodglass' nicht salient sind, sind besonders sie von der Störung betroffen, was zu Auslassungen dieser Elemente in der Sprachproduktion führt. In diese Gruppe der Erklärungsansätze fallen auch die Arbeiten von Stemberger (1984, 1985), der eine allgemeine Erhöhung der Aktivierungsschwelle für sprachliche Einheiten annimmt (vgl. Kap. IV.4.3.) oder der Ansatz von Bates & Wulfeck (1989), der die Probleme agrammatischer Aphasiker auf die im Vergleich zu Inhaltswörtern höheren spezifischen Verarbeitungskosten (cue-costs) grammatischer Morpheme zurückführt. Diese Verarbeitungskosten führen bei Eintritt ungünstiger Faktoren wie Stress oder Lärm dazu, daß der lexikalische Zugriff auf diese Elemente mißlingt. Die zur Zeit vielleicht wichtigste Fraktion innerhalb dieses Erklärungsrahmens machen jedoch Ansätze aus, die davon ausgehen, daß der Agrammatismus durch eine Beeinträchtigung der zeitlichen Koordination der schnellen, automatischen Verarbeitungsvorgänge verursacht ist, die bei der Sprachverarbeitung ablaufen, vgl. z.B. Kolk (1995): „Language comprehension and production are exceedingly complex tasks in which numerous pieces of information have to be juggled within fractions of seconds. All parts have to fall in the right place at the right time. The disruption of this temporalfine-tuningcould well be the deficitresponsiblefor the difficulties aphasies have in expressive and receptive language tasks." (Kolk 1995:282) Erklärungsansätze, die den Agrammatismus auf eine solche prozedurale Beeinträchtigung zurückführen, wurden durch die Entwicklung immer raffinierterer Verfahren zur Messung der zeitlichen Vorgänge bei der Sprachverarbeitung Ende der 80er Jahre ermöglicht, und erfreuen sich zunehmender Popularität unter Aphasieforschern. Die Argumentation in diesen Erklärungsansätzen basiert dabei auf dem Vergleich von Reaktionszeitwerten unbeeinträchtigter und agrammatischer Versuchspersonen, die bei der Verarbeitung sprachlichen Materials ermittelt werden. Zeigen sich dabei signifikante Unterschiede in den Reaktionszeiteffekten zwischen Aphasikern und unbeeinträchtigten Kontrollpersonen, so wird dies als Evidenz für eine zeitliche Desynchronisation der Sprachverarbeitungsvorgänge gewertet. So untersuchten z.B. Haarmann & Kolk (1994) die Fähigkeit agrammatischer Versuchspersonen, Verletzungen der Subjekt-Verb-Kongruenz zu erkennen. Sie testeten dabei unter anderem nicht-eingebettete Satzgefüge wie in (4), die auditiv dargeboten wurden und korrekte (Bsp. (4a)) bzw. inkorrekte Kongruenz (Bsp. (4b)) zwischen Subjekt und Verb zeigten. Aufgabe der Versuchsteilnehmer war, ein Zielwort (im Bsp. ijs) in diesen Satzgefügen zu identifizieren, wobei die Reaktionszeit
27 der Versuchspersonen vom Onset des Zielworts bis zu ihrer Reaktion gemessen wurde. Getestet wurden zwei verschiedene Bedingungen: In der ersten Bedingung folgte das Zielwort direkt auf das Verb des zweiten Satzes (eten bzw. eet). In der zweiten Bedingung lag eine Pause von 750 msec, zwischen der Präsentation dieses Verbs und der Präsentation des Zielwortes. (4a)
De vrouwen dragen het kind en eten een ijs midden in het park, die Frauen tragen das Kind und essen ein Eis mitten in dem Park
(b) *
De vrouwen dragen het kind en eet een ijs midden in het park, die Frauen tragen das Kind und ißt ein Eis ...
Für 20 unbeeinträchtigte Kontrollpersonen zeigte sich bei dieser Aufgabe in beiden Bedingungen (zeitliche bzw. keine zeitliche Verzögerung bei der Präsentation des Zielwortes) ein Grammatikalitätseffekt. Die mittlere Reaktionszeit für Sätze mit korrekter Kongruenz lag dabei jeweils signifikant unter den Reaktionszeiten für Sätze mit fehlerhafter Kongruenz. Ein vergleichbarer Grammatikalitätseffekt zeigte sich auch für die 15 getesteten agrammatischen Versuchspersonen - allerdings nur in der Bedingung, in der das Zielwort ohne zeitliche Verzögerung auf das Verb des zweiten Satzes folgte. Folgte das Zielwort dagegen mit einer Verzögerung von 750 msec, auf das Verb des zweiten Satzes, ließ sich kein Grammatikalitätseffekt für die untersuchten Broca-Aphasiker feststellen. Haarmann & Kolk schließen aus diesem Ergebnis, daß Broca-Apasiker unter einer pathologischen Limitierung ihrer Verarbeitungskapazität litten, die dazu führe, daß syntaktische Informationen schneller als bei der unbeeinträchtigten Sprachverarbeitung nicht mehr verfügbar seien. Ähnliche Defizite werden auch von Friederici sowie Zurif und Swinney angenommen. Friederici sieht den Agrammatismus durch einen Verlust der schnellen syntaktischen Verarbeitungsprozesse gekennzeichnet, der dazu führt, daß z.B. die syntaktische Information, die in grammatischen Morphemen enthalten ist, nicht mehr in der erforderlichen schnellen und automatischen Weise verarbeitet werden kann (vgl. z.B. Friederici & Kilborn 1989, Friederici et al. 1992, Friederici 1994, 1995). Laut Zurif und Swinney sind im Agrammatismus die normalen Mechanismen des lexikalischen Zugriffs verlangsamt, so daß die Informationen, die in lexikalischen Elementen kodiert sind, nicht zum erforderlichen Zeitpunkt in der Sprachverarbeitung zur Verfügung stehen (vgl. z.B. Zurif et al. 1993, Zurif et al. 1994, Swinney & Zurif 1995). Gemeinsam ist diesen Ansätzen, daß die Möglichkeit einer spezifischen selektiven Beeinträchtigung sprachlicher Repräsentationen ausgeschlossen wird. Im Gegensatz zur linguistischen Aphasieforschung ist das Bestreben dieser eher psychologisch basierten, prozeduralen Ansätze nicht mehr darauf gerichtet, das agrammatische Defizit durch die Beeinträchtigung linguistischer Kategorien und Klassifikationen zu beschreiben und so durch die Untersuchung gestörter Sprachsysteme einen Beitrag zur linguistischen Theoriebildung zu leisten. Mit dem Bestreben, das agrammatische Defizit allein auf Störungen der bei der Sprachverarbeitung ablaufenden schnellen, automatischen Verarbeitungsschritte zurückzuführen, rückt sowohl die Relevanz theoretisch-linguistischer Analysen agrammatischer Sprache als auch die Relevanz agrammatischer Daten für die linguistische Theoriebildung immer weiter in den Hintergrund.
28 Ziel der Arbeit ist es, einen Beitrag zu der Frage zu leisten, inwieweit die Abkehr von einer linguistisch orientierten Aphasieforschung, die sich in diesen eher psychologisch orientierten Ansätzen abzeichnet, gerechtfertigt ist. Auf der Grundlage einer umfangreichen Datenbasis, die Spontansprachkorpora und experimentell erhobene Daten von insgesamt elf deutschsprachigen Agrammatikern umfaßt, sollen daher zunächst solche Agrammatismustheorien empirisch getestet werden, die den Agrammatismus durch eine Beeinträchtigung sprachlicher Repräsentationen verursacht sehen. Dieses Vorgehen erscheint aus heuristischen Gründen angebracht, denn repräsentationale Defizittheorien postulieren 'größere', alle Sprachmodalitäten beeinträchtigende Defizite und sind daher empirisch leichter zu falsifizieren als Ansätze, die von Defiziten ausgehen, die lediglich bestimmte zeitliche Verarbeitungsabläufe oder Performanzkomponenten betreffen. Zudem soll auf der Grundlage der empirischen Datenbasis untersucht werden, inwieweit aphasische Daten für die linguistische Theoriebildung von Relevanz sein können, also Einblicke in die mentale Repräsentation unseres sprachlichen Wissenssystems erlauben. Insbesondere für die empirische Überprüfung repräsentationaler Defizittheorien zum Agrammatismus bietet sich der hier verfolgte einzelsprachliche Ansatz an, der auf der Basis einer breit angelegten linguistischen Analyse des Agrammatismus deutschsprachiger Broca-Aphasiker einen systematischen Überblick über die Auswirkungen des agrammatischen Defizits vermitteln kann. Agrammatische Defizite werden insbesondere im Bereich des Phrasenstrukturaufbaus und der Flexionsmorphologie angenommen. Die angenommenen repräsentationalen Defizite sollten dabei u.a. Auswirkungen auf Worstellungsoperationen wie Verbbewegung und Topikalisierung haben, die den Aufbau vollständiger normalsprachlicher Phrasenstrukturen voraussetzen, oder die Herstellung syntaktischer Kongruenzrelationen betreffen, die über funktionale Kategorien wie INFL vermittelt werden. Der Großteil der hier untersuchten Defizittheorien wurde dabei auf der Basis von Daten zum Englischen formuliert. Die sprachvergleichenden Untersuchungen aphasischer Defizite, die die Aphasieforschung Ende der 80er Jahre prägten, haben jedoch gezeigt, daß die konkreten Auswirkungen der agrammatischen Störung durch die Struktur der jeweiligen Einzelsprache, in der der Agrammatismus auftritt, beeinflußt sind. So ist es - wie oben erläutert - z.B. von der Wohlgeformtheit lexikalischer Stämme abhängig, ob grammatische Morpheme im Agrammatismus ausgelassen oder ersetzt werden (vgl. Grodzinsky 1984, 1990). Eine empirische Überprüfung dieser repräsentationalen Defizittheorien anhand von Daten zum Agrammatismus deutschsprachiger Aphasiker erscheint daher sinnvoll; denn im Gegensatz zum Englischen verfügt das Deutsche sowohl über eine freiere Wortstellung als auch über ein besser ausgebildetes Flexionssystem. Es bietet damit ein größeres Potential an Strukturen, bei denen sich repräsentationale Defizite im Bereich der Wortstellung und der Flexion auswirken sollten. Bevor jedoch in den Teilen III und IV die Auswirkungen des agrammatischen Defizits auf Wortstellung und Flexion untersucht werden, sollen im folgenden Teil der Arbeit zunächst die Datenbasis der empirischen Untersuchungen dargestellt und das methodische Vorgehen bei der Datenanalyse erläutert werden.
Ich wußte nicht, wie wertvoll das Wort ist, bis ich in der Fremde stumm wurde. Worte sind unsichtbare Juwelen, die nur die sehen, denen sie entzogen wurden. (Rafik Schami, Erzähler der Nacht)
Π. Methode und Datenbasis der Untersuchung Die empirische Überprüfung linguistischer Agrammatismushypothesen und die Untersuchung der Auswirkungen des Agrammatismus auf ausgewählte Bereiche der deutschen Grammatik, die in dieser Arbeit vorgenommen werden sollen, beruhen sowohl auf einer linguistischen Analyse von Spontansprachdaten, als auch auf experimentellen Ergebnissen von insgesamt elf deutschsprachigen Broca-Aphasikern mit agrammatischer Sprachproduktion. Im ersten Teil dieses Kapitels sollen zunächst die Auswahlkriterien für die hier untersuchten elf agrammatischen Aphasiker aufgeführt werden. Kapitel 2 gibt einen Überblick über die Sprachproduktionsdaten und die fxinf Agrammatiker, von denen diese erhoben wurden. Die Methodik, Datenbasis und die Versuchsteilnehmer der experimentellen Untersuchungen werden in Kapitel 3 beschrieben. Im letzten Teil dieses Kapitels wird das methodische Vorgehen vorgestellt, dem ich im anschließenden empirischen Teil der Arbeit folgen werde.
1. Auswahl der Versuchspersonen Der Vergleich der in 1.1. und 1.3. aufgeführten Definitionen des Agrammatismus macht deutlich, daß die Diagnose des Agrammatismus auch heute noch allein durch den klinischen Eindruck der Sprachproduktion geprägt wird, die durch eine Verarmung syntaktischer Strukturen und eine Beeinträchtigung gebundener und freier funktionaler Elemente gekennzeichnet ist. Neben dieser allgemein akzeptierten klinischen Beschreibung existiert bis heute kein unabhängiges Kriterium zur Diagnose des Agrammatismus. Zwar ist der Agrammatismus eines der Leitsymptome der Broca-Aphasie (Kerschensteiner et al. 1978, Huber et al. 1982, Poeck 1992), die wiederum mittels Testbatterien wie dem Aachener Aphasie Test (AAT) objektiv und reliabel diagnostiziert werden kann (Huber et al. 1983, Willmes et al. 1983), jedoch scheint er kein notwendiges Symptom der Broca-Aphasie zu sein (vgl. Tesak 1990, 1991, Kean 1995). Auch die Lokalisation der Himläsion erlaubt keinen sicheren Rückschluß auf das Vorliegen einer agrammatischen Sprachstörung. Auf der Basis einer Untersuchung der CT-Aufnahmen von insgesamt 20 Agrammatikern schließen Vanier & Caplan (1990): „the more general set of symptoms known as 'agrammatism' does not correlate uniformly with any narrow site of lesion within the perisylvian cortex" (ebd.: 112) (vgl. auch Roch Lecours et al. 1984, Caplan 1987, de Bleser 1988, Wallesch 1988).
30 Um dennoch soweit möglich eine Vergleichbarkeit der hier untersuchten Aphasiker sicherzustellen, wurden bei der Auswahl der agrammatischen Aphasiker folgende drei Kriterien angelegt: i) Für die hier untersuchten Aphasiker lag eine Aphasieklassifikation mit dem Aachener Aphasie Test (Huber et al. 1983) vor, die jeweils die Diagnose einer Broca-Aphasie ergab. Dieses Kriterium erfüllte eine der elf untersuchten Agrammatiker (Frau O.) nicht, da der AAT zum Zeitpunkt der Datenerhebung bei dieser Aphasikerin als Diagnoseverfahren noch nicht vorlag. Stattdessen war bei dieser Aphasikerin nach der damals gängigen Aphasieklassifikation von Leischner (1979) eine motorisch-amnestische Aphasie diagnostiziert worden. Die motorisch-amnestische Aphasie entspricht im wesentlichen der Broca-Aphasie der heute gebräuchlichen AAT-Klassifikation. Für eine genauere Beschreibung des Störungsbildes der motorisch-amnestischen Aphasie verweise ich auf Leischner (1979). ii) Zusätzlich zur Aphasiediagnose war die Sprachproduktion aller untersuchten Aphasiker unabhängig von meiner Beurteilung - von den betreuenden Sprachtherapeuten bzw. den sie untersuchenden Linguisten als agrammatisch klassifiziert worden. iii) Um zudem ein einheitliches Kriterium für die Klassifikation 'Agrammatismus' zu haben, wurde auf der Basis eines kurzen Spontansprachkorpus für jeden der elf Aphasiker überprüft, ob die von Menn & Obler (1990b) in ihrer sprachvergleichenden Studie aufgestellten Kriterien für das Vorliegen eines Agrammatismus erfüllt sind: "[...] (1) reduction of grammar through the omission of free or bound grammatical morphemes, (2) use of unmarked forms (e.g., nominatives of nouns, infinitive of verbs), (3) limited syntactic variety, and (4) near-absence of syntactic constructions indicating subordination." (ebd.: 14) Um dieses Kriterium für den Leser transparent und nachprüfbar zu machen, enthält der Anhang Auszüge aus den Spontansprachkorpora der Aphasiker Herr E. und Herr L. sowie der sechs aphasischen Versuchsteilnehmer (vgl. dort Kap. B). Für Auszüge aus den Spontansprachkorpora der anderen hier untersuchten Aphasiker (Frau O., Frau B., Herr M.) verweise ich auf die jeweils angegebene Literatur.
2. Spontansprachdaten Die Datenanalyse stützt sich zum einen auf die Sprachproduktionskorpora fünf deutschsprachiger, agrammatischer Broca-Aphasiker: Herr L., Herr E., Frau O., Frau B. und Herr M. Die Spontansprachkorpora der Agrammatiker Frau O., Frau B. und Herr M. stammen dabei aus der Agrammatismusliteratur: Die Sprachproduktionsdaten von Frau B. und Herrn M. wurden von Stark & Dressler (1990) in der sprachvergleichenden dreibändigen Sammlung zum Agrammatismus von Menn & Obler (1990a) veröffentlicht. Die von mir analysierten Spontansprachdaten von Frau O. stammen aus Peuser (1978). Das Sprachmaterial von Herrn L. und Herrn E. besteht aus bislang unveröffentlichten Daten, die mir von Prof. Dr. Walter Huber von der RWTH Aachen für eine linguistische Analyse zur Verfügung gestellt (Herr E.) bzw. von mir selbst in der Rheinischen Landesklinik Bonn erhoben wurden (Herr L.).
31 Tabelle 1 gibt einen kurzen, schematischen Gesamtüberblick Uber die wichtigsten Daten zu den untersuchten Agrammatikern. Für jeden der fünf Agrammatiker führt die Tabelle in den Spalten zwei und drei Ätiologie und Lokalisation der Hirnschädigung auf. Die Aphasiediagnose und das Diagnoseverfahren ergeben sich aus Spalte vier. Als weitere persönliche Daten sind in den folgenden drei Spalten das Alter bei Auftreten der Hirnschädigung und zu Beginn der linguistischen Untersuchungen sowie die Händigkeit angegeben. Eine genauere Beschreibung der hier untersuchten Agrammatiker findet sich im Anhang (siehe dort Kap. A). Ätiologie
Lokalisation
Diagnose
Alter bei Alter bei HändigInsult Test keit
Hr.L.
intracerebr. Blutung
Stammganglien links
AATBroca-A.
29
33
rechts
Hr.E.
CarotisDissekat
links im vorderen Versorgungsbereich der A. cerebri media
AATBroca-A.
24
24
rechts
Fr.B.
ischämischer Insult
ausgedehnte prä- und AAT Broca-A. postzentrale Läsion im Versorgungsgebiet der linken A. cerebri media
44
47
rechts
Hr.M
ischämischer Insult
links fronto-opercular AAT Broca-A.
61
63
rechts
Fr.O.
Insult
keine Angaben
keine Angabe1
40
rechts
mot.amnest. A.
Tab. 1 : Charakteristika der untersuchten Agrammatiker Die Sprachproduktionsdaten der untersuchten Agrammatiker umfassen insgesamt 1540 analysierbare Äußerungen, die in verschiedenen Gesprächs- und Aufgabensituationen - etwa bei der Beschreibung von Bildern oder der Nacherzählung von Geschichten - produziert wurden. Tabelle 2 gibt einen ersten Überblick über das von mir analysierte Spontansprachmaterial. Sie führt für jeden der untersuchten Agrammatiker die Anzahl der Äußerungen auf, die
Zwar macht Peuser keine Angaben zum Zeitpunkt des Eintretens des Insults bei den von ihm aufgeführten Aphasikern. Allerdings hat er das präsentierte Datenmaterial während seiner Arbeit an der Rheinischen Landesklinik in Bonn, einer Rehabilitationsklinik, erhoben. Daraus kann gefolgert werden, daß sich die Aphasie von Frau O. zum Zeitpunkt der Datenerhebung nicht mehr in einer Akutphase befand.
32 insgesamt analysiert wurden. Nicht bei der Analyse berücksichtigt wurden Imitationen, Interjektionen, Floskeln (etwa hallo, danke etc.), Wiederholungen und Kurzantworten wie ja, nein, hm. analysierbare Äußerungen gesamt HerrL.
465
HerrE.
673
Frau B.
137
HerrM.
136
Frau O.
129
gesamt
1540
Tab.2: Datenüberblick Um die Sprachproduktionsdaten der Patienten einer quantifizierenden grammatischen Analyse unterziehen zu können, wurden die Daten in eine Datenbank eingegeben und Informationen zur Äußerungslänge, zum Satz- und Konstituentenaufbau sowie zur Flexionsmorphologie kodiert. Dabei wurde soweit möglich versucht, lediglich die tatsächlich produzierten Konstituenten hinsichtlich ihrer morphologischen und syntaktischen Struktur zu analysieren und auf die Rekonstruktion nicht vorhandener Konstituenten zu verzichten. Dies stößt immer dann an Grenzen, wenn die Beurteilung der Grammatikalität einer Form notwendig von der Rekonstruktion einer anderen abhängt. Dies ist z.B. bei der Beurteilung der Subjekt-Verb-Kongruenz der Fall, wenn zwar das Verb nicht aber das Subjekt der Äußerung produziert wird. In diesen Fällen wurden die zur Beurteilung der Kongruenz erforderlichen grammatischen Merkmale des Subjekts aus dem Kontext der Äußerung rekonstruiert. So kann aus der Äußerung schläft" zur Beschreibung eines Bildes, das eine schlafende Katze zeigt, daraus geschlossen werden, daß als Subjekt der Äußerung die Katze intendiert war. Da das produzierte Verb hinsichtlich seiner Person- und Numerusmerkmale (3.Sg.) mit den grammatischen Merkmalen dieses intendierten Subjekts (3.Sg.) Ubereinstimmt, kann die Subjekt-Verb-Kongruenz in dieser Äußerung als korrekt bewertet werden. Äußerungen, in denen eine solche Rekonstruktion nicht zweifelsfrei möglich war, wurden bei der Auswertung nicht berücksichtigt. Da der Schwerpunkt der Spontansprachanalyse auf der Untersuchung von syntaktischen und morphologischen Phänomenen lag, wurden Informationen zu Artikulation, Phonologie oder dem Redefluß nicht kodiert. Als Grundlage für die Datenbank dienten die veröffentlichten
33 bzw. selbsterstellten Spontansprachtranskripte.2 Die Transkripte wurden von Pausen und korrigierten Versprechern bereinigt, artikulatorische und phonologische Fehler wurden berichtigt, soweit sie die morpho-syntaktische Analyse nicht berührten.
3. Experimentelle Untersuchungen Zwar erlauben Spontansprachdaten prinzipiell einen breiten Überblick über die Auswirkungen aphasischer Beeinträchtigungen auf verschiedenste linguistische Phänomenbereiche, jedoch enthalten Spontansprachdaten nicht jede interessierende linguistische Struktur in ausreichender Menge. Aus der Abwesenheit oder Seltenheit einer Struktur auf eine mögliche Beeinträchtigung dieser Struktur zu schließen, ist jedoch problematisch, da das Fehlen einer Struktur auch durch Faktoren begründet sein kann, die sich nicht aus einer Störung des Sprachsystems ergeben, wie z.B. durch allgemeine Limitierungen der Gedächtnisleistung. Um die Ergebnisse der Spontansprachanalyse zu überprüfen und die Datenbasis um Daten zu spezifischen Fragestellungen zu erweitern, wurden daher zusätzlich zu der Analyse der Spontansprachkorpora auch experimentelle Daten erhoben. Eine experimentelle Datenerhebung bietet sich dabei an, da Daten ganz spezifisch für ausgesuchte grammatische Fragestellungen erhoben werden können. Dadurch vergrößert sich nicht nur die Datenbasis, sondern es können auch die Kontexte, in denen eine Äußerung produziert wird, kontrolliert werden.
3.1. Kurze Charakteristik der Versuchsteilnehmer Die experimentellen Untersuchungen wurden mit insgesamt sechs agrammatischen Versuchspersonen (Vp) durchgeführt, die Aphasiker-Selbsthilfegruppen aus dem Kölner und Bonner Raum angehörten und sich für diese Untersuchung freiwillig und unentgeltlich zur Verfügung stellten. Laut den unabhängigen AAT-Aphasiediagnosen der behandelnden Sprachtherapeuten und Linguisten lag bei jeder der sechs agrammatischen Versuchspersonen eine Broca-Aphasie mit agrammatischer Sprachproduktion vor. Die Ergebnisse des für die Versuchspersonen jeweils zuletzt durchgeführten AATs, sowie ein kurzes Spontansprachkorpus mit Angabe des Erhebungszeitpunkts sind im Anhang aufgeführt (siehe dort Kap. Β und C). Alle Versuchspersonen befanden sich zum Zeitpunkt der Untersuchung in regelmäßiger sprachtherapeutischer Behandlung. Es handelte sich ausnahmslos um Muttersprachler des Deutschen, die vor ihrer Erkrankung keine weiteren sprachlichen oder schriftsprachlichen Beeinträchtigungen gehabt hatten. Für die Spontansprachanalyse von Herrn M. und Frau B. stütze ich mich auf die von Stark & Dressler erstellten 'interlinearen morphemischen Transkripte' (siehe Stark & Dressier 1990:368-390 für Fr. B. / S.409-429 für Hrn. M.), die von artikulatorischen und phonologischen Fehlern sowie Pausen bereinigt sind. Für eine genauere Beschreibung der Richtlinien bei der Erstellung der Transkripte vgl. Menn & Obler (1990b). Der Spontansprachanalyse von Frau O. liegen zwei kurze in Peuser (1978) veröffentlichte Transkripte zugrunde (siehe Peuser 1978:407-409 und 430-431).
34 Vorliegende visuelle Beeinträchtigungen waren korrigiert worden. Vor dem die Aphasie verursachenden linksseitigen Hirninsult waren alle Versuchspersonen Rechtshänder. Die Untersuchung der Aphasiker wurde im Zeitraum zwischen September und Dezember 1994 durchgeführt und nahm pro Versuchsperson jeweils etwa vier Stunden in Anspruch. Um die Versuchspersonen nicht zu sehr zu ermüden, wurden die experimentellen Untersuchungen an vier aufeinanderfolgenden Wochen in jeweils einstündigen, von kleinen Pausen unterbrochenen Sitzungen durchgeführt. Die Versuchspersonen waren während der Untersuchung kooperativ, aufmerksam, räumlich und zeitlich orientiert und zeigten keine Anzeichen von intellektuellen Beeinträchtigungen. Tabelle 3 gibt einen kurzen, schematischen Überblick über die wichtigsten Daten der Vesuchspersonen: Ätiologie und Lokalisation der Hirnschädigung, Diagnose der Sprachstörung, Alter bei Auftreten der Hirnschädigung und zu Beginn der experimentellen Untersuchungen, sowie Geschlecht und Beruf der Versuchspersonen. Vp
Lokalisation der Läsion
Diagnose Alter Alter Sexus Beruf bei bei Insult Test
Vp A ischämischer Insult
Versorgungsbereich der linken A. cerebri media
AAT 46 Broca-A.
50
m
ElektroIng.
Vp Β TumorOP
links frontal
AAT 26 Broca-A.
44
m
Autoschlosser
Vp C ischämischer Insult
Versorgungsbereich der linken A. cerebri media
AAT 54 Broca-A.
59
m
Dipl. RechtsPfleger
Vp D ischämischer Insult, TumorOP
Versorgungsbereich der linken A. cerebri media
AAT 44 Broca-A.
49
m
Rechtsanwalt
Vp E
ischämischer Insult
mittleres + hinteres Versorgungsgebiet der linken A. cerebri media
AAT 42 Broca-A.
48
m
Lehrer
Vp F
ischämischer Insult
fronto-parietales Ver- AAT 35 sorgungsgebiet der Broca-A. linken A. cerebri media
54
m
Elektriker
Ätiologie
Tab.3: Charakteristika der untersuchten Agrammatiker
35 Um einen möglichst realistischen Vergleichsmaßstab für die experimentellen Leistungen der agrammatischen Versuchspersonen zu haben, wurde zudem auch eine gleich große Gruppe neurologisch unbeeinträchtigter Kontrollpersonen (Kp) getestet, die hinsichtlich der Faktoren Alter, Geschlecht, Händigkeit, Ausbildungsstand, Beruf und sozialer Status den agrammatischen Versuchspersonen vergleichbar waren. Alle Kontrollpersonen waren wie die agrammatischen Versuchspersonen zum Zeitpunkt der Untersuchung im Köln-Bonner-Raum ansässig und nahmen freiwillig und unentgeltlich an der Untersuchung teil, die jeweils in einer Sitzung von ca. 1,5 Stunden Dauer durchgeführt wurde. Tabelle 4 gibt einen schematischen Überblick über die wichtigsten Daten der Kontrollpersonen: Alter zum Zeitpunkt der Untersuchung, ausgeübter bzw. ehemaliger Beruf und Geschlecht. Kp
Alter
Sexus
Händigkeit
Beruf
Kp A
54
m
rechts
Diplom-Ingenieur (Oberst a.D.)
Kp Β
45
m
rechts
Versicherungskaufmann
Kp C
59
m
rechts
Oberstleutnant a.D.
Kp D
41
m
rechts
Rechtsanwalt
Kp E
60
m
rechts
Oberst a.D.
Kp F
50
m
rechts
Maschinenbauer (Hauptmann a.D.)
Tab.4: Charakeristika der Kontrollpersonen
3.2. Die experimentellen Designs Insgesamt wurden mit den Versuchs- und Kontrollpersonen sieben Experimente zu verschiedenen Bereichen der deutschen Syntax und Morphologie durchgeführt. Dabei wurden im wesentlichen zwei experimentelle Techniken verwendet - Elizitationen und Satzvervollständigungsaufgaben in Form von Wahlreaktionstests, die nachfolgend beschrieben werden sollen. Ausführlichere Beschreibungen der einzelnen Experimente zu linguistischen Fragestellungen, der Auswahl der Versuchsitems und zu Kontrollfaktoren finden sich im Datenteil zu den jeweiligen Untersuchungsbereichen. Zusätzlich dazu enthält der Anhang für die einzelnen Experimente eine vollständige Auflistung der Versuchsitems und der gegebenen Anweisungen (siehe dort Kap. D).
3.2.1. Elizitation Mit Hilfe von Elizitationstechniken versucht man, bestimmte grammatische Strukturen aus einer Versuchsperson 'herauszulocken' (vgl. z.B. Thornton 1996). Dafür versucht man, einen
36 sprachlichen Kontext herzustellen, der bei unbeeinträchtigten Sprechern in der Regel zur Produktion der gewünschten grammatischen Struktur führt. Die Einbeziehung von unbeeinträchtigten Kontrollpersonen stellt dabei sicher, daß mit der gewählten Aufgabe tatsächlich die gewünschte grammatische Struktur elizitiert werden kann. Die Elizitation erlaubt es, die Sprachproduktion der Versuchsperson stärker zu kontrollieren, als das bei einer normalen, unbeschränkten Kommunikationssituation der Fall wäre. Die stärkere Kontrolle der Sprachproduktion bewirkt, daß elizitierte Daten wesentlich mehr der für die Untersuchung erwünschten grammatischen Strukturen enthalten, als unbeschränkte Produktionsdaten (für eine genauere quantitative Analyse der qualitativen Unterschiede zwischen unbeschränkten Produktionsdaten und elizitierten Daten siehe Eisenbeiß (1997)). Ein Nachteil der Elizitation im Vergleich zu experimentell gewonnenen Daten ist, daß die Versuchsperson bei der Elizitation auch die Möglichkeit hat, andere als die gewünschten grammatischen Strukturen zu produzieren. Dennoch ist die Elizitation für die Gewinnnung von Sprachdaten wertvoll, da sie die Leistung der Versuchspersonen weniger kontrolliert, d.h. den Versuchspersonen weniger Vorgaben über die Produktion macht, als experimentelle Designs. Anders als bei experimentellen Techniken, in denen die Reaktion der Versuchspersonen durch Vorgaben stark kontrolliert wird, erhält die Versuchsperson bei der Elizitation die Möglichkeit, produktiv auf die Aufgabe zu reagieren und damit z.B. grammatiktheoretisch interessante Übergeneralisierungen zu produzieren. Mit Hilfe von Elizitationstechniken wurden WÄ-Argumentfragen sowie Daten zu den Bereichen der Plural- und Partizipflexion erhoben. Eine genauere Beschreibung der Vorgehensweise bei diesen Elizitationen findet sich in den jeweiligen thematischen Kapiteln des Datenteils und im Anhang. Die elizitierten Äußerungen der Versuchsteilnehmer wurden mit einem Tonbandgerät aufgenommen und anschließend transkribiert.
3.2.2. Eingeschränkte Satzvervollständigung Die zweite Technik, die verwendet wurde, läßt sich als S atz Vervollständigungsaufgabe in Form eines Wahlreaktionstests beschreiben. Die Versuchspersonen hatten dabei die Aufgabe, eine vorgegebene Phrase durch die Auswahl einer von mehreren vorgegebenen Möglichkeiten korrekt zu vervollständigen (= forced choice). Das Design eines Wahlreaktionstests hat gegenüber der freien Konversation den Vorteil, daß die Produktionsleistung der Versuchsperson gezielt für eng umgrenzte grammatische Fragestellungen geprüft werden kann. Damit können auch solche grammatischen Konstruktionen getestet werden, die sonst in der Spontansprache agrammatischer Sprecher nur sehr selten zu beobachten sind, wie z.B. Nebensätze. Gegenüber der Elizitation hat diese experimentelle Technik den Vorteil, daß mit ihr spezifische Bereiche ganz gezielt getestet werden können z.B. die Anwendung grammatischer Regeln, ohne daß mögliche beeinflussende Faktoren, wie z.B. Wortfindungsprobleme, die Leistung der Versuchsperson beeinträchtigen. Der Nachteil im Vergleich zur Elizitation liegt darin, daß die Versuchsperson durch die Vorgabe einer begrenzten Auswahlmenge nur noch sehr eingeschränkt produktive Fehler machen kann, denn die
37 möglichen Fehler können sich immer nur auf die Elemente beziehen, die in der Auswahlmenge vorgegeben wurden. Insgesamt wurden drei Experimente mit diesem Design durchgeführt: zwei Experimente zur Verbstellung in Haupt- und Nebensätzen und ein Experiment zur Subjekt-Verb-Kongruenz. Diese Experimente wurden auf einem tragbaren Computer mit dem Zahlenulock einer externen Tastatur durchgeführt. Zwei verschiedene Arten der Satzvervollständigungsaufgabe wurden bei der Untersuchung angewendet. Bei der ersten wurde der Versuchsperson auf dem Bildschirm ein Satz präsentiert, der zwei Lücken enthielt. Die Aufgabe der Versuchsperson bestand darin, den vorgegebenen Satz mit einem ebenfalls auf dem Bildschirm vorgegebenen Wort zu vervollständigen. Die Versuchsperson hatte dabei so rasch wie möglich per Tastendruck auf eine von zwei farblich markierten Tasten der Computertastatur zu entscheiden, in welche der beiden vorgegebenen Lücken das Wort eingesetzt werden sollte: Bsp.
Bevor Peter seine Zähne vorgegebenes Verb: putzt
, nascht er ein Bonbon.
Mit Tastendruck auf die rechte der beiden markierten Tasten des Zahlenblocks konnte die Versuchsperson das Wort in die rechte Lücke einsetzen, mit Tastendruck auf die linke markierte Taste erschien das vorgegebene Wort in der linken Lücke.3 In einer zweiten Variante der eingeschränkten S atz Vervollständigungsaufgabe wurde der Versuchsperson ein Satz vorgegeben, der nur eine Lücke enthielt. Die Aufgabe der Versuchsperson bestand bei diesem Design darin, den Satz mit einem von zwei zur Auswahl vorgegebenen Wörtern zu vervollständigen. Bsp.
Er Überstunden vorgegebene Verbformen: macht
und
machst
Hier bewirkte der Druck auf die rechte markierte Taste, daß das rechte der beiden vorgegebenen Wörter in der Lücke erschien. Bei Druck auf die linke markierte Taste wurde die Lücke mit dem linken der beiden vorgegebenen Wörter vervollständigt. Beide Variationen lassen sich als Varianten der Wahlreaktionsaufgabe mit zwei vorgegebenen Alternativen beschreiben (2-alternative-forced-choice task, abgekürzt 2-AFC). Bis auf den beschriebenen Unterschied im Design war die Methodik bei beiden Varianten dieses Experiments identisch. Für die agrammatischen Versuchspersonen war das Vorgehen dabei wie folgt: Die Aufschriften aller Tasten des Zahlenblocks waren unkenntlich gemacht worden, um die Versuchspersonen nicht zu irritieren. Die beiden Tasten des Zahlenblocks, die die Versuchsteilnehmer bei der Lösung der Aufgabe benutzen sollten, waren mit farbigen Markierungen versehen worden. Die rechte Taste, die Taste '6' des Zahlenblocks, trug eine grüne Markierung, die linke Taste, die Taste '4' des Zahlenblocks, trug eine weiße Markierung.
38 Um sicherzustellen, daß die Versuchsteilnehmer den jeweils vorgegebenen Satz gelesen und verstanden hatten, wurden die Versuchspersonen gebeten, den Satz laut vorzulesen. Erst dann erschienen nach einem Tastendruck des Experimentators das bzw. die beiden zur Vervollständigung vorgegebenen Wörter auf dem Bildschirm. Die Versuchspersonen sollten dann per Tastendruck so schnell wie möglich entscheiden, (a) in welche der beiden vorgegebenen Lücken das erschienene Wort gehörte, bzw. (b) welches der beiden vorgegebenen Wörter die Phrase vervollständigen sollte. Die Entscheidung der Versuchspersonen wurde dabei automatisch registriert. Um die Versuchspersonen zu einer möglichst raschen Entscheidung zu drängen, wurden auch die Reaktionszeiten der Versuchspersonen vom Erscheinen der vorgegebenen Alternativen bis zu ihrer Entscheidung durch Druck auf eine der beiden Auswahltasten registriert. Die Reaktionszeiten wurden jedoch nicht ausgewertet, da es sich bei diesem Experimentdesign strenggenommen nicht um ein on-line Experiment handelt. Ein on-line Experiment bedingt unter anderem, daß das linguistische Wissen der Versuchsperson nicht direkt sondern indirekt getestet wird (vgl. Tyler 1992, 1994). Das Testitem, auf das die Versuchsperson reagieren soll, darf daher nicht identisch mit dem Element sein, das den Untersucher interessiert. Dies war bei den hier durchgeführten Wahlreaktionsaufgaben jedoch der Fall. Zudem mußte den Versuchsteilnehmern die Möglichkeit einer Korrektur ihrer Entscheidung eingeräumt werden, da der Agrammatismus häufig von Leseproblemen begleitet wird (vgl. z.B. Kerschensteiner et al. 1978, Huber et al. 1982, Huber et al. 1983), und nicht das Ausmaß der Lesebeeinträchtigung getestet werden sollte. Um sicherzustellen, daß die tatsächliche Plazierung bzw. Auswahl der Testitems mit der intendierten übereinstimmte, wurde den Versuchspersonen daher im Anschluß an ihre Entscheidung die vervollständigte Phrase noch einmal mit einer neutralen, Wort für Wort betonenden Intonation vorgelesen. 4 Zeigten die Versuchspersonen sich dabei mit ihrer Entscheidung unzufrieden, wurde ihnen eine Korrektur ihrer Entscheidung ermöglicht. Bei den sprachlich unbeeinträchtigten Kontrollpersonen wurde auf das laute Lesen der vorgegebenen Phrase und auf das anschließende Vorlesen der vervollständigten Phrase durch den Experimentator verzichtet. Ansonsten entsprach das experimentelle Vorgehen bei dieser Gruppe dem Vorgehen bei der aphasischen Versuchspersonengruppe.
Pilotstudie: Zusätzlich zu den Spontansprachaufnahmen, die von Herrn L. aufgenommen wurden, wurden die Experimente zur Verbstellung in Haupt- und Nebensätzen und die Elizitation von whArgumentfragen in Vorläuferversionen mit Herrn L. auf ihr Funktionieren getestet. Da diese Vorläuferexperimente den Experimenten der hier vorgestellten Untersuchung vergleichbar sind, werden die von Herrn L. erzielten Ergebnisse zusätzlich zu den Ergebnissen der Versuchspersonengruppe gesondert ausgewiesen. Die Unterschiede im Design der Pilotexpe-
Berndt et al. (1988) fanden in einer Untersuchung, daß die Variation der Satzintonation von monoton zu einer natürlichen Intonation keinen Einfluß auf die Leistung agrammatischer Aphasiker in einem Beurteilungsexperiment hatte: Die guten Leistungen der von ihnen getesteten Agrammatiker waren nicht durch mögliche Hinweise aus der Satzintonation verursacht.
39 rimente und der endgültigen experimentellen Untersuchung sind dabei für jedes Experiment im Datenteil gesondert aufgeführt.
3.2.3. Nichtsprachlicher Test Neben diesen sprachlichen Aufgaben wurde auch ein Experiment mit nichtsprachlichen Stimuli durchgeführt. Ziel dieses Experiments war zu testen, ob die den Agrammatismus verursachende Hirnläsion zu selektiven Beeinträchtigungen sprachlicher Fähigkeiten führt, oder ob auch Beeinträchtigungen in möglicherweise ähnlich organisierten, nichtsprachlichen kognitiven Bereichen resultieren können. Das Experiment zur paradigmatischen Organisation nichtsprachlicher Stimuli wurde als Wahlreaktionsaufgabe mit fünf vorgegebenen Alternativen konzipiert (5-AFC). Die Versuchsteilnehmer lernten zuerst in einer Lernphase ein nichtsprachliches Paradigma, bei dem sie bestimmten Figuren wie einem kleinen weißen Kreis eine von fünf Zahlen auf dem Zahlenblock der Computertastatur zuordnen sollten. In der zweiten Lernphase sollten nicht mehr Figuren, sondern lediglich ihre Merkmale, z.B. klein und weiß, mit einer Zahl assoziiert werden. In der anschließenden Testphase wurde dann die Verfügbarkeit dieses gelernten Paradigmas geprüft. Dabei wurden den Versuchsteilnehmern auf dem Bildschirm bekannte und neue Figuren, die die bereits gelernten Merkmale aufwiesen, gezeigt. Die Versuchsteilnehmer sollten per Tastendruck auf eine der fünf vorgegebenen Zahlen des Zahlenblocks der Computertastatur der gezeigten Figur die jeweils korrekte Zahl zuordnen. Zusätzlich zu der Entscheidung der Versuchsteilnehmer wurden für dieses Experiment auch die Reaktionszeiten der Versuchsteilnehmer zwischen Stimuluspräsentation und Reaktion ermittelt und ausgewertet. Im Gegensatz zu den Wahlreaktionsaufgaben mit sprachlichem Material war für dieses Experiment eine Beeinträchtigung durch eine Leseproblematik nicht zu befürchten. Zudem war das Experimentmaterial extrem kontrolliert. Der Einfluß möglicher beeinflussender Faktoren auf die Reaktionsgeschwindigkeit, die bei den sprachlichen Experimenten nicht völlig kontrollierbar waren (wie die Abstraktheit oder Frequenz der verwendeten Wörter), konnte daher weitestgehend ausgeschlossen werden. Ferner hatten die Versuchsteilnehmer in diesem Experiment auch keine Korrekturmöglichkeit ihrer Entscheidung. Eine genauere Beschreibung der Stimuli und der Vorgehensweise bei der Durchführung des Experiments und der Erhebung und Auswertung der Reaktionszeitdaten findet sich ebenfalls im Datenteil und im Anhang. Eine kurze Übersicht über die durchgeführten Experimente gibt Tabelle 5. Sie enthält eine Aufstellung der Namen der Experimente, der mit dem Experiment getesteten abhängigen Variablen, des angewendeten experimentellen Designs und der Anzahl der Testitems. Zudem
40 enthält die Tabelle einen Verweis auf die Seiten in Datenteil und Anhang, die eine Beschreibung der jeweiligen Experimente geben. Experiment
testet (=AV)
Design
Testitems Beschreibung
Verbstellung in Hauptsätzen
V2-Stellung in Hauptsätzen
2-AFC
20
Datenteil S.83 Anhang S.258
Verbstellung in Nebensätzen
Vfinal-Stellung in Nebensätzen
2-AFC
10
Datenteil S.101 Anhang S.259
w/i-Fragen
w/i-Argumentfragen
Elizitation
9
DatenteilS. 119 Anhang S.260
Pluralflexion
reguläre und irreguläre Pluralflexion
Elizitation
20
Datenteil S.161 Anhang S.261
Partizipflexion
reguläre und irreguläre Partizipflexion
Elizitation
15
Datenteil S.179 Anhang S.262
Subjekt-Verb-Kongruenz
reguläres Flexionsparadigma
2-AFC
30
Datenteil S.192 Anhang S.263
nichtsprachliche Paradigmenorganisation
Paradigmenzugriff bei 5-AFC nichtsprachlichem Material
45
Datenteil S.216 Anhang S.264
Tab.5: Übersicht über die Experimente
3.2.4. Auswertungsverfahren Für alle Experimente - Elizitationen, computerunterstützte Experimente und Pilotstudie - und für jeden Versuchsteilnehmer wurde ermittelt, welcher Prozentsatz der gegebenen Reaktionen korrekt war. Zusätzlich wurde für die Wahlreaktionsexperimente der Wert bestimmt, ab dem die gezeigte Leistung von einer rein zufallig erzielten abwich. Danach liegt für die Wahlreaktionsaufgaben mit zwei vorgegebenen Alternativen eine Leistung dann über dem Zufallsniveau von 50%, wenn der Prozentsatz der korrekten Antworten für einen Versuchsteilnehmer 70% übersteigt. Bei den Wahlreaktionsaufgaben mit fünf vorgegebenen Alternativen ist das Zufallsniveau von 20% überschritten, wenn mehr als 35% der Antworten eines Versuchsteilnehmers korrekt sind. Für die Elizitationsexperimente läßt sich ein Zufallsniveau nicht bestimmen, da die Reaktionen der Versuchsteilnehmer bei dieser Technik nicht auf eine umgrenzte Auswahlmenge beschränkt werden können. Die Leistungen von Versuchspersonen- und Kontrollpersonengruppe wurden anschließend mit Hilfe des Wilcoxon Rangsummentests (small procedure) auf statistisch signifikante Unterschiede untersucht (vgl. Krauth 1988). Dieses nicht-parametrische, verteilungsfreie Testverfah-
41 ren wurde gewählt, da für die Daten aufgrund der zu erwartenden hohen Prozentsätze korrekter Reaktionen bei den Kontrollpersonen nicht von einer Normalverteilung ausgegangen werden konnte. In einer Reihe von Arbeiten haben Caramazza und Kollegen dagegen argumentiert, Aussagen über die Ursache der agrammatischen Beeinträchtigung und die Funktionsweise des unbeeinträchtigten Sprachsystems auf die in Gruppenstudien erzielten, gemittelten Beobachtungswerte zu stützen (vgl. Caramazza 1984, 1986, Badecker & Caramazza 1985, Caramazza & Badecker 1989 und 1991). Ihrer Ansicht nach verbietet sich die Verwendung von Gruppenstudien, da diese notwendig davon ausgehen müssen, daß die untersuchten Versuchspersonen bestimmte Charakteristika, wie die Diagnose 'Agrammatismus', teilen. Nur unter dieser Annahme können die Ergebnisse einer Gruppenstudie etwas über das Störungsbild des Agrammatismus aussagen. Caramazza und Kollegen weisen zurecht daraufhin, daß es jedoch keine objektiven Kriterien zur Diagnose des Agrammatismus gibt. Damit sei fraglich, ob für die aphasischen Teilnehmer einer Gruppenstudie die Grundannahme einer einheitlichen Störung erfüllt sei. Dies wiegt ihrer Meinung nach besonders schwer, da durch die Mittelung der Untersuchungsergebnisse einzelne Teilnehmer der Gruppenstudie die Ergebnisse der ganzen Untersuchung beeinflussen könnten. Eine Beschreibung und Erklärung des agrammatischen Defizits sei auf der Basis solcher möglicherweise verfälschter Daten jedoch nicht möglich (vgl. Caramazza 1984, Badecker & Caramazza 1985). Sie plädieren daher für einen Einzelfallansatz in der kognitiven Linguistik, der es ermöglicht, durch die extensive Untersuchung einzelner Versuchspersonen ein genaues Bild über die sprachlichen Leistungen zu erlangen. Insbesondere Zurif und Kollegen haben gegen diese vorgeschlagene Beschränkung auf Einzelfallstudien argumentiert (vgl. Zurif et al. 1989, Zurif et al. 1991, aber auch Caplan 1986, 1991). Sie weisen daraufhin, daß die Diagnose des Agrammatismus trotz fehlender objektiver Kriterien normalerweise keinerlei Probleme bereite, das Störungsbild des Agrammatismus empirisch motiviert und „easily identifiable" (Zurif et al. 1989:248) sei. Zudem seien Gruppenstudien gerade durch die Mittelung der Untersuchungsergebnisse weniger anfallig für idiosynkratische Ergebnisse durch auffallig abweichende Versuchspersonen als Einzelfallstudien, deren Ergebnisse unter Umständen gar nicht replizierbar seien. Bei der Datenanalyse im folgenden Datenteil werde ich daher einen Mittelweg zwischen diesen beiden Positionen einschlagen, und den von Caramazza (1984, Caramazza & Martin 1983) vorgeschlagenen 'group/case study' Ansatz anwenden. Bei dieser Vorgehensweise stützt sich die Datenanalyse nicht allein auf die erzielten Gruppenmittelwerte. Vielmehr werden neben dem erzielten Gruppenwert auch die Einzelergebnisse der untersuchten Versuchspersonen bei der Datenanalyse und der Ergebnisinterpretation berücksichtigt. Dies gewährleistet nicht nur den mit Gruppenstudien einhergehenden Vorteil der Generalisierbarkeit der Ergebnisse, sondern stellt auch sicher, daß abweichende Ergebnisse einzelner Versuchspersonen das Erscheinungsbild der Gruppe nicht verzerren.
42 4. Die Nullhypothese Anhand einer quantitativen und qualitativen Analyse der experimentellen Daten und der Spontansprachkorpora sollen im folgenden Datenteil insbesondere solche Agrammatismustheorien auf ihre empirische Gültigkeit überprüft werden, die davon ausgehen, daß der Agrammatismus durch eine Veränderung grammatischer Repräsentationen verursacht ist. Die Art des Vorgehens, der ich bei der Analyse der Spontansprach- und experimentellen Daten folgen werde, orientiert sich an dem Vorschlag Grodzinskys (1990), die normalsprachliche Grammatik solange für den Agrammatismus als gegeben anzunehmen, wie sich keine Abweichungen von dieser Grammatik zeigen lassen. Dieses Vorgehen erscheint mir nicht nur aus empirischen, sondern auch aus theoretischen Überlegungen sinnvoll. Die Schädigung der das Sprachvermögen tragenden Hirnstrukturen betrifft ein voll ausgebildetes Sprachsystem. Die Annahme, diese Schädigung könne zu einer völligen Neustrukturierung des grammatischen Systems des Sprechers führen (vgl. z.B. Caplan 1985 für diese Position), läuft auf eine nicht mehr restringierbare Theorie hinaus. Nicht nur ist in solchen Theorien alles erlaubt und möglich, ohne daß externe Entscheidungskriterien hinsichtlich der empirischen Adäquatheit dieser Theorien herangezogen werden könnten. Auch ist zum jetzigen Stand der Forschung völlig unklar, ob eine Umstrukturierung des grammatischen Systems das ist, was als Folge einer Hirnsubstanzschädigung im Agrammatismus geschieht. Die konservative Strategie, von einem normalsprachlichen Grammatiksystem solange auszugehen, wie keine Evidenz für ein Abweichen von diesem System vorliegt (= Hypothese der strukturellen Identität), kann diese Kritikpunkte unterlaufen. Sie macht keine direkten Aussagen über die zu erwartenden Folgen von Hirnsubstanzdeffekten, liefert jedoch ein externes Kriterium, vor dem Theorien zum Agrammatismus betrachtet werden können: Der Theorie, die die geringsten Umstrukturierungen im Vergleich zur regulären Grammatik aufweist, ist der Vorzug zu geben. Ideal wäre in dieser Hinsicht die Annahme eines Regelsystems im Agrammatismus, das genau dem normalsprachlichen System entspricht. Die Nullhypothese für den Agrammatismus lautet also, wie von Grodzinsky formuliert: "[...] there is no impairment [...]" (Grodzinsky 1990:54) Diese Nullhypothese soll anhand der Spontansprachdaten und der experimentell erhobenen Daten getestet werden. Die Theorien, die im folgenden Datenteil empirisch getestet werden sollen, gehen davon aus, daß der Agrammatismus durch ein repräsentationales Defizit verursacht ist. Ein solches Defizit bedingt, daß die normalsprachliche Repräsentation durch eine gestörte oder veränderte Repräsentation ersetzt ist. Die Beeinträchtigung sprachlicher Repräsentationen sollte wiederum Auswirkungen auf Performanzkomponenten wie die Sprachproduktion haben und sich durch eine quantitative und qualitative Datenauswertung festmachen lassen. Spiegeln die quantifizierten Daten jedoch eine klare Systematik wider, die dem normalsprachlichen System entspricht, so soll - Grodzinsky folgend - vom Erhalt der regulären Kompetenz bzw. dem Erhalt regulärer Repräsentationen ausgegangen werden. Zeigt sich in den untersuchten grammatischen Bereichen die normalsprachliche Systematik dagegen nicht, sondern spiegeln die grammatischen
43 Repräsentationen die normalsprachliche Systematik nicht oder nur noch zufallig wider, dann kann die Nullhypothese zurückgewiesen werden. Für die experimentellen Untersuchungen sagt die Nullhypothese Grodzinskys voraus, daß es keinen statistisch signifikanten Unterschied zwischen den Kontrollpersonen und den agrammatischen Sprechern in Hinsicht auf die getesteten Phänomene geben sollte. Trifft diese Vorhersage zu und zeigen sich keine signifikanten Unterschiede in den Leistungen von gesunden Kontrollpersonen und Agrammatikern, dann spricht das gegen eine Kompetenzstörung in den untersuchten grammatischen Bereichen, denn eine Störung, die die grammatische Kompetenz beeinträchtigt, muß sich auch in den experimentellen Leistungen der Agrammatiker widerspiegeln. Eine Störung der grammatischen Kompetenz, die zu einer Veränderung normalsprachlicher Repräsentationen führt, kann auch dann ausgeschlossen werden, wenn die Leistungen der zwei Probandengruppen zwar signifikant voneinander abweichen, die agrammatischen Leistungen jedoch klar die normalsprachliche Systematik widerspiegeln. Ein qualitativer Unterschied zwischen normalsprachlichem und agrammatischem System, der auf eine Veränderung normalsprachlicher Repräsentationen und dementsprechend auf eine Beeinträchtigung der grammatischen Kompetenz hindeuten kann, liegt dagegen vor, wenn die Leistung der aphasischen Versuchspersonen lediglich auf dem Zufallsniveau liegt und damit keiner erkennbaren normalsprachlichen Systematik folgt. Eine Analyse der Fehler muß dann dazu beitragen zu sehen, ob eine Veränderung grammatischer Repräsentationen vorliegt, und wie diese beschaffen sein müßte, um das beobachtbare sprachliche Verhalten zu verursachen. Damit ergibt sich insgesamt folgender Entscheidungsplan:
44 Im folgenden Datenteil sollen nun verschiedene linguistische Agrammatismustheorien anhand quantitativer und qualitativer Analysen von Spontansprach- und experimentellen Daten auf ihre empirische Gültigkeit hin überprüft werden. Der Aufbau der einzelnen Kapitel des Datenteils folgt dabei einem einheitlichen Schema: Am Beginn jedes Kapitels steht eine kurze Darstellung der untersuchten grammatischen Phänomene des Deutschen und ihrer grammatiktheoretischen Analyse. Es folgt ein kurzer Literaturüberblick über die Beeinträchtigung dieses Phänomenbereichs im Agrammatismus. Auf der Basis der grammatiktheoretischen Darstellung werden aus den überprüften linguistischen Agrammatismustheorien für das Deutsche konkrete Vorhersagen über diesen Phänomenbereich im Agrammatismus abgeleitet. Anschließend wird mittels einer quantifizierenden linguistischen Analyse die Korrektheit der getroffenen konkreten Vorhersagen überprüft.
Worte sind empfindliche Zauberblumen, die erst im Ohr eines anderen ihren Nährboden finden. (Rafik Schami, Erzähler der Nacht)
ΙΠ. Wortstellung im Agrammatismus Eine der zentralen Fragen der Agrammatismusforschung ist, ob und inwiefern Wortstellungsprozesse von der agrammatischen Störung betroffen sind, denn Wortstellungsprozesse spiegete grammatische Fähigkeiten in besonderem Maße wider: Zum einen werden Wortstellungsoperationen durch grammatische Erfordernisse ausgelöst, zum anderen werden sie durch grammatische Fähigkeiten erst ermöglicht. So erfordern grammatische Prinzipien die Bewegung von Verben in eine strukturelle Position, in der sie mit dem Subjekt des Satzes in eine Kongruenzbeziehung treten können. Diese strukturelle Position wird jedoch erst durch den Aufbau einer grammatischen Struktur bereitgestellt. Da eine Vielzahl von grammatischen Operationen in Wortstellungsprozesse einbezogen ist, bietet die Untersuchung der Wortstellung im Agrammatismus in besonderem Maße die Möglichkeit, Einblicke in die grammatischen Fähigkeiten agrammatischer Aphasiker zu gewinnen. Der Großteil der Studien zu Wortstellungsoperationen im Agrammatismus hat sich jedoch bislang auf Untersuchungen zum Sprachverständnis gestützt. Untersuchungen zur Sprachproduktion wurden demgegenüber bislang kaum durchgeführt. Dies scheint zum einen durch den großen Einfluß der Generativen Grammatik auf die Aphasieforschung, zum anderen durch die Dominanz der anglo-amerikanischen Aphasieforschung bedingt zu sein. Mit der Konsolidierung von Chomskys Ansatz einer Generativen Grammatiktheorie und der damit verbundenen Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz richtete sich das Interesse der Aphasieforscher zu Beginn der 80er Jahre auf die Frage, ob die agrammatische Sprachstörung als Kompetenz- oder Performanzstörung zu beschreiben sei. Da Weigl & Bierwisch (1970) dargestellt hatten, daß eine Kompetenzstörung nur dann vorliegen könne, wenn die Sprachstörung alle Sprachmodalitäten und nicht nur die Sprachproduktion beträfe, wurde die Untersuchung des Sprachverständnisses agrammatischer Aphasiker zu einem zentralen Bereich der Aphasieforschung. Im Gegensatz zu der offensichtlichen Beeinträchtigung der Spontansprache agrammatischer Aphasiker, in der Auslassungen und Ersetzungen funktionaler Elemente und eine Reduktion syntaktischer Strukturen augenfällig sind, war die Frage, ob auch eine Beeinträchtigung des Sprachverständnisses vorliege, noch offen. Tatsächlich stellten die ersten empirischen Arbeiten zum Sprachverständnis agrammatischer Aphasiker eine Beeinträchtigung auch in dieser Sprachmodalität fest (z.B. Caramazza & Zurif 1976). Es zeigte sich, daß immer dann Schwierigkeiten mit dem Verständnis von Sätzen auftraten, wenn das Verständnis die Verarbeitung syntaktischer Informationen erforderte, z.B. weil die Sätze unplausibel waren (vgl. (1)). ( 1) The bird that the worm is eating is blue.
46 Zentral für die Entwicklung der Untersuchung von Wortstellungsprozessen im Agrammatisms war weiterhin, daß sich die Untersuchungen dabei bis heute fast ausschließlich auf den englischsprachigen Raum beschränkt haben. Das Englische ist mit seiner rigiden Wortstellung relativ arm an Wortstellungsvariationen, wie sie z.B. die Topikalisierung von Satzkonstituenten erlaubt. Zudem erschwert auch das reduzierte Flexionssystem des Englischen die Untersuchung von Wortstellungsprozessen, da die Identifikation der grammatischen Funktionen von Satzkonstituenten über die Kasus- oder Kongruenzflexion im Engüschen - im Gegensatz zum Deutschen - nur sehr eingeschränkt möglich ist. Während sich im Deutschen in der Äußerung Den König bedrängen die feindlichen Ritter aus der Flexionsmorphologie von den König und bedrängen eindeutig ergibt, daß die feindlichen Ritter das Subjekt der Äußerung sind, hält das Englische solche Informationen nur in sehr eingeschränktem Maße bereit (Kasus an Pronomen, 3.Sg. -s an Verben). Da die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Wortstellungsoperationen und den grammatischen Funktionen bewegter Satzkonstituenten im Englischen wegen des reduzierten Flexionssystems erschwert ist, konzentrierte sich die Untersuchung von Wortstellungsphänomenen im Agrammatismus auf den Zusammenhang zwischen der Wortstellung, d.h. der syntaktischen Struktur, und der Bedeutung von Äußerungen. Diesen Zusammenhang kann man in der Spontansprache jedoch nur bedingt untersuchen, denn die Aufdeckung dieses Zusammenhangs erfordert die Kenntnis der Bedeutung, die der Agrammatiker mit seiner Äußerung intendiert hat. Aus der Wortstellung allein Schlüsse auf die Bedeutung von Äußerungen zu ziehen, ist nicht unproblematisch. So kann in einer fiktiven agrammatischen Äußerung wie horse kick cow, sowohl horse als auch cow Agens und damit Subjekt der Äußerung sein. Welche dieser Interpretationen die zutreffende ist, ergibt sich allein aus der Intention des Agrammatikers. Da Intentionen jedoch schwer zugreifbar sind, stützte sich die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Satzstruktur und Satzbedeutung vorwiegend auf Verstehensexperimente in Form von Satz-Bild-Zuordnungsaufgaben, bei denen sowohl die Struktur als auch die Bedeutung der vorgegebenen Äußerung im Experiment kontrolliert werden können. Die seit den 50er Jahren bestehende Dominanz der anglo-amerikanischen Aphasieforschung hat dazu geführt, daß dieses Untersuchungsparadigma bis heute die Beschäftigung mit Wortstellungsphänomenen im Agrammatismus beherrscht. Zwar wurden in jüngster Zeit auch Wortstellungsoperationen in anderen Sprachen untersucht (z.B. Jarema et al. 1987 im Polnischen, Druks & Marshall 1991 im Hebräischen, Higawara 1993 im Japanischen, Lukatela et al. 1995 im Serbo-Kroatischen), jedoch konzentriert sich die Untersuchung auch in diesen Arbeiten auf den Zusammenhang zwischen Wortstellung und Satzbedeutung. Besondere Bedeutung für die Entwicklung dieses Themenbereichs der Aphasieforschung kommt vor dem eben skizzierten Hintergrund der Arbeit von Saffran et al. (1980) und Schwartz et al. (1980) zu. Sie führten eine umfangreiche Untersuchung sowohl der Spontansprache als auch des Sprachverständnisses fünf englischsprachiger agrammatischer Aphasiker durch, bei der Sätze Bildern zugeordnet bzw. Bilder beschrieben werden sollten. Dabei stellten sie in beiden sprachlichen Modalitäten eine parallele Beeinträchtigung, die Wortstellung für die Kodierung von Bedeutungsrelationen zu nutzen, fest und prägten den Begriff des 'word-order problem' im Agrammatismus. Sie widersprachen mit diesem Ergebnis den Befunden von
47 Goodglass (1968, siehe auch Goodglass et al. 1972, Gleason et al. 1975), der als einer der wenigen Forscher nicht den Zusammenhang zwischen Satzstruktur und Satzbedeutung untersucht, sondern gezielt die Fähigkeit agrammatischer Aphasiker getestet hatte, syntaktische Wortstellungsoperationen, wie etwa die Bildung von Fragesätzen, durchzuführen. Aus den Ergebnissen einer Satzwiederholungs- (Goodglass 1968) und einer Satzvervollständigungsaufgabe (Goodglass et al. 1972, Gleason et al. 1975), in denen verschiedene Satzkonstruktionen wie z.B. Imperative, Entscheidungs- und Ergänzungsfragen getestet wurden, Schloß Goodglass: "[...] disturbances of word order are not a part of the agrammatic symptom" (Goodglass 1968:204). Diese beiden Studien machen klar, daß die Frage nach einem Wortstellungsdefizit im Agrammatismus noch nicht entschieden ist: Während auf der einen Seite die Untersuchung von Wortstellungsoperationen, wie sie z.B bei der Bildung von Ergänzungsfragen auftreten, keine Evidenz für Beeinträchtigungen erbracht hat, finden sich auf der anderen Seite Probleme, die Bedeutung von Sätzen aus ihrer syntaktischen Struktur abzuleiten. Zudem haben sich die Untersuchungen zum Zusammenhang von Satzstruktur und Satzbedeutung aus den oben genannten Gründen fast ausschließlich auf das Satzverständnis bezogen. Zwar ließen sich die Probleme dort in einer Reihe von Untersuchungen bestätigen (siehe Kelter 1990, Grodzinsky 1990, Tesak 1991 für Überblicke über die Literatur), doch ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar, ob diese Probleme überhaupt spezifisch für den Agrammatisms sind. So gibt es zum einen eine Reihe von Fallbeschreibungen agrammatischer Aphasiker, bei denen kein Verständnisdefizit gefunden wurde (vgl. z.B. Miceli et al. 1983, Kolk et al. 1985, Nespoulos et al. 1988 und 1990, Caramazza & Hillis 1989, Druks & Marshall 1991, Bastiannse 1995, Berndt et al. 1996). Zum anderen treten Probleme mit dem Verständnis semantisch reversibler Sätze in nicht-kanonischer Wortstellung (wie z.B. den Hund jagt die Katze) nicht nur bei Agrammatikern, sondern auch bei anderen Aphasietypen und sogar bei unbeeinträchtigten Kontrollpersonen auf (vgl. z.B. Caramazza & Zurif 1976, Caplan et al. 1985, Martin & Blossom-Stach 1986, Hildebrandt et al. 1987, Caplan & Hildebrandt 1988, Caramazza & Miceli 1991 und den Überblick in Tesak 1990 und 1991). Aber auch bei der oben erwähnten Untersuchung von Saffran et al. (1980) zur Sprachproduktion, in der sie agrammatische Versuchspersonen aufforderten, Bilder zu beschreiben, bleiben Zweifel am Bestand ihres 'word order problem' offen, da sie für die Auswertung der elizitierten Sprachproduktionsdaten zwei sehr rigide Kriterien ansetzten, die die Daten in Richtung auf das von ihnen angenommene Defizit beeinflußt haben können: Da die ebenfalls getesteten unbeeinträchtigten Kontrollpersonen Passivstrukturen nur in 1% der Fälle benutzt hatten, gingen sie davon aus, daß die getesteten Aphasiker lediglich aktivische SVO-Strukturen produzieren wollten. Diese Prämisse wurde selbst auf die Fälle angewandt, in denen die Morphologie der Äußerungen eine Interpretation als Passivsatz nahelegte. So werteten sie auch in Äußerungen wie jhe wagon is pull the boy" (als Beschreibung für ein Bild, in dem ein Junge einen Wagen zieht) the wagon als Subjekt und the boy als Objekt eines Aktivsatzes. Leider machen Saffran et al. keine Angaben über die genaue Zahl solcher zumindest ambiger - Äußerungen. Es wird jedoch klar, daß diese Art der Interpretation das
48 von ihnen angenommene Problem, Bedeutungsrelationen in Satzstrukturen zu kodieren, erheblich beeinflussen kann. Auch berücksichtigten Saffran et al. in ihrer Auswertung Selbstkorrekturen der agrammatischen Versuchspersonen nicht ('strict score'). Gewertet wurde lediglich die erste Äußerung, die ein nominales und ein verbales Element enthielt. So wurde z.B. in der Äußerung automobile is... the chair is... the chair is under the car" (für ein Bild, auf dem ein Stuhl auf einem Auto steht) die Selbstkorrektur (the chair is... the chair is under the car) nicht gewertet. Die Wortstellung des ersten Äußerungsteils (automobile is) wurde folglich als von der kanonischen Stellung, nach der der zu lokalisierende Gegenstand (the chair) vor der Angabe der Lokation steht, abweichend beurteilt und somit als fehlerhaft gewertet. Berücksichtigt man Selbstkorrekturen der agrammatischen Versuchspersonen, dann sinken die Fehlerzahlen um fast 50% von insgesamt 23 auf 12 Fehler bei insgesamt 95 Testsätzen. Es erscheint daher zweifelhaft, ob das von Saffran et at. postulierte 'word order problem' die agrammatische Sprachproduktion überhaupt betrifft. Insgesamt ist die Frage, ob eine für den Agrammatismus typische Beeinträchtigung von Wortstellungsprozessen in der Sprachproduktion vorliegt, zur Zeit noch nicht geklärt. Die Untersuchung von Sprachen mit einer freieren Wortstellung und einem besser ausgebildeten Flexionssystem kann vielleicht zur Klärung dieser offenen Frage beitragen, da solche Sprachen erlauben, Wortstellungsoperationen und die grammatischen Funktionen bewegter Satzkonstituenten zu untersuchen. Die Untersuchung solcher Sprachen bietet damit die Möglichkeit, die einseitige Ausrichtung der bisherigen Untersuchungen auf Sprachverständnistests, die den Zusammenhang zwischen Satzstruktur und Satzbedeutung zum Thema haben, zu durchbrechen. Im folgenden Teil der Arbeit soll eine Untersuchung von Wortstellungsphänomenen unter diesen veränderten Vorzeichen versucht werden. Das Deutsche ist für diese Zwecke besonders interessant, da es nicht nur über eine Reihe theoretisch gut untersuchter Wortstellungsprozesse verfügt (wie w/i-Bewegung, Topikalisierung, Verbbewegung), sondern die grammatischen Funktionen von Satzkonstituenten auch anhand der relativ reichen Flexionsmorphologie des Deutschen identifiziert werden können. Die grammatische Funktion und damit auch die Bedeutung bewegter Satzkonstituenten können so ohne Rückgriff auf kontrollierte Verständnistests ermittelt werden. Damit ist eine Untersuchung von Wortstellungsoperationen auch in der Sprachproduktion möglich. In Kapitel 1 dieses Teils der Arbeit wird es zunächst darum gehen, den theoretischen Beschreibungsrahmen für die Untersuchung der Wortstellungsoperationen in den Agrammatikerdaten zu liefern. Dabei werde ich mich in der Darstellung und Untersuchung auf zwei im Deutschen gut untersuchte Stellungsphänomene beschränken: die Stellung finiter und infiniter Verben und die Besetzung des Vorfelds durch beliebige maximale Konstituenten (Topikalisierung), die zusammen das V2-Phänomen des Deutschen ausmachen. In Kapitel 2 werden dann diejenigen Agrammatismustheorien vorgestellt, die eine repräsentationale Beeinträchtigung von Wortstellungsprozessen annehmen. Diese Theorien werden dann in den Kapiteln 3 und 4 einer empirischen Überprüfung auf der Grundlage von Spontansprachkorpora und experimentell erhobenen Daten von insgesamt elf deutschsprachigen Aphasikern unterzogen. In
49 Kapitel 3 wird es dabei um den Prozeß der Verbbewegung gehen; Kapitel 4 beschäftigt sich dagegen mit den Auswirkungen der Vorfeldbesetzung auf den Prozeß der Kasusvergabe.
1. Die syntaktischen Phänomene Die Wortstellungsmuster im Deutschen lassen sich deskriptiv durch das topologische Satzmodell von Drach (1937) und Reis (1980) erfassen (vgl. (2)). Das Modell sieht folgende Positionen für Satzkonstituenten vor: (2) Vorfeld # linke Satzklammer # Mittelfeld # rechte Satzklammer # Nachfeld Die Satzklammer wird in uneingeleiteten Sätzen durch das finite Verb in der linken und etwaige abhängige Teile des Verbalkomplexes (wie abtrennbare Verbpartikeln oder Partizipien) in der rechten Satzklammer gebildet (Bsp. (3a-b)). In eingeleiteten Nebensätzen befindet sich der nebensatzeinleitende Komplementierer in der linken Satzklammer, das finite Verb steht dann in der rechten Satzklammer (Bsp. (3f))· Die Positionen 'Vorfeld', 'Mittelfeld' und 'Nachfeld' ergeben sich aus ihrer Stellung zu den verbalen Elementen in der Satzklammer. Das Vorfeld bezeichnet dabei die Satzposition vor der linken Satzklammer. Diese Position muß in Hauptsätzen (3a-c) und Ergänzungsfragen, die durch ein Fragewort eingeleitet sind (3d), durch eine Satzkonstituente besetzt werden. In Imperativen (3e), eingeleiteten Nebensätzen (3f) und Entscheidungsfragen (3g) bleibt diese Position dagegen leer. Wie sich aus den Beispielen (3bc) ergibt, kann das Vorfeld im Deutschen nicht nur durch das Subjekt (3a), sondern durch beliebige phrasale Kategorien besetzt werden, soweit sie fokussierbar sind (Grewendorf 1988).1 Die Voranstellung beliebiger Phrasen vor das finite Verb in der zweiten Satzposition der linken Satzklammer - wird als V2-Phänomen bezeichnet. Um dieses Phänomen soll es im folgenden Teil der Arbeit gehen. Bsp. Vorfeld
li.Satzklammer
Mittelfeld
re.Satzklammer
(3a)
Lancelot
kämpfte
mutig gegen seine Feinde
an.
(b)
Gegen seine Feinde
hat
Lancelot mutig
gekämpft.
(c)
Gekämpft
hat
Lancelot gegen seine Feinde.
(d)
Wen
bekämpft
Lancelot so mutig?
(e)
Kämpfe
gegen die Feinde!
(f)
daß
Lancelot gegen die Feinde
kämpfte
Kämpft
Lancelot gegen die Feinde
an?
(g)
Nach Grewendorf (1988) ist die Besetzung des Vorfelds bei anderen Konstituenten als Subjekt oder Adverb mit einer Fokussierung verbunden. Unbetonte Elemente wie z.B. Modalpartikel (halt, eben) können daher das Vorfeld nicht besetzen.
50 Für die theoretische Erfassung der oben beschriebenen Worstellungsvariationen des Deutschen werde ich im weiteren auf den Rahmen der 'Government and Binding' Theorie (abgekürzt GB, deutsch Rektions- und Bindungstheorie) zurückgreifen (Chomsky 1981), da die im folgenden überprüften Agrammatismustheorien ebenfalls in diesem theoretischen Rahmen formuliert sind. Wortstellungsvariationen, wie sie das Deutsche zeigt, werden im Rahmen der GB durch Bewegungsoperationen, die auf eine basisgenerierte Grundwortstellung angewendet werden, repräsentiert. Dabei geht die GB-Theorie von zwei strukturellen Repräsentationsebenen aus (vgl. Chomsky 1981, Fanselow & Felix 1987, Haegeman 1994). 2 Die Ebene der D-Struktur repräsentiert die Prädikat-Argumentstruktur und die thematischen Rollen lexikalischer Einträge. Dafür wird auf die im Lexikon gespeicherten Informationen lexikalischer Einträge zugegriffen. Ein Eintrag im mentalen Lexikon enthält neben phonologischer, semantischer und kategorialer Information auch Angaben über die subkategorisierten Argumente und ihre thematischen Rollen. Über das X-bar-Schema, das den Aufbau phrasaler Kategorien festlegt, werden die im Lexikon enthaltenen Informationen über Wortklasse, Argumentstruktur und thematische Rollen für den Strukturaufbau genutzt. In der vom X-bar-Schema durch Projektion lexikalischer Information erzeugten D-Struktur stehen die Elemente in ihrer basisgenerierten Position. Das Verb und seine Argumente werden dabei in der VP basisgeneriert; dabei gehe ich nach der VP-internen-Subjekt-Hypothese (Sportiche 1988, Kitagawa 1986, Kuroda 1986) davon aus, daß auch das Subjekt (das externe Argument) in der VP (in Spec-VP) basisgeneriert wird. (4)
VP Spec
V'
Subjekt
NP I internes Argument
V I Verb
In Weiterentwicklung der GB-Theorie wurde das Minimalistische Programm entwickelt (Chomsky 1992, 1995). Das Minimalistische Programm kennt lediglich zwei Repräsentationsebenen: LF und PF. Die Strukturebenen der D- und S-Struktur der GB-Theorie entfallen. Syntaktische Strukturen werden durch die Operationen 'merge' und 'move' erzeugt. Bewegungsprozesse können dabei overt, also phonologisch sichtbar, oder covert ablaufen. Die syntaktischen Strukturen, die durch overte Bewegung entstehen, werden durch einen Spell-Out Prozeß in die PF überführt. Nach Spell-Out können weiterhin coverte Bewegungen stattfinden, die dann zu LF führen. Bewegung von Konstituenten ist immer dann erforderlich, wenn abstrakte Merkmale eines Kopfes 'gecheckt' werden müssen. Anders als in der GB-Theorie erhalten Wörter ihre Flexion nicht durch eine Bewegung in eine funktionale Kategorie, sondern sie kommen voll flektiert aus dem Lexikon. Funktionale Kategorien enthalten lediglich abstrakte grammatische Merkmale, die im Laufe der Ableitung getilgt werden müssen. Dies geschieht dadurch, daß Konstituenten in funktionale Projektionen bewegt und ihre Merkmale mit den abstrakten Merkmalen des Kopfes der funktionalen Kategorie verglichen werden. Sind die abstrakten grammatischen Merkmale stark, dann findet die Bewegung des vollflektierten Elements in diese Position vor Spell-Out statt, die Bewegung ist damit sichtbar. Sind die abstrakten Merkmale schwach, wird die Bewegung nach Spell-Out und damit covert durchgeführt. Wie in der GB-Theorie läßt jede Bewegung dabei eine koindizierte Spur zurück. Da sich die Agrammatismustheorien, die hier empirisch überprüft werden sollen, jedoch alle auf die GB-Theorie beziehen, wird sich die Darstellung von Bewegungsoperationen und die Datenauswertung im folgenden ebenfalls in diesem Rahmen bewegen.
51 Die D-Struktur entspricht jedoch nicht notwendigerweise der Oberflächenreihenfolge der Elemente im Satz, die in der S-Struktur repräsentiert wird. Die Strukturebenen der D- und SStruktur stehen Uber Bewegungsoperationen miteinander in Beziehung. Aus der Anwendung von Bewegungsoperationen auf die aus dem Lexikon projizierte D-Struktur ergibt sich die SStruktur, in der nach Durchführung aller Bewegungsoperationen die Satzelemente in ihrer Oberflächenabfolge erscheinen. Die Grammatik erlaubt dabei verschiedene Formen der Bewegung von Konstituenten, die jedoch auf eine einzige, einheitliche Bewegungsregel - die Regel move-alpha - zurückgeführt werden, die besagt, daß eine beliebige Konstituente in eine beliebige Position im Phrasenstrukturbaum bewegt werden kann. Trotz der Verschiedenartigkeit der Bewegungsprozesse, die sich in der Unterschiedlichkeit der bewegten Elemente, ihrer jeweiligen Start- und Landepositionen und der zurücklegbaren Strecke zeigen, ergeben sich einige allgemeinverbindliche Regeln, die bei jeder Bewegungsoperation beachtet werden müssen: • Wird in eine im Phrasenstrukturbaum bereits existierende Position bewegt, so muß diese leer, d.h. nicht von einem lexikalischen Element besetzt, sein. • Ferner ist zu beachten, daß Ursprungs- und Landeplatz eines bewegten Elements immer vom gleichen Projektionstyp sein müssen (Strukturerhaltungsprinzip). So können XoElemente nur in eine Kopfposition und X max -Elemente nur in eine Spec-Position bewegt werden. • Für jede Bewegung gilt ferner, daß das bewegte Element in seiner ursprünglichen, basisgenerierten D-Struktur-Position eine Spur (abgekürzt durch /) hinterläßt, die mit ihrem Antezedens in der neuen S-Struktur-Position koindiziert ist. Das Zurücklassen einer solchen Spur ergibt sich aus unabhängigen Prinzipien der Grammatik wie z.B. dem Projektionsprinzip, das besagt, daß die thematische Struktur eines Verbs auf allen Strukturebenen erhalten sein muß. Für die Beschreibung der beiden Bewegungsoperationen, die das V2-Phänomen des Deutschen bedingen - die Bewegung des finiten Verbs in die linke Satzklammer und die Besetzung des Vorfelds - gehe ich im weiteren von der folgenden Phrasenstruktur für das Deutsche aus:
INFL
52
1.1. Stellung des Verbs Finite Verben und nebensatzeinleitende Komplementierer befinden sich im Deutschen in komplementärer Distribution. Ist ein Komplementierer vorhanden, steht das finite Verb satzfinal; ist kein Komplementierer vorhanden, steht das finite Verb in erster oder zweiter Satzposition (Bsp. (6a, b)): (6a) (b)
..., daß Lancelot für den König kämpft. kämpft Lancelot für den König
Aus der komplementären Verteilung von finitem Verb und Komplementierer ergibt sich die Annahme, daß beide Elemente dieselbe strukturelle Position besetzen. Im topologischen Satzmodell ist dies die Position der linken Satzklammer (Drach 1937, Reis 1980). Infinite Verben verbleiben dagegen immer in satzfinaler Position (Bsp. (7a, b)): (7a) (b)
[vp für den König kämpfen] Lancelot wird für den König kämpfen.
Im Rahmen der GB-Theorie wurde, um diese Stellungsmuster und die notwendigen Bewegungsoperationen zu erklären, die folgende Standardanalyse entwickelt (vgl. Fanselow & Felix 1987, Grewendorf 1988, den Besten 1989), die davon ausgeht, daß die zugrundeliegende Wortstellung des Deutschen SOV ist (Thiersch 1978, vgl. aber Ouhalla 1991, 1993, Kayne 1993, Schmidt 1995). Mit dem Zusammenspiel von zugrundeliegender SOV-Stellung und nachfolgenden Bewegungsoperationen lassen sich die Stellungsmuster des Verbs im Deutschen erklären: Nebensatzeinleitende Komplementierer werden in COMP, dem Kopf der funktionalen Projektion CP, basisgeneriert. Diese Position besetzt auch das finite Verb, wenn kein Komplementierer vorhanden ist. Um die Bewegung des finiten Verbs in die COMP-Position zu motivieren, wird angenommen, daß COMP einen Finitheitsoperator [+F] enthält, der die Bewegung des finiten Verbs dann auslöst, wenn kein Komplementierer diese Position lexikalisiert (Platzack & Holmberg 1989). Infinite Verben werden nicht bewegt, da sie vom Finitheitsoperator nicht gebunden werden. Sie verbleiben in der VP. Für die Kongruenz- und Tempusflexion des finiten Verbs ist die funktionale Kategorie IP zuständig. Sie enthält die grammatischen Merkmale TENSE und AGR (Fanselow & Felix 1987, Grewendorf 1988).3 Die Affigierung der Flexionsaffixe wird durch die Verbbewegung aus der VP heraus in die INFL-Position sichergestellt. Im Hauptsatz löst der Finitheits-Opera-
In der weiteren Darstellung werde ich sowohl bei der Analyse der Spontansprache der Patienten als auch bei Darstellungen grammatischer Repräsentationen auf das TENSE-Merkmal nicht mehr eingehen. Die Untersuchung der Tempusmorphologie in der Spontansprache agrammatischer Patienten ist schwierig, da eindeutige Tempusmarkierungen, wie Präteritumformen, sehr selten sind. Der Gebrauch des Präteritums ist optional und wird in der Umgangssprache gewöhnlich durch den Gebrauch des Perfekts ersetzt. Für die hier vorgenommenen Analysen verstehe ich daher unter einem finiten Verb - soweit nicht anders definiert ein Verb, das Kongruenzmerkmale trägt.
53 tor in COMP dann die Weiterbewegung des finiten Verbs aus der INFL- in die COMP-Position aus. So ergibt sich die VI-Stellung finiter Verben in Imperativen und Entscheidungsfragen. Durch eine Topikalisierungsregel, die zusätzlich eine beliebige maximale Konstituente in die Spec-CP-Position bewegt, kommt die V2-Stellung in Hauptsätzen zustande. Im Nebensatz verhindert der in COMP basisgenerierte Komplementierer die Weiterbewegung von INFL nach COMP. Das finite Verb bleibt dann satzfinal im INFL-Knoten stehen. Zusammengefaßt besteht die Verbbewegung in deutschen Hauptsätzen also aus zwei Teiloperationen. Die erste, die auch in Nebensätzen stattfindet, führt das Verb aus der basisgenerierten kopffinalen V0-Position in die kopffinale INFL-Position, wo die Kongruenz- und Tempusflexion affigiert wird. Der zweite Teil der Bewegungsoperation wird dann durch den Finitheitsoperator in COMP ausgelöst und bewirkt die Bewegung des finiten Verbs aus der INFL- in die leere COMP-Position. Da bei der Verbbewegung eine minimale X°-Kategorie aus einer Kopfposition in eine andere Kopfposition bewegt wird, handelt es sich um eine Kopf-zuKopf-Bewegung. Start- und Landeplätze der Bewegung sind durch koindizierte Spuren verbunden (Bsp. (8)):4 (8)
CP Spec
C
COMPj IP [+F] I Spec Γ kämpft I Lancelot VP Spec
INFLf¡
V'
PP ν· I I für den König Vi, Die beschriebene Analyse erklärt die Verbstellungssystematik des Deutschen durch die Annahme einer zugrundeliegenden SOV-Struktur und die Anwendung einer Verbbewegungsregel, die in uneingeleiteten Sätzen das Verb in die COMP-Position bewegt. Diese Analyse war und ist auch in jüngster Zeit wieder Gegenstand kritischer Überlegungen. So wird z.B. die Frage diskutiert, ob für uneingeleitete und eingeleitete Sätze dieselbe CPStruktur anzusetzen sei. Dem oben beschriebenen Ansatz, der von einer uniformen CP-Struktur für beide Satztypen ausgeht, werden dabei von Vertretern der Differenzthese zwei verschiedene Satzstrukturen zur Repräsentation von eingeleiteten und uneingeleiteten Sätzen entgegengestellt: eine CP-Struktur mit kopffinaler IP für die Repräsentation eingeleiteter Sätze und eine kopfinitiale IP-Struktur für die Repräsentation uneingeleiteter Sätze (z.B. Reis 1985). Aus Vereinfachungsgründen enthält die Strukturrepräsentation nur die Spuren des bewegten Verbs, nicht aber die Spuren des bewegten Subjekts.
54 Dem Bestreben der Differenzthese, die Komplexität der Satzstruktur zu reduzieren, steht die Split-CP-Analyse entgegen, die für die Repräsentation uneingeleiteter Sätze zwei funktionale Projektionen oberhalb von IP ansetzt: eine Topikphrase, die einen Landeplatz für topikalisierte Elemente bereithält, und eine CP mit einem Landeplatz für wÄ-Elemente (Müller & Sternefeld 1993). Diskutiert wird auch, ob die Verbbewegung durch einen Operator in COMP ausgelöst wird, oder indem starke grammatische Merkmale gecheckt werden müssen, wie im Minimalistischen Programm angenommen wird (Chomsky 1992, 1995, Wilder & Cavar 1993). Die angerissenen Fragen, wodurch Verbbewegung ausgelöst wird und in welche funktionalen Kategorien sie führt, sind für meine Analyse der Verbstellungsprozesse im Agrammatismus jedoch nicht relevant. Maßgeblich für die Datenanalyse ist lediglich die allgemein geteilte Annahme, daß funktionale Kategorien als Landeplatz für das finite Verb oberhalb der VP angesetzt werden müssen, die die notwendigen syntaktischen Operationen - wie z.B. die Verbflexion und die Bereitstellung von Landeplätzen für bewegte Konstituenten - gewährleisten. Auswirkungen auf die Datenanalyse ergeben sich dagegen aus der Verbindung von theoretischlinguistischen Ansätzen, die keine zugrundeliegende SOV-Stellung in der VP annehmen, mit Agrammatismustheorien, die von einer Beeinträchtigung des Phrasenstrukturaufbaus ausgehen. Einen solchen theoretisch-linguistischen Ansatz verfolgt z.B. Ouhalla (1991, 1993), der davon ausgeht, daß die Verbstellung innerhalb der VP in allen Sprachen frei ist. Zu dieser Annahme gelangt er, da seiner Auffassung nach nur funktionale Kategorien parametrisiert werden können. Der Kopfparameter kann unter dieser Annahme für die lexikalische Kategorie V nicht belegt werden. Stellungsanforderungen innerhalb der VP entfallen deshalb. Die Verbstellung innerhalb der VP wäre demnach im Deutschen nicht auf eine Vfmale-Stellung des Verbs beschränkt; auch eine V2-Stellung könnte sich im Rahmen einer VP beschreiben lassen. Einen anderen Ansatz verfolgt Kayne (1993), der davon ausgeht, daß alle strukturellen Repräsentationen das folgende Format haben:5
Ob die Generalisierung von Kayne zutrifft, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar. Zwar stellt sein Ansatz eine sehr restriktive Theorie des Strukturaufbaus dar, doch muß er diese Restriktivität durch die Annahme einer Reihe zusätzlicher Bewegungsoperationen erkaufen, so daß unklar ist, ob seine Theorie wirklich 'sparsamer' ist als Theorien, die von einer parametrisierbaren Worstellung ausgehen. So muß man Kaynes Theorie zufolge für das Deutsche die folgende IP-Struktur annehmen: [Spec-IP flNFL VP]]jp. In einem Nebensatz wie daß Lancelot die Feinde bekämpft ergibt sich bei dieser Struktur jedoch zwischen dem Subjekt in Spec-IP und dem finiten Verb in INFL kein Landeplatz für eine weitere Konstituente wie das Objekt. Gerade die Beobachtung, daß im Deutschen in Nebensätzen Komplemente sowie Adjunkte immer zwischen dem Subjekt und dem finiten Verb stehen, führte in der hier dargestellten Standardanalyse der Verbstellung im Deutschen zur Annahme einer kopffinalen INFL-Projektion. Diese Stellung Iäßt sich in Kaynes Modell nur durch die Annahme einer zusätzlichen Bewegungsoperation herstellen, durch die die VP nach Spec-IP bewegt wird (siehe Schmidt 1995).
55 Damit muß allen Sprachen eine SVO-Stellung in der VP zugrunde liegen (vgl. auch Zvart 1994 und die Ausarbeitung von Schmidt 1995 für das Deutsche). Für die theoretische Beschreibung agrammatischer Satzrepräsentationen sind diese theoretisch-linguistischen Ansätze deshalb interessant, weil die in der Sprachproduktion agrammatischer Sprecher häufig zu beobachtenden SV(X)-Strukturen nach diesen Ansätzen nicht notwendig durch einen Verbbewegungsprozeß in eine funktionale Kategorie verursacht sein müssen. Bei einer zugrundeliegenden SOV-Stellung in der VP muß jede Vl/V2-Stellung des Verbs durch einen Bewegungsprozeß in eine funktionale Projektion verursacht sein. V1/V2Stellungen des Verbs in agrammatischen Äußerungen böten damit Evidenz für den Erhalt funktionaler Kategorien und die Fähigkeit, komplexe Phrasenstrukturrepräsentationen im Agrammatismus aufzubauen. Ist die zugrundeliegende Stellung in der VP dagegen SVO, dann böte die SV(X)-Stellung von Verben in agrammatischen Äußerungen keine derartige Evidenz, denn eine SVO-Ordnung von Satzkonstituenten an der Satzoberfläche kann in diesen Arbeiten auch innerhalb der VP repräsentiert werden, also ein basisgeneriertes Stellungsmuster sein, das auch ohne Bewegung in funktionale Kategorien erzeugbar ist. Relevanz für die Datenanalyse erlangt diese theoretische Kontroverse, da im Agrammatismus nach einer Reihe von Theorien die Fähigkeit zum Phrasenstrukturaufbau gestört ist, funktionale Kategorien nicht erhalten sind und somit keine Bewegungsoperationen durchgeführt werden können (vgl. Kap. III.2.1.). Eine ausführliche Diskussion der Verbstellungsdaten der hier untersuchten Agrammatiker vor diesem Hintergrund ist Gegenstand von Kapitel 3.
1.2. Besetzung des Vorfelds Die zweite Bewegungsoperation, die das V2-Phänomen des Deutschen ausmacht, betrifft die Besetzung des Vorfelds. In Hauptsätzen und Ergänzungsfragen, die durch ein Fragewort eingeleitet sind, muß das Vorfeld, die Position vor dem finiten Verb in der linken Satzklammer, besetzt werden (Bsp. (9a-e)): (9a) (b) (c) (d) (e)
Lancelot liebt die Königin minniglich. Minniglich liebt Lancelot die Königin. Die Königin liebt Lancelot. Wen liebt Lancelot? Warum liebt Lancelot die Königin?
Die linke Satzklammer des topologischen Modells wird in der oben beschriebenen GBStandardanalyse der Verbstellung durch die funktionale Kategorie COMP repräsentiert. Das Vorfeld des topologischen Modells wird in dieser grammatiktheoretischen Analyse durch die Spec-CP-Position gebildet. Um die V2-Stellung des finiten Verbs in Hauptsätzen und Ergänzungsfragen zu generieren, muß neben der Bewegung des finiten Verbs in die COMP-Position noch eine weitere Bewegungsoperation angenommen werden. Diese Bewegung fuhrt eine beliebige maximale Phrase in die Spec-CP-Position. Die Bewegung eines Fragepronomens (w/i-Elements) in die Spec-CP-Position (Bsp. (9d, e)) wird dabei als w/i-Bewegung bezeichnet
56 (Fanselow & Felix 1987, Grewendorf 1988, Haegeman 1994), die Bewegung anderer maximaler Phrasen nach Spec-CP wird unter den Begriff Topikalisierung (Fanselow & Felix 1987, Grewendorf 1988) gefaßt (Bsp. (9a-c)). Die Spec-CP-Position, in die sowohl wA-Bewegung als auch Topikalisierung führen, hat die folgenden Charakteristika: Spec-CP ist eine A-bar-Position, d.h. eine Position, an die keine Theta-Rollen vergeben werden können (vgl Haegeman 1994). Sie ist auch keine Kasusposition, da in diese Position weder unter Rektion noch unter Spezifizierer-Kopf-Kongruenz Kasus zugewiesen werden kann. Werden Nominalphrasen nach Spec-CP bewegt, müssen sie daher um Kasusfilter und Theta-Kriterium zu erfüllen, die bestimmen, daß jede Nominalphrase einen Kasus und eine Theta-Rolle tragen muß - bereits mit Kasusmerkmalen und Theta-Rolle ausgestattet sein, da sie beides in Spec-CP nicht mehr erhalten können. Kasus und Theta-Rolle einer bewegten Nominalphrase werden deshalb über eine Kette, die das bewegte Element in der Spec-CP-Position mit der koindizierten Spur in seiner basisgenerierten Position und den Durchgangsstationen der Bewegung verbindet, an die Spec-CP-Position vererbt. Da die SpecCP-Position nicht für NPs spezifiziert ist, können neben den Argument-NPs aber auch andere phrasale Kategorien in diese Positionen bewegt werden und damit das Vorfeld besetzen (Bsp. (9b)) (Haegeman 1994, Grewendorf 1992). Im Gegensatz zu der auf Ergänzungsfragen (und bestimmte Nebensatztypen) beschränkten wA-Bewegung kann die Topikalisierung beliebiger phrasaler Kategorien in die Spec-CPPosition im Deutschen in jedem uneingeleiteten Deklarativsatz beobachtet werden, denn sie bewirkt durch die Voranstellung einer maximalen Konstituente die Zweitstellung des nach COMP bewegten finiten Verbs. Beispiel (10a) demonstriert die Vorfeldbesetzung durch eine wA-Bewegung bzw. durch die Topikalisierung eines Objekts. Beispiel (10b) zeigt die Vorfeldbesetzung durch ein Subjekt: CP 6
(10a) Spec die Königini/ wen¡
( b) C
COMP IP I / liebt Spec Lancelot VP
Spec Lancelot,/ wer
INFL
CP 7 e IP COMP I / liebt Specíi ENFL
Aus Vereinfachungsgründen enthält die Strukturrepräsentation nur die Spuren des topikalisierten Objekts bzw. des bewegten wA-Elements, nicht aber die Spuren des bewegten Verbs und des bewegten Subjekts. Aus Vereinfachungsgründen enthält die Strukturrepräsentation nur die Spuren des topikalisierten Subjekts, nicht aber die Spuren des bewegten Verbs.
57 Nach der oben dargestellten Analyse wird die Bewegung von Subjekten in die Spec-CPPosition der Bewegung anderer Konstituenten in diese Position gleichgestellt. Die Analyse erfaßt damit die Analogie, die sich zwischen der w/i-Bewegung bzw. Topikalisierung von Subjekten und der Bewegung von Objekten beobachten läßt, doch ist diese Gleichstellung nicht unumstritten. So ist z.B. im Englischen theoretisch unklar, ob bei Subjekt-w/i-Fragen eine Bewegung des Subjekts in die Spec-CP-Position angenommen werden muß, denn die Bewegung des Subjekts von Spec-IP nach Spec-CP kann im Englischen an der Satzoberfläche nicht gesehen werden; sie hat keinen phonetischen Gehalt und ist nach Chomsky (1986) 'vacuous', d.h. leer (siehe Bsp. (11)). (11)
coming Da die Bewegung des Subjekts nicht sichtbar ist, ist nach Chomsky (1986) unklar, ob in diesen Fällen tatsächlich eine Bewegungsoperation von Spec-IP nach Spec-CP anzunehmen ist, oder ob solche Sätze nicht eher lediglich im Rahmen einer IP-Struktur zu beschreiben sind.8 Auch für das Deutsche wird die Frage diskutiert, ob bei der Bewegung des Subjekts in die Spec-CP-Position eine leere Bewegung analog zum Englischen vorliegen könnte (siehe z.B. Bayer et al. 1987). Im Deutschen wird die Bewegung des Subjekts von Spec-IP nach Spec-CP jedoch durch die Stellung des finiten Verbs in COMP sichtbar, das bei dieser Bewegung passiert wird. Die funktionale Kategorie INFL ist im Deutschen im Gegensatz zum Englischen (vgl. (5) und (11)) kopffinal. Die Voranstellung des finiten Verbs ergibt sich daher im Deutschen - anders als im Englischen - erst über die Verbbewegung in die kopfinitiale COMPPosition. In einer SVX-Äußerung mit finitem Verb muß das Subjekt im Deutschen - aber nicht im Englischen - also in die Spec-CP-Position bewegt werden. Würde man dagegen analog zum Englischen von einer IP-Struktur für Subjekt-wA- bzw. Subjekt-Verb-Sätze ausgehen, ergäbe sich bei kopffinaler INFL-Position eine SOV-Stellung der Satzkonstituenten. Die Annahme von Bayer et al., auch im Deutschen könnte bei Subjekten ein 'vacuous movement' vorliegen, macht nur dann Sinn, wenn man für uneingeleitete Hauptsätze eine kopfinitiale IP-Struktur wie im Englischen annimmt (vgl. (12)), wie dies von Vertretern der Differenzthese getan wird (z.B. Reis 1985): So verweist Chomsky z.B. darauf, daß aufgrund der 'Unsichtbarkeit' dieser Bewegung unklar sei, wie sie im Spracherwerb erworben werden solle (Chomsky 1986:48).
58
Nach dieser Repräsentation für uneingeleitete Hauptsätze müßten Topikalisierung und whBewegung als Bewegung in die Spec-IP-Position verstanden werden, die dann das Vorfeld des Satzes bezeichnen würde. Doch selbst unter Annahme der Differenzthese würde sich die Bewegung von Subjekten im Deutschen nicht als 'vacuous' beschreiben lassen. Zwei Möglichkeiten der Repräsentation ergeben sich dabei: Nach der ersten Alternative wird das Subjekt in Spec-VP basisgeneriert und von dort in uneingeleiteten Hauptsätzen - wie andere Topiks oder w/i-Elemente auch - nach Spec-IP bewegt. Die Bewegung des Subjekts wäre jedoch auch unter dieser Analyse sichtbar, d.h. nicht 'vacuous', da sich durch die Bewegung des Subjekt aus der Spec-VP-Position die SOV-Wortstellung der VP zur SVO-Stellung der IP wandeln würde. Zudem kann nach dieser Analyse die Spec-IP keine spezielle Subjektposition mehr sein, denn es muß sichergestellt werden, daß der Nominativ nur an das Subjekt und nicht auch an andere w/t-bewegte oder topikalisierte Phrasen in Spec-IP zugewiesen wird. Dies kann nur unter der Annahme geschehen, daß der Nominativkasus bereits in der VP und nicht in Spec-IP zugewiesen wird (z.B. Haider 1993). Unter dieser Annahme aber hat die Spec-IP-Position der Differenzthese die gleichen syntaktischen Eigenschaften wie die oben dargestellte Spec-CP-Position: Es handelt sich um eine A'-Position, in die beliebige mit Kasus und Theta-Rolle ausgestattete NPs bewegt werden können. Die Frage, ob die Vorfeldbesetzung in die Spec-IP oder die Spec-CP-Position führt, ist in dieser Hinsicht für die hier vorgenommene Untersuchung also nicht relevant. 9 Unter der zweiten Analyse wird das Subjekt in Spec-IP basisgeneriert, wo es in uneingeleiteten Hauptsätzen verbleibt. Zwar läge in diesem Fall keine Bewegung des Subjekts vor. Unter dieser Annahme ist jedoch völlig unklar, wie andere ννΛ-bewegte oder topikalisierte Phrasen überhaupt die Spec-IP-Position besetzen können, wenn dort das Subjekt basisgeneriert und kasusmarkiert wird. Es gibt also im Deutschen im Gegensatz zum Englischen keine Evidenz, die dafür spricht, daß die Bewegung von Subjekten anders zu repräsentieren sein könnte als die Bewegung von Objekten. Dagegen gibt es eine Reihe von theoretischen Argumenten, die dafür sprechen, daß das Subjekt in Spec-VP basisgeneriert wird und in Subjekt-wft- bzw. Subjekt-Verb-Sätzen über Spec-EP nach Spec-CP bewegt wird.
Andere Probleme der Differenzthese, wie z.B. das Problem der satztypabhängigen, uneinheitlichen Fixierung des Kopfparameters für die funktionale Kategorie INFL (kopfinitial in uneingeleiteten Sätzen, kopffinal in eingeleiteten Sätzen) spielen für meine Datenanalyse keine Rolle und werden daher hier nicht diskutiert
59 So spricht für ein in Spec-VP basisgeneriertes Subjekt z.B. die Beobachtung, daß subjekthaltige Verbalphrasen im Vorfeld stehen können (siehe Haider 1993). Würde das Subjekt in SpecIP basisgeneriert, so wäre unklar, wie es mit Teilen der Verbalphrase zusammen in die SpecCP-Position bewegt werden kann: 10 (13a) Ein Zug entgleist ist hier erst kürzlich. (b) Ein Außenseiter gewonnen hat hier noch nie.11 Für eine Bewegung des Subjekts nach Spec-CP spricht z.B. das Phänomen des Topic-drop (Huang 1984) (für weitere Argumente vgl. Thiersch 1978). In der Umgangssprache können pronominale Elemente, die in Spec-CP stehen, ausgelassen werden. Eine Auslassung dieser Elemente aus einer anderen als der Spec-CP-Position ist jedoch nicht möglich (vgl. (14c) und (15c, d)) (Huang 1984, Grewendorf 1992): ( 14a) [cp Das hab [|P ich [Vp doch gesagt.]]] (b) [Cp Hab [IP ich [Vp doch gesagt.]]] (c) *[CP Ich hab [iP [Vp doch gesagt.]]] Das Beispiel in (14b) zeigt die Auslassung eines Objekt-Pronomens in der Spec-CP-Position. Doch Topic-drop ist auch bei Subjekten möglich (vgl. (15b)), was dafür spricht, daß sie ebenfalls in Spec-CP stehen. Wie die Beispiele (15c, d) zeigen, ist eine Auslassung des Subjekts in der Spec-IP-Position dagegen nicht möglich: ( 15a) [cp Ich hab [iP [Vp das schon erledigt.]]] (b) [Cp hab [iP [vp das schon erledigt.]]] 12 C ( ) *[CP Das hab [|p [vp schon erledigt.]]] (d) *Ich weiß, [CP daß [iP [yp das Auto gekauft hat.]]] Weitere Evidenz für eine Bewegung von Subjekten nach Spec-CP kommt nach Bayer (1984) aus der Syntax des Bayerischen. Dort können Subjekt-w/i-Elemente auch links vom Komplementierer, der in der COMP-Position steht, landen (vgl. Bsp. (16)): (16)
Ich weiß nicht [cp wer daß uns noch helfen könnte] 13
Für die Darstellung der Daten werde ich daher von der oben präsentierten Analyse ausgehen, die von einer uniformen CP-Struktur und der VP-internen-Subjekt-Hypothese ausgeht. 14
Die Beispiele (14a, b) und (15 a, b) wurden zitiert nach Fanselow & Felix, 1987:152. 13
Beispiel aus Bayer et al., 1987:115. Weitere Differenzen zur hier dargestellten Analyse von ννΛ-Bewegung und Topikalisierung ergeben sich auch aus der bereits angesprochenen Split-CP-Analyse (Müller & Stemefeld 1993), die zwei verschiedene Landeplätze für topikalisierte Elemente (Spec-Topic) und für wA-Phrasen (Spec-CP) ansetzt. Im Minimalistischen Programm (Chomsky 1992, 1995) wird die Vorfeldbesetzung durch ein starkes grammatisches Merkmal ausgelöst, das in der CP gecheckt werden muß. Da für die Analyse der Daten vor dem Hinter-
60
2. Theoretische Ansätze zur Wortstellung im Agrammatismus Wie die theoretische Beschreibung der Wortstellung im Deutschen gezeigt hat, sind insbesondere zwei Dinge für die Durchführung von Bewegungsoperationen notwendig: Zum einen muß der Phrasenstrukturbaum Landeplätze für die bewegten Konstituenten bereitstellen. Zum anderen muß aus Gründen der Theta-Rollen-Vergabe und des Kasusfilters eine koindizierte Spur in der Ausgangsposition des bewegten Elements verbleiben, die über eine Kette mit dem Landeplatz des bewegten Elements verbunden ist. Die Frage, ob Landeplätze und Bewegungsspuren in den syntaktischen Repräsentationen agrammatischer Sprecher vorhanden sind, hat auch die Untersuchung von Wortstellungsoperationen im Agrammatismus geprägt. Danach lassen sich bei den Ansätzen, die von einer Beeinträchtigung von Wortstellungsoperationen im Agrammatismus ausgehen, zwei Gruppen unterscheiden: Während die eine Gruppe der Agrammatismustheorien von einem Verlust der Landeplätze für bewegte Konstituenten ausgeht (vgl. Caramazza & Zurif 1976, Berndt & Caramazza 1980, Saffran et al. 1980, Schwartz et al. 1980, Caplan 1983a und 1985, Tyler 1985, Bayer et al. 1987, de Bleser & Bayer 1991, Ouhalla 1993), sind der anderen Gruppe zufolge die Landeplätze zwar vorhanden, die Bewegungsspuren jedoch zerstört (vgl. Grodzinsky 1984, 1986, 1990, Mauner et al. 1993, Hickok 1992, Hickok et al. 1993). Im folgenden sollen die erwähnten Agrammatismustheorien mit ihren generellen Vorhersagen über Wortstellungsoperationen im Agrammatismus kurz vorgestellt werden. In den nachfolgenden Kapiteln 3 und 4 sollen aus diesen Theorien dann konkrete Vorhersagen für das V2-Phänomen des Deutschen abgeleitet und empirisch überprüft werden.
2.1. Verlust der Landeplätze Eine Reihe von Ansätzen geht davon aus, daß insbesondere der Aufbau von Phrasenstrukturen durch das agrammatische Defizit beeinträchtigt ist. Dieses Defizit bewirkt, daß Landeplätze für bewegte Konstituenten nicht mehr zur Verfügung stehen. Bewegungsoperationen werden damit unmöglich. Während die Auswirkungen auf die Bewegung von Satzkonstituenten identisch sind, variiert jedoch das Ausmaß der jeweils angenommenen Störung des Phrasenstrukturaufbaus. Sowohl eine globale Syntaxstörung, die zu einem kompletten Zusammenbruch des Phrasenstrukturaufbaus führt, als auch ein Defizit, das lediglich den Aufbau funktionaler Projektionen betrifft, werden als Ursache der agrammatischen Beeinträchtigung genannt.
grand der Agrammatismustheorien zu Bewegungsprozessen jedoch allein die Frage relevant ist, ob überhaupt ein Bewegungsprozeß anzunehmen ist, nicht dagegen, was genau Auslöser oder Landeplatz der Bewegung ist, werde ich auf diese Analysen nicht weiter eingehen.
61 2.1.1. Globale Syntaxstörung Zu Beginn der 80er Jahre rückte die Frage, ob dem Agrammatisms ein zentrales Defizit der syntaktischen Kompetenz zugrunde liege, in den Mittelpunkt der Agrammatismusforschung. Um diese Frage zu klären, wurde nicht länger nur die Sprachproduktion, sondern auch das Sprachverständnis und die Fähigkeit agrammatischer Patienten, grammatische Urteile abzugeben, untersucht, denn eine Störung der syntaktischen Kompetenz sollte sich auch in diesen Sprachmodalitäten manifestieren (siehe z.B. Berndt & Caramazza 1980). In der Tat schienen die ersten dieser Untersuchungen auf eine Störung aller Sprachmodalitäten und daher auf eine Störung der grammatischen Kompetenz hinzudeuten. Vor diesem Hintergrund entstanden Agrammatismustheorien, die ganz allgemein von einer globalen Störung der syntaktischen Komponente ausgingen. Eine der ersten Arbeiten, die das Sprachverständnis von agrammatischen Aphasikern untersuchte, stammte von Caramazza & Zurif (1976). Sie fanden bei einer Überprüfung des Sprachverständnisses von eingebetteten Objekt-Relativsätzen mittels einer Satz-Bild-Zuordnungsaufgabe, daß Agrammatiker Sätzen nur dann das richtige Bild zuordnen konnten, wenn sich die Wahl des Bildes aus der im Satz enthaltenen semantischen Information eindeutig ergab (Bsp. (17a)). Setzte das Satzverständnis jedoch die Verarbeitung syntaktischer Informationen voraus, weil die semantische Information keine (Bsp. (17b)) bzw. irreführende (Bsp. (17c)) Hinweise auf die Satzinformation gab, dann war das Satzverständnis der Broca-Aphasiker erheblich gestört: (17a) The apple that the boy is eating is red. (b) The horse that the bear is kicking is brown. (c) The bird that the worm is eating is blue. Caramazza & Zurif schlossen aus diesem Ergebnis, daß Agrammatiker in ihrer Fähigkeit "to algorithmically compute a full structural description" (ebd.:578) gestört seien, aber weiterhin über heuristische Prozesse des Sprachverstehens verfügten, die die semantische Plausibilität und die lineare Anordnung der Wörter in einer Äußerung zur Erstellung einer semantischen Repräsentation ausnutzten (ebd.:581). Auch Saffran et al. (1980) und Schwartz et al. (1980) fanden bei einer Untersuchung über das Sprachverstehen und die Sprachproduktion agrammatischer Aphasiker eine gravierende Beeinträchtigung der syntaktischen Fähigkeiten ihrer Versuchspersonen. In ihrer Untersuchung zur aphasischen Sprachproduktion ließen sie Agrammatiker Bilder beschreiben, auf denen Handlungen bzw. räumliche Relationen abgebildet waren. Auf der Basis dieser Daten stellten sie ein Defizit fest, nach dem keinerlei grammatische Faktoren wie die grammatischen Relationen Subjekt oder Objekt oder thematische Rollen, sondern allein ein nichtlinguistischer Faktor, den sie als 'Salienz' beschrieben, die Positionierung von Nomen um das Verb herum
62 bestimmte.15 Die Autoren werteten dies als Evidenz für eine Störung im Agrammatismus, die sowohl den Aufbau grammatischer Relationen als auch die Theta-Rollen-Vergabe betrifft. 16 Auch Berndt & Caramazza (1980) gelangten nach einer kritischen Wertung der damaligen Befunde zu syntaktischen Fähigkeiten von Agrammatikern in den verschiedenen Sprachmodalitäten zu dem Schluß, daß die syntaktische Komponente des Sprachsystems im Agrammatismus gestört sei. Diese Störung verhindere, daß Broca-Aphasiker syntaktische Informationen, wie sie durch grammatische Morpheme oder die Wortstellung geliefert werden, für die Sprachverarbeitung ausnützen könnten. Stattdessen wären sie bei der Sprachverarbeitung allein auf die semantischen Informationen, die die lexikalischen Hauptkategorien wie Nomen, Verben und Adjektive bereitstellten, angewiesen. Auf der Basis dieser Befunde und Überlegungen stellte Caplan (1983a, 1985) eine Theorie vor, die das syntaktische Defizit agrammatischer Aphasiker im Bereich der Wortstellung expliziter ausformulierte: die 'lexical-node' Hypothese (vgl. auch Marshall 1977). Seiner Ansicht nach sind Agrammatiker nicht in der Lage, syntaktische Phrasen zu bilden und diese zu hierarchischen Strukturbäumen anzuordnen. Agrammatikern stünden lediglich Inhaltswörter wie Nomen, Verben und Adjektive zur Verfügung. Neben deren semantischem Gehalt verfügten sie auch über diejenigen syntaktischen Informationen, die zu diesen Inhaltswörtern im Lexikon gespeichert sind. Dazu gehören neben der Information über die syntaktische Kategorie der Inhaltswörter auch die Subkategorisierungsinformationen. Weiter verfügten Agrammatiker über Regeln für die lineare Anordnung von Inhaltswörtern, die sich aus der syntaktischen Kategorie dieser Elemente ergeben, so z.B. über eine Regel, die V-V-Linearisierungen ausschließt. Erhalten ist nach Caplan ebenfalls die Fähigkeit, semantische Relationen, wie sie z.B. durch Theta-Rollen ausgedrückt werden, zwischen den Inhaltswörtern herzustellen. Für die Vergabe von Theta-Rollen werden dabei die linearen Wortstellungsabfolgen ausgenutzt: Semantische Relationen wie Agens oder Patiens werden dabei linearen N-V- bzw. V-N-Abfolgen zugewiesen. Während die Zuweisung von Theta-Rollen an Nomen in N-V-N-Linearisierungen laut Caplan ungestört ist, geht er wie Saffran et al. (1980) und Schwartz et al. (1980) davon aus, daß Agrammatiker nicht über die grammatischen Relationen Subjekt oder Objekt verfügen, da diese sich aus phrasalen Hierarchien ableiten. Zusammenfassung: Den Ansätzen ist gemeinsam, daß sie von einer sehr weitreichenden syntaktischen Störung ausgehen. Im Agrammatismus bleiben lediglich Informationen erhalten, die aus dem Lexikon gewonnen werden können, wie die Wortkategorie, der Subkategorisierungsrahmen und lineare Wortfolgebeschränkungen für Inhaltswörter wie Nomen, Verben und Adjektive. Phrasenstrukturen können jedoch nicht aufgebaut werden. Bewegungsoperationen sind damit im Agrammatismus nicht möglich. Weder stehen für sie die notwendigen Landeplätze in einer Phrasenstruktur zur Verfügung, noch ergeben sich Wortstellungsvariationen, die durch Bewegungsopera15
Das salientere Element steht vor dem Verb.
16
Siehe aber Caplan (1983b) für eine Interpretation der Daten von Saffran et al. und Schwartz et al., die für den Erhalt der Theta-Rollen-Vergabe argumentiert.
63 tionen ermöglicht werden, aus dem Lexikon, z.B. dem Subkategorisierungsrahmen der erhaltenen lexikalischen Elemente. Damit lassen sich agrammatische Äußerungen als lineare Abfolgen von Verb und Nomen erfassen, denen thematische Rollen nach heuristischen, an semantischer Plausibilität orientierten, nicht-linguistischen Prinzipien zugewiesen werden. Daraus ergibt sich, daß Agrammatiker besonders auf kanonische Stellungs- und Interpretationsmuster zurückgreifen, wie z.B. darauf, lineare Nomen-Verb-Abfolgen als Agens-Aktion-Relationen zu verstehen (z.B. Caramazza & Zurif 1976). Wortstellungen, bei denen die serielle Abfolge der Wörter nicht mit kanonischen semantischen Interpretationsmustern übereinstimmt wie bei PatiensAktion-Agens-Abfolgen, sollten demgegenüber nicht produziert werden bzw. Schwierigkeiten in der Interpretation bereiten. Die Repräsentation agrammatischer Äußerungen ergibt sich damit wie in (18) skizziert: (18)
lineare Wortfolge:
Ν
R
V
Ν
Î
Zuweisung aufgrund der linearen Wortfolge semantische Relationen:
Agens
Patiens
2.1.2. Reduktion auf lokale Teilstrukturen Die Idee, daß Agrammatiker in ihrer Sprachverarbeitung auf die Ausnutzung lexikalischer Informationen beschränkt sein könnten, der Aufbau von Phrasenstrukturen jedoch gestört ist, haben in jüngerer Zeit de Bleser & Bayer (1991) sowie Bayer et al. (1987) wieder aufgegriffen. In Produktionsexperimenten mit drei deutschsprachigen Agrammatikern testeten die Autoren die Verfügbarkeit lexikalischer Informationen (Genus und Numerus von Nomina) und die Fähigkeit der Aphasiker, lexikalische bzw. syntaktische Operationen (Komposition, Derivation bzw. Kasuszuweisung) korrekt durchzuführen. Dabei zeigte sich laut den Autoren, daß die lexikalische Information über Genus und Numerus von Nomina verfügbar, die Wortbildungsprozesse Komposition, Derivation und Flexion erhalten sowie die lexikalische Kasuszuweisung durch eine Präposition möglich war. Im Gegensatz zu diesen gut erhaltenen Fähigkeiten zeigten sich jedoch gravierende Probleme bei der strukturellen Kasuszuweisung an topikalisierte NPs. In einem Experiment waren die drei Agrammatiker gebeten worden, eine unflektierte komplexe Nominalphrase bestehend aus Determinierer, Adjektiv und Nomen, die in einen Satz eingebettet war, vervollständigend zu lesen. Dabei wurden u.a. Objektnominalphrasen im Akkusativ oder Dativ in kanonischer (= SVO) bzw. nicht-kanonischer Konstituentenabfolge (= OVS) getestet (siehe Bsp. (19a, b)): (19a) Ein alter Gärtner droht ein... jung... Koch. (b) Ein.... alt... Gärtner droht ein junger Koch.
[Dativ, kanonisch] [Dativ, nicht-kanonisch]
In der nicht-kanonischen Wortstellung (19b) ist die Kasusvervollständigung der unflektierten Objekt-NP allein von der Verarbeitung der Kasusinformation der vorgegebenen, flektierten NP
64 abhängig. Nur wenn erkannt wird, daß diese NP Nominativflexion trägt und damit Subjekt des Satzes sein muß, ist eine korrekte Kasuszuweisung an die Objekt-NP möglich. Eine Kasuszuweisung, die sich allein am kanonischen SVO-Stellungsmuster orientiert, muß bei nicht-kanonischer Wortstellung zu Fehlern führen. Die Ergebnisse zeigten nach Ansicht der Autoren, daß den Agrammatikern die Kasuszuweisung in nicht-kanonischen Wortstellungen nicht gelang. So unterliefen ihnen Kasusfehler, oder sie hielten auch in nicht-kanonischen Sätzen an der kanonischen SVO-Stellung fest und produzierten in präverbaler Position nur nominativische NPs. Auf der Basis dieser experimentell gewonnenen Ergebnisse konstruieren die Autoren ihre Theorie zum Agrammatismus. In einem Versuch, die erhaltene Fähigkeit lexikalischer Kasuszuweisung und die erhaltene Verfügbarkeit lexikalischer Informationen und Wortbildungsprozesse im Agrammatismus auf ein einheitliches Konzept zurückzuführen, stützen sie sich auf den Ansatz der Lexikalischen Phonologie (z.B. Kiparsky 1982a). In der Lexikalischen Phonologie wird neben den gängigen in den lexikalischen Einträgen gespeicherten Informationen zu Bedeutung und syntaktischen Selektionseigenschaften eines Elements (z.B. Subkategorisierungsrahmen oder Informationen über den Kasus, den ein lexikalischer Kasuszuweiser vergibt) eine einheitliche Wortbildungskomponente im Lexikon propagiert. Diese Wortbildungskomponente führt auf der Basis der gespeicherten lexikalischen Informationen alle morphologischen Operationen einschließlich der Flexion aus. Damit steht sie im Gegensatz zu den Ansätzen, die die Flexion als syntaktischen Prozeß außerhalb des Lexikons in der Syntax ansiedeln (z.B. Chomsky 1989, Anderson 1992, Ouhalla 1993). Nach Bayer et al./de Bleser & Bayer sind nun die erhaltenen syntaktischen Fähigkeiten der Agrammatiker, wie z.B. die Flexion komplexer Nominalphrasen und die lexikalische Kasuszuweisung, eine Reflexion ihres erhaltenen Lexikons. Während dieses im Agrammatismus erhalten ist, sind syntaktische Prozesse ihrer Theorie nach weitgehend gestört. Die Syntax vermag lediglich den Aufbau einer Phrasenstruktur zu leisten, die es erlaubt, lexikalische Hauptkategorien in X'-Phrasen zu projizieren und die subkategorisierten, obligatorischen Argumente eines X°-Kopfes abzulegen (Bayer et al. 1987:111). Diese stark beschränkte Fähigkeit zum Strukturaufbau ermöglicht allein die Produktion strikt lokaler syntaktischer Phrasen, wobei Lokalität für die Autoren bedeutet, daß Adjazenz zwischen Kopf und Komplement bzw. Spezifizierer vorliegt (de Bleser & Bayer, 1991:64). So reduziert die Störung der Syntax die Sprachproduktion agrammatischer Patienten auf VPs, NPs oder PPs. Die Fähigkeiten zum Phrasenstrukturaufbau agrammatischer Aphasiker reduzieren sich damit faktisch auf den Aufbau der D-Struktur. Alle darüber hinausgehenden syntaktischen Operationen, wie die Durchführung von Bewegungsoperationen und der Aufbau der S-Struktur, die sich nicht aus im Lexikon gespeicherten Informationen ergeben, sind Agrammatikern dagegegen nicht mehr möglich. Dies wird nach Ansicht der Autoren durch die Probleme belegt, die die untersuchten Agrammatiker mit der strukturellen Kasuszuweisung in nicht-kanonischen Satzstrukturen hatten. Doch nicht nur bei der strukturellen Kasuszuweisung in nicht-lokalen Domänen sollte sich die Syntaxstörung zeigen. Trifft die Theorie einer auf den Aufbau lokaler Teilstrukturen reduzierten Syntax zu, so sollten laut Bayer et al./de Bleser & Bayer auch die nicht-lokalen Prozesse der Bewegung und Bindung sowie die Produktion diskontinuierlicher Elemente (z.B. die Trennung von Partikelverben) im Agrammatismus unmöglich sein.
65 Weitere experimentelle Stützung dieser These liefert Tyler (1985), die von einem ähnlich gelagerten - wenn auch theoretisch nicht so explizierten - Defizit im Agrammatisms ausgeht. Tyler führte mit einem agrammatischen Broca-Aphasiker on-line-Experimente zum Sprachverstehen durch, bei denen der Vp ein Zielwort genannt wurde, das sie in einem auditiv angebotenen Satz identifizieren sollte. Dabei wurde die Reaktionszeit, die die Vp von der Präsentation des Zielworts im Satz bis zu ihrer Entscheidung benötigte, gemessen. Tyler variierte drei verschiedene Satzbedingungen: Das Zielwort (im Bsp. (20) lead) wurde (a) in einem normalen Satz, (b) in einem grammatisch adäquaten aber semantisch unplausiblen Satz oder (c) in einem Satz ohne syntaktische oder semantische Strukturierung präsentiert (scrambled string). (20a) The church was broken into last night. Some thieves stole most of the lead of the roof. (b) The power was located in great water. No buns puzzle some in the lead off the text. (c) In was power water the great located. Some the no puzzle buns in lead text the off. Ferner wurde die Position des Zielworts im Satz variiert (frühe, mittlere oder späte Position im Satz). Bei der Auswertung der Reaktionszeiten zeigten sich für die Vp wie für die unbeeinträchtigten Kontrollpersonen kürzere Reaktionszeiten bei der Identifizierung des Zielworts in normalen Sätzen als bei der Identifizierung in semantisch unplausiblen Sätzen. Die Reaktionszeiten in semantisch unplausiblen Sätzen waren wiederum kürzer als die Reaktionszeiten in der scrambled-string-Bedingung. Dieses Reaktionszeitmuster wertet Tyler - in Analogie zu identischen Befunden bei ungestörten Vpn (Marslen-Wilson & Tyler 1980) - als Evidenz dafür, daß die Vp während des Hörens der Sätze sowohl die semantische als auch die syntaktische Information auswerten kann, um eine Repräsentation des Satzes zu erstellen, die die Identifizierung des Zielwortes erleichtert. Allerdings zeigte sich bei der Vp - anders als bei unbeeinträchtigten Kontrollpersonen - kein Wortpositionseffekt bei semantisch unplausiblen Sätzen. Bei ungestörten Kontrollpersonen ist die Reaktionszeit umso schneller, je später das Seiwort im Satz auftaucht. Dieser Effekt soll den Aufbau der strukturellen Repräsentation eines Satzes widerspiegeln: Je weiter hinten das Zielwort im Satz auftaucht, desto mehr strukturelle Information kann schon für den Strukturaufbau verwendet werden, desto mehr wird die Identifikation des Zielwortes erleichtert (Marslen-Wilson & Tyler 1980). Tyler wertet den Befund, daß sich dieser Wortpositionseffekt für die agrammatische Vp zwar auch in der normalen Satzbedingung, jedoch nicht in der semantisch unplausiblen Bedingung zeigt, als Evidenz dafür, daß die Vp in Sätzen, in denen keine semantische Information zum Strukturaufbau zur Verfügung steht, nicht in der Lage ist, on-line eine syntaktische Strukturrepräsentation zu erstellen, die die gesamte Äußerung umfaßt. Dagegen zeigte die Vp in einem weiteren Experiment, in dem unter anderem Verletzungen des Subkategorisierungsrahmens von Verben getestet wurden, ein völlig normales Verhalten. Als Reaktion auf die Verletzung von Subkategorisierungsbeschränkungen stiegen ihre Reaktionszeiten an. Aus diesen Befunden zieht Tyler den Schluß, daß die Vp zwar den Aufbau globaler syntaktischer Satzrepräsentationen, die einen gesamten Satz umfassen, nicht leisten kann; der Aufbau lokaler syntaktischer Phrasen wie VPs oder PPs, die ihrer Definition nach aus einer 'geringen Anzahl adjazenter Elemente bestehen' (Tyler 1985:272), gelingt jedoch.
66 Eine Reduktion der Fähigkeiten zum syntaktischen Strukturaufbau im Agrammatisms nimmt auch Ouhalla (1993) an. Seiner Annahme nach ist der Agrammatismus durch den Verlust aller funktionalen Kategorien und ihrer Projektionen in der Sprachrepräsentation der Aphasiker zu erklären (ebd.: 11). Sein Ansatz basiert auf dem Prinzipien-und-Parameter-Modell innerhalb der GB, nach dem sich das System einer Sprache aus dem Zusammenspiel zweier Komponenten ergibt: aus universell in allen Sprachen gültigen Prinzipien und aus Parametern, die einzelsprachlich belegt werden. Ouhalla (1993) greift dabei die Idee Chomskys (1989) auf, daß sich die durch Parameter hervorgerufene Sprachvariation allein aus dem Inventar funktionaler Elemente ergeben könnte. Die Variation zwischen Einzelsprachen soll demnach auf das einzelsprachlich unterschiedlich genutzte System funktionaler Kategorien und ihrer spezifischen grammatischen Eigenschaften zurückführbar sein. Da funktionale Kategorien sich durch ihre syntaktischen Eigenschaften klar von lexikalischen Kategorien unterscheiden, bilden sie nach Ouhalla eine umgrenzte, autonome Komponente der Universellen Grammatik (UG). Diese Komponente, die Teil der genetischen Ausstattung jedes Menschen ist, besteht aus einem 'UG Lexikon', das die begrenzte Menge funktionaler Kategorien und die mit ihnen verbundenen grammatischen Merkmale enthält. Bei Agrammatikern ist der Zugriff zu diesem UG Lexikon der abstrakten funktionalen Kategorien laut Ouhalla jedoch zerstört. Das bewirkt nicht nur, daß der Strukturaufbau dieser funktionalen Kategorien unmöglich ist, sondern auch den Verlust sämtlicher an diese Kategorien gebundener grammatischer Merkmale. Der Verlust der funktionalen Kategorien und ihrer grammatischen Merkmale hat zur Folge, daß alle die grammatischen Beziehungen und Prozesse gestört sind, die auf funktionale Kategorien und ihre Projektionen zurückgreifen. Alle Komponenten und Mechanismen der UG, die nicht an funktionale Kategorien gebunden sind, sind dagegen im Agrammatismus unbeeinträchtigt (ebd.:ΠΙ 3). Der Verlust der funktionalen Kategorien und ihrer Projektionen führt unter anderem dazu, daß die Landeplätze für bewegte Konstituenten, die durch funktionale Kategorien bereitgestellt werden, nicht mehr zur Verfügung stehen. Bewegungsoperationen in eine funktionale Kategorie werden damit unmöglich. Mit dem Verlust aller funktionalen Projektionen oberhalb der VP muß sich die agrammatische Spontansprache im Rahmen von Verbalphrasen beschreiben lassen. Dabei ergeben sich jedoch nach Ouhalla für die Repräsentation von Sätzen die unter (21) abgebildeten 4 Möglichkeiten der Wortstellung innerhalb der VP, bei der die Spec-VPPosition mal rechts, mal links vom Kopf zu finden ist, der seinerseits rechts- oder linksköpfig sein kann. c)
VP
d)
V^^Spec NP^^V
VP V^^Spec
V
NP
Zu dieser freien Wortstellung innerhalb der VP gelangt Ouhalla durch die Annahme, daß nur funktionale Kategorien parametrisiert werden können. Der Kopfparameter für die lexikalische Kategorie V kann demnach nicht belegt werden. Stellungsanforderungen innerhalb der VP entfallen deshalb in seiner Theorie.
67 Zusammenfassung: Insgesamt lassen sich die Ansätze von Bayer et al./de Bleser & Bayer, Tyler und Ouhalla wie folgt zusammenfassen: Alle Ansätze gehen davon aus, daß Agrammatiker nicht mehr in der Lage sind, komplette Phrasenstrukturbäume (wie z.B. in (5) für das Deutsche) zu bilden. Möglich soll ihnen lediglich die Projektion von im Lexikon gespeicherten Informationen nach dem X'-Schema sein. Alle syntaktischen Operationen, die sich nicht aus der verfügbaren lexikalischen Information ergeben und den Aufbau einer vollständigen Phrasenstruktur erfordern, sind dagegen nicht mehr möglich. Von dieser Beeinträchtigung sind insbesondere Bewegungsoperationen betroffen. Zum einen sind Wortstellungsvariationen, die durch Bewegungsoperationen ermöglicht werden, nicht in Lexikoneinträgen gespeichert. Zum anderen setzen Bewegungsoperationen die Verfügbarkeit von Landeplätzen, die von funktionalen Kategorien gestellt werden, voraus und damit eine Satzrepräsentation, die über den Rahmen einer VP hinausgeht. Sind Agrammatiker dagegen auf den Aufbau von Satzrepräsentationen beschränkt, die den Rahmen einer VP nicht überschreiten, dann sollten Bewegungsoperationen im Agrammatismus folglich unmöglich sein. Als strukturelle Repräsentation agrammatischer Sätze ergibt sich somit eine VP-Struktur wie in (22), wobei die Wortstellung in der VP nach Ouhalla auch frei sein kann: VP
(22) Spec
V' NP
2.2. Verlust von Spuren Neben den Ansätzen, die von einer Störung des Phrasenstrukturaufbaus im Agrammatismus ausgehen, die insbesondere Bewegungsoperationen beeinträchtigt, hat sich in jüngster Zeit eine Gruppe von Ansätzen etabliert, die annehmen, daß im Agrammatismus die strukturelle Verbindung zwischen Antezedens und Spur eines bewegten Elementes betroffen ist, der Aufbau der Phrasenstruktur selbst jedoch unbeeinträchtigt ist (vgl. Grodzinsky, 1984, 1986, 1990, Hickok 1992, Hickok et al. 1993, Mauner et al. 1993). Wie in Kapitel III. 1. beschrieben, läßt jede Bewegungsoperation eine Spur am Ausgangspunkt der Bewegung zurück. Die Spur am Startplatz der Bewegung und das bewegte Element am Landeplatz sind koindiziert und durch eine Kette miteinander verbunden. Spur und Kette haben eine Reihe syntaktischer Funktionen, deren wichtigste die Vergabe von Theta-Rollen ist. Nach dem Theta-Kriterium muß jedem Argument genau eine Theta-Rolle zugewiesen werden. Das Theta-Kriterium greift nun sowohl auf der D-Struktur, auf der die Elemente in ihrer basisgenerierten Position erscheinen, als auch auf der S-Struktur, in der die Elemente in ihrer Oberflächenposition stehen. Das bedeutet, daß die Zuweisung von Theta-Rollen auf der D-Struktur innerhalb der VP nicht genügt, um das Theta-Kriterium zu erfüllen; auch auf der S-Struktur
68 muß jede Argument-NP über eine Theta-Rolle verfügen. Das wird über die Spur und eine Kette gewährleistet, die bewegte Elemente mit ihrer D-strukturellen Position verbindet. Die Theta-Rolle wird der Spur, dem Fuß der Kette, zugewiesen. Über die Kette kann damit die Theta-Rolle auch an das bewegte Element in seiner Oberflächenposition vergeben werden (z.B. Haegeman 1994). Die Idee, Spuren könnten im Agrammatismus gestört sein, stammt von Grodzinsky (1984, 1986, 1990). Seiner Ansicht nach ist der Agrammatismus durch eine repräsentationale Veränderung der S-Struktur gekennzeichnet, die u.a. dazu führt, daß Spuren aus der strukturellen Repräsentation der S-Struktur getilgt werden: "The S-Structure representation underlying agrammatic comprehension lacks traces." (Grodzinsky 1990:106) Mit dieser Trace-Deletion-Hypothese versucht Grodzinsky, die bis dahin aus Satzverständnisaufgaben gewonnenen Ergebnisse über die Zuweisung thematischer Rollen auf eine unabhängig motivierte Theorie linguistischer Repräsentationen - die GB-Theorie - zu stützen und durch das Versagen eines einzigen syntaktischen Faktors zu erklären. Bei der Untersuchung des Satzverständnisses von Aphasikern hatte sich gezeigt, daß Agrammatiker bei Aktiv-, eingebetteten Subjekt-Relativ- (Bsp. (23a)) und Subjekt-SpaltSätzen (Bsp. (23b)) gute Leistungen erzielten, bei Passiv- (Bsp. (24a)), eingebetteten ObjektRelativ- (Bsp. (24b)) und Objekt-Spalt-Sätzen (Bsp. 24c)) jedoch nur Leistungen auf dem Zufallsniveau erbrachten (für eine Zusammenfassung siehe Kelter 1990). Während Caramazza & Zurif (1976), Saffran et al. (1980), Schwartz et al. (1980) oder Berndt & Caramazza (1980) ein globales syntaktisches Defizit zur Erklärung dieses Musters heranziehen, betrachtet Grodzinsky die eine Spur zurücklassende Bewegung des Objekts aus seiner basisgenerierten D-Struktur-Position als einheitlichen syntaktischen Faktor, der diese Reaktionen erklären kann (Grodzinsky 1990:83). Während die Leistung von Agrammatikern bei der Verarbeitung von Objektspuren auf dem Zufallsniveau liegt, bereiten ihnen Subjektspuren, die bei der Bewegung von Subjekten in Subjekt-Relativ- und Subjekt-Spalt-Sätzen zurückbleiben, offensichtlich keine Probleme. Hier scheint der Verlust der Spuren auf der S-Struktur also aufgehoben zu werden. Grodzinsky erklärt dies durch die Annahme eines Default-Prinzips, das in SVO-Sprachen der satzinitialen Position die Agensrolle, der postverbalen Position dagegen die Themarolle zuweist (ebd.:83). Die Vergabe von Theta-Rollen nach dem Default-Prinzip greift nur dann, wenn Argumenten die Theta-Rolle über eine Spur zugewiesen werden müßte. Da Spuren im Agrammatismus getilgt sind, können bewegte Argumente nach Grodzinsky keine Theta-Rolle erhalten und müßten folglich gegen das Theta-Kriterium verstoßen. Nur in dieser Situation greift das Default-Prinzip ein, das den bewegten Argumenten dann Theta-Rollen auf der Basis einer nichtlinguistischen, auf statistischen Wahrscheinlichkeiten beruhenden Agens-zuerstStrategie (Bever 1970, Heeschen 1980) zuweist. Die Default-Zuweisung von Theta-Rollen kann bei Sätzen mit bewegten Subjekten (bei Subjekt-Relativ- (Bsp. (23a)) und Subjekt-SpaltSätzen (Bsp. (23b))) das Defizit, das aus dem Verlust der Spuren resultiert, wieder ausgleichen: Das Subjekt steht in diesen Fällen satzinitial, es erhält daher per Default-Prinzip die Theta-Rolle Agens, die es auch Uber die Bewegungsspur erhalten hätte.
69 (23a) The girl [who [iP * is pushing the boy]] is tall.17 1 î * Agens per default Thema von V (b)
It is the girl [who [IP * is pushing the boy]] 1 t * Agens per default Thema von V
Werden dagegen Objekte in die satzinitiale Position bewegt (bei Passiv- (Bsp. (24a)), ObjektRelativ- (Bsp. (24b)) und Objekt-Spalt-Sätzen (Bsp. (24c))), kann das Default-Prinzip den Verlust der Bewegungsspuren nicht ausgleichen: Dem satzinitialen Objekt wird per DefaultPrinzip die Agens-Rolle zugewiesen. Probleme treten jetzt auf, da auch dem nichtbewegten Subjekt in Spec-IP in diesen Sätzen die Agens-Rolle zugewiesen wird, diesmal durch reguläre, ungestörte grammatische Prinzipien. Mit zwei 'Agenten' konfrontiert, muß sich der Agrammatiker für eine Lesart entscheiden; seine Reaktionen sinken auf Zufallsniveau. (24a) The girl was pushed * by the boy Agens per default
Agens von by
(b)
The girl [who []P the boy is pushing * ] is tall] 1 Τ * Agens per default Agens von V
(c)
It is the girl [who [IP the boy is pushing * ]] t * 1 Agens per default Agens von V
Dieses Zusammenspiel von Tilgung der Bewegungsspuren und Theta-Rollen-Zuweisung per Default-Prinzip regelt nach Grodzinsky die Leistungen agrammatischer Aphasiker in den Satzverständnisaufgaben. Die Trace-Deletion-Hypothese von Grodzinsky hat die Aufmerksamkeit in der Agrammatismusforschung auf die Untersuchung von Bewegungsspuren gelenkt. Als Folge davon wurden nicht nur eine Reihe von experimentellen Untersuchungen zu dieser Fragestellung durchgeführt (z.B. Zurif et al. 1993, Lukatela et al. 1995), sondern auch Weiterentwicklungen der TraceDeletion-Hypothese vorgeschlagen (Hickok 1992, Hickok et al. 1993, Mauner et al. 1993). Zentral für diese Weiterentwicklungen ist die Einbeziehung der VP-internen-Subjekt-Hypothese (z.B. Sportiche 1988), nach der das Subjekt nicht in Spec-IP, sondern in Spec-VP basisgeneriert wird (siehe Kap. III. 1.), in Grodzinskys Agrammatismustheorie. Diese Annahme hat Auswirkungen auf die Trace-Deletion-Hypothese. Geht man davon aus, daß das Subjekt in Spec-VP basisgeneriert wird, so muß in jedem finiten Satz eine Bewegung des Subjekts aus der Spec-VP in die Spec-IP-Position angenommen werden. Diese Bewegung läßt, wie bereits erläutert, eine Bewegungsspur zurück. Geht man nun nach Grodzinskys Trace-Deletion-Hypothese davon aus, daß Spuren auf der S-Struktur getilgt werden, dann muß diese Tilgung auch
Der * bezeichnet die Tilgung der Bewegungsspur. Beispiele aus Grodzinsky, 1990:84-85.
70 die Subjekt-Spuren betreffen. Im Gegensatz zu Grodzinskys Ansatz fallen Subjekt-Spuren demnach nicht nur bei der Bewegung des Subjekts aus Spec-IP an, sondern bereits bei der Bewegung des Subjekts nach Spec-IP. Da diese Spuren getilgt werden, bedeutet das, daß Agrammatiker Subjekten auf grammatischem Wege nie eine Theta-Rolle zuweisen können. Nach Hickok et al. (1993) wird die Theta-Rollen-Vergabe bei Argumenten, bei denen die Theta-Rollen-Zuweisung wegen der Tilgung der Bewegungsspuren scheitert, über eine 'fill-in'Strategie geregelt. Scheitert in einem Satz mit zwei Argumenten lediglich bei einem Argument (dem Subjekt) die Theta-Rollen-Zuweisung wegen der Tilgung der Bewegungsspur, dann wird dem Subjekt durch diese Strategie die Theta-Rolle zugewiesen, die vom Verb noch nicht vergeben werden konnte. Da das nicht bewegte Objekt seine Theta-Rolle vom Verb erhalten kann, ist die nicht-vergebene Theta-Rolle die Agensrolle, die das Subjekt dann auf nicht-linguistischem Wege durch Anwendung der 'fill-in'-Strategie erhält. Die Leistung der Agrammatiker beim Verstehen solcher Äußerung (z.B. Aktivsätze, Subjekt-Relativ- und Subjekt-Spalt-Sätze) ist folglich gut. Werden dagegen beide Argumente bewegt, scheitert die Theta-Rollen-Vergabe wegen der Tilgung der Bewegungsspuren bei beiden. Die 'fill-in'-Strategie kann in diesem Fall nicht weiterhelfen, da keine der beiden Theta-Rollen des Verbs auf regulärem Wege vergeben werden kann und damit unklar bleiben muß, welchem Argument welche Theta-Rolle zuzuweisen ist. Der Agrammatiker ist gezwungen zu raten; seine Leistung sinkt auf Zufallsniveau. Mit der Einbeziehung der VP-internen-Subjekt-Hypothese in die Trace-Deletion-Hypothese Grodzinskys können Hickok et al. einen Befund erklären, der sich aus Grodzinskys Agrammatismustheorie nicht ergibt. Hickok et al. testeten das Sprachverständnis von Agrammatikern für Hauptsätze in Hauptsatz-Relativsatz-Konstruktionen wie (25): (25)
The tiger that chased the lion is big.
Aufgabe der Agrammatiker war herauszufinden, ob der Tiger oder der Löwe groß war. Nach Grodzinskys Trace-Deletion-Hypothese sollten Agrammatiker bei dieser Aufgabe keine Probleme haben, da über das Default-Prinzip an den bewegten tiger die Agensrolle zugewiesen werden kann, während lion seine Theta-Rolle vom Verb chased erhält. Dennoch zeigte sich bei der mit einem Agrammatiker durchgeführten Untersuchung, daß die Leistung der Vp nur auf dem Zufallsniveau lag. Die revidierte Trace-Deletion-Hypothese von Hickok et al. kann diese Leistung jedoch erklären. Die Repräsentation in (26) macht die Argumentation klar: (26)
The tiger that [VP * chased the lion]] [VP * is big]. chase ((*) (lion)) is big (*)
Zwar wird lion vom Verb chased eine Theta-Rolle zugewiesen, so daß nach der 'fill-in'-Strategie tiger die noch nicht vergebene Agensrolle des Verbs chase erhalten kann. Jedoch bleibt unklar, an welches der beiden Argumente das Matrixverb is seine Theta-Rolle vergeben muß. In dieser Situation muß der Agrammatiker sich willkürlich entscheiden; eine Leistung auf Zufallsniveau resultiert.
71 Auch Mauner et al. (1993) integrieren die VP-interne-Subjekt-Hypothese in ihre Revision der Trace-Deletion-Hypothese. Darin schlagen sie vor, den Prozeß der Kettenbildung zwischen Spur und Antezedens von dem Prozeß ihrer Koindizierung zu trennen. Während sie im Gegensatz zu Grodzinsky davon ausgehen, daß die Bildung von Ketten im Agrammatismus unbeeinträchtigt ist, ist der Prozeß der Koindizierung der Kettenelemente ihrer Ansicht nach gestört. Dieses Defizit wirkt sich dann aus, wenn bei zwei (oder mehr) bewegten Elementen Spuren und Antezedenten (Landeplätze) der Bewegung koindiziert werden müssen. Dann nämlich steht dem Agrammatiker nicht mehr nur die richtige Koindizierung zur Verfügung, sondern er kann auch die Spur eines bewegten Elements X mit dem Antezedens eines bewegten Elements Y koindizieren (und vice versa). Damit ergibt sich jedoch nicht nur eine, sondern mehrere mögliche Interpretationen einer Äußerung. Der Agrammatiker muß sich willkürlich für eine der möglichen Interpretationen entscheiden. Eine Leistung auf dem Zufallsniveau resultiert. Die Störung des Koindizierungsprozesses und die resultierende zufällige Auswahl aus mehreren möglichen Interpretationen erklärt nach Mauner et al. die auf dem Zufallsniveau liegenden Leistungen beim Verständnis von Objekt-Relativ- und Objekt-Spalt-Sätzen, bei denen ja zwei Argumente bewegt werden und Spuren hinterlassen. Die Koindizierung zwischen Spur und Antezedens ist zwar auch dann gestört, wenn nur ein Argument (das Subjekt) bewegt wird. Eine Koindizierung, die die Bewegungsspur des Subjekts mit dem nicht-bewegten Objekt verbindet, ist ihrer Ansicht nach dann allerdings ausgeschlossen, denn während das nichtbewegte Objekt beide Theta-Rollen binden würde, könnte das bewegte Subjekt nicht interpretiert werden. Damit bleibt nur die korrekte Möglichkeit, die Bewegungsspur des Subjekts mit dem bewegten Subjekt zu koindizieren. Das Verständnis von Aktiv-, Subjekt-Relativ- und Subjekt-Spalt-Sätzen ist dementsprechend unbeeinträchtigt. Da die Störung des Koindizierungsprozesses sich nur dann auswirkt, wenn mindestens zwei Elemente bewegt werden, bezeichnen sie ihre Defizit-Hypothese als Double-Dependency-Hypothese.
Zusammenfassung: Gemeinsam ist diesen drei Hypothesen zum Agrammatismus, daß das Defizit nur den Prozeß der Spurbildung betrifft, der Phrasenstrukturaufbau selbst jedoch ungestört ist. Damit ergibt sich für deutschsprachige Agrammatiker die folgende strukturelle Satzrepräsentation: (27)
CP Spec
C
COMP
IP
Spec
I' VP
Spec
INFL V
NP
V
72 Diese Repräsentation stimmt von der Anzahl und strukturellen Konfiguration funktionaler Kategorien her völlig mit dem Phrasenstrukturbaum für deutsche Sätze in (5) überein und nimmt damit die geringste Beeinträchtigung beim Phrasenstrukturaufbau agrammatischer Aphasiker an - nämlich keine. Insbesondere der Erhalt der Projektionen funktionaler Kategorien ist hier bedeutsam, denn diese stellen Landeplätze für bewegte Konstituenten zur Verfügung. Der Erhalt der Projektionen funktionaler Kategorien in der agrammatischen Sprachrepräsentation bedingt also - im Gegensatz zu den bisher besprochenen Agrammatismustheorien -, daß die Bewegung von Konstituenten aus ihrer basisgenerierten D-strukturellen Position keine Beeinträchtigung zeigen sollte. Erst nachdem die bewegte Konstituente ihre derivierte Sstrukturelle Position eingenommen hat, greift die agrammatische Störung: Die Bewegungsspur wird getilgt bzw. der Prozeß der Koindizierung zwischen Spur und Antezedens gestört. Eine Bemerkung zur Tragweite der postulierten Defizite ist jedoch hier angebracht. Die vorgestellten Theorien zu Spurbindungsprozessen im Agrammatismus machen Aussagen über das Sprachverständnis und nicht über die Sprachproduktion agrammatischer Aphasiker. Handelt es sich bei diesen Theorien um Ansätze, die eine reine Performanzstörung im Bereich des Sprachverständnis beschreiben, dann können sie nicht auf die agrammatische Sprachproduktion angewandt werden. Zumindest für den Ansatz von Grodzinsky legen jedoch einige Punkte nahe, daß die Tilgung von Spuren eher auf der Ebene der grammatischen Kompetenz als auf der Ebene einer reinen Performanzbeeinträchtigung, die nur das Sprachverständnis betrifft, anzusiedeln ist. So läßt Grodzinsky zwar explizit im unklaren, ob die Beeinträchtigung der Spurbindungsprozesse im Agrammatismus die grammatische Kompetenz betrifft oder ob lediglich eine Performanzstörung vorliegt, die zwar das Sprachverständnis, nicht jedoch die Sprachproduktion beeinträchtigt (Grodzinsky 1990:107, 113); Grodzinsky selbst nimmt jedoch eine Störung der Sprachproduktion agrammatischer Aphasiker an, die auch Spuren betrifft. Seiner Theorie nach ist die Sprachproduktion im Agrammatismus dadurch gekennzeichnet, daß nichtlexikalische Terminalknoten aus der S-Struktur getilgt werden (ebd.:59). Diese Tilgung betrifft zum einen die spezifizierten Werte grammatischer Merkmale, wie z.B. die grammatischen Merkmale TENSE, NUMERUS und PERSON des INFL-Knotens, sie kann sich jedoch zumindest nach einer der beiden Definitionen, die Grodzinsky für den Begriff 'nicht-lexikalischer Terminalknoten' vorschlägt - auch auf leere Elemente wie z.B. Bewegungsspuren beziehen (ebd.:59). Legt man diese Definition des agrammatischen Defizits zugrunde, so zeigt sich zumindest in Hinsicht auf die Tilgung von Spuren in den Repräsentationen agrammatischer Aphasiker ein paralleles Defizit in Sprachverständnis und Sprachproduktion. Ebenfalls für eine parallele und damit zentrale Störung agrammatischer Repräsentationen spricht, daß Grodzinsky mit seiner Trace-Deletion-Hypothese nicht nur Sprachverständnisdaten erklärt, sondern auch Daten, die mit einem Produktionsexperiment gewonnen wurden einer Satzanagrammaufgabe nämlich, bei der die Vpn aus drei vorgegebenen Satzfragmenten einen ein Bild beschreibenden Satz bilden sollten (Grodzinsky 1990:88ff., 1995b). Die Tatsache, daß mit seiner Theorie nicht nur Sprachverständnisdaten, sondern auch Daten aus anderen Sprachmodalitäten erklärt werden sollen, spricht dafür, daß es sich um einen supramodalen Erklärungsansatz im Rahmen eines Kompetenzdefizits handelt. Des weiteren weisen Lesser & Milroy (1993) daraufhin, daß Ansätze, die sich für die Beschreibung des agrammatischen
73 Defizits auf den Beschreibungsrahmen theoretisch-linguistischer Modelle zurückziehen, von einem supramodalen Defizit ausgehen müssen (ebd.:92-94), da linguistische Theorien selbst keine Unterscheidung zwischen Sprachverstehen und Sprachproduktion treffen, sondern sich auf die sprachliche Kompetenz beziehen, die supramodal ist (vgl. auch Druks & Marshall 1991). Zudem scheint die Beschränkung der Untersuchungen zur Tilgung von Spuren im Agrammatismus auf Sprachverständnistests eher ein Artefakt aus der Konzentration der Agrammatismusforschung auf den englischen Sprachraum zu sein. Wohl weil im Englischen aufgrund der relativ rigiden Wortstellung und des reduzierten Flexionssystems andere syntaktische Auswirkungen der Spurbindung - etwa auf die Kasuszuweisung topikalisierter Elemente (siehe Kap. III.4.) - nicht untersucht werden können, hat sich die Untersuchung von Spurbindungsprozessen im Agrammatismus auf ihre Funktion für die Theta-Rollen-Vergabe gestützt. Ob die Theta-Rollen-Vergabe mit der eigentlichen Intention des Agrammatikers zusammenfällt, ist jedoch in der Sprachproduktion schwer zu entscheiden, da man von der Äußerung auf die vom Agrammatiker intendierte Bedeutung schließen müßte. Da Intentionen schwer zugreifbar sind, hat sich die Untersuchung der Theta-Rollen-Vergabe vorwiegend auf Verstehensexperimente in Form von Satz-Bild-Zuordnungsaufgaben gestützt, bei denen sowohl die Satzvorgabe als auch die auszudrückende Bedeutung im Experiment vorgegeben und damit kontrolliert werden können. Aus den genannten Gründen werde ich daher im folgenden davon ausgehen, daß die Tilgung von Spuren in der S-strukurellen Repräsentation agrammatischer Aphasiker nach Grodzinsky die Ebene der grammatischen Kompetenz betrifft und damit nicht auf das Sprachverständnis beschränkt ist, sondern auch in der Sprachproduktion untersucht werden kann. Ob dagegen auch für die Theorien von Mauner et al. und Hickok et al. von einem Defizit ausgegangen werden kann, das auch die Sprachproduktion betrifft, ist weniger klar. Die Autoren lassen offen, ob es sich bei den von ihnen beschriebenen Defiziten um Kompetenzdefizite handelt (Mauner et al. 1993:367, Hickok et al. 1993:371), schließen diese Möglichkeit damit jedoch zumindest nicht völlig aus. Aufgrund dieser Unklarheit wird das Gewicht der nachfolgenden empirischen Untersuchung von Spurbindungsprozessen im Agrammatismus deutschsprachiger Aphasiker auf der Überprüfung von Grodzinskys Agrammatismushypothese liegen. Da die Theorien von Mauner et al. und Hickok et al. jedoch explizit Weiterentwicklungen von Grodzinskys Trace-Deletion-Hypothese sind, sollen die Auswirkungen dieser Weiterentwicklungen ebenfalls diskutiert werden. Neben der Überprüfung von Grodzinskys Spurentilgungshypothese sollen in den folgenden beiden Kapiteln auch die Agrammatismustheorien, die von einer Störung der Bewegungsoperationen ausgehen, einer empirischen Überprüfung unterzogen werden. Das Deutsche bietet sich für eine Untersuchung der Bewegungsoperationen und Spurbindungsprozesse in der agrammatischen Sprachproduktion an, da es im Gegensatz zum Englischen zum einen eine Reihe von Wortstellungsvariationen erlaubt, und zum anderen die syntaktischen Funktionen der bewegten Elemente durch eine relativ reiche Flexionsmorphologie markiert werden. Dadurch beschränken sich auch die grammatischen Funktionen der Spurbindung im Deutschen
74 eben nicht nur auf die Theta-Rollen-Vergabe, sondern die Spurbindung spielt z.B. auch bei der Kasusmarkierung topikalisierter Elemente, die in der Spontansprache gut untersucht werden kann, eine Rolle. Eine Überprüfung insbesondere von Grodzinskys Trace-Deletion-Hypothese in der Spontansprache ist auch deshalb wünschenswert, da zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar ist, ob es ein agrammatisches Veständnisdefizit überhaupt gibt (siehe S.47). Die in den folgenden beiden Kapiteln vorgenommene empirische Untersuchung von Bewegungs- und Spurbindungsprozessen wird sich auf die Operationen der Verbbewegung und der Vorfeldbesetzung stützen, die das V2-Phänomen des Deutschen konstituieren. Die Untersuchung der Verbstellung in Haupt- und Nebensätzen, die in Kapitel 3 vorgenommen wird, bietet dabei die Basis für die Überprüfung der Agrammatismustheorien, die von einer Störung der Bewegungsoperationen ausgehen. Kapitel 4 beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Spurbindung auf die Kasusvergabe, die insbesondere bei der Vorfeldbesetzung durch interne und externe Argumente des Verbs eine wichtige Rolle spielt.
75
3. Verbstellung Ziel dieses Kapitels ist es, eine detaillierte Untersuchung der Verbstellung bei deutschsprachigen Agrammatikern durchzuführen und damit die in Kapitel ΙΠ.2.1. besprochenen theoretischen Ansätze zu Bewegungsprozessen im Agrammatismus empirisch zu überprüfen. Im ersten Teil des Kapitels werden zunächst aus den vorgestellten theoretischen Ansätzen zu Bewegungsoperationen im Agrammatismus und aus den Ergebnissen empirischer Untersuchungen zur Verbstellung bei deutschsprachigen Agrammatikern konkrete Untersuchungsfragen abgeleitet. Diese bilden dann die Basis der Datenanalyse im nachfolgenden empirischen Teil.
3.1. Bisherige Befunde 3.1.1. Kanonische Wortstellung Der Verbstellung in deutschen Hauptsätzen liegt overte Kopf-zu-Kopf-Bewegung in funktionale Kategorien oberhalb der VP zugrunde. Nach den in Kapitel III.2.1. vorgestellten Agrammatismustheorien, die von einer reduzierten Phrasenstruktur und damit einem Verlust der Landeplätze für bewegte Konstituenten ausgehen, sollte demnach die V2-Stellung finiter Verben, die durch die Bewegung des finiten Verbs nach COMP zustande kommt, im Agrammatismus nicht mehr möglich sein. Dennoch hat eine Reihe von Untersuchungen für das Deutsche ergeben, daß das grundlegende kanonische SVO-Wortstellungsmuster für Hauptsätze im Agrammatismus durchgängig erhalten ist und in der Sprachproduktion sogar bevorzugt benutzt wird. So fanden z.B. Bates et al. (1988) bei einer Bildbeschreibungsaufgabe keine Evidenz für den Verlust der kanonischen SVO-Stellung. Sie berichten, die Probleme agrammatischer Aphasiker lägen vielmehr darin, auch nicht-kanonische Wortstellungen zu nutzen. Über das Festhalten an einer kanonischen SVO-Stellung berichten auch Bayer et al. (1987). In einer Kasusergänzungsaufgabe wiesen zwei der drei von ihnen untersuchten deutschsprachigen Agrammatiker in die präverbale Position auch dann den Nominativ zu - und stellten damit eine SVX-Reihenfolge her -, wenn eine nicht-kanonische OVS-Reihenfolge vorgegeben wurde (in 70% bzw. 95% der Fälle). Des weiteren wurden in Untersuchungen von Heeschen (1985) und de Bleser & Bayer (1991) auch Übergeneralisierungen der SVO-Stellung auf Nebensätze gefunden. Diese empirischen Befunde scheinen in einem Konflikt zu den in Kapitel III.2.1. angesprochenen Agrammatismustheorien zu stehen, nach denen sich wegen des Verlusts der Landeplätze für das finite Verb keine V2-Stellung in deutschen Hauptsätzen mehr zeigen sollte. Nach der in Kapitel III. 1.1. skizzierten Verbstellungsanalyse setzt der Gebrauch der kanonischen SVO-Stellung im Deutschen die Bewegung des Verbs aus der VP über INFL nach COMP und die Bewegung des Subjekts aus Spec-VP über Spec-IP nach Spec-CP voraus. Dieser Analyse folgend würde der Gebrauch von SVO-Strukturen in der Sprachproduktion agrammatischer Sprecher also Evidenz für die Verfügbarkeit des kompletten Phrasenstrukturbaums des Deutschen und verschiedener Bewegungsoperationen liefern, die aber nach den unter Kapitel III.2.1. erwähnten Agrammatismustheorien im Agrammatismus nicht mehr verfügbar sein soll-
76 ten. Drei Möglichkeiten kommen in Betracht, um diesen offensichtlichen Widerspruch zwischen theoretischen Vorhersagen und empirischen Befunden zu lösen. Unbeeinträchtigte Verbstellung: Die erste Möglichkeit ist, daß die empirischen Befunde über den guten Erhalt der kanonischen SVO-Stellung im Deutschen Evidenz für Bewegungsprozesse und den Erhalt des kompletten Phrasenstrukturbaums des Deutschen in der grammatischen Repräsentation agrammatischer Sprecher bieten. Demnach stimmten die unter Kapitel III.2.1. besprochenen Theorien nicht mit den empirischen Daten überein und wären deshalb als unzutreffend zurückzuweisen. Agens-Aktion-Serialisierungsstrategie: Nach der zweiten Möglichkeit kann der Erhalt der SVO-Stellung in der agrammatischen Sprachproduktion auch dadurch erklärt werden, daß Agrammatiker bei der Produktion von SVO-Strukturen gar keine phrasenstrukturellen Repräsentationen aufbauen, sondern lediglich einer rein seriellen Wortstellungsstrategie folgen, so wie dies in den in Kapitel III.2.1.1. besprochenen Agrammatismustheorien z.B. von Caplan (1983a, 1985) angenommen wird. Nach diesen Ansätzen ergibt sich die Linearisierung von Wörtern in Äußerungen allein auf der Basis kanonischer, in der jeweiligen Sprache häufiger Stellungs- und Interpretationsmuster.18 Der von Bates et al. (1988) und de Bleser & Bayer (1991) beobachtete Rückgriff auf das im deutschen kanonische SVO-Stellungsmuster ergäbe sich dann aus heuristischen, nicht-linguistischen Prinzipien, nach denen Agens-Aktion-Patiens-Relationen in lineare Nomen-VerbNomen-Abfolgen übertragen werden. Daß diese Linearisierungen von Nomen und Verb das kanonische SVO-Stellungsmuster von deutschen Hauptsätzen widerspiegeln, ergäbe sich demnach eher zufällig aus der hohen statistischen Wahrscheinlichkeit, nach der z.B. die Theta-Rolle Agens mit der grammatischen Funktion Subjekt verknüpft ist. In diesem Fall spräche dann die resultierende SVO-Stellung nicht für den Erhalt normalsprachlicher grammatischer Repräsentationen und Bewegungsoperationen im Agrammatismus, sondern lediglich für die Anwendung einer seriellen Agens-Aktion-Stellungsstrategie. SVO-VP: Eine dritte Erklärungsmöglichkeit für den Erhalt der SVO-Stellung in der agrammatischen Sprachproduktion ergibt sich aus der Idee, daß Aphasiker lediglich den Aufbau einer VP leisten können, die die nach Kayne (1993) universelle SVO-Struktur zeigt. Die Annahme, daß Bei der hier postulierten Agens-Aktion-Serialisierungsstrategie handelt es sich um eine einzelsprachspezifische und nicht um eine universelle Strategie. Für Sprachen, die ein anderes kanonisches Stellungsmuster zeigen, kann diese Strategie nicht gelten, zumal Agrammatiker in diesen Sprachen nicht SVO-Stellungen, sondern die in der jeweiligen Sprache kanonischen Stellungsmuster übergeneralisieren (vgl. aber Reznik et al. 1995). Während dies für das Italienische und Englische ebenfalls SVO ist, und auch bei chinesischen Broca-Aphasikern eine Tendenz zu SVO-Stellungen gefunden wurde (Bates et al. 1991a), überwiegt bei türkischen Broca-Aphasikern die Wortstellung SOV, die der kanonischen Grundwortstellung des Türkischen entspricht (Slobin 1991). Und auch im Ungarischen sind die kanonischen Stellungsmuster - SVO für definite Objekte und SOV für indefinite Objekte - bei Agrammatikern gut erhalten (MacWhinney & Osmán-Sági 1991).
77 Agrammatiker komplette Phrasenstrukturrepräsentationen nicht mehr aufbauen können, sondern bei der Sprachproduktion auf den Aufbau von VPs beschränkt sind, findet sich in den in Kapitel ΙΠ.2.1.2. beschriebenen Agrammatismustheorien von Ouhalla (1993), de Bleser und Bayer (1991) und Bayer et al. (1987). Verbindet man die Annahme einer auf den Aufbau von VP-Strukturen reduzierten Phrasenstnikturkomponente mit der Kayneschen Annahme einer für VPs universellen SVO-Struktur, dann läßt sich der Erhalt von SVO-Strukturen in der Sprachproduktion agrammatischer Patienten ebenfalls erklären. Der Gebrauch von SVO-Strukturen wäre demnach dann keine Evidenz für das Vorhandensein des kompletten Phrasenstrukturbaums mitsamt seiner funktionalen Kategorien, sondern SVO-Strukturen wären lediglich im Rahmen von VP-Strukturen zu beschreiben. Der Erhalt der kanonischen SVO-Struktur böte demnach weder Evidenz für den Erhalt normalsprachlicher grammatischer Repräsentationen noch für die Verfügbarkeit von Bewegungsoperationen. 19 Aufgrund der drei erwähnten Erklärungsmöglichkeiten für den Erhalt der SVO-Stellung ist allein mit der Beobachtung von SVO-Strukturen in der Sprachproduktion agrammatischer Sprecher noch nichts über eine eventuelle Schädigung syntaktischer Repräsentationen entschieden. Vielmehr ist für die Klärung dieser Frage relevant, wovon die V2-Stellung des Verbs im Agrammatisms abhängt. Sowohl nach der Erklärung, die von einer SVO-VP ausgeht, als auch nach der Agens-Aktion-Serialisierungsstrategie ist die V2-Stellung des Verbs allein vom Subjekt (im Normalfall dem Agens) abhängig. Dagegen hängt im normalsprachlichen System des Deutschen die Verbstellung in uneingeleiteten Hauptsätzen allein von der Finitheit des Verbs ab: Finite Verben stehen in der V2-Position in COMP, infinite Verben verbleiben dagegen final in der VP. Die Stellung des Subjekts oder Agens ist für die Stellung des Verbs dagegen völlig unerheblich. Damit ergeben sich für die Verbstellung im Agrammatisms unterschiedliche Vorhersagen: Ist die Verbstellung im Rahmen einer SVO-VP zu beschreiben oder auf eine Agens-AktionSerialisierungsstrategie beschränkt, dann sollten sich im Agrammatisms lediglich SVOStrukturen finden lassen, nicht jedoch andere Stellungsmuster von Subjekt (= Agens), Objekt und Verb. Da die Stellung des Verbs in diesem Fall allein von der Stellung des Subjekts/Agens abhängig ist, nicht jedoch von der Finitheit des Verbs, sollten zudem sowohl finite als auch infinite Verben in der zweiten Satzposition hinter dem Subjekt/Agens stehen. Ist die Verbstellung dagegen wie im normalsprachlichen System allein von der Finitheit des Verbs abhängig, dann sollten lediglich finite Verben in V2-Stellung stehen. Da die Verbstellung in diesem Fall Ohne die zusätzliche Annahme einer universellen SVO-VP-Struktur läßt sich aus den Ansätzen von de Bleser & Bayer (1991), Bayer et al. (1987) und Ouhalla (1993) dagegen keine bevorzugte Benutzung der kanonischen SVO-Struktur in der Sprachproduktion agrammatischer Aphasiker herleiten. Die Reduktion der Phrasenstnikturkomponente auf den Aufbau von VPs sollte sich nach Ouhalla vielmehr in einer freien, variablen Wortstellung innerhalb der VP manifestieren. De Bleser & Bayer und Bayer et al. sind in ihren Vorhersagen dagegen etwas unklarer: Zwar sollte sich die Reduktion des Phrasenstrukturaufbaus in einer SOV-Stellung (der gängigen Struktur für die deutsche VP) widerspiegeln, jedoch gehen sie angesichts der empirischen Ergebnisse über die Bevorzugung der kanonischen SVO-Stellung davon aus, daß die V2Stellung von Verben den Agrammatikern möglich ist, jedoch keinen psycholinguistisch realen Bewegungsprozeß in eine funktionale Kategorie darstellt (Bayer et al. 1987:110), also eher im Rahmen einer Stellungsstrategie zu beschreiben ist.
78 von der Stellung des Subjekts/Agens unabhängig ist, sollte die Wortstellung zudem nicht auf das SVO-Muster reduziert sein. Neben diesem kanonischen Stellungsmuster sollten sich auch Äußerungen finden lassen, bei denen das Verb nicht auf das Subjekt/Agens, sondern auf ein topikalisiertes Adverb, ein Objekt oder eine PP folgt (XVS), oder das Verb anderen Satzteilen einschließlich dem Subjekt/Agens vorangeht (VSX, VXS), wie z.B. in Entscheidungsfragen. Im nachfolgenden Datenteil soll versucht werden, die hier angerissenen Probleme zu klären. In einem ersten Schritt wird es zunächst darum gehen zu untersuchen, ob sich ein Erhalt der SVO-Stellung bei deutschsprachigen Agrammatikern bestätigen läßt oder ob die Wortstellungsmuster eher für die Reduktion auf eine VP mit variabler oder Vfinaler-Stellung sprechen. In einem zweiten Schritt soll dann versucht werden zu klären, ob die Verbstellung im Agrammatismus von der Stellung des Subjekts bzw. Agens abhängig ist - also beeinträchtigt ist - oder ob sie von der Finitheit des Verbs gesteuert und damit im Agrammatismus erhalten ist.
3.1.2. Partikelverben Evidenz für das Vorliegen einer Verbbewegung bietet neben der Abhängigkeit der Verbstellung von der Finitheit des Verbs auch die Trennung von Partikelverben. Bei der Trennung von Verbpartikel und finitem Verb wird in Hauptsätzen die Bewegung des finiten Verbs sichtbar, denn während das finite Verb nach vorn bewegt wird, bleibt die Verbpartikel in der basisgenerierten V°-Position zurück. Da die VP nur von funktionalen Kategorien regiert wird, muß die Bewegung des finiten Verbteils zwangsläufig zu einer funktionalen Kategorie oberhalb der VP fuhren, da V als lexikalischer Kopf nicht an die VP adjungiert werden kann.20 Partikelverbtrennungen bieten demnach einen Testfall für das Vorliegen einer Verbbewegung und damit für das Vorhandensein von funktionalen Kategorien oberhalb der VP. Sie lassen sich auch weder durch eine Agens-Aktion-Serialisierungsstrategie noch durch einen auf VPs reduzierten Phrasenstrukturbaum erfassen, die vorhersagen würden, daß die Trennung des finiten Verbteils und der Verbpartikel unterbleiben sollte. Eine etwas andere Vorhersage über das Aussehen von Partikelverben in einer auf den Aufbau von VPs reduzierten Phrasenstrukturkomponente machen de Bleser & Bayer (1991). Ihrer Ansicht nach ist die Information, daß eine obligatorische Trennung von Verbpartikel und finitem Verb durchzuführen ist, im Lexikoneintrag des Partikelverbs festgelegt. Da das Lexikon ihrer Theorie nach im Agrammatismus intakt ist, verfügt ein Agrammatiker über diese Information. Und da es sich um eine obligatorische Trennung handelt, muß er nach de Bleser & Bayer versuchen, sie mit den ihm verbliebenen syntaktischen Möglichkeiten zu realisieren. Tatsächlich fanden die Autoren bei einer Grammatikalitäts-Beurteilungsaufgabe mit zwei Agrammatikern, daß diese in 80% bzw. 70% der getesteten zehn Äußerungen in der Lage waren, Verstöße gegen die Partikelverbtrennung wie in Bsp. (28) zu erkennen. (28)
Der Junge auspackt den Koffer schnell.
Nach dem Strukturerhaltungsprinzip können Kopf-Kategorien nur an andere Köpfe adjungiert werden (vgl. Chomsky 1986).
79 Für die Realisierung der Partikelverbtrennung stehen Agrammatikern ihrer Ansicht nach jedoch nur 'lokale' Teilstrukturen einer Phrasenstruktur zur Verfügung (siehe III.2.1.2.)· Eine deutliche Dislozierung der zwei verbalen Elemente durch intervenierende Konstituenten wie in Bsp. (29), die über den Bereich solcher 'lokalen' Teilstrukturen hinausgeht, sollte daher nicht mehr möglich sein (ebd.:62): (29)
Ich stehe um 7 Uhr auf
Da die obligatorische Partikelverbtrennung nur im eingeschränkten Bereich 'lokaler' Teilstrukturen operieren kann, muß sie nach Ansicht der Autoren in einer engen Klammerung von Partikel und finitem Verb resultieren, bei der die Distanz zwischen dem finiten Verb und seiner Partikel so gering wie möglich gehalten wird und intervenierende Phrasen extraponiert werden (Bsp. (30)). (30)
Ich stehe auf am 7 Uhr.
Diese enge Klammerung von Verbpartikel und finitem Verb, die ihrer Ansicht nach sehr konsistent im Agrammatismus beobachtet werden kann (ebd.:62), werten sie als Evidenz für ihre Theorie einer Störung der Phrasenstrukturkomponente. Ob Partikelverbtrennungen in der Sprachproduktion agrammatischer Sprecher zu beobachten sind und ob sie tatsächlich eine enge Klammerung von finitem Verbteil und Partikel zeigen, soll im folgenden Datenteil untersucht werden.
3.1.3. Verb-rechts-Strategie Eine andere Auswirkung des Agrammatismus auf die Verbstellung, die in empirischen Arbeiten zur Verbstellung deutschsprachiger Agrammatiker beobachtet wurde, wird unter das Stichwort 'Verb-rechts-Strategie' gefaßt. Von Stocken & Bader prägten dieses Stichwort 1976 in einer einflußreichen Untersuchung zur deutschen Wortstellung. Sie legten ihren aphasischen Versuchspersonen, darunter auch zehn Broca-Aphasikem, in drei Teile zerschnittene Deklarativsätze vor. Die Aufgabe der Versuchspersonen bestand darin, die drei vorgelegten Karten so zu ordnen, daß ein sinnvoller Satz des Deutschen entstand. Obwohl diese Aufgabe den Broca-Aphasikern in normalen Deklarativsätzen recht gut gelang (75% korrekte Reaktionen), wurde bei 19% der getesteten Sätze das Verb satzfinal piaziert. In einer zweiten Bedingung, in der semantisch unplausible Sätze getestet wurden, lag der Anteil an Verbfinal-Strukturen sogar bei 33%. Die beobachteten Endstellungen des Verbs bewerteten von Stockert & Bader als eine bei Broca-Aphasikern 'typische' Transposition des Verbs nach rechts an die satzfinale Position (ebd.:53). Scholes (1982) interpretierte die Ergebnisse von von Stockert & Bader dahingehend, daß sich bei der Endstellung von Verben ein Rückgriff auf eine "natürlichere und unmarkiertere" Wortstellung zeige (ebd.:362).
80 Replikationen dieser Untersuchung lieferten jedoch abweichende Ergebnisse: Huber (1985) kam bei einer erschwerten Satzanagrammaufgabe (die Versuchspersonen mußten aus sieben vorgegebenen Satzkonstituenten diejenigen auswählen, die einen sinnvollen Satz ergaben) zwar ebenfalls zu dem Ergebnis, daß die 15 untersuchten Broca-Aphasiker das finite Verb bei Fehlstellungen bevorzugt in die letzte Satzposition stellen (ca. 5%-10% der getesteten Sätze). Dieses Stellungsmuster zeigte sich jedoch nicht nur für die untersuchten Broca-Aphasiker, sondern auch bei zwei weiteren Versuchspersonengruppen, die sich aus Wernicke- und GlobalAphasikern zusammensetzten. Auch de Bleser et al. (1988) konnten in ihrer Revision der Untersuchung von von Stockert & Bader keine Anzeichen für eine bei Broca-Aphasie typische satzfinale Stellung des Verbs ausmachen. Die von ihnen getesteten zehn Broca-Aphasiker stellten bei 650 getesteten Sätzen mit SVO-Zielstruktur nur in 27 Fällen das Verb in die satzfinale Position (= 4%). Fast genauso häufig trat jedoch auch eine fehlerhafte Verbstellung in die satzinitiale Position auf (22 Fälle). Obwohl sowohl die Beobachtung, daß eine fehlerhafte Satzfinal-Stellung des Verbs auch bei anderen Aphasiesyndromen auftreten kann, als auch etwa gleichhäufige andersartige Fehlstellungen des Verbs gegen eine für die Broca-Aphasie 'typische' Transposition des Verbs nach rechts sprechen, wird in der Literatur immer wieder darauf hingewiesen, daß insbesondere die Spontansprache agrammatischer Sprecher durch eine Satzfinalstellung von Verben in Deklarativsätzen gekennzeichnet ist (z.B. Heeschen 1985, Kolk & Heeschen 1992, Kolk 1995). Ob sich eine für Broca-Aphasiker typische Transposition des Verbs in den Daten festmachen läßt, wird ebenfalls Gegenstand der Datenanalyse im folgenden Datenteil sein. Wirkt im Agrammatismus die von von Stockert & Bader sowie Scholes angenommene 'typische' Transposition des Verbs nach rechts, so sollten sich solche Stellungsmuster bei allen hier untersuchten Agrammatikem zeigen.
3.1.4. Verbstellung in eingeleiteten Nebensätzen Die in Kapitel III.2.1. diskutierten Agrammatismustheorien sagen über den Verlust der Landeplätze der Verbbewegung auch eine Beeinträchtigung der Verbstellung in Nebensätzen voraus. Daß die Produktion von Nebensätzen im Agrammatismus beeinträchtigt ist, ergibt sich bereits aus den Definitionen des Symptoms Agrammatismus. So schreiben z.B. Kerschensteiner et al. (1978): „Eine wichtige Beschränkung im Vergleich zur Standardsprache ist jedoch, daß eine Subordinierung von Sätzen nicht möglich ist, d.h. es gibt keine Differenzierung in Haupt- und Nebensätze." (ebd.:234)
Und auch laut Menn & Obler (1990b) ist die agrammatische Sprachproduktion gekennzeichnet durch "near-absence of syntactic constructions indicating subordination" (ebd.: 14). In Übereinstimmung mit diesen Beschreibungen berichtet eine Reihe von Arbeiten über Störungen im Bereich der Nebensatzverbstellung. Bates et al. (1988) testeten die Sprachproduktion von deutschen, englischen und italienischen Broca-Aphasikern in einer Bildbeschreibungsaufgabe. Dabei stellten die Autoren in allen drei Sprachen bei Broca-Aphasikern eine
81 starke Abnahme im Gebrauch von subordinierten Nebensatzstrukturen im Vergleich zu ebenfalls getesteten unbeeinträchtigten Kontrollpersonen fest (vgl. auch Dressler & Pléh 1988). Doch subordinierte Nebensatzstrukturen sind nicht nur selten in der Sprachproduktion agrammatischer Sprecher zu beobachten, empirische Befunde und theoretische Vorhersagen deuten vielmehr darauf hin, daß sie auch in ihrer Struktur von der Störung betroffen sein könnten. Heeschen (1985) ließ Broca-Aphasiker eine Kommasetzungsaufgabe in einem Haupt- und Nebensatzgefüge durchführen. Die Kommasetzungsregel zwischen Haupt- und Nebensätzen ist - wie alle anderen Zeichensetzungsregeln im Deutschen - strikt syntaktisch geregelt: Hauptund Nebensatz müssen durch ein Komma getrennt werden. Die getesteten Sätze zeigten entweder eine Hauptsatz-Nebensatz- oder eine Nebensatz-Hauptsatz-Abfolge. Die Nebensätze wurden durch einen Komplementierer eingeleitet. Haupt- und Nebensatz enthielten entweder ein finîtes Vollverb oder eine Doppelverbkonstruktion aus finitem Auxiliar und infinitem Partizip (Bsp. (31a, b)). (31a) HS/NS : (b) NS/HS:
Die Kinder haben den Tisch gedeckt während die Mutter schlief, Während die Mutter geschlafen hat deckten die Kinder den Tisch.
Bei der Lösung dieser Kommasetzungsaufgabe folgten die Agrammatiker zwei Strategien: 70% der Fehler in HS/NS-Gefügen wurden dadurch verursacht, daß die Agrammatiker das Komma nicht vor, sondern nach dem Komplementierer setzten, und 80% der Fehler in NS/HSGefügen entstanden dadurch, daß ein Komma direkt nach dem Vollverb des Nebensatzes (im o.a. Bsp. nach dem infiniten Partizip) piaziert wurde. Heeschen schließt aus diesem Ergebnis, daß die untersuchten Agrammatiker eine 'main-clause-isolation strategy' anwendeten, um Sätze zu isolieren, indem sie den Satz vor einem Subjekt beginnen und nach einem Vollverb enden ließen. Die Agrammatiker tendierten also dazu, die vorgegebenen Nebensätze in Hauptsätze umzuinterpretieren. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch de Bleser & Bayer (1991). Ist - wie von ihrer Theorie vorhergesagt - die grammatische Repräsentation agrammatischer Aphasiker auf den Aufbau lokaler syntaktischer Teilstrukturen wie VPs, PPs und NPs beschränkt, dann sollten sich Verbstellungsprozesse, die den gesamten Strukturbaum des Deutschen erfordern, im Agrammatismus nicht mehr zeigen. Da die komplementäre Verteilung von finitem Verb und einleitendem Komplementierer den Aufbau des gesamten Strukturbaums notwendig macht, sollte demnach besonders die Verbstellung im Nebensatz von der agrammatischen Störung betroffen sein. In einem mit zwei Agrammatikern durchgeführten Grammatikalitätstest, in dem V2- und Vfinal-Strukturen in eingeleiteten und uneingeleiteten Nebensätzen getestet wurden, zeigte sich, daß die Agrammatiker nicht in der Lage waren, fehlerhafte V2- bzw. Vfinal-Stellungen zu erkennen. Die Leistung der getesteten Agrammatiker lag für uneingeleitete Nebensätze mit falscher Vfinal-Stellung auf dem Zufallsniveau (60% bzw. 70% korrekt als ungrammatisch erkannt), für eingeleitete Nebensätze mit fehlerhafter V2-Stellung unter dem Zufallsniveau (10% bzw. 20% korrekt als ungrammatisch erkannt). Dieses Ergebnis werten die Autoren als Evidenz für ihre These, daß Agrammatiker nicht mehr in der Lage sind, eine globale syntaktische Repräsentation der Testsätze zu erstellen, aus der die komplementäre Verteilung
82 von finitem Verb und Komplementierer sichtbar werden könnte. Stattdessen übergeneralisierten Agrammatiker die gut erhaltene kanonische Wortstruktur des Hauptsatzes auch auf eingeleitete Nebensätze (ebd.:61,63). Diese empirischen Befunde stimmen gut mit den oben diskutierten Ansätzen überein, nach denen Agrammatiker nicht mehr über den vollständigen Phrasenstrukturbaum des Deutschen mit seinen Landeplätzen für die Verbbewegung verfügen, sondern auf eine SVO-VP oder eine Agens-Aktion-Serialisierungsstrategie beschränkt sind. Daß Agrammatiker versuchen, die für Hauptsätze kanonische SVO-Struktur auch auf Nebensätze anzuwenden, kann mit jedem dieser beiden Ansätze erklärt werden. Wichtig ist dabei für die Untersuchung der Verbstellung in Nebensätzen, daß beide Ansätze davon ausgehen, daß die Stellung des Verbs durch die Stellung des Subjekts bzw. des Agens bestimmt ist, da das Verb immer auf das in erster Position stehende Subjekt/Agens folgt. Im normalsprachlichen deutschen Verbstellungssystem ist die Verbstellung aber neben der Finitheit des Verbs davon abhängig, ob ein Komplementierer die COMP-Position lexikalisiert oder nicht. Ist die COMP-Position in eingeleiteten Nebensätzen von einem Komplementierer lexikalisiert, dann verbleibt das finite Verb satzfinal in INFL, ist die COMP-Position dagegen nicht von einem Komplementierer besetzt, dann wird das finite Verb nach COMP bewegt. Ist die Verbstellung im Agrammatismus dagegen von der Stellung des Subjekts/Agens abhängig, dann sollte sich diese Verbstellungssystematik in Abhängigkeit von der An- bzw. Abwesenheit lexikalischer Komplementierer nicht zeigen. Unabhängig von der Lexikalisierung der COMP-Position sollte das Verb immer in einer SVO-Stellung stehen.21 Wie sich die Verbstellung in Nebensätzen bei deutschsprachigen Agrammatikern darstellt und welcher Systematik sie folgt, soll im nachfolgenden Datenteil ebenfalls untersucht werden. Zusammenfassung der Untersuchungsfragen: Zusammengefaßt ergeben sich damit folgende Untersuchungsfragen: • Ist die kanonische SVO-Stellung in Hauptsätzen im Agrammatismus erhalten? • Wovon ist die Verbstellung in Hauptsätzen abhängig: von der Stellung des Subjekts/Agens, wie von einer Agens-Aktion-Serialisierungsstrategie oder einer Reduktion auf SVO-VPs vorhergesagt, oder von der Finitheit des Verbs, wie im normalsprachlichen Verbstellungssystem? • Findet sich in den Daten der agrammatischen Aphasiker Evidenz für Verbbewegungsprozesse in Form von Partikelverbtrennungen, die eine Trennung von finitem Verb und Verbpartikel durch intervenierende Satzkonstituenten zeigen? • Zeigt sich im Agrammatismus eine typische Transposition des Verbs nach rechts in die satzfinale Position (von Stockert & Bader 1976, Scholes 1982)? Eine Beeinträchtigung der Verbstellung in Nebensätzen - die allerdings nicht mit den oben aufgeführten empirischen Befunden übereinstimmt - ergibt sich natürlich auch aus dem Ansatz von Ouhalla (1993), der im Agrammatismus eine Reduktion auf VP-Strukturen mit einer variablen Verbstellung annimmt. Fehlt die funktionale Kategorie COMP, die die Verbstellungsasymmetrie im Deutschen steuert, dann kann sich die im Deutschen beobachtbare Verbstellungssystematik finiter Verben (V2 im Hauptsatz, Vfinal im Nebensatz) nicht mehr zeigen. Unabhängig davon, ob Haupt- oder Nebensätze vorliegen, sollte sich demnach nach Ouhalla eine unsystematische, variable Stellung des Verbs zeigen.
83 • Zeigt sich eine kanonische SVO-Stellung in eingeleiteten Nebensätzen? • Wovon ist die Stellung des Verbs in Nebensätzen abhängig? Wird sie von der Stellung des Subjekts/Agens (siehe Agens-Aktion-Serialisierungsstrategie oder SVO-VP) oder von der An- bzw. Abwesenheit lexikalischer Komplementierer gesteuert?
3.2. Auswertung der Daten Anhand der oben formulierten Untersuchungsfragen soll im folgenden die Verbstellung in Haupt- und Nebensätzen untersucht werden. Die Analyse stützt sich dabei sowohl auf Spontansprachkorpora als auch auf experimentell erhobene Daten. Kapitel 3.2.1. bis 3.2.3. beschäftigen sich mit der Verbstellung in Hauptsätzen. Die Verbstellung in eingeleiteten Nebensätzen ist Gegenstand von Kapitel 3.2.4.
3.2.1. Kanonisches SVO In einem ersten Schritt der Untersuchung des Verbstellungssystems geht es zunächst darum zu untersuchen, ob sich ein Erhalt der SVO-Stellung bei deutschsprachigen Agrammatikern bestätigen läßt. Dafür wurde mit sechs Broca-Aphasikern und sechs Kontrollpersonen ein Experiment in Form einer Wahlreaktionsaufgabe mit zwei vorgegebenen Alternativen (2-AFC) durchgeführt (siehe Kap. Π.3.2.2.), mit dem die Verbstellung in uneingeleiteten Hauptsätzen getestet wurde. Alle getesteten Sätze begannen dabei mit einem Subjekt. Methode und Material: Den Versuchsteilnehmern wurde auf dem Computerbildschirm ein Hauptsatz präsentiert, der nicht vollständig war, sondern stattdessen zwei Lücken enthielt. Die Aufgabe der Versuchsteilnehmer bestand darin, den Satz mit einem ebenfalls auf dem Bildschirm vorgegebenen Wort zu vervollständigen. Die Versuchsteilnehmer sollten dabei so rasch wie möglich per Tastendruck entscheiden, in welche der beiden im Satz enthaltenen Lücken das vorgegebene Wort eingesetzt werden sollte. Da das Verb im Deutschen in diesen Sätzen immer in der zweiten Position steht, wurde, um die Gefahr der Anwendung etwaiger Lösungsstrategien (wie: 'Drücke immer die linke Taste!') zu minimieren, nicht nur direkt die Stellung des Verbs getestet, sondern auch die Stellung der Negation. Im Deutschen zeigt sich ein klarer Zusammenhang zwischen der Verbstellung und der Stellung der Negationspartikel nicht: Finite Verben, die nach COMP bewegt werden, stehen vor dem Negationselement nicht (Bsp. (32a)); Verben, die nicht nach COMP bewegt werden, stehen hinter der Negationspartikel (Bsp. (32b, c)): (32a) Lancelot kämpft nicht für die Feinde des Königs. (b) Lancelot will nicht für die Feinde des Königs kämpfen. (c) ..., daß Lancelot nicht für die Feinde des Königs kämpft.
84 Diese Stellungsverteilung von Negation und Verben ermöglicht es, die Verbstellung nicht nur anhand von Verben, sondern auch mittels des Negationsmorphems zu testen: Ist die kanonische SVO-Stellung erhalten, dann sollte das Verb an zweiter Position direkt hinter dem Subjekt und vor der Negation stehen. Zwei verschiedene Typen von Sätzen, die diese Stellungsverteilung ausnutzten, wurden getestet: i) Satztyp 1 bestand aus Subjekt, der Negationspartikel nicht und einer weiteren, hinter der Negation piazierten Konstituente (z.B. einer Präpositionalphrase, einer Verbpartikel, Adverb oder Objekt). Bei diesem Satztyp wurde den Versuchspersonen ein Verb zur Vervollständigung des Satzes vorgegeben (siehe Bsp. (33)): (33)
Die Müllers nicht in Urlaub vorgegebenes Verb: fahren
.
Dieser Satztyp ermöglicht folgende zwei Varianten der Verbplazierung: a) Das Verb kann an die zweite Position des Satzes hinter das Subjekt und vor die Negation gestellt werden, was zu einer SVX-Stellung fuhren würde, b) Als Alternative dazu besteht auch die Möglichkeit, das Verb in die letzte Position des Satzes zu stellen. Diese Position - hinter der Negation und anderen VP-Elementen - wird üblicherweise für nicht-bewegte, infinite Verben im Deutschen angenommen. Der Satz hätte dann die Struktur SXV. ii) Bei Satztyp 2 hatten die Versuchspersonen die Aufgabe, die Negationspartikel nicht an eine von zwei Lücken im Satz zuzuweisen. Die Sätze dieses Satztyps bestanden dementsprechend aus Subjekt, Verb und einer weiteren VP-internen Satzkonstituente (z.B. Präpositionalphrase, Adverb etc.) (siehe Bsp. (34)): (34)
Die Müllers gehen vorgegebenes Wort: nicht
ins Theater.
Bei diesem Satztyp befand sich die erste der beiden vorgegebenen Lücken direkt hinter dem Subjekt und damit vor dem finiten Verb und vor VP-internen Elementen wie PPs und adverbialen Ergänzungen. Die Wahl dieser Stellung der Negationspartikel würde für eine VP-interne Stellung des finiten Verbs sprechen. Die Satzstruktur wäre dann SXV. Die zweite Lücke befand sich bei diesem Satztyp in der korrekten Position, nämlich hinter dem finiten Verb und vor anderen Elementen der VP. Die Wahl dieser Stellung würde wiederum zu einer SVX-Stellung der Satzelemente führen. Insgesamt wurden zehn Sätze pro Satztyp getestet. Alle Verben in diesem Experiment trugen dabei das Flexiv -n, um den Versuchspersonen die Möglichkeit zu geben, das -n-Flexiv entweder als finîtes Plural-η oder als Infmitiv-n aufzufassen und so einen Einfluß der Finitheit des Verbs auf die Verbstellung minimal zu halten. Die zur Einsetzung vorgegebenen Verben waren
85 jeweils sechs Buchstaben lang und zweisilbig. Um die Gefahr der Anwendung nicht-linguistischer Lösungsstrategien weiter zu minimieren, wurden neben den 20 Testsätzen auch 20 weitere Sätze präsentiert, in denen die Plazierung anderer Konstituenten um die Negation gefordert war. Eine komplette Liste der Testitems befindet sich im Anhang (siehe S.258). Ergebnis: Tabelle 1 führt für jeden Versuchsteilnehmer gesondert auf, welche Ergebnisse bei der Ergänzung des Verbs bzw. bei der Ergänzung der Negation erzielt wurden. Der Tabellenteil 'Stellung des Verbs' zeigt, wie oft bei den zehn relevanten Stimulussätzen das Verb in die zweite oder aber in die satzfinale Position piaziert wurde (Satztyp 1). Der Tabellenteil 'Stellung der Negation' gibt entsprechend an, wieviele der zehn Stimulussätze, bei denen die Negationspartikel nicht piaziert werden sollte (Satztyp 2), eine Plazierung der Negation vor bzw. hinter dem Verb zeigen. Die Spalten mit dem korrekten Stellungsmuster sind dabei jeweils schattiert. Zusätzlich dazu führt die Spalte 'korrekt' den Gesamtprozentsatz der korrekten Reaktionen auf. Die Spalte 'Zufallsniveau' ermöglicht einen Vergleich der beobachteten Reaktionen mit dem Prozentsatz, der bei zufalliger Reaktion erzielt worden wäre (siehe Kapitel Π.3.2.4.). Sind die beobachteten Leistungen zu >70% korrekt, ist dieses Ergebnis überzufällig. Leistungen zwischen 30% und 70% liegen dagegen auf dem Zufallsniveau. Zusätzlich dazu zeigt die Tabelle die Ergebnisse eines vergleichbaren Vorläufertests ( 'Pilotstudie ') mit Herrn L. 2 2
22
Ein vergleichbares Vorläuferexperiment war mit Herrn L. durchgeführt worden. Dieses Pilotexperiment unterschied sich in folgenden Punkten von dem mit der Versuchs- und Kontrollpersonengruppe durchgeführten Experiment: a) Die Stellung des Verbs wurde nicht in Bezug zum Negationselement nicht untersucht, sondern in Bezug zu Adverbien. Auch für Satzadverbien zeigt sich im Deutschen eine Stellungsverteilung von Verb und Adverb (Vf^ Adv , Adv V^g,,), wie sie auch bei der Stellung von Negation und Verb beobachtet werden kann. Die Stellung von Adverbien ist jedoch unklarer als die Stellung des Negationselements (Webelhuth 1989), da sie an verschiedene Positionen adjungiert werden können. Daher beschränkte sich die endgültige experimentelle Untersuchung auf die Stellung von Verb und Negation. b) Von Satztyp 1 und 2 wurden jeweils zwölf Sätze getestet. c) Das Pilotexperiment wurde nicht auf dem Computer durchgeführt.
86 Aphasische Versuchspersonen Stellung des Verbs Stellung der Negation vp
in V2 ' ' η ;
satzfinal η
nach V η
vor V η
korrekt | Zufallsniveau in %
70%
100%
>
A
10
-
10
Β
10
-
10
-
100%
>
C
10
10
-
100%
>
D
5
6
4
55%
F
10
_
100%
>
korrekt
Zufallsniveau
in%
70%
100%
>
korrekt
Zufallsniveau
in %
70%
5
-
10
Pilotstudie Stellung des Verbs Stellung des Adverbs Vp
in V2 η
HrL.
12
satzfinal η
nach V η
vor V η
12
-
Kontrollpersonen Stellung des Verbs Stellung der Negation Kp
in V2 η
satzfinal η
nach V η
vor V η
A
10
-
10
-
100%
>
Β
10
-
10
-
100%
>
C
10
-
9
1
95%
>
D
10
-
10
-
100%
>
E
10
-
10
-
100%
>
F
10
-
10
-
100%
>
>: über dem Zufallsniveau von 70% 70% korrekt, ist dieses Ergebnis überzufällig. Leistungen zwischen 30% und 70% liegen dagegen auf dem Zufallsniveau.
25
Mit Herrn L. war ein vergleichbares Vorläuferexperiment durchgeführt worden, das sich in folgenden Punkten von dem mit der Versuchspersonengruppe durchgeführten Experiment unterschied: a) Das Pilotexperiment wurde nicht auf dem Computer durchgeführt. b) Die Wortlänge der Verben wurde nicht kontrolliert. c) Das Experimentmaterial enthielt keine Füllitems. Randomisiert wurde lediglich die Darbietung von HS/NS bzw. NS/HS-Gefügen, von denen jeweils sechs getestet wurden.
103 Aphasische Versuchspersonen Stellung des Verbs
korrekt
Zufallsniveau
Vp
Vfinal η
V2 η
in %
70%
A
8
2
80%
>
Β
».
1
90%
>
C
9
1
90%
>
D
5
5
50%
F
7
3
70%
=
korrekt
Zufallsniveau
in %
70%
100%
>
korrekt
Zufallsniveau
in %
70%
100%
>
90%
>
100%
>
Pilotstudie Stellung des Verbs Vp
Vfinal η
V2 η
HrL.
12
-
¡Controllpersonen Stellung des Verbs Kp
Vfinal η
V2 η
A
10
-
Β
9
C
10
D
9
E F
1 -
1
90%
>
10
-
100%
>
10
-
100%
>
>: über dem Zufallsniveau von 70% is kissing
the girl]
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Die Charakteristika agrammatischer Sprachproduktion ergeben sich damit für Grodzinsky aus dem Zusammenspiel von gestörter, d.h. unterspezifizierter S-Struktur und erhaltenem Prinzip
141 der lexikalischen Wohlgeformtheit: Ist die Spezifizierung der grammatischen Merkmale einer funktionalen Kategorie nicht notwendig, da sie die lexikalische Wohlgeformtheit eines Lexems nicht betrifft, wird sie nicht vorgenommen. Das führt zur Auslassung gebundener grammatischer Morpheme, wenn das zu flektierende Element eine unflektierte Nullform besitzt. Ist die Spezifizierung der grammatischen Merkmale einer funktionalen Kategorie für die lexikalische Wohlgeformtheit eines Lexems jedoch notwendig, da das zu flektierende Element keine Nullform besitzt, wird ein beliebiges Element aus dem jeweiligen Flexionsparadigma ausgewählt und Flexionsfehler resultieren.4 Vergleichbare Vorhersagen über die Defizite agrammatischer Sprecher lassen sich auch aus Ouhallas (1993) Agrammatismustheorie ableiten, mit der er versucht, die sich aus den gängigen Agrammatismusdefinitionen ergebenden deskriptiven Charakteristika des Agrammatismus mit einem Erklärungsansatz im Rahmen des Prinzipien-und-Parameter-Ansatzes der Generativen Grammatik zu erfassen. Auf konkrete Daten zum Bereich der Flexionsmorphologie stützt sich seine Theorie dagegen nicht. Ouhallas Ansicht nach ist der Agrammatismus nicht durch eine Unterspezifikation der grammatischen Merkmale funktionaler Kategorien, sondern durch den Verlust der funktionalen Kategorien selbst zu erklären. Das bewirkt neben Auswirkungen auf den Phrasenstnikturaufbau (vgl. Kap. III.2.1.2.) auch den Verlust sämtlicher an diese Kategorien gebundener grammatischer Merkmale. Die Herstellung von Kongruenzrelationen und die Affigierung von Flexiven durch den syntaktischen Prozeß der Kopf-zu-Kopf-Bewegung ist damit unmöglich. Auslassungen der Flexionselemente sind die Folge - allerdings nur dann, wenn ihre Auslassung nicht gegen im Agrammatismus erhaltene lexikalische Wohlgeformtheitsbeschränkungen verstößt. Ist die Affigierung eines Flexivs aufgrund lexikalischer Wohlgeformtheitsbedingungen notwendig, kann dies zwar nicht mehr auf regulärem syntaktischen Wege erfolgen, dem Agrammatiker ist jedoch der Zugriff auf die morphophonologischen Realisierungen funktiona-
In einer Weiterentwicklung von Grodzinskys Agrammatismustheorie haben Friedmann & Grodzinsky (1997) einen neuen Ansatz zur Erfassung des Agrammatismus in der Sprachproduktion vorgeschlagen (siehe S.108). Während nach Grodzinsky (1990) im Agrammatismus alle Positionen der Phrasenstrukturrepräsentation erhalten und nur die Werte grammatischer Merkmale getilgt sind, führt die agrammatische Schädigung nach Friedmann & Grodzinsky nun auch zu einer Beeinträchtigung des Phrasenstrukturaufbaus: Unterspezifizierte funktionale Kategorien können ihrer Ansicht nach nicht weiter projizieren. Welche funktionalen Kategorien von der agrammatischen Störung betroffen sind, ist dabei abhängig vom Schweregrad des Agrammatismus. Ist die Schädigung so schwerwiegend, daß sie eine Unterspezifikation der funktionalen Kategorie AgrS verursacht, dann sollten auch Kongruenzfehler resultieren, da die grammatischen Merkmale von AgrS, finitem Verb und Subjekt nicht mehr auf ihre Kompatibilität hin überprüft werden können. Da es jedoch kein unabhängiges Kriterium zur Festlegung des Schweregrades einer agrammatischen Störung gibt, ist nicht klar zu bestimmen, ob bei den hier untersuchten Agrammatikern Defizite im Bereich der Subjekt-Verb-Kongruenz vorliegen sollten. Zudem hat die Datenanalyse zum Bereich der Verbstellung (vgl. Kap. III.3.) bereits klare Evidenz gegen die Agrammatismustheorie von Friedmann & Grodzinsky erbracht. Ihrem Ansatz zufolge führt das agrammatische Defizit zumindest zu einem Verlust der CP-Struktur. Die in den von mir untersuchten Daten beobachtete Verbstellungssystematik läßt sich ohne Rückgriff auf eine komplette, zielsprachliche Phrasenstrukturrepräsentation jedoch nicht beschreiben. Ich werde daher bei der Analyse der Daten zur Kongruenzflexion (vgl. Kap. IV.4.) nicht weiter auf diese Theorie eingehen.
142 1er Kategorien im Lexikon noch möglich. Dieser Zugriff ermöglicht es, aus den Flexionsparadigmen eine beliebige vollflektierte Form auszuwählen. Trotz der unterschiedlichen Störungsmechanismen sind die Vorhersagen über die Flexionsmorphologie in der agrammatischen Sprachproduktion bei Ouhalla und Grodzinsky damit identisch: Flexive werden ausgelassen, wenn das zu flektierende Element eine unflektierte Nullform besitzt; flektierte Formen werden willkürlich ausgewählt, wenn die Nullform keine wohlgeformte Möglichkeit ist. Beide Ansätze gehen im Rahmen des 'weak lexicalist approach' davon aus, daß die Flexion nicht in einer eigenständigen morphologischen Komponente, sondern über Kopf-zu-KopfBewegung in der Syntax erfolgt. Diese Annahme ist jedoch theoretisch nicht unumstritten. In Ansätzen des 'strong lexicalist approach' erfolgt auch die Flexion, wie die Prozesse der Wortbildung, in einer eigenständigen morphologischen Komponente im Lexikon (z.B. Selkirk 1982, Lieber 1980, Di Sciullo & Williams 1987). In diesen Ansätzen wären agrammatische Beeinträchtigungen im Bereich der Flexionsmorphologie von Beeinträchtigungen der Syntax unabhängig. Eine Agrammatismustheorie im Rahmen des 'strong lexicalist approach' haben de Bleser & Bayer (1991) formuliert.
1.3. Ein syntaktisches Defizit bei erhaltener lexikalischer Flexion In verschiedenen Produktionsexperimenten, die sie mit drei deutschsprachigen Agrammatikern durchführten, testeten de Bleser & Bayer (1991) u.a. die Verfügbarkeit über die interne Wortstruktur von Derivaten und Komposita, die Genus- und Numerusflexion von Nomina, die Zuweisung lexikalischen Kasus durch Präpositionen und die strukturelle Kasuszuweisung an topikalisierte Objekte (vgl. Kap. III.2.1.2.). Dabei zeigte sich nach Ansicht der Autoren, daß die getesteten Agrammatiker nicht nur über die interne Wortstruktur von Derivaten und Komposita verfügten, sondern auch die Genusflexion von Artikeln, die Numerusflexion von Nomina und die Kasusflexion bei lexikalischer Kasuszuweisung durch eine Präposition beherrschten. War die Kasusflexion dagegen von einer strukturellen Konfiguration abhängig, die Uber den Aufbau einer 'lokalen' Phrasenstruktur wie einer NP, VP oder PP hinausging, wie bei der Kasusflexion topikalisierter Objekte, dann zeigten sich gravierende Probleme. In 82,5% der Fälle wiesen die getesteten Agrammatiker dem Objekt in dieser Konfiguration den Nominativ zu. Die einheitlich guten Leistungen der Agrammatiker bei Aufgaben zur internen Wortstruktur von Derivaten und Komposita und der Numerus-, Genus- und lexikalischen Kasusflexion lassen sich nach de Bleser & Bayer am besten mit einem Lexikonmodell erklären, das neben der Wortbildung auch die Flexion umfaßt. Diesem im Agrammatimus gut erhaltenen Lexikon steht nach Ansicht der Autoren eine beeinträchtigte syntaktische Komponente gegenüber, die nur noch den Aufbau 'lokaler' Phrasenstrukturen leisten kann (vgl. III.2.1.2.). Grammatische Relationen, die über den Aufbau solcher 'lokaler' Phrasenstrukuren hinausgehen, sind damit nicht mehr herstellbar. Da für die Kasuszuweisung an bewegte Konstituenten der Aufbau einer kompletten Phrasenstruktur erforderlich ist, muß sie folglich scheitern. Die Zuweisung lexikalischen Kasus innerhalb einer 'lokalen' PP gelingt dagegen.
143
Zusammenfassung und Diskussion: Im Gegensatz zu den Agrammatismustheorien von Grodzinsky (1990) und Ouhalla (1993) sagt der Ansatz von de Bleser & Bayer keine generelle Beeinträchtigung der Flexionsmorphologie voraus. Flexion, die innerhalb 'lokaler' Phrasenstrukturen operiert wie die Numerusflexion in Nominalphrasen oder die Partizipflexion, sollte nach de Bleser & Bayer intakt sein, da sie von einer unbeeinträchtigten Flexionskomponente im Lexikon gesteuert wird. Die Theorien von Grodzinsky und Ouhalla sagen dagegen eine generelle Beeinträchtigung von Flexionsprozessen vorher, die in der Syntax über funktionale Kategorien geleistet werden.5 Die Kontroverse über die theoretische Erfassung der Flexionsmorphologie zwischen Verfechtern des 'strong' oder 'weak lexicalist approach' kann in dieser Arbeit nicht geklärt werden. Der Schwerpunkt liegt daher auf der empirischen Überprüfung der genannten Agrammatismustheorien. Auch hier ist die Frage, welcher Theorie der Vorzug zu geben ist, noch offen. Verschiedene Studien berichten über Leistungen agrammatischer Aphasiker, die mit einer repräsentationalen Störung der Flexion, wie sie von Grodzinsky und Ouhalla angenommen wird, nicht vereinbar sind. So stellten z.B. Lukatela et al. (1988) einen guten Erhalt der Kasusflexion in einer Grammatikalitätsbeurteilungsaufgabe mit sechs serbo-kroatischen Agrammatikern fest. Ihre Versuchspersonen sollten Sätze beurteilen, in denen korrekte und inkorrekte Kasusmarkierungen von Nominalphrasen bei transitiven und intransitiven Verben variierten. Während im Serbo-Kroatischen das Objekt eines transitiven Verbs im Akkusativ steht (siehe Bsp. (6a-b)), ist bei intransitiven Verben der Instrumental gefordert (siehe Bsp. (6c-d)). (6a)
Seijak obradjuje pol-je. Bauer kultiviert Feld-Akkusativ
(b) * Seijak obradjuje pol-jem. Feld-Instrumental (c)
Seijak Bauer
(d) * Seijak
trci pol-jem. rennt Feld-Instrumental trci
pol-je. Feld-Akkusativ
Die Leistungen der agrammatischen Versuchspersonen bei dieser Untersuchung lagen im Mittel zwischen 86,3% und 94,5% für die vier getesteten Satztypen. Auf der Basis dieser Daten wenden sich Lukatela et al. gegen die Theorie von Grodzinsky, nach der die Leistungen in dieser Aufgabe lediglich auf dem Zufallsniveau hätten liegen dürfen. Zwar ist dieses Ergebnis
Dies sollte z.B. die Numerusflexion von Nomina, die über die funktionale Kategorie DET erfolgt (vgl. Haegeman 1994), oder auch die Partizipflexion der Verben beeinträchtigen, für die die funktionale Kategorie ASP (= Aspekt) verantwortlich ist (vgl. Ouhalla 1991, Schmidt 1995). Die Kasuszuweisung einer Präposition an ihre Komplement-NP wird laut Ouhalla (1991) dagegen nicht über funktionale Kategorien gesteuert, sie sollte also - zumindest seiner Theorie nach - im Agrammatisms nicht beeinträchtigt sein.
144 gut mit der Agrammatismustheorie von de Bleser & Bayer zu vereinbaren, nach der die Kasuszuweisung eines Verbs an seine Komplement NP intakt sein sollte, jedoch zeigen sich auch in den Daten, mit denen de Bleser & Bayer für den Erhalt einer einheitlichen Flexionskomponente im Lexikon argumentieren, Unklarheiten. Die Theorie de Blesers & Bayers beruht wesentlich auf der Annahme, daß die Kasusflexion bei der Zuweisung lexikalischen Kasus im Agrammatismus erhalten ist. Eine genauere Betrachtung ihrer experimentellen Ergebnisse stellt diese Annahme jedoch in Frage, denn die von ihnen aufgeführten Daten belegen nur für einen der drei untersuchten agrammatischen Aphasiker einen Erhalt der lexikalischen Kasuszuweisung. In einer Kasusvervollständigungsaufgabe sollten die drei Versuchspersonen jeweils die fehlenden Kasusmarkierungen einer im Satzkontext vorgegebenen unflektierten Nominalphrase ergänzen. Dabei wurde unter anderem die Kasusmarkierung von Nominalphrasen innerhalb von PPs getestet (vgl. Bsp. (7a, b)), die in einer lokalen Domaine erfolgt und daher im Agrammatismus nach de Bleser & Bayer nicht beeinträchtigt sein sollte. (7a) (b)
Ein neues Auto fährt gegen ein... morsch... Zaun. (P mit Akkusativ) Ein rüstiger Rentner segelt zu ein... einsam... Strand. (P mit Dativ)
Die folgende Übersicht führt die hier relevanten Ergebnisse der Kasuszuweisung durch eine Präposition an ihre Komplement-NP auf (vgl. Bayer et al. 1987:103). Die korrekten Kasusmarkierungen sind dabei jeweils schattiert. Ziel Ρ mit Akkusativ Reaktion in %
C.B.
M.H. H.R.
Akkusativ
100
100
Dativ
Ρ mit Dativ C.B.
20 80
100
M.H. H.R. 100
-
-
60
Allein die Ergebnisse des Agrammatikers C.B. weisen bei dieser Aufgabe auf einen Erhalt der lexikalischen Kasuszuweisung, sichtbar an der korrekten Kasusflexion, hin: Seine Vervollständigungen der Kasusmarkierungen waren immer korrekt. Für die Agrammatikerinnen H.R. und M.H. lassen die Ergebnisse dieser Aufgabe dagegen durchaus auf Probleme mit der Kasusflexion bei lexikalischer Kasuszuweisung schließen. So gelang H.R. die lexikalische Zuweisung des Akkusativs nur in 20% der Fälle. Die Daten legen zudem nahe, daß sie bei der Zuweisung lexikalischen Kasus generell dazu tendierte, den Dativ zuzuweisen. Patientin M.H. wies dagegen in der lexikalischen Kasusaufgabe unabhängig von der Präposition immer den Akkusativ zu. Die lexikalische Zuweisung des Dativs gelang ihr kein einziges Mal. De Bleser & Bayer heben in ihrer Darstellung besonders heraus, daß bei der Kasusvervollständigung niemals auf Nominativflexive zurückgegriffen wurde. Das Wissen, daß der Nominativ von einer Präposition nicht an ihre Komplement-NP zugewiesen werden kann, ist jedoch
145 syntaktisches Wissen. Und während dieses Wissen erhalten ist, legen die Schwierigkeiten der Versuchspersonen H.R. und M.H. bei der Wahl des korrekten lexikalischen Kasus nahe, daß gerade die lexikalisch festgelegte Information, welcher Kasus von welcher Präposition zugewiesen wird, beeinträchtigt ist. Zudem wurden in neueren Untersuchungen zu morphologischen Beeinträchtigungen im Agrammatismus immer wieder selektive Beeinträchtigungen von Flexion, Derivation oder Komposition festgestellt. Selektive Beeinträchtigungen eines dieser Prozesse bei gleichzeitigem Erhalt der anderen sind jedoch mit de Blesers & Bayers Ansatz eines einheitlichen, unbeeinträchtigten Lexikons nicht zu vereinbaren. So gelangten z.B. Miceli & Caramazza (1988) bei der Analyse experimentell gewonnener Daten des von ihnen untersuchten italienischen Agrammatikers F.S. zu dem Ergebnis, daß die Flexionsmorphologie im Gegensatz zu anderen Bereichen der Morphologie von der agrammatischen Störung besonders betroffen ist. In einer Nachsprechaufgabe, in der einzelne vorgegebene Wörter zu wiederholen waren, zeigte sich "a striking dissociation between inflectional and derivational morphology in repetition errors" (ebd.:55). Miceli & Caramazza berichten von 636 Fehlern, die eindeutig als morphologische Fehler charakterisiert werden konnten, da zwar die Verbwurzel korrekt wiederholt, jedoch mit einem anderen als dem vorgegebenen Flexionsaffix versehen wurde. 615 dieser 636 Fehler betrafen flektierte Wörter (96,7%). Morphologische Fehler bei Derivaten traten im Gegensatz dazu nur sehr selten auf (3,3%). Da die beobachteten Fehler nicht in Satzkontexten auftraten, werten Miceli & Caramazza ihr Ergebnis als Evidenz dafür, daß die Flexion, wie die Derivation, im Lexikon und nicht in der Syntax anzusetzen ist. Die beobachtete Dissoziation in der Fehlerhäufigkeit spricht ihrer Ansicht nach dafür, daß die agrammatische Störung ihres Patienten den Prozeß der Auswahl spezieller Affixe in einer für die Flexionsmorphologie zuständigen, unabhängigen Komponente des Lexikons betrifft. Während diese Komponente beeinträchtigt ist, sind Derivationsprozesse nach Meinung der Autoren in einer eigenständigen Subkomponente zu repräsentieren, die von der agrammatischen Störung nicht beeinträchtigt wird.6 Ziel der Datenanalyse im folgenden Datenteil ist es, durch eine empirische Untersuchung der Daten zur Flexionsmorphologie deutschsprachiger Agrammatiker zu klären, ob sich Evidenz für ein repräsentationales Defizit im Rahmen der Erklärungsansätze von Grodzinsky, Ouhalla und de Bleser & Bayer festmachen läßt. Die Agrammatismustheorien von Grodzinsky und Ouhalla sind dabei Gegenstand des Kapitels IV.4. Hier soll anhand von Daten zur SubjektVerb-Kongruenz untersucht werden, inwieweit sich die von beiden postulierte Beeinträchti-
Fiir vergleichbare Befunde zu einer selektiven Beeinträchtigung der Flexion bei Erhalt der Derivationskomponente siehe auch Caramazza & Hillis (1989) sowie Tyler & Cobb (1987) und Tyler (1994). Auch über selektive Beeinträchtigungen der kompositioneilen Wortbildungsprozesse wird berichtet. Luzzatti & de Bleser (1989) fanden bei zwei italienisch sprechenden Agrammatikern eine erhebliche Beeinträchtigung der Artikel- und Numerusflexion von Nominalkomposita, was darauf hindeutet, daß die aphasischen Versuchspersonen nicht mehr in der Lage waren, den Kopf des Kompositums zu bestimmen. Die Artikel- und Numerusflexion von Derivaten und einfachen Nomina war demgegenüber weitgehend erhalten (vgl. auch Cholewa & de Bleser 1995, Luzzatti & de Bleser 1996). Über einen guten Erhalt der Wortbildungsregeln bei Komposita berichten dagegen Hittmair-Delazer et al. (1994) bei deutschsprachigen sowie Dressler & Denes (1988) bei italienischen Broca-Aphasikem.
146 gung der Flexionsmorphologie durch die Unterspezifikation bzw. den Verlust grammatischer Merkmale auf der S-Struktur empirisch bestätigen läßt. Eine empirische Überprüfung der Agrammatismustheorie von de Bleser & Bayer erfolgt in den Kapiteln IV.2. und IV.3. Gegenstand der Untersuchung sind dort die Pluralflexion von Nomina und die Partizipflexion der Verben, die beide nicht von syntaktischen Konfigurationen, die den Aufbau eines kompletten Phrasenstrukturbaums erfordern, abhängig sind. Beide sollten daher nach de Bleser & Bayer auch im Agrammatisms von der intakten lexikalischen Flexionskomponente geleistet werden können.
1.4. Selektive Störungen morphologischer Prozesse Ziel des nachfolgenden Datenteils ist jedoch nicht nur die empirische Überprüfung der Agrammatismustheorien von Grodzinsky, Ouhalla sowie de Bleser & Bayer. Die Datenanalyse soll vielmehr auch einen Beitrag zur Klärung der Frage leisten, ob und in welcher Weise Daten agrammatischer Sprecher zur Entscheidung zwischen konkurrierenden linguistischen Theorien herangezogen werden können. Die konkurrierenden Theorien, die hier mit Hilfe der Daten agrammatischer Sprecher empirisch überprüft werden sollen, betreffen die Kontroverse, ob reguläre und irreguläre Flexionsprozesse durch symbolmanipulierende Regeln oder assoziative Netzwerke mental zu repräsentieren sind. Die Vorgehensweise, mit Hilfe der Daten sprachgestörter Sprecher externe Evidenz für die Entscheidung zwischen konkurrierenden theoretischen Ansätzen zu liefern, hat in der Neurolinguistik Tradition. Dabei ist insbesondere die Aufdeckung von Defiziten relevant, die selektiv eine Funktion X, nicht aber eine Funktion Y betreffen. Solche selektiven Schädigungen erlauben - im günstigsten Fall - einen direkten Blick in die mentale Repräsentation der menschlichen Sprachfähigkeit, denn die selektive Beeinträchtigung spricht dafür, daß es sich bei X und Y um zwei unterschiedlich zu repräsentierende Funktionen handelt, die daher unabhängig voneinander gestört werden können. Daten sprachgestörter Sprecher wurden zunächst für die Klärung der Frage herangezogen, ob eine dekomponierte, d.h. in Stamm und Affix zerlegte, Repräsentation von Wörtern im Lexikon anzunehmen sei, wie dies das Affix-Stripping-Modell von Taft & Forster (1975) vorschlug. Der Ansatz des Full-Listing-Modells (Butterworth 1983) propagierte dagegen, Wörter seien als Vollformen im Lexikon gespeichert, es liege also keine Dekomposition in Stamm und Affix vor. Im Zuge der Diskussionen zwischen Vertretern dieser beiden Modelle trug die neurolinguistische Forschung eine Reihe von Fallstudien zusammen, die Evidenz für eine dekomponierte Repräsentation komplexer polymorphemischer Wörter im Lexikon liefern sollte, da die untersuchten sprachgestörten Sprecher morphologische Fehler produzierten, bei denen existierende Morpheme zu nicht-existierenden - und daher nicht im Lexikon aufgelisteten Wörtern verknüpft wurden (vgl. z.B. Caramazza et al. 1985, Butterworth & Howard 1987, Miceli & Caramazza 1988, Badecker & Caramazza 1991, Ahlsén 1994).
147 Evidenz für selektive Defizite zeigt sich auch im Bereich regulärer und irregulärer Flexionsprozesse. So berichten Ullman et al. (1993) von einer Beeinträchtigung irregulärer Wortformen bei Alzheimer-Patienten, bei denen in Folge des massiven dementativen Abbaus auch Wortfindungsprobleme auftreten können. Die reguläre Flexion erschien demgegenüber erhalten und wurde auch auf irreguläre Formen übergeneralisiert. Selektive Beeinträchtigungen der regulären Flexion werden dagegen in der Literatur über dyslektische Störungen erwähnt. Job & Sartori (1984) stellten bei der Untersuchung eines italienischen Dyslektikers mittels Leseaufgaben fest, daß Auslassungen und Ersetzungen von Suffixen signifikant häufiger bei Wörtern mit regulärer Flexion als bei irregulär flektierten Wörtern auftraten. Die Autoren schlossen auf der Basis dieses Ergebnisses, daß eine lexikalische Dekomposition in Stamm und Affix nur bei regulären Formen vorgenommen wird, während irreguläre Formen als Vollformen gespeichert sind. Über vergleichbare Beobachtungen bei englischsprachigen Dyslexiepatienten berichten auch Coltheart (1985) sowie Badecker & Caramazza (1991 und 1993). Auch für den Agrammatismus legen erste Hinweise eine selektive Beeinträchtigung eines dieser beiden Flexionsprozesse nahe. So hat bereits Kussmaul in seiner auf das Jahr 1877 datierenden Agrammatismusdefinition festgestellt, daß Agrammatiker die „schwache Beugung der starken" vorzögen (ebd.: 196). Und auch Kerschensteiner et al. (1978) konstatieren in ihrer Beschreibung der Broca-Aphasie: .Produktive Regeln, d.h. solche, die im Sprachsystem genereller verwendet werden, sind besser erhalten als solche, die nur für wenige Formen gelten." (ebd.:238)
In einer umfangreichen Studie beobachteten Cholewa & de Bleser (1995) zudem bei zwei der vier von ihnen untersuchten deutschsprachigen Agrammatiker eine selektive Beeinträchtigung der regelmäßigen Pluralflexion. Diese Hinweise auf selektive Beeinträchtigungen regulärer bzw. irregulärer Flexionsprozesse sind für die jüngst aufgeworfene Debatte zwischen symbolistischen und konnektionistischen Ansätzen zur Flexionsmorphologie relevant, durch die die Debatte um Full-Listing- oder Affix-Stripping-Modelle neue Aktualität erlangt hat. Seit der von Chomsky 1957 ausgelösten kognitiven Wende geht man in der Generativen Grammatiktheorie davon aus, daß die menschliche Sprachfähigkeit durch einen symbolmanipulierenden Regelapparat zu repräsentieren ist. Danach ergeben sich die Charakteristika menschlicher Sprache - wie die Kreativität und Unbegrenzbarkeit sprachlicher Äußerungen - aus einem System, in dem mental repräsentierte sprachliche Regeln auf ebensolche Symbole angewandt werden. Die psychische Realität solcher mentaler symbolmanipulierender Regeln wird in der kürzlich entstandenen, konnektionistischen Schule jedoch in Frage gestellt. Regelhaftes sprachliches Verhalten wird in konnektionistischen Ansätzen - in grober Analogie zur neuronalen Architektur des Gehirns - durch Netzwerke simuliert, in denen sprachliche Ein- und Ausgabeeinheiten direkt über assoziative Strukturen miteinander verbunden sind (vgl. z.B. Bechtel & Abrahamsen 1991). Im Zentrum der Debatte zwischen Symbolisten und Konnektionisten steht dabei die Frage, ob reguläre und irreguläre Rexionsprozesse durch symbolmanipulierende Regeln oder assoziative Netzwerke mental zu repräsentieren sind. Diese Diskussion wurde durch eine Arbeit von Rumelhart & McClelland (1986) ausgelöst, die den kindlichen Erwerb der past tense Morphologie des Englischen in einem neuronalen
148 Netzwerk simulieren sollte. Die Bildung des past tense wird in linguistischen Arbeiten im allgemeinen durch das Wirken einer mentalen Regel erklärt, durch die sich ein Repräsentant der Symbolklasse V mit einem Affix -ed verbindet. Kernstück des Modells von Rumelhart & McClelland ist dagegen ein Musterassoziierer, in dem die Verbindung zwischen der Stammform eines Verbs und seiner past tense Form über einen Lernprozeß hergestellt wird (vgl. ebenso MacWhinney & Leinbach 1991, Plunkett & Marchman 1991 und 1993, Seidenberg 1992). Nach einer entsprechenden Lernprozedur war ihr System nicht nur in der Lage, korrekte past tense Formen auch für neu eingegebene Stammformen zu bilden, es konnte auch die für den Spracherwerb charakteristischen Übergeneralisierungen der past tense Form -ed auf starke Verben simulieren. Pinker & Prince (1988) sowie Marcus et al. (1992) und Marcus (1995) kritisierten jedoch, daß die Leistungen dieses Netzes auf unrealistischen Annahmen über den Spracherwerb basierten. So ist z.B. das Auftreten von Übergeneralisierungen im Netz - nicht aber im Spacherwerb - von einem dramatischen Anstieg regulärer Verben während der Lernphase abhängig. Aus der Kritik an konnektionistischen Ansätzen zur menschlichen Sprachfähigkeit wurde im Gegenentwurf das Dual-Mechanism-Modell der Flexionsmorphologie entwickelt (Pinker & Prince 1988 und 1994, Prasada & Pinker 1993). Im Dual-Mechanism-Modell wird ein qualitativer Unterschied zwischen regulärer und irregulärer Flexion angenommen, der auf zwei unterschiedliche kognitive Prozesse zurückgeführt wird. Während irregulär flektierte Formen als Vollformen in einem assoziativen Netz gespeichert sind, basiert die reguläre Flexion auf der Anwendung einer symbolmanipulierenden Regeloperation. Mit diesem dualistischen System der Flexionsmorphologie wenden sich Pinker, Prince und Prasada gegen Ansätze, die eine einheitliche Repräsentation der regulären und irregulären Flexionsmorphologie postulieren. Solche unitären Ansätze zur Flexionsmorphologie werden z.B. im assoziativen Netzwerkmodell von Rumelhart & McClelland, das von einer einheitlichen Speicherung flektierter Formen ausgeht, oder in den Ansätzen von Halle & Mohanan (1985) sowie Halle & Marantz (1993), die sowohl die reguläre als auch die irreguläre Flexion durch ein Regelsystem von 'spell-out' und 'readjustment rules' repräsentieren, angenommen. Wunderlich (Wunderlich & Fabri 1993, Wunderlich 1996, 1997) hat ein theoretisch-linguistisches Modell der Morphologie vorgestellt, in dem ebenfalls verschiedene Repräsentationen für die reguläre und irreguläre Flexion postuliert werden. In seiner Minimalistischen Morphologie wird irreguläre Flexion durch monotone Vererbungsbäume erfaßt. Irreguläre Formen bilden Äste dieser Baumrepräsentationen, die von einem unmarkierten Basisknoten ausgehen und dessen Informationen erben, soweit sie sie nicht mit spezifischeren Informationen überschreiben. (8) verdeutlicht diese Repräsentation für das starke Verb werfen. Vom Basisknoten des unmarkierten Verbstamms werf- zweigen Äste für den irregulären Stamm der 2. und 3. Person Singular Präsensformen (wirf-) und den Imperativ (wirf) (l.Ast), für die Präteritum- und Konjunktivstämme (warf-, wiirf-) (2.Ast) und den Partizipstamm (-worfen) (3 .Ast) ab. In eckigen Klammem ist dabei die phonologische Repräsentation des Stammes bzw. des Stammvokals nach Wiese (1996) angegeben.7 f = front, h = high, r = round, X = Schwa
149 [ν [+f]rf] +V
(8)
[...[+h]...]-l [—]+C
[...[-fi...] + prêt
[,..[-f,+r]...n] +part
[...[+f,+h,+r]...X] + subj
Formen, die nicht in diesen Vererbungsbäumen aufgeführt sind, werden dagegen über reguläre Flexionsprozesse gebildet. Dementsprechend enthalten die Baumrepräsentationen regulärer Verben nur den unmarkierten Basisknoten, aber keine weiteren Äste. Im folgenden soll versucht werden, mittels einer Untersuchung der Flexionsdaten agrammatischer Aphasiker externe Evidenz zur Frage der Repräsentation regulärer und irregulärer Flexion zu liefern. Zeigt sich dabei in den Daten eine selektive Schädigung einer der beiden Flexionsarten bei gleichzeitigem Erhalt der anderen, so spricht dies dafür, daß den Prozessen der regulären und irregulären Flexion zwei unterschiedliche kognitive Mechanismen zugrunde liegen, so wie dies vom Dual-Mechanism-Modell oder der Minimalistischen Morphologie postuliert wird. Unitäre Modelle, die von einer einheitlich regelbasierten oder assoziativen Repräsentation der Flexion ausgehen, können die selektive Schädigung nur einer der beiden Flexionsarten dagegen nicht erklären. Die Untersuchung agrammatischer Daten zur Flexionsmorphologie erscheint vor diesem Hintergrund besonders interessant, da der Agrammatismus nach den allgemein akzeptierten klinischen Beschreibungen dieser Störung zu einer Beeinträchtigung der Flexionsmorphologie führt. Damit liegt im Agrammatismus ein Testfall vor, an dem untersucht werden kann, ob die bekannte Beeinträchtigung der Flexionsmorphologie reguläre und irreguläre Flexion gleichermaßen betrifft, oder ob selektive Störungen nur eines dieser beiden Flexionsprozesse zu beobachten sind. Erste Anzeichen, wie die Agrammatismusdefinitionen von Kussmaul (1877) und Kerscheinsteiner et al. (1978) oder die Untersuchung zur Pluralflexion von Cholewa & de Bleser (1995), deuten daraufhin, daß der Agrammatismus durch selektive Beeinträchtigungen im Bereich der Flexion gekennzeichnet sein könnte. Ob sich diese Anzeichen für eine selektive Beeinträchtigung erhärten lassen, ist Gegenstand der Datenanalyse im folgenden Datenteil. Die Untersuchung wird sich dabei besonders auf die Numerusflexion bei Nomina (vgl. Kap. IV.2.) und die Partizipflexion der Verben (vgl. Kap. IV.3.) stützen. Die Diskussion um unitäre oder dualistische Repräsentationen der Flexionsmorphologie ist gerade auf der Basis dieser beiden Phänomene mit großer Intensität geführt worden (vgl. den Überblick in Marcus et al. 1995), denn die Untersuchung der Plural- und Partizipflexion des Deutschen ermöglicht es, den Einfluß konfundierender Faktoren, wie die Frequenz regulärer und irregulärer Formen oder das Vorliegen prädiktabler Affixe, bei der Untersuchung regulärer und irregulärer Flexionsprozesse zu minimieren. Im Gegensatz zum Englischen, für das zuerst konnektionistische Modelle der Flexion entwickelt wurden, verfügt das Deutsche sowohl bei der Plural- als auch bei der Partizipflexion über distinkte Affixe für die reguläre und irreguläre Flexion, die von einer Schädigung selektiv betroffen werden können. Das Englische verfügt dagegen nur für die reguläre Plural- und Vergangenheitsflexion über overte Affixe (-s bzw.
150 -ed); irreguläre Formen werden dagegen durch eine Veränderung des Stamms gebildet (z.B. mouse - mice, go - went). Zeigte sich bei englischen Agrammatikern eine selektive Beeinträchtigung regulärer Flexionsprozesse, so kämen daher zwei Erklärungsmöglichkeiten in Betracht: Zum einen könnte eine selektive Störung regulärer Flexionsprozesse vorliegen. Möglich wäre jedoch auch, daß die Schädigung generell alle Affigierungsprozesse betrifft. Auch eine solche Schädigung kann sich im Englischen nur bei regulären Plural- und Vergangenheitsformen auswirken. Im Deutschen müßte sie dagegen sowohl reguläre als auch irreguläre Formen betreffen, die beide durch die Affigierung von Flexiven gebildet werden. Im Gegensatz zum Englischen erlaubt es das Deutsche damit, zwischen diesen beiden Erklärungsansätzen zu entscheiden, da die An- bzw. Abwesenheit prädiktabler Affixe für die irreguläre Flexion die Untersuchung nicht konfundiert. Ein weiterer konfundierender Faktor, dessen Einfluß bei der Untersuchung der Plural- und Partizipflexion des Deutschen minimiert werden kann, ist der Faktor der Frequenz. Reguläre Plural- und Vergangenheitsformen sind im Englischen wesentlich frequenter als irreguläre Formen (vgl. dazu die Frequenzauswertungen in Marcus et al. 1995). Eine selektive Beeinträchtigung irregulärer Formen könnte im Englischen daher nicht nur auf ein selektives Defizit irregulärer Flexionsprozesse rückschließen lassen, sondern auch durch eine Zugriffsstörung auf infrequente lexikalische Einträge verursacht sein. Im Deutschen ist der Faktor 'irregulär' jedoch nicht in gleicher Weise mit dem Faktor 'niedrigfrequent' konfundiert (vgl. die Frequenzauswertungen in Marcus et al. 1995), so daß beide Faktoren getrennt untersucht werden können. Insgesamt ergibt sich damit aus den behandelten Fragestellungen folgender Aufbau des nachfolgenden Datenteils: Gegenstand der Datenanalyse sind zunächst reguläre und irreguläre Prozesse der Numerusflexion von Nomina und der Partizipflexion von Verben (Kap. IV.2. und IV.3.). Ziel dieser Untersuchungen ist es in erster Linie zu prüfen, ob der Agrammatismus durch eine selektive Beeinträchtigung regulärer bzw. irregulärer Flexionsprozesse gekennzeichnet ist. Eine selektive Schädigung eines dieser Flexionsprozesse böte dabei Evidenz für duale Konzeptionen der Flexion, in denen zwei unterschiedlich mental repräsentierte und daher auch selektiv beeinträchtigbare Flexionsprozesse für die reguläre und irreguläre Flexion angenommen werden. Eine solche selektive Schädigung spräche zudem gegen die Agrammatismustheorie von de Bleser & Bayer, nach der sowohl die reguläre als auch die irreguläre Plural- und Partizipflexion im Agrammatismus erhalten sein sollten. Die Überprüfung der Agrammatismustheorien von Ouhalla (1993) und Grodzinsky (1984, 1990) anhand von Daten zur Subjekt-Verb-Kongruenz ist Gegenstand von Kapitel IV.4. Dabei soll auch versucht werden, mittels einer detaillierten Analyse der auftretenden Fehler nähere Aufschlüsse über die Mechanismen zu erlangen, die den Problemen agrammatischer Aphasiker mit der Kongruenzflexion zugrunde liegen.
151
2. Pluralflexion Im folgenden soll es neben einer Bestandsaufnahme der Pluralflexion bei deutschsprachigen Agrammatikern auch um die Frage gehen, ob sich Evidenz für selektive Beeinträchtigungen der verschiedenen Pluralallomorphe des Deutschen finden läßt. Solche selektiven Beeinträchtigungen der regulären oder irregulären Pluralflexion würden Evidenz für das Vorliegen qualitativ verschiedener Prozesse im Bereich der Pluralbildung liefern. Die Aufdeckung selektiver Beeinträchtigungen würde damit für duale Modelle der Flexion sprechen, in denen reguläre und irreguläre Flexion unterschiedlich repräsentiert werden. Unitär regelbasierte oder assoziative Modelle der Flexion könnten eine selektive Schädigung regulärer bzw. irregulärer Flexionsprozesse dagegen nicht erklären.
2.1. Beschreibung und theoretische Erfassung Numerus wird in deutschen Nominalphrasen nicht nur am Determinierer und an Adjektiven realisiert, sondern auch über die Affigierung eines Pluralsuffixes am Nomen selbst. Die theoretische Erfassung des deutschen Pluralsystems ist in weiten Teilen umstritten, wobei sich die Diskussion nicht nur an den verschiedenen theoretischen Konzeptionen über die Distribution der Pluralallomorphe und die Mechanismen ihrer Affigierung entzündet, sondern bereits die grundlegende Frage betrifft, wie viele Pluralallomorphe überhaupt für das Deutsche anzunehmen sind. Die Annahmen schwanken dabei zwischen vier und acht Allomorphen, je nachdem, welche Flexive als lediglich phonologisch bedingte Varianten zueinander aufgefaßt werden (für einen Überblick siehe Mugdan 1977, Bartke 1996). In Übereinstimmung mit der Dudengrammatik (Drosdowsky 1995) werde ich im folgenden von 5 verschiedenen Möglichkeiten der Pluralmarkierung im Deutschen ausgehen, die vier Pluralsuffixe: -e, -er, -(e)n, -s und eine Nullmarkierung (-0) beinhalten, wobei -e, -er und -0 eine Umlautvariante zulassen (Bsp. (9)) (siehe auch Wiese 1996, Clahsen et al. 1992, Marcus et al. 1995, Bartke 1996). (9)
-0 (+Umlaut) -e (+Umlaut) -er (+Umlaut) -(e)n -s
der Ritter der Vogel der Feind der Zug das Weib der Mann der Held die Blume das Auto der Park
die Ritter die Vögel die Feinde die Züge die Weiber die Männer die Helden die Blumen die Autos die Parks
152 Die Annahme von fünf Pluralallomorphen8 erscheint auch insofern theoretisch gerechtfertigt, als sich die unterschiedlichen Angaben über die Anzahl der Pluralallomorphe des Deutschen insbesondere aus den differierenden Ansichten ergeben, ob die Umlautvarianten von -0, -e und -er als eigenständige Pluralallomorphe mitberücksichtigt werden sollten oder nicht. Da das Vorkommen eines Umlauts jedoch durch eine unabhängige phonologische Regel der Frontierung eines nicht-vorderen Vokals gesteuert zu sein scheint, die nicht nur bei der Pluralbildung zu beobachten ist (vgl. z.B. die Diminutivform Männlein von Mann), werde ich im folgenden die Umlautvarianten nicht als separate Pluralallomorphe ansehen (siehe Wiese 1987a, 1996). Eine rein phonologische Regel ist auch für die Allomorphie von -(e)n- bzw. -η-Plural verantwortlich, die deshalb ebenfalls nicht weiter berücksichtigt werden soll (siehe Wiese 1996). Nicht nur hinsichtlich der Zahl der Pluralallomorphe, sondern auch im Hinblick auf die Generalisierungen, die die Affigierung der verschiedenen Pluralallomorphe leiten sollen, herrscht noch weitgehend Unklarheit. Die Wahl eines Pluralflexivs zur Numerusmarkierung eines bestimmten Nomens ist im Deutschen in unterschiedlich hohem Maße arbiträr (siehe z.B. Clahsen et al. 1992, Marcus et al. 1995, Bartke 1996). Zwar lassen sich je nach Genus oder phonologischen Charakeristika des Nomens bevorzugte Suffixe identifizieren - so z.B. -0 für die Pluralflexion von Maskulina oder Neutra, die auf eine unbetonte, ein Schwa enthaltende Silbe enden (z.B. der Henkel - die Henkel), jedoch sind Ausnahmen zu diesen Tendenzen häufig (z.B. der Muskel - die Muskeln, der Vetter - die Vettern) (siehe Bartke 1996). So muß z.B. Mugdan (1977) bei seiner Beschreibung der Pluralaffigierungsregeln des Deutschen zehn Affigierungsregeln und 15 Listen mit Ausnahmefällen annehmen (vgl. ebd.:87ff.). Uneingeschränkt vorhersagbar ist die Wahl des Pluralallomorphs lediglich bei Feminina, die auf Schwa enden. In diesen Fällen wird der Plural mit -n gebildet (z.B. die Blume - die Blumen).9 Unter den fünf genannten Pluralmorphemen fällt -s durch seinen weiten Anwendungsbereich besonders auf. Zwar ist -s das Pluralflexiv mit der geringsten Auftretenshäufigkeit (für einen Frequenzvergleich der deutschen Pluralallomorphe siehe Bartke 1996), jedoch wird es in bestimmten Umgebungen sehr produktiv verwendet. So tritt es unter anderem an Namen (z.B. die Müllers), Abkürzungen (z.B. die Unis), Akronymen (z.B. die LKWs), Entlehnungen (z.B. die Cafés), Onomatopoetika (z.B. die Kuckucks) und an Nominalisierungen anderer Kategorien wie z.B. Konjunktionen (die Abers) auf. Zudem ist -s im Gegensatz zu den anderen vier Siehe aber Golston & Wiese (1996), die in ihrem im Rahmen der Optimality Theorie formulierten Ansatz lediglich von vier Pluralallomorphen ausgehen (-er, -(e)n, -s und -0), da sie das Flexi ν -e als phonologisch bedingte Variante des Nullplurals auffassen. Ihrer Ansicht nach kommt es bei der Pluralbildung immer dann zu einer Epenthese von -e, wenn ansonsten die Bedingung 'NON-FINALITY' verletzt würde, die sicherstellt, daß flektierte Wörter nicht auf eine betonte Silbe enden (z.B. Tisch - Tische). Auch bei Derivaten, die durch die Affigierung von Derivationssuffixen wie -heit, -mg etc. gebildet werden, ist die Wahl des Pluralallomorphs prädiktabel (z.B. -heit -> -heiten, -mg -> -ungen). Diese Vorhersagbarkeit läBt sich mit der Annahme erklären, daB auch Derivationssuffixe selbständige lexikalische Einträge im mentalen Lexikon haben, in denen auch das jeweilig anzuwendende Pluralallomorph verzeichnet ist. Da Derivationssuffixe den Kopf von Derivaten bilden, bestimmen sie damit auch die grammatischen Eigenschaften von Derivaten wie z.B. die Flexionseigenschaften (vgl. Lieber 1980, Williams 1981, Selkirk 1982, Olsen 1990, Bhatt 1991).
153 Pluralallomorphen des Deutschen nicht an eine spezifische morphophonologische Umgebung gebunden und kann auch dann benutzt werden, wenn die phonologische Umgebung die Affigierung der anderen Pluralflexive ausschließt (siehe Marcus et al. 1995, Bartke 1996, Golston & Wiese 1996). Insbesondere scheint -s auch nicht an die Generalisierung gebunden zu sein, nach der Standardplurale des Deutschen zumindest zweisilbig sind und auf eine unbetonte, sonorant-finale Silbe enden (vgl. Schal - Schals, Dutt - Dutts) (siehe Golston & Wiese 1996). Aufgrund dieser Besonderheiten des -s-Plurals ist in jüngster Zeit vorgeschlagen worden, -s als den Default-Plural des Deutschen anzusehen (vgl. Wiese 1986 und 1988, Clahsen et al. 1992, Marcus et al. 1995, Bartke 1996). Marcus et al. (1995) nennen 20 allgemeine Umstände, in denen auf Default-Flexive zurückgegriffen werden muß (ebd.:197ff.), da für die Flexion nicht auf gespeicherte Wurzeleinträge im mentalen Lexikon zurückgegriffen werden kann (wie z.B. bei Akronymen, Fremdwörtern oder im Fall von amnestischen Störungen). Da in mindestens 13 dieser 20 Fälle im Deutschen produktiv der -s-Plural verwendet wird, gehen sie davon aus, daß -s das Default-Pluralsuffix - der Notplural (siehe Van Dam 1940) - des Deutschen ist. Plurale auf -e, -er, -(e)n und - 0 sollen demgegenüber als Vollformen im mentalen Lexikon gespeichert sein. Im Rahmen des Dual-Mechanism-Ansatzes (Pinker & Prince 1994, Prasada & Pinker 1993) postulieren Clahsen et al. (1992), Marcus et al. (1995) und Bartke (1996) damit einen qualitativen Unterschied zwischen den Pluralflexiven des Deutschen. Das Flexiv -s wird demnach als Default-Flexiv nach dem Elsewhere-Prinzip (Kiparsky 1982b) immer dann über einen Regelprozeß affigiert, wenn kein anderer spezifischerer Pluraleintrag gespeichert ist. Pluralformen auf -e, -er, -(e)n und -0, die auch als irreguläre Formen bezeichnet werden, werden demgegenüber als Vollformen aus dem mentalen Lexikon abgerufen. Eine theoretisch-linguistische Erfassung dieser Idee liefert der Ansatz der Minimalistischen Morphologie (Wunderlich & Fabri 1993, Wunderlich 1996, 1997). In der Minimalistischen Morphologie wird irreguläre Flexion durch monotone Vererbungsbäume erfaßt, die von einem unmarkierten Basisknoten entspringen und jede irreguläre Form durch einen vom Basisknoten abzweigenden Ast repräsentieren. Während die irregulären Plurale in solchen Vererbungsbäumen zu ihrer jeweiligen Basisform gespeichert sind, erfolgt die Pluralflexion mit -s über einen regelgeleiteten Prozeß. Beispiele (10a) und (10b) erläutern diesen Ansatz für die lexikalischen Einträge Tag und Oma. Während der lexikalische Eintrag für Tag neben dem Basisknoten noch einen gespeicherten Eintrag für die Pluralform Tage enthält, ist im lexikalischen Eintrag von Oma lediglich der Basisknoten aufgeführt. Die Angabe einer gespeicherten Pluralform entfallt, da die Affigierung des -j-Plurals regelgeleitet ist. (10a) [ta:g]+N,+mask
(10b) [o:ma]+N,+fem
I [...X] + p l 1 0 Demgegenüber stehen Ansätze, die keinen qualitativen Unterschied zwischen -s und den anderen Pluralflexiven machen, da sie entweder von einem regelbasierten Affigierungsprozeß für alle Pluralallomorphe des Deutschen ausgehen (siehe z.B. Wurzel 1990, Wegener 1992) oder 10
X steht für das Schwa.
154 eine einheitliche Pluralzuweisung aufgrund assoziativer, auf phonologischer Ähnlichkeit basierender Schemata annehmen (Kopeke 1988).
2.2. Bisherige Befunde Obwohl insbesondere im Bereich der Morphologie in den letzten zehn Jahren intensiv nach selektiven Beeinträchtigungen unterschiedlicher morphologischer Prozesse gesucht wurde, ist der Unterschied zwischen regulärer und irregulärer Flexion dabei bisher kaum thematisiert worden. Die frühesten Untersuchungen zur Flexionsmorphologie, die zwischen 1960 und 1980 bei englischsprachigen Agrammatikern durchgeführt wurden (Goodglass & Hunt 1958, Goodglass & Berko 1960, de Villiers 1978), beschäftigten sich in erster Linie damit, das Ausmaß der aphasischen Beeinträchtigung für verschiedene grammatische Flexionsmorpheme festzustellen und die so ermittelten Störungsreihenfolgen mit der Erwerbsreihenfolge dieser Morpheme im Erstspracherwerb zu vergleichen. Hintergrund für diese Untersuchungen war dabei insbesondere die Regressionshypothese Roman Jakobsons, die besagt, daß diejenigen Elemente, die im Spracherwerb später erworben werden, eher von der aphasischen Störung beeinträchtigt werden, als Elemente, die im Spracherwerb früh erworben werden (vgl. Jakobson 1941/1972). So elizitierten Goodglass & Berko (1960) mit einer Satzvervollständigungsaufgabe bei 21 Aphasikern neben regulären Possessivmarkierungen, 3.Sg. Präsens-, past tense-, Komparativund Superlativformen auch -s-Plurale. Da das Englische außer dem Pluralflexiv -s über keine weiteren produktiven Pluralsuffixe verfügt,11 wird -s im allgemein als der Default-Plural des Englischen angesehen (vgl. auch Marcus et al. 1995). Neben dem -j-Plural existiert im Englischen lediglich die Möglichkeit, den Plural durch eine Veränderung des Stamms selbst auszudrücken (z.B. mouse - mice)·, irreguläre Flexive existieren im Gegensatz zum Deutschen jedoch nicht mehr. Insgesamt elizitierten Goodglass & Berko 252 -s-Plurale bei ihren aphasischen Versuchspersonen, von denen insgesamt 53 (21%) fehlerhaft waren. Damit zeigte sich bei der Pluralflexion im Vergleich zu den anderen getesteten grammatischen Flexionsmorphemen die geringste Beeinträchtigung. Zwar bestätigte sich damit das Ergebnis einer Vorläuferstudie von Goodglass & Hunt (1958), die bei 18 Aphasikern die Possessivform und den -i-Plural elizitierten, jedoch ist das Ergebnis schwierig auszuwerten. Nicht nur ist unklar, welchem Aphasietyp die getesteten Aphasiker angehörten; auch was als fehlerhafte Pluralrealisierung gewertet wurde, ist nicht ersichtlich. Möglich ist, daß nicht nur Auslassungen des -i-Plurals, sondern auch phonologisch falsche Realisierungen (etwa [-z] statt [-ez]) als Fehler gewertet wurden. In einer Studie von de Villiers (1978), in der Spontansprachdaten von acht nicht-flüssigen Aphasikern (wahrscheinlich Broca-Aphasiker und amnestische Aphasiker) auf die korrekte Realisierung von 14 grammatischen Morphemen in obligatorischen Kontexten untersucht wurden, zeigten sich dagegen bessere Ergebnisse für den ebenfalls untersuchten -j-Plural: Alle acht untersuchten Aphasiker realisierten den -j-Plural in über 94% der obligatorischen Kontexte
11
Das äußerst seltene Pluralflexiv -en (3 Belege: children, brethren, oxen) ist nicht mehr produktiv.
155 korrekt. Irreguläre Pluralformen wurden jedoch weder in der Untersuchung von Goodglass & Berko noch in der Studie von de Villiers getestet. Über eine gute Beherrschung der Pluralmorphologie wird auch bei niederländischen BrocaAphasikern berichtet. Kolk, van Grunsven & Keyser (1985) und Kolk, Heling & Keyser (1990) fanden bei drei Patienten mit Agrammatismus in Untersuchungen zur Spontansprache, in Satzverständnistests und beim lauten Lesen nur einen Fall, in dem eine Pluralendung fehlte. Auch Haarmann & Kolk (1992) stellten mit einer Vervollständigungsaufgabe, in der acht niederländische Broca-Aphasiker neben anderen gebundenen und freien grammatischen Morphemen auch die Pluralendungen -ien, -en und -s ergänzen sollten, eine gute Beherrschung der Pluralmorphologie fest: Die mittlere Fehlerrate der acht getesteten Broca-Aphasiker lag bei jeweils 12 zu vervollständigenden Pluralformen lediglich bei 1,5. Unter den drei getesteten Flexionsbereichen (Verb-, Adjektiv- und Pluralflexion) war damit die Pluralmorphologie am besten erhalten. Ob sich eventuelle Unterschiede in der Beherrschung der unterschiedlichen getesteten Pluralallomorphe zeigten, geht aus der Untersuchung jedoch nicht hervor, da dieser Unterschied nicht thematisiert wurde und somit die Ergebnisse für die einzelnen Pluralallomorphe nicht gesondert aufgeführt waren. Auch bei polnischen und griechischen Broca-Aphasikern wurde über einen guten Erhalt der Pluralmorphologie berichtet. Kehayia, Jarema & Kadzielawa (1990) führten eine sprachvergleichende Untersuchung über Pluralmarkierungen an Artikeln, Nomen, Verben und Adjektiven bei jeweils zwei englischen, polnischen und griechischen Broca-Aphasikern durch. Dabei zeigten sich in einer Satzwiederholungsaufgabe, in der u.a. Sätze mit Substantiven in Singularund Pluralformen wiederholt werden sollten, sowohl für die polnischen als auch die griechischen Broca-Aphasiker nur geringe Fehlerraten: Sie betrugen 9,3% für die polnischen und 15,2% für die griechischen Aphasiker. Vergleichbare Fehlerhäufigkeiten wurden auch in einer Satz-Bild-Zuordnungsaufgabe erzielt. Hier lag die mittlere Fehlerrate für die polnischen Aphasiker bei 4,5%, die mittlere Fehlerrate der griechischen Aphasiker betrug 10,5%. Für die beiden ebenfalls untersuchten englischen Broca-Aphasiker zeigten sich jedoch deutlich schlechtere Ergebnisse als in den Untersuchungen von Goodglass & Berko sowie de Villiers. Sie ließen bei der Satzwiederholungsaufgabe im Mittel 37% der Pluralaffixe aus, bei der Satz-Bild-Zuordnungsaufgabe betrug der Prozentsatz der Auslassungen von Pluralflexiven im Mittel 41%. Auch in dieser Untersuchung werden jedoch keine Angaben darüber gemacht, ob verschiedene Formen der Pluralbildung getestet wurden (die angegebenen Beispiele für das Englische zeigen jedoch ausschließlich Nomina mit -i-Plural), so daß auch die angegebenen Ergebnisse keinen Rückschluß auf die Frage nach selektiven Beeinträchtigungen spezieller Formen der Pluralbildung erlauben. Zusammenfassung: Da in den genannten Studien entweder Unterschiede zwischen verschiedenen Flexionstypen nicht thematisiert oder explizit nur ein Flexionstyp getestet wurde, ist kein Rückschluß auf eine eventuell vorhandene unterschiedliche Beeinträchtigung bestimmter Flexionstypen möglich. Zudem nennen auch die Studien, die sich auf die Untersuchung des Default-Plurals im Englischen konzentrierten, widersprüchliche Ergebnisse. Die Ergebnisse der Studien von de
156 Villiers, Goodglass & Berko sowie Kehayia et al. variieren zwischen 10% und 37% korrekter Realisierungen des Pluralflexivs. Daher ist nicht ganz klar, inwieweit für das Englische von einer guten Beherrschung des Default-Plurals -s ausgegangen werden kann. Befunde zur Pluralflexion im Deutschen: Hinweise für eine selektive Beeinträchtigung des Default-Pluralflexivs -s lassen sich dagegen aus Studien zur Pluralflexion bei deutschsprachigen Broca-Aphasikern ziehen. Mugdan (1977) elizitierte in einer Studie, die sich mit einem Vergleich der Beherrschung des deutschen Pluralsystems bei Kindern, Zweitsprachlernern, Aphasikern und unbeeinträchtigten, erwachsenen Kontrollpersonen befaßte, auch Plurale bei sieben Aphasikern mit motorischer bzw. motorisch-amnestischer Aphasie.12 Neben zwei existierenden Wörtern (Axt und Floß), die beide den Plural mit -e bilden, testete er auch die Pluralflexion von 22 Kunstwörtern. Den Versuchsteilnehmern wurde dabei zunächst eine Zeichnung eines Gegenstandes vorgelegt und ein Kunstwort für die Bezeichnung dieses Gegenstandes eingeführt. Anschließend wurden sie durch die Vorlage einer Zeichnung mit mehreren identischen Gegenständen aufgefordert, eine Pluralform für die eingeführten Kunstwörter zu produzieren. Da Mugdan mit dieser Untersuchung Evidenz für seinen uniform regelbasierten Beschreibungsansatz der deutschen Pluralflexion erbringen wollte, testete er fast ausschließlich Kunstwörter, die sich auf existierende Nomina des Deutschen reimten. So reimt sich z.B. das als Neutrum eingeführte Kunstwort Kunder auf das existierende Neutrum Wunder und verweist damit auf die Generalisierung, nach der Maskulina und Neutra, die im Singular auf -er enden, den Plural mit -0 bilden. Daher erwartete Mugdan bei lediglich zwei der 22 Testwörter eine Pluralbildung mit -s. Interessant für die Frage nach selektiven Beeinträchtigungen unterschiedlicher Pluralmorpheme ist vor dem Hintergrund der These von Clahsen et al. (1992), Marcus et al. (1995) und Bartke (1996) insbesondere ein Vergleich der Ergebnisse für die beiden existierenden Wörter und für die beiden Kunstwörter, für die ein -s-Plural erwartet wurde. Die Pluralbildung für die beiden existierenden Wörter Axt und Floß sollte nach dem Dual-Mechanism-Ansatz der deutschen Pluralmorphologie über den Abruf der gespeicherten Pluralformen aus einem assoziativen Netz erfolgen. Die Affigierung des Default-Suffixes -s sollte dagegen die Anwendung eines regelbasierten Flexionsprozesses erfordern. Tatsächlich zeigt sich in Mugdans Ergebnissen für die beiden existierenden Wörter kein Unterschied zwischen den Kontrollpersonen und den sieben getesteten Broca-Aphasikern: Während die Kontrollpersonen fehlerlos antworteten, unterlief auch den sieben Aphasikern nur ein Fehler (= 93% der Antworten korrekt). Für die beiden Kunstwörter, für die ein -s-Plural erwartet wurde, zeigt sich jedoch ein klarer Unterschied zwischen Aphasikern und Kontrollpersonen: Während die Kontrollpersonen in 55% dieser Fälle wie erwartet den -s-Plural bildeten, antwortete nur einer der sieben Broca-Aphasiker mit
Die Begriffe 'motorische Aphasie' und 'motorisch-amnestische Aphasie' basieren auf der Aphasieklassifikation nach Leischner (1979), die heute aufgrund der gebräuchlicheren AAT-Klassifikation nur noch selten verwendet wird. Motorische und motorisch-amnestische Aphasie entsprechen im wesentlichen der Broca-Aphasie. Für eine genauere Beschreibung der Störungsbilder dieser zwei Aphasien verweise ich auf Leischner (1979).
157 einem -s-Plural (= 7% der Fälle). In 71% dieser Fälle reagierten die Aphasiker dagegen mit einem Nullplural. Evidenz für eine gute Beherrschung des -e und -(en) Plurals bei existierenden Wörtern (Maskulina und Neutra der starken und schwachen Deklination) stellte auch Höhle (1992) bei einer Studie fest, in der sie Nominalphrasen im Singular und Plural, jeweils im Nominativ und Dativ bei deutschsprachigen Broca-Aphasikern elizitierte. Aufgrund ihrer Ergebnisse schließt sie, daß bei den elf getesteten Broca-Aphasikern lediglich „relativ geringe Probleme mit der Wahl und der formalen Markierung des Numerus" auftraten (ebd.: 168). In jüngster Zeit haben sich Cholewa & de Bleser (1995) mit der Frage selektiver Beeinträchtigungen unterschiedlicher morphologischer Prozesse befaßt. In einer umfangreichen Studie, in der sie die Artikelflexion bei vorgegebenen einfachen Nomina, Nominakomposita, Pseudokomposita, derivierten Nomina und derivierten Kunstwörtern testeten, elizitierten sie bei vier deutschsprachigen Agrammatikern auch Plurale zu existierenden Wörtern des Deutschen. Dabei testeten sie sowohl 70 'unregelmäßige' als auch 20 'regelmäßige' Pluralflexive, wobei sie jedoch unter die Gruppe der 'regelmäßigen' Pluralflexive nicht nur das Flexiv -s, sondern alle die Pluralformen faßten, die „regelmäßig aus der phonologischen Form des Nomens vorhersagbar" sind (ebd.:272). Nähere Angaben, welche Pluralflexive in diese Gruppe fallen, fehlen jedoch. Zwei der vier getesteten Agrammatiker - die Aphasiker H.T. und K.L. zeigten dabei klare Leistungsunterschiede zwischen regelmäßiger und unregelmäßiger Pluralflexion. Während sie bei der regelmäßigen Pluralflexion nur 15% bzw. 40% der getesteten Wörter korrekt flektierten, lagen ihre Korrektheitswerte bei der unregelmäßigen Flexion bei 97% bzw. 86%. Diese hochsignifikanten Leistungsunterschiede werten die Autoren als Evidenz gegen einen einheitlichen flexivischen Wortbildungsmechanismus und für die Annahme, daß regelmäßige und unregelmäßige Flexionsprozesse unabhängig voneinander beeinträchtigt sein können. Bei einer weiteren Versuchsperson, der Agrammatikerin J.W., stellten Cholewa & de Bleser dagegen eine Tendenz zur besseren Beherrschung der regelmäßigen Pluralflexion fest. Während dort 95% der Antworten korrekt waren, lag der Prozentsatz bei der unregelmäßigen Pluralflexion bei dieser Vp lediglich bei 75,7%. Der Agrammatisms beruht bei dieser Aphasikerin jedoch nicht auf einer vaskulären Ursache, sondern ist durch eine degenerative progrediente Hirnerkrankung, also durch eine Demenz, verursacht. Das Kardinalsymptom der Demenz sind jedoch amnestische Sörungen (vgl. z.B. Whitehouse, Lerner, Hederá 1993), die in Form von Wortfindungsstörungen bei Aphasien vaskulärer Ätiologie zwar ebenfalls vorhanden sind, jedoch nicht im Vordergrund stehen. Unter der - auch von Cholewa & de Bleser geteilten - Annahme, daß 'unregelmäßige' Pluralformen im mentalen Lexikon gespeichert sind, erscheint die Beobachtung, daß die Beeinträchtigung bei dieser Aphasikerin besonders gespeicherte Formen betrifft, daher geradezu zwangsläufig. Ob daraus Aussagen über das generelle Störungsbild des Agrammatismus abgeleitet werden sollten, ist jedoch fraglich. Cholewa & de Bleser argumentieren auf der Basis solcher unterschiedlicher Muster in den Leistungen ihrer aphasischen Versuchspersonen für einen Einzelfallansatz in der kognitiven Neurolinguistik. Dagegen erscheint mir bei der Bewertung der Leistungen aphasischer Sprecher eher die Berücksichtigung der Ätiologie aphasischer Sprachstörungen von Bedeutung. Dies gilt besonders dann, wenn sie wie im Fall von J.W. klare Auswirkungen auf das Erscheinungsbild der Aphasie haben kann.
158 Zusammenfassung: Die aus Mugdans Daten ersichtlichen Beobachtungen, daß Aphasiker Kunstwörter deutlich seltener mit -s flektieren als unbeeinträchtigte Kontrollpersonen, jedoch gute Leistungen bei der Pluralbildung existierender Wörter mit -e und -(e)n erzielen, und die Ergebnisse der Studie von Cholewa & de Bleser, nach der zwei von vier agrammatischen Aphasikern eine signifikant schlechtere Leistung bei der 'regelmäßigen' Pluralbildung zeigten - unter die auch die Pluralflexion mit -s fiel -, können Anhaltspunkte für eine selektive Beeinträchtigung des DefaultPluralflexivs -s liefern. Jedoch testete Mugdan die -s-Flexion lediglich bei Kunstwörtern und nicht bei existierenden Wörtern des Deutschen. Daher kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Tendenz der Aphasiker, statt des -s- einen Nullplural zu bilden, durch die Aufgabenstellung hervorgerufen wurde, denn Berichte über spezielle Probleme aphasischer Versuchspersonen mit Kunstwortaufgaben sind in der Literatur bekannt (vgl. z.B. Goodglass & Berko 1960). Zudem werteten Cholewa & de Bleser nicht nur -s als reguläre Pluralendung, sondern faßten mehrere Flexive in der Gruppe der 'regelmäßigen' Pluralformen zusammen. Ob sich in ihrer Untersuchung spezifische Probleme mit der -s-Flexion ergaben, ist aus ihren Daten daher nicht zu ersehen. Es ist jedoch unklar, ob das Pluralallomorph -s denselben Status wie andere, aufgrund von Genus oder morphologischer Umgebung vorhersagbare Pluralallomorphe hat. Während das Auftreten letzterer an bestimmte morphophonologische Umgebungen gebunden ist, ist -s in seinem Auftreten frei: Es kann an Nomina jeden Genus affigiert werden, an Nomina, die Betonungsmustern des Deutschen folgen oder nicht, an ein- oder mehrsilbige Wörter, an Wörter, die auf Konsonant oder Vokal auslauten (siehe Marcus et al. 1995). Diese spezielle Eigenschaft des -j-Plurals läßt es nicht plausibel erscheinen, für andere, aufgrund morphophonologischer Umgebungen vorhersagbare Pluralformen einen vergleichbaren Default-Status anzunehmen. Um die Hypothese einer selektiven Beeinträchtigung des -i-Plurals bei agrammatischen Aphasikern direkt zu testen, wurden daher sowohl Spontansprachdaten ausgewertet als auch experimentell Pluraldaten elizitiert. Eine selektive Beeinträchtigung des -s-Plurals bei gutem Erhalt der anderen Pluralformen des Deutschen würde dabei Evidenz für das Vorliegen qualitativ unterschiedlicher Prozesse im Bereich der Pluralbildung liefern.
2.3. Auswertung der Daten 2.3.1. Spontansprachdaten Tabelle 1 gibt einen Überblick über die in den Spontansprachdaten enthaltenen Pluralformen. Für jedes der fünf Pluralflexive ist in der Tabelle die Anzahl der in den Daten enthaltenen Wort-Types, die diese Flexive erfordern, aufgeführt ('Types gesamt'). Da der Plural von Komposita allein vom Kopf des Kompositums bestimmt wird, wurden für die Berücksichtigung als Type lediglich die Köpfe der Komposita gewertet: So wurden z.B. die Pluralformen Zahnschmerzen und Kopfschmerzen als ein Type (Schmerzen) gezählt. Weiter ist für jedes Pluralallomorph in der Tabelle die Gesamtzahl der Fälle angegeben, die das jeweilige Flexiv erfordert
159 hätten ('Token'), und die Anzahl der Fälle aufgeführt, in denen das geforderte Flexiv nicht benutzt wurde ('Fehler'): So weisen z.B. die Spontansprachdaten von Herrn L. 13 verschiedene Pluralsimplextypes für das Pluralallomorph -(e)n auf. Insgesamt enthalten die Daten von Herrn L. 22 Verwendungen von Plural Wörtern, die den Plural mit -(e)n bilden sollten. Von diesen 22 Kontexten für das Pluralflexiv -(e)n wurden jedoch vier nicht korrekt realisiert, d.h. der Plural wurde nicht wie erforderlich mit -(e)n gebildet. -0-Plural
-e-Plural
-er- Plural
-(e>i-Plural
-í-Plural
Types Fehler Types Fehler Types Fehler Types Fehler Types Fehler gesamt Token gesamt Token gesamt Token gesamt Token gesamt Token Hr. L
5
0/15
6
1/24
3
0/5
13
4/22
-
Hr. E
7
0/13
12
0/14
5
0/13
26
0/62
2
Fr. Β
2
0/2
3
1/3
1
0/3
7
2/8
-
-
Hr.M
1
0/2
3
1/3
1
0/1
2
0/3
-
-
Fr. O
1
0/1
3
0/6
2
0/5
9
1/13
-
-
ges.
16
0/33 0%
27
3/50 6%
12
0/27 0%
57
7/108 6,5%
2
-
1/9
1/9 11%
Tab. 1 : Pluralflexion Insgesamt zeigten sich bei keinem der fünf Agrammatiker größere Probleme mit der Pluralflexion. Die Korrektheitswerte für die einzelnen Agrammatiker schwanken insgesamt zwischen 99% für Herrn E. und 81% für Frau B.. Sie liegen damit deutlich über den Korrektheitswerten, die bei zufalliger Auswahl eines der fünf möglichen Pluralallomophe zu erwarten gewesen wären (= 20%), und sprechen daher generell für einen Erhalt der Pluralflexion. Für eine insgesamt gute Beherrschung der Pluralmorphologie des Deutschen spricht auch, daß die verschiedenen Pluralallomorphe -e, -(e)n, -er und -0 in den Daten jedes Agrammatikers belegt sind. Insgesamt traten keine Fehler in Kontexten für die Pluralallomorphe -er und -0 und lediglich zehn Fehler in Kontexten für -e und -(e)n auf, für die eine größere Zahl obligatorischer Kontexte vorlag. In neun dieser fehlerhaften Realisierungen griffen die Agrammatiker dabei auf die Singularform des Nomens zurück und realisierten damit fehlerhaft einen Nullplural (siehe Bsp. (1 la-i)). 13 Nur in einem Fall wurde für die Pluralbildung ein anderes Pluralallomorph (-e) verwendet (Bsp. (llj)).
Die hohe Anzahl korrekter Realisierungen von Pluralformen in obligatorischen Kontexten spricht klar dagegen, daß eine Störung des Konzepts Plural im A g r a m m a t i s m s vorliegen könnte. Daher kann es sich bei den in Pluralkontexten realisierten Singularformen nicht um Formen handeln, die für das Merkmal Singular spezifiziert sind (siehe auch S.169-170).
160 (lia) (b) (c) (d) (e) (f) (g) (h) (i) (j)
und die Kinder wollen Keks und Bekannten nich mehr Hemmung aber im Betrieb Hemmungen ist in Gedanke wo gewesen und während das Kind immer Blume pflücken hat die zwei Kinder wollen die Keks nehmen alles große Maschine hier aber drei Monat erste Buchstabe [= die ersten Buchstaben] die Kralle [/] haut die in das Bein zwei Wohnheite [= Wohneinheiten]
(Hr. M.) (Fr. O.) (Fr. B.) (Fr. B.) (Fr. B.) (Hr. L.) (Hr. L.) (Hr. L.) (Hr. L.) (Hr. L.)
Insgesamt spricht die geringe Anzahl von Fehlern klar gegen eine Beeinträchtigung dieser vier Pluralallomorphe bei deutschsprachigen Agrammatikern. Im Gegensatz zu den Pluralallomorphen -e, -(e)n, -er und -0, die in den Daten aller Agrammatiker belegt waren, traten Kontexte für den -s-Plural nur bei Herrn E. auf. Auch seine Spontansprachdaten enthalten lediglich zwei Types (Autos und Hobbies) in insgesamt neun Kontexten (8 χ Autos, 1 χ Hobbies). In acht der Kontexte wurde der -i-Plural korrekt realisiert (siebenmal für Auto, einmal für Hobby). Beim ersten Gebrauch des Wortes Autos in den Spontansprachdaten traten jedoch Probleme auf (siehe Bsp. (12)). (12)
ich wollte immer schon mal mich Auto ts [#] an Auts an[#]auseinandersetzen.
Zudem war Herr E. von Beruf Automechaniker, und die Pluralform Autos war daher mit Sicherheit eine von ihm sehr häufig verwendete Form. Für sehr frequente reguläre Formen wird jedoch diskutiert, ob sie durch die Anwendung eines Regelprozesses generiert oder als Vollform im Lexikon gespeichert sind. So haben z.B. Stemberger & MacWhinney (1986), basierend auf Versprecher- und elizitierten Daten zur past tense Morphologie des Englischen, für hochfrequente reguläre Formen neben dem unflektierten Basiseintrag auch einen Eintrag für flektierte Vollformen im mentalen Lexikon vorgeschlagen. Die in den Spontansprachdaten später korrekte Verwendung des Wortes Autos muß daher nicht notwending auf einen Erhalt der Default-Pluralregel hinweisen, sondern kann auch durch den Abruf einer gespeicherten Form erfolgt sein. Daher können weder aus den Spontansprachdaten von Herrn E. noch aus dem Fehlen der Kontexte für -s-Plurale bei den anderen vier Agrammatikern klare Erkenntnisse über den -s-Plural abgeleitet werden. Man könnte jedoch vermuten, daß das völlige Fehlen von Kontexten für den -i-Plural in den Spontansprachdaten der Agrammatiker Fr. O., Fr. B., Hr. M. und Hr. L. einen Hinweis auf eine selektive Beeinträchtigung des Pluralflexivs -s darstellen könnte. Ähnliche Zusammenhänge zwischen dem Fehlen von Kontexten für eine grammatische Konstruktion und zugrundeliegenden Problemen mit dieser Konstruktion sind in der Aphasieliteratur nicht unbekannt. So weist de Villiers (1978) in ihrer Untersuchung darauf hin, daß sich im Agrammatismus die
161 Beeinträchtigung grammatischer Morpheme durch eine erhebliche Reduzierung der Kontexte zum Gebrauch dieser Morpheme ausdrückt. Sie konstatiert: „It is mysterious that nonfluent aphasies not only fail to supply some morphemes but also apparently have less occasion to try." (De Villiers 1978:135) Eine ähnliche Beobachtung macht auch Heeschen (1985). Er verglich bei 14 deutschsprachigen Agrammatikern die Häufigkeit von Auslassungen bzw. fehlerhaften Realisierungen von Kasusmarkierungen in der Spontansprache mit denen in einer Elizitationsaufgabe. Dabei zeigte sich für die Elizitationsaufgabe neben einem Anstieg der Realisierungen von Kasusmarkierungen in obligatorischen Kontexten auch ein Anstieg der Fehlerrate von 0% in der Spontansprache auf 23% in der Elizitationsaufgabe. Heeschen schließt: „It is as if the agrammatics have an enormously specific and precise instinct about what they should have better omitted if they could have spoken freely and spontaneously." (Heeschen 1985:245) Nicht zuletzt auf der Basis dieser Daten entwickelte Heeschen - in Anlehnung an Isserlin (1922) - seine Adaptationstheorie, nach der Agrammatiker auf ihre grammatischen Defizite durch Vermeidung potentiell problematischer Strukturen reagieren (Heeschen 1985:234). Falls sich Schwierigkeiten mit bestimmten grammatischen Konstruktionen tatsächlich auch in einer Reduktion der obligatorischen Kontexte für diese Konstruktionen manifestieren, dann sollten diese Schwierigkeiten dann offen zutage treten, wenn experimentell obligatorische Kontexte für diese Konstruktionen geschaffen werden. Daher wurden in einem Elizitationsexperiment gezielt Pluralformen elizitiert, um Aufschlüsse über das Pluralflexiv -s zu bekommen und die Ergebnisse der Spontansprachanalyse zu überprüfen.
2.3.2. Elizitierte Daten Methode und Material: Pluralformen wurden mittels einer Benennungsaufgabe elizitiert, in der obligatorische Kontexte für die Produktion von Pluralformen geschaffen wurden. Den Versuchspersonen wurde dabei eine Fotografie vorgelegt, die mehrere Gegenstände der gleichen Art zeigte, z.B. drei Uhren. Die Versuchsteilnehmer wurden dann aufgefordert, diese Gegenstände zu benennen: „Was sind das für Gegenstände ? Das sind X (Zahlwort) ? ". Die Vorgabe der Kopula sind und des Zahlwortes sollte dabei einen obligatorischen Kontext für die Produktion einer Pluralform schaffen. Um zudem sicherzustellen, daß die produzierte Form tatsächlich als Pluralform intendiert war - was insbesondere für die Interpretation von Nullformen wichtig ist -, wurden die Versuchsteilnehmer aufgefordert, mit der Kombination von Zahlwort und Pluralnomen zu antworten. So kann z.B. die Reaktion Auto auf ein Bild mit drei Autos nicht eindeutig als Pluralform identifiziert werden; bei der Reaktion drei Auto kann dagegen davon ausgegangen werden, daß Auto als Pluralform zu interpretieren ist.
162 Insgesamt wurden pro Versuchsteilnehmer für die Pluralflexive -e, -(e)n, -er und -i jeweils vier Items getestet. Auf die Elizitation von Nullformpluralen wurde verzichtet. Zusätzlich dazu wurde die Pluralflexion von vier Kunstwörtern getestet, um einen Kontext für die produktive Bildung neuer Pluralformen zu schaffen. Dafür wurden den Versuchsteilnehmern gezeichnete Bilder von fiktiven Gegenständen gezeigt und der Gegenstand mit der Vorgabe des unbestimmten Artikels ein benannt (z.B. „Das ist ein Klot."). Die vier getesteten Kunstwörter stammen aus einem Beurteilungsexperiment von Marcus et al. (1995) und wurden zum Teil leicht verändert in die hier durchgeführte Elizitation übernommen. Alle vier Kunstwörter waren mögliche Wörter des Deutschen. Zwei der vorgegebenen Kunstwörter reimten sich dabei mit existierenden Nomina des Deutschen (Pleik und Klot). Die anderen zwei Kunstwörter reimten sich nicht (Farg und Spond) (vgl. Marcus et al. 1995 für die Konstruktion der Kunstwörter). Um den aphasischen Versuchsteilnehmern die Aufgabe, sich den eingeführten Begriff zu merken, zu erleichtern, war der jeweilige Begriff mit auf die Bildkarte gedruckt. Die komplette Liste der Versuchsitems findet sich im Anhang (S.261). Ergebnis: Tabelle 2 stellt die Ergebnisse der Pluralelizitationsaufgabe dar. Die Testitems sind dabei in der ersten Zeile der Tabelle in drei Gruppen zusammengefaßt: Die erste Gruppe umfaßt die Nomina, die ihren Plural mit -s bilden. In der zweiten Gruppe sind die Versuchsitems zusammengefaßt, die ihren Plural mit den Flexiven -e, -(e)n oder -er bilden. Die Kunstwörter bilden die dritte Gruppe. Die Darstellung in der Tabelle unterscheidet für diese drei Gruppen drei Reaktionen der Versuchsteilnehmer, die in absoluten Zahlen angegeben sind: die Pluralbildung mit -s, die Pluralbildung mit den Flexiven -e, -