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German Pages 522 [524] Year 2013
Die Grafschaft Glatz in einem Gebirgskessel der Sudeten war Lebensraum für einst 180.000 zumeist katholische Deutsche. Der Raum, die Grenzlage zwischen Schlesien und Böhmen, die gemeinsame Konfession und eine lange Geschichte führten zu einer besonderen Identität ihrer Bewohner, die nach dem Zweiten Weltkrieg über das restliche Deutschland verstreut wurden. Der vorliegende Band befasst sich mit dem letzten Abschnitt der deutschen
Ansätzen erforscht ist. Die Beiträge aus Kirche, Geografie, Wirtschaft und Politik reichen somit von der Weimarer Zeit über die Hitler-Diktatur bis zur Vertreibung. Sie sind wissenschaftlich fundiert, jedoch in einigen Fällen, verfasst von Zeitzeugen, auch erzählenden Charakters. Wie Mosaiksteinchen fügen sie sich zu einem Bild, das nicht vollständig ist, aber doch die Periode mit ihren Turbulenzen wie in einem Kaleidoskop spiegelt. Die thematische Vielfalt wird das Interesse der Leser wecken. Herausgeber und Autoren widmen Großdechant Prälat Franz Jung das Buch in Dankbarkeit als Festschrift zu seinem 75. Geburtstag. In jahrelangem, unermüdlichem Einsatz und mit Charisma hat er sehr zum Zusammenhalt der
Meißner | Hirschfeld (Hrsg.)
Grafschafter Katholiken und zur Bewahrung ihrer Kultur beigetragen.
Die Grafschaft Glatz
Deutschland zu grundlegenden Veränderungen führte, hier aber erst in
zwischen 1918 und 1946
Geschichte des Glatzer Landes, der Zeit von 1918 bis 1946, die überall in
ISBN 978-3-402-12896-1
ISBN
Die Grafschaft Glatz zwischen 1918 und 1946
Beiträge über eine schlesische Kulturlandschaft Herausgegeben von Horst-Alfons Meißner und Michael Hirschfeld
Die Grafschaft Glatz zwischen 1918 und 1946 Festschrift für Franz Jung zum 75. Geburtstag
Großdechant Prälat Franz Jung
Die Grafschaft Glatz zwischen 1918 und 1946 Beiträge über eine schlesische Kulturlandschaft
Festschrift für Franz Jung zum 75. Geburtstag Apostolischer Protonotar, Großdechant und Visitator für die Priester und Gläubigen aus der Grafschaft Glatz 1983 – 2011 Herausgegeben von Horst-Alfons Meißner und Michael Hirschfeld im Auftrag des Kirchenhistorischen Arbeitskreises der Grafschaft Glatz
Zweite, verbesserte Auflage
© 2013 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Gesamtherstellung: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG, Druckhaus Münster Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ∞ ISBN 978-3-402-12896-1
Inhaltsverzeichnis Horst-Alfons Meißner /Michael Hirschfeld Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Dieter Pohl Laudatio auf Großdechant Prälat Franz Jung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Hans Veit (†) Lebenslauf in ein zerklüftetes Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Dieter Pohl Die katholische Kirche der Grafschaft Glatz in den Jahren 1918 bis 1946 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Michael Hirschfeld Die Ernennung der Glatzer Generalvikare in der Weimarer Republik und in der NS-Zeit. Ein Beitrag zum Verhältnis von Staat und katholischer Kirche in der Grafschaft Glatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Michael Hirschfeld Die Auseinandersetzungen um eine Anpassung der Diözesangrenze in der Grafschaft Glatz an die Staatsgrenze zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Horst-Alfons Meißner Die wirtschaftliche Situation in der Grafschaft Glatz um 1933. . . . . . . . . . . . . . . 77 Georg Jäschke Das Aufkommen des Nationalsozialismus in der Grafschaft Glatz . . . . . . . . . . . 105 Horst-Alfons Meißner Die Landräte der Grafschaft Glatz während der NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Horst-Alfons Meißner Schweres Grubenunglück in Hausdorf bei Neurode am 9. Juli 1930 . . . . . . . . . . 167 Horst-Alfons Meißner Der Kampf um die Wenceslaus-Grube in Ludwigsdorf-Mölke, Kreis Glatz, 1931 bis 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Heinz Blaser 1930 bis 1946. Eine Kindheit zwischen Kreuz und Hakenkreuz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
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inhalt
Karlheinz Mose Hitlerjunge und Ministrant: Als wir auf „Vordermann“ gebracht wurden. Glatzer Erinnerungen 1937 bis 1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Horst-Alfons Meißner Dr. Adrian Gaertner – Unternehmer, Bergbaupionier und Gegner des NS-Regimes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Horst-Alfons Meißner Polykarp Niestroj - Ein wegweisender Sozialarbeiter aus der Grafschaft Glatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Manfred Spata Ortsnamensänderungen der Jahre 1921 bis 1939 in der Grafschaft Glatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Manfred Spata Das Hochwasser im Glatzer Bergland 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Horst-Alfons Meißner Bemühungen um die Wiederherstellung des Kreises Neurode 1938/1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Horst-Alfons Meißner Unternehmen „Riese“ 1943–1945. Bau eines neuen Führerhauptquartiers im schlesischen Eulengebirge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Georg Jäschke Die NS-Zeit in der Grafschaft Glatz im Spiegel der Ortschroniken 1933 bis 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
Juden während der NS-Zeit in der Grafschaft Glatz
Gerald Doppmeier 1. Die Juden in den Bädern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Reinhard Schindler 2. Die Reichpogromnacht am 9/10. November 1938 in Glatz. . . . . . . . . . . . . . . . 322 Gerald Doppmeier 3.Auswanderung und Deportation der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Reinhard Schindler 4. Begegnung mit jüdischen Bürgern aus Glatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
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inhalt
Horst-Alfons Meißner 5. Der Fall Felix Rose. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
Priester der Grafschaft Glatz während der NS-Zeit
Michael Hirschfeld Grafschaft Glatzer Priester im Konflikt mit dem NS-Regime. . . . . . . . . . . . . . . . 355 Horst-Alfons Meißner Feldpost Glatzer Theologen 1941 bis 1945. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Michael Hirschfeld Gerhard Hirschfelder im Konflikt mit dem NS-Regime. Lebensstationen, Leidensstationen und Verehrungsstationen eines neuen Seligen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
Brückenschläge in die Gegenwart
Günter Gröger 1. Die Feier der Seligsprechung von Gerhard Hirschfelder in Münster/Westfalen am 19. September 2010. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Günter Gröger 2. Dankgottesdienst in Bad Kudowa mit Gläubigen dreier Nationen . . . . . . . . . . 417 Otto Menzel Das Kriegsende in der Grafschaft Glatz und die Vertreibung ihrer Bewohner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Hans Veit (†) Slawische Brüder streiten um das Glatzer Land. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Franz Monse (†) Erster Hirtenbrief des Großdechanten und erzbischöflichen Generalvikars der Grafschaft Glatz vom 1. Mai 1946 an die vertriebenen Grafschafter Katholiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Verzeichnis der Archive, Zeitungen, Zeitschriften, Statistiken, Dokumentationen, Literatur und Karten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Das Buch im Spiegel der Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523
Einführung
G
roßdechant Prälat Franz Jung vollendete am 3. Dezember 2011 sein 75. Lebens-
jahr und ist laut Beschluss der Deutschen Bischofskonferenz vom 4. Oktober 2011 damit aus seiner Aufgabe als Visitator für die Priester und Gläubigen aus der Grafschaft Glatz ausgeschieden. Er hat sie annähernd drei Jahrzehnte lang mit nimmermüdem Einsatz, besonderem Charisma und großem Echo wahrgenommen, und so ist diese Zäsur der Anlass, Franz Jung eine Festschrift zu widmen, die ihm anlässlich seiner offiziellen Verabschiedung am 17. März 2012 überreicht wird. Zentraler Bestandteil solcher Festschriften ist eine Laudatio auf den zu Ehrenden, die hier aus der Feder von Dieter Pohl stammt und am Beginn des Bandes zu finden ist. Anders als häufig bei Festgaben dieser Art, deren Beiträge ihren roten Faden meist in einem mehr oder weniger engen Bezug zur Person des zu Ehrenden haben, ordnen sich alle Aufsätze dieses Sammelbandes einem fest umrissenen Thema unter: der Grafschaft Glatz in der Zeit von 1918 bis 1946, im Wesentlichen also der Zwischenkriegszeit. Das führt zur Frage nach dem Grund, hätte es doch nahe gelegen, die Nachkriegszeit zu thematisieren, zumal auf diese Weise leicht Bezüge zum Wirken des Großdechanten Franz Jung herzustellen gewesen wären. Die Entscheidung für die Jahre 1918 bis 1946 fiel im Wissen darum, dass dieser Zeitraum, der im westlichen Nachkriegsdeutschland vielfältig untersucht worden ist, in der ehemaligen Grafschaft Glatz bisher noch keine intensive Erforschung gefunden hat, obgleich es sich bei den Epochen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus um eine Art Schlüsselzeit für das Gros der Vertriebenen handelt. Die mit dem Talent des Geschichtserzählers zu Beginn von Hans Veit ausgebreitete Lebensgeschichte seines Onkels, die bis in die ersten Jahre der Bundesrepublik reicht, ist ein sprechender Beleg dafür. Der vorliegende Band erhebt nicht den Anspruch, die Zwischenkriegszeit vollständig aufzuarbeiten, wohl aber soll hier eine Reihe von zentralen Aspekten dieser Periode der Grafschafter Geschichte in Kirche, Politik, Geographie und Wirtschaft dargestellt werden, und bei aller Gründlichkeit der Recherche und wissenschaftlichen Absicherung der Ergebnisse war es die Intention von Herausgebern und Autoren, für ein breites interessiertes Publikum zu schreiben, eine reine Fachsprache also möglichst zu vermeiden. Damit werden sie auch der Absicht des Jubilars und scheidenden Visitators Franz Jung gerecht, die Traditionslinien der Grafschafter Geschichte, Kultur und Kirche durch gut verständliche Darstellungen einer großen Öffentlichkeit transparent zu machen. In diesem Sinne hat er im Jahre 2002 historisch Interessierte und Versierte zu einer lockeren Gruppe zusammengeführt, aus der sich später der „Kirchenhistorische Arbeitskreis der Grafschaft Glatz“ bildete. Nach einer erfolgreichen Buchpublikation über die Grundlinien der Grafschafter Kirchengeschichte, die 2005 unter dem Titel „Auf dem Weg durch die Jahrhunderte“ erschien und 2006 die zweite Auflage erreichte, haben die Mitglieder dieses Arbeitskreises mit Hilfe einiger weiterer Autoren den vorliegenden Band konzipiert.
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Auch wenn die hier aufgearbeiteten Felder weit über den rein kirchengeschichtlichen Bereich hinausgehen, liegt ein inhaltlicher Schwerpunkt doch in den kirchlichen Ereignissen in der Grafschaft Glatz zwischen 1918 und 1946. Anhand von Aufzeichnungen aus der Chronik der Stadtpfarrei Glatz, die Dieter Pohl mit Akribie bearbeitet und veröffentlicht hat, zeichnet dieser selbst ein authentisches Bild von der Situation der katholischen Kirche in dieser Region. Ein wichtiges kirchengeschichtliches Ereignis im Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen stellt die Erhebung der Großdechanten zu Generalvikaren seit 1920 dar, Grund genug für Michael Hirschfeld, den Kontakten nachzuspüren, die dazu – im Vorfeld – zwischen Staat und Kirche notwendig waren. In das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Mächten fällt auch die Frage der Anpassung der Bistumsgrenze – die Grafschaft war noch Teil des Erzbistums Prag – an die Staatsgrenze, die nach dem Ersten Weltkrieg durch Gründung der Tschechoslowakei stärker als vorher ins Bewusstsein rückte. Eine kirchliche Trennung von Prag wurde damals in der Grafschaft viel diskutiert, und diesem Problem widmet sich ebenfalls Michael Hirschfeld. Eine wesentliche Frage, die immer wieder die Beiträge dieses Buches durchzieht, ist die nach den Gründen für den Aufstieg des Nationalsozialismus in der Grafschaft Glatz. Um seine Erfolge zu verstehen, muss man zunächst die wirtschaftliche Situation in der in ihrem nordwestlichen Teil von der Bergbaukrise geprägten Region zur Kenntnis nehmen, wie sie Horst-Alfons Meißner präsentiert. Zwei weitere Aufsätze von ihm behandeln das schwere Grubenunglück in Hausdorf bei Neurode 1930 und den anschließenden Kampf der Bergleute um „ihre“ Wenceslaus-Grube in Ludwigsdorf-Mölke. Das Aufkommen des Nationalsozialismus in den Städten und Gemeinden des bis dahin meist von der katholischen Zentrumspartei geprägten Glatzer Landes untersucht Georg Jäschke detailliert auf der Basis der einschlägigen Statistiken und Quellen. Horst-Alfons Meißner widmet sich sodann den Landräten der beiden Grafschafter Kreise Glatz und Habelschwerdt während der NS-Zeit und stellt dabei auch die Frage, ob es sich dabei um überzeugte Nationalsozialisten oder um bloße Konjunkturritter gehandelt habe. Während die bisher erwähnten Aufsätze im Wesentlichen aus den Quellen heraus erarbeitet worden sind, ergänzen zwei Berichte von Zeitzeugen das Bild. Heinz Blaser und Karlheinz Mose stellen in authentischen Rückblicken auf ihre Jugend in der Grafschaft Glatz schlaglichtartig den Zwiespalt zwischen religiöser Prägung und Überzeugung auf der einen und der Pflicht zum Mitmachen in den NS-Organisationen auf der anderen Seite in das Zentrum ihrer Erinnerungen. Im Folgenden porträtiert Horst-Alfons Meißner mit Adrian Gaertner und Polykarp Niestroj – Bergwerks-Unternehmer der eine, Sozialarbeiter der andere – zwei sehr unterschiedliche Einzelpersönlichkeiten aus dem Untersuchungszeitraum. Mit den Ortsnamensänderungen der Zwischenkriegszeit, die vornehmlich in der NS-Zeit erfolgten, um slawisch klingende Ortsnamen aus dem Gedächtnis zu löschen, beschäftigt sich Manfred Spata ebenso wie mit dem verheerenden Hochwasser, welches die Grafschaft Glatz im Jahre 1938 heimsuchte. Auf die administrative Ebene zurück begibt sich anschließend Horst-Alfons Meißner, wenn er zum einen die Bemühungen um eine Wiederherstellung des Kreises
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Neurode, zum anderen die Errichtung eines Führerhauptquartiers im teilweise zur Grafschaft Glatz gehörenden Eulengebirge in den Blick nimmt. Die Frage, welchen Niederschlag der Aufstieg der NSDAP und die das Schicksal der Grafschaft entscheidende NS-Zeit in den zahlreichen Ortschroniken der Grafschaft gefunden hat, die nach dem Krieg geschrieben wurden, nimmt wiederum Georg Jäschke unter die Lupe. In einer Veröffentlichung, welche die Zeit des Nationalsozialismus akzentuiert, dürfen schließlich Einblicke in das jüdische Leben vor dem Holocaust nicht fehlen. So ruft Gerald Doppmeier die Bedeutung jüdischer Einrichtungen für die Kurgäste in den Bädern der Grafschaft Glatz in Erinnerung, während Horst-Alfons Meißner den Fall eines unscheinbaren Glatzer Bürgers jüdischer Herkunft aufrollt, der Niederschlag in den Akten gefunden hat. Einer kurzen Schilderung der Reichspogromnacht 1938 in Glatz durch Reinhard Schindler schließt Gerald Doppmeier eine detaillierte Aufstellung ausgewanderter bzw. deportierter jüdischer Mitbürger an. Den Charakter einer Auflistung trägt auch Michael Hirschfelds Beitrag über alle Grafschafter Priester, die in Konflikt mit dem NS-Regime geraten sind, wobei aus Platzgründen nur einige Fälle beispielhaft näher erläutert werden. Einen zuweilen intimen Einblick in die Befindlichkeiten des jungen Klerus gewähren die Feldpostbriefe junger Glatzer Theologen aus dem Zweiten Weltkrieg an den Großdechanten, die Horst-Alfons Meißner aufgearbeitet hat. Eine besondere Aufmerksamkeit wird dem 2010 seliggesprochenen Grafschaft Glatzer Priester Gerhard Hirschfelder gewidmet, dessen Lebens-, Leidens- und Verehrungsstationen Michael Hirschfeld aufzeigt und damit einen Bogen über die Weimarer Republik und NS-Zeit bis in die Gegenwart schlägt. Gleichsam als Exkurs setzen die Berichte über die Feierlichkeiten anlässlich der Seligsprechung aus der Feder von Günter Gröger diesen aktuellen Bezug fort. Nicht vernachlässigt werden darf das Ende des Untersuchungszeitraums, das durch die Vertreibung 1946 markiert wird. Otto Menzel leistet unter Auswertung von Erlebnisberichten und der Literatur einen Überblick über diese tragischen Geschehnisse, während Hans Veit die Unterschiede und Parallelen im Kampf um die politische Zuordnung der Grafschaft am Ende des Ersten und am Ende des Zweiten Weltkriegs thematisiert und damit die Klammer zwischen Anfangs- und Endzäsur setzt. Ganz zum Schluss kommt dann Großdechant Prälat Dr. Franz Monse mit seinem ersten Hirtenbrief nach der Vertreibung zu Wort. Nicht Rache und Vergeltung, sondern der Trost und die Ermunterung aus dem versöhnenden Geist des Christentums stehen hier im Zentrum und sollen den Neubeginn bestimmen. Alles in allem wird, wie diese knappe Übersicht über die Themenpalette zeigt, nicht nur ein buntes Kaleidoskop an Einblicken, sondern damit zugleich auch eine Vielzahl an unterschiedlichen Zugängen zur Geschichte der Grafschaft Glatz zwischen den beiden Zäsuren 1918 und 1946 geboten. Kirchen- und sozialgeschichtliche Herangehensweisen stehen dabei neben wirtschafts- und geographiegeschichtlichen Akzenten, Beleuchtungen eines Mikrokosmos neben breiter gefassten Überblicken. Hinzu kommen die – auch über die Zeitzeugenberichte hinaus – sehr unterschiedlichen Stile der insgesamt 12 verschiedenen Autoren, die eine Bandbreite von der eher nüchternen, quellengesättigten Darstellung bis hin zur farbenfroh ausgeschmückten
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Geschichtserzählung liefern. Wiederholungen bzw. Doppelungen ließen sich dabei nicht immer vermeiden. Allerdings war es auch nicht das Ziel, eine Geschichte der Grafschaft Glatz zwischen den Weltkriegen aus einem Guss zu liefern. Vielmehr liegt in dem hier gewählten Ansatz die Chance, die Besonderheiten der Grafschaft Glatz in vielen Beiträgen immer wieder neu und in jeweils anderen Facetten zur Sprache zu bringen: Sie verdichten sich zu dem Bild einer schlesischen Kulturregion, die stark katholisch geprägt, aber keineswegs eine heile Welt war. Stattdessen bestimmten wirtschaftliche Probleme und die politische Randlage das Geschehen, und sie beeinflussten auch massiv das Verhältnis zum Nationalsozialismus. Insofern war es auch nicht das Ziel dieses Bandes, ein verklärtes Bild einer deutschen Kulturlandschaft in Schlesien zu liefern, die in siebenhundert Jahren gewachsen und mit der Vertreibung 1946 untergegangen ist. Es ist also kein Heimatbuch im üblichen Sinne entstanden, sondern ein Buch über eine verlorene Heimat, dessen Beiträge sachlich und zumeist quellenorientiert Einblicke in einen kleinen Lebensraum ermöglichen. Angesichts der starken Vermischung von Nachfahren der einheimischen und der ostvertriebenen Bevölkerung, die mittlerweile bei einer Vielzahl von Deutschen zu einem Vertreibungshintergrund in der eigenen Familie führte, sollen die hier publizierten Beiträge künftigen Generationen eine Hilfe bei der Suche nach den Wurzeln geben. Darüber hinaus wäre es der schönste Dank für die Autoren und nicht zuletzt für den mit diesem Buch zu ehrenden Großdechanten Prälat Franz Jung, wenn die hier zusammengetragenen Ergebnisse den Nachlebenden Anstoß dazu böten, selber vertiefende Forschungen zur Geschichte der Grafschaft Glatz zu unternehmen. Osnabrück und Vechta, im März 2012 Horst-Alfons Meißner und Michael Hirschfeld
Laudatio auf Großdechant Prälat Franz Jung
A
ls am 19. September 2010 im Hohen Dom zu Münster unter Leitung des Kölner Erzbischofs Joachim Kardinal Meisner unter Beteiligung höchster kirchlicher Würdenträger aus Deutschland, Polen und Tschechien und der Teilnahme von mehr als 4 000 Gläubigen der Glatzer Kaplan Gerhard Hirschfelder seliggesprochen wurde, war das nicht nur ein Jahrhundertereignis für die Domstadt. Es war vor allem die Krönung des geistlichen Wirkens von Großdechant Prälat Franz Jung, dem Visitator für die Priester und Gläubigen aus der Grafschaft Glatz in Schlesien; hatte er doch 1997 den Kanonisierungsprozess für den 1942 im Konzentrationslager Dachau umgekommenen Märtyrer des NS-Regimes initiiert. Das Verfahren war am 19. September 1998 im St.-Paulus-Dom zu Münster eröffnet worden. Dieser von Deutschen, Polen und Tschechen gleichermaßen verehrte Glaubenszeuge hat eine große Symbolkraft für die Verständigung und Versöhnung – Anliegen, die dem Jubilar besonders am Herzen liegen. Ein bewegender Ausdruck war der Dankgottesdienst für die Seligsprechung, der am 10. Oktober 2010 mit etwa 2 000 Gläubigen aus den drei Nationen in Bad Kudowa (Kudowa Zdrój) und dem Ortsteil Tscherbeney (Czermna), dem Wirkungs- und Begräbnisort des Seligen, stattgefunden hat.
Der Werdegang des Priesters Franz Jung Schon vor diesem großen Ereignis war sein Priestertum, das mit der Weihe durch Bischof Höffner auf das Bistum Münster am 29. Juni 1964 begonnen hat, reich an Höhepunkten: 1976 wurde er nach den Kaplansjahren in Wesel, Moers und Goch Pfarrer in Duisburg-Walsum. 1982 erfolgte seine Berufung zum Diözesanpräses der Katholischen Arbeitnehmerbewegung. Schon 1983 wurde er von der Deutschen Bischofskonferenz zum Visitator für die Priester und Gläubigen aus der Grafschaft Glatz mit dem in der römischen Kirche einmaligen Ehrentitel Großdechant ernannt, der seit 1810 dem obersten Hirten der Grafschafter Katholiken vorbehalten ist. Prälat Franz Jung ist als Nachfolger des ersten Dechanten des Glatzer Landes, der auf das Jahr 1269 urkundlich genannt ist, der fünfzigste Dechant und gleichzeitig der vierzehnte und wohl auch letzte Großdechant. 1984 wurde Franz Jung zum Päpstlichen Ehrenprälaten ernannt. Nach seinem Abschied 1989 als Diözesanpräses der KAB übernahm er die Pfarrei St. Aegidii mitten in der Stadt Münster. 1990 erfolgte die Ernennung zum Apostolischen Protonotar, der höchsten Stufe der Prälatenwürde. Um sich noch mehr der Seelsorge an seinen Landsleuten widmen zu können, bat er den Bischof um Entpflichtung als Pfarrer. Seit 2000 ist er Subsidiar in St. Anna in Münster-Mecklenbeck und setzt sich ganz für die Grafschaft Glatzer ein. 2008 und 2009 übertrug ihm die Bischofskonferenz auch die Arbeit als Visitator für die Katholiken aus dem Erzbistum Breslau. Am 10. Oktober 2010 ehrte ihn bei dem oben erwähnten Dankgottesdienst zur Seligsprechung von Kaplan Gerhard Hirschfelder in Bad Kudowa (Grafschaft Glatz)
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der Bischof der Diözese Schweidnitz (Świdnica), Prof. Dr. Ignacy Dec, für seine Verdienste um die Seligsprechung des Jugendseelsorgers der Grafschaft mit dem Orden des Heiligen Stanislaus. Auch die weltlichen Ehrungen blieben nicht aus: am 3. April 2001 verlieh ihm der Bundespräsident das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Zu seinem 70. Geburtstag 2006 ehrte ihn die Landsmannschaft Schlesien mit dem Schlesierkreuz und 2009 für seine Verdienste um Kirche, Volk und Heimat mit ihrer höchsten Auszeichnung, dem Schlesierschild.
Franz Jung – Grafschafter Persönlichkeit und Seelsorger der Grafschaft Glatz Franz Jung wurde am 3. Dezember 1936 in Neundorf, Kreis Habelschwerdt, in der Grafschaft Glatz als viertes der neun Kinder des Bauern Josef Jung und seiner Ehefrau Maria geboren. 1937 ging die Familie auf ihren Stammhof im benachbarten Gläsendorf zurück, von wo sie 1946 mit Millionen Deutschen aus Ostdeutschland vertrieben wurde und in das westfälische Liesborn im heutigen Kreis Warendorf kam. 1952 bezog die Familie Jung eine Vollbauernstelle in Lüdinghausen, die ihre neue Heimat wurde. 1958 begann Franz Jung sein Theologiestudium in Münster und München. In Münster wurde er bald von einem Königsteiner Theologiestudenten aus seiner Heimat „entdeckt“. Dadurch kam er in Kontakt mit der katholischen Jugendorganisation der vertriebenen Grafschafter, der Jungen Grafschaft. Bei einem Bundestreffen dieser Vereinigung in Telgte mit 400 Jugendlichen und bei vielen Jugendtreffen hat er seine Liebe zur Heimat neu entdeckt und sich in den folgenden Jahren in der Jungen Grafschaft stark engagiert. Seine Teilnahme an der jährlichen Glatzer Wallfahrt in Telgte und an den in Ostberlin unerlaubten und deshalb heimlich stattfindenden Treffen mit den geistlichen Mitbrüdern in der DDR, die Großdechant Prälat Leo Christoph 1963 eingeführt hatte und die sein Nachfolger Großdechant Paul Sommer fortführte, haben das Leben von Franz Jung geprägt. So wurde er, wie oben beschrieben, 1983 als Nachfolger des verstorbenen Paul Sommer zum Visitator für die Grafschaft Glatz mit dem Ehrentitel Großdechant ernannt, bis 1998 noch mit Sitz in der Deutschen Bischofskonferenz, in der er in den Kommissionen „Caritas“ und „Soziales“ sowie in der Jugendkommission mitarbeitete. Damit wurde Franz Jung das geistliche Oberhaupt der etwa 160 000 katholischen Grafschafter Vertriebenen, heute sind es noch 40 000 Gläubige mit 150 Welt- und Ordenspriestern, Ordensbrüdern und Diakonen. Ein Viertel von ihnen sind „Nachgeborene“, also Söhne oder Enkel von Grafschaftern. Etliche dieser jungen Priester arbeiten in den Gremien des Großdechanten mit. Die Religiosität der Grafschafter zeigt sich auch darin, dass es noch 150 Ordensschwestern gibt. 1989 kamen nach der Wiedervereinigung die Grafschafter hinzu, die sich in der DDR nicht zu ihrer Heimat und zum erlittenen Unrecht der Vertreibung bekennen durften. Jährlich finden Heimattreffen in vielen Städten der alten Bundesrepublik sowie in mehreren Städten der Neuen Bundesländer statt.
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Die heimatvertriebenen Grafschafter in der Bundesrepublik bildeten und bilden noch heute mit ihren verschiedenen kirchlichen und weltlichen Organisationen und Gremien eine feste Gemeinschaft, die aufgrund ihrer besonderen religiösen und sonstigen kulturellen Gegebenheiten einen außerordentlich festen Zusammenhalt hat. Zu diesem Zusammenhalt der Gläubigen, der für Franz Jung ein besonderes Anliegen ist, haben die Visitatoren gemäß ihrem Auftrag der Bischofskonferenz zur Neuordnung der Vertriebenenseelsorge stets einen maßgebenden Beitrag geleistet. Dieser Auftrag umfasst die Bewahrung der Identität, den Brückenbau zum polnischen Volk und die Ächtung der Vertreibung. Die wichtigsten Ereignisse in seiner Seelsorge sind neben den Wallfahrten die Priesterkonferenzen in Telgte und die Gottesdienste auf den vielen Heimattreffen, bei denen ihn andere Priester unterstützen. In diesen heimatlichen Gottesdiensten pflegen die Grafschafter mit Liedern der Heimat ihre religiöse Kultur. Prälat Franz Jung ist unermüdlich tätig – und unterwegs. Mit dem Konsult, dem Priesterrat, den er von seinem Vorgänger übernommen hat, bereitet er die Wallfahrten und Heimattreffen vor. In der Sorge um den Priesternachwuchs wurden alle Theologiestudenten aus Familien mit Wurzeln in der Grafschaft während ihres Studiums besucht und eingeladen, zu gegebener Zeit bei der Telgter Wallfahrt den Primizsegen zu erteilen. Aus diesem Kreis sind in 25 Jahren 42 Neupriester geweiht und in ihren Diözesen angestellt worden. Ein Viertel von ihnen beteiligt sich an der Arbeit des Großdechanten. 1985 hat Großdechant Jung seinen Pastoralrat gegründet. Dort unterstützen fachkundige Laien seine Arbeit.
Die Wallfahrten Die jährlichen Wallfahrten in Telgte und Werl, solche nach Rom, Lourdes, Fatima, Mariazell und zu anderen Gnadenorten gehören zum festen seelsorglichen Programm des Großdechanten. Die Telgter Wallfahrt führt immer noch alljährlich Ende August circa 2 000 Landsleute zusammen. Seit 1992 finden jährliche Wallfahrten in die Grafschaft Glatz statt, an deren Entstehen Franz Jung maßgeblich beteiligt war. Diese Wallfahrten schließen stets auch die in der Heimat Verbliebenen im Deutschen Freundeskreis und die nahe der Grenze in Tschechien lebenden Landsleute ein. Die hierbei gepflegte Zusammenarbeit mit den polnischen Amtsbrüdern ist ein wichtiger Bestandteil seiner Aktivitäten zur Verständigung und Versöhnung, dabei scheut Prälat Franz Jung, wo es nötig ist, auch ein kritisches Wort nicht.
Mission Auf vielen Reisen hat Großdechant Jung mehr als zwanzig in der Mission tätige Grafschafter Schwestern und Brüder auf den Philippinen, in Lateinamerika, Südafrika und Neuguinea sowie in Sibirien besucht und damit auch sie in die Grafschafter
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Arbeit eingebunden. Ein Missionswerk als eingetragener Verein ermöglicht finanzielle Hilfen, desgleichen die Missionsbasare während der Glatzer Wallfahrt in Telgte und ein Förderkreis. So finden diese Glaubensbotschafter einen Ersatz für ihre ferne Heimat.
Der Grafschafter Chor Es ist im kirchlichen Musikleben sicher eine Besonderheit, dass sich seit mehr als einem Vierteljahrhundert die in ganz Deutschland verstreut lebenden Mitglieder dieses Chores auf eigene Initiative und eigene Kosten zweimal im Jahr zu Proben treffen und alljährlich bei der „Christkindl“-Messe der Grafschafter in Münster oder Osnabrück unter der Leitung ihres Gründers Georg Jaschke bis zu 800 Menschen mit den Kompositionen des Grafschafters Ignaz Reimann erfreuen. Auch bei der Seligsprechungsfeier im Dom zu Münster wirkte dieser Chor gestaltend mit.
Gemeinschaften des Großdechanten Die Junge Grafschaft wurde 1953 als Jugendgemeinschaft im Bund der deutschen katholischen Jugend gegründet. Ihre Mitglieder haben ihre familiären Wurzeln in der Grafschaft Glatz. In der jetzigen polnischen Grafschaft haben sich Jugendliche aus Familien mit deutschem Anteil zu der polnischen Jungen Grafschaft zusammengeschlossen. Großdechant Franz Jung ist Ehrenmitglied. Mit der Gründung der Jugendorganisation entstand 1953 auch der Rundbrief der Jungen Grafschaft. Über mehrere Zwischenstadien hat sich daraus der Rundbrief des Großdechanten mit dem Untertitel Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft der Grafschaft Glatz entwickelt, der dreimal jährlich erscheint. Aus der auch heute noch aktiven Jungen Grafschaft ging 1967 der Kreis Grafschafter Familien hervor und 1985 die Grafschafter Gemeinschaft, die sich mehrmals im Jahr zu Gesprächen über religiöse, politische und soziale Themen trifft. Die 2001 gegründete Arbeitsgemeinschaft Grafschaft Glatz – Kultur und Geschichte, die konfessionell ungebunden ist, trifft sich alljährlich zu Vortragsveranstaltungen in Münster. Die Vorträge werden in einem eigenen Mitteilungsblatt veröffentlicht.
Ausblick Am 4. Oktober 2011 ist Großdechant Prälat Franz Jung auf Beschluss der Deutschen Bischofkonferenz wegen der bevorstehenden Vollendung seines 75. Lebensjahres als Visitator entpflichtet worden, er bleibt als vierzehnter der wohl letzte Großdechant. Zum neuen Visitator für die Priester und Gläubigen aus der ehemaligen Erzdiözese Breslau und den ehemaligen Generalvikariaten Branitz und Glatz wurde Pfarrer Dr. Joachim Giela aus Münster durch die Deutsche Bischofskonferenz ernannt. Er wird die Mitarbeit des Großdechanten in der Seelsorge dankbar in Anspruch nehmen.
laudatio
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Die offizielle Verabschiedung von Franz Jung aus dem Visitatorenamt erfolgt am 17. März 2012 in Münster-Hiltrup nach einer Eucharistiefeier mit dem Vertriebenen bischof, dem Erfurter Weihbischof Dr. Reinhard Hauke. Wir wünschen dem Emeritus weiterhin Energie und Gesundheit und sagen ihm Dank für sein 28-jähriges Wirken als Seelsorger und Visitator der Grafschafter Katholiken. Möge ihm der Herrgott noch viele Jahre schenken! Im Namen der Herausgeber und der Autoren der vorliegenden Festschrift
Dieter Pohl
Lebenslauf in ein zerklüftetes Jahrhundert Von Hans Veit (†)
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o mancher, der die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts erlitten und überlebt hat, wird traumatisiert in die zweite Hälfte hineingegangen sein. Zwei Weltkriege, Vernichtung und Vertreibung von Menschen in einem bis dahin unbekannten Ausmaß hatten Mitteleuropa bis auf die Grundfesten zerrüttet, tief erschüttert und vielerorts zerstört. So mancher von ihnen wird sich immer wieder ratlos gefragt haben: Wie konnte das alles passieren? Und wir fragen uns das noch heute. Wie konnte das passieren? Eine schlüssige, umfassende, überzeugende Antwort ist bis jetzt nicht gefunden worden. Dass Hitler damals mit seinen Helfern Deutschland und andere Staaten in den Abgrund gestürzt hat, ist unbestritten, aber hätte die Katastrophe nicht verhindert werden können? Von wem und mit welchen Mitteln? Hätten es unsere Eltern, also die einfachen Bürger, verhindern können? Was haben sie falsch gemacht? Hätten selbst wir, die wir damals noch Kinder und in den letzten Kriegsjahren Jugendliche waren, noch eine Korrektur erzwingen können? Vorwürfe aus den nachfolgenden Generationen legen gelegentlich diesen Schluss nahe. Über uns alle ist das Urteil in einem vielstimmigen Chor schon gesprochen worden. Wir hätten eben andere, zuverlässige Politiker an die Spitze des Staates wählen müssen, die unseren Staat durch das vom blinden Nationalismus zerklüftete Gelände hätten lenken können. Vor allem aber wird uns vorgeworfen, willig hinter dem „Führer“ hergelaufen zu sein. Was ist Wahrheit? Was ist leichtfertige, überhebliche, böswillige oder schlicht naive Unterstellung? Selbst wenn Zeitzeugen von ihren Erlebnissen berichten, müssen sie mit Misstrauen rechnen, weil Geschichte eben unterschiedlich wahrgenommen und dargestellt werden kann. Jerzy Lec, ein polnischer Jude, urteilt härter und sagt: Ein Blick in die Geschichte lehrt, wie man sie fälscht. Und er glaubt, dass er viele Dinge begriffen hätte, wenn man sie ihm nicht erklärt hätte. Fakten aber gibt es, und die lassen sich überprüfen. Deshalb soll hier auf Erklärungen und Schuldzuweisungen verzichtet werden. Stattdessen soll ein Lebenslauf dargestellt werden, der in das zerklüftete 20. Jahrhundert hineinführte und zum Nachdenken anregen kann. Es ist kein ungewöhnlicher Lebenslauf. Er zeigt einen Menschen, der die wechselnden Zeiten erlebt und erlitten hat wie viele seiner Zeitgenossen auch. Ihn aber kenne ich besser als die anderen, weil er zu unserer Familie gehörte und weil ich heute seinen Nachlass, zwei zerschlissene dünne Aktenordner, in meinen Händen habe. Sie gehörten dem Lehrer Franz Tautz, der aus dem Posener Land zu uns in die Grafschaft Glatz gekommen war und hier die Schwester meines Vaters geheiratet hat. Er war 1893 als erstes Kind des katholischen Lehrers Friedrich Tautz in Jaratschewo [heute Jaraczewo] im Kreis Jarotschin, das etwa 30 km südlich von Posen liegt, geboren worden. Seine Mutter, Agnes Tautz, geb. Dimke, stammte aus einer lange dort eingesessenen deutschen Familie, während die Familie seines Vaters wahrscheinlich erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Grafschaft Glatz, nämlich aus Le-
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win, in das Posener Land gekommen war. Die Preußen hatten ihn oder schon seinen Großvater nach der damals gängigen Versetzungspraxis als Lehrer dorthin versetzt. Der Sohn Franz besuchte bei seinem Vater in Jaratschewo die Volksschule, danach von 1908 bis 1914 die Präparandenanstalt und das Lehrerseminar in Rogasen, das heute Rogozno heißt und nördlich von Posen liegt. Die erste Anstellung als Lehrer erhielt er am 1. September 1914 an der Volksschule in Szyplow im Kreis Jarotschin. Aber schon einen Monat später, am 2. Oktober 1914, musste er Soldat werden und in den Krieg ziehen. Der Erste Weltkrieg hatte begonnen. Der junge Lehrer kam an die Front und wurde Unteroffizier. Am 9. August 1916 erhielt er im Namen Seiner Majestät des Kaisers und Königs das Eiserne Kreuz II. Klasse. Ein Jahr später starb überraschend sein Vater, sodass ihm die Lehrerstelle, die bisher sein Vater innegehabt hatte, in Abwesenheit übertragen wurde. Für den Sohn ging der Krieg weiter, bis er gegen Ende des Krieges in englische Kriegsgefangenschaft geriet, aus der er erst am 31. Oktober 1919 entlassen wurde. Als er nach Hause kam, war seine Heimat polnisch geworden, eine Folge des Versailler Vertrages. Bisher hatte er in einem Teil Preußens gelebt und war preußischer Staatsbürger gewesen. Was war er jetzt? Polnischer Staatsbürger? Wenn das so einfach gewesen wäre! Im 19. Jahrhundert hatten sich Nationalität und Volkstum langsam auseinander und zu eigenständigen Größen entwickelt. Das Volkstum begann als dynamisches Kraftzentrum nicht selten mit der Nationalität zu kollidieren. Unterschiedliche Volksgruppen lebten unter einem staatsbürgerlichen Dach eng beieinander. Bisher hatte das niemanden gestört, aber nun begannen die Polen, nur einer Volksgruppe das Lebensrecht dort einzuräumen und nur ihr den Schutz des nationalen Daches zuzuerkennen. Die Familie Tautz wurde am 1. Juli 1920 ausgewiesen und verließ das Posener Land. Sie habe sich ihres Lebens nicht mehr sicher gefühlt und hätte auch ohne Anordnung der Ausweisung gehen müssen. Im Ort hätten Deutsche und Polen friedlich und nachbarschaftlich miteinander gelebt, aber von auswärts seien blutrünstige Fanatiker gekommen, die Angst und Schrecken verbreitet und Jagd auf Deutsche gemacht hätten, wie die Familie Tautz erzählte. Auf eine friedliche Zukunft hätten Deutsche nicht mehr hoffen können, schon gar nicht auf eine Existenzmöglichkeit in der Zukunft, obwohl sie katholisch und zweisprachig, aber eben doch deutsch gewesen seien. Die Mutter, Agnes Tautz, ging mit ihren drei Töchtern nach Berlin. Ihre älteste Tochter hatte sich dort mit einem Fleischermeister verheiratet. Auch die beiden anderen Töchter fanden wenig später in Berlin ihr Eheglück. Der Sohn aber, Franz Tautz, fand Zuflucht, wie er in seinem Lebenslauf schreibt, in Lewin, einem kleinen Städtchen in der Grafschaft Glatz, weil seine Vorfahren väterlicherseits von dort nach Jaratschewo gekommen seien, wahrscheinlich ausgebildet in Habelschwerdt. Mit welchem kulturellen Reisegepäck wird der Lehrer Franz Tautz in der Grafschaft Glatz eingetroffen sein?
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Schweres Reisegepäck Erinnern wir uns: Das Posener Land war schon seit dem Mittelalter, zusammen mit Ost- und Westpreußen, von Deutschen besiedelt gewesen. Die Siedler lebten dort friedlich mit den Polanen zusammen, zumal die Deutschen von den Landesherren ins Land gerufen und sogar mit besonderen Privilegien ausgestattet worden waren. Bauern, Handwerker, Kaufleute und auch Mönche waren gekommen, die frischen Handel und Wandel aus dem Westen mitbrachten. Man lernte voneinander und schätzte einander. Die Landesherren heirateten quer durch Europa und werden sich kaum einer bestimmten Nationalität zugeordnet haben. Sie gehörten lange Zeit dem Geschlecht der Piasten an. Welche Sprache mögen sie gesprochen haben? Einige haben sich als Minnesänger einen Namen gemacht. Als aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Adel dort das Land unregierbar machte, teilten die Nachbarstaaten dieses Land weitgehend unter Mitwirkung der dort ansässigen Adligen unter sich auf. Weil es zu mehreren Aufständen gegen die rigide Zarenherrschaft kam, an denen sich auch die Deutschen auf polnischer Seite kräftig beteiligten, sind dann schließlich weitere Teilungen und Korrekturen durchgeführt worden. Seit der zweiten Teilung Polens 1793 gehörte das Posener Land zu Preußen, zwischen 1807 und 1815 zum Großherzogtum Warschau und danach als Großherzogtum Posen wieder zu Preußen. König Friedrich Wilhelm III. hat sogar für sich und seine Nachfolger den Titel „Großherzog von Posen“ angenommen und den polnischen Fürsten Anton Radziwill als Statthalter eingesetzt. Von den 800 000 Einwohnern waren etwa 520 000 Polen, 220 000 Deutsche und 50 000 Juden, die traditionsgemäß mehr zum Deutschtum hinneigten und einen deutschen Dialekt sprachen.1 Die Polen erhielten eine lokale Selbstverwaltung. Im Provinziallandtag besaß der polnische Adel die absolute Mehrheit und einen polnischen Fürsten als Landtagspräsidenten. Der preußische Kultusminister Altenstein bestimmte 1823 per Erlass: Religion und Sprache sind die höchsten Heiligtümer einer Nation ... Eine Obrigkeit, die diese anerkennt, achtet und schätzt, darf sicher sein, die Herzen der Untertanen zu gewinnen.2 Deshalb solle lediglich auf ein allgemeines Verstehen der deutschen Sprache unter den Einwohnern dortiger Provinzen hingewirkt werden.3 Preußen führte im Posener Land natürlich nicht nur das Preußische „Allgemeine Landrecht“ ein, sondern auch die Bauernbefreiung. Diese Maßnahme aber, die für den überwiegenden Teil der polnischen leibeigenen Landarbeiter und Bauern einen riesigen sozialen Fortschritt brachte, erzürnte den polnischen Adel. Er fühlte sich wirtschaftlich geschwächt, obwohl er doch durch ein wirtschaftlich gesundes Bauerntum eher gestärkt werden konnte. Aber nur der Adel allein begriff sich als polnische Nation, die Bauern gehörten zu ihrem Eigentum, über das sie ein freies Verfügungsrecht beanspruchten. Das Gift der Feindschaft begann nun zu wirken und sich mit dem aufflammenden Nationalismus gegen alles Deutsche zu verbinden. 1 2 3
Gumpert: Polen-Deutschland, München 1966, S. 122. ebd., S. 123. ebd., S. 122.
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Als dann noch der Nationalismus bei den Polen äußerst fanatische Formen annahm, waren schnell alle Segnungen vergessen, die den Preußen zu danken gewesen wären; denn sie hatten nicht nur die Hörigkeit abgeschafft, sondern auch einen wirtschaftlichen Aufstieg herbeigeführt, der nicht übersehen werden konnte. Aber da kam dann Bismarcks Kulturkampf, der alle Verständigungsbemühungen zunichte machte. Er war gegen die Katholiken gerichtet, nicht nur gegen die katholischen Polen, sondern auch gegen die katholischen Deutschen. Die traf er sogar manchmal noch härter, weil ihnen jetzt, außer der preußischen Verwaltung, auch viele polnische Mitbürger misstrauten und feindselig gegenüberstanden. Aber eine Unterscheidung nahmen die Polen schon gar nicht mehr vor. Sie begannen, sich in der Opferrolle einzurichten, in der sie keinen anderen duldeten. Täter waren die Preußen, einfacher noch, eben die Deutschen. Dort also war der Lehrer Franz Tautz aufgewachsen, in einem zunächst so friedlichen Land, zweisprachig, hatte deutsche und polnische Literatur und Kultur schätzen und lieben gelernt, hatte mit Polen zusammen im Schützengraben gelegen – und jetzt fielen die polnischen Mitbürger, die mit ihm zusammen den Krieg verloren hatten, über ihn her, den Deutschen, und wollten alles das, was er besaß, als Beute. In Posen kam es sogar zu schweren, blutigen Ausschreitungen gegen die deutsche Bevölkerung. Über 18 000 deutsche Zivilpersonen wurden in Gefängnissen und in provisorisch errichteten Lagern eingesperrt. Etwa 200 000 Deutsche verließen fluchtartig das Posener Land, ihre Heimat. Der Kommandant und Staroste des Kreises Jarotschin beteiligte sich an diesen Aktionen nicht, trotzdem habe es auch dort kein sicheres Fleckchen mehr für Deutsche gegeben, berichtete die Familie Tautz. Allein Leidenschaft und Fanatismus begannen auch dort, die öffentliche Meinung zu beherrschen. Solange die Welt bestehen wird, wird der Deutsche dem Polen kein Bruder sein, wurde als Sprichwort verkündet. Und das Lied: Nicht mehr wird der Deutsche uns speien ins Gesicht, die Kinder nicht mehr germanisieren. Bald kommt der Waffen ehernes Gericht wurde von Polen ungehindert auf Versammlungen und Demonstrationen innerhalb der deutschen Reichsgrenzen lautstark gesungen, was natürlich zum Hass anfeuern sollte. Damit wurde allerdings auch bewiesen, daß die preußisch-deutschen Behörden damals sowohl liberaler als auch ohnmächtiger waren, als man sie später in der polnischen Presse nach 1919 hinstellte.4 Selbst Polen geben heute zu, dass ein solches Verhalten von deutscher Seite nirgends nachgewiesen werden konnte, sondern allein der Propaganda diente. Hatte nicht Wilson, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundsatz für den Frieden der Völker verkündet? Wie aber sollte dieser Grundsatz bei der vielfältigen Verschachtelung der Volksgruppen verwirklicht werden? Wenigstens eine Befragung der Bevölkerung hätte in den strittigen Landesteilen durchgeführt werden können. Aber gerade das wurde überall dort, wo deutsche Mehrheiten erwartet werden mussten, wie in Danzig, Westpreußen und in Teilen des Posener Landes, verhindert, und dort, wo sie durchgeführt wurde, 4
Günter: Geschichte ohne Schlussstrich, Mainz 1986, S. 33.
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wie in Oberschlesien, ignorierte man weitgehend das Ergebnis. Eine hemmungslose Machtpolitik sorgte dafür, dass auch die kleinen Raubtiere einen stattlichen Anteil von der Beute zugeteilt bekamen. Polen verlangte fast die Hälfte des Deutschen Reiches, alles, wo immer ein Slawe in der tausendjährigen Geschichte seinen Fuß hingesetzt haben konnte, sollte künftig zu Polen gehören. Wie konnte das zu einem Frieden führen? Selbst der französische Marschall Foch warnte und prophezeite schon 1919: Das ist kein Frieden, das ist ein Waffenstillstand für 20 Jahre.5 Er hat sogar die Dauer richtig vorausgesagt. Auch der britische Premierminister Lloyd George warnte in Versailles am 27. März 1919, daß die Bedingungen, die wir dem Besiegten auferlegen wollen, das Gegenteil von dem sind, was ein Staatsmann tun soll ... Wir sind dabei, an Polen zwei Millionen Deutsche zu geben. Die Polen werden schlecht regieren und lange Zeit brauchen, um ihr Land nach westlicher Art verwalten zu lernen. Es wird Unruhen geben. Die Bedingungen werden auf alle Fälle so sein, wie sie noch niemals eine Kulturnation annehmen mußte. Ungerechte Bedingungen werden vielleicht der Wassertropfen sein, der das Glas zum Überlaufen bringt.6 Hat er Danzig, Westpreußen oder Oberschlesien gemeint? Die Geschichte hatte also den Deutschen, die damals aus dem Posener Land in die Grafschaft Glatz kamen und hier Zuflucht suchten, einige Memorabilia, einige Denkwürdigkeiten in ihr kulturelles Fluchtgepäck gelegt. Auf einige wenige haben wir nur aufmerksam machen können, und eine ganze Reihe anderer sollte noch dazukommen.
Wo Franz Tautz Zuflucht fand Für Lewin, seinen Zufluchtsort, brauchte der junge Lehrer erst einmal eine Aufenthaltsgenehmigung. Leider gab es dafür einige Hinderungsgründe. Einem katholischen Lehrer, der aus dem inzwischen polnischen Posener Land kam, konnte die protestantische preußische Verwaltung nicht so ohne weiteres trauen, weil Katholiken für die polnische Volksgruppe immer etwas mehr Verständnis gezeigt hatten, als die Preußen dulden wollten. Es kam ja noch dazu, dass jetzt viele Lehrer aus dem Krieg zurückkehrten und deshalb die freien Lehrerstellen äußerst rar waren. So musste Tautz zunächst einmal die deutsche Reichsangehörigkeit beantragen und ausführlich begründen, warum er Deutscher bleiben und ausgerechnet in der Grafschaft Glatz leben wollte. Nach fast zwei Jahren erhielt er, der am 1. Juli 1920 aus Jaratschewo ausgewiesen worden war, am 10. Januar 1922 die Optionsurkunde, die ihm die deutsche Reichsangehörigkeit zuerkannte und ihm mit Verfügung der Provinzialregierung in Breslau die alleinige Lehrerstelle in Birkhagen [vor 1921 Brzezowie] im Kreis Glatz übertrug. Für den jungen Lehrer, der bisher kaum in der Schule gewirkt, sondern sich mehr auf dem Schlachtfeld und in Gefangenenlagern herumgetrieben hatte, sollte nun eine glückliche Zeit beginnen, so hoffte er. Aber kaum, dass er dem aggressiven polnischen 5 6
ebd., S. 48. ebd., S. 155.
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Nationalismus entronnen war, da stand der kriegsmüde Heimkehrer auf der anderen Seite Schlesiens schon wieder auf einem Stück Land, das von einem Beutegeier eingefordert wurde. Die Tschechen hatten bei den Siegermächten durchsetzen können, dass sich das Territorium ihres neugegründeten Staates weit über die von Tschechen bewohnten Gebiete hinaus ausdehnen durfte, ihr Hunger nach mehr aber war noch immer nicht gestillt. Auch die Grafschaft Glatz sollte der neuen Republik einverleibt werden. Als Minimallösung wurde ein etwa fünf Kilometer breiter Streifen entlang des Adlergebirges und des Hummelpasses gefordert. Der „Böhmische Winkel“ der Grafschaft mit Lewin und dem kleinen Dörfchen Birkhagen, dicht an der tschechischen Grenze in der Nähe von Tscherbeney [ab 1937 Grenzeck], hätte auch dazu gehört. Weil die Bevölkerung im „Böhmischen Winkel“ zum Teil zweisprachig war, nämlich deutsch und tschechisch sprach, hatten die Tschechen hier eine breite Zustimmung für ihre Forderung erwartet. Sie stießen aber auf entschiedene Ablehnung selbst bei den sogenannten Minimalforderungen. In Tscherbeney kam es zu einer großen Demonstration gegen die Einverleibung in die Tschechoslowakei. Die Siegermächte hatten schließlich ein Einsehen und die Grafschaft Glatz blieb deutsch.
Konnte nun die ersehnte glückliche Zeit beginnen? Ein Lehrer war damals sehr schnell in seinem Dorf ein kultureller Mittelpunkt. Das brachte schon sein enges Verhältnis zu den Kindern der Dorfbewohner mit sich, ergab sich aber auch durch seine Aufgaben neben dem Geistlichen in der Kirche. Er spielte die Orgel und dirigierte den Kirchenchor, in vielen Kirchengemeinden sogar noch ein ansehnliches Orchester, gestaltete also den Gottesdienst zusammen mit dem Geistlichen an Sonn- und Feiertagen. Auch der junge Lehrer Franz Tautz hätte als Kantor und Organist all diesen Aufgaben nachkommen können, aber Birkhagen gehörte zur Pfarrei Tscherbeney und dort war die entsprechende Stelle besetzt. In Birkhagen gab es zwar ein kleines Kirchlein mit einer kleinen Orgel, aber keine Stelle für einen Organisten. Für Gottes Lohn durfte er natürlich dort zur Erbauung der Gottesdienstbesucher spielen, und das hat er oft und gern getan, wie er später erzählte. Franz Tautz war dafür im Lehrerseminar Rogasen im Posener Land hervorragend ausgebildet worden. Sein Musiklehrer dort, Max Wiek (Wieczorek), hatte inzwischen auch das Posener Land verlassen und unterrichtete seit 1919 am Lehrerseminar in Habelschwerdt. Er stammte aus Oberschlesien und war 1907 an das von den Preußen neu erbaute Lehrerseminar in Rogasen in der Provinz Posen berufen worden. Hier gab er in der Zeit von 1907 bis 1913 alljährlich mit großem Erfolg Seminarkonzerte mit seinem Seminarchor und -orchester.7 In Habelschwerdt gehörte Max Wiek auch schon nach kurzer Zeit zu den herausragenden Musikpädagogen in der Grafschaft Glatz. Seine Seminarkonzerte fanden große Beachtung. Das galt auch für seine Vertonungen mundartlicher und hochdeutscher Gedichte und Texte, die überall in ganz Schlesien von seinen Schülern verbreitet 7
Bartsch, Alois: Die Grafschaft Glatz, Bd. IV, S. 50 f.
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wurden. Gesangvereine und Kirchenchöre gab es in jedem Dorf und in jeder Pfarrgemeinde, geleitet fast ausnahmslos von einem Lehrer. Welche Aufgaben der neue Lehrer in Vereinen übernommen hat, wissen wir nicht, aber man wird annehmen dürfen, dass er in nicht wenigen Vereinen tätig geworden ist. Da es weder Radio noch Fernsehen gab, wahrscheinlich in dem kleinen Dörfchen auch noch kein Telefon und kein Auto, verschaffte hauptsächlich das Vereinsleben den Dorfbewohnern Abwechslung und Entspannung nach getaner Arbeit. Dafür wurden Anregungen vom Geistlichen und vielleicht manchmal noch mehr vom Lehrer erwartet. Geistlicher und Lehrer bildeten die geistliche und kulturelle Mitte des Dorfes. Birkhagen gehörte zur Pfarrei Tscherbeney und musste sich mit einer Filialkirche begnügen. So werden die Erwartungen an den Lehrer besonders groß gewesen sein. Ob er sich damals, zusammen mit den Dorfbewohnern aus Birkhagen, nach dem sonntäglichen Gottesdienst in Tscherbeney an den Protestversammlungen auf dem Kirchplatz beteiligt hat, zu denen der Hauptlehrer der Katholischen Volksschule, Joseph Nentwig, aufgerufen hatte, weil sich der neu entstandene tschechische Staat nicht nur das bisherige Königreich Böhmen, sondern auch den „Böhmischen Winkel“ der Grafschaft Glatz, wenn irgend möglich, sogar die ganze Grafschaft, einverleiben wollte? Dem „Arnestuskalender“ für das Jahr 1926 können wir entnehmen, dass der Lehrer Franz Tautz in Birkhagen den Vorsitz der Zentrumspartei innehatte (S. 66). Mit einer solchen Aufgabe wurde damals ganz offensichtlich immer nur eine besonders angesehene und vertrauenswürdige Person betraut, wie die Übersicht über die Organisation der Zentrumspartei in der Grafschaft Glatz im „Arnestuskalender“ des Jahres 1926 zeigt, im Kalender, der sich „Grafschafter Volkskalender“ nannte und mit einem Geleitwort des erzbischöflichen Generalvikars und Großdechanten Dittert versehen war. Er kam in nahezu jedes Haus und fand in den Familien eine große Beachtung. Wenn in ihm der Zentrumspartei eine besondere Beachtung geschenkt wurde, dann wird deutlich, dass diese Partei gewissermaßen als Stimme der katholischen Kirche in der noch jungen Weimarer Republik betrachtet wurde. Dass diese Stimme im preußischen Teil der Weimarer Republik mit besonders misstrauischer Aufmerksamkeit bedacht wurde, sei hinzugefügt. Trotz aller Verpflichtungen in Schule und Gemeinde konnte ein Lehrer in seiner kleinen Wohnung in der Schule, vor allem als alleinstehender unverheirateter Lehrer, sehr einsam sein. Er sollte für die Kinder der Gemeinde da sein, für sie und die Gemeinde arbeiten, auch mit den Eltern der Kinder, mit der ganzen Gemeinde feiern, aber natürlich alles mit einer angemessenen Zurückhaltung. So ist verständlich, dass sich die Lehrer in Lehrervereinen zusammenschlossen. Dort trafen sie sich und lernten einander kennen, manchmal für das ganze Leben. Genau das ereignete sich in dem Dörfchen Schlaney, das auch zur Pfarrei Tscherbeney gehörte. Dort traf der Lehrer Franz Tautz die Lehrerin Klara Veit, die Schwester meines Vaters, die dort an der dreiklassigen Katholischen Volksschule neben zwei verheirateten Lehrern als dritte Lehrkraft unverheiratet ihren Aufgaben mit großem Eifer nachging. Die beiden verliebten sich und heirateten, was damals allerdings zur Folge hatte, dass die Lehrerin aus dem Schuldienst ausscheiden musste.
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Eine neue Zuflucht als bescheidene Mitgift Die Lehrerin kam aus bescheidenen Verhältnissen. Sie brachte keine Reichtümer mit, stattdessen aber eine neue Zukunftsperspektive für den jungen Lehrer, der in der Grafschaft Zuflucht gesucht und jetzt auch noch eine Frau gefunden hatte. Die Lehrerin stammte nämlich aus dem kleinen Dörfchen Wiesau, etwa zehn Kilometer nördlich von Glatz gelegen, das zur Pfarrei Gabersdorf gehörte. Deshalb wusste sie, dass dort an der fünfklassigen Katholischen Volksschule eine Lehrerstelle frei geworden war, und was in diesem Zusammenhang die freie Stelle noch wertvoller erscheinen ließ: Mit ihr sollte das Amt des Kantors und Chordirektors verbunden sein. Eine ansprechende Dienstwohnung im Schulgebäude sollte auch dazu gehören. Über alles, was zum Nebenamt gehörte, hatte natürlich der Pfarrer zu entscheiden, und den kannte die Lehrerin aus ihrer Jugendzeit gut. Das Glück konnte seinen Lauf nehmen. Der Lehrer Franz Tautz hatte schon am 30. April 1931 seinen Dienst an der Volksschule in Gabersdorf antreten können, und die Hochzeit konnte am 12. November 1931 gefeiert werden. Aber da begann das Glück schon zu stocken. Die Genehmigung für die Übernahme des Kantoren- und Chordirektorenamtes blieb aus, weil die Provinzialregierung in Breslau immer neue Bedenken vorzubringen begann. In der Chronik der Pfarrei Gabersdorf klagt der Pfarrer, er habe ein Meer von Tinte verschreiben müssen, um dem Lehrer Tautz die Erlaubnis für dieses kirchliche Nebenamt zu verschaffen. Erst nach über einem Jahr, am 1. Oktober 1932, habe er nach nicht geringen Schwierigkeiten seitens der Staatsregierung in Gabersdorf als Kantor und Chordirektor im Nebenamt tätig werden dürfen.8 Jetzt durfte der Lehrer endlich zeigen, was er gelernt hatte und was er konnte. Als meine Schwester und ich, wir sind Zwillinge, 1934 eingeschult wurden und von Wiesau nach Gabersdorf in die Schule trabten, stand unser Onkel, der Lehrer Franz Tautz, vor unserer Klasse. Er hat uns Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht – in unnachahmlicher Weise. Seine wohlwollende Autorität ließ ihn uns zum gütigen Vater der ganzen Klasse werden. Wir wären ihm bis in den Himmel gefolgt, denn dass er uns dorthin führen würde, stand für uns fest. Eine Vorzugsbehandlung gab es selbstverständlich für uns nicht, damit konnten nur die schwachen Schüler rechnen. Tautz wusste in allem Maß zu halten, und das konnten damals viele der Erwachsenen leider nicht in der Zeit nach Versailles und der großen Wirtschaftskrise, weder die Sieger, noch die Besiegten – wobei sich die herbeigeeilten Beutegeier schlimmer aufführten, als die tatsächlichen Sieger. Diese Meinung äußerte einmal mein Onkel zu Beginn der fünfziger Jahre, als er über diese Zeit sprach. Ich war damals ein Student und studierte Geschichte. Diese Geier hätten sich in blinder Gier nach immer mehr Beute überfressen und sich selbst geschadet, dabei aber auch übersehen, dass ihr Beutetier noch lebte und bei der Suche nach Rettung unberechenbar werden und gewissenlosen Schurken auf den Leim gehen könnte. In solchen Zeiten hätten die lautesten Marktschreier mit den dreistesten Versprechungen den größten Zulauf. Das habe die Zentrumspartei selbst in der Grafschaft zu spüren bekommen. Während sie bei der 8
Liber Memorabilium. Chronik der Pfarrei Gabersdorf, S. 165 (Übertragung S. 82).
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Wahl 1932 in Gabersdorf noch doppelt soviele Stimmen wie die Hitlerpartei bekommen habe, sei das Zentrum wenige Monate später bei der Wahl 1933 unter die Stimmenzahl der Schreier gerutscht, was ihr allerdings in dem kleinen Dörfchen Wiesau nicht passiert sei.
Als Hitler kam Es fing zunächst alles recht harmlos an, wie es schien. Im Januar 1933 an die Macht gekommen, erhielten die Lehrer in Gabersdorf schon am 1. Mai 1933 die Aufforderung, der NSDAP beizutreten. Der Lehrer Franz Tautz, mein Onkel, lehnte ab mit der Begründung, er gehöre bereits der Zentrumspartei an. Das blieb allerdings nicht ohne Folgen. Es kam nun ständig zu Anfeindungen durch Mitglieder der Hitlerpartei, meist durch einen Kollegen an der Schule, der für die neue Zeit Feuer gefangen hatte, in die NSDAP eingetreten und zum „Kulturwart“ ernannt worden war. Damit unterstand ihm unter anderem auch das WHW, das „Winterhilfswerk“, wie er jedenfalls meinte. Vor allem aber fühlte er sich natürlich dafür verantwortlich, dass die Schule auf dem modernen Weg voranschreite. Wahrscheinlich wollte er in Gabersdorf einmal demonstrieren, welche Spielregeln jetzt in der neu heraufziehenden Zeit herrschten und welche Rolle er dabei spielen konnte. In der Chronik der Pfarrei Gabersdorf schreibt der Pfarrer: Am 4. Oktober [1935] sammelte mit behördlicher Erlaubnis P. Joachim O.F.M. aus Glatz in Gabersdorf und Wiltsch Kartoffeln für sein Kloster. Der Vertreter des Winterhilfswerkes, der NS-Kulturwart, Herr Lehrer W. S. von hier, glaubte wohl, daß für die Zeit der Sammlung für das WHW jede andere genehmigte Sammlung ruhen müsse und beschlagnahmte die Kartoffeln und was etwa noch zusammengekommen war für das WHW. Die übergeordnete Behörde gab jedoch die Kartoffeln wieder frei. Am 28. Oktober konnte sie sich der Pater wieder abholen.9 Das war also schief gegangen. Misserfolge können Wunden hinterlassen und zu neuen Anstrengungen führen. So kam es zu einer weiteren Machtdemonstration, die allerdings etwas sehr unüberlegt gewesen zu sein scheint. Der NS-Kulturwart nahm eigenmächtig das Geld aus einem Spielautomaten, der in einem Gasthaus stand. Dabei muss er wohl beobachtet worden sein. Er habe es einem guten Zweck zuführen wollen, muss aber wohl zunächst etwas für sich abgezweigt haben, was schließlich zu seiner Suspendierung und späteren Versetzung führte. Nun hatte sich der Kantor und Chorrektor von diesem Herrn so manche Herabsetzung und Verunglimpfung als „Kirchendiener“ anhören müssen, sodass er sich wenig später seinerseits zu einer Unvorsichtigkeit, schlimmer, zu einer Dummheit, hinreißen ließ. Dazu kam es am 5. Februar 1935. Am Abend feierten der Gesangverein und der Kirchenchor in einer Gaststätte in Gabersdorf gemeinsam ein Fest, ein „Vergnügen“, wie man damals sagte. Während sich die Festgesellschaft im Saal befand, hatten sich der Bürgermeister des Ortes und ein Fleischermeister mit dem Chordirektor, Franz Tautz, in einem Nebenraum zusammengesetzt, um miteinander ein Glas Bier zu trin9
ebd., S. 171 (Übertragung S. 85). Der Name des Lehrers ist in der Chronik ausgeschrieben.
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ken. Sie kamen munter ins Gespräch, wobei sich der Chordirektor zu einer etwas abfälligen Bemerkung über den suspendierten NS-Kulturwart hinreißen ließ. Dass ihm da ein gefährlicher Fehler unterlaufen war, sollte sich bald zeigen. Die Bemerkung wurde nämlich, wie das in solchen Fällen passieren konnte, hinterbracht. Der Kulturwart wusste, wie in diesen Zeiten wirksam Rache genommen werden konnte. Er zeigte den Chordirektor wegen Verunglimpfung der Partei an, denn mit seiner Person sei auch die Partei gemeint gewesen. Es kam zu Vernehmungen, zu Verhören und zu Verhandlungen am Amtsgericht in Glatz, in denen das Schicksal des Lehrers Franz Tautz am seidenen Faden hing. Nur weil nicht bewiesen werden konnte, dass auch die Partei des NS-Kulturwarts gemeint gewesen war, wurde der Angeklagte vor einer Gefängnisstrafe und der Entfernung aus dem Schuldienst gerettet. Er kam mit einer Geldstrafe von 300 Reichsmark wegen Beleidigung davon. Trotzdem waren die Folgen der unbedachten Bemerkung sehr hart und tragisch. In seinem Lebenslauf schreibt mein Onkel: In dieser Zeit sollte unser einziges Kind geboren werden. Die Aufregungen, welche die Gerichtsverhandlungen mit sich brachten – ich sollte zunächst zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden – warfen meine Frau aufs Krankenlager. Das Kind wurde tot geboren. Eine meiner Schwestern, wir waren sechs Kinder, ist dann bei Onkel und Tante aufgewachsen, zunächst einmal, um ihnen den Kummer etwas zu nehmen, dann aber, weil sie eine Familie geworden waren. Meine Schwester fand dort ein Zuhause, wie sie es sich hätte kaum besser wünschen können. Sie heißt Angela und war ein Engel zur rechten Stunde, von dem sich ihre Pflegeeltern bis zu ihrem Tode nicht getrennt haben. Weil der Kulturwart am Orte seiner Verfehlungen nicht bleiben konnte, wurde er versetzt. Dort aber durfte er seinen Schuldienst wieder aufnehmen. Unter diesen Umständen musste von übergeordneter Stelle dafür gesorgt werden, dass auch sein Kontrahent den Ort des Geschehens verließ. Er wurde am 1. Oktober 1936 im Interesse des Dienstes nach Bärdorf im Kreis Frankenstein versetzt. Ein solches Verfahren wird im inneren Verwaltungsablauf Strafversetzung genannt. Außerdem wurde er aus Parteikreisen auf den Ernst seiner Lage hingewiesen. Diese könne er für sich und für seine Familie nur verbessern, wenn er endlich in die Partei eintrete. Die Geduld der Parteiführung habe ihre Grenze. Was nun? Die Nazis zogen die Kandare an und schufen eine Atmosphäre der Unsicherheit und Angst. Über die Medien begann eine Kampagne gegen Vertreter der katholischen Kirche zu laufen und solche, die der Hitlerpartei skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstanden. Als im Frühjahr 1937 die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ erschien, antwortete der Staat mit Devisen- und Sittlichkeitsprozessen gegen den Klerus und Ordensgeistliche. Verhöre bei der Gestapo, zu denen alle möglichen Leute bestellt wurden, ergänzten die Drohkulisse. Franz Tautz, der mit seiner Strafversetzung sein Kantoramt verloren hatte, wusste sehr genau, dass er mit weiteren Schikanen rechnen musste. Die Verhaftung des Pfarrers von Mittelsteine, eines Vetters seiner Frau, dem lediglich eine despektierliche Äußerung über die NS-Herrschaft vorgeworfen werden konnte, zermürbten schließlich den Lehrer, der bisher aufrecht und tapfer seinen Weg gegangen war. Er stellte
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den Antrag, in die NS-Partei aufgenommen zu werden. Einmal nicht mehr fürchten zu müssen, über Nacht seine Stelle zu verlieren und mit der Familie auf der Straße zu stehen! Jetzt aber drehte die Partei den Spieß um. Der Antrag kam vor das Parteigericht. Das beriet nun in endlosen Sitzungen, ob der Antragsteller inzwischen überhaupt würdig geworden sei, aufgenommen zu werden. Schließlich erhielt er, wenn auch, wie ihm gesagt wurde, mit erheblichen Bedenken am 20. April 1939 die Mitgliedskarte. Er habe sich nun zu bewähren. Die Gelegenheit dazu erhielt er schon ein Jahr später, als er auf Anordnung „von Oben“ nach Ost-Oberschlesien geschickt wurde. Nur ihn hatte es im Kreis Frankenstein getroffen. Er erhielt den Auftrag, in Orzesche im Kreis Pleß vier Schulen für insgesamt 1700 Kinder einzurichten und für sie einen ordnungsgemäßen Unterricht zu gewährleisten, wobei er über mehrere Monate der einzige ausgebildete Lehrer an den vier Schulen war. Als schließlich noch mehr ausgebildete Lehrer dazu kamen, erhielt er die Leitung der zentral gelegenen Schule mit 850 Kindern, an der er dann am 1. Januar 1944 zum Rektor ernannt wurde. Diese Aufgabe endete schon Anfang August 1944, als ihn seine Notdienstverpflichtung zu Schanzarbeiten rief.
Der Krieg holt alle ein Die Familie Tautz war inzwischen in Orzesche beträchtlich angewachsen. Der Teil der Familie, der nach der Flucht aus dem Posener Land nach Berlin gegangen war, die Mutter mit ihren Töchtern und den Kindern, die inzwischen dazu gekommen waren, hatten Zuflucht in Orzesche gesucht, um den Bombennächten zu entkommen. Aber mit dem Winter 1944 kam auch die Front näher. Als der Kanonendonner schon zu hören war, mussten sie ein paar Habseligkeiten zusammenpacken und erneut nach einem Zufluchtsort suchen. Sie kamen alle zu uns in die Grafschaft Glatz, auf unseren Bauernhof in Wiesau. Er war klein, aber man konnte nur staunen, wieviele Leute er in der Not beherbergen konnte. Es muss im Januar 1945 gewesen sein, als sie alle kamen. Die Nacht war schon hereingebrochen, da kam ein Bote vom Tante-Emma-Laden unseres Dorfes, wo sich das einzige Telefon des Dorfes befand, und brachte uns die Nachricht, dass unsere Tante, Klara Tautz, mit einer ganzen Reihe von Angehörigen auf dem Hauptbahnhof in Glatz stehe und uns bitte, sie alle mit einem Gespann von dort abzuholen. Ich habe sie abgeholt. Das Bild, das sich mir auf dem Hauptbahnhof bot, war erschütternd: mehrere hundert obdachlose, frierende, übermüdete, gestrandete Menschen, die ergeben vor einem unbekannten, dunklen, bedrohlichen Schicksal standen und auf eine Rettung hofften. Die Rote Armee kam erst nach dem Waffenstillstand in die Grafschaft Glatz. Kriegerische Auseinandersetzungen und Zerstörungen hat es hier nicht gegeben. Das Verhalten der sowjetischen Soldaten hielt sich in Grenzen, wenn auch größte Vorsicht, besonders der Frauen, erforderlich war. Trotzdem hat es Übergriffe in unserem Dorf gegeben. Die Frauen sahen sich in dieser Situation ganz auf sich allein gestellt, weil außer ein paar alten Männern alle anderen, auch mein Vater, im Krieg waren. Als eines Tages mein Onkel bei uns in Wiesau auftauchte, war die Freude groß. Er hatte sich
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über tschechisches Gebiet, immer an den Bergen entlang, bis zu uns durchschlagen können. Er klopfte unrasiert und bis auf die Knochen abgemagert bei uns an die Tür. Selbst seine Frau, meine Tante, hat ihn erst für einen Fremden gehalten. Er lebte also noch! Wer ahnte damals schon, welche Heimsuchungen noch kommen sollten? Statt des Friedens, den alle erwarteten, kamen Polen. Zunächst junge Männer, die schwer bewaffnet waren und uns durch Willkürmaßnahmen demonstrierten, wer es nun zu sagen hatte. Im September 1945 stand plötzlich eine polnische Familie, ein Ehepaar mit einem achtjährigen Kind, vor der Tür, eskortiert von polnischer Miliz. Euch nichts gehören! Alles den gehören! befahlen die Milizionäre und verschwanden. Der neue Herr wusste sofort, wie er auftreten musste. Er marschierte durch alle Zimmer und bestimmte schroff, in welchen Zimmern er wohnen wolle und die wir deshalb sofort zu verlassen hätten. Dann suchte er sich das Inventar und die Kleidung zusammen; alles, was ihm gefiel, musste in die konfiszierten Räume gebracht werden. Mein Onkel, der ja der polnischen Sprache mächtig war, versuchte natürlich, mit ihm ins Gespräch zu kommen und ihn zu mäßigen. Da stellte sich heraus, dass der Pole seine Sprache kaum beherrschte. Wie er mir später verkündete, stammte er aus Hamburg. Seine Mutter sei schon vor dem Ersten Weltkrieg aus Oberschlesien nach Hamburg gekommen. Jetzt, wo er einen ganzen Bauernhof bekommen konnte, wollte er wieder Pole sein. Aus Ostpolen schien keiner der Polen zu stammen, die damals in unser Dorf kamen. Für uns alle begann eine neue Leidenszeit, am schlimmsten aber hatte unser Onkel zu leiden. Die neuen Machthaber holten ihn zu ständig neuen Verhören, die sie in einem Nachbargebäude, einer Schmiede, durchführten. Dort legten sie ihn über einen Amboss und schlugen mit Knüppeln auf ihn ein, bis er weder stehen noch gehen konnte. Was sie von ihm wissen wollten und ihm vorwarfen, hat er nie erfahren. Er war Deutscher und damit „Hitlerowi“, das genügte. Diese Leidenszeit endete für ihn und für uns mit der Vertreibung aus Wiesau am 25. Februar 1946. Wir wurden alle nach Langwarden gebracht, das auf der Halbinsel Butjadingen an der Nordseeküste liegt. Das Ehepaar Tautz erhielt mit seiner Pflegetochter Angela ein Zimmerchen bei einem Bauern, der in Kauf genommen hatte, dass er von dieser Familie wenig Hilfe erwarten konnte. Wieder in den Schuldienst zu kommen, gestaltete sich für den 53jährigen Rektor aus dem Osten, dessen Personalakte hier nicht greifbar war, recht schwierig. Unter welchen Umständen er sich damals noch entschlossen hatte, in die Partei einzutreten, war eine Geschichte für sich gewesen, die für all diejenigen wenig glaubhaft klingen konnte, die ihre Entscheidungen nicht hatten unter Terror treffen müssen. „Entnazifiziert“ aber musste damals jeder werden, der in den Staatsdienst eingestellt werden wollte. Damit wurde die Prozedur bezeichnet, mit der von einer Kommission untersucht wurde, wie stark sich der Antragsteller als Nazi engagiert hatte. Der Antragsteller Franz Tautz hatte es nicht leicht, vor einer solchen Kommission zu bestehen, weil er sich nur auf eidesstattliche Gutachten stützen konnte. Sich die zu beschaffen, war unter den damaligen Umständen nicht leicht und konnte durchaus entwürdigende Formen annehmen. In der alten Akte meines Onkels befinden sich Abschriften von fünf eidesstattlichen Erklärungen, die von Bauern aus Wiesau stammen, die von den Vorgängen da-
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mals im Nachbarort Gabersdorf wussten und selbst gut beleumundet waren. Zwei weitere Schreiben kamen aus Berlin. Eines ist von einem früheren Schüler am 15. September 1946 abgefasst worden, der sich als anerkannter Kämpfer gegen den Faschismus äußert und seinem früheren Lehrer das beste Zeugnis aussteht. Das andere Schreiben hat der Schwager des Antragstellers abgefasst, der 1931 aus Amerika zurückgekehrt war und bestätigen konnte, dass Franz Tautz schon damals das Unglück kommen sah und ihm geraten habe, falls eine der extremen Parteien ans Ruder kommen würde, wieder nach Amerika zurückzukehren. Es wirft außerdem ein Schlaglicht auf die damaligen Lebensverhältnisse der Familie Tautz, die vertrieben und beraubt worden war. Ihr fehlte zum Hausstand alles, vom Löffel bis zum Hemd hatte sie alles zurücklassen müssen. Der Schwager kündigt nämlich in seinem Brief ein Päckchen an, das Nägel und ein Stück altes Treibriemenleder für die Reparatur der Schuhe enthalten werde. So war das damals, wenn Leumund und Schuhe schadhaft geworden waren und wieder hergestellt werden mussten. Die Menschenwürde ist schnell beschädigt, sie wieder zu heilen ist nicht leicht und dauert lange. Der Rektor Franz Tautz wurde Ende 1946 wieder in den Schuldienst eingestellt, allerdings nur als Lehrer an einer einklassigen Schule. So hatte er nach dem Ersten Weltkrieg in Birkhagen, dem kleinen Dörfchen an der tschechischen Grenze, einmal angefangen. Jetzt erhielt er den Auftrag, ein altes, fast verfallenes kleines Schulgebäude, das in der Hitlerzeit zweckentfremdet verwendet worden war, wieder mit Leben zu füllen. Es stand in Kleinenkneten in der Nähe von Wildeshausen, das im Oldenburger Land liegt. Als er diese Schule am 4. November 1946 eröffnete, standen 87 Kinder vor der Tür, 31 einheimische Kinder und 56 von vertriebenen Eltern. Da die Kinder nicht alle zur gleichen Zeit in dem Klassenraum sitzen konnten, mussten sie in zwei Schichten unterrichtet werden. Am Schulgebäude befand sich eine kleine Lehrerwohnung, erweitert durch einen Stall und einen Schuppen. Alles in einem desolaten Zustand. Die Lehrerwohnung war natürlich leer und die Familie, die einzog, besaß nichts, weder Möbel noch Betten, eben nichts, was zu einem Hausstand gehört. Die Ratten begrüßten die Neuankömmlinge mit großen Augen. Aber nach einigen Monaten sah alles schon ganz anders aus, weil sich einige Bauern von ausrangierten Möbelstücken getrennt hatten. Wer wird sich heute noch vorstellen können, wie spartanisch diese Lehrerfamilie damals in Kleinenkneten gelebt hat? Es war in den Herbstferien 1953. Ich war nach Kleinenkneten gefahren, um zu helfen. Der Onkel hatte mit mir zusammen einen Baum gefällt, der am Rande des Schulhofes stand. Seine Wurzeln waren in die Sprunggrube hineingewachsen und störten beim Sport. Nun saßen wir auf dem Stamm, ruhten uns aus und unterhielten uns. Wir hatten schon einmal miteinander Bäume gefällt, in Wiesau nämlich, im Herbst 1945, als uns die Polen den ganzen Winter über zur Zwangsarbeit in den Wald geschickt und dabei gehörig drangsaliert hatten. Da stand unvermittelt wieder die alte Frage vor uns: Wie konnte das alles passieren? Nach einem langen Schweigen sagte mein Onkel, der Lehrer Franz Tautz aus dem Posener Land, der mehrmals vertrieben wurde, sich immer wieder eine neue
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Zufluchtstätte suchen musste und jetzt in Kleinenkneten im Oldenburger Land eine Bleibe gefunden hatte, traumatisiert durch all das, was er erlebt und erlitten hatte, soweit ich mich erinnern kann, sinngemäß folgendes: Der Nationalismus hat damals viele völlig fanatisiert und dann blind vor Hass zu Unmenschen werden lassen. Schuld waren an allem immer ganz allein die anderen. Ohne Versailles wäre wahrscheinlich Hitler nicht an die Macht gekommen, und ohne den fanatischen Nationalismus wäre auch Versailles nicht zu dem geworden, wozu es vor allem für uns aus dem Osten geworden ist. Gewiss, Polen wollte den Krieg 1939, aber der „große Staatsmann“ Hitler hat ihnen auch prompt den Gefallen getan und angefangen. Der Verlierer muss dann natürlich immer die Schuld an allem ganz allein tragen. Welch barbarische Formen Rachsucht annehmen kann, haben wir erlebt. Jeder der selbsternannten Rächer glaubte, im Namen einer höheren Gerechtigkeit zu Raub und Mord an jedem Deutschen berechtigt zu sein. Durch den Nationalismus ist die Welt so gründlich aus den Fugen geraten, dass sogar diejenigen, die Christen sein wollen, dem brutalen Stalin eifrig behilflich waren, wenn es um die Vertreibung der Deutschen ging. Und dann stellte sich mein Onkel eine Frage, die er sich wohl, wie es mir schien, schon oft gestellt hatte: Wie war es nur möglich, dass sich in Kulturnationen so schreckliche Verbrechen ereignen konnten, Verbrechen, unter denen nicht nur die jeweiligen Opfer, sondern auch die Täter noch lange zu leiden haben werden. Es war das letzte Gespräch mit ihm. Wenige Wochen später, am 7. November 1953, erlag er einem Herzinfarkt – nach einem mühevollen Weg durch die zerklüftete Landschaft der ersten fünf Jahrzehnte im 20. Jahrhundert. Er war nur 60 Jahre alt geworden.
Die katholische Kirche der Grafschaft Glatz in den Jahren 1918 bis 1946 Von Dieter Pohl
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enn man die Auswirkung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Jahre 1918 bis 1946 mit ihren Umbrüchen und Katastrophen auf die Kirche der Grafschaft Glatz beschreiben will, bietet sich als primäre Quelle die Chronik der Stadtpfarrkirche zu Glatz an, deren handschriftliches Original sich im Archiv der Glatzer Pfarrei befindet und die seit 2009 in einer kommentierten Edition1 gedruckt vorliegt. Die hier im Text in Klammern angegebenen Nummern sind die Seitennummern in dieser Edition, die von der Seitennummerierung im handschriftlichen Original abweichen. Niemand könnte berufener sein, das Geschehen zu dokumentieren, als die beiden Stadtpfarrer – Prälat Skalitzky bis 1921 und danach Prälat Dr. Monse bis 1946 – die hier als direkt betroffene Zeitzeugen und als präzise Berichterstatter ihrer Chronistenpflicht genügt haben. Selbstverständlich werden auch ergänzende Quellen herangezogen.
Kriegsende und Weimarer Republik (1918–1933) Die Situation der Kirche in der Grafschaft Glatz am Ende des Ersten Weltkrieges und die daraus resultierende Entwicklung lässt sich nur verstehen, wenn man zunächst die durch den verlorenen Krieg entstandenen radikalen politischen, staatsrechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Brüche betrachtet. Die düstere Situation im Spätherbst 1918, wenige Tage vor Kriegsende, wurde Grundlage für das weitere politische und wirtschaftliche Geschehen in Europa. Speziell für die Grafschaft Glatz kam das Problem der Zugehörigkeit zum nun „ausländischen“ Erzbistum Prag hinzu. Der erst kurz zuvor ernannte Erzbischof von Prag, Graf Huyn, der noch im Juli seinen ersten Visitations- und Firmungsbesuch in der Grafschaft unternommen hatte, floh im November vor den Tschechen in die Schweiz (122, 123, 126). Zunächst ein kurzer Rückblick: Die militärische Situation für das Deutsche Reich und das verbündete Österreich-Ungarn ist aussichtslos. Am 28. Oktober übernehmen die Tschechen in Prag von den k.u.k. (österreichischen) Behörden gewaltlos die Macht und rufen die „Tschechoslowakische Republik“ aus. Am 31. Oktober tritt das Königreich Ungarn aus der Reichseinheit mit Österreich aus, die Doppelmonarchie hat aufgehört zu bestehen. In Berlin resigniert am 30. September der als „ultramontaner Katholik“ geltende Reichskanzler v. Hertling (Zentrum) (125, 128). Am 9. November dankt Kaiser Wilhelm II. ab und flieht nach Holland. Die Republik wird ausgerufen. In Österreich 1
Pohl, Dieter (Hg.): 40 Jahre Kirchengeschichte der Grafschaft Glatz in Schlesien 1906–1946. Die Chronik der katholischen Stadtpfarrkirche zu Glatz, geführt von den Stadtpfarrern Prälat Augustin Skalitzky (1906–1921) und Prälat Dr. Franz Monse (1921–1946), Köln 2009. Die hier in Klammern gesetzten Seitennummern beziehen sich auf dieses Werk.
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verzichtet am 11. November Kaiser Karl I. auf jegliche Beteiligung an den Staatsgeschäften und entlässt die Regierung. Er wird von der Entente (den Siegermächten) nach Madeira verbannt, wo er 1922 stirbt.2 Am 11. November beginnt der Waffenstillstand zwischen Deutschland und seinen Kriegsgegnern. Die wirtschaftliche und soziale Lage in der Grafschaft ist, mehr als sonst im Reich, katastrophal, die Not unbeschreiblich: Mangel an Nahrungsmitteln, Bekleidung und Schuhen, Heiz- und Beleuchtungsstoffen herrscht überall. Viele Familien haben kein Einkommen, weil die Männer in Kriegsgefangenschaft oder gefallen sind: In Glatz erhalten 900 Familien von der Stadtverwaltung „Kriegsunterstützung“ (121). Es herrscht allgemeine Unzufriedenheit, Verdrossenheit, Hoffnungslosigkeit (126). Die letzten Monate des Jahres 1918 und die ersten Monate des folgenden Jahres sind durch Revolution und politische Streiks im ganzen Reich gekennzeichnet. Die radikale Linke versucht eine sozialistische Rätediktatur zu erzwingen. Überall werden revolutionäre Arbeiter- und Soldatenräte gebildet, so auch in Glatz (126) und in Neurode.3 Die Revolution erhebt mächtig ihr Haupt! schreibt der Glatzer Stadtpfarrer Skalitzky unter dem 8. November 1918 in der Pfarreichronik. Im Reich gibt es blutige Kämpfe der Kommunisten und Spartakisten gegen die Regierungstruppen und wilde Streiks (126, 127), und: In der Nacht vom 29.–30. [November] knallten die ersten scharfen Schüsse in Glatz (126). Im März 1920 verlässt wegen der revolutionären Zustände in Berlin die Reichsregierung die Stadt und übersiedelt nach Weimar. Am 11. August tritt die Weimarer Reichsverfassung in Kraft, nach der man die Weimarer Republik benennt. Sie wird als Periode der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Instabilität in die Geschichte eingehen.
Die Tschechoslowakei erhebt Ansprüche auf die Grafschaft Glatz. Befürchtungen der Kirche Die „Tschechoslowakische Republik“, der neu entstandene Nationalstaat, erhebt 1918 sehr weitgehende Gebietsansprüche, darunter vor allem auf die Grafschaft Glatz. Der Außenminister Dr. Beneš ist der Autor umfangreicher Memoranden4 mit Anträgen an die Friedenskonferenz 1919/20 in Paris. Von besonderer Bedeutung für die Grafschaft ist das Memorandum Nr. 9 mit einer eingehenden Begründung.5 Zwei tschechische Kartenskizzen „KLADSKO“ mit unterschiedlichen Varianten der Abtretungsansprüche aus diesem Text sind hier gezeigt (Abb. 1, 2). 2
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Der Sohn des Kaisers, Dr. Otto von Habsburg, war u. a. österreichischer, ungarischer und deutscher Staatsbürger, CSU-Mitglied des Europäischen Parlaments und lebte bis zu seinem Tode am 4. Juli 2011 am Starnberger See. Chronik Königswalde, Teil I, S. 51. Vgl. Raschhofer: Die tschechoslowakischen Denkschriften für die Friedenskonferenz von Paris 1919/1920, in: Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Berlin 1928. Die Arbeit enthält die deutsche Übersetzung mitsamt dem französischen Urtext der 12 Memoranden. – Memorandum Nr. 9: Das Problem des Glatzer Gebietes (mit den Karten Nr. 16 und 17). Zitiert in Boese, Robert: Die tschechoslowakischen Denkschriften ... [Vgl. Anm. 4], in ihrer Bedeutung, insbesondere für die Grafschaft Glatz. GHB 1937, S. 73–79.
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Abb. 1: Ansprüche der Tschechoslowakei (1919), Beneš-Memorandum Nr. 9, „Erste Möglichkeit“ (Vgl. Anm. 4, Raschhofer, Karte Nr. 16)
Abb. 2: Ansprüche der Tschechoslowakei (1919), Beneš-Memorandum Nr. 9, „Zweite Möglichkeit“ (Vgl. Anm. 4, Raschhofer, Karte Nr. 17)
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Die tschechischen Ansprüche lösen eine starke Protestbewegung mit Massenversammlungen in der Grafschaft wie auch außerhalb aus. Die maßgebliche Initiative hat der Habelschwerdter Rechtsanwalt Robert Boese. Sie führt zur Bildung eines „Ausschusses zur Tschechenabwehr“ unter dem Vorsitz Boeses, der in einer Rede am 14. Dezember 1918 unter anderem aufzeigt, welch drastische Maßnahmen die Prager Regierung gegen die katholische Kirche ergriffen hatte. Bei einem Erfolg der tschechischen Bemühungen seien solche auch in der Grafschaft Glatz zu erwarten. Die Arbeiten des Ausschusses führen zu Eingaben an den Reichspräsidenten, die Reichsregierung und zu einem Telegramm vom 31. Januar 1919 mit einer Rechtsverwahrung und einer eindrucksvollen Unterschriftenliste an den Präsidenten der USA, Wilson, in dem die Problematik ausführlich dargelegt wird.6 Die Frage nach der zukünftigen kirchlichen Zuordnung der Grafschaft Glatz (Prag oder Breslau?) wird gestellt (129). Auch der Grafschafter Klerus lehnt die Tschechisierung der Grafschaft vehement ab und plädiert für die Errichtung eines eigenen Bistums; auch Alternativen werden diskutiert: ein Generalvikariat innerhalb der Prager oder auch der Breslauer Diözese oder sogar das Aufgehen in der Breslauer Diözese ohne Generalvikariat.7 Im Juni 1919 wird der Friedensvertrag von Versailles, der „Schmachfrieden“, mit seinen extremen und von den Besiegten als ungerecht empfundenen Bedingungen abgeschlossen8 (129). Er enthält nichts über die Grafschaft Glatz. Die Ansprüche der Tschechen werden weiterhin vorgetragen, letztlich aber ohne Erfolg9 (139).
Die katholische Kirche der Grafschaft Glatz im neuen Staat Der schon oben genannte Prager Erzbischof Huyn hatte noch im Juli und August 1918 eine Firmungsreise in die Grafschaft unternommen, die dort wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und seiner ausländischen Nationalität durchaus kritisch gesehen wurde, die aber erfolgreich verlief. Sein Nachfolger František Kordač stattete seinem preußischen Bistumsanteil 1924 seinen ersten Besuch ab, der nicht ganz ohne Misstöne verlief. Nach seiner Resignation 1931 folgte ihm der bisherige Bischof 6
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Vgl. Boese, Robert: Die Grafschaft Glatz und die Tschechen, in: Die Tschechengefahr für die Grafschaft Glatz, Sondernummer der GHB, 1. Januar 1919, S. 14–21. – Weiser: Rückblick auf die Bewegung gegen die Tschechisierung der Grafschaft Glatz, in: GHB 1919 S. 8–16. Wortlaut des Protesttelegramms S. 12–15, Liste der Unterzeichner: S. 15–16, ders.: Zur Tschechenabwehr, ebd., S. 42–44. Vgl. Hirschfeld: Prälat Franz Monse, Sigmaringen 1997, S. 41, und: Flugschrift „Kirchliches aus der Grafschaft Glatz“, Glatz 1919. Vgl. auch Kommentare dazu von Albert, F., in: DGG, Jg. 1919, S. 57–58, und Boese in: GHB, Jg. 1919, S. 92–93. Vgl. Nentwig, Heinrich: Die Tätigkeit des Vereins für Glatzer Heimatkunde [VGH] zur Wahrung des deutschen Charakters der Grafschaft Glatz und ihrer Nachbargebiete, in: GHB 1939, S. 22–24. (anonym) Flammender Protest. In: DGG, Jg. 1919, S. 15–16. – Boese, R.: Äußerungen der Entente und Zeitungsstimmen zu der Frage: Wird die Grafschaft tschechisch? In: GHB 1919, S. 5–7, – ders.: Weitere Stimmen zur Tschechenfrage, ebd., S. 44–45, – ders.: Die Tschechen geben die Hoffnung auf die Grafschaft nicht auf, ebd., S. 94 – 95. – 1921 erscheint eine 56-seitige Schrift des VGH: „Die Grafschaft Glatz kein Tschechenland.“
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von Königgrätz, Karel Kašpar. Er kam 1932 zu einem Kurzbesuch in die Grafschaft Glatz.10 Während Ende 1919 die letzten Reste der kirchenfeindlichen Maigesetze von 1873 (Kulturkampf) beseitigt werden (130–131), verschlechtert sich die Versorgung der Bevölkerung mit Kohle, Lebensmitteln und anderen Gütern trotz des Kriegsendes weiter. Die schon im Krieg verringerten Brotrationen werden mehrfach weiter herabgesetzt. Wegen des Fehlens von Weizenmehl tritt ein großer Mangel an Hostien ein. Die Währung verfällt mit zunehmender Geschwindigkeit. Die Zahl der Pfarrgemeinden, Kuratien und Lokalien in der Grafschaft konnte in den ersten Jahren nach Kriegsende von 62 auf 67 erhöht werden. Das Zahlenverhältnis von Priestern zu Gläubigen ist allerdings ungünstig: In der Mitte der 1920er Jahre kommen auf einen Geistlichen in der Grafschaft 1 792 Gläubige, während es beispielsweise im Bistum Fulda 999 sind.11 Ein bemerkenswertes Aufblühen des katholischen kirchlichen Lebens in der Grafschaft Glatz zeigen die Ordensniederlassungen: Franziskaner, Jesuiten, die Genossenschaft von den Heiligsten Herzen Jesu und Mariae (Arnsteiner Patres, SS. CC.), die Missionare von der heiligen Familie12 (MSF) und die – 1936 vom Papst aufgehobenen – Nazarener (342).
Das Verhältnis zwischen katholischer und protestantischer Kirche in der Grafschaft Glatz In der Reformationszeit war die Grafschaft Glatz nahezu vollständig protestantisch. Nach der 1622 einsetzenden Rekatholisierung kehrte sie, nicht ohne kaiserliche Zwangsmaßnahmen, in den folgenden Jahrzehnten zum katholischen Glauben zurück. Besonders erfolgreich hatten sich hier die Jesuiten betätigt mit der Förderung der Bildung (Gymnasium Glatz), mit der Gründung kirchlicher Bruderschaften und dem Bau barocker Kirchen bzw. der Barockisierung bestehender Kirchen. Diese prägen noch heute zusammen mit den unzähligen Wegekreuzen und Heiligenstatuen das Landschaftsbild der Grafschaft. Erst im Jahre 1742, mit der Eroberung der Grafschaft durch Friedrich den Großen, entstand in der Garnisonstadt Glatz wieder eine evangelische Gemeinde, die vor allem durch hierher versetzte preußische Offiziere und neue Verwaltungsbeamte gebildet wurde. Auch in den anderen Städten und mehreren Dörfern entstanden protestantische Parochien.13 Die Grafschaft blieb aber für die Evangelischen ein reines Diasporagebiet.14 10
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Vgl. Hirschfeld: Die Prager Fürsterzbischöfe und die Grafschaft Glatz 1740–1946, in: AGGMitteilungen Nr. 7 (2008), S. 24–38. Ders.: Zwischen Kulturkampf und Vertreibung, in: Jung, F. (Hg.): Auf dem Weg durch die Jahrhunderte, S. 141–142. ebd., S. 144–145. Vgl. Heinzelmann, P.: Geschichte der Evangelischen Kirche der Grafschaft Glatz, 2. Aufl., Breslau (1926). Vgl. Hutter-Wolandt, U.: Evangelisches Leben in der Grafschaft Glatz im Laufe der Jahrhunderte, in: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte, Bd. 72 (1993), S. 61–75.
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Wie man der Chronik der Stadtpfarrkirche Glatz15 an vielen Stellen entnehmen kann, war das Verhältnis der beiden Konfessionen hier stets angespannt. Eine besondere Rolle spielten in diesem Zusammenhang die auf katholischer Seite verpönten Mischehen.
Dr. Franz Monse wird neuer Stadtpfarrer von Glatz und später Generalvikar und Großdechant Am 1. Oktober 1921 tritt der hochverdiente Glatzer Stadtpfarrer Prälat Augustin Skalitzky, Ehrenbürger der Stadt, in den Ruhestand. Sein Nachfolger wird nach Präsentation durch das Breslauer Oberpräsidium – Glatz stand unter preußischem Staatspatronat – und Bestätigung durch das Prager Konsistorium der ehemalige Glatzer Oberkaplan und Religionslehrer und spätere Prälat Dr. Franz Monse16 (143–413, 420). Die Glatzer Pfarrei umfasste zu dieser Zeit mehr als 15 000 Gläubige. 1938 wird Monse unter Beibehaltung seines Amtes als Glatzer Stadtpfarrer vom Prager Erzbischof zum Fürsterzbischöflichen Generalvikar und Großdechanten der Grafschaft Glatz ernannt. Er leitet nun die Geschicke der katholische Kirche der Grafschaft bis zur Vertreibung 1946 und ist danach bis zu seinem Tode 1962 für die seelsorgliche Betreuung der vertriebenen Grafschafter verantwortlich.
Die Geldentwertung bis zur Hyperinflation und ihre Auswirkungen auf die Kirche Als Folge des verlorenen Ersten Weltkrieges verfällt der Wert der Mark gegenüber den ausländischen Währungen immer mehr; im Januar 1920 beträgt die Kaufkraft der Mark nur noch 3 bis 4 Pfennige. Am Jahresende ist der Glatzer Klerus in Not: die Mittel reichen nicht mehr hin, um einen dritten Kaplan zu unterhalten. Im März 1922 müssen die Stolataxen (Gebühren für kirchliche Amtshandlungen) erhöht werden, ebenso die (örtlichen) Kirchensteuern. Im Herbst (154) werden die Gehälter der Kirchenbeamten nach Kirchenvorstandsbeschluss wie die der Staatsbeamten um 188 % erhöht, kurz darauf nochmals um 46 % (156). – Oktober: der Dollar steht auf 9 400 Mark. Januar 1923: Die Gehälter der Beamten und der Kirchenbeamten steigen auf 365 %. Woher soll die Kirchenkasse das Geld nehmen? (160). Die Sozialeinrichtungen der weiblichen Orden in Glatz (Waisenhaus, Kinderkrippe, Säuglingsheim) sind wegen der Inflation in großen Nöten (158). Wegen der rapiden Geldentwertung führt der Glatzer Stadtpfarrer Franz Monse eine Naturalwährung ein: Die neue Stolaordnung wird mit Genehmigung des erzbischöflichen Generalvikariatsamtes (Generalvikar Franz Dittert) wie folgt festgelegt und vom Amt genehmigt am 29. Mai 192317 (166): 15 16 17
Vgl. Pohl, wie Anm. 1. Vgl. Hirschfeld, wie Anm. 7, S. 28–29. Die Besoldung der Kirchenbeamten erfolgte analog zum Reichsbesoldungsgesetz für Reichs-, Provinzial- und Kommunalbeamte. Pfarrer gehörten zur Besoldungsgruppe X (wie z. B. Regierungsräte, heutige Besoldungsgruppe A 13).
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−− Beerdigungen: Unbemittelte 6–10 000 Mk −− I. Auf dem neuen Friedhof (mit hl. Messe) −− Gehaltsgruppe IV–VII = ¼ Zentner Hafer; VIII, IX = ½ Zentner Hafer; X ff = ¾ Ztr. Hafer −− II. Auf dem Kreuzfriedhof mit hl. Messe −− IV–VII = ½ Zentner Gerste; VIII, IX = ¾ Ztr. Gerste; X ff = ¾ Ztr. Weizen −− Feierliches Begräbnis: 2 Zentner Weizen. −− Trauungen (mit Messe): −− IV = ¼ Ztr. Gerste, V–VII = ½ Ztr. Gerste; VIII, IX = ¾ Ztr. Gerste; X ff = 1 Ztr. Gerste −− Mit Predigtamt: 2 Zentner Hafer, Gerste, Roggen, Weizen. Mitte 1923 erfolgen weitere Preissteigerungen: 1 Zentner Weizen = 400 000, Roggen 300 000, Gerste 330 000, Kartoffeln 50 000 Mark. Der Dollar steht auf 159 000 Mark, zwei Monate später auf 20 Millionen (172). Auch in der Kirche muss gespart werden: bei der hl. Messe nur 1/5 des Messkännchens mit Wein füllen; nur 2 Kerzen anzünden. Weihrauch nur noch körnchenweise (173). Wie soll das weiter gehen? Überall Bettel und Arbeitslosigkeit (176). – Herren des Kirchenvorstandes und der kirchlichen Gemeindevertretung reagieren höchst unwillig auf notwendige Erhöhungen der örtlichen Kirchensteuer. Daher hat der Pfarrer beschlossen, eine Anzahl von Bäumen auf dem Kreuzfriedhof fällen zu lassen. Mit der durch den Verkauf erzielten Summe soll die Besoldung der Kirchenbeamten für die nächsten vier Monate aufgebracht werden. – Ein Brot kostet 7 Milliarden. Der stellvertretende Vorsitzende des Kirchenvorstandes zahlt 70 Millionen Kirchensteuer, also den 100. Teil eines Brotes, mit anderen Worten eine Brotkrume ... Das ist dem Herrn zu viel! (176). Eine kleine Kuriosität: Pfarrer Monse zeigt den Verlauf der Inflation unter anderem anhand des Preises für eine Zigarre: 16.10.1922 = 15 Mark, 15.11. = 30, 3.1.1923 = 100, 22.4. = 200, 2.9. = 200 000, 10.10. = 100 Millionen Mark. Der Dollar steht auf 4 Billionen 189 Milliarden 500 Millionen Papiermark (176). – Am 1. November 1923 wird eine Währungsreform durchgeführt: neues Zahlungsmittel ist die Rentenmark (RM) mit den festgesetzten Kursen 1 Billion Papiermark = 1 Rentenmark und 1 $ = 4,20 Rentenmark. Der Weimarer Regierung gelingt es, den Kurs der neuen Währung stabil zu halten. Die Hyperinflation ist beendet. 1924 wird die Rentenmark durch die goldgedeckte Reichsmark abgelöst (Abb. 3, 4). Damit ist aber zunächst noch kein Geld für die Bezahlung der Kapläne da. Dem Pfarrer gelingt es, freiwillige Getreidelieferungen der Landwirte zu organisieren. Das Getreide wird an die Zentrale des Bauernvereins geliefert und steht dort für den Verkauf durch die Pfarrei zur Verfügung (177). 1924 werden die Beamten zum Teil entlassen, auch am hiesigen Gymnasium und an der Volksschule. Es kommen Leute von 55 bis 60 Jahren in Frage (180).
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Abb. 3: Inflationsbanknote von 1923. Foto: Pohl
Abb. 4: Banknote nach der Hyperinflation: die 1923 eingeführte Rentenmark, deren Wert fest an den Golddollar gebunden war. Sie wurde 1924 durch die gleichwertige Reichsmark ersetzt, blieb aber parallel zu dieser gültig bis 1948. Foto: Pohl
Die Grafschaft Glatz wird Fürsterzbischöfliches Generalvikariat. Die Glatzer Pfarrkirche wird Dekanatskirche. Am 2. August 1920 erhebt der neue Prager Erzbischof František Kordač die Grafschaft Glatz zum Generalvikariat und den Großdechanten und Grafenorter Pfarrer Dr. Edmund Scholz zum ersten Generalvikar. Damit hat die Grafschaft unter den veränderten staatspolitischen Zuständen wieder eine arbeitsfähige Kirchenorganisation. Nach dem Tode von Dr. Scholz im Jahre 1920 wird der Pfarrer von Mittelwalde, Dittert, zum Generalvikar und Großdechanten ernannt. Die Glatzer Stadtpfarrkirche ist am 8. September 1935 zur Dekanatskirche erhoben worden (338). Großdechant Dittert stirbt am 18. Dezember 1937.
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Der Stadtpfarrer von Glatz, Dr. Franz Monse, wird im März 1938 durch den Prager Fürsterzbischof Karel Kardinal Kašpar zum Großdechanten und Generalvikar ernannt (350).
Das Großprojekt des neuen Glatzer Stadtpfarrers: Die Restaurierung der verfallenden Stadtpfarrkirche Schon Stadtpfarrer Augustin Skalitzky hatte 1919 Pläne für eine grundlegende Renovierung der gotischen Pfarrkirche entwickelt, aber wegen der ungünstigen Zeitumstände nicht realisieren können.18 – Auch für die Glatzer Stadtpfarrkirche brechen mit der Berufung Dr. Monses zum Nachfolger bedeutsame Jahre an, aber im positiven Sinne. Die wertvolle Bausubstanz der denkmalgeschützten Kirche war durch jahrhundertelange Vernachlässigung in einem beklagenswerten Zustand. Mehrfach hatten Bau- und Denkmalschutz-Sachverständige aus Breslau und Berlin Glatz besucht, um die Möglichkeiten einer dringend nötigen Restaurierung der Stadtpfarrkirche zu prüfen. Die erforderlichen enormen Mittel sind wohl kaum aufzubringen. Dr. Monse nimmt sich nach seinem Amtsantritt sofort der Angelegenheit an; sie wird ihn noch jahrelang beschäftigen, schließlich aber 1936 (343) erfolgreich abgeschlossen werden. Die fortschreitende Geldentwertung während der oben beschriebenen Inflationszeit lässt die Reparatur des Kirchendaches zunächst illusorisch erscheinen. Die Kollekten für die Renovation bringen sonntäglich etwa 700 Mark – das ist der momentane Gegenwert eines Dollars (Mitte 1922). Januar 1923: Die Ziegeln des Kirchendaches allein würden heute 15–20 Millionen Mark kosten (160). Was soll aus unserer Pfarrkirche werden? Ihr Zustand wird immer trostloser. Die ganze Renovation würde wohl 70 Millionen Mark kosten, in der Kirchenrenovationskasse sind 700 000 Mark. Staatslotterie wurde abgelehnt (162). Die Regierung weigert sich, aus Mangel an Mitteln des Patronatsfonds19 das ihr zukommende Drittel zur Renovation des Daches zu zahlen (173). – Die Gemeindevorsteher [der Dörfer] der Glatzer Pfarrei erklären sich einverstanden, dass pro Morgen Ackerfläche 5 Pfund Getreide abgeliefert werden, um durch den Verkaufserlös wenigstens das Notwendigste an der Kirche zu renovieren (163). Ein Quadratmeter Zink kostet 40 000 Mark, 100 qm werden gebraucht. Juli: Die Renovation der Kirche kann begonnen werden – in kleinen Schritten. Zur Renovation des Hauptdaches und der Rinnen sind 400 Millionen Mark nötig! Hoffentlich sind sie im nächsten Jahr zusammen! (170). Bei einem kurzzeitigen Preisrückgang für Zinkblech gelingt es dem Pfarrer in einer Blitzaktion, das notwendige Material für die Dachrinnen in Breslau zu kaufen – Wir haben also schon 200 Millionen gespart (173). 1925, Februar: Die beiden Türme sind seit einem halben Jahr eingedeckt. Das Chortreppentürmchen ist wiederhergestellt. Die Hälfte des Hauptdaches ist seit Herbst gedeckt, die andere Hälfte wird in diesem Jahr fertiggestellt (189, 190). – Die Renovation des Mauerwerks wird in Erwägung gezogen (194). 18 19
Vgl. Hirschfeld, wie Anm. 7, S. 31–33. Der preußische Staat war Kirchenpatron und deshalb verpflichtet, einen Teil der Kosten für die Instandhaltung zu tragen.
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1926: Das Hochbauamt fordert von der Kirchengemeinde für die Außenrenovation der Kirche auf der Nordseite 150 000 Mark. (210, 212) Es wird beschlossen, die Kirchenrenovation hinauszuschieben, bis ein Grundstock angespart ist (213). 1928/29: Mit der Instandsetzung der Südfront wird begonnen (240, 246, 252). Im Juli 1929 werden noch erhebliche Baumängel festgestellt: die Strebpfeiler sind nur Schalen, mit Sand, Erde und Steinen gefüllt. Insgesamt sind noch hohe Kosten aufzubringen: Südseite, Hochchorseite, Westseite, Nordseite. Auf die Wichtigkeit des Kunstdenkmals an der tschechischen Grenze wird hingewiesen. Die weiteren Arbeiten werden in Angriff genommen. Kostenträger sind die Kirchengemeinde, der preußische Staat als Patron (ein Drittel), eine staatliche Denkmalslotterie und der staatliche Denkmalsfonds (258–260, 263, 267, 268). 1932 werden die Türme renoviert. 1933 bestehen weiterhin größte Sorgen wegen der Kosten. Noch wiederherzustellen sind der ganze Südturm, die Portalseite mit dem großen Fenster und die Schmuckzone des Nordturmes mit den Wappen (307, 316) (Abb. 5). Letztere wird 1935 renoviert (339, 340), der Südturm 1936.
Abb. 5: Die „Schmuckzone“ an der Nordseite der Glatzer Stadtpfarrkirche mit den Wappen des Landesherrn Heinrich des Älteren von Podiebrad als Herzog von Münsterberg (links) und Graf von Glatz (rechts). Foto: Pohl
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Aus den Jahren 1933 bis 1937 liegt zur Renovierung der Stadtpfarrkirche umfangreicher Schriftverkehr vor zwischen dem Preußischen Staatshochbauamt Glatz, dem Provinzialkonservator der Kunstdenkmäler Niederschlesiens, Dr. Grundmann in Breslau, dem Landeskonservator im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Berlin, dem Reichs- und Preußischen Ministerium für die kirchlichen Angelegenheiten in Berlin, dem Katholischen Pfarramt in Glatz (Dr. Monse) und dem Regierungspräsidium in Breslau.20 Den Auftrag für Entwurf und Ausführung des großen Westfensters erhalten 1935, wie diesem Schriftverkehr zu entnehmen ist, nach der Initiative und Befürwortung durch den Provinzialkonservator Dr. Grundmann die Glaskunstwerkstätten Richard Süßmuth in Penzig/Schlesien.21
Staatliche Angriffe gegen katholische Einrichtungen Der neue sozialdemokratische Kultusminister hatte am 27. November 1918 die geistliche Ortsschulaufsicht abgeschafft und durch staatliche Kreisschulinspektionen ersetzt, was in der stark katholisch geprägten Grafschaft ein tiefer Einschnitt für die Wirkungsmöglichkeiten der Kirche war. Anfang 1920 erfolgt in der Stadtverordnetenversammlung ein scharfer Angriff auf das katholische Waisenhaus (131). Am 4. April 1922 schreibt Dr. Monse: Der Kampf um die Konfessionsschule beginnt (146). Noch herrschen in Glatz vorbildliche Zustände. Es werden Unterschriftenlisten für diese Schulform in der Glatzer Pfarrei herumgereicht (159). 1924 wird in Glatz eine Schulorganisation zur Rettung der konfessionellen Schule gegründet (180).
Die kirchenfeindlichen Parteien und die Kirche: Sozialdemokraten und Kommunisten Die linken politischen Parteien treten immer stärker in Gegensatz zur katholischen Kirche. 1922: Sozialdemokraten sind bei einer Begräbnisfeier mit roten Fahnen aufgetreten. Nach Kirchenrecht musste das kirchliche Begräbnis verweigert werden (151). 1929 wird einer der führenden Kommunisten in der Gemeinde ohne kirchliche Zeremonie begraben (266). Eine rote Demonstrationsversammlung findet ausgerechnet vor der Mariensäule auf dem Ring statt mit einer Rede des sozialdemokratischen Gewerkschaftssekretärs. 20
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Staatsarchiv Breslau (2008)/APWr, Bestand „Provinzial-Konservator der Kunstdenkmäler Niederschlesiens“, Nr. 795, Signatur 211. Um das Jahr 2000 gab es Bemühungen einflussreicher Polen in Glatz, dieses Süßmuth-Fenster durch eine in dunklem Blau gehaltene Schöpfung des französischen Glaskünstlers und Kunstmalers Paul Gigon zu ersetzen. Die Finanzierung soll durch deutsche Privatleute bereits gesichert gewesen sein. Durch eine diskrete Intervention gelang es, den polnischen Generalkonservator Prof. Tomaszewski und den Direktor des Breslauer Historischen Museums, Maciej Łagiewski, einzuschalten, wodurch das 40 qm große Süßmuthfenster bis heute erhalten geblieben ist.
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Die Teilnehmer beschwerten sich über die Störung durch das Gebimmel der Kirchenglocken (153). 1923 – es ist die Zeit der Hyperinflation – gibt es in Neurode Plünderungen und Aufruhr. 28 junge Leute werden erschossen. Bauernwirtschaften wurden von den Kommunisten gestürmt, das Vieh weggeführt (171). Vor der Reichstagswahl 1928 warnt der Glatzer Pfarrer auf der Kanzel davor, sozialdemokratisch zu wählen: Sozialismus ist Weltanschauung, nicht politische Partei. Das rote Tier der Apokalypse ist im Anzuge (232, 233). Die Wahl führt allerdings im ganzen Reich zu einem glänzenden Sieg der Sozialdemokraten. Monse beklagt die Agitation der Sozialisten für die Kirchenaustrittsbewegung (235). Die „Tribüne“, ein kommunistisches Blatt, geht auch in der Glatzer Pfarrei herum. Ihr Redakteur zitiert Bismarck: Raus müssen die schwarzen Brüder! (250, 251).
Weltwirtschaftskrise; Kommunisten und Nationalsozialisten22 1929 beginnt in den Industrienationen ein schwerer volkswirtschaftlicher Einbruch, den man als Weltwirtschaftskrise bezeichnet. Diese führt, von den USA ausgehend, auch in Deutschland zu Massenarbeitslosigkeit, Zusammenbruch von Firmen und Banken und zunehmender politischer Radikalisierung. Reichskanzler Brüning (Zentrum)23 (Abb. 6) versucht erfolglos gegenzusteuern. Auch in der Grafschaft wird die hohe Arbeitslosigkeit und Verelendung zum Problem.24, 25
Abb. 6: Dr. phil. Heinrich Brüning, 1930–1932 Reichskanzler, Zentrumspartei (Quelle: Internet). 22 23
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Vgl. Jäschke: Das Aufkommen des Nationalsozialismus in der Grafschaft Glatz, in diesem Band. Dr. Heinrich Brüning, *1885 in Münster, † 1970 in Norwich/USA, begraben in Münster. 1924– 1933 Reichstagsabgeordneter der Zentrumspartei, 1930–1932 Reichskanzler. 1934 Flucht in die USA. 1937–1951 Professor an der Harvard-Universität, 1951–1955 Professor an der Universität Köln. Er weilte 1930, 1931 und 1932 bei Zentrums-Wahlveranstaltungen in Glatz. Vgl. Peucker, F.: Die wirtschaftliche Situation des Kreises Glatz...1919–1931, Glatz 1932. Vgl. Heimann, M.: Die Insel der Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit, in: DGG, 1. Januar 1933, S. 27.
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Vor den Kommunalwahlen 1929 halten die Nationalsozialisten eine Versammlung nach der anderen ab. Sie sind ausgesprochene Judenfeinde (266). Nach der Kommunalwahl sitzt erstmals ein Kommunist in der Stadtverordnetenversammlung (267). – Die kommunistische Zelle in Glatz steht in Zusammenhang mit Russland (269). Bei den Vorbereitungen zur Reichstagswahl 1930 stehen sich in Glatz Kommunisten und Nationalsozialisten scharf gegenüber. Die Nationalsozialisten haben großen Zulauf. In der Stadt Glatz verdrängen die Nationalsozialisten die Sozialdemokraten in der Stimmenzahl von der zweiten Stelle. Stärkste Fraktion ist immer noch das Zentrum. Die Kommunisten haben ebenfalls auf Kosten der Sozialdemokraten einen Stimmenzuwachs erzielt (283). Die Nationalsozialisten entpuppen sich immer mehr als Kirchenfeinde (284). Der Bischof von Mainz fordert, eingeschriebenen Nationalsozialisten die Sakramente zu verweigern und sie, wenn sie „korporativ“ beim Gottesdienst und bei Begräbnissen erscheinen, nicht zu dulden. Dann müssen in Glatz vielen sonst guten Katholiken ... die Sakramente verweigert werden. Bei Beerdigungen darf selbstverständlich die Hitlerfahne ebensowenig wie die rote Fahne geduldet werden. Der Pfarrer ersucht den Führer der Sturmschar [gemeint ist die SA, „Sturmabteilung“] der Nationalsozialisten, nicht mehr im braunen Hemd mit Hakenkreuz am Gottesdienst teilzunehmen (285). Ist der Teufel losgelassen? Die Kommunisten haben alle katholischen Gegenden mit einem Netz umsponnen, überall Spione angestellt, um maßgebliche Persönlichkeiten zu kompromittieren: Hierbei werden vor allem kirchliche Kreise der Grafschaft ins Visier genommen (286). Anfang 1931 versammeln sich die Kommunisten auf dem Ringe und schreien Nieder mit Brüning und hoch Moskau!“ (290). Die „Roten Kinderfreunde“, eine internationale religionsfeindliche Vereinigung, halten einen Elternabend in der katholischen Volksschule ab, worüber sich der Pfarrer beklagt (291, 295). Die Nationalsozialisten entwickeln eine fieberhafte Tätigkeit in der Stadt sowohl wie auf den Dörfern (292). Unter dem 30. März 1931 schreibt der Pfarrer: Jeder Pfarrer hier in der Umgebung hat schon in kommunistischen oder nationalsozialistischen Blättern gestanden und nennt eine Reihe von Beispielen (293). Am Dreifaltigkeitssonntag findet in Breslau ein großer „Stahlhelmtag“ mit 150 000 Teilnehmern statt, die zum Teil Nationalsozialisten sind. Der Stahlhelm ist eine politische und antikatholische Organisation.26 Von ihnen werden 3 000 zur Übernachtung in Glatz untergebracht. Sie verlangen eine Messe in der Pfarrkirche, die der Pfarrer verweigert, was zu heftigen Protesten führt. Die Kommunisten fassen den Stahlhelmtag als Demonstration gegen sie auf (296–298). Krieg gegen zwei Fronten, gegen links und rechts! Der antiklerikale Kampf, die Hetze von Links- und Rechtradikalen geht lustig weiter (298, 299). Beginnt schon 26
„Der Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“ wurde im Dezember 1918 in Magdeburg gegründet mit dem Anspruch, „für das Wirken aller Kriegsteilnehmer Anerkennung zu finden“. Der „Stahlhelm“ war paramilitärisch organisiert. 1930 hatte er rund 500 000 Mitglieder und stand in Opposition zur Weimarer Republik. Verbindungen zur Reichswehr, ab 1931 enge Zusammenarbeit mit der NSDAP. 1934 gleichgeschaltet und unter der Bezeichnung „NS-Frontkämpferbund“ in die SA eingegliedert. (http://www.dhm.de/lemo/html/weimar/gewalt/stahlhelm/)
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der Bolschewismus? Die Linksradikalen (Kommunisten) erstreben ihn, die Rechtsradikalen (Nazi) stehen diesem gegenüber unter Hitler. In der Mitte, zwischen beiden steht in Glatz der Pfarrer und überall der Klerus. Die Kirche wird zum Prellbock von rechts und links! (300). Während die Kommunisten 1931 eine Zeitung „Die Rote Fahne“ herausgeben, die mit schweren Angriffen gegen Glatzer Persönlichkeiten aufwartet (301), wird 1932 in Glatz ein nationalsozialistisches Blatt, „Die Grenzwacht“, gegründet27 (307). Dr. Monse erwähnt in der Pfarreichronik die Reichstagswahlen von 1932, die den Nationalsozialisten hohe Stimmengewinne bringen, in diesem Jahr mit keinem Wort. Erst im Jahr 1933 bringt er sie zusammen mit den Wahlergebnissen vom 5. März.
Das Dritte Reich: Die nationalsozialistische Herrschaft Am 30. Januar 1933 ernennt Reichspräsident von Hindenburg den Vorsitzenden der NSDAP, Adolf Hitler, zum Reichskanzler.28 Dieser von den Nationalsozialisten triumphal als „Machtübernahme“ gefeierte Sieg ist das Ende der Weimarer Republik. In diesem Kabinett mit Hitler und zwei Ministern ohne Geschäftsbereich (Frick und Göring) sind die Nationalsozialisten gegenüber acht Ministern aus dem deutschnationalen und konservativen Lager zwar stark in der Minderheit. Hitler erreicht jedoch eine Auflösung des Reichstages am 1. Februar 1933 durch den Reichspräsidenten, was die Neuwahl des Reichstages und des Landtages am 5. März 1933 erforderlich macht.29 Diese Wahlen bringen nochmals einen dramatischen Stimmenzuwachs für die NSDAP: sie stellt nun im Reichstag wie im Preußischen Landtag die bei weitem höchste Zahl von Abgeordneten.30 Überall heißt es: Der Tag der nationalen Erhebung durch Hitler ist gekommen! und Franz Monse fügt hinzu: Gott schütze seine Kirche. Es stehen für sie, wenn nicht alles täuscht, schlimme Tage bevor (314). Hitler besetzt mit Frick (Reichsinnenminister) und Göring (kommissarischer preußischer Innenminister) die beiden Machtpositionen, die über die Polizeigewalt verfügen. Göring stellt mit Angehörigen der NS-Organisationen Sturmabteilung (SA) und Schutzstaffel (SS) sowie des stark mit Nationalsozialisten durchsetzten Stahlhelm Hilfspolizeiverbände auf, die mit Schusswaffen ausgestattet sind und bis Ende April 1933 ca. 25 000 Gegner in Schutzhaft nehmen, was oft zur Überführung in die neuerrichteten Konzentrationslager führt.31
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Grenzwacht für die Grafschaft Glatz und den Großkreis Frankenstein-Münsterberg. Amtliches Blatt der NSDAP und sämtlicher Behörden. Gauverlag NS-Schlesien GmbH, Zweigverlag Glatz. Vgl. Jäschke, wie Anm. 22. www.dhm.de/lemo/html/nazi/innenpolitik/etablierung/ Vgl. Jäschke, wie Anm. 22. Vgl. Anm. 29.
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Die direkten Auswirkungen auf die Kirche in der Grafschaft Glatz Ausführlich beschreibt Michael Hirschfeld die Vorgänge, die sich schon seit 1930 abgezeichnet haben.32 Gehen wir auch wieder zu Franz Monse in seiner Pfarreichronik. Am 15. März 1933 schreibt er: Was wird werden? Die Hakenkreuzfahne ist das Hoheitszeichen Deutschlands neben Schwarz-Weiß-Rot. Gilt noch das Verbot von Zeichen erwiesener Kirchenfeindlichkeit bei Beerdigungen? Gerüchte gehen um: Jede Predigt werde mitstenographiert, wir Geistlichen genau beobachtet ... Der Habelschwerdter Pfarrer wurde abgesetzt, weil er den Kommunisten helfe und den Stahlhelm mit Fahne aus der Kirche gewiesen habe. Der Glatzer Pfarrer sei dem Minister denunziert wegen Verweigerung der Hakenkreuzfahne in der Kirche. Oberkaplan Franke spreche die Hitlerleute im Beichtstuhl nicht los ... (315). Am 18. März wird der „Gebirgsbote“33 zum zweiten Mal auf drei Tage vom Regierungspräsidenten verboten, weil er geschrieben hatte Mit Umzügen, Heil-HitlerRufen und Fackelzügen schafft man kein Brot und keine Arbeit. Im neuen Stadtparlament (Magistrat und Stadtverordnetenversammlung) haben die Nationalsozialisten die Mehrheit mit vier Stadträten gegenüber zweien vom Zentrum (315). 75 Kommunisten sind hier in Schutzhaft genommen. Der Marxismus soll ausge rottet werden. Man wirft uns Katholiken bzw. dem politischen Katholizismus vor, er habe seit 1918 die Roten, den Bolschewismus, unterstützt. Wer aber hat sie mehr bekämpft, als wir! (316). Am 10. April schreibt Monse: Überall Aufregung! Nationale Revolution! Man erwartet auch in Glatz NS-Aktionen ... In der Stadt Glatz erfolgt eine Aktion der SA gegen führende Katholiken: die Bürgermeister Franz Ludwig und Konrad Goebel, Steuerinspektor Barthel, Wohlfahrtsinspektor Niestroj, Stadtoberinspektor Spallek, Polizeikommissar Galonska, Polizeihauptwachtmeister Kurka und andere Beamten werden aufgefordert, die Ausübung ihrer Ämter auszusetzen. Stadtverordneter Wache wird in Schutzhaft genommen. – Haufenweiser Übertritt zur nationalsozialistischen Partei, selbst gute Zentrumsmänner, Flucht aus dem Zentrum. Wer nicht übertritt, soll bei Auftragsvergaben durch die Stadt übergangen werden (317). Im Mai ist eine schwere Entscheidung zu treffen. Unter Missbrauch eines Glatzer Traditionsnamens34 sind SA und SS in Glatz zur Standarte I 38 (Moltke) erhoben worden. Sie planen eine Standartenfeier. Der Pfarrer war gebeten worden, ihnen vor dieser Feier auf der Festung einen Feldgottesdienst mit Predigt (keine Messe) zusammen mit dem nationalsozialistischen (evangelischen) Pastor und Standartenpfarrer aus Landeck zu halten. Dr. Monse ist in einem schweren Gewissenskonflikt und sagt unter größten Bedenken zu. Er schreibt die ganze Predigt absichtlich wörtlich in der Chronik nieder. Aus ihr geht hervor, dass vor allem auch zur treuen Erfüllung der kirchlichen, nicht nur der patriotischen Pflichten aufgefordert wurde (318, 319). 32 33 34
Vgl. Hirschfeld, wie Anm. 11, S. 146–151. Katholische Tageszeitung der Grafschaft Glatz, Hauptorgan der dortigen Zentrumspartei. Moltke-Füsiliere: Vgl. Buchardi: Das Füsilier-Regiment Generalfeldmarschall Graf Moltke, in: Erinnerungsblätter deutscher Regimenter, o. O., 1928. Friedensgarnison Glatz.
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Gerüchte kursieren: Sämtliche katholischen Vereine sollen verboten werden. Evangelische und katholische Arbeitervereine werden als staatsfeindlich bezeichnet (320). Am 5. Juli hat sich die Zentrumspartei selbst aufgelöst, um dem bevorstehenden Verbot (das auch allen anderen politischen Parteien außer der NSDAP drohte) zuvorzukommen. In Rom wird am 20. Juli das Reichskonkordat35 unterschrieben. Kein katholischer Geistlicher darf in Zukunft einer politischen Partei angehören (320). Am 30. August 1933 wird Landrat Dr. Peucker, der dem aufgelösten Zentrum angehört hatte, beurlaubt. Mehrere Pfarrer sind in Schutzhaft genommen worden. – Überall werden Luftschutzvorkehrungen getroffen für den Fall feindlicher Grenzüberfälle. – Der „Gebirgsbote“ steht in schwerem Kampf mit dem nationalsozialistischen Blatt „Die Grenzwacht“. Das katholische Blatt ist gefährdet. – Einzelne Mitglieder des katholischen Jungmännervereins treten aus und gehen zur Hitlerjugend. – Im städtischen Parlament: Die führende Rolle im Magistrat spielen jetzt zwei Nationalsozialisten, ähnlich verhält es sich im Stadtverordnetenkollegi um (323, 325). 1934: Die SA hält Übungen fast jeden Sonntag vormittags 9 Uhr ab. Folge: Vernachlässigung der Sonntagspflicht (327). – Es finden Verhandlungen statt wegen des Verkaufs des „Gebirgsboten“ an die „Grenzwacht“. Am 30. Juni 1935 ist der Verkauf getätigt.36 Die älteste Tageszeitung der Grafschaft Glatz, 1848 gegründet, hat damit ihr Erscheinen eingestellt (327, 330, 336). Im Juni 1939 wird das kirchliche Blatt für die Grafschaft, das „Arnestusblatt“, verboten (351).
Maßnahmen gegen Geistliche Anfang 1936 wird der Glatzer Franziskanerpater Xaverius (d. i. Hubertus Günther) wegen hetzerischer Kanzelrede zu 300 RM Geldstrafe verurteilt37 (341). Der ehemalige Regens des Glatzer Konvikts, Dr. Franz Filla, wird vom Provinzialschulkollegium seines Amtes enthoben (343). Am 1. Juni erscheinen zwei Vertreter der Geheimen Staatspolizei beim Stadtpfarrer und beschlagnahmen Dokumente (347). Kaplan Taube in Glatz wird im Dezember 1937 verhaftet und nach Breslau gebracht. Er ist wegen eines staatsfeindlichen Privatgespräches angeklagt.38 (348) Besonders hingewiesen sei hier auf den 2010 seliggesprochenen Kaplan Gerhard Hirschfelder,39 auf den Großdechanten und Generalvikar Franz Dittert und seinen 35
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Gesetz zur Durchführung des Reichskonkordats vom 12. September 1933. http://www.dhm.de/ lemo/html/nazi/aussenpolitik/reichskonkordat/ und http://www.verfassungen.de/de/33–45/ reichskonkordat33.htm Im Zuge der „Gleichschaltung“ der liberalen, bürgerlichen und kirchlichen Presse handelte es sich hier nach einer Verordnung der Reichspressekammer um einen Zwangsverkauf. Hirschfeld: Hubertus Günther, in: Schlesische Kirche in Lebensbildern, Bd. 7 (2006), S. 82–86. Vgl. Völkel, Eberhard und Rita: Ludwigsdorf im Eulengebirge. Braunschweig 1999, S. 204. Vgl. den Beitrag von Hirschfeld über Gerhard Hirschfelder in diesem Band; ders.: „Wer der Jugend den Glauben aus dem Herzen reißt, ist ein Verbrecher ...“. Gerhard Hirschfelder im Konflikt ..., in: ASKG, Bd. 57 (1999), S. 195–209; Goeke: Gerhard Hirschfelder, Priester und Märtyrer. 2. Aufl., Münster 2011. Gröger, G.: 64. Wallfahrt der Grafschaft Glatzer in Telgte, in: Grafschafter Bote, 61. Jg. 2010, S. 1, 14–16.
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Nachfolger, Dr. Franz Monse. Die staatlichen Gewaltmaßnahmen gegen die Geistlichen werden in der Glatzer Pfarreichronik kaum erwähnt, was auf die gebotene große Vorsicht zurückzuführen sein dürfte. – Eine Zusammenfassung bringt Horst Stephan im Grafschafter Boten.40 Auch P. Dr. Lucius (Alfons) Teichmann OFM beschreibt eingehend Verhör- und Terrormaßnahmen staatlicher Stellen und NS-Parteiorganisationen gegen Kleriker und Laien.41
Der Zweite Weltkrieg Ende August 1939 findet in Polen die Mobilmachung statt. Es scheinen ernste Entscheidungen bevorzustehen (351). Der Beginn des Krieges wird mit keinem Wort in der Pfarreichronik erwähnt, jedoch werden die ersten Folgen vorsichtig aufgezeigt: In Glatz sind Prozessionen wegen des starken Durchgangsverkehrs ganz oder teilweise verboten. Verhandlungen und Einsprüche dem Landrat und dem Bürgermeister gegenüber waren erfolglos (351). Das Franziskanerkloster ist teilweise in ein Militärlazarett verwandelt (Ende Februar 1940). Die Franziskaner können die Sonntagsmesse im Sellgittstift nicht mehr übernehmen, da sie zu stark mit Kriegslazarettseelsorge beschäftigt sind. Jetzt mehren sich Einträge über zur Wehrmacht eingezogene Theologiestudenten und Kapläne,42 auch die ersten Gefallenen dieses Personenkreises sind zu beklagen (352, 355, 360). Es herrscht Priestermangel. Auch ist in Glatz weder ein Organist noch ein Chorrektor vorhanden (364). – Am 16. September 1940 werden großartige Erfolge unserer Wehrmacht vermeldet: Frankreich geschlagen! (354). 1941 muss auf Kosten der Kirchengemeinde unter dem Gymnasium ein Luftschutzkeller gebaut werden. Der Glatzer Klerus muss an einem Luftschutzkursus teilnehmen. Die Kunstschätze der Dekanatskirche müssen wegen der Gefahr von Luftangriffen gesichert werden, der Provinzialkonservator empfiehlt Unterbringung der beiden Madonnen in der Niederschwedeldorfer Annakapelle (357). Das in Glatz traditionell äußerst wichtige Xaveriusfest (3. Dezember) wird infolge des Krieges verlegt (356). 1943 werden wegen der Terrorangriffe auf deutsche Städte (Berlin, Köln, Schweinfurt, Regensburg und andere) Menschen aus diesen Orten in der Grafschaft untergebracht (360). Ende des Jahres werden Brandschutzmaßnahmen in der Dekanatskirche und im Pfarrhaus durchgeführt. Im Januar 1944 wird das Glockenläuten wegen etwaiger Störung des Flugmeldedienstes bei Luftgefahr verboten (363). Wegen Luftgefahr werden Breslauer Schulen in die Grafschaft evakuiert. Fast alle Pfarrhöfe haben Bombengefährdete aufgenommen (366). Im Oktober 1944 gibt es mehrmals Fliegeralarm in Glatz. Anfang März 1945 wird das Schloss in Pischkowitz bombardiert, auch in Glatz ist eine Bombe gefallen (378, 379).
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Vgl. Stephan, H.: Im Gedenken an den Widerstand – Zum 20. Juli. „Das Gewissen steht auf“. Grafschafter Priester unter Hitlers Terror, in: Grafschafter Bote Nr. 7, 1986, S. 1–2. Vgl. P. Dr. Lucius Teichmann OFM: Steinchen aus dem Strom (Skizzen aus dem Leben), Berlin 1979, S. 95–105, 117–119, 154–157. Vgl. Meißner: Feldpost, in diesem Band und in: ASKG, Bd. 68 (2010), S. 87–127.
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Im Herbst 1944 werden Männer aus Glatz in Sonderzügen zu Schanzarbeiten nach Oberschlesien gebracht:43 Totalmobilisation! (367). Anfang 1945 stehen die Russen an den Grenzen Schlesiens. Flüchtlinge treffen in Glatz ein. Es herrscht eine Angstpsychose. Der NSDAP-Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Karl Hanke erlässt das Aufgebot des Volkssturms im Gau Niederschlesien, das alle Männer von 16 bis 64 Jahren umfasst (371). Gleichzeitig erklärt er die Stadt Breslau zur Festung (372). Ein Strom von Flüchtlingen ergießt sich von der rechten Oderseite nach der Grafschaft, darunter auch viele Geistliche ... Die gesamte Geistlichkeit musste die Stadt Breslau verlassen (373). Am 1. April sind 98 flüchtige schlesische Priester in der Grafschaft (379). – Die Einwohnerzahl der Grafschafter Pfarreien ist seit Januar um 50–100 % gestiegen. Am 2. Mai berichtet die „Grenzwacht“, Adolf Hitler sei gestorben, und unter dem 8. Mai verzeichnet die Chronik in extragroßer Schrift (380, 381): Bedingungslose Kapitulation aller deutschen Streitkräfte!
Vom Kriegsende bis zur Vertreibung: Die Russen in der Grafschaft Glatz Am 9. Mai 1945 trägt Dr. Monse ein: Die Russen ziehen in Glatz ein, schon seit gestern abend! Heut abend ... erschienen zwei Kommissare im Pfarrhaus. Jeder Geistliche wurde gefragt, ob er der SS, der SA oder dem Volkssturm angehört habe. Sämtliche Taschenuhren mussten abgegeben werden. Vom nächsten Tage an ist strenges Ausgehverbot von 9 Uhr abends bis 5 Uhr früh. – Fabrikbesitzer [Gerhard] Ruffert jun.44 ist von den Russen zum Bürgermeister ernannt worden. – Viele Familien müssen ihre Wohnungen verlassen, in welche die Russen einquartiert werden. Alle übrigen Häuser der Stadt, auch der Pfarrhof, sind überfüllt; auch die Dörfer sind schon besetzt. – Einige Familien haben Selbsttötung begangen. Alle Wochenmessen sind still, die Glocken läuten nicht. Die Maiandachten fallen aus (382). Am 15. Mai findet eine Besprechung auf der russischen Kommandantur statt. Das geistliche Leben soll fortgesetzt werden wie bisher. Die städtische Verwaltung soll neu organisiert werden.45 (385 und folgende) – Es sind Plünderungen und Vergewaltigungen vorgekommen (382). – Am 22. Mai trifft die Mitteilung vom Stadtkommandanten ein, dass die Fronleichnamsprozessionen wieder stattfinden dürfen. Fronleichnam wird vom Stadtkommandanten zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Die beiden Prozessionen finden am 31. Mai und am 1. Juni unter großer Beteiligung statt. Breslau zum größten Teil zerstört! Auch andere schlesische Städte sind hart mitgenommen. Überall Kummer und Leid! Unsere Grafschaft blieb vor dem Aller43
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Das „Unternehmen Bart(h)old“ der Organisation Todt. Es wurden Panzergräben und -sperren gebaut, um (vergeblich) den Vormarsch der sowjetischen Armee zu stoppen. Diplomingenieur Gerhard Ruffert, Mitinhaber im väterlichen Betrieb Maschinenfabrik und Eisengießerei Thiele-Maiwald KG in Glatz. Ruffert wurde im Mai 1945 von den Russen zum Bürgermeister von Glatz ernannt und kurz darauf zur Übergabe der Stadt an die Polen gezwungen. Im Oktober 1945 von den polnischen Behörden ausgewiesen, arbeitete er danach als Ingenieur in verschiedenen Unternehmen in Westdeutschland und verstarb 1995 in Bad Salzuflen. Amtliche Nachrichten für Stadt und Kreis Glatz. Folge 1, Glatz, 23.5.1945.
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schlimmsten (Bomben) verschont. Die Muttergottes hat Wache gestanden. Was ist demgegenüber Einquartierung, Verlust an Möbeln, Wäsche, Kleidung? (383). Was noch kommen sollte, war für Dr. Monse wie für jedermann unvorstellbar.
Beginn der polnischen Verwaltung: „Eingliederung zu Polen“. Zwangsevakuierung Eine Bekanntmachung erscheint: Ende Mai geht die Verwaltung in polnische Hände über, die Russen bleiben die besetzende Truppe (383). Am 6. Juni findet eine Besprechung des Klerus des Kreises Glatz, soweit erreichbar, mit dem polnischen Landrat und Bürgermeister auf dem Rathaus statt. Ende Juni werden polnische Befehle publiziert: Die Eingliederung der Westgebiete zu Polen ist erfolgt. Die Zwangsevakuierung der deutschen Bevölkerung in der Grafschaft ist angeordnet worden und beginnt sofort – Geistliche und Schwestern sind von der Evakuierung ausgenommen – wird aber zunächst wieder rückgängig gemacht (390). Mitte des Jahres droht Hungersnot, im Stift Scheibe werden Fälle festgestellt, die an Hungertyphus erinnern oder es sind. Zahlreiche Todesfälle (389, 392, 394). – In vielen Orten finden Plünderungen durch Polen und Russen statt, auch in Pfarrhöfen, Schwesternheimen. Hilfeersuchen des Generalvikariatsamtes haben keinen Erfolg: In einigen Fällen wurde eine Streife geschickt, die aber oft an der Plünderung teilnahm (394). – Polen übernehmen den Betrieb in vielen Geschäften, auch in Landwirtschaften. Ende Juli beginnen wieder die Evakuierungen. Hilferufe aus verschiedenen Orten beim Generalvikar. Wie soll man helfen ... ? Man erwartet alles von der Kirche – und denkt nicht daran, dass sie fast machtlos ist (395). 19. August 1945: Es gibt jetzt fast kein Haus in der Stadt, in dem nicht eine oder mehrere Familien zwangsweise aus der Wohnung entfernt wurde, um der russischen oder polnischen Besatzung bzw. Verwaltung Platz zu machen. Viel Herzeleid! Trösten ist schwer. Gott erbarm sich unser. 7. September: Kaplan Johann Stacharzyk aus der Diözese Krakau ist zum Seelsorger für die Polen bestimmt worden. Er wird auf dem Pfarrhof wohnen, da Zimmer, Küche, Kanzlei nicht zu finden sind. Es ist alles überbesetzt (398). Er wird zwei Monate später durch Pfarrer Johann Kania aus der Diözese Przemysl ersetzt (399). Am 20. September kommt ein Schreiben des Primas von Polen, Kardinal Hlond, an: Das Amt des Glatzer Generalvikariates bleibt ab 1. Oktober in suspenso. Der Prager Kapitularvikar ist hierüber von Kardinal Hlond unterrichtet worden. Das Glatzer Land untersteht sodann dem Apostolischen Administrator von Niederschlesien in Breslau, Dr. Karol Milik. Die Deutschen in Glatz müssen jetzt weiße Binden tragen.46 Am 25. September wird der Stiftspfarrer von Scheibe, Leo Christoph, verhaftet. Die Gründe sind noch nicht klar. Vermutlich handelt es sich um Sabotage gegen die polnische Verwaltung. Am 1. Oktober besucht Dr. Milik den Glatzer Pfarrer Dr. 46
Vgl. Hirschfeld: Die kirchliche Situation in der Grafschaft Glatz 1945 bis 1946, in: AGG-Mitt. 6 (2007), S. 29–42.
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dieter pohl
Monse wegen einer Neuordnung von Kirchengut, z. B. Stift Scheibe. – In der Stadt Glatz befinden sich z. Zt. 14 379 deutsche Katholiken, 3 465 polnische Katholiken, 6 762 Evangelische, 487 Gottgläubige, 21 griechisch katholisch, 96 mosaisch (398, 399). Hier ist ein Jesuitenpater (polnisch), namens Werner, als Katechet in das schon polnische Gymnasium gekommen. Man hört, dass die Jesuiten das Gymnasium wieder zurückhaben wollen. Auch die Pfarrei? – Ein Jesuit ist auch in Scheibe als Stiftskaplan angestellt. Er stellte sich hier vor. Stiftspfarrer Christoph, Prälat Rieger und Pfr. em. Herden sollen ... auf Wunsch der polnischen Stiftsverwaltung baldmöglichst das Stift Scheibe verlassen ... (402). Am 6. Dezember heißt es: Soeben stellte sich in der Sakristei der neue polnische Katechet Stanislaus Prasot aus Lemberg vor. Es sind also jetzt 4 polnische Priester in Glatz: Pfr. Kania, der Jesuit Werner, der Volksschulkatechet, der Stiftskaplan in Scheibe. Wie man hört, kommt noch ein Militärgeistlicher und am 14. Dezember: Der polnische Gymnasialkatechet Jesuit Werner fällt unangenehm auf. ... Vom Beichthören scheint er nichts wissen zu wollen, wie Pfr. Kania sagt. Werner sei auch mit Absicht zu spät zum Zelebrieren zum Hochaltar gekommen, damit die deutschen Geistlichen nicht – nach dieser Messe – pünktlich mit dem Zelebrieren anfangen können. Er hielt es auch nicht für nötig, sich beim Großdechanten vorzustellen. Ich bilde mir ein, dass Jesuiten später diese Aufzeichnung lesen werden. Und das will ich. Zeichen der Zeit! Ist das Ordensgeist und Ordenszucht?? – Trotzdem: wenn die Väter der Gesellschaft Jesu ... die Pfarrei wiederbekämen, wäre das im Interesse der Seelsorge zu begrüßen. Salus animarum prima lex! (402, 403) [alle Unterstreichungen wie im Original]. 21. Dezember: Die Christnacht darf gemäß Anordnung der polnischen Regierung lediglich für Bürger polnischen Volkstums und andere nichtdeutsche Volkszugehörige abgehalten werden. Für Deutsche sind entsprechende Polizeistunden von 5–20 Uhr. Am 31. Dezember schreibt Dr. Monse: In keinem Jahr war die Jahresschlussandacht so gut besucht wie dieses Jahr. Die Leute standen Kopf an Kopf. – Im verflossenen Jahr starben gegen 800 Menschen in der Pfarrei gegen 300 in anderen [Jahren]! ... Der Kampf des polnischen Direktors in Scheibe gegen den kirchlichen Charakter der Stiftung geht weiter ... Das letzte Jahr war ein Katastrophenjahr ohnegleichen. Überall wohnen die Menschen zusammengepfercht ... Die Teuerung wird immer größer. Ein Brot kostet 30–40 Rmark ... Die Verzweiflung wächst ... Deus misereatur nostri! (402–403).
1946: Das letzte der Schicksalsjahre beginnt – Die Katastrophe Im vergangenen Jahr ist die furchtbare Saat aufgegangen, die Hitler und seine Helfershelfer in Polen und den anderen gequälten Ländern ... ausgestreut hat. Was wird das neue Jahr bringen? Vielleicht ist es schicksalsschwerer als ein ganzes Jahrhundert! Dr. Monse sollte mit seiner Befürchtung recht behalten. Am 15. Januar werden die auf dem Pfarrhof befindlichen Flüchtlingsgüter und Bürgergüter beschlagnahmt. – Pfarrer Kania berichtet, dass in kurzer Zeit die Evakuierung der Grafschaft beginnen werde, und zwar in die britische Zone. Mitgenommen dürfen werden 25 kg und 200 Rmark. – Gemäß Schreiben des Apostolischen Admini-
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strators von Breslau, Dr. Milik, vom 19. Januar 1946 ist Franz Juszczyk, Priester der Erzdiözese Przemysl, zum Dekan über die polnischen Priester der Grafschaft ernannt worden und gleichzeitig zum vorläufigen Verwalter des weltlichen Kirchenbesitzes, wozu das barmherzige Krankenstift Scheibe gehört. Stiftspfarrer Leo Christoph darf das Gebiet des Stiftes nicht mehr betreten, ebenso Prälat Rieger. – Dem Dekan Juszczyk, der auf dem Pfarrhof wohnt, sind die Akten des Generalvikariatsamtes Glatz zu übergeben (404, 405). Am 7. Februar erfolgt eine Bekanntmachung, nach der 1½ Millionen Deutsche aus den von Polen besetzten Gebieten in die britische Zone übergesiedelt werden sollen. Am 19. Februar beginnen in Glatz die ersten Evakuierungen. Die Leute müssen binnen 2 Stunden auf dem Hauptbahnhof sein, wo die Eisenbahnwagen bereit stehen. – Dauernd gehen Klagen ein über die inhumane Art der Aussiedlung. Von »Freiwilligkeit« ist keine Rede. Weitere Evakuierungen in Glatz. Auch Niederhannsdorf, Rengersdorf, Eckersdorf werden evakuiert. Weitere Dörfer folgen, auch die Pfarrer sind abgereist. Am 24. Februar liest der Großdechant in der Holzplankaserne, in der die Evakuierten vor dem Abtransport gesammelt werden, die heilige Messe. Über 340 empfingen die hl. Kommunion. Am 3. und 14. März berichtet die Pfarreichronik von weiteren Evakuierungen: Die gesamte Pfarrgeistlichkeit von Bad Reinerz und Neurode mit einem Teil der Bevölkerung wird abtransportiert. Die Ordensniederlassungen Regina Pacis [MSF] Burg Waldstein und Christus Rex [SS. CC.] Falkenhain sind evakuiert. Die Pfarrer von Neurode, Prälat Wache, und von Reinerz, Pfr. Beck, werden abtransportiert. Ebenso Grenzeck, Cudowa. Die letzte Eintragung Dr. Monses am 26. März lautet: Pfarrer Langer Habelschwerdt musste die Pfarrei verlassen, ebenso Kaplan Schedewig ... In Glatz sind von rund 20 000 Katholiken schätzungsweise 15 000 evakuiert!... (406–411). Am 6. April 1946 erreichte der Ausweisungsbefehl Großdechant Dr. Monse zusammen mit Generalvikariatssekretär Joseph Buchmann und Kuratus Kurt Ungrad.47 Nachdem der größte Teil der deutschen Bevölkerung der Grafschaft Glatz mitsamt ihren Klerikern im März 1946 evakuiert worden war, folgte der Rest bis November. Ausgenommen waren nur Deutsche mit ihren Familien, die wegen ihrer besonderen Fachkenntnisse für die Polen unentbehrlich waren wie die Bergleute des Neuroder Gebietes.48 Sie durften erst 1958 nach Deutschland ausreisen. Siebenhundert Jahre der deutschen Kultur und Geschichte und der deutschen Kirche in der Grafschaft Glatz waren endgültig zu Ende.
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Vgl. Hirschfeld, wie Anm. 7, S. 87. Vgl. Günzel, H.: Das Leben der Deutschen in der Grafschaft Glatz 1948–1958, in: AGG-Mitt. 5 (2006), S. 34–40, und ders.: Seelsorge nach 1945 in der Grafschaft Glatz, AGG-Mitt. 6 (2007), S. 18–22.
Die Ernennung der Glatzer Generalvikare in der Weimarer Republik und in der NS-Zeit. Ein Beitrag zum Verhältnis von Staat und katholischer Kirche in der Grafschaft Glatz Von Michael Hirschfeld
V
or Ende des Ersten Weltkriegs bot die Ernennung der kirchlichen Repräsentanten der Grafschaft Glatz, der Großdechanten und fürsterzbischöflichen Vikare, stets eine Fülle von Reibungspunkten zwischen staatlichen und kirchlichen Stellen und stellte eine diplomatische Herausforderung für die zuständigen Instanzen dar. Das lag an der Tatsache, dass der jeweilige Amtsinhaber nicht nur von kirchlichen, sondern auch von staatlichen Stellen abhängig war. Der vom kirchlich zuständigen Erzbischof von Prag als sein Stellvertreter in der Grafschaft Glatz ernannte fürsterzbischöfliche Vikar bedurfte nicht nur einer Bestätigung seitens des weltlichen Landesherrn, des Königs von Preußen, sondern dieser sah das Vorschlagsrecht auf seiner Seite und ernannte seinerseits das kirchliche Oberhaupt für die Grafschaft Glatz mit dem Titel eines „Königlichen Dechanten,“ das in Prag als fürsterzbischöflicher Vikar nur noch bestätigt werden durfte1. Dieses Verständnis der protestantischen Herrscher, zugleich die Kirchenhoheit auch über die katholische Bevölkerung zu beanspruchen, erhielt im Staatskirchentum der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine weitere Legitimation, mit der auch die Änderung des Titels „Königlicher Dechant“ in die weltweit einmalige Bezeichnung „Großdechant“ im Jahre 1810 verbunden war. Landläufig bürgerte sich dann der staatliche Titel Großdechant sicherlich nicht zuletzt aus Stolz über dieses Alleinstellungsmerkmal der Grafschaft Glatz ein. Hinzu kam, dass die kirchliche Zuständigkeit eben bei einem ausländischen Erzbischof lag, dessen Erlaubnis zur Ausübung der Jurisdiktion in Preußen gemäß § 138 des Allgemeinen Landrechts Preußens von 1794 an die Existenz eines staatlich genehmigten inländischen Stellvertreters gebunden war2. Wenn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – unterbrochen durch den Kulturkampf – eine zunehmende Lockerung der staatskirchlichen Bestrebungen zu verzeichnen war, bedeutete dies konkret, dass die inzwischen in Prag erfolgenden Ernennungen der fürsterzbischöflichen Vikare nur noch in Berlin bestätigt wurden. Das geschah allerdings nicht ohne vorherige Erkundigungen des Ministeriums für die geistlichen Angelegenheiten in Berlin beim zuständigen Oberpräsidium in Breslau, ob allgemein politische oder kirchenpolitische Bedenken gegen den jeweiligen Kandidaten vorlägen. So war auch über den bei Kriegsende 1918 amtierenden Vikar und Großdechanten Edmund Scholz3 anlässlich dessen im Februar 1
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Vgl. Hirschfeld: Die Ernennung der Großdechanten der Grafschaft Glatz, ders.: 200 Jahre Großdechant der Grafschaft Glatz. Eine ausführliche ältere Darstellung bietet Volkmer, Geschichte der Dechanten und Fürsterzbischöflichen Vikare der Grafschaft Glatz, Habelschwerdt 1894. Vgl. Volkmer, Geschichte der Dechanten (wie Anm. 1), S. 131. Zu Scholz vgl. Gatz: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803–1945, S. 670.
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1910 erfolgter Ernennung ein Zeugnis vom Oberpräsidenten eingefordert worden, das ihm bescheinigt hatte, von allen Pfarrern der Grafschaft der geeignetste zum Großdechanten4 zu sein. Zur Begründung hatte es geheißen, dass er im Gegensatz zu seinem Vorgänger gerecht und tolerant sei, keine Günstlinge habe und auch die in Unordnung geratene finanzielle Situation seiner Behörde in den Griff bekommen werde. Welche Veränderungen brachte nun der Wechsel von der Monarchie zur Republik nach dem Ersten Weltkrieg für die Ernennung der Grafschaft Glatzer Großdechanten mit sich? Inwieweit wirkte sich der gleichzeitige Zerfall des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn mit der nachfolgenden Gründung der Tschechoslowakei auf die kirchliche Personalpolitik aus? Und inwiefern mischte sich das totalitäre Regime des Abb. 1: Großdechant Edmund Scholz Nationalsozialismus in die Besetzung des (1835–1920), der 1920 zum Generalvikar höchsten kirchlichen Amtes in der Grafernannt wurde (Foto: Archiv des Großdeschaft Glatz ein? chanten der Grafschaft Glatz, Münster) Diese Fragen sollen im Folgenden anhand der Ernennungsvorgänge der Zwischenkriegszeit eingehender untersucht werden, wobei die zentrale Veränderung sogleich benannt werden soll: Es war die Erhebung der Grafschaft Glatz zu einem Generalvikariat am 20. August 1920, die dem Großdechanten und fürsterzbischöflichen Vikar eine erweiterte Machtbefugnis und größere Selbständigkeit zusprach. Der bereits 85-jährige Großdechant Scholz erlebte damit die Ernennung zum „Generalvikar“ noch mit, starb aber schon am 2. November 1920 nach kurzer Krankheit in seiner Pfarrei Grafenort. Dass Fürsterzbischof Frantisek Kordac von Prag ihn als ersten Generalvikar ernannt hatte, war somit eher eine Höflichkeitsbezeugung gewesen, die zudem für Kontinuität garantieren sollte, wenn man einmal davon absieht, dass Edmund Scholz bis in die letzten Tage seines hohen Alters unermüdlich tätig war. So hatte Scholz dem Ministerium der geistlichen Angelegenheiten in Berlin mitgeteilt, dass im Betriebe selbst und im Verkehr mit den diesseitigen Landesbehörden … eine Änderung nicht eintreten5 werde. Und Kordac gestand am 12. Dezember 1920 in einem über die Deutsche Gesandtschaft in Prag an das Auswärtige Amt in Berlin gehenden Schreiben ausdrücklich zu, dass für die Nominierungen der im preußischen Gebiet seines Bistums gelegenen Pfründen und Würden statt der früheren landesherrlichen Genehmigung diejenige der Hohen Preußischen 4
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Oberpräsident Breslau an Minister der geistlichen Angelegenheiten v. 2.3.1910, in: BA Berlin R 5101, 21951. Scholz an Ministerium der geistlichen Angelegenheiten v. 21.8.1920, ebd.
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Abb. 2: Der Prager Erzbischof Kordac teilt dem Preußischen Kultusministerium die beabsichtigte Ernennung von Pfarrer Franz Dittert zum Großdechanten und Generalvikar mit. Brief vom 23.11.1920, BA Berlin, R 5101, 21951.
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Regierung vorher einzuholen sei6. Das Ministerium war es fortan also, das anstelle des abgedankten Monarchen das staatliche Plazet für den Generalvikar aussprach, die staatliche Genehmigungspflicht vor einer kirchlichen Ernennung galt also auch in der Weimarer Republik weiterhin. Unmittelbar zuvor hatte Kordac in Berlin den Pfarrer von Mittelwalde, Franz Dittert, als neuen Generalvikar vorgeschlagen7. Dort war der 63-jährige Dittert kein Unbekannter, hatte er doch dem Ministerium der geistlichen Angelegenheiten schon im Juli 1920, also im Vorfeld der Erhebung zum Generalvikariat, hilfreich zugearbeitet, indem er statistische Angaben zur Größe und Katholikenzahl der Grafschaft Glatz mitgeteilt und dabei geschickt deutlich gemacht hatte, dass der Staat sicherlich auch ein großes Interesse an einer größeren kirchlichen Unabhängigkeit der Grafschaft von der neugebildeten Tschechoslowakei besitze, wie sie durch die Erhebung zum GeneralvikaAbb. 3: Großdechant und Generalviriat gewährleistet werde8. Zudem war er bereits kar Franz Dittert (1857–1937) im Kaiserreich auf den turnusmäßig vom Ober(Foto: Archiv des Großdechanten präsidenten einzureichenden Listen für höhere der Grafschaft Glatz, Münster) kirchliche Ämter geeigneter Geistlicher aufgetaucht und dort schon im Jahre 1910 und später … als geeignet bezeichnet [worden], das Amt eines Ehrendomherrn, Domherrn usw., auch Großdechanten zu bekleiden9. Insofern war die Bestätigung des kirchlichen Wunschkandidaten, von dessen Gewandtheit und Verlässigkeit (sic!) in der Führung der Amtsgeschäfte10 sich der Prager Oberhirte überzeugt zeigte, für das Großdechanten- und Generalvikarsamt nur eine Makulatur und am 7. Februar 1921 konnte Dittert offiziell ernannt werden. Weniger erfolgreich war Fürsterzbischof Kordac mit seinem gleichwohl etwas vorsichtig formulierten Vorschlag, die seit Generationen stets in der Pfarrgemeinde des jeweiligen Amtsinhabers, darunter oftmals auch in kleineren und abgelegeneren Pfarreien ansässige katholische Kirchenbehörde in einen Centralort der Grafschaft zu verlegen11. Diese Zentralisierung in der Kreisstadt Glatz selbst, die zweifelsohne auch einen Bedeutungsgewinn für die Institution des Generalvikariates darstellen musste, war 6 7
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Kordac an Auswärtiges Amt v. 12.12.1920, ebd. Vgl. Kordac an Ministerium der geistlichen Angelegenheiten v. 23.11.1920, ebd. Zu Dittert vgl. Gatz: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803–1945, S. 136f., u. Hirschfeld: Dittert, Franz, in: BBKL, Bd. 24, Sp. 341–344. Vgl. Dittert an Ministerium der geistlichen Angelegenheiten v. 4.7.1920, ebd. Ministerium der geistlichen Angelegenheiten an alle Staatsminister v. 10.12.1920, ebd. So Kordac an Ministerium der geistlichen Angelegenheiten v. 23.11.1920, ebd. Kordac an Ministerium v. 23.11.1920, ebd.
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ein besonderes Anliegen, als nach dem Tod von Großdechant Dittert am 18. Dezember 1937 die Suche nach einem geeigneten Nachfolger anstand. Jedenfalls wies der deutsche Weihbischof in Prag, Johannes Remiger, von Erzbischof Karel Kardinal Kaspar um Rat gefragt, auf den Stadtpfarrer in Glatz, Monsignore Dr. Franz Monse12, hin, dessen Ernennung die Schaffung des angestrebten kirchlichen Mittelpunktes in Glatz garantiere. Außerdem sei Monse mit 55 Jahren im besten Alter und dazu promoviert, besitze also auch den Ausweis der notwendigen theologischen Bildung für den Posten13. Ebenso nannten zwei in die Vorüberlegungen zur Neubesetzung mit einbezogene Grafschafter Geistliche14 den Namen Monses, stellten aber gleichzeitig heraus, dass der Stadtpfarrer von Habelschwerdt, Msgr. Pius Jung, in der Bevölkerung wesentlich beliebter sei, ja [Monse] bei einem Teil unserer Grafschafter Priester kein Vertrauen15 besitze. Die Tätigkeit im zentral gelegenen Glatz, wo mit dem Pfarrhaus als Teil des ehemaligen Jesuitenkollegs ein repräsentativer Wohnsitz zur Verfügung stand, und die theologische Promotion gaben dann wohl dem Erzbischof den Ausschlag, sich für Monse zu entscheiden. Die entscheidende Frage, vor der man in Prag stand, war aber nun, in welcher Weise die Staatsbehörden vorab zu konsultieren waren. Denn seit der letzten Generalvikarsernennung 1921 waren mit dem Preußischen Konkordat 1929 und dem Reichskonkordat 1933 neue rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen worden. Letzteres sah eine Nachricht an den Apostolischen Nuntius in Berlin vor, der stellvertretend beim Oberpräsidium in Breslau die Frage nach Bedenken allgemein politischer Art stellen sollte. Ersteres hingegen bestimmte, dass eine bloße Anzeige beim Ministerium der geistlichen Angelegenheiten nach erfolgter Ernennung genüge. Weil Nuntius Cesare Orsenigo auf Nachfrage von Kaspar darauf verwies, dass für den Fall der Ernennung eines Generalvikars das Preußische Konkordat gelte, ernannte der Kardinal Dr. Franz Monse am 28. Februar 1938 offiziell zum Generalvikar der Grafschaft Glatz und zeigte dies am selben Tag beim inzwischen zuständigen Reichsministerium für die kirchlichen Angelegenheiten an. Dorthin hatte sich zwischenzeitlich allerdings bereits der Breslauer Oberpräsident und Gauleiter Josef Wagner mit dem Hinweis gewandt, der Habelschwerdter Landrat Richard Spreu habe gegen diese Personalie interveniert. Der Grund sei, dass Monse nicht das Vertrauen von Partei und Staat [besitze], sodass zu erwarten steht, dass bei seiner etwaigen Berufung politische und sonstige Schwierigkeiten entstehen werden16. Gleichzeitig brach der Landrat eine Lanze für Stadtpfarrer Pius Jung in Habelschwerdt, der sich seiner Ansicht nach wesentlich konzilianter gegenüber dem NS-Regime zeige. Auch wenn im Reichskirchenministerium Monse bisher ein unbeschriebenes Blatt gewesen war, musste man dort natürlich reagieren und war wohl geneigt, nicht etwa dem Rechtsgrundsatz „In dubio pro reo“ Folge zu leisten, son12 13
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Vgl. zu seiner Biographie Hirschfeld: Prälat Franz Monse (1882–1962). Großdechant von Glatz. Vgl. Remiger an Kordac v. 7.1.1938, in: OPE Nachlass Beran, Depositum im Tschechischen Staatsarchiv Prag. Dabei handelte es sich um den Stiftspfarrer in Glatz-Scheibe, Prälat Emil Rieger, und um Generalvikariatssekretär Leo Christoph. Christoph an Kaspar v. 5.1.1938, in: OPE Nachlass Beran, Depositum im Tschechischen Staatsarchiv Prag. Wagner an Reichsministerium für die kirchlichen Angelegenheiten v. 2.2.1938, in: BA Berlin, R 5101, 21951.
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dern mögliches belastendes Material gegen den Stadtpfarrer von Glatz zu sammeln. Ein solches Procedere lässt sich jedenfalls aus der Hinhaltetaktik ersehen, die man in Berlin gegenüber Kardinal Kaspar anwandte. Weder das Preußische Konkordat noch das Reichskonkordat enthielten, so die Begründung der Juristen des Reichsministeriums für die kirchlichen Angelegenheiten, ausdrückliche Hinweise auf den Besetzungsmodus des Glatzer Generalvikariats, weshalb ihre Bestimmungen für die Neubesetzung keine Geltung beanspruchen könnten. Vielmehr gelte die bisher übliche vorherige Anzeigepflicht, der Kardinal Kaspar nicht nachgekommen sei17. Der Prager Erzbischof dagegen verwies auf den Nuntius, der ihm den von ihm beschrittenen Weg gewiesen habe. Im Übrigen legte er zwar auf dem üblichen Weg über die Deutsche Gesandtschaft an das Auswärtige Amt Einspruch gegen die Einwände des Reichskirchenministeriums ein18, zeigte sich jedoch Abb. 4: Großdechant und Generalvikar insgesamt relativ unbeeindruckt von der Dr. Franz Monse (1882–1962) Kontroverse. Denn unterdessen legte Franz (Foto: Archiv des Großdechanten der Monse am 21. März 1938 seinen Amtseid ab Grafschaft Glatz, Münster) und übernahm die Amtsgeschäfte, während das Ministerium noch immer auf der Suche nach Indizien für eine staats- bzw. parteifeindliche Haltung des neuen Generalvikars war. Allein aus dem Oberpräsidium in Breslau fehlte jegliche Rückmeldung, und auf nochmaliges Nachbohren aus Berlin musste Oberpräsident und Gauleiter Josef Wagner eingestehen, dass sowohl seitens der NSDAP-Gauleitung als auch seitens des Regierungspräsidiums keine Beweise für eine Aufrechterhaltung der Intervention gegen die Ernennung von Franz Monse vorlagen. Die Denunziation des Glatzer Stadtpfarrers durch Landrat Spreu hatte sich also als reine Schikane erwiesen, die durch Fakten nicht zu belegen war. Seitens der NSDAP-Gauleitung wollte man sich allerdings nicht so ganz geschlagen geben und nährte den Verdacht gegen Monse weiterhin, indem man ihm unterstellte, dass er es jedoch klug versteht, sich stets im Hintergrund zu halten und sich in geschickter Weise zu tarnen.19 Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis man die nötigen Beweise zusammengetragen habe. Tatsächlich präsentierte die Gauleitung noch Ende Juni 1938 eine Stellungnahme der Gestapo, gemäß welcher der neue Generalvikar 1935 von der Kanzel der Dekanatskirche in Glatz herab gegen das Sterilisationsgesetz, gegen die 17 18 19
Reichsministerium für die kirchlichen Angelegenheiten an Kaspar v. 16.3.1938, ebd. Vgl. Kaspar an Auswärtiges Amt v. 14.4.1938, ebd. NSDAP-Gauleitung Schlesien an Oberpräsident v. 9.4.1938, Kopie ebd.
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Auflösung der katholischen Jugendverbände und für Religionsfreiheit gepredigt und in diesem Zusammenhang Adolf Hitler öffentlich des Wortbruchs bezichtigt habe. Weil jedoch, wie in bedauerndem Tonfall angefügt war, diese Äußerung des Dr. Monse nicht mehr einwandfrei nachgewiesen werden20 könne, verlief dieser verspätete Versuch, Indizien zur Staatsfeindlichkeit des neuen Generalvikars vorzulegen, im Sande. Der Wandel der staatlichen Systeme von der Monarchie zur Republik 1918 und von der Republik zur NS-Diktatur 1933 brachte somit im Allgemeinen keine Veränderung der rechtlichen Grundlagen für die Bestellung der Großdechanten und fürsterzbischöflichen Vikare der Grafschaft Glatz mit sich. Die auf dem Allgemeinen Landrecht Preußens fußende vorherige Anzeigepflicht wurde trotz der Rangerhöhung zum Generalvikariat weiterhin staatlicherseits als relevante Basis angesehen. Dagegen wurde der Sonderfall der Grafschaft Glatz in den beiden neu abgeschlossenen Konkordaten auf preußischer bzw. Reichsebene gar nicht behandelt. Die Verwirrung der kirchlichen Instanzen, auf welcher rechtlichen Grundlage denn eine Neubesetzung zu erfolgen habe, nutzten die NS-Staats- und Parteistellen, um sprichwörtlich Öl ins Feuer zu gießen. Ihnen gelang es aber nicht, die Entscheidung des Erzbischofs von Prag rückgängig zu machen und trotz ostentativer Betriebsamkeit mehr als eine Verzögerung der Ernennung eines neuen Generalvikars zu bewirken. Dagegen zeichneten sich die Prager Oberhirten, obwohl sie seit dem Zerfall der k. u. k-Monarchie stets tschechischer Nationalität waren, gerade auch im Vorfeld der Angliederung des Sudetenlandes und der sogenannten Zerschlagung der Rest-Tschechei 1938 durch eine betont vorsichtige und defensive Ernennungspolitik aus, die keine Angriffsflächen für eine Beanstandung durch die deutschen Staatsbehörden bot.
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Oberpräsidium Breslau an Reichsministerium für die kirchlichen Angelegenheiten v. 30.6.1938, ebd.
Die Auseinandersetzungen um eine Anpassung der Diözesangrenze in der Grafschaft Glatz an die Staatsgrenze zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg* Von Michael Hirschfeld
D
ie Grafschaft Glatz ist ein Teil der Erzdiözese Prag, deren Oberhirt diesen Di-
özesananteil zu behalten wünscht. Oft ist zur Zeit der Verhandlungen über das Preußische Konkordat und das Reichskonkordat gefragt [worden], was aus der Diözesanzugehörigkeit des Glatzer Landes in Zukunft werden würde.1 Mit diesen Sätzen fasste der Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz, der Breslauer Fürsterzbischof Adolf Kardinal Bertram, in einem Brief vom Frühjahr 1939 das Problem der Diözesanzugehörigkeit der Grafschaft zusammen, die trotz ihrer Annexion durch Preußen in der Mitte des 18. Jahrhunderts ihre kirchliche Zugehörigkeit zum Erzbistum Prag gleichsam als ein Relikt der ursprünglichen territorialen Identität als Teil Böhmens bewahrt hatte.2 Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Gründung der Tschechoslowakei hob der neue tschechische Erzbischof von Prag, Frantisek Kordac,3 die Schwierigkeiten hervor, die mit der Verwaltung dieses in einem anderen Staate gelegenen Sprengels verknüpft sind, so daß wiederholt von beiden Seiten die Errichtung eines Generalvikariates erwogen worden sei.4 Dieses Generalvikariat wurde im August 1920 errichtet und der bisherige Großdechant und fürsterzbischöfliche Vikar zum Generalvikar ernannt. Als solcher erhielt er weitgehende Vollmachten eines Ordinarius, besetzte praktisch auch die Pfarreien und nahm an der Fuldaer Bischofskonferenz teil.5 * Veränderte und überarbeitete Version des Aufsatzes von Michael Hirschfeld: Zum Problem
der Anpassung der Diözesanzirkumskription an die deutsch-tschechoslowakische Staatsgrenze zwischen den Weltkriegen (1918–1939), in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, Bd. 100 (2005), S. 275–295.
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Bertram an Prof. Dr. Adolf Kindermann v. 16.4.1939, Brief ediert in der Quellensammlung v. Josef G. Stanzel: Die Breslauer Bistumsgüter in der Tschechoslowakei. Quellen zum Ringen um deren Erhaltung zwischen den beiden Weltkriegen, in: AKBMS, Bd. V (1978), S. 349–352, hier S. 351. Vgl. auch zeitlich breiter angelegt Michael Hirschfeld: „… daß keine Veranlassung besteht, an dem bestehenden Zustand etwas zu ändern.“ Die Frage der Diözesanzugehörigkeit der Grafschaft Glatz zwischen 1871 und 1945, in: AGG-Mitt. Nr. 4 (2005), S. 11–20. Vgl. zu Kordac (1852–1934) Franz Lorenz: Ein Presse-Fall in der katholischen Kirche im Jahre 1931. Erkenntnisse aus der Affäre Kordac-Ciriaci, in: Karl Reiß/Hans Schütz (Hg.): Kirche, Recht und Land. Festschrift Adolf Kindermann, Königstein/München 1969, S. 194–210. N.N.: Die Erhebung der Grafschaft Glatz zu einem besonderen Generalvikariat, in: GHB, Bd. 6 (1920), S. 122f. Zu den Generalvikaren vgl. den entsprechenden Beitrag in diesem Band. Allerdings war für Pfarrerernennungen jeweils ein Spezialmandat einzuholen. Vgl. Johannes Kaps: Die katholische Kirchenverwaltung in Ostdeutschland vor und nach 1945, in: JSFWUB, Bd. II (1957), S. 7–39, hier S. 20f., wo die einzelnen Rechte des Generalvikars benannt sind.
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In den Augen des ersten Glatzer Generalvikars Edmund Scholz erwies sich jetzt also die Korrespondenz mit dem hochwürdigsten Konsistorium bedeutend herabgemindert und der Verkehr mit dem Grafschafter Klerus wesentlich ... erleichtert.6 Dennoch blieb die Diözesanzugehörigkeit des nunmehrigen Generalvikariats Glatz in den folgenden beiden Jahrzehnten nahezu permanent Gegenstand sowohl der Diplomatie zwischen Vatikan und Deutschem Reich als auch der öffentlichen Diskussion. Der Breslauer Kirchenhistoriker Franz Xaver Seppelt sprach beispielsweise in seinem Glatz betreffenden Artikel für das „Lexikon für Theologie und Kirche“ davon, dass die Gleichlegung der Diözesan- mit den Landesgrenzen in Aussicht7 gestellt sei, und auf einer Diözesankarte der Tschechoslowakei in einem Folgeband dieses Standardwerks wird noch 1938 die bevorstehende Abtretung der Grafschaft Glatz an das Erzbistum Breslau durch Schraffur deutlich hervorgehoben.8 In der Rückschau stellt sich die Frage, weshalb der immer wieder projektierte und nach 1918 zunehmend lautstark öffentlich proklamierte Gebietsaustausch zwischen den Erzbistümern Breslau und Prag letztlich doch nicht erfolgte und die Grafschaft Glatz ihr Eigenleben als Generalvikariat über ein Vierteljahrhundert – bis zur Vertreibung 1945/46 und de iure auch noch bis 1972 – weiterhin entfalten konnte. Zu Beginn des Jahres 1919 erhielt der Apostolische Nuntius in München, Eugenio Pacelli, von nicht mehr näher zu bezeichnender Seite Informationen über ein tschechoslowakisches Memorandum an die Versailler Friedenskonferenz, das die Abtretung des Territoriums der Grafschaft Glatz forderte und heftige Gegenwehr nicht zuletzt auf Seiten des Glatzer Klerus ausgelöst hatte.9 In Form eines Berichts über „Die kirchliche Neuorientierung der Grafschaft Glatz“ rückten drei in einer 1919 von einem Grafschafter Geistlichen10 anonym herausgegebenen Schrift diskutierte unterschiedliche Optionen in das Blickfeld der kirchlichen Diplomatie, nämlich a) ein Verbleib bei Prag unter Erhebung zum Generalvikariat, b) eine Zuweisung an das Fürstbistum Breslau unter gleichem Status sowie c) eine eigene Diözese Glatz. Diese zugleich pragmatisch und traditionsbewusst argumentierende Stellungnahme, die als beste Lösung für eine Angliederung von Glatz an Breslau unter Gewährung größtmöglicher Autonomie plädierte,11 entstand gleichwohl unter dem unmittelbaren Ein6 7
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Scholz an Regierung in Breslau v. 20.7.1920, in: BA Berlin, R 5101, 21951. Seppelt, Franz Xaver: Art. Glatz, in: LThK, Bd. 4 (1932), Sp. 520. Ergänzend: Hilgenreiner, K.: Art. Tschechoslowakei, in: LThK, Bd. 10 (1938), Sp. 314–317. Vgl. Karte „Tschechoslowakei: Kirchliche Einteilung“, in: LThK, Bd. 10 (1938), Sp. 315f. Vgl. Jung, F.: Die Kirchengeschichte der Grafschaft Glatz von 1840–1940, in: Herzig, A. (Hg.): Glaciographia Nova, Hamburg 2004, S. 250–263, hier S. 258. Die Informationen Pacellis u. der im folg. zit. Art. v. O. Victor: Die kirchliche Neuorientierung der Grafschaft Glatz, in: Die Grafschaft Glatz 5/6 v. 1.10.1919, S. 57f., in: ASV ANB 21. Kirchliches aus der Grafschaft Glatz. Gedanken und Anregungen zu einer zeitgemäßen Frage von einem Grafschafter Geistlichen, Glatz 1919, in: BA Berlin, R 5101, 21951. Verfasser dieser 15 Seiten umfassenden Schrift war wahrscheinlich der Glatzer Militärpfarrer Franz Albert (1876–1944). Zwar heißt es dort zunächst: „Die ideale Lösung wäre eine eigene Diözese Glatz. Die Grafschaft ist groß genug, denn Riesendiözesen sind nicht im Sinne der Kirche, sondern ein Notbehelf.“ Jedoch wird im Folgenden gefordert, „auf dem Boden des Erreichbaren“ zu bleiben. Vgl. ebd., S. 12.
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druck der Abwehr der im November 1918 laut gewordenen tschechischen Gebietsansprüche auf das Glatzer Land.12 Eine Anpassung der kirchlichen Grenzziehung an die Staatsgrenzen – so die zeitgenössische Überzeugung bei führenden Persönlichkeiten in der Grafschaft Glatz – würde für die Zukunft der tschechischen Seite ein gewichtiges Argument für die Durchsetzung ihrer Okkupationsbestrebungen entziehen und dem in der Grafschaft begonnenen tschechischen „Infiltrationsprozess“13 einen Riegel vorschieben. Dahinter stand ebenso die Abwendung der tschechoslowakischen nationalkirchlichen Separationsbestrebungen, wie sie sich gerade in der Grenzregion zur Grafschaft Glatz zu Beginn der 1920er Jahre Bahn brachen.14 Das Augenmerk von Nuntius Pacelli gehörte in diesem Moment allerdings vielmehr dem vom tschechoslowakischen Staat im März 1919 in Zwangsverwaltung genommenen und von entschädigungsAbb. 1: Titel einer nach dem Ersten loser Enteignung bedrohten Breslauer Weltkrieg weit verbreiteten Streitschrift Landbesitz um Freiwaldau, dessen knapp gegen eine Abtretung der Grafschaft Glatz 33.000 Hektar – zumeist Waldfläche – eine an die neu errichtete Tschechoslowakei gewichtige finanzielle Basis für die Sozi(Bildvorlage Michael Hirschfeld) al- und Bildungseinrichtungen in der gesamten Diözese darstellte.15 Für die Wiederherstellung von dessen früherem Status setzte sich der Breslauer Kardinal Bertram in einem scharfen Protestbrief gegenüber 12
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Zu den Befürchtungen einer tschechischen Besetzung der Grafschaft Glatz vgl. Alexander, M. (Bearb.): Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag, Bd. I 1918–1921, München 1983, S. 56, 110 u. 572f. So die Sichtweise des deutschen Gesandten in Prag, Dr. Walter Koch. Ders. an Auswärtiges Amt Berlin v. 5.1.1923, in: Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag (wie Anm. 12), Bd. II 1921– 1926, München 2004, S. 116. So kam es z. B. in der Grenzstadt Náchod zur Gründung einer nationalkirchlichen Gemeinde, die eine kath. Kirche besetzte. Im Kreis Náchod entstanden vier weitere Gemeinden. Vgl. Martin Schulze-Wessel: Konfessionelle Konflikte in der Ersten Tschechoslowakischen Republik: Zum Problem des Status von Konfessionen im Nationalstaat, in: Maner/ Schulze-Wessel (Hg.): Religion im Nationalstaat zwischen den Weltkriegen 1918–1939, Stuttgart 2002, S. 73–101, hier S. 90f. Vgl. Negwer, J.: Geschichte des Breslauer Domkapitels, Hildesheim 1964, S. 225; Stanzel: Die Breslauer Bistumsgüter (wie Anm. 1), S. 346.
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dem Nuntius und den staatlichen Behörden in Berlin vehement ein.16 Dabei wandte er sich insbesondere gegen die durch nichts gerechtfertigte Gewaltmaßregel17 des tschechoslowakischen Staates und reklamierte die Bistumsgüter als rechtmäßigen Besitz des Fürstbistums. Diese Bistumsgüter waren es im Übrigen auch gewesen, die schon vor 1918 immer wieder als schlagkräftiges Gegenargument benannt wurden, wenn die Diskussion um eine Anpassung von Kirchen- und Staatsgrenzen aufflammte. Wäre die Angleichung nämlich vollzogen worden, hätte der Breslauer Oberhirte nicht nur seinen Titel als Fürst verloren, sondern der preußische Staat hätte auch – zu seinem Nachteil – zur Finanzierung kirchlicher Einrichtungen tiefer in die Staatskassen greifen müssen. Folglich erwies sich die Beibehaltung des früheren Status als die für beide Seiten günstigste Lösung. Noch stärker als bei früheren Überlegungen um einen Gebietsaustausch geriet Glatz somit in den Sog der Zukunftsfrage des sogenannten Breslauer Bistumslandes, wozu nicht zuletzt eine im Juli 1921 von Kardinal Bertram an alle maßgeblichen staatlichen und kirchlichen Stellen versandte, historisch und rechtlich argumentierende Dokumentation zu den Breslauer Bistumsgütern beitrug.18 Letzterer Aspekt hat damit auch in der bisherigen Forschung zur Frage der östlichen Diözesangrenzen in der Zwischenkriegszeit – neben der Oberschlesien-Problematik – nahezu ausschließlich Berücksichtigung erfahren,19 während der Schwebezustand der Glatzer Diözesanzugehörigkeit nicht thematisiert wurde, obwohl diese Frage durchaus kein Randproblem der intensiven vatikanischen Vertragspolitik der 1920er und 1930er Jahre darstellte. So berührten die Vorverhandlungen im Vorfeld des 1929 abgeschlossenen Konkordats mit Preußen20 auch die Frage der Neuumschreibung der preußischen Diözesangrenzen im Osten des Landes, wobei sich die preußische Regierung gegenüber Nuntius Pacelli klar für den Status quo von Breslau und damit auch für die weitere 16
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Vgl. Bertram an Pacelli v. 21.3. u. 26.3.1919, in: ASV ANB 42, f. 2 u. 15f. Pacelli leitete alle Unterlagen an den Hl. Stuhl weiter, der in der Frage der Beschlagnahmung der Bistumsgüter unmittelbar Kontakt zu tschechoslowakischen Regierungskreisen aufnahm. Vgl. ebd. die entsprechenden Quellen aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes bei Stanzel: Die Breslauer Bistumsgüter (wie Anm. 1). In der umfangreichen Literatur zu Bertram wird dieses Thema nur am Rande angesprochen. Vgl. Bernhard Stasiewski: Die Errichtung der Breslauer Kirchenprovinz. Erzbistum Breslau – Bistum Berlin – Bistum Ermland – Freie Prälatur Schneidemühl, in: Ders. (Hg.): Adolf Kardinal Bertram. Sein Leben und Wirken auf dem Hintergrund der Geschichte seiner Zeit, Bd. I, Köln u.a. 1992, S. 77–98, hier S. 78. Vgl. Bertram an Nuntius u. an Regierung v. 12.3.1919, abgedruckt bei Stanzel: Die Breslauer Bistumsgüter (wie Anm. 1), S. 371f. Diese umfangreiche Denkschrift findet sich auch im ASV ANB 42, f. 23–36, allerdings ohne Begleitschreiben. Ediert bei Stanzel: Die Breslauer Bistumsgüter (wie Anm. 1), S. 353–372. Vgl. Stehlin, St. A.: Weimar and the Vatican, Princeton 1983, S. 102–136, wo der Akzent auf Oberschlesien liegt, die Frage des Breslauer Bistumslandes auf „Teschen“ reduziert wird und der Name Glatz überhaupt nicht fällt. Ebenso wird auf der hier, S. 455, abgedruckten „Ecclesiastical Map of Catholic Germany“ Glatz als Teil der Erzdiözese Breslau dargestellt. Vgl. ebenso Stanzel: Die Breslauer Bistumsgüter (wie Anm. 1), der Glatz kaum berücksichtigt. Vgl. Golombek, D.: Die politische Vorgeschichte des Preußenkonkordats (1929), insbes. S. 69– 73. Hier, S. 71, heißt es fälschlich, die Grafschaft Glatz habe erst „seit mehr als einem Jahrhundert“ dem Erzbischof von Prag unterstanden.
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Zugehörigkeit von Glatz zum Erzbistum Prag aussprach.21 Ganz offensichtlich befürchtete man in Berlin, dass der Heilige Stuhl auch unabhängig von der Lösung der Bistumsgüterfrage die Diözesan- an die Landesgrenzen anpassen werde. Dies aber – so ließ Berlin über Pacelli mitteilen – würde zweifellos die allerungünstigsten Rückwirkungen auf die im Gange befindlichen Konkordatsverhandlungen22 haben. Als Präzedenzfall wurde die durch Errichtung Apostolischer Administraturen de facto erfolgte Verselbständigung der an die Tschechoslowakei gefallenen Teile ungarischer Bistümer 1922 angesehen.23 Ein nicht ungewichtiges Argument war offenbar auch, dass eine weitere Zugehörigkeit von Glatz zu Prag den Prozentsatz deutscher Katholiken in der Erzdiözese kräftig erhöhte.24 Da der Vatikan aber ebenso die Interessen der Kirche in der Tschechoslowakei im Blick hatte, versuchte er über Pacelli eine Grenzveränderung zumindest als Option in das Konkordat zu integrieren, während die preußische Regierung einen solchen Passus ablehnte.25 Diese Meinungsverschiedenheiten sollten die Verhandlungen bis zum Vertragsabschluss als ständiges Moment der Unruhe und der Ungewissheit begleiten.26 Und selbst die endgültige Formulierung in Artikel 2.1 des am 13. August 1929 ratifizierten Vertrages, dass nämlich die gegenwärtige Diözesangliederung in der katholischen Kirche Preußens bestehen bleibe,27 ließ Interpretationsspielraum. Während die preußische Regierung damit auch die bisherigen Diözesangrenzen garantiert und die Angelegenheit nach wie vor der Verhandlung zwischen Preußen und dem Apostolischen Stuhl28 vorbehalten sah, verstand Pacelli hierunter lediglich eine Preußen, nicht aber die außerhalb von dessen Staatsgebiet liegenden Diözesen, betreffende Regelung und hatte für diese Sichtweise seine Gründe. Denn zu diesem Zeitpunkt war nach jahrelangen Verhandlungen zwischen der Tschechoslowakei und dem Vatikan bereits ein Abkommen über kirchenpolitische Fragen, das Ziele beider Seiten berücksichtigte und deshalb Modus vivendi genannt wurde, zustande gekommen.29 In dessen Artikel 1 stimmten beide Vertragspartner 21
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Vgl. Marx an Pacelli v. 2.4.1925, in: ASV ANB 42. Vgl. auch Golombek (Anm. 20), S. 46, Anm. 3, wo auf dieses Schreiben kurz rekurriert wird. Note der Preuß. Staatsregierung an Hl. Stuhl, o.D. (Juni 1928), in: ASV ANB 42, f. 192f. So Koch, gegenüber dem Auswärtigen Amt am 19.12.1922. Vgl. Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag, Bd. II (wie Anm. 13), S. 113. Endgültig wurden die Diözesangrenzen zwischen Ungarn und der Tschechoslowakei erst 1937 geregelt. Vgl. Weczerka. H.: Kirchliche Gliederung Ost-Mitteleuropas während der Neuzeit. Überblick und kartographische Probleme, in: ZfO, Bd. 9 (1960), S. 288f. Vgl. Bericht v. Köster an Auswärtiges Amt Berlin v 28.7.1924, in: Deutsche Gesandtschaftsberichte, Bd. II (wie Anm. 13), S. 241. Zur Haltung der preuß. Regierung vgl. die geheime Aufzeichnung des Ministerialdirektors im Kultusministerium Friedrich Trendelenburg v. 20.10.1928, zit. bei Stanzel: Die Breslauer Bistumsgüter (wie Anm. 1), S. 351f., Anm. 21. Golombek (wie Anm. 20), S. 73. Vgl. Vertragstext des Preußenkonkordats, abgedruckt bei Golombek (wie Anm. 20), S. 119–131, hier S. 120, u. bei Lothar Schöppe: Konkordate seit 1800, Frankfurt/M. u. a. 1964, S. 63–67, hier S. 64. So Kultusminister Carl Heinrich Becker an Pacelli v. 18.5.1929, in: ASV ANB 42, f. 235. Vgl. Johann Schlenz: Die kirchenpolitische Gesetzgebung in der Tschechoslowakei, in: Heinrich Donat (Hg.): Die deutschen Katholiken in der Tschechoslowakischen Republik, S. 74–107; Jaroslav Sebek: Der Tschechische Katholizismus im Spannungsfeld von Kirche, Staat und Gesell-
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Abb. 2: Die Südgrenze des (Erz-)Bistums Breslau (Zeichnung aus: Weczerka, Hugo: Kirchliche Gliederung Ostmitteleuropas, in: ZfO, Bd. 9 (1960), S. 283)
darin überein, dass die Bistumsgrenzen den Staatsgrenzen angepasst werden sollten. Weder dürfe ein Teil des tschechoslowakischen Staatsgebiets einem Bischof unterstellt sein, der seinen Sitz nicht innerhalb von dessen Grenzen habe, noch sei es künftig möglich, dass eine tschechoslowakische Diözese über die Staatsgrenzen hinausreiche. Damit schien das Ende der Glatzer Diözesanzugehörigkeit zu Prag besiegelt zu sein. Zwar wurde die Umsetzung dieses Vorhabens von einem neuerlichen Übereinkommen von Heiligem Stuhl und tschechoslowakischer Regierung abhängig gemacht, zu dessen Vorbereitung sowohl eine staatliche als auch eine davon unabhängige kirchliche Kommission gebildet werden sollte. Gleichzeitig verband der Modus vivendi die Neuzirkumskription der Diözesen jedoch definitiv mit der Lösung der Frage um die Breslauer Bistumsgüter in der Tschechoslowakei. Dass deren Zwangsverwaltung erst im Kontext einer Lösung der kirchlichen Grenzfrage aufgehoben werden sollte, stellte für die deutsche Seite ein starkes Druckmittel dar. Vor dem Hintergrund der als Schreckgespenst angesehenen Bodenreform erscheint es verständlich, dass von Kardinal Bertram auf eine rasche Einigung gedrungen wurde. Dass der Modus vivendi in Glatz unter der Frage „Los von Prag?“30 durchaus abwägend diskutiert wurde, während sich der Prager Erzbischof Kordac gegenüber der
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schaft zwischen den Weltkriegen (wie Anm. 14), S. 145–156. Der Wortlaut des „Modus vivendi“, in: Acta Apostolicae Sedis, Bd. 20 (1928), S. 65f. So der Eintrag des Glatzer Stadtpfarrers Dr. Franz Monse v. 8.2.1928, in: Pohl, D. (Hg.): 40 Jahre Kirchengeschichte der Grafschaft Glatz in Schlesien 1906–1946, S. 227.
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Zentrumszeitung „Germania“ unter Anführung der funktionierenden kirchlichen Verwaltung und der großen Zufriedenheit der Gläubigen dezidiert gegen eine Entlassung der Grafschaft Glatz aus seinem Diözesanverband aussprach,31 fand offensichtlich keine Berücksichtigung in der Nuntiatur bzw. im Päpstlichen Staatssekretariat. Wohl aber erreichte Pacelli im April 1927 eine Eingabe des Zentrumspolitikers Dr. Josef Goebel, Bürgermeister von Bad Reinerz.32 Letzterer setzte sich nachhaltig für eine zumindest de facto vorzunehmende Angliederung an das Bistum Breslau ein, indem er mit der Abgeschlossenheit der Grafschaft Glatz sowohl gegenüber der Bischofsstadt Prag durch die Staatsgrenze als auch gegenüber Breslau durch die Diözesangrenze argumentierte, weshalb auf kirchlichem Gebiete nicht jenes pulsierende Leben herrschen kann, wie es eine große Diözese bietet. Als Kernpunkt seiner Ausführungen findet sich hier allerdings wiederum das aus den Erfahrungen von 1918/19 resultierende nationalstaatliche Moment, dass nämlich diese Zugehörigkeit zu dem Bistum eines fremdstämmigen, dem Deutschtum nicht wohlgesinnten Staates für die deutsche Grafschaft eine ständige Gefahr bedeute. Der vom Nuntius um Stellungnahme zu diesem Vorschlag gebetene Kardinal Bertram hielt eine Antwort an den Bürgermeister zwar für unnötig, ließ Pacelli jedoch umgehend wissen, dass die Genesis der Gedanken des Briefschreibers nicht unvernünftig33 sei. Insbesondere habe er Verständnis dafür, dass es in der Grafschaft Glatz viele weiter blickende Männer gibt, die aus dem eingeengten Gesichtskreise dieses Ländchens herauskommen möchten. Allerdings stehe ein Eingreifen der Breslauer Diözese in innere Angelegenheiten der Grafschaft Glatz allein deshalb außer Frage, weil damit Begehrlichkeiten von tschechischer Seite auf das Breslauer Bistumsland geweckt würden. Die im Rahmen einer Vereinbarung („Dohoda“) zwischen dem Bistum Breslau und dem tschechoslowakischen Bodenamt im April 1934 schließlich beschlossene Regelung der Landbesitz-Frage im ehemaligen Österreichisch-Schlesien berührte die Grenzfrage zwar nur indirekt,34 deren fehlende Lösung trug jedoch maßgeblich dazu bei, das Inkrafttreten dieser Regelung hinauszuzögern. Insofern war es Intention des Heiligen Stuhles, auch diese Streitfrage abschließend zu lösen und endlich die gemäß Artikel 11 des inzwischen mit der deutschen Regierung geschlossenen Reichskonkordats notwendige Verständigung mit der Reichsregierung zu erzielen.35 31
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Vgl. Interview Kordacs in der Germania v. 16.2.1928. Erwähnt bei Golombek (Anm. 20), S. 72, Anm. 85. Vgl. Bürgermeister Dr. Josef Goebel an Pacelli v. 14.4.1927, in: ASV ANB 42, f. 95. Hier auch die beiden folg. Zit. Kardinal wurde Pacelli erst 1930. Bertram an Pacelli v. 19.4.1927 ebd, f. 96f. Hier auch das folg. Zit. Gemäß der „Dohoda“ v. 9.4.1934 sollten ca. 20 % der Breslauer Ländereien an den Staat abgetreten, kleinere Teile für Bistumsdotationen zur Verfügung gestellt, der Rest aber freigegeben werden mit der Option, im Jahre 1960 an einen der Tschechoslowakei genehmen Käufer veräußert zu werden. Ergänzend wurde am 10.4.1934 eine Vereinbarung des Bistums mit dem tschechoslowakischen Außenministerium geschlossen. Vgl. Negwer (wie Anm. 15), S. 226f. In Art. 11 des Reichskonkordats heißt es: „Bei Neubildungen oder Änderungen [der Diözesangrenzen], die über die Grenzen eines deutschen Landes hinausgreifen, erfolgt die Verständigung mit der Reichsregierung,...“. Text bei Schöppe (wie Anm. 27), S. 29–34, hier S. 30.
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Die Fäden der Diplomatie liefen bei dem seit 1930 in Berlin amtierenden Nuntius Cesare Orsenigo zusammen, der Ende Mai 1935 von einem Vertreter des Auswärtigen Amtes auf Zeitungsmeldungen angesprochen wurde, die im Hinblick auf eine zu erwartende päpstliche Bulle über die Modifizierung der Diözesangrenzen zwischen Deutschem Reich und Tschechoslowakei berichteten.36 Der Regierungsvertreter drückte seine Verwunderung darüber aus, dass die Reichsregierung über diese Absicht nicht informiert sei, woraufhin Orsenigo Kardinalstaatssekretär Pacelli über den Vorfall informierte, nicht ohne deutlich zu machen, dass er diesem zum einen wenig Bedeutung beimesse, zum anderen aber auch gar nicht näher mit den vatikanischen Absichten einer Lösung der Grenzproblematik vertraut sei und daher auf geeignete Verhaltensmaßnahmen seitens des Heiligen Stuhls warte.37
Abb. 3: In seiner Ausgabe vom 31.5.1935 beschäftigte sich das „Berliner Tageblatt“ mit den Bistumsgrenzen in Schlesien.
Immerhin bemühte sich der Nuntius gleichzeitig, Meldungen zu sammeln und ebenfalls in den Vatikan zu senden, wie sie etwa die „Schlesische Volkszeitung“ verbreitete, die vollmundig das Ende eines tausendjährigen Zusammenhangs: Die Ab36
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Orsenigo an Staatssekretariat v. 31.3.1935, in: ASV AES, Germania, a. 1935–1937, pos. 679–683, fasc. 249, f. 83. Vgl. Orsenigo an Pacelli v. 29.3.1935, ebd., fasc. 249, f. 84. „Io mi sono limitato a rispondere, che non ero al corrente di nulla, nemmeno delle abitudini della Santaa Sede in simili casi.“
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trennung der Grafschaft Glatz von Prag38 verkündete, um letztere als ein über 200 Jahre hin angestrebtes Ziel hinzustellen, das die nationalsozialistische Politik nun endlich erreicht habe. In ähnlichem Tonfall hatte das „Berliner Tageblatt“ unterstrichen, dass nach der gemäß Reichskonkordat erforderlichen Zustimmung der Reichsregierung eine Änderung der Bistumsgrenzen in der Grafschaft Glatz erfolgen könne, womit endlich ein Anachronismus verschwinden [kann], der wenigstens 180 Jahre zu alt geworden ist.39 Ganz offensichtlich brachte die Tagespresse Bewegung in die festgefahrenen Verhandlungen zwischen Auswärtigem Amt und Heiligem Stuhl und verdeutlichte sowohl dem Auswärtigen Amt als auch dem Nuntius Handlungsgebot. Jedenfalls artikulierte der Kardinalstaatssekretär bereits am 5. Juni handschriftlich das Interesse Pius` XI. an den Absichten der Reichsregierung und unterließ nicht hinzuzufügen, dass in seinen Augen eine Vereinigung von Glatz und Branitz mit Breslau die beste Lösung darstelle.40 Doch die Anfang Juli 1935 in der kirchlichen Diplomatie gehegte Hoffnung, durch einen Notenwechsel41 – wie ihn das Auswärtige Amt vorschlug – alsbald die Voraussetzungen für eine Neuumschreibung der Bistümer schaffen zu können, erwies sich als trügerisch, obwohl der Nuntius eilends in einer der Form entsprechenden Note an Reichsaußenminister von Neurath die vorgesehene Vereinigung der Grafschaft Glatz – sowie des für den deutschen Teil der Erzdiözese Olmütz eingerichteten Generalvikariats Branitz – mit dem Erzbistum Breslau mitteilte.42 Vielmehr schwang in der Antwort des Staatssekretärs von Bülow43 Zurückhaltung mit, wenn es dort hieß, er werde nicht verfehlen, die in Frage kommenden inneren Behörden mit der Angelegenheit zu befassen und ... weitere Mitteilungen vorbehalten.44 Einige Wochen später, am 25. September, sicherte das Auswärtige Amt dem Nuntius noch einmal zu, das Deutsche Reich sei bereit, in Verhandlungen zwecks Änderung der bestehenden Diözesanzirkumskription einzutreten und den kirchlichen Wünschen möglichst zu entsprechen,45 schränkte aber gleichzeitig ein, die Zuweisung von Glatz an Breslau müsse erst im Gesamtkontext geprüft werden. Angesichts dieser Verzögerungen unterbreitete Orsenigo dem Päpstlichen Staatssekretariat den Vorschlag, das Generalvikariat Glatz – ebenso wie Branitz – nicht endgültig von der Mutterdiözese abzutrennen, sondern in den Rang einer von Rom abhängigen Apostolischen Administratur mit dem bisherigen Generalvikar als Administrator zu erheben.46 Gleichzeitig sollten auch die nunmehr in der Tschechoslowakei gelegenen Breslauer Bistumsanteile um Freiwaldau sowie um Teschen in zwei Apostolische Administraturen umgewandelt werden. Damit sei – so die in den fol38
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Vgl. Schlesische Volkszeitung v. 2.6.1935, in: Dekanatsarchiv Glatz, Klodzko, pos. 110107: Abtrennung von Prag. Vgl. Berliner Tageblatt v. 31.5.1935, in: ASV AES, pos. 683, f. 86. Vgl. Pacelli an Orsenigo v. 5.6.1935, ebd., f. 87. Auswärtiges Amt an Orsenigo v. 6.7.1935, ebd., f. 92. Orsenigo an Neurath v. 31.7.1935, ebd., f 97. Bernhard Wilhelm v. Bülow (1885–1936), ab 1930 Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Vgl. Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes, Bd. 1, Paderborn u.a. 2000, S. 327f. Bülow an Orsenigo v. 8.8.1935, in: ASV AES, pos. 679–683, fasc. 249, f. 99. Köpke an Orsenigo v. 25.9.1935, ebd., f. 102. Vgl. Orsenigo an Pizzardo v. 4. u. 19.10.1935, ebd., f. 105 u. 108.
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genden Wochen weiter ausgeführte Argumentation des Nuntius – zum einen die Vorgabe des Modus vivendi erfüllt, zum anderen den deutschen Protesten gegen eine Fundamentierung der in Versailles festgelegten Grenzen durch Einrichtung provisorischer Jurisdiktionsbezirke entgegen gekommen. Pacelli ließ sich von diesem Kompromissvorschlag dahingehend überzeugen, dass er Orsenigo mit den entsprechenden Verhandlungen beauftragte,47 die aber letztlich über das Stadium mündlicher Unterredungen – u.a. mit dem Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten Hans Kerrl – nicht hinausgingen.48 Pacelli, der nicht mehr an einen Erfolg der Gesprächsdiplomatie des Nuntius glauben mochte, schlug ab Juli 1936 gegenüber dem Leiter der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt, Dieckhoff49, einen härteren Kurs ein, indem er die freie Entscheidung des Heiligen Stuhls über eine Änderung der Bistumsgrenzen betonte und gleichzeitig um Stellungnahme des Auswärtigen Amtes bat.50 Diese neue Gangart zeitigte augenscheinlich zunächst Erfolg, denn Dieckhoff, der im August 1936 kommissarisch die Nachfolge des verstorbenen Staatssekretärs von Bülow antreten sollte, bat um Aufschub, da er sich in die für ihn ziemlich neue Thematik erst einarbeiten müsse. Mittelfristig stellte sich aber erneut nicht der gewünschte Fortschritt ein, vielmehr hüllten sich die Regierungsstellen in Schweigen, sodass Pacelli den Nuntius Anfang Dezember 1936 anwies, beim Ministerium energischer als bisher auf einer definitiven Stellungnahme zu beharren.51 Orsenigo konnte Dieckhoff zunächst nur zu der Aussage bewegen, dass das Auswärtige Amt z. Zt. noch nicht in der Lage ist, ihnen eine endgültige Antwort zu geben.52 Anfang 1937 erhöhte der Heilige Stuhl dann in Form eines Schreibens des Sekretärs der Kongregation für die Auswärtigen Angelegenheiten, Erzbischof Giuseppe Pizzardo, den Druck auf Orsenigo mit dem Bemerken, dass die Publikation der päpstlichen Bulle nicht mehr länger zurückzuhalten sei.53 Die Nuntiatur setzte daraufhin dem Außenministerium ein Ultimatum, sich bis zum 8. Februar 1937 definitiv zu der Angelegenheit zu äußern. Immerhin bezog das Auswärtige Amt letztendlich dahingehend Stellung, daß nach Ansicht der Reichsregierung keine Veranlassung vorliegt, an dem bestehenden Zustand, der sich seit längerem in jeder Beziehung bewährt hat, etwas zu ändern.54 Diese starre Haltung gelang es Nuntius Orsenigo auch nicht durch zwei persönliche Unterredungen mit dem Reichsaußenminister im Frühjahr 1937 aufzuweichen. Die Ursache für das staatliche Festhalten am Status quo lag jedoch keineswegs in der vorgesehenen Abtrennung der Grafschaft Glatz von Prag, die nach wie vor ganz im Sinne nationalsozialistischer Politik war. Vielmehr wandte man sich in Berlin gegen den vatika47 48
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Pacelli an Orsenigo v. 12.11.1935, ebd., f. 111. „Veramente la questione non ha fatto alcun progresso.“ Orsenigo an Pizzardo v. 2.5.1936, ebd., f. 116. Der Katholik Hans Heinrich Dieckhoff (1884–1952), 15.5.1936 Leiter der Politischen Abteilung, 11.8.1936 kommissar. Staatssekretär im Auswärtigen Amt, März 1937 Botschafter in Washington. Vgl. Biographisches Handbuch (wie Anm. 43), S. 420f. Orsenigo an Pacelli v. 29.7.1936, in: ASV AES, pos. 683–684, fasc. 250, f. 2. Pacelli an Orsenigo v. 7.12.1936, ebd., f. 14. Dieckhoff an Orsenigo v. 19.12.1936, in: ebd., f. 8. Vgl. Pizzardo an Orsenigo v. 23.1.1937, ebd., f. 18. Dieckhoff an Orsenigo v. 8.2.1937, ebd., f. 26.
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nischen Standpunkt, freie Verfügung über den tschechischen Bistumsteil von Breslau zu haben.55 Damit machte sich auch der nationalsozialistische Staat die Position des Breslauer Kardinals Bertram nach Aufrechterhaltung des Status quo zu eigen. Im Wissen um das Dilemma der kirchlichen Diplomatie, einerseits endlich einen Durchbruch hinsichtlich der im Modus vivendi zugestandenen Angleichung von Diözesanund Staatsgrenzen zu erzielen, andererseits aber auch die berechtigten Interessen der deutschen Beteiligten zu wahren, argumentierte Bertram gegenüber Kardinalstaatssekretär Pacelli, die Grenzanpassung sei bekanntlich nur eine politische Forderung der CSR, die vom rein kirchlichen Standpunkt nicht als notwendig betrachtet werden56 könne. Und als Beleg führte der Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz das hohe Maß an Zufriedenheit von Klerus und Volk, auch in der Grafschaft Glatz, mit den gegenwärtigen Verhältnissen an. Mit der Position Bertrams sowie der Taktik der Reichsregierung, auf Zeit zu spielen, um den Status quo möglichst lange zu erhalten, korrespondiert auch die ausgesprochene Höflichkeit der deutschen Behörden gegenüber dem der tschechischen Nationalität angehörenden Prager Erzbischof Karel Kardinal Kaspar. So hatte das Reichsministerium für die kirchlichen Angelegenheiten beispielsweise 1935 anlässlich einer Firmungs- und Visitationsreise des Kardinals in der Grafschaft eine dezidiert zuvorkommende Behandlung57 angeordnet, wie sie auch dem Erzbischof von Breslau in der Tschechoslowakei zukomme. Sicherlich spielte für das friedvolle Miteinander auch die Persönlichkeit Kaspars eine Rolle, der bei der Deutschen Gesandtschaft in Prag einen guten Ruf genoss, da er – wie es in einer Charakterisierung vom Januar 1936 hieß – bestrebt ist, den Katholiken seiner Diözese, gleichgültig welcher Nationalität, nur ein guter Seelenhirte zu sein.58 Und noch kurz vor dem deutschen Einmarsch im Sudetenland meldete ein Mitarbeiter der deutschen Gesandtschaft in Prag an das Reichsministerium für die kirchlichen Angelegenheiten, man sei der Meinung, daß Kardinal Kaspar persönlich bestrebt ist, deutschfeindliche Tendenzen ... innerhalb seines Amtsbezirkes nach Möglichkeit zu unterbinden.59 Bezog sich dieses Urteil auch auf das zur Tschechoslowakei gehörende Kernland des Erzbistums Prag, so lässt sich hieraus gleichwohl eine positive Grundeinstellung der deutschen Regierungsstellen gegenüber dem Erzbischof ablesen, wenngleich etwa die von Kaspar im Februar 1938 – ganz gemäß den kirchenrechtlichen Vorgaben – ohne vorherige Einholung eines staatlichen Plazets vollzogene Ernennung eines neuen Generalvikars für Glatz zu einer erheblichen diplomatischen Verstimmung gerade mit dem Reichsministerium für die kirchlichen Angelegenheiten führte.60 55 56 57
58
59 60
Vgl. Neurath an Orsenigo v. 19.5.1937, ebd., f. 37 u. 43. Bertram an Pacelli v. 10.7.1937, ebd., f. 59–64. Notiz, in: BA Berlin, R 5101, 21951, XV, nr. 1, vol. 3. Hier auch Verweis auf die vor 1918 bestehende Praxis, dass der König von Preußen dem Erzbischof von Prag jede Einreise in die Grafschaft Glatz in Form eines „Allerhöchsten Erlasses“ gewährte. Gesandtschaftsrat Otto Frh. v. Stein, Prag, an Reichsministerium für die kirchl. Angelegenheiten (RKM) v. 23.1.1936, ebd. Deutsche Gesandtschaft Prag an RKM v. 7.7.1938, ebd. Ausführlich zu den Problemen um die Ernennung von Franz Monse zum Generalvikar vgl. den Beitrag des Verf. über die Grafschafter Generalvikare in diesem Band.
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Zu diesem Zeitpunkt hatte der Vatikan seine Bestrebungen, eine Einigung mit der Reichsregierung zu erzielen, zunächst ad acta gelegt. Die Ursache hierfür lag wohl weniger in der ignoranten Haltung der deutschen als vielmehr in der nunmehrigen Bereitschaft der tschechischen Regierung auf das Junktim zwischen Kirchengüter- und Bistumsumschreibungsfrage zu verzichten.61 In der Bulle „Ad ecclesiastici regiminis“ vom 2. September 193762 vermochte der Heilige Stuhl somit zumindest die Angleichung der tschechoslowakisch-ungarischen Diözesangrenzen an die Staatsgrenzen durchzuführen, welche allerdings Grenzänderungen im deutsch-tschechoslowakischen Bereich weiterhin expressis verbis in Aussicht stellte. Welche Verunsicherung daher in der Grafschaft Glatz herrschte, dokumentiert eine Anfrage des greisen Generalvikars und Großdechanten Franz Dittert an die Nuntiatur, ob mit der Neuumschreibung bereits zu Jahresbeginn 1938 gerechnet werden müsse.63 Orsenigo holte daraufhin eigens die Auskunft Pacellis aus dem Vatikan ein, der sich dahingehend bedeckt hielt, dass eine Glatz betreffende Zirkumskriptionsbulle im laufenden Jahr nicht mehr zu erwarten sei.64 Die aus diesen Worten sprechende vorsichtige Zuversicht des Kardinalstaatssekretärs sollte dann von den politischen Ereignissen überholt werden. Nach dem Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich im September 1938 stand das Generalvikariat Glatz keineswegs weiterhin zur Disposition. Stattdessen wurde sogar die Bildung eines nach Ostböhmen und in das Breslauer Bistumsland ausgreifenden Bistums Glatz erwogen.65 Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Kriegsausbruchs galten für das nationalsozialistische Großdeutsche Reich jedoch andere Prioritäten, sodass an eine Veränderung des Zuschnitts der kirchlichen Jurisdiktionsbezirke ohnehin nicht zu denken war. Ein Übriges zur Beibehaltung des Status quo tat sicherlich auch das im April 1939 – nun vor dem Hintergrund der deutschen Besetzung der gesamten Tschechoslowakei – noch einmal deutlich artikulierte Bekenntnis des Breslauer Kardinals Bertram zur weiteren Zugehörigkeit von Glatz zur Erzdiözese Prag.66 Erst als Folge des Zweiten Weltkriegs sollte eine Kongruenz von Bistums- und Staatsgrenzen in dieser Region erzielt werden, nachdem die Grafschaft Glatz 1945 zunächst de facto dem polnischen Apostolischen Administrator für Niederschlesien in Breslau unterstellt und 1972 auch de iure der Erzdiözese Breslau eingegliedert wurde. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die Frage einer Anpassung der Diözesangrenzen an die Staatsgrenzen im Untersuchungszeitraum in der Öffentlichkeit der Grafschaft Glatz permanent virulent war und die Einrichtung des Generalvikariats 1920 von Beginn an nur als Übergangslösung gedacht war. Auf der Ebene der Diplomatie lassen sich zudem drei Phasen erkennen, in denen eine Lösung des Problems 61 62 63
64 65 66
Vgl. Adriányi, G.: Geschichte der Kirche Osteuropas im 20. Jahrhundert, S. 86. Vgl. AAS, Bd. 29 (1937), S. 366f. Vgl. Dittert an Orsenigo v. 25.9.1937, in: ASV AES, pos. 683–684, fasc. 250, f. 100. Grund für die Anfrage war die Bestellung von Direktorien für das folgende Kirchenjahr. Pacelli an Orsenigo v. 8.10.1937, ebd., f. 101. Vgl. N.N. (A. Kindermann): Kirche im Sudetenland, o. O. 1939, S. 110ff. Vgl. Bertram an Kindermann v. 16.4.1939, Brief in Nachlass Kindermann, ediert v. Stanzel: Die Breslauer Bistumsgüter (wie Anm. 1), S. 349–352, hier S. 351.
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als Gegenstand intensiven Austauschs des Heiligen Stuhls mit Regierungsstellen erkennbar ist: zum einen die unmittelbare Nachkriegszeit 1918 bis 1920, in welcher der Thematik aus vatikanischer Warte zurückhaltend und neutral begegnet wurde, ohne auf eine Veränderung des Status quo zu zielen; zum anderen die Periode der parallelen Verhandlungen im Vorfeld von Preußischem Konkordat und Modus vivendi. In diesem intensiven Bemühen des Vatikans, die Beziehungen zu beiden Staaten auf eine gesicherte vertragliche Grundlage zu stellen, bildete die Frage der Diözesangrenzen ein schwerwiegendes Hindernis. Dabei ist durchaus eine besondere Hinwendung des Heiligen Stuhls zu den Katholiken in der Tschechoslowakei zu konstatieren, deren Position in einem dezidiert antikatholischen Nationalstaat dezidiert gestützt werden sollte, auch wenn dies zu Lasten deutscher Interessen gehen könnte. In diese Strategie passt sich auch das Verhalten Pacellis in Berlin ein, der schließlich als Kardinalstaatssekretär in der dritten intensiven Phase der diplomatischer Aktivitäten von 1935 bis 1937 dezidiert für eine Anpassung der Diözesan- an die Staatsgrenzen agierte. Die Grafschaft Glatz erschien dabei allerdings zunehmend nur als Spielball der internationalen Diplomatie, was sich nicht zuletzt darin widerspiegelte, dass etwaige Vorstellungen des Generalvikars auf diesem Parkett keine Rolle spielten. Vielmehr kristallisierte sich Pacelli in kleinen Demarchen als handlungsaktivster Part in diesem Kapitel vatikanischer Deutschlandpolitik heraus, dessen Intentionen allerdings nicht allein durch die vorsichtige und zurückhaltende Verhandlungsführung des Berliner Nuntius Orsenigo, sondern vor allem durch die betont passive Haltung der deutschen Regierungsstellen zum Scheitern verurteilt waren.
Die wirtschaftliche Situation in der Grafschaft Glatz um 1933 Von Horst-Alfons Meißner 1. Die Wirtschaftsräume der Grafschaft Glatz um 1933
D
er Glatzer Gebirgskessel war, selbst innerhalb des alten Deutschen Reiches,
umstrittenes Grenzland: Zunächst Jahrhunderte lang nordöstlicher Vorposten Böhmens gegen Schlesien, dann umgekehrt Grenzraum Schlesiens und des neuen Deutschen Reiches gegen Österreich und die Tschechoslowakei. Die Grenzlage mit ihren Ungewissheiten, die nach dem Ersten Weltkrieg verstärkt ins Bewusstsein der Bewohner drang, prägte das Land. Die Grafschaft Glatz (in den Tabellen oft GG) wurde 1459 auf Veranlassung des böhmischen Königs Georg Podiebrad von Kaiser Friedrich III. geschaffen. 1933 bestand sie aus den beiden Kreisen Glatz und Habelschwerdt, nachdem der Kreis Neurode1 am 1. Oktober 1932 mit dem Kreis Glatz zusammengelegt worden war. Ihr Territorium hatte eine Größe von 1.637 km², das entsprach etwa der doppelten Fläche Berlins, auf dem am 16. Juni 1933 laut Volkszählung 180.205 Menschen lebten, von der Konfession her zu mehr als 90 % katholisch. Die Grafschaft war allseits von dicht bewaldeten Randgebirgen umgeben, auf denen meist auch die Reichsgrenzen gegen Österreich und nach 1918 zur Tschechoslowakei verliefen. Die Randgebirge erreichten im Westen (Heuscheuer und Habelschwerdter Gebirge) und Osten (Reichensteiner Gebirge) Höhen von über 900 m, im Norden (Eulengebirge) und Süden (Glatzer Schneegebirge) sogar von mehr als 1.000 m, während die zentralen Orte Glatz 294 m, Habelschwerdt 365 m und Neurode „nur“ 420 m hoch lagen. Das ergab eine reizvolle, aber auch recht isolierte Beckenlandschaft, die durch einzelne Höhenzüge und Täler gegliedert und hauptsächlich von der Neiße und ihren Nebenflüssen entwässert wurde. Etwa die Hälfte des Beckens lag mehr als 500 m über NN. Vom übrigen Schlesien war das Gebirgsbecken nur über einige Pässe zu erreichen. Ab 1869 brachten Bahnbauten entlang der Flussläufe neuen Schwung ins Wirtschaftsleben des „Glatzer Kessels“, und bis 1946 war die Bahn auch der Hauptträger des Personen- und Güterverkehrs. Zentraler Bahnhof des Y-förmigen Hauptbahnnetzes war Glatz. Von Nordosten, durch den Pass von Wartha aus Breslau und von Nordwesten über Neurode und den Pass von Dörnhau aus Berlin kommend, vereinigten sich hier die beiden überregionalen Bahnlinien aus dem „Reich“, um entlang der Neiße nach Süden zu führen und das Becken in Richtung Prag/Wien durch den Pass bei Mittelwalde zu verlassen. (vgl. Abb. 1)
1
Der Kreis Neurode bestand seit 1855. Vgl. Wittig: Stadt Neurode, in: Einwohnerbuch 1937, S. 167–169.
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Abb. 1: Hauptverkehrslinien in der Grafschaft Glatz um 1938
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die wirtschaf t l ic h e s i t uat io n i n d e r g r a f schaft glatz um 1933
Die anderen Strecken waren kurze Stich- oder Verbindungsbahnen von örtlicher Bedeutung, die aber die wirtschaftliche Erschließung der Grafschaft sehr förderten. Sie dienten dem Kohlen-, Holz- und Steintransport ins übrige Reichsgebiet, sie kurbelten die Industrialisierung des Raumes an und erschlossen ihn dem rasch aufblühenden Fremdenverkehr. Einige Gemeinden mussten lange um einen Bahnanschluss kämpfen. Fehlinvestitionen blieben trotzdem nicht aus, wie die zum Kohlentransport gebaute Privatbahnverbindung Mittelsteine-Silberberg-Frankenstein bewies. Sie erforderte streckenweise einen technisch aufwändigen Zahnradbetrieb und musste bereits 1931, nach nur 30 Betriebsjahren, wegen Unwirtschaftlichkeit zum Teil stillgelegt werden.2 Der Ausbau des Straßennetzes, das nach dem Bahnbau wie überall in Deutschland verkam, begann zwischen den Weltkriegen, verstärkt allerdings erst in den 30er Jahren. (Abb. 1) Die Hauptstraßen, aus topographischen Gründen fast immer parallel zu den Bahnlinien und damit deren zukünftige Konkurrenten, wurden verbreitert, gepflastert oder geteert und nach 1933 zu den überregionalen Reichsstraßen 116, 150, 152 und 325 aufgewertet.3 Dazu baute man ein örtliches Straßengrundnetz bis 1939 so aus, dass LKWs es jederzeit befahren und Autobusse die einzelnen Dörfer mit den zentralen Orten und Bahnhöfen verbinden konnten. So wurden auch dem Fremdenverkehr neue Stützpunkte erschlossen. Selbstverständlich war der Gebirgskessel keine einheitliche Großlandschaft, denn er ließ sich nach verschiedenen Kriterien in einzelne Teilräume gliedern. Einige sollen im Folgenden vorgestellt werden.
Die Verteilung der Bevölkerung Die Grafschafter Bevölkerung verteilte sich sehr ungleichmäßig über die weite Beckenlandschaft, wie Abb. 2 leicht erkennen lässt. Jahr Gebiet Grafschaft Glatz Kr. Glatz Altkreis Glatz Altkreis Neurode Kr. Habelschwerdt Zum Vergleich Dt. Reich a
1933/39 Größe/km² 1 637 845 528 317 792 468 788a
Reich ohne Saargebiet
b
1933 Einwohner 180 205 124 507 70 012 54 495 55 698 65 218 000a
1933 E/km² 110 147 133 172 70
1937/39 Einwohner 181 605 125 273 73 935 51 338 56 332
139q
69 300 000b
1939 E/km² 111 148 140 162 71
Reich einschließlich Saargebiet, Einwohnerzahl 1937
Abb. 2: Bevölkerungsverteilung in der Grafschaft Glatz4 2 3 4
Fogger: Wirtschaftskunde, S. 54–56. Karte des Dt. Reiches, Großblatt 116: Glatz-Münsterberg, Nachträge 1937/38. Statistik des Dt. Reiches: Volks-, Berufs- und Betriebsstättenzählung vom 16.6.1933.
147²
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1933 fällt der Kontrast zwischen dem dicht besiedelten Nordwesten, identisch mit dem Altkreis Neurode, und dem nur sehr dünn besiedelten Süden, dem Kreis Habelschwerdt, auf. Im Altkreis Neurode wohnten 30,2 % der Bevölkerung auf nur 19,4 % der Fläche, im Kreis Habelschwerdt lebte ein etwa ebenso großer Teil der Einwohnerschaft (30,9 %) auf etwa der Hälfte des Glatzer Landes (48,4 %). Beide Regionen lagen mit einer Einwohnerdichte von 172 und 70 erheblich über bzw. unter dem Durchschnitt des Reiches. Die Bevölkerungsdichte in der Mitte der Grafschaft, im Altkreis Glatz, entsprach mit 133 E/km² knapp dem Reichsdurchschnitt. Zu bedenken ist, dass ein Drittel der Grafschaft dicht bewaldet und deshalb nahezu unbewohnt war.5 Die städtischen Siedlungen vom Typ der ostdeutschen Kolonialstadt mit Ring, Rathaus und rechtwinkligem Straßennetz wie Glatz, Habelschwerdt, Neurode, Lewin und Wünschelburg waren eng bebaut und flächenmäßig klein. In scharfem Gegensatz dazu zogen sich viele ländliche Siedlungen, ursprünglich meist Waldhufendörfer, als kilometerlange Siedlungsbänder durch die Täler, wirkten aber selbst im industrialisierten Nordwesten trotz Verdichtung und eingestreuten Mietshäusern wenig verstädtert. Die Einwohnerzahl der Grafschaft pendelte zwischen den Weltkriegen um 180.000 und stieg zwischen 1933 und 1939 nur geringfügig um 1.400 Personen an, also um 0,8%. Bemerkenswert ist demgegenüber, dass die Region Neurode zwischen 1933 und 1939 3.157 Personen oder 5,8 % ihrer Bevölkerung verlor. Fehlende Verdienstmöglichkeiten führten zur Abwanderung in Reichsgebiete, in denen im Rahmen des „Vierjahresplans“ neue Industriereviere entstanden und Arbeitskräfte gebraucht wurden, so z. B. nach Wolfsburg und Salzgitter. Sindermann6 zufolge hatte dieser Raum schon vor dem Ersten Weltkrieg viele Bergleute durch Abwanderung ins Ruhrgebiet verloren, wo höhere Löhne gezahlt wurden. Grafschafter Familiennamen belegen das noch heute. Nach 1933 verließen die Juden Glatz, Neurode, Habelschwerdt und die Bäder. Diejenigen, die blieben, wurden deportiert und meistens umgebracht. 1931 gab es in der Stadt Glatz 126 Juden, 1934 noch 108 und 1941 nur noch 21.7
Die Bedeutung der Land- und Forstwirtschaft Wovon lebten aber die Menschen in der Grafschaft Glatz, die ihre Bewohner und auch viele Besucher, darunter der Breslauer Jude Willy Cohn,8 so sehr liebten, dass sie sich ein Leben lang nicht von ihr lösen konnten?
5
6 7
8
Fogger: Wirtschaftskunde, S. 122 (Waldbestand der Grafschaft Glatz um 1900 ca. 552 km2 = 33,7 %). Sindermann: Bevölkerungsdichte, S. 53–57. Pohl: Pfarrchronik, 16.12.1931, 3.12.1934, 16.12.1943. Vgl. die Artikel Doppmeier/Schindler in diesem Buch. Cohn: Kein Recht, z. B. S. 287, 310, 340, 344, 885.
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Die Grafschaft Glatz war auf den ersten Blick Bauernland, und wohl die meisten Bewohner hatten auch bäuerliche Wurzeln. Das gilt selbst für den Neuroder Kohlenbezirk, wo sich Fabrik- und Verkehrsanlagen fast in der schönen Landschaft versteckten. Bäuerliche Elemente wie ein- und mehrteilige fränkische Gehöfte in endlos langen Dörfern, Siedlungshäuser in kleinen Kolonien, alles eingebettet in Äcker, Wiesen, Weiden und Wälder, prägten das Land 1933 bis in große Höhenlagen, und zwar selbst da, wo Industrie und Dienstleistungen dominierten. Das machte den Reiz der Grafschaft aus, und bis 1945 hatte sich daran auch nichts geändert. Genaueres über die Bedeutung der flächendeckenden Land- und Forstwirtschaft in der Grafschaft Glatz erfahren wir aus der Volks-, Berufs- und Betriebsstättenzählung,9 die das NS-Regime zu Beginn seiner Herrschaft am 16. Juni 1933 durchführte, also ungefähr zum Zeitpunkt der Talsohle des wirtschaftlichen Niedergangs und des Wechsels von der Republik zur Diktatur. Sie gibt gemeindeweise Auskunft über den Anteil der land- und forstwirtschaftlichen Bevölkerung an der Wohnbevölkerung, d. h. über die Erwerbspersonen und ihre Angehörigen, die am 16. Juni 1933 von der Land- und Forstwirtschaft lebten. Er lag in der Grafschaft mit 28,5 % erheblich über dem Reichsdurchschnitt. Das zeigt Abb. 3, Spalte 5. Die Statistik bestätigt so indirekt das ländliche Erscheinungsbild des Landes. Die Daten der Spalte 5 belegen aber auch den großen Unterschied zwischen dem Norden und dem Süden der Grafschaft. Während der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung im Altkreis Neurode unter dem Reichsdurchschnitt lag, betrug er in Kreis Habelschwerdt genau das Doppelte des Reichsdurchschnitts. Das wirkliche Bauernland der Grafschaft war der Kreis Habelschwerdt, dem später auch die Maßnahmen der Nationalsozialisten zur Stützung der Landwirtschaft besonders zugute kamen. Gebiet
GG Kreis Glatz Kr. Habelsch. Altkr.Neurode Altkr. Glatz zum Vergleich Dt. Reich a)
Größe/ km² 1 637 845 792 – – 468 788
Einwohner Landwirtsch. in % der ET i. Bevölkerung Bevölkerung d. L+F (%) 180 205 51 292 28,5 45,1 124 507 27 809 22,3 38,3 55 698 23 483 42,2 57,7 54 495 10 974 20.1 –
ET in I+H (%) 28,3 32,0 21,4 –
ET in HVD (%) 26,6 29,7 20,9 –
70 012
16 835
24,0
–
–
–
65 218 000
13 660 000
21,0
34,2
33,5
32,3
Abkürzungen: a) Reich ohne Saargebiet ET = Erwerbstätige (Personen, die Arbeit haben) L+F = Wirtschaftsbereich Land- und Forstwirtschaft I+H = Wirtschaftsbereich Industrie und Handwerk HVD = Wirtschaftsbereich Handel, Verkehr, Dienstleistungen
Abb. 3: Anteil der land- und forstwirtschaftlichen Bevölkerung in der Grafschaft Glatz und die Gliederung ihrer Erwerbstätigen nach den Hauptwirtschaftsbereichen10 1933 9 10
Statistik des Dt. Reiches: Volks-. Berufs- und Betriebsstättenzählung vom 16.6.1933. ebd., Bd. 454, Provinz Niederschlesien, Tabellen VI und VII.
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Spalte 6 der Abb. 3 zeigt den Anteil der tatsächlich Erwerbstätigen in der Landund Forstwirtschaft im Vergleich zu den beiden anderen Hauptwirtschaftsbereichen „Industrie/Handwerk“ und „Handel/Verkehr/Dienstleistungen“. Im Reich verteilen sich die Erwerbstätigen zu etwa je einem Drittel auf die drei Hauptwirtschaftsbereiche mit einem leichten Übergewicht bei der Landwirtschaft, weil sich in der schweren Wirtschaftskrise ein Teil der Industriebeschäftigten zum Überleben in die Landwirtschaft geflüchtet hatte. In der Grafschaft Glatz trat der Trend einer Flucht in die Landwirtschaft ver stärkt auf, ein untrügliches Zeichen dafür, dass es um ihre Industrie und ihren Handel schlecht bestellt war. Natürlich bestand da wieder ein starkes Nord-Süd-Gefälle, denn im Kreis Glatz beschäftigte die Land- und Forstwirtschaft 38,3 % aller Erwerbstätigen, in Altkreis Neurode viel weniger, im Kreis Habelschwerdt hingegen fast 60 %! Im Grafschafter Durchschnitt waren immerhin noch 45,1 % aller Erwerbstätigen diesem Wirtschaftsbereich zuzurechnen, und damit präsentierte er sich 1933 mit Abstand als größter Grafschafter Arbeitgeber. Darin lag seine überragende Bedeutung für das Land. Solche Daten müssen die Menschen alarmiert haben, die damals in Regierung und Verwaltung Verantwortung trugen, bedeuteten sie doch, dass die Land- und Forstwirtschaft in der Grafschaft Glatz personell weit überbesetzt war. Das hieß ja auch, dass die Wertschöpfung pro Arbeitskraft in diesem Wirtschaftsbereich nur äußerst gering gewesen sein konnte, denn der hohe Arbeitskräftebesatz paarte sich mit niedrigen Erlösen für landwirtschaftliche Erzeugnisse in ganz Deutschland, weil billige Agrareinfuhren aus Dänemark und Holland die Preise drückten. Infolgedessen waren die Verdienste eines sehr großen Teils dieser Hälfte aller Erwerbstätigen in der Grafschaft Glatz so gering, dass sie 1933 nur zum Lebensnotwendigsten gereicht haben dürften. Entscheidendes Gewicht für den Lebensunterhalt der landwirtschaftlichen Arbeiterfamilien hatten die Naturalleistungen größerer Betriebe in Form von Deputaten an Kartoffeln, Getreide und Holz. Heute würden wir sagen, dass ein großer Teil der Bevölkerung des Glatzer Landes um 1933 an oder sogar unter der „Armutsgrenze“ leben musste und die Bezeichnung „Notstandskreis“ berechtigt war.11 Die offenbar nicht selbstverständliche Forderung der NSDAP: Keiner darf hungern, keiner darf frieren, fand bei diesem Bevölkerungsteil sicher große Zustimmung. Cohn beschreibt die Begegnung mit einer alten Beerensammlerin bei Bad Kudowa im August 1936 so: Sie kam ... mit 13 Litern Himbeeren, die drei Familien gesammelt haben; da hoffte sie, für den Liter 35 Pf. zu erlösen, so dass dann jede Familie vielleicht anderthalb Mark hätte. Sie erzählte, ... der Mann sei alt und arbeitslos, früher im Walde tätig. Damals konnten sie sich die Feuerung aus dem Wald mitbringen, nun müssen sie alles bezahlen ... Im Winter sind sie in dem hochgelegenen Orte tief eingeschneit. 12 Schreiende Armut und immenser Wohlstand trafen in den Badeorten hart aufeinander.
11 12
Schlesische Zeitung v. 8.12.1932 und Grenzwacht v. 25/26.1.1936. Cohn: Kein Recht, S. 345.
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Doch kann die Situation durchweg nicht ganz so düster gewesen zu sein, wie die Daten der Volkszählung nahe legen, denn nach Aufzeichnungen des Ministerialrats Feßler konnte Reichskanzler Brüning im Dezember 1930 auf einer Besprechung äußern: ... in der Grafschaft Glatz mit seiner kleinbäuerlichen Bevölkerung [nähmen] die Sparkassenbestände zu.13 Das überreiche Angebot an Arbeitskräften und die geringen Erlöse dürften aber noch eine weitere Folge gehabt haben, nämlich den Verzicht auf den Kauf von Maschinen zur Rationalisierung der landwirtschaftlichen Produktion, wenigstens in den kleineren Wirtschaften. Solche Investitionen lohnten sich unter diesen Verhältnissen nur für mittlere und größere Betriebe, die sparsam mit dem Produktionsfaktor Arbeit umgehen mussten. Erschwerend kam im Glatzer Kessel hinzu, dass die Landwirtschaft als wichtigster Arbeitgeber vielfach unter ausgesprochen schwierigen natürlichen und strukturellen Bedingungen schaffen musste, so 1.) unter ungünstigen topographischen Verhältnissen, 2.) unter einem ungünstigen Klima, 3.) unter ungünstigen Betriebsgrößen und 4.) unter ungünstigen Erbregeln. Zu 1: Nur in den Flusstälern von Neiße, Steine oder Biele und im Unterlauf einiger Bäche der Waldhufendörfer gestatteten die Boden- und Klimaverhältnisse gute Erträge. Stattliche fränkische Gehöfte, die bezeichnenderweise in den höheren Lagen fehlten, erinnern noch heute, wenn auch verfallend, daran. Ein großer Teil des Gebirgsbeckens lag höher als 500 m ü. NN (Abb. 5), und Ackerbau wurde noch in mehr als 700 m Höhe14 auf steilen, steinigen Hängen und oft auch auf nährstoffarmen, dünnschichtigen Böden betrieben, die einen hohen Düngerbedarf hatten und durch häufig auftretende Starkregen sehr erosionsgefährdet waren. Zu 2: In weiten Teilen der Grafschaft gab es infolge der Höhenlage lange und strenge Winter und nur kurze Vegetationsperioden. Ab 500 m Seehöhe konnte die Feldbestellung erst spät im Frühjahr erfolgen, und die Ernte wurde in manchen Jahren durch erste Schneefälle behindert. Feldfrüchte wie Hafer, Roggen und Kartoffeln kamen deshalb nicht immer zur Reife. Schon in den 20er Jahren propagierte man deshalb die Umstellung auf eine weniger arbeitsintensive und ertragssichere Grünlandwirtschaft im Verbund mit Silofütterung im Winter für eine ertragreiche Milchviehhaltung und eine intensive, tuberkulosefreie Rinderzucht. Pionierarbeit leistete dabei die Landwirtschaftsschule in Glatz unter Dr. Perlitius.15 Die Polen haben es nicht nötig, die Extremlagen zu beackern, und so erobert der Wald die einst mühsam gerodeten und bearbeiteten Flächen zurück.
13 14 15
Akten der Reichskanzlei, Kabinette Brüning, Bd. 1, Dok. Nr. 195 (11.12.1930), S. 722. Letzte Felder um Kleingeorgsdorf lagen 789 m über NN. (Hasler, Erinnerungen, S. 6). Wolf: Erinnerungen, 1962, S. 22–25.
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Zu 3: Nach Abb. 4 war über die Hälfte aller Betriebe kleiner als 5 ha (Spalte 6) und verfügte im Durchschnitt noch nicht einmal über 2,5 ha Betriebsfläche (Hoffläche, Wege, Gärten, Ackerland, Grünland, Wald, Ödland). Obwohl sie möglichst viel davon zu 1 2 Gebiet Km²
GG KG KH zum DR
1637 845 792 Vergl. 468788
3 4 Zahl der BF/ha Betriebe
11 777 6718 5059 3046875
5 6 LN/ha Betr. 0,5–5 ha in %
7 8 BF LN % % Sp.4 Sp.6
9 10 11 Betr. BF LN % 5–20 % ha in Sp.4 Sp.6 %
12 Betr. 20–50 ha in %
156640 80746 75894
90119 48938 41181
51,8 57,1 44,8
9,5 11,1 7,8
15,1 16,6 13,2
8,9 7,8 10,4
19,0 18,4 19,8
40,3 37,1 44,0
8,9 7,8 10,4
13 14 15 16 BF LN Betr. BF 50– % % % Sp.4 Sp.6 100 Sp.3 ha in % 19,0 26,6 1,0 4.9 18,4 24,7 0,8 4,7 19,8 28,8 1,2 5,0
41424634
–
53,2
8,5
–
8,3
19,2
–
8,3
19,2
–
1,8
8,7
17 18 19 LN Betr. BF über % % Sp.6 100 Sp.4 ha in % 6,3 0,8 39,6 6,0 1,0 39,9 6,7 0,6 39,3 –
1,1
37,8
20 LN % Sp.6
11,7 15,5 7,3 –
Abkürzungen: GG = Grafschaft Glatz KG = Kreis Glatz KH = Kreis Habelschwerdt DR = Deutsches Reich 1933 (ohne Saargebiet) BF = Betriebsfläche (Haus-, Hof-, Garten-, Acker-, Wiesen-, Weiden- und Waldfläche, Ödland) LN = Landwirtschaftliche Nutzfläche (Ackerland, Wiesen, Weiden)
Abb. 4: Landwirtschaftliche Betriebe und Betriebsflächen 193316
landwirtschaftlicher Nutzfläche (Ackerland, Grünland) kultivierten, waren diese Wirtschaften außerstande, die meist großen Besitzerfamilien zu ernähren. Sie brauchten einen Zuerwerb in anderen Wirtschaftsbereichen, wozu neben der Arbeit in den Forsten, der Industrie (der Bauer ist auch [Kohlen-] Hauer)17 und im Dienstleistungsbereich traditionell eine vielfältige Heimarbeit von der Hausweberei über die Holzbearbeitung bis zur Hinterglasmalerei gehörte.18 Auch die Kinder konnten dadurch zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Nicht einmal 10 % aller Höfe durften kleinbäuerlich genannt werden und 5 –20 ha Betriebsfläche bewirtschaften (Spalte 9), im Mittel waren das 9,6 ha. Davon ließ sich meistens leben, denn eine durchschnittliche Familie brauchte dazu im Glatzer Land etwa 7,5 ha oder rund 30 Morgen.19 Doch erlaubten diese Stellen selten die Haltung von Pferden, sodass sie gezwungen waren, Kühe oder Ochsen bei der mühsamen Feldbearbeitung im Gebirge einzusetzen. Das kostete nicht nur Zeit, sondern schmälerte auch den Milch- und Fleischertrag. Ein Ochse war oft das einzige „Kapital“ einer solchen Bauerwirtschaft. Die bäuerlichen Betriebe von 0,5 –20 ha machten zusammen 60,7 % aller Betriebe des Glatzer Landes aus und bildeten das Rückgrat dieses Wirtschaftsbereichs. Sie verfügten über 28,5 % seiner landwirtschaftlichen Betriebsfläche, jedoch immerhin über 55,4 % seiner landwirtschaftlichen Nutzfläche. Einen landwirtschaftlichen Großbetrieb gab es aus historischen Gründen in fast jeder Grafschafter Gemeinde, und die Güter mit mehr als 100 ha machten zusammen 0,8 % aller Betriebe aus. Der Wert lag unter dem Reichsdurchschnitt, obwohl es 16 17 18 19
Volkszählung vom 16.6.1933. Fogger: Wirtschaftskunde, S. 34. Helle: Hinterglasmalerei, S. 1f., und Fogger: Wirtschaftskunde, S. 173–177. Issmer: Mitläufer, S. 231.
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manchmal heißt, die Grafschaft sei Großgrundbesitzerland gewesen. Die Güter bewirtschafteten wohl 39,6 % der Gesamtbetriebs- aber nur 11,7 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche, d. h., dass im Gegensatz zu den kleinbäuerlichen Wirtschaften ein sehr großer Teil ihrer Betriebsfläche Wald oder Ödland war. Eine Karte des Grafschafter Besitzes des Grafen Magnis in Eckersdorf zeigt das eindrucksvoll, besteht doch der größte Teil seines Eigentums aus Wald.20 Doch fanden auf den Gütern, trotz zunehmender Mechanisierung, viele Dorfbewohner Lohn und Brot. Zu 4: In Schlesien galt bis 1933 ein altes Erbrecht, wonach der Hoferbe den Betrieb vom Vater oder Betriebsbesitzer „kaufen“ musste, damit dieser die anderen Kinder auszahlen konnte. Der Hof blieb so ungeteilt erhalten, aber der Erbe startete meistens mit hohen Schulden in die Eigenständigkeit und hatte neben seiner Familie auch noch die Eltern im „Ausgedinge-Haus“ (Alterssitz) zu ernähren.21 Missernten und niedrige Preise für Agrarprodukte konnten darum schnell in die Zahlungsunfähigkeit und damit in den wirtschaftlichen Ruin führen. Infolgedessen war die zermürbende Angst um die nackte Existenz nach dem Ersten Weltkrieg die tägliche Begleiterin vieler Landwirte im Glatzer Land, aber natürlich auch anderswo im Reich. Viele Landwirte waren notgedrungen Selbstversorger, die aber zunehmend kleinere Erzeugermengen, z. B Butter an die Fremdenverkehrsbetriebe verkaufen konnten, weil die Bauernfamilien selbst die billigere Margarine aßen. Größere Produktionsüberschüsse verarbeitete man in einer Zuckerfabrik (Niederschwedeldorf), in einer Konservenfabrik (Kunzendorf/Biele) sowie in Brennereien und Brauereien (z.B. Glatz, Schlegel, Wünschelburg). So war 1933 die Land- und Forstwirtschaft zwar der wichtigste Wirtschaftszweig und Arbeitgeber für die Bewohner der Grafschaft, doch führte ihre geringe Wertschöpfung zu so geringen Verdiensten, dass ein großer Teil der Menschen, der in der Land- und Forstwirtschaft tätig war, gerade das Existenzminimum zur Verfügung hatte.
Einzelne Wirtschaftsräume Im Gebirgskessel existierten aber auch Wirtschaftsräume, in denen die Land- und Forstwirtschaft eine geringere Rolle spielte. Mangels gemeindeweise vorliegender Daten für die Wirtschaftsbereiche „Industrie/Handwerk“ und „Handel/Verkehr/ Dienstleistungen“ lassen sie sich auf dem Umweg über den Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung in den einzelnen Gemeinden ausweisen, und zwar so, dass ein geringer Anteil an landwirtschaftlicher Bevölkerung einen hohen Anteil an Menschen bedingt, der seinen Lebensunterhalt in den anderen beiden Wirtschaftsbereichen bestreiten muss.
20
21
Besitzkarte des Grafen Magnis, Eckersdorf, 1: 100 000. Staatsarchiv Breslau, Akta Majatku Magnisow, Sign. 10 085. Issmer: Mitläufer, S. 231.
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Abb. 5: Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung 1933. Die Industriebezirke sind durch Umrandung hervorgehoben.
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Abb. 5 gibt den Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung in der Grafschaft Glatz gemeindeweise in sechs Stufen wieder, wobei niedrige Werte durch dunkle Signaturen betont wurden, um die Industrie- und Dienstleistungsgemeinden hervorzuheben. Aus dem Meer der Gemeinden mit einem hohen Anteil land- und forstwirtschaftlicher Bevölkerung heben sich inselartig einige Orte und ausgedehntere Bezirke ab, in denen die Bevölkerung 1933 mehrheitlich von Industrie, Handwerk, Handel, Verkehr und Dienstleistungen lebte. Das waren 1. die Städte Glatz, Habelschwerdt und Neurode, 2. die Badeorte Altheide, Kudowa, Landeck, Langenau und Reinerz, 3. das Industrierevier um Neurode, 4. die Standorte der Holzindustrie und des Fremdenverkehrs im Kreis Habelschwerdt, 5. die Textilbezirke im „Böhmischen Winkel“ und im unteren Bieletal, 6. die „Glasreiche“ um Friedrichsgrund, Schreckendorf und Kaiserswalde, 7. die Papierindustriedörfer um Mühldorf.
Die Städte Glatz, Habelschwerdt und Neurode Die imposante Festungsstadt Glatz mit Ring und Rathaus war ein Beispiel für die ostdeutsche Kolonialstadt und im Kern mit mehrstöckigen Häusern eng bebaut. Viele Barock- und Jugendstilgebäude prägten das Erscheinungsbild der reizvollen 19.000-Einwohner-Stadt. Mit ihren zahlreichen Ämtern war sie nicht nur das Verwaltungszentrum für die 125.000 Bewohner des Kreises, sondern durch mehrere übergeordnete Landes- und Reichsbehörden auch der dominierende zentrale Ort für die 180.000 Einwohner der ganzen Grafschaft. Glatz war die Hauptstadt des Kessels im Wortsinn, sein Verkehrsmittelpunkt und Handelszentrum, Sitz vieler Einrichtungen des Gesundheitswesens und sein geistiger und auch geistlicher Mittelpunkt. So verfügte die Stadt über Schulen jeder Art – darunter lange Zeit über das einzige Gymnasium des Glatzer Landes, aus dem seine Elite hervorging – über ein differenziertes Gesundheitswesen mit zwei Krankenhäusern und vielen Fachärzten, über ein Land- und Amtsgericht, über zahlreiche Spezialgeschäfte und überregionale Einrichtungen des Handels- und Finanzwesens, über eine große Garnison und über viele Institutionen kultureller Art. Glatz war ab 1938 auch Sitz des fürsterzbischöflichen Generalvikariats, der wichtigsten Kirchenbehörde der Grafschaft, die als Teil des Deutschen Reiches wie seit Jahrhunderten weiterhin zum Erzbistum Prag gehörte. Dadurch, dass Deutschland und die Tschechoslowakei die gemeinsame Grenze weitgehend schlossen, gewann dieser alte Kirchenbezirk nach dem Ersten Weltkrieg fast die Eigenständigkeit eines Bistums.22 Daneben hatten sich auch einige Industriebetriebe in Glatz entwickelt. Zu nennen sind Fabriken des Maschinenbaus, eine Eisengießerei, Schuh-, Möbel- und Tex22
Hirschfeld: Prälat Monse, S. 17.
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tilfabriken, der Klavierbau und die Verarbeitung von Nahrungs- und Genussmitteln sowie die Erzeugung von Baumaterialien. Doch war Glatz weit weniger industrialisiert als die beiden anderen Kreiszentren der Grafschaft, Habelschwerdt und Neurode, wie der Vergleich des Anteils der Industriebeschäftigten in den drei Städten zeigt. (vgl. Abb. 6, Spalte 8) Die überragende zentrale Bedeutung von Glatz im Vergleich zu Habelschwerdt und Neurode kam nicht nur in der Zahl seiner zentralen Einrichtungen zum Ausdruck, sondern besonders auch im Anteil der Erwerbstätigen, der im Wirtschaftsbereich Handel, Verkehr und Dienstleistungen arbeitete, einer typisch städtischen Domäne. Dieser Anteil lag 1933 in Glatz mit 61 % wesentlich höher als in den anderen zentralen Orten der Grafschaft, obwohl Habelschwerdt auch Kreisstadt war und Neurode erst am 1. Oktober 1932 den Kreissitz verloren hatte. Er lag fast auf dem Niveau der schlesischen Hauptstadt Breslau (65 %), die als wichtiges Handelszentrum des Reiches bekannt war. Stadt
Einwohner
Glatz 19 000 Habelsch. 6 549 Neurode 8 466 zum Vergleich: Breslau 625 198
EP
8 623 3 012 3 923
dav. ar- in beitslos % 1 677 452 894
19 15 23
299 923 97 021
32
ET
ET i. d. L+F (%) 6 946 9 2 560 5 3 029 5 202 902
2
ET in I+H (%) 30 49 50 33
ET in HVD (%) 61 46 45
dar. Beamte (%) 15 7 7
65
10
Erläuterungen und Abkürzungen: Erwerbspersonen (EP): Arbeitsfähige Personen außer schulpflichtigen Jugendlichen und Kindern Erwerbstätige (ET): Tatsächlich erwerbstätige Personen L+F: Land- und Forstwirtschaft I+H: Industrie und Handwerk HVD: Handel, Verkehr, Dienstleistungen Habelsch.: Habelschwerdt
Abb. 6: Erwerbspersonen usw. in den Hauptwirtschaftsbereichen der wichtigsten Orte 1933, dazu Anteil der Beamten23
Ausdruck der besonderen Zentralität und Bedeutung von Glatz war auch der hohe Anteil von Beamten an der Gesamtheit der Erwerbstätigen, der in Glatz 15 % betrug, in Neurode und Habelschwerdt dagegen nur 7 %. In Glatz überstieg der Beamtenanteil sogar erheblich den Anteil der Erwerbstätigen, der in Breslau im Beamtenverhältnis arbeitete. Glatz durfte man deshalb mit Fug und Recht eine Beamten- und Behördenstadt, besser noch ein Dienstleistungszentrum nennen, zwar viel kleiner als die Landeshauptstadt Breslau, aber ihr doch sehr ähnlich in der Struktur. Die Kreisstadt Habelschwerdt beherbergte neben dem Landratsamt zwei Mittelschulen und viele Spezialgeschäfte für die südliche Grafschaft, aber auch Werke, die den Holzreichtum der Region verarbeiteten, so Schachtel-, Kisten-, Spulen- und Zündholzfabriken. 23
Statistik des Dt. Reiches, Volks-, Berufs- und Betriebsstättenzählung vom 16. 6. 1933.
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In Neurode waren Einrichtungen des Bergbaus konzentriert, die Neuroder Kohlen- und Tonwerke mit mehreren Schächten und ein Knappschaftslazarett, aber auch eine große Weberei, Fabriken für Rollläden und Jalousien, mehrere Maschinenbauer und bedeutende Betriebe der Druckindustrie, darunter die Kunstdruckerei Klamt, deren „Hausfreund“ 1927 deutschlandweit 150.000 feste Bezieher hatte, sowie die Berlin-Neuroder Kunstanstalt, die Kunstdrucke herstellte und in der Bevölkerung „Bilderfabrike“ hieß. Im Vergleich zu Glatz waren Habelschwerdt und Neurode Industrieorte.
Die Badeorte: Altheide, Kudowa, Landeck, Langenau und Reinerz In Ost-West-Richtung, etwa in der Mitte des Gebirgsbeckens, hatte sich entlang tektonischer Bruchzonen, in denen meist kohlensäure-, aber auch schwefel- und radiumhaltige, z. T. temperierte Quellen zu Tage traten oder erbohrt wurden, eine Reihe deutschlandweit bekannter und spezialisierter Bäder entwickelt: Bad Kudowa (380 m ü. NN, erstes deutsches Herzbad), Bad Reinerz (568 m, Herzheilbad, Wintersportort, Skiausbildung der Dt. Hochschule für Leibesübungen, Berlin), Bad Altheide (400 m), Bad Landeck (470 m, Radiumbad, u.a. Heilung von Frauenkrankheiten, Rheumatismus) und – weiter südlich und weniger bedeutend – Bad Langenau (400 m). Die Badeorte lockten seit langem viele Menschen an, darunter Prominente wie Chopin, Friedrich II., E.T.A. Hoffmann, Goethe und Mendelssohn-Bartholdy. Kurgäste vor allem aus Berlin und den östlichen Teilen des Reiches, darunter besonders in Kudowa viele Juden aus aller Welt,24 suchten hier ganzjährig Erholung oder Heilung, stellten aber auch Ansprüche in medizinischer, pflegerischer, kultureller und ästhetischer Hinsicht. Unter tatkräftigen Kurdirektoren wie Georg Berlit in Bad Altheide25 entstanden in den Grafschafter Bädern ansehnliche Kurhäuser, Trink- und Badeanlagen, Sanatorien, Kurtheater, Hotels und Pensionen sowie gepflegte Parks, Tennisplätze, Grünflächen und Blumenrabatten. Hier wurden auch modernste Herzdiagnoseverfahren entwickelt. 1930 kurten neben den Kurzzeitgästen in Altheide 10.072, in Kudowa 11.255 Menschen.26 1931 hatte ein Gast in Bad Reinerz für eine 28 Tage-Kur in einem mittleren Haus für Vollpension und 5 Bäder pro Woche 232,– RM zu zahlen. Hinzu kamen Kurtaxe (27,– RM), die Arztkosten (1929: 13 Badeärzte) und die persönlichen Ausgaben.27 In Bad Landeck hatte man vor dem Ersten Weltkrieg für die gleiche Leistung ungefähr 190,–Mark (Kurtaxe 15,–M) aufzuwenden.28 1935 zahlte Willy Cohn in Bad Kudowa 150,– RM pro Monat für ein einfaches Zimmer.29 Nur zahlungskräftige Menschen konnten sich das leisten, aber die Übernachtungszahlen schnellten trotzdem in die Höhe. 24
25 26 27 28 29
Cohn: Kein Recht, z. B. S. 451–460, vgl. auch den Beitrag von Gerald Doppmeier in diesem Band. Bernatzky: Lexikon, S. 25. Fogger: Wirtschaftskunde, S. 77. Herzbad Reinerz, Preisliste vom 1.5.1931. Patschovsky: Bad Landeck, S. 15-21. Cohn: Kein Recht, S. 248f.
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Die große Nachfrage nach Dienstleistungen schuf viele Arbeitsplätze sowohl für gut ausgebildete als auch für ungelernte Menschen aus der nahen und weiten Umgebung. Das kulturelle Leben in den Bädern trugen nämlich nicht nur berühmte Künstler und Orchester, sondern auch die Musikanten des Umlands, denn selbst in wirtschaftlich schwachen Familien wurden häufig Instrumente gespielt. In den Bädern siedelten sich auch Holzschnitzer, Bildhauer, Glaskünstler und Maler an. Alle Bäder waren leicht per Bahn zu erreichen und hatten sich meist zu elegantmondänen und modernen Dienstleistungszentren, den Verwaltungsstädten ähnlich, entwickelt. Sie wurden Horte des Wohlstands, Ausgangspunkte der Modernisierung und Trendsetter für die Weiterentwicklung des Fremdenverkehrs, bei dem die Zukunft weiter Teile der Grafschaft lag. Doch hatten die meisten Badeorte auch noch ein industrielles Standbein, das für weitere Arbeitsplätze sorgte. Um Bad Kudowa war es die Textilindustrie, in Bad Altheide und in Bad Reinerz die Glasindustrie und in Bad Landeck gab es fünf Handschuhfabrikanten.
Das Industrierevier um Neurode Den ehemaligen Kreis Neurode prägten die Kohle- und Textilindustrie. Beide Industriezweige beschäftigten dort jeweils mehrere Tausend Menschen. Die Fabriken fügten sich gut in die waldreiche Landschaft ein, denn mit Ausnahme von Neurode waren sie nicht in städtischen Zentren konzentriert, sondern in ehemals bäuerlichen Waldhufendörfern. Sie stellten um 1933 ein Gemisch aus landwirtschaftlichen Betrieben, Fabrikanlagen, Läden, Gastwirtschaften, Werkstätten, sozialen Einrichtungen und kleinen Arbeiterhäusern mit Gärten dar, zwischen die sich als Fremdlinge nicht selten größere Mietshäuser schoben. Ergänzt wurden die volkreichen Industriedörfer durch viele „Kolonien“ meist in topographisch ungünstiger Lage ringsum auf Hängen und Höhen, deren Häuser über ein kleines Stück Land oder wenigstens größere Gärten verfügten, die den Arbeiterfamilien halfen, die häufigen Krisen der Industrie zu überstehen. Entstanden waren die meisten Kolonien im 18. Jahrhundert unter Friedrich II.30 Dass die Landschaft südlich des Eulengebirges trotz aller Industrie reizvoll blieb, beweist der Fremdenverkehr, der sich nach 1918 sogar hier erfolgreich etablierte. So konnte allein Hausdorf bei Neurode, das durch die Stilllegung der Wenceslaus-Grube am 28. Januar 1931 völlig verarmte, 1932/1933 ca. 200 Quartiere für Erholungssuchende anbieten.31 Kohle wurde seit langer Zeit in Neurode, Schlegel, Mittelsteine, Kohlendorf, Hausdorf, Volpersdorf (Köpprich) und Ludwigsdorf (Mölke) gefördert. In den dortigen Gruben, Teil des Niederschlesischen Reviers, arbeiteten rund 6.000 Männer, aber die Kohleindustrie war nicht krisenfest. Häufige Kohlensäureausbrüche, eine Besonderheit dieses Reviers, erschwerten den Abbau und führten trotz aller Vorsichtsmaßnahmen immer wieder zu schweren Grubenunglücken, so 1928 in Mölke (7 Tote) am 9.7.1930 in Hausdorf (Kurtschacht, 151 Tote), am 9.6.1931 in Neurode (Ru30
31
„Kolonien“ waren Siedlungen mit einer kleinen Ackerparzelle meist in Höhenlage am Rand der Gemeinden, die einen Teil des Bevölkerungsüberschusses im Land hielten und sehr zur Siedlungsverdichtung beitrugen. Hausdorf. Ortsgruppen des Gebirgs-Vereins, in: DGG 1933, S. 26f.
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bengrube, 7 Tote)32 und am 10.5.1941, wieder in Neurode. (Rubengrube, 186 Tote).33 Die Kohlensäure, Segen der Bäder, war der Fluch der Bergleute. Zudem hatte die Neuroder Kohle mit Absatzproblemen zu kämpfen, denn Förderung und Transport waren im Vergleich zum oberschlesischen Revier auch im Bahnzeitalter zu teuer.34 Hauptkohleabnehmer – neben dem Hausbrandbedarf – waren deshalb die zahlreichen Industriebetriebe um Neurode, dann die Textilbetriebe nördlich des Eulengebirges um Langenbielau. Die angrenzenden böhmischen Gebiete fielen nach dem Ersten Weltkrieg als Abnehmer weitgehend aus. Zur Rentabilitätsverbesserung musste die Leistung pro Bergmann erhöht, sein Lohn aber gedrückt werden. 1931 gab es im Neuroder Revier pro Schicht etwa 5,– bis 5,55 RM für den Bergmann, das waren zwischen 100,– und 130,– RM im Monat. Dazu bekam er Deputatkohle für die Feuerung. Nach Fogger35 war das ca. 80–90 % dessen, was Bergleute in Waldenburg und gut 50 % dessen, was die Kumpel an der Ruhr verdienten. Man vergleiche den Lohn mit den Ausgaben, die Kurgäste zur gleichen Zeit für vier Wochen in Bad Reinerz hatten. Absatz für den minderwertigen Teil der Förderung – Kohlenstaub und -schlamm – bot die Kohlenverstromung schon vor Ende des Ersten Weltkriegs im EisenbahnElektrizitätswerk Mittelsteine36 und im E-Werk „Schlesien“ in Mölke. Zwar verlor letzteres nach dem Krieg die Versorgung der angrenzenden böhmischen Gebiete,37 doch die zunehmende Elektrifizierung des Landes erforderte eine ständige Vergrößerung der Kraftwerksleistung, sodass der Kohlenabsatz für die Johann-Baptista-Grube in Schlegel nach Schließung der Wenceslaus-Grube 1931 gesichert schien.38 Das Einwohnerverzeichnis von 1937,39 in dem die Haushaltungsvorstände meistens mit ihren Berufen verzeichnet sind, lässt die überragende Bedeutung des Bergbaus für einige Gemeinden dieses Bezirks erkennen, in denen auch viele Berginvaliden und Bergmannswitwen von Renten aus dem Bergbau lebten. (Abb. 7, nächste Seite) Rund die Hälfte der Haushalte – mit Ausnahme der Stadt Neurode – hatte einen Bezug zum Bergbau. Eine starke und arbeitsintensive Stahl-, Eisen- und Maschinenindustrie fehlte im Neuroder Revier. Bergbaukrisen mussten es deshalb hart treffen, auch wenn viele Bergleute über landwirtschaftliche Kleinbetriebe oder wenigstens größere Gärten verfügten, die das Überleben in Notzeiten erleichterten.40 Den Kohlesektor ergänzte aber eine bedeutende Textil- (Kunzendorf, Ludwigsdorf), Holz-, Druck- und Steinindustrie (Neurode), sodass die Menschen nicht allein auf die Kohleförderung angewiesen waren. 32 33 34 35 36
37 38
39 40
Schlesische Tagespost v. 11.6.1931, vgl. auch Meißner: Grubenunglück, in diesem Buch. Fogger: Wirtschaftskunde, S. 46. Fuchs: Waldenburg-Neuroder Bergbaurevier, S. 161–178. Fogger: Wirtschaftskunde, S. 45f. Elektrifizierung der schlesischen Gebirgsbahn Görlitz–Lauban–Waldenburg–Königszelt–Breslau ab 1914. Fogger: Wirtschaftskunde, S. 59. ebd., S. 48. Stilllegung jedoch bald darauf. (Schlesische Tagespost v. 11.3.1931), vgl. Meißner: Grubenunglück, in diesem Buch und Gaertner: Wenceslaus-Grube. Die Grafschaft Glatz. Einwohnerbuch 1937 (gemeindeweise ausgezählt). Sindermann: Landwirtschaft, S. 38.
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Gemeinde Ebersdorf Eckersdorf Falkenberg Hausdorf Kunzendorf Ludwigsdorf Neudorf Neurode Rothwaltersdorf Schlegel Volpersdorf Walditz
Haushalte insgesamt 423 546 278 1 431 1 468 1 051 143 3 329 200 1 249 494 408
Bergmannshaushalte 153 146 56 524 468 447 51 429 61 363 256 116
Haushalte v. Berginvaliden 74 70 42 274 245 104 7 261 34 205 10 47
3 u. 4 zus. 227 216 98 798 713 551 58 690 95 568 266 163
Sp. 3 +.4 i. % aller Haushalte 54 40 35 56 49 52 41 21 48 46 54 40
Abb. 7: Bedeutung des Bergbaus in einigen Gemeinden des Neuroder Reviers (ca. 1936)
Die Neuroder Textilindustrie war Teil des großen Textilreviers, das sich um das Eulengebirge entwickelt hatte. Nördlich des Höhenzugs lag der Kreis Reichenbach mit den durch Gerhart Hauptmann bekannten Textilindustriedörfern Langenbielau (1933: 19.666 E.) und Peterswaldau (1933: 6.790 E.), südlich davon der Altkreis Neurode mit den Textilstandorten Neurode (1933: 10.585 E.), Hausdorf (5.060 E.), Kunzendorf (4.866 E.), Ludwigsdorf (3.704 E.) und Mittelsteine (2.340 E.).41 Eine Strumpffabrik gab es auch in Wünschelburg. Ursprung der Textilindustrie war die Heimweberei. Aus ihr hatte sich an verschiedenen Standorten eine vielseitige industrielle Produktion mit großen Spinnereien und Webereien gebildet, die in der Grafschaft mehr als 7.000 Arbeitskräfte beschäftigte, darunter – im Gegensatz zum Bergbau – sehr viele Frauen. So bot das Industrierevier um Neurode Männern und Frauen Arbeitsplätze, allerdings keine krisenfesten und dazu meist schlecht bezahlte.
Standorte der Holzindustrie und des Fremdenverkehrs im Kreis Habelschwerdt Dem Industrierevier im dicht besiedelten Norden stand der dünn besiedelte Kreis Habelschwerdt im Süden der Grafschaft gegenüber, in dem die Land- und Forstwirtschaft dominierte. Während eine auskömmliche Landbewirtschaftung nur im Neißetal und in den unteren Abschnitten der Nebentäler möglich war, musste in den meist mehr als 500 m hoch und waldnah gelegenen kleinen Dörfern die Forstwirtschaft maßgeblich zum Lebensunterhalt beitragen. Abb. 8 gibt für einige Gemeinden den Anteil der Haushalte wieder, die ihren Lebensunterhalt aus dem Wald zogen. Er bewegte sich zwischen 24 % und 58 %.
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Statistik d. Dt. Reiches, Volks-, Berufs- und Betriebsstättenzählung vom 16. 6.1933.
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Gemeinde Bielendorf Kamnitz Karpenstein Mühlbach Neumohrau Wölfelsgrund
Höhe ü. NN 735 m 700 m 710 m 650 m 650 m 735 m
Haushalte 64 84 24 34 75 147
Forsthaushalte 16 26 14 14 22 35
v. H. 25 31 58 41 29 24
Abb. 8: Forstbedienstete in einigen Gemeinden des Kreises Habelschwerdt (1936)42
Leitlinien einer vielseitigen Holzindustrie waren die Täler wegen der Antriebsmöglichkeiten durch das Wasser, so vor allem das Neiße- und Kressenbachtal. Die Holzverarbeitung vom Sägewerk über die Spanschachtel- und Kistenherstellung, die Zündholz-, Holzstoff- und Pappenproduktion bis zum Instrumentenbau (Wölfelsdorf) und zur Holzschnitzerei, geschah sowohl in Heimarbeit als auch in großen Industriebetrieben (Habelschwerdt). Auch Anfänge einer Spielzeugindustrie (Langenbrück, Stuhlseiffen) ließen sich hier beobachten. Land- und Forstwirtschaft zusammen mit der Holzindustrie konnten der Einwohnerschaft langfristig aber kaum ausreichende Verdienstmöglichkeiten bieten. Vorausschauende Leute brachten deshalb die landschaftlichen Reize der südlichen Grafschaft als Naturpotential ins Spiel. So ist nicht verwunderlich, dass sich gerade in dem hoch gelegenen und waldreichen Teil des Kreises Habelschwerdt der Fremdenverkehr schnell entwickelte.43 Die Förderung dieses neuen Wirtschaftszweigs begann vor dem Ersten Weltkrieg durch den 1881 gegründeten „Glatzer Gebirgs-Verein.“ Er gab Reise- und Wanderführer für das Gebiet heraus, legte Wanderwege an, baute gemütliche Gebirgsgaststätten, „Bauden“ genannt, Jugendherbergen und Aussichtstürme. 1935 publizierte er eine „Wanderwegkarte der Grafschaft Glatz“.44 In vielen Veranstaltungen für die Mitglieder der zahlreichen Ortsgruppen in und außerhalb der Grafschaft und mit seiner Zeitschrift „Die Grafschaft Glatz“ warb er in ganz Deutschland mit der Schönheit des Glatzer Landes um Erholungssuchende. Durch seine Aktivitäten öffnete der Gebirgsverein nicht nur Touristen, sondern gerade auch den Grafschaftern selbst die Augen für die Schönheiten des Gebirgskessels und stärkte dadurch ihre bekannte Heimatliebe. 1932/33 zählte der Gebirgsverein 5.400 Mitglieder.45 Zu Beginn des Jahres 1933, geplant noch vor der Hitlerzeit, wurde zudem der „Grafschafter Verkehrsverband“ in der Absicht gegründet, den Fremdenverkehr zu intensivieren. 42 43
44 45
Die Grafschaft Glatz. Einwohnerbuch 1937 (ausgezählt). Grieben Bd. 147, Grafschaft Glatz, 1933, S. 18–20, macht dazu folgende Angaben: Von den 29 „Sommerfrischen“ (= Orten) der Grafschaft liegen 18 im Kreis Habelschwerdt und von ihren 31 Wintersportplätzen ebenfalls 18. Außerdem befinden sich 10 der 19 Jugendherbergen im Kreis Habelschwerdt. Übersichtskarte der Wanderwege in der Grafschaft Glatz, Neuauflage 1981. Vereinsschlusssitzung, in: DGG 1933, S. 24f. Der Glatzer Gebirgsverein hatte 1924 10.000 Mitglieder.
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Er nahm seinen Anfang als „Sommerfrische“. Die Vermietung einfacher Zimmer und der Ausgedinge-Häuser an erholungssuchende Großstädter aus Breslau, Berlin und dem oberschlesischen Industriegebiet zog bald den Bau größerer Pensionen, „Logierhäuser“ genannt, für anspruchsvollere Gäste nach sich. Die Zimmervermietung, aber auch die Versorgung der Gäste gestattete einen bescheidenen, aber steigenden Nebenverdienst. Mit der Einführung des norwegischen Schneeschuhs 1887/88 im oberen Bieletal durch Förster Bachmann zur leichteren winterlichen Kontrolle der Wälder erhielt der Fremdenverkehr die ergänzende Komponente durch den Wintersport,46 denn der Schneeschuh wurde von einheimischen Tischlern schnell zum „Ski“ verbessert, später auch in einer Skifabrik in Glatz. Für die rasche Verbreitung des Skis in der Grafschaft sorgte besonders die Jugend, und zahlreiche Skigruppen ließen den Wintersport nach dem Ersten Weltkrieg aufblühen. Voraussetzungen dafür waren Schneesicherheit (vgl. Abb. 9) und ein Eisenbahnnetz, das die Wintersportgebiete der Grafschaft erschloss. Vor allem von Breslau und Glatz aus setzte die Bahn an den Wochenenden Sonderzüge in die Wintersportgebiete ein (Richtung Seitenberg, Bad Reinerz, Mittelwalde), die großen Zuspruch fanden. Nach und nach wurde das Bahnnetz durch Postautobuslinien ergänzt. Viele Gemeinden errichteten Skipisten, Rodel- und Eisbahnen, Winterwanderwege und Sprungschanzen. Ort Glatz Reinerz
Okt. 0,7 1,7
Nov. 3,2 6,9
Dez. 19,4 26,5
Jan. 23,3 30,0
Febr. 19,7 26,3
Mrz. 10,2 19,9
Apr. 0,7 3,0
Mai 0,1 0,3
Zus. 77,3 114,6
Abb. 9: Zahl der Schneetage 1890–190047
So schuf der Fremdenverkehr auch außerhalb der Bäder allmählich eine neue Infrastruktur und bot Entwicklungsmöglichkeiten für unterschiedlichste Dienstleister vom Taxiunternehmer bis zum Skireparateur. Arbeitskräfte waren wegen der überbesetzten Land- und Forstwirtschaft und bei dem großen Kinderreichtum im Übermaß vorhanden. Hervorzuhebende Fremdenverkehrsorte wären im Kreis Habelschwerdt neben den Badeorten u. a. die Gemeinden um den Großen Schneeberg wie Wölfelsgrund (Luftkurort), Bielendorf, Lauterbach (Polizeierholungsheim) und Mittelwalde. Sommerfrische und Wintersport entwickelten sich so vor allem im Süden der Grafschaft Glatz zu einem neuen, zukunftsträchtigen wirtschaftlichen Standbein.
Der Textilbezirk im „Böhmischen Winkel“ Auf Abb. 5 lässt sich an der tschechischen Grenze ein kleiner Bezirk von ca. fünf Gemeinden um Bad Kudowa mit einem geringen Anteil landwirtschaftlicher Bevölkerung erkennen. Es ist der sogenannte Böhmische Winkel, der an einen schmalen 46 47
Bachmann: Berichtigung, 1933, S. 24. Errechnet nach Olbrich: Landeskunde Schlesien, S. 37f.
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tschechischsprachigen Korridor um Nachod grenzt, der das sonst deutsch sprechende Sudetenland wie ein Keil teilte. Hier, im äußersten Westen der Grafschaft, hatte sich aus der Handweberei eine beachtliche industrielle Textilproduktion auf Baumwollbasis (Gellenau, Großweberei, Dierig-Konzern) entwickelt, die vielen Menschen Arbeit bot. In diesem Bezirk gaben 1936 zahlreiche Haushaltsvorstände Weber, Spulerin, Spulmeister, (Web-)Stuhlmeister, Fabrikarbeiter, Maschinist als Beruf an, wie Abb. 10 erkennen lässt. Grenzeck war Standort der Leinenweberei. In Straußeney existierten noch 1936 Wollausgeber und Heimweber.48 Gemeinde Birkhagen Gellenau Grenzeck Sackisch Schnellau
Haushalte 91 171 481 499 275
In der Textilindustrie tätige Haushaltsvorstände 43 31 167 159 72
v.H. 47 18 35 32 26
Abb. 10: Textilbeschäftigte in einigen Gemeinden des „Böhmischen Winkels“ (1936)49
Neben der Textilindustrie und der Land- und Forstwirtschaft bot der Badebetrieb in Bad Kudowa weitere Erwerbsmöglichkeiten im „Böhmischen Winkel“. Ein weiterer Textilbezirk existierte im unteren Bieletal mit den Standorten Ullersdorf und Rengersdorf mit insgesamt ca. 1.500 Mitarbeitern.
Die „Glasreiche“ um Friedrichsgrund, Schreckendorf und Kaiserswalde Das Land um Friedrichsgrund, Bad Reinerz, Bad Altheide mit den Gemeinden Biebersdorf, Goldbach, Hartau, Rückers und Walddorf konnte mit Fug und Recht das Glatzer Glasreich genannt werden wie heute der Bezirk um Orrefors in Schweden. Es gruppierte sich um Glashütten bei Friedrichsgrund (Fa. Rohrbach), Rückers (Fa. Rohrbach/Böhme) und Altheide (Fa. Wittwer) und umfasste die ganze Produktionspalette von der Glasherstellung bis zur Veredlung in vielen kleinen und mittleren Betrieben. Die hochspezialisierten Glasveredler, meist Glasschleifereien, konnten sich in den Dörfern um die Fabriken niederlassen, die das Rohmaterial lieferten. Energielieferanten für die vielen Glasschleifer waren lange Zeit die Gebirgsbäche. Die Glasindustrie erforderte ein großes Fachwissen, dessen Vielfalt die Glasmacher, Glasformer, Glasbläser, Glasschneider, Glasschleifer, Glasätzer, Glaspolierer und Graveure entwickelten und weiter trugen. Sie stellten in Fabrik- und Heimarbeit Massengläser sowie kunstvolle, teure Erzeugnisse wie Kelche, Pokale, Römer usw. her. Die Glasspezialisten waren hoch bezahlt, aber gesundheitlich durch Staublungen ähnlich gefährdet wie Bergleute. Um 1930, vor der Wirtschaftskrise, verdiente ein Glas48 49
Die Grafschaft Glatz. Einwohnerbuch 1937, S. 274. Die Grafschaft Glatz. Einwohnerbuch 1937 (ausgezählt).
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macher monatlich zwischen 200,– und 280,– RM, ein Formenmachermeister 240,– – 320,– RM und ein Schleifermeister 240,– bis 360,– RM. Ein Spezialist für das Blasen von Römern bekam garantiert 800,– RM, ein guter Graveur bei Rohrbach rund 1.000,– RM.50 Ein Neuroder Bergmann konnte von solchen Löhnen nicht einmal träumen. Aus Abb. 11 geht die große Bedeutung der Glasindustrie für die Region um Friedrichsgrund hervor, die weit größer war, als es die Zahlenwerte wiedergeben, denn in der Tabelle sind wieder nur die Haushaltsvorstände angegeben, die 1936 in der Glasindustrie arbeiteten, nicht aber die Familienangehörigen und somit keineswegs alle tatsächlich in der Glasindustrie beschäftigten Menschen. Gemeinde Bad Altheide Bad Reinerz Friedrichsgrund Goldbach Rückers
Haushalte insges. In der Glasindustrie tätige Haushaltsvorstände 908 1 363 121 199 1 256
112 77 68 41 366
v.H. 12 6 56 21 29
Abb. 11: „Glaswerker“ in einigen Gemeinden um Friedrichsgrund (um 1936) 51
Die Glaserzeugnisse wurden in alle Welt exportiert, fanden aber auch in den Bädern Absatz, z. B. als Trinkgläser oder Mitbringsel. Während der Weltwirtschaftskrise mussten viele Glasfabriken stillgelegt werden, sodass sich die große Arbeitslosigkeit auch unter dem Glasvolk ausbreitete. Die Glatzer Glasindustrie ist im Zusammenhang mit der benachbarten böhmischen Glasindustrie zu sehen, denn die Grenze zu Österreich, die die Grafschaft Glatz bis 1918 umgab, behinderte den regen Austausch von Menschen und Ideen nicht, zumal dieselbe Sprache verband und bis 1806 formal alles zum Heiligen Römischen Reich gehörte. So war die Grafschafter Glasindustrie wohl ebenso alt wie die Böhmische, und sie hatte im Laufe der Jahrhunderte wie diese auch die Standorte gewechselt, wie noch alte Ortsnamen mit dem Wort „Glas“ (Glasendorf, Gläsendorf, Gläserberg, Glasegrund) oder „Hütte“ erkennen lassen. Entstanden meist in abgelegenen Waldgebieten, wo der Holzreichtum den Energiebedarf decken konnte, mussten die Hütten bei Holzmangel verlagert werden, bis der Kohleeinsatz vom Holz unabhängig machte. Rohstoffquellen dieser Industrie waren außerdem Quarzsande bei Rückers, Friedrichsgrund, Altheide, Schreckendorf und Kaiserswalde. Ein ähnlicher Glasbezirk, jedoch weniger ausgedehnt, hatte sich ab 1864 im oberen Bieletal um die Oranienhütte (Fa. Losky) bei Schreckendorf, Gompersdorf, Olbersdorf und Seitenberg gebildet (vgl. Abb. 5). Bernatzky nennt für diesen weltbekannten Betrieb 700 Beschäftigte,52 in dem ab 1930 nur noch Glas veredelt wurde. Laut Einwohnerverzeichnis von 1937 waren im oberen Bieletal rund 24 % der Haushaltungsvorstände in der Glasindustrie tätig. 50 51 52
Fogger: Wirtschaftskunde, S. 168f. Die Grafschaft Glatz. Einwohnerbuch 1937 (ausgezählt). Bernatzky: Lexikon, S. 243.
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Isoliert davon an der tschechischen Grenze produzierte seit 1656 die Glashütte Kaiserswalde im Erlitztal (Fa. Pangratz), die älteste der Grafschaft,53 und eine weitere, auf „Edelsteine“ aus Glas spezialisierte Schleiferei (Fa. Holub) in Friedrichsgrund bei Langenbrück, deren begehrte Erzeugnisse über Gablonz vermarktet wurden. Sie stellte den Betrieb aber schon vor dem Zweiten Weltkrieg ein.54 Bernatzky gibt für 1923 3.000 Beschäftigte in der Grafschafter Glasindustrie an, 1945 seien es – immer noch – 1.500 in fünf Hütten gewesen.55 Gemeinde Gompersdorf (B) Schreckendorf (B) Kaiserswalde (E) B: Bieletal
Haushalte 203 441 160
Glasbeschäftigte 58 105 39
v.H. 29 24 24
E: Erlitztal (Grenze zur Tschechoslowakei)
Abb. 12: „Glaswerker“ in Gemeinden des Kreises Habelschwerdt (1936)56
Die „Papierdörfer“ um Mühldorf Auf Abb. 5 fällt nur bei genauem Hinsehen ein kleiner Bezirk an der unteren Neiße auf, der aus den vier kleinen Dörfern Mühldorf, Labitsch, Poditau und Steinwitz bestand, in denen der Anteil der land- und forstwirtschaftlichen Bevölkerung nicht einmal 25 % der Gesamtbevölkerung erreichte. Ursache war eine Papier- und Zellulosefabrik in Mühldorf, von der die meisten Einwohner der Dörfer lebten. Dort war, wie im Neuroder Kohlenbezirk, die SPD die stärkste Partei und nicht das Zentrum.
Die Steinindustrie in der Grafschaft Auf die Standorte der Steinindustrie findet sich in Abb. 5 kein Hinweis. Diese Industrie bestand aus zahlreichen Ziegeleien, Kalköfen und Steinbrüchen, die über die ganze Grafschaft verstreut waren, letztere vornehmlich in den Randgebirgen. So gab es Marmorbrüche bei Seitenberg, Granit- und Basaltgewinnung bei Droschkau und Dörnikau, Sandsteinbrüche bei Schlegel und Wünschelburg, Porphyr- und Melaphyrbrüche zur Schottersteinerzeugung bei Beutengrund, Königswalde, Dürrkunzendorf, Kamnitz und Tuntschendorf.57 In Mittelsteine produzierte die hochmoderne Ziegelei von Dr. Adrian Gaertner, und Eisersdorf war ein Zentrum der Kalkindustrie. Die Firma Schilling, Wünschelburg, die ca. 600 Grafschaftern Arbeit bot, lieferte aus ihren Steinbrüchen am Heuscheuergebirge die Sandsteinblöcke für viele Berliner Repräsentationsbauten, so z. B. für den Reichstag, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis53 54 55 56 57
Bernatzky: Landeskunde, S. 96. Fogger: Wirtschaftskunde, S. 166f. Bernatzky: Landeskunde, S. 96. Die Grafschaft Glatz. Einwohnerbuch 1937 (ausgezählt). Fogger: Wirtschaftskunde, S. 93f.
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kirche, die Staatsbibliothek und die Reichsbank. Auch das Mausoleum für Kaiser Friedrich III. in Potsdam wurde aus Heuscheuer-Sandstein erbaut.58 Eine Besonderheit in Deutschland bildete der feuerfeste Ton, der bei Neurode untertage gewonnen und zur Ausmauerung von Öfen, auch Hochöfen, und für die keramische Industrie in viele Länder Europas exportiert wurde.59 Die Zahl der Arbeiter in der Grafschafter Steinindustrie ließ sich nicht ermitteln.
2. Die wirtschaftliche Situation in der Grafschaft Glatz vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten Nach dem Ersten Weltkrieg litt Deutschland infolge des Versailler Vertrags unter Gebietsverlusten und neuen Grenzen, unter Besatzungen, verlorenen Patenten und Absatzmärkten und vor allem unter abnorm hohen Reparationsleistungen. Das führte zu schweren Wirtschaftskrisen, zur Verbitterung in der Bevölkerung und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Besonders schlimm war die Inflationszeit 1919 bis 1923 mit ihrer Geldentwertung, die die Deutschen um die letzten über den Krieg geretteten Ersparnisse und häufig auch um ihre Arbeitsplätze brachte. Die Stiftungen, finanzielle Grundlage vieler sozialer Einrichtungen, litten so schwer unter der Geldentwertung, dass ihre Weiterarbeit gefährdet, wenn nicht gar unmöglich war. Das wirkte sich negativ auf die Gesundheitsversorgung, die Armen- und Waisenhilfe aus. Die Teuerung wird immer größer. Tschechen und andere Ausländer kaufen uns vollständig aus. Mittelwalde ist eine Jahrmarktstadt geworden. Die Einheimischen bekommen weder Fleisch noch Butter, schreibt der Glatzer Pfarrer 1922 in seine Chronik.60 Am 9. August 1923 notiert er: Die Teuerung wird immer entsetzlicher, und am 22. Oktober: Wie soll das weitergehen? Überall Bettel und Arbeitslosigkeit. 61 Am 1. November 1923 hält er fest, dass er Bäume auf dem Kreuzfriedhof fällen lassen musste, um die Kirchenbeamten zu bezahlen.62 In Neurode kam es im August 1923 zu schweren Hungerrevolten mit Protestdemonstrationen und Plünderungen. Die Polizeiverstärkung, vom Neuroder SPD-Landrat Dr. Nagel und dem Breslauer Oberpräsidenten aus Schweidnitz und Frankenstein nach Neurode kommandiert, schoss in die Menge und soll dabei 16 Menschen getötet63 haben. Streiks waren die Folge, und alle Betriebe schlossen, um auch die Mitarbeiter an der Beerdigung der vielen Toten, darunter ein junges Mädchen, teilnehmen zu lassen. Die Verantwortlichen aber sprachen von Gewalttaten, Ausschreitungen und Landfriedensbruch, erklärten die Demonstranten zu Schuldigen und drohten hohe Strafen an.64 58 59 60 61 62 63 64
Bernatzky: Landeskunde, S. 89, und Elsner: Die Grafschaft Glatz als Wirtschaftsgebiet, S. 114. Bernatzky: Landeskunde, S. 89. Pohl: Pfarrchronik, 23.7.1922, S. 154. ebd., 9.8. und 22.10.1923 , S. 171 und 176. ebd., 1.11.1923, S. 176. Nach Wittig: Chronik Neurode, S. 492, wurden 14 Menschen erschossen. Herzig/Ruchniewicz: Herrgottsländchen, Dokument Nr. 72, S. 543–546.
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Der Glatzer Pfarrer nennt andere Zahlen: In Neurode Plünderungen, Aufruhr, 11 Tote.65 Am 13. August hält er fest: In Neurode Aufruhr. 28 junge Leute erschossen.66 Eine schreckliche Bilanz, doch der Terror der Vertreibung überdeckte die blutigen Geschehnisse, sodass heute in Neurode weder eine Tafel noch gar ein Denkmal an die vielen Todesopfer aus den Arbeiterfamilien erinnert. Die Menschen hatten das Trauma der Inflation kaum verarbeitet, als 1929 bis 1933 die Weltwirtschaftskrise folgte, die nächste große Depression. Ihre Kennzeichen waren Massenarbeitslosigkeit, gewalttätige Demonstrationen und bürgerkriegsähnliche Unruhen. In einer Regierungserklärung vom 4. Juni 1932 charakterisierte Reichskanzler v. Papen die Lage, in die Deutschland durch den Versailler Vertrag, die Weltwirtschaftskrise und die Misswirtschaft der Parlamentsdemokratie gekommen sei wie folgt: −− die finanziellen Grundlagen des Reiches, Preußens und der Mehrzahl aller anderen Länder und Gemeinden seien erschüttert, −− alle Reformen wären über Ansätze nicht hinausgekommen, −− die Sozialversicherung stehe vor dem Bankrott, −− die ständig wachsende Arbeitslosigkeit zehre am Mark des Volkes, −− der Versuch, einen Wohlfahrtstaat aufzubauen, habe die Arbeitslosigkeit gesteigert, −− gemeinschaftsfeindlicher Klassenkampf und Kulturbolschewismus hätten zur moralischen Zerrüttung des deutschen Volkes beigetragen.67 Die neue Regierung wolle einen Kampf um die Lebensgrundlagen des Volkes führen, sie wolle Deutschlands wirtschaftliche Gesundung und die Wiedergeburt des neuen Deutschland in die Wege leiten, aber keine Versprechungen machen. Sein außenpolitisches Ziel sei die volle Gleichberechtigung Deutschlands und seine politische Freiheit. Die Maßnahmen der Regierung v. Papen, wie die Förderung der Kleinsiedlung und der Wohngebäudeinstandsetzung, sein Steuerermäßigungsprogramm, der freiwillige Arbeitsdienst (1932 = 250 000 Personen!), muten recht modern an, v. Papen blieb aber nicht die Zeit, die Situation bis zum Regierungsantritt Hitlers entscheidend zu verbessern. Einen nachhaltigen Strukturwandel hatte auch das Osthilfegesetz der Regierung Brüning von 1930 (Hilfsmaßnahmen für die durch die neue Grenzziehung notleidend gewordenen Gebiete des Ostens) nicht bewirkt. Um die Unruhe in der Bevölkerung zu dämpfen, gab es z. B. einen Aufschub der Zwangsvollstreckung für Betriebe der Land- und Forstwirtschaft bei Überschuldung, eine Steuerlastsenkung für die Industrie und weitere Maßnahmen, alles aber ohne durchschlagenden Erfolg. Besonders die beiden Provinzen Nieder- und Oberschlesien, deren Wirtschaft nach 1919 durch die Entstehung und Abschottung der neuen Staaten Polen und Tschechoslowakei unter großen Organisations- und Absatzproblemen, aber auch unter Strukturschwächen zu leiden hatte, waren davon betroffen. Die Kohleförderung ging zurück, weil auf Halde produziert werden musste, verzweifelt war die Lage der 65 66 67
Pohl: Pfarrchronik, 10.8.1923, S. 171. ebd., 13.8.1923, S. 171. Akten der Reichskanzlei: Reg. v. Papen, Bd. 1, Dokument Nr. 7, S. 13f.
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Steinindustrie, der Glasindustrie und der Forstwirtschaft, die sehr mit den Billigimporten aus der jungen Sowjetunion zu kämpfen hatte.68 An den Steuerkraftwerten der Abb. 13 lässt sich ablesen, wie sehr die vor dem Krieg noch recht starke schlesische Wirtschaft gegenüber der im übrigen Reich zurückfiel. Steuerkraftziffer Niederschlesien Deutsches Reich
1926 56 Mark/Einw. 98 Mark/Einw.
1931 40 Mark/Einw. 82 Mark/Einw.
Abb. 13: Steuerkraftziffern in RM (nach Olbrich)
Am Ende der Weimarer Republik kann man Schlesien demnach zu Recht als wirtschaftliches Problemgebiet bezeichnen. Natürlich stand Breslau besser da, und natürlich war die Situation in anderen Ost- und Grenzgebieten ähnlich. In noch größerem Maße plagte die wirtschaftliche Not aber die Menschen in der Grafschaft Glatz, die offenbar nicht von der Osthilfe profitierte. Etwa achtmal war sie zwischen 1930 und 1932 Gegenstand von Erörterungen des Reichskabinetts oder von Ministerrunden,69 denn ähnlich wie die Gesamtprovinz war auch das Glatzer Land nahezu allseits von Auslandsgrenzen umgeben. Nachbar war nun die neu gegründete Tschechoslowakei, die den bisher üblichen Güteraustausch mit Böhmen sehr einschränkte. Das traf vor allem die Kohleförderung im Neuroder Revier. Sie war auf nahe Absatzmärkte wie das angrenzende und kulturell eng verwandte Sudetengebiet angewiesen, wohin vor 1918 mehr als ein Drittel der Produktion ging. Nun fehlten diese Absatzgebiete, im Nordwesten produzierte das benachbarte Waldenburg genug Kohle, und bereits um Kamenz, 20 km nordöstlich, war die oberschlesische Kohle billiger als die aus Neurode. So blieb nur die Grafschaft selbst und das Reichenbacher Textilindustriegebiet als naher Absatzraum. Drosselung und Rationalisierung der Förderung, Freisetzung von Arbeitskräften und Lohndumping waren die Folgen. Heinrich Elsner aus Hausdorf im Neuroder Revier fordert 1929 umgehend Maßnahmen, wenn der maßlosen Erbitterung ein Ende bereitet werden soll.70 Es bedürfe −− einer weiteren Eisenbahnlinie durch das Eulengebirge nach Reichenbach zur Erleichterung des Kohlentransports in das verbliebene Absatzgebiet, −− günstiger Kredite zur Modernisierung der Gruben, −− des Straßenbaus in die abgelegenen Gebirgsdörfer zu Hebung des Fremdenverkehrs, −− einer Entlastung der Land- und der übrigen Wirtschaft bei Steuern und Sozialabgaben, −− einer Umstellung im Gebirge von der Acker- auf die Grünlandwirtschaft.71 68 69
70 71
Olbrich: Landeskunde Schlesien, S. 37 ff. So am 30.4., 22.10. und 11.12.1930, am 24. und 31.1.1931, am 2.3., 23.5. und 7.6.1932.(Akten der Reichskanzlei: Reg. Brüning I und II, 30.3.–10.10.1931, Boppard 1990). Elsner: Die Grafschaft Glatz als Wirtschaftsgebiet, in: Gudaobend– Kalender 1929, S. 116. ebd., S. 113–117.
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Doch fehlten Preußen und dem Reich die Mittel, einen derartigen Strukturwandel zu unterstützen. Verschärfend auf die Lage in der Grafschaft wirkte sich sogar die Osthilfe für Oberschlesien aus, auf die Reichskanzler Brüning in einer Kabinettsitzung am 31. Januar 1931 laut Protokoll wie folgt hinwies: Die Kreise Glatz, Habelschwerdt und Neurode seien von der Lastensenkung ausgenommen worden. Dadurch sei die Konkurrenzfähigkeit der oberschlesischen Kohle aufkosten der niederschlesischen stark gestiegen. Der Erfolg sei die Stillegung der Wenzeslausgrube.72 Reichskanzler Brüning hatte Neurode am 13. September 1930 nach dem Grubenunglück vom 9. Juli 1930 besucht, sicher auch, um neuen Unruhen in diesem Revier vorzubeugen.73 Um die Zukunft dieses Steinkohlenbergwerks, das ganze Dörfer ernährte, ging es im Reichskabinett mehrmals. Gelder für die Wiederaufnahme der Förderung wurden schließlich vom Kabinett und vom Wirtschaftsausschuss des Reichstags abgelehnt, vom Reichskabinett u.a. mit der Begründung, dass sich die preußische Regierung nicht an der Sanierung beteiligen wolle.74 So verhinderten u.a. unklare Zuständigkeiten von Reich und dem Land Preußen und divergierende Interessen eine wirksame Hilfe. Die Lage für die Menschen im Glatzer Kohlenrevier hatte sich nämlich 1931 durch die Stillegung der Wenzeslaus-Grube zugespitzt.75 Rund 2.700 Bergleute wurden zusätzlich arbeitslos. 1932 lag die Arbeitslosigkeit in diesem Revier zwischen 75 % und 90 % und machte den Altkreis Neurode zum Notstandgebiet, für das die Betriebsgenossenschaft Wenzeslaus-Grube deutschlandweit Spenden aller Art sammelte. Viele Menschen in den Bergbaudörfern Hausdorf, Ludwigsdorf, Kunzendorf, Königswalde, Glätzisch-Falkenberg, Beutengrund, Vierhöfe und Krainsdorf hungerten und verelendeten.76 Die Gemeinden mussten sich für Unterstützungszahlungen hoch verschulden. Kleinstbäuerliche Betriebe von 5 bis 10 Morgen Größe (1,2 – 2,5 ha) in Höhen zwischen 500 und 1000 m am südlichen Eulengebirge konnten die Besitzerfamilien nicht über Wasser halten. Die Frauen und Kinder hatten die Feld- und Stallarbeit geleistet, die Männer waren zur Grube gegangen. Hinzu kam, dass die Ludwigsdorfer Seidenfabrik 300 Arbeiter entlassen musste und auch die Heimarbeiter der BerlinNeuroder Kunstanstalt und viele der verbliebenen Heimweber ihre Arbeit verloren. Die Arbeit ruhte auch in den Steinbrüchen um Beutengrund und in den Glashütten. Die Tatenlosigkeit der zuständigen Regierungen löste in der Bevölkerung Verbitterung und Empörung aus.77 Landrat Peucker wies im Mai 1932 auf die schwierige wirtschaftliche Situation im Kreis Glatz hin, der nach 1918 viele Menschen aus den an Polen abgetretenen Gebieten (z. B. Posen, Ostoberschlesien) aufgenommen habe. In einer problematischen Lage seien besonders die kleinen Gebirgslandwirte, das Textilgewerbe sowie die Kri72 73 74 75 76 77
Akten der Reichskanzlei : Reg. Brüning, Osthilfegesetz, Dokument Nr. 233, S. 837. Fogger: Wirtschaftskunde, S. 46. Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik: Die Kabinette Brüning, Bd. 3, Nr. 691, S. 2346. Herzig/Ruchniewicz: Herrgottsländchen, Dok. Nr. 77, S. 556–558. Vgl. dazu auch Meißner: Wiedereröffnung der Wenceslaus-Grube, in diesem Buch. Heimann: Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit, 1933, S. 27.
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stall- und Lederindustrie. Hier sei die Situation durch Betriebsstillegungen, Kurzund Saisonarbeit geprägt. Außerdem herrsche Wohnungsnot.78 Abb. 14 spiegelt die Situation in der Grafschaft Glatz im Vergleich zum Reich. Mit 16 % lag die Erwerbslosenquote in der Grafschaft leicht unter dem Reichsdurchschnitt (Abb. 14, Spalte 7), jedoch nur, weil sie im Kreis Habelschwerdt mit 10 % ungewöhnlich niedrig war. Der Grund: Dort arbeitete ein übermäßig großer Teil der Menschen „selbstständig“ in der Landwirtschaft, die von der Arbeitslosigkeit weniger betroffenen war als die anderen Wirtschaftsbereiche – allerdings bei geringsten Einkommen. In Glatz und in der Industriegemeinde Hausdorf hingegen lag die Erwerbslosenquote sogar über dem Durchschnitt der deutschen Großstädte, der mit 28,1 % angegeben wird.79 1 Gebiet
2 Einwohner
3 EP
4 EQ
5 ET
GG Kr. Glatz Kr. Habel. Dt. Reich Orte Glatz Neurode Habelsch. Hausdorf
180 205 124 505 55 698 65 218 000
88 910 59 806 29 104 32 296 000
49 48 52 50
74 469 48 354 26 115 26 445 000
19 000 8 460 6 549 5 060
8 623 3 923 3 012 1 917
45 46 46 38
6 946 3 029 2 560 980
6 7 8 EL (fast ELQ ET Arb. + nur Arb. + (Sp. Angestellte Angestell- 3) te) 14 441 16 35 193 11 452 19 25 322 2 989 10 9 871 5 855 000 18 20.200 250 2 557 894 452 937
30 23 15 49
4 220 2 037 1 728 474
9 von diesen arbeitslos 41 % 45 % 30 % 29 % 61 % 44 % 26 % 100 %
EP = Erwerbspersonen: alle arbeitsfähigen Menschen ohne Schüler EQ = Anteil der Erwerbspersonen an der Einwohnerschaft (%) ET: Erwerbstätige: Menschen, die Arbeit haben EL: Erwerbslose ELQ: Erwerbslosenquote = Anteil der Erwerbslosen an den Erwerbspersonen (in %)
Abb. 14: Die Arbeitslosigkeit in der Grafschaft Glatz 1933 80
Vornehmlich von der Arbeitslosigkeit betroffen waren die abhängig Beschäftigten, also die Arbeiter und kleinen Angestellten, und Spalte 9 zeigt, dass deren Situation in der Grafschaft Glatz wesentlich schlechter war als im Reichsdurchschnitt. Unrühmlich heraus ragen hier Glatz-Stadt und -Land sowie Neurode und Hausdorf, wo es auch den Gewerbetreibenden wegen der Stilllegung der Wenzeslausgrube an Aufträgen fehlte. In Hausdorf schlugen sich zudem fast 15 % der Bevölkerung als Witwen, Rentner und Invaliden mit äußerst geringen Unterstützungen durchs Leben.81 78
79
80 81
Herzig/Ruchniewicz: Herrgottsländchen, Dokument Nr. 78, S. 558f. (Peucker: Situation des Kreises Glatz). In den Großstädten des Reiches (mehr als 100.000 Einwohner) lag die Erwerbslosenquote bei 28,1 %, Statistik des Dt. Reiches, Bd. 454, Berufszählung 1933, S. 79. Statistik des Deutschen Reiches, Volkszählung vom 16.6.1933. Fogger: Wirtschaftskunde, S. 46, nennt für Hausdorf 1931 folgende Daten: Einwohner: 5 200, Arbeitslose 799, Bergbauinvaliden und Rentner: 532.
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Welche Stimmung im Land herrschte, lässt sich an einigen Eintragungen Dr. Monses, des Glatzer Pfarrers, in der Pfarrchronik ablesen: Die Unzufriedenheit infolge der Arbeitslosigkeit wird immer größer. Gestern läutete es 37 mal an meiner Tür, fast immer Mütter, Stellungslose, erbitterte Männer mit der verschämten Bitte um ein Almosen ... entsetzliche Not ... Gott helfe uns, dass die nächste Reichstagswahl (14. September) nicht zu einer Katastrophe führt.82 Am 10. September 1930 schreibt er: Kommunisten und Nationalsozialisten stehen sich hier scharf gegenüber. Die Nationalsozialisten haben großen Zulauf.83 Die Reichstagswahlergebnisse für Glatz (vgl. Abb. 15) bestätigten seine Befürchtungen. Partei Zentrum „Sozialisten“ Kommunisten Nationalsozialisten
Stimmen 3 659 1 456 522 2 462
Letzte Wahl 3 438 2 016 156 136
Zuwachs in % +6,4 –27,8 +234,6 +1 710,3
Abb. 15: Reichstagswahlergebnisse vom 14.9.1930 in Glatz84
Die Situation im Jahr 1931 beschreibt der Pfarrer weiter so: Heut kam Reichskanzler Brüning ... nach Glatz ... Die Kommunisten versammelten sich auf dem Ringe und vor dem Landratsamt und schrieen: „Nieder mit Brüning, hoch mit Moskau“ (10. Januar) ... Hier ist ein jüdisches Warenhaus errichtet worden. Die Geschäftsleute sind natürlich darüber nicht erbaut. (10. März) ... Die Nationalsozialisten entwickeln eine fieberhafte Tätigkeit in der Stadt sowohl wie auf den Dörfern. (12. März) ... Die Gehälter der Beamten werden um 10–13 % gekürzt. (6. September) ... Die Verhältnisse werden immer trauriger. Viele Geschäfte ... müssen schließen. (16. Oktober) ... Infolge der großen Not hat sich auch in Glatz die Reichswinterhilfe organisiert. Aber die Helfer verzetteln sich, denn es sammeln sechs Vereine für verzweifelte Menschen: die sozialdemokratische Arbeiterwohlfahrt, die christliche Arbeiterwohlfahrt, die israelitische Arbeiterwohlfahrt, der vaterländische Frauenverein, die evangelische Frauenhilfe und die Caritas. (15. Dezember).85 ... überall Straßenkämpfe zwischen Sozialisten (Kommunisten) und Nazi! notiert Dr. Monse am 10. Juli 1932.86 In einer Eingabe des Deutschen Industrie- und Handelstages vom 1. Februar 1933 an den neuen Reichskanzler Adolf Hitler mit Vorschlägen für die Grundlinien einer Wirtschaftspolitik heißt es zwar, dass die Abwärtsbewegung zum Stillstand gekommen sei, dass aber zur Behebung der Arbeitslosigkeit ein zielklares Wirtschaftsprogramm mit einer Beschleunigung des Arbeitsbeschaffungsprogramms der Regierungen v. Papen und v. Schleicher erforderlich wäre.87 82 83 84 85 86 87
Pohl: Pfarrchronik, 6.8.1930, S. 283f. ebd., S. 283. ebd., S. 383. ebd., 1931, S. 289–303. ebd., 10.7.1932, S. 306f. Akten der Reichskanzlei, Reg. Hitler, Teil I 1933/34, Dokument Nr. 6, S. 16f.
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Das gilt fürs ganze Reich, insbesondere aber für Schlesien, wo sich auch während der NS-Zeit viele Arbeitsplätze nur durch niedrige Löhne erhalten ließen, man denke an die Wenceslaus-Grube.88 In einer Vorlage des Reichsarbeitsministeriums vom 29. April 1936 für eine Sitzung des Reichskabinetts heißt es: Sieht man jedoch von Einzelfällen ab, so ergibt sich ... dass in Schlesien die Verdienste am geringsten, in Brandenburg und in der Nordmark ... am höchsten sind.89 Ein Bericht des Reichsarbeitsführers vom 18. Januar 1936 weist auf eine der Spätfolgen der wirtschaftlichen Not hin: Ein im Durchschnitt mangelhafter Ernährungszustand liegt in den Arbeitsgauen Niederschlesien (zu dem die Grafschaft Glatz gehörte), Oldenburg, Niederrhein, Saar-Pfalz und Bayrische Ostmark vor..90
88 89 90
Vgl. die Beiträge Meißner: Grubenunglück und Wenceslaus-Grube, beide in diesem Buch. Akten der Reichskanzlei, 1933 – 1945, Bd. III, 1936, Dokument Nr. 78, S. 282. ebd., Dokument Nr. 11, S. 53–65.
Das Aufkommen des Nationalsozialismus in der Grafschaft Glatz Von Georg Jäschke
D
as Erstarken des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik und die Erlangung der Macht am 30. Januar 1933 mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler ist mittlerweile in der historischen Forschung hinreichend untersucht, erörtert und dokumentiert worden, sodass neue bahnbrechende Erkenntnisse in der Zukunft nicht mehr zu erwarten sind. Der Großteil der Historiker im In- und Ausland ist sich heute einig über die Ursachen, die das Aufkommen des Nationalsozialismus begünstigt haben, allenfalls dürfte die historische Bewertung um Nuancen je nach Blickwinkel auseinanderliegen.
1. Politisches und religiöses Umfeld im Kaiserreich Interessanter kann daher ein Blick auf regionalgeschichtliche Aspekte sein. In diesem Kapitel soll das Wahlverhalten der Grafschaft Glatzer Bevölkerung auf dem Hintergrund der jeweiligen Reichstagswahlen im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus untersucht werden. Bei einem Rückblick in die Zeit des Kaiserreiches lässt sich vergröbernd festhalten, dass die Grafschaft Glatz, von einigen geringfügigen Ausnahmen abgesehen, politisch und religiös betrachtet eine homogene Einheit bildete. Man kann in dieser Zeit von einer Dominanz des Milieukatholizismus sprechen, immerhin bekannten sich mehr als 90 % der Grafschafter zum katholischen Glauben. So gibt der Catalogus Cleri des Jahres 1906 für die Grafschaft Glatz u. a. folgenden Überblick: 51 Pfarreien, 8 Lokalien, 1 Kuratie. Es wirken 51 Pfarrer, 33 Kapläne, 1 Kreisvikar, 4 Geistliche an 3 Lehranstalten (2 am Gymnasium Glatz, 1 am Lehrerseminar in Habelschwerdt, 1 an der Rektoratsschule zu Neurode); 3 Seelsorger an klösterlichen Anstalten (Scheibe, Habelschwerdt, Altheide); 1 Militärpfarrer … Die Zahl aller Geistlichen beträgt 113. – Katholische Bewohner 162.920, evangelische 7.625, jüdische 291. Die größte Pfarrgemeinde ist Glatz mit 16.890; Neurode hatte 12.954, Habelschwerdt 10.284 Seelen … Klösterliche Anstalten mit weiblichen Ordenskräften bestehen 27: davon 20 für Kranke, 7 für Unterricht und Erziehung.1 Sehr stark wurde das Leben der Grafschafter durch die kath. Kirche und das kath. Verbands- und Vereinswesen geprägt. Zahlreiche Feste und Feiertage strukturierten den Jahresablauf der Gläubigen. Mehrmals im Jahr fanden Prozessionen statt, die lediglich bei schlechtem Wetter unterblieben: Auferstehungsprozession, Prozession am Fest des hl. Markus 25. April, Bittprozessionen im Monat Mai, Fronleichnams prozession, Prozession Mitte Juli zum Wallfahrtsort Wartha, Franziskusfest am 3. Dezember. Regelmäßig stattfindende Veranstaltungen und Gottesdienste wurden in den katholischen Vereinen abgehalten, von denen hier nur eine Auswahl aufge1
Pohl (Hg.): Pfarrchronik, S. 25.
106
georg jäschke
führt werden soll: Katholischer Arbeiterinnenverein, Katholischer Arbeiterverein, Herrenbruderschaft, Jungfrauenverein, Mütter- und Elisabethverein, Marianische Kongregation, Katholischer Lehrerinnenverein, Hedwigsverein, Vinzenzverein, Gesellenverein, Katholischer Kaufmännischer Verein, Jugendverein, Lydia, Cäcilienverein, Junggesellenverein, Missionsverein, Rosenkranzbruderschaft, Caritasverband u.a.2. Selbst der Verein der Eisenbahn-Unterbeamten ließ sich am 1. September 1907 vor dem Nachmittagsgottesdienst seine Fahne kirchlich weihen.3 Regelmäßige Visitationen durch die Prager Erzbischöfe und die Großdechanten der Grafschaft Glatz sowie Zusammenkünfte des Grafschafter Klerus zeugten ebenfalls von der Präsenz der katholischen Kirche im Glatzer Land. So war es keine Übertreibung, wenn die Grafschaft Glatz als „Herrgottswinkel“ bezeichnet wurde. Dennoch ging es mitunter auch sehr menschlich zu. So weiß der Glatzer Pfarrer Skalitzky unter dem Eintrag vom 18. Juli 1906 in die Pfarrchronik von dem Mord an einem neunjährigen Mädchen, welches sich auf dem Schulweg nach Niederschwedeldorf befand, zu berichten.4 Der Täter wurde jedoch schnell gefasst und Anfang 1907 hingerichtet, nachdem er zuvor noch kirchlichen Beistand erhalten hatte.5 Auch die Opferkästen in den Kirchen waren schon damals vor Langfingern nicht sicher.6 Zudem sah der Glatzer Pfarrer nicht bei allen seinen Schäfchen eine streng katholische Lebensführung gewährleistet. Nur so ist zu deuten, dass er in der Pfarrstatistik für 1906 unter den 406 Taufen auch die von 55 unehelichen Kindern erwähnt sowie 101 Trauungen, davon 8 sogenannte gemischte Ehen.7 In diesem stark vom Milieukatholizismus geprägten Ländchen wirkte noch immer der von Reichskanzler Bismarck in den 1870er Jahren angezettelte Kulturkampf gegen die katholische Kirche fort. Auch in der Grafschaft Glatz, die kirchlich zum Erzbistum Prag gehörte, galten die neuen staatlichen Kirchengesetze, die vom Grafschafter Volk und Klerus als Schikanen empfunden wurden. Pfarrer, die sich kritisch gegen die Politik des Staates von der Kanzel geäußert hatten, wurden mit Haft- oder Geldstrafen belegt. Dem damaligen Großdechanten Franz Brand, einem vehementen Gegner der kirchenfeindlichen Maßnahmen Bismarcks, wurde staatlicherseits die Neubesetzung vakanter Pfarrstellen untersagt. Pfarrern wurde die finanzielle Unterstützung entzogen. Wegen der administrativen Probleme in den Schulen zogen sich die Pfarrer aus dem Religionsunterricht zurück und verlegten ihn in die Kirchen. All diese Maßnahmen des Staates, von denen hier nur eine Auswahl aufgelistet ist, zeigten Auswirkungen auf die überwiegend katholische Bevölkerung des Glatzer Landes. Eine Folge des Kulturkampfes, der im Glatzer Land nur von einem verhältnismäßig kleinen liberalen Kreis unterstützt wurde, war das Zusammenrücken der katholischen Gesellschaft. Dies drückte sich auch in einer Konfessionalisierung der politischen Ansichten aus.8 2 3 4 5 6 7 8
Vgl. ebd., S. 247. Vgl. ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 27f. Vgl. ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 28. Vgl. ebd., S. 29. Herzig/Ruchniewicz: Geschichte des Glatzer Landes, S. 244.
das aufkomme n d e s n at io n a l s oz i a l is m us i n der grafschaft glatz
107
So nahm es nicht Wunder, dass im politischen Bereich die katholische Partei, das Zentrum, eine starke Position innehatte. Seit der Gründung des Kaiserreiches 1871 zählte der Wahlkreis Glatz-Habelschwerdt zu den Zentrumshochburgen innerhalb eines mehrheitlich protestantisch geprägten Deutschen Reiches, seit den Reichstagswahlen von 1874 bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges gingen alle Reichstagsmandate an das Zentrum9. Noch immer wirkte der Kulturkampf nach, wie dies aus einer Äußerung in der Glatzer Pfarrchronik deutlich wird: 13. Dezember (1906) wurde der Reichstag gegen alle Erwartung aufgelöst. Aus der Haltung geht eins klar hervor: Kampf der Regierung gegen das Zentrum. Das wird ein scharfer Wahlkampf werden.10 Die damaligen Zentrumsabgeordneten, die die Grafschaft Glatz im Reichstag vertraten, wurden jeweils mit Ergebnissen weit oberhalb der absoluten Mehrheit gewählt und brauchten keine politische Konkurrenz zu fürchten, geschweige denn sich in einem harten Wahlkampf aufzureiben.11 So errang der 1832 in Obersteine, Kreis Neurode, geborene Gutsbesitzer Franz Hartmann bei den Reichstagswahlen vom Juni 1898 im Wahlkreis Glatz-Habelschwerdt mit 89,4 % das beste Ergebnis für das Zentrum, das die katholische Partei hier jemals einfahren konnte.12 Bei der Wahl zum preußischen Landtag, dem Abgeordnetenhaus, im Juni 1908 hatten die anderen Parteien in Glatz auf die Aufstellung von Kandidaten verzichtet.13 Sogar Querelen innerhalb des Glatzer Zentrums blieben ohne Auswirkungen. Der Nachfolger Hartmanns als Reichstagsabgeordneter für Glatz-Habelschwerdt, Graf Hans von Oppersdorff, hatte sich durch gewisse „Quertreibereien“ im Zentrum mißliebig gemacht, so daß die offiziellen Vertreter des Zentrums erklärten, ihn auf keinen Fall mehr in das Zentrum des Reichstages aufnehmen zu können und zu wollen. … Da er trotzdem seine Kandidatur aufrecht hielt, so gab es einen ziemlich scharfen Wahlkampf.14 Trotzdem wurde bei der Reichstagswahl 1912 der offizielle Zentrumskandidat, der pensionierte Landgerichtspräsident Josef Sperlich, mit überwältigender Mehrheit gewählt. Als jedoch am 1. August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, standen sowohl das Zentrum wie auch die katholische Kirche hinter dem Deutschen Reich und seinem Kaiser. Der von Wilhelm II. für den 5. August angeordnete Bettag wurde auch in der Glatzer Pfarrkirche unter großer Beteiligung der Gläubigen abgehalten.
2. Die Reichstagswahlen von 1924 Konnte sich dieser Trend nun innerhalb der Weimarer Republik fortsetzen oder musste nun von veränderten politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen ausgegangen werden? Im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus rückt als erstes die Reichstagswahl vom 4. Mai 1924, bekannt geworden als Inflationswahl, in den Blickpunkt. 1923 hatte die noch junge Republik eine ganze 9 10 11 12
13 14
Vgl. Menzel: Geschichte Schlesiens, S. 70f. Tab.6. Vgl. Pohl (Hg.): Pfarrchronik, S. 29. Vgl. dazu auch die Ausführungen von M. Hirschfeld: Mehrheitlich nationalsozialistisch, S. 5 Vgl. Helmut Neubach: Parteien und Politiker in der Grafschaft Glatz 1867–1918, in: Herzig (Hg.): Glaciographia Nova, S. 232–249, hier S. 243f. Vgl. Pohl (Hg.): Pfarrchronik, S. 37. ebd., S. 59.
108
georg jäschke
Reihe von Krisen (Ruhrbesetzung, Inflation, separatistische Bewegungen im Rheinland, linke Aufstände in Hamburg und Sachsen, Hitlerputsch in München u a.) an den Rand der Existenz gebracht. Not und Elend waren auch in der Grafschaft Glatz an der Tagesordnung. Um der Inflation Herr zu werden, waren einige Unternehmer dazu übergegangen, ihrer Belegschaft den Lohn in Naturalien auszuzahlen. Viele ärmere Familien litten an Hunger. Vielfach keimte der Verdacht auf, Geschäftsleute würden Waren zurückhalten. In Neurode kam es deshalb mehrfach zu Plünderungen von Geschäften, sogar Polizeistreitkräfte aus Glatz mussten einschreiten, um die Lage zu beruhigen. Am Ende des Jahres 1923 war mit der Einführung einer neuen Währung eine gewisse Konsolidierung eingetreten. An einer Steuernotverordnung war die damalige Zentrum-BVP-DDP-DVP-Regierung unter Reichkanzler Wilhelm Marx (Zentrum) gescheitert, sodass der Reichstag am 13. März 192415 aufgelöst wurde. Die Wahl brachte einige bemerkenswerte Ergebnisse hervor: Die SPD hatte aufgrund ihrer uneinheitlichen Haltung zu der Notverordnung beträchtliche Verluste zu verzeichnen, sie sank von 172 auf 100 Sitze im Reichstag. Starken Zulauf erhielten die Parteien am rechten und linken Rand: So wurden die Deutschnationalen mit 19,5 % hinter der SPD zweitstärkste Partei, die KPD schnellte von 4 auf 62 Sitze empor, die NSDAP16 errang erstmalig in einer Listenverbindung mit der Deutsch-Völkischen Freiheitspartei 6,5 %, obwohl sich Adolf Hitler zu dieser Zeit in Festungshaft befand. Von den Weimarer Parteien konnte sich lediglich das Zentrum mit 13,4 % behaupten. Die Wahlergebnisse des Wahlkreises 7 (Breslau)17, zu dem auch die Grafschaft Glatz gehörte, zeigten einen ähnlichen Trend. Hier wurde die DNVP mit 28,7 % stärkste politische Kraft, die Nationalsozialisten erhielten aus dem Stand immerhin noch 4 %. Ein gänzlich anderes Bild ergab sich in den drei Wahlkreisen der Grafschaft Glatz, was zum Teil mit der weiter oben beschriebenen Ausgangslage zusammenhing. Im Kreis Glatz errang das Zentrum 52,3 %, Spitzenreiter war Bad Reinerz mit 52,5 %. Aus dem Rahmen fielen Bad Altheide, wo die Rechtsparteien einen ziemlich starken Zulauf erhielten (DNVP 27,2 %, NSDAP 4,7 %) und Ullersdorf, wo sich die Weimarer Parteien SPD und Zentrum ein Kopf-an-Kopf-Rennen lieferten (Zentrum 42,7 % und SPD 39,8 %). Das Wahlergebnis im Kreis Habelschwerdt ähnelte dem von Glatz, hier erhielt das Zentrum sogar 58,6 %. Anlass zu Besorgnis gaben die Wahlergebnisse, die die Parteien am rechten Rand begünstigten: Bad Landeck DNVP 22,2 %, NSDAP 4,9 %, Habelschwerdt NSDAP 5,8 %. Eine Sonderrolle spielte der Kreis Neurode, 15
16
17
Zahlen entnommen und prozentual umgerechnet: Die Wahlen zum Reichstag am 4. Mai 1924, S. II. 16 Die 1920 gegründete, sich in Bayern ausbreitende NSDAP hatte sich für die beiden Reichstagswahlen 1924 mit der Deutsch-Völkischen Freiheitspartei (DVFP) zur Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung zusammengeschlossen. Zwischen beiden Parteien war es schon 1923 im Kampf gegen die Auswirkung von Betätigungsverboten zu organisatorischen Absprachen gekommen: Die DVFP wirkte im nord- und mitteldeutschen Raum, die NSDAP v. a. in Bayern. Im Wahlbündnis hatten die Deutschvölkischen ein klares Übergewicht: Unter den 32 auf der gemeinsamen Liste gewählten Reichstagsabgeordneten vom Mai 1924 befanden sich nur 9 Nationalsozialisten. Vgl. Jürgen Falter u. a.: Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik, S. 43. Das Reichsgebiet war insgesamt in 35 Wahlkreise eingeteilt, Schlesien besaß drei Wahlkreise, zwei niederschlesische (7 Breslau und 8 Liegnitz) und einen oberschlesischen (9 Oppeln).
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das aufkomme n d e s n at io n a l s oz i a l is m us i n der grafschaft glatz
der schon zur Zeit des Kaiserreiches sehr stark durch den Bergbau und die dortige Arbeiterschaft geprägt war. So war es keineswegs überraschend, wenn im Kreisgebiet die SPD mit 38,3 % stärkste politische Kraft wurde, gefolgt vom Zentrum mit 34 %. Herausragende Ergebnisse fuhren die Sozialdemokraten in Volpersdorf (54,0 %), Schlegel (58,0 %), Kunzendorf (52,6 %) und Hausdorf (56,4 %) ein, wobei im eher städtischen Umfeld das Zentrum dominierte: Wünschelburg (40,7 %), Stadt Neurode (39,3 %). In der Summe zeigt die Reichstagswahl vom Mai 1924 für die Grafschaft Glatz, sieht man einmal von wenigen lokalen Besonderheiten ab, eine nach wie vor starke Dominanz des Zentrums sowie eine wesentlich geringere Anfälligkeit für das rechte politische Lager (DNVP, NSDAP), verglichen mit den Ergebnissen in der Provinz Schlesien (Breslau) und im gesamten Deutschen Reich.
Stimmberechtigte
Wahlbeteili- gültige gung Stimmen
Zen SPD trum
DNVP DVP
NSDAP KPD
Deutsches Reich
38.374.983
77,4
29.281.798
13,4
21,3
19,5
9,2
6,5
Wahlkreis Breslau 1.166.501
82,2
944.472
18,7
24,8
28,7
7,3
4,0
Kreis Glatz Rengersdorf Altheide Ullersdorf Reinerz Glatz
37.880 1.366 1.205 1.744 2.362 10.375
76,8 81,0 78,4 80,3 78,2 77,6
28.560 1.075 937 1.392 1.837 7.787
52,3 40,7 31,4 42,7 52,5 45,2
19,4 38,6 12,2 39,8 13,9 17,6
11,4 6,5 27,2 4,4 16,6 13,7
7,4 4,5 17,4 2,9 8,6 12,4
1,6 0,5 4,7 0,6 1,4 2,3
Kreis Neurode Mittelsteine Volpersdorf Wünschelburg Ludwigsdorf Schlegel Kunzendorf Hausdorf Neurode
32.847 1.262 1.497 1.589 2.301 2.394 2.881 2.901 5.334
76,6 72,3 76,9 81,7 69,5 81,6 77,7 80,6 82,5
24.785 904 1.147 1.273 1.571 1.924 2.208 2.306 4.327
34,0 35,0 24,8 40,7 27,8 26,7 14,3 22,6 39,3
38,3 30,3 54,0 27,6 39,1 58,0 52,6 56,4 26,6
7,4 13,9 5,5 16,8 2,0 6,2 2,4 4,5 9,9
2,8 4,3 1,4 9,5 3,9 1,1 2,7 1,8 3,2
0,9 1,1 0,3 1,3 0,7 0,6 0,5 0,5 1,4
Kreis Habelschwerdt Mittelwalde
31.841
72,7
22.864
58,6
9,4
14,4
6,0
3,2
1.534
87,2
1.325
44,3
4,6
15,1
15,3
2,0
Landeck Habelschwerdt
2.928 3.650
82,7 84,5
2.359 3.056
42,9 51,1
17,1 15,5
22,2 7,7
4,6 9,6
4,9 5,8
9,3
Abb. 1: Ergebnis der Reichstagswahl vom 4. Mai 1924, der sog. „Inflationswahl“
Da in Berlin eine Regierungsbildung mit den Deutschnationalen, die nach den Spielregeln des Parlamentarismus nahegelegen hätte, nicht zustande kam, wurde im Dezember 192418 zum zweiten Mal der Reichstag gewählt. Insgesamt hatte sich die politische Stimmung im Reich gegenüber dem Frühjahr gebessert. Die vielfältige Staatskrise des 18
Zahlen entnommen und prozentual umgerechnet: Die Wahlen zum Reichstag am 7. Dez. 1924, S. IV. 15.
110
georg jäschke
Stimmberechtigte
Wahlbeteiligung
gültige Stimmen
Zentrum
SPD
DNVP DVP
NSDAP
Deutsches Reich
38.987.385
78,8
30.311.935
13,6%
26,0%
20,5%
10,1%
3,0%
Wahlkreis Breslau 1.186.327
82,6
964.143
19,0%
31,9%
28,8%
7,7%
1,4%
Kreis Glatz
39.784
72,7
28.293
54,4%
21,7%
11,7%
6,4%
0,5%
Rengersdorf
1.351
75,9
1.002
41,9%
40,6%
7,2%
5,4%
0,2%
Altheide
1.181
76,8
900
34,3%
17,0%
21,8%
17,9%
1,0%
Ullersdorf
1.750
82,9
1.420
45,4%
39,2%
9,0%
1,8%
0,1%
Reinerz
2.471
72,9
1.783
53,2%
17,0%
16,7%
7,2%
0,5%
Glatz
11.270
71
7.858
46,4%
19,2%
15,5%
10,8%
0,7%
Kreis Neurode
33.456
76,5
24.897
34,6%
45,8%
8,6%
4,1%
0,3%
Mittelsteine
1.227
77,3
927
37,4%
36,1%
11,1%
6,0%
0,2%
Volpersdorf
1.571
75,9
1.177
29,5%
58,4%
6,5%
1,4%
0,0%
Wünschelburg
1.516
87,5
1.295
43,2%
30,3%
17,5%
6,7%
0,0%
Ludwigsdorf
2.325
73,8
1.661
29,1%
51,5%
2,2%
2,4%
0,2%
Schlegel
2.505
79,3
1.956
29,2%
55,9%
6,5%
3,5%
0,5%
Kunzendorf
2.912
79,5
2.242
16,7%
65,4%
3,8%
5,5%
0,1%
Hausdorf
2.873
84,7
2.371
17,0%
65,1%
7,0%
5,2%
0,3%
Neurode
5.612
77,1
4.213
37,9%
35,8%
12,3%
5,6%
0,6%
Kreis Habelschwerdt
32.697
72,3
23.054
64,2%
11,7%
11,5%
5,6%
0,7%
Mittelwalde
1.592
77,6
1.223
50,1%
14,2%
9,5%
12,3%
0,9%
Landeck
2.953
80,7
2.298
45,5%
18,5%
22,6%
5,7%
1,4%
Habelschwerdt
3.710
80
2.875
54,7%
14,5%
9,4%
12,1%
0,9%
KPD
2,8%
Abb. 2: Ergebnis der Reichstagswahl vom 7. Dezember 1924
Jahres 1923 war überwunden, die Wirtschaft sprang dank der Gewährung von Krediten aus den USA wieder an, selbst die heftig kritisierte Reparationsregelung, der sogenannte Dawes-Plan, wurde im Parlament mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit angenommen. Die radikalen Flügelparteien, die im Mai noch bemerkenswerte Stimmengewinne zu verzeichnen hatten, erlitten nun erhebliche Einbußen (NSDAP von 6,5 auf 3,0 % u. a.). Die Verbindung von NSDAP und Deutsch-Völkischer Freiheitspartei löste sich aufgrund von Differenzen nach der Dezemberwahl auf. Der kurz zuvor aus der Festungshaft entlassene Adolf Hitler begann mit dem Neuaufbau der NSDAP.19 Die Sozialdemokraten gewannen 31 Sitze hinzu, und auch die bürgerlichen Parteien fanden sich auf der Gewinnerseite. Dieser Trend verstärkte sich noch einmal bei den Wahlergebnissen des Wahlkreises 7 (Breslau/Niederschlesien) und in den drei Grafschafter Kreisen. Im Wahlkreis Breslau überflügelte die SPD mit 31,9 % (Mai: 24,8 %) die gleich stark gebliebene DNVP (28,8 %) und wurde damit stärkste politische Kraft in Niederschlesien. Der Anteil der NSDAP mit ihrer Listenverbindung ging um Zweidrittel zurück (von 4 auf 1,4 %). In den Kreisen Glatz und Habelschwerdt konnte das führende 19
Vgl. Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik (wie Anm. 16), S. 43.
das aufkomme n d e s n at io n a l s oz i a l is m us i n der grafschaft glatz
111
Zentrum seine Position ausbauen (Glatz: von 52,3 auf 54,4 % und Habelschwerdt: von 58,6 auf 64,2 %), wohingegen sich die NSDAP bis auf Bad Landeck (1,4 %) in allen größeren Orten unter 1 % wiederfand. Im Kreis Neurode mit seiner starken Arbeitertradition konnte die SPD mit 45,8 % ihre führende Position ausbauen, in Hausdorf und Kunzendorf erhielt sie sogar mehr als 65 %. Erfreulich in dieser Gegend war auch der geringe Anteil radikaler Parteien, in Volpersdorf und Wünschelburg verzeichnete die Listenverbindung der NSDAP keine einzige Stimme. Am Ende des Jahres 1924 machten die Wähler in der Grafschaft Glatz deutlich, dass sie mehrheitlich gewillt waren, die tragenden Parteien der Weimarer Republik zu unterstützen und den radikalen Parteien mehr noch als im gesamten Reich eine deutliche Abfuhr zu erteilen.
3. Die Reichstagswahl von 1928 Mittlerweile hatte sich die politische und wirtschaftliche Lage der Weimarer Republik stabilisiert, nicht umsonst wurde von den Goldenen Zwanziger Jahren gesprochen. Zwar gab es in der Legislaturperiode 1924–1928 einzelne Regierungswechsel aufgrund von Misstrauensvoten im Reichstag, deren Anlässe eher von zweitrangiger Bedeutung waren, insgesamt verlief die Politik jedoch in einigermaßen ruhigen Bahnen. Unter diesen Vorzeichen fanden am 20. Mai 192820 planmäßig die nächsten Reichstagswahlen statt. Der Urnengang wurde zum Erfolg für die Sozialdemokraten, ihre Abgeordnetenzahl stieg von 131 auf 153, in Prozenten von 26,0 % (Dezember 1924) auf 29,4 %. Offensichtlich war ihnen die Oppositionszeit zugute gekommen. Die Deutschnationalen hatten sich in der Regierung abgenutzt, sodass ihr Anteil von 20,5 % auf 14,2 % zurückging. Leichte Verluste mussten auch das Zentrum, die DVP und die Nationalsozialisten (Rückgang auf 2,6 %) hinnehmen. Die Kommunisten konnten ihren Anteil von 9,0 % auf 10,6 % steigern. Aufgrund des Wahlergebnisses zeigte sich die SPD bereit, in die Regierung einzutreten, es wurde eine Große Koalition aus SPD, Zentrum, BVP, DDP und DVP unter Führung von Reichskanzler Hermann Müller (SPD) gebildet. Ähnliche Stimmenverschiebungen zeigten sich in Niederschlesien, die SPD war nun mit 37,8 % eindeutig die stärkste Partei. In der Grafschaft Glatz zeigte sich der für das Reichsgebiet beschriebene Trend in verstärkter Form: Zwar konnte das Zentrum seine führende Stellung in den Kreisen Glatz und Habelschwerdt behaupten, jedoch waren die Stimmenverluste beträchtlich, in Glatz sackte das Zentrum von 54,4 % im Dez. 1924 auf 39,9 % ab, in Habelschwerdt von 64,2 % auf 39,8 %. Über 40 % kam das Zentrum nur noch in den Kommunen Glatz, Rückers, Habelschwerdt und Mittelwalde. Die kritiklose Unterstützung des Zentrums, wie sie in der Grafschaft vor dem Ersten Weltkrieg üblich war, schien sich ihrem Ende zu nähern. Erste Anzeichen blieben auch dem Glatzer Stadtpfarrer Dr. Monse nicht verborgen. So berichtete er in der Pfarrchronik mit Datum vom 3. März 1928 von einem Gemeindeabend aus Anlass des 50. Todestages von Papst Pius IX. Zum einen beklagte er die Abwesenheit des Glatzer Bildungsbürgertums auf der Versammlung, zum anderen wurde von den Anwesenden große Unzufriedenheit 20
Zahlen entnommen und prozentual umgerechnet: Die Wahlen zum Reichstag am 20. Mai 1928, S. II 16.
112
georg jäschke
Stimmberechtigte
Wahlbeteiligung
gültige Stimmen
Zentrum
SPD
DNVP
DVP
NSDAP
KPD
Deutsches Reich
41.224.678
75,6%
30.753.247
12,1%
29,8%
14,2%
8,7%
2,6%
10,6%
Wahlkreis Breslau
1.233.682
79,7%
972.308
15,8%
37,8%
22,9%
6,0%
1,0%
4,5%
Kreis Glatz
42.539
74,0%
30.950
39,9%
26,4%
13,4%
5,1%
0,7%
1,4%
Bad Altheide
2.393
76,0%
1.814
18,6%
17,7%
31,6%
15,4%
0,9%
0,8%
Glatz
10.968
78,7%
8.495
40,5%
23,7%
11,1%
6,4%
1,6%
1,8%
Reinerz
3.190
77,6%
2.451
39,0%
23,6%
15,6%
6,8%
0,7%
1,2%
Rengersdorf
1.447
77,1%
1.101
32,2%
43,9%
5,9%
1,5%
0,2%
3,7%
Rückers
1.217
70,2%
780
41,3%
40,4%
6,4%
4,1%
0,0%
0,3%
Ullersdorf
1.564
84,4%
1.293
32,2%
46,2%
10,4%
0,7%
0,1%
0,7%
Kreis Neurode
33.245
78,1%
25.274
29,1%
45,8%
7,8%
2,7%
0,3%
2,9%
Hausdorf
3.030
80,2%
2.354
17,5%
65,6%
4,9%
3,3%
0,0%
3,1%
Kunzendorf
3.017
81,5%
2.404
15,8%
62,8%
3,7%
3,2%
0,2%
4,0%
Ludwigsdorf
2.377
76,1%
1.754
29,1%
49,4%
2,7%
3,4%
0,3%
3,9%
Mittelsteine
1.340
75,7%
996
32,7%
40,2%
7,5%
4,2%
0,5%
2,8%
Neurode
5.098
88,9%
4.411
35,1%
36,9%
8,8%
3,8%
0,4%
4,7%
Schlegel
2.420
75,5%
1.781
24,4%
48,6%
4,0%
1,0%
0,1%
1,5%
Volpersdorf
1.565
78,8%
1.206
22,3%
59,2%
9,1%
1,0%
0,1%
1,6%
Wünschelburg
1.549
85,3%
1.289
41,3%
27,8%
12,2%
2,9%
0,2%
0,8%
Kreis Habelschwerdt
33.943
65,5%
21.836
39,8%
20,6%
11,8%
3,4%
2,0%
1,3%
Habelschwerdt
3.887
74,1%
2.821
42,3%
22,1%
8,8%
5,2%
0,6%
2,8%
Landeck
3.790
77,8%
2.900
32,0%
25,0%
14,0%
5,7%
10,1%
0,4%
Mittelwalde
1548
66,5%
1022
44,1%
21,2%
10,1%
5,4%
0,3%
0,8%
Abb. 3: Ergebnis der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928
mit dem Zentrum geäußert. Besonders die Landwirte klagen. Viele von ihnen neigen zu den Deutschnationalen.21 Darüber hinaus stieß das Verhalten des Glatzer Bürgermeisters Ludwig (Zentrum) in kirchlichen Kreisen auf zunehmende Kritik. So hatte er statt einer Sitzung des katholischen Arbeitervereins die Parallelveranstaltung des sozialdemokratischen Turnvereins besucht. Es wurde gemunkelt, er sei dorthin gegangen, um eine Erhöhung seines Gehaltes zu erreichen. Die sozialdemokratischen Abgeordneten waren nämlich gegen die Erhöhung eines Gehaltes von 1400 Mk monatlich gewesen.22 Auch seine etwas freizügige Haltung im Hinblick auf seine Glaubenspraxis kam bei strenggläubigen Katholiken nicht gut an. Monse sah sich daher am Wahlsonntag genötigt, seine Glatzer Pfarrkinder von der Kanzel aus vor einer Wahl der SPD zu warnen. Die Wirkung seiner Predigt schien jedoch beim Wahlvolk nicht mehr ganz anzukommen: Am Tag darauf beklagte er, dass das Zentrum in Glatz sicher 21 22
Pohl (Hg.): Pfarrchronik, S. 229. ebd., S. 242.
das aufkomme n d e s n at io n a l s oz i a l is m us i n der grafschaft glatz
113
mehr Stimmen erhalten hätte, wenn nicht so viele wahlfaul gewesen wären.23 Die SPD konnte dafür in beiden Kreisen überproportional zulegen, ihre Hochburg blieb jedoch im Kreis Neurode: Hausdorf (65,6 %), Kunzendorf (62,8 %) und Volpersdorf (59,2 %) führten die Liste der SPD in der Grafschaft Glatz an. In den Kreisen Glatz und Neurode wurden die Nationalsozialisten zur Bedeutungslosigkeit degradiert, Rückers, Ullersdorf, Hausdorf, Schlegel und Volpersdorf kamen auf einen Anteil von unter 0,1 %. Ausreißer war wiederum die Stadt Landeck, hier verzeichnete die NSDAP einen außerordentlichen Zuwachs von 1,4 % (Dezember 1924) auf 10,1%.
4. Die Anfänge der NSDAP in der Grafschaft Glatz Dieses Ergebnis kam nicht von ungefähr, da es eine längere Vorgeschichte hatte. Bad Landeck kann als Keimzelle der NSDAP für die Grafschaft Glatz angesehen werden. Ende 1925 fanden sich dort bereits ehemalige Frontsoldaten, Stahlhelmkameraden, denen der deutschnationale Kurs nicht mehr behagte, und völkisch gesinnte Männer zusammen und bildeten die sogenannte „völkische Gemeinschaft“. Sie kamen allmonatlich zusammen, hielten Sprechabende und Aussprachen unter sich ab.24 Als erster Nationalsozialist in Landeck und Vorkämpfer für die Hitlerbewegung galt „unser Vater Lausch,“ wie ihn Parteigenossen nannten. Weitere Aufbauhelfer der Hitlerbewegung waren der spätere Habelschwerdter Kreisleiter Spreu sowie die Parteigenossen Völkel, Olbrich, Gertig und von Rosenberg-Lipinsky. Am 1. April 1928 erfolgte dann die geschlossene Ueberführung der „Völkischen Gemeinschaft Bad Landeck“ in die Reihen der NSDAP25 . Als Gründungsdatum der NS-Ortsgruppe Bad Landeck galt der 1. Juli 1928, da nun 15 eingeschriebene Mitglieder vorhanden waren. Für die Gründungsmitglieder bedeutete dieser Akt eine finanzielle Kräftigung, da sie ihre propagandistische Tätigkeit nicht mehr aus eigener Tasche bezahlen mussten. So konnte sich die junge Parteigruppierung daran machen, das nationalsozialistische Gedankengut auszubreiten … und die Agitation in den Dörfern der Umgebung wie beispielsweise in Konradswalde, Voigtsdorf, Kunzendorf, Schönfeld usw. besonders eifrig … 26 zu betreiben. Auch die Stadt Habelschwerdt wurde ins Visier genommen, im Herbst desselben Jahres gelang auch hier die Gründung einer Ortsgruppe. Nicht ganz so schnell gelang die Vereinnahmung der Stadt Glatz. Am 30. Juni 1929 wurde hier eine Abteilung der SA gegründet, die anfangs nur eine Stärke von vier Mann besaß. In der Folgezeit weitete sich jedoch auch hier der Einfluss der Partei auf die umliegenden Städte und Dörfer aus, Ortsgruppenleiter wurden eingesetzt: Kintscher in Oberhannsdorf, Schäfer in Kudowa, Jakoby in Rückers, Gottwald in Neurode u. a.27 Schon ein Jahr später war die Präsenz der SA in Glatz nicht mehr zu 23 24
25 26 27
Vgl. ebd., S. 233. Paul Walter Hoffmann: Es begann in Bad Landeck. Aus der Geschichte von [der] NSDAP in [der] Obergrafschaft, in: Grenzwacht v. 30/31.1.1937, zit. nach Herzig/Ruchniewicz: Im Herrgottsländchen, S. S. 565f., hier S. 565. ebd. M. Hirschfeld: Mehrheitlich nationalsozialistisch, S. 10. Vgl. Karl Heinrich: Erste stolze Tage in Nürnberg, zit. nach: Herzig / Ruchniewicz: Im Herrgottsländchen, S. 563f., hier S. 563.
114
georg jäschke
übersehen. Bei einer Zentralveranstaltung der SA marschierten über 1.000 SA-Männer auf dem Glatzer Ring. Dabei kam es zu einem Zwischenfall, den die Nazis für sich propagandistisch ausschlachteten. Am gleichen Tag (13. September 1930) weilte auch Reichskanzler Dr. Heinrich Brüning (Zentrum) in Glatz. Zufällig wurde seine Wagenkolonne am Stadtbahnhof von den marschierenden SA-Männern abgeriegelt und eingekeilt. Missmutig musste er der Parade beiwohnen.28 Bei den Kommunalwahlen 1929 zahlte sich die rege propagandistische Tätigkeit der NSDAP in politischer Mitbestimmung aus: Im Habelschwerdter Stadtparlament erkämpften sich die Nationalsozialisten zwei Sitze, in Bad Landeck sogar vier, das bedeutete ein Drittel der abgegebenen Stimmen29. Am Beginn des neuen Jahrzehnts hatte die NSDAP im gesamten Deutschen Reich wie auch in der Grafschaft Glatz Fuß gefasst, jedoch konnte – mit Ausnahme von Bad Landeck – eher noch von einem marginalen Einfluss auf die politische Landschaft und das politische Geschehen gesprochen werden. Vielleicht wäre der Nationalsozialismus die vorübergehende Episode einer Splitterpartei, von denen es in der Weimarer Republik eine Reihe gab, geblieben, wenn nicht Ende 1929 ein Ereignis eingetreten wäre, dass einen unheilvollen Einfluss auf die deutsche Politik haben sollte.
5. Die Weltwirtschaftskrise und ihre Auswirkungen Nach Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs hatte die Nachfrage nach Waren und Produktionsgütern in den Volkswirtschaften der westlichen Industrieländer einen gewissen Sättigungsgrad erreicht, sodass die Produktion in Landwirtschaft und Industrie zurückgefahren werden musste. Ende Oktober 1929 war es deshalb an der New Yorker Wall Street zu einem Börsencrash gekommen, der zu einem Einbruch der amerikanischen Wirtschaft führte. In dieser Situation forderten die USA vom Deutschen Reich ihre kurzfristig gewährten Kredite zurück. Sofort ging auch hier die Produktion zurück und die Zahl der Arbeitslosen stieg kräftig an. Fatalerweise kam es nun zu einer verhängnisvollen Entscheidung der Weimarer Politik: Ende März 1930 brach die Große Koalition unter Reichskanzler Hermann Müller (SPD) an einer vergleichsweise geringfügigen Kontroverse auseinander, der moderaten Anhebung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Sowohl die Arbeitervertreter (SPD) als auch die Unternehmerverbände (DDP) wollten diese Erhöhung nicht. Da sich die Koalitionäre nicht einigen konnten, berief Reichspräsident Hindenburg eine Minderheitenregierung unter Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrum). Der Anlass für den Bruch der Großen Koalition stand in keinem Verhältnis zu seinen furchtbaren Folgen, denn in der Folgezeit gelang es nicht mehr, eine Regierung auf parlamentarischer Grundlage auf die Beine zu stellen, obwohl damals von den 491 Abgeordneten nur 12 der NSDAP und 54 der KPD angehörten. Damit hatte sich der Parlamentarismus der Weimarer Demokratie selbst zu Fall gebracht.30 28 29 30
Vgl. ebd. S. 564. Vgl. Hoffmann (wie Anm. 23), S. 566. vgl. Erdmann: Weimarer Republik, S. 277.
das aufkomme n d e s n at io n a l s oz i a l is m us i n der grafschaft glatz
115
Zur Stabilisierung seiner Währung, wozu sich das Deutsche Reich aufgrund des Young-Planes (Rückzahlungsplan der Reparationen als Ersatz für den Dawes-Plan) verpflichtet hatte, griff Reichskanzler Heinrich Brüning zu dem haushaltspolitisch umstrittenen Mittel der Deflationspolitik. Neben allgemeinen Ausgabenkürzungen wurden auch die Gehälter des öffentlichen Dienstes reduziert. Da diese Maßnahmen im Parlament keine Mehrheit fanden, ließ sich Brüning diese per Notverordnung aufgrund des Artikels 48 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) durch den Reichspräsidenten von Hindenburg genehmigen. Mit der Mehrheit des Reichstages wurden die beiden Notverordnungen zurückgewiesen, sodass der Reichskanzler jetzt von einer weiteren Möglichkeit, die die Verfassung vorsah, Gebrauch machte, der Anwendung von Art. 25 WRV: Am 18. Juli 1930 löste der Reichspräsident den Reichstag auf, Neuwahlen wurden für den 14. September angesetzt. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und der Deflationskurs zeigten bereits ernsthafte Auswirkungen. Von November 1929 bis Februar 1930 war die Arbeitslosigkeit im Reichsgebiet dramatisch angestiegen, die Arbeitslosenzahlen verdoppelten sich in diesem Zeitraum von 1,56 auf 3,22 Millionen Arbeitslose (von 7,5 % auf 15,8 %).31 Auch in der Grafschaft Glatz war die Stimmung aufgrund der stark angestiegenen Arbeitslosigkeit bedenklich. Groß war die wirtschaftliche Not, die erst 1927 eingerichtete Reichsarbeitslosenversicherung konnte angesichts der dramatischen Entwicklung auch nur unzulänglich Abhilfe schaffen. So wird über den Bürgermeister der Gemeinde Altlomnitz, Robert Nieder, berichtet: Der Bürgermeister hatte die Arbeitslosen zu registrieren, zu melden und die Gelder auszuzahlen. Da erforderliche Gelder von den Arbeitsämtern nicht rechtzeitig eintrafen, auch die Gemeindekasse sehr oft leer war, legte … [er] des öfteren die erforderlichen Beträge aus seiner Tasche aus, um einen Aufstand der Arbeitslosen zu vermeiden.32 Auch der Glatzer Stadtpfarrer Dr. Monse sah die unheilvolle Entwicklung heraufziehen, wie sein Eintrag vom 6. August 1930 in der Pfarrchronik belegt: Gestern läutete es 37mal an meiner Tür, fast immer Mütter, Stellungslose, erbitterte Männer mit der verschämten Bitte um ein Almosen. Diese dauernde Störung ist gewiß unangenehm, unangenehmer ist aber für die Ärmsten die entsetzliche Not. Wenn irgendwann, ist die Caritas heut am Platze. Gott helfe uns, daß die nächste Reichstagswahl (14. September) nicht zu einer Katastrophe führt.33 Kommunisten und Nationalsozialisten standen sich im Wahlkampf unversöhnlich gegenüber. Auch in der Stadt war die politische Zuspitzung zu spüren. So notierte der Pfarrer unmittelbar vor der Reichstagswahl: Der morgige Tag, 14. September 1930, wird entscheiden, ob neue Revolution bzw. Diktatur des Auslandes oder gesetzmäßige Regierung.34 Nicht ganz zu Unrecht fürchtete er sich vor einem Erstarken der Nationalsozialisten und der Kommunisten. Reichskanzler Brüning hatte es sich nicht nehmen lassen, noch einen Tag vor der Wahl Glatz einen Besuch abzustatten und auf Einladung des Fabrikbesitzers Hünerfeld einen Vortrag vor den örtlichen Zentrumshonoratioren zu halten. 31 32 33 34
Vgl. FOCUS 4.2.2008, S. 1. Ursula Durstewitz (Bearb.): Altlomnitz, S. 79. Pohl (Hg.): Pfarrchronik, S. 282f. ebd., S. 283.
116
georg jäschke
6. Die Reichstagswahl 1930 In dieser aufgewühlten Stimmung fand die Reichstagswahl 193035 statt, die der parlamentarischen Demokratie ein katastrophales Ergebnis bescherte: Hitlers Partei kletterte von 2,6 (1928) auf 18,3 %, 6,5 Millionen Stimmen waren zur NSDAP umgeschwenkt. Auch am linken Rand legte die KPD von 10,6 auf 13,1 % zu. Das Erstarken der Extremen ging zu Lasten des übrigen Parteienspektrums: Eindeutiger Verlierer waren die Deutschnationalen mit einer glatten Halbierung ihrer Stimmenzahl auf 7 %. Aber auch die Verluste von SPD (– 5,3 %) und DVP (– 4,2 %) gingen zum Teil an die Nationalsozialisten, glimpflicher kam das Zentrum davon (– 0,3 %). Damit war eine Koalition der Weimarer Parteien rechnerisch nun nicht mehr möglich. Im Wahlkreis Breslau waren die Ausschläge hin zu den republikfeindlichen Parteien noch stärker zu spüren: Die SPD fiel von 37,8 (1928) auf 29,3 % der Stimmen, wobei das KPD-Ergebnis mit einer Steigerung von 3,3 % deutlich machte, dass die Partei nicht alle unzufriedenen Arbeiter an sich zu binden vermochte. Einen regelrechten Absturz verzeichnete das konservative Lager, da DVP und DNVP nahezu zwei Drittel ihres Wählerpotenzials von 1928 an die Nationalsozialisten verloren. Lediglich das Zentrum konnte sich mit einer leichten Steigerung von 15,8 auf 16 % respektabel in Niederschlesien halten. In den drei Grafschafter Kreisen zeigte sich, gemessen an der Ausgangslage der Reichstagswahlen von 1928, ein ähnliches Bild wie in Breslau. Während sich das Zentrum sowohl in Glatz (+ 1,9 %), Neurode (+ 0,1 %) und Habelschwerdt (+ 2,0 %) leicht verbessern konnte, zeigte die nationalsozialistische und kommunistische Agitation im Arbeiterlager durchaus beträchtliche Wirkung: So verlor die SPD in Glatz 6,3 %, in Neurode 13,4 % und in Habelschwerdt 7,9 % an die Extremparteien. Besonders dramatisch war der Rückgang der SPD in den Bergbaugebieten des Kreises Neurode: Volpersdorf (– 15,4 %), Kunzendorf (– 22,1 %) und Hausdorf (–29,3 %), der zum größten Teil der KPD zugute kam. Ein besonders trauriges Schicksal erlitt die Gemeinde Hausdorf. Am 9. Juli 1930 war es im Kurtschacht zu einem folgenschweren Kohlensäureausbruch gekommen, der für den Ort und die Nachbargemeinden eine nie gekannte Tragödie bedeutete. Während am Mittwochnachmittag bis gegen 4 Uhr noch alles im Dorfe seinen gewohnten Gang ging und jeder seine alltägliche Arbeit verrichtete, brachte die plötzlich gegen ½ 5 Uhr auftauchende, sich von Mund zu Mund mit Windeseile verbreitende Nachricht, „Kohlensäureausbruch von noch nie dagewesenem Ausmaß auf dem hiesigen Kurtschacht“ das ganz Dorf in Bewegung.36 Das größte Kohlensäureunglück, das je in einem Bergwerk Europas zu verzeichnen war, forderte 151 Tote (davon noch ca. 50 eingeschlossen) sowie 59 zum Teil schwer verletzte Bergleute. Herzzerreißende Szenen waren es, die sich nach Bekanntwerden der Katastrophe an den Grubentoren abspielten. Viele Hunderte von Menschen harrten angstvoll auf Nachricht über das Schicksal ihrer Angehörigen37, berichtete der Lokalreporter einer Zeitung. Am Begräbnis der Bergarbei35
36
37
Zahlen entnommen und prozentual umgerechnet: Die Wahlen zum Reichstag am 14. Sept. 1930, S. II 16. Gisela Dickes-Pelz: Vor sechzig Jahren: Sirenen gellten über Hausdorf, in: JbGG 1990, S. 57–59, hier S. 57. Volksblatt für Stadt und Land Neurode, 25. Jg. (1930), Nr. 57.
117
das aufkomme n d e s n at io n a l s oz i a l is m us i n der grafschaft glatz
Stimmberechtigte
Wahlbeteiligung
gültige Stimmen
Zentrum
SPD
DNVP
DVP
NSDAP
KPD
Deutsches Reich
42.957.675
82,0%
34.970.857
11,8%
24,5%
7,0%
4,5%
18,3%
13,1%
Wahlkreis Breslau
1.274.753
84,5%
1.072.105
16,0%
29,3%
8,9%
2,7%
24,2%
7,8%
Kreis Glatz
45.422
79,8%
34.046
41,8%
20,1%
5,2%
1,9%
22,4%
4,8%
Bad Altheide
3.102
78,4%
2.424
25,7%
15,2%
15,3%
6,5%
23,2%
3,3%
Reinerz
3.830
78,0%
2.969
35,6%
15,6%
9,4%
3,1%
26,3%
2,0%
Glatz
11.827
81,7%
9.600
38,1%
15,1%
3,6%
1,7%
25,6%
5,4%
Rengersdorf
1.475
84,5%
1.235
33,3%
31,3%
1,5%
1,0%
10,0%
12,3%
Rückers
1.397
79,6%
1.108
41,6%
31,5%
3,3%
0,5%
12,5%
4,7%
Ullersdorf
1.743
85,1%
1.467
33,7%
32,2%
7,4%
0,4%
11,2%
6,5%
Kreis Neurode
35.046
82,1%
28.519
29,2%
32,4%
2,2%
1,0%
13,0%
11,6%
Hausdorf
3.166
83,7%
2.613
19,7%
36,3%
1,7%
1,3%
5,3%
27,1%
Kunzendorf
3.092
85,8%
2.635
20,6%
40,7%
1,1%
0,8%
9,6%
19,2%
Ludwigsdorf
2.542
83,9%
2.098
36,3%
34,4%
1,3%
1,7%
4,6%
15,1%
Mittelsteine
1.383
81,2%
1.116
33,1%
20,3%
3,3%
1,3%
19,8%
8,4%
Neurode
5.460
89,4%
4.836
30,2%
26,5%
3,1%
1,3%
18,7%
9,7%
Schlegel
2.456
83,3%
2.033
23,2%
42,4%
1,6%
0,7%
14,0%
6,3%
Volpersdorf
1.627
82,0%
1.328
21,7%
43,8%
2,5%
0,4%
8,8%
15,2%
Wünschelburg
1.686
86,8%
1.450
36,9%
25,3%
4,3%
1,6%
10,0%
1,4%
Kreis Habel schwerdt
35.753
79,4%
28.217
41,8%
12,7%
3,9%
1,1%
24,8%
5,0%
Habelschwerdt
4.061
87,4%
3.529
42,0%
9,8%
2,0%
1,9%
19,2%
13,8%
Landeck
4.113
87,8%
3.582
32,6%
16,4%
8,2%
3,1%
28,9%
3,6%
Mittelwalde
1669
84,1%
1399
47,3%
9,5%
4,2%
1,9%
20,4%
3,4%
Abb. 4: Ergebnis der Reichstagswahl vom 14. September 1930
ter nahmen über 15.000 Menschen teil38, im gesamten Deutschen Reich nahmen die Leute Anteil am Schicksal dieser Grafschafter Gemeinde. Die Schachtanlage musste geschlossen werden, für die Bevölkerung von Hausdorf und Umgebung bedeutete das Grubenunglück eine Tragödie, da es die Existenz vieler Familien zerstörte. Der Anstieg der KPD in Hausdorf auf 27,1 % der Stimmen kann demnach nur noch als politische Verzweiflungstat gewertet werden. Hielt sich der Stimmenanteil der NSDAP im Kreis Neurode noch in Grenzen (13 %), so zeigte die nationalsozialistische Agitation in den Kreisen Glatz (22,4 %) und Habelschwerdt (24,8 %) bereits ihre Wirkung. Herbe Verluste musste hier vor allem das nationalkonservative Lager hinnehmen (Glatz: DNVP – 8,2 %, DVP – 3,2 %; Habelschwerdt: DNVP – 7,9 %, DVP – 2,3 %). Vor allem in den größeren Orten beider Kreise erzielten die Nationalsozialisten überdurchschnittliche Ergebnisse: Bad Altheide (+ 22,3 % gegenüber 1928), Bad Reinerz (+ 25,6 %), Stadt Glatz (+ 24 %), Stadt Habelschwerdt (+ 18,6 %), Mittelwalde (+ 20,1 %) sowie Bad Landeck (+ 18,8 %), welches 38
Vgl. Glatzer Zeitung, 36. Jg. (1930), Nr. 10.
118
georg jäschke
mit einem Wähleranteil von 28,9 % zu den Spitzenergebnissen der NSDAP im gesamten Reichsgebiet zählen dürfte. Einmal mehr zeigte sich der agitatorische Einfluss der NSDAP-Hochburg Landeck auf den südlichen Teil der Grafschaft. Insgesamt war das Ergebnis der Reichstagswahl nicht nur für das gesamte Reichsgebiet alarmierend, in der Grafschaft Glatz schienen in noch stärkerem Ausmaß die Arbeiterschaft und das nationalkonservative Lager den Politikern in Berlin für die vorangegangenen Ereignisse einen Denkzettel verpassen zu wollen. Nur das Zentrum kam von den Weimarer Parteien in allen drei Grafschafter Kreisen noch relativ ungeschoren davon. Den gewonnenen Machteinfluss nach der Reichstagswahl schienen die Nationalsozialisten sofort umsetzen zu wollen, auch im kirchlichen Bereich wollten sie buchstäblich Flagge zeigen. So gab es 1930 schon ernsthafte Erwägungen von Seiten einiger deutscher Bischöfe, ob man Nationalsozialisten, die in Uniform und mit Hakenkreuzfahne zu Gottesdiensten und Begräbnissen erschienen, die Sakramente verweigern müsse. Am 24. Oktober 1930 ersuchte Dr. Monse den Führer der Glatzer Sturmschar, nicht mehr im braunen Hemd mit Hakenkreuz am Gottesdienst teilzunehmen. Letzterer erklärte sich dazu bereit, schließlich seien die Nationalsozialisten gute Katholiken!39 Die Nationalsozialisten ließen nichts unversucht, die katholische Kirche und ihre Geistlichkeit zu verunglimpfen. Noch während des Wahlkampfes, als der Glatzer Stadtpfarrer zur Kur in Bad Wörishofen weilte, wurde von ihnen eine merkwürdige Begebenheit verbreitet. Der Pfarrer sollte einen gewissen Herrn Sappke aus Landeshut auf dem Bahnhof getroffen haben. Dort habe er ihm mitgeteilt, die Kirche werde infolge schlechter Priester bald zugrunde gehen und ihm darüber hinaus ein Bündel Zentrumsakten überreicht. Eigenhändig musste Dr. Monse aus seinem Kurort ein Dementi an den Glatzer Gebirgsboten schicken. Besagter Sappke zog als Redner mit solchen Lügen im Kreis Habelschwerdt umher.40 Die Tonart in der Auseinandersetzung zwischen katholischer Kirche und den extremistischen Parteien verschärfte sich im Laufe des Jahres 1931. Es gab kaum noch einen Grafschafter Pfarrer, der nicht in kommunistischen und nationalsozialistischen Blättern verunglimpft worden wäre.41 Diese Vorboten ließen für die nähere Zukunft nichts Gutes erwarten. Unterdessen verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage im Deutschen Reich. Jetzt erst machten sich die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise im ganzen Ausmaß bemerkbar. Mehrere deutsche Banken mussten vorübergehend ihre Schalter schließen. Die Arbeitslosigkeit erreichte zu Beginn des Jahres 1932 mit über 6,1 Millionen Menschen (mehr als 32 % der arbeitenden Bevölkerung) ihren traurigen Höhepunkt. Auch im Glatzer Land mussten viele Besitzer ihre Geschäfte schließen. Der strenge Winter 1931/32 verschärfte die Notlage, sodass auch in Glatz von den Spitzenverbänden der Wohlfahrt die Reichswinterhilfe organisiert wurde, um Geld zu sammeln und Kleiderkammern und Nähstuben zu errichten.42 Bis dahin war es dem Präsidialkabinett unter Reichskanzler Brüning nicht gelungen, mit Hilfe der Deflationspolitik die wirtschaftliche Lage in den Griff zu bekommen. Für die anstehenden Wahlen des Jahres 1932 war dies kein gutes Vorzeichen. 39 40 41 42
Vgl. Pohl (Hg.): Pfarrchronik, S. 285. Vgl. ebd., S.284. Vgl. ebd., S. 292f. Vgl. ebd., S. 302.
119
das aufkomme n d e s n at io n a l s oz i a l is m us i n der grafschaft glatz
7. Die Reichspräsidentenwahl 1932 Im Frühjahr 1932 endete die siebenjährige Amtszeit von Reichspräsident Paul von Hindenburg. Auf Bitten eines überparteilichen Ausschusses hatte er sich, obwohl bereits 85-jährig, bereit erklärt, wieder zu kandidieren. Seine Wiederwahl befürworteten im Wesentlichen die Anhänger der Weimarer Parteien. Gegenkandidat war diesmal der Führer der NSDAP, Adolf Hitler. Seine Unterstützer rekrutierten sich aus den nationalen und rechtskonservativen Kreisen, die noch 1925 die Kandidatur Hindenburgs unterstützt hatten. Da Hindenburg im ersten Wahlgang vom 13. März 1932 mit 49,6 % knapp an der absoluten Mehrheit scheiterte, war am 10. April 1932 eine Stichwahl zwischen Hindenburg und Hitler erforderlich.
Stimmberechtigte
Wahlbeteiligung gültige Stimmen Hindenburg
Hitler
Thälmann
Deutsches Reich
43.949.681
86,2%
37.648.317
49,6%
30,1%
13,2%
Wahlkreis Breslau
1.308.548
86,5%
1.125.974
48,1%
35,8%
8,6%
Kreis Glatz
43.100
84,7%
36.306
61,8%
27,0%
6,7%
Kreis Habelschwerdt
34.986
79,5%
27.684
53,1%
37,3%
5,6%
Kreis Neurode
35.450
85,6%
30.115
62,8%
22,0%
5,1%
Abb. 5: Die Reichspräsidentenwahl 1932, erster Wahlgang vom 13. März Stimmberechtigte
Wahlbeteiligung gültige Stimmen Hindenburg
Hitler
Thälmann
Deutsches Reich
44.063.958
83,5%
36.490.761
53,0%
36,8%
10,2%
Wahlkreis Breslau
1.307.179
84,6%
1.098.944
51,7%
42,0%
6,3%
Kreis Glatz
42.994
83,0%
35.488
67,4%
28,2%
4,3%
Kreis Habelschwerdt
34.710
79,5%
27.448
58,3%
37,5%
4,1%
Kreis Neurode
35.381
84,3%
29.564
68,9%
23,1%
8,1%
Abb. 6: 2. Wahlgang vom 10. April
Im zweiten Wahlgang erhielt der Amtsinhaber mit 53 % die erforderliche Mehrheit, Hitler immerhin 36,8 %. In diesem Plebiszit sprachen sich also beinahe zwei Drittel der deutschen Wähler gegen Hitler aus und mehr als die Hälfte für Hindenburg, in dessen Person über den Parteien ein trotz allem mögliches Zusammenwirken demokratisch-republikanisch und konservativ-monarchischer Kräfte Gestalt geworden zu sein schien.43 So bestand zumindest die Hoffnung, dass in der Stärkung der Person des Reichspräsidenten und der verhinderten Wahl Hitlers die politischen Radikalisierungen bei gleichzeitiger Genesung der Wirtschaftslage abklingen würden. In zwei Grafschafter Kreisen war diese Tendenz noch ausgeprägter44: Die Wähler sprachen sich in Glatz 43 44
Erdmann: Die Weimarer Republik, 1980, S. 292. Zahlen entnommen und prozentual umgerechnet: Das Gesamtergebnis der Wahl zum Reichspräsidenten (I. und II. Wahlgang) am 13. März und 10. April 1932, S. 6f.
120
georg jäschke
und Neurode zu über zwei Dritteln für Hindenburg aus, nur in Habelschwerdt erhielt er 58,3 %. Hier zeigte einmal mehr die nationalsozialistische Keimzelle in der Grafschaft ihre Kraft, da Hitler im Kreis Habelschwerdt mit 37,5 % mehr Stimmen als im Reichsdurchschnitt erhielt. Insgesamt machte die Reichspräsidentenwahl deutlich, dass die überwiegende Mehrheit der Grafschafter dem NS-Führer noch reserviert bis ablehnend gegenüber stand, gleichwohl ein gutes Viertel bereits vom „Hitler-Bazillus“ infiziert war.
8. Reichstagswahlen in der Endphase der Weimarer Republik Kurz nach der Reichspräsidentenwahl zeigten sich erste Anzeichen einer leichten Besserung hinsichtlich der außenpolitischen- und wirtschaftlichen Lage Deutschlands. Nach dem Höchststand der Arbeitslosigkeit im Februar 1932 verminderte sich die Zahl der Arbeitssuchenden signifikant, Verhandlungen der Reichsregierung mit den Alliierten über eine endgültige Beseitigung des leidigen Reparationsproblems schienen auf gutem Wege und eine allgemeine Abrüstungskonferenz in Lausanne versprach eine militärische Gleichstellung Deutschlands im Konzert der europäischen Mächte. Da ließ Hindenburg am 30. Mai 1932 in einer regelrechten Hofintrige Reichskanzler Brüning fallen, obwohl sich dieser gerade bei der Präsidentenwahl für ihn eingesetzt hatte45. Die Gründe für diesen Sturz kamen jedoch nicht von ungefähr: Durch das Geschenk des Gutes Neudeck in Westpreußen von Seiten der deutschen Industrie an Hindenburg geriet der Reichspräsident fortan unter Einfluss der ostelbischen Großagrarier, die sich bei ihm vor allem über die vorgesehene Zwangsenteignung nicht mehr entschuldungsfähiger Güter beschwerten. Weiterhin wünschte der Beraterkreis Hindenburgs unter General von Schleicher eine stärker rechts orientierte Regierung, um so unter Umständen die Duldung der Nationalsozialisten zu erlangen. Der Sturz Brünings bedeutete den Übergang von der parlamentarisch tolerierten zur reinen Präsidialregierung.46 Diese Zielsetzung steuerte der neue Reichskanzler Franz von Papen an, der seine Regierung, die fast nur aus Vertretern des Adels bestand, lediglich auf die Deutschnationalen und den Stahlhelm stützen konnte. Um Hitler und seinen Nationalsozialisten entgegenzukommen, hob er das unter der Vorgängerregierung erlassene SS- und SA-Verbot am 29. Juni auf und schrieb Neuwahlen für den 31. Juli 1932 aus. Damit war dem politischen Terror Tür und Tor geöffnet. Kaum ein Tag verging, ohne dass es zu Überfällen und Mordanschlägen kam, denen Angehörige des Roten Frontkämpferbundes (Kommunisten), der SA sowie des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold und des Stahlhelms zum Opfer fielen. Während die Grafschaft Glatz von solchen Auseinandersetzungen weitestgehend verschont blieb, kam es in der schlesischen Nachbarschaft zu Straßenkämpfen zwischen Sozialisten und Nationalsozialisten. In Ohlau gab es zwei, in Gnadenfrei einen und in Langenbielau drei Tote zu verzeichnen.47 Bei den Reichstagswahlen48 erhielten 45 46 47 48
Vgl. Erdmann (wie Anm. 43), S. 293. ebd., S. 294. Vgl. Pohl (Hg.): Pfarrchronik, S. 306. Zahlen entnommen und prozentual umgerechnet: Die Wahlen zum Reichstag am 31. Juli 1932, S. 47.
121
das aufkomme n d e s n at io n a l s oz i a l is m us i n der grafschaft glatz
die Nationalsozialisten in etwa die gleiche Stimmenzahl wie bei der Reichspräsidentenwahl, nämlich 13,5 Millionen Stimmen, was einem Anteil von 37,4 % gleichkam und eine Steigerung der Sitze im Reichstag von 107 auf 230 bedeutete. Die zunehmende Radikalisierung ging auf der rechten Seite vor allem zu Lasten der bürgerlichen Parteien von den Deutschnationalen bis zu den Demokraten, im linken Spektrum verloren die Sozialdemokraten Wählerstimmen an die Kommunisten. Lediglich das Zentrum konnte seinen Stimmenanteil leicht von 11,8 % (1930) auf 12,5 % steigern. Im niederschlesischen Wahlkreis Breslau fiel das Wahlergebnis noch dramatischer aus: Alle Weimarer Parteien büßten zum Teil kräftig an Stimmen ein (SPD – 4,9 %, Zentrum – 1,3 %), ebenfalls das rechte Lager (DNVP – 3,3 %), hingegen konnten die Nationalsozialisten ihren Anteil gegenüber 1930 von 24,2 % auf 43,5 % steigern und lagen damit noch über dem Reichsergebnis. In den Wahlkreisen der Grafschaft vermochten die radikalen Parteien zum Nachteil der bürgerlichen ihren Anteil auszubauen, jedoch fiel der Anstieg hier eher verhalten aus. Stimmberechtigte
Wahlbeteiligung
gültige Stimmen
Zentrum
SPD
DNVP
DVP
NSDAP
KPD
Deutsches Reich
44.211.216
84,1%
36.882.354
12,5%
21,6%
5,9%
1,2%
37,4%
14,6%
Wahlkreis Breslau
1.313.024
86,5%
1.130.498
14,7%
24,4%
5,6%
0,5%
43,5%
8,8%
Kreis Glatz
48.417
83,3%
40.157
36,4%
17,4%
5,9%
0,6%
31,1%
6,8%
Kreis Neurode
36.066
85,7%
30.704
27,4%
30,1%
3,6%
0,2%
23,9%
13,4%
Kreis Habel schwerdt
38.647
78,8%
30.322
37,0%
9,8%
5,1%
0,4%
40,0%
6,0%
Abb. 7: Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 (In der Statistik des Deutschen Reiches finden sich für die Reichstagswahlen 1932 nur die Wahlergebnisse der Kreise, Angaben zu Orten über 2000 Einwohner fehlen im Gegensatz zu den Reichstagswahlen anderer Jahre, Anm. des Verf.)
Im Kreis Glatz blieb die NSDAP mit 31,1 % der Stimmen zweitstärkste Kraft hinter dem Zentrum (36,4 %), im Kreis Neurode fand sie sich hinter SPD (30,1 %) und Zentrum (27,4 %) mit 23,9 % lediglich auf Platz 3, nur der Kreis Habelschwerdt spielte wie bei den vorhergehenden Reichstagswahlen eine Sonderrolle: Obwohl das Zentrum hier durchaus respektable 37 % erhielt, übertrafen die Nazis mit 40 % sogar das Ergebnis im Reich. Resümierend lässt sich hinsichtlich des Ergebnisses der Juli-Reichstagswahl festhalten, dass den Nationalsozialisten in der Grafschaft Glatz – abgesehen von Habelschwerdt – der entscheidende Durchbruch noch nicht gelungen war. Trotz zunehmender Agitation von NSDAP und KPD erhielten SPD und Zentrum in Glatz und Neurode in der Summe bedeutend mehr Stimmen als die radikalen Parteien. Ungeachtet des für Nationalsozialisten glänzenden Wahlergebnisses war die Grafschafter Wählerklientel in der Mehrheit von Hitler und seiner Partei nicht überzeugt. Der neuen Regierung unter Reichskanzler Franz von Papen war jedoch kein Erfolg beschieden. Schon seine erste Notverordnung wurde von fast allen Reichstagsab-
122
georg jäschke
geordneten (512 zu 42) am 12. September 1932 zu Fall gebracht. Damit war deutlich geworden, dass diese Regierung keinen parlamentarischen Rückhalt besaß. Gemäß der Weimarer Reichsverfassung wurde der Reichstag erneut aufgelöst und für den 6. November zum zweiten Mal im Jahre 1932 Reichstagswahlen49 angesetzt. Nun zeigte sich, dass Hitlers Taktik, die ganze oder gar keine Macht zu bekommen, beim Wähler nicht aufging. Erstmals verlor die NSDAP zwei Millionen Stimmen und fiel von 37,4 % auf 33,1 % zurück. Aber auch die Weimarer Parteien verloren leicht, lediglich die Deutschnationalen (von 5,9 % auf 8,5 %) und die Kommunisten (von 14,6 % auf 16,9 %) stiegen in der Wählergunst. Damit änderte sich wenig an der hoffnungslosen parlamentarischen Konstellation gegenüber Juli 1932. Stimmberechtigte
Wahlbeteiligung
gültige Stimmen
Zen trum
SPD
DNVP
DVP
NSDAP
KPD
Deutsches Reich
44.374.085
80,6%
35.470.788
11,9%
20,4%
8,5%
1,9%
33,1% 16,9%
Wahlkreis Breslau
1.315.577
83,3%
1.090.403
15,0%
23,1%
7,7%
0,6%
40,4% 10,5%
Kreis Glatz
78.896
78,3%
61.407
34,1%
23,0%
4,6%
0,4%
24,1% 12,5%
Kreis Habel schwerdt
34.620
72,4%
24.959
39,2%
10,1%
3,9%
0,3%
37,4% 7,6%
Abb. 8: Reichstagswahlen vom 6. November 1932
Für den Wahlkreis Glatz ergab sich eine Änderung: Es kamen die Stimmen des ehemaligen Kreises Neurode hinzu, der kurz vorher aufgrund der preußischen Kommunalreform aufgelöst worden war. Das Wählerverhalten in der Grafschaft Glatz bestätigte mit einer Ausnahme durchweg den allgemeinen Wählertrend. Im vergrößerten Kreisgebiet von Glatz erhielten die Nationalsozialisten eine herbe Schlappe und kamen nur noch auf 24,1 % der Stimmen. Selbst im Kreis Habelschwerdt, sonst NSDAP-Hochburg, fiel die Partei auf Platz 2 hinter das Zentrum zurück, das gegen den allgemeinen Trend sein Ergebnis gegenüber Juli von 37 % auf 39,2 % steigern konnte. Alles in allem hatten auch Ende des Jahres 1932 die radikalen Parteien in der Grafschaft Glatz nicht die Oberhand gewonnen, die Weimarer Parteien kamen hier immer noch auf weit über 50 %. Neuer Reichskanzler wurde am 3. Dezember 1932 Reichswehrminister General Kurt von Schleicher. Im Gegensatz zu Papen, der unter Ausschaltung des Reichstages und gestützt auf die Reichswehr die Verfassung beiseite schieben und einen autoritären Kurs steuern wollte, plante er, die NSDAP zu spalten und rund 60 Abgeordnete in eine Gewerkschaftsfront einzubeziehen, die sich durch alle Parteien bis hin zu den Sozialisten erstrecken sollte.50 Mit Hilfe dieser Sammlungsbewegung hoffte er vor allem die Arbeitslosigkeit beseitigen zu können. Noch immer zeigten sich die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise: Der gesamte Welthandel lag im Jahre 1932 bei zwei 49
50
Zahlen entnommen und prozentual umgerechnet: Die Wahlen zum Reichstag am 6. Nov. 1932, S. 115. Vgl. Erdmann (wie Anm. 43), S. 301.
das aufkomme n d e s n at io n a l s oz i a l is m us i n der grafschaft glatz
123
Fünfteln des Umsatzes von 1929.51 Arbeitslosenheere gab es nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA und England. Hinzu kam eine schwere Agrarkrise. Infolge des internationalen Preisverfalls erwirtschaftete die deutsche Landwirtschaft trotz diverser Schutzmaßnahmen 1932/33 nur noch 62 % des Jahres 1928/29.52 Dieser wirtschaftliche Schrumpfungsprozess wirkte sich verheerend auf die Stimmung in der deutschen Bevölkerung aus. Trotz Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen seitens der neuen Regierung schien ein durchgreifender Wandel nicht sichtbar. Auch mit dem Konzept, auf der Grundlage einer politischen Sammlungsbewegung zu regieren, konnte sich Schleicher nicht durchsetzen. In dieser verfahrenen Situation trat der vormalige Reichskanzler Franz von Papen in Aktion. In den ersten Tagen des neuen Jahres 1933 arrangierte er bei einer Zusammenkunft politisch einflussreicher Kreise im Hause des Kölner Bankiers Schröder ein neues Regierungskonzept, welches die Nationalsozialisten mit in die Herrschaft einbezog. Dieses sogenannte Einrahmungskonzept sah eine Regierung unter Reichskanzler Hitler vor, jedoch eingerahmt von konservativen Fachministern unter Leitung eines Vizekanzlers von Papen. Nachdem es im zähen Ringen gelungen war, Reichspräsident Paul von Hindenburg von dieser Lösung zu überzeugen, wurde Hitler am 30. Januar 1933 zum neuen Reichskanzler ernannt. Letzterer hatte sogleich zur Bedingung gemacht, den Reichstag aufzulösen und für den 5. März 1933 Reichstagswahlen auszuschreiben. Im sofort einsetzenden Wahlkampf konnte Hitler unter Zuhilfenahme des Regierungsapparates seine Propagandatätigkeit voll entfalten. Großfinanz und Schwerindustrie stellten der Regierung einen Wahlfonds in Höhe von 3 Millionen RM zur Verfügung. Ein weiteres Ereignis kam den neuen Machthabern sehr gelegen: Am 27. Februar brannte der Reichstag, und sofort waren die Schuldigen gefunden. Am darauffolgenden Tag setzte Hitler die sogenannte Reichstagsbrandverordnung auf der Grundlage von Art. 48 WRV in Kraft. Die Kommunisten, denen er den Brand in die Schuhe schob, wurden nun verfolgt und inhaftiert. In dieser angespannten Atmosphäre gingen die Deutschen innerhalb von neun Monaten zum dritten Mal an die Urnen53. Angesichts der Ausgangslage erhofften sich die Nationalsozialisten ein Ergebnis, welches sie in der Regierung jeglicher Beschränkung entledigte. Trotz der massiven Propaganda, trotz einer Rekordwahlbeteiligung von mehr als 88 % erhielt die NSDAP „nur“ 43,9 % der Stimmen und war deshalb weiter auf eine Koalition mit den Deutschnationalen (8,0 %) angewiesen. Die kleineren Mittelparteien verschwanden fast vollständig, SPD und Zentrum hielten bis auf minimale Verluste ihr Potential und auch die KPD erzielte trotz des gegen sie gerichteten staatlichen Terrors noch 12,3 % (– 4,6 %). Im niederschlesischen Wahlkreis Breslau setzte sich der Trend des Jahres 1932 fort, hier gelang es der NSDAP, die absolute Mehrheit zu erringen (50,2 %). Auch in den Grafschafter Wahlkreisen kippte nun die Stimmung zugunsten der braunen Machthaber. Besonders krass zeigte sich dies im Kreis Habelschwerdt, wo die NSDAP mit 54,8 % weit oberhalb des Reichsdurchschnittes rangierte. Selbst im Kreis Glatz erzielten die Nazis 38,6 % der Stimmen. Dieses Ergebnis lag zwar erheblich unter dem 51 52 53
ebd., S. 301. Vgl. ebd., S. 302. Zahlen entnommen und prozentual umgerechnet: Die Wahlen zum Reichstag am 5. März 1933, S. 176.
124
georg jäschke
Stimmberechtigte
Wahlbeteiligung
gültige Stimmen
Zen trum
SPD
DNVP DVP
NSDAP
KPD
Deutsches Reich
44.664.825
88,8%
39.343.302
11,2%
18,3%
8,0%
1,1%
43,9%
12,3%
Wahlkreis Breslau
1.320.190
89,3%
1.172.229
13,3%
19,3%
7,1%
0,3%
50,2%
8,2%
Kreis Glatz
79.738
87,1%
68.903
28,8%
19,5%
4,6%
0,3%
38,6%
7,6%
Bad Altheide
2.343
81,3%
1.903
20,5%
11,4%
12,6%
0,7%
50,4%
3,5%
Reinerz
3.161
90,5%
2.851
29,5%
11,5%
11,1%
0,4%
44,0%
3,2%
Glatz
12.238
91,4%
11.130
32,3%
11,3%
6,7%
0,7%
42,8%
4,9%
Hausdorf
3.249
90,1%
2.885
14,8%
40,6%
5,0%
0,2%
26,8%
11,8%
Kunzendorf
3.131
90,1%
2.799
14,5%
36,3%
3,5%
0,0%
30,4%
14,7%
Ludwigsdorf
2.442
89,8%
2.183
30,4%
25,7%
1,4%
0,0%
22,7%
19,3%
Mittelsteine
1.415
89,5%
1.247
28,3%
11,7%
2,7%
0,2%
46,2%
10,6%
Neurode
5.672
93,4%
5.227
25,0%
20,7%
5,3%
0,2%
40,4%
7,9%
Rengersdorf
1.504
83,0%
1.233
26,9%
25,1%
2,3%
0,2%
33,7%
11,3%
Rückers
1.358
86,6%
1.172
30,8%
25,3%
1,7%
0,2%
33,2%
8,7%
Schlegel
2.471
86,1%
2.116
22,6%
37,1%
3,7%
0,2%
26,2%
9,3%
Ullersdorf
1.782
88,5%
1.567
29,5%
27,7%
6,5%
0,2%
29,7%
6,1%
Volpersdorf
1.671
87,6%
1.445
15,9%
38,1%
5,4%
0,2%
27,3%
13,0%
Wünschelburg
1.653
93,2%
1.526
38,7%
16,3%
6,3%
0,4%
36,4%
1,8%
Kreis Habelschwerdt
34.996
83,4%
29.014
28,3%
7,4%
4,7%
0,2%
54,8%
4,2%
Habelschwerdt
4.242
89,5%
3.771
31,2%
8,5%
7,8%
2,9%
41,4%
9,7%
Landeck
3.164
89,1%
2.805
28,5%
12,8%
7,0%
0,3%
48,5%
2,5%
Mittelwalde
1.674
87,0%
1.448
34,7%
6,0%
9,3%
0,3%
45,5%
3,7%
Abb: 9: Reichstagswahlen vom 5. März 1933
Reichsdurchschnitt, jedoch um 10 % höher als das bis dahin führende Zentrum. Das Anschwellen der Stimmen für die Nationalsozialisten war wohl überwiegend durch ein starkes Ansteigen der Wahlbeteiligung bedingt, die Propaganda hatte ihre Wirkung getan. Ähnlich wie im gesamten Reichsgebiet konnten SPD und Zentrum im Wahlkreis Glatz ihr Stimmenpotenzial bis auf geringfügige Verluste halten. Hitler war es also gelungen, die Unschlüssigen und zuletzt der Urne fern Gebliebenen voll und ganz für sich zu vereinnahmen. Auch im Glatzer Stadtparlament änderten sich die politischen Verhältnisse: Die Nationalsozialisten erhielten 11 und das Zentrum 10 (früher 13) Mandate.54 Auch wenn es noch nicht zur absoluten Mehrheit langte, gedachte die nationalsozialistisch geführte Regierung nun, ihren politischen Handlungsspielraum voll auszunutzen. Das Hauptpresseorgan der Grafschaft Glatz, der „Gebirgsbote,“ wurde am 18. März zum zweiten Mal auf drei Tage verboten, weil er am 9. März geschrieben hatte: Mit Umzügen, Heil Hitlerrufen und Fackelzügen schafft man kein Brot und keine Arbeit.55 Zwei Tage nach der Wahl schrieb der Glatzer Stadtpfarrer Dr. Monse unheil54 55
Vgl. Pohl (Hg.): Pfarrchronik, S. 315. ebd., S. 315.
das aufkomme n d e s n at io n a l s oz i a l is m us i n der grafschaft glatz
125
voll in seine Chronik: Überall, in den rechtsstehenden Blättern, vor allem im Radio heißt es: Der Tag der nationalen Erhebung durch Hitler ist gekommen! Die Brut des Marxismus muß ausgerottet werden und die letzten 14 Jahre waren ein Trümmerhaufen! – Gott schütze seine Kirche. Es stehen für sie, wenn nicht alles täuscht, schlimme Tage bevor.56 Aber nicht nur der Kirche, auch dem gesamten deutschen Volk und der Welt drohten unheilvolle Zeiten. Als am 23. März 1933 das Ermächtigungsgesetz mit außerordentlichen Vollmachten durch den Reichstag genehmigt worden war, gab es für die NS-Regierung keine gesetzlichen Schranken mehr, Deutschland hatte als Rechtsstaat aufgehört zu existieren.
9. Wahlen im agrarischen Milieu am Beispiel der Gemeinde Altgersdorf Stand bisher eine Analyse der Wahlen im eher bürgerlich-kleinstädtischen Bereich des Kreises Glatz und dem Arbeitermilieu in der Bergbauregion des Kreises Neurode im Blickpunkt, so stellt sich die Frage, inwieweit der agrarische Sektor der bisher aufgezeigten politischen Entwicklung bis 1933 entsprach oder ob er eine Sonderrolle im Wählerverhalten der Grafschaft Glatzer Bevölkerung einnahm. Dies soll anhand des statistischen Materials eines typischen Grafschafter Dorfes, der Gemeinde Altgersdorf, gelegen am Fuße des Bielengebirges im Kreis Habelschwerdt, untersucht werden. 1939 betrug die Einwohnerzahl 662 Personen, davon waren ca. 400 wahlberechtigt.57 Dank des örtlichen Heimatbuches sind wir recht genau über die Wahlergebnisse der Bevölkerung von Altgersdorf informiert. Das betrifft nicht nur die Reichstagswahlen seit 1920, sondern auch die jeweiligen Landtagswahlen, die Wahlen zum Provinziallandtag (inklusive Kreistag und Gemeindevertretung), die Reichspräsidentenwahlen sowie die Volksabstimmungen in der Zeit des Dritten Reiches. Erstaunlicherweise findet sich jedoch an keiner Stelle der Chronik eine politische Kommentierung einzelner Wahlergebnisse, nüchtern werden nur Angaben über die Art und den Anlass der Wahl, das Wahlbüro und die gewählten Kandidaten notiert. Bei einem Blick auf die Wahlbeteiligung in Altgersdorf fällt generell auf, dass die politische Mitgestaltung in der bäuerlichen Bevölkerung keinen vorrangigen Platz einnahm, selten überstieg die Wahlbeteiligung 60 %, andererseits nahmen an der Wahl zum Provinziallandtag 1925 gerade einmal 30 % der Altgersdorfer teil. Bemerkenswert auch die Teilnahme am Volksentscheid gegen den Young-Plan Ende 1929: In Altgersdorf wurde von 420 Abstimmberechtigten nicht eine einzige Stimme abgegeben.58 Was über die politische Eigenart der Grafschaft Glatz ausgeführt wurde, gilt zunächst auch für den Altgersdorfer Mikrokosmos: Die Gemeinde wurde durch das Zentrum dominiert, bei der Reichstagswahl von 1920 erhielt die Partei 90 % der abgegebenen Stimmen, SPD und konservative Parteien spielten nur eine Außenseiterrolle.59 Dieser Trend setzte sich bis zur Landtagswahl 1924 fort, bei der auf das Zentrum 56 57 58 59
ebd., S. 314. Vgl. Güttler: Das Glatzer Land, S. 24. Gröger/Bartsch/Hoffmann (Hg.): Heimatbuch Altgersdorf, S. 217. Zahlen aller Wahlen wurden vom Verfasser anhand des Heimatbuches Altgersdorf, S. 208 – 232, zusammengestellt und prozentual umgerechnet.
126
georg jäschke
Wahl
RT 1920
Wahlber./abg. Stimmen
368/214/211 228
LT 1921
RT 1924/1
395/211/208 394/248
RT 1924/2
LT 1924
RP 1925 PLT 2. 1925
RT 1928
LT 1928
394/246
404/132
209 50%
195
208 50%
PLT 1929
Parteien:
Zentrum
90 % 190
84,5 % 193
72,2 % 150
73,4 % 183
75,5 % Marx 186 171
50,7 % 32,7 % 33,0 % 47,9 % 67 68 69 93
SPD
9% 19
8,3 % 19
4,8 % 10
10,1 % 25
10,2 % 25
10,2 % 24,2 % 25,0 % 18,5 % 13 51 52 36
DVP
0,5 % 1
6,2 % 14
4,8 % 10
4,5 % 11
3,7 % 9
3,2 % 4
2,4 % 5
2,4 % 5
2,0 % 4
DNVP
0,9 % 2
9,6 % 20
8,9 % 22
8,5 % 21
Hindenb 65
3,2 % 4
0,9 % 2
0,9 % 2
4,1 % 8
KPD
1,9 % 4
0,4 % 1
0,5 % 1
NSDAP
0,4 % 1
0,4 % 1
0,9 % 2
0,9 % 2
1,0 % 2
DDP
0,8 % 2
1,2 % 3
0,7 % 1
0,5 % 1
Bauernpartei
17,5 % 23
10,7 % 9,6 % 23 20
Christl.-Nat. Bauernpart.
26,9 % 27,8 % 6,7 % 56 58 13
20,0 % 39
RT 1930
RP 1932 2.
LT 1932
RT 1932/1 RT 1932/2 RT 1933
LT 1933
PLT 1933
VA 1933
VA 1934
VA 1936
433/291/ 288
452/286/ 282
449/268/ 264
443/247/ 244
461/309/ 305
461/313/ 307
461/274/ 274
449/387 433/409/ 404
409
Hindenb 144
36,2 % 102
37,1 % 98
36,2 % 88
24,3 % 74
22,6 % 69
37,4 % 73
36,1 %
103
6,6 %
19
7,8 % 22
8,3 % 22
6,6 % 16
3,6 % 11
6,8 % 21
2,2 % 6
0,7 %
2
0,4 % 1
0,4 % 1
0,7 % 2
0,3 % 1
4,2 %
12
3,9 % 11
1,5 % 4
1,2 % 3
7,6 %
22
Thälm. 13
6,7 % 19
9,5 % 25
10,7 % 26
3,3 % 10
2,9 % 9
2,2 % 6
31,6 %
91
Hitler 131
44,4 % 125
41,4 % 109
43,5 % 106
68,6 % 209
68,0 % 209
64,0 % 175
JA 375
JA 389
JA 402
1,6 % 4
NEIN 12
NEIN 15
0,3 %
1
Abb. 10: Wahlergebnisse der Gemeinde Altgersdorf
das aufkomme n d e s n at io n a l s oz i a l is m us i n der grafschaft glatz
127
über 75 % der abgegebenen Stimmen fielen, lediglich eine Person im Ort stimmte für die gerade aufgekommene NSDAP. Ein Stimmungswechsel lässt sich spätestens bei der Reichstagswahl 1928 beobachten: Hier fällt das Zentrum bei einer schlechten Wahlbeteiligung von 50 % auf 32,7 % der abgegebenen Stimmen. Neu traten zwei Interessenvertretungen der Bauern an, die Bauernpartei und die Christlich-Nationale Bauernpartei, die zusammen 37,5 % der Stimmen auf sich vereinigen konnten, die Nationalsozialisten erhielten lediglich 0,9 %. Offensichtlich war die Lage in der Landwirtschaft bereits seit Mitte der 1920er Jahre in Gegenden wie der Grafschaft Glatz, die vom Boden und Klima nicht gerade bevorzugt waren, bedrohlich geworden, sodass viele Bauern ihr Zutrauen in das an der Regierung beteiligte Zentrum verloren hatten. Die seit 1929 eingetretene Weltwirtschaftskrise verschärfte die bäuerliche Situation dramatisch. Der NSDAP gelang es bei der Reichstagswahl 1930 wohl aufgrund der nahen Verbindung zur gut aufgestellten Ortsgruppe in Bad Landeck, den Einfluss der beiden Bauernparteien aufzusaugen, da sie bereits 31,6 % der abgegebenen Stimmen erhielt und nur noch knapp hinter dem Zentrum (36,1 %) lag. Die beiden Bauernparteien spielten fortan keine Rolle mehr. Hitlers Versprechungen gegenüber der Landwirtschaft, vor allem die überschuldeten Höfe zu sanieren und die Bauern zum Reichsnährstand zu erheben, zeigten in vollem Ausmaß ihre Wirkung in der zu Ende gehenden Weimarer Republik. Bei den drei Reichstagswahlen 1932/33 konnten die Nationalsozialisten in Altgersdorf ihr Ergebnis von 41,4 % über 43,5 % auf 68,6 % steigern, Landtags- und Provinziallandtagswahlen in diesem Zeitraum bestätigten diesen Trend. So zeigt das Beispiel Altgersdorf, dass die dortige Bevölkerung bereits vor der Krise der Weimarer Republik auf die Karte Hitler setzte, weil sie den etablierten Politikern angesichts der wirtschaftlichen Notlage keine Lösung ihrer Probleme mehr zutraute.
10. Fazit Am Schluss der Abhandlung sei die Frage erlaubt, wie es Adolf Hitler und seiner nationalsozialistischen Bewegung am Ende doch noch gelingen konnte, in der einst so vom Katholizismus und der Zentrumspartei geprägten Gegend die politische Oberhand zu gewinnen. War die Bevölkerung der Grafschaft Glatz am Ende gegenüber der braunen Gefahr genauso anfällig wie andere Bevölkerungsteile? Politisch muss aufgrund der Analyse der Einzelergebnisse festgehalten werden, dass die nationalsozialistische Bewegung erst nach der Machtergreifung 1933 in der Grafschaft Glatz zur führenden Kraft geworden ist. Noch 1932 mit seinen vielen Urnengängen hatte in weiten Teilen des Glatzer Landes das Zentrum bzw. im Kreis Neurode die SPD vorn gelegen, zu einem Zeitpunkt, als Teile des Deutschen Reiches bereits mit wehenden Fahnen zur NSDAP übergelaufen waren (z.B. Juli 1932 in den Wahlkreisen Ostpreußen 47,1 %, Frankfurt/Oder 48,1 %, Pommern 48,0 %, Liegnitz 48,0 %, Schleswig-Holstein 51,0 %, Osthannover 49,5 %, Chemnitz-Zwickau 47,0 %60). Dass das Zentrum bei der Märzwahl von der Stimmenzahl her gesehen nur 60
Zahlen entnommen: Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik, S. 73.
128
georg jäschke
ganz geringfügig verloren hat, deutet darauf hin, dass der Nationalsozialismus kaum Attraktion auf den relativ stabilen Block von aktiven Katholiken in der Grafschaft Glatz auszuüben vermochte. Derselbe Trend gilt übrigens in ähnlicher Form für die Arbeiterschaft im Neuroder Industriegebiet, die bei politischer Radikalisierung eher bei den Kommunisten eine Zuflucht fand. Anfällig für Hitlers Parolen dürften wohl in der Hauptsache Deutschnationale (DNVP), Konservative (DVP), Liberale (DDP) und Teile der agrarischen Bevölkerung gewesen sein. Diese Beobachtungen decken sich im Wesentlichen mit Analysen zu den Wahlerfolgen Hitlers.61 Dabei darf nicht verkannt werden, dass die Weimarer Parteien auch in der Grafschaft Glatz zunehmend an Anziehungskraft verloren hatten. Zu stark hatte sich die Not großer Teile der Bevölkerung durch die Weltwirtschaftskrise entwickelt, zu wirkungs- und hilflos waren die Mittel der verantwortlichen Politiker. Wirtschaftlich war die Grafschaft Glatz nach dem Ersten Weltkrieg zum Randgebiet geworden. Der Güteraustausch mit Böhmen und dem Sudetenland, vor allem der Kohlenabsatz, wurde von der neu gegründeten Tschechoslowakei nicht mehr zugelassen, sodass die westlichen und südlichen Absatzgebiete weggebrochen waren. Von der Osthilfe, die mehrmals zwischen 1930 und 1932 Gegenstand von Erörterungen des Reichskabinetts oder von Ministerrunden war, schien die Grafschaft Glatz nicht zu profitieren. Sie wirkte sich für Schlesien sogar verschärfend aus, worauf Reichskanzler Brüning auf einer Kabinettssitzung vom 31. Januar 1931 hinwies: Das Ergebnis war die Stilllegung der Wenzeslaus-Grube.62 Die Zukunft dieser Grube mit ca. 3.000 Bergleuten, die ganze Dörfer in der Neuroder Gegend ernährte, war mehrfach Verhandlungsgegenstand im zuständigen Reichstagsausschuss, jedoch letztlich mit negativem Ausgang. Hinzu trat im Juli 1930 noch die Tragödie im Hausdorfer Kurtschacht, die dazu führte, dass sich das Kohlerevier des Altkreises Neurode mit einer Arbeitslosigkeit zwischen 75 % und 90 % zu einem Notstandsgebiet entwickelt hatte. Diese Misere zog weitere unangenehme Folgen nach sich: In einer Art Kettenreaktion mussten weitere personalintensive Betriebe und Fabriken der Region in der Folgezeit schließen. In einer problematischen Lage befanden sich auch die kleinbäuerliche Gebirgslandwirtschaft (vgl. Altgersdorf), das Textilgewerbe sowie die Kristall- und Lederindustrie. Resümierend lässt sich festhalten, dass sich die Grafschaft Glatz durch die Weltwirtschaftskrise zu einem der wirtschaftlichen Elendsgebiete des Deutschen Reiches entwickelt hatte. In dieser Situation blieb es nicht aus, dass sich die Betroffenen nach dem Heilsbringer aus der Krise sehnten. Dies mag eine plausible Erklärung für den Erfolg Hitlers in der Grafschaft Glatz sein. Jedoch machen die Wahlergebnisse auch deutlich, dass eine beträchtliche Minderheit der Glatzer Bevölkerung den neuen Machthabern nicht traute und auch in Zukunft nicht gewillt war, sich dem Nationalsozialismus bedingungslos anzupassen.
61 62
Vgl. Winkler: Der lange Weg nach Westen, Bd. 1, München 2000, S. 491. Akten der Reichskanzlei, Regierung Brüning, Bd. 1, Dok. Nr. 233, Osthilfegesetz, S. 837.
Die Landräte der Grafschaft Glatz während der NS-Zeit Von Horst-Alfons Meißner
B
is jetzt fehlen Untersuchungen über die Entwicklung der staatlichen Verwaltung in der Grafschaft Glatz nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere über deren Hauptträger während der Zeit des NS-Regimes, die Landräte der Kreise Glatz und Habelschwerdt. Im Folgenden wird versucht, die Lücke zu schließen. Die Rolle der NS-Kreisleiter muss dabei mangels Unterlagen weitgehend unberücksichtigt bleiben.
1. Der Großkreis Glatz Nach dem Frieden von Hubertusburg 1763 hat Preußen die alte Grafschaft Glatz im Laufe der Zeit in die Kreise Glatz, Neurode und Habelschwerdt gegliedert, die unter den damaligen Verkehrsbedingungen eine untertanennahe Verwaltung garantierten. Dem Landrat, der anfangs für seine Arbeit 300 Taler im Jahr bekam, wurden ein Steuereinnehmer und zwei Landdragoner als Helfer zur Seite gestellt. Gewöhnlich kam noch ein Sekretär dazu, und das war die ganze Kreisverwaltung.1 160 Jahre später sind die Kreisverwaltungen ins Kraut geschossen. Zur Kosteneinsparung beschließt die Preußische Regierung eine Landkreisreform, der am 1. Oktober 1932 allein in Niederschlesien elf Kreise zum Opfer fallen. Der Kreis Neurode wird in seiner Gesamtheit von dem Kreise Glatz verschluckt, meldet die überregionale „Schlesische Tagespost“ am 7. August 1932. Beide Altkreisteile bilden zusammen – wie vor 18542 – einen neuen Kreis, der mit 125.000 Einwohnern und 851 km² der zweitgrößte Preußens sein soll.3 Zum Kreissitz wählt man die Stadt Glatz, das alte Zentrum der gleichnamigen ehemaligen Grafschaft. So gibt es in dem Gebirgskessel fortan nur noch die Landkreise Glatz und Habelschwerdt. Letzterer, 1816 entstanden,4 hat 56.000 Einwohner bei einer Größe von 789 km² und übersteht die Reform unverändert. Eine solche Fusion verbindet ungleiche Verwaltungsräume und wird keineswegs einhellig begrüßt. Auf dem mittelschlesischen Landkreistag am 25. August 1932 werden die Probleme der Neugliederung von den Landräten besprochen, sie sind jedoch zweitrangig gegenüber den Schwierigkeiten, die die schwere Wirtschaftskrise überall hervorruft. Die Wohlfahrtsausgaben steigen immens, die Steuereinnahmen brechen weg.5 Besonders der neue Großkreis Glatz steht vor Riesenproblemen: Er hat Ende 1932 rund 12.000 Erwerbslose, dazu einen Schuldenberg von 5.420.000 RM, der ihm 1
2 3 4 5
Schlesische Tagespost (im Folgenden: ST), 25.11.1932 und Waehner: Hirschberg (ohne Seitenangaben). Hubatsch: Verwaltungsgeschichte, S. 77. ST v. 16.12.1932. Taubitz: Habelschwerdt, S. 17, Hubatsch (wie Anm. 2), S. 65. ST v. 25.8.1932 und 21.9.1932.
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durch eine Zins- und Tilgungslast von 450.890 RM pro Jahr die Handlungsfreiheit nimmt.6 Der furchtbarste Elendsbezirk Deutschlands, tituliert die „Schlesische Tagespost“ am 8. Dezember 1932 und meint damit das Neuroder Kohlenrevier. Und noch 1936 bezeichnet Landrat Horstmann den Kreis Glatz als Grenz- und Notstandskreis.7 Selbst wenn solche Formulierungen mit Absicht drastisch sind, um Öffentlichkeitswirkung zu erzielen, werfen sie doch ein Licht auf die brisante wirtschaftliche und soziale Situation. Horstmann erklärt auch, woher der Großteil der Schulden stammt, nämlich aus dem Altkreis Neurode. Dessen früherer Landrat, Emil Schubert,8 hatte für drei Millionen RM ein Wasserwerk gebaut sowie eine Bürgschaft für die Wasserversorgung in Silberberg übernommen. Die Wassergeldeinnahmen verzinsen das eingesetzte Kapital nicht einmal zu einem Prozent. Das ist ein schweres Erbe, und deshalb erfordert der neue Kreis Glatz einen tüchtigen und erfahrenen Landrat. Am 1. Oktober 1932 wird der bisherige Landrat und Kenner des Raumes, Dr. Franz Peucker,9 für diese Aufgabe nominiert. Ganz selbstverständlich ist das nicht, hatte der Regierungspräsident Peucker doch am 23. Dezember 1931 wegen antisemitischer Entgleisungen in einem Breslauer Nachtlokal mit einer Verwarnung bestrafen müssen.10 Am 18. August 1932 verwenden sich zehn Grafschafter Gutsbesitzer, darunter v. Magnis, v. Wallisfurth und v. Münchhausen, in einem Brief an den preußischen Innenminister zu seinen Gunsten, weil sie gehört hätten, Landrat Peucker sei zur Disposition gestellt,11 aber da hatte sich Berlin bereits für Peucker entschieden. Die Gutsherren beschreiben ihn als klugen, gewandten, gefälligen Vertreter der Interessen des Kreises, der sich nur von sachlichen und parteiübergeordneten Gesichtspunkten leiten lasse und mit glänzender Beredsamkeit, persönlicher Liebenswürdigkeit sowie hervorragenden Kenntnissen ausgestattet sei. Er verfüge zudem über große Erfahrung und vielseitige Beziehungen, sodass er den Großkreis gut leiten könne. Ähnlich hatte der Regierungspräsident schon 1920 geurteilt.12 Ein Licht auf Peuckers Qualitäten wirft auch die Meldung, dass er am 6. Dezember 1932 zum Vorsitzenden des mittelschlesischen Landkreistags gewählt worden sei.13 Der Land-
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BA Berlin, R 1501, Nr. 140 674. Grenzwacht vom 25/26.1.1936. Ab 5.5.1931 Oberbürgermeister von Waldenburg, GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4496. Franz Peucker, *7.8.1881 Grünberg, 2. jur. Staatsprüfung 1912, 1913 Bürgermeister in Rössel/ Bez. Allenstein, und ab 1915 in Patschkau/Bez. Breslau, kriegszeitlich in Bad Kreuznach tätig, ab 1920 Landrat in Glatz, MdL. Das Ereignis v. 10.4.1931 führte zu monatelangen Untersuchungen. Die Presse titelte. „Ist Landrat Peucker Nationalsozialist?“ (Volkswacht für Schlesien, 14.12.1931) Oder: „Zentrumslandrat als Radauantisemit“ (Schlesischer Beobachter, 12.12.1931) – GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4478, Bl. 72–78. Brief v. 18.8.1932 an das Preuß. Staatsministerium, GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4478, Bl. 81 f. ebd. (10.9.1920). Peucker am 4.1.1933 an das Innenministerium, GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4478 und ST v. 16.12.1932.
die landräte d e r g r a f s c h a f t g l at z w ä h r e n d der ns - zeit
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tagsabgeordnete Peucker, Mitglied in zahlreichen Ausschüssen und Kommissionen,14 wird allseits geschätzt. Der Kreis Habelschwerdt hingegen bekommt einen neuen Landrat. Der seit 1922 amtierende Dr. Paul Beyer,15 der 1930 den Angestellten Hoppe wegen seiner Angriffe auf jüdische Bürger entlassen hatte,16 wird, erst 49 Jahre alt, sofort einstweilen in den Ruhestand versetzt.17 Als Nachfolger schlägt das Staatsministerium den bisherigen Neuroder Landrat Dr. Alfred Poppe vor. Den wählt der Habelschwerdter Kreistag am 22. Oktober 1932 einstimmig zum Landrat, also auch mit den zwei Stimmen der NSDAP.18 Das Kreisparlament bescheinigt Poppe, ein befähigter und besonders geeigneter Beamter zu sein. Der Innenminister hatte Poppe am 4. Mai 1931 so beurteilt: Er sei sehr gut befähigt und fleißig, er besitze gute Kenntnisse und ein Auftreten, das ihn zum Landrat eigne.19 Die Bestallung erhält Poppe am 29. November 1932. Damit haben die beiden Grafschafter Kreise fähige und landeskundige Landräte.
2. Die Zentrums-Landräte Dr. Franz Peucker (1920–1933) und Dr. Alfred Poppe (1932–1933) müssen gehen Doch wenige Monate später, am 30. Januar 1933, übernimmt Adolf Hitler die Reichsregierung und lässt mit Hilfe des Gesetzes über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 in kurzer Zeit die wichtigen öffentlichen Ämter mit Nationalsozialisten oder Leuten besetzen, die der Partei nahe stehen, auch in Glatz und Habelschwerdt. Erst eine unbedingt regierungstreue Verwaltung auf allen Ebenen garantiert Hitler die beanspruchte Handlungsfreiheit und Durchschlagskraft. Dr. Franz Peucker und Dr. Alfred Poppe, die der politischen Unzuverlässigkeit verdächtigt werden, müssen ihre Landratsposten zugunsten von Nationalsozialisten räumen. Das ist der „Dank“ für die Zustimmung des Zentrums zum Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933. Landräte in den Ruhestand versetzt, meldet die „Schlesische Tagespost“ am 3. September 1933. Auf Anordnung des Regierungspräsidenten in Breslau sind die Landräte Dr. Peucker-Glatz und Dr. Poppe-Habelschwerdt in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden. Landrat Dr. Peucker stand über zwölf Jahre an der Spitze des Kreises Glatz, während Dr. Poppe nach der Zusammenlegung der Kreise Glatz und Neurode an die Spitze des Kreises Habelschwerdt berufen wurde. Beide waren früher Mitglieder der Zentrumspartei.20 14 15
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GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4478, Bl. 50 (28.3.1924). Paul Beyer, *17.9.1883 Beuthen (O/S), kath., 1914 Gerichtsassessor, 1921 Regierungsrat, 1922 Landrat. GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4483, Bl. 184 – 194. Anfrage im Preuß. Landtag durch den NSDAP-Abgeordneten Wilhelm Kube, vgl. auch Schumacher, Reichstagsabgeordnete, S. 346. GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4483, Bl. 195 (31.8.1932). GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4483, Bl. 201 (26.10.1932). Kreistag: 23 Mitglieder anwesend: 12 Zentrum, 4 SPD, 3 Bauernpartei, 2 NSDAP, 1 KPD, 1 Wirtschaftspartei. Vgl. auch ST v. 12.11.1932. GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4483, Bl. 201 (26.10.1932) und Nr. 4496. ST v. 3.9.1933. Das Zentrum hatte sich im Juli 1933 aufgelöst. Vgl. Neubach: Ausschaltung, S. 93.
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Peucker und Poppe werden am 30. August 1933, 14.41 Uhr, per Polizeifunkspruch des Innenministers „sofort, noch heute“ beurlaubt. Der Innenminister am selben Tag in gleichlautenden Schreiben an den Ministerpräsidenten: Aus politischen Gründen ist die Abberufung des Landrats Dr. Peucker [wortgleich für Dr. Poppe] erforderlich ... 21 also ausdrücklich nicht aus fachlichen, und dahinter steht NS-Gauleiter Helmuth Brückner.22 Stadtpfarrer Dr. Franz Monse, Glatz, erwähnt die Absetzung Peuckers in der Pfarrchronik so: Landrat Dr. Peucker ist beurlaubt worden – also bemerkenswert kurz und ohne Würdigung.23 In derselben Chronik hatte er am 4. September 1931 bedauert, dass kein Laienführer der Intelligenz da ist, und über Peucker geschrieben: Der Landrat, katholisch, vom Zentrum, ist als Abgeordneter meist nie da, leider werden aber von seinen Privat- bzw. Eheverhältnissen wenig angenehme Dinge kolportiert ... Keiner der führenden Männer hat den Mut, auf den Tisch zu schlagen.24 Dr. Monse sieht die Welt aus seiner Hirtenperspektive. Er wünscht integre, gradlinige und auch kämpferische Politiker an seiner Seite, die den Weg weisen und Halt bieten. Bei dem Landtagsabgeordneten und Landrat Franz Peucker vermisst er die gesuchte Führungsstärke offensichtlich, und das ist fundamentale Kritik in chaotischer Zeit. Sie berücksichtigt nicht, dass Peucker als oberster Verwaltungsbeamter allen Einwohnern des Kreises in ihren religiösen und politischen Schattierungen verpflichtet ist – nicht allein seinen katholischen Wählern.
3. Dr. Franz Peucker unter der „Regierung der nationalen Erhebung“ Monses Unmut soll Anlass sein, Dr. Franz Peuckers Verhalten während der ersten sieben Monate der Regierung der nationalen Erhebung an drei Beispielen zu beleuchten. So lange hatten ihm die Nationalsozialisten die Weiterführung des Amtes gestattet. Vorangestellt werden muss dreierlei: −− Franz Peucker wechselt nicht in die NSDAP, um im Amt zu bleiben oder ins Amt zu kommen, wie seine westdeutschen Nachfolger Horstmann und Klosterkemper. −− Die meist katholischen Menschen seines Kreises sind in ihrer großen Mehrheit keine Nationalsozialisten. Als nach der Machtergreifung des Führers der nationalsozialistische Gedanke mit aller Macht hervorbrach, als Gräuelnachrichten 21
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GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4478, Nr. 4483. Demgegenüber Herzig/Ruchniewicz: Glatzer Land, S. 278, und leider falsch: „1934 schied der langjährige Landrat von Glatz, Dr. Peucker, aus dem Amt.” Helmuth Brückner, *1896 Peilau, Kr. Reichenbach, Kriegsteilnehmer, Lehrer, Gründer der schlesischen NSDAP (nach ST v. 28.3.1933 am 15.3.1925), Stadtrat in Breslau 1924, MdR 1930, MdL 1932, GL. Brückner wurde schon 1932 als künftiger Führer Schlesiens gelobt. (ST v. 14.8.1932). Ab 26.3.1933 Oberpräsident von Nieder-, ab August 1933 auch von Oberschlesien. Ämterverlust nach „Röhm-Putsch“ im Dezember 1934, Parteiausschluss, Haft. 1938 Arbeiter in Mecklenburg. 1945 von Russen in Buchenwald inhaftiert u. nach Weiß/Stockhorst in sowjetischen Lagern verschollen. Lt. Heimkehreraussagen am 12.1.1951 in Sibirien gestorben (Höffkes). Vgl. auch Schumacher, S.153, u. besonders: Neubach: Brückner, S. 797f. Pohl: Pfarrchronik, 5.10.1933, S. 322. ebd., 4.9.1933, S. 300.
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von Konzentrationslagern und Judenverfolgungen unkontrollierbar von Mund zu Mund gingen, ... legten sich Lähmung und Entsetzen über die Stadt ... 25 schreibt Joseph Wittig 1937 – rückblickend – über die Stimmung in Neurode, und die dürfte in Glatz oder anderen Orten des Kreises nicht anders gewesen sein. −− Die Aufbruchstimmung, die in diesen Monaten im Glatzer Land herrscht, rührt weniger vom Machtwechsel in Berlin her, als vom „Grafschafter Jahr“, dessen zahlreiche und vor 1933 geplante Großveranstaltungen – so das Historienspiel „Fridericus Rex“ in Glatz – zu einem beträchtlichen Teil Peuckers Initiative zu danken sind.26 Die NS-Bewegung schmückt sich mit diesen Federn. Peuckers Lage in diesen Monaten ist trotzdem schwierig: Er steht zwischen einer konservativ-katholischen Einwohnerschaft, die abwartet, aber auch Hoffnungen auf Hitler setzt, und einer Gruppe elanvoller nationalsozialistischer Revolutionäre und junger Sympathisanten, die Rezepte zur Wendung der wirtschaftlichen Not zu haben vorgibt und eine neue Epoche einleiten will. Aus beiden Lagern wird Peuckers Arbeit kritisch begleitet. Der Landrat des Kreises Glatz hat die vor etwa Jahresfrist ... in der Gemeinde Grunwald bei Reinerz ins Leben gerufene Freiwillige Feuerwehr wegen kommunistischer Umtriebe aufgelöst, heißt es am 30. März 1933 in der „Schlesischen Tagespost“.27 Nach dem Reichstagsbrand und aufgrund des sechs Tage zuvor erlassenen Ermächtigungsgesetzes lässt sich Peucker zum Instrument der Nationalsozialisten bei der allgemeinen Kommunistenjagd machen. Er ist bestimmt kein Freund der KPD, aber als Kenner der örtlichen Verhältnisse sicher auch nicht überzeugt von der Gefährlichkeit der Grunwalder Feuerwehrleute. Am 2. April 1933 prophezeit die „Schlesische Tagespost“: Jetzt kommen die Zentrums-Bürgermeister dran, und zwölf Tage später berichtet sie über einen SA-Handstreich unter der Überschrift: Bürgermeister zum Rücktritt gezwungen, folgendes: Gegen Mittag erschien in dem Rathause in Glatz eine SA-Patrouille und forderte den Ersten Bürgermeister Ludwig und Bürgermeister Goebel zur sofortigen Amtsniederlegung auf. Sofern sie nicht bis ein Uhr die Diensträume verlassen hätten, sollten sie in Schutzhaft genommen werden. Von der gleichen Aktion wurden ferner betroffen Oberinspektor Spallek, Inspektor Niestroj,28 Inspektor Barthel und Polizeikommissar Galonska, ferner die beiden Geschäftsführer der Allgemeinen Ortskrankenkasse, Polke29 und Teuber ... Fabrikbesitzer [Georg] Wache ... wurde in Schutzhaft genommen. Bei den Magistratsbeamten handelt es sich größtenteils um Zentrumsleute, die lange Zeit ihre Ämter innehatten. So war u. a. Bürgermeister Ludwig 25 Jahre hindurch auf seinem Posten.30
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Wittig: Chronik Neurode, S. 524. Scholz: Grafschafter Jahr 1933, in: DGG 5/1933, S. 59–61 und Fridericus-Tage in Glatz, DGG, 4/1934, S. 58. ST v. 30.3.1933. Vgl. Meißner: Polykarp Niestroj, in diesem Buch. Max Polke, Großvater des Malers Sigmar Polke (*1941 Oels, +2010 Köln), amtierte bald wieder. ST v. 14.4.1933. Herzig/Ruchniewicz schreiben fälschlich, dass die Bürgermeister „gewaltsam festgesetzt wurden.“ (Geschichte des Glatzer Landes, S. 278).
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Sturmbannführer Olscher,31 der – einer Zeitung zufolge – damit die Bevölkerung in größtes Erstaunen versetzte,32 hatte weitere Stadtangestellte beurlaubt und den Ortsgruppenleiter der NSDAP, den Fischkaufmann Köhler, kurzerhand zum Ersten Bürgermeister gemacht.33 Bürgermeister Ludwig informierte die Breslauer Regierung telefonisch und erhielt den Rat, keinen Widerstand zu leisten, keine Amtshandlungen vorzunehmen und beim Regierungspräsidenten Urlaub zu beantragen.34 Man war dort offenbar wirklich überrascht und hilflos. Der erzbischöfliche Generalvikar Dittert hingegen protestiert am 14. April 1933 per Telegramm an den Innenminister: In Glatz, Schlesien, wurden durch die SA Kommunalbeamte ihres Amtes enthoben. Regierung Breslau weiß lt. Mitteilung nichts davon. Da die besten staatserhaltenden Elemente stutzig werden und dieses Verfahren den Verfügungen der obersten Instanzen widerspricht, bitte ich ergebenst und dringend, die Sache untersuchen zu wollen.35 Fünf Tage später, als die SA-Attacke in Breslau verarbeitet ist, meldet die „Schlesische Tagespost“: Der Regierungspräsident hat im Einverständnis mit dem Oberpräsidenten die vor einigen Tagen von der hiesigen SA herbeigeführten Außerdienststellungen ... zum Teil nicht genehmigt.36 Oberpräsident ist Gauleiter Brückner, der verschiedene Zwangsbeurlaubungen rückgängig macht, weil sie ohne sein Einverständnis geschehen seien. Die Wiedereinsetzung der übrigen Bediensteten legt er in die Hand des Bürgermeisters.37 Die beiden Bürgermeister38 dürfen ihre Amtsgeschäfte wieder aufnehmen, andere von der SA aus dem Amt gejagte Beamte, so Stadtinspektor Niestroj, jedoch nicht. Bürgermeister Ludwig ist aber so geschockt, dass er unter Hinweis auf sein Herzleiden die Pensionierung beantragt.39 Die Amtsgeschäfte führt nun der zweite Bürgermeister Konrad Goebel. Das kriminelle Vorgehen der SA wird strafrechtlich nicht verfolgt, erscheint nun aber – neben Hitler40 – auch dem Preußischen Ministerpräsidenten Göring als imageschädigend, nachdem die NSDAP ihre Ziele in der Verwaltung erreicht hat. Am 28. April 1933 sieht er sich genötigt, ausdrücklich auf die polizeiliche Zuständigkeit bei Verhaftungen hinzuweisen.41 Und wie verhält sich Franz Peucker in dieser Situation, einst selbstsicherer Landrat und führender Zentrumsabgeordneter und immer noch Vorgesetzter der Polizei? 31 32 33 34 35 36 37 38
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Der Name ist in der Grafschaft unbekannt, der SA-Mann kam vermutlich von „auswärts.“ Pohl: Kirchengeschichte, Zeitungsausschnitt im Original (S. 462), S. 317. BA Berlin, R 1501, Nr. 141 420. ebd. ebd. ST v. 19.4.1933. BA Berlin, R 1501, Nr. 141 420. Franz Ludwig wird Ehrenbürger der Stadt (Einwohnerbuch, S. 208) und Namensgeber der größten Knabenschule. Den parteilosen Konrad Goebel ersetzt die NSDAP 1936 durch den sudetendeutschen „Alten Kämpfer“ Leo Schubert. BA Berlin, R 1501, Nr. 141 420. Stelbrink: Landrat, S. 366. Kreisblatt Habelschwerdt v. 11.5.1933, S. 90. (Runderlass d. PMdI v. 28.4.1933.).
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Er schweigt und beugt sich dem SA-Terror. Die Öffentlichkeit muss das Verhalten des obersten Kreisbeamten als Signal der Zustimmung deuten. Im selben Jahr unterschreibt Peucker eine Bürgschaftsurkunde des Kreises über 350.000 RM zugunsten der Wenceslaus-Grube, obwohl der Kreis hoch verschuldet ist.42 Das geschieht gegen die Bedenken des Innenministeriums auf Druck der NSDAP, die sich Peuckers auch in dieser Angelegenheit bedienen kann. Die Beispiele zeigen, dass Landrat Peucker, einst scharfer Gegner der NSDAP, den Nationalsozialisten – sicher zur Enttäuschung vieler Grafschafter – bemerkenswert weit entgegenkommt. Aber er bleibt seiner Überzeugung treu, und das kostet den langjährigen Zentrums-Politiker, der viel für den Kreis Glatz getan hat, den Landratsstuhl. Er hätte ihn sicher gern behalten. Das Fehlen unerschrockener Vorbilder aus glaubwürdig christlich-demokratischen Kreisen begünstigt das Vordringen des Nationalsozialismus in der Grafschaft, denn das Vakuum füllen Hitlers Anhänger. So ist das frühe Unbehagen des Stadtpfarrers nachvollziehbar. Dr. Franz Peucker wird als Regierungsrat an das Oberpräsidium in Münster abgeschoben, ja fast verbannt und stirbt am 24. Januar 1936, erst 54 Jahre alt.43
4. Die nationalsozialistischen Landräte des Kreises Glatz Dr. Artur Joachim (1933–1934) Wen aber setzen die Nationalsozialisten, in Berlin und Breslau inzwischen an den Schalthebeln der Macht, an Franz Peuckers Stelle an das Lenkrad des problematischen, ganz überwiegend katholischen Großkreises? Innenminister Göring beordert noch am 30. August 1933 den Juristen Dr. Artur Joachim nach Glatz – im Einvernehmen mit dem Oberpräsidenten und Gauleiter Helmuth Brückner und dem Regierungspräsidenten Dr. Georg Kroll.44
Allgemeinbildung, Studium und politische Orientierung Artur Joachim kommt am 23. Januar 1906 in Breslau zur Welt. Er ist katholisch, besucht zunächst eine Privatschule und dann das Matthias-Gymnasium seiner Heimatstadt bis zum Abitur 1925. Anschließend studiert er Rechts- und Staatswissenschaften in Breslau, macht 1929 Examen und promoviert zum Dr. jur. Nach der weiteren Ausbildung legt er am 4. August 1933 die zweite Juristische Staatsprüfung ab und wird zum Assessor ernannt. Schon 1924, mit 18 Jahren, engagiert sich Joachim in der Nationalsozialistischen Deutschen Freiheitsbewegung und wechselt 1925 zur NSDAP. Seit dieser Zeit ist er 42 43
44
Vgl. Meißner: Wenceslaus-Grube, in diesem Buch. Hinweis auf Tätigkeit in Münster, in: DGG 1/1934, S. 15, und Todesanzeige, in DGG 2/1936, S. 31. Dr. Georg Kroll, *15.5.1888 Gr. Grauden, Kr. Cosel, 2. jur. Staatsprüfung 1922, Finanzexperte, NSDAP-Mitgl., Regierungspräsident in Breslau 1.6.1933–1945. Vgl. Stockhorst, S. 252, und GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4479.
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auch Mitglied der SA. 1926/27 wird er Staffelführer der neu gegründeten SS in Breslau und ab 1932 Rechtsberater der Standarte 11. Von 1925 bis auf den heutigen Tag gehört er ununterbrochen der NSDAP an, schreibt Dr. Schellen vom Innenministerium am 10. Januar 1934 empfehlend.45 Joachim ist demnach trotz seiner Jugend ein „alter Kämpfer,“ in den die Partei große Hoffnungen setzt.
Landrat Dr. Artur Joachim im Spiegel der Pfarrchronik Einige Äußerungen über den neuen Landrat stammen wieder von Stadtpfarrer Monse in der Pfarrchronik: Landrat Dr. Peucker ist beurlaubt worden. An seine Stelle tritt Dr. Joachim aus Breslau, der soeben sein Gerichtsassessorexamen bestand. Er wird als überzeugter Katholik geschildert.46 Ein 27-jähriger, unerfahrener Neuling in den Problemkreis Glatz, fragen sich sicher die Kenner des Raumes. Fehlen den neuen Machthabern die geeigneten Männer? Dabei ist die Einsetzung des jungen Assessors und Altnationalsozialisten sicher kühl kalkuliert. Die Maßnahme soll die verunsicherten Glatzer auf die Seite der ungeliebten Partei bringen. Ein guter Katholik kann auch überzeugter und führender Nationalsozialist sein – das ist wohl die Botschaft. So beobachtet der Stadtpfarrer den neuen Landrat skeptisch und erwartungsvoll zugleich. Am 29. November 1933 hält er in seiner Chronik fest: Am 14. November fand hier auf dem Ringe eine Lutherfeier statt ... Alle Angriffe unterblieben in anerkennenswerter Weise. Ob das nicht eine Folge mehrerer Reden des neuen Landrats Dr. Joachim ist, der erklärte, er würde gegen Störungen des konfessionellen Friedens mit allen Mitteln vorgehen?47 Das stimmt hoffnungsvoll trotz aller unangenehmen Erfahrungen mit den Nationalsozialisten. Von anderer Seite, fährt er kritischer fort, hört man freilich, diese Warnung bezöge sich auf die katholische Geistlichkeit. So kam der Landrat mit seiner Wirtin ... auf die hiesigen konfessionellen Verhältnisse zu sprechen. Er soll ... abgewinkt haben mit dem Bemerken: Ich weiß Bescheid! ... Jedenfalls vermutet man Beeinflussung des (katholischen) Landrats durch protestantische Kreise.48 Auch der Pfarrer hat seine Zuträger. Er befürchtet ein Zusammenwirken von Protestanten und Nationalsozialisten zu Lasten der katholischen Kirche. Was er von den Nationalsozialisten erwartet, vertraut er seiner Chronik nach dem Wahlsieg der NSDAP am 5. März 1933 an: Gott schütze seine Kirche. Es stehen für sie, wenn nicht alles täuscht, schlimme Tage bevor.49 Monse sieht und hört die Signale, ahnt aber so wenig wie die meisten Deutschen, was die Nationalsozialisten wirklich vorhaben. Zum Gelöbnisfest des Franz Xaver, einem großen Ereignis in Glatz, müsste Dr. Monse aus Tradition zu einem Essen einladen, doch notiert er am 3. Dezember 1933, ein Vierteljahr nach Joachims Dienstantritt: Der neue Landrat hat noch nicht Besuch 45 46 47 48 49
GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4479, Bl. 24f. (19.1.1934). Pohl: Pfarrchronik, 5.10.1933, S. 322. ebd., 29.11.1933, S. 323f. ebd., S. 324. ebd., 7.3.1933, S. 314.
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gemacht. Und zur feierlichen Prozession bemerkt er: Der Landrat nahm in brauner Hitlerkleidung teil.50 Der Pfarrer kann Joachim nicht einordnen. Immerhin respektiert der neue Landrat die kirchlichen Traditionen des Landes, wenn auch in einem ideologischen Spagat. Selbstverständlich ist das religiöse Bekenntnis für einen hohen NS-Funktionär mit Goldenen Parteiabzeichen ja nicht. Schon vier Monate nach Dienstantritt, im Januar 1934, wird Dr. Artur Joachim abberufen. Der junge Mann hat seine Rolle gespielt, z. B. bei der NS-Orientierung der Gemeindevertretungen. Pfarrer Monse ist das keine Eintragung mehr wert. Aber die Kreisbauernschaft Glatz richtet am 24. Januar 1934 ein Telegramm an den preußischen Innenminister: Wir bitten dringendst, Landrat Dr. Joachim in unserem Grenz- und Notkreis zu belassen, da gerade er befähigt war, in dieser Zentrumshochburg alle Gegensätze zu überbrücken und eine Umbesetzung nur den begonnenen Wirtschaftsaufbau hemmen könnte. Ein Vermerk auf einem weiteren Telgramm, in dem sich Bürgermeister Josef Goebel, Bad Reinerz, für Joachim verwendet,51 nennt den Verursacher des Wechsels: Die Versetzung des Ass. Joachim von Glatz nach Grünberg ist von Oberpräsident Brückner beantragt und vom Staatssekretär genehmigt.52 Dem Gauleiter geht es zuerst um die Festigung der Macht in Schlesien, dann erst um das Wohl der Kreise. Dr. Joachim scheint trotz seiner Jugend in Glatz erfolgreich und ausgleichend, jedenfalls nicht als Scharfmacher, sondern als Werber für die Partei gewirkt zu haben. Das spricht für seine Fähigkeiten. Die Telegramme zeugen vom Interesse an der wirtschaftlichen Gesundung des Kreises und davon, dass die Autoren die Manöver der NSDAP nicht verstehen und nicht billigen.
Von einem Kreis zum anderen ins Reichsministerium des Innern Der weitere Werdegang weist aus, dass Artur Joachim ein qualifizierter Beamter und geschätzter Parteigenosse ist. Er wird Landrat in Grünberg und wechselt Ende 1939 in gleicher Funktion nach Hirschberg. Am 1. November 1941 wird Joachim ins Reichsinnenministerium berufen53 und zum Ministerialrat und Leiter der Abteilung für Politische Beamte befördert.54 Die Abordnung des Oberregierungsrats Dr. Schmidt-Berger von Hohensalza ans Landratsamt Glatz am 30. November 1944 trägt seine Unterschrift.55 Der Alt-Parteigenosse Joachim überlebt das „Dritte Reich“ im Ministerium und ist am 21. Februar 1990 im Siegerland gestorben.56
50 51
52 53
54 55 56
ebd., 3.12.1933, S. 325. GStA Berlin, PK I HA Rep. 77 Nr. 4479. Dr. Josef Goebel, Zentrum, wurde laut ST v. 26.10.1934 wg. staatsfeindlicher Gesinnung beurlaubt. ebd. Hubatsch: Verwaltungsgeschichte, S. 151, und Waehner, Kreis Hirschberg (ohne Seitenangaben). Stelbrink: Landrat, S. 117. BA Berlin, R 1501, Nr. 140 675. Auskunft Dr. Helmut Neubach, Zornheim bei Mainz, am 4.3.2011.
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Dr. Georg Horstmann (1934–1936) Aus politischen Gründen ist eine Änderung in der Verwaltung der Landratsämter in Glatz, Frankenstein und Grünberg erforderlich. Ich bitte deshalb, zuzustimmen, dass dem Regierungsrat Dr. Horstmann, der bisher das Landratsamt in Frankenstein komm. verwaltet hat, die kommissarische Verwaltung des Landratsamtes in Glatz, dem Landrat Dr. Ercklentz57 in Grünberg die kommissarische Verwaltung des Landratsamtes in Frankenstein und dem Gerichtsassessor Dr. Joachim, der bisher das Landratsamt Glatz ... verwaltet hat, die kommissarische Verwaltung des Landratsamtes in Grünberg ... übertragen wird. Die Lebensläufe ... sind beigefügt, schreibt der Innenminister am 19. Januar 1934 an den Preußischen Ministerpräsidenten.58 Der erklärt sich ergebenst damit einverstanden.59 Die Fäden zieht wieder Oberpräsident und Gauleiter Brückner, der sich bei diesem Revirement mit keinem anderen Gauleiter abstimmen muss. Wer ist Dr. Georg Horstmann?
Allgemeinbildung, Kriegsteilnahme und Studium Georg Leopold Horstmann60 wird am 23. Mai 1894 in Bielefeld als Sohn des Arztes und Sanitätsrats Dr. Bernhard Gottfried Horstmann geboren und ist evangelischer Konfession. Nach dem Abitur an einem Bielefelder Gymnasium studiert er von 1912 bis 1919 Geschichte und Jura und promoviert 1920 in Münster zum Dr. jur. Von 1914 bis 1919 nimmt er als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teil. Während der juristischen Ausbildung vertritt Horstmann 1921 den Bürgermeister von Xanten und wird von der belgischen Besatzungsmacht wegen Gehorsamsverweigerung zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, kann sich der Strafe jedoch entziehen. Die Vorgesetzten bescheinigen Horstmann, ein guter, umsichtiger Beamter zu sein.
Einsatz in den östlichen Provinzen Preußens Nach der zweiten Staatsprüfung wechselt Horstmann in die Ostprovinzen Preußens und arbeitet als Regierungsassessor am Landratsamt Rathenow, Bezirk Potsdam, danach an der Regierung und am Oberpräsidium in Schneidemühl, wo er 1928 zum Regierungsrat befördert wird. Regierungspräsident Friedrich v. Bülow beurteilt ihn 1929 so: Er sei ein vortrefflich bewährter Verwaltungsbeamter mit reichem, gediegenem Wissen, sehr guter Veranlagung und gutem Takt. Horstmann sei eine frische, tatkräftige, äußerst fleißige und anstellige Persönlichkeit und in der Dienstführung vorzüglich. Er eigne sich als Hilfsarbeiter in einem Ministerium oder als Landrat.61 57 58 59 60
61
Dr. Hermann Ercklentz, *1876 Mönchengladbach, seit 1917 Landrat in Grünberg. GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4479, Bl. 21/22. ebd. LA NRW, BR PE 634 und GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4479, Bl. 22, Romeyk: Verwaltungsbeamte, S. 543. LA NRW, BR PE 634, 7.4.1929.
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In Schneidemühl findet er auch sein privates Glück: 1925 heiratet er Hildegard Henriette Eilenfeldt, Tochter eines Mühlenbesitzers aus Schönlanke bei Schneidemühl und von Beruf Lehrerin. Ein Teil ihrer Familie lebt noch in Polen, und vor Horstmanns Ernennung zum Glatzer Landrat fordert das Innenministerium in einem Schnellbrief den Nachweis der arischen Abstammung seiner Frau.62 Das Paar hat eine Tochter. Aus der Grenzmark Posen-Westpreußen wird Horstmann zum 2. Januar 1931 nach Schlesien an das Oberpräsidium in Breslau versetzt. Das Innenministerium ordnet ihn nach Oppeln ab, wo er dem Regierungspräsidenten am 21. November 1932 seinen Dienstantritt als kommissarischer Polizeipräsident anzeigt. Die neuen Machthaber beenden die ehrenvolle Beauftragung jedoch am 31. März 1933, und Horstmann kehrt nach Breslau zurück.63
Eintritt in die NSDAP und Wechsel in die Kreisverwaltung Horstmann ist seit 1919 Mitglied der Deutschen Volkspartei (DVP),64 zu deren Gunsten er sich auch in Schneidemühl betätigt. Nach Hitlers Regierungsantritt beantragt er am 5. April 1933 die Aufnahme in die NSDAP – vielleicht ein Ergebnis der Entpflichtung in Oppeln. Die Mitgliedschaft Nr. 1.939.617 gilt ab dem 1. Mai 1933.65 Konjunkturritter nennt Göring diese „Neu“-Nationalsozialisten verächtlich,66 die so ungeniert den persönlichen Vorteil verfolgen. Aber das neue Regime bedient sich der nach Tausenden zählenden Mitläufer, um sich zu stabilisieren – und weil es die Fachleute zur Verwaltung des Landes braucht. Horstmann gehört außerdem der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), dem NS-Beamtenbund und dem Roten Kreuz an. Am 17. Oktober 1933 überträgt ihm das Innenministerium das Landratsamt in Frankenstein,67 ordnet ihn jedoch bald darauf ins 24 Kilometer entfernte Glatz ab, wo Dr. Horstmann am 30. Januar 1934 seinen Dienst antritt und wo er am 1. Mai 1934 endgültig zum Landrat ernannt wird. Der Bestallung geht ein Befähigungsbericht des Regierungsvizepräsidenten v. Scheller voraus, der Horstmann vermutlich von Schneidemühl her kennt. Danach ist der komm. Landrat ein befähigter Beamter von gewandten Umgangsformen. Seine Dienstführung sei voll befriedigend. Das ursprüngliche gut ist durchgestrichen. Horstmann eignet sich, endgültig in sein Amt berufen zu werden,68 heißt es weiter.
62 63 64
65 66 67 68
ebd. ebd. Gründer Gustav Stresemann, Partei d. Industrie u. des gebildeten Bürgertums, oft Regierungspartei. LA NRW, BR PE 634. Hattenhauer: Beamtentum, S. 377. Romeyk und Hubatsch: Verwaltungsgeschichte, Bd. 12a, S. 150. LA NRW, BR PE 634 (30.3.1934).
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Landrat in Glatz Der Stadtpfarrer erwähnt das wichtige Ereignis nicht in der Pfarrchronik, obwohl er sicher Zeuge der Amtseinführung Horstmanns war, macht dort aber am 3. Dezember 1934 folgenden Eintrag: Nach drei Jahren gab der Pfarrer wieder ein Mittagessen, an dem außer dem Bürgermeister jene Herren teilnahmen, die beim Pfarramt Besuch gemacht hatten (ein pensionierter Schulrat, ein Rechtsanwalt, drei Ärzte, ein Apotheker, ein Regierungsrat, der neue Gymnasialdirektor, der Landrat und der Redakteur sowie der Geschäftsführer der nationalsozialistischen „Grenzwacht“).69 Leider macht der Pfarrer keine Angaben über die Gesprächsthemen. Der neue Landrat hat Probleme mit Nebentätigkeitsvergütungen, die ihm der Regierungspräsident zweimal auf Horstmanns Bitte ausnahmsweise überlässt, einmal sogar nach persönlicher Rücksprache, obwohl sie den erlaubten Höchstbetrag übersteigen. Am 24. September 1934 muss der Regierungspräsident an den Landrat schreiben: Ich stimme Ihrem Eintritt in den Aufsichtsrat der Wenceslaus-Grube unter der Voraussetzung zu, dass ... Ihnen für diese Nebentätigkeit eine Vergütung nicht gewährt wird.70 Am 1. April 1936 beträgt Horstmanns Jahresgehalt 8.880 RM – das Achtfache des Lohnes eines Neuroder Kumpels. Georg Horstmann bilanziert seine Arbeit in der Glatzer NS-Zeitung „Grenzwacht“ 1936 unter der Überschrift: Auch im Kreise Glatz geht’s wieder voran.71 Bei der Übernahme der Staatsgewalt durch den Führer befand sich der Kreis Glatz ... kurz vor dem finanziellen Zusammenbruch, schreibt er. Es sei nicht mehr möglich gewesen, die eingehenden Rechnungen zu bezahlen. Die Arbeitslosenunterstützung habe an der ersten Stelle des Kreishaushalts gestanden. Durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sei die Zahl der Arbeitslosen von 12.000 im Jahr 1932 auf 2.800 Personen am 1. Oktober 1935 gesunken. Die Wenceslaus-Grube beschäftige wieder 950 Bergleute, rund 80 Kilometer Straßen seien neu gebaut oder saniert, 375 ha Land drainiert und abgelegene Dörfer ans Verkehrsnetz angeschlossen worden. Dabei sei es dem Nationalsozialismus auch gelungen, die Arbeitsmoral zu heben. Die Leistungen der Verwaltung seien an der Verringerung des Haushaltsdefizits von 648.000 RM am 1. April 1934 auf 175.000 RM am 1. April 1936 zu erkennen. Ähnlich verhalte es sich mit den Schulden des Kreises, die sich in derselben Zeit von 3.056.000 auf 2.726.000 RM reduzieren ließen. Die Zahl der Beschäftigten der Kreisverwaltung habe man von 121 auf 108 Personen verringern können. Alles in allem hat der Kreis Glatz ein gutes Recht, mit Befriedigung auf die seit der Regierungsübernahme durch Adolf Hitler vergangenen drei Jahre zurückzublicken, schließt Horstmann.72 Und das sehen wohl auch viele Grafschafter so. Die Tatkraft der Nationalsozialisten, auch die Horstmanns, schafft Arbeit und gibt den oft sehr armen Gebirgsbauern wirtschaftliche Sicherheit73 – und das überzeugt die Menschen. Nach drei Jahren 69 70 71 72 73
Pohl: Pfarrchronik, 3.12.1934, S. 330. LA NRW, BR PE 634. Grenzwacht v. 25/26.1.1936. ebd. Hasler: Erinnerungen, S. 35.
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Aufbauarbeit deutet sich deshalb ein Einstellungswandel in der Bevölkerung zugunsten der Nationalsozialisten an. Am 18. März 1933 hatte der Glatzer „Gebirgsbote“ die Skepsis der Grafschafter noch so ausgedrückt: Mit Umzügen, Heil Hitlerrufen und Fackelzügen schafft man kein Brot und keine Arbeit – und war dafür zum zweiten Mal verboten worden.74 Horstmann war kein fanatischer Nationalsozialist. Als der Amtsvorsteher von Tassau, Fritz Hasler, 1935 sein Amt, das er schon 45 Jahre lang bekleidete, zur Verfügung stellen wollte, habe der Landrat ... ihn ... gebeten, auf seinem Posten zu bleiben, auch wenn er nicht in die Partei eintreten würde, schreibt sein Enkel Ernst Hasler 2007.75 Aus Horstmanns Verhalten im Fall Felix Rose wissen wir, dass er Gesetze und Verordnungen auch zu Gunsten diskriminierter jüdischstämmiger Bürger auslegt, aber auch, dass er bei neuen Gesetzen und in brisanten Fällen Rückendeckung bei den Fachbeamten der Regierungsbehörde in Breslau sucht.76 Die Macht im Kreis ist nämlich schon geteilt, der Dualismus zwischen herkömmlicher staatlicher Verwaltung und NSDAP-Kreisleitung im Aufbau mit dem Ziel, den Verwaltungsbeamten vor allem in Personalfragen die dienende Rolle zuzuweisen.77 Starker Mann im Kreis ist nicht mehr der Landrat, sondern schon NS-Kreisleiter Friedrich Kittler, mit dem das NSDAP-Mitglied Horstmann aber offenbar gut zusammenarbeitet.78
Versetzung nach Opladen Trotzdem wird Horstmann schon am 16. November 1936, da ist er nicht einmal drei Jahre in Glatz, nach Opladen an das Landratsamt des Rhein-Wupper-Kreises abgeordnet und dort nach Zustimmung des Gauleiters wieder zum Landrat ernannt. Damit schließt sich sein beruflicher Kreislauf durch Deutschland. Nach Teilnahme an der Besetzung der Resttschechoslowakei wird der Hauptmann der Reserve vom Wehrdienst freigestellt und vertritt eingezogene Kollegen im Bezirk. Dr. Georg Horstmann stirbt, erst 46 Jahre alt, am 20. November 1940 in Düsseldorf nach einer Gallenoperation.79 Den Weggang des tatkräftigen Mannes aus Glatz kommentiert Stadtpfarrer Dr. Monse am 17. Februar 1937 so: Der hiesige Landrat Dr. Horstmann wurde in derselben Eigenschaft nach Opladen (Westen) versetzt. Obwohl Dr. H. Protestant war, waren die Beziehungen zu ihm sehr gut.80 Das ist Lob aus kritischer Feder und beweist, dass zwischen Landrat und Stadtpfarrer ein gedeihlicher Austausch stattfand. 74 75 76 77 78
79 80
Pohl: Pfarrchronik, 18.3.1933, S. 315. Hasler: Erinnerungen, S. 36. Vgl. Meißner: Felix Rose, in diesem Buch. Stelbrink: Landrat, S. 368. Friedrich Kittler, *26.7.1899, wurde am 10.4.1938 in der Führerliste zur Wahl des Großdeutschen Reichstags vorgeschlagen – erfolglos. Für großes Ansehen in Glatz spricht das nicht. Im BA Ludwigsburg war nichts über ihn zu erfahren. (Hattenhauer: Beamtentum, S. 382, u. Stockhorst: Köpfe, S. 233). LA NRW, BR PE 634. Pohl: Pfarrchronik, 17.2.1937, S. 346.
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Warum aber der Wechsel nach so kurzer Amtszeit in Glatz? Es scheint so, dass Landrat Rudolf Murray, Opladen, Bezirk Düsseldorf, der Auslöser für den erneuten Landratswechsel ist. Am 25. Februar 1936, gerade ein Jahr an der Kreisspitze, schreibt er nämlich, er habe die Freude an seinem Amt verloren. Er gibt es ab, um möglichst rasch wieder in die Unabhängigkeit und in die sachliche Arbeitsweise der staatlichen Kulturbauverwaltung zurückzukehren.81 Das lässt tief blicken. Der Düsseldorfer Regierungspräsident Schmid82 drängt am 10. September 1936 das Innenministerium zur Neubesetzung: Hauptsache ist ... dass der Rhein-Wupper-Kreis baldigst ... wieder einen qualifizierten Landrat erhält und schreibt noch einmal am 24. Oktober: Die besonders schwierigen Verhältnisse in diesem ... Landkreis erfordern unverzügliche und aussichtsvolle Lösung der Landratsfrage.83 Das Innenministerium schlägt den Landrat Dr. Georg Horstmann, Glatz, für die Stelle im Einvernehmen mit Gauleiter Wagner84 vor, der dem Kandidaten ein außerordentlich gutes Zeugnis ausgestellt hat – und das sicher in bestimmter Absicht, denn Landrat Klosterkemper, Unna, soll dafür nach Glatz gehen. Der Oberpräsident und Gauleiter der Rheinprovinz, Terboven,85 schließt sich dem Vorschlag des Kollegen Wagner an, doch die Gauleiter Grohe86 (Köln/Aachen) und Florian (Düsseldorf)87 präsentieren einen eigenen Kandidaten namens Heinekamp.88 Das viermonatige Tauziehen zwischen vier Gauleitern, dem Innenministerium und Regierungspräsident Schmid, in dem auch Landrat Klosterkemper aus Unna für Opladen ins Spiel gebracht wird,89 endet mit dem Sieg Terbovens und Wagners und dem folgenden Ringtausch: Dr. Horstmann wird am 16. Dezember 1936 von Glatz nach Opladen abgeordnet, Heinrich Klosterkemper von Unna nach Glatz und Dr. Grotjan90 von der Regierung Arnsberg nach Unna. 81 82
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GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4612. Murray war seit dem 1.1.1935 Landrat in Opladen. Schmid, Carl Christian, *9.5.1886 Osnabrück, + 6.4.1955 Werther. MdR, NSDAP ab 1.5.1932, Mai 1933 Regierungspräsident in Düsseldorf, 1937 Parteiausschluss wg. jüdischer Ehefrau. Am 10.11.1938 in der Wohnung bedrängt, bat er am 11.11.1938 um Beurlaubung. (Schumacher: Reichstagsabgeordnete, S. 495). GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4612. Josef Wagner, *12.1.1899/Lothringen, Kriegsteilnehmer, Lehrer, 1927 Entlassung wg. NSDAPZugehörigkeit, MdR u. GL Westfalen-Süd 1928, ab 12.12. 1934 auch GL v. Schlesien nach Absetzung Brückners. Ämterverlust Ende 1940, Parteiausschluss. Nach Weiß Hinrichtung am 21.4.1945 wg. Nähe zum Kreis d. 20. Juli 1944. Nach Höffkes am 2.5.1945 im KZ Sachsenhausen v. Russen erschossen. (vgl. Höffkes, Stockhorst, Weiß). Terboven, Josef, *23.5.1898 Essen, +8.5.1945 Oslo (Selbstmord), NSDAP 1923, MdR, GL Essen 1928, 1935 Oberpräsident d. Rheinprovinz, Reichskommissar Norwegen (Weiß: Lexikon und Schumacher: Reichstagsabgeordnete, S. 577). Grohe, Josef, *6.11.1902 Gemünden, + 3.1.1988 Köln. NSDAP 1922, GL Köln/Aachen 1931, Stadtrat Köln, MdL, MdR, Reichskommissar Belgien/Nordfrankreich. (Weiß, S. 165 f.) Florian, Friedrich, *4.2.1894 Essen, + 24.10.1975 Mettmann, MdR, (Schumacher, S. 219). GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4612 (Opladen). Innenministerium per Schnellbrief v. 20.10.1936 an Terboven, GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4612. Hans Grotjan, Dr. rer. pol., *13.7.1897 Köln, NSDAP 1.5.1933, Regierungsrat am 1.11.1933, Mai 1934 Reg. Arnsberg. GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4479, Bl. 44 f.
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Heinrich Klosterkemper (1937–1945) So bekommt der Problemlandkreis Glatz mit Heinrich Klosterkemper aus Unna den dritten Landrat innerhalb von vier Jahren. Stetigkeit sieht anders aus. Klosterkemper tritt die Stelle am 16. Januar 1937 an und wird den Kreis bis zum 30. September 1941 leiten, länger als die vorangehenden NS-Parteigenossen, und de jure ist er Landrat bis 1945. Werdegang und Arbeit des letzten Glatzer Landrats sollen hier genauer beleuchtet werden.
Allgemeinbildung und Studium Heinrich Joseph Elisabeth Klosterkemper wird am 16. Dezember 1902 in Osnabrück als Sohn des Oberregierungs- und „Departementstierarzts“ Dr. Heinrich Klosterkemper geboren.91 Den Schulbesuch in seiner Heimatstadt beendet er 1922 mit dem Abitur. Im Fragebogen zum Entnazifizierungsverfahren bekennt Klosterkemper 1948: Mein Vater ... bestimmte mich, die Laufbahn eines höheren Verwaltungsbeamten einzuschlagen und die Stellung eines Landrats zu erstreben. Ich sah darin mein Lebensziel.92 Damit bietet er den Schlüssel zu seinem Berufsleben während der NSZeit, denn an diesem Lebensziel hält er unter allen Umständen fest. Klosterkemper studiert Jura und Volkswirtschaft in Freiburg und Göttingen und besteht die Erste juristische Staatsprüfung 1926. Er schließt sich dem katholischen Studentenverband CV an, der durch ein Netz von Beziehungen karriereförderlich ist. Die Zweite juristische Staatsprüfung legt er 1929 in Berlin ab.93
Parteibeitritt in Unna – „im allgemeinen Widerstand gegen die Partei“ Klosterkemper wird 1930 in Wiedenbrück in den Staatsdienst eingestellt und ein Jahr später nach Unna versetzt, wo der Regierungsassessor am 1. April 1934 als Nachfolger Wilhelm Tengelmanns die so begehrte Bestallungsurkunde zum Landrat erhält.94 Klosterkemper hat sein Lebensziel mit 32 Jahren erreicht und die Bestimmung seines Vaters erfüllt. Der Erfolg ist zu der Zeit undenkbar ohne Mitgliedschaft in der NSDAP, doch ist ihr Zustandekommen bei den Parteigenossen umstritten, und undurchsichtig finden sie auch, auf welchem Weg Klosterkemper Landrat in Unna geworden ist. Ihren Beifall findet diese Besetzung des Landratsstuhls offenbar nicht, sie machen Klosterkemper Schwierigkeiten und verunsichern den jungen Mann.
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BA Berlin, R 1501, Nr. 128 114 und DA Osnabrück, Kirchenbuch OS Nr. 01-01/114, Bl. 93, Nr. 543. StA OS, Rep. 980, Nr. 7660, Bl. 3. BA Berlin, R 1501, Nr. 128 114. Lilla (S.195) u. Stelbrink, Landrat, (S.428) verleihen Klosterkemper irrtümlich d. Doktortitel, den er weder erworben hat noch führt, vgl. Todesanzeige, LA NRW, NW Pe 7486. StA MS, (Oberpräsidium), Nr. 7429, Bl. 14.
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Gleich nach Amtsantritt95 werden die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Parteimitgliedschaft des neuen Landrats vom stellvertretenden Kreisleiter vor das GauGericht Schwelm getragen: Klosterkemper soll ... durch besondere Vermittlung Aufnahme in die Partei gefunden haben ... nach der Aufnahmesperre ... durch den Landrat Tengelmann. Klosterkemper soll ... ohne Zustimmung des Gauleiters Landrat in Unna geworden sein. Vor der Machtergreifung soll er als Zentrumsmann stets Gegner der NSDAP gewesen sein. Aus persönlichen Feststellungen in Unna habe ich den Eindruck, als ob Kl. heute noch ... um seine Stellung fürchte ...96 Laut beigefügtem Fragebogen trat Klosterkemper am 31. September 193397 in die NSDAP ein und erhielt die Mitgliedsnummer 3 283 194. Der zentrumsnahe Klosterkemper hatte nach der Märzwahl 1933 nämlich erkannt, dass sein Lebensziel nur noch über die NSDAP zu erreichen war und beantragte den Parteibeitritt am 1. Mai 1933.98 Solche Beamte nennt der Volksmund spöttisch „Märzgefallene“ in Anspielung auf die Gefallenen des Berliner Aufstands vom März 1848.99 Stelbrink spricht von „Mai-Juristen“,100 gilt doch der Antragstag als Aufnahmedatum. Die Parteimitgliedschaft ist satzungsgemäß, bestätigt die NSDAP-Reichsleitung, München, sie wurde durch den Gauleiter befürwortet, 101 der ihn demnach stützte. Nach dem Krieg schreibt Klosterkemper: Ich habe [in Unna] aus meiner ablehnenden Einstellung zum Nationalsozialismus keinen Hehl gemacht ... Später fühlte ich mich verpflichtet, den Antrag um Aufnahme in die NSDAP zu stellen. Ich gab damit nicht dem Druck nach, der damals auf die Beamten ... ausgeübt wurde ..., sondern ich folgte meinem Gewissen, das mich verpflichtete, meine Tätigkeit im öffentlichen Dienst, die ich erlernt hatte und zu der ich mich berufen fühlte, und meinen Einfluss zum Wohle der Beamten und Angestellten und der Kreisbevölkerung nicht einem hergelaufenen NSDAP-Mitglied zu überlassen. Ich habe diesen Schritt nur aus dieser inneren Verpflichtung heraus getan ... entsprechend dem Rat von Antifaschisten ... und zwar im allgemeinen Widerstand gegen die Partei.102 Das klingt nach dem Lied vom braven Mann und verrät ein schlechtes Gedächtnis. Denkwürdig ist nicht der Parteibeitritt, den viele Beamte zur Stellensicherung betreiben,103 sondern allein, dass ihn Klosterkemper nach dem Krieg ungeniert als Widerstandsakt ausgibt. Der langjährige Reichstagsabgeordnete des Zentrums, Franz Bornefeld-Ettmann, Wadersloh, rückt das zurecht: Klosterkemper habe ihm erzählt, dass er unter dem Druck der Verhältnisse der NSDAP beigetreten sei. Als ich meine Verwunderung darüber ausdrückte ... erklärte er mir, dass er, um seine Stellung zu halten, diesen Schritt habe tun müssen ...104 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104
Am 2. Juli 1934 BA Berlin, VBS 254/Oberstes Parteigericht, II. Kammer, 2417. Das falsche Datum, von Klosterkemper eingetragen, wird fortan durch die Akten geschleppt. StA OS, Rep. 980, Nr. 7660. Hattenhauer: Beamtentum, S. 377. Stelbrink: Landrat, S. 43. BA Berlin, VBS 254, 13.7.1934. StA OS, Rep. 980, Nr. 7660, Bl. 3 und 7. Jeserich: Verwaltungsgeschichte, S. 1083. StA OS, Rep. 980, Nr. 7660.
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Klosterkempers Parteibeitritt hat demnach berufliche Gründe. Die Parteigenossen hält er dienstlich wie gesellschaftlich auf Distanz,105 und es spricht viel dafür, dass ihm die „hergelaufenen“ NS-Revolutionäre, die vielfach aus kleinen Verhältnissen stammen und oft rüde auftreten, schlicht zuwider sind. Er wird deshalb auch nicht in der SA aktiv, wie Parteikreise erwarten, sondern im elitären Deutschen Luftsportverband Unna (DLV), der seinen Angaben nach 1935 im Nationalsozialistischen Fliegerkorps (NSFK) aufgeht und ihn bereits 1935 zum Sturmführer ernennt.106
Ernennung Klosterkempers zum Landrat in Unna Die beiden einflussreichen Männer, die Klosterkemper zur Berufung ins Spitzenamt des Kreises Unna verhelfen können, sind Josef Wagner, Gauleiter Westfalen-Süd, und Wilhelm Tengelmann, Führer der NSDAP im Kreis Unna,107 NS-Landrat und Vorgesetzter Klosterkempers, inzwischen aber in leitender Stellung im Innenministerium mit besonderer Nähe zum preußischen Ministerpräsidenten Göring. Beide Männer hat entzweit, dass Tengelmann Gauleiter Wagner 1932 mangelnden „Schneid“ vorgeworfen haben soll, den Saustall Westfalen-Süd auszumisten.108 Nach den Recherchen ist sicher, dass Tengelmann von Berlin aus die Fäden zieht und – an Wagner vorbei – rasch vollendete Tatsachen schafft, um seinen Favoriten ins ersehnte Amt zu bringen. Der vermutliche Grund? Tengelmann erstritt gleich nach Hitlers Regierungsantritt als Bergassessor und Nichtjurist den Landratsposten in Unna, wozu ihm Polizeidezernent Klosterkemper am 31. Januar 1933 durch geschicktes Management der Polizei verhalf.109 Danach unterstützte er Tegelmann fachlich, und die Zusammenarbeit führte wohl zu gegenseitiger Wertschätzung. Bei der Verfolgung seines Ziels geht der umtriebige Tengelmann mit Vorschriften und mit der Wahrheit augenscheinlich locker um. So behauptet er unrichtig, dass mit Klosterkempers Ernennung auch die Bewegung im Kreis einverstanden sei.110 Der zuständige Regierungspräsident in Arnsberg, v. Stockhausen,111 erklärt später: Als ... Landrat Tengelmann ... zum ... Staatsministerium beurlaubt worden war, erhielt ich überraschend schnell den Ministerialerlass vom 27.9.1933, nach dem Klosterkemper ... die Verwaltung des Landratsamtes in ... Unna übertragen wurde. Da der Herr Minister über Klosterkemper vor der ... [endgültigen] Bestellung keine Auskunft und keinen Bericht angefordert hatte, war für mich eine vorherige Fühlungnahme mit dem Herrn Gauleiter ... nicht möglich.112 105 106
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ebd., Allnoch, Fitzner, Appelt. ebd. In den Akten fälschlich NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahrerkorps). Die Dienstränge entsprechenden denen der SA. GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr, 4439, Bl. 277. Rennspieß/Stelbrink: Göring und Tengelmann, S. 67. ebd., S. 66 f. Die NS-Leute in Unna gewannen dadurch die Oberhand gegenüber demonstrierenden SPD- und KPD-Anhängern. GStA Berlin, PK I HA Rep.77, Nr. 4439, Bl. 267,272, 275. v. Stockhausen, Arnsberg, Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), ein Jahr im Amt GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4439, Bl. 275–277, 22.8.1934.
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Als das Ministerium am 16. Dezember 1933 vom Kreisausschuss einen Vorschlag zur Wiederbesetzung des Landratsstuhls in Unna erbittet, benennt der einstimmig den kommissarischen Amtsverwalter Klosterkemper auch unter Hinweis auf dessen Verdienste um die NSDAP im Kreis Unna,113 wie die Stellungnahme eines Kreisausschussmitglieds zeigt: Auch ... Landrat Tengelmann wies in einer Ansprache darauf hin, dass durch die aufopfernde Arbeit des Herrn Assessors die reibungslose und schnelle Machtergreifung der N.S.D.A.P. im Kreis möglich gewesen ist. Ein Lob, dass seine Arbeit ja am besten kennzeichnet.114 Regierungspräsident v. Stockhausen115 ist offenbar verwundert über die Methoden und äußert sich zu dem Vorgang und Klosterkemper so vage, dass der Oberpräsident seine „Stellungnahme“ irritiert mit der Bemerkung quittiert: Ich glaube Ihrem Bericht ... entnehmen zu sollen, dass die Ernennung des ... Dr. Klosterkemper zum Landrat befürwortet wird, bitte aber um Bestätigung116. Die kommt in knappster Form am 17. Januar 1934, und Klosterkemper wird endgültig Landrat.117 Die anrüchige Ernennung ruft den von Tengelmann ausgespielten Gauleiter Josef Wagner auf den Plan, von dem es heißt, er habe in den ersten Jahren der NS-Herrschaft nahezu unumschränkt die Personalpolitik seines Gaus bestimmt.118 Er erhebt als politisch verantwortlicher Gauleiter im Preußischen Staatsministerium Einspruch gegen Klosterkempers endgültige Einweisung und verlangt dessen Abberufung zugunsten eines wirklichen Nationalsozialisten.119 Wagner beginnt formal: Der Regierungspräsident habe versäumt, vorher seine Stellungnahme einzuholen, und Wagner möchte die neuen Gesetze und Regelungen – dem überwundenen System gegenüber – beachtet wissen, weil im nationalsozialistischen Deutschland persönliche Beziehungen in dieser Hinsicht keine Rolle spielen … dürfen.120 Dann wird er inhaltlich, indem er – sprachlich unbeholfen – Klosterkempers Eignung in Zweifel zieht: Der Mann ist in keiner Weise der Situation gewachsen und liegt ... mit sämtlichen Gliederungen der NSDAP … in Gegensatz. Klosterkemper wird nie nationalsozialistisch werden, weil ihm die inneren Voraussetzungen zu dieser Möglichkeit fehlen.121 Wagner ergänzt, dass die sämtlichen Dienststellen der Bewegung des Kreises Unna die Berufung … nicht verstehen können … [weil Klosterkemper] gegenüber der NSDAP eine Stellung einnahm, die es ihm für alle Zeiten unmöglich macht, sich das Zutrauen der Bewegung im Kreis zu gewinnen.122 Der Gauleiter schreibt auch, dass ... seitens des ... Tengelmann nicht ... fair gehandelt wurde ... Persönlich nehme ich gegen den ...Landrat Klosterkemper nicht Stellung. Es sei 113 114
115 116 117 118 119 120 121 122
ebd., Bl. 271 KA Unna, Klosterkemper, Ernennung zum Landrat, 30.12.1933, Kreisausschussmitglied Peter Schnittger. Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und ca. ein Jahr im Amt. StA Münster, Oberpräsidium, Nr. 7429, Bl. 12. ebd., Bl. 13,14. Zum “Doktortitel“ vgl. Anm. 95. Stelbrink: Landrat, S. 27. Am 12.5.1934 – GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4439, Bl. 271. ebd. Stellungnahme des Gauleiters geregelt durch Rundeerlass vom 29. Mai 1933. GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4439, Bl. 271. GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4439, Bl. 279/280, 29.8.1934.
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jedoch im Interesse des Klosterkemper selbst ..., wenn derselbe ... in eine andere Landratsstelle berufen wird.123 Die Versetzung in ein unbedeutendes Amt verlangt er nicht. Regierungspräsident v. Stockhausen faßt auf Anfrage zusammen: −− weder aus Verwaltungs- noch aus politischer Sicht gebe es Bedenken gegen Klosterkempers Amtsführung, −− kreisbekannt sei seine Zentrumsnähe vor 1933 und ein daraus resultierender Unmut bei Parteigenossen. −− Eine Persönlichkeit von überdurchschnittlichem Ausmaß ist Klosterkemper nicht. Über einen ... Mangel in der Sicherheit des Auftretens und der Entscheidung wird ... geklagt. −− Er schließt: Meine Auffassung ist die, dass eine sofortige Abberufung des Klosterkemper aus politischen Gründen zur Zeit nicht erforderlich ist.124 Das Innenministerium schließt den Fall ab und vermerkt am 25. September 1934: Die Angelegenheit habe ich ... mit W.[agner] besprochen. Kl.[osterkemper] kann bleiben.125
Klosterkemper als Landrat in Unna Nach meiner Ernennung zum Landrat 1934 hatte ich erbitterte Kämpfe mit Parteidienststellen und führenden Nationalsozialisten, die mir vorwarfen, dass ich kirchlich gebunden sei [und] dass ich mit der Partei nicht zusammen arbeite, schreibt Klosterkemper 1948.126 Ein Foto führt er als Beweis für die Differenzen und seinen Widerstand an. Es zeigt ihn, als er, in Zivil inmitten vieler Uniformierter, bei einer Feier in Unna nicht die Hand zum Hitlergruß erhoben hat.127 Dazu Stelbrink: Unter den Landräten sei nur eine kleine Zahl autorisierter Uniformträger gewesen. Bekleidet mit „Gehrock und Zylinder“, stand die Mehrzahl von ihnen bei öffentlichen Anlässen im Schatten der uniformierten Vertreter der Partei, der SA und SS.128 Und in solchem Schatten wollte Klosterkemper offenbar nicht stehen, wenn man einer Erklärung folgt, die Bürgermeister Hohendahl, Unna, nach dem Krieg zu Klosterkempers früher „Sturmführer“-Funktion abgibt. Die Mitgliedschaft im NSFK sei geschehen, um ... zu einer Uniform zu kommen, ohne die damals ein Auftreten in der Öffentlichkeit kaum möglich war.129 Mehr über den Landrat und die Situation in Unna erfahren wir anlässlich Klosterkempers Abschied von dort. Trotz der erbitterten Kämpfe bescheinigen sich Klosterkemper und Kreisleiter Heinrich Meinert gegenseitig gutes Einvernehmen. Wenn ihm das Scheiden von Unna nicht ganz leicht falle, so sei das ... zurückzuführen auf die ganz vorzügliche, reibungslose Zusammenarbeit ... ganz besonders auch 123 124 125 126 127 128 129
ebd., Bl. 281, 19.9.1934. ebd., Bl. 275–277. GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4439, Bl. 282. StA OS, Rep 980, Nr. 7660. ebd. Stelbrink: Landrat, S. 94. StA OS, Rep 980, Nr. 7660. Hohendahls Zeugnis ist entlastend gemeint.
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[mit] dem Kreisleiter der Partei ... Insbesondere dankte er dem Kreisleiter Parteigenossen Meinert für die ganz besondere Unterstützung bei der Beseitigung verschiedener Schwierigkeiten. Er sei als Landrat ... seinen geraden Weg gegangen, hätte aber nichts erreichen können, wenn er nicht ... die ... Unterstützung des Kreisleiters gehabt hätte. Das ist eine merkwürdige Mischung aus Angepasstheit und Stolz, und zwischen den Zeilen liest man, dass der Kampf zwischen Landrat und Kreisleiter um die Vorherrschaft im Kreis schon zugunsten des letzteren entschieden ist. Kreisleiter Meinert beurteilt die Zusammenarbeit denn auch verhalten, fast wie ein Vorgesetzter des Landrats: Als Verwaltungsfachmann und als Parteigenosse habe der ... Landrat immer seine volle Pflicht getan. Die Zusammenarbeit mit der Kreisleitung der Partei sei deshalb auch stets gut gewesen.130 Offenbar reduzierte Klosterkemper seine Arbeit131 auf eine peinlich korrekte Verwaltung, um weniger Anstoß zu erregen und seinen Posten zu sichern – und das markiert eine Rückzugslinie. Er hat die Rollenbeschneidung sicher als demütigende Niederlage erlebt, denn in einer Rede vor Untergebenen betont er, wie unter Rechtfertigungszwang, dass der Regierungs-Präsident in Arnsberg ihm für seine erfolgreiche Arbeit ... herzlich gedankt und ihn beauftragt habe, in Schlesien im gleichen Sinne zu arbeiten wie hier.132
„Zwangsversetzung“ nach Glatz Am 18. Januar 1937, knapp drei Jahre nach der Ernennung zum Landrat in Unna, wird demnach ein im Selbstverständnis erschütterter Heinrich Klosterkemper 700 Kilometer quer durch Deutschland ans Landratsamt in Glatz umgesetzt – oder abgeschoben? Dort spekulieren die Mitarbeiter sogleich über den Grund. Dem neuen Landrat ging bei seinem Amtsantritt in Glatz der Ruf voraus, dass er in ... Unna schwere Zerwürfnisse mit der Partei gehabt habe und ... dieserhalb nach Glatz versetzt worden sei ..., schreibt Oberinspektor Allnoch 1946.133. Der „Westfälische Anzeiger“ vom 9./10. Januar 1937 begleitet den Wechsel so: ... Landrat Klosterkemper [scheidet] aus der Verwaltung des Kreises Unna aus, um auf eigenen Wunsch mit der ... Verwaltung des Kreises Glatz in Schlesien ... betraut zu werden ... Klosterkemper ist ... ein überaus korrekter Beamter und als Verwaltungsfachmann von vorbildlichen Eigenschaften ... Aufrecht und peinlich korrekt ...134 Die Begründung für die Veränderung paart sich mit einem zwiespältigen Lob, ist doch die Hervorhebung von Klosterkempers Stärke gleichzeitig die Umschreibung seiner Niederlage im Kampf mit dem Kreisleiter, denn reiner Verwaltungsmann konnte und wollte ein Landrat zu keiner Zeit sein. 130 131
132 133 134
KA Unna, Westfälische Landeszeitung v. 11.1.1937. Zu seiner Arbeit gehörte Ende 1933 die Auflösung des KZ Bergkamen-Schönhausen im Auftrag des Innenministeriums unter Verschleppung vieler Gefangener in andere Lager. (Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Bergkamen, Abruf: 25.4.2011). KA Unna, Westfälische Landeszeitung v. 11.1.1937. StA OS, Rep. 980, Nr. 7660 (Allnoch). KA Unna, Westfälischer Anzeiger v. 9/10.1.1937.
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Das Versetzungsgesuch vom 14. August 1936 an den Regierungspräsidenten ist kurz: Unter Bezugnahme auf die mündlichen Besprechungen bitte ich, meine Verwendung als Landrat eines anderen Kreises bei dem Herrn Minister zu beantragen. Heil Hitler!135 Der neue Regierungspräsident Ludwig Runte beleuchtet in einem Bericht ans Innenministerium vorsichtig den Hintergrund. Klosterkemper habe auf wiederholt ausgesprochenen Wunsch des Gauleiters Wagner den Antrag gestellt, ihn anderweitig zu verwenden, mit der ... Bitte, ihm wieder ein Landratsamt zu übertragen. Er habe sich den Aufgaben in Unna gewachsen gezeigt, und deshalb bestünden keine Bedenken, ihm wieder einen bedeutenden Kreis anzuvertrauen. Auch in politischer Hinsicht soll gegen Landrat Klosterkemper ... nichts Nachteiliges gesagt werden. Landrat Klosterkemper hatte aber von vornherein bei seiner Arbeit mit Schwierigkeiten zu rechnen, da er insbesondere den alten Parteigenossen ... nicht genehm war. Landrat Klosterkemper ist selbst überzeugt, dass er sich mit Rücksicht auf die politischen Hemmnisse nicht so entfalten konnte, wie es für den Landrat eines so großen und schwierigen Kreises erwünscht ist.136 Die Genossen geben keine Ruhe, Klosterkemper resigniert, gedrängt von Wagner, will aber Landrat bleiben – gleich wo. Die „Westfälische Landeszeitung – Rote Erde,“ Kampfzeitung des Gaues Westfalen-Süd, meldet am 11. Januar 1937 unter der Überschrift: Landrat Klosterkemper nahm Abschied. Wie wir schon ... berichteten, hat der Minister des Innern ... Landrat Klosterkemper ... die Verwaltung des Kreises Glatz in Niederschlesien anvertraut ... In seiner Abschiedsrede sagte Klosterkemper: Durch das Vertrauen des Gauleiters Wagner sei er als Landrat des größten und schönsten Kreises in Niederschlesien berufen.137 Josef Wagner, Gauleiter in Westfalen-Süd und seit dem 12. Dezember 1934 auch in Schlesien, kann Klosterkemper anlässlich des Ringtauschs in Unna aus der Schusslinie nehmen und ihm einen Neustart im Großkreis Glatz ermöglichen. Selbstverständlich ist das nicht. Im Entnazifizierungsverfahren 1948 äußert Klosterkemper: Die damals noch im Ministerium zum Teil tätigen alten Fachbeamten hielten mich [in Unna], aber Ende 1936 hatten diese Parteileute ihr Ziel trotz meiner ... anerkannten beruflichen Leistungen erreicht, ich wurde Anfang 1937 aus politischen Gründen aus meiner Heimat heraus „in den Osten“ nach Glatz versetzt, wo ich vom 18.1.1937 bis 15.6.1940 amtierte.138 Dort arbeitet er, im Gegensatz zu diesen Angaben, nach der Entlassung aus der Wehrmacht nachweislich noch bis zum 30. September 1941.139 Klosterkemper hatte sich in Unna aus beruflichem Ehrgeiz mit den Nationalsozialisten eingelassen. 1948 nennt er Wagners Maßnahme, die ihm die gesuchte zweite Chance eröffnet, eine Zwangsversetzung140 aus politischen Gründen und macht sich 135 136 137 138 139
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GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4439, Bl. 288. StA Münster, Oberpräsidium, Nr. 7429, 17.8.1936. KA Unna. StA OS, Rep. 980, Nr. 7660. Am 25. Juli 1941 unterschreibt er ein Dokument für Bad Kudowa. Vgl. Gerald Doppmeier in diesem Buch, S. 321. StA OS, Rep. 980, Nr. 7660.
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als Parteigenosse und früher beruflicher Nutznießer der NS-Bewegung, den die Ungereimtheiten seiner Bestallung trotz gerühmter Korrektheit nicht störten, zu deren Opfer. Auch die Versetzung „in den Osten“ hat der elitäre Westfale offensichtlich als Demütigung empfunden, wobei die beträchtliche Gehaltsaufbesserung vielleicht Trost bot. In Unna betrug sein Bruttojahressalär 7 400, in Glatz 9 000 RM.141 Ein Glatzer Zeitzeuge beschreibt Klosterkemper als jungen, aber sachlichen Nazi.142 Ein Mitglied seiner Gefolgschaft hält fest: Nicht unerwähnt lassen möchte ich den dienstlichen Verkehr mit K., der sich ... vornehm-sachlich, wenn auch kurz und bündig abwickelte ....143 Der Glatzer Öffentlichkeit wird Klosterkemper in aller Form als neuer Leiter des Kreisamts vorgestellt: Am Mittwoch, dem 3. März 1937, wurde ... Landrat Klosterkemper in Anwesenheit des Gauleiterstellvertreters Bracht 144 durch den Herrn Regierungspräsidenten Dr. Kroll, Breslau, feierlich in sein Amt eingeführt,145 und Stadtpfarrer Dr. Monse war sicher unter den Gästen.
Kirchenaustritt in Glatz – „rein privater Natur“ Heinrich Klosterkemper ist katholisch. Er heiratet am 8. Februar 1938 in Paderborn Ilse Haumann, evangelischer Konfession und aus Bonn stammend,146 und hat vier Kinder mit ihr. Die werden getauft, wie Klosterkemper nach dem Krieg zum Beweis seiner christlichen Gesinnung ausdrücklich betont.147 Das legt nahe, einen Blick auf die religiöse Einstellung des neuen Landrats zu werfen, der den Kreis Glatz mit seinem katholisch geprägten Widerstand in entscheidender Zeit verwaltet, den der Stadtpfarrer aber – anders als die Vorgänger – in der Pfarrchronik niemals namentlich erwähnt, und das muss Gründe haben. Die folgenden Zitate entstammen Erklärungen früherer Mitarbeiter, allesamt keine Parteimitglieder, die sie 1946/1947 auf Klosterkempers Bitte hin für das Entnazifizierungsverfahren in der Absicht abgeben, den einstigen Chef und vormaligen NSParteigenossen vom Vorwurf der Verstrickung in die NS-Ideologie und -Politik zu entlasten. Auch wenn Zeitgenossen solche Zeugnisse abfällig Persilscheine nennen, sind sie doch zeitnah verfasste Quellen für die Geschichte des Glatzer Landes. Willi Biermann, Leiter des Kreiswohlfahrts- und Jugendamtes, bescheinigt Klosterkemper für die Zeit in Unna: ... sein öffentliches religiöses Bekenntnis durch seine regelmäßigen sonntäglichen Besuche des Gottesdienstes ... waren uns Stütze und stärkten uns Beamte ...148 141 142 143 144
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ebd. Mitteilung Herrn Haslers, 28.3.2009. StA OS, Rep. 980, Nr. 7660. Fritz Bracht, *7.5.1896, Heiden/Lippe, NS-Kreisleiter in Altena, ab 2/1941 Oberpräsident u. GL v. Oberschlesien (Stockhorst: 5000 Köpfe, S. 74). Notiz unter „Persönliches,“ in: DGG, 32. Jg., 3/1937, S. 48. Die Ernennungsurkunde erhält Klosterkemper am 24. 7.1937. DA Osnabrück, Kirchenbuch OS 01-01/114, Bl. 93, Nr. 543. StA OS, Rep. 980, Nr. 7660. ebd.
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Zur Amtszeit im katholischen Glatz heißt es bei Franz Teschner: In religiösen Fragen war Landrat Klosterkemper tolerant eingestellt und hinderte keinen an der Ausübung seiner kirchlichen Pflichten.149 Das klingt schon anders. Theodor Appelt, Oberinspektor im Glatzer Kreisamt, ergänzt: Er hat, obwohl selbst kein sogenannter Kirchengänger, trotzdem stets alle kirchlichen Belange ... gefördert.150 Klosterkemper nennt in diesem Zusammenhang ausdrücklich das große Krankenstift Scheibe am Glatzer Stadtrand,151 die Hilfe scheint dem Stadtpfarrer aber entgangen zu sein. So beginnt die Distanzierung von der katholischen Kirche offenbar mit der Versetzung nach Glatz, und sie endet dort 1938 mit Klosterkempers Kirchenaustritt. Nach dem Krieg äußert er sich so dazu: Ich hatte meinen Austritt aus der katholischen Kirche ... keiner Partei- oder Staatsstelle jemals gemeldet, damit ja niemand auf die Idee kommen könnte, ich folge damit einer politischen Einstellung ... Der Grund war rein privater Natur ...152 Das ist nicht auszuschließen, aber schwerlich zu glauben, denn Klosterkemper weiß sicher, dass seine Partei einen Spitzel im Glatzer Pfarrhaus hat, den Rendanten und Parteigenossen Paul Wilhelm, und über alles im Bilde ist, was dort geschieht oder bekannt wird.153 Den Kirchenaustritt registriert seine Partei deshalb sicher als verstecktes Zugeständnis in der Absicht, belastender Kritik die Spitze zu nehmen und so den Landratsposten zu sichern.154 In seltsamem Schlingerkurs lässt er aber am 29. August 1940 seinen Sohn taufen.155 Parteiorgane hätten die katholische Bevölkerung sehr oft angegriffen, berichtet Artur Grieger nach dem Krieg,156 aber Belege dafür, dass Klosterkemper NS-Gegnern aus Kirchenkreisen beigestanden hätte, sind bis jetzt nicht aufgetaucht. Das und der Kirchenaustritt erklären vielleicht die auffällige Zurückhaltung des Pfarrers.157
Der Glatzer Landrat Klosterkemper im Spiegel der Entnazifizierungszeugnisse Die Quellenlage erlaubt nicht, näher auf Klosterkempers landrätliche Tätigkeit in Glatz einzugehen, die in eine bewegte Zeit fällt. Zu nennen wären Ereignisse wie −− das verheerende Sommerhochwasser 1938 und die Koordinierung der Hilfe, −− die Angliederung des Sudetenlandes am 1. Oktober 1938, bei der die Grafschaft Aufmarschgebiet ist, −− die Reichspogromnacht im November 1938, der die Glatzer Synagoge zum Opfer fällt, 149 150 151 152 153 154 155 156 157
ebd. ebd. ebd., Bl. 7. ebd. (23.10.1948). Hirschfeld: Prälat Monse, S. 56. Der Kollege und “alte Kämpfer” Richard Spreu tritt erst 1941 aus der Kirche aus. StA OS, Rep. 980, Nr. 7660. ebd. Vgl. aber Anm. 168 (Teller).
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−− der Kriegsbeginn am 1. September 1939 und −− die endgültige Schließung der Wenceslaus-Grube im Oktober 1939. Zu Beginn seiner Amtszeit in Glatz setzt sich Klosterkemper sehr für den Kreisoberinspektor Wilhelm Allnoch, Leiter des Hauptbüros, ein, der zum Ersatz des Schadens verurteilt wird, den der Angestellte W. U. durch Unterschlagung angerichtet hat. Allnoch wird mangelhafte Aufsicht vorgeworfen, und es soll späterhin von einer Inanspruchnahme des Allnoch abgesehen werden.158 Klosterkemper begründet sein Eintreten für den fleißigen und gewissenhaften Mitarbeiter mit dessen Überlastung. Der Defektenbeschluss wird am 23. August 1937 aufgehoben und Allnoch nicht entlassen, er verliert aber sein herausgehobenes Amt. Die Mitarbeiter des Kreisamts nehmen Klosterkempers Fürsorge sicher mit Beifall auf. Nebenbei wird aus dem Schriftverkehr deutlich, dass das Landratsamt Glatz schon seit Landrat Peucker unter Personalmangel leidet und die Anfälligkeit der jungen Angestellten für Unterschlagungen ihre Ursache in zu geringer Besoldung hat. Nach Abzug der Sozialbeiträge bleiben ihnen monatlich 90 – 100 RM,159 weniger als Neuroder Bergleuten. Die Personalsituation verschärft sich mit Beginn des Krieges, und die Kreisakten des Berliner Bundesarchivs belegen Klosterkempers Kampf um die Beseitigung vieler Personalengpässe, zumal neue Aufgaben zu bewältigen sind. Auch Ältere und Fachfremde, NS-Gegner und sogar straffällig gewordene Menschen muss er für eingezogene Fachkräfte einstellen, doch hat die Verwaltung hier wie anderswo selbst im Chaos der Endphase des NS-Reiches funktioniert.160 1939 beantragt Klosterkemper auf Weisung des Innenministeriums während der Schließungsphase der Wenceslaus-Grube bei der Reichsknappschaft die Freistellung seines Kreises von der Bürgschaftsverpflichtung in Höhe von 350.000 RM, die Kollege Franz Peucker 1933 auf Druck der NSDAP eingegangen war. Klosterkemper tut das sehr entschieden unter Hinweis auf die damaligen Interessen der Partei und die fortbestehende Notlage des Kreises Glatz. Wir erfahren, dass das Hochwasser 1938 Schäden in Höhe von 7 Millionen RM verursachte und die Entlassung der Mölker Bergleute einen jährlichen Kaufkraftverlust von 1,6 Millionen Mark bedeutete.161 Im Übrigen ist man hinsichtlich Klosterkempers Amtsführung in Glatz vornehmlich auf die Entlastungszeugen des Entnazifizierungsverfahrens angewiesen, die seine Reaktionen auf die oben genannten Ereignisse aber gänzlich aussparen. Dennoch sind die Persilscheine für die Einschätzung der Glatzer Verhältnisse zu dieser Zeit nicht ohne Wert. Von den 18 Entlastungszeugnissen stammen zehn von Personen aus Glatz, darunter acht von ehemaligen Bediensteten des Landratsamts, nun allesamt aus Schlesien 158 159 160
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GStA Berlin PK I HA, Rep 77, Nr. 4480, S. 208–303 (29.9.1936–23.8.1937). ebd. Ein Beispiel: Die „Reichspostdirektion Breslau, z. Zt. Hirschberg (Riesengeb.)“, versetzt Albert Meißner, Glatz, 70 Jahre alt, per Verfügung vom 24. 2. 1945 wegen dauernder Dienstunfähigkeit nach § 73/78 des Deutschen Beamtengesetzes mit Ablauf des 31. Mai 1945 in den Ruhestand ... Die Entlassungsurkunde wird Ihnen später zugehen, heißt es abschließend – fast wie zu Friedenszeiten. (Archiv Meißner/Hornig). BA Berlin, R 1501, Nr. 140 675, 7. u. 8.2.1939.
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vertrieben, und ein Zeugnis kommt von einer Engländerin, der Klosterkemper bei Kriegsausbruch zur Heimkehr verhilft und die Internierung erspart. Die Erklärungen werden zeitnah vom 6. Juni 1946 bis 7. September 1947 verfasst. Franz Teschner, im Kreis Rosenberg O/S wegen Differenzen mit der NSDAP zusammen mit seinem Landrat Strzoda des Amtes enthoben, doch 1935 in Glatz im Gemeindeprüfungsamt wiederverwendet, schreibt: Landrat Klosterkemper hat sein Amt stets recht und gerecht sowie sauber und objektiv verwaltet ... Diese unpolitische Art der Verwaltungsführung und die Tatsache, dass sich Landrat Klosterkemper von der Kreisleitung nicht in seine Zuständigkeiten hineinreden ließ, brachte ihm schließlich die Ablehnung der Partei ein ...162 Regierungsoberinspektor Wilhelm Allnoch äußert: Herr Klosterkemper war bei ... Dienstantritt in Glatz bereits Parteigenosse. Seine ... Gefolgschaft gewann aber ... den Eindruck, dass er kein Parteimitglied aus Überzeugung war ... Seine stets unpolitische objektive, gerechte und saubere Amtsführung brachte ihm viele Feinde bei der Partei. Es war stadtbekannt, dass Herr Klosterkemper ... mit der Parteikreisleitung in Differenzen lag.163 Alfred Fitzner, Leiter des Kreiswohlfahrtsamts, in einem Gerichtsverfahren 1938 der staatsfeindlichen Einstellung geziehen, berichtet, Klosterkemper habe ihn trotzdem im Amt gehalten. Der Landrat habe 1940 auch einen aus der Partei ausgeschlossenen kriminellen Rechtsanwalt aus Mitleid in das Kreisamt aufgenommen. In einer Ortsgruppenleiter- und Bürgermeisterversammlung musste sich Landrat Klosterkemper wegen dieses Falles von dem Kreisleiter beschimpfen lassen ... 164 Bei Parteiveranstaltungen ist Herr Klosterkemper nicht hervorgetreten, höchstens, wenn es den besonderen Umständen nach nicht zu umgehen war, schreibt Kreisoberinspektor Theodor Appelt.165 Ilse Teller, Kindergärtnerin im Kreiskinderheim Karlsberg, Heuscheuer, führt aus, dass sich Klosterkemper in keiner Weise im Sinne der NSDAP hervorgetan habe. Als NSV-Gauamtsleiter Saalmann nach einer Besichtigung die Entfernung der Kreuze aus Schlaf- und Speisesälen anordnete, habe Klosterkemper nach Rücksprache mit der Heimleiterin, Thea Rothmund, entschieden, die Kreuze hängen zu lassen und die NS-Gegnerin Rothmund nach Übernahme des Kreiskinderheims durch die NSV im Kreisamt beschäftigt.166 Übereinstimmend und überraschend wortähnlich loben die Entlastungszeugen Klosterkempers unparteiische und saubere Amtsführung, die an Unna erinnert, und vermerken seine Distanz zur NSDAP. Neu in Glatz ist die Betonung des Gegensatzes zu Kreisleiter Friedrich Kittler, der wohl auch Züge persönlicher Antipathie und Rivalität trägt. Der Landrat weiß aus Unna, was das bedeutet und hält den Konflikt unterhalb der Entlassungsschwelle. 162
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StA OS, Rep. 980, Nr. 7660. Strzoda, Paul, Landrat 1922–1933, vgl. Der Spiegel. Nr. 48, 25. 12. 1953 ebd. (Allnoch). ebd. (Fitzner). ebd. (Appelt). ebd. (Teller).
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Kittler ist den Glatzer Landräten gegenüber politisch und organisatorisch im Vorteil, weil er die Kreisleitung der NSDAP als Parallelorganisation zur staatlichen Verwaltung über Jahre hinweg stetig führen und ausbauen kann, während die Landräte wechseln und sich immer wieder neu einarbeiten müssen. Kittler beansprucht, und offenbar erfolgreich, z. B. die Dominanz auf dem Gebiet der Personalpolitik, und so müssen Zuständigkeitsfragen auf diesem Terrain auch in Glatz zu Kämpfen zwischen Landrat und Kreisleiter führen, wie anderswo auch im Reich.167 Nein, Kreisleiter, das ist und bleibt ein Recht des Landrats, das ich mir unter keinen Umständen nehmen lasse, wird Klosterkemper zitiert.168 Er ist in der Defensive. Trotz Aufbäumens führt der Weg zu einer teuren Arbeitsteilung zwischen Kreisleiter und Landrat, in der ersterer das Feld der wichtigen personellen und politischen Entscheidungen beansprucht, d. h. die Führerschaft im Kreis, während dem Landrat nur die reine Verwaltung bleibt. Der Krieg verschleiert die Problematik dieser systembedingten und für alle Landräte unerfreulichen Entwicklung.169 Nach den Erfahrungen in Unna scheint Klosterkemper trotz des Konflikts die Unterordnung aber zu akzeptieren, wie die Fälle des „Halbjuden“ Felix Rose und des Altparteigenossen Steiner belegen,170 und deshalb ist die Zusammenarbeit mit dem Kreisleiter vielleicht reibungsloser, als die Entlastungszeugen sie nach dem Krieg beschreiben. Zur erhofften „Entfaltung“ Klosterkempers kommt es somit auch in Glatz nicht. Hugo-Ernst Issmer, während Klosterkempers Landratstätigkeit Mitarbeiter der Glatzer NSV und damit der NS-Kreisleitung, nennt die von Klosterkemper geprägte Kreisbehörde bürokratisch engstirnig.171 Issmer flüchtet bei Kriegsende nicht und wird von den Polen monatelang schwer gefoltert. Die Entnazifizierungskommission stuft den ehrlichen und einsichtigen Mann aber als „Mitläufer, Kategorie IV“, ein und verbaut ihm nach Folter und Vertreibung den Weg in den öffentlichen Dienst, während sie Klosterkemper völlig entlastet. Nach Paul Bochnig172 wäre Fachkompetenz und Rückzug auf die reine Verwaltungsarbeit, mithin ein neues Amtsverständnis, eine Erklärung dafür, dass sich der Parteigenosse und Landrat Klosterkemper neben dem Parteigenossen und Kreisleiter Kittler im Amt halten kann. Kreisoberinspektor Appelt, Glatz, gibt eine andere Begründung: Es ist nach allem klar, dass Herr Klosterkemper den Kreis nur so lange ... zu verwalten in der Lage war, als der gemäßigt eingestellte und christlich gesinnte Gauleiter Wagner in Breslau in seinem Amt verblieb ... 173 Der hätte demnach doch die Hand über ihn gehalten.
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Stelbrink: z. B. S. 56, S. 368 f. StA OS, Rep. 980, Nr. 7660 (Gerecke). Stelbrink: Landräte, S. 371 u. 373. BA Berlin, R 1501, Nr. 133 592. Klosterkemper stellt Alt-Pg. Ernst Steiner ein kaum nachvollziehbares, positives Gutachten zur Erlangung eines finanziellen Vorteils aus. Später wird Steiner wegen Unerschlagung verurteilt. Issmer: Mitläufer, S. 311. StA OS, Rep. 980, Nr. 7660 (Bochnig). ebd. (Appelt).
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Von Glatz ins Reichsministerium des Innern Am 16. Juni 1940 wird Heinrich Klosterkemper zur Flak in Magdeburg eingezogen, kommt jedoch nach drei Monaten als nicht felddiensttauglich174 für ein Jahr nach Glatz zurück. Ab dem 1. Oktober 1941 arbeitet er im Innenministerium. Ich bin damit einverstanden, dass während der Dauer der Verwendung Klosterkempers im Reichsministerium des Innern das Landratsamt in Glatz von Landrat Spreu ... mitverwaltet wird,175 schreibt das Ministerium am 29. September 1941 an den Breslauer Regierungspräsidenten und stellt damit Klosterkempers Rückkehr in Aussicht. In Berlin bearbeitet er u. a. Fragen der Verwaltungsvereinfachung und der Verlagerung der Bevölkerung. Es soll nach zeitgenössischer Meinung unpolitische Arbeit gewesen sein, zu der die Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes erster und zweiter Klasse jedoch nicht recht passen will.176 Nach Erledigung der Aufgabe Ende 1944 habe die Parteikanzlei auf Intervention Gauleiter Hankes seine Rückkehr nach Glatz abgelehnt, schreibt Klosterkemper nach dem Krieg und moniert, dass er in Berlin nicht zum Ministerialrat befördert worden sei.177 Rechtlich bleibt Klosterkemper Glatzer Landrat bis Kriegsende, und er lässt sich von der Stadt Osnabrück auch den Flüchtlingsausweis A ausstellen.178 Ob er wirklich nach Glatz zurückkehren wollte, ist indes zweifelhaft. Er hatte sich nämlich nach Arnsberg als Regierungsvizepräsident und, ersatzweise, auch nach Düren als stellvertretender Landrat beworben, weil Westfalen meine und meiner Frau Heimat ist.179
Nachkriegskarriere Den Entnazifizierungsakten zufolge sorgt Klosterkemper, der gut durch den Krieg gekommen ist, früh und zielstrebig von Osnabrück aus für seine Nachkriegskarriere, denn schon am 6. Juni 1946, bald nach Veröffentlichung des „Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus,“ schreibt Oberinspektor Appelt vom ehemaligen Glatzer Landratsamt, jetzt wohnhaft in Haltern, sein Leumundszeugnis zur Entlastung Klosterkempers – da sind die Vertreibungen aus der Grafschaft Glatz noch in vollem Gang! Der frühere Landrat ermittelt unglaublich schnell die neuen Wohnorte der in alle Winde zerstreuten Glatzer Zeugen. Der Hauptausschuss für besondere Berufsgruppen des Niedersächsischen Ministers für Entnazifizierung kommt am 3. Dezember 1948 zur Entscheidung: Es wird festgestellt, dass Heinrich Klosterkemper entlastet ist (Kategorie V) und das trotz des Ranges eines NSKK-Sturmführers.180 Der Weg in die westdeutsche Verwaltung ist frei. 174 175 176 177 178
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BA Berlin, R 1501, Nr. 7828 und LA NRW, NW Pe 7486. GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4479, Bl. 67. StA OS, Rep. 980, Nr. 7660. ebd. Ausweis A für Vertriebene u. Flüchtlinge Nr. 2034. (LA NRW, NW Pe 7486) Klosterkemper amtierte seit 1941 in Berlin, aber vielleicht blieb die Familie bis zur Vertreibung in der Grafschaft. StA OS, Rep. 980, Nr. 7660. Mit der Bezeichnung „Westfalen“ geht Klosterkemper großzügig um. ebd.
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Klosterkemper war alles andere als ein „aktiver“ Nationalsozialist, doch lässt sich der Selbsteinschätzung als Widerständler und Opfer des NS-Regimes, die der Parteigenosse und NSFK-Sturmführer 1948 der Entnazifizierungskommission gegenüber vertritt, nach Aktenlage nicht folgen. Eher war er ein sehr auf die Karriere bedachter „Mitläufer.“ Heinrich Klosterkemper wird 1952 zum Ministerialdirigenten im Landwirtschaftsministerium Nordrhein-Westfalens ernannt und geht am 30. April 1966 in den Ruhestand. Er stirbt am 28. November 1976 in Düsseldorf.
5. Die NS-Landräte des Kreises Habelschwerdt Richard Max Spreu (1933–1944) Nach der Beurlaubung Dr. Poppes erheben die neuen Machthaber Richard Spreu, ihren Landecker Kreisleiter und Bürgermeister, zum Landrat des Kreises Habelschwerdt.181 Er hat es in fünfjähriger Arbeit an die Kreisspitze geschafft und soll elf Jahre dort bleiben – ungewöhnlich lange für die NS-Zeit.
Allgemeinbildung, Kriegsteilnahme und erste Berufsjahre Richard Max Spreu182 wird am 3. August 1896 in Bralin geboren, das nach dem Ersten Weltkrieg mit der östlichen Hälfte des Kreises Groß Wartenberg an Polen fällt, ein tief einschneidendes Ereignis für die Bewohner. Sein Vater, katholisch, ist der Postassistent Johannes Spreu, seine Mutter, evangelisch, stirbt schon 1909, da ist Richard 13 Jahre alt. Der Junge besucht die Volksschulen in Groß Wartenberg, Striegau und Breslau und danach das Königliche Matthias-Gymnasium in Breslau, das er 1913 mit der mittleren Reife verlässt. Die Familie muss mehrfach umziehen – Los damaliger Beamter. 1914 tritt Richard Spreu in den Dienst der angesehenen Reichspost wie sein Vater und bringt es zum Postinspektor.183 Nach Bad Landeck in der Grafschaft Glatz wird er von Neumünster aus versetzt.184 Am Ersten Weltkrieg nimmt Richard Spreu vom 20. November 1915 bis 8. Januar 1919 als Nachrichtensoldat teil, ausgezeichnet mit dem Schlesischen Adlerorden II. Stufe und dem Frontkämpferkreuz. Bis 1928 ist er Pressewart des Landecker Stahlhelms und gehört ab 1935 zur Landwehr I. Spreu heiratet Elisabeth Kursawe aus seinem Heimatkreis und hat mit ihr eine Tochter und zwei Söhne, von denen einer im Zweiten Weltkrieg fällt. Spreu und seine 181 182
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Kreisblatt Habelschwerdt v. 14.9.1933. BA Berlin, R 1501, Nr. 128 218 u. SA, Spreu. SA-Fragebogen vom 30.11.1937, ergänzt 20.4.1943 u. 15.6.1944, undatierter kurzer Lebenslauf (vor 1945), Personalbogen für Beamte, ergänzt bis ca. 1935. Spreus Postrang wird mit „Postobersekretär“ vermerkt. (BA Berlin, SA, Spreu, und Kreisblatt Habelschwerdt v. 2.3.1933, auch GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4483). Die Reichspostdirektion entlässt ihn am 30.4.1934 aber als „Postinspektor“, so auch im SA-Personalbogen 1937 vermerkt. Johannes Güttler, Hörstel-Riesenbeck, Mitteilung v. 15.2.2011.
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Frau geben röm.-kath. als Bekenntnis an, doch soll Spreu 1941, als das NS-Regime auf dem Höhepunkt seiner Macht war, aus der Kirche ausgetreten sein.185
Der „alte Kämpfer“ Richard Max Spreu ist ein humanistisch gebildeter Mann und trotzdem aus Überzeugung kämpferischer Nationalsozialist der ersten Stunde, ähnlich wie sein Nachfolger Ernst Braeckow und Dr. Artur Joachim in Glatz. Das unterscheidet ihn und diese von Horstmann und Klosterkemper, die sich der NSDAP erst 1933 aus Karrieregründen anschließen. Im Juni 1927 findet in Bad Landeck eine Brückner Versammlung statt,186 und aus dieser Zelle entsteht am 1. Juli 1928 die erste NSDAP-Ortsgruppe der Grafschaft Glatz, denn nun waren 15 Mitglieder vorhanden.187 Ihr Gründer und Leiter, Richard Spreu, Parteimitglied Nummer 84.038, nennt 1937 allerdings den 1. April 1928 als Gründungstag,188 und in einem kurzen undatierten Lebenslauf (vor 1945) gibt er sogar an: Aktive Betätigung in der NSDAP von Januar 1926 ab, also bereits ein Jahr nach Gründung der schlesischen NSDAP durch Brückner. Richard Spreu nimmt nach eigenem Zeugnis 1931 an einem SA-Treffen in Braunschweig teil189 und fährt 1929, 1933, 1934, 1935 und 1936 zu den Reichsparteitagen nach Nürnberg. Viermal besucht er dreitägige Instruktionen in den Gau-Schulungsburgen und auch Kreisleitertagungen in den Ordensburgen Crössinsee [Pommern] und Vogelsang [Eifel].190 Spreu macht sich dort mit der Partei-Arbeit vertraut und kann Verbindungen knüpfen. In der SA-Standarte 38, Glatz, wird er am 1. Mai 1937 Obersturmführer, am 30. Januar 1941 Hauptsturmführer und am 20. April 1943 Sturmbannführer – befördert wird immer an NS-Gedenktagen. Ehrenamtlich, vermerkt er später in den Haftunterlagen zu den SA-Rängen. Die Leiter der Partei- und Staatsämter klettert Spreu Sprosse um Sprosse empor: 1.4.1928: NS-Ortsgruppenleiter Bad Landeck, 17.12.1929: NS-Stadtverordneter in Bad Landeck, 1.1.1930: NS-Kreisleiter des Landkreises Habelschwerdt (bis 30.9.1937), 21.3.1933: Stadtverordnetenvorsteher in Bad Landeck, 13.4.1933: Bürgermeister in Landeck, eingeführt noch von Landrat Dr. Poppe.191 Der geschulte, aktive und vermutlich auch persönlich überzeugende Spreu entwickelt Bad Landeck ab 1928 zur Hochburg der NSDAP im Glatzer Land.192 Mit Kampfgefährten gewinnt er in vielen Veranstaltungen Anhänger in den Dörfern des −− −− −− −− −−
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Franke, B. u. a.: Kaplan Gerhard Hirschfelder, S. 14. Güttler, Mitteilung. v. Hautcharmony: Landeck, S. 11 BA Berlin, SA Spreu, Nr. 4000003628, Personalbogen zur Anlegung einer SA-Personalakte v. 30.11.1937. Vgl. dazu: Glatzer SA-Mann erzählt aus vergangenen Tagen, in: Grenzwacht, 25/26.1.1936. ebd. und vgl. Anm. 190. BA Berlin, Personalfragebogen (Anm. 184), GStA Berlin PK, Rep. 77, Nr. 4483, und Güttler, Mitteilung (wie Anm. 188). Vgl. dazu: Hautcharmony, Ausgangspunkt der NSDAP, in: DGG, 37. Jg., 2/1942, S. 11.
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Biele-Tales und des übrigen Kreises Habelschwerdt und sorgt dort für immer bessere NSDAP-Wahlergebnisse.193 Zeitzeugen berichten, dass es in Landeck unter Spreus Ortsgruppenleitung zwar gelegentlich Umzüge in Uniformen, aber keine Saalschlachten gegeben habe, und sie teilen auch mit, dass der Landecker SPD-Ortsvorsitzende der Verhaftung und dem KZ durch das Eingreifen des Bürgermeisters Spreu entgangen sei.194 Der Erfolg der NSDAP in der mittleren und südlichen Grafschaft ist wohl das Ergebnis des persönlichen Einsatzes dieses Mannes, denn der Energie und Überzeugungsarbeit Spreus haben die Grafschafter Zentrumsleute wenig entgegenzusetzen.
Landrat in Habelschwerdt „Alte Kämpfer“ und fähige Parteiaktivisten wie Spreu werden gebraucht und belohnt. So wird er am 5. September 1933 als Nichtjurist zum kommissarischen Landrat in Habelschwerdt berufen, was die Fachleute des Innenministeriums ungern tun. Vor der endgültigen Ernennung am 1. Mai 1934, die der Kreisausschuss einstimmig begrüßt, übermittelt Regierungspräsident Kroll am 22. Januar 1934 dem Innenministerium folgende Beurteilung: Spreu hat sich zu meiner vollen Zufriedenheit in Habelschwerdt eingearbeitet. Er ist ein ruhiger, sachlich eingestellter Beamter mit gutem Verständnis für die wirtschaftlichen und sozialen Belange des Kreises und hat es bisher auch verstanden, sich in wünschenswerter Weise im Kreis durchzusetzen.195 Das gelingt ihm sicher auch deshalb, weil er zusätzlich NSDAP-Kreisleiter ist und somit die wichtigsten Ämter des Kreises Habelschwerdt bis 1937196 in Personalunion bekleidet. Dadurch ist Spreu fast unumschränkter Führer seines Verwaltungsbezirks und kann ohne Reibungsverluste arbeiten. Hubert Kursawe unterstützt ihn von 1937 bis 1941 als Kreisgeschäftsführer der NSDAP, dem Namen nach möglicherweise ein Verwandter seiner Frau. NS-Kreisleiter, Sitz in Bad Landeck, ist ab 1937 Paul Hoffmann, ein langjähriger Kampfgefährte Spreus, der 1943 fällt. Nachfolger wird Hans Söllinger, ein Österreicher.197 Im Gegensatz zum Kreis Glatz gibt es im Kreis Habelschwerdt demnach nur formal eine Doppelgleisigkeit von Partei- und staatlicher Kreisverwaltung. Vorrang hat bei Spreu das Landratsamt.
Situation des Kreises Habelschwerdt Ende 1937 Der Anforderung zusätzlicher Stellen im November 1937 für sein Amt fügt Spreu einen Bericht zur Struktur des Kreises Habelschwerdt bei.198 193
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Herzig/Ruchniewicz: Herrgottsländchen, S 565f., und dies.: Geschichte des Glatzer Landes, S. 276. Vgl. auch Jäschke: Nationalsozialismus, in: AGG-Mitteilungen 10 (2011), S. 25–42. Güttler, Mitteilung. GStA Berlin, PK I. HA Rep. 77, Nr. 4483. Stelbrink: Landrat, S. 66. Personalunionen von Landrat und Kreisleiter waren ab 1.10.1937 untersagt. Herzig/Ruchniewicz: Geschichte, S. 280, und Güttler, Mitteilung (wie Anm. 196). BA Berlin, R 1501, Nr. 133 595.
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Wichtigste Besonderheit des Kreises sei die 110 Kilometer lange Grenze mit der Tschechoslowakei. Der Verwaltung erwachse eine besondere Aufgabe dadurch, als sie laufend alle Vorgänge im Grenzland aufmerksam zu beobachten und weiter zu berichten hat, diese einzigartige Struktur verursacht ... eine gewaltige Belastung im Hinblick auf das Ausländerwesen. Hier ist die laufende Erfassung und ausländerpolizeiliche Behandlung von mehr als 3000 Nichtreichsangehörigen [5,4 % der Wohnbevölkerung], die Bearbeitung der vielen Einbürgerungsanträge, die oft schwierige Durchführung der Reichsverweisungen und Heimschaffung von Ausländern zu erwähnen.199 Die Arbeit erfordere weitere Angestellte. Das vor allem durch das frühere Verhältnis zu dem ehemals österreichisch gewesenen Nachbarlande bedingte Herüber- und Hinüberwechseln der Grenzbewohner erklärt es, dass ... die Bearbeitung des gesamten Staatsangehörigkeitswesens ... die Erteilung der Heimatscheine und Staatsangehörigkeitsausweise einen ganz wesentlichen Umfang angenommen hat. Die Nähe der Grenze und die zahlreichen verwandtschaftlichen Beziehungen diesseitiger Grenzbewohner zu denen des Nachbarlandes bringt ... auch einen regen Reise-Ausflugs- und Kleinen Grenzverkehr mit sich ... dessen Überwachung ... und ... die Durchführung der vielen Pass- und Reisebestimmungen vermehren weiter die Aufgaben der Verwaltung ... in besonderem Ausmaße ...200 Jenseits der Grenze leben überwiegend Deutsche mit tschechoslowakischer Staatsangehörigkeit. Eine weitere Besonderheit des von der Landwirtschaft geprägten Kreises sieht Spreu in seiner Gebirgsstruktur mit einer durchschnittlichen Höhenlage von 500 m. Die Besitzungen seien von kleiner oder mittlerer Größe und brächten bei dünner Ackerkrume nur geringe Erträge und das Auftreten besonderer Notstände. Umfangreiche Arbeit entsteht der Verwaltung ... durch die Erwirkung von Hilfsaktionen ... an ... die Einwohner einzelner notleidender Gebiete oder an die durch Erfüllung der verschiedenen Staatsaufgaben geschwächten Gemeinden (z. B. als Träger der Volksschullasten).201 Hier liegen Spreus Verdienste. Die Verwaltung müsse außerdem viel Arbeit für die ausreichende Versorgung der vielen Fremden [10 000 Feriengäste] mit Nahrungsmitteln, sei es Fleisch, Butter, Margarine usw.202 aufwenden, also Engpässe überwinden, die durch die Autarkiepolitik entstanden sind. Der Fremdenverkehr, der mit viel Werbung zum wichtigen Wirtschaftsfaktor entwickelt wurde, scheint während der Kriegsvorbereitungen zur Belastung zu werden.
Zur weiteren landrätlichen Tätigkeit Spreus Nur zwei Jahre später, nach dem Anschluss des Sudetenlandes ans Reich, ist Habelschwerdt nicht mehr Grenzkreis – und Spreus Strukturbericht somit in wesentlichen Teilen überholt. 199 200 201 202
ebd. ebd. ebd. ebd.
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Der aktive Landrat, der nicht nur verwaltet, will die Gunst der Stunde nutzen und macht offenbar an hoher Stelle Vorstöße zur Vergrößerung seines Kreises, denn das Reichsinnenministerium hält in einem Vermerk vom 12. Januar 1939 fest, dass Spreu bei einem Besuch erwähnt habe, dass dem Kreise Habelschwerdt voraussichtlich ein Landstrich des Sudetenlandes mit 12.350 Einwohnern zugewiesen würde ... 203 Spreu weiß demnach mehr als die Herren des Innenressorts. Gemeint sind Gebiete um Grulich an der Südspitze des Kreises und am Adlergebirge. Abwegig wäre diese Gebietserweiterung nach der Bevölkerungssituation nicht gewesen. (vgl. Abb. 1)
Abb. 1: Gebiete des Sudetenlands um das Adlergebirge und Grulich, die Spreu dem Kreis Habelschwerdt angliedern wollte. (Entwurf und Zeichnung Meißner)
Das Kabinett entscheidet aber anders, und Breslau übersendet den Räten des Innenministeriums zur Belehrung das „Gesetz über die Gliederung der sudetendeutschen Gebiete“ vom 25. März 1939, wonach in Schlesien nur eine einzige Gebietsveränderung erfolgt: Das „Hultschiner Ländchen“ südöstlich Ratibor, 1920 vom Reich abgetrennt, kommt wieder an Oberschlesien, der Kreis Habelschwerdt hingegen erfährt keinen Gebietszuwachs.204 Die alte Grenze zwischen Deutschland und Österreich, nach dem Ersten Weltkrieg die Grenze zur Tschechoslowakei, wird vorerst kaum angetastet. Ähnliches muss zur selben Zeit Gerhart von Schulze-Gävernitz erfahren, der vorschlägt, den Kreis Neurode durch Angliederung des Braunauer Ländchens wieder herzustellen.205 Spreus Initiative ist damit gescheitert, aber die Geschichte zeigt, dass sein Wort Gewicht im Innenministerium hat. 203 204 205
ebd. ebd. Vgl. Meißner: Wiederherstellung des Kreises Neurode, in diesem Buch.
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Ein Informant aus Habelschwerdt, dessen Vater im Landratsamt arbeitete, schreibt: Von meinem Vater habe ich nichts Außergewöhnliches von Landrat Spreu gehört. Vielleicht hat er auch nicht alles daheim erzählt. Allgemein war bekannt, dass Landrat Spreu nach Mähren strafversetzt worden sei – veranlasst vom Regierungsleiter in Breslau ... Bekannt ist mir noch, dass ein Untergebener des Landrats 1940/41 den kath. Kaplan Gerhard Hirschfelder beobachten und seine Predigten im Gottesdienst mitschreiben ließ. Kaplan Hirschfelder wurde Ende 1941 verhaftet ... 206 Andere Beobachter übermitteln, Hirschfelder habe gepredigt: Wer der Jugend den Glauben an Christus aus dem Herzen reißt, ist ein Verbrecher, und der Landrat habe das auf sich bezogen und den Haftbefehl unterschrieben.207 Der Habelschwerdter Pfarrer Adolf Langer bemerkt 1952: Meine Bemühungen beim Landrat in Habelschwerdt [um Freilassung Hirschfelders] waren fruchtlos, obwohl der Landrat ... eine Intervention zusagte. Hätte ich damals die Kenntnisse der Zusammenhänge besessen, die ich heute habe, hätte ich mir die Bittgänge zum Landrat erspart.208 Spreu spielte demnach mit falschen Karten. Hirschfelder geht 1942 im KZ Dachau zugrunde. 2010 wird er in Münster als Symbol des katholischen Widerstands in der Grafschaft Glatz in einer bewegenden Feier vor Tausenden Landsleuten und Einheimischen, an der auch Polen und Tschechen teilnehmen, kirchlich geehrt und selig gesprochen. Nach Michael Hirschfeld209 hat sich Spreu nach dem Tod Ditterts 1938 auch in die Ernennung eines neuen Generalvikars und Großdechanten für die Grafschaft eingeschaltet und dabei gegen den Glatzer Stadtpfarrer Dr. Franz Monse Stellung bezogen, weil der ein Gegner der NS-Partei sei, und Ilse Teller210 bekundet 1947, dass Spreu während einer Vertretung des Glatzer Landrats das katholisch geführte Kreiskinderheim in Karlsberg der NSV übergab und die Heimleiterin und NS-Gegnerin Thea Rothmund daraufhin ihres Amtes enthoben wurde. Das zeigt: So sehr sich Spreu einerseits für seinen Kreis einsetzen mag, so rigoros bekämpft er andrerseits alles, was der NSDAP schaden könnte, und dabei ist ihm jedes Mittel recht.
Strafversetzung nach Freudenthal (Sudetenland)? Spreu ist für die NS-Zeit ungewöhnlich lange Landrat in Habelschwerdt. Er hat dort die NSDAP aufgebaut und scheint dem Kreis besonders verbunden zu sein, offenbar ohne Ambitionen auf höhere Ämter. Am 22. Mai 1944211 wird er versetzt, und zwar – wieder als Landrat – in das 120 Straßenkilometer entfernte Freudenthal, Regierungsbezirk Troppau im Sudetenland. Laut Eintrag im SA-Personalfragebogen weist man den SA-Sturmbannführer am 15. Juni 1944 einer Einheit im Sudetenland zu. 206 207 208 209 210 211
Werner Taubitz, Mitteilung v. 29.11.2009. Franke u.a.: Kaplan Gerhard Hirschfelder, S. 14. ebd., S. 17. Vgl. Hirschfeld, M.: Ernennung der Glatzer Generalvikare, in diesem Buch. StA OS, Rep 980, Nr. 7660. Hubatsch: Verwaltungsgeschichte, S. 67.
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Dass es sich dabei um eine Strafversetzung wegen Differenzen mit Gauleiter Hanke handelt, wie Taubitz meint, ist unwahrscheinlich.212 Laut Issmer ist Spreu sogar ein Freund Hankes.213 Vermutlich verdankt er den Ortswechsel der Anweisung des neuen Innenministers Himmler, der anlässlich eines Falles in Niederschlesien [Spreu?] die Amtszeit eines Landrats in ein und demselben Kreis auf zehn Jahre begrenzt, um so einer zu engen Bindung zwischen Landrat und Kreisbevölkerung vorzubeugen.214
Verhaftung durch die Russen und Verurteilung zu 20 Jahren Zwangsarbeit Richard Spreu flüchtet bei Kriegsende nicht in den Westen wie alle übrigen hohen Parteigenossen, sondern kehrt um den 8. Mai 1945 in den Kreis Habelschwerdt zurück, obwohl er sicher weiß, was die Sieger mit seinesgleichen machen. Will er sich seiner Verantwortung stellen? Schon am 11. Mai 1945 verhaften ihn die Russen in Kunzendorf/Biele,215 und fünf Jahre später, am 10. Februar 1950, übergeben sie ihn im sowjetischen Internierungslager Buchenwald der Deutschen Volkspolizei. Die lässt ihn nicht frei, sondern inhaftiert Spreu mit 3.442 anderen NS-Leuten in Waldheim bei Döbeln, wo die Aburteilung ab 26. April 1950 nach Vorgaben der sowjetischen Besatzungsmacht in 20-minütigen Verhandlungen erfolgt.216 Der Eintrag vom 29. April 1950 in der Waldheim-Kartei sei hier wörtlich wiedergegeben: Verlauf des Verfahrens: Am 27.4.1950 Untersuchung eingeleitet. An Staatsanwalt übergeben. Sachverhalt: Er wird beschuldigt, für Ausschreitungen oder sonstige Gewalttaten verantwortlich gewesen zu sein, ferner sich in seiner Eigenschaft als Kreisleiter in einer führenden Stellung der NSDAP betätigt zu haben. Durch seine Stellung und Tätigkeit in der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft außerordentliche, politische, wirtschaftl., propagandistische oder sonstige Unterstützung gewährt zu haben. Hauptverbr.[echen] gem. Kontrollratsdir.[ektive] 38, Abschnitt II, Ziff. 3, 4 und 6 in Verbindung m. Gesetz 10 Art. II, Ziff. 1c, 2 b–d. Entscheidung der Gr. Strafkammer des Landgerichts Chemnitz vom 26.5. 1950: Hauptverbr. gem. [s.o.]: 20 Jahre Zuchthaus. Sühnemaßnahmen nach Art. VIII verhaengt. 217 Strafbeginn 8.2.1950. Gnadenerweis v. 7. 10. 1952: Strafnachlass 15 Jahre. Verlegung nach Bautzen: 21.4.1954.218
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Taubitz: Habelschwerdt, S. 18. Issmer: Mitläufer, S. 214. Stelbrink: Landrat, S. 86. BA Berlin, D 01, Waldheimkartei. Waldheimer Prozesse, Wikipedia (Abruf 27.5.2011). BA Berlin, DN/1, Nr. 114 865, Vermögenserklärung: 36 000 RM, Enteignung Spreus durch Vertreibung. ebd.
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Die Haft soll demnach am 7. Februar 1955 enden, doch erfolgt die Entlassung laut einem weiteren Gnadenerweis schon am 12. Juli 1954. Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt in Dresden darf Richard Spreu nach Dahlhausen in Westfalen ausreisen. Spreus Inhaftierung muss zu dem Leiden ins Verhältnis gesetzt werden, das Gerhard Hirschfelder oder Bruno Plaschke aus Mittelwalde/Kreis Habelschwerdt und mit ihm mehrere Schulkameraden (z. B. Eberhard Pautsch) und Schulkameradinnen aus Habelschwerdt völlig unschuldig zu erdulden hatten. Spreus Haftbefehl kostete Hirschfelder das Leben, und die Sowjets verurteilten die 15 bis 16 Jahre alten Jugendlichen 1945 als „Werwölfe“ zu zehn und mehr Jahren Zwangsarbeit. Nach ihrer Verschleppung nach Sibirien und schier unmenschlichen Qualen wurden die wenigen Überlebenden erst im Januar 1954 freigelassen, für den Rest des Lebens schwer geschädigt und ganze sechs Monate früher als Spreu. Der hat Frau und Kinder wiedergesehen, Bruno Plaschke seine Mutter nicht, die auch niemals etwas über den Verbleib ihres Kindes erfuhr.219 Richard Spreu, aktiver Wegbereiter und Repräsentant des NS-Regimes in der Grafschaft, der ab 1941 auch den Glatzer Landrat vertrat, stirbt am 24. Dezember 1969 in Fredeburg im Sauerland. In einem Nachruf von 1970 in den „Grafschafter Heimatblättern“ heißt es u.a.: Nach den schicksalsschweren Jahren der Nachkriegszeit lebte er zunächst in Wiesbaden und nach dem Tode seiner Gattin bei seiner Familie in Fredeburg. Auch hier fand er einen großen Bekannten- und Freundeskreis ... Alle, die ihn näher kannten und schätzten, werden seinen plötzlichen Tod tief bedauern ...220
Ernst Braeckow (1944–1945) Der ständige Vertreter Spreus, Oberinspektor Ernst Neugebauer, leitet den Kreis Habelschwerdt mehrere Monate, bis Oberregierungsrat Ernst Braeckow den langjährigen Landrat von Habelschwerdt im Herbst 1944 beerbt. Er ist, wie Spreu und Joachim, ein junger, überzeugter und kämpferischer Nationalsozialist der ersten Stunde, doch offensichtlich von ganz anderem Charakter als jene.
Allgemeinbildung Nach Lebensläufen von 1935 und 1938221 kommt Ernst Braeckow am 31. Januar 1910 in Berlin als Sohn des Frisörs Paul Braeckow zur Welt. Er besucht die Volksschule und später die Oberrealschule in Steglitz, die er am 11. Oktober 1928 wegen Betätigung für die NSDAP verlassen musste. Das Abitur legt er 1929 an der „FriedrichWerderschen Oberrealschule“ ab. Ernst Braeckow studiert bis 1932 Chemie in Berlin, schreibt aber: Ich musste das Studium aufgeben, da ich nicht mehr die erforderlichen Geldmittel besaß.222 So wendet er sich hauptamtlich der Parteiarbeit zu. 219 220 221 222
Plaschke: Geraubte Jugend im Gulag, und Pautsch: Dennoch überlebt. GGHB 1970, S. 35. BA Berlin, R 55, Nr. 23 488, (Akte Nr. 10) und R 55, Nr. 24 098, (Akte 29). BA Berlin, R 55, Nr. 23 488 (Akte Nr. 10).
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Ein „alter Kämpfer“ und „Ehrenzeichenträger“ In der NSDAP wird Braeckow am 1. Juli 1928 Mitglied Nr. 92.458. Er nennt sich später voller Stolz „Ehrenzeichenträger“, d. h., er hat das „Goldene Parteiabzeichen“ wie Spreu und Joachim, das er übrigens zweimal verliert, und ist ein „alter Kämpfer“ mit Vorrechten. Ernst Braeckow beginnt die Parteiarbeit als Propagandaleiter im Berliner Westen. Das Chemie-Studium kann er nach dem Abitur nicht ernsthaft betrieben haben, denn schon 1931 agitiert Braeckow als NS-Propagandaleiter in Bayern. Vom 20. Juni 1932 bis 15. Mai 1933 arbeitet er hauptamtlich in der Reichspropagandaleitung München an der Bekämpfung des Kommunismus. Wieder in Berlin, darf sich Braeckow in der Presseabteilung des Reichspropagandaministeriums betätigen, denn er hat sich in Bayern einschlägig bewährt. 1934 heiratet er Hanna Witte, mit der er mehrere Kinder hat. 1935 erhält Braeckow in Berlin als „alter Kämpfer“ die ersehnte Ernennung zum Regierungsrat, obwohl ihm Studienabschluss und Ausbildung fehlen, und wird am 20. April 1937 durch den Führer zum Reichshauptstellenleiter in der Reichspropagandaabteilung befördert, wie er – ganz Propaganda-Mann – reichlich geschwollen im Lebenslauf angibt. Seit dem 1. Januar 1937 stehe ich dem „Institut für deutsche Kultur und Wirtschaftspropaganda“ als Presseberater zur Seite. Und weil er sich besondere Kenntnisse auf dem Gebiet der militärischen Abwehr angeeignet habe, sei er auch Abwehr-Beauftragter seines Ministeriums.223 Daraus spricht Genugtuung und Stolz. Es ist wahrlich kein bescheidener Mann, der als Großstädter und – inzwischen – Oberregierungsrat am 16. Oktober 1944224 ins kleine Habelschwerdt beordert wird. Ob der Agitator und Propagandist aus dem engsten Umfeld des Joseph Goebbels einen speziellen Auftrag in der Grafschaft hat, lässt sich zur Zeit nicht ermitteln. Außer der Verwaltung von Not und Elend gibt es im letzten Kriegsjahr wenig in Habelschwerdt zu bewegen, und doch hat Braeckow dort, zusammen mit anderen, eine schreckliche Spur hinterlassen: Die harm- und nutzlosen „Werwolf“-Aktivitäten zur „Verteidigung“ des Kreises Habelschwerdt mit den furchtbaren Folgen für die betroffenen Jugendlichen fallen auch in seine Verantwortung. Werner Taubitz zu Braeckow: Er [Spreu] wurde von einem neuen Landrat ... abgelöst, der aber kurz vor Einmarsch der russischen Truppen spurlos verschwand. Frühere Angestellte des Landratsamtes sagten aus, dass dieser von Breckow hieß und vorher im Propagandaministerium gearbeitet habe.225 Das ist nicht viel an Information, die Spur führt aber zu Gauleiter Karl Hanke, vordem Staatssekretär im Propagandaministerium,226 der Braeckow aus diesem Haus sicher bestens kennt und sich in Schlesien vielleicht mit Männern umgeben will, denen er besonders vertrauen kann. 223 224 225 226
ebd., Akte Nr. 10, Akte 29. Hubatsch: Verwaltungsgeschichte, S. 67. Taubitz: Habelschwerdt, S. 19. Weiß: Lexikon zum Dritten Reich, S. 178
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Verschwindet Ernst Braeckow „spurlos“ aus Habelschwerdt? Angaben eines Sohnes zufolge lässt Ernst Braeckow Frau und Kinder bei Kriegsende per Dienstwagen in die Tschechoslowakei bringen, wo sie ein Jahr lang unter bekannt schrecklichen Bedingungen in einem Sportstadion inhaftiert und 1946 nach Bayern ausgewiesen werden. Das kollidiert jedoch mit einer anderen Mitteilung, nach der sich Ernst Braeckow und seine Frau nach dem Krieg just zu dem Zeitpunkt in oder bei Magdeburg treffen, als die Amerikaner das Gebiet im Tausch gegen Teile von Berlin den Russen übergeben, und das geschieht schon im Juli 1945. Dann aber können Frau und Kinder kaum ein Jahr lang in der Hand der Tschechen gewesen sein. Nach anfänglichem Berufsverbot und einer Elektrikerausbildung soll der NSDAPPropaganda- und Presseexperte Ernst Braeckow durch einen früheren Untergebenen wieder Arbeit im Pressewesen gefunden haben, zuerst als freier Mitarbeiter, dann als verantwortlicher Redakteur bei der „Pinneberger Zeitung“.227 Sie gehört zum „Hamburger Abendblatt“ des Springerkonzerns. Wahrscheinlich hat der Inhaber des „Goldenen Parteiabzeichens“ und hohe Mitarbeiter von Goebbels fortan wieder an der Bekämpfung des Kommunismus und an der Umerziehung des deutschen Volkes gearbeitet. Eine Informantin bestätigte fernmündlich Ernst Braeckows Mitarbeit an diesem Blatt, die Personalabteilung des Konzerns auf eine schriftliche Anfrage hin dagegen nicht. Leider können wir Ihnen bei Ihren Recherchen keine Unterstützung bieten, schreibt sie am 24.2.2011, da wir Personalakten von Mitarbeitern nur zehn Jahre ... aufbewahren ... Wir wünschen Ihnen aber trotzdem ... viel Erfolg bei der Recherche dieses wichtigen Thema[s].
Schlussbemerkung Die Untersuchung zeigt, dass die ehemaligen Zentrumslandräte zu Beginn der NSZeit abgelöst werden. Sie zeigt weiter, dass dann nicht nur Mitläufer die beiden Kreise der Grafschaft Glatz verwalten und dass die Entwicklung der Verwaltung zwischen 1933 und 1945 in Glatz und Habelschwerdt sehr unterschiedlich verläuft. Sie führt jedoch auch in diesen Zentrumshochburgen bald zur Dominanz der NSDAP. Im Problemkreis Glatz amtieren innerhalb von acht Jahren die NS-Parteigenossen Joachim, Horstmann und Klosterkemper im Landratsamt, allesamt Juristen, aber mit unterschiedlich starker Bindung an ihre Partei. Ab 1. Oktober 1941 ist der Landratsposten nur noch nominell besetzt. Amtskontinuität gibt es in der Kreisverwaltung während der NS-Zeit somit nicht, und die angestammten Rechte staatlicher Verwaltung zu wahren, ist unter diesen Umständen nicht möglich. Gegensätzlich dazu entwickelt sich die NS-Kreisleitung. Sie wird ab 1933 parallel zur Kreisverwaltung aufgebaut und bis 1945 dauerhaft von einem durchsetzungsstarken Mann, Friedrich Kittler, geleitet. Der zieht Kompetenz um Kompetenz der traditionellen Kreisverwaltung an sich und dominiert sie schließlich, auch im Be227
Braeckow, J., Mitteilung v. 11.2.2011.
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wusstsein der Bevölkerung. So verlagert sich die politische Macht ... von der Verwaltung zur Partei, 228 und Eroberung und Erhaltung der Macht ist gerade in der katholischen Grafschaft ihr oberstes Ziel. Das Landratsamt des Kreises Habelschwerdt wird hingegen über elf Jahre von einem aktiven und von der NS-Ideologie tief überzeugten „alten Kämpfer,“ Richard Spreu, geführt, der in Personalunion bis 1937 auch NS-Kreisleiter ist. Die Parallelverwaltung kann sich unter diesem starken NS-Landrat und wechselnden Kreisleitern nicht zur Vormacht entwickeln, dominant bleibt das Kreisamt – wie vor der Machtergreifung. Der Aufsteiger Spreu gewichtet den Landratsposten offensichtlich höher als den des Kreisleiters, denn ihm stand es 1937 frei, wieder auf den Kreisleiterstuhl zu wechseln.229 Doch liegt die politische Macht im Kreis Habelschwerdt dank Spreu von Anfang an unangefochten in den Händen der Partei. Dass die Verwaltung der beiden Kreise in den wenigen Jahren bis zum Beginn des Krieges so unterschiedliche Wege einschlagen konnte, lag am mangelnden Willen der NS-Reichsleitung, nach Festigung ihrer Macht auf dem Verwaltungssektor für klare Strukturen zu sorgen,230 aber auch an den führenden Männern, hier Kreisleiter Kittler, dort Landrat Spreu, die den Freiraum situations- und persönlichkeitsbedingt unterschiedlich, aber im Interesse der Partei, nutzten. Abkürzungen GL = Gauleiter MdL = Mitglied des Landtags (Preußen) MdR = Mitglied des Reichstags NSV = Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Pg = Parteigenosse Informationen und Hinweise verdanke ich den Herren: Josef Börste, Joachim Braeckow, Johannes Güttler, Ernst Hasler, Helmut Neubach, Richard Spreu, jr. und Werner Taubitz.
228 229 230
Hattenhauer: Beamtentum, S. 415. Stelbrink: Landrat, S. 66. ebd., S. 390.
Schweres Grubenunglück in Hausdorf bei Neurode am 9. Juli 1930* Von Horst-Alfons Meißner
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er unheilvolle neunte Juli wird auf Jahre hinaus ein schwarzer Tag für unsere
schlesische Heimat bleiben, schreiben am 11. Juli 1930 die „Breslauer Neuesten Nachrichten“ (im Folgenden BNN). Die Zeitung meint das Unglück im Hausdorfer Kurt-Schacht der Wenzeslaus-Steinkohlengrube im Kreis Neurode, dem 151 Bergleute zum Opfer gefallen sind. Der Redakteur ahnt nicht, dass nur 11 Jahre später, am 10. Mai 1941, auf der benachbarten Rubengrube1 wiederum ein schreckliches Unglück geschehen sollte, das noch einmal 187 Opfer fordert und wegen des Krieges kein großes Echo finden darf – und er ahnt noch weniger, dass nur weitere fünf Jahre später ein ungleich größeres Unheil über Schlesien hereinbrechen sollte, nämlich die Vertreibung aller Deutschen aus dem Land. Dieses Trauma überdeckt seitdem allen Schmerz, den die Schlesier bis dahin zu tragen hatten, und somit auch das schreckliche Unglück, das 1930 die Grafschaft Glatz erschütterte und in ganz Deutschland und sogar darüber hinaus Trauer und Mitgefühl hervorrief. Hier soll daran erinnert werden, weil das an Ort und Stelle nicht mehr durch die Nachkommen geschehen kann.2 Am 9. Juli 1930, um 16.05 Uhr, 300 m unter Hausdorf und ca. 500 m entfernt vom abzubauenden Kohlenflöz auf Sohle 3, vernahm Bergmann Franke, einziger Überlebender der Steiger-Abteilung 17, dumpfe Luft, ein Krachen wie von einem Steinsprung, ein Rauschen wie von einem Wasserfall und eine Kohlenstaubwolke,“ so die BNN vom 10. Juli 1930. Er stürzte zum Telefon, war aber so aufgeregt, dass ihn der diensthabende Steiger nicht verstand und schnellstens nach oben beorderte. Das rettete Franke das Leben. Man wollte ihm zunächst nicht glauben, dass sich etwas derartig Ungeheuerliches ereignet hätte, da die Maschinen noch immer ruhig liefen,3 schickte aber sofort eine Rettungsgruppe nach unten. Die jedoch konnte schon nicht mehr in Sohle 3 vordringen, und so wurde dem Steiger klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Auf Sohle 2, 200 m unter Tage und Hundert Meter über Sohle 3, bemerkten Bergleute der Abt. 18 zur selben Zeit einen starken Luftstoß gegen den Wetterstrom, dann viel Kohlenstaub. Sie glaubten, dass die Bewetterung nicht in Ordnung sei, bis sie Kohlendioxid (CO2)4 bemerkten. Steiger Schwerdtner versuchte, mit einer Sauer* Überarbeitete Version des Aufsatzes v. H.-A. Meißner: Vor 80 Jahren: Schweres Grubenunglück in Hausdorf b. Neurode, in: JbGG, 63. Jg. (2011), S. 72–85.
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BNN v. 12. u. 15.5.1941 sowie Schlesische Zeitung v. 11. u. 13.5.1941. 1990 hat Gisela Dickes-Pelz im JbGG des Unglücks durch Veröffentlichung einer kommentierten Ausgabe des „Volksblatts für Stadt und Land Neurode“ vom 12. Juli 1930 gedacht. BNN v. 10.7.1930. Man sprach allgemein von „Kohlensäure“, die jedoch kein Gas ist, sondern eine wässrige Lösung (H2CO3) oder vom „Kohlensäure-Problem“, das in Deutschland nur im niederschlesischen Steinkohlenrevier auftrat.
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stoffflasche gegen den Luftzug in die CO2 -Wolke Richtung Abbauort vorzudringen, um die Ursache zu klären und zu helfen, brach aber nach kurzem Weg zusammen und erstickte. Er wurde um 17 Uhr als erster Toter geborgen. Ein Überlebender berichtete: Es kam alles so plötzlich ... Mein Nachbar fragte mich, ob ich auch Atemnot spüre, da sackte er schon zusammen, und zugleich legte es sich auch mit drückender Last auf meine Brust. Ehe wir an Weiteres denken konnten, verloren wir das Bewusstsein.5 Über Tage war in Hausdorf ein dumpfer Schlag vernehmbar, und arbeitsfreie Bergmänner eilten sofort ahnungsvoll zum Kurt-Schacht. Das Gerücht von einem Unglück verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Dorf und seiner Umgebung. Die Angehörigen der 224 in den Schacht eingefahrenen Bergleute, die Deputatkohle förderten, Frauen, Kinder, Eltern, Geschwister, Verwandte, Bräute und Nachbarn rannten zum Schachtgebäude und warteten verängstigt, gespannt und weinend auf Nachrichten aus dem Betrieb. Sie waren Kummer gewöhnt, denn die Wenzeslaus-Grube, und speziell ihr KurtSchacht, galt als stark kohlensäuregefährdet und wurde deshalb täglich bergpolizeilich geprüft. Die Grube inmitten von Wäldern und Tälern in einer der anmutigsten Landschaften Schlesiens war ein tückischer Freund, wie die BNN am 11. Juli schrieben. Sie bot ihren Kumpels Brot, aber nur geringen Lohn für harte Arbeit – und immer wieder den Tod. Erst im März 1928 waren hier 8 Bergleute bei einem Kohlensäure ausbruch erstickt, 5 Kameraden 1925 und 1921 sogar 11 Männer.6 Mehrmals seien die hohen Sicherheitsauflagen unzureichend beachtet worden, führt Ministerialrat Rother vom Grubensicherungsamt des Preußischen Ministeriums für Handel und Gewerbe dazu aus.7 Die Direktoren der Grube hätte man deswegen schon mehrfach vor Gericht zur Verantwortung gezogen, aber immer freisprechen müssen, weil ihnen ein Verschulden nicht nachgewiesen werden konnte, schreibt das „Osnabrücker Tageblatt“ dazu am 11. Juli 1930. Generaldirektor war zu dieser Zeit der in der Fachwelt sehr bekannte und spätere NS-Gegner Dr. Adrian Gaertner, dessen Familie das Bergwerk 1926 an das E-Werk „Schlesien“ verkaufen musste. Er hatte die Wenzeslaus-Grube zu einem Musterbetrieb entwickelt.8 Polen haben ihn 1945 erschossen, als er bedrängten Menschen zu Hilfe kommen wollte.9 Die alarmierten Rettungsmannschaften des niederschlesischen Waldenburg–Neuroder Kohlenreviers und viele Ärzte rasten aus allen Richtungen und mit allen verfügbaren Kräften nach Hausdorf. Die Retter erkannten bald, dass es in dem Kohlenflöz zwischen der 2. und 3. Sohle zu einer Kohlendioxid - Explosion gekommen war, die den ganzen Abbaubereich und Grubenteile selbst in großer Entfernung mit dem Gas verseuchte. Es ist schwerer als Luft und nur langsam über die Bewetterung10 wieder aus dem Schacht zu entfernen. Das in großer Menge frei gesetzte Gas ermöglichte ein Arbeiten unter Tage nur kurze Zeit, sodass die Rettungsmannschaften häufig ausge5 6 7 8 9 10
Osnabrücker Tageblatt v. 11.7.1930. BNN v. 10. u. 11.7.1930. BNN v. 11.7.1930. Gaertner, P.: Wenceslaus-Grube; JbGG, 62. Jg. (2010), S. 92–104. Vgl. Meißner: Adrian Gaertner, in diesem Buch. Die Bewetterung schaffte ca. 2000 m³ Frischluft pro Minute (BNN v. 18.7.1930).
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tauscht werden mussten. Sie sperrten die Wettertüren zur 3. Sohle, weil schon sicher war, dass dort in der Abt. 17 niemand überlebt haben konnte, und lenkten den Wetterstrom allein in die Sohle 2, um von der Abt. 18 zu retten, wer noch zu retten war. Bis 23 Uhr gelang es auch, 49 bewusstlose Bergleute zu bergen, die glücklicherweise, wie sich im Krankenhaus zeigte, mit leichten Gasschäden davon gekommen waren. Der Steiger Hoffmann geriet bei den Rettungsarbeiten in eine Starkstromleitung und fand ebenfalls den Tod. Bis Mitternacht barg man 60 tote Kumpels durch den Kunigunden-Schacht in Mölke, doch sollte sich die Zahl der Toten auf schreckliche 151 erhöhen: Im Laufe der folgenden vier Wochen fand man 82 Tote in der Abt. 17, 55 in Abt. 18, sogar neun direkt am Schacht, wo die Rettung nahe war, einen Toten in der Maschinenabteilung und – im Arbeitsbereich verteilt – vier getötete Aufsichtsbeamte. Die Opfer stammten fast alle aus Hausdorf und der nächsten Umgebung. Der Grund war, dass das Werk vier Wochen zuvor viele Bergleute wegen Absatzmangels entlassen hatte, die Zeitungen berichten von 900 Personen,11 und die Entlassenen waren vor allem die am weitesten von der Kohlenzeche entfernt wohnenden Bergarbeiter. Die erstickten Bergleute zeigten keine äußerlichen Verletzungen. Öfter lagen sie in kleinen Gruppen zusammen, denn sie hatten in ihrer Atemnot offensichtlich Schutz bei Kameraden gesucht. Bedeckt waren sie meist von einer dicken Schicht aus Kohlenstaub. Die Bergmänner, die näher am Explosionsort arbeiteten, hatten den Tod wohl auch durch den ungeheuren Luftdruck gefunden. Die letzten Verunglückten aus der Nähe des zusammengestürzten Explosionsortes musste man unter Schutt und Kohlenstaub hervorholen. Sie wiesen neben starker Verwesung auch schwere Verletzungen durch herabstürzendes Gestein, zusammenbrechende Holzstempel und umhergeschleuderte Maschinen auf. In jedem Fall soll der Tod spätestens nach 2 bis 3 Minuten eingetreten sein.12 Noch am Donnerstag fuhr eine Kommission, bestehend aus den Herren Werner und Heinke vom Bergamt Waldenburg und den Herren Weber, Lindemann und Schrade vom Oberbergamt Breslau, zusammen mit Oberstaatsanwalt Ludwig aus Glatz in die Grube ein, um herauszufinden, ob ein Vordringen in die Abt. 17 möglich sei. Sie kamen mit der Nachricht zurück, dass ihnen bei Öffnung einer Wettertür sofort CO2 entgegengeströmt wäre und keinerlei Hoffnung mehr auf eine Rettung der Eingeschlossenen bestünde, ja, dass ihre Bergung wohl noch lange dauern könnte.13 In der II. Ausgabe des 11. Juli veröffentlichten die BNN auf S. 10 eine „amtliche“ Liste mit den Namen von 152 Getöteten,14 von denen 81 noch nicht geborgen waren. Danach handelte es sich um 2 Steiger (Schwertner und Hoffmann), 88 Hauer, 2 Fahrhauer, 20 Lehrhauer und 40 Schlepper. Die verzweifelten Angehörigen, darunter viele Mütter mit Kindern auf den Armen, wollten das nicht wahrhaben. Sie harrten mit tränenfeuchten Gesichtern auch nachts am Schachtgebäude aus und hofften auf ein Wunder – ein Bild des Jammers und Elends. 11 12 13 14
BNN v. 13. und 16.7.1930. BNN v. 18.7.1930. BNN v. 10.7.1930. später auf 151 Tote korrigiert.
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Abb. 1: Zerstörungen unter Tage nahe der Ausbruchsstelle des Kohlendioxids (Foto Alfred Gaertner, von P. Gaertner zur Verfügung gestellt)
Die 99 geborgenen Toten bahrte die Grubenleitung am 12. Juli im Zechenhaus in Mölke auf, wo die Angehörigen und Bekannten von ihnen Abschied nehmen konnten. Der Todesengel hatte fast jede Familie der 6.000 Einwohner zählenden Bergarbeitergemeinde heimgesucht, denn 120 der Verunglückten kamen aus Hausdorf. Tiefe Trauer und Verzweiflung herrschten an der Stätte der Not, besonders auch bei denen, deren Männer noch im Schacht lagen. Um jene Szenen, die sich dort abspielten ... zu schildern, versagt die Feder, schrieb der Korrespondent der BNN am 12. Juli. Zahlreiche Sanitäter und Schwestern sind liebevoll um die Hinterbliebenen bemüht, ergänzte das „Osnabrücker Tageblatt“ am 13. Juli. Die Trauerfeierlichkeiten fanden am Sonntag, dem 13. Juli, bei wolkenverhangenem Himmel auf dem neuen katholischen Friedhof von Hausdorf statt. Deutschland hatte halbmast geflaggt. Die Organisation der Trauerfeier war mustergültig,“ berichteten die BNN. Unter der Prominenz, die nach Hausdorf geeilt war, befand sich der Grafschafter Großdechant Dittert, Prälat Lange als Abgesandter Kardinal Bertrams, Staatssekretär Dr. Geib von der Reichsregierung, Reichstagspräsident Löbe, der Oberpräsident von Niederschlesien, Lüdemann, sowie die Regierungspräsidenten Happ aus Breslau und Dr. Pöschel aus Liegnitz. Der angekündigte Reichsarbeitsminister Dr. Stegerwald oder ein anderer Reichsminister erschien nicht. Mehr als 20.000 Menschen aus dem Umland, auch aus der nahen Tschechoslowakei, wohnten der Beerdigung vom Hang oberhalb des Friedhofs aus bei. Sie waren
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schon in aller Frühe hierher gekommen, um die Toten zu ehren. Die bis dahin geborgenen Bergleute aus Hausdorf wurden in drei Massengräbern (24, 22 und 6 Bergleute) beigesetzt, die Verunglückten aus der Umgebung fuhr man nachmittags auf die Friedhöfe nach Kunzendorf, Ludwigsdorf, Mittelsteine, Neurode, Schlegel und Volpersdorf. Die eineinhalbstündige Feier war so ergreifend, dass es unmöglich scheint, all das Geschehene in Worten auszudrücken, teilte der Reporter der BNN am 14. Juli 1930 den Lesern in ganz Schlesien mit – und weiter: Das Gesamtbild hatte etwas Weihevolles. Viele Frauen und Kinder, ja selbst Männer brachen dabei aber ohnmächtig zusammen. Ihnen halfen Schwestern und Sanitäter. Die Trauerrede hielt Ortspfarrer Franz Schröfel. U.a. sagte er, dass die Trauer um die Verunglückten nicht nur Hausdorf und den Kreis Neurode, sondern ganz Deutschland erfasst habe. Er sprach vom Heldenmut der Retter, die teilweise ohne Gasschutzgeräte gearbeitet hätten, und der treuen Pflichterfüllung der Bergleute, die immer mit dem Tod rechnen mussten – für einen jammervollen Lohn: Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig.15 Er hoffe, dass die Reichs- und die preußische Staatsregierung nun Hausdorf und dem Neuroder Revier helfen und es nicht so bald vergessen würden. Die evangelischen Angehörigen tröstete Pastor Böttcher. Noch lange Zeit pilgerten viele Menschen zu den frischen Gräbern in Hausdorf und Umgebung, in denen nach und nach auch die später geborgenen Bergleute beigesetzt wurden. Der Reichstag gedachte der Opfer von Hausdorf schon in seiner Sitzung am 10. Juli 1930. Alle Abgeordneten erhoben sich von den Plätzen, und Reichstagspräsident Paul Löbe, ein Schlesier aus Liegnitz, sprach den Angehörigen der Toten das Beileid aus, verbunden mit der Hoffnung, dass die Reichsregierung helfen werde. In der Reichstagssitzung vom 11. Juli informierte der Leiter des preußischen Grubenaufsichtsamtes, Ministerialrat Rother, die Abgeordneten über das Unglück und die Rettungsmaßnahmen. Reichsarbeitsminister Dr. Stegerwald erläuterte die Hilfe der Regierung für die Hinterbliebenen. U.a. sollten die Bezüge der Witwen schnellstens festgesetzt und mindestens ein Fünftel des Jahresverdienstes betragen, dazu kämen die Beträge aus der Knappschafts- und Invalidenversicherung. Mehrere Abgeordnete sprachen bei dieser Gelegenheit das Elend an, das im niederschlesischen Kohlenrevier herrsche. In der Sitzung vom 15. Juli nahm der Reichstag den folgenden Antrag des Haushaltsausschusses mit großer Mehrheit an: Die Reichsregierung wird ersucht, aus Anlass der großen Grubenkatastrophe Neurode bis zu einer Million Reichsmark dem Bergmannsfonds für den niederschlesischen Steinkohlenbezirk beim Oberbergamt Breslau zur Unterstützung der Hinterbliebenen von tödlich verunglückten Bergleuten des Waldenburg – Neuroder Steinkohlenbezirks, und ferner zur Hebung der Gesundheit der Bergarbeiter-Bevölkerung dieses Bezirks zur Verfügung zu stellen.16 Das war damals eine Riesensumme. 15 16
BNN v. 14. 7.1930 (Abschiedsworte). BNN v. 16. 7.1930.
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Beileidstelegramme und Spenden kamen vom Reichspräsidenten v. Hindenburg, von Reichskanzler Brüning, vom preußischen Ministerpräsidenten Braun, auch vom Papst und vielen anderen Persönlichkeiten, Organisationen und Vereinen aus aller Welt nach Hausdorf. Sogar der Minister für öffentliche Angelegenheiten des verfeindeten Frankreich, Pernot, bekundete Mitgefühl. Aber schon bald begannen einige Parteien, schamlos Kapital aus dem Leid der Menschen im Kreis Neurode zu schlagen. Linksradikale Elemente suchten die Bevölkerung gegen Betriebseigner und Regierung aufzuhetzen. Kommunisten aus Breslau wollten in Hausdorf Versammlungen abhalten, doch die Wirte verweigerten ihnen die Räume. So marschierten sie am Ende der Begräbnisfeier an den Gräbern auf und verteilten Flugblätter, in denen sie die Regierung schwer beschuldigten und die Verhaftung der Grubenverwaltung verlangten – zur Empörung der Trauergemeinde.17 Reichspräsident Löbe hatte bei der Trauerkundgebung am 10. Juli im Reichstag gesagt, dass der Schicksalsschlag dem als Elendsrevier bezeichneten Gebiet neues Leid beschert habe. Er lenkte damit das Augenmerk der Öffentlichkeit von der aktuellen Not weiter auf die verzweifelte wirtschaftliche Gesamtsituation des niederschlesischen Kohlenreviers um Waldenburg und Neurode,18 das örtlich und regional schwer unter der Wirtschaftskrise litt. In Hausdorf waren 90 % der Arbeitnehmer Bergleute, dazu viele Einwohner Invaliden, Rentner und Witwen. Ein Schlepper verdiente hier 1930 pro Woche durchschnittlich 26 RM, wenn er älter war als 21 Jahre, ein Hauer ganze 36 RM. Hinzu kam ein Kohlendeputat von 24 t pro Jahr19 für die Heizung. Das waren die niedrigsten Löhne aller Kohlenreviere des Reichs, und davon mussten 24–28 % Sozialbeiträge und wegen der besonderen Unfallgefahr durch die Kohlensäureausbrüche noch einmal 9 % an die Krankenkasse abgeführt werden, also etwa 35 % insgesamt, sodass den meist großen Familien wöchentlich nur ca. 17–23 RM zum Leben blieben.20 Das bedeutete blanke Not. Die Landwirtschaft war in der 460–800 m hoch gelegenen Gemeinde am südlichen Rand des Eulengebirges ebenso ohne Bedeutung wie der erst später einsetzende Fremdenverkehr. Die Wenzeslaus-Grube bestand seit 1771. Ihr Gründer, ein Lehrer, hatte sie nach dem Grundherrn Wenceslaus v. Haugwitz benannt.21 Ihr Besitzer war seit 1926 das E-Werk „Schlesien“, dem auch das Kraftwerk in Mölke, einem Ortsteil von Ludwigsdorf, gehörte. Die Steuern flossen deshalb nach Ludwigsdorf und Versuche, Mölke nach Hausdorf einzugemeinden, waren 1926 gescheitert.22 Obwohl reichsweit 1929 ein gutes Kohlenjahr war, konnten die Betriebe um Neurode und Waldenburg selbst zu dieser Zeit keine Dividende zahlen – Oberschlesien noch 10 % – und die Wenceslaus-Grube musste 1929/1930 bei einer Gesamtförderung von ca. 850 000 t rund 50.000 t unverkäuflicher Kohle auf Halde lagern.23 Die Leitung 17 18 19 20 21 22 23
BNN v. 13., 16. u. 17.7.1930. Vgl. auch: Wittwer: Bergbau im Neuroder Raum, S. 96–100. Spata: Neuroder Steinkohlenrevier, S. 63. BNN v. 13.7.1930. Fogger: Wirtschaftskunde, S. 38. BNN v. 16.7.1930. BNN v. 15. u. 18.7.1930.
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der Wenceslaus-Grube, die 1923 noch 4.600 Menschen beschäftigt hatte, drosselte deshalb die Produktion und suchte vier Wochen vor dem Unglück ihr Heil in Massenentlassungen, die einigen Bergleuten sicher das Leben retteten. Allein Hausdorf hatte nun mit den Entlassenen 1.000 Arbeitslose, von denen die Gemeinde Hunderte zu unterhalten hatte. Sie erhöhte die Steuern für Grundbesitzer und die wenigen Gewerbetreibenden und trieb damit die Preise nach oben. Die katastrophale Finanzsituation machte es der Gemeinde unmöglich, den Hinterbliebenen der Verunglückten finanziell beizustehen, eine Lage, in die kein Bürgermeister jemals kommen möchte! Andere Steinkohlengruben waren nicht viel besser dran. Im niederschlesischen Kohlengebiet wuchsen die Halden von März 1929 bis März 1930 von 1.500 t auf 117.000 t Koks und 188.000 t Kohle, im Reich auf 6,1 Millionen Tonnen. Der Kohleabsatz stockte in ganz Deutschland. England versorgte die deutschen Küstengebiete, Russland zunehmend die osteuropäischen Länder, und selbst Holland drängte mit seiner Kohle auf den Markt.24 Im Wettkampf der Kohlengebiete konnte das niederschlesische Revier nur überleben, wenn es gelang, die Produktionskosten zu senken, die durch die folgenden strukturellen Probleme belastet waren: Problem 1: Die geologischen Verhältnisse. Das Revier befand sich in einer Störungszone mit unübersichtlicher Lagerung der Schichtenstapel und hohem Gebirgsdruck, sodass viel Holz für den sicheren Grubenausbau erforderlich war, das die Kohlengewinnung verteuerte.25 Problem 2: Die Grubenentwässerung. Nach Regenzeiten oder Wolkenbrüchen sickerte das Wasser durch die mit etwa 45 Grad einfallenden Schichten rasch in die Tiefe, weil horizontale Wasserstauer fehlten, und ließ Stollen und Sohlen manchmal tage- und monatelang absaufen. Arbeitsunterbrechungen und starke Pumpen trieben die Produktionskosten ebenfalls in die Höhe. Problem 3: Die Kohle selbst und ihre Lagerung. Die Flöze wechselten auf kurze Entfernung in der Mächtigkeit. Man beschrieb die Kohle als wenig stückig, zermürbt, mulmig, porös, aber als gut verkokbar. Deshalb wurden Kokereien gebaut, um die Rentabilität zu verbessern, und Kraftwerke wie in Mölke und Mittelsteine,26 um die Kohle im Revier zu verstromen. Problem 4: Hohe Bahnfrachten. Der größte Teil der Kohle musste zu hohen Tarifen per Bahn direkt zum Abnehmer oder mit ihr zum Oderhafen Maltsch nördlich Breslau gefahren werden, wo sie wegen ungünstiger Wasserstände oft nicht sofort weiter transportiert werden konnte. Der Neuroder Kreistag forderte deshalb im August 1930 als Reichshilfe – wie schon lange zuvor die Grubenbesitzer – die Subventionierung der Bahnfrachten. Diese kaum zu ändernden Gegebenheiten beeinträchtigten die Konkurrenzfähigkeit der niederschlesischen Kohle so sehr, dass bereits vor dem Krieg, als noch Böhmen als Absatzgebiet zur Verfügung stand, einige Gruben am Rand der Rentabilität arbeiteten. Beeinflussen konnte man aber die Löhne! 24 25 26
BNN v. 31. 7.1930 (Der Kampf um die Kohle). Pieck: Geologisches aus dem Norden der Grafschaft Glatz, S. 95f. Kraftwerk der Reichsbahn für die elektrifizierte schlesische Gebirgsbahn Görlitz – Breslau.
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Besonders typisch für das niederschlesische Kohlenrevier war das sogenannte „Kohlensäure-Problem“, das es in Deutschland nur hier gab.27 CO2 ist ein Verbrennungsprodukt und schwerer als Luft. Es sammelt sich am Boden und fließt in Vertiefungen ähnlich wie Wasser, es mischt sich schlecht mit der darüber liegenden Luft und führt in Konzentrationen ab 4 % zur Lähmung des Atemzentrums und damit zum Tod. Dabei ist es nicht giftig. Bergleute, die mehr als 10 Jahre lang regelmäßig geringere Mengen CO2 einatmen mussten, hatten einer ärztlichen Untersuchung zufolge keinerlei Schäden an Herz und Lunge. Aber wie kommt das Kohlendioxid in die Neuroder Kohle? Nach wiederholter, torfartiger Ablagerung von Pflanzenresten in der Karbon-Zeit [„Steinkohlezeit“] und deren Überdeckung mit Geröllen, Sanden und Tonen, bewegten sich die Schichtstapel in diesem Teil der Sudeten, wurden verbogen, zerbrochen und verschoben. Unter viele Millionen Jahre anhaltendem Gebirgsdruck und unter Wärme wurde aus dem abgelagerten Torfmaterial Steinkohle. Erdbeben werden die Vorgänge begleitet haben, und dabei kam es auch zu vulkanischer Tätigkeit. Gesteinsschmelzen drangen in die Schichtenpakete ein, durchschlugen sie, heizten sie auf, wobei sich CO2 bildete, drückten sie zusammen und erkalteten schließlich zu hartem Porphyr oder Melaphyr, beide in der näheren Umgebung, z. B. bei Königswalde, als Straßenbaumaterial gewonnen.28 Eine Nachwirkung der vulkanischen Tätigkeit ist das Kohlendioxid. Es steigt bis heute aus der Tiefe auf, löst sich in Wasser und sprudelt im Glatzer Land in willkommenen Quellen ans Tageslicht, um die sich berühmte Badeorte wie Altheide, Kudowa, Landeck, Langenau oder Reinerz entwickelt haben. Im Neuroder Gebiet gelangt das Kohlendioxid nicht an die Oberfläche, sondern sammelt sich in den porösen Kohlenflözen wie Erdgas in anderen Speichergesteinen. Dort steht es unter hohem Druck, bis dieser durch den Abbau der Flöze und die Schaffung von Hohlräumen abfällt und das Gas langsam ausströmt oder explosionsartig frei wird. Unbemerkt, kann es im ersten Falle zu raschem Ersticken an tiefer gelegenen Bergwerksorten führen, im zweiten Fall zusätzlich zum Tod durch Luftdruck oder umhergeschleudertes Gestein oder Gerät. Im besonders gefährdeten Kurt-Schacht, aber auch in mindestens 4 anderen niederschlesischen Gruben, schützte man sich vor diesem Unheil durch Sicherheitsmaßnahmen wie: −− Die Aufstellung von Benzinlampen am Arbeitsort. Bei Ausströmen von CO2 ändert sich erst die Flammenfarbe, dann erlischt die Lampe. −− Das Verbot, Schlaggeräte wie Keilhacken zum Kohlenabbau zu verwenden und so Erschütterungen hervorzurufen. −− Die Vorschrift, keine Schlag-, sondern Drehbohrer zum Bohren von Sprenglöchern einzusetzen. −− Das Einsetzen des „Erschütterungsschießens“. Durch starke Sprengungen wird das Flöz tiefgründig erschüttert, dabei die Kohle gelockert und das Kohlendioxid meist frei gesetzt. Die gesamte Mannschaft zieht sich so lange in sichere, gut be27
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Mit CO2 hatten auch südfranzösische Kohlengruben bei ähnlichen geologischen Verhältnissen zu kämpfen. Pieck, H.: Geologisches, S. 96f.
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wetterte (belüftete) Kammern zurück, vor deren Doppeltüren („Schießtüren“) sie zur weiteren Sicherung Benzinlampen aufstellt. −− Eine leistungsfähige Bewetterung. 1929 konnte man dadurch ca. 40 Kohlendioxid-Ausbrüche ohne Probleme kontrollieren. Die BNN berichten am 25. Juli und am 3. August 1930 über das Ergebnis der Recherchen der rund 30 Personen umfassenden Untersuchungskommission, deren Mitglieder allesamt „vor Ort“ waren: −− Am 9. Juli hatte zwei Stunden vor dem Unglück ein starkes Erschütterungsschießen stattgefunden, und die Arbeitsstelle war ordnungsgemäß freigegeben worden. −− Eine Verletzung bergpolizeilicher Sicherheitsvorschriften, und damit menschliches Versagen, ließ sich nicht feststellen. −− Die eingesetzte Schrämmaschine (zur Schaffung von tiefen Kerben [„Schräm“] ins Flöz zur Steigerung der Abbauleistung) war dort nicht verboten und kommt als Ursache kaum infrage. −− Die Rettungsmaßnahmen sind in mustergültiger Weise erfolgt. −− Ein CO2-Ausbruchskanal konnte nicht gefunden werden. −− Die Ursache des Unglücks lässt sich nicht einwandfrei klären. −− Der Bericht stellt kein abschließendes Urteil dar, das bleibt weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen vorbehalten.29 Die Hilfsbereitschaft angesichts des großen Unglücks war 1930 ebenso überwältigend wie heute. Prominente spendeten, darunter der Papst, und die BNN berichteten am 11. Juli von einem Breslauer Arbeitslosen, der von seiner Wochenunterstützung in Höhe von 13,20 RM 3,20 RM spendete, um seinen Teil zur Notlinderung in Hausdorf beizutragen. Als Soforthilfe zahlte man den überlebenden Bergleuten 15 RM Krankengeld. Sie und die Halbwaisen wurden zu Erholungen eingeladen, und viele der unterernährten Kinder kamen dabei zum ersten Male aus ihrem Dorf heraus. Die 105 Witwen mit den 170 Halbwaisen erhielten aus Reichsmitteln 100 RM und für jedes Kind zusätzlich 20 RM, verheiratete Hinterbliebene 80, und den Hinterbliebenen von Ledigen gewährte man sofort 60 RM. Von Lebensversicherungen erhielten 38 der Witwen zusätzlich je 1 000 – 8 000 RM in bar. Die „BNN“ geben am 16. Juli 1930 zu bedenken, dass die meisten der Bergmannsfamilien bis jetzt höchsten einmal 25 RM in der Hand gehabt hätten! Das wussten auch skrupellose Geschäftemacher und Betrüger, die die Witwen, die in Gelddingen meist unerfahrenen waren, um das zugebilligte Geld zu bringen suchten. Die „BNN“ warten dazu mit hässlichen Beispielen auf. Auch das „Osnabrücker Tageblatt“ schreibt am 17. Juli: Die Unterstützungen, die nach Hausdorf und Umgebung fallen, werden leider in sehr großem Maße von dunklen Elementen benutzt, um für sich Geschäfte herauszuschlagen. Die Hinterbliebenen werden oft in einer Stunde von mehreren Agenten und Händlern besucht, die ihnen das Geld aus der Tasche holen ... 29
In den Archiven der Montanuniversitäten Freiberg und Clausthal ließen sich keine Gutachten oder Untersuchungen zur Ursache des Unglücks in der Wenceslaus-Grube finden. Vielleicht gibt es aber Unterlagen dazu in Breslau und Berlin.
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Bald zeigte sich aber, dass die Hilfen für Hausdorf angesichts des regionalen Elends nachhaltiger angelegt werden mussten und nicht nur den Hinterbliebenen der umgekommenen Bergleute zugute kommen durften. Beispielsweise war der Gesundheitszustand der Kinder außerordentlich schlecht, wie eine schulärztliche Untersuchung in Neurode 1928 exemplarisch belegt. Von 188 Schülern waren 27 unterernährt, 28 tuberkuloseverdächtig, 13 drüsenkrank, 27 rachitisch und 88 wiesen eine stark vergrößerte Schilddrüse auf. Mithin waren ganze fünf Kinder – oder 2,6 % – gesund!30 Die Mittel wurden in drei Fonds für verschiedene Aufgaben gesammelt: 1. Im „Bergmannsfonds“ für das niederschlesische Kohlenrevier. Er enthielt 1.200.000 RM aus öffentlichen Quellen, die für einzelne Hinterbliebene verschiedener Grubenunglücke und zur Hebung der Gesundheit der bergmännischen Bevölkerung in der Region bestimmt waren. Dazu gehörte z. B. die Verbesserung der oft menschenunwürdigen Wohnungen, der Bau dringend notwendiger Wasserleitungen, die Einrichtung von Kindergärten und Jugendheimen oder die Unterstützung der Berufsfortbildung. Der Fonds unterstand dem Berghauptmann von Niederschlesien. 2. Im „Neuroder Topf.“ Er enthielt private Spendengelder in Höhe von 150.000 RM, zweckgebunden für die Hinterbliebenen der getöteten Bergmänner. Damit sollte in speziellen Notlagen geholfen und vor allem die Ausbildung der Halbwaisen über die Einrichtung von Sparbüchern langfristig gesichert werden. Die Verwaltung oblag einer örtlichen Kommission. 3. Im Topf der „Deutschen Nothilfe.“ Er enthielt private Spenden in Höhe von 100.000 RM, die nicht zweckgebunden waren und der örtlichen Kommission, die sie verwalten durfte, einen größeren Spielraum bei ihrer Verteilung ließen. Wegen des Krieges und der anschließenden Vertreibung ist es mehr als fraglich, ob die Spenden ihren Nutznießern wirklich zugute gekommen sind. Die Wenceslaus-Grube wurde am 28. Januar 1931 stillgelegt, und danach wuchs das Elend in der Region ins Unermessliche. Große Schlagzeilen rief es aber nicht mehr hervor. 1933 nahm die Wenceslaus-Grube die Produktion für wenige Jahre wieder auf, doch trieb das die Mehrheit der Hausdorfer nicht in die Arme der Nationalsozialisten (s. Abb. 1 im folgenden Aufsatz).
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Wittig: Chronik Neurode, S. 509.
Der Kampf um die Wenceslaus-Grube* in LudwigsdorfMölke, Kreis Glatz, 1931 bis 1939 Von Horst-Alfons Meißner Das Festspiel „Neurode“ – Grubenunglück und NS-Propaganda
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n der Breslauer Jahrhunderthalle wird im September 1934 das monumentale Fest-
spiel „Neurode. Ein Spiel von deutscher Arbeit“ mit 1.400 Mitwirkenden und Massenchören eine Woche lang aufgeführt. Es zieht 75.000 Besucher an und findet im Blätterwald Deutschlands, der noch nicht völlig „gleichgeschaltet“ ist, aber auch durch Aufführungen in Halle und Hannover, ein lebhaftes Echo.1 Mit „Neurode“ bringen nämlich deutschlandweit viele Menschen ein verheerendes Grubenunglück in Verbindung, das vier Jahre zuvor, am 9. Juli 1930, im Kurtschacht des Industriedorfes Hausdorf 151 Todesopfer gefordert hatte. Der Kurtschacht gehört zum Steinkohlenbergwerk „Wenceslaus-Grube“ in Ludwigsdorf-Mölke bei Neurode. Bekannt wurde damals auch die allgemeine Not der Bergleute des „Neuroder Kohlenreviers“, die der Entstehung der Tschechoslowakei aufgrund des Versailler Vertrages und der Politik der Weimarer Republik2 angelastet wurde, und die eine bis dahin beispiellose Hilfswelle in Deutschland ausgelöst hatte.3 Hintergrund des Festspiels ist die Wiedereröffnung des Bergwerks. Im April 1933 hatten Zeitungen gemeldet, dass die „Wenceslaus-Grube“ nach dreijähriger Stillegung am 29. Juli 1933 wieder in Betrieb gehen werde4 – dank der Initiative der entlassenen Bergleute und der Unterstützung durch die NSDAP unter Gauleiter Helmuth Brückner.5 Viele Kumpel finden wieder Lohn und Brot, und das können die Nationalsozialisten propagandistisch ausnutzen, weil Millionen Deutsche wissen, was Arbeitslosigkeit bedeutet. Folgt man den Zeitungsberichten, bemächtigen sich Festspielautor Kurt Heynicke und Komponist Hans-Klaus Langer auftragsgemäß der Ereignisse um die „Wenceslaus-Grube“ im nationalsozialistischen Sinn. Sie machen daraus den Kampf der Bergleute gegen kapitalistische Ausbeuter, die beabsichtigen, „ihre“ Grube für immer absaufen zu lassen. Den Arbeitern, die das Schicksal in die eigenen Hände nehmen, kommt Hitler als Helfer entgegen. So wird aus dem Kampf der Neuroder Bergmänner um ihre Arbeitsplätze ein öffentlichkeitswirksamer Triumph des Nationalsozialismus. Dabei hatten die Nationalsozialisten gerade im Neuroder Revier einen * Korrekte Schreibweise. In den Dokumenten und in der Presse aber oft abgewandelt. 1
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Schlesische Tagespost (im Folgenden ST) v. 6., 16., 18., 21. u. 25.9.1934, Berliner Tageblatt v. 20.6.1935. Gaertner: Wenceslaus-Grube, S. 98f. Meißner: Grubenunglück, in: JbGG, 63. Jg. (2011), S. 72-85. Vgl. z. B. ST v. 13., 20. und 29.4.1933 sowie Das 12-Uhr-Blatt, Neue Berliner Zeitung v. 19.4.1933. Zu Brückner vgl. Klee: Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 78 u. Neubach: Helmuth Brückner, S. 785-798.
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schweren Stand, wie die folgende Tabelle mit den Wahlergebnissen aus einem der Industriedörfer zeigt. Trotz Stimmengewinnen konnten sie hier in freien Wahlen nie stärkste Partei werden. Partei Zentrum SPD KPD NSDAP
Wahl 14.9.1930
Wahl 5.3.1933
19,7 % 36,3 % 27,1 % 5,3 %
14.8 % 40,6 % 11,8 % 26,6 %
Quelle: Statistisches Reichsamt, Reichstagswahlen 1930 und 1933, Berlin 1932 und 1935
Abb. 1: Reichstagswahlergebnisse in Hausdorf bei Neurode
Richard Kammler, Bürgermeister von Ludwigsdorf, schreibt in seiner „Denkschrift“ vom 15. April 1939 zur Erhaltung der Wenceslaus-Grube sogar: Bei den März-Wahlen im Jahre 1933 konnte die Bewegung in unserer Gegend nur 10 % aller Stimmen erreichen.6 Ein anderer Zeitzeuge, Joseph Wittig, hält das in seiner Chronik der Stadt Neurode so fest: Als nach der Machtergreifung des Führers der nationalsozialistische Gedanke mit aller Macht hervorbrach, als Greuelnachrichten von Konzentrationslagern und Judenverfolgungen ... von Mund zu Mund gingen ... legten sich Schrecken und Lähmung über die Stadt ... Neurode konnte wie keine andere Stadt das nationalsozialistische Wollen auf die Probe stellen. Diese Probe war die Wiederbelebung der stillgelegten Wenzeslausgrube. Nationalsozialistische Führer hatten sie versprochen ... und schon vor Ablauf des ersten nationalsozialistischen Jahres fuhren wieder Hunderte von Bergleuten in die Grube ein. Als ehrlicher Chronist darf ich nicht verschweigen, dass unter den ... Stimmen, die bei der Reichstagswahl am 5. März ... für die nationalsozialistische Partei abgegeben wurden, viele beklommene Stimmen waren. Anders bei der Volksabstimmung am 12. November 1933 ... Tausende von ... Stimmen kamen ... aus Dankbarkeit und echter Begeisterung.7 Die Neuroder wandten sich dem NS-Staat erst zu, nachdem er ihnen geholfen hatte. Sozial ist, wer Arbeit schafft, hatte die „Schlesische Tagespost“ ein paar Monate zuvor getitelt.8 Ein Jahr nach der Wiederinbetriebnahme des Bergwerks erscheint am 4. Oktober 1934 in der „Schlesischen Tagespost“ der Artikel: Der erfreuliche Wiederaufstieg der Wenceslaus-Grube.9 Er stützt sich auf den 1. Geschäftsbericht der Bergarbeitergenossenschaft und informiert über deren Anfangserfolge. Danach wird es in der Presse still um den Betrieb.
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BA Berlin, R 1501, Nr. 140 675 (Denkschrift Kammler v. 15.4.1939). Wittig: Chronik Neurode, S. 524f. ST v. 24.9.1932. ST v. 4.10.1934.
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Akten und Behörden Was aber geschah damals – der Öffentlichkeit weitgehend vorenthalten – hinter den Kulissen? Die Vorgänge um die Wiedereröffnung und endgültige Stillegung der WenceslausGrube, die die Bewohner der nördlichen Grafschaft jahrelang tief bewegten, lassen sich mit Hilfe eines Aktenbestands des Berliner Bundesarchivs10 rekonstruieren. Die Unterlagen stammen aus dem Reichsministerium des Innern11 und dessen Verkehr mit anderen Ressorts sowie nachgeordneten Behörden, z.B. dem Oberpräsidium von Niederschlesien, Breslau, der Bezirksregierung in Breslau und dem Landratsamt in Glatz. Regional zuständig im Innenministerium war Ministerialrat (MR) Dr. Hoffmann, ein Fachbeamter, der schon in der Weimarer Republik amtierte. Das Innenministerium achtete zu dieser Zeit besonders auf die finanzielle Gesundung des 1932 geschaffenen und hochverschuldeten Großkreises Glatz.12 Das Wirtschaftsministerium betrieb bis 1936 die Ankurbelung der Wirtschaft überall im Reich, verstärkt auch in den Grenzgebieten. Es koordinierte die Behördenarbeit um die Wenceslaus-Grube, forcierte ab Ende 1936 aber vor allem die Erfüllung des Vierjahresplans, mit der sich die Unterstützung der Mölker Grube zunehmend schlechter in Einklang bringen ließ. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze war Ziel des Arbeitsministeriums in den ersten drei Jahren des NS-Regimes, ab 1936 wurde daraus die ebenso schwierige Aufgabe, die Vierjahresplanbetriebe mit Arbeitskräften zu versorgen. Zielkonflikte bestimmten deshalb zunehmend die Behördenarbeit um die Wenceslaus-Grube. Der Vierjahresplan wurde am 9. September 1936 auf dem Reichsparteitag in Nürnberg verkündet und hatte die Autarkie und Kriegsfähigkeit Deutschlands zum Ziel.
Die Vorgeschichte der Wenceslaus-Grube Die Wenceslaus-Steinkohlengrube in Ludwigsdorf-Mölke, der ein E-Werk angeschlossen war, existierte seit 1771 und beschäftigte 1913 2.283 Mann.13 Gaertner beziffert die Jahresförderung 1914 auf 584.000 t, was einer Jahresleistung pro Mann von gut 250 t entspräche. Maximal arbeiteten in dem Betrieb sogar 4.600 Menschen14 aus den umliegenden Industriedörfern, in denen die Landwirtschaft wegen des rauen Klimas unbedeutend war. Die Bevölkerung lebte hauptsächlich vom Bergbau, daneben von der Textilindustrie, der Waldwirtschaft und vom Gewerbe. Viele Bergleute besaßen ein Häuschen mit etwas Land und Vieh, das sie krisenfester, aber auch ortsverbundener machte. 10 11
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BA Berlin, R 1501, Nr. 140 675 (Landkreis Glatz). Reichsministerium des Innern, bis 1935 Preußisches Ministerium des Innern, zwischenzeitlich auch Reichs- und Preuß. Ministerium des Innern, im Folgenden kurz „Innenministerium,“ „Wirtschaftsministerium“ usw. Nach ST v. 16.12.1932 mit 125.343 Einwohnern der zweitgrößte Kreis Preußens. Pierenkemper: Industrialisierung, S. 196. Gaertner: Wenceslaus-Grube, S. 93, und Bernatzky: Lexikon Grafschaft Glatz, Stichwort „Ludwigsdorf“.
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Durch den Verlust des Absatzgebietes Böhmen15 geriet die Grube nach dem Ersten Weltkrieg in Bedrängnis, gleichwohl gelang es dem weit vorausschauenden Besitzer, Dr. Adrian Gaertner, das Bergwerk zum modernsten Deutschlands auszubauen. Schon 1924 experimentierte er mit der Kohleverflüssigung nach dem Bergius-Verfahren, und in- und ausländische Besucher studierten in Mölke den zukunftsweisenden und z. T. schon automatisierten Kohlenabbau.16 Adrian Gaertner, den die Arbeiter sehr achteten, musste die Grube jedoch 1926 an das E-Werk Schlesien verkaufen, blieb aber ihr Generaldirektor und legte erst nach der Katastrophe am 17. März 1931 sein Amt nieder.17 Die „Wenceslaus-Grube,“ die ihren Namen im 18. Jahrhundert vom Grundherrn Wenceslaus von Haugwitz erhielt,18 bildete mit den „Neuroder Kohlen- und Tonwerken“ das „Neuroder Kohlenrevier“, das mit dem nordwestlich benachbarten „Waldenburger Revier“ zum „Niederschlesischen“ Steinkohlenrevier zusammen gefasst wurde. Das „Oberschlesische“ Steinkohlengebiet befand sich 150 km weiter südöstlich. Neben der Marktferne nach 1918 waren ungünstige Lagerungsverhältnisse und die ständige Gefahr von „Kohlensäure“– Ausbrüchen die größten Probleme der Wenceslaus-Grube.19 Eine aufwändige Technik und teure Sicherungsmaßnahmen erlaubten wohl die Fortführung des Betriebs, schmälerten aber Löhne und Betriebsgewinn. Und trotz aller Vorsicht kam es immer wieder zu Todesfällen durch CO2-Ausbrüche, aber der Ausbruch vom 9. Juli 1930 stellte alles Bisherige in den Schatten: Er forderte 151 Menschenleben. Die Hilfe aus dem ganzen Land war beispiellos, konnte jedoch das allgemeine Elend der Bewohner des Reviers nicht ändern.20 Die besonders stark durch CO2 gefährdeten Ostfelder des Bergwerks mussten nach der Katastrophe gesperrt werden, und der Loewe-Gesfürel-Konzern,21 zu dem das „E-Werk Schlesien“ als Grubenbesitzer gehörte, lehnte die Fortführung des Betriebs nach einer Zeitungsmeldung vom 23. Januar 1931 ab,22 möglicherweise auch, um der Regierung die Folgen für die Region vor Augen zu führen und sie dadurch unter Druck zu setzen.23 Neurode gehörte nämlich zum Wahlkreis 7 des damaligen Zentrums-Reichskanzlers Heinrich Brüning.24 Einen Tag später verweigerte auch der Reichswirtschaftsminister die Sanierung,25 und so wurde das Bergwerk am 28. Januar 1931 stillgelegt. Im Industriebezirk kam es in großer Verbitterung zu Protestkundgebungen der gesamten Bevölkerung.26 15
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Muhs: Die alte Mölke, in: DGG, 25. Jg., 4/1930, S. 94. Nach Wittig: Chronik Neurode, S. 508, gingen vor dem Krieg ca. 60 % der Förderung nach Böhmen, Posen und Westpreußen. Gaertner: Wenceslaus-Grube, S. 93–95. ST v. 17.3.1931. Fogger: Wirtschaftskunde Glatz, S. 38. Pieck: Geologisches aus dem Norden der Grafschaft Glatz, in: DGG, 25. Jg., 4/1930, S. 96f. Meißner: Grubenunglück, in: JbGG, 63. Jg. (2011), S. 72–85. Gesfürel = Gesellschaft für elektrische Unternehmungen (Finanzierungsgesellschaft). ST v. 23.1.1931. BA Berlin, R 1501, Nr. 140 675 (Kammler). Reichskanzler vom 30. 3.1930 bis 30.5.1932. Akten der Reichskanzlei: Die Kabinette Brüning, Sitzung vom 31.1.1931, Dok. 233, S. 837. ST v. 11.3.1931.
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Abb. 2: Übertageanlage der Wenceslaus-Grube in Ludwigsdorf-Mölke in den 20er Jahren. (Fotos Alfred Gaertner, von P. Gaertner zur Verfügung gestellt.)
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Die Stillegungsgründe ergeben sich aus einem Gutachten, das der Generaldirektor der Deutschen Aluminiumwerke, Max von der Porten, auf Beschluss des Reichstagswirtschaftsausschusses am 12.2.1932 vorlegte27 – vermutlich, weil die frühere Belegschaft der Grube die Kohlenförderung auf genossenschaftlicher Basis wieder aufnehmen wollte. Danach hätte die Wiederinbetriebnahme der Grube verlorene Zuschüsse von zunächst 3 Mio. RM und 2,3 Mio. RM in den nachfolgenden28 Jahren erfordert. Ministerialrat Othmar Fessler empfahl, keine Reichsmittel zur Verfügung zu stellen, da nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen eine Amortisation und Verzinsung der Gelder nicht zu erwarten sei.29 Notwendig gewesen wäre – nach Gaertners Vorschlag30 – die Auffahrung einer 4. Sohle im Westfeld und die Automatisierung des Kohlenabbaus. Am 18. April 1931 meldete die „Schlesische Tagespost“: Wenceslaus-Grube in Konkurs. Das Schicksal der Grube endgültig besiegelt. 2.640 Menschen31 verloren den Arbeitsplatz und vermehrten das Elend im Kreis Neurode, denn kaum 200 von ihnen fanden in den benachbarten „Kohlen- und Tonwerken“ eine neue Verdienstmöglichkeit. Anfang März 1932 wurden auch die Pumpen abgeschaltet, die das Vollaufen der Grube verhinderten, und Brüning bat in der Kabinettsitzung vom 2. März 1932 den Reichsfinanz- und den Reichswirtschaftsminister vergebens, bei der Bedeutung der Angelegenheit für das schlesische Grenzgebiet, die nötigen 20.000 RM zur Verfügung zu stellen, um die Erhaltung der Grube zunächst zu sichern. Die Frage des weiteren Schicksals der Grube könne dann nach der Reichspräsidentenwahl entschieden werden.32 Mehrere Versteigerungsversuche33 brachten keinen Interessenten mit den erforderlichen Geldmitteln, obwohl die Eigner Entgegenkommen zeigten. Nach Zeitungsberichten soll die Grube mit 12 Millionen RM verschuldet gewesen sein.34 Auch Preußen verweigerte die Hilfe,35 wohl gestützt auf ein Gutachten des Bergassessors Piper vom 20. Mai 1931, das eine rentable Kohlenförderung unter angemessenem Einsatz ebenfalls verneinte.36 Das Ende der Wenceslaus-Grube war nicht die einzige Katastrophe, die den Kreis Neurode in dieser Zeit traf. 1931 musste auch die Johann-Baptista-Grube in Schlegel, die seit 150 Jahren Kohle förderte, wegen Absatzmangels schließen und 70 Bergarbeiter entlassen. Damit büßte die Eulengebirgsbahn den Großteil ihrer Fracht ein und wurde streckenweise stillgelegt.37 Die Rubengrube der „Neuroder Kohlen- und Ton27 28 29 30 31 32 33 34 35
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Ging am 19.2.1932 ans Wirtschaftsministerium. Akten der Reichskanzlei: Kabinette Brüning, Bd. 3, Dok. 691, Anm. 2, S. 2346. Akten der Reichskanzlei: Kabinett v. Papen, 1.6.–3.12.1932, Bd. 1, Dok. 13, S. 31. Gaertner: Mein Großvater, S. 36. ST v. 28.3.1931. Die entlassenen Bergleute hatten rund 6 000 Angehörige (Wittig, S. 508). Akten der Reichskanzlei: Die Kabinette Brüning, Bd. 3, Dok. 691, S. 2346. So am 26.11.1932, ST v. 27.11.1932. ST v. 18.4.1931. ST v. 11.3. und 16.10.1931. Begründung: Die Sanierung sei zu teuer, die Grube zu gefährlich (CO2), und die Konkurrenz beliefere inzwischen die Wenceslaus-Kunden. Am 12.12.1930 schrieb die ST aber, dass die Regierung eine wohlwollende Prüfung des Weiterbetriebs der Grube zugesagt habe. BA Berlin, 1501, Nr. 140 675 („Stellungnahme“ bzw. Gutachten Lakwey, 15.5.1933). ST v. 25.1., 3.2., 19.2., 11.3.1931.
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werke“ reduzierte ihre Belegschaft von 1.500 auf 400 Mann, die „Bilderfabrik“ Neurode (Berlin-Neuroder Kunstanstalt) schloss ihre Pforten,38 und am 1. August 1932 verlor Neurode zu allem Unglück durch die Landkreisreform auch noch den Kreissitz an Glatz, das historische Zentrum der ehemaligen Grafschaft. Proteste nützten nichts. Das Neuroder Revier sei der furchtbarste Elendsbezirk Deutschlands, schrieb die „Schlesische Tagespost“ am 8. Dezember 1932.
Selbsthilfe der Bergleute: Die Gründung einer Betriebsgenossenschaft Im Oktober 1931 beschlossen die Bergleute der ehemaligen Wenceslaus-Grube aus nackter Not, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und gründeten die „Betriebsgemeinschaft Wenceslaus-Grube, Bergbaugenossenschaft m. b. H.“ mit dem Ziel, das Bergwerk wieder in Gang zu setzen und Arbeit zu schaffen.39 Sie war die erste derartige Unternehmung von Arbeitern in Deutschland.40 Handwerker und Gewerbetreibende wurden Mitglieder, weil auch ihre Existenz an dem Kohlenbetrieb hing. Im Oktober 1932 setzte die Betriebsgemeinschaft mit gesammeltem Geld die Pumpen wieder in Gang und förderte mit Erlaubnis des E-Werks Schlesien, des Grubenbesitzers, rund 6.000 t Winterhilfskohle41 für 2.150 arme Familien des Reviers,42 denn die Grubenausrüstung funktionierte noch trotz steigenden Wassers. Neben SPD43 und Zentrum unterstützte nun auch die KPD die Arbeiter, die nach der Katastrophe für die Schließung der Grube eingetreten war, und das tat natürlich auch die NSDAP. Doch die Verhandlungen in Breslau und Berlin um finanzielle Hilfen verliefen ergebnislos. Die NSDAP versprach, im Falle der Regierungsübernahme die Grube wieder zu eröffnen, erzielte aber auch damit bei freien Wahlen im Neuroder Revier keinen Durchbruch.
Die NSDAP schaltet sich ein: Das Lakwey-Gutachten Am 19. April 1933, kaum drei Monate nach der Machtergreifung Hitlers, meldet „Das 12-Uhr-Blatt“, Berlin: Der Kampf um die Wenzeslaus Grube. Kundgebung für ihre Wiedereröffnung in Neurode und einen Tag später die „Schlesische Tagespost“: Wenceslaus-Grube kommt wieder in Betrieb. Auf einer Versammlung im „Preußischen Hof“ in Neurode zweifelt der Vorsitzende der „Betriebsgemeinschaft Wenceslaus-Grube“, Konrad Gratzke, die Ergebnisse des Piper-Gutachtens an, und 38 39 40 41
42 43
ST v. 8.12.1932. ST v. 16.10., 4.11. u. 8.11.1931. BA Berlin, R 1501, Nr. 140 675 (Kammler). Angaben über die Fördermenge schwanken zw. 3 500 u. 6 000 t, vgl. ST v. 23.10., 20.12.1932 u. 31.1.1933. ST v. 23.11.1932: Hilfsaufrufe wegen der Not in den Industriedörfern, z. B. in Kunzendorf. Der SPD fehlte 1931 die Linie. Oberpräsident Lüdemann (SPD) erklärte der Presse, dass trotz Betriebsgemeinschaft an eine Neueröffnung der Wenceslaus-Grube wegen nachgewiesener Unrentabilität nicht zu denken sei und öffentliche Gelder Fehlinvestitionen wären (ST v. 4.11.1931), während sich Reichstagspräsident Löbe (SPD) in Ludwigsdorf vor Bergleuten für die Wiederinbetriebnahme einsetzte und Hoffnungen weckte. (n. Kammler, 15.4.1939).
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der NSDAP-Landtagsabgeordnete Paul Franke44 aus Liegnitz erklärt unter dem Jubel der Menge, dass die Grube unter allen Umständen wieder eröffnet werde, und zwar mit besonderer Unterstützung des Gauleiters und neuen Oberpräsidenten von Niederschlesien, Helmuth Brückner. Die politische Entscheidung ist damit gefallen. Die NSDAP kämpft um die Gunst der Bergarbeiter und muss ihre Zusage einhalten, um Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen. Das größte Hindernis auf dem Weg zur Wiederaufnahme der Förderung in der Wenceslaus-Grube ist jetzt finanzieller Art, denn alle Gutachten verneinen die Rentabilität des dortigen Kohlenabbaus und damit auch die Kreditwürdigkeit des Unternehmens. Auf Betreiben des NS-Oberpräsidenten Brückner präsentiert der Bergbauingenieur Lakwey45 am 15. Mai 1933 ein neues Gutachten,46 das die Wirtschaftlichkeit der Kohlenförderung in Mölke unter gewissen Voraussetzungen bejaht. Anders als Piper, der möglichst hohe Renditen für das eingesetzte Kapital der Grubeneigner im Auge haben musste, prüft Lakwey, ob die „Betriebsgemeinschaft“ die Kaufpreisforderung in Höhe von 350.000 RM zusätzlich zu Zinsen, Löhnen und Gerätereparaturen im Laufe von fünf Jahren erwirtschaften kann. Für diesen Betrag nämlich will die Reichsknappschaft, letzter verbliebener Gläubiger, ihre Gesamtforderung von rund 1 Million Goldmark an die Betriebsgemeinschaft verkaufen. Lakwey plant kurzfristiger als Piper. Sein Ziel ist die Schaffung von Arbeitsplätzen, die sich tragen, und das deckt sich mit dem der „Betriebsgemeinschaft“. Seine günstige Prognose rührt daher, dass er sich auf die Förderung der Restkohlenbestände von 1,2 Millionen t in Sohle 1 bis 3 in einem Zeitraum von fünf Jahren beschränkt und erst einmal auf die teure Erschließung einer 4. Sohle verzichtet. Außerdem geht er von der Fördertauglichkeit der noch vorhandenen Einrichtungen aus. Damit entfallen Investitionen, die jede geförderte Tonne hoch belasten würden. Die Selbstkosten pro geförderte Tonne Kohle werden von der „Betriebsgemeinschaft“ mit 8,77 RM, von Lakwey mit 9,65 RM, von Piper aber mit 12,31 RM errechnet.47 Damit wäre Pipers Kohle unverkäuflich. Lakwey glaubt, mit einer Belegschaft von knapp 1.000 Personen nach 7 Monaten monatlich ca. 19.000 t Kohle fördern und ca. 18.200 t48 absetzen zu können. Der Überschuss pro Tonne beliefe sich auf 0,81 RM und stände für Tilgung, Zinsen und Ersatzbeschaffungen zur Verfügung. Ein Rest von 250.000 RM ginge nicht als Ge44
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Franke, Paul (*27.4.1892 in Breslau, †22.5.1961 in Northeim), NS-Kreisleiter und Stadtrat (1929–1933) in Liegnitz, Mitglied des Preuß. Landtags 1928–1933, Reichstagsabgeordneter 1933–1945, u.a. Stoßtruppredner für die Reichspropagandaleitung der NSDAP. Wikipedia, 17.11.2011. Dipl. Bergingenieur Lakwey wird in Franzky, Georg: „Erinnerungen an Kupferberg“ (Schlesien) als Mitarbeiter des Nationalsozialisten u. Bergassessors Pfitzner erwähnt. L. wird dort als fleißig und tüchtig in seinem Beruf beschrieben. Obwohl nicht Soldat, sei er seit 1945 verschollen. (Kornemann, Heinz: Chronik von Kupferberg, S. 39, Internet, Abruf 12.1.2011). BA Berlin, R 1501, Nr. 140 675 (Gutachten Lakweys v. 15.5.1933). Der Lohnanteil einschließlich Soziallasten wird von der „Betriebsgemeinschaft“ mit 5,94 RM, von Lakwey mit 6,42 RM, von Piper aber mit 8,87 RM angesetzt. Die Förderung muss wegen Eigenverbrauchs und der Deputatkohle um einige Tausend Tonnen höher liegen.
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winnausschüttung an die Genossen, sondern würde für den Ausbau der 4. Sohle und die Erneuerung des Geräts eingesetzt. An Staatszuschüssen für die Anlaufphase der ersten 7 Monate veranschlagt Lakwey 600.000 RM. Er rechnet dagegen, dass Reich, Land und Kommunen bei 1.000 Grubenbeschäftigten in der gleichen Zeit etwa 1.800.000 RM an Wohlfahrtsunterstützung einsparen und die Wirtschaft der Region durch die Kaufkraft der Löhne eine Belebung erfahren werde. Dem niederschlesischen Steinkohlensyndikat, das die Grubeneröffnung verhindern möchte, entstünde keine große Konkurrenz, weil Mölke Industriekohle, das Syndikat aber Kokskohle produziere. Keine Frage: Lakwey kalkuliert knapp, aber nachvollziehbar und ganz im Sinne der Auftraggeber. Ein Gefälligkeitsgutachten liefert er aber nicht.
Oberpräsident und Gauleiter Brückner: Der Notstandskreis Glatz muss bürgen! Die Reichsknappschaft ist bereit, den Kaufpreis von 350.000 RM der „Betriebsgemeinschaft Wenceslaus-Grube“ für fünf Jahre als Darlehen zur Verfügung zu stellen. Sie verlangt dafür aber Sicherheit in Form einer Bürgschaft des neuen Großkreises Glatz. Der Kreis beschließt trotz hoher Verschuldung am 7. April 1933 die Bürgschaftsübernahme unter Hinweis auf die Einsparung von Sozialleistungen, vor allem aber auf Druck der NSDAP, die bei den Bergarbeitern im Wort steht, und Landrat Dr. Franz Peucker unterschreibt den Beschluss.49 Doch der Regierungspräsident versagt die Zustimmung und schaltet das Innenministerium ein, das auf die Sanierung des Kreises drängt. MR Hoffmann liefert am 2. Juni 1933 die Begründung: 1. sei die Übernahme von Bürgschaften für Privatunternehmen qua Gesetz verboten und 2. sei der Kreis Glatz mit 5.420.000 RM Schulden und jährlichen Zins- und Tilgungslasten in Höhe von 450.890 RM wirtschaftlich in so bedrängter Lage, dass er seinen Verpflichtungen nur mit hohen Staatszuschüssen nachkommen könne und die Übernahme der Bürgschaft nicht zu verantworten sei. Bei Fälligkeit wäre der Kreis niemals in der Lage, die Bürgschaft einzulösen – und er sollte recht behalten. Mit so viel preußischer Gesetzestreue hatten die Parteigrößen nicht gerechnet und werden nun erneut aktiv. Am 19. Juni 1933 genehmigt der NSDAP-beherrschte Bezirksausschuss trotz des Vetos der Aufsichtsbehörde den Glatzer Antrag und führt dazu aus: −− die Betriebsgemeinschaft, kameradschaftlich und somit nach nationalsozialistischen Grundsätzen aufgebaut, sei kein Privatunternehmen, das auf höchstmöglichen Unternehmergewinn, sondern allein auf die Milderung der Arbeitslosigkeit ausgerichtet sei. Überschüsse würden nur im Interesse des Unternehmens verwendet. 49
Landrat Dr. Franz Peucker verlor sein Amt am 31.8.1933. (vgl. Meißner: Landräte, in diesem Buch).
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−− Die durch Arbeitslosigkeit fälligen Unterstützungslasten des Kreises würden gesenkt. −− Nach dem Gutachten von Lakwey sei die Inanspruchnahme des Kreises durch die Bürgschaftsverpflichtung nicht zu befürchten. −− Das Darlehen sei in fünf Jahresraten bei einer Verzinsung des Restes zu 4 % ab dem 1. Juli 1934 zurückzuzahlen. Freiherr v. Zedlitz vom Oberpräsidium Niederschlesien bittet das Innenministerium am 15. Juli 1933, das erstaunt auf die ungewöhnliche Widersetzlichkeit des Bezirksausschusses reagiert hat, seine Bedenken zurückzustellen. Der Oberpräsident habe sich schon als Gauleiter der NSDAP Schlesiens für die Wiederaufnahme der Förderung der Wenceslaus-Grube eingesetzt. Seinem Eintreten hierfür ist es ... zu danken, dass die nationalsozialistische Bewegung gerade im Kreis Neurode ... die kommunistischen und sozialdemokratischen Strömungen in der Bevölkerung besiegt hat. Der Herr Oberpräsident hat ... alles getan, um die von ihm als Gauleiter erweckten Hoffnungen nicht zu enttäuschen ... Der Oberpräsident glaubt, darauf hinweisen zu müssen, ... dass hier ein Unternehmen vorliegt, das ... eine weit über das Privatwirtschaftliche hinausgehende politische und soziale Bedeutung hat. Hinzu kommt, dass der Kreis durch die Übernahme der Bürgschaft dazu beiträgt, Arbeiten in Gang zu bringen, die ... zu einer ganz wesentlichen Entlastung des Kreisetats von Wohlfahrtslasten führen werden ... Auf Grund dieser Stellungnahme [des Oberpräsidenten Brückner] hat der Regierungspräsident [Kroll, Breslau] seine Bedenken zurückgestellt. Der Bezirksausschuss hat ... sich die vom Herrn Oberpräsidenten vertretene Auffassung ... zu eigen gemacht ... Dass der Kreis Glatz aus der übernommenen Bürgschaft in Anspruch genommen werden wird, halte ich bei normaler Entwicklung der Wirtschaftslage für ausgeschlossen.50 Der skeptische MR Hoffmann in Berlin beugt sich dem Druck nur widerwillig und vermerkt am 20. Juli 1933 handschriftlich: Gegenüber der einhelligen optimistischen Beurteilung der Rentabilität des künftigen Betriebes der Wenceslausgrube (Kreisausschuss u. Kreistag Glatz, Bezirksausschuss, Gutachterkommission, Regierungspräsident, Oberpräsident, Gauleitung der NSDAP) werden die gegen die Bürgschaftsübernahme geäußerten Bedenken zurückgestellt werden müssen. Es bleibt abzuwarten, ob sich die gehegten Hoffnungen erfüllen werden ... Dem Regierungspräsidenten teilt er mit: Wenn auch nach den dortigen Berichtsausführungen ... eine Inanspruchnahme des Kreises Glatz aus der Bürgschaftsverpflichtung nicht zu erwarten ist, so muss ich doch das größte Gewicht darauf legen, dass die wirtschaftliche und finanzielle Entwicklung der Wenceslausgrube ... von Ihnen ständig ... im Auge behalten wird. Zum 1. Februar 1934 ersuche ich über die Lage des Unternehmens zu berichten ...51
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BA Berlin, R 1501, Nr. 140 675. ebd.
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„Wenceslaus“ geht wieder in Betrieb und hat Anfangserfolge Nun sind alle Weichen gestellt. In einer Zwangsversteigerung des Amtsgerichts Neurode wird die Wenceslaus-Grube am 28. Juli 1933 gegen Zahlung der 350.000 RM Besitz der „Betriebsgemeinschaft.“52 Der vorsichtige Preußische Minister für Wirtschaft und Arbeit lässt die Wirtschaftlichkeitsberechnungen durch das Oberbergamt überprüfen und wendet sich dann an den Reichskanzler Hitler und andere Minister des Reichskabinetts: Damit ist die Möglichkeit gegeben, der Verwirklichung des von der Neuroder Grenzbevölkerung und der ganzen Provinz Schlesien verlangten Planes der Wiederaufnahme des Betriebes der Wenceslaus-Grube ... näherzutreten. Gegen die Wiederinbetriebnahme der Grube mit Mitteln der öffentlichen Hand bestanden bisher starke Bedenken ... Grenz- und arbeitspolitische Gründe sprechen bei der außerordentlichen Notlage der Neuroder Bevölkerung dafür, die Wiederaufnahme des Betriebes ... mit allen Mitteln zu fördern ... Die ... Prüfung des Gutachtens durch das ... Oberbergamt hat ergeben, dass zwar gegen die Wirtschaftlichkeitsberechnung ... Bedenken vorliegen, dass jedoch der errechnete Betrag von 600.000 RM ... zur Wiederaufnahme der Arbeit notwendig ist ... Da es sich ... um eine typische Aktion zur Arbeitsbeschaffung handelt und hierfür ... besondere Reichsmittel ausgeworfen sind, bitte ich, durch einmalige Hergabe eines Darlehns ... von 600.000 RM ... die Wiederaufnahme des Betriebes der Wenzeslausgrube zu ermöglichen.53 Mit allen Mitteln ... fördern, ist der Passus, der die Regierung jahrelang bindet. Das Preußische Staatsministerium stimmt unter der Bedingung zu, dass sich Preußen und das Reich je zur Hälfte die Garantie für das Darlehen54 teilen. Nun sind alle Hürden genommen, und schon am 29. Juli 1933 geht die Wenceslaus-Grube wieder in Betrieb. Sieben Monate später, am 1. März 1934, berichtet die Breslauer Regierung weisungsgemäß und verhalten positiv ans Innenministerium: Seit Wiederaufnahme des Betriebes ... sind die Aufräumungsarbeiten ... über Tage wie unter Tage befriedigend fortgeschritten. Es haben sich ... Schwierigkeiten bei den Aufräumungsarbeiten unter Tage gezeigt, die nur durch Einsetzung erheblicher Mittel völlig abwendbar sein werden. Immerhin ist die Kohlenförderung erheblich gestiegen ... Bisher übersteigt die Nachfrage die geförderten Kohlenmengen. Für die ... Aufräumarbeiten und ... für das ... Leerpumpen der ... dritten Sohle, in der wertvolle Kohlenmengen lagern, waren weitere Betriebsmittel notwendig. Der Betriebsgemeinschaft ist ... ein Kredit von 600.000 RM gewährt worden. Träger des Darlehens ist der Niederschlesische Provinzialverband ... Das Oberbergamt überwacht die ... Entwicklung ..., die ... zur Zeit durchaus günstig beurteilt werden kann. Eine Inanspruchnahme des Landkreises Glatz ... für das Darlehen von 350.000 RM ist nicht zu besorgen.55 Die Erfolgsnachricht geht auch an die Öffentlichkeit. Am 4. Oktober 1934 meldet die „Schlesische Tagespost“ unter dem Titel: Der erfreuliche Wiederaufstieg der 52 53 54 55
ebd., Preuß. Min. f. Wirtschaft u. Arbeit. ebd., Preuß. Min. f. Wirtschaft u. Arbeit. Darlehen von der Dt. Gesellschaft für öffentliche Arbeiten. BA Berlin, R 1501, Nr. 140 675.
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Wenceslaus-Grube: Die Aufräumarbeiten und das Auspumpen der 3. Sohle seien fortgeschritten. 660 Beschäftigte hätten inzwischen 88.171 t Kohle gefördert und 789.000 RM an Löhnen erhalten. Die Förderung entspricht den Prognosen, die Gesamtlage nicht, denn die Wenceslaus-Grube sollte nach sieben Monaten unter Nutzung der 3. Sohle schon rentabel arbeiten. Sohle 3 muss aber zu hohen Kosten weiter ausgepumpt werden und steht für die Kohlenausbeute erst später zur Verfügung. Lakwey hatte die Probleme unterschätzt. Am 18. Februar 1935, anderthalb Jahre nach Förderbeginn, erhält der Innenminister auf besondere Erinnerung vom Regierungspräsidenten die folgenden, beruhigenden Informationen: −− Die Aufräum- und Instandsetzungsarbeiten hätten gute Fortschritte gemacht, sodass die Förderung auf der 3. Sohle in Kürze die beabsichtigte Höhe erreichen werde. −− Die Monatsförderung betrage 19.906 t. −− Die Kohlennachfrage könne mit einer 836 Mann-Belegschaft kaum bewältigt werden. −− Für den Kreis Glatz sei der Bürgschaftsfall weiterhin nicht zu besorgen.56 Im „Berliner Tageblatt“ vom 20. Juni 1935 wird das Hohelied der Neuroder Bergleute gesungen und ihre Leistung als beispielhaft auch für andere stillliegende Industriebetriebe hingestellt. Die Privatwirtschaft erfahre, dass ihre Gefolgschaften weiterbauen wollen, wenn Kraft und Vermögen des einzelnen Unternehmers versagen. Kumpels als Aktionäre eines Industriekomplexes: Theoretiker können dieses Verhältnis als einen sozialistischen [!] Idealzustand bezeichnen.
Die Skeptiker behalten Recht: Die Grube trägt sich nicht Inzwischen ziehen aber dunkle Wolken am Wenceslaus-Himmel auf. Am 28. August 1935, zwei Jahre nach Wiederaufnahme der Förderung, mahnt das Innenministerium beim Regierungspräsidenten den fälligen Bericht über die Entwicklung in Mölke an und möchte vor allem wissen, ob eine Inanspruchnahme des Landkreises Glatz aus seiner Bürgschaftsverpflichtung ... in absehbarer Zeit in Frage kommen kann.57 Die Antwort lässt volle drei Monate auf sich warten und lautet dann: Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Betriebsgemeinschaft der Wenceslaus-Grube haben sich leider ungünstig gestaltet. Man bitte um Verlängerung der Berichtsfrist.58 Schließlich hat Regierungspräsident Kroll den Glatzer Landrat Horstmann befragt und teilt dem Innenminister am 4. Dezember 1935 per Schnellbrief endlich mit: −− Der Absatz sei unbefriedigend, weil die Kohlenqualität nicht stimme. −− Es komme zwischen Aufsichtsrat (Gratzke) und Betriebsführer (Arold) zu Reibereien, die den Betrieb schädigen. Auch der Vertreter der Gauleitung im Aufsichtsrat, Bergassessor Loda, mache Probleme. −− Vom 28. Juli 1933 bis 31. August 1935, in zwei Jahren, seien 966.000 RM an Unterstützungsgeldern eingespart worden, davon 726.000 RM für den Kreis. Dem56 57 58
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gegenüber stehe eine Förderung der Genossenschaft mit öffentlichen Mitteln in Höhe von 960.000 RM. −− Es seien weitere Mittel erforderlich, um die Förderung rentabel zu machen. −− Der Wirtschaftsminister habe eine Nachprüfung des Jahresabschlusses vom 30. Juni 1935 durch das Oberbergamt und die Dt. Revisions- und Treuhand A.G. angeordnet. Kroll, ein Wirtschaftsfachmann, schließt, dass er die Entwicklung der WenceslausGrube ungünstig beurteile, es sei denn, dass die personellen Probleme beseitigt und weitere Mittel bereitgestellt würden.59 Die Federführung für die „Wenceslaus-Grube“ liegt beim Reichswirtschaftsminister. Der informiert am 19. November und 21. Dezember 1935 alle beteiligten Ministerien und die Deutsche Gesellschaft für öffentliche Arbeiten wie folgt über die Situation: Die Betriebsgemeinschaft habe bilanzmäßig einen Verlust von 186.000 RM erwirtschaftet und müsse nach strengem Genossenschaftsrecht Konkurs anmelden. Sie habe deshalb den Antrag gestellt, einen Darlehensbetrag von 210.000 RM in einen verlorenen Zuschuss umzuwandeln. Die Überprüfung des Bergwerks durch das Oberbergamt habe folgende Ergebnisse gebracht: −− Die Darlehen seien im Februar 1936, also bald, aufgebraucht. −− Solle der Betrieb fortgeführt werden, benötige er bis 1. Oktober 1938 weitere 960.000 RM, ohne dann mit Sicherheit rentabel zu sein. −− Die Hergabe des Betrags werde befürwortet, um dem Revier eine Verschlimmerung der Wirtschaftslage und dem Staat hohe Fürsorgeaufwendungen zu ersparen. −− Bis jetzt habe die Grube 460.000 RM Knappschaftsbeiträge gezahlt und 862.000 RM Unterstützungsgelder erspart, öffentliche Mittel seien aber nur 812.000 RM geflossen. −− Die Überprüfung durch die Revisions- und Treuhand AG habe die Befürchtungen mancher Ressorts in Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit des Betriebs bestätigt. −− Dennoch solle die Frage der Stillegung der Grube nicht erörtert werden.60 Damit ist Ende 1935 das entscheidende Wort Stilllegung erstmals gefallen, obwohl die Betriebsgemeinschaft Löhne und Zinsen gezahlt und die Öffentlichkeit unter dem Strich keine Verluste durch das Sozialunternehmen hatte. Das Innenministerium fürchtet nun den Eintritt des Bürgschaftsfalles und tritt deshalb nachdrücklich für die Erhaltung der Grube ein.61 Oberpräsident Josef Wagner, der Helmuth Brückner im Januar 1935 abgelöst hatte,62 meldet dem Innenministerium am 5. September 1936, dass die Reichskreditanstalt 1 Million RM bereitgestellt habe, dass Bergassessor Miksch aus Hindenburg an Lodas Stelle getreten sei und Landrat Horstmann nun Vorsitzender des Aufsichtsrats wäre. Wagner gehe davon aus, dass das Werk ab Januar 1938 auf eigenen Füßen stehen könne. Eine Inanspruchnahme des Kreises Glatz durch die Bürgschaft sei weiterhin nicht zu befürchten.63 59 60 61 62 63
ebd. ebd. ed., Vermerk v. 21.12.1935. Weiß: Biographisches Lexikon, Stichwörter: „Brückner“ (S. 63 f.) und „Wagner“ (S. 473f.). BA Berlin, R 1501, Nr. 140 675.
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Arbeitskräftemangel durch Vierjahresplan: Neue Politik in Mölke Im Herbst 1936 teilt der preußische Finanzminister allen Ressorts mit, dass die Angelegenheiten der Wenceslaus-Grube, wie die vieler anderer Betriebe, in Zukunft allein vom Reich bearbeitet würden und Preußen aller Verpflichtungen gegenüber der Wenceslaus-Grube ledig sei. Die wirtschaftlichen Anstrengungen werden auf höchster Ebene gebündelt, denn inzwischen ist der Vierjahresplan in Kraft getreten und damit eine neue Ära nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik. Eine Besprechung am 6. Dezember 1936 im Reichswirtschaftsministerium mit allen beteiligten Ressorts und Dienststellen ergibt zur Wenceslaus-Grube: −− die Grube sei einzig aus arbeitspolitischen Gründen eröffnet worden, wobei der Oberberghauptmann schon 1933 gegenüber Oberpräsident Brückner die Erschließung der 4. Sohle und eine Investition von 2 bis 2,5 Millionen RM für nötig gehalten habe. −− Nun gehe es um die langfristige Finanzierung der nahezu schuldenfreien Grube und um die Veränderung ihres Genossenschaftsstatus zur Vermeidung jährlicher Konkursgefahren. −− Der Reichsfinanzminister stellt die erforderlichen Mittel mit Bedenken zur Verfügung. Die Erlöse der Grube bewegen sich zwar auf der vorausberechneten Höhe, aber die Selbstkosten pro Tonne Kohle sind wegen der doch notwendigen Erschließung der 4. Sohle so in die Höhe geschnellt, dass ein ansehnlicher Verlust pro geförderte Tonne Kohle entstehe.64
Rettung der Wenceslaus-Grube durch Kohleverflüssigung? Ein Schreiben des Wirtschaftsministers an den Innenminister am 23. Dezember 1936 leitet die Wende in der Einschätzung der Wenceslaus-Grube auf höchster politischer Ebene ein. Die „Betriebsgemeinschaft“ benötige zusätzliches Geld zum Weiterbetrieb ihrer Grube, woran kohlewirtschaftliche Interessen nicht bestünden, sondern allein grenz- und arbeitspolitische. Er bitte deshalb dringend um Mitteilung der Gründe, die aus Sicht des Innenministers für eine Erhaltung der Grube sprächen.65 Jeder Ministerialbeamte, der mit der Wenceslaus-Grube zu tun hat, weiß nun, dass ihre Schließung ansteht. Die Antwort des Innenministeriums lautet dennoch wie immer: Die Weiterführung des Betriebs sei aus grenz- und arbeitspolitischen Gründen für die 900 Beschäftigten sowie den Kreis Glatz zwingend, dessen Sanierung sonst infrage stünde. Schließlich sei die Wiederinbetriebnahme der Grube seinerzeit von der NSDAP-Gauleitung angestrebt worden, um die Volksgenossen wieder in Arbeit und Brot zu bringen.66 Regierungspräsident Dr. Kroll versucht, die Grube dadurch zu retten, dass er sie mit dem Vierjahresplan in Verbindung bringt. In einer Eingabe vom 9. Juni 1937 an dessen Beauftragten, Hermann Göring, regt Kroll an, die dort 1924/25 schon einmal 64 65 66
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versuchte Kohlenverflüssigung, eine Pioniertat, wieder aufzunehmen. Er wird jedoch vom Reichswirtschaftsminister zwei Monate später mit dem Hinweis abschlägig beschieden, dass die Kohlenbasis, die Zahl der Beschäftigten und die Finanzkraft der Wenceslaus-Grube für eine solche Anlage zu unbedeutend seien.67 Berlin denkt in anderen Dimensionen. Das Wirtschaftsministerium lädt die entscheidenden Ressorts sowie die Bezirksregierung und den Landkreis Glatz für den 23. August 1937 zu einer weiteren Konferenz in die Hauptstadt ein. Ihr Ergebnis: −− Für die Grube seien inzwischen 2.710.525 RM eingesetzt worden. −− Für das Rechnungsjahr 1938 benötige Bergwerksdirektor Miksch weitere 600.000 RM, die im Februar 1938 auch bewilligt werden. −− Die Kohlensäuregefahr [6 Ausbrüche bis 1939] behindere die volle Förderung. −− Eine Verpflanzung der Bevölkerung sei wegen ihrer starken Verwurzelung mit dem Boden bereits fehlgeschlagen.68 −− Der Durchschnittsmonatslohn liege bei netto 85 RM. (Brutto 100 RM) −− Landrat Klosterkemper plädiert für den Grubenerhalt, weil hier wegen fehlender Rüstungsbetriebe ein Wirtschaftsaufschwung weniger bemerkbar sei als im Kern des Reichs. −− Fazit: Der Grubenbetrieb muss „unter allen Umständen aufrecht erhalten“ werden.69 Das Ergebnis erstaunt nach dem Vorangegangenen, ist jedoch durch die Beteiligung der Region an den Gesprächen zu erklären. Die Region hält an dem Betrieb fest, das Reich möchte ihn schließen.
Die Wenceslaus-Grube verliert ihre besondere Bedeutung für den NS-Staat Trotz des Konferenzresultats gehen die Überlegungen zur Grubenschließung auf hoher Ebene weiter. Das Innenministerium möchte vom Wirtschaftsministerium wissen, ob der Fortbestand der Wenceslaus-Grube doch wieder in Frage gestellt sei? Gerüchte besagten, dass geprüft werde, ob die Mölker Grubenarbeiter nicht zweckmäßiger in Betrieben des Vierjahresplans wie Salzgitter einzusetzen seien, wo Arbeitskräftemangel herrsche.70 Die Beamten des Arbeitsministeriums haben ihre Meinung zu Mölke gründlich revidiert. Man habe sich für den Wiederbetrieb des Bergwerks eingesetzt, heißt es dort, um einen arbeitspolitischen Krisenherd an der tschechischen Grenze zu beseitigen. Und falls der Betrieb in absehbarer Zeit rentabel arbeite und ordentliche Löhne erwirtschafte, sei es auch kaum vertretbar, ihn zu schließen. 67 68
69 70
ebd. (22.7. und 7.8.1937). Die Weimarer Regierung hatte Neuroder Bergleuten landwirtschaftliche Siedlerstellen angeboten, war jedoch auf Desinteresse gestoßen. Die Belegschaft der Wenzeslausgrube ist zum großen Teil auf Klein- und Kleinstbesitzen angesessen und zeigt ... keine große Neigung zur Abwanderung. (BA Berlin, R 1501, Nr. 140 675, 8.6.1936) Das Thema griff auch die Presse auf (ST v. 4.11.1931). BA Berlin, R 1501, Nr. 140 675. ebd., 21.2.1938.
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Die Situation am Arbeitsmarkt habe sich wegen des Vierjahresplans inzwischen aber ins Gegenteil verkehrt. Nun fehlten zur Erreichung seiner Ziele in anderen Gebieten schon Tausende Bergleute. Der Beauftragte für den Vierjahresplan – Ministerpräsident Göring – habe am 13. Januar 1938 deshalb ausdrücklich angeordnet, Arbeitskräfte, die anderswo fehlten, nicht mehr künstlich in Grenzgebieten festzuhalten. Der Arbeitsminister könne nun kaum noch begründen, in Mölke Arbeitsplätze langfristig zu subventionieren. Die Gerüchte haben also einen ernsten Hintergrund. Das Innenministerium erhält zur Information den „Bericht über die Lage im Neuroder Bergbaubezirk“ des Reichstreuhänders und Staatsrats Walter Schuhmann für das Wirtschaftsgebiet Schlesien.71 Aber es bleibt, im Gegensatz zu den anderen Ressorts, bei seiner bisherigen Linie. Es bittet im Interesse der Belegschaft, aber auch der Region, die im Falle der Stillegung 2 Millionen RM Kaufkraftverlust hinnehmen müsste, sich für die Erhaltung der Grube einzusetzen.72
Der Bericht des Treuhänders W. Schuhmann zur Situation im Neuroder Revier Die Frage, was weiter mit der Wenzeslausgrube geschehen soll, ist hier noch zu keinem Ergebnis gebracht, meldet sich Oberpräsident Wagner73 zu Wort und startet einen neuen Rettungsversuch mit dem Antrag, den Arbeitgeberanteil [3,25 %] der Sozialversicherungen den Bergleuten des Neuroder Reviers als Lohnerhöhung zu belassen. Als Begründung nennt er die außerordentlich geringen Löhne im Neuroder Revier, die unter denen des benachbarten Waldenburger Reviers lägen und bei den Bergleuten für großen Unmut sorgten. Die Beseitigung der Spanne sei politisch unerlässlich, aber durch eigene Leistung niemals zu schaffen, und das ist auch das Eingeständnis dauerhafter Unrentabilität des Förderbetriebs. Wagner fürchtet um die Stimmung im Revier und das Ansehen der Partei, doch ist sein Vorschlag selbst im Dritten Reich nicht umsetzbar. Von dem Grundsatz, dass der Arbeitgeber eines Versicherten zur Zahlung des Arbeitgeberanteils verpflichtet ist, gibt es keine Ausnahme, belehrt der Arbeitsminister, und er sehe sich auch nicht in der Lage, mich hierfür einzusetzen.74 Des Gauleiters Vorschlag stammt aus der 16-seitigen Denkschrift des Staatsrats W. Schuhmann, die dieser für Wagner erarbeitet hatte. Die Denkschrift75 vom 25. Januar 1938 beschreibt schonungslos die soziale Lage der Bevölkerung im nördlichen Teil der Grafschaft und ihren latenten Widerstand gegen das NS-Regime. Schuhmann konkretisiert anfangs seinen Auftrag, nämlich −− die Verhältnisse im Neuroder Bergbau-Bezirk zu untersuchen, −− Vorschläge zur Abstellung der Notlage zu unterbreiten, −− zur Übersiedlung der Arbeiter der Wenceslaus-Grube in Ludwigsdorf nach Salzgitter in Verbindung mit der Schließung dieser Grube Stellung zu nehmen. 71
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Bericht v. 25.1.1938. Schuhmann (1998–1956), NSDAP ab 1925, MdR ab 1930, war ab 1936 Reichstreuhänder für Arbeit in Schlesien (s. Klee, S. 564). ebd. (8. u. 28.6.1938). ebd. (28.3.1938). ebd. (22.2.1938). ebd. (Bericht W. Schuhmann, Seitenangaben darauf bezogen).
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Schuhmann besucht auch Bergmannsfamilien und zeichnet ein düsteres Bild von den Verhältnissen im Neuroder Bezirk, wo 55.000 Menschen hauptsächlich von den beiden Bergwerksbetrieben „Neuroder Kohlen- und Tonwerke“ und der „Wenceslaus-Grube“ sowie von zwei Textilfabriken mit 1.200 Beschäftigten, jetzt in Kurzarbeit, leben. Der Bruttomonatslohn eines Bergmanns errechnet sich fürs Ruhrgebiet auf ca. 212 RM, für Waldenburg auf 133 RM, für Neurode aber nur auf 106 RM. Aus diesem Lohngefälle ergäbe sich die Not der Kumpelfamilien im Neuroder Bezirk, wo die Löhne niedriger, die Preise aber – im Gegensatz zu früher – höher als im Ruhrgebiet seien. Die Bergarbeiterfamilien litten unter ärmlichsten Wohnungen, unzureichender Ernährung und einem weitgehenden Ausschluss vom kulturellen Leben, weil sie sich nur in Ausnahmefällen einen Rundfunkempfänger, eine Tageszeitung oder einen Kino- oder Gaststättenbesuch leisten könnten. [S.2] Verwandte in Salzgitter berichteten von guten Verdiensten in ebenfalls subventionierten Betrieben und man frage sich hier, warum man als deutscher Arbeiter nicht den gleichen Lohnanspruch habe. Und nun wörtlich: Es ist daher kein Wunder, dass die staatsfeindliche Tätigkeit in diesem Gebiet Boden gewonnen hat und zwangsläufig auch weiter gewinnen muss. Die böhmische Grenze ist 3 km entfernt. Infolge des gebirgigen Charakters ist sie wenig übersichtlich und kontrollierbar, so dass ein reger Grenzverkehr möglich ist. So ist der kommunistische Einfluss aus dem Ausland bemerkbar und hat, besonders im vergangenen Jahre [1937], in erheblichem Umfange zu Verhaftungen geführt ... Da die Gegend fast durchweg katholisch ist, macht sich außerdem der Einfluss der Kirche in negativer Hinsicht bemerkbar. Dass es bei den unzureichenden Lebensverhältnissen nicht schon zu einer Explosion gekommen ist, ist eigentlich nur der Gutmütigkeit der schlesischen Gebirgsbewohner, sowie dem Umstand zuzuschreiben, dass der Gebirgsschlesier seit Generationen nur Elend kannte.[S. 3] Peter Gaertner berichtet über die Stimmung in der Bevölkerung des Neuroder Reviers, dass bei Beginn des Russlandfeldzuges die Förderung in einer Grube um 700 t Kohle eingebrochen wäre und unter Tage mit Kreide an eine Grubenwand geschrieben worden sei: Der Krieg ist noch nicht gewonnen, dafür werden wir sorgen.76 Für die unbedingt notwendige Anpassung der Löhne an das Waldenburger Niveau müsste die öffentliche Hand nach Schuhmann pro Jahr für Neurode 790.000 RM und für die Wenceslaus-Grube 292.000 RM zur Verfügung stellen, zusammen also 1.082.000 RM. [S. 4] Der Reichstreuhänder macht Vorschläge, diese Summen für den Fall zu erwirtschaften, dass die Wenceslaus-Grube erhalten werden solle [S.7 ff].77 Wegen fehlender Rentabilität des Grubenbetriebs und angesichts hoher Zuschüsse wendet er sich der Frage einer Umsiedlung der Bergleute nach Salzgitter zu. Ca. 150 bis 200 der 1.000 Kumpel könnten bei den Neuroder Kohlenwerken untergebracht werden, 150 bis 200 wären für eine Umsiedlung zu alt, sodass etwa 600 Bergarbeiter mit ihren Familien für die Umsiedlung infrage kämen. Diese wäre sicher schwierig, da der Gebirgsschlesier stark an seiner Scholle hängt ... Bevor der Beschluss der Stillegung gefasst wird, bitte ich ... zu prüfen, ob die ... sehr 76 77
Gaertner: Großvater Adrian Gaertner, S. 63 u. 73. BA Berlin, R 1501, Nr. 140 675. Vorschläge: Frachtpreisminderung, Kohlenausfuhrabgabe, Verzicht auf Beiträge für die Deutsche Arbeitsfront (DAF) und die Arbeitslosenversicherung.
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bittere Maßnahme tatsächlich durchgeführt werden muss ... [S. 14]. Man werde sich auch darüber klar sein müssen, dass die Schließung der Wenceslaus-Grube und die Umsiedlung die Not des Gebietes nicht vermindern werde, und die Stimmung im Neuroder Bezirk werde sich weiter verschlechtern. Es ist ... darauf hinzuweisen, dass ... das Ansehen der NSDAP in erheblichem Maße auf dem Spiele steht, da der Betrieb ... 1933 ... auf Betreiben der Gauleitung der NSDAP und des damaligen Gauleiters, Oberpräsident Brückner, mit viel Propaganda wieder aufgenommen wurde. [S.12] Die Befürchtung des Glatzer Landrats Klosterkemper, dass sich eine Schließung des Bergwerks nachteilig auf die Stimmung der Sudetendeutschen78 auswirken könne, teilt Schuhmann hingegen nicht [S. 12].
Hermann Göring entscheidet: Schließung des Bergwerks Eine weitere Besprechung, die das Reichswirtschaftsministerium mit den beteiligten Ministerien, dem Oberpräsidenten und dem Oberbergamt für den 31. August 1938 angesetzt hat, ergibt unter dem Vorsitz des MR Gabel die entscheidende Wende: −− Gegen Bedenken sei die Wenceslaus-Grube 1933 aus arbeits- und grenzpolitischen Gründen wieder in Betrieb genommen und mit 3,1 Millionen RM unterstützt worden. Die Zuschüsse betrügen im Monat mindestens 30.000 RM bei einer überalterten Belegschaft von 1.080 Personen, die niedrigste Löhne bezögen. Die Kohlensäuregefahr sei größer als erwartet, die Kohle minderwertig und mengenmäßig ohne Belang. −− Die seinerzeit maßgebenden arbeitspolitischen Gründe seien inzwischen ins Gegenteil verkehrt, zu den vorhandenen 700.000 Bergarbeitern brauche man weitere 300.000 bis 350.000, um den Vierjahresplan erfüllen zu können. Staatliche Zuschüsse für unproduktive Arbeit an einer kohlewirtschaftlich völlig bedeutungslosen Stelle seien deshalb nicht mehr vertretbar. −− Deshalb habe sich der Beauftragte des Vierjahresplans, Ministerpräsident Göring, für die Schließung der Grube und die Umsiedlung der Arbeiter in ein anderes Grubengebiet entschieden – unter Zurückstellung grenzpolitischer Bedenken. −− Die Umsiedlung werde wegen kleinen Landbesitzes auf große Schwierigkeiten stoßen, deshalb könnten Zwangsmittel nötig werden. Die Arbeiter sollten beschleunigt und möglichst geschlossen in einem Bergbaugebiet ihrer Wahl angesiedelt werden. −− Wegen der Spannungen zur Tschechoslowakei käme die Maßnahme z. Zt. noch nicht in Betracht. −− Die Vertreter des Arbeits- und des Finanzministeriums sowie des Oberpräsidenten (Graf Matuschka) schlossen sich der Stellungnahme des Wirtschaftsministeriums nachdrücklich an. −− Einzig MR Dr. Hoffmann vom Innenministerium änderte seinen Standpunkt nicht, denn der Kreis Glatz würde schwer geschädigt und die Beihilfen lediglich von einem aufs andere Ressort verlegt. Die Maßnahme widerspreche auch allen bisherigen Bestrebungen zur Grenzsicherung und würde die finanzielle Sanierung des Kreises Glatz zunichte machen. 78
Gemeint ist deren Bereitschaft zum Anschluss ans Reich.
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−− MR Gabel erkannte die Bedenken an, doch wiege der Vierjahresplans schwerer. −− Die Maßnahme solle durch eine Kommission geplant und vorläufig geheim gehalten werden.79 Nun sind die Würfel gefallen. Ein Mann, Hermann Göring, hat im Interesse der Kriegsvorbereitungen gegen die Wenceslaus-Grube entschieden und damit in Kauf genommen, dort den Ruf der Partei nachhaltig zu ruinieren. Bald sind die Spannungen zum Nachbarland Vergangenheit, denn das Sudetenland ist dem Reich angegliedert und die Grafschaft Glatz kein Grenzland mehr. Am 4. Februar 1939 geht es im Wirtschaftsministerium im Beisein der Grubenleitung nur noch um die Abwicklung der Angelegenheit. Der volle Betrieb wird bis zum 31. März 1939 aufrechterhalten, sein Auslaufen soll vier bis fünf Monate dauern, sodass die endgültige Stillegung am 1. September oder am 1. Oktober 1939 zu erwarten ist.80 Da beginnt der Krieg gegen Polen. Da sich die Behörden und die Parteidienststellen bei der Wiederinbetriebnahme der Grube seinerzeit stark engagiert haben, wäre es sehr erwünscht, wenn sich bei Auflösung der Genossenschaft die Stillegung des Werkes möglichst unauffällig und auf außergerichtlichem Wege durchführen ließe. Es bestand jedoch Einigkeit, dass dieses Ziel nicht zu erreichen ist, da nach dem Genossenschaftsstatut ... zur Auflösung des Unternehmens ein einstimmiger Beschluss sämtlicher Genossen erforderlich ist. Da insgesamt etwa 1.300 Genossen ... an dem Weiterbetrieb des Werkes ein sehr erhebliches Interesse haben, ist es aussichtslos, einen ... einstimmigen Beschluss zu erreichen. Es wird sich deshalb nicht umgehen lassen, die endgültige Auflösung des Unternehmens im Wege des Konkursverfahrens herbeizuführen.81 Man rechnet mit einem Erlös von 500.000 RM für die Maschinen. Die Genossen sollen durch den Zusammenbruch ihres Unternehmens keinen Schaden erleiden, ihre Anteile werden zum Nennwert aufgekauft und die damit verbundenen Haftungsverpflichtungen vom Staat übernommen. Der wird auch die nötigen Zuschüsse bis zur Stilllegung zahlen. Eine Befriedigung der Reichsknappschaft sei allerdings unmöglich, die müsse sich für ihre 350.000 RM an den Kreis Glatz halten. Das ruft das Innenministerium auf den Plan, das die Sanierung des Kreises Glatz nun ganz infrage gestellt sieht und ihn von dieser Last befreien möchte. Landrat Heinrich Klosterkemper stellt auf Weisung den Freistellungsantrag für die Bürgschaftsverpflichtung, auf deren Erfüllung die Knappschaft aus rechtlichen Gründen von sich aus nicht verzichten kann. Klosterkemper erinnert im Antrag vom 7. Februar 1939 daran, dass die Bürgschaftsübernahme am 14. Juli 193382 gegen das Votum des Innenministeriums entsprechend dem persönlichen Wunsch des damaligen Oberpräsidenten,83 also des Gauleiters der NSDAP, erfolgt sei. Klosterkemper erklärt auch, dass es die „Finanzlage des Grenz- und Notstandskreises Glatz“ unter keinen Umständen erlaube, die Bürgschaftsverpflichtung zu erfüllen, denn der Haushalt weise einen Fehlbetrag von 111.000 RM auf und habe mit 79 80 81 82 83
BA Berlin, R 1501, Nr. 140 675. ebd. ebd. (8.2.1939). ebd. (Bürgschaftserklärung v. 14.7.1933 durch Landrat Peucker). ebd. (7.2.1939).
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den Hochwasserschäden von 1938, die sich auf 7 Millionen RM beliefen, und resultierendem Steuerausfall schwer zu kämpfen. Die arbeitslosen Bergleute würden den Kreis jährlich mit 240.000 RM Unterstützungskosten belasten, dem außerdem die Löhne der Grubenarbeiter in Höhe von 1,6 Millionen RM als Kaufkraft fehlten. Die Reichsknappschaft führt ins Feld, dass der Grubenbetrieb dem Kreis Glatz große Vorteile durch die Einsparung von Unterstützungsgeldern gebracht habe, die den fälligen Betrag von 350.000 bei weitem überstiegen hätten, während sie völlig leer ausgehen solle. Laut Innenministerium wäre der Kreis gar nicht zur Zahlung dieser Wohlfahrtsgelder in der Lage gewesen, sondern nur der Staat, und der Kreis habe demnach aus dieser Verpflichtung keine Vorteile ziehen können. So müssen wohl die öffentliche Hand und die Reichsknappschaft für den fast 6-jährigen Wiederbetrieb der Wenceslaus-Grube aufkommen.
Die „Betriebsgemeinschaft“ stemmt sich gegen die Grubenschließung MR Gabel vom Reichswirtschaftsministerium informiert die Genossenschaftsvollversammlung am 26. Februar 1939 über die Stillegung der Wenceslaus-Grube. Mehrere Proteste müssen danach aus der Belegschaft, von Verbänden und sogar von örtlichen Parteidienststellen an die Behörden gegangen sein. In den Akten findet sich die vierseitige Eingabe des Verbandes für Handel und Gewerbe an den Reichsinnenminister Frick vom 30. März 1939 und eine 13 Seiten lange „Denkschrift“ vom 15. April 1939, die Richard Kammler, stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender und Bürgermeister von Ludwigsdorf, zusammen mit Paul Olbrich, Bezirksbauernführer, und Wilhelm Lünich, „Gefolgschaftsangehöriger“, verfasst hat. Die Denkschrift ging auch an den Stellvertreter des Führers, Rudolf Hess, den Chef der Führerkanzlei, Philipp Bouhler, den Chef der Reichskanzlei, Dr. Lammers, den Beauftragten für den Vierjahresplan, Hermann Göring, den Finanzminister, Graf Schwerin v. Krosigk, den Arbeitsminister Seldte und den Propagandaminister Joseph Goebbels mit der Bitte, eine Nachprüfung der getroffenen Entscheidung herbeizuführen und die Stilllegung abzuwenden. Aus beiden Eingaben spricht die Enttäuschung der Menschen vor allem auch deshalb, weil sie im Glauben an die Parteiversprechungen große Opfer für die Wenceslaus-Grube durch unbezahlte Arbeit und niedrigste Löhne gebracht haben. Sie führen Gründe gegen die Schließung an und machen Vorschläge zur Erhaltung des Werkes. Den Eingaben nach hatte MR Gabel auf der Genossenschaftsversammlung einen schweren Stand. Nach Nennung der Hauptgründe für die Grubenschließung, ihre Unwirtschaftlichkeit und den Arbeitskräftebedarf anderswo, gibt er auf die Rufe der aufgebrachten Bergleute: „Weiß davon der Führer?“ preis, dass Göring diese Entscheidung getroffen habe. Kammlers „Denkschrift“ muss auf Regierungsebene Unruhe ausgelöst haben und am 27. April 1939 rechtfertigt MR Gabel, merklich ungehalten, gegenüber dem Innenministerium noch einmal die eingeleiteten Maßnahmen. Vermutlich geschieht das auch, um dem Vorwurf der Parteischädigung zu entgehen. Mit Kammlers Initiative hatte Gabel sicher nicht gerechnet.
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Dem Bürgermeister und Aufsichtsrat der „Betriebsgemeinschaft“, Richard Kammler, antwortet MR v. Hanneken aus dem Wirtschaftsministerium am 9. Juni 1939. Spürbar gereizt, nennt er noch einmal die Gründe für die Grubenschließung, die Kammler nicht entkräftet habe, und bezeichnet die getroffene Entscheidung deshalb als unabänderlich. Wir erfahren daraus, dass bei Betriebsende bereits 61 % der Förderung aus der 4. Sohle stammten – und, dass Kammler von der Kanzlei des Führers ... ein unmittelbarer Bescheid zugegangen ist, den wir aber nicht kennen.84 Damit endet der fast neunjährige Kampf der Bergarbeiter des Neuroder Bezirks für ihre Wenceslaus-Grube. Der NS-Staat, der die Bergarbeiter jahrelang stützte, um sie für sich zu gewinnen, opferte ihre Interessen schließlich den Kriegsvorbereitungen und nahm dafür einen großen Gesichtsverlust bei der Revierbevölkerung in Kauf.85 Die Bergleute ahnten damals nicht, dass am Ende des Krieges ihre brutale Vertreibung aus der Heimat stehen würde, in der sie so tief verwurzelt waren. Die „Umsiedlung“, die die Nationalsozialisten nicht schafften, besorgten die Polen. Auf der Rubengrube86 der „Neuroder Kohlen- und Tonwerke“ starben am 10. Mai 1941 noch einmal 187 Bergleute durch einen Kohlensäureausbruch. Es gab ein Staatsbegräbnis für die Soldaten der Arbeit, aber nur zwei kurze Mitteilungen in den „Breslauer Neuesten Nachrichten“ ohne Nennung der Zahl der Toten.87 Der Krieg auf dem Balkan war in vollem Gange, der gegen die Sowjetunion folgte am 22. Juni 1941.
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ebd. (9.6.1939). In Ludwigsdorf war die NSDAP auch bei der Reichstagswahl am 5.3.1933 nur auf 22,7 % der Stimmen gekommen. Zentrum (30,4 %) und SPD (25,7 %) lagen vor ihr. 1930 hatte die NSDAP dort nur 4,6 % der Stimmen gewinnen können. Vgl. Jäschke: Aufkommen des Nationalsozialismus, Tab. 4, 8, in diesem Buch. Hier starben 7 Bergleute am 9.6.1931 durch einen CO2-Ausbruch (ST v. 11.6.1931). BNN v. 12. und 15.5.1941 und Schlesische Zeitung v. 11. u. 17.5.1941.
1930 bis 1946 – Eine Kindheit zwischen Kreuz und Hakenkreuz Von Heinz Blaser
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eboren 1930 in Niederhannsdorf, aufgewachsen und zur Schule gegangen von 1937 bis 1944 in Glatz, vertrieben am 20. Februar 1946 aus der Heimat mit dem ersten Transport, der Glatz vom Hauptbahnhof verließ. Das sind die Stationen, zwischen denen sich meine Kindheit in dem Zeitraum der Überschrift – zwischen Kreuz und Hakenkreuz – bewegte. Konkrete Erinnerungen an meine frühe Kindheit in Niederhannsdorf habe ich nicht mehr. Es sind lediglich Berichte von Eltern und Großeltern oder vergilbte Fotos. So eine Aufnahme im katholischen Kindergarten in Niederhannsdorf, verkleidet als kleiner Soldat bei einem Kinderfest, oder auf dem Arm meiner Mutter im Kreis von Verwandten vor der großen Staumauer der Talsperre in Wölfelsgrund, wo mein Großvater väterlicherseits bis 1937 Stauwärter war. Die ersten konkreten Erinnerungen habe ich an meine Schulzeit in der damaligen katholischen Volksschule, der Franz-Ludwig-Schule, in Glatz – dorthin wa-
Abb. links: Der Autor bei einem „Reiterausflug“ in Niederhanssdorf 1935. Abb. rechts: Bei einem Kinderfest im katholischen Kindergarten in Niederhannsdorf 1936. Rechts unten der Autor als Soldat verkleidet. (Archiv Heinz Blaser)
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ren wir 1937 gezogen – und unseren damaligen Lehrer, Herrn Seider. Ich habe ihn noch nach fast acht Jahrzehnten als einen Lehrer in Erinnerung, den wir Kinder geradezu liebten. Er wurde sofort am Beginn des Krieges eingezogen. Er besuchte seine Schule und so auch unsere Klasse in seinem ersten Heimaturlaub. Wir Jungen waren begeistert, unseren Lehrer als Offizier wiederzusehen. In unserer Klasse war auch ein Junge, der immer am Samstag fehlte. Ich kann mich nur noch an seinen Vornamen Adalbert erinnern. Sein Fehlen wurde von den Klassenkameraden nicht besonders zur Kenntnis genommen – bis zu einem Tag im November 1938. Wir wohnten am Schneeballenweg. Mein Schulweg führte durch die Anlagen am Feuerwehr-Depot über die Grüne Straße, zwischen dem Graf-Götzen-Gymnasium und der Synagoge und dem Heinrich-Vogtsdorf-Wall zur Franz-LudwigSchule. Am Morgen des 10. November 1938 brannte die Synagoge lichterloh. Auch wir Kinder wussten, dass es das jüdische Gotteshaus war. Wir standen staunend und erschrocken vor dem brennenden Gebäude. Von der Polizei wurden wir jedoch sofort weitergeschickt. In der Klasse und auf dem Schulhof wurde über den Brand gesprochen. Über die Reaktion unserer Lehrer weiß ich nichts mehr. Nach dem Unterricht ging ich meist über die Arnestus-Stiege, die Kirchstraße und die Schwedeldorfer Straße nach Hause. Wir Schüler machten oft in der Kirchstraße 1 Station. Dort betrieb der alte Herr König ein kleines Briefmarkengeschäft. Uns hatten es besonders die bunten Marken der damaligen französischen Kolonien angetan, die wir für ein paar Pfennige erstehen konnten. So kamen wir an diesem Tag auch an dem Textilgeschäft Dzialoszynski Ecke Kirchstraße/Schwedeldorfer Straße vorbei. Die großen Schaufensterscheiben des Geschäftes waren eingeschlagen, wie auch am Spielwarengeschäft Löwy am Ring. Hier hatten wir uns als Kinder wegen der schönen Auslagen im Schaufenster immer die Nasen platt gedrückt. Von diesem Tage an kam unser Mitschüler Adalbert auch nicht mehr in die Schule. Nach einiger Zeit sagte unser Lehrer Seider auf unsere Fragen, die Eltern seien wohl in eine andere Stadt gezogen. Adalbert war Jude. Von der jetzt offen einsetzenden Verfolgung der jüdischen Mitbürger bekamen wir Kinder so gut wie nichts mehr mit. Ich kann mich aber noch daran erinnern, dass ich auf dem Schulweg ein altes Ehepaar sah, das sich in den Grünanlagen auf einer Parkbank ausruhte. Als ich vorbeiging, verdeckte der alte Herr den Davidstern auf dem Mantel. Jüdische Mitbürger durften keine Parkbänke benutzen. Bald nach der Einberufung von Lehrer Seider wurde Herr Elsner unser Lehrer. Er war ein rüstiger Mitsiebziger, wohl aus seinem Ruhestand reaktiviert. Er kam täglich zu Fuß aus Niederhannsdorf, wo er nebenbei in seinem Ruhestand eine Wetterbeobachtungsstation betreute. Er war ein Schulmeister im guten Sinne, eroberte bald die Herzen seiner Schüler und führte uns in seine Wetterbeobachtungen ein, die wir bald mit Begeisterung unterstützten. An einem Vormittag im Februar warteten wir vergebens auf unseren Lehrer. Da sich auch sonst niemand um uns kümmerte und wir uns um unseren alten Lehrer sorgten, marschierten vier Jungen nach Niederhannsdorf los. Dort trafen wir nach einem Fußmarsch von einer Stunde unseren schwer erkälteten, aber sonst wohlbehaltenen Lehrer an. In seine
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Freude mischte sich die Sorge über unseren heimlichen und unerlaubten Ausflug. In der Schule wieder angekommen, gab es kein Verständnis für unsere Sorge um unseren alten Lehrer, sondern von einem für seine brutalen Methoden gefürchteten Lehrer mit dem Rohrstock auf die Hände eine Tracht Prügel, die wir verbissen und schweigend über uns ergehen ließen. Getreu der Erziehung in unseren katholischen Familien gingen wir jetzt wöchentlich zum Beicht- und später zum Kommunionunterricht. Da religiöse Unterweisungen offenbar schon nicht mehr in Schulen stattfinden durften, fand der Unterricht in Räumen des Pfarrhauses statt. Wir stiefelten wöchentlich die Stufen zum Herrenkonvent hoch – einem Raum zwischen dem Pfarrhaus und der Dekanatskirche. Den Unterricht erteilten die Kapläne der Dekanatskirche – in der Grafschaft wurden sie Pater genannt – P. Buchmann, P. Faber, P. Günther, P. Kasimir Jäger. Am Weißen Sonntag 1940 gingen wir zur Erstkommunion in der Dekanatskirche. Das feierliche Hochamt zelebrierte Großdechant Dr. Monse. Ministranten hielten ein weißes Tuch über die Kommunionbank, vor der die große Schar der Kommunionkinder andächtig kniete. Nach der Erstkommunion war es für mich selbstverständlich, Ministrant zu werden. Die Dienste am Altar lernten wir von den älteren Ministranten schnell. Schwierig waren die lateinischen Messtexte. Eine deutsche Messe gab es noch nicht. Beim Verlassen der Sakristei antworteten wir auf das Adiutorium nostrum in nomine Domini des Zelebranten: Qui fecit caelum et terram. Gefürchtet war das Messedienen bei unserem Großdechanten, der an Wochentagen am Mariä-Himmelfahrts-Altar neben dem Eingang zur Sakristei zelebrierte. Er achtete genau auf die peinliche Einhaltung der Liturgie und korrekte Wiedergabe der lateinischen Antworten. Ausgerechnet bei dem Großdechanten passierte mir im Sonntagshochamt ein Missgeschick. In der damaligen Liturgie wurde das Messbuch von einem Ministranten von der Evangelienseite zur Epistelseite und zurück getragen. Dabei trat ich auf mein Rochett und flog samt Messbuch mit Getöse die Stufen des Hochaltars hinunter. Außer blauen Flecken und den missbilligenden Blicken des Großdechanten war jedoch nichts passiert. Der Ministrantendienst war auch mit erheblichem Einsatz verbunden. Von unserer Wohnung am Schneeballenweg bis zur Dekanatskirche dauerte der Fußmarsch eine gute halbe Stunde. Im Winter, wenn die Rorate-Messen an Wochentagen um 6.00 Uhr begannen, war die Nacht um 5.00 Uhr zu Ende. Ein besonderes Erlebnis waren für uns Ministranten die feierlichen Hochämter – so zur Christnacht – wenn unser Großdechant mit Mitra am Ende der langen liturgischen Prozession einzog. Der Besuch der Maiandachten war für uns selbstverständlich. Sie boten auch die Gelegenheit, die ersten verstohlenen Blicke mit den Mädchen auf der anderen Seite des Kirchenschiffs zu wechseln oder in späteren Jahren nach der Andacht auf der „Rennbahn“ – es war die Straße vom Ring über die Schwedeldorfer Straße, dann über die Grüne Straße durch die Lauben bis zum Gymnasium – die ersten heimlichen Kontakte zu knüpfen. Zweimal jährlich ging ich mit den Großeltern nach Scheibe zum Krankenstift. Wir besuchten dort Tante Anna, die jüngste Schwester meines Großvaters, jetzt
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Sr. Maria Madulfa OFM. Sie war 1904 in den Franziskanerorden eingetreten, hatte 1907 in Münster-Mauritz die Ewigen Gelübde abgelegt und war seit 1908 Krankenschwester im Stift Scheibe. Sie war an Gicht erkrankt und in den letzten Lebensjahren gelähmt, stickte aber mit ihren verkrüppelten Händen noch Paramente. Zwei Besuche im Jahr waren nach den damaligen Ordensregeln nur erlaubt, am Namenstag, dem 26. Juli, und am Geburtstag, dem 4. Januar. Tante Anna hatte eine ungewöhnliche Leidenschaft für eine Ordensfrau. Sie aß gern Cognacbohnen. Aber woher in den Kriegsjahren Cognacbohnen nehmen? Oma erinnerte sich daran, dass Tante Anna vor Jahren Frau Babel, die Inhaberin eines Schokoladengeschäftes am Rossmarkt 6, gepflegt hatte. Frau Babel gab uns aus ihrem eisernen Bestand ein Tütchen der begehrten Leckerei, das wir unserer Tante in ihrem Bett schnell zusteckten, nachdem uns die Schwester Oberin nach dem üblichen Begrüßungsgespräch verlassen hatte. Ich sehe heute noch, mit welch dankbarem und glücklichen Lächeln Tante Anna die fünf oder sechs Cognacbohnen schnell verzehrte. Wie sie nach unserem Besuch ihre Fahne vor der Schwester Oberin oder den Mitschwestern verbarg, ist mir heute noch ein Rätsel. 1942 starb Tante Anna. 1976 habe ich mit meiner Frau Magda an ihrem Grab auf dem liebevoll gepflegten Schwesternfriedhof in Scheibe gestanden. 2006 schickte mir die Priorin des Mutterhauses der Franziskanerinnen in Mauritz noch die Fotokopie der Sterbeurkunde und einen Bericht über meine Tante aus der Zeitschrift des Ordens. So schloss sich auch dieser Kreis nach Jahrzehnten. Der erste merkbare Einschnitt in diese heile katholische Welt war für uns Zehnjährige die Aufnahme in das Jungvolk, die erste Stufe der Hitlerjugend für die Zehn- bis Vierzehnjährigen, was aber 1940 zur Pflicht wurde. Von da an lebten wir, ohne dass uns dieser Gegensatz bewusst wurde, in einer gespaltenen Welt. Im normalen Alltag änderte sich für uns zunächst kaum etwas. In der Schule – ich war inzwischen Schüler der Mittelschule in Glatz – gab es kaum einen Pädagogen, der uns im Unterricht mit nationalsozialistischem Gedankengut zu beeinflussen suchte. Ich kann mich aus dieser Zeit nur an eine Lehrerin erinnern, die uns unruhige Schüler mit einem Hinweis auf das Hitlerbild in der Klasse – die Kreuze waren längst abgehängt – mit der Mahnung: Der Führer sieht alles! zur Ordnung rief. An unserer Bindung an die Kirche änderte sich nichts. Nach der Erstkommunion gingen wir selbstverständlich und unangefochten in die wöchentlichen Seelsorgstunden, die in den Räumen des Pfarrhauses stattfanden. Die Kapläne beschränkten sich auf rein religiöse Themen. So kann ich mich nur dunkel daran erinnern, dass wir 1941 von der Verhaftung und dem späteren Schicksal unseres Diözesanjugendseelsorgers Kaplan Hirschfelder oder dem Prozess gegen Großdechant Dr. Monse 1942/43 etwas erfuhren. Wahrscheinlich hatten sowohl die Kapläne als auch unsere Eltern die nicht unberechtigte Befürchtung, dass wir Kinder uns verplappern könnten. So lebten wir in einer geteilten Welt, ohne dass uns diese Schizophrenie bewusst wurde. Wir besuchten regelmäßig die Seelsorgstunden; der sonntägliche Gottesdienstbesuch war und blieb für uns selbstverständlich. Wir waren mit Begeisterung Ministranten, gingen zur Maiandacht und zur Wallfahrt nach Albendorf, Maria Schnee und Wartha.
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Daneben machten wir ebenso selbstverständlich und nicht ohne Begeisterung unseren Dienst im Jungvolk und später bei der Hitlerjugend. Am Mittwoch und Samstag jeder Woche begann der Dienst in Glatz um 15.00 Uhr mit dem Antreten des Jungstamms 38 auf dem Hof des Gymnasiums. Der nun folgende Dienst entsprach den Erwartungen von zehn- bis vierzehnjährigen Jungen. Neben sportlichen Übungen, Fahrten, Zeltlagern und Heimatabenden, die mit Vorträgen, Liedern und Werkarbeiten ausgefüllt waren, setzte die – von uns Jungen in der Absicht nicht erkannte, aber auch von uns nicht ohne Begeisterung aufgenommene – vormilitärische Ausbildung ein. Wir lernten nicht nur Marschieren und uns auf Kommandos in Formationen zu bewegen. In den Geländespielen wurden wir auf alles vorbereitet, was wir später als Soldaten können sollten: tarnen, anschleichen, marschieren, den Gegner unschädlich machen, bis zum Gebrauch der Waffe beim Schießen mit dem Kleinkalibergewehr. Dass dabei die ideologische Indoktrination noch nicht sehr zum Ausdruck kam, mag seinen Grund auch darin gehabt haben, dass unsere Jungvolk- und HJ-Führer ebenfalls aus dem gleichen katholischen Milieu kamen. Unter ihnen sah man dieselben Gesichter wieder, die man aus der Schule, ja aus den Ministrantendiensten oder sogar aus den Seelsorgstunden kannte. An den sogenannten nationalen Feiertagen (20. April – „Geburtstag des Führers“, 30. Januar – „Tag der Machtergreifung“) erfolgten die Beförderungen. Ich selbst hatte meine „Karriere“ als Hauptjungzugführer 1945 beendet und trug mit Stolz meine schwarz-grüne Kordel, die ich weggeknüpft hatte, wenn ich vor der Jugendfilmstunde im Gloria-Palast am Sonntagvormittag Dienst als Ministrant hatte. Im Jungvolk war ich als begeisterter Trommler Mitglied des Fanfarenzuges. Jahrzehnte später erzählte mir meine Frau Magda, Tochter des letzten Geschäftsführers der Bäuerlichen Warengenossenschaft (damals Horst-Wessel-Straße), des Schlossermeisters Reinhold Bittner, dass ihr der Trommler damals schon aufgefallen war. Abgesehen davon, dass wir auch bereits im Beicht- und Kommunion unterricht sowie in den Seelsorgstunden zusammengesessen hatten, ohne uns gegenseitig zur Kenntnis zu nehmen, sind das wohl die einzigen gemeinsamen Kindheitserinnerungen. Im Schuljahr 1942 stiefelte ich mit einem Klassenkameraden in ein Zimmer im Obergeschoss der Villa des Apothekers Dr. Schittny, damals Adolf-Hitler-Str. 7. Wir büffelten dort in den Nachhilfestunden bei Schwester Lätitia französische Grammatik. Die Schwestern waren 1940 aus ihrer gegenüberliegenden Schule – jetzt Maria-Theresia-Gymnasium – und dem benachbarten katholischen Waisenhaus von der SA vertrieben und praktisch binnen Stunden auf die Straße gesetzt worden. Von seiner Familie benachrichtigt, eilte Dr. Schittny aus der MohrenApotheke am Ring unverzüglich herbei, warf sich in seine Offiziersuniform – er war Oberstabsapotheker – und konnte durch seinen Mut und seine Offiziersautorität den vertriebenen Schwestern helfen. Er verhinderte Übergriffe und nahm einige der obdachlos gewordenen Schwestern in seinem Haus auf. Seine Offiziersuniform und sein entsprechendes Auftreten ließen die SA-Männer stramm stehen. Sie hatten offenbar nicht gemerkt, dass der Uniformträger keine Befehlsrechte hatte („Der Hauptmann von Köpenick“ lässt grüßen). Dieses Ereignis erfuhr ich ein
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Jahrzehnt später von den Söhnen Hans-Richard und Robert Schittny in unserer gemeinsamen Studentenzeit an der Universität Münster. Von dem begonnenen Krieg spürten wir Kinder zunächst nur wenig. Wir hörten im Radio Siegesmeldungen unserer Soldaten, verfolgten in manchem Schaufenster auf den ausgestellten Landkarten den Vormarsch der deutschen Armeen und begeisterten uns in der Wochenschau im Kino an den Siegen unserer Soldaten zu Lande, auf See und in der Luft. Von Einschränkungen in der Versorgung war nichts zu spüren. Später waren die Fleischmarken beim Weinrich-Fleischer in Niederhannsdorf deponiert, er versorgte uns mit Fleisch und Wurst. Einmal wöchentlich kam Frau Bührend aus Droschkau in die Stadt, und wir holten uns von ihr im Hof der Gastwirtschaft Schwerdt an der Herrenstraße Butter, Eier, Quark und Gemüse. Dazu kamen die Früchte des eigenen großen Gartens. Von den Luftangriffen waren wir nicht betroffen. Schlesien galt als Luftschutzkeller Deutschlands. Nur die späteren Transporte und Einquartierungen der Bombengeschädigten aus dem Ruhrgebiet ließen uns das Grauen der Luftangriffe ahnen. Für uns Schüler bestand der einzige Kriegseinsatz zunächst im Sammeln von Altmaterial. Der dafür zuständige Lehrer hieß bei den Schülern Knochen-Volkmer. Unvergessen bleibt mir aus dieser Zeit der Vormittag des 21. Juli 1944. Es waren wohl Sommerferien, und wir Kinder waren in Seitenberg bei den Großeltern. Großmutter arbeitete im Garten, und wir spielten auf der kaum befahrenen Straße. Da kam ein Pferdefuhrwerk aus Richtung Altmohrau. Der Bauer sah unsere Großmutter, hielt an und rief: Frau Blaser, honn se schunt geheert? Die honn uf a Führer geschossa! Ober a is nie tuut! Wie die Großmutter reagiert hat, weiß ich nicht mehr. Von dem folgenden Gespräch der Großeltern bekamen wir Kinder nichts mit. In der Kundgebung am Wochenende auf dem Ring in Glatz, an der wir Hitlerjungen natürlich teilnehmen mussten, wurde von den Rednern der „Vorsehung“ für die Rettung des Führers gedankt und die ehrlosen Attentäter beschimpft. Mein Großvater, Robert Blaser, war bis zur Vertreibung meiner Großeltern der letzte deutsche Stauwärter an der Mohrer Talsperre. Er war bis 1937 Stauwärter der Wölfeltalsperre in Wölfelsgrund gewesen. Offenbar ist er bei Kriegsbeginn reaktiviert und nach Seitenberg versetzt worden. Er führte nach meiner Erinnerung die schöne Amtsbezeichnung Flussmeister, die er m. W. nie gebrauchte, aber auf die wir Enkelkinder stolz waren. Schlossermeister, Tischlermeister, gar Ärzte oder Rechtsanwälte, hatten manche Schulkameraden als Väter oder Großväter. Aber Flussmeister, das war für uns Kinder etwas ganz Besonderes – gerade in der flussreichen Grafschaft. Die Großeltern bewohnten unweit der Mohretalsperre an der Straße von Seitenberg nach Altmohrau ein schön gelegenes großes Haus mit einem riesigen Garten, auf dem sich sogar eine Tannenschonung befand – ein idealer Spielplatz für sechs Enkelkinder. Die Besuche bei den Großeltern an den Wochenenden oder in den Ferien waren für uns Kinder mit – aus damaliger Sicht – nicht geringen Strapazen verbunden. Die Bahnfahrt vom Glatzer Stadtbahnhof über Rengersdorf, Eisersdorf, Ullersdorf, Kunzendorf, Reyersdorf, Bad Landeck, Olbersdorf bis zum Bahnhof in Schreckendorf wurde noch als Abenteuer empfunden. Aber dann begann der
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Fußmarsch vom Bahnhof Schreckendorf – für uns Kinder über eine Stunde. Von rechts grüßte der Turm der barocken Pfarrkirche St. Maternus, und wenn wir am Ortsausgang von Seitenberg an der ev. Kirche, am Schloss des Prinzen Friedrich Heinrich von Preußen und an der Pestsäule angelangt waren, hatten wir die längste Wegstrecke geschafft. Für diese Mühen wurden wir bei den Großeltern reichlich entschädigt. Haus, Garten und die gesamte Umgebung waren für uns, die wir aus der Enge der Stadt kamen, ein Paradies. Dabei übte natürlich die nahe Staumauer der Mohretalsperre auf uns Kinder – wir waren fünf Jungen und ein Mädchen – einen besonderen Reiz aus. Im Sommer führte die Mohre nur wenig Wasser – für uns Kinder die ideale Badeanstalt, die Rohre reizten zum Durchkriechen, die Staumauer für unsere Kletterkünste. Das umso mehr, als unser Großvater die Kletterkünste wegen der aus seiner Sicht bestehenden Gefahr streng verboten hatte. Er hatte uns Jungen angedroht, den Hosenboden lang zu ziehen, wenn er uns auf der Staumauer erwischen würde. Es ist, meiner Erinnerung nach, nicht nur bei der Androhung unseres Großvaters geblieben. Einmal in der Woche schnallte Großvater seinen Rucksack um, um zur ScholtzMühle nach Altmohrau zu laufen. Die drei ältesten Jungen durften ihn begleiten. In der Mühle hatten die Großeltern die Brot-, Mehl- und Nährmittelabschnitte der Lebensmittelkarten deponiert. Großvater packte drei runde Drei-Pfund-Brote – ein Brot kostete meiner Erinnerung nach damals 38 Pfennige !!! - Mehl und was die Großmutter sonst noch aufgegeben hatte, in den großen Rucksack. Dann marschierte er mit seinen kleinen Enkelsöhnen in die Gastwirtschaft von Frau Liebetanz in Wilhelmsthal, wo er sich einen Schnaps, ein Bier und eine Zigarre genehmigte. Wir Enkelkinder bekamen jeder ein großes Glas echten (!) Himbeersaft – das Glas für fünf Pfennige. So gestärkt traten wir den Heimweg an. Wir rochen dabei oft an Großvaters Rucksack, weil der so gut nach frischem Brot duftete. Vielleicht liegt es an dieser Kindheitserinnerung, dass ich heute noch – nach sieben Jahrzehnten – ein ausgesprochener Brotfan bin. An die Zeit des Großvaters als Stauwärter an der Wölfeltalsperre habe ich keine Erinnerung. Aber folgende Geschichte aus dieser Zeit wurde in unserer Familie erzählt: Die Wölfel war reich an Forellen. Sie wurden von den Burschen des Dorfes mit der Hand gefangen – so auch von meinem Vater. Anschließend wurden die Fische von den jungen Burschen an die Gasthäuser und Pensionen verkauft, da sich die Fischer mit ihrer Jagdbeute offenbar nicht zu Hause sehen lassen durften. Da es sich bei der Jagdbeute um Wilderei handelte, nahmen die Bediensteten der Gasthäuser die Fische am Hintereingang in Empfang – so wohl auch meine Mutter, die damals in einem Gasthaus die Küche lernte. So sollen sich meine Eltern kennen gelernt haben: Mein Vater ein Wilddieb – meine Mutter eine Hehlerin – es verwundert also nicht, dass der Sohn Jurist geworden ist. An die Wahrheit dieser Geschichte habe ich nicht so recht geglaubt. Sie ist aber sicher sehr schön erfunden. Nach den Sommerferien 1944 fiel der Schulunterricht aus. Die Räume wurden als Lazarette gebraucht. So packte ich mit meinen Freunden Walter, Anton und
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Siegmund – er wurde 25 Jahre später unser Trauzeuge – Tornister und Zelt. Wir fuhren bis Krummhübel, bestiegen die Schneekoppe und wanderten in vier Tagen bis Oberschreiberhau über den Kamm des Riesengebirges. Dreißig Jahre sollten vergehen, bis ich mit Magda und unseren Töchtern 1974 wieder auf der Schneekoppe stand. Nach diesem Ausflug ging das bisherige unbeschwerte Leben bald zu Ende. Im Oktober 1944 erhielt ich die Einberufung in das Wehrertüchtigungslager. Es war auf dem Gelände der Jugendherberge in Neurode. Aus dem Geländespiel der Hitlerjugend war bitterer Ernst geworden. Wir Vierzehn- und Fünfzehnjährigen wurden am Karabiner 98 K, am Maschinengewehr 42, an der Panzerfaust und an einem Feldfernsprecher ausgebildet. Wir lernten morsen und uns unter feindlichen Bedingungen im Gelände bewegen. Unsere Ausbilder waren Soldaten, die wegen ihrer schweren Verwundungen nicht mehr kriegsverwendungsfähig waren. Mit uns wurden junge Männer aus der Ukraine ausgebildet, die wahrscheinlich später in der Wlassow-Armee eingesetzt wurden. Offiziere der Waffen-SS versuchten, uns als Kriegsfreiwillige anzuwerben, meist ohne Erfolg, denn durch unsere katholische Erziehung war uns die SS nicht geheuer. Mein Vater wurde im letzten Kriegsjahr bei den Arado-Flugzeugwerken in Lutherstadt-Wittenberg dienstverpflichtet. Wegen der nahenden Front holte er meine Mutter und die jüngeren Geschwister Ende 1944 nach Wittenberg. Ich war bereits für den Volkssturm ausersehen und musste in Glatz bei den Großeltern, den Eltern meiner Mutter, bleiben. Seit Wochen waren Hunderte von jungen und alten Männern zum Ausschachten von Panzergräben und Bau von Befestigungsanlagen – dem Unternehmen Barthold – an der Grenze Schlesiens und in der Umgebung von Breslau eingesetzt. Anfang Januar 1945 wurde ich in Glatz auf die Festung befohlen, in deren Kasematten die AEG Rüstungsgüter produzierte. Ich erhielt mit einem gleichaltrigen Kameraden den Auftrag, Geräte aus Berlin zu holen. Die normale Beförderung funktionierte offenbar nicht mehr. Versehen mit besonderen Papieren, gelangten wir beiden Kuriere zunächst bis Breslau. Der Hauptbahnhof war überfüllt von Frauen und Kindern – aus Oberschlesien und dem östlichen Schlesien geflüchtet vor der Roten Armee. Auf der Suche nach meinen Verwandten, die damals nahe dem Hauptbahnhof wohnten, trafen wir nur meinen alten Onkel als Volkssturmmann an. Er klärte uns fassungslos auf, dass die Russen schon am Odertorbahnhof in Breslau stünden. Er beschwor uns, sofort nach Glatz zurückzufahren. Versehen mit einem Kommissbrot und einer Büchse Wurst, setzten wir aber befehlsgemäß unsere Fahrt fort und gelangten nach zwei Tagen über Görlitz nach Berlin-Weißensee. Wir erhielten die Geräte und erreichten mit Lazarettzügen nach drei Tagen wieder Glatz. Wenige Tage später – am 19. Januar 1945 – wurde Breslau zur Festung erklärt. Offenbar ermutigt durch den erfolgreichen Kurierdienst, erhielt ich Anfang Februar den Befehl, ein Messgerät von München nach Glatz zu holen. Die lange Fahrt auf völlig überfüllten Personen- und Lazarettzügen endete – unterbrochen von Tieffliegerangriffen – nach drei Tagen am Münchener Hauptbahnhof, der nur noch aus wenigen Gleisen und Holzbuden bestand. Die ebenso gefahrvolle Rück-
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reise endete zunächst am 12. Februar in Dresden bei meiner Patentante, Pfarrhaushälterin in St. Antonius in Dresden-Löbtau. Ich wollte nichts als nur schlafen. Am nächsten Morgen beschworen mich Tante und Pfarrer, wenigstens noch einen Tag zur Erholung zu bleiben. Ich bestand jedoch darauf, meinen Auftrag erfüllen. Am Nachmittag des 13. Februar fuhr ich in Richtung Görlitz ab. Eine Legion von Schutzengeln muss mich an diesem Tag begleitet haben. Bei dem nur Stunden später folgenden Luftangriff auf Dresden ging das Pfarrhaus in Trümmer. Die Bewohner hatten jedoch alle überlebt. Von meiner Cousine und ihren drei Kindern, die aus Lüben nach Dresden geflüchtet waren, hat es kein Lebenszeichen mehr gegeben. Der Krieg hatte auch Glatz erreicht. Seit Januar 1945 brachten überfüllte Züge der Reichsbahn Frauen, Kinder und alte Männer aus Oberschlesien, die vor der Roten Armee geflüchtet waren. Sie wurden auf die Grafschaft verteilt oder über die noch freien Bahnlinien über Waldenburg und Hirschberg Richtung Berlin oder über Mittelwalde Richtung Sudetenland weitertransportiert. Wir Hitlerjungen wurden auf dem Hauptbahnhof in Glatz eingesetzt, um den Menschen beim Transport ihrer geretteten Habseligkeiten zu helfen. Dabei beobachteten wir, wie auf einem Nebengleis, bewacht von einem Soldaten mit Gewehr, ein Mann mit gestreifter Sträflingskleidung Brote in offene Viehwagen warf. Wir konnten nur die emporgereckten Hände erkennen. Offenbar hatte es sich um einen Transport von KZ-Häftlingen gehandelt. Als es die Witterung im März zuließ, begann rund um Glatz das Ausheben tiefer Gräben und der Bau von Panzersperren. Frauen, Kinder und alte Männer waren mit Hacken, Schaufeln, Spaten und Schubkarren tagelang im Einsatz, beaufsichtigt und angetrieben von dem Ortsgruppenleiter der Partei in seiner brauen Uniform. Meine Tante Martha, aus Oppeln zu uns geflüchtet, rief ihm einmal zu, der „Goldfasan“ solle mit anpacken oder verschwinden. Für die gefürchtete Bestrafung meiner Tante wegen der Beleidigung eines „Hoheitsträgers“ der Partei reichte dessen Macht offenbar nicht mehr aus. Unsere Befestigungsanlagen wurden nicht gebraucht. Am 8. Mai 1945 war der Krieg zu Ende. Die Rote Armee hatte auch die Grafschaft erreicht. Am Nachmittag radelte ein Rotarmist mit der Maschinenpistole auf dem Lenker durch unsere Straße. Auf diesen harmlosen Auftritt folgten Wochen der Plünderungen, Vergewaltigungen und brutaler Übergriffe durch die Rote Armee. Hausbewohner versuchten sich dadurch vor Einbrüchen zu schützen, dass sie die Fenster vernagelten und Haustüren verbarrikadierten. Magdas Vater hatte die Glasfenster der Haustür an der Bergstraße mit Brettern vernagelt. Als wir 1976 Glatz besuchten, hielten die Bretter immer noch. Versuchten Angehörige, bei Übergriffen schützend einzugreifen, so wurden sie selbst Opfer. Am 9. Mai vergiftete sich der Arzt Dr. Nebler mit seiner gesamten Familie. Er hatte am Vortage vielen Opfern von Vergewaltigungen Hilfe geleistet. Er befürchtete wohl für seine Frau und seine beiden Töchter das gleiche Schicksal und sah in seiner Verzweiflung keinen anderen Ausweg. Klaus Nebler war in der Volksschule mein Klassenkamerad gewesen. Die vom sowjetischen Stadtkommandanten eingesetzte deutsche Stadtverwaltung hatte kaum Befugnisse und auch keine Macht. Nur sehr zögernd begann ein
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ziviles Leben. Ich wurde zur Feuerwehr abgeordnet. Unsere Mannschaft bestand aus vier Jungen gleichen Alters und zwei alten Feuerwehrleuten. Fahrzeuge und Löschgeräte waren längst gestohlen oder beschlagnahmt. Unsere Arbeit bestand im Abtransportieren von Leichen, Opfern von Übergriffen und Vergewaltigungen. Ich erinnere mich noch an vier Frauenleichen von dem Gelände der Handelsschule Jung an der Frankensteiner Straße, die wir auf Handwagen nach Scheibe [großes Krankenstift] bringen mussten. Im Juni/Juli 1945 begann die polnische Verwaltung von Glatz. Alle Deutschen mussten weiße Armbinden tragen. An einem Sonntag wurde ich nach dem Gottesdienst beim Verlassen der Dekanatskirche mit meinem Großvater und zahlreichen weiteren männlichen Gottesdienstbesuchern von Rotarmisten festgenommen und zum Gebäude des früheren „Glatzer Anzeiger“ auf der Lettow-Vorbeck-Straße eskortiert. Dort warteten bereits LKW’s, auf die von uns das gesamte Inventar der Druckerei geladen werden musste, auch schwere Druckmaschinen, was uns ohne jegliche Hilfsmittel erst nach Stunden, begleitet von den Flüchen der Rotarmisten, gelang. Am Abend ging der Transport zum Hauptbahnhof, wo die Maschinen beim Abladen in tausend Teile zersprangen. Wir konnten uns nach den „Daweidawei“-Rufen aus dem Staube machen. Nach dieser Erfahrung und der immer angespannteren Lebensmittelversorgung machte sich meine Großmutter auf, um für mich eine Bleibe bei einem Bauern zu suchen. So wurde ich dann bis zur Vertreibung „Knecht“ auf dem Hof Stache in Oberhannsdorf. Da die älteren Stache-Söhne alle im Felde waren, ruhte der Betrieb auf den Schultern der alten Eheleute Stache, dem mit mir gleichaltrigen Sohn Gottfried (wir trafen uns erstmalig nach der Vertreibung 2009 bei der Wallfahrt in Telgte wieder) und mir, dem ungelernten Hilfsarbeiter. Zur Ernte halfen noch Frauen aus der Nachbarschaft. Den Hof Stache hatten die Russen bald leer geräumt. Pferde, Wagen, Trecker und Maschinen waren abtransportiert. Das einzige „Zugpferd“ war ein Ochse. Im Morgengrauen mit Gottfried Klee holen, den Stall ausmisten, Kühe füttern, in der Ernte Getreide abraffen, das Vater und Sohn Stache mit der Sense mühsam gemäht hatten, im Winter Holz fällen und hacken – so lernte ich die Arbeit auf dem Bauernhof. Für einen Schüler zunächst völlig ungewohnt, für das Leben sehr lehrreich. So habe ich später unser Kaminholz bis zum Alter selbst gehackt. Bei aller harten Arbeit auf dem Hof: Wir hatten satt zu essen! Das blieb auch so, nachdem eine mehrköpfige polnische Familie den Hof „übernommen“ hatte. Wir mussten zusammenrücken, Hilfe erhielten wir nicht, das Essen reichte für alle, wir vertrugen uns. Im November wurden im Dorf von den Russen auf jedem Hof Kühe beschlagnahmt und in der ersten Nacht zusammengetrieben in den Ställen der Höfe von Leifer, Kuschel und Moschner. Gottfried und ich mussten mit einer Schar anderer Jungen die Herde von etwa 100 Kühen in eisiger Kälte am nächsten Tag zum Hauptbahnhof in Glatz treiben. Dort wurde das Vieh in Güterwagen zum Abtransport in die Sowjetunion verladen. Wir Jungen standen unschlüssig und voller Angst, „mitverladen“ zu werden im Schneegestöber zwischen den Gleisen. Da wurde ein russischer Offizier auf uns aufmerksam und forderte uns mit entsprechenden Handbewegungen auf zu verschwinden. In der Dunkelheit machten wir
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uns sofort aus dem Staube. Er hatte uns sicher vor dem Abtransport bewahrt und wahrscheinlich das Leben gerettet. Es war der 14. November 1945 – mein 15. Geburtstag! Ich habe diesen Geburtstag nie vergessen. Alle zwei Wochen wanderte ich mit Lebensmitteln zu den Großeltern nach Glatz, so auch am Tag vor Heiligabend 1945. Frau Stache hatte mir Brot, ein Stück Speck, etwas Butter und Eier in den Rucksack gepackt. In Niederhannsdorf im Niederdorf angekommen, wollte ich den langen Marsch abkürzen und ging über den Puhu einen einsamen Weg. Das war mein Fehler. Drei polnische Jugendliche hielten mich an, leerten meinen Rucksack, ließen mich zwar laufen, aber meine Weihnachtsüberraschung war dahin. Dafür erwartete mich eine andere Überraschung. Die Familie des Apothekers Bernhart – Ehepaar und zwei Töchter – waren aus ihrer Wohnung am Bergblick vertrieben und bei meinen Großeltern eingewiesen worden. Es war eng geworden, da die Großeltern bereits eine aus Ratibor geflüchtete Nichte mit zwei Kindern aufgenommen hatten. Die gemeinsame Not ließ uns zusammenrücken. Die folgenden Wochen vergingen in Ungewissheit über unser kommendes Schicksal. Verlässliche Nachrichten gab es nicht. Radios waren längst abgegeben. Deutsche Zeitungen wurden nicht mehr gedruckt. Polnische Zeitungen verstanden wir nicht. Gerüchte machten die Runde. Da erschien am 19. Februar 1946 meine Großmutter auf dem Hof in Oberhannsdorf, um mich schnell nach Glatz zu holen. An diesem Tag war in Glatz die unmittelbar bevorstehende Vertreibung der deutschen Einwohner bekannt gemacht worden. Wegen der Dunkelheit liefen wir erst am nächsten Morgen nach Glatz zurück, versorgt mit einer Tasche voll Lebensmitteln. Zu Mittag in Glatz angekommen, fanden wir die Haustür verschlossen und versiegelt, die Straße menschenleer vor. Die sind schon im Finanzamt, wurde uns aus einem Haus zugerufen. Auf dem Hof des ehemaligen Finanzamtes fanden wir dann den Großvater, Verwandte und Nachbarn. Sie waren noch am Vorabend binnen einer Stunde aus den Wohnungen vertrieben worden und hatten in der Eile nur das Notwendigste an Kleidung zusammenraffen können. Am Nachmittag zogen ca. 1 500 Frauen, Kinder und alte Männer in eisiger Kälte und Schneegestöber mit den geretteten Habseligkeiten – zum Teil auf Handwagen, Schlitten und Kinderwagen gepackt – zum Hauptbahnhof. Dort wurden wir in Güterwagen verteilt, etwa 50 Menschen in einen Waggon. Es war der 20. Februar 1946. Die Vertreibung der deutschen Bewohner der Grafschaft Glatz hatte am Vortage begonnen. Meine Kindheit war zu Ende. Das Hakenkreuz war schmählich untergegangen. Das Kreuz begleitet uns bis heute.
Hitlerjunge und Ministrant: Als wir „auf Vordermann“ gebracht wurden – Glatzer Erinnerungen 1937 bis 1944 Von Karlheinz Mose
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tillgestanden! Reeechts um! Im Gleichschritt maaarsch!“ Wir marschierten los. Jugend im Gleichschritt. Einer voran, er trug unseren Wimpel; ein anderer etwas seitwärts und gut einen Kopf größer, der war der Fähnleinführer. Er kommandierte: „Ein Lied, drei – vier!“ Und in den noch jungen Morgen schallte: „Aus grauer Städte Mauern, zieh’n wir in Wald und Feld…“.
Ausmarsch statt Prozession Es war, wenn ich mich recht erinnere, der Fronleichnamstag 1938 oder 1939. Nicht Prozession war angesagt, sondern Ausmarsch. Vom Platz vor dem Glatzer Stadtbahnhof (früher einmal „Sellgittplatz“, dann „Platz der SA“) zogen wir singend durch die Mälzstraße und die Königshainer Straße stadtauswärts. Links, der Schäferberg, etwas später rechts der Spittelberg mit seiner Einsiedelei und dem Kapellchen, schließlich die ersten Gehöfte von Königshain. Die Kirche kam in Sicht und auf der Straße – entgegenkommend – die Fronleichnamsprozession. Mit Kreuz voran, mit Fahnenträgern, einer Schar Ministranten und mit der Monstranz unter dem Baldachin, kurzum mit allem festlichen Gepränge, das eine dörfliche Pfarre aufzubieten hatte. Unser Fähnleinführer war gottlob nicht einer von der Sorte „Haudrauf“. Er bog sofort nach links ab. Im Gänsemarsch verschwanden wir durch das Tor eines Gehöfts, querten das Hof-Geviert und gelangten an Stall und Misthaufen vorbei auf einen Feldweg, der aufwärts in den nahen Wald führte. Unten auf der Dorfstraße zog die Prozession vorbei. Kommet zu Hauf; Psalter und Harfe wacht auf – der Lobgesang war nur noch von fern zu hören. Irgendwie spürten wir, dass da etwas nicht recht zusammenging – Kirche und Hitlerjugend. Aber das war schnell vergessen. Unser Geländespiel, Anschleichen und ein bisschen Rauferei, konnte beginnen.
Damals Pimpf, heute Zeitzeuge Damals war ich Pimpf (ein Wort, das im Duden nicht mehr zu finden ist). Heute, gut 70 Jahre später, bin ich Zeitzeuge. Einer, der vom Gestern erzählt mit dem Wissen von heute. Erinnerung ist immer auch Interpretation. So wollen die nachfolgenden Episoden, so will das Selbsterlebte aus den Jahren 1937 bis 1944 verstanden sein. Pimpfe waren die Zehn- bis Vierzehnjährigen, das Jungvolk, wie die Unterorganisation der Hitlerjugend ( abgekürzt HJ) hieß. Entsprechend waren es die Jungmädel im Bund deutscher Mädel (BDM). Jeden Mittwoch und Sonnabend traten wir nachmittags zum „Dienst“ an. Pflichtdienst für die Jungen wie für die Mädchen. Die Jungmädel trafen sich zu Sing- und Bastelgruppen. Wir Jungen wurden gedrillt. Auf Vordermann gebracht, hieß das sehr treffend. Flink wie Windhunde, zäh wie
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Leder, hart wie Kruppstahl, wollte Adolf Hitler „seine“ Jugend haben, die HitlerJugend. Flink wie Windhunde, kam uns am meisten entgegen. Das entsprach unserem Spiel und Sport. Dass sich hinter Hart wie Kruppstahl, in Ausmarsch und Geländeübungen, schon vormilitärische Ausbildung verbarg, kam uns damals nicht in den Sinn. Eher merkten wir schon, dass der sonntägliche Kirchgang, dass Beichte und Kommunion, – die Alltagsfrömmigkeit, in die man als Kind hineinwächst, – in Frage gestellt wurde. Aber über Gott und die Welt wurde in den Familien kaum geredet. Wir Grafschafter lebten wie selbstverständlich im „Herrgottsländchen“.
Abb. 1: Hitlerjugend und Jungvolk marschieren 1941 nach einer Veranstaltung in der „Hans-Schemm-Schule“ durch die Schwedeldorfer Straße zum Glatzer Ring. (Foto Maisel, zur Verfügung gestellt von Karlheinz Mose)
Das Braunhemd unter dem Rochett 1937 wurde ich zehn. Das war ein Jahr der Weichenstellung. Die Aufnahmeprüfung in das Graf-Götzen-Gymnasium stand an und in der Stadtpfarrkirche die Vorbereitung auf die Erstkommunion. Auch die Katholischen Pfadfinder warben um einen. Gleichzeitig wurde alljährlich am 20. April, an „Führers-Geburtstag“, ein neuer Jahrgang ins Jungvolk aufgenommen. Mein Jahrgang 1927 war dran. Ich erinnere mich,
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dass mein Vater damals sagte: Pimpf oder Pfadfinder, das ist dasselbe. Und eines geht nur (zeitlich) neben Schule und Klavierstunde. Im Glatzer Herrenbekleidungs- und Uniformgeschäft Hempel in der Schwedeldorfer Straße wurde statt des schilfgrünen Hemds der Pfadfinder das braune des Jungvolks gekauft. Das Braun der Hemden war kurioser Weise nicht ganz farbecht. Nach einigen Wäschen wurde es heller, und im Sommer bleichte es die Sonne aus. Nach der Erstkommunion im Frühsommer 1937 und mit dem Beginn des LateinUnterrichts am Gymnasium fragten die Kapläne und Pfarrer an, Hast du nicht Lust… – nein, sie bestimmten geradezu: Du wirst Ministrant. Ich wurde Ministrant. In der Schule lernten wir als Latein-Anfänger noch Simpelsätze wie „Aviam amamus“ (Wir lieben die Großmutter) oder „Avia ruri habitat“ (Großmutter wohnt auf dem Lande) – wir waren jedenfalls noch weit weg von Caesars „De Bello Gallico“, vom Übersetzen des „Gallischen Kriegs“. Aber in der Sakristei wurde uns Zehnjährigen nicht nur das behutsame Schwenken des Weihrauchfässchens beigebracht, sondern auch Kirchenlatein; jedenfalls alles, was dem Pfarrer zu antworten war, in der damals noch lateinisch gelesenen Messe. Adiutorium nostrum in nomine Domini (Unsere Hilfe ist im Namen des Herrn), begann der Pfarrer, und wir murmelten mehr phonetisch, als von Vokabel- und Grammatik-Kenntnissen getrübt: Qui fecit coelum et terram (Der Himmel und Erde erschaffen hat). Erst dann schritten wir aus der Sakristei zum Altar. Manchmal folgte unmittelbar auf die Heilige Messe der Jungvolkdienst. Es blieb uns keine Zeit, nach Hause zu rennen und das Hemd zu wechseln. So huschten wir halt halbuniformiert in die Sakristei. Über das braune Jungvolkhemd wurde schnell das weiß
Abb. 2: Versehgang mit Mischung von Ministranten- und Hitlerjugendkleidung, Aufnahme aus Rosenthal (Archiv Karlheinz Mose)
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wallende Rochett gezogen. Die langen Röcke in den jeweiligen Liturgie-Farben von Rot bis Violett deckten im Sommer die kurzen schwarzen Cordhosen und die grauen Kniestrümpfe der Uniform und im Winter die langen sogenannten Überfallhosen. Die hatten mit Überfall nichts zu tun; sie hießen nur so, weil sie an der Wade „überfallend“ in einem Bund endeten. Koppel, Schulterriemen, Fahrtenmesser, das schwarze Dreiecktuch und der braune Lederknoten, all die übrigen markigen Uniformteile haben wir meist schon vor Betreten der Kirche abgelegt und als Bündel mitgenommen. Ein Foto, das im Fluchtgepäck mit in den Westen gekommen ist (Herbert Franke aus Münster hat es zur Verfügung gestellt), zeigt, wie sich Uniformstücke und Ministrantenkittel nahtlos mischten. Pfarrer Georg Goebel von Rosenthal ist mit seinen Ministranten in Freiwalde in der oberen Grafschaft zu einem Versehgang (wie damals die Krankensalbung hieß) unterwegs. Mit Skiern, denn es ist Winter (1942 oder 43). Die vier Jungen tragen alle die Jungvolkmützen, bei denen man die Ohrenklappen herunterziehen konnte. Und einer hat sogar die Hitlerjugend-Raute nicht abgelegt, eine kleine Metallnadel, die üblicherweise vorn den Mützenrand zierte.
Als die Synagoge brannte Glas splitterte. Klirrend krachten Schaufensterscheiben auf die Bürgersteige. Es war die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Den Nazis reichte es nicht mehr: Kauft nicht bei Juden, zu plakatieren; sie zerstörten die Geschäfte. Es war die PogromNacht, die verharmlosend „Reichskristallnacht“ genannt wurde. Obwohl wir am Ring in Glatz im Haus der Hirschapotheke nur etwa 50 Meter vom Spielwarengeschäft Georg Löwy entfernt wohnten, hörten wir nicht, wie SALeute das Schaufenster zertrümmerten. Am Morgen danach, als ich wie immer zur Schule rannte, – weil ich für fünf Minuten Weg nur drei Minuten zur Verfügung hatte, – sah ich, was geschehen war, jedoch ohne die ganze Tragweite zu erfassen. Vor dem Spielzeuggeschäft stand ein Polizist und herrschte Neugierige an: Weitergehen! Da ist denen wohl das Schaufenster kaputt gegangen. Hoffentlich ist den Puppen und den Spielzeugsoldaten nichts passiert. Kindliche Gedanken; ich hastete weiter. Als ich in der Grünen Straße beim Gymnasium ankam, sah ich die nahe dem Schulhof gelegene Synagoge brennen. Noch kein Gedanke, dass sie jemand mutwillig angezündet haben könnte. Im Klassenzimmer standen alle 30 Mitschüler an den Fenstern. Die Bäume ohne Laub, der Blick auf die Synagoge frei. Flammen und schwarzer Rauch, spannend. Der Studienrat kam herein: Zurück in die Bänke. Kein Wort zu dem Geschehen draußen, Unterricht wie üblich: Mose, sag’ das Gedicht auf. – Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Damon, den Dolch im Gewande … In der großen Pause standen wir alle im Schulhof und starrten zur Synagoge. Die Freiwillige Feuerwehr, die ihr Depot nur drei Minuten entfernt hatte, war da. Aber die Wehrmänner zielten mit ihren Rohren nicht in die Flammen, sondern besprengten zwei benachbarte Häuser, damit sie nicht Feuer fingen. Ein älterer Schüler sagte: Das geht gegen die Juden. Die beiden Studienräte, die Pausenaufsicht hatten, standen mitten unter uns und – schwiegen. Kein erklärendes Wort. – Angst, etwas Falsches zu sagen? Oder stillschweigende Zustimmung? Wir blieben mit unserem Starren und Staunen allein gelassen.
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Mittags, auf dem Heimweg, war Zeit, sich das Spielzeuggeschäft anzusehen. Da hatten wir auch sonst immer unsere Nasen plattgedrückt. Ein Polizist stand noch davor. Der Bürgersteig war von Scherben übersät. Zwischen zwei Holzböcken war ein Seil gespannt, damit man nicht zu nahe herantrat. Hinter den spitzzackigen Resten der Schaufensterscheibe saßen auf den Ausstellungsstellagen die Puppen noch so schön drapiert, als sei nichts geschehen. Und auch die Elastolin-Soldaten marschierten auf einer anderen Stellage noch hinter der Musikkapelle her. Die etwa zehn Zentimeter hohen Figuren aus Elastolin, einer Masse aus Sägemehl und Kaseinleim, naturgetreu geformt und angemalt, waren ein Muss für uns Jungen – ein „must have“, wie man heute sagt. Clou des Angebots war die Hitler-Figur. Es war die einzige Figur, die einen beweglichen Arm hatte, den rechten, und der konnte zum „Deutschen Gruß“ erhoben werden. Auf der obersten Stellage stand der Adolf und machte „Heil“. Der heile Diktator im zerstörten Schaufenster eines jüdischen Spielzeughändlers – die ganze Zwiespältigkeit der Zeit vereint in dieser Szenerie. Zuhause wurde über die Ausschreitungen, über das Unfassbare, kaum gesprochen. Wahrscheinlich eine Strafmaßnahme, hieß es. Auch in der Lokalzeitung stand nichts. Kein Wunder: Die „Grenzwacht“ war zu dieser Zeit schon „gleichgeschaltet“, eine Zeitung des vom Reichspropagandaministerium gesteuerten NS-Gauverlages in Breslau. Und was ich erst jetzt feststellen konnte dank der mühevollen Aufarbeitung und der zu einem Buch gestalteten Chronik „40 Jahre Kirchengeschichte der Grafschaft Glatz“ durch Dr. Dieter Pohl: In den vorher oftmals akribisch geführten Tagesnotizen des im März 1938 gerade erst zum Großdechanten ernannten Dr. Franz Monse, enden die Aufzeichnungen für das Jahr 1938 am 1. November. Schweigen aus Vorsicht? Oder verordnet? Wir werden es nicht ergründen. Ein Jahr später, die Ruine der Synagoge abgetragen, das Spielzeuggeschäft „arisch“ geführt, wenige jüdische Bürger noch in der Stadt, – sie mussten an ihrer Kleidung einen gelben Judenstern tragen –, da marschierten wir einmal an einem Sonnabend als geballter Jungstamm durch die Stadt. Der Fanfarenzug voran, die Trommler bestimmten den Schritt. Und wir sangen. Ein Lied war darunter, da sträubt sich die Feder, den Text wiederzugeben. Es hatte nicht mal Marschrhythmus, und ich kann mich nicht erinnern, dass wir es oft gesungen haben. Dabei waren die ersten beiden Strophen geradezu biblische Geschichte: O Herr, gib uns den Moses wieder. / auf dass er seine Stammesbrüder / heimführt in das gelobte Land.– Die zweite Strophe: O Herr, mach’, dass sich die Meere teilen, / auf dass zwei hohe Wassersäulen / aufstehen wie eine Felsenwand.– Alles, wie wir es aus der Kinderbibel kannten. Doch die dritte Strophe schlägt eine böse Volte: „Herr, wenn in der Wasserrinne / das ganze Judenvolk ist drinne / O Herr, dann mach die Klappe zu, / und alle Völker haben Ruh’.– Die ganze Perfidie der Nazi-Zeit kommt darin zum Ausdruck. Wir haben das gesungen, ohne über den Text zu stolpern. Wir lasen zwar jeden Tag: Die Juden sind unser Unglück. Der Aushangkasten der SS-Zeitung „Der Stürmer“ mit dieser Parole stand am Badersteg, der über den Mühlgraben führte. Wir bekamen auch mit, dass jüdische Bekannte, Mitschüler und Spielgefährten, plötzlich nicht mehr da waren; unbekannt verzogen. Wir kannten das Wort Judenhass und einige wahrscheinlich auch das Kürzel „KZ“. Aber wir Zehn- bis Sechzehnjäh-
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rigen wussten nichts von Auschwitz, das gute 200 Kilometer von uns entfernt war, nichts von Groß-Rosen im Schlesischen, von Theresienstadt im Böhmischen. Und „Holocaust“ – der Begriff für Massenvernichtung – kam erst nach 1945 als Fremdwort zu uns. Wir haben seitdem gelernt. Heute wissen wir, wie unsensibel wir damals waren. Diese Schuld müssen wir Kinder von damals, wir Zeitzeugen, tragen.
Wie die Lieder täuschten In den Kriegsjahren häuften sich die Jungvolk- und Hitlerjugend-Verpflichtungen an den Sonntag-Vormittagen. Den Altardienst hatten längst Jüngere übernommen. Aber ich bin immer noch morgens um 8 Uhr zur Messe gegangen; darauf bestand schon die Mutter. Prälat Dr. Monse wollte uns in Braunhemden oder schwarzen Winter-Blousons natürlich nicht in den Bänken gleich unter der Kanzel sehen; selbst wenn wir manches, was die Uniform vervollständigte (Halstuch und Schulterriemen), abgelegt hatten und nun die Hosentaschen beulte. Mit einem unmissverständlichen Wink dirigierte uns Kirchendiener Chaloupka in unserem Halbzivil in die hintersten Bänke. Dort saßen wir dann, hofften, dass die Predigt nicht zu lang geriet, schauten wenig andächtig immer wieder auf die Armbanduhr (ein Erstkommunion-Geschenk) und stürmten mit dem letzten Segenswort aus der Kirche. Wir mussten zu Morgenfeiern der NSDAP antreten, oder es gab, was erbaulicher war und freiwillig, die sogenannten Jugendfilmstunden. Für 30 oder 50 Pfennige Eintritt sahen wir dann „jugendfreie“ Filme mit Hans Albers, Willy Birgel und Heinz Rühmann und selbstverständlich die vom Reichspropagandaministerium verordneten Streifen wie „Hitlerjunge Quex“, „Die jungen Adler“, „Wunschkonzert“. „Jud Süß“. Diese Sonntags-Matineen fanden immer um 10 Uhr im „Gloria-Palast“, dem Kino am Wilhelmplatz, statt. Für die Morgenfeier war die Kinoleinwand hochgezogen. Wir standen, zusammen mit den Jungmädeln, korrekt uniformiert als Singschar auf der Bühne. Die Fahnen der Partei-Organisation senkten sich, auch unsere Jungvolkfahne mit der weißen Rune auf schwarzem Tuch. Ein Partei-Redner – sie hatten Titel wie Kreisleiter, Kreisamts- oder Ortsgruppenleiter – verlas Namen: Gefallen für Führer,Volk und Vaterland … In den ersten Sitzreihen schluchzten die Angehörigen, und wir sangen mit zugeschnürter Kehle das Lied vom guten Kameraden. Die weiteren Lieder, die wir zur Ausgestaltung dieser – ja, heute möchte man sagen, verlogenen – Feierstunden beitrugen, sollten allesamt Vaterlandsliebe und Nationalbewusstsein, nein, nationalsozialistisches Bewusstsein, schüren: Heilig Vaterland in Gefahren, oder: Deutschland, heiliges Wort, du voll Unendlichkeit, / über die Zeiten fort seist du gebenedeit. / Heilig sind deine Seen, heilig dein Wald … Alles durfte uns heilig sein, nur die Kirche nicht. Obwohl sich die den Nationalsozialisten genehmen Liedermacher gern kirchlichen Wortschatzes bedienten. Das in unserem Alltagsvokabular ungewöhnliche Wort „gebenedeit“, das wir eigentlich nur aus dem Gegrüßet seist du, Maria kannten, hier tauchte es wieder auf – im „Liederbuch der Hitlerjugend“. Ich erinnere mich, dass wir in unserer Singschar einmal einen Disput hatten über einen Liedtext. Es war vor einem der letzten Kriegsweihnachten. Wir probten ein
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Lied, um es bei den von der NSDAP arrangierten Besuchen in den Glatzer Lazaretten zu singen. Eines der Mädchen kannte den Text und sprach ihn vor: Es ist für uns eine Zeit angekommen, / es ist für uns eine große Gnad’. / Unser Heiland Jesus Christ, / der für uns, der für uns, / der für uns gestorben ist. – Nein, nein, das sei ein veralteter Text, unterbrach die Chorleiterin und las aus ihrem Liederbuch die neue Version vor: Es ist für uns eine Zeit angekommen, / sie bringt uns eine große Freud’. / Übers schneebeglänzte Feld / wandern wir, wandern wir / durch die weite, weiße Welt. – Das klang natürlich sprachlich eleganter, als die aus der deutschsprachigen Schweiz stammende alte Volksweise. Aber jeder christliche Bezug war gestrichen. Nur in der dritten Strophe kam das Wort „Himmel“ noch vor: Vom hohen Himmel ein leuchtendes Schweigen / erfüllt die Herzen mit Seligkeit…. Wir sangen bei den Morgenfeiern auch: Nichts kann uns rauben / Liebe und Glauben / zu unserem Land, und kaum eine Stunde vorher hatten wir mit Prälat Dr. Monse in der Messe das Apostolische Glaubensbekenntnis gesprochen. Woran glauben? Wir waren allein gelassen mit dem Glauben, so sehr sich auch die Glatzer Kapläne, Pater Hubertus Günther OFM, Kurt Ungrad und Joseph Buchmann, den wir wegen seiner blonden Locken „Prager Jesulein“ nannten, um uns kümmerten.
Der Junge, der ein Spitzel war Bei den Recherchen zu dieser Aufzeichnung haben mir einige gleichaltrige Glatzer, also ebenfalls Zeitzeugen, von Begebenheiten im Verhältnis Kirche und Hitlerjugend berichtet, wie ich sie selbst damals nicht wahrgenommen habe. Klaus Maisel, Malermeistersohn aus der Schwedeldorfer Straße in Glatz, erzählte mir (mit Namensnennung), dass er von einem Jungen wusste, der sonntags mit Notizbuch in der Stadtpfarrkirche gesessen habe. Er sollte Predigtsätze mitschreiben, die sich als verbale Angriffe gegen Hitler, die NSDAP oder die Organisationen wie SA und Hitlerjugend auslegen ließen. Wer ihn dazu beauftragt hatte, oder ob er es aus freien Stücken tat, ist nicht bekannt. Christel Konhäuser (damals hieß sie Fischer) aus der Friedrichstraße in Glatz, weiß zu erzählen, dass die sehr beliebte und fürsorgliche Jungmädelführerin Marthel Matuschek (später Mack) zu Prälat Dr. Monse gegangen sei, um für die zehn- bis vierzehnjährigen Mädchen an den Sonnabenden vor den Hochfesten einen späteren Beichttermin zu erbitten. Der Pflichtdienst der Jungmädel endete meist erst gegen fünf, und da war schon Beichte für die Erwachsenen angesetzt. Christel Konhäuser ist dann – obwohl protestantisch – auch schon mal mit ihrer besten Freundin, Annerose Loske (heute Goransch), in die Pfarrkirche gegangen, wenn diese nach dem Jungmädel-Nachmittag zur Beichte gehen wollte (oder musste). Die Christel hat Uniformjacke, Halstuch und Lederknoten in die Hand gedrückt bekommen und etwas abseits in einer Bank gewartet, bis die Annerose ihr vermutlich kleines Sündenregister gebeichtet und gebüßt hatte. Ruth Prager, Tochter des begüterten Landhandelskaufmannes Kurt Prager in der Glatzer Zimmerstraße, heute unter dem Nachnamen Lewin in Israel lebend, erzählte mir, dass sie nach der Pogromnacht am Morgen des 10. November 1938 von ihrer Lieblingslehrerin (Fräulein Polke) in der Volksschule am Mädelplan beiseite genom-
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men wurde. Sie sagte nur, „Geh’ nach Hause, Ruth. Die Eltern werden dir schon sagen, warum.“ Ruth Prager war neun Jahre alt. Wir spielten mit ihr in der wenig befahrenen Zimmerstraße Völkerball, und ich glaube, kaum eines von uns Kindern wusste, dass sie Jüdin war oder scherte sich darum. In Israel erzählte sie mir vor einigen Jahren, sie hätte damals geradezu neidisch auf die Jungmädchen in ihren schicken Uniformen geschaut; schwarzer Rock, weiße Bluse, dazu das Halstuch mit Lederknoten und darüber die samtene, braune Kletterweste. Oder mit einer Strickjacke, die mit ihrer rotgrünen Borte aussah, als stamme sie aus einer alpenländischen Trachtendiele. Sie malte sich sogar aus, dass sie das auch einmal würde tragen. Und sie bettelte vergeblich bei ihrer Mutter, die Jugendzeitung doch auch zu bestellen, die ihre Schulfreundinnen immer lasen (vermutlich „Hilf mit!“, die Zeitschrift des Jugendherbergswerkes). Bis zum 9. November 1938 war ihre Welt noch heil. Vom Elternhaus behütet, in der Schule nicht angefeindet, mit Freundinnen, die es bis zum heutigen Tage geblieben sind. Ruths Eltern gehörte übrigens damals (und bis August 1939) das Haus Zimmerstraße 10. Im Sommer 1945 wurde es zu einer leidvollen Adresse. Die Polen sperrten in den Kellern Männer aus Glatz und dem Umland ein, quälten sie unsäglich, ließen sie hungern. Mein Vater, aus dem ersten Weltkrieg schwerverwundet heimgekehrt und wegen der Unterschenkel-Amputation nicht zu den Waffen gerufen, also nicht eingezogen, gehörte dazu. Wochen später ist er (vermutlich) in dem berüchtigten Lager Lamsdorf bei Oppeln gestorben. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört. Eine Begebenheit, die mir erzählt wurde und verbürgt ist, will ich noch anfügen, obwohl sie gar nicht in Glatz spielte. Aber sie ist aberwitzig, und sie ist vor allem signifikant für die lokal-politische Ambivalenz der späten 1930er Jahre: In einem stockkatholischen Dorf im Südoldenburgischen, wohin übrigens 1946 auch Vertriebene aus der Grafschaft Glatz eingewiesen wurden, predigte der Pfarrer in der Sonntagsmesse ein paar Sätze, die dem örtlichen SA-Führer nicht passten. Mitten in die Predigt hinein rief der: SA auf! SA raus! Strammen Schrittes marschierte er aus der Kirche – und keiner folgte ihm. Der „Raus“-Rufer war übrigens Lehrer in der Gemeinde und fortan, zumindest bei einigen, nicht mehr gelitten. Er wurde 1940 nach Ost-Oberschlesien versetzt – „dienstverpflichtet“, hieß es, – wo er eine Hauptlehrerstelle bekam. Ob sich Ähnliches auch in unserer Grafschaft zugetragen hat? Vielleicht in Bad Landeck, das ja bekanntlich Keimzelle für den Nationalsozialismus in der Grafschaft Glatz war? Ich kann es mir nicht vorstellen.
Der Junge mit dem Rosenkranz Es war im Sommer 1943 im Strandbad von Wünschelburg. Oder war es Neurode? Einerlei, wir hatten dort das Sommer-Zeltlager aufgeschlagen. Weiße Zehn-Mann-Zelte im Rund. Ich war nicht mehr bloß Pimpf, ich war Jungvolkführer, obwohl ich dem Jahrgang nach wie meine Klassenkameraden inzwischen eigentlich schon zu den Hitlerjungen (so hießen die über Vierzehnjährigen) gehörte. Von der Schulterklappe zur Brusttasche meines Uniformhemdes baumelte eine geflochtene grüne Kordel zum
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Zeichen, dass ich Jungzugführer war. Die Kordel nannten wir „Affenschaukel“. Das machte dieses Rangabzeichen schon weniger wichtig. Meine Beförderung im „Führerausweis der Hitlerjugend“ unterschrieb der Fähnleinführer Georg Monse. Er war der Sohn des Arztes Dr. Monse vom Glatzer „Mariannenbad“. Ob es verwandtschaftliche Beziehungen zum Glatzer Prälaten Dr. Franz Monse gab, weiß ich nicht. Es könnte durchaus möglich gewesen sein. Viele Jahre später habe ich den Georg, unseren Fähnleinführer von einst, den wir aus unerfindlichen Gründen nur „Picco“ nannten, als gestandenen Juristen in Münster getroffen. Im Dienste des Bischofs verwaltete er die Liegenschaften des Bistums. Zurück ins Zeltlager: Auf dem Tagesplan stand Gepäckmarsch. Gelobt sei, was hart macht. - das war auch so ein Spruch dieser Zeit. Vor dem Abmarsch inspizierten der Lagerführer und seine beiden Stellvertreter, ob die Tornister ordentlich gepackt waren, ob die darauf geschnallte Decke stramm gerollt war, genau mit der Unterkante des Tornisters abschloss und nicht etwa wie Wurstzipfel herunter hing. Die Gruppe, für die ich verantwortlich war, wurde von einem kontrolliert, der eigentlich schon über das Hitlerjungen-Alter hinaus war. An der Ostfront hatte er durch Granatsplitter den rechten Arm verloren. Er trug noch keine Prothese; der Ärmel seines Braunhemds hing leer herunter und war im Koppel festgeklemmt. Heil kann ich nicht mehr machen. Da ist nichts mehr heil, hörte ich ihn einmal sagen. Als er mit dem gesunden Arm schwungvoll den Tornister eines Jungen anhob, fiel ein Rosenkranz heraus. Was soll das? kam barsch die Frage. Der Junge stammelte: Meine Mutter…; weiter kam er nicht, da sagte der Einarmige schon in gemäßigterem Ton: Steck das weg, das gehört nicht hierher. – Eine eher belanglose Begebenheit. Jedoch vier Jahre später musste ich an ihn denken, an den Jungen mit dem Rosenkranz.
Beten, Singen, Wiedersehen – 1947 in Listrup Es war im Sommer 1947. Großdechant Dr. Monse und Pater Günther hatten die katholische Jugend der Grafschaft Glatz zu einem Treffen nach Listrup, einem Dorf zwischen Rheine und Lingen, eingeladen. Dort, nahe der Ems, waren die Glatzer Geistlichen nach der Vertreibung vorübergehend untergekommen. Die Hirten sammelten ihre versprengten Schäfchen – so muss man das wohl sehen. Und wohin der Wirbel der Vertreibung sie auch geweht haben mochte, es kamen etwa 200 Jungen und Mädchen aus Dörfern und Städten Niedersachsens und Nordrhein-Westfalens zusammen. Wie wir alle von dem Treffen erfahren haben, woher Pater Günther unsere Adressen hatte, ich weiß es nicht. Es war jedenfalls eine bewundernswerte logistische Leistung ein Jahr nach der Vertreibung und in einer Zeit, da Kommunikation Abb. 3: Der Autor als Soldat im noch nicht E-Mail oder SMS hieß. Es spricht aber Februar 1945 (Archiv K. Mose)
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auch für den Zusammenhalt der Grafschafter als Fremde in der Fremde. In Listrup – so muss man das heute wohl sehen – wurde der Grundstein gelegt für die Grafschafter Wallfahrt in Telgte. Ich reiste aus Rulle, einem Wallfahrtsort im Osnabrücker Land, an. Wenige Wochen vorher war ich nach fast zwei Jahren Kriegsgefangenschaft in Italien nach dort entlassen worden. Meine Mutter hatte mit meinen drei Geschwistern 1946 nach der Vertreibung in dem Dorf eine bescheidene Bleibe gefunden. Wir wohnten der Wallfahrtskirche von Rulle so nah, dass die Fenster klirrten, wenn die Glocken läuteten. Wir wohnten im Pfarrhaus. Als ich mit einem zusammengeflickten Militärrucksack nach Listrup aufbrach, steckte mir meine Mutter einen Rosenkranz zu: Du wirst ihn brauchen. Und ich erinnerte mich mit einem Mal an den Jungen mit dem Rosenkranz. Meine Mutter…, hatte der damals im Jungvolk-Zeltlager verlegen gestammelt. Auch sie wird ihm vielleicht gesagt haben: Du wirst ihn brauchen. Listrup, das war gemeinsames Beten, gemeinsames Singen und – natürlich großes Wiedersehen. Da stand mit einem Mal unser Glatzer Musiklehrer, der Studienrat Georg Stähler, mitten unter uns Jugendlichen und übte den Kanon „Dona nobis pacem“ ein. In der Glatzer Penne nannten wir ihn immer „Papa Stähler“. Wegen seiner jovialen Art und ein bisschen wohl auch wegen des Bäuchleins, das er – immer mit Weste – vor sich hertrug. Er wird uns verziehen haben, dass wir in seiner Musikstunde mal an die hundert Maikäfer fliegen ließen. Und hoffentlich auch, dass wir ihn manchmal aus purem Übermut buchstäblich um Luft „hungern“ ließen. Wir waren die Blasebalgtreter, wenn er sonntags in der kleinen Kapelle des Gymnasiums die Orgel spielte. „Dona nobis Pacem“ – Herr; gib uns Frieden, klang unser Singen, von Papa Stähler dirigiert, in den Abendhimmel an der Ems. Wann immer ich den Kanon heute höre, laufen mir leise Schauer über den Rücken wie vor fast 65 Jahren. – Bevor wir zum Schlafen ins Stroh der Listruper Bauernscheunen krochen, reichten wir uns die Hände und sangen wie an den Lagerfeuern von einst: Kein schöner Land in dieser Zeit, als hier das uns’re weit breit… Aber war das Land, in dem wir noch nicht heimisch geworden, war es das uns’re“? Die zweite Strophe haben wir dann inniger gesungen als früher: Nun Brüder, eine gute Nacht, der Herr im hohen Himmel wacht ...
Da wurden für uns die Weichen gestellt Dieses Treffen in Listrup war für mich und für drei weitere Glatzer Klassenkameraden, rückblickend, auch eine Art Weichenstellung. Wir hatten uns in Glatz das letzte Mal im Herbst 1943 gesehen, als die ersten unseres Jahrgangs zu den Luftwaffenhelfern eingezogen wurden. Nun versuchten wir nach Kriegsdienst und Gefangenschaft, in verschiedenen westdeutschen Städten das Abitur nachzuholen. Ein mühsames Beginnen, sich nach Jahren und in neuer Umgebung wieder in den Schulalltag hineinzufinden. In Listrup trafen wir Vier – es waren Diethelm Beer, Sohn des Rektors der Glatzer Franz-Ludwig-Schule, Arnfried Hunold, dessen Vater einen Autohandel am Wilhelmplatz betrieb, Martin Gebhart,
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Lehrersohn aus Schwenz bei Glatz, und ich – noch einen fünften Klassenkameraden: Claus Böhm vom Böhmischen Tor in Glatz. Sein Vater war Prokurist in einer Likörfabrik, einer seiner Onkel der Kirchenpolizist, der uns einst wegen unserer Braunhemden in die hinterste Kirchenbank verwies. Dieser Claus Böhm, einer der Jüngsten in unserer Klasse, hatte uns jetzt etwas voraus: In einem sechsmonatigem Übergangskurs für Kriegsteilnehmer und Spätheimkehrer – so hieß das Angebot der Länderkultusminister damals – hatte er das Abitur nachgeholt. Was wollt ihr euch noch fast zwei Jahre auf den Schulbänken quälen, möglicherweise nicht versetzt werden? Geht nach Aurich, dort läuft im August einer der letzten Abiturkurse, riet er uns. Wir sind von Leschede aus – das ist für das etwas abgelegen Listrup die nächste Bahnstation – durchs ganze Emsland schnurstracks nach Aurich gefahren. Mit einem Zug, der aus dem Ruhrgebiet kam, und proppenvoll war mit Menschen, die bei den emsländischen Bauern allerlei Besitz gegen Kartoffeln und Speck eintauschen wollten. Die Waggons der Bummelzüge hatten damals außen noch Trittbretter; auf denen haben wir gestanden, weil in den Abteilen kein Platz mehr war. In die ostfriesische Metropole – sie hatte damals nur einen Kleinbahnhof und ist heute nur noch per Bus zu erreichen – war der „Direx“ unserer Glatzer Penne, Oberstudiendirektor Dr. Aloys Nentwig, verschlagen worden. Wir Vier suchten ihn sofort auf. Nein, wir überfielen ihn und seine Familie geradezu in der kleinen, ihnen zugewiesenen Wohnung. Auch so ein ungewöhnliches Wiedersehen dieser bewegten Tage. Dr. Nentwig stellte uns sofort die sogenannten Vorsemester-Bescheinigungen aus, die man brauchte, um zum (erleichterten) Abitur in einem Übergangskurs zugelassen zu werden. Handschriftlich, auf grauem, holzfasrigem Papier. Aber mit dem Dienstsiegel des Glatzer Graf-Götzen-Gymnasiums versehen; er hatte es im Fluchtgepäck gerettet. Sechs Wintermonate lang drückten wir dann mit etwa 30 anderen ehemaligen Kriegsteilnehmern immer nachmittags die Schulbänke des Auricher Gymnasiums Ulricianum. Es waren auch drei Mädchen darunter, die als Wehrmachtshelferinnen oder Rote-Kreuz-Schwestern Kriegsdienst leisten mussten. Der Älteste war ein Major, der im Krieg ein Bein verloren hatte. Wir vier Glatzer wohnten zusammen in einem Zimmer in der Jugendherberge. Doppelstockbetten, Spinde, die den Krieg überdauert hatten, in der Mitte ein Tisch und vier wacklige Stühle. Draußen heulte der Wind, Eisblumen am Fenster, aber drinnen bullerte ein Kanonenofen. Wir fütterten ihn mit Torf. Den hatten wir als Deputat bekommen für drei Tage harte Arbeit im Moor. Im Februar 1948 bestanden wir das Abitur. Der erste wichtige Schritt ins Berufsleben war getan. Am Morgen vor der mündlichen Abiturprüfung haben wir Glatzer eine Heilige Messe besucht. Leo Christoph, den wir als unbeugsamen Stiftspfarrer von Scheibe kannten und der nach der Vertreibung zunächst in der tiefsten Diaspora als Kaplan in Aurich wirkte, zelebrierte sie für uns. Wir haben kommuniziert, und er hat mit uns für gutes Gelingen gebetet. Es hat geholfen. Weshalb ich von Listrup und Aurich noch erzählt habe, obschon es doch eigentlich außerhalb meiner Thematik liegt? Die Schizophrenie der Nazi-Zeit, der wir damals – halbe Kinder noch – so orientierungs- und hilflos ausgeliefert waren, sie war doch schon drei Jahre vorüber? Weil ich mich dankbar der Grafschafter Geistlichen
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erinnere, die uns halfen, den braunen Spuk zu vergessen und die Schwere der Vertreibung zu meistern. Wir Menschen brauchen Gott, aber Gott braucht auch Menschen. Und daran hat es in zwölf Jahren Nazi-Diktatur leider zu oft gefehlt.
Dr. Adrian Gaertner – Unternehmer, Bergbaupionier und Gegner des NS-Staates Von Horst-Alfons Meißner
H
ieronymus Hornig, ein Bergmann und Rentner aus Ludwigsdorf, erzählte nach
der Vertreibung gern von seiner schweren Arbeit, und immer wieder fiel dabei auch der Name „Dr. Gaertner“. Ich erinnere mich nicht mehr an Einzelheiten, doch wohl daran, dass er von dem Besitzer und Leiter der Wenceslaus-Grube mit besonderer Anerkennung und Hochachtung sprach, und das taten wohl viele Bergleute aus dem Neuroder Revier. Wer also war Dr. Adrian Gaertner? Das Folgende basiert hauptsächlich auf einem Manuskript von Peter Gaertner über seinen Großvater Adrian, das er mir freundlicherweise zur Verfügung stellte, und einigen Anmerkungen dazu.1
Herkunft Adrian Gaertner wurde am 9. Juni 1876 in Thalgau bei Salzburg geboren. Sein Vater Nicolaus Gaertner, Ingenieur für Metallverarbeitung, hatte dort eine Fabrik für Weißbleche, für Landmaschinen und für Mühlentriebwerke gegründet, und sein Unternehmen blühte dank seiner Erfindungen in allen drei Sparten. Die Gaertners waren ursprünglich in Lothringen ansässig und als Pioniere für die Eisenverarbeitung in die Steiermark gekommen. Nicolaus Gaertner sah sich in der Lage, seinem Sohn Adrian eine hervorragende Ausbildung zu bieten und schickte ihn auf die berühmte Internatsschule Schnepfenthal bei Gotha. Die letzten Schuljahre führte die Schule in Bonn durch, wo es Gaertner besser als in Schnepfenthal gefiel und er Kontakte zur Industriellenfamilie des Dr. Gustav Linnartz knüpfen konnte. Er heiratete 1901 Linnartz’ Tochter Kunigunde. Die sehr begüterte und kunstsinnige Familie seiner Frau stammte aus Dr. Adrian Gaertner (Foto von P. Lothringen wie Gaertners Vorfahren, hatte noch Gaertner zur Verfügung gestellt) Besitzungen in Jouy aux Arches bei Metz und befasste sich sehr gewinnbringend vor allem mit dem Erz- und Steinkohlenbergbau in verschiedenen Ländern Europas. Adrian Gaertner erwarb die deutsche Staatsbürgerschaft, diente in einem preußischen Husarenregiment in Straßburg und studierte Geologie, Mineralogie und 1
Gaertner, Peter: Mein Großvater Adrian Gaertner, ein bewegtes und bewegendes Leben. Als Manuskript gedruckt um 2010, 127 S.
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Physik in München und Rostock, wo er das Studium 1900 mit der Promotion abschloss. Der junge Geologe betätigte sich anschließend nicht in den Werken seines Vaters in Thalgau, sondern ging auf Bitten seines Schwiegervaters am 8. März 1901 in die Grafschaft Glatz, um die Leitung der Wenceslaus-Grube in Ludwigsdorf-Mölke zu übernehmen. Er bezog die Villa des früheren Besitzers und wurde mit seiner Familie in der Grafschaft heimisch. Zwischen 1902 und 1904 kamen dort seine Kinder Ili Cäcilie, Alfred Nicolaus und Adrian Felix zur Welt.
Leitung der Wenceslaus-Grube vor dem Ersten Weltkrieg Gustav Linnartz hatte das niederschlesische Bergwerk ein paar Jahre zuvor gekauft, doch das Unternehmen florierte nicht. Er traute aber seinem Schwiegersohn zu, den Betrieb zu prüfen und, wenn möglich, zur Blüte zu bringen. Adrian ... schien ihm trotz seiner Jugend auf Grund seiner hohen Intelligenz, seines entschlossenen Strebens, seiner unermüdlichen Einsatzbereitschaft und seines ausgeprägten Leistungswillens, auf Grund seiner erfolgreichen Ausbildung in Geologie und Physik, und vor allem seiner dem Neuen zugewandten kritischen Phantasie geeignet und fähig, sich um die Grube und die Frage ihrer Fortführung zu kümmern.2 Gustav Linnartz hatte sich in Adrians Fähigkeiten nicht getäuscht. Der junge Dr. Adrian Gaertner entwickelte die Wenceslaus-Grube in wenigen Jahren zum modernsten Kohlenbergwerk in Deutschland. Er kaufte Kohlenfelder dazu und steigerte die Jahresförderung bis 1914 von 135.000 auf 584.000 t, die er im Textilbezirk um das Eulengebirge, in der benachbarten Donaumonarchie und zunehmend im angeschlossenen E-Werk zur Verstromung absetzte. Dort ließen sich auch die bis dahin meist unverkäuflichen Kohlenschlämme verfeuern. Der Leistungszuwachs basierte auf der Erschließung großer Kohlenvorräte, dem Abteufen neuer Schächte, der Schaffung leistungsfähiger Förderwege unter Tage, einer besseren Arbeitsorganisation und dem Einsatz bahnbrechender Technik – also letztlich in einer Reduzierung der Selbstkosten pro geförderte Tonne Kohle. Im Laufe der Zeit wurde die Wenceslaus-Grube so zur Pilgerstätte für Bergbauspezialisten aus aller Welt. Die TH Breslau verlieh Dr. Adrian Gaertner die Ehrendoktorwürde, und er wurde Mitglied der 1911 gegründeten „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften“, nach dem Zweiten Weltkrieg in „Max-Planck-Gesellschaft“ umbenannt. Die Wenceslaus-Grube muss erhebliche Gewinne abgeworfen haben, die teils reinvestiert wurden, teils der Erhöhung der Löhne dienten, aber auch zum Ankauf von Besitzungen in der Grafschaft und im österreichischen Galizien verwendet wurden. Im Glatzer Gefängnis hat Gaertner 1945 seine technischen Neuerungen im Bergbau aufgelistet, die es vorher weder im Ruhrgebiet noch in Oberschlesien gab. −− 1901: Einbau neuartiger, wirkungsvollerer Pumpen zur Wasserhaltung und Elektrifizierung der bis dahin dampfbetriebenen Förderung mit Werksstrom. −− 1902: Einsatz einer englischen Schrämmaschine zur Fräsung tiefer Kerben ins Flöz und Steigerung der Abbauleistung sowie kraftstoffbetriebener Loks unter Tage 2
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anstelle der Pferde, zudem: erste Versuche zur Verfüllung leerer Stollen mit Abraum durch Druckluft. −− 1904: Einbau neuer Dampfkessel zur Stromgewinnung. −− 1905: Verbesserung der E-Zentrale der Grube durch französische Dampfturbinen. −− 1907: Koppelung der Kohlegewinnung mit einem E-Werk zur Versorgung anderer Industriebetriebe unter Nutzung der Kohlenschlämme und Einsparung von Vermarktungsweg. −− 1910: Einsatz neuer englischer Schrämmaschinen. −− 1914: Einführung kostengünstiger Trommeltrockner für die Brikettkohle. Die ständige Verbesserung der Förderung setzte neben Erfindergeist auch eine europaweite Orientierung über den neuesten Stand des Schwermaschinenbaus voraus. Von 1914 bis 1916 nahm Adrian Gaertner am Feldzug in Ostpreußen und der Zurückschlagung der russischen Invasionsarmee teil. Er soll sich beim Durchbruch durch die feindlichen Linien durch Weitsicht und Mut ausgezeichnet haben. Währenddessen leitete sein Schwiegervater, Dr. Gustav Linnartz, das erfolgreiche Werk und verlegte seinen Wohnsitz nach Mölke. Der Ausgang des Ersten Weltkriegs brachte der Familie den Verlust ihrer Besitzungen in Lothringen, denn der Patriot Gustav Linnartz hatte entschieden, bei einer Niederlage nicht für Frankreich zu optieren, obwohl er das Land und seine Kultur sehr schätzte. Die Gemäldesammlung und wertvolle Möbel ließ er aber rechtzeitig aus Jouy in die Grafschaft nach Mölke bringen. In Erwartung eines polnischen Nationalstaats, der Deutschen und Österreichern nicht wohlgesonnen sein würde, hatte die Familie schon vor dem Krieg auf Anraten polnischer Freunde ihr 10.000 ha großes galizisches Gut in Rytro, südöstlich Krakau, an den Grafen Potocki verkauft. Erworben hatte es Gaertner, um den Holzbedarf der Wenceslaus-Grube zu decken, der in der Grafschaft Glatz nicht zu befriedigen war. Gaertner war gern in Rytro und fand dort Kontakt zur polnischen Oberschicht und deren Lebensweise und Kultur, der er viel abgewinnen konnte. Dabei lernte er den Patriotismus der Polen kennen, aber auch dessen chauvinistische Seiten. Die polnischen Bestrebungen nach Wiedergewinnung der staatlichen Unabhängigkeit unterstützte er, und seine Sympathie für das Nachbarvolk brachte er auch dadurch zum Ausdruck, dass er der Galerie auf der Krakauer Burg einen Teil seiner wertvollen Bildersammlung zeitweise als Leihgabe überließ. Nach dem Ersten Weltkrieg erfüllten sich Gaertners Hoffnungen auf ein gut nachbarliches Verhältnis zwischen Deutschland und dem neuen polnischen Staat jedoch nicht – eigentlich ja erwartungsgemäß angesichts des rechtzeitigen Verkaufs der polnischen Besitzung. Ursache war seiner Meinung nach, dass die Nationalisten um Pilsudski die Oberhand gewannen und der noch ungefestigte Staat nicht den Ausgleich, sondern die Konfrontation mit allen Nachbarn suchte.
Leitung der Wenceslaus-Grube nach dem Ersten Weltkrieg Zur Fortführung der Wenceslaus-Grube war Adrian Gaertner in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs vom Militärdienst befreit worden. Nach der Niederlage kam es auch in Mölke zu Arbeiterunruhen, und so musste er sich mit der Belegschaft und
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kommunistischen Agitatoren auseinandersetzen, die gedroht haben sollen, Gaertner in die Grube zu werfen, wie das in Russland vielfach geschehen war. Der Bergwerksbesitzer stellte sich aber der Versammlung, erläuterte sein Konzept für die Zukunft, ohne unhaltbare Versprechungen zu machen – und wurde von den meist gemäßigten und an Entbehrungen gewöhnten Bergleuten zum Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrates gewählt. Das war einmalig in Deutschland und spricht für Gaertners Fähigkeiten und ein gutes Verhältnis zur Arbeiterschaft. Gaertner suchte die Löhne zu verbessern und ebenso die Wohnverhältnisse der Arbeiter. Er richtete eine Krankenstation im Werk ein und beteiligte sich an der Finanzierung eines Knappschaftskrankenhauses in Neurode. Zuschüsse gab er auch für Erholungseinrichtungen der Bergleute. Mit einer Runde um Graf Moltke in Kreisau stellte er Überlegungen zur Verbesserung der Situation der Arbeiter in Schlesien und Deutschland an.3 Die folgenden Jahre verlangten alles von Adrian Gaertner, der jetzt unter gänzlich veränderten Bedingungen arbeiten musste. Sie waren Folgen des Versailler Vertrags, der Gründung der Tschechoslowakei, die ihre Grenzen schloss und die WenceslausGrube von ihren Absatzgebieten in der vormaligen Donaumonarchie trennte, der hohen Reparationszahlungen, der Inflation, der Weltwirtschaftskrise und der schwierigen politischen Verhältnisse. Die Frachten zu entfernter liegenden, neuen Kunden verteuerten seine Kohle. Gaertner war deshalb gezwungen, die Förderkosten durch besondere technische Maßnahmen weiter zu senken – und dazu brauchte er Geld, das nach dem Krieg schwer zu bekommen war. Er versuchte nun verstärkt, auch Industriepolitik zur Interessenvertretung zu betreiben. Zur weiteren Senkung der Betriebskosten führte Gaertner 1919/1920 E-Loks auf der dritten Sohle ein, die 60 Wagen mit 20 km/h ziehen konnten, unerreicht damals in anderen Gruben. Außerdem betrieb er den Grubenausbau erstmalig mit Spritzbeton, der viel teures Holz ersparte, und verfüllte ausgekohlte Stollen zunehmend im vorher erprobten Druckluftverfahren. 1923 installierte er die ersten Förderbänder unter Tage in Deutschland und stellte 1924 Versuche mit dem Bergius-Verfahren zur Kohleverflüssigung an, das im Dritten Reich an anderen Standorten in großem Stil der Treibstoffgewinnung diente. Mit 4.600 Personen erreichte die Belegschaftsstärke zu dieser Zeit wohl auch ihr Maximum. Die Inflation machte alle Anstrengungen zunichte. Die Familie musste die Wenceslaus-Grube 1925 an das E-Werk Schlesien, Breslau, verkaufen, das zum „Gesfürel“- Konzern gehörte. Adrian Gaertner blieb aber Generaldirektor und war in der Lage, seine Rationalisierungspolitik fortzusetzen. 1926 führte er – wieder erstmals – die lückenlose elektrische Beleuchtung unter Tage ein und zwei Jahre später den vollautomatischen Kohlenabbau in einem der Flöze. Der war seiner Zeit im deutschen Bergbau weit voraus und sollte, u.a., auch den kohlensäuregefährdeten Bergleuten mehr Sicherheit bieten. Dennoch wurden Entlassungen nötig, und alle Versuche Gaertners, im Rahmen der Osthilfe Frachtvergünstigungen für seine Kohle bei der Reichsbahn durchzuset3
Vgl. Meißner: Kampf um die Wenceslaus-Grube, in diesem Buch (Denkschrift Schuhmann vom 25.1. 1938 über die Verhältnisse im Neuroder Revier).
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zen, schlugen fehl, weil das vor allem die Lobby der westdeutschen Kohlenproduzenten verhinderte. Die Kohlepreise sanken, die Abgaben und Steuern aber stiegen, sodass die Selbstkostenpreise trotz aller Rationalisierungsmaßnahmen zeitweise die Verkaufserlöse überstiegen. Gaertner schlug vor, arbeitslose Bergleute im Rahmen der Osthilfe auf Großgrundbesitz in landwirtschaftlichen Kleinbetrieben zur Selbstversorgung anzusiedeln, und ging mit gutem Beispiel auf seinem Mittelsteiner Jesuitenhof voran. Er vergab einen Teil des Gutes an sechs brotlos gewordene Bergleute,4 die nun durch seine Hilfe ein bescheidenes Auskommen hatten. Aber die Reichs- und Preußische Regierung legte kein umfangreiches Binnensiedlungsprogramm auf, und so erfüllten sich Gaertners Hoffnungen trotz guter Beziehungen zu Reichskanzler Brüning nicht. Nach kurzer Erholung leitete der Börsenkrach vom 24. Oktober 1929 die nächste wirtschaftliche Depression ein, die schließlich zu 6 Millionen Arbeitslosen und zur politischen Radikalisierung mit bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen führte. Die Wenceslaus-Grube meisterte die Krise dank ihrer hervorragenden technischen Ausrüstung besser als andere Gruben – doch ereilte sie am 9. Juli 1930 ein schwerer Schlag, von dem sie sich nicht mehr erholte. Durch einen „Kohlensäureausbruch“ mussten 151 Bergleute sterben. Adrian Gaertner fuhr in den Kurtschacht ein, um sich ein Bild von der Katastrophe zu machen und ließ die Verwüstungen von seinem Sohn Alfred fotografieren. Die genaue Ursache des Unglücks war trotz aufwendiger Untersuchungen aber nicht zu ermitteln. Das E-Werk Schlesien weigerte sich, die nötigen Mittel für den Weiterbetrieb im Westfeld bereitzustellen, und weder die Reichs- noch die Preußische Regierung sprangen als Helfer ein. Am 28. Januar 19315 wurde die Wenceslaus-Grube deshalb stillgelegt, der modernste Steinkohlenbetrieb Deutschlands. Der Bergbaupionier Dr. Adrian Gaertner trat am 17. März 19316 als Generaldirektor zurück. Die Arbeitslosigkeit traf weitere 2.600 Bergleute und vergrößerte das soziale Elend in den umliegenden Industriedörfern ins Unermessliche. Der Enkel Peter Gaertner sagt, das Ende der Wenceslaus-Grube und das Elend seiner Leute sei dem Großvater sehr nahe gegangen und habe ihn bis zum Lebensende bewegt.
Die Ziegelei in Mittelsteine – Adrian Gaertners zweites Lebenswerk Zur Erschließung neuer Kohlenfelder hatte Gaertner in Mittelsteine, wo vorher schon Steinkohle abgebaut worden war, Gelände gekauft, doch die Versuchsbohrungen ergaben nur unergiebige Flöze und erlaubten nicht die Abteufung eines neuen Schachts. Auf der erworbenen Fläche befand sich aber eine kleine Ziegelei mitsamt Tonlagerstätte, der sich Adrian Gaertner nach dem Verlust der Wenceslaus-Grube mit seiner ganzen Energie und Kreativität widmete. Sie wurde sein zweites Lebenswerk. Gaert4
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Im Einwohnerbuch von 1937 bezeichnen sich vier Personen in Mittelsteine als Siedler der „Siedlung Jesuitenhof“ (S. 154–159). ST v. 11.3.1931 und BA Berlin, R 1501, Nr. 14 0675 (Denkschrift Kammler v. 15.4.1939). BA Berlin, R 1501, Nr. 140 675 (Denkschrift Kammler).
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ner verlegte den Wohnsitz der Familie nach Mittelsteine, wo er von Baron v. Lüttwitz den Jesuitenhof und ein Waldgut erworben hatte. Das Gut, dass durch die Siedlungsaktion verkleinert war, baute Adrian Gaertner zu einem landwirtschaftlichen Musterbetrieb aus, der höhere Erträge mit weniger Aufwand erzielte. Die Grafschafter Landwirtschaft litt nämlich generell unter zu geringer Produktivität. Ob Gaertner in der kurzen Zeit bis Kriegsbeginn Nachahmer gefunden hat, ist unbekannt. Die „Ziegelwerke Mittelsteine Dr. Adrian Gaertner“ entwickelte der aktive und nimmermüde Mann nach der Weltwirtschaftskrise in kurzer Zeit zu einer der modernsten Ziegeleien in Deutschland. Sein guter Ruf und seine Beziehungen erleichterten die dafür notwendige gute Zusammenarbeit mit den Banken. Das Jesuitengut mit einem gediegenen Herrenhaus und der Ziegelbetrieb waren nun die Hauptlebensgrundlagen der Familie. Gaertner schaffte englische Dampfmaschinen neuester Bauart an, die Strom für die Ziegelei und das schlesische Elektrizitätsnetz erzeugten und verbilligte den Tontransport zum Werk durch ausgeklügelte Gleisanlagen. Die Fortsetzung der Arbeit im Winter, damals neu, ermöglichte er durch die Bunkerung von Teilen des im Sommer abgebauten Tons in einer Maukanlage.7 Gaertner verbesserte und verbilligte die Produktion mit vielen technischen Erfindungen und erweiterte die Produktpalette. So erschloss er der Ziegelei einen neuen Markt mit Mauersteinen, Langlochziegeln, Wandplatten, Betondeckenfüllsteinen, Gittersteinen, Drainageröhren, Kabelhauben, Dachpfannen, Firststeinen und Feinlochmauerziegeln.8 Der Abtransport der Erzeugnisse erfolgte über einen eigenen Gleisanschluss per Bahn und in die nähere Umgebung durch werkseigene LWKs. Der Damm des Ottmachauer Stausees zur Regulierung der Glatzer Neiße und zur Elektrizitätsgewinnung wurde z. B. mit Ziegeln aus Gaertners Betrieb gemauert. Die Ziegelei arbeitete als kriegswichtiger Betrieb und Stromversorger bis zur Kapitulation der Wehrmacht 1945, aber Gaertner hatte während des Krieges einen schweren Stand gegen Vertreter des NS-Regimes. Er monierte allgemein die Überbürokratisierung des Lebens und den Dualismus von Staats- und Parteiapparat, die alle Aktivitäten hemmten, und im Besonderen die ständigen Eingriffe des Bürgermeisters und Ortsgruppenleiters der NSDAP, Lessing9, in sein Werk. Lessing, ein fanatischer Nationalsozialist, musste öffentlich den Vorwurf einer „jüdischen Versippung“ der Familie Gaertner zurücknehmen, und nach der gescheiterten Verleumdungskampagne war es fortan sein Ziel, meinen Großvater an den Galgen zu bringen.10 Lessing behinderte Gaertners Arbeit nach Kräften. So soll er die Unabkömmlichkeitsstellung wichtiger Angestellter verhindert und die gute Behandlung der Fremdarbeiter angeprangert haben, die im Betrieb zwangsläufig wichtige Funktionen übernehmen mussten. Lessing verlangte – vergeblich – SS-Bewachung der Arbeits7 8 9
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mauken (mauk[e] = weich): Absetzen des Tons in Gruben oder Becken, hier wintersicher. Gaertner: Mein Großvater, S. 38, und Annonce im Einwohnerbuch 1937, S. 153. 1936/37 war Alfred Opitz Bürgermeister und Ortsgruppenleiter, vgl. Einwohnerbuch 1937, S. 157. Lessing, nach Peter Gaertner „Blutordensträger“, scheint nicht aus der Grafschaft zu stammen. Gaertner: Mein Großvater, S. 83.
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kräfte und zettelte Hausdurchsuchungen bei Gaertner und seinen Mitarbeitern wegen Spionageverdachts an. Dr. Adrian Gaertner wollte die florierende Ziegelei für die Familie über den Krieg retten, und seine Frau verfolgte dieses Ziel noch nach seinem Tod, aber leider kam es ganz anders.
Adrian Gaertner – ein Gegner des Hitler-Staates Adrian Gaertner, mehrsprachig, war durch viele Reisen Kenner der Verhältnisse in den Nachbarländern England, Frankreich, Österreich und Polen, aber er liebte auch sein Land. Die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus beruhte, seinem Enkel zufolge, vor allem auf seiner rechtsstaatlichen Gesinnung, für die das „Ermächtigungsgesetz“ einen Verfassungsbruch darstellte, und außerdem lehnte er jede demagogische Ideologie ab. Adrian Gaertners Schwiegersohn Hellmuth Stieff, Mann seiner Tochter Ili Cäcilie, begrüßte dagegen offenbar die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, weil er sich dadurch – wie viele Menschen – eine Stabilisierung der chaotischen Verhältnisse in Deutschland erhoffte. Stieff war als Generalstabsoffizier und –später – Chef der Organisationsabteilung im Generalstab des Heeres gut informiert. Die Morde an NS-Gegnern nach dem Röhm-Putsch 1934, die auch Offiziere trafen, waren für Stieff ein wesentlicher Anlass, sich früh vom Nationalsozialismus abzuwenden – sehr beeinflusst von Adrian Gaertner. Der mündliche und briefliche Austausch zwischen beiden thematisierte die Verbrechen der Nationalsozialisten und die Stimmungslage in der Grafschafter Bevölkerung. Die Briefe wurden per Kurier befördert und entgingen so der Zensur. Stieff wusste aus erster Quelle um die Vorgänge im östlichen Kriegsgebiet, auch um die Fehlentscheidungen Hitlers und schloss sich dem Widerstand gegen das NS-Regime an. Seine Frau Ili bestärkte ihn darin.11 Nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, an dem sich Hellmuth Stieff aktiv beteiligte, wurde er aus der Wehrmacht ausgestoßen, vom Volksgerichtshof verurteilt und am 8. August 1944 hingerichtet.12 In seinem Nachlass fand man Briefe Gaertners sowie eine Denkschrift, die dieser für den Neubeginn nach einem verlorenen Krieg verfasst hatte, und so verhaftete man am 16. August 1944 auch Adrian Gaertner – und natürlich seine Tochter. Beide brachte man nach Breslau zum Verhör und Gaertner danach für drei Wochen ins Glatzer Gefängnis. Hausdurchsuchungen folgten. Gaertners Sohn, ein Chemiker, der bei IG-Farben in der Kunststoffherstellung arbeitete, wurde zur Arbeit in einer Sandgrube abkommandiert und der Familienbesitz in Thalgau eingezogen. Man warf Adrian Gaertner neben den regimekritischen Äußerungen das Abhören von Feindsendern und Defätismus vor, weil er an Breslauer Museen ausgeliehene Gemälde nach Mittelsteine in Sicherheit gebracht habe. Denunziert wurde er außerdem von einer Hausangestellten und deren Freund, der Angehöriger der SS war, sowie vom Bürgermeister Lessing, seinem Intimfeind im Ort. Man behandelte Adrian Gaertner in Glatz aber gut, wie er mehrfach schrieb. Der Hauptwachtmeister Melz sei ein „Gefängnisvater“ gewesen, und die Gestapo wäre 11 12
Gaertner: Ili Cäcilie Stieff, S. 53. ebd., S. 54.
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zwar unangenehm, aber nicht durchweg grob aufgetreten. Gaertner durfte Besuch empfangen, schreiben, lesen und seinen – kriegswichtigen – Ziegeleibetrieb durch Anweisungen an Angestellte leiten. Man staunt über so viele Vergünstigungen, aber auch Kaplan Gerhard Hirschfelder durfte in Glatz schreiben und Besuch empfangen.13 Am 9. September 1944 wurde Adrian Gaertner aus dem Glatzer Gefängnis entlassen, und am 10. November 1944 kam auch seine Tochter frei. Sein Enkel Peter erzählte, dass er im Glatzer Gymnasium von Klassenkameraden – aber auch von stramm nationalsozialistisch eingestellten Lehrern – Häme und Drangsal wegen der aktiven Beteiligung der Familie am Widerstand gegen Hitler erdulden musste. Andere Lehrer hätten sich neutral verhalten, den Schulleiter Dr. Nentwig habe er dagegen als ihm wohlgesonnen erlebt. Am 6. Dezember 1944 verhaftete die Gestapo Adrian Gaertner erneut und brachte ihn zum zweiten Mal ins Glatzer Gefängnis, nun für mehrere Monate. Er scheint die Inhaftierung und die Verhöre mit Gelassenheit und großem Gottvertrauen ertragen zu haben. Gaertner verfolgte in der Presse die militärische und wirtschaftliche Lage, die sich rapide verschlechterte, und schrieb im Februar 1945 voller Ironie: Aber wenn ich die Zeitungen mit ihren Verordnungen lese, dann sage ich mir, wo kann man in einer solchen Zeit besser aufgehoben sein als im Gefängnis ... Hier werde ich ja auch sehr gut und völlig korrekt behandelt. Und weiter: Nirgendwo bin ich in so zuverlässiger und anständiger Gesellschaft wie im Gefängnis in Glatz.14 Adrian Gaertner machte sich große Sorgen um die Ziegelei, die er trotz Haft weiter leiten durfte. Er empfing die Firmenverantwortlichen zu Besprechungen und wöchentlich auch seine Familie. Adrian Gaertner hatte Schreiberlaubnis und die Genehmigung zur Benutzung der Gefängnisbibliothek. Er las viel, vor allem auch die Bibel, und weil er nun die Zeit fand, sich genauer über den Nationalsozialismus zu informieren, konnte er feststellen: Nationalsozialistischer Lesestoff ist in der sonst sehr guten Gefängnisbibliothek nur schwach vertreten.15 Er entwirrte Fallschirmschnüre als Gefängnisarbeit und versuchte aus der Gefangenschaft, die Beschlagnahme der Thalgauer Besitzungen rückgängig zu machen. Über die kirchliche Weihnachtsfeier im Gefängnis schreibt Gaertner: Ein solcher Weihnachtsgottesdienst für Katholiken und Protestanten zusammen von einem Franziskaner im Gefängnis ist etwas Eigenartiges und, das muss ich sagen, tief Ergreifendes ... Es war ein eigenartiges, aber doch auch in seiner Einsamkeit in der Zelle schönes Weihnachtsfest. Er überliefert, dass aus vielen Zellen Weihnachtslieder ertönten. Das Essen entsprach der Zeit und durfte durch die Familie ergänzt werden. Gaertner wusste, dass man Material über ihn sammelte, um ihm später den Prozess zu machen und konnte erstaunlich offen schreiben: Wie lange ich hier noch bleibe, weiß ich nicht. Ich glaube nicht, dass man mich so schnell loslassen wird, wo man mich einmal hat ... Es ist eben doch menschlich, dass sie immer noch hoffen, irgend etwas zu finden, wofür man mir mit Erfolg den Prozess machen könnte. Und er fährt fort: Sie wissen eben nicht, wie machtlos der Mächtigste einem überzeugten Christen gegenüber ist.16 13 14 15 16
Franke u. a.: Kaplan Hirschfelder, S. 17. Gaertner: Mein Großvater, S. 83. ebd., S. 82. ebd., S. 80.
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Am 20. April 1945, Hitlers letztem Geburtstag, wurde Adrian Gaertner entlassen, wohl aufgrund einer Entscheidung der Gefängnisverwaltung.
Der Tod Adrian Gaertners und die Vertreibung der Familie Als Lessing am 21. April 1945 Selbstmord beging, nahm Adrian Gaertner die Zügel in Mittelsteine in die Hand. Er richtete eine provisorische Gemeindeverwaltung ein und trug Wilhelm Bittner das Bürgermeisteramt an. Am 9. Mai 1945 kamen die Russen ins Dorf und benahmen sich dort wie überall im Osten Deutschlands. Von den Vergewaltigungen und Plünderungen soll Adrian Gaertner aber noch nichts gewusst haben, als russische Offiziere vor seinem Haus vorfuhren. Sie waren sehr höflich, begrüßten Ömchen mit Handkuss und ließen durch den Dolmetscher erklären, dass sie über Großvaters Haltung gegenüber dem faschistischen Hitlerstaat ... gut informiert seien. Sie luden Großvater zu einer Unterredung nach Neurode ein ... Nachdem man noch gemeinsam etwas Wein getrunken hatte ... verabschiedeten sich die Offiziere in tadelloser Haltung und großer Höflichkeit.17 Das bestärkte Gaertner in der Annahme, dass man mit der sowjetischen Besatzung zusammenarbeiten könne, obwohl ihn sein Schwiegersohn über den Krieg im Osten aufgeklärt hatte. Die Russen hörten sich auch tags darauf in Neurode seine Vorstellungen für die weitere Zukunft an. Am 11. Mai 1945 wurde Dr. Adrian Gaertner wegen eines Überfalls zu Hilfe gerufen und von plündernden Polen bei seinem Eintreffen am Tatort erschossen. Die ganze Gemeinde beerdigte den geachteten und verdienstvollen Unternehmer, Erfinder und Gegner des NS-Regimes in der Nähe seines Hauses, und die Russen stellten eine Wache zum Schutz. Als die Sowjets die Verwaltung des Landes den Polen übergaben, begann für Adrian Gaertners Witwe und seinen Enkel Peter der gleiche Schrecken wie für die anderen Bewohner Mittelsteines. Der polnische Landrat fuhr persönlich mit LKWs vor, um alles aus dem Haus zu räumen, was wertvoll war, und die Polen zwangen Frau Gaertner und ihren Enkel bald, ihr Haus zu verlassen. Der Terror endete erst mit ihrer Vertreibung aus der Grafschaft. Dem Enkel Peter Gaertner gelang es mit tatkräftiger Unterstützung polnischer Freunde, die Gebeine seines Großvaters, dessen Grab verwüstet worden war, am 29. Mai 2004 unter großer Anteilnahme ehemaliger und heutiger Bewohner in einem feierlichen Akt auf den – längst abgeräumten – ehemaligen Friedhof an der Kirche in Mittelsteine umbetten zu lassen. Der Grabstein trägt die zweisprachige Inschrift: Fest im Glauben Mutig im Kampf gegen Unterdrückung und Unrecht Selbstlos im Einsatz für seine Mitmenschen Bedeutend für Wirtschaft und Handel Eintretend für Freundschaft und Versöhnung zwischen Deutschland und Polen. 17
ebd., S. 89.
Polykarp Niestroj – Ein wegweisender Sozialarbeiter aus der Grafschaft Glatz* Von Horst-Alfons Meißner
Stadtinspektor, Standesbeamter, Leiter des Jugendund Wohlfahrtsamtes der Stadt Glatz, stellvertretender Vorsitzender des Diözesan-Caritasverbandes der Grafschaft Glatz, Heimatkundler und Lyriker. * 23. Januar 1881 in Ratibor, † 4. April 1951 in Listrup/Emsland. Polykarp Niestroj (Foto aus Schlesische Kirche in Lebensbildern, Bd. 7, S. 232)
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er Mann mit dem auffälligen Namen war der katholischen Kirche eng verbun-
den und hat sich in Glatz mit unermüdlichem Einsatz und großem Erfolg der kommunalen und kirchlichen Sozialarbeit gewidmet. Leo Christoph, der letzte Glatzer Diözesan-Caritasdirektor, schreibt 1962: Stadtinspektor Polykarp Niestroj hat sich um die Caritasarbeit in der Grafschaft Glatz große Verdienste erworben. Er war Mitbegründer des Diözesan-Caritasverbandes und blieb sein eifriger Mitarbeiter und Förderer bis zu seiner Vertreibung.1 Daneben trat er als Heimatkundler und Lyriker hervor, wobei ihm besonders religiöse Themen am Herzen lagen. Die Schaffenskraft des nimmermüden Mannes nötigt Bewunderung ab. Polykarp Niestrojs Familie stammte aus Ratibor. Er hatte wohl fünf Geschwister, darunter zwei ältere, unverheiratete Schwestern. Er selbst blieb ebenfalls ledig und kinderlos. Herausgerissen aus seinem Wirkungskreis, der ihm nährende Erde war, verlieren sich seine Spuren bereits 60 Jahre nach seinem Tod im emsländischen Sand. Leben und Werk versuche ich deshalb anhand seiner Veröffentlichungen, die seine vielseitige Arbeit spiegeln, und anhand der wenigen, mir zur Zeit zugänglichen anderen Quellen dem Vergessen zu entreißen, denn er hat es verdient. Allerdings verstehe ich dieses Lebensbild nur als vorläufig, weil die Forschungen zu seiner Biographie erst begonnen haben. * Überarbeitete Version meines Aufsatzes: „Polykarp Niestroj (1881–1951)“ in: Schlesische Kir-
che in Lebensbildern, Bd. 7, Münster 2006, S. 232–237, Hg. v. Michael Hirschfeld, Johannes Gröger und Werner Marschall.
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Christoph: Caritasarbeit, S. 2.
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Niestroj als Sozialarbeiter Schon vor dem Ersten Weltkrieg zieht Polykarp Niestroj von Ratibor in Oberschlesien nach Glatz in Niederschlesien, ... die traute Stadt meiner Wirksamkeit und zweite Heimat. Er arbeitet in der Stadtverwaltung als Stadtinspektor, Standesbeamter und Leiter des Jugend- und Wohlfahrtsamtes. Bereits 1913 tritt er mit drei Publikationen an die Öffentlichkeit, die wie Wegweiser in sein zukünftiges Betätigungsfeld führen. Zwei davon, mit den Themen: „Die Berufsvormundschaft und ihre Probleme“ und „Der praktische Vormund und Pfleger“, befassen sich mit der Praxis kommunaler Sozialarbeit, die dritte ist „Marien-Minne“ betitelt und religiös-lyrischen Charakters. „Der praktische Vormund ...“ erlebt bis 1933 drei Auflagen und macht Niestroj in einschlägigen Kreisen über Schlesien hinaus deutschlandweit bekannt. 1916 folgt das Werk: „Die katholische Caritas und ihre neuzeitlichen Aufgaben“, in dem er seine Grundansichten für die Arbeit einer modernen katholischen Caritasbewegung darlegt, die von tiefer christlicher Überzeugung getragen sind. Er postuliert – seiner Zeit voraus – dass sie entscheidend auch von Laien getragen werden muss und auch, dass sie seiner Ansicht nach nicht von der öffentlichen Wohlfahrtspflege ersetzt werden kann, die sich schnell entwickelt. Niestroj hat sich nämlich, parallel zur kommunalen Sozialarbeit, auch maßgebend und außerordentlich aktiv in der kirchlichen Sozialfürsorge engagiert. Er ist 1913 Mitbegründer des Diözesan-Caritasverbandes der Grafschaft Glatz, des deutschen Teils der Erzdiözese Prag, und jahrzehntelang sein Vorstandsmitglied und stellvertretender Vorsitzender. Der neue Verband, einer der ersten seiner Art in Deutschland, fasst die kirchlichen Aktivitäten auf diesem Gebiet für 164.000 Katholiken in 64 Pfarreien und 33 Filialkirchen (1929) zusammen. Getreu seinen Grundsätzen, informiert Niestroj die zahlreichen Einrichtungen der kirchlichen Sozialfürsorge über die neuesten gesetzlichen Bestimmungen, er koordiniert ihre Tätigkeit, er ermuntert und berät die Träger, er kümmert sich um Personal und Baumaßnahmen, wenn die Einrichtungen wachsen. So gewinnt er 1919 den Frauenorden „Mägde Mariens“ aus Oberschlesien für das Säuglingsheim St. Anna in Glatz, das Dank Niestroj gute Arbeit leisten kann und Ausbildungsstätte für Gesundheitsfürsorgerinnen wird. Offenbar zeichnen den außerordentlich aktiven Mann auch Beharrlichkeit und besonderes Verhandlungsgeschick aus. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass er jahrelang der kräftige Motor der umfangreichen Caritasarbeit des Glatzer Landes ist. Die Arbeit zum öffentlichen Wohl wird durch die Teilnahme am Ersten Weltkrieg jäh unterbrochen. Ab 1916 muss Niestroj im Osten in den Karpaten und im Westen an der Somme kämpfen. Er ist ein tapferer Frontsoldat, der mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet wird und am 8. August 1918 an der Westfront für gut ein Jahr in englische Gefangenschaft gerät. Während seines Kriegseinsatzes stirbt seine Liegnitzer Schwägerin, Mutter von fünf Kindern. Der Vater, sein Bruder, kann in der großen Familiennot nicht helfen, weil er eingezogen ist. In Bamberg stirbt seine Schwester, Mutter von zwei kleinen Kindern. Der Sozialarbeiter Niestroj erlebt bittere Not in der eigenen Familie. Die Fronterlebnisse, das Familienschicksal, die Niederlage und die Gefangenschaft zeichnen ihn. Obwohl gegen den Krieg eingestellt, beklagt er nun das „Skla-
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venlos“ Deutschlands und empfindet, wie viele heimgekehrte Soldaten, Schmach und Demütigung. Die Kriegserlebnisse bewältigt er literarisch in dem Werk: „Um Heimat und Herd. Erlebnisse und Gedichte aus Krieg und Gefangenschaft“, das über 100 Gedichte enthält. In schwerer Zeit nach dem Ersten Weltkrieg setzt Niestroj, der auch polnisch und italienisch spricht, die in Glatz begonnene Arbeit unermüdlich fort. Die Verelendung breiter Massen infolge von Reparationsleistungen, Weltwirtschaftskrise und steigender Arbeitslosigkeit durch Schließung von Kohlengruben und Industriebetrieben in der Grafschaft trifft vor allem auch Kinder und Jugendliche. Trotz seiner religiös-lyrischen Neigungen ist Niestroj beileibe kein Schwärmer. Er nimmt sich der drängenden sozialen Probleme auf städtischem wie kirchlichem Arbeitsfeld mit Weitblick und praktischen Lösungen an. 1921 gründet Polykap Niestroj den Glatzer Waisenhausverband, um – wie er später bemerkt – den Zusammenbruch der Caritasarbeit auf diesem Gebiet während der größten Not zu verhindern. Er lenkt ihn jahrelang als Geschäftsführer. Von seiner nüchternen Praxisbezogenheit zeugen auch die weiteren Veröffentlichungen der Jahre 1925 und 1932, die speziell die neue Rechtslage in der Weimarer Republik reflektieren. 1929 legt Niestroj eine bebilderte und arbeitsaufwändige Bestandsaufnahme der gesamten katholischen Caritasarbeit in der Grafschaft Glatz vor unter dem Titel: „Aus der Caritasarbeit der Grafschaft Glatz ...“ Das grundlegende Werk gibt einen Überblick über die katholische Sozialarbeit zu dieser Zeit und ist deshalb auch von großer heimatgeschichtlicher Bedeutung.
Entlassung aus städtischen Diensten Ab 1933 nehmen sich die Nationalsozialisten mit ihrer Organisation „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV) der öffentlichen Fürsorgearbeit in ihrem Sinne an. Herausragende Positionen in der Verwaltung besetzen sie mit Gefolgsleuten, und diese verdrängen bald die katholische Kirche mit brutaler Macht und Arroganz aus ihren sozialen Einrichtungen. Ihre Hand legen die neuen Herren aus Gründen einer nationalsozialistischen Erziehung zuerst auf Anstalten der Kinder- und Jugendpflege, so auf Kindergärten und Berufsfachschulen, später auch auf Hospitäler, die bald zu Lazaretten werden.2 Die Nationalsozialisten sind es auch, die Niestroj, der kirchennah und nicht Parteimitglied ist, mit gerade 52 Jahren aus dem städtischen Amt entfernen und zum „Stadtinspektor a. D.“ machen. Eine SA-Patrouille unter Sturmbannführer Olscher3 „beurlaubt“ ihn und viele weitere Beamte am 14. April 1933 im Handstreich,4 der die Bevölkerung in größtes Erstaunen versetzte,5 und die Zwangsbeurlaubung Niestrojs wird später vom wieder eingesetzten Bürgermeister nicht widerrufen, obwohl dieser von Gauleiter Brück2 3 4 5
Issmer: Mitläufer, S. 251f. Name nicht in der Grafschaft nachzuweisen. ST v. 14.4.1933. Pohl: Kirchengeschichte, Zeitungsausschnitt, S. 317.
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ner dazu ausdrücklich autorisiert ist und andere Beamte „rehabilitieren“ darf.6 Vermutlich übt die NS-Ortsgruppe im Fall Niestroj besonderen Druck aus. Der Mann, der sich durch praktische Arbeit und Veröffentlichungen als profunder Kenner der Jugendwohlfahrtspflege erwiesen und kommunale und kirchliche Sozialarbeit mit großem Erfolg in Personalunion betrieben hatte, wird schwer an dieser Abschiebung getragen haben. Niestroj, Patriot im besten Sinne, dient sich den Nationalsozialisten in keiner Weise an. Er wechselt nach seiner Entlassung aus dem städtischen Dienst in das Generalvikariat Glatz, das er nun verstärkt in der verbliebenen karitativen Arbeit sowie in Verwaltungs- und Vermögensfragen unterstützt. Er wohnt zuerst bei den Armen Schulschwestern im Lyzeumskomplex und ehemaligem Terrain des Waisenhauses an der Gartenstraße 6a und ab April 1944 wegen des Zuzugs vieler Bombengeschädigter an der Kirchstraße 10. Und wo viel Licht ist, ist auch Schatten, das soll hier nicht verschwiegen werden. Nach Verlust seines städtischen Arbeitsplatzes trifft Niestroj verstärkt Vorsorge für seinen Lebensabend und den der unversorgten Schwestern. 1935 kauft er ein Einfamilienhaus in der Glatzer Hindenburgstraße, und im März 1939 kann er es mit seinem Gewissen vereinbaren, mit Erspartem und Krediten das Haus des jüdischen Ehepaares Krebs in der Flurstraße 8 seiner Geburtsstadt Ratibor zu erwerben, das eine seiner Schwestern verwaltet.7 Die anderen Wohnungen beider Häuser werden vermietet. 1942 zeugt Niestroj im „Reichsgartenprozess“ unerschrocken für Dr. Monse. Das Regime, noch auf der Höhe seiner Macht, hatte eine Betrugsanklage gegen den Großdechanten und Generalvikar angestrengt, um ihn bei den Gläubigen der Grafschaft Glatz in Verruf zu bringen und seinen Einfluß zu schmälern.8
Niestroj als Heimatforscher und Lyriker Man sollte annehmen, dass Polykarp Niestroj mit der umfangreichen Tätigkeit als führender kommunaler und kirchlicher Sozialarbeiter eine schwere Bürde trägt und völlig ausgelastet ist. Doch weit gefehlt: Er findet noch Zeit für eine arbeitsintensive Heimatforschung. Zwei einfühlsame Veröffentlichungen widmet er hervorragenden Persönlichkeiten, die in der Grafschafter Bevölkerung große Aufmerksamkeit gefunden hatten: „Photograph Franz Boden. Ein heiligmäßiges Laienleben in der Gegenwart,“ (1917) und „Ein Märtyrer des Beichtstuhls. Leben und Tod des Andreas Faulhaber.“ (1931). 6 7
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BA Berlin, R 1501, Nr. 141 420. Dekanatsarchiv Glatz, Regalfach 14.03.01, 1940–1944. Zu Krebs, Leopold: *16.12.1858 Hindenburg O/S, letzter Wohnort Ratibor, Breitestr. 54. Er wurde am 11. Dezember 1942 mit Transport XVIII/4 zum Ghetto Theresienstadt deportiert und ist dort am 19. August 1943 „verstorben,“ Todesursache nicht angegeben. Krebs Rosa, geborene Perl, *18.1.1881 Herrenkirch (fr. Rudnik) bei Ratibor, wurde am 11. Dezember 1942 mit ihrem Mann zum Ghetto Theresienstadt deportiert und am 18. Mai 1944 mit Transport EB zum Konzentrationslager Auschwitz. (Auskunft des Internationalen Suchdienstes Arolsen vom 4.12.2008.) Leopold Krebs ist noch 1943 im Einwohnerbuch von Ratibor aufgeführt. Hirschfeld: Prälat Monse, S. 55–65.
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Die Arbeit über Franz Boden, der 1914 gestorben war und den viele Glatzer noch kannten, wird in der Bevölkerung besonders gut aufgenommen und erfordert 1925 eine zweite Auflage. Hinzu kommen verschiedene Artikel im „Arnestuskalender. Grafschafter Volkskalender“ zu historischen Themen, u.a. über „Die katholische Waisenerziehungsanstalt in Glatz“ oder über „Das Konvikt in Glatz“. Von der Vielseitigkeit und tiefen Gläubigkeit Niestrojs, aber vor allem von seiner lyrischen Veranlagung zeugt eine große Zahl von Gedichten, die er im Heimatschrifttum und auch in Sammlungen veröffentlicht. Sie gelten einerseits kirchlichen Themen, besonders Maria, der Mutter Gottes, so Titel wie das genannte Erstlingswerk „Marien-Minne“ oder „Unbefleckte, sei gegrüßt“, „Mariä Himmelfahrt“, sie gelten andererseits der landschaftlichen Schönheit der Grafschaft Glatz, die er offenbar sehr liebt, aber auch vielen anderen Themen, darunter seinen Kriegserlebnissen. Beispiele dafür sind „Frühlingsboten“, „Walderwachen“, „Abenddämmerung“, „Herbstahnen“, und „Deutschland, mein Deutschland“, „Schuldfrage“, „Einsame Gräber.“ In einem Nachruf in „Heimat und Glaube“, 1951, wird Niestroj – leider sehr verkürzt – charakterisiert als Heimatdichter, der gern das Marienlob sang.9
Letzte Lebensjahre Kurz vor Kriegsende, am 20. Oktober 1944, muss Generalvikar Dr. Monse die NSDAP-Kreisleitung bitten, Polykarp Niestroj vom Notdienst freizustellen. Niestroj sei aus gesundheitlichen Gründen (kriegsbeschädigt, nierenkrank, Knöchelbruch, Bruchbandträger) für schwere Arbeiten untauglich und werde als letzter Angestellter dringend für die Verwaltung des Generalvikariats gebraucht.10 Im April 1946 wird Niestroj aus Glatz vertrieben, und damit endet abrupt das erfüllte Berufsleben dieses engagierten Sozialarbeiters. Den verdienten Mann, der in der Heimat nicht unvermögend war, bringt man nach Listrup bei Emsbüren, und dort lebt er mit zwei Schwestern in Armut auf einem Bauernhof. Das Emsland kann dem Entwurzelten nicht mehr „dritte Heimat“ werden. In der damals sehr abgelegenen Gemeinde findet auch Großdechant Dr. Monse Aufnahme, Niestrojs letzter Arbeitgeber, sowie Kaplan Günther von der Glatzer Dekanatskirche, sodass er mit Vertrauten aus der Heimat persönlichen Kontakt pflegen kann. Im Hedwigs-Kreis Listrup übernimmt er den Vorsitz.11 Einwohner berichten, dass er täglich die Messe in der zwei Kilometer entfernten Kirche St. Marien besuchte. Polykarp Niestroj, dessen großes Lebenswerk in der neuen Umgebung gänzlich unbekannt ist, stirbt am 4. April 1951 in Listrup und wird dort am 9. April 1951 neben seiner Schwester Berta begraben, die ein Jahr zuvor gestorben war. Heute erinnert auf dem Listruper Friedhof nichts mehr an den verdienstvollen Mann aus dem fernen Schlesien, denn sein Grab wurde eingeebnet. Dabei hätte er ein Denkmal verdient. 9 10 11
Heimat und Glaube, 3. Jg. (Mai 1951), S. 18. Dekanatsarchiv Glatz, Regalfach 14.03.01, Akte Niestroj. Heimat und Glaube, 3. Jg. (Mai 1951), S. 18.
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Das Listruper Doppelgrab trug die Inschrift Hier ruhen in Gott Berta Niestroj, * 5.7.1886 in Ratibor O/S, † am 16.2.1950 in Listrup. Polykarp Niestroj, * 23.1.1881 in Ratibor O/S, † 4.4.1951 in Listrup. R. i. P. Auskünfte und Unterlagen: Familie Reiners, Listrup, Foto der ehemaligen Grabstätte in Listrup, Totenzettel. Peter Grosspietsch, Grafschafter Bote, Lüdenscheid. Kath. Kirchengemeinde Emsbüren, Kirchenbucheintrag zu Tod und Beerdigung. Dr. Hans-Jakob Barth, Martin-Opitz-Bibliothek, Herne. Ein Nachlass Polykarp Niestrojs konnte nicht gefunden werden, auch Nachforschungen nach Familienmitgliedern blieben erfolglos.
Ortsnamensänderungen der Jahre 1921 bis 1939 in der Grafschaft Glatz Von Manfred Spata 1. Namensänderungen in historischer Zeit
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nderungen von Ortsnamen in der Grafschaft Glatz, wie auch in Schlesien und
im gesamten Deutschen Reich, hat es in historischer Zeit immer wieder gegeben, wenn auch zahlenmäßig selten. Wie aus den Geschichtsquellen erkennbar ist, hatten die meisten Ortsnamen eine sehr lange Tradition und veränderten sich im Verlauf der Jahrhunderte nur geringfügig. Die Ursachen für Änderungen waren in der Regel spontane Wechsel der Herrschaften (Patronate), Eingemeindungen kleinerer Siedlungen in größere politische Einheiten oder allmähliche Einflüsse der Umgangssprache hinsichtlich Aussprache und Schreibweise. Das bekannteste Beispiel für einen Herrschafts- und Namenswechsel betraf Arnsdorf im Neißetal südlich von Glatz, das 1669 vom neuen Patron Graf Johann Friedrich von Herberstein in Grafenort umbenannt wurde. Dies war verbunden mit einem herrschaftlichen Schloss- und Parkbau; die angestrebte Umwandlung in eine Stadt blieb erfolglos1. Namensänderungen auf Grund von wirtschaftlich bedingten Siedlungsverlagerungen ergaben sich z. B. beim ehemaligen Vorwerk Scharfeneck, das später in Obersteine aufging,2 sowie bei der Neusiedlung Neuwaltersdorf bei Neurode 1336, die zunächst nur als ein neuer Ortsteil von Waltersdorf betrachtet wurde, später als selbständiger Ort sich Neudorf nannte3. Die meisten Namensänderungen ergaben sich im Laufe der Zeit aus umgangssprachlichen Gründen. Hierzu gehören z. B. der Namenswechsel von Dirnka 1625 in Dörnikau4, von Herrnsdorf 1347 und Petersdorf 1424 in Herrnpetersdorf5, von Mertinsdorf 1351 in Märzdorf6, von Merbotinsdorf 1346 in Martinsberg7 oder von Neissendorf 1564 in Neißbach8. Die zahlreichen Neusiedlungen im Zuge der friederizianischen Kolonisationen nach 1742 mit entsprechenden neuen Namen bleiben in diesem Beitrag unberücksichtigt.
2. Amtliche Verzeichnisse von Ortsnamen In Preußen und in Deutschland sind nach 1900 mehrere amtliche Verzeichnisse von Ortsnamen veröffentlicht worden. Hier sind insbesondere die Verzeichnisse aufgrund
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Marx: Ortsverzeichnis, S. 26. ebd., S. 67. ebd., S. 59. ebd., S. 15. ebd., S. 32. ebd., S. 51. ebd., S. 52. ebd., S. 56.
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der Volkszählung vom 17. Mai 1939 und späterer Erhebungen bis 1941 zu nennen.9 Des Weiteren enthalten die Blätter der Übersichtskarte von Mitteleuropa 1:300 000 (ME 300) alle amtlichen Gemeindenamen. Für die Zeit nach 1945 gibt es ein Historisches Ortschaftsverzeichnis für Niederschlesien, das im Auftrag des Bundesministeriums des Innern vom Institut für Angewandte Geodäsie (IfAG) bearbeitet und herausgegeben worden ist. Es gehört zu einer Veröffentlichungsreihe historischer Ortschaftsverzeichnisse für die ehemals zu Deutschland gehörigen Gebiete des Zeitraums 1914 bis 1945.
3. Gesetzliche Grundlagen zu Ortsnamensänderungen Die rechtlichen Grundlagen der Ortsnamen sind von Fritz Verdenhalven10 ausführlich dargelegt worden. Danach war zwar das preußische Personennamensrecht eindeutig und streng geregelt; demgegenüber war das Ortsnamensrecht ungeregelt. Ein Erlass vom 21.6.1868 erwähnt erstmals das Problem und stellt fest, dass hier die oberste Landesbehörde zuständig bleibt.11 In einem richtungsweisenden Urteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichts vom 21.9.1900 wird das Ortsnamensrecht direkt in Bezug gesetzt zum Personennamensrecht, indem es ausführt: Ist schon die weit weniger bedeutsame Änderung von Familiennamen von der Zustimmung des Landesherren abhängig gemacht, so muss dasselbe auch von der Änderung der Ortsnamen gelten, sofern nicht eine positive gesetzliche Vorschrift nachweisbar ist, welche die Zuständigkeit zur Änderung von Ortsnamen abweichend von diesem Grundsatze regelt. An einer dahingehenden Vorschrift fehlt es […]. Auch sonstige Vorschriften, in denen eine Regelung des Gegenstandes erblickt werden könnte, gibt es nicht […]12 Nach einem Runderlass vom 1.4.191213 mussten Ortsnamensänderungen in den Amtsblättern der Regierungspräsidenten bekannt gemacht werden. Betraf diese Regelung zunächst nur Städte, wurden nach 1929 auch Namensänderungen von Landgemeinden und nach 1932 auch von Wohnplätzen veröffentlicht. Diese Praxis blieb bis in den Zweiten Weltkrieg erhalten. Die Initiative zu einer Änderung eines Ortsnamens ging in der Regel von der betreffenden Kommune aus, die ihren Entschluss der Aufsichtsbehörde zur Genehmigung vorlegte.
4. Ortsnamensänderungen in der Grafschaft Glatz 1921 bis 1939 Wie in ganz Preußen waren Änderungen von Ortsnamen auch in der Grafschaft Glatz bis 1920 überaus selten. Danach setzte eine große Welle von Ortsnamensänderungen ein. Sie waren teils durch Eingemeindungen bedingt, teils aber einem wachsenden deutschen Nationalismus mit Betonung der germanischen Sprachwurzeln geschuldet, insbesondere in den deutschen Ostgebieten jenseits von Oder und Neiße. Die Welle erreichte 9 10 11 12
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Publikationsstelle Berlin-Dahlem, Ostgebiete, Organisationsamt NSDAP, Schlesienbuch. Verdenhalven: Namensänderungen, S. 9–13. MBl.i.V. 1868, S. 237, vgl. Verdenhalven: Namensänderungen, S. 9. Oberverwaltungsgericht, Berlin 1900, Band 38, S. 421f., zitiert nach Verdenhalven: Namensänderungen, S. 10. MBl.i.V. 1912, S. 173, vgl. Verdenhalven: Namensänderungen, S. 11.
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1938 ihren Höhepunkt und ebbte danach schnell ab, weil der Runderlass des Reichsund Preußischen Ministers des Innern vom 30.8.193914 ausführte, dass die Arbeiten an der Umbenennung von Gemeinden aus kriegsbedingten Gründen einzustellen seien. Die Änderungen von Ortsnamen der Grafschaft Glatz, die hier näher betrachtet werden, betreffen den Zeitraum zwischen 1921 und 1939. Die Namensänderungen beginnen 1921 mit Birkhagen = Brzesowie und enden 1939 mit Hummelstadt = Lewin. Dazwischen ist innerhalb von 16 Jahren nur eine einzige Namensänderung aus 1929 bekannt, und zwar Kreuzdorf für Krzischney bei Lewin. Alle anderen Namensänderungen konzentrieren sich massiv auf das Jahr 1937. Der räumliche Bereich der Namensänderungen betrifft hautsächlich den sogenannten Böhmischen Winkel westlich des Ratschenpasses rund um Bad Kudowa und Lewin (s. Abb. Ortsnamensänderungen) sowie die alten Siedlungen nordwestlich von Glatz im Neiße- und Steinetal.15 Die betroffenen Ortsnamen stammen überwiegend aus der großen ostdeutschen Siedlungszeit während des 13. bis 15. Jahrhunderts. Die neuen deutschen Siedlungen wurden häufig neben bereits bestehenden böhmischen (tschechischen) Siedlungen angelegt und übernahmen deren Namen. Dabei wurden in der Regel die Buchstaben mit diakritischen Zeichen (Striche, Punkte, Häkchen) abgelöst, z. B. das tschechische „č“ in das deutsche „tsch“ und „ž“ in „sch“. Die ältesten böhmischen Siedlungen sind entlang der uralten königlichen Heerstraße von Prag über Nachod, Ratschenpass und Glatz nach Breslau anzutreffen. Im sogenannten Böhmischen Winkel (Hummelbezirk), der ursprünglich nicht zum Glatzer Distrikt gehörte, weisen mit Ausnahme der späteren Siedlung Kaltwasser bei Lewin16 alle Ortsnamen auf ihren böhmischen Ursprung hin. Insbesondere die Ortsnamen mit den Endungen „witz“ vom slawischen „vice“, „au“ von „ov“ sowie mit den slawischen Endungen„ey“ bzw. „ej“ belegen die böhmische Herkunft17. Als Quellen der Ortsnamensänderungen der Grafschaft Glatz sind die Schriften von Bernatzky (1984), Marx (1975), Pohl (2000), Verdenhalven (1971) und Zimmermann (1789) herangezogen worden. Das Lexikon der Grafschaft Glatz von Aloys Bernatzky enthält einen vollständigen Nachweis der deutschen Siedlungen vor 1945. Jörg Marx greift in seiner Schrift auf den grundlegenden Aufsatz von Paul Klemenz zurück, der seine Schrift „Die Ortsnamen der Grafschaft Glatz, sprachlich und geschichtlich erklärt“ 1932 in Breslau veröffentlichte. Die Schrift von Dieter Pohl enthält das vollständige Verzeichnis der Köglerschen Urkundensammlung zur Geschichte der Grafschaft Glatz im Erzbischöflichen Diözesanarchiv in Breslau mit einem umfangreichen Verzeichnis historischer Ortsnamen. Die Zusammenstellung von Fritz Verdenhalven berücksichtigt die amtlichen preußischen Veröffentlichungen der Ortsnamensänderungen bis 1942. Vergleichbare amtliche und damit auch zuverlässige Quellen wertete Friedrich Albert Zimmermann in seiner Beschreibung von Schlesien/Grafschaft Glatz aus, da er als „Calculator“ beim Breslauer Kammerdepartement (1771–1809) Zugang zu amtlichen statistischen Erhebungen und Verlautbarungen hatte. 14 15 16 17
MBl.i.V. 1939, Spalte 1811f., vgl. Verdenhalven: Namensänderungen, S. 5. Herzig/Ruchniewicz: Glatzer Land, S. 283. Marx: Ortsverzeichnis, S. 37. Kutzen: Grafschaft Glatz, S. 18–22, Mader: Chronik Lewin, S. 7f., Marx: Ortsverzeichnis, S. 5.
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Nachfolgend sind die Namensänderungen der Jahre 1921 bis 1939 in der Grafschaft Glatz einzeln aufgelistet. Neben den alten und neuen deutschen Ortsnamen sind bewusst die heutigen polnischen Namen aufgeführt, um die Heimat- und Familienforschung durch die Namensvergleiche zu unterstützen. Hierzu dienten als Quellen Battek und Szczepankiewicz (1992), Bernatzky (1984), Verdenhalven (1971) und IfAG (1994). Brzesowie, 5.6.1921 Birkhagen, 1945 Brzozowice Eine Urkunde von 1602 benennt neben dem tschechischen Namen Przezowe auch den deutschen Namen Birkwitz. Seit 1631 galt nur der tschechische Name Brzesowie. Die Herkunft kommt von březa = Birke und dem Suffix ov, daraus = Birkenort oder Birkicht. Später wurde ov zu owie verlängert. Der verdeutschte Name Birkhagen entspricht zwar dem tschechischen Namensstamm, greift aber den urkundlichen Namen Birkwitz nicht auf18. Hallatsch, 24.2.1937 Hallgrund, 1945 Gołaczów Die früheren Namen 1477 Haleczow, 1560 Halazow und seit 1631 Halatsch sind nicht zu deuten. Der verdeutschte Name Hallgrund hat nur lautmalerischen Bezug. Im Jahr 1935 wurde die Kolonie Tschischney eingemeindet, heute polnisch Cisowa19. Koritau, 24.2.1937 Kartau, 1945 Korytów Das sehr alte Dorf ist schon 1291 als Choritowe, 1319 Coritau benannt. Der Name stammt vom tschechischen koryto = Wassergraben, danach ein mit Gräben befestigter Ort. Auch Zimmermann nennt 1789 noch Coritau. Der verdeutschte Name Kartau belässt den tschechischen Namen und vollzieht nur eine Lautkürzung20. Krzischney, 3.12.1929 Kreuzdorf, 1945 Krzyżanów Das ehemalige Vorwerk gehörte zur Herrschaft Hummel, 1477 Krzizanow, 1606 Krzishney, abgeleitet vom tschechischen Personennamen Křižan. Der verdeutschte Name Kreuzdorf ist ungenau und irreführend21. Labitsch, 24.2.1937 Neißenfels, 1945 Ławica Das ehemalige Vorwerk hieß urkundlich 1337 Lawicz, 1397 Lawcez und 1495 Labetz. Der verdeutschte Name Neißenfels des Eisenbahnhaltepunktes berücksichtigt zwar die Ortslage am Fluß Neiße, ist aber dennoch willkürlich und hat keinerlei Bezug zum alten tschechischen Namen22. 18
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Brzesowie: Bernatzky: Lexikon, S. 28; IfAG: Ortschaftsverzeichnis, S. 26; Marx: Ortsverzeichnis, S 13, Pohl: Sammlung Kögler, S. 79f. und 124, Zimmermann: Beyträge Grafschaft Glatz, S. 283. Hallatsch: Bernatzky: Lexikon, S. 98, IfAG: Ortschaftsverzeichnis, S. 82, Marx: Ortsverzeichnis, S. 29, Pohl: Sammlung Kögler, S. 80 und 133, Verdenhalven: Namensänderungen, S. 55, Zimmermann: Beyträge Grafschaft Glatz, S. 302. Koritau: Bernatzky, Lexikon, S. 131; IfAG: Ortschaftsverzeichnis, S. 127, Marx: Ortsverzeichnis, S 39, Pohl: Sammlung Kögler, S. 86 u. 139, Verdenhalven: Namensänderungen, S. 72, Zimmermann: Beyträge Grafschaft Glatz, S. 286. Krzischney: Bernatzky: Lexikon, S. 148, IfAG: Ortschaftsverzeichnis, S. 134f., Marx: Ortsverzeichnis, S. 44, Pohl: Sammlung Kögler, S. 80 und 139, Verdenhalven: Namensänderungen, S. 74, Zimmermann: Beyträge Grafschaft Glatz, S. 318. Labitsch: Bernatzky: Lexikon, S. 186, IfAG: Ortschaftsverzeichnis, S. 139, Marx: Ortsverzeichnis, S. 56, Pohl: Sammlung Kögler, S. 41 und 140, Verdenhalven: Namensänderungen, S. 87, Zimmermann: Beyträge Grafschaft Glatz, S. 320.
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Lewin, 1.1.1939 Hummelstadt, 1945 Lewin Kłodzki Erstmals ist Lewin 1197 urkundlich erwähnt, auch Leffin und tschechisch Levin, Zimmermann nennt 1789 Lewien. Die Namensdeutung der Stammsilbe lev bzw. lew ist unklar. Der verdeutschte Name Hummelstadt nutzt den Namen des benachbarten Bergkegels Hummel, tschechisch homole = Kegel. Der polnische Zusatz Kłodzki ist zur Unterscheidung erforderlich, weil es auch Lewin Brzeski für die Stadt Löwen im Kreis Brieg gibt23. Löschney, 1937 Thalheim, 1945 Lesna Morischau, 24.2.1937 Neißtal, 1945 Morzyszów Der Ort ist 1334 als Marischaw, 1349 Morschaw und 1625 Marischau bekannt; Zimmermann nennt 1789 Mohrischau. Der verdeutschte Name Neißtal berücksichtigt nur die Ortslage am Neißebogen und ist somit geographisch korrekt, übergeht aber die tschechische Namenswurzel24. Nauseney, 25.2.1937 Scharfenberg, 1945 Jezówice Die Kolonie Nauseney gehörte zu Passendorf und hieß 1477 Luznici, 1601 Lausney und seit 1781 Nauseney. Der tschechische Name beruht wohl auf dem altslawischen luža = Sumpf, Pfütze, später schlesisch Luusche. Der verdeutschte Name Scharfenberg nimmt zwar geographischen Bezug zum nahe gelegenen Heuscheuer-Gebirge, übergeht aber den alten tschechischen Namen25. Nerbotin, 29.1.1937 Markrode, 1945 Witów Das alte Kammergut gehörte zur Herrschaft Rückers, es hieß 1477 Norbethin, 1560 Nerbotin und 1631 Nerbothin. Der verdeutschte Name Markrode ist willkürlich; er ist ohne Bezug zum alten tschechischen Namen und zur geographischen Lage26. Pischkowitz, 24.2.1937 Schloßhübel, 1945 Piszkowice Das alte Schloss hieß 1340 Piscowicz und 1343 Pischkowicz, daneben auch B-Schreibweisen. Zimmermann nennt 1789 als zweiten Namen Bischwitz. Der verdeutschte Name Schloßhübel geht nicht auf Bischwitz ein und berücksichtigt nur die geographische Lage des 1722 neu erbauten Barockschlosses oberhalb des Steinetales. Die Endung „hübel“ findet sich schon im alten böhmischen Ortsnamen Gießhübel südlich des Böhmischen Winkels im Adlergebirge; sie ist ungeklärt27.
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Lewin: Bernatzky: Lexikon, S. 117, IfAG: Ortschaftsverzeichnis, S. 147, Mader, S. 8, Marx: Ortsverzeichnis, S. 35, Pohl: Sammlung Kögler, S. 102 u. 141, Verdenhalven: Namensänderungen, S. 60, Zimmermann: Beyträge Grafschaft Glatz, S. 192–196. Morischau: Bernatzky: Lexikon, S. 186, IfAG: Ortschaftsverzeichnis, S. 168, Marx: Ortsverzeichnis, S. 57, Pohl: Sammlung Kögler, S. 41 u. 143, Verdenhalven: Namensänderungen, S. 87, Zimmermann: Beyträge Grafschaft Glatz, S. 333. Nauseney: Bernatzky: Lexikon, S. 229, IfAG: Ortschaftsverzeichnis, S. 244, Marx: Ortsverzeichnis, S. 75, Pohl: Sammlung Kögler, S. 17 und 143, Zimmermann: Beyträge Grafschaft Glatz, S. 339. Nerbotin: Bernatzky: Lexikon, S. 174, IfAG: Ortschaftsverzeichnis, S. 173, Marx: Ortsverzeichnis, S. 53, Pohl: Sammlung Kögler, S. 80 und 143, Verdenhalven: Namensänderungen, S. 82, Zimmermann: Beyträge Grafschaft Glatz, S. 335. Pischkowitz: Bernatzky: Lexikon, S. 237, IfAG: Ortschaftsverzeichnis, S. 211f., Marx: Ortsverzeichnis, S. 77, Pohl: Sammlung Kögler, S. 52 und 148, Verdenhalven: Namensänderungen, S. 111, Zimmermann: Beyträge Grafschaft Glatz, S. 340f.
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Poditau, 24.2.1937 Neißgrund, 1945 Podtynie Das Dorf geht zurück auf 1342 Bernhard von Podytyn, später in mundartlicher Form Poitau. Der verdeutschte Name Neißgrund ist zwar korrekt in der geographischen Lagebezeichnung im Neißetal, aber dennoch willkürlich und ohne Bezug zum ursprünglichen Orts- und Namensgründer Podytyn28. Schlaney, 24.2.1937 Schnellau, 1945 Słone Das Gut hieß 1403 Slaney und gehörte 1601 zur böhmischen Stadt Nachod. Nach Zimmermann geht der Ortsname auf den ältesten Besitzer Tobias Slansky zurück. Nach Marx/Klemenz steckt in dem Namen das slawische slany = salzig, danach also Salzort, vermutlich wegen einer salzhaltigen Quelle. Der verdeutschte Name Schnellau belässt lautmalerisch die slawische Namenswurzel29. Straußeney, 6.1.1937 Straußdörfel, 1945 Pstražna Das Dorf hieß 1470 Pstrzuzny, seit 1631 Straußenei. Der obere Teil des Ortes hieß Passeka vom tschechischen paseka = Verhau, Lichtung. Der verdeutschte Name Straußdörfel ist nur lautmalerisch angepasst, aber irreführend. Die Kolonie Bukowine von tschechisch bukowina = Buchenwald wurde willkürlich in Tannhübel umbenannt, heute polnisch Bukowina Kłodzka30. Tscherbeney, 21.1.1937 Grenzeck, 1945 Czermna Das Gut gehörte ehemals zur Herrschaft Neustadt in Böhmen, später zur Gemeinde Bad Kudowa. Der Name lautete 1354 Czermna, später gedehnt zu czermney vom tschechischen červeny = rot, hier nach roter Erde benannt. Das Grenzdorf hieß früher auch Deutsch-Tscherbeney im Gegensatz zum böhmischen Malá Čermná = KleinTscherbeney. Zimmermann schreibt 1789: „Die Einwohner sind theils Catholisch, theils Hussiten, und reden meist die böhmische Sprache“. Der verdeutschte Name Grenzeck trug der markanten Lage direkt an der Landesgrenze zur Tschechei Rechnung. Die dazu gehörige Kolonie Jakobowitz wurde willkürlich in Wachtgrund umbenannt, heute polnisch Jakubowice31.
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Poditau: Bernatzky: Lexikon, S. 186, IfAG: Ortschaftsverzeichnis, S. 213, Marx: Ortsverzeichnis, S. 57, Pohl: Sammlung Kögler, S. 41 und 148, Verdenhalven: Namensänderungen, S. 87, Zimmermann: Beyträge Grafschaft Glatz, S. 342. Schlaney: Bernatzky: Lexikon, S. 242, IfAG: Ortschaftsverzeichnis, S. 246, Marx: Ortsverzeichnis: S. 77, Pohl: Sammlung Kögler, S. 80 und 154, Verdenhalven: Namensänderungen, S. 112, Zimmermann: Beyträge Grafschaft Glatz, S. 351f. Straußeney: Bernatzky: Lexikon, S. 258, IfAG: Ortschaftsverzeichnis, S. 271f., Marx: Ortsverzeichnis, S. 84, Verdenhalven: Namensänderungen, S. 119, Zimmermann: Beyträge Grafschaft Glatz, S. 365. Tscherbeney: Bernatzky: Lexikon, S. 91; IfAG: Ortschaftsverzeichnis, S. 284; Marx: Ortsverzeichnis, S. 27; Pohl:Sammlung Kögler, S. 80f. und 158; Verdenhalven: Namensänderungen, S. 49; Zimmermann: Beyträge Grafschaft Glatz, S. 367f.
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Ortsnamensänderungen zwischen 1918 und 1939 im „Böhmischen Winkel“ und an Steine und Neiße nördlich von Glatz (Zeichnung H.-A. Meißner)
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5. Zusammenfassung In einer zusammenfassenden Wertung lässt sich sagen, dass von den 14 aufgeführten Umbenennungen die meisten ohne sprachliche Not aus dem übertriebenen Zeitgeist des Nationalsozialismus 1937 entstanden sind. Lediglich bei den zwei alten Ortsnamen Brzesowie und Krzischney, war die Aussprache der slawischen Laute „Brze“ und „Krzi“ für eine deutsche Zunge so ungewohnt, dass eine Umbenennung in gefälligere Aussprache und Schreibweise gerechtfertigt war. Die anderen Namensänderungen betrafen insbesondere Ortsnamen mit den slawischen Endungen „au“, „itz“, „ney“ und „tsch“; sie unterlagen einer gewissen willkürlichen Auswahl, weil etliche andere, ähnlich lautende Ortsnamen böhmischen Ursprungs damals erhalten geblieben sind, so z. B. Bobischau, Dörnikau, Gellenau, Hartau, Hollenau, Kamnitz, Kudowa, Lomnitz, Mohrau, Mügwitz, Piltsch, Plomnitz, Rauschwitz, Roschwitz, Tanz, Tassau, Weistritz oder Wiltsch. Der überwiegende Teil der neuen verdeutschten Ortsnamen nahm in historisch sinnvoller Abwägung auf die alten böhmischen Namenswurzeln Rücksicht; es wurde lediglich eine leichtere Aussprache und Schreibweise angestrebt. Einige wenige Umbenennungen sind jedoch als unhistorisch und in ihrer intoleranten Deutschtümelei nur als rücksichtslos zu bezeichnen. So nahmen die Ortsnamen Neißenfels, Neißgrund, Neißtal, Schloßhübel oder Straußdörfel zwar Bezug zur jeweiligen geographischen Ortslage, kappten aber alle Namenstraditionen. Die heutigen polnischen Ortsnamen greifen in der Regel die alten Ortsnamen vor den Umbenennungen wieder auf und passen sie nur der polnischen Orthographie an. Einige Namen wie z. B. Krzyżanów für Krzischney gehen sogar auf die älteste urkundliche Schreibweise von 1477 zurück. In Ausnahmefällen „erfinden“ die Polen einen völlig neuen Ortsnamen ohne Bezug zu einer deutschen oder slawischen Wurzel, so z. B. bei Witów für Nerbotin.
Das Hochwasser im Glatzer Bergland 1938 Von Manfred Spata 1. Einleitung
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ochwasser sind natürliche Ereignisse und im dicht besiedelten Mitteleuropa die weitaus häufigste Naturgefahr. Insbesondere seit dem extremen Sommerhochwasser 1997 an Oder und Neiße lebt die Diskussion über die aktuellen Ursachen und die Erinnerung an frühere Hochwasser im Glatzer Bergland wieder auf. Die jüngste Wasserflut erinnerte insbesondere an das Hochwasser im Jahre 1938, als eine ähnlich starke Flutwelle zahlreiche Orte des Neiße- und Bieletales unter Wasser setzte. In jedem Jahrzehnt erlebten die Bewohner der Grafschaft Glatz Überschwemmungen, wenn auch mit unterschiedlicher Heftigkeit. Menschenleben waren im Allgemeinen nicht zu beklagen, aber die Flur- und Gebäudeschäden waren beträchtlich. In vielen Heimatschriften werden diese Überschwemmungen erwähnt, insbesondere von Volkmer 1884/85. Eine umfassende Studie über die Hochwassersituation in ganz Preußen erarbeitete 1896 das „Bureau des Ausschusses zur Untersuchung der Wasserverhältnisse in den der Überschwemmungsgefahr besonders ausgesetzten Flußgebieten“, die auch den gesamten Einflussbereich der Glatzer Neiße mit ihren Nebenflüssen berücksichtigte. Hierin sind ausführliche hydrographische und wasserwirtschaftliche Untersuchungen des gesamten Glatzer Kessels enthalten. Der nachfolgende Aufsatz stützt sich im Wesentlichen auf diese Quellen.
2. Das Einzugsgebiet der Glatzer Neiße Der Glatzer Bergkessel bildet geographisch den Übergang von den südlichen zu den mittleren Sudeten, von der Altvater- zur Eulengebirgsgruppe. Das Neißetal selbst bildet die Grenzlinie zwischen beiden Gebirgsgruppen. Das Einzugsgebiet der Glatzer Neiße liegt für ihren Oberlauf vollständig innerhalb des Glatzer Kessels. Zusätzlich entwässert die Neiße durch die Steine und Walditz auch Teile der Braunauer Mulde und des Waldenburger Berglandes. Das gesamte Neißewasser fließt durch den Warthapass zur Oder hin ab. Nur die Bereiche westlich des Habelschwerdter Kammes und des Heuscheuergebirges entwässern zur Elbe hin. In seiner Form bildet das Neißer Quellgebiet ein Rechteck von 26 km Breite und 67 km Länge, sein Flächeninhalt bis zum Warthaer Pass beträgt etwa 1.734 km2. Die Bergwälle des Glatzer Kessels überragen um rund 800 bis 900 m die mittleren Tallagen. Das Quellgebiet ist in seinem Innern ein unebenes Stufenland, in dem vor allem die beiden breiten Mulden der Neiße und Steine auffallen. Die Neiße folgt der Kreidesenke zwischen dem Habelschwerdter und Schneegebirge von Süd nach Nord. Die Steine durchzieht das Rotliegende längs dem Heuscheuergebirge von Nordwest nach Südost. Kurz vor ihrem Zusammentreffen unterhalb von Glatz münden in die Neißesenke von rechts das Tal der Landecker Biele und von links das Tal der Reinerzer Weistritz. In diese beiden Talfurchen und in jene breiten Mulden sind die engen Flusstäler mit ziemlich hohen und vielfach steilen Gehängen eingeschnitten.
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Grafschaft Glatz Gewässernetz
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Schreckendorf
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Zeichnung:H. -A. Meißner 2012
Abb. 1: Hauptgewässernetz im Glatzer Gebirgskessel
das hochwass e r i m g l at z e r b e r g l a n d 1938
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Die ebenfalls zum Glatzer Bergland gehörenden relativ kleinen Einzugsbereiche der Erlitz, die in die Elbe entwässert, und der March, die zur Donau abfließt, bleiben hier unberücksichtigt.1
3. Das Gewässernetz Die Glatzer Neiße entspringt aus mehreren Quellen an der südwestlichen Absenkung des Glatzer Schneegebirges unterhalb des Gipfels der Klappersteine in etwa 975 m Meereshöhe. Der Fluss hat bis Wartha auf einer Länge von 79,1 km eine Fallhöhe von 717 m und ein mittleres Gefälle von 9,07 ‰. Oberhalb der Bielemündung nimmt sie 15 größere Nebenbäche auf, von denen rechts der Lauterbach, das Ebersdorfer Wasser, der Wölfelsbach, die Plomnitz und das Waltersdorfer Wasser, links die Schnalz, der Kressenbach und die Duhne zu nennen sind. Unterhalb der Landecker Biele mündet von rechts das Hannsdorfer Wasser, in dessen Tal die Glatzer Senke nach dem Neudecker Pass hinaufzieht. Die Landecker Biele entspringt auf dem Südwesthang des Reichensteiner Gebirges am Wetzsteinkamm in 1.000 m Meereshöhe als Weiße Biele und nimmt links die Schwarze Biele auf. Sie fließt in einem alten Erosionsbett, das älter ist als der Senkungsgraben der Neiße. Ihre Länge beträgt 52,7 km, ihre Fallhöhe 794 m, ihr mittleres Gefälle 15,1 ‰. Die wichtigsten Seitengewässer sind die Mohre, das Schönauer und das Heinzendorfer Wasser sowie das Konradswalder und das Raumnitz-Herrnsdorfer Wasser. Die Reinerzer Weistritz entspringt am Osthang des Mensegebirges auf 871 m Meereshöhe unweit der Seefelder. Bei Rückers vereinigt sich die Weistritz mit dem vom Heuscheuergebirge kommenden Rothwasser. Bei Oberschwedeldorf fließen der Rollingbach und der Engelbach zu. Bei einer Länge von 33,7 km beträgt ihre Fallhöhe 583 m und ihr mittleres Gefälle 17,3 ‰. Die Steine entspringt im Waldenburger Gebirge bei Steinau oberhalb Friedland auf 732 m Meereshöhe. Neben zahlreichen kleinen Wildbächen in der Braunauer Mulde nimmt sie rechts vom Heuscheuergebirge das Wünschelburger Wasser auf, links die vom Waldenburger und Eulengebirge kommende Walditz und das Ebersdorfer Wasser. Das von links mündende Rothwaltersdorfer Wasser bezeichnet die Grenze zwischen dem Waldenburger und Warthaer Gebirge. Auf 61,4 km Länge beträgt die Fallhöhe 455 m und das mittlere Gefälle 7,4 ‰. Die Reinerzer Weistritz hat das stärkste Gefälle, gefolgt von der Landecker Biele, deren Quelle am höchsten, noch oberhalb der Neißequelle liegt. Die aus minder hohem Gebirge kommende Steine und der Neißelauf zwischen Glatz und Wartha besitzen das geringste Gefälle. Von einem Teil der Seitengewässer der Reinerzer Weistritz und der Steine abgesehen, stammen die Wasserläufe des Quellgebietes der Glatzer Neiße sämtlich aus wenig durchlässigem Boden. Dies bedingt relativ schlechte Infiltrations- und Speichereigenschaften des Bodens, sodass größere Regenmengen nicht im Boden versickern können, sondern immer relativ schnell oberirdisch abfließen müssen. 1
Vgl. Bernatzky: Landeskunde, 1988, S. 16–23.
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Abgesehen von den sumpfigen Seefeldern zwischen dem Adler- und Habelschwerdter Gebirge sind wegen der steilen Neigung des Bodens keine natürlichen stehenden Gewässer vorhanden. Wohl aber gibt es viele kleine Mühlen- und Fischteiche.2
4. Witterungsverhältnisse Nach allen menschlichen Erfahrungen sind Hochwasser Naturereignisse, die nicht verhindert werden können. Auslöser sind in erster Linie extreme Niederschläge. Der Hochwasserverlauf in einem Flussgebiet wird durch die räumliche und zeitliche Verteilung des Niederschlags sowie die vielfältigen Eigenschaften des Einzugsgebietes geformt. Hohe Regenintensitäten, langandauernde flächendeckende Niederschläge, ungünstige räumliche Niederschlagsverteilung, tauende Schneedecke sowie geringe Speicherkapazität des Einzugsgebietes sind Größen, die für die Bildung von Hochwasser maßgebend sind. Nach Bernatzky (1988) betragen die Niederschläge im Inneren des Glatzer Kessels durchschnittlich etwa 700 mm pro Jahr, was als relativ trocken gilt. In den umliegenden Bergen nimmt der Niederschlag jedoch bis über 1.200 mm zu; vor allem die Westhänge der Hohen Mense und des Schneegebirges erhalten starke Niederschlagsmengen. Langjährige Niederschlagsmessungen im Glatzer Kessel bestätigen, dass im Sommer reichhaltige Regenfälle und heftige Gewitter vorkommen. In den Monaten Juni bis August gibt es die meisten Niederschläge. Dementsprechend zeigt der Sommer auch die größten Hochwasser, während diejenigen des Frühjahrs, die aus der Schneeschmelze hervorgehen, deutlich geringer sind. Diese Sommerhochwasser richteten besonders schwere Schäden an, weil große Teile der Ernte vernichtet wurden. Bedingt durch die Oberflächengestaltung des Glatzer Kessels zeigt die Neiße in ihrem Oberlauf alle Eigenschaften eines schnell laufenden Gebirgsflusses. Auch die Biele ist durch ihren schnellen Lauf in tiefen schmalen Tälern als ein Wildbach zu bezeichnen. Die stärkeren Niederschlagswasser ihrer Einzugsgebiete werden wegen der Steilheit und geringen Durchlässigkeit der Böden mit großer Schnelligkeit oberirdisch abgeführt. Etwas zahmere Eigenschaften besitzt die Weistritz, deren Gebiet zum Teil aus durchlässigerem Sandstein besteht, und die Steine, deren Talsohle im Unterlauf etwa eine Breite von 1 km erreicht.3
5. Wasserbaumaßnahmen Die Höhe der Hochwasserscheitel wird durch die Abflussmenge und die Querschnittgröße des Flussbetts bestimmt. Diese Querschnitte sind zum einen topographisch vorgegeben (z. B. sehr markant beim Warthaer Pass und bei der Glatzer „Schleuse“), aber zum anderen anthropogen durch Baumaßnahmen beeinflusst. Die anthropogenen Einflüsse lassen sich in drei große Bereiche gliedern: die Reduzierung von Überflutungsflächen an Bächen und Flüssen durch Bebauung, die Beschleuni2 3
Vgl. ebd., S. 24–28 und Bureau des Ausschusses: Ausschussbericht 1896. Vgl. Bureau des Ausschusses: Ausschussbericht 1896.
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gung der Hochwasserwellen durch Flussbegradigung und Gewässerausbau sowie die Vielzahl der Einflüsse, die zur Reduzierung des Niederschlagsrückhaltes im Einzugsgebiet (z. B. durch Versiegelung des Bodens und Minderung des Waldes) beitragen. Durch diese verschiedenen Eingriffe des Menschen in die Einzugsgebiete der Bäche und Flüsse wurden im Laufe der Zeit die natürlichen Speicher in der Landschaft verringert und dadurch die Hochwasser verstärkt. Diese Veränderungen wirken sich in Abhängigkeit von der Größe des Einzugsgebietes und der Besiedlungsdichte sehr unterschiedlich aus. So verengen Brücken, Staustufen und Uferbebauungen die Querschnittprofile manchmal so stark, dass eine zusätzliche Erhöhung der Hochwasserstände bewirkt wird. Die in den Glatzer Chroniken vielfach notierten vollständigen Zerstörungen der Brücken und Stege zeugen von solch unzureichenden Abflussquerschnitten, weil die Bauten in der Regel zu eng und zu niedrig ausgeführt waren. Lediglich die älteste Brücke von Glatz, die Brücktorbrücke über den Mühlgraben parallel zur Neiße, ist seinerzeit (1390) vorsorglich mit so hohen Bögen versehen worden, dass alle bisherigen Hochwasser ihr keinen Schaden antun konnten. Gleiches gilt für die alte Johannesbrücke in Bad Landeck. Das Neißebett ist in Glatz durch anthropogene und topographische Faktoren besonders eingezwängt. Zwischen Festungsberg und Schäferberg verengt sich das Tal auf einer Länge von 150 m, die Breite des Flussbettes beträgt nur noch 30 m. Die jahrhundertealte Bebauung der Insel „Auf dem Sande”, bestehend aus dem Minoritenkloster und der geschlossenen Bebauung des Rossmarktes, sowie die Anlage des Eisenbahndammes und des Bahnhofs bewirken eine weitere Einengung, die den Hochwasserwellen keinen ausreichenden Abfluss gewährt. Der preußische König Friedrich II. nutzte 1749 diese Situation konsequent zum Bau einer Schleuse, die zwecks künstlicher Flutung in die Befestigungsstrategie von Glatz eingebunden wurde. Auch die Bebauung des Holzplans durch die Polen nach 1945 war wasserbautechnisch unzulässig. Nach 1744 versuchte der preußische Staat, die Bewohner des Neißetales durch wasserbautechnische Maßnahmen vor den ständig wiederkehrenden Überschwemmungen zu schützen. So wurde der Flusslauf bei Altwaltersdorf durch einen Durchstich verkürzt und an vielen Stellen Buhnen und Dämme gebaut. Der Bau und der Unterhalt von Brücken und Stegen sowie von Staustufen und Wehren waren bis 1945 eine Daueraufgabe der preußischen Dienststellen. Nach den verheerenden schlesischen Überschwemmungen 1883 befasste man sich in ganz Schlesien noch intensiver mit Hochwasserschutzmaßnahmen. Zur gründlichen Untersuchung der Hochwassersituation wurde 1892 das „Bureau des Ausschusses zur Untersuchung der Wasserverhältnisse in den der Überschwemmungsgefahr besonders ausgesetzten Flußgebieten” eingesetzt, das 1896 den mehrbändigen Bericht „Der Oderstrom, sein Stromgebiet und seine wichtigsten Nebenflüsse” mit Tabellen und Karten vorlegte, worin auch das Gebiet der Glatzer Neiße behandelt wird. In der Hochwasser-Meldeordnung vom 1. Oktober 1895 gestaltete der Oberpräsident von Schlesien einheitlich für das ganze preußische Odergebiet mit seinen Nebenflüssen die Meldung der Hochwasser, sodass eine zuverlässige und schnelle Voraussage der zu erwartenden Hochwasserhöhen ermöglicht wurde.
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Nach weiteren heftigen Hochwasserschäden durch schlesische Flüsse im Juli 1897 befassten sich die preußischen Politiker mit dieser Thematik, was zum Schlesischen Hochwasserschutzgesetz vom 3. Juli 1900 führte. Eine der ersten daraus resultierenden Baumaßnahmen betraf die Urnitztalsperre im Wölfeltal, das erste von zwei Rückhaltebecken im Glatzer Kessel. Das Fassungsvermögen der 1905 bis 1907 erbauten Talsperre beträgt 1,3 Millionen Kubikmeter. Sie dient sowohl dem Hochwasserschutz als auch der Stromerzeugung. Der Unterlauf der Neiße wurde durch den Bau des Ottmachauer Staubeckens vor Überflutungen wirksam geschützt. Das 1928 bis 1932 errichtete Staubecken hat ein Fassungsvermögen von 135 Millionen Kubikmeter. Beim zweiten Rückhaltebecken im Glatzer Kessel handelt es sich um den kleinen Mohre-Stauweiher zwischen Seitenberg und Alt-Mohrau gelegen. Weitere Maßnahmen bestanden im Bau und in der regelmäßigen Pflege der Deiche durch Deichverbände sowie in der Freihaltung des Hochwasserquerschnitts von Abflusshindernissen und Flussanlandungen durch die Oderstrom-Bauverwaltung. Bis etwa 1940 praktizierten die schlesischen Behörden die langfristig betriebenen Wasserbaumaßnahmen.4
6. Hochwasser in früherer Zeit Das immer wieder auftretende Hochwasser und die damit verbundenen Schäden sind in vielen Heimatchroniken der Grafschaft Glatz vermerkt. Bereits Georg Aelurius berichtet 1625 in seiner „Glaciographia“ von Wasserschäden. Pohls Bibliographie (1994) nennt fünf Einträge zum Stichwort „Hochwasser“, darunter die umfangreiche Zusammenstellung auf Grund urkundlicher Berichte von Franz Volkmer in den Vierteljahresschriften 1884/85. Speziell die Hochwasser des 19. Jahrhunderts sind ausführlich im Ausschussbericht zur Untersuchung der Wasserverhältnisse (1896) dargestellt. Die überlieferten Hochwasser reichen bis 1310 zurück. Fast alle Hochwasser traten in den Monaten Juni bis August auf, nur wenige in den Wintermonaten oder als Frühjahrshochwasser. Nachfolgend wird aus den Quellen ein kurzer Abriss der Hochwässer gegeben: 1310, 26. Juli:
Die Neiße riß bei Glatz eine Menge Häuser weg, und gegen 1500 Menschen fanden in den Wellen den Tod. 1464, 15. August: Am Feste Mariä Himmelfahrt war abermals eine so große Überschwemmung in Glatz, daß Mühlen und Häuser weggerissen, viele Menschen und vieles Vieh ersäuft, Felder und Wiesen total verwüstet wurden. Die Laufstege über die Neiße zu Glatz und Wartha schwammen fort. Die steinerne Brücke (Koblitzbrücke) in Krotenpfuhl wurde ganz zerstört ... 1474: Überschwemmungen aller Flüsse und Bäche, durch anhaltende und starke Regengüsse, die großen Schaden thaten.5 1475: ... bei einer großen Ueberschwemmung ward die Minoritenkirche 4
5
Vgl. ebd., Bernatzky: Landeskunde 1988, Blaser: Hochwasserkatastrophen, 2009, Zengler: Schlesische Wasserprobleme, 1977 sowie Hochwasser und Schlesiche Neißen, 1978. Wedekind 1857, S. 188.
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vor der steinernen Brücke zu Glatz unter Wasser gesetzt, und man fuhr mit Flößen in ihr herum. Auch wurden alle Wehre weggerissen. 1500, 1522, 1524, 1560, 1566, 1570: Weitere bedeutende Überschwemmungen. 1578 Zu Habelschwerdt wurde die Waltersdorfer Brücke ... ganz hinweggerissen ... Zu Glatz stürzten „auf dem Sande” viele Häuser ein ... Auch die neue steinerne Brücke gegen Wartha zu brach zusammen. 1587, 1589, 1591: Weitere Überschwemmungen nach Habelschwerdter Chroniken. 1598, 16. August: ... in Folge großer Wolkenbrüche ... eine verheerende Wasserfluth. In Habelschwerdt stürzen alle drei Brücken ein. In Schönfeld und Herzogswalde ertranken 9 Menschen. In Glatz stieg das Wasser eine Elle über die Altäre der Minoritenkirche und zerstörte die Kirchhofmauer vollständig. Den 24. August 1598 löste sich ein vorspringender Theil des Warthaberges ab, stürzte in die Neiße herab und hemmte den Lauf des Wassers ... 1602, Frühjahr: Ein Hochwasser zu Habelschwerdt riss die Waltersdorfer Brücke weg. 1603, 24. August: ... entstand in der Reinerzer Gegend eine große Wasserfluth, welche das Hospital ... und dem Papiermacher Haus und Hof wegführte. 1605, 1606, 1610, 1611, 1612, 1625: ... große Wasserfluten ... 1646, 27. August: Die Fluth stieg so, daß die Bänke in der Minoritenkirche herumschwammen. Auch der Verlust von Menschenleben war zu beklagen. 1652, 1655: Neue Überschwemmungen im Neißetal. 1679, 1682, 1688: Schlimme Wasserfluten im Steinetal, insbesondere in Neurode. 1689, 4. August: Größte Überschwemmung des 17. Jahrhunderts, große Schäden in Mittelwalde, 9 Personen ertranken. 1693, 13. Juni: Eine ähnliche Hochfluth der Neiße ... 11 Menschen fanden den Tod. 1696, 15. Juni: In Folge anhaltenden Regens schwollen die Neiße, Biele und Steine sehr an und traten verheerend aus ihren Ufern. 1702, 1703, 1713, 1724: Weitere Überschwemmungen. 1735, 16. Mai: Ein Wolkenbruch bei Landeck richtet große Verheerungen an. 1736, 20. Juli: Das Hochwasser riß zu Habelschwerdt die obere Neißebrücke und zu Glatz die steinerne Brücke hinter dem Franziskanerkloster hinweg. 1755, 4. Juli: Überschwemmung durch Biele und Neiße. 1763, 30. Juni: Wolkenbruch bei Mittelwalde, zu Steinbach ein Haus mit 7 Menschen weggerissen. Votivbild in der Habelschwerdter Pfarrkirche über die wundersame Rettung von Mensch und Vieh aus Wasserfluten im Neißetal. 1767, 22. Juli: Großer Schaden durch einen Wolkenbruch in Reinerz. 1775, 4. Februar: In der Minoritenkirche zu Glatz stand das Wasser bis über den Altären.
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1781, 21. Juni:
Durch einen Wolkenbruch wurde zu Neißbach ein Haus mit 5 Menschen fortgerissen ... auch in Schreibendorf ertranken 2 Menschen. 1783, 22. Juni: Nach außergewöhnlicher Hitze und lang anhaltender Trockenheit: Die fürchterlichste Ueberschwemmung des Jahrhunderts ... der höchste Stand dieser Fluth über den gewöhnlichen der Neiße soll 20 Fuß (= 6,3 m) gewesen sein. Alle Glatzer Holzstege, die steinerne Frankensteiner Brücke sowie 22 Häuser und 116 Scheunen wurden weggerissen. Erstmals berichtet der Chronist von tatkräftiger Hilfe des Glatzer Militärs. Großer Gesamtschaden im Biele- und Neißetal mit 25 Toten und 261 Stück Vieh, weggerissen wurden 310 Gebäude, 58 Wehre, 11 Schleusen, 5 Mühlen, 123 Brücken und 26 Stege. Die enormen Beschädigungen an Gebäuden, Feldern und Wiesen ergaben eine Summe von 346.000 Talern. 1787, 1789, 1827: Hochwasser der Weistritz in Reinerz mit 2 bis 5 m Höhe, Abriss des Wehrs der Papiermühle.6 1799, 1804, 1806: Gewaltige Wasserfluten in Folge von Gewitterregen. 1827, 11. Juni: ... schreckliche Wasserfluthen, welche in einer beinahe beispiellosen Weise die an der oberen Neiße liegenden Ortschaften verwüsteten ... Der Sturm warf auf das Schneegebirge einen mit starkem Regen begleiteten Hagel, der alles zerschmetterte. Innerhalb einer halben Stunde wurde das Dorf Lauterbach zerstört, ebenso betroffen war das Thanndorfer Tal und die nachfolgenden Dörfer bis vor Habelschwerdt. Insgesamt verloren 82 Menschen und 400 Stück Vieh ihr Leben, 63 Wohnhäuser wurden zerstört, des weiteren Scheunen, Ställe und Stege.7 1827, 27. August: ... grimmiger Wolkenbruch in Reinerz ..., von den Seefeldern ein bedeutendes Stück losgerissen und fortgeschwemmt. Die Fluten des Wolkenbruchs stürzten auch durch das Hummler und Jauerniger Wasser nach Lewin hinein. 1829, 10. Juni: Das größte Hochwasser des Neiße- und Walditzgebietes in diesem Jahrhundert, es wurden alle Feldfrüchte vernichtet, überall die Wehre, Brücken, Dämme und Wege … sowie viele Häuser zerstört. November 1831, Dezember 1850, August 1854: Hochwasser im Neißebereich. 1860, 11./19. Juli: Hochwasser im Neuroder Gebiet, allein in Schlegel 11 Tote.8 1876, Februar: Hochwasser im Neißetal. 1879 Hochwasser im Bieletal, ... die Felder waren von den starken fast Wolkenbruch ähnlichen Regengüssen so zerrissen, daß die betroffenen Besitzer zweifelten, während eines Menschenlebens wieder die Felder resp. die zurückgebliebenen Wasserspuren in Ordnung zu bringen.9 6 7 8 9
Vgl. Jacobi: Rückers, 1987. Schreckensnacht (Grenzwacht vom 25.8.1938), in: Grafschafter Bote 6/1998, S. 18. Vgl. Pabsch/Wittwer: Hochwasser, 1998, S. 118. Vgl. Gröger: Hochwasser, 1999.
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1882: 5. Mai 1883, 19. Juni:
Hochwasserschäden im Weistritztal, Voigtsdorf und Spätenwalde.10 Hochwasser aufgrund sehr starker Regenfälle im Glatzer Schneegebirge und im Bielengebirge. Die Biele hatte einen mehrere Meter hohen Wasserstand, die Ufer waren an vielen Stellen durchbrochen, ganze Strecken hatte sich der Bielefluß einen neuen Wasserlauf gebahnt, sämtliche Brücken und Stege waren weggerissen ...11 Die Neiße stieg in Glatz um etwa 5 m und verursachte verheerende Schäden. 1891, 21. Juli: Die Flut erreichte in Glatz eine Höhe von 3,50 m. 1897, 10. August: Hochwasserschäden im Bieletal, die Stege hinweggerissen, Brücken und Mühlwehre sehr arg beschädigt und zum Teil auch ganz weggerissen. Große Strecken hatte sich der Fluß einen neuen Wasserlauf gebahnt. Der Dorfweg war ebenfalls weggerissen und unbefahrbar geworden. Einzelne Gärten glichen einer Sandwüste...12 1903, 9./10. Juli: Das Hochwasser im Bieletal übertraf an Höhe noch das von 1883. Aus der unscheinbaren Biele war ein reißender Strom geworden, der seine Ufer verließ und stellenweise sich ein neues Flußbett schuf. Fast sämtliche Brücken in Bielendorf, Neu– und Alt–Gersdorf wurden von der reißenden Flut weggerissen und die Dorfstraße war an vielen Stellen ganz verschwunden.13 Anschließend Beginn der Bieleregulierungsarbeiten durch das Flussbauamt aufgrund von Vermessungsarbeiten im Bieletal. 1910, 7. Sept. Hochwasser in Ludwigsdorf, Absacken des Bahndammes auf 50 Meter Länge um knapp 5 Meter.14 Die direkt an der Neiße gelegene Minoritenkirche „auf dem Sande” in Glatz ist im Verlaufe der Jahre wiederholt von Überschwemmungen heimgesucht worden. Im Zusammenhang mit einer Wasserflut 1501 erzählt eine Sage von einer Wundertat des Paters Bernardin, der über die Fluten wandelte, um für die eingeschlossenen Klosterbrüder Nahrung zu beschaffen.15 In den Vierteljahrsschriften 1886/87 berichtet H. Vogt von sogenannten Wettersäulen im Steinetal. Diese Säulen mit einem Bildnis der hl. Mutter Gottes oder einem der 14 Nothelfer sollten bewirken, dass Überschwemmungen zurückgehalten werden. Eine solche Säule stand vor dem Mittelsteiner Schloss auf Niedersteine zu.
10
11 12 13 14 15
Vgl. Ludwig: Physische Beschaffenheit, 1886/87. Hochwasser, in: Grafschafter Bote 5/1999, S. 18. Vgl. Gröger: Hochwasser, 1999. Ders. 1999. Ders. 1999. Vgl. Großpietsch, W.: Schlesische Gebirgsbahnstrecke, 2009. Vgl. Kühnau: Sagen, 1978.
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7. Das Hochwasser 1938 Den älteren Glatzer Landsleuten ist das große Hochwasser 1938 noch in starker Erinnerung. Die Glatzer Heimatliteratur enthält verschiedene Berichte und Fotos von dieser Flut, zuletzt das „Häämtebärnla“ 1998 und der Grafschafter Bote 9/1998. Des Weiteren schilderte Horst Zengler (1978) eindrucksvoll aus eigenem Erleben die Schrecken und Nöte dieser Überschwemmung. Danach kam die Hochwasserflut in drei Wellen am 25.8., 1.9. und 11.9. Schwerpunkte der Flut waren das Neiße-, Biele- und Weistritztal; der Raum Neurode und Wünschelburg war weniger betroffen. Wochenlange Regenfälle hatten Ende August Feld und Wald des gesamten Neißeund Bieletales aufgeweicht und alle Bäche anschwellen lassen; gewaltige Wassermassen strömten die Berge herab. Insgesamt fielen 440 mm Niederschlag, d. h. die halbe Jahresmenge. Die Talsperren an der Mohre und Wölfel waren schnell gefüllt und entleerten das überschießende Hochwasser.16 Innerhalb weniger Stunden verwandelte sich die Neiße zu einem reißenden Strom, der tagelang alles überflutete. Die Reinerzer Weistritz und die Biele brachten ebenfalls große Wassermassen ins Neißetal. Die Felder waren zerwühlt, die Reste der Ernte weggeschwemmt, Sand und Steingeröll bedeckten die Wiesen, quer durch die Äcker verliefen metertiefe Gräben. Treibholz, Baumstämme und Hausrat aus den oberen Dörfern verursachten in den tiefer liegenden Orten erhebliche Schäden an Brücken und Häusern. Die furchtbaren Verwüstungen konnten bis zum Eintritt des Winters nicht behoben werden. Die Eisenbahnstrecke von Glatz bis Rengersdorf war stillgelegt, Telefonverbindungen wurden unterbrochen, die Zeitungen fielen mehrere Tage aus. In der Stadt Habelschwerdt war der schmale Holzstieg zu den Anlagen am Fuße des Florianberges weggerissen. Die schlimmsten Verwüstungen erlebte aber die Stadt Glatz. Der Pegel am Brücktorberg stieg auf 5 m, alle Geschäfte am Rossmarkt wurden überflutet, etliche Häuser stürzten ein (Abb. 2). In der Minoritenkirche stand das Wasser 1,8 m hoch bis zur Kanzel; es blieb etwa 1,4 m unterhalb der Hochwassermarke von 1783. Der Bahnhofsvorplatz war überflutet, die Reisenden mussten mit Kähnen fortgebracht werden. Die Königshainer Straße stand unter Wasser, die große Brücke war weggespült. Auf dem Holzplan, dem früheren Exerzierplatz, verwüsteten die Wasserfluten den dort stationierten Zirkus.17 Eindrucksvoll berichtete die Glatzer Zeitung „Grenzwacht“ am 25. August 1938 über die Wassernot18: Die Niederschläge, die seit drei Tagen über die Grafschaft Glatz ununterbrochen niedergehen, steigerten sich in der Nacht zum Donnerstag zu einem wolkenbruchartigen Regen, der stundenlang anhielt. Die Glatzer Neiße und ihre Nebenflüsse uferten in den Morgenstunden des Donnerstag aus. Das Hochwasser erreichte einen Stand, wie ihn die Grafschaft Glatz seit vielen Jahrzehnten nicht mehr erlebte. … Wehrmacht, Arbeitsdienst, Feuerwehr und Polizei sind eingesetzt, um Menschen aus be16 17
18
Vgl Gröger: Hochwasser, 1999, S. 3; Blaser: Hochwasserkatastrophen, 2009, S. 12. Vgl. F.M.: Wassernot, 1998; Schminder: Schreckensnacht, 1998, Zengler: Hochwasser/Neißen, 1978 Zitiert nach Güttler: Hochwasserkatastrophe, 1988, S. 75.
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Abb. 2: Hochwasser 1938. Verwüstungen in der Glatzer Roßstraße (Quelle: Archiv H. Blaser)
drohten Häusern zu bergen, um Vieh zu retten und den Verkehr um überflutete Straßen zu leiten. Das Wasser überflutete nicht nur den Holzplan (in Glatz), sondern auch die angrenzenden Straßen. Die Neiße, die sich in einen lehmgelben reißenden breiten Strom verwandelt hat, trägt die Ernte unserer Bauern, die wegen der ungünstigen Witterung nicht rechtzeitig eingefahren werden konnte, talwärts. … Das breite Neißetal zwischen Glatz und Eisersdorf gleicht einem riesigen See. … Bretter, Balken und Geräte werden von den reißenden Fluten fortgeschwemmt. … Ununterbrochen gehen Meldungen in der Schriftleitung der „Grenzwacht“ aus der Grafschaft und auch aus Breslau und aus dem übrigen Reich ein, wo sich inzwischen die Nachricht von dem großen Unwetter in der Grafschaft Glatz sehr schnell verbreitet hat. Auch bei der Polizei und der Feuerwehr herrscht Hochbetrieb. Wehrmacht und Arbeitsdienst auf Großkraftwagen und Motorrädern fahren durch die Straßen, um an besonders gefährdeten Punkten eingesetzt zu werden. Die SA (Sturmabteilung der NSDAP), SS (Schutzstaffel der NSDAP), NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps), NSFK (Nationalsozialistisches Fliegerkorps) rufen ihre Männer zusammen. Hochwasserschutz lautet der Befehl. Längst ist auch die Technische Nothilfe eingeschritten. Die Straßen von Glatz nach Habelschwerdt stehen größtenteils unter Wasser. Die Verbindung zwischen Glatz und Mariathal (Ausflugslokal am Fuß des Spittelberges) ist gesperrt, da das Wasser einen Teil der Straße aufgerissen hat. Die Brücke bei Giersdorf (am Fuße des Warthagebirges) wird abgebrochen. … Auch vom Königshainer Spitzberg (höchster Berg des Warthagebirges nordöstlich von Glatz) führt der Königshainer Bach große Wasserfluten herab, die an den hart am Wasser liegenden Grundstücken der Gemeinde Königshain große Schäden anrichten. … Kleinere Brücken wurden weggerissen. Viele Häuser stehen bis an die Grundmauern im Wasser. Durch das gewundene Engtal der Neiße schießen rauschend die Wasserfluten und haben, wie uns von Giersdorf gemeldet wird, die Wiesen unterhalb der höher gelegenen Bauernwirtschaften des Oberdorfes unter Wasser gesetzt. Das große Neißewehr war in den Morgenstunden nicht mehr zu sehen, nur eine Welle zeigte dem Ortskun-
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digen, wo man das Wehr zu suchen hat. Das zwischen Mühlgraben und Neiße gelegene Giersdorfer Elektrizitätswerk ist vollkommen von den Wassermassen umgeben, die bis an den Bahndamm und den Warthaer Tunnel einen einzigen großen See bilden. … Nach den aus dem Kreisgebiet Habelschwerdt vorliegenden Meldungen nahmen die Überschwemmungen besonders bedrohlichen Charakter in Niederlangenau und Grafenort an. … Hier stand das ganze Niederdorf unter Wasser. … Auch aus Bad Landeck wird das größte Hochwasser seit 1903 gemeldet. Die Freiwillige Feuerwehr ist seit Mitternacht ununterbrochen tätig, um bei der Bergung von Vieh und Hausgerät Hilfe zu leisten. Die Biele ist über zwei Meter gestiegen. … Die Wassermassen haben die Straßen von Landeck an vielen Stellen vollständig zerrissen. Der Wasserspiegel im Mohretal–Staubecken Seitenberg bei Landeck ist in der Zeit von gestern 17 Uhr bis Mitternacht auf sechs Meter und bis heute früh 7 Uhr auf 10,5 Meter gestiegen. Am 2.9.1938 las man in der „Grenzwacht“ einen weiteren umfangreichen Bericht über die andauernde Hochwasserflut19: In Glatz gießt es in Strömen. Seit mehreren Tagen geht unaufhörlich der Regen nieder. In den Nachmittagsstunden steigert er sich zum Wolkenbruch. Das Wasser der Neiße, das tobend schon durch die Straßen der niederen Altstadt schießt, schwillt immer höher an. Oben am uralten Brücktorberg stehen die Glatzer Einwohner und fragen sich, wann dieser Regen endlich nachlassen wird. Die Not und die Angst steigen von Stunde zu Stunde. Die Nacht bricht herein. Die trostloseste Nacht, die die Grafschaft seit vielen Jahrzehnten erlebte. Das Hochwasser spült schon längst über sämtliche Flußübergänge. … Dabei werden die Licht–, Gas– und Wasserleitungen zerrissen. Durch die völlige Dunkelheit, die nun eintritt, tönt lauter und beängstigender das Rauschen der hochgehenden Flut.… Mit Bangen sahen die Einwohner der Stadt dem Unheil entgegen, das die Nachtstunden bringen mussten, da der unaufhörlich niedergehende wolkenbruchartige Regen ein weiteres Ansteigen der Neißefluten über den Höchststand der vorigen Hochwasserkatastrophe erwarten ließ. … Dem heldenmütigen und opferbereiten Einsatz von Wehrmacht, Parteigliederungen, Reichsarbeitsdienst und der Technischen Nothilfe sowie aller im Katastrophendienst eingesetzten Männer ist es zu verdanken, dass die schwersten Katastrophen wenigstens verhindert wurden. Zur Zeit ist der Schaden in Stadt und Land noch nicht zu übersehen, da noch in den Morgenstunden von allen Seiten alarmierende Nachrichten eintreffen.… Oben im Rathause liegt das Hauptquartier des Katastrophendienstes. Ununterbrochen läutet der Fernsprecher. Zwischen durchnässten Männern, Politischen Leitern, Soldaten, zwischen kommenden und gehenden Feuerwehrmännern, Polizeibeamten und Männern von der Technischen Nothilfe sitzen frierende Menschen, die aus bedrohten Häusern gerettet wurden. Sie werden in das städtische Krankenhaus gebracht, wo man zahlreiche Notlager eingerichtet und für ihre Verpflegung gesorgt hat. Unten am Brücktorberg, wo der reißende Strom sich zwischen den engen Straßen am Rossmarkt ein neues Bett ufert, spielt sich zur Zeit das tragischste Kapitel der furchtbaren Katastrophe ab. Das Wasser jagt aus der Minoritenstraße nach der Hermann–Stehr–Brücke und in die Roßstraße hinein, es teilt sich und stößt sich vor 19
Zitiert nach Herzig/Ruchniewicz: Herrgottsländchen, 2003, S. 572.
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dem alten Giebelhaus des Optikers Donkel. … Donnernd kracht die Vorderfront des Hauses zusammen. Eine riesige schwarze Wunde mit einem Gewirr von Dachsparren, Mauertrümmern, zerfetzten Fenster– und Türrahmen ist mitten in dem Haus entstanden. … Gegen 4 Uhr morgens beginnt das Wasser langsam zu fallen. Lehmig gelb wälzt die Neiße an zerstörten Häusern, vernichteten Brücken und zerrissenen Straßen vorbei ihre Fluten durch die Stadt, in der in einer Nacht mehr Existenzen vernichtet wurden, als in Jahren wieder aufgebaut werden können. Diese Wasserflut beruhte auf einer seltenen Wettersituation. Eine dramatische Verwirbelung von extrem kalter mit schwüler Luft führte zu überaus heftigen Regenfällen in den Sudeten, Beskiden und Karpaten. Auslöser war ein Hochdruckgebiet über Westeuropa, das extrem kalte Luftmassen aus der Polarregion über Deutschland und Frankreich nach Italien führte. Hier durchmischten sich die kalte Polarluft und die warme Mittelmeerluft zu einem Tief. Es driftete in Richtung Ostalpen und zog dabei besonders heiße und feuchte Luft aus Griechenland an. Beim Überqueren der Mittelsudeten wurde die extrem feuchte Luft schockgekühlt und ihre Wasserfracht ging als tagelanger Regen Ende August 1938 nieder. Im Schneegebirge kam in den wenigen Tagen ein solcher Regen herunter, wie sonst in einem halben Jahr. Diese überaus umfangreichen Regenmassen konnten selbst von den großen Glatzer Waldgebieten nicht gepuffert werden. Innerhalb weniger Stunden waren die Böden natürlich versiegelt und die Niederschlagswasser flossen oberirdisch zu Tal.
8. Schluss Der Glatzer Bergkessel ist aufgrund seiner besonderen geographischen Gestalt über die Jahrhunderte sehr häufig von Überschwemmungen betroffen gewesen. So schnell die schrecklichen Fluten sich auch zurückzogen, so lang anhaltend verblieben die Schäden. Durch wasserbauliche Maßnahmen konnten die Schäden der deutschen Bewohner in den letzten 100 Jahren vor 1945 teilweise gemindert werden. Das traditionelle Wissen um diese ständig drohende Naturkatastrophe fehlte den Polen, die nach 1945 in das Glatzer Bergland einzogen. So wurden sie im Juli 1997 von einem sehr starken Hochwasser total überrascht, das auch weite Teile des oberen und mittleren Oderverlaufes in Polen, deutsch-polnische Gebiete des Oderbruchs sowie weite Teile im Nordosten von Tschechien erfasste. Betroffen waren im Glatzer Bergland vor allem das Biele- und Neißetal. Berichte und Bilder der Medien aus den bedrohten Gebieten sind noch allen geläufig.20 Auch im Juli 1998 wurde das Glatzer Bergland von einem schweren Hochwasser heimgesucht. Nach 14 Stunden Dauerregen war die Reinerzer Weistritz über die Ufer getreten. Eine 3 m hohe Flutwelle überschwemmte die Kurorte Bad Reinerz und Bad Altheide. Auch in Rückers traten Schäden auf. Häuser, Brücken und Wege wurden zerstört und weggespült, 300 Familien waren von den Folgen der Verwüstungen betroffen. Acht Menschen fanden in den Fluten den Tod.21 20 21
Vgl. Die Schlacht an der Oder, in: Der Spiegel, Heft 31/1997. Vgl. Güttler/Wenzel: Neue Hochwasserkatastrophe, 1998, und Schumacher: Hochwasser, 1998.
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Erst diese bitteren Erfahrungen der jüngsten „Jahrtausendfluten“ lösten eine neue, langfristig angelegte Vorsorge der polnischen Behörden aus. Die Beseitigung der jüngsten Schäden erfolgte von Land zu Land mit unterschiedlicher staatlicher Intensität und privater Hilfsbereitschaft, denn Hochwasser kennen keine Grenzen. Es war erfreulich, dass die spontane Hilfsbereitschaft deutscher Landsleute die Geschädigten in Polen und Tschechien und insbesondere in der Glatzer Heimat bedachte.
Bemühungen um die Wiederherstellung des Kreises Neurode 1938/1939 Von Horst–Alfons Meißner Die Preußische Landkreisreform von 1932
A
m 1. Oktober 1932 trat die preußische Landkreisreform in Kraft, in deren Zuge
viele Landkreise aufgelöst wurden, um Verwaltungskosten zu sparen. Protest gegen Behördenverlegungen und Traditionsbruch wies die kommissarische Preußische Regierung zurück, auch Vorwürfe, die Reform diene insbesondere den politischen Interessen der SPD und des Zentrums. Bis auf kleine Korrekturen blieb es deshalb dabei.1 Die Landkreisreform veränderte die politische Landkarte Schlesiens, denn allein in Niederschlesien fielen ihr elf Landkreise zum Opfer, die in dieser oder ähnlicher Form – ganz im Gegensatz zu anderen Provinzen – oft auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblicken konnten.2 Aufgelöst wurde dabei auch der seit 1854 bestehende Kreis Neurode, einer der drei Kreise in der alten Kastellanei und späteren Grafschaft Glatz, die nach der Angliederung Schlesiens an Preußen geschaffen wurden. Die Zusammenlegung mit dem Nachbarkreis ergab einen Großkreis mit 125.000 Einwohnern, einen der größten Preußens, und Kreisstadt wurde natürlich nicht Neurode, sondern Glatz, das alte Zentrum des Gebirgskessels. Der Stadt Glatz brachte die Kreisreform einen Bedeutungsgewinn, und rund 140 Beamte, Angestellte und andere Amtsträger wechselten von Neurode in den Großkreissitz, wo dadurch die Wohnungsnot wuchs.3 Übernehmen musste der neue Kreis Glatz neben Tausenden arbeitsloser Neuroder Berg- und Fabrikarbeiter auch den Schuldenberg Neurodes. Der war zum größten Teil durch den Bau eines defizitären Kreiswasserwerks – das eingesetzte Kapital verzinste sich jährlich nicht einmal mit 1 % – und die Übernahme einer Bürgschaft Neurodes für das ebenfalls unwirtschaftliche Wasserwerk in Silberberg entstanden. Die Schulden des neuen Kreises beliefen sich 1933 auf 5.420.000 RM mit Zins- und Tilgungslasten von 450.000 RM pro Jahr, die den Kreis zusammen mit hohen Fürsorgelasten so überforderten, dass er seinen Haushalt nur mit hohen Staatszuschüssen ausgleichen konnte.4 Nach Landrat Dr. Horstmann hatte der Kreis, der die Belegschaft des Landratsamtes nach der Fusion nur um 13 Personen verringern konnte, am 1. April 1934 noch 3.056.000 RM Schulden, die sich 1935 auf 2.726.000 RM verringert hatten.5 Die Einstellung des neuen Großkreises auf die veränderte Situation und seine Konsolidierung litt sicher auch unter dem ständigen Wechsel seiner Landräte während der NS-Zeit, wie folgende Übersicht erkennen lässt: 1 2 3 4 5
Schlesische Tagespost (im Folgenden ST) v. 11.8.1932. ST v. 25.11.1932. Schlesische Zeitung v. 30.12.1938. BA Berlin, R 1501, Nr. 140 674. Horstmann: Kreis Glatz, in: Grenzwacht v. 25./26.1.1936.
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Name Dr. Franz Peucker
Amtstätigkeit ab 1920
Dr. Artur Joachim
3.9.1933 (vertretungsweise) 30.1.1934 (bis 16.11.1936) 15.1.1937 (bis 1941/1945)
Dr. Georg Horstmann Heinrich Klosterkemper
Vorherige Tätigkeit Patschkau (Bürgermeister) Breslau (Regierungsassessor) Frankenstein (Landrat) Unna (Landrat)
Geburtsjahr 1881 1886 1894 1902
Dr. Peucker war durch jahrelange Tätigkeit in diesem Metier ein Routinier, dem man am ehesten zutrauen konnte, die Probleme des Kreises zu lösen, seine jungen NS-Nachfolger hatten auf dem Gebiet keine oder recht wenig Erfahrung. Besonders hart wurde die Stadt Neurode durch den Verlust des Kreissitzes getroffen,6 die – wie ihr Umland – nach 1918 sowieso schon wirtschaftlich schwer zu kämpfen hatte. Man lastete die ökonomischen Probleme den Folgen des Versailler Vertrags an, denn die neu entstandene Tschechoslowakei schloss ihre Grenzen und unterband dadurch den bisherigen umfangreichen Kohlenabsatz in die Länder der alten Donaumonarchie. Der Zentralitätsverlust Neurodes ging einher mit Betriebsschließungen, die Stadt und Bezirk wirtschaftlich weiter schwächten. Es hagelt Proteste gegen die Kreisauflösungen, schrieb die „Schlesische Tagespost“ am 6. Dezember 1932 – Neurode aber rührte sich offenbar nicht! Auch Neurode protestiert jetzt, titulierte die „Schlesische Tagespost“ am 30. Dezember 1932 spöttisch, weil der Magistrat alle politischen Parteien in einem Schreiben aufgefordert hätte, sich endlich für die Wiederherstellung des Kreises Neurode einzusetzen. Was die Obrigkeit bescherte, nahm man hin, wenn auch murrend. Nur wenige Wochen nach der Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten fand im Neuroder „Preußischen Hof“ eine große Versammlung statt, auf der NSDAP-Vertreter Paul Franke7 aus Liegnitz unter dem Jubel der Besucher die Eröffnung der Wenceslaus-Grube in Aussicht stellte. Schließlich verkündigte er noch, dass auch die Wiederherstellung des alten Kreises Neurode so gut wie gewiss sei.8 Und auch das nahm man in Neurode mit Hoffnung zur Kenntnis. Ersteres wurde verwirklicht, die Kreiswiederherstellung nicht. Denn im September 1933 verkündete die Presse, dass die Kreisreform abgeschlossen sei, nachdem man nur den Großkreis Grünberg wieder aufgelöst habe.9 Die neue NS-Regierung machte sich also – nach dieser Korrektur – die Entscheidung der Preußischen Regierung der Weimarer Zeit zu eigen. 6
7
8 9
Ein Indiz dafür ist, dass die Zahl der Telefonanschlüsse in Neurode von 429 (1930) auf 329 (1933) abnahm. Vgl. Wittig: Neurode, S. 500. Franke, Paul, NS-Kreisleiter in Liegnitz, *27.4.1892 in Breslau, †22.5.1961 in Northeim. Stadtrat in Liegnitz 1929–1933, Mitglied des Preuß. Landtags 1928–1933, Reichstagsabgeordneter 1933–1945, u.a. Stoßtruppredner für die Reichspropagandaleitung der NSDAP. Wikipedia, 17.11.2011. ST v. 20.4.1933. ST v. 10. u. 12.9.1933.
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Neurode stagniere seit der Kreisreform, ja, es habe der Niedergang von Neurode einen beängstigenden Umfang angenommen, schrieb Gerhart von Schulze-Gävernitz, Gutsbesitzer in Krainsdorf bei Neurode und Professor der Nationalökonomie, am 6. Januar 1939 an den Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht. Und weiter: Auch der Wiederaufbau unserer nationalen Wirtschaft seit 1933 hat bisher zugunsten von Neurode keine grundsätzliche Wendung zum Besseren bringen können.10
Die Idee eines Gutsbesitzers aus Krainsdorf Nach dem Münchener Abkommen vom 30.9.1938 wurde das Sudetenland dem Deutschen Reich angegliedert und damit eine neue Lage geschaffen. Die Kreise Glatz und Habelschwerdt waren nicht mehr Grenzkreise und nur noch durch Verwaltungsgrenzen vom deutschsprachigen Sudetenland getrennt. So konnte sich der rege Grenzverkehr, der bis zum Ende des Ersten Weltkriegs hier herrschte, langsam wieder entwickeln. Dr. Gerhart von Schulze-Gävernitz, Kenner der wirtschaftlichen Situation, hatte angesichts des Anschlusses des Sudetenlandes ans Reich eine Idee zur Wiederherstellung des Kreises Neurode: Ihm schwebte vor, die Reform nicht einfach rückgängig zu machen, sondern den alten Kreis Neurode ohne seine südlichen Teile, die beim Kreis Glatz bleiben sollten, mit dem nordwestlich gelegenen „Braunauer Ländchen“ jenseits der alten Grenze zu einem neuen Kreis Neurode-Braunau zu verbinden. Kreissitz sollte Neurode werden. Am 6. Januar 1939 wandte er sich in alter Verbundenheit mit diesem Anliegen per Brief an den Reichsminister und Reichsbankpräsidenten Dr. Hjalmar Schacht, dem die folgenden Passagen entnommen sind: Nach dem außerordentlichen Aufstieg des Vaterlandes von 1933–1938 wäre es nun heute das Gegebene, die verfehlten Maßnahmen des Jahres 1932 rückgängig zu machen und den jetzigen ungesund großen Kreis Glatz mit nicht weniger als 125.000 Seelen, dessen nördlicher Teil nicht weniger als 40 km und dazu noch durch gebirgiges Gelände von der Kreisstadt entfernt ist, wieder in seine früheren Hälften zu teilen, wie sich dieselben in früheren Generationen bewährt hatten. Und fährt fort: Die außerordentlichen Erfolge der Politik des Führers, die im vergangenen Jahre nun auch zur Angliederung des Sudetenlandes führten, haben jedoch inzwischen die Voraussetzungen zu einer viel großzügigeren und weitsichtigeren Lösung geschaffen. Als nicht homogen mit dem Sudetengau verbundenes Anhängsel gehört zu dem neu angegliederten Reichsgebiet das sogenannte „Braunauer Ländchen“ mit ca. 35.000 Einwohnern, das sich wie ein breiter Keil in den nördlichen Teil des ehemaligen Neuroder Kreises einschiebt. Eine Vereinigung dieses „Braunauer Ländchens“ mit dem nördlichen Hauptteil des ehemaligen Kreises Neurode zu einem neuen Kreis mit der Kreisstadt Neurode, während südliche Teile des ehemaligen Kreises Neurode beim Kreise Glatz verbleiben sollten, würde zwei besonders vorteilhaft arrondierte Kreise von je etwa 80.000 Seelen schaffen ... Der heutige Riesenkreis Glatz 10
Schulze-Gävernitz an Schacht v. 6.1.1939, in: BA Berlin, R 1501, Nr. 140 674 (Kr. NeurodeBraunau 1939).
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Die Karte zeigt in Schraffur das „Braunauer Ländchen“ um das Städtchen Braunau als Ergänzungsgebiet für einen neuen Kreis Neurode-Braunau, der auf der Skizze mit gestrichelter Linie angedeutet ist.
wäre auch nach Ansicht des Reichsinnenministeriums zu groß, um eine „volksnahe“ Verwaltung zu gewährleisten.11 Gerhart von Schulze-Gävernitz war zu Beginn des Jahres 1939 trotz allen Terrors offensichtlich sehr von den Erfolgen des „Führers“ beeindruckt – wie viele, auch hoch gebildete Menschen im damaligen Deutschland. Nur das strikte Veto der Sieger hatte ja in Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts nach 1918 verhindert, dass sich die Sudetendeutschen dem besiegten Reich anschlossen. Schulze-Gävernitz’ Behauptung, es sei Ansicht des Reichsinnenministeriums, dass der Kreis Glatz für eine volksnahe Verwaltung zu groß wäre, war gewagt und zudem unklug. Sie hätte ja bedeutet, wäre sie zutreffend gewesen, dass sich das Ministerium von der eigenen Kreisreform distanzierte und zugegeben hätte, dass sie in Teilen fehlerhaft war – und das hätte weiteren Änderungswünschen Tür und Tor geöffnet. Diese Meinung wurde im Innenministerium deshalb keineswegs vertreten, jedenfalls nicht allgemein. Ministerialrat Dr. Hoffmann z. B., zuständig für die Region, hatte beim umfangreichen Schriftverkehr zur Wenceslaus-Grube und der damit verbundenen Bürgschaftsübernahme durch den Kreis Glatz niemals erkennen lassen, 11
ebd.
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dass er diesen für zu groß hielte. Der entscheidende Ministerialbeamte teilte also von Schulze-Gävernitz’ Ansicht nicht, sie hätte bei der Ministeriumsleitung ja auch Zweifel an seiner Loyalität hervorrufen müssen. Beide Gebietsteile, auch die Stadt Braunau, fuhr Schulze-Gävernitz fort, wären Nutznießer einer solchen Verbindung. Über Generationen haben engste Beziehungen unter der Bevölkerung beider Gebiete bestanden, die in beiden Teilen vorhandenen Spinnereien, Webereien, Kohlengruben und Steinindustrien sind einstens nach einheitlichen Gesichtspunkten der gegenseitigen Ergänzung entwickelt worden. Durch die Tatsache der Tschechei waren dieselben von 1918–1938 zerstört. Alles spricht jedoch dafür, heute an die alte Tradition durch Bildung eines neuen Kreises Neurode-Braunau ... anzuknüpfen. Mir ist bekannt, dass zur Zeit bei den zuständigen Berliner Stellen entscheidende Verhandlungen geführt werden, die sich mit diesen Fragen befassen ... Daher erlaube ich mir ... noch darauf hinzuweisen, dass der Landrat des Kreises Glatz, der doch gewisse Opfer zu bringen hätte, durchaus Verständnis für die Bestrebungen von Neurode hat. Er wäre als bester Sachkenner in dieser Frage … mit heranzuziehen. Der Kreis Glatz und der neue Kreis Neurode-Braunau wären dann mit je etwa 80.000 Einwohnern mittelgroße Verwaltungseinheiten und lebensfähig.12 Das „Braunauer Ländchen“ war deutsch besiedelt und seit Jahrhunderten bis zum Ende des Ersten Weltkriegs kulturell und wirtschaftlich eng mit der Grafschaft verbunden. Gerhart von Schulze-Gävernitz schickte seine Eingabe an Schacht mit der im Allgemeininteresse meiner schlesischen Heimat liegenden Bitte, die vorerwähnten Bestrebungen zu unterstützen und sich dafür befürwortend zu verwenden. Es deutet einiges darauf hin, dass der Vorstoß mit zuständigen Stellen in Neurode und Glatz abgesprochen war, so auch mit dem Glatzer Landrat Heinrich Klosterkemper. Sondierungen im Innenministerium sind aber wohl nicht vorgenommen worden.
Die Absage an einen Kreis Neurode-Braunau Tatsächlich ließ Schacht den Brief des alten Professors der Nationalökonomie Herrn Geheimrat Dr. G. v. Schulze-Gävernitz durch Reichsbankdirektor Hermann Waldhecker umgehend ans Innenministerium weiterleiten, wo ihn natürlich der zuständige Ministerialrat Hoffmann auf den Tisch bekam und zwischen dem 16. und 26. Januar 1939 – also außerordentlich schnell – bearbeitete. Hoffmann ließ seine Antwort nur von einer weiteren Abteilung mitzeichnen, Indiz dafür, dass die Angelegenheit dem Innenministerium unwichtig war, der Ministerialrat sich aber absichern wollte. Seinen Antwortentwurf, gerichtet an den Herrn Reichsminister und Reichsbankpräsidenten Dr. Hjalmar Schacht, war recht kühl abgefasst und lautete in den entscheidenden Passagen: Der Reichsminister des Innern, Berlin, [16/21.] Januar 1939 Betr.: Neubildung eines Landkreises Neurode – Braunau (Schreiben vom 12.1.1939) Auf die mir durch Herrn Reichsbankdirektor Waldhecker zugeleitete Eingabe des Prof. Dr. G. von Schulze-Gävernitz wegen Neubildung eines Landkreises Neu12
ebd.
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rode–Braunau teile ich erg. mit, dass dieser Anregung im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht näher getreten werden kann. Abgesehen von den grundsätzlichen Bedenken, die ganz allgemein gegen eine Verkleinerung der z. Zt. bestehenden Landkreise sprechen, steht der Verwirklichung des Gedankens die Tatsache entgegen, dass vorläufig eine Vereinigung sudetendeutschen Gebiets mit schlesischem Gebiet nur bei zwingendster Notwendigkeit ins Auge gefasst werden kann. Derartige Voraussetzungen können im vorliegenden Falle jedoch nicht anerkannt werden. Die auch mir bekannten früheren engen Beziehungen zwischen dem ehemaligen Landkreis Neurode und dem sog. Braunauer Ländchen können sich jetzt nach Wegfall der bisher trennenden Landesgrenze wieder ungehindert auswirken, so dass das Neuroder Gebiet auch ohne eine verwaltungsmäßige Vereinigung mit dem Braunauer Ländchen ... eine wirtschaftliche Belebung und finanzielle Stärkung erfahren wird.13 Das war eine deutliche Absage. Der NS-Staat hatte zu diesem Zeitpunkt nicht vor, Schlesien und das Sudetenland durch eine Neugliederung zu verzahnen.
Zur Person des Gutsbesitzers aus Krainsdorf Die rasche Beantwortung der Eingabe deutet aber daraufhin, dass der Briefschreiber auch höheren Orts bekannt war und geachtet wurde. Wer war der Gutsherr aus dem Neuroder Bezirk? Gerhart [auch Gerhard] von Schulze-Gävernitz,14 Professor der Volkswirtschaft, war finanziell unabhängig und bekannt mit vielen Größen seiner Zeit. Er wurde am 25. Juli 1864 in Breslau geboren, erhielt eine humanistische Bildung und studierte an mehreren Universitäten Jura und Volkswirtschaft. G. v. Schulze-Gävernitz promovierte zum Dr. jur und Dr. phil. und schloss die juristische Ausbildung im Elsass ab. 1893 wurde er Professor in Freiburg, hielt aber auch Vorlesungen an der Hochschule für Politik in Berlin. Von 1912 bis 1918 saß er für den Wahlkreis Baden als Vertreter der Fortschrittlichen Volkspartei (FVP) und von 1919 bis 1920 für die Deutsche Demokratische Partei (DDP) im Reichstag. Von 1919 bis 1920 war er auch Mitglied der Nationalversammlung in Weimar. Er soll es gewesen sein, der die deutsche Regierung 1916 über den Völkermord an den Armeniern informierte.15 1924 – und auch später – ging er in die USA, um Gastvorlesungen und Vorträge über die Situation Deutschlands zu halten. 1926 war G. v. Schulze-Gävernitz der erste deutsche Beamte im Völkerbund. Nach einem Zusammenstoß mit NS-Studenten an der Universität Freiburg 1932 zog er sich auf sein Gut in Krainsdorf bei Neurode zurück. 1935 wechselte er die Konfession, trat den Quäkern bei und soll fortan der einflussreichste Quäker in Deutschland gewesen sein. G. v. Schulze-Gävernitz hat zahlreiche Beiträge zu verschiedenen Themen, auch religiösen, veröffentlicht und starb am 10. Juli 1943 in Krainsdorf.
13 14
15
ebd. Bernet: Schulze-Gävernitz und Borchardt: Schulze, in: Wikipedia, und Schumacher, M. (Hg.): M.d.R, Die Reichstagsabgeordneten, S. 521. Vgl. Wikipedia: Gerhard v. Schulze-Gävernitz, (Abruf am 16.1.2011).
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Prof. Dr. Gerhart v. Schulze-Gävernitz war demnach alles andere als ein Nationalsozialist. Er war auch kein rückwärtsgewandter Konservativer, wie seine Idee zu einem Kreis Neurode-Braunau zeigt, denn sie nutzt Tradition als Sprungbrett für Neues. Er war eher ein gebildeter und weltgewandter Patriot im guten Sinn, der Hitlers Erfolge bis 1938 einzig aus dem Blickwinkel einer Revision des Versailler Friedensdiktats begrüßte – und befand sich damit in guter Gesellschaft. Der Gutsherr setzte sich sachkundig für seine schlesische Heimat und die Grafschaft ein und musste die Vertreibung daraus nicht mehr erleben. Ob er Kontakt zu Widerstandskreisen hatte, ist unbekannt.
Unternehmen „RIESE“ 1943–1945. Bau eines neuen Führerhauptquartiers im schlesischen Eulengebirge* Von Horst-Alfons Meißner 1. Gesamtanlage Einführung
U
nter dem Decknamen „Riese“ begann das NS-Regime, dessen Zentrale zu der
Zeit Rastenburg in Ostpreußen war, ab 1. November 1943 im niederschlesischen Eulengebirge bei Waldenburg mit dem Bau eines neuen Führerhauptquartiers. Es war eines von mehr als 20 Bauwerken dieser Art, sollte aber das mit Abstand größte von allen werden. Die Anlage entstand in einem Areal, das etwa 15 km lang und durchschnittlich 4 km breit war und mithin rund 60 km² umfasste. Sie blieb unvollendet. Die Bewohner des Baugebiets kannten weder den genauen Zweck der Anstrengungen, in den nur ein kleiner Personenkreis eingeweiht war, noch den heute bekannten Tarnnamen „Riese“. Aber sie waren damals wegen der hektischen Bauarbeiten und des Elends der Zwangsarbeiter beunruhigt und in Sorge. Die kurze Bauzeit, nämlich ganze anderthalb Jahre, und vor allem die anschließende Vertreibung der deutschen Bevölkerung haben die Erinnerung an die Ereignisse im Eulengebirge überdeckt, und so sucht man auch in Ullmanns Schlesien-Lexikon oder in Bernatzkys Lexikon zur Grafschaft Glatz1 vergebens etwas darüber. Jahrzehnte nach Ende der Bauarbeiten müssen deshalb Konzepte und Einzelheiten des Großprojekts mühsam recherchiert werden. Was also ist über „Riese“ bekannt, über ein auch zu damaliger Zeit geradezu größenwahnsinniges Unternehmen? Die Entscheidung für den „Riesen“-Bau fiel im September 1943 in Rastenburg nach der gescheiterten Offensive „Zitadelle“ zur Beseitigung des russischen Frontbogens bei Kursk, aber noch vor der Landung der Alliierten in der Normandie. Zeitgenössische Begründungen für das gigantische Unternehmen sind nicht überliefert, wohl aber muss Ostpreußen schon zu dieser Zeit als so gefährdet angesehen worden sein, dass es geboten schien, die oberste Befehlszentrale weiter ins Reichsinnere zu verlegen. Die russische Offensive ab 22. Juni 1944 mit dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte bestätigte die Befürchtungen. Standorterkundungen gingen solchen Entscheidungen voraus, doch fehlen Begründungen für den abgelegenen Bauplatz. Man darf aber davon ausgehen, dass neben geeigneter geologischer und topographischer Beschaffenheit des Geländes −− die Sicherheit vor Luftangriffen in einem dicht bewaldeten Bezirk mit Eisenbahntunnels zum Abstellen längerer Züge,
* Überarbeitete Version des Aufsatzes, der in den AGG-Mitteilungen Nr. 8 (2009), S. 15–37, erschienen ist.
1
Bernatzky: Lexikon Grafschaft Glatz, u. Ullmann: Schlesien-Lexikon.
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Abb. 1: Unternehmen „Riese“ 1943–1945 – Lageplan
−− eine gute Verkehrsanbindung durch Bahn und Straßen sowie −− eine gesicherte Energieversorgung, hier durch Kohle, entscheidend für die Platzwahl war. Größte Bedeutung kam dem Luftschutz zu, denn ein Großteil der geplanten Anlage bestand aus oberirdischen Bauten, die sich nur in einem geeigneten Gelände tarnen ließen.
unternehmen
„ r i e s e “ 1943 – 1945
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Nicht ersichtlich ist, wo man in dieser Gebirgszone den erforderlichen größeren Flugplatz bauen wollte. Nach Seidler/Zeigert fehlte dem neuen Führerhauptquartier auch der Anschluss an ein leistungsfähiges Nachrichtennetz, das sich in dieser Zeit des Materialmangels nicht mehr in der notwendigen Qualität schaffen ließ.2 Die Ausmaße des neuen Führerhauptquartiers und der geplante Aufwand zeigen aber, dass man sich im Eulengebirge für längere Zeit einrichten wollte und den Krieg noch nicht verloren gab.
Bauplanung und Bauziele Die Gesamtplanung des riesigen Bauvorhabens lag in den Händen von Herbert Rimpl (1902–1978), der zu dieser Zeit u.a. für Pläne zur Verlagerung von Großbauten unter die Erde verantwortlich war und dessen Stab, oder ein Teil davon, in der Berliner Klosterstraße 80/82 arbeitete.3 Die Pläne für das Unternehmen „Riese“ sind bis heute verschollen. Sie sollen bei Kriegsende vernichtet worden sein, doch ist nicht auszuschließen, dass Bauzeichnungen oder Teile davon durch die Rote Armee sichergestellt und nach Moskau gebracht werden konnten.4 Das Fehlen des Gesamtplans gibt Anlass zu Spekulationen über Sinn und Zweck der Anlage, vor allem auf polnischer Seite, wie man leicht bei einer Besichtigung der touristisch erschlossenen Baustelle Dorfbach, aber auch aus polnischen Veröffentlichungen erfahren kann. Sicher ist einmal, dass die Reichsführung die Pläne mehrfach änderte und zum anderen, dass sie strikter Geheimhaltung unterlagen. Die Zeichnungen und Pläne ... werden durch die OBL [Oberbauleitung] bestellt und sind aus Geheimhaltungsgründen spätestens nach Durchführung der Arbeiten zurückzureichen, steht in Vertragsunterlagen der Organisation Todt [im folgenden OT] für Firmen, die Aufträge für „Riese“ übernahmen.5 Die Baufirma Dübener, Berlin, die eine Strafe wegen Bauverzögerung zahlen sollte, begründet ihre Terminprobleme in einem Brief u.a. auch so: Die Pläne für die Bauarbeiten sind ... teilweise sogar erst nach Inangriffnahme der jeweiligen Arbeiten ausgehändigt worden.6 Was wirklich geplant und gebaut wurde, wissen wir dennoch, und zwar hauptsächlich aus dem Nachlass Siegfried Schmelchers (1911–1991), der sich im Koblenzer Bundesarchiv7 befindet. Schmelcher war Hauptbauleiter in der Berliner OT-Zentrale und seit 1939 verantwortlich für den Bau der Führerhauptquartiere. Unter dem Datum des 17. November 1944 verfasste er als „Geheime Reichssache 91/44“ eine Bestandsaufnahme über die „Quartiere des Führers und der Wehrmachtsteile“, die die 2 3
4 5 6 7
Seidler/Zeigert: Führerhauptquartiere, S. 70 Nach telefonischer Auskunft von J. Sollich, Berlin, soll Rimpls Stab 700 Personen umfasst haben. Heckenthaler: Sonderbauprojekt „Riese“, S. 3. BA Berlin, Bestand R 13 VIII, Vertragsformulare der OT, S. 18. ebd., Brief der Fa. Dübener v. 12.10.1944. BA Koblenz, Nachlass Schmelcher, Bestand N 1514. Daten über die von der OT gebauten Quartiere des Führers und der Wehrmachtsteile, gRs. Nr. 91/44 v. 17.11.44, 5 Ausfertigungen, 5. Ausfertigung.
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OT gebaut hatte, vermutlich für eine Besprechung bei Hitler, von der nach Kriegsende ein Exemplar in seinem Besitz blieb. Der spezielle „Riese“–Teil ist betitelt: Riese Lage: Eulengebirge Bauzeit: 1. Nov. 43 bis Aug. 45 Anlagen: für FHQ, OKH, OKM (eingestellt), OKL, RFSS und RAM Bauart: bombensichere Arbeits- und Wohnräume für alle Quartiere mit Ausnahme der Unterkünfte für Stabshelferinnen und Wachmannschaften, im Bau – Geheime Reichssache Nr. 92/44, 6 Ausfertigungen, 6. Ausfertigung, aufgestellt 17.11.1944, Schmelcher Geplant waren danach zunächst ober- und unterirdische Anlagen für das Führerhauptquartier (FHQ), für das Oberkommando des Heeres (OKH), für das Oberkommando der Luftwaffe (OKL), für den Reichsführer der SS (RFSS) und für das Reichsaußenministerium (RAM). Die Unterkünfte für das Außenministerium baute man ca. 20 km weiter nordwestlich im Schloss Fürstenstein. Es bleibt hier weitgehend außer Betracht. Das Oberkommando der Marine (OKM) wurde ausgeklammert. Schmelchers Unterlagen informieren in Tabellen und Graphiken knapp über das Gesamtprojekt, geben aber keinen Aufschluss über Einzelheiten des lokalen Geschehens. Befragungen von Zeitzeugen und die „Archäologie“ vor Ort müssen deshalb die Überlieferungslücken schließen, und Letztere ist vor allem Feld polnischer Wissenschaftler, denen das ausgedehnte Baugebiet lange Zeit allein zugänglich war.8
Dimensionen des Unternehmens „Riese“ Das neue Führerhauptquartier entstand im westlichen Eulengebirge, das meist aus hartem Gneis und dem Höhenkomplex aus Mittelberg (623 m), Ramenberg (713 m), Säuferhöhen (707 m), Schindelberg (716 m) und Wolfsberg (811 m) besteht.9 Umringt wurde das ellipsenförmige Baugebiet von den Siedlungen Bad Charlottenbrunn, Erlenbusch, Tannhausen, Blumenau, Wüstegiersdorf, Dörnhau und Ludwigsdorf entlang der Reichsstraße 152 und der Bahnlinie Waldenburg–Glatz sowie den Orten Hausdorf (bei Charlottenbrunn), Jauernig, Wüstewaltersdorf an der vollspurigen Kleinbahn und weiter Dorfbach, Schlesisch Falkenberg, Gläzisch Falkenberg und Eule im Zuge der I A.-Straße (Kreisstraße).10 (s. Abb. 1) Die Baumaßnahmen spielten sich demnach vor den Augen einer großen Öffentlichkeit ab und konnten deshalb nicht geheim bleiben, aber die damaligen Bewohner erfuhren nicht, worum es wirklich ging, so perfekt war die Verschwiegenheit der Eingeweihten.
8 9 10
Garba: Riese. Lepsius; Geologische Karte, Sect. 20: Görlitz, Sect. 21: Breslau. Karte des Deutschen Reiches 1: 100 000, Großblatt 116: Glatz-Münsterberg und Topographische Karte 1: 25 000, Nr. 5364 Wüstegiersdorf, Nr. 5265 Bad Charlottenbrunn.
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„ r i e s e “ 1943 – 1945
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Die Baukosten für „Riese“ wurden auf 130 bis 150 Millionen RM geschätzt.11 Nach der Ursprungsplanung sollte das neue Hauptquartier Platz für 13.013 Personen bieten, und darüber hinaus waren im Umkreis von 35 km um die Anlagen weitere 14.374 Bedienstete des Führerhauptquartiers, des Oberkommandos des Heeres und der Flak unterzubringen. Demnach hätte der gesamte „Riese“-Bezirk fast 30.000 Militärpersonen aufnehmen müssen mit allen Konsequenzen für die Zivilbevölkerung. Gemäß Plan verteilten sich die Militärangehörigen auf die einzelnen „Kommandos“ wie folgt: „Kommando“ „Riese“-Anlagen 1 FHQ 2 289 Personen 2 OKH 6 485 Personen 3 OKL 2 169 Personen 4 RF SS 1 770 Personen 5 RAM 300 Personen 6 Flak* – 7 Zus. 13 013 Personen *„nur für Bauvorhaben Riese gültig“
% 18 50 17 14 2 100
35 km-Umkreis 5 832 Personen 1 902 Personen – –
% 41 13
6 640 Personen 14 374 Personen
46 100
Abb. 2: Vorgesehene Personalstärke der einzelnen Nutzer12
Für die rund 13.000 Personen waren lt. Ursprungsplanung in „Riese“ folgende Nutzflächen zu schaffen:
1 2 3 4 5
Fläche in m² 99 030 44 802 10 240 40 160 194 232
Art der Bauten Baracken, Block- u. Fachwerkhäuser Massivhäuser, ummauerte Baracken Bunker Stollen Nutzfläche insgesamt (15 m²/Person)
% Nutzfläche 51 23 5 21 100
Abb. 3: Nutzfläche „Unternehmen Riese“13
Die Dimensionen sind gewaltig, vor allem, wenn man bedenkt, dass zu gleicher Zeit weitere Bunkeranlagen in Berchtesgaden, Zeppelin, Obersalzberg, Pullach und 11
12
13
BA Koblenz, N 1514, Nachlass Schmelcher und Seidler/Zeigert: Führerhauptquartiere, S. 194, 199, 301 sowie Speer: Erinnerungen, S. 547. Rastenburg beherbergte 1944 7.700 Personen und soll 36 Millionen gekostet haben. BA Koblenz, N 1514/5, Nachlass Schmelcher, „Zusammenstellung der Unterbringung im Führerhauptquartier und den Quartieren der Wehrmachtsteile,“ gRs. Nr. 92/44, Blatt 13, in: N 1514/4, „Zusammenstellung der wichtigsten Daten ...“, Blatt 5, „Belegungsstärke der Anlagen“ wird von 13.750 Personen für Riese ausgegangen. Seidler/Zeigert: Führerhauptquartiere, S. 299, sprechen unter Berufung auf Dorsch von 20.000 Personen, die in „Riese“ untergebracht werden sollten. BA Koblenz, N 11514/3, Blatt 22 zu gRs. 91/44 u. Seidler/Zeigert: Führerhauptquartiere, S. 299–305.
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Ohrdruf im Bau waren. Rüstungsminister Speer stemmte sich deshalb – vergeblich – gegen den ungeheuren Material- und Arbeitskräfteeinsatz zu einer Zeit, als alle Ressourcen zur Verteidigung des Landes gebraucht wurden. Allein „Riese“, so habe er Hitler vorgetragen, verbrauche mehr Beton, als der Bevölkerung 1944 für Luftschutzbauten zugestanden werden konnte.14 Die geplante Nutzfläche „Rieses“ entspricht ungefähr 20 ha oder der Fläche von 26 Fußballfeldern (105 x 70 m). Dreiviertel davon sollten oberirdisch entstehen, der Rest unterirdisch als bombensichere Bunker- und Stollenflächen. Dieses Viertel der Gesamtnutzfläche, immerhin 5 ha oder ca. 7 Fußballfelder groß, sollte so, wie aus Tab. 3 ersichtlich, auf die einzelnen Nutzer verteilt werden: 1 2 3 4 5 6 7
Nutzfläche m² 11 490 21 750 13 000 3 600 560 50 400
Nutzer FHQ OKH OKL Reichsführer SS Außenministerium bombensichere Fläche
% bombensichere Fläche 23 43 26 7 1 100
Abb. 4: Verteilung der bombensicheren Bunker- und Stollenflächen15
Verbauen wollte man für die Gesamtanlage 359 100 m³ Stahlbeton,16 eine kaum vorstellbar große Menge. Eine quadratische Säule aus dieser Betonmenge mit der Kantenlänge von 50 m wäre fast 150 m hoch! Alle Zahlen sprechen für sich. Aber „Riese“ erfuhr, der militärischen Lage entsprechend, mehrfach Abänderungen. Ende 1943 wurde die Verbindung der Kommandoeinrichtungen mit Industrieanlagen beschlossen, also wohl eine Erweiterung der Anlage. Damit wollte man vermutlich der wiederholten Forderung Hitlers entsprechen, angesichts des verstärkten alliierten Bombenkriegs wichtige Kriegsindustrien unter die Erde zu bringen.17 Bereits im Juni 1944, nur sechs Monate später und nach Landung der Alliierten in der Normandie, reduzierte man die Baumaßnahmen auf die Blöcke I und II, um schneller voranzukommen, doch wissen wir nicht genau, worum es dabei ging. Hitler verlangte bei dieser Gelegenheit einfachste Bauausführung ohne Holzverkleidung der Bunker. Im September 1944 verkleinerte man den Bauumfang nochmals, indem man auf Anordnung Alfred Jodls alle Hochbauten „zurückstellte“, um das Bautempo der unterirdischen Anlagen bei verstärktem Einsatz von Arbeitkräften zu erhöhen.18 14 15 16
17 18
Speer: Erinnerungen, S. 348 u. 547. BA Koblenz, N 1514/3, Blatt 22, „Riese“. ebd., und Seidler/Zeigert: Führerhauptquartiere, S. 302. Die Betonmenge hätte ein größeres Volumen als die kleinste der Gizeh-Pyramiden. Speer: Erinnerungen, S. 347. BA Koblenz, RW 47/2, fol.1, Brief des Kommandanten des FHQ v. 24.8.1944 an den Chef des Wehrmachtführungsstabes: Zurückstellung aller oberirdischen „Riese“-Bauten (Jodl).
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Hochbauleistungen, die bis zum 1. Oktober 1944 erbracht waren, wurden abgerechnet.19 Auch die Bauindustrie hatte Schwierigkeiten, den vielen Planänderungen zu folgen. Wie wir von Herrn Schulz (Firma Butzer) hörten, soll in Riese schon wieder eine völlige Umgestaltung der Bauaufgaben stattgefunden haben. Wir wären Ihnen daher sehr verbunden, wenn Sie uns darüber einen kurzen Bericht zukommen lassen würden...“ schreibt Herr Haufe von der Hauptabteilung der Wirtschaftsgruppe Bauindustrie, Berlin, im September 1944 an die Bezirksgruppe Schlesien in Breslau.20 Für den Bau der Gesamtanlage veranschlagte man 6.307.950 „Tagewerke“, von denen nach Schmelcher bis zum 17. November 1944, also in ca. 381 Tagen, 3.457.950 oder 55 % erbracht waren.21 Das entspräche durchschnittlich 9.076 Tagewerken pro Tag. Aber man baute ja noch mindestens 6 Wochen oder 45 Tage weiter, sodass noch einmal rund 408.000 Tagewerke hinzugekommen sein müssen und die an den Tagewerken gemessene Gesamtbauleistung ungefähr 60 % des ursprünglichen Solls betragen haben dürfte. Konstruktiv wurde etwa vom 1. November 1943 bis zum 31. Januar 1945 gearbeitet, also an 457 Tagen und nur bis zu der Zeit, als die Russen die Oder erreichten. Oberirdisch führte man Erd- und Betonierungsarbeiten großen Stils durch: Nivellierung des Geländes, Erstellung von Grundmauern und Mauerwerk für Kasernen und andere Gebäude, deren Zwecke bis heute ungeklärt sind. Hinzu kamen Verkehrsanlagen wie der Bau von Straßen und Brücken zur Verbindung der einzelnen Bunkerkomplexe sowie von Feldbahnen und Normalspurgleisen, um ungeheure Mengen an Bau- und Gesteinsmaterial transportieren zu können. Hierher gehören auch viele Kilometer Verkabelungen für die Elektrizitäts- und Nachrichten- sowie Rohrleitungen für die Wasserversorgung. Weiter wurden Materiallager eingerichtet, so u.a. ein Materialhauptlager auf dem Gelände einer ehemaligen Textilfabrik in Wüstewaltersdorf und ein großes Zementlager bei Rudolfswaldau.22 Für die Arbeitskräfte baute man mehr als 12 Lager mit Holzbaracken, und zur Tarnung von Geländeteilen sollen Netze gespannt und auch landschaftsgestaltende Arbeiten durchgeführt worden sein. Unterirdisch trieb man an mindestens sechs Orten des weitläufigen Baugebiets Stollen in das Gebirgsmassiv. Sie waren zum Teil parallel, aber auch in mehreren Ebenen angeordnet und untereinander durch Querstreben und senkrechte Schächte verbunden. Stollen und Streben erweiterten sich an einzelnen Stellen zu größeren Hallen. Ihre Auskleidung sollte aus Stahlbeton bestehen, wie in Dorfbach zu erkennen ist, wo Teile der Anlage inzwischen touristisch „vermarktet“ werden. Dort befindet sich am Stolleneingang auch eine Erweiterung, die als Wachlokal gedeutet wird. An der Baustelle „Säuferhöhen“ hatte man zur Verbindung der Stollen mit der Oberfläche einen senkrechten Schacht, vermutlich zur Aufnahme von Fahrstühlen, angelegt. 19
20 21 22
BA Berlin, Bestand R 13 VIII , so z. B. in neuem Selbstkostenerstattungsvertrag der OT (Bauleiter Hamm) mit der Fa. Butzer, Berlin (ppa Schulz), v. 18.10.1944 für Rodungs-, Erd-, Gründungs- und Schalungsarbeiten. BA Berlin, Bestand R 13 VIII, Brief v. 23.9.1944 BA Koblenz, N1514/3, „Riese“, Blatt 22 u. Seidler/Zeigert: Führerhauptquartiere, S. 302. Seidler/Zeigert: Führerhauptquartiere, S. 300f, u. Gersch: Backufaloch, S. 141.
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Abb. 5: Stolleneingang bei Dorfbach, wo die Arbeiten begannen, jetzt Touristenziel (Aufn. Meißner, 5.9.2007)
Polnische Forscher23 bemerken, dass manche Gänge durch Sprengungen24 oder spätere Einstürze verschüttet sind und deshalb das ganze Ausmaß der OT-Baumaßnahmen noch nicht bekannt sei. Ob „Riese“ tatsächlich auch für die Produktion von Rüstungsgütern angelegt war, wie Häftlinge angaben,25 ist auch nach diesen Erkundungen unklar, aber unwahrscheinlich. Bekannt sind sechs Stollenkomplexe im Eulengebirge, dazu kommen die unterirdischen Räume in Schloss Fürstenstein. Nach Garba26 sind es folgende (vgl. Abb. 1): Ort poln. Name Stollenzahl Dorfbach Rzeczka 3 Säuferhöhen* Osowka 3 Wolfsberg Wlodarz 3 Jauernig Jugowice G. 6/7 Ramenberg Sobon 3 Falkenberg Sokolec 4 Fürstenstein Ksiaz System Zusammen 22/23 * Schacht von 48 m Höhe, dazu oberirdische Bauten 1 2 3 4 5 6 7
Länge m 500 1 700 3 000 500 700 750 950 8 100
Abb. 6: Stollenkomplexe 23 24 25 26
Garba: Riese, Zella-Mehlis 2000. Weinmann: Lagersystem, Stichwort „Wüstegiersdorf“. ebd., Stichwort „Wolfsberg“. Garba: Riese, 2000.
Fläche m² 2 500 6 200 8 700 1 500 800 2 100 3 200 25 000
Raum m³ 14 000 26 000 31 000 3 500 4 000 6 000 13 000 97 500
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Addiert man Garbas Angaben, kommt man auf 25.000 m² Stollenfläche, etwa 62 % des planmäßigen Solls von 40.160 m². (vgl. Tab. 1) Dabei fällt auf, dass die von Polen gemessene Fläche in Schloss Fürstenstein (3.200 m²)27 rund sechsmal größer ist als die ursprünglich geplante von 560 m².28 Deshalb muss man wohl von weiteren Bauund Nutzungsänderungen ausgehen. Teil des geplanten Hauptquartiers war wohl auch der vorhandene Eisenbahntunnel als Abstellplatz für Sonderzüge.
Die Arbeitskräfte Nach Peter Hoffmann waren im Juni 1944 insgesamt 28.000 Menschen mit dem Bau von Führerhauptquartieren beschäftigt29 und rund die Hälfte davon in „Riese.“ (vgl. Tab. 5) An der steigenden Zahl von Arbeitskräften lässt sich die Bedeutung erkennen, die dem Unternehmen „Riese“ unter den NS-Großbauten in einer Zeit beigemessen wurde, als Arbeitskräfte und Material schon äußerst knapp waren, die Fronten immer näher an die Reichsgrenzen rückten und deutsche Städte in Schutt und Asche sanken.30 Die Industriegemeinschaft Schlesien AG, Breslau, der die Bauarbeiten zuerst aufgetragen wurden, startete am 1. November 1943 mit etwa 1.000 Arbeitskräften. Das waren neben dem technischen Personal vor allem Fremdarbeiter und russische Kriegsgefangene, für die bis April 1944 nahe den ersten Baustellen vier Lager für ca. 3.500 Personen in Wüstewaltersdorf, Dörnhau, Wüstegiersdorf und Oberwüstegiersdorf eingerichtet wurden.31 Das Baukonsortium kam aber unter dem Oberbaudirektor Hartwig mit dem Riesen-Auftrag nicht recht voran.
1 2 3 4 5
Jahr 1943 1944 1944 1944 1944/1945
Monat Dezember April Juli Oktober Dezember/Januar
Arbeitskräfte 1 000 5 000 13 500 19 000 23 000
Abb. 7: Beim Unternehmen „Riese“ eingesetzte Arbeitskräfte
In einer Besprechung am 6./7. April 1944 soll Hitler die Industriegemeinschaft Schlesien AG des Versagens geziehen und das Projekt der OT, die Beschaffung der nötigen Arbeitskräfte aber der SS übertragen haben.32 Die OT dürfte den Baukomplex
27 28 29 30
31
32
ebd., Riese, S. 48. BA Koblenz, Nachlass Schmelcher, N 1514/3, Blatt 22 z.gRs. 91/44. Hoffmann: Die Sicherheit des Diktators, S. 218. BA Koblenz, Nachlass Schmelcher, N 1514/3–4, u. Seidler/Zeigert: Führerhauptquartiere, S. 301f. Gemäß Cybulski: Außenlager, und Garba: Riese, S. 89, sollten sie mit 5 200 Personen belegt werden. Heckenthaler: Sonderbauprojekt „Riese“, S. 24, 28.
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„Riese“ um den 20. April 1944 übernommen haben,33 denn zum 17. April 1944 stellte die Industriegemeinschaft Schlesien AG noch Arbeitskräfte ein.34 Die „Organisation Todt“, nach ihrem Gründer Fritz Todt (1891–1942) und kurz „OT“ genannt, unterstand Albert Speer (1905–1981). Ab dem 29. April 1944 war Xaver Dorsch (1899–1986) Leiter dieser größten Bauorganisation des NS-Staates, die Anlagen wie die Autobahnen, den West- und Atlantikwall geschaffen hatte und 1943/1944 über ca. 1,4 Millionen Mitarbeiter verfügt haben soll,35 darunter exzellente Spezialisten. Seit Kriegsbeginn hatte die OT überwiegend in den besetzten Gebieten gearbeitet, dort verlor sie jedoch durch den Vormarsch der Alliierten nach und nach ihre Aufgaben. OT-Leute besaßen große Erfahrungen im Fels- und Tunnelbau und waren außerdem im Management riesiger Baukomplexe geübt. Die OT wurde militärisch straff geführt, ihre Bauleitungen besaßen aber weitgehende Autonomie, sodass sie flexibel auf örtliche Gegebenheiten reagieren konnten. Darin lag ihre Stärke.36 Mit der OT kamen viele erfahrene Techniker auf die „Riese“-Baustellen, so z.B. aus Südrussland, und nach einer Besprechung in Rastenburg am 19. Juli 1944 auch die Firma Butzer mit ihren Baugruppenpartnern und allen „Gefolgschaftsmitgliedern“.37 Dennoch reichte das Arbeitskräftepotenzial nicht für eine wesentliche Beschleunigung der Arbeiten aus. Eine der vordringlichsten OT-Aufgaben im Komplex „Riese“ bestand deshalb in der Beschaffung von Arbeitskräften. Die Grundlage dafür bot ein Hitler-Befehl, erteilt ebenfalls am 6./7. April 1944, der vor allem ungarische Juden traf, die meist nach Auschwitz und Groß Rosen gebracht und bei Arbeitsfähigkeit von dort auf entfernte Fabriken oder Baustellen verteilt wurden, so auch auf „Riese“.38 Das KZ Groß-Rosen übernahm unter seinem Kommandanten, SS-Sturmbannführer Johannes Hassebroek, die vier „Riese“-Lager und richtete im Riese-Bereich insgesamt 12 Außenlager für die KZ–Häftlinge ein. Sie wurden zum „Arbeitslager (AL) Riese“ zusammengefasst, das ab dem 21. April 1944 von dem berüchtigten SSHauptsturmführer Albert Lütkemeyer (1911–1947) aus Wellingholzhausen, Kreis Osnabrück, befehligt wurde.39 Lütkemeyer hatte einschlägige Erfahrungen aus den KZs Esterwegen, Dachau und Neuengamme und soll Häftlinge auch eigenhändig misshandelt haben. Martin Weinmann40 hat die einzelnen Lager nach Häftlingsangaben dokumentiert, Bogdan Cybulski41, Jürgen Heckenthaler42 u.a. erforschten das Schicksal der KZ-Häftlinge.
33 34
35 36 37 38 39 40 41 42
ebd., S. 42f. Zeitzeugin Ursula Nowack, geb. Olbrich: Arbeitsvertrag mit der „Industriegemeinschaft Schlesien AG, Generalbauleitung Bad Charlottenbrunn,“ v. 12.4.1944 Dopcik: Die Organisation Todt, in: historicum.net (Abruf 3.11.2011). Heckenthaler: Sonderbauprojekt „Riese“, S. 18. BA Berlin, Bestand R 13 VIII, Aktenvermerk der Firma Butzer v. 8.8.1944. Seidler/Zeiget: Führerhauptquartiere, S. 300. Heckenthaler: Sonderprojekt „Riese“, S. 11, 16f., 38f., 46. Weinmann: Das nationalsozialistische Lagersystem. Cybulski: Groß-Rosen im Eulengebirge. Heckenthaler: Sonderbauprojekt „Riese“.
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Cybulski beziffert die Zahl der Häftlinge des KZ Groß-Rosen, die auf der „Riese“Baustelle eingesetzt wurden, auf insgesamt 13.160 bis 13.300. Die anderen Arbeitskräfte waren Fremd- und Zwangsarbeiter sowie Kriegsgefangene, ab Oktober 1944, nach Niederschlagung des Warschauer Aufstands, auch polnische. Der erste Transport brachte Ende April 623 griechische und ungarische Juden aus Auschwitz ins Eulengebirge. Im Mai folgten weitere 5.000 KZ-Häftlinge, im Juni erneut 3.800 und im August/September 1944 noch einmal 2.700. Sie stammten zu 70 % aus Ungarn und zu 25 % aus Polen. Rund 9.000 dieser Häftlinge sind namentlich und fast alle davon auch mit Häftlingsnummern bekannt. Für „Riese“ wurden vor allem 16–60-jährige Juden ausgesucht und im Dreischichtenbetrieb bei Rodungen, im Transportwesen, im Hoch- und Tiefbau und im Stollenvortrieb eingesetzt. Ihre Ernährung, Kleidung sowie sanitäre und medizinische Versorgung war besonders in der Aufbauphase der Lager katastrophal.43 Nach Cybulski sollen ca. 3 % der Häftlinge auch ältere Menschen gewesen sein, vor allem Ärzte, Ingenieure und Techniker. Cybulski hat ermittelt, dass unter den elenden Bedingungen ungefähr 4.900 KZHäftlinge durch Krankheit, Entkräftung, auf den Evakuierungsmärschen und auch noch nach ihrer Befreiung umkamen. Von etwa 70 % (rund 3.400) der gestorbenen Häftlinge sind Namen, Todesdaten, Todesursachen und die Begräbnisorte bekannt.44 Nachdem die Rote Armee im Januar 1945 die Ostfront durchbrochen und das oberschlesische Industriegebiet fast kampflos eingenommen hatte, wurden die Arbeiten an „Riese“ sinnlos. Die transportfähigen KZ-Häftlinge trieb man deshalb ab Mitte Februar 1945 meist in Märschen, teils auch per Bahn in die KZs Mauthausen, Flossenbürg, Bergen-Belsen und wohl auch nach Buchenwald.45 Die zurückgehaltenen Häftlinge, darunter viele Kranke, befreiten die Russen im Mai 1945. Einige von ihnen sollen nach der deutschen Kapitulation in Wüstegiersdorf einen Gesundheitsdienst für die erkrankten Leidensgenossen eingerichtet haben.46 Dorfbewohnern zufolge hat Ludwigsdorf 1945 zeitweise einen jüdischen Bürgermeister und eine (polnisch-) jüdische Miliz gehabt.47 Dennoch wurden die Arbeiten, wie Einwohner berichten, an manchen Baustellen noch bis Anfang Mai 1945 fortgesetzt, so auch in Ludwigsdorf-Eule. Worum es sich dabei handelte, ist unklar. Da aber auch viele Maschinen und Materialien im Februar 1945 abtransportiert wurden, vermutlich Richtung Thüringen (Ohrdruf), kann es sich dabei kaum noch um eine konstruktive Bautätigkeit gehandelt haben. Eher ist an Sicherungsmaßnahmen oder Tarnung und Unbrauchbarmachung der Anlagen zu denken. Große Baustoffmengen verblieben an Ort und Stelle und wurden später von den Polen abtransportiert. 43
44 45
46 47
Garba: Riese, S. 89–93, danach Fleckfieberepidemien im Jan./Febr. 1944. In den Vertragsunterlagen der OT-OBL-Riese [BA Berlin] für Privatfirmen ist noch mit zweischichtigem Betrieb zu rechnen. Cybulski: Groß-Rosen im Eulengebirge. Weinmann: Lagersystem, gibt Evakuierungsdaten für die Riese-Lager an, vgl. dazu auch Heckenthaler, Sonderbauprojekt „Riese“, S. 85–88. Vgl. Cybulski: Groß Rosen, S. 10. Mitteilung der Gebrüder Schenk v. 17. und 31.10.2007, uud Piela, Maria: Mein Kampf , S. 3. Danach wurde die jüdische Miliz am 15.8.1945 durch polnische abgelöst.
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Bauführung und Baufirmen Die OT-Zentrale, die Bauleitungen einzelner Baukomplexe, die Firmenleitungen, die vielen Baustellen und Lager waren über die 60 km² verstreut und bildeten ein geschlossenes Sonderreich, dessen Einrichtungen sich heute nur noch mühsam verorten lassen. (vgl. Abb. 1) Aus Briefwechseln zwischen Dienststellen und Baufirmen und der Literatur ergibt sich zur Zeit folgende Übersicht:
1
2
3 4
5
Ort/Adresse (8) Bad Charlottenbrunn, a „Herrenhaus“ Haus Hindenburg (8) Tannhausen, Post Wüstegiersdorf/Schl. 2, Schlossc Scholtisei (8) Dorfbach, Villa Schmelzd (8) Hausdorf/Schles., Haus Schneidere
Einrichtungen OT-Zentrale
Personen OBL Müller, OBR Meyer, BR Poppel Ltg.: Verm.Rat Grüner b
Vermessungsabteilung Oberbauleitung (OBL) Vertragsabteilung Bauleiter Hamm Fa. Gustav Dübener Planungsstab 25 Personen BL II, Baustellen: Erlenbusch, Wolfsberg (Block II) Fa. Heinrich Butzer (8) Ludwigsdorf-Eule, Alte Schulef BL V, Baustelle Eule u.a. Fa. Wayss u. Freytag
BL = BL=Bauleitung, OBL = Oberbauleiter, OBR = Oberbaurat, BR = Baurat Seidler/Zeigert: Führerhauptquartiere, S. 300, und Kehm: Tätigkeitsbericht v. 31.7.1944. b BA Berlin, Bestand R 13 VIII, Vermerk Fa. Butzer v. 8.8.1944, Brief Poppels v. 31.10.1944, Brief Meyers vom 16.11.1944, vgl. auch Heckenthaler: Sonderbauprojekt „Riese“, S. 30–32. c BA Berlin, Bestand R 13 VIII, Brief der Fa. Dübener v. 18.10.1944. d Seidler/Zeigert: Führerhauptquartiere, S. 300. e BA Berlin, Bestand R 13 VIII, Aktenvermerk Fa. Butzer v. 8.8.1944 u. Briefwechsel zw. OT, Fa. Dübener u. der Wirtschaftsgruppe Bauindustrie, Berlin, 12.10., 18.10., 31.10., 7.11., 8.11., 20.11., 17.12.1944. f BA Berlin, R 13 VIII, Briefwechsel der OT mit Dübener/ Förderbahn V, z. B.: 17.12.1944. a
Abb. 8: Wichtige Einrichtungen der OT im Baugebiet „Riese“
Der Chefbaumeister der Führerhauptquartiere, Siegfried Schmelcher, besuchte „Riese“ nur gelegentlich, OT-Chef Xaver Dorsch kaum, sicher aber am 28. Januar 1945,48 als die 1. Ukrainische Front schon Richtung Oder durchgebrochen war. Vermutlich fiel anlässlich dieses Besuchs die Entscheidung zum Abbruch der Arbeiten. Schmelchers Stellvertreter, der OT-Oberbauleiter Leopold Müller, residierte ebenso in Bad Charlottenbrunn wie Oberbaurat Meyer und sein Stellvertreter Baurat Poppel. Alle waren etwa von Mai 1944 bis April 1945 für das Projekt zuständig, also rund
48
Seidler/Zeigert: Führerhauptquartiere, S. 301, gemäß Heckenthaler, S. 25, zwei Besuche.
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ein Jahr. Müller war in dieser Zeit an 115 Tagen abwesend49 und schaffte es, weitab in Norwegen in englische Gefangenschaft zu geraten. Die OT brachte das „Unternehmen Riese“ trotz der sich rapide verschlechternden Bedingungen mit Hilfe vieler Privatfirmen und einer wachsenden Zahl von Arbeitskräften rasch voran. Sie trat im Auftrag des Reiches als Bauherr auf, sie übernahm die Bauführung und -aufsicht,50 sie koordinierte alle Arbeiten, sie fertigte die Ausschreibungen, sie schloss Verträge mit Firmen, sie rechnete Leistungen ab, und sie verhängte auch Strafen bei Nichteinhaltung von Terminen. Aber sie lieferte auch alle Arten von Materialien und beschaffte die Arbeitskräfte. Letztere waren deutsche Fachkräfte, Fremdarbeiter, Bausoldaten, Strafgefangene, Kriegsgefangene und zu einem großen Teil KZ-Häftlinge, die den Firmen „verkauft“ wurden. Die Zusammenarbeit des Staatsunternehmens mit Privatfirmen war erprobt, funktionierte aber beim Bauvorhaben „Riese“ nicht reibungslos, wie ein erhaltener Briefwechsel zeigt.51 Die OT als allmächtiger, recht bürokratisch vorgehender und personell gut ausgestatteter Bauherr drängte auf schnellste und kostengünstigste Fertigstellung des Militärkomplexes, die Firmen teilten dieses Interesse wohl, verfolgten aber als Hauptziel Gewinn und Bestandssicherung bei sich ständig vergrößernder Personalnot, die sie zur Reduzierung der Verwaltung auf das notwendigste zwang.52 Das war konfliktträchtig. Anders als in Rastenburg wurden auf Druck des OT-Oberbauleiters Meyer viele kleinere Spezialfirmen zu „Baugruppenpartnern“ einer Führungsfirma, mit der die OT jeweils allgemeine Bedingungen aushandelte und Verträge abschloss.53 Die Führungsfirmen erhielten Aufträge von der OT, für die sie nach komplizierten Vorschriften Angebote vorlegen mussten. Die Führungsfirmen koordinierten die Arbeit der Baugruppenpartner und beteiligten sie nach einem Schlüssel am Gewinn. Sie übernahmen auch die Gesamtverantwortung und die Gewährleistung von zwei Jahren. Die Firmen opponierten gegen die komplizierten Vertragsbedingungen,54 deren Befolgung unnötig viel Personal band, und sie wollten aus Zeitgründen auch allgemein verbindliche Bestimmungen für alle Firmen durchsetzen, während die OT Grundsätzliches mit jeder Führungsfirma in Einzelverhandlungen zu klären gedachte, so jedenfalls Bauleiter Hamm, der Leiter der Vertragsabteilung. Sie verhandelten mit der OT zäh um Gewinne, und die Firma Gustav Dübener kämpfte verbissen vom 12. Oktober 1944 bis zum 10. Januar 1945 in vielen Briefen gegen Vertragsstrafen in einer Gesamthöhe von 5.500 RM wegen nicht rechtzeitig abgegebener Angebote usw. Auch die Bauleiter Meyer und Poppel bezogen in dem Streit Stellung.55 Dübener 49 50
51 52 53 54 55
ebd., S. 301. BA Berlin, R 13 VIII, Brief Fa. Dübener, 18.10.1944. Die Fa. Dübener sollte eine Buße von 2 000,–RM zahlen, weil ihre Gefolgschaft n. Feststellung der Bauleitung II eine Baustelle 8 Minuten zu früh verlassen hatte. ebd., Wirtschaftsgruppe Bauindustrie (ca. 30 Vorgänge). ebd., Fa. Holzmann, 4.9.1944, Wirtschaftsgruppe Bauindustrie Berlin, 15.1.1945. ebd., Aktenvermerk Fa. Butzer v. 8.8.1944. ebd., 18 Seiten Vertragsbestimmungen, dazu Aktenvermerk Fa. Holzmann, 4.9.1944. ebd., Brief Fa. Huta (Herbert Hausen) v. 28.12.1944, Brief Wirtschaftsgruppe Bauindustrie (Haufe) v. 15.1.1945 an Reichsminister f. Rüstung, (Regierungsrat Daub).
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begründete das Versäumnis mit Ausbombung, mit Maschinenverlusten durch Kriegseinwirkung und dem Abzug unersetzlicher Spezialisten durch Fronteinsatz.56 Immer wieder schalteten die Firmen bei Differenzen mit der OBL „Riese“ ihre Dachorganisation, die „Wirtschaftsgruppe Bauindustrie“, Berlin W 35, Blumeshof 9, und ihre Dependance in Breslau, Schuhbrücke 27, ein, dazu auch die OT-Zentrale in Berlin oder den Unternehmerausschuss. Am 15. Januar 1945 wandte man sich zur Klärung grundsätzlicher Fragen sogar an den Reichsminister für Rüstung.57 Eine der Führungsfirmen war die Berliner Tiefbaufirma Heinrich Butzer, die nach der Übernahme des Bauvorhabens „Riese“ durch die OT im Juli/August 1944 mit allen Mitarbeitern von Rastenburg ins Eulengebirge zur Baustelle Hausdorf, Kreis Waldenburg, umgesetzt wurde. Sie hatte 12 Baugruppenpartner aus Berlin, Dortmund, Erfurt, Halle/S, Kutno, Leipzig, Mannheim, Offenburg, Stralsund und Völklingen.58 Andere Führungsfirmen waren das Tiefbauunternehmen Gustav Dübener, Berlin,59 die Hoch- und Tiefbaufirma Huta, Breslau60 und die Firma Philipp Holzmann, Berlin. Mit Ausnahme der Firma Wayss und Freytag, deren Sitz heute Frankfurt/M. ist, und die ihre damaligen Erfahrungen jetzt u.a. im Tunnel- und U-Bahn-Bau verwertet, sind diese Großbaufirmen inzwischen erloschen. Die Namen vieler weiterer Firmen, die die Häftlinge nannten, sind bei Weinmann61 zu finden. Die Firmen arbeiteten in Selbstkostenverträgen, nach denen ihre Leistungen auf genauen und zeitaufwendigen Nachweis hin bezahlt wurden. Hinzu kamen verschiedene Zuschläge für Gewinn und Wagnis in Form von Pauschalen, die in einem Fall 25 % der Lohnsumme der Baustellenlohn- und Gehaltsempfänger ausmachten.62 Da deren Zahl nicht riesig war, kann der Gewinn auch nicht üppig gewesen sein. Vielleicht erklärt das den vehementen Kampf gegen Vertragsstrafen. Aber die Firmen arbeiten auch in Leistungsverträgen mit Festpreisen für bestimmte Bauabschnitte, deren Grundlage vorausgeschätzte Tagewerke waren.63 Leistungs- und Gewinnanreiz lagen somit darin, die vorausgeschätzte Zahl der Tagewerke zu unterbieten, und das funktionierte nur über die rücksichtslose Ausbeutung der Arbeitskräfte. Einem Tagewerk lagen die Friedensleistungen eines deutschen Arbeiters zugrunde (8-Stundentag, fiktiver Mittellohn 1,- RM/Stunde).64 Den besonderen Verhältnissen einer Baustelle und bei den verschiedenen Tarifgruppen (Volksgruppen) trug man durch Ansatz von Bruchteilen dieser Friedensleistung und mit Aufschlägen Rechnung. Im Dezember 1944 erklärte die OT in einem Brief an die Fa. Huta, 56
57 58 59
60 61 62
63 64
ebd., 13 Vorgänge, Brief Fa. Dübener v. 17.12.1944 an die Wirtschaftsgruppe Bauindustrie in Berlin zw. Fa. Dübener und der OT zum Problem der Vertragsstrafen. Vgl. Anm. 59. BA Berlin, Bestand R 13 VIII, Aktenvermerk Fa. Heinrich Butzer v. 8.8.1944. Erd- u. Baggerarbeiten, Eisenbahn- u. Straßenbau, Beton-, Brücken- u. Monierbau, Kanalisations- u. Kabelverlegungen (BA Berlin, R 13). BA Berlin, R 13, Hochbauten und Bunker. Weinmann: Lagersystem. BA Berlin, R 13, Selbstkostenerstattungsvertrag Nr. 2401/VII d v. 18.10.1944, S. 4 (OT/Fa. Butzer). ebd., Nachtrag. ebd., Vorbemerkungen zu den Vertragsunterlagen, S. 3.
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Breslau,65 dass KZ-Häftlinge, die den Firmen zur Arbeitsleistung „verkauft“ wurden, bei Handschachtleistungen nur 40 % der Norm erbrächten. Die geschwächten Arbeitskräfte mussten demnach brutal angetrieben werden, wenn die Firmen die geforderten Leistungen nach Zeitplan schaffen und noch Gewinne erwirtschaften wollten.
OT-Baumeister Auffällig ist das geringe Alter der Hauptverantwortlichen. Bei Kriegsausbruch 1939 war Speer 34, Dorsch 40, Rimpl 37, Schmelcher 27 und Müller 31 Jahre alt. Alle waren hochgebildete und dynamische, durchsetzungsfähige und wohl auch sehr ehrgeizige Menschen. Der rücksichtslose Umgang mit den Häftlingen und Kriegsgefangenen, die auf ihren Baustellen arbeiteten, ihr Elend, kann den Bauleitern nicht verborgen geblieben sein, auch nicht die Unsinnigkeit dieses Projekts. Sie nahmen alles hin, obwohl die Architekten des Bauvorhabens „Riese“ kaum ideologisch völlig verblendete Männer gewesen sein können. Das jedenfalls legen die Lebensdaten zweier Hauptverantwortlicher für das Unternehmen „Riese“ nahe, die des Architekten Herbert Rimpl (1902–1978) und die des Bauingenieurs Leopold Müller (1908–1988), auf die nun exemplarisch und in aller Kürze eingegangen werden soll. Die Frage, warum die hochgebildeten Männer ein so offensichtlich verbrecherisches System stützten, können sie aber nicht beantworten. Herbert Rimpl wurde 1902 in Mallmitz, Kreis Sprottau/Schlesien geboren und studierte von 1922 bis 1926 Architektur an der TH München. Zunächst arbeitete er erfolgreich als Architekt bei der Oberpostdirektion in Augsburg, dann wurde er Mitarbeiter des Kölner Kirchenbaumeisters Dominikus Böhm. Rimpl übernahm dessen Büro in Hindenburg O/S, wo er bis zur Schließung aus Mangel an Aufträgen 1932 mehrere Bauten, darunter die St. Josephs-Kirche, betreute. Aus Not selbstständig geworden, erhielt er 1934 nach einem Wettbewerb den Auftrag zum Bau der Heinkel-Werke in Rostock und Oranienburg mit den zugehörigen Wohnsiedlungen. Dabei erregte er Görings Aufmerksamkeit. Rimpl, der nicht NSDAP-Mitglied war, wurde mit Planung und Baudurchführung der Hermann-Göring-Werke in Salzgitter und Linz, dem Bau von Siedlungen in diesen Städten sowie von Fabriken in Steyr, Traisen und Breslau betraut. 1937 bis 1945 war er Baudirektor der Montanblock-Baustab GmbH in Berlin und ab 1942 Leiter der Prüfstelle für Großbauten. Er gebot in diesen Funktionen über 700 Mitarbeiter. Rimpl, 1940 promoviert, erstellte den Gesamtplan für das Bauvorhaben „Riese“, von dem sein Sohn, selbst Architekt, bis zu meiner Anfrage nichts gehört hatte,66 denn dieser Auftrag war sicher nur einer unter vielen anderen. 65
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ebd., Brief der OT an die Fa. Huta, Breslau, v. 20.12.1944: Selbstkostenerstattungsvertrag OT/ Huta. Die OT schreibt darin über außerordentliche Minderleistung der KZ-Häftlinge, die im Handschachtverfahren im hiesigen Bereich nur mit 40 % angesetzt ist. Um eine Vereinfachung der Verrechnung der KZ-Häftlinge herbeizuführen, werden in Zukunft diese Kräfte den Firmen ... wie folgt in Rechnung gestellt: Facharbeiter 0,60 RM/Std., Hilfsarbeiter 0,45 RM/Std. Mitt. v. 13.9.2007
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1948 wurde Rimpl als „Nichtbetroffener“ entnazifiziert und eröffnete ein Architektenbüro in Wiesbaden, das u. a das Bundeskriminalamt, die Landesversicherungsanstalt in Frankfurt/M, die Heilig-Geist-Kirche in Wiesbaden und verschiedene Wohnsiedlungen plante und baute. Leiter des Amtes für die Gesamtplanung Berlins konnte er 1951 wegen politischer Vorbehalte jedoch nicht werden. Rimpl starb 1978 in Wiesbaden. Kenner urteilen, dass seine Industriearchitektur wegweisend war.67 Leopold Müller wurde 1908 in Salzburg als Sohn eines Gymnasiallehrers geboren und war Klassenkamerad Herbert von Karajans. Bereits vor dem Abitur 1926 studierte er Klavier und Geige am Mozarteum und bewies damit seine musische Begabung. Gleichwohl studierte er an der TH Wien Bauingenieurwesen, parallel dazu an der Akademie für Musik aber auch Schlagzeug. Bei den Wiener Philharmonikern bediente er in dieser Zeit die Pauke. Müller legte 1932 die Diplomprüfung mit Auszeichnung ab und promovierte ein Jahr später mit einer Arbeit über Kluftmessungen in Gesteinen. Von 1933 bis 1935 arbeitete er an der Großglockner-Hochalpenstraße, wo er sich zäh und zielstrebig vom Hilfsarbeiter über den Schachtmeister zum Bauleiter hocharbeitete, und beim Bau von Autobahnen. 1935 bis 1945 war Müller Oberbauleiter auf Großbaustellen der Firma Polensky und Zöllner sowie für die OT in Deutschland, Belgien, Frankreich, Norwegen und auf den Kanalinseln tätig. In diesem Dienstverhältnis beteiligte sich Müller u.a. an Planung und Bau der Alpenstraße auf den Kehlstein, der unterirdischen Nachrichtenzentrale in Zossen, riesigen Hohlbauten in den Felsen der Kanalinseln, der Nordlandbahn in Norwegen und eben auch beim „Unternehmen Riese“. In englischer Gefangenschaft begann er, seine Erfahrungen in Arbeiten zur Felsmechanik niederzulegen, die bahnbrechend waren. Die im Krieg erworbenen Kenntnisse verwertete Müller nach 1945 in eigenen Büros für Ingenieurgeologie, die die „Neue österreichische Tunnelbaumethode“ entwickelten und bei zahlreichen UBahn-, Tunnel- und Talsperren-Projekten in der ganzen Welt mitwirkten. Müller war zudem ein global gefragter Gutachter bei Felsbauten. Nach dem Krieg kamen auch andere Interessen des vielseitig begabten Mannes zur Geltung. So beschäftigte er sich intensiv mit Paracelsus, Goethe und Rudolf Steiner. Er gründete u.a. die Waldorfschule Prien und die Rudolf-Steiner-Schule in Salzburg. Sein Biograph, Gottfried Tichy, bescheinigt ihm hohes moralisches Empfinden und Mitverantwortung für diese Welt,68 Tugenden, über die er im Eulengebirge wohl noch nicht verfügte. Müller starb 1988 hochdekoriert und als Ehrenbürger von Salzburg.
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Lubitz, Jan: Architektenportrait, www.architekten-portrait 2006, und Artikel „Herbert Rimpl, in: Wikipedia, die freie Enzyklopädie, Bearbeitungsstand 19.5.2008 (Abruf 3.11.2011). Tichy: Leopold Müller 9.1.1908 – 1.8.1988, Wien 1990.
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Abb. 9: Zeittafel zum Ablauf des Unternehmens „Riese“ DATUM 11.9.1943
EREIGNIS Auftragserteilung „Unternehmen Riese“ durch die Wehrmachtsadjutantur (Oberst v. Below, 1906–83) 15.9.1943 Festlegung der Bauziele. Besprechung zu „Riese“ im OT-Haus am Moysee, Rastenburg. Teilnehmer: Albert Speer, OT-Leiter Xaver Dorsch, OT- Oberbauleiter Leopold Müller 1.11.1943 Baubeginn bei Dorfbach (Schirgenschänke), Industriegemeinschaft Schlesien AG 10.11.1943 Hitlers Luftwaffenadjutant v. Below werden die Pläne im Eulengebirge durch die OT-Bauleiter Siegfried Schmelcher und Leopold Müller erläutert 17.12.1943 Besprechung in Rastenburg über Bauänderungen (v. Below, Dorsch, L. Müller): Verbindung Führerhauptquartier und Industrieanlagen? 7.4.1944 Hitler ordnet Übernahme von „Riese“ durch die OT und Arbeitskräftebereitstellung durch Reichsführer SS an. (Einsatz ungarischer Juden bei „Riese“) Ende April Die Organisation Todt (OT) übernimmt „Riese.“ Neue OT- Bauleitung unter Oberbauleiter Müller und Oberbaurat Meyer, Vertreter Baurat Poppel in Bad Charlottenbrunn. Einsatz von 1000 bis 2000 OT-Männern und von KZ-Häftlingen, Arbeitslager Riese, Außenstelle KZ Groß-Rosen Juni 1944 Erweiterung des Bauauftrags: Zusätzlich Produktionsstätten für Rüstungsgüter in „Riese“ 20.6.1944 1. Reduzierung des Bauumfangs auf Block I und II nach Unterrichtung Hitlers durch Speer. Anlage soll August 1945 beziehbar sein, Fürstenstein schon am 1.11.1944 (Einfachste Bauweise ohne Holzverkleidungen) 19.7.1944 2. Reduzierung des Bauumfangs durch Konzentration auf unterirdische Anlagen n. Besprechung bei der Oberbauleitung in Rastenburg (Jodl). Beschleunigung der Baumaßnahmen: Firma Butzer aus Rastenburg mit weiteren 800 OT-Männern zu „Riese“, dort inzwischen 13 000 Arbeiter 28.9.1944 Endgültiges Bauprogramm. Einstellung aller Hochbauten! Abrechnung dieser Bauleistungen Okt. 1944 19 000 Arbeitskräfte, ca. 13.000 Häftlinge aus dem KZ Groß Rosen in rund 12 Lagern 17.11.1944 55 % der Arbeiten erledigt: Aufstellung Schmelcher über „Riese“ Dez./ 23 000 Arbeitskräfte Jan.45 28.1.1945 OT-Leiter Dorsch in „Riese“, – 23° C Kälte, Abbruch der Arbeiten 30.1.1945 Vermessungsabteilung unter VermRat Grüner verläßt „Riese“ Febr. 1945 Abtransport von Maschinen und Baumaterial Wiederaufnahme der Arbeiten (Sicherung, Unbrauchbarmachung der Anlagen??) 4.5.1945 Einstellung der letzten Bauarbeiten 8.5.1945 Durchzug deutscher Truppen 9.5.1945 Einmarsch sowjetischer Truppen
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2. Baustelle „Falkenberg“ als Beispiel Lager- und Baustellenbezeichnung „Falkenberg 5“ Nur fünf Kilometer von Dorfbach (jetzt Rczecka) entfernt, wo die Bauarbeiten am 1. November 1943 begannen und Touristen heute ein Stollensystem besichtigen können (vgl. Abb. 2), liegt Gläzisch Falkenberg (Sokolec) im nordwestlichen Zipfel der Grafschaft Glatz. Im nach Süden gerichteten Eule-Tal schließen sich die Siedlungen Eule (Sowin) und Weitengrund an, die schon zur politischen Gemeinde Ludwigsdorf gehören, kirchlich jedoch zur Filiale der Ludwigsdorfer Pfarrei in Falkenberg. Der Glatzer Teil des Baukomplexes „Riese“ entstand in den Ludwigsdorfer Ortsteilen Eule und Weitengrund, dennoch bekamen Baustelle, Bauleitung und Lager die Bezeichnung „Falkenberg“, genauer „Falkenberg 5“,69 obwohl es in der politischen Gemeinde Falkenberg keine „Riese“-Einrichtung gab, von Kabelgräben abgesehen. Nach 1945 nannten die Polen Weitengrund eine Zeitlang „Dalkow“, so steht es jedenfalls in einer polnischen Touristenkarte von 1974.70 Heute ist Weitengrund eine Wüstung wie nach dem 30-jährigen Krieg, in der nur noch Mauerreste und vereinzelte Obstbäume an die einstmals lebendige Siedlung mit rund 30 Haushaltungen erinnern.71 Dort tauchte in den letzten Frühlingstagen nach dem strengen Winter 1941/42 das Gerücht auf: Bei uns im Weitagrunde, unter der Lecke in der Nähe der Hirschhornbrücke, soll ein Ersatzführerhauptquartier gebaut werden...72 Das ist erstaunlich früh und nur durch die Beobachtung früher Erkundungsarbeiten oder einen Zeitirrtum zu erklären, denn erst am 11. September 1943 befasste sich die Wehrmachtsführung genauer mit dem „Unternehmen Riese“,73 und erst am 1. November 1943 brachten fremde Arbeiter ungewohntes Leben und große Unruhe in die abgelegenen Gebirgsdörfer. Die Einheimischen hatten den Krieg bis dahin „nur“ über die gefallenen Soldaten, die Fremdarbeiter, die Versorgungsengpässe oder die aus Westdeutschland evakuierten Menschen gespürt.
Lagerbau Die Arbeiten, die in Dorfbach bei der Kolonie Försterhäuser am Osthang der Säuferhöhen begonnen hatten, wurden drei Monate später auf das 5 km entfernte Eule-Tal ausgedehnt. Am 8. und 9. Februar 1944 arbeiteten Vermessungstrupps in Weitengrund und Eule, gleichzeitig mietete man Zimmer für Ingenieure und Beamte an.74 Das alles beobachteten die Dorfbewohner aufmerksam, und mindestens eine einheimische jun69
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Die Postadresse der dortigen OT-Bauleitung lautete (8) Ludwigsdorf-Eule, Kreis Glatz/Schlesien, Bauleitung V. Mitteilung v. Herrn Richard Kehm, Alsfeld. Ziemia Klodzka, mapa turystyczna, 1974. Gersch, J.: Chronologische Aufzeichnungen, S. 277, und: Die Grafschaft Glatz. Einwohnerbuch 1937. Gersch: Backufaloch, S. 89 f. Seidler/Zeigert: Führerhauptquartiere, S. 299. Gersch, J.: Chronologische Aufzeichnungen, S. 109.
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ge Frau wurde von der Industriegemeinschaft Schlesien AG in der örtlichen Euler Bauleitung V angestellt. Strenge Geheimhaltung bewirkte, dass andere Eingesessene nicht einmal den Decknamen „Riese“ erfuhren, geschweige denn, welchem Zweck die plötzliche Betriebsamkeit diente. Gerüchte und Fragen schwirrten deshalb bis Kriegsende durch die Siedlungen. Galt die Hektik einem neuen Führerhauptquartier oder unterirdischen Produktionsstätten für die Kriegsindustrie, möglicherweise auch beidem? Können wir dann hier bleiben? Der Haupttruppführer einer OT-Vermessungsabteilung bestätigt die Verschwiegenheitsauflagen: Eine Auswertung von einzelnen Arbeitsabschnitten ... wurde von Verm. Rat Grüner mit der Begründung, dass alle Arbeiten sehr geheim seien, abgelehnt. Gestern wurde das ganze Personal bezüglich der Geheimhaltung aller Pläne und Akten besonders verpflichtet.75 Und die OT-Leute, die aus ihrem OT-Dienstbuch76 den Decknamen „Riese“ kannten, hielten sich an diese Verpflichtung, obwohl sie durch die Privatunterbringung durchaus engen Kontakt zu Einheimischen hatten und sicher auch bohrenden Fragen ausgesetzt waren.
Abb. 10: Seite aus dem OT-Dienstbuch Nr. J 77737 mit dem Eintrag „Riese“ vom 9.5.1944 (Zur Verfügung gestellt von Herrn Richard Kehm) 75
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Kehm, Friedrich, Verm.Oberinspektor/OT-Haupttruppführer: Tätigkeitsbericht aus „Riese“ für den Monat Mai an seine Heimatdienststelle [Flurbereinigungsamt] Darmstadt n. freundlicher Mitteilung v. Herrn Richard Kehm. Vgl. z. B. OT-Dienstbuch Nr. F 77737, Eintragung: „9.V.44 abg. OBL „Riese“ bis 30.I.45“.
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Nach Berichten von Zeitzeugen77 stellten kriegsgefangene Russen, die selbst in Rundzelten lebten, ab Ostern 1944 in Weitengrund Baracken auf. Vermutlich waren es genormte „Hurdis“-Baracken, die auch an anderen „Riese“-Baustellen78 und für Militärangehörige oder Ausgebombte überall im Reich errichtet wurden. Als Lagerbauplatz hatte man die Besitzungen von Just und Olbrich am Eingang Weitengrunds (heute Pferdehof) gewählt. Das Lager wurde mit Stacheldraht eingezäunt, mit vier Wachttürmen umstellt und später nach Westen bis an das Grundstück von Heinrich Gersch erweitert. Nach Heckenthaler verfügte es über einen Küchen- und Krankenbau.79 Von den oberhalb gelegenen Feldern oder Waldstücken war für die Dörfler alles gut einzusehen. Vom einstigen Lager für mehr als 1.000 Häftlinge existierten 2007 nur noch die Reste seiner gemauerten Desinfektions- und Entlausungsstation.
Abb. 11: Lagerplatz „Falkenberg V“ mit den Resten des Desinfektionsgebäudes. Im Hintergrund der Schindelberg, in den mehrere Stollen getrieben wurden. (Aufn. Meißner, 5.9.2007)
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Gebr. Schenk, Gebr. Gersch, Geschw. Hornig, Hildegard Köhler, +Hubert Hübner, +Ursula Nowack. BA Berlin, R 13, Selbstkostenerstattungsvertrag Nr. 2401/VIII d v.18.10.1944 zw. OT/Fa. H. Butzer, Nachtr.: Fundamente f. Hurdis-Baracken u. Schreiben Fa. Dübener v. 17.12.1944 (Hurdis-Baracken). Heckenthaler: Sonderbauprojekt „Riese“, S. 61.
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Zwischen Lager und alter Schule entstand das Hauptmaterialdepot. Von dort bis zur Bahnüberführung80 der Straße Ludwigsdorf–Falkenberg an der Bahnstrecke Dittersbach-Glatz und weiter zum Bahnhof Königswalde wurde sofort eine Feldbahn gelegt. Sie besaß einen Zweig, der erst bis zum Haus des Hieronymus Hornig und später weiter durch den Wald zu den geplanten Stolleneingängen am Schindelberg führte. Die Verbindung zur Reichsbahn stellten Verladegleise her.81 Für die verspätete Angebotsabgabe zum Bau von Teilen einer „Förderbahn V“ sollte die Fa. Dübener später eine Vertragsstrafe in Höhe von 2.000 RM zahlen. Bauverzögerungen wird es dadurch nicht gegeben haben, weil Pläne offenbar öfter nachgereicht wurden.82 Die Bahn mit ihren Dampfloks und Kipploren diente dem Transport von Baumaterial und dem Abtransport von Stollengestein. Parallel zu diesem Bahnzweig baute man eine neue Straße mit einigen Kehren durch Weitengrund hinauf zu den Stollen am Schindel-Berg, die teilweise durch Hausgrundstücke gelegt wurde, ohne die Besitzer auch nur zu fragen.83 Die Bauleitung V quartierte sich in der alten Euler Schule ein, die heute noch steht.
Abb. 12: Alte Euler Schule – Sitz der „Bauleitung V.“ (Aufn. Meißner, 18.6.2002) 80
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Einheimische nannten die Bahnüberführung „Backufaloch“ = Backofenloch, vgl. Gersch: Backufaloch, S. 3. Neumann: Kriegsende und Vertreibung, S. 304. BA Berlin, Bestand R 13, Brief Fa. Dübener v. 17.12.1944 an Wirtschaftsgruppe Bauindustrie, Berlin. Mitteilung der Gebr. Gersch ab 2003.
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Im Mai 1944, als die OT „Riese“ eben übernommen hatte, steckte die Baustelle „Falkenberg“ noch in den Anfängen, denn im Tätigkeitsbericht des OT-Vermessungsbeamten Friedrich Kehm für diesen Monat heißt es: Die auf Bauleitung II beschäftigten Kameraden wohnen in Charlottenbrunn und haben dort an der Gemeinschaftsverpflegung teilgenommen. Auf Bauleitung V ist letzteres noch nicht eingerichtet und [so] müssen wir uns hier auf Karten selbst verpflegen. Landwirtschaftlich ist die Gegend hier sehr arm und die Verpflegung dem gemäß.84 Aber schon im Sommer 1944 veränderte sich das beschauliche Leben in Eule/Weitengrund grundlegend durch das Aufstellen von Büro-, Wohn-, und Wirtschaftsbaracken, durch Kino und Veranstaltungsräume sowie regen Verkehr. Noch einschneidender für die Weitengrunder war, dass sie nun in einem Sperrbezirk wohnten, vom Häftlingslager nur durch einen Stacheldrahtzaum getrennt. Nach Berichten der Gebrüder Gersch erhielten sie einen Sonderstempel in den Pass, mit dem sie sich vor dem Aufsuchen ihrer Häuser bei den Posten ausweisen mussten.85 Doch als Weitengrunder und Posten einander kannten, gestaltete sich die Kontrolle einfacher. Der Empfang von Besuchern in der Sperrzone blieb aber schwierig. Was soll das hier werden? fragten sich die Einheimischen voller Sorge.86
Lager, Häftlinge und Lagerbewachung Nach den russischen Kriegsgefangenen hatte man Ende April 1944 ca. 1.300 jüdische Häftlinge aus Groß Rosen in blaugestreiften Anzügen mit weißer Nummer und Käppchen in das neue Lager gebracht, das damit zu einer Außenstelle dieses KZ mit der Bezeichnung „Falkenberg V“ unter dem Lagerleiter und SS-Scharführer Wolchow [?] wurde. Der Name eines „Kapos“ soll Willy Weiß und der des Lagerschreibers de Vries gewesen sein.87 Häftlingsangaben zufolge habe es je ein Lager „Falkenberg“ und „Eule“ gegeben,88 was aber definitiv nicht stimmt. Es gab in diesem Bereich nur das „Falkenberg V“ genannte Lager in Ludwigsdorf-Eule. Die Häftlinge, meist ungarische Juden, hörten von Bewachern und Bewohnern wohl beide Bezeichnungen und nannten diese bei späteren Befragungen. Die größeren Jungen des Dorfes, voll unbezähmbarer Neugierde, seien von den Posten manchmal auf einen der vier Wachtürme mitgenommen worden, so ein Zeitzeuge. Diese Wächter, allesamt nicht mehr kriegstauglich, waren ältere deutsche Wehrmachtssoldaten oder jüngere Soldaten mit schweren Verwundungen. Die Gebrüder Schenk89 berichteten, dass die Soldbücher dieser Wachsoldaten im Herbst 1944 eingesammelt und am nächsten Tag mit der überraschenden Eintragung zurückgegeben worden seien, dass sie ab diesem Zeitpunkt Angehörige der Waffen-SS wären, wohl Konsequenz der Zugehörigkeit dieses Lagers zum Arbeitslager „Riese“ des KZ Groß-Rosen. 84
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Kehm, Friedrich: Tätigkeitsbericht für Mai 1944 des OT-Verm.-Trupps an das Darmstädter Feldbereinigungsamt (Mitteilung seines Sohnes, Herrn Richard Kehm, Alsfeld). Mitteilung Gebr. Gersch, die im ehemaligen Sperrgebiet wohnten. Gersch: Chronologische Aufzeichnungen, S. 111. Heckenthaler: Sonderbauprojekt „Riese“, S. 61. Weinmann: Lagersystem. „Eule“ nur von einem Häftling genannt. Gebr. Schenk, ehemals Eule, damals Gymnasiasten.
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Auf die Männer der Wachmannschaft, die nach Heckenthaler in „Falkenberg“ 75 Mann umfasst haben soll,90 werfen die folgenden Beobachtungen ein Licht: Einer der Wachsoldaten, Lehrer Rucker aus Allenstein, ging häufig in Uniform zur Frühmesse nach Falkenberg oder ins 4 km entfernte Ludwigsdorf. Frau und Tochter konnten ihn 1944 in den Ferien besuchen und in der Schule übernachten. Ein anderer Wachsoldat sei, so Zeitzeugen, bis 1933 Bürgermeister von Oranienburg gewesen. Nachfragen dort ergaben, dass es sich um den SPD-Bürgermeister Dr. jur. Arthur Horn gehandelt haben könnte, der am 21. März 1933 sein Amt verlor.91 Die eigentlichen Häftlingsbewacher, so wird berichtet, seien Ukrainer gewesen, wohl SS-Männer, die kaum Deutsch verstanden, ihre Kommandos aber in Deutsch gegeben hätten. Von ihnen seien die Häftlinge oft schikaniert und misshandelt worden. Besonders brutal vorgegangen seien die „Kapos“, die engeren Bewacher der Lagerinsassen. Sie hätten in aller Öffentlichkeit unbarmherzig auf Mitgefangene eingeschlagen.92 Heckenthaler schreibt, dass Gesamtlagerleiter Lütkemeyer in Falkenberg einen Häftling eigenhändig umgebracht habe.93 Der Euler Paul Hornig musste wegen einer schweren Kriegsverletzung nach dem 1. Juni 1944 öfter zum Arzt oder ins Krankenhaus nach Neurode und bekam mangels anderer Möglichkeiten Mitfahrgelegenheit in Häftlingswagen. Er habe sie nicht gern in Anspruch genommen, sagte er später, weil die Häftlinge oft von den Kapos geschlagen worden seien.94 Gersch schreibt aber auch, dass die Häftlinge an den Baustellen, außer Sichtweite des Lagers, humaner behandelt wurden.95 Derselbe, im Sperrgebiet zu Hause, berichtet zudem, dass sich Bewohner und Häftlinge vielfach gekannt und gegrüßt und ein – den Umständen entsprechend – gutes Verhältnis zueinander gehabt hätten. Daher kannten die Einheimischen auch die Herkunftsländer der Juden. Die meisten Dorfbewohner hatten bis dahin keine KZ-Häftlinge gesehen und waren voller Mitleid. Das Elend der Gefangenen rief spontane Hilfsbereitschaft hervor, wie Zeitzeugen übereinstimmend berichten. Viele Dorfbewohner haben ihnen an den Baustellen und wo sonst möglich, Lebensmittel wie Brot, Kartoffeln, Äpfel u.a. zugesteckt oder solche im Vorbeigehen einfach fallen lassen. Gefahr drohte, wenn die brutalen Wachmannschaften das bemerkten. Eine Frau Teuber hatte den Häftlingen Butterbrote hingelegt, wurde von einem Bewacher angezeigt und schwer gerügt. Man tat ihr aber nichts, weil sie schon mehr als 70 Jahre zählte.96 Ähnlich verfuhr man mit der Witwe Maria Gersch. Die Mutter von sieben Kindern hat den Juden oft Brot und andere Nahrungsmittel gebracht, als sie vor dem Haus und in der Nähe Kabelgräben zogen, und ist deswegen angezeigt und vom Ortsbauernführer verwarnt worden: Sie haben es Ihrem Alter und Mutterkreuz zu verdanken, dass ich Sie nicht mitnehme! Nach der Kapitulation kamen meh90 91 92 93 94 95 96
Heckenthaler: Sonderbauprojekt „Riese“, S. 43 Mitteilung v. Christian Becker, Stadtverwaltung Oranienburg, v. 20.6.2008. Mitteilung der Gebr. Gersch 2003. Heckenthaler: Sonderbauprojekt „Riese“, S. 86. Mitteilungen v. Paul Hornig+, Osnabrück. Gersch, A.: Backufaloch, S. 93. Mitteilung der Gebr. Schenk v.17.10.2007.
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rere jüdische Häftlinge, darunter ein Arzt, extra zu ihr auf den Hof, um sich für die Hilfe zu bedanken. Sie starb 1946 und durfte nach polnischen Schikanen schließlich auf dem Falkenberger Friedhof begraben werden.97
Bauarbeiten Eine junge Gehilfin des Rechtsanwalts Hoffmann in Neurode, die aus dem Dorf stammte, wurde dienstverpflichtet und noch von der „Generalbauleitung der Industriegemeinschaft Schlesien AG, Bad Charlottenbrunn“ per Arbeitsvertrag vom 12. April 1944 bei der Bauleitung in Ludwigsdorf als Sekretärin eingestellt.98 Bauleitung und Lagerverwaltung schottete man nach ihren Angaben von den eng benachbarten Häftlingsbaracken weitgehend ab. Im Juli 2003 beschrieb die Informantin ihren Eindruck von den Bauplänen, die sie oft gesehen, aber damals nicht recht verstanden habe, so: Es hat wie Leitern, wie Fenster ausgesehen. Gemeint waren sicher die Stollen als Hauptachsen mit ihren Querverbindungen. An einer Stelle sollten nach Aussage von Bauführern nur noch 50–60 m zur Verbindung der Stollen gefehlt haben. Im Februar 1945 seien die Pläne in Eule verbrannt worden. Die OT-Sekretärin erinnerte sich auch an Verhandlungen der Wehrmacht mit Graf Magnis, Eckersdorf, in der Bauleitung V, Falkenberg, über die erforderliche Landabtretung am Schindelberg. Sie habe den Vertrag dazu geschrieben. Recherchen im Staatsarchiv Breslau ergaben tatsächlich große Waldbesitzungen der Grafen von Magnis am Schindelberg,99die Akte über Zu- und Verkäufe enthielt einen solchen Vertrag allerdings nicht. Den Planungen zufolge, berichtete die ehemalige OT-Angestellte weiter, hätte man die gesamte Zone später zum Sperrgebiet erklären, die Häuser in Weitengrund und Eule abreißen und die Bevölkerung umsiedeln wollen. Das entspräche den Unterbringungsplänen für Tausende Militärangehörige. Dazu passt aber nicht, dass 1944 zwei Häuser in Weitengrund, die bei einem Gewitter abgebrannt waren, mit Hilfe der OT neu, und besser als sie waren, an alter Stelle wieder aufgebaut werden durften.100 Am 9. Mai 1944 traf ein OT-Vermessungstrupp in Bad Charlottenbrunn ein, der bis dahin in der Südukraine bei Landvermessungen und Militäranlagen gearbeitet hatte. Er sollte in der UdSSR brauchbare Kartenwerke herstellen und Hofstellen für siedlungswillige deutsche Landwirte vermessen.101 An ihre Heimatdienststelle, das Feldbereinigungsamt Darmstadt, schickten die Vermessungsbeamten, die jetzt OTDienstränge wie „Haupttruppführer“ trugen, monatlich Tätigkeitsberichte.102 Daraus erfahren wir etwas über ihre Arbeit und die Situation auf den Riese-Baustellen, jedoch nichts über die Lage der Häftlinge und Zwangsarbeiter. 97 98 99 100 101
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Mitteilungen der Familien Hornig/Gersch. Olbrich, Ursula, Arbeitsvertrag v. 12.4.1944. Staatsarchiv Breslau/Wroclaw: Bestand Akta Majatku Magnisow, Sign. 10 085. Gersch: Backufaloch, S. 123 f. OT-Einsatzgruppe Russland-Süd, Sondereinsatz IX, Gauleiter Sprenger, Landeskultur (Melioration und Wasserwirtschaft), lt. Dienstausweis eines Mitglieds. (Mitt durch Herrn Richard Kehm, 2008). Kehm, Friedrich, VermOInsp./OT-Haupttruppführer: Brief v. 23.7.1944, und Tätigkeitsberichte v. 31.5., 30.6., 31.7., 1.9.1944. Mitteilung v. Herrn Richard Kehm, außerdem: Klein, Adam: Ein Kriegsteilnehmer erinnert sich, S. 67–69.
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Im ersten Bericht des Vermessungstrupps nach Darmstadt vom 31. Mai 1944 heißt
Obertruppführer Schultheiß und Stock trafen am 10. Mai 1944 im Sitz der OBL Riese in Bad Charlottenbrunn ein ... Meldung und Besprechung bei dem Leiter der Vermessungsabteilung, Herrn Verm. Rat Grüner ... Kehm und Stock wurden sofort zur Unterstützung eines Verm. Ingenieurs zur Bauleitung V [Falkenberg], etwa 15 km von Charlottenbrunn, kommandiert. Hier wurde eine Aufnahme über ein Waldgelände [gemacht]. Dazu ein Feinnivellierungsnetz zur Bestimmung von Fixpunkten durchgeführt ... Weiter steckten sie am Wolfsberg und in Falkenberg Gebäudeblocks und Straßen ab. Am 30. Juni 1944 meldet Friedrich Kehm: Auf Baustelle V wurde der von mir im Monat Mai gefertigte Höhenschichtenplan auf das Doppelte erweitert, Hochbauten abgesteckt, Stollenachsen vermessen und z. Zt. die Aufnahme eines Gesamtplans unserer Baustelle [Falkenberg] in Angriff genommen ... Schultheiß und Stock sind seit etwa 14 Tagen im Lager Wolfsberg untergebracht ... Bei unserer ... Dienststelle hier wird die Ansicht vertreten, dass wir als OT – eigenes Personal ... jederzeit versetzt werden können ... Ich will Ihnen ... dieses melden, damit Sie Ihre Maßnahmen dafür treffen können, wenn uns die Hess. Landesregierung ... wieder braucht. Heute ist der erste arbeitsfreie Sonntag. Ende Juli 1944 berichtet er nach Darmstadt: Ich selbst arbeite noch an dem Gesamtplan der Baustelle V [Falkenberg] und ... [an der] ... Berichtigung der Koordinaten des im letzten Winter hergestellten Planes. Weiter habe ich 2 Mulden für Massenlagerung vermessen, eine Sonderaufnahme für eine Straßenüberführung über einen Bach gefertigt, ein Stück Straße abgesteckt ... Wir hoffen, dass Sie Einsatzleiter im Gebiet Hessen werden und uns bald wieder anfordern, da der Einsatz „Riese“ z. Zt. doch mit Vermessungspersonal überbesetzt ist, wahrscheinlich in Folge Arbeiter- oder Materialmangel, denn einzelne Baustellen haben z.Zt. sehr wenig zu tun, weil auch ... Aufnahmen von 2 Privat-Vermessungs-Büros ausgeführt werden. Der Einsatzleiter vom Einsatz Riese ist Oberbaurat Meyer. Vermutlich war Meyer dem Berichterstatter aus Russland bekannt, möglicherweise aber auch dem Amtsleiter in Darmstadt. Heckenthaler zufolge waren OT-Bauleiter namens Maier und Poppel in Russland eingesetzt.103 Im Bericht vom 1. September 1944 schreibt Friedrich Kehm: Die Tätigkeit der zur OBL Riese abgeordneten Vermessungsbeamten erstreckt sich wie im Monat August auf laufende Arbeiten für die einzelnen Baumaßnahmen wie Straßen, Hochbauten, Entwässerungen, Stollen, Gebäudeaufnahmen ... Nach wie vor ist das Vermessungspersonal im hiesigen Einsatz überbesetzt. Die Berichte über die Arbeiten in „Falkenberg“ sprechen für sich und bestätigen, was andere schriftliche Quellen und Zeitzeugen berichten: Es gab Hoch-, Tief- und Stollenbaumaßnahmen, aber auch Bauverzögerungen im Juli 1944, die vielleicht mit der neuen Lage nach der Landung der Alliierten in der Normandie zusammenhingen. Ehemalige Einwohner berichten, dass man Stollen nicht nur oben im Schindelberg, sondern auch weiter unten gegenüber dem Haus Spitzer angelegt habe. Tiefe 103
Heckenthaler: Sonderbauprojekt „Riese“, S. 31.
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Baugruben entstanden bei den Rudolfswälder Feldern, Stützmauern und umfangreiche Betonierungen im Wald des Schindelbergs oberhalb des Gersch-Grundstücks. Außerdem wurde u.a. die Hirschhornbrücke erneuert und verstärkt. Das deckt sich mit den Vermessungsberichten, nach denen zu dieser Zeit nicht nur Straßen und Stollen, sondern auch Hochbauten abgesteckt wurden. An der Straße von Ludwigsdorf nach Falkenberg, außerhalb des Sperrbezirks, am heute noch existierenden Bildstock104 des abgerissenen ehemaligen Hofes Gersch/ Hornig in Eule vorbei, wurden im Oktober/November 1944 Gräben gezogen und Leitungen Richtung Wüstewaltersdorf verlegt. Auf der Wiese hinter dem Bildstock versammelte man die jüdischen Arbeiter zum Befehlsempfang. Kinder sahen dabei zu. Fast alle Arbeiten mussten die Häftlinge per Hand ausführen, und zwar auch bei Schnee und großer Kälte in dürftiger Kleidung und ohne Handschuhe. Es war schlimm, wenn man mit ansehen musste, wie die Juden ... im Winter vor Kälte zitterten. Sie kamen barfuß in Holzpantinen und dem Sträflingsanzug an. Hinter ihnen immer jemand mit der Reitpeitsche.105 Einmal konnte die junge OT-Sekretärin Ursula Olbrich bei großer Winterkälte die Ausgabe von Handschuhen an die Arbeiter erwirken. Nach Räumung des Lagers kurz vor Kriegsende fanden Dorfbewohner zu ihrem Erstaunen große Handschuhvorräte. Die schlechte Ausstattung der Häftlinge hatte demnach die Lagerverwaltung zu verantworten. Firmen, die an der Baustelle in Falkenberg arbeiteten, waren u.a. Gustav Dübener und Wayss und Freytag, heute Frankfurt /Main. Letztere hat in den Monaten vor Kriegsende als Ferienarbeiter auch Jungen für 48 Pfennige pro Stunde beschäftigt.106 Anfragen bei der Firma, die heute u.a. Spezialist für U-Bahn-Bauten ist und zu einem holländischen Konzern gehört, sowie beim Hessischen Wirtschaftsarchiv in Darmstadt, das die Kriegsakten der Firma hütet, ergaben leider keine Informationen über das damalige Geschehen in Form von Berichten, Plänen oder Fotos.
Das Ende der Bauarbeiten Über das Ende der Bauarbeiten in „Falkenberg“ gibt es unterschiedliche Angaben. Nach Weinmann wurde das Lager „Eule“ am 13. Januar 1945 (Falkenberg „Jan. 45“) geräumt, und man brachte die Häftlinge via Wüstegiersdorf/Wolfsberg und teils zu Fuß in westliche KZs.107 Heckenthaler nennt mit dem 17. Februar 1945 einen späteren Zeitpunkt als Datum der Lagerauflösung.108 Beide Daten dürften aber nur für einen Teil der Häftlinge gelten, denn die Arbeiten wurden bald danach wieder aufgenommen und erst am 4. Mai endgültig eingestellt. 104
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Das wertvolle alte Bild (Madonna v. Tschenstochau) aus deutscher Zeit ist nach 1946 verkauft oder in ein Museum gebracht und gegen ein kitschig-buntes ausgetauscht worden. Nach H. Köhler verbreiteten Polen im Dorf, die ehemaligen deutschen Besitzer hätten es über Nacht abgeholt! Neumann: Kriegsende und Vertreibung, S. 304. Mitteilung der Gebr. Schenk 17.10.2007. Weinmann: Lagersystem, Stichwörter „Falkenberg“ und „Eule.“ Nach diesen Aufzeichnungen fand die Befreiung am 5.5.1945 statt, die Russen marschierten am 9.5.1945 in Eule ein. Heckenthaler: Sonderbauprojekt „Riese“, S. 90.
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Einwohner berichten: Etwa in der Nacht vom 5. zum 6. Mai 1945 waren alle Juden und auch die OT plötzlich verschwunden. Niemand hat je erfahren, wohin sie gegangen sind.109 Andere Zeitzeugen ergänzen: In Marschkolonnen aufgeteilt und von Soldaten bewacht, brachen sie im Morgengrauen auf, um sich zu Fuß in Richtung Westen in Sicherheit zu bringen ... Auf tschechischem Gebiet haben sich die Gefangenen mit Hilfe der dortigen Bevölkerung befreit und konnten fliehen.110 Was anschließend mit den Häftlingen geschah, ist den Einwohnern, denen die Besatzer alle Informationsmöglichkeiten nahmen und die bald vertrieben wurden, damals verborgen geblieben, aber inzwischen bekannt. Einwohner berichten auch, dass OT-Leute einige Juden von Februar 1945 bis Kriegsende in der Euler KdF-Baracke verstecken konnten. Die Kontrollen waren wohl nicht mehr umfassend. Verm. O. Insp. Friedrich Kehm schreibt am 25. Januar 1945 aus Falkenberg an seine Familie in Alsfeld: Wir sind noch immer in unserem Lager und wissen noch nicht, was mit uns geschehen soll. Und zwei Tage später: Ich habe noch Gelegenheit, diese Kiste mit der Firma Fix [Barackenbau] ... nach Thüringen zu schicken. [Sie] bekommt ... einige Waggons gestellt, damit sie noch das Wichtigste von hier wegschaffen können. Unsere Lage wird immer bedrohlicher, denn der Russe macht die größten Anstrengungen, uns auf die Knie zu zwingen. Hier ist so ziemlich alles in Auflösung und alle OT wird hier zur Front-OT. Wir sollen am Rand des Gebirges Sperren bauen ... Über uns Vermesser ist bis jetzt noch keine Entscheidung gefallen ... während alle anderen schon in Kompanien eingeteilt sind ... Voraussichtlich werden wir noch dem Bataillon „Riese“ zugeteilt werden ... Halten wir den Russen noch mal auf und wird er geschlagen, dann bauen wir hier wieder weiter. Ich habe aber keine große Hoffnung mehr. 111 Die OT-Vermesser verließen Falkenberg am 29. Januar 1945 und reisten einen Tag später mit der ganzen Vermessungsabteilung von Bad Charlottenbrunn zuerst nach Tabarz in Thüringen,112 bald aber weiter über Prag nach Brünn, Brüx und Pilsen, wo sie bis Kriegsende Vermessungen an Flugplätzen für Düsenmaschinen durchführten. Die Vermessungsabteilung verbrannte am 3. Mai 1945 in Tschechien alle Pläne, Karten und Akten. Nach der Kapitulation wurden die OT-Leute vom Einsatzleiter mit Marschproviant versehen und offiziell entlassen. Sie erreichten durch die Sperren der Amerikaner ihre hessische Heimat.113 Das alles spricht dafür, dass die konstruktive Arbeit in Falkenberg und am gesamten Bauvorhaben „Riese“ Ende Januar 1945 tatsächlich eingestellt wurde, denn wichtiges Personal, wichtige Maschinen und Materialien hatte man abgezogen. Allerdings fuhr einer der Vermessungstechniker von Prag erneut nach „Falkenberg“, wohnte bei Familie Polten in Eule und kehrte erst am 10. April 1945 zu seinen Kameraden nach Prag zurück.114 Über seine Tätigkeit im Kreis Glatz wird nichts berichtet. Vielleicht sicherte und tarnte man die Anlagen oder machte sie unbrauchbar. 109 110 111 112 113 114
Neumann: Kriegsende und Vertreibung, S. 304. Gersch: Backufaloch, S. 129. Mitteilung v. Richard Kehm. Vermutlich war Ohrdruf (Thüringen) das Ziel (Führerhauptquartier „Olga“, ZDF, 24.10.1991). Mitteilung v. Richard Kehm (OT-Entlassungsschein v. 8.5.1945, Pöhlau). Tagebuch Friedrich Kehm.
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Beste Baumaterialien und Werkzeuge lagen im Mai 1945, so Gersch,115 noch überall herum. Von den Dörflern seien sie für Ausbesserungen an ihren Häusern verwendet oder für die Nachkriegszeit gehortet worden. Manches habe man in Gräben geworfen und zugeschüttet. Am 8. Mai 1945 zogen deutsche Truppen bis in die Morgenstunden des 9. Mai116 von Norden durch Eule Richtung CSSR und nutzen dabei auch die leeren Baracken. Die Soldaten ließen sehr viel gefährliches Kriegsgerät zurück und sprengten Geschütze. Die 15-jährigen Jungen Helmut Eber, Hubert Olbrich und Gerhard Pohl, jeweils die einzigen Söhne ihrer Familien, sind am 14. Mai 1945 bei der Explosion einer Tellermine am Lagereingang in Weitengrund ums Leben gekommen.117
Die OT-Hinterlassenschaft nach der Kapitulation Was die Sowjets, die am 9. Mai 1945 mittags von Norden über Falkenberg in Eule einrückten, neben Baustoffen noch im „Falkenberger“ Lager vorfanden, ist unklar. Maria Piela 118 schreibt in ihrem Tagebuch, dass Parteigenossen, NS-Frauenschaft und NS-Kriegsopfer am 14. Mai und 20. August 1945 die Euler Baracken reinigen mussten. Sie waren zu dieser Zeit wohl leer, aber immerhin noch vorhanden. Nach der Vertreibung der Deutschen 1946 sollen sie zu Wohnzwecken nach Warschau gebracht worden sein.119 Es ist davon auszugehen, dass Sowjets – und später die Polen – die „Riese“– Baustellen genau untersucht haben. OT-Leute und Büroangestellte wurden verhört. Möglicherweise konnten die neuen Herren auch Unterlagen sichern. Die Russen sollen die Frau des örtlichen OT-Bauleiters, der nicht flüchtete, vor seinen Augen vergewaltigt haben.120 Noch am 16. September 1945 wurde ein polnisch sprechender OT-Mann in Eule als „Partisan“ verhaftet.121 Während der Polenzeit nutzte die Jugend die „Riese“-Hinterlassenschaft auf ihre Weise. Jungen badeten 1945/46 in den Baugruben an den Rudolfswälder Feldern, die voll Wasser gelaufen waren, und unternahmen mit den Loren der Feldbahn auf der teilweise steilen Strecke gefährliche Fahrten. An der Abzweigung der ehemaligen OT-Straße nach Weitengrund von der Hauptstraße in Eule, unmittelbar neben dem ehemaligen Arbeitslager, ist in den letzten Jahren beiderseits der Landstraße ein Pferdehof mit großem Teich entstanden. Das ehemalige Lagergelände mit der Ruine der Desinfektions- und Entlausungsstation wirkt heute ungenutzt. Die vor 60 Jahren durch Weitengrund zum Schindel-Berg gebaute Straße hat die Vegetation teilweise zurückerobert und auf einen normalen Waldweg mit Schotterbelag reduziert. An manchen Stellen zeugen noch exakt gesetzte Bordsteine von den 115 116 117 118 119 120 121
Gersch: Backufaloch, S. 14. Piela, Maria: Mein Kampf, S. 1. Neumann: Kriegsende und Vertreibung, S. 304 f. Piela, Maria: Mein Kampf, S. 1. Mitteilung der Gebr. Schenk. Gersch: Backufaloch, S. 131. Piela, Maria: Mein Kampf, S. 6.
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damals durchgeführten Baumaßnahmen. Die Häuser der Siedlung Weitengrund sind, wie viele andere des einst dicht besiedelten Tales, von den Polen zerstört und die Ziegelsteine, so Hilde Köhler, zum Wiederaufbau nach Warschau gebracht worden. Spuren der damaligen Bauarbeiten finden sich aber noch an anderen Stellen, so z.B. Schotter entlang der ehemaligen Feldbahntrasse. Die Forschungen zu diesem gewaltigen Militärkomplex des Dritten Reiches sind nicht abgeschlossen. Ich wäre Zeitzeugen dankbar für weitere Informationen. Informanten Zeitzeugen und anderen Informanten danke ich herzlich für Auskünfte oder die Überlassung von Unterlagen aus Familienbesitz, so den Damen und Herren Christian Becker, Oranienburg; Andreas und Johannes Gersch, Recklinghausen und Bochum; Reinhard und Marianne Hölsebeck, Bissendorf; † Paul Hornig, Osnabrück/Bissendorf; † Hubert Hübner, Dortmund; Richard Kehm, Alsfeld; Hildegard Köhler; † Ursula Nowak, beide Eule; Elisabeth Olbrich, Osnabrück; Brigitte Schlögl, Moers; Joachim und Klaus Schenk, Paderborn; Jo Sollich, Berlin.
Die NS-Zeit in der Grafschaft Glatz im Spiegel der Ortschroniken 1933 bis 1939 Von Georg Jäschke
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achdem die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 die Macht übernommen hatten und die Grafschaft Glatz am 5. März auch mehrheitlich für Adolf Hitler gestimmt hatte, ist zu fragen, wie sich das politische und gesellschaftliche Leben in der Grafschaft weiter entwickelt hat und wie ihre Bewohner auf die neuen Machthaber reagiert haben. Die Geschichtswissenschaft hat mehrere Grundtypen der Reaktion auf die NS-Herrschaft herausgearbeitet:1 −− Begeisterte Zustimmung zur Politik Hitlers, Verinnerlichung der NS-Ideologie, aktive Beteiligung an unterschiedlichen Aktionen des Regimes. −− Anpassung an die neue politische Lage, Vermeidung von Irritationen gegenüber dem System. −− Weitgehende Ignoranz des politischen Systems, Beteiligung am politischen Leben auf das Allernotwendigste beschränkt, Rückzug in den Privatbereich. −− Offener und versteckter Widerstand gegen das Dritte Reich. Zwei Momentaufnahmen mögen an dieser Stelle die Stimmung in der Grafschaft Glatz nach den ersten Monaten der Regierung Hitlers verdeutlichen: Die Katastrophe wurde eingeleitet durch das Schreckensregime der Nationalsozialisten, das Deutschland in den Krieg führte und mit seiner Ideologie auch unsere kleinen Dörfer erreichte. Es gelang dem Regime jedoch nicht, das Leben wesentlich zu verändern und die dörfliche Gemeinschaft zu spalten. Bei den Bewohnern, traditionell Zentrumswähler und in der Religion und der Tradition verhaftet, außerdem aufgrund der geschichtlichen Erfahrungen skeptisch gegenüber umwälzenden Neuerungen, fanden die neuen Ideen wenig Anklang. Den Bemühungen der „Partei“ waren Grenzen gesetzt, zumal Ortsgruppenleiter Rudolf Reinsch aufgrund seiner unscheinbaren Persönlichkeit wenig Überzeugungskraft aufbrachte. Es lag auch an der Besonnenheit des Bürgermeisters Seifert und wohl auch der anderen Bürgermeister, daß das von einer stark religiösen Grundhaltung geprägte dörfliche Gefüge nicht aus den Fugen geriet. Die Kirche war weiterhin gut besucht, die kirchlichen Feste wurden nach wie vor in dem herkömmlichen Rahmen begangen. In den Schulen mußten die Kreuze zwar von ihrem angestammten Platz dem „Führer“ weichen, wurden aber an anderer Stelle in den Klassenzimmern wieder aufgehängt. Natürlich aber mußten in der Schule die verordneten Fahnenappelle abgehalten werden. Die Jugend wurde in [der]… Hitlerjugend organisiert ... Es gab in unseren Dörfern Parteimitglieder und auch überzeugte Nazis. Diese aber waren bekannt und jeder wußte, wem gegenüber Zurückhaltung mit kritischen Äußerungen geboten war.2 1
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Aus den zahlreichen Werken zur NS-Forschung seien hier exemplarisch erwähnt: Joachim Fest: Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, 1963, Sebastian Haffner: Anmerkungen zu Hitler, 1978, sowie Walther Hofer (Hg.): Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933 – 1945, 1957. NN. Kieslingswalde und Piekarek: Kirchgemeinde Kieslingswalde, S. 127.
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In seiner berühmten Chronik der Stadt Neurode schreibt Joseph Wittig: Wohl nie hat eine Regierung mit soviel Eifer und stürmischer Gewalt um die Herzen des Volkes geworben wie die nationalsozialistische im Jahre 1933. Es galt vor allem, das Volk wieder aufzurichten und mit neuer Hoffnung und neuem Mut zu erfüllen. Die Dumpfheit und die Verzweiflung der letzten Jahre mußten durchbrochen, Ablehnung und Bedenklichkeit überwunden werden. Immer wieder trug der Rundfunk die klärenden, bittenden, beschwörenden und ermutigenden Worte des Führers und seiner Mitkämpfer bis in das kleinste und entlegenste Haus … Nicht mehr durch Wahl und Parlament, sondern durch tägliches Miterleben hatte das Volk Anteil am staatlichen Geschehen ... Die Beteiligung an Werk und Feier der nationalsozialistischen Verbände wurde allmählich eine freiwillige und freudige Hingabe an das neue Leben, das im ganzen Volke erwacht war. Zwischen dem 1. Mai, dem Tag der nationalen Arbeit, und dem 1. Oktobersonntag, dem Tage des nationalen Bauerntums, dem Erntefest, vollzog sich eine starke Umwandlung der Volksstimmung in Neurode.3 Dieses heterogene Stimmungsbild aus Ablehnung, Skepsis, Zurückhaltung, Anpassung bis hin zu gespannter und freudiger Erwartung einer neuen Zeit spiegelt sich auch in den zahlreichen Ortschroniken der Grafschaft Glatz wider. Allerdings fällt der Ertrag der einzelnen Chroniken recht unterschiedlich aus: Während sich die Berichte von Alt- und Neugersdorf, Habelschwerdt, Neurode (bis 1936) Ludwigsdorf und Oberhannsdorf recht intensiv mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen, ist der Erkenntnisgewinn bei Chronisten einiger anderer Orte als recht dürftig zu bezeichnen.
1. Die Gleichschaltung der Gemeinden Nach der sogenannten Machtübernahme am 30. Januar 1933 ging es Hitler zunächst darum, seine Machtbasis auf legale Weise zu erweitern. So hatte er beim Reichspräsidenten erreicht, dass der Reichstag wiederum aufgelöst und für den 5. März Reichsund Landtagswahlen und eine Woche später Gemeindewahlen ausgeschrieben wurden. Sofort setzte ein heftiger Wahlkampf ein, den die Nationalsozialisten mit dem Bonus einer Regierungspartei führen konnten. In manchen Orten wurden sogar Kinder und Jugendliche mit einbezogen in der Absicht, sie als kommende Generation für ihre politischen Belange und in ihre Ideologie einzuspannen. In Ludwigsdorf (einem Ort des Neuroder Kohlereviers) wurden kurz nach Hitlers Machtübernahme Wiener Würstchen und Semmeln an die Schulkinder ausgeteilt. Ein großer Junge sagte mit großem Weitblick und pragmatisch: Doo dermiete wälla se ins rimkrieja. Na, oaber de Werschtlan schmecka gutt! 4 Den Schmeicheleien gegenüber gewissen Bevölkerungsgruppen standen auf der anderen Seite Drohungen gegenüber den politischen Gegnern. In Berlin brannte am 27. Februar der Reichstag, ein willkommenes Signal für Reichsminister Göring, den Kommunisten diese Tat in die Schuhe zu schieben. Bis heute ist die Schuldfrage nicht geklärt, einige Historiker vermuten sogar, dass die Nationalsozialisten dieses Ereignis selbst inszeniert haben. Schon am Tag 3 4
Wittig: Chronik Neurode, S. 525. Völkel: Ludwigsdorf, S. 193.
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darauf erließ Hitler die sogenannte Brandverordnung, die es der Regierung ermöglichte, wichtige Grundrechte auf der Grundlage des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung außer Kraft zu setzen. Sofort setzte eine Jagd auf politische Gegner wie Sozialisten und Kommunisten ein. Auch in der Grafschaft Glatz war die aufgeladene Atmosphäre zu spüren: Am Mölker Eisenbahnviadukt in der Nähe von Ludwigsdorf gelang es den Kommunisten, ein riesiges Transparent zu befestigen, welches die Nationalsozialisten nicht entfernen konnten. Umgekehrt wurde der örtliche KPD-Führer durch Polizei und SA aus dem Wahllokal gejagt.5 In Neurode kam es am 1. März zu gewalttätigen Übergriffen zwischen SA-Männern und einer Gruppe von Gewerkschaftern, die im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold organisiert waren. Sturmführer Alt aus Neurode hatte dem Scharführer Handtke aus Volpersdorf den Auftrag erteilt, mit einer Gruppe von acht SA-Männern die Buchauer Gegend in der Nähe von Neurode zu durchstreifen, da mehrmals Belästigungen von Nationalsozialisten gemeldet worden seien. Durch Handzettel wurden sie gewahr, dass in der Buchauschänke eine Gewerkschafterversammlung stattfinden sollte. Tatsächlich trafen sie in dem Gasthaus den Neuroder Gewerkschaftssekretär Lederer sowie 30 Gewerkschafter an, die aber die Aufforderung sich friedlich aufzulösen befolgten. Als einer der Versammlungsteilnehmer dem Reichsbannerführer Leichsenring in Neurode meldete, ihm sei von einem unbekannten SA-Mann die Reichsbannerkokarde abgerissen worden, nahm das Unheil seinen Lauf. Ein Reichsbannertrupp aus Neurode machte sich nach Buchau auf, um den Sachverhalt vor Ort zu klären. Da sich die Lage aber bereits beruhigt hatte, zog er wieder ab, wurde aber von einer SA-Mannschaft verfolgt, die ihrerseits alarmiert worden war. In der Nähe des Preußischen Hofes kam es zu einem Handgemenge zwischen beiden Parteien, bei dem auch Schüsse fielen. Schließlich wurde der Reichsbannermann Loske, ein Buchdrucker aus Walditz, von einer Kugel getroffen. Schwer verletzt wurde er ins Städtische Krankenhaus nach Neurode gebracht, wo er seiner Verwundung erlag. 21 Reichsbannerleute wurden von einem eilends aus Breslau angeforderten Sondergericht des Landfriedensbruches angeklagt, der Reichsbannerführer Leichsenring und der Reichsbannermann Groeger erhielten 15 Monate Zuchthaus, elf weitere Kameraden wurden zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Sämtliche SA-Mitglieder gingen trotz der Beteiligung an der Auseinandersetzung straffrei aus.6 Insgesamt wurden im Februar und März 1933 im Kreis Glatz 41 Mitglieder linker Gruppierungen verhaftet, im Kreis Habelschwerdt elf.7 Eine Woche nach den Reichstagswahlen vom 5. März8 fanden vorgezogene Kommunalwahlen statt. Entgegen dem bisherigen Trend konnte sich die NSDAP nicht in allen Gegenden des Glatzer Landes als eindeutiger Gewinner behaupten. Im Stadtrat von Glatz vermochte sich die NSDAP nur ganz knapp mit 11 zu 10 Sitzen gegen das Zentrum durchzusetzen,9 in Neurode betrug das Verhältnis 7 zu 610. Eine Überra5 6 7 8
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Vgl. Völkel: Ludwigsdorf, S. 194. Vgl. Wittig: Chronik Neurode, S. 524f. Vgl. Herzig/Ruchniewicz: Geschichte des Glatzer Landes, S. 276. Zu den Ergebnissen vgl. Jäschke: Nationalsozialismus, in: AGG-Mitteilungen Nr. 10 (2011), S. 25–42. Vgl. Pohl: Pfarrchronik, S. 315. Vgl. Herzig/Ruchniewicz: Geschichte des Glatzer Landes, S. 277.
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schung stellte das Habelschwerdter Kommunalergebnis dar: NSDAP und Zentrum erhielten jeweils 6 Sitze, die SPD 2. Bei der Reichstagswahl eine Woche zuvor hatten die Nationalsozialisten gegen den Willen des Bürgermeisters die Hakenkreuzfahne auf dem Rathaus gehisst, was zu Spannungen mit dem stellvertretenden Gauleiter Huebenett führte, der damals noch Stadtverordneter der NSDAP in Habelschwerdt war.11 Auch in den ländlichen Gebieten war der Wahlausgang nicht einheitlich: In den Dörfern des Bieletales im Kreis Habelschwerdt dominierte eindeutig die NSDAP12. Dagegen blieben die Kumpel des Neuroder Kohlereviers der SPD treu, auch das Zentrum und die KPD konnten hier noch achtbare Ergebnisse erzielen. Es schien, als sollte die relativ geschlossene Zustimmung bei der Reichstagswahl zugunsten der neuen Regierung auf kommunaler Ebene zumindest teilweise in Frage gestellt werden. Es war darum notwendig, dass die Hitler-Regierung auch in den Gemeinden für klare Verhältnisse sorgte, auch wenn hier und da ein wenig nachgeholfen werden musste. In Altlomnitz musste Bürgermeister Robert Nieder, der sich gerade in der Zeit der Weltwirtschaftskrise um das Schicksal der Arbeitslosen gekümmert hatte, am 1. Februar 1933 seinen Posten an Georg Kroner abgeben.13 Dasselbe Schicksal erlitt in Konradswalde Heinrich Wolf, der obendrein seinen Posten in der Landwirtschaftskammer verlor, da ihm von Anfang an Programm und Handlungsweise der NSDAP äußerst bedenklich vorkamen.14 Nach ihrem grandiosen Wahlsieg in Bad Landeck hissten die Nationalsozialisten am Tag nach der Kommunalwahl an allen öffentlichen Gebäuden der Stadt und an mehreren Privathäusern Hakenkreuzfahnen. Der bisherige Landecker Bürgermeister Dr. Machon wurde aus seinem Amt entfernt und durch den NS-Parteisoldaten Richard Spreu ersetzt.15 Zu den spektakulärsten Aktionen der Nationalsozialisten gehörte ein Überfall auf den Glatzer Magistrat, bei dem am 13. April 1933 städtische Beamte, darunter Bürgermeister Ludwig und sein Stellvertreter, gewaltsam „außer Dienst gestellt“ wurden. Am 30. August 1933 wurde der langjährige Glatzer Landrat Dr. Peucker beurlaubt.16 Beispielhaft für die Umformung der Gemeinden nach 1933 durch die Nationalsozialisten ist die Beschreibung der Vorgänge in der Gemeinde Ludwigsdorf: Das Wahlergebnis der Kommunalwahlen in Ludwigsdorf war für die NSDAP … kläglich. Sie erreichten gerade mal zwei von insgesamt 18 Sitzen. Von der Reichsregierung und der preußischen Regierung wurden die Kommunalwahlergebnisse praktisch annulliert. Nach dem 1. Gleichschaltungsgesetz vom 31. März wurden zuerst alle kommunistischen Mandate in den neuen Länder-, Provinzial- und Kommunalvertretungen kassiert. Gemäß einem Erlaß des preußischen Ministerpräsidenten Göring vom 23. Juni war dann die SPD als „staats- und volksfeindliche Organisation“ anzusehen, und es wurde angeordnet, alle SPD-Mitglieder in Volks- und Gemeindevertretungen so11 12
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Vgl. Taubitz: Habelschwerdt, S. 43. Exemplarisch sei hier das Ergebnis von Alt- und Neugersdorf genannt (Gröger/Bartsch/Hoffmann), welches den Nationalsozialisten eine 2/3 Mehrheit sicherte (vgl. Tabelle im Anhang). Vgl. Dustewitz: Altlomnitz, S. 79. Vgl. Wolf: Konradswalde, S. 25. Vgl. Güttler: Bad Landeck, S. 77f. Herzig/Ruchniewicz: Geschichte des Glatzer Landes, S. 278.
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fort von der Ausübung ihrer Mandate auszuschließen. In Ludwigsdorf wurden dementsprechend zunächst die Mitglieder der KPD und SPD ausgebootet, darauf eine Reihe Zentrumsleute, insbesondere Mitglieder der Christlichen Gewerkschaften. Der Gemeinde- und Amtsvorsteher Kahlert, seit 1918 bewährt, mußte gehen. Das neu geschaffene Amt des Bürgermeisters übernahm der Nationalsozialist Richard Kammler. Der neue Gemeinderat wurde vom Landrat in Glatz bei maßgeblicher Mitwirkung des NSDAP-Kreisleiters zusammengestellt. … Schließlich wurden die Rechte der, wie auch immer zusammengesetzten, Gemeindeselbstverwaltungskörperschaften noch wesentlich eingeschränkt: Der Gemeinderat verlor seine Stellung als beschließende Körperschaft, und die Gemeindeverwaltung war keine Beschlußbehörde mehr.17 Die neue Regierung scheute auch nicht davor zurück, gewachsene Gemeindestrukturen anzutasten, eine Neugliederung der Gemeinden mit gleichzeitiger Änderung der Ortsbezeichnungen wurde eingeleitet. So wohnte Karl Franke, der Chronist der Gemeinden Glatz-Hassitz, Friedrichswartha und Scheibe, nicht mehr in Scheibe, Dorfstr. 7, sondern in Friedrichswartha Nr. 11, obwohl er nicht umgezogen war.18 Zum Ende des Jahres 1933 zeigte sich, dass die Zustimmung der deutschen Bevölkerung zum neuen Regime zumindest zahlenmäßig überwältigend war. Am 14. Oktober 1933 war Deutschland aus dem Völkerbund ausgetreten. Diesen Schritt wollte sich Adolf Hitler durch eine plebiszitäre Zustimmung absegnen lassen, gleichzeitig erfolgte die Neuwahl des Reichstages nach einer Einheitsliste, da die übrigen Parteien während des Sommers 1933 verboten worden waren oder sich selber aufgelöst hatten. Im gesamten Reich sagten ca. 95 % der Bevölkerung Ja zu Hitlers Schritt, auch in der Grafschaft Glatz fiel das Ergebnis nicht viel anders aus. Lediglich hier und da gab es noch Reste von Widerstand, so z. B. in Ludwigsdorf. Trotz aller Gleichschaltung der Gemeinden war hier noch einmal ein heftiger Wahlkampf entbrannt. Bei den Wahlversammlungen mußten bis zu 14 Polizeibeamte Ruhe und Ordnung garantieren. Von 2.361 Wahlberechtigten billigten 2.162 den Austritt aus dem Völkerbund, was etwa den Ergebnissen im ganzen Reich entsprach. … Möglicherweise hat man in Ludwigsdorf wie in manchen anderen Orten die unbezeichnet abgegebenen Zettel als Zustimmung gewertet.19 Insgesamt waren damit die Orte mit ihren Verwaltungen auf die Linie der Partei gebracht worden, dem Regime unliebsame Politiker waren entlassen und durch regimetreue ersetzt worden. Nicht selten kam es jedoch vor, dass sich die neu Ernannten als Fehlbesetzung erwiesen. Die Schwarz-Rot-Goldene Fahne der Weimarer Demokratie wurde verboten. Obwohl die Weimarer Reichsverfassung de jure nie außer Kraft gesetzt worden war, hatte sie faktisch aufgehört zu existieren. Bezeichnenderweise wurde in der Ludwigsdorfer Schule ein noch vorhandener Stapel an Büchern mit der Verfassung von Weimar zum Altpapier gegeben.20
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Völkel: Ludwigsdorf, S. 195. Vgl. Franke: Glatz-Hassitz, Friedrichswartha, Scheibe, S. 122. Völkel: Ludwigsdorf, S. 198. ebd., S. 199.
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2. Eingriffe in Kirche und Vereinsleben Unmittelbar nach den Reichstagswahlen kam es in der Grafschaft Glatz zu ersten Auseinandersetzungen zwischen der Geistlichkeit und den Nationalsozialisten. Die Glatzer Pfarrchronik weiß mit Eintrag vom 15. März darüber zu berichten: Alle möglichen Gerüchte gehen hier herum. Jede Predigt werde mitstenographiert. Wir Geistliche genau beobachtet. Man hält uns für nicht national. Nur national gesinnte Herren dürften in Zukunft noch predigen. Der Habelschwerdter Pfarrer wurde abgesetzt, weil der den Kommunisten helfe und den Stahlhelm mit der Fahne aus der Kirche gewiesen [habe]. Der Glatzer Pfarrer sei dem Minister denunziert wegen Verweigerung der Hakenkreuzfahne in der Kirche … Der hiesige Oberkaplan Franke spreche die Hitlerleute im Beichtstuhl nicht los ... Man wirft uns Katholiken bzw. dem politischen Katholizismus vor, er habe die Roten, den Bolschewismus, unterstützt seit 1918.21 Diese kurze Situationsbeschreibung macht deutlich, dass sich der Glatzer Klerus in einer schwierigen Lage befand. Wie sollte er sich gegenüber Nationalsozialisten verhalten, die als Katholiken die hl. Messe besuchten? Durfte die Gottesdienstordnung in nationalsozialistischen Publikationsorganen, in Glatz die Zeitung „Grenzwacht“, veröffentlicht werden? Wie sollten kirchliche Feiern anlässlich nationaler Feiertage und Ereignisse gestaltet werden? Manche Entscheidungen bedeuteten mitunter, die Quadratur des Kreises durchführen zu wollen. Bei dem von der Regierung zum nationalen Feiertag erhobenen Tag der nationalen Arbeit (1. Mai) fand in der Glatzer Minoritenkirche ein Gottesdienst ohne Segen und Predigt statt. Am Nachmittag desselben Tages nahmen alle katholischen Vereine am Umzug teil. In Ludwigsdorf zogen am selben Tag die Nationalsozialisten in ihren braunen Uniformen und mit ihren Hakenkreuzfahnen in die Kirche ein.22 Kurz darauf wurde in Glatz die Abteilung der SA und SS zur Standarte I 38 (Moltke) erhoben. Wie sollte sich der Pfarrer verhalten, als er um aktive Teilnahme an der Feier auf der Festung am 14. Mai gebeten wurde? Für Pfarrer Dr. Monse war wichtig, dass es sich dabei zwar um einen Feldgottesdienst handelte, jedoch nicht um eine hl. Messe im Raum der Kirche und er keine Predigt, sondern nur eine Ansprache hielt. Mit solchen Spitzfindigkeiten konnte man ihm von Seiten der Regierung nicht vorwerfen, er vernachlässige seine patriotischen Pflichten.23 In manchen Orten der Grafschaft Glatz wurde die Auseinandersetzung schon heftiger geführt. In Ludwigsdorf stahl ein Parteianhänger aus der Kirche die Wimpel der Marianischen Kongregation und beschlagnahmte die Fahne des katholischen Jünglingsvereins. Die Pfarrbücherei, die sog. Borromäusbibliothek, wurde einschließlich Unterhaltungsliteratur entfernt, da man offensichtlich Gefahren für Volk und Reich witterte.24 Im Verhältnis zwischen Staat und Kirche trat eine neue Situation ein: Am 20. Juli schlossen die deutsche Reichsregierung und der Hl. Stuhl ein Konkordat ab, welches die Nationalsozialisten als ungeheure Aufwertung betrachteten. Der Va21 22 23 24
Pohl: Pfarrchronik, S. 315f. Vgl. Völkel: Ludwigsdorf, S. 197. Vgl. Pohl: Pfarrchronik, S. 317f. Vgl. Völkel: Ludwigsdorf, S. 196.
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tikan erhoffte sich durch das Abkommen einen gewissen Bestandsschutz für den deutschen Katholizismus. Art. 1. des Reichskonkordates schien diesem Anliegen Rechnung zu tragen: Das Deutsche Reich gewährleistet die Freiheit des Bekenntnisses und der öffentlichen Ausübung der katholischen Religion. Es anerkennt das Recht der katholischen Kirche, innerhalb der Grenzen des für alles geltenden Gesetzes, ihre Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten und im Rahmen ihrer Zuständigkeit für ihre Mitglieder bindende Gesetze und Anordnungen zu erlassen.25 Als nachteilig sollten sich allerdings sofort die Bestimmungen zur Betätigung der katholischen Verbände und Organisationen im staatlichen Bereich (Art. 31) sowie das Verbot der Mitgliedschaft und Betätigung von Geistlichen und Ordensleuten in politischen Parteien (Art. 32) erweisen. Verwirrend kam hinzu, dass sich die Zentrumspartei am 10. Juli aufgelöst hatte. Mit dem Reichskonkordat hatte damit die katholische Kirche in Deutschland ihren politischen Arm, die Zentrumspartei, geopfert. Nicht lange ließen die staatlichen Repressionen auf sich warten. Dies traf besonders Vereine und Verbände, die im sozial-karitativen Bereich tätig waren. Im Zuge der Gleichschaltung wurden diese in die entsprechenden NS-Verbände eingegliedert. In Schlegel gingen schon 1933 der St. Elisabethverein (Verein für soziale Betätigung der schulentlassenen weiblichen Jugend) und der Katholische Gesellenverein in die nationalsozialistische deutsche Arbeiterbewegung ein. Um jedoch ihre religiöse Tradition weiter zu pflegen, gründete Kaplan Firlej Jugendgruppen, die Jungschar St. Paulus für die männliche und den Jungbund St. Maria für die weibliche Jugend.26 Ähnliche Bestrebungen gab es an weiteren Orten der Grafschaft Glatz. Der Klerus war sich darüber im Klaren, dass die katholische Jugend nicht einfach den NS-Jugendverbänden kampflos überlassen werden durfte. Im Laufe der Zeit nahmen die staatlichen Schikanen trotz Konkordatsbestimmungen zu: Die SA hält die Übungen fast jeden Sonntag vormittag 9 Uhr ab. Die Folge ist die Vernachlässigung der Sonntagspflicht.27 Neben diesen vereinzelten Behinderungen, vor allem gegen die Zentrale der deutschen katholischen Jugend im Haus Altenberg und ihre Leitung, konzentrierte sich der Staat nun auf allgemeine Maßnahmen: Am 23. Juli 1935 erging eine Polizeiverordnung gegen die konfessionellen Jugendverbände in Preußen, die bald danach auch auf das gesamte Reich ausgedehnt wurde. Darin hieß es u.a. in § 1: Allen konfessionellen Jugendverbänden, auch den für den Einzelfall gebildeten, ist jede Betätigung, die nicht rein kirchlich-religiöser Art ist, insbesondere eine solche politischer, sportlicher und volkssportlicher Art untersagt. Weiterhin wurde in § 2 das Tragen von Uniformen, die auf die Zugehörigkeit zu einem konfessionellen Jugendverband schließen lassen, das Tragen von Abzeichen, das geschlossene Aufmarschieren, Wandern und Zelten in der Öffentlichkeit, das öffentliche Mitführen oder Zeigen von Bannern, Fahnen und Wimpeln sowie die Ausübung und Anleitung zu Sport und Wehrsport untersagt. Zuwiderhandlungen konnten nach § 3 im Einzelfall mit Zwangsgeld oder Zwangshaft bestraft werden.28 Damit sollte die Betätigung der 25 26 27 28
Artikel des Reichskonkordates entnommen aus: Raem: Katholische Kirche und NS, S. 40–42. Wittig: Schlegel, S. 637f. Pohl: Pfarrchronik, S. 327. Vgl. Jäschke: Junge Grafschaft, S. 16f.
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konfessionellen Jugend auf den rein religiös-kirchlichen Raum beschränkt bleiben. Auch für die Glatzer Jugend zeigten sich erste Auswirkungen. Gruppenstunden für die Jüngeren wurden nicht mehr im Freien abgehalten ... Weitere Auswirkung des Erlasses von 1935 war der Verlust fast aller öffentlichen Jugendheime und –räume im Bereich der Stadt Glatz.29 Neben dem Verbot von katholischen Jugendverbänden, wie z. B. der Pfadfinderschaft St. Georg, Kolpingjugend, Bund Neudeutschland u.a., hatten die Nationalsozialisten per Gesetz zum 1. Dezember 1936 erstmalig eine Zwangsmitgliedschaft des gesamten Jahrgangs 1926 in NS-Jugendorganisationen verfügt. Jugendkapläne kümmerten sich vor Ort um die religiöse Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Auch in Oberschwedeldorf gab es eine Abteilung der SA, eine NS-Frauenschaft sowie die Jugendverbände HJ und BDM. Diese spielten aber nur eine untergeordnete Rolle, … da der damalige Kaplan A(dolf) Jaschke die Jugendlichen durch ein begeisterndes Programm an die kath. Vereine band. In der Hitlerjugend wurde in der Regel nur einmal in der Woche Fußball gespielt.30 Die Reaktion auf die Gleichschaltung der Jugend erforderte ein sorgfältig abgestimmtes Verhalten der katholischen Kirche im Hinblick auf die Jugendseelsorge. In den einzelnen Diözesen sollten Jugendseelsorger zur Betreuung der Jugendlichen eingesetzt werden. Analog beauftragte 1937 der damalige Glatzer Stadtpfarrer Dr. Monse seinen Kaplan Johannes Taube mit einer Neuformierung der Jugendarbeit im kirchlichen Raum. Für die Jugendlichen außerhalb der Stadt Glatz wurde ein offizielles kirchliches Jugendamt beim Generalvikariat für die Grafschaft Glatz eingerichtet. Erster hauptamtlicher Jugendseelsorger wurde der geistliche Leiter der FJ31, P. Xaverius (Hubertus) Günther. Ihm zur Seite gestellt wurden Kaplan Hirschfelder (Grenzeck) sowie Anna-Maria Boese für die Betreuung der weiblichen Jugend ... Besondere Jugendtage mit feierlichen Gottesdiensten und Vorträgen wurden in Albendorf, Maria Schnee, auf dem Spittelberg bei Glatz und in manch anderen Orten gehalten, um die Jugend auch aus der Umgebung zum gemeinsamen, religiösen Erlebnis zu führen … Immer war es eine große Anzahl Mädchen und Jungen, die sich ansprechen ließen.32 Diese Konzeption des Generalvikariates bedeutete insgesamt eine gefährliche Gratwanderung, besonders für die mit der Jugendarbeit betrauten Geistlichen. Sie erfreuten sich einer besonderen Beobachtung durch staatliche Organe. Bereits Ende 1935 wurde Xaverius Günther wegen hetzerischer Kanzelrede über die staatlichen Verordnungen gegen die konfessionellen Jugendverbände zu 300 RM Geldstrafe verurteilt.33 Eine Verschärfung der Lage trat am Palmsonntag 1937 ein, als von sämtlichen deutschen Kanzeln die päpstliche Enzyklika „Mit brennender Sorge“ verlesen wurde, die die staatlichen Maßnahmen gegen die katholische Kirche, vor allem die massiven Verletzungen des Konkordates, brandmarkte. Nun wurde die kirchliche Jugendarbeit komplett verboten, Geistliche, die mit der Jugendarbeit betraut waren, gerieten noch 29 30 31
32 33
ebd., S. 17. Oberschwedeldorf, S. 436. Franziskanische Jugend, Ende der 1920er Jahre in Glatz gegründeter Verband für Kinder und Jugendliche, der sich am franziskanischen Ideal orientierte. Jäschke: Junge Grafschaft, S. 20. Pohl: Pfarrchronik, S. 341.
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schneller mit den nationalsozialistischen Behörden in Konflikt. P. Xaverius Günther wurde allein zwölf Mal vor die Gestapo geladen, musste sich in drei Prozessen verteidigen und wurde einmal mit Gefängnis bestraft. Johannes Taube befand sich 1937/38 15 Monate in Untersuchungshaft in Breslau.34 Seine Konkurrenz zur Arbeit der NSJugendverbände in Oberschwedeldorf wurde Kaplan Adolf Jaschke zum Verhängnis, auch er wurde intensiv von der Gestapo verfolgt und zweimal ins Glatzer Untersuchungsgefängnis gesteckt.35 Selbst die Erteilung des Religionsunterrichtes war vor den Nationalsozialisten nicht mehr sicher. Der Pfarrer von Konradswalde, Petrus Tautz, musste sich deswegen im November 1935 verantworten, als er einige Tage in Breslau in Schutzhaft genommen wurde. Dennoch führte er nach seiner Rückkehr seine seelsorgerische Tätigkeit unerschrocken und eifrig weiter.36 In Ludwigsdorf wandte sich Kaplan Georg Faber unerschrocken gegen die NS-Ideologie. Man versuchte ihn durch gezielte Pöbeleien, Mißhandlungen und Demütigungen mundtot zu machen. Aber das gelang schon deshalb nicht, weil er bis auf wenige Ausnahmen die ganze Dorfbevölkerung hinter sich hatte. 37 Auch vermochten ihm Gefängnisstrafen und Schutzhaft nichts anzuhaben. In der Filialgemeinde Krainsdorf bot er einigen ortsfremden Denunzianten, die versuchten, seine Predigten mitzuschreiben, an, sich Kopien „zur gefälligen Nutzung“ in der Sakristei abzuholen.38 Recht skurril wirkt dagegen die Geschichte, die sich im Neundorfer Pfarrhaus zutrug. Pfarrer Filla hatte sieben Theologen, ehemalige Schüler, die sich bei ihm zu Besuch angesagt hatten, im Pfarrhaus vom 18. bis 20. August 1938 einquartiert. Am darauffolgenden Tag sollte eine Erstkommunionfeier stattfinden, die die Besucher mit Choralgesang umrahmen sollten. Am späten Abend des 20. August erschienen zwei dunkle Gestalten im Pfarrhaus, die sich mit ihren Dienstmarken als Angehörige der Gestapo auswiesen, mit dem Befehl, „das Ferienlager aufzuheben“. Trotz Protestes an die Gestapo-Zentrale in Breslau mussten die Theologen am Sonntagmorgen ihre Unterkunft verlassen. Als Denunziant wurde später ein Zollbeamter aus der näheren Umgebung entlarvt. Allerdings erreichte er nicht sein Ziel, da merkwürdigerweise Pfarrer Filla und seine Theologiestudenten fortan nicht mehr belästigt wurden.39 Aber nicht nur die kirchlichen Vereine und Verbände wurden vom Bannstrahl des Systems getroffen. Das gesamte Vereinswesen im Bereich der Arbeiterschaft wurde ebenfalls gleichgeschaltet, an der Spitze die Gewerkschaften, die nun in die Deutsche Arbeitsfront (DAF) eingegliedert wurden. In vielen Orten der Grafschaft Glatz wurden weiterhin Arbeiterturnvereine, -gesangsvereine und Radfahrervereine verboten. Alle korporativen Vereinigungen wurden nach dem Führerprinzip umorganisiert und erhielten einen neuen NS-Namen, zum Beispiel die NS-Bauernschaft mit einem Ortsbauernführer.40 34
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Jung (Hg.): Sie gehören zu uns, S. 44. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Hirschfeld, M.: „Grafschaft Glatzer Priester im Konflikt mit dem NS-Regime“, in diesem Buch. ebd., S. 31. Blaschke und Wolf: Konradswalde, S. 170. Völkel: Ludwigsdorf, S. 203. ebd., S. 197. Vgl. Langer: Neundorf, S. 52f. Völkel: Ludwigsdorf, S. 195.
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Auch die Sportvereine wurden nun nach dem Führerprinzip ausgerichtet. Dies erfuhr auch der renommierte Altheider-Ballspiel-Club (A.B.C.): Die politischen Ereignisse des Jahres 1933 wirkten sich anfangs belebend auf die Sport-Ausübung aus, aber im Laufe der Zeit wurde das Vereinsleben immer mehr politisiert und die jungen Nachwuchsspieler mussten alle in die Hitler-Jugend (H-J) eintreten und gingen dem Verein verloren.41 Schließlich kam das Vereinsleben 1939 mit Beginn des Zweiten Weltkriegs zum Erliegen, da viele junge Männer eingezogen wurden und den jeweiligen Vereinsmannschaften nicht mehr zur Verfügung standen. Die Turngeräte des Jugendvereins aus Niederhannsdorf, welche nach der Gleichschaltung auf dem Boden des Pfarrgebäudes aufbewahrt wurden, mussten im Sommer 1939 auf Anordnung des Landrates von Glatz der Hitler-Jugend abgetreten werden.42 Auch wenn viele Menschen bemüht waren, sich mit dem neuen System zu arrangieren, so erweckten doch die Maßnahmen der Gleichschaltung in allen Bereichen der Gesellschaft vor allem bei der nach wie vor mehrheitlich katholisch orientierten Grafschaft Glatzer Bevölkerung beträchtliche Irritationen. Beispielhaft sei an dieser Stelle zu nennen, dass ab 1938 kein Priester mehr in den Schulen Religionsunterricht erteilen durfte. Der Religionsunterricht wurde von vier Stunden wöchentlich auf zwei Stunden reduziert und nur noch von der Lehrerschaft erteilt. Um einen Ausgleich zu schaffen, wurden von der Kirchl. Behörde „Kinderseelsorgstunden“, erteilt durch die Seelsorger, angeordnet.43 Zu diesem Zweck mussten in vielen Pfarreien zusätzliche Räumlichkeiten geschaffen werden. Die vielen Nadelstiche gegen die katholische Kirche und die Einschränkung des religiösen Lebens und Umfeldes wirkten auf viele Grafschafter im zunehmenden Maße alarmierend und ließen sie auf Distanz zu den braunen Machthabern gehen. Vor allem die staatlichen Schikanen gegen viele Geistliche, die im Tod Kaplan Hirschfelders im KZ Dachau ihr schlimmstes Ausmaß annahmen, öffneten vielen Grafschaftern die Augen über die wahren Absichten Hitlers und seiner Parteigenossen.
3. Hitlers Parole „Heim ins Reich“ in ihrer Auswirkung auf die Grafschaft Glatz Neben der Gleichschaltung der deutschen Bevölkerung in allen gesellschaftlichen und politischen Belangen wollte Adolf Hitler im Bereich der Außenpolitik eine alte Hypothek abräumen, bei der die verantwortlichen Politiker der Weimarer Republik nur bescheidene Erfolge erzielt hatten. Der Versailler Vertrag, der in Deutschland unisono als Schanddiktat empfunden wurde, hatte 13 % des Reichsgebietes mit überwiegend deutschsprechender Bevölkerung von Deutschland abgetrennt. Nachdem die Rheinlande noch vor der Machtergreifung Hitlers vorzeitig von den Alliierten geräumt worden waren und das Saarland sich 1935 mehrheitlich für die Rückkehr zum Deutschen Reich ausgesprochen hatte, gedachte der Führer nun, alle Deutschen „heim ins Reich“ zu holen. Dabei überbot er die Revisionspolitik des Versailler Vertrages, indem er im März 1938 seine Heimat Österreich dem Deutschen Reich anschloss. Nun 41 42 43
Wenzel: Altheide, S. 318. Vgl. Raschdorf: Niederhannsdorf, S. 78. ebd.
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wandte er seinen Blick in Richtung Sudetenland, welches nach dem Ersten Weltkrieg durch die Auflösung des Habsburgerreiches dem neuen tschechoslowakischen Staat zugeschlagen worden war und in dem sich 3 Millionen Sudetendeutsche als nationale Minderheit fühlten. Durch die territoriale Neuordnung war auch die Grafschaft Glatz durch Annexion bedroht, denn dem Ersten Weltkrieg hatte es Bestrebungen gegeben, die Grafschaft Glatz, die kirchenrechtlich weiterhin zur Erzdiözese Prag gehörte, ebenfalls in den neuen tschechoslowakischen Staat (CSR) einzugliedern. Nur unter großen Anstrengungen, bei denen sich vor allem der Glatzer Rechtsanwalt und Notar Robert Boese (1877–1944) große Verdienste erwarb, konnten diese territorialen Bestrebungen des Nachbarstaates erfolgreich verhindert werden. Dennoch blieb bei den Bewohnern der Orte in der südlichen Grafschaft ein beklemmendes Gefühl zurück. Zum Schutz der grenznahen Bevölkerung patrouillierten Truppenverbände, um etwaige tschechische Übergriffe zu verhindern. Im Zuge der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wurde nun der „Grenzschutz“ in den grenznahen Dörfern aufgestellt, der 1936 durch die „Grenzwacht“ ersetzt wurde. Die tschechische Seite ihrerseits begann im größeren Stil Grenzbefestigungen zu errichten. Große Bunkeranlagen wurden im Bereich Bobischau, Nieder-Lipka, Grulich und im Senftenberger Forst fertig gestellt. Für die Grafschafter Grenzdörfer war damit klar, dass sie im Kriegsfalle in der vordersten Linie lagen.44 Einige Sudetendeutsche kamen nun sogar als Flüchtlinge über die Grenze und stellten Pferd und Wagen bei Grafschafter Bauern unter.45 All dies machte deutlich, dass die Prager Regierung es seit 1918 nicht verstanden hatte, die sudetendeutsche Minderheit in den neuen Staat zu integrieren. So formierte sich allmählich politischer Widerstand auf Seiten der Sudetendeutschen. Im Oktober 1933 gründete Konrad Henlein (1898–1945) die Sudetendeutsche Heimatfront anstelle der in der CSR verbotenen NSDAP. Zwei Jahre später änderte diese ihren Namen in Sudetendeutsche Partei (SDP). Bei den Parlamentswahlen 1935 erhielt sie 44 von 300 Sitzen, sie vertrat damit zwei Drittel der deutschsprachigen Bevölkerung in der Tschechoslowakei und forderte nun immer vehementer staatliche Autonomie für das Sudentenland. Hitler, dem diese Bestrebungen sehr entgegen kamen, unterstützte erst geheim, dann im Laufe des Jahres 1938 immer offener die SDP. So spitzte sich die politische Lage zu, da Hitler und Henlein sich auf eine gemeinsame Strategie geeinigt hatten, immer mehr zu fordern, als von der tschechischen Seite zugestanden werden konnte. Während des Sommers 1938 bereiste eine vom englischen Premierminister Chamberlain beauftragte Kommission unter Lord Sir Walter Runciman die Tschechoslowakei und das Sudentenland. Nachdem er sowohl die Prager Regierung als auch die sudetendeutsche Seite gehört hatte, kam er in einem Schlussbericht über seine Mission in Prag u.a. zu folgendem Ergebnis: Nach meinem Dafürhalten müßten dabei die Grenzgebiete sofort von der Tschechoslowakei an Deutschland abgetreten werden, und die Modalitäten der friedlichen Übergabe, einschließlich einer Sicherheitsgarantie für die Bevölkerung in der Übergangsperiode, müssten durch eine Vereinbarung der beiden Regierungen geregelt werden. Die Übergabe dieser Grenz44 45
Vgl. Katzer: Bobischau, S. 34. Vgl. Just: Krainsdorf, S. 165.
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gebiete löst jedoch nicht endgültig die Frage des künftigen friedlichen Nebeneinanderlebens der Deutschen und der Tschechen …46 Mit dieser Einschätzung sollte er leider recht behalten. Um die Krise zu beseitigen, einigten sich England, Frankreich, Italien und Deutschland im sogenannten Münchner Abkommen am 29./30. September 1938 auf die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich. In vier Etappen sollten bis spätestens zum 10. Oktober 1938 die betreffenden Gebiete zu Deutschland kommen. Ein unbekannter Chronist berichtet über diese bewegenden Tage: Am 1. Oktober 1938 begann der Einmarsch in die einzelnen Zonen des Sudetenlandes. Das nördliche Altvatergebiet bildete die vierte Zone. Von Oberschlesien her und durch das Bieletal strömten die feldgrauen Kolonnen ihren Zielen zu. Der Vormarsch in die anderen Teile des die Grafschaft umgebenden Sudetenlandes – Adlergebirge, Dürrer Berg, Grulich – erfolgte am letzten Besatzungstage, dem 10. Oktober. Deshalb ist der 10. Oktober ein Schicksalstag für unsere Heimat; denn vom 10. Oktober 1938 ab ist die Grafschaft kein Grenzland mehr! Bereits am 8. füllten sich die Grafschafter Orte mit Soldaten, Geschützen, bespannten und motorisierten Fahrzeugen aller Art … Am 10., Schlag 12 Uhr, erfolgte der Einmarsch zwischen Bobischau und Nieder-Lipka unter den frischen Klängen des „Egerländer“ und anderer Armeemärsche. Am ehemals tschechischen Zollhaus lag ein Angehöriger des von der SA betreuten Sudentendeutschen Freikorps tot in seinem Blute.47 Noch zwei Wochen dauerten die Manöver der deutschen Truppen, bis das Gebiet der Grafschaft Glatz endlich geräumt war. In den Kelch der Freude, nicht mehr im Grenzgebiet und im Bereich potentieller tschechischer Bedrohung zu liegen, mischten sich auch einige Wermutstropfen. Der Durchzug und die vorübergehende Stationierung deutscher Truppen in den südlichen Orten der Grafschaft zeigten auch ihre unangenehmen Seiten. Schon im Juni 1938 war es in Niederhannsdorf zu einem peinlichen Zwischenfall gekommen. Hier lag infolge der Zuspitzung der Sudetenkrise für einen Zeitraum von sechs Wochen eine Nachrichteneinheit aus Liegnitz in einer Stärke von ca. 200 Mann. Am 17. Juni wurde ein Militärball gefeiert, da die Truppe am nächsten Tag abziehen sollte. Wie alljährlich blieben die vier Altäre zum Fronleichnamsfest, welches in jenem Jahr am 16. Juni gefeiert wurde, bis zum darauffolgenden Sonntag im Freien aufgestellt. Am Sonnabend früh durcheilte die Gemeinde Niederhannsdorf die Nachricht, dass der Fronleichnamsaltar zwischen zwei Linden, welcher der Kirche gehörte, umgestürzt und stark beschädigt worden sei. Es stellte sich recht bald heraus, dass der Altarschänder ein Unteroffizier aus der Liegnitzer Einheit war. Bürgermeister und Amtsvorsteher Großmann erstattete sofort seinem Dienstvorgesetzten, dem Landrat, Anzeige, zumal noch weitere übermütige Sachbeschädigungen vorgekommen waren. So hatten ein Leutnant und ein Feldwebel besagter Einheit das alte Schilderhäuschen am Spritzenhaus kurzerhand in den Dorfbach befördert. Ein scharfer Brief des Landrates an den Kompanieführer zog allerdings keine weiteren disziplinarischen Konsequenzen für die Übeltäter nach sich, geschweige denn wurde der angerichtete Schaden ersetzt.48 Auch für die Bewohner des Grenzortes Bobischau bedeutete das 46 47 48
Bericht Lord Runciman, S. 150. Katzer: Bobischau, S. 34f. Vgl. Raschdorf: Niederhannsdorf, S. 73f.
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Münchner Abkommen nicht ungetrübte Freude. Auf der Rückfahrt vom Sudetenland fuhr Adolf Hitler durch den reich mit Fahnen geschmückten Ort und ließ sich als Befreier bejubeln. Freilich ahnten viele Bewohner noch nichts von seinen weiteren Plänen, die das Münchner Abkommen vorerst durchkreuzt hatte. Im März 1939 marschierten die deutschen Truppen in die sogenannte Rest-Tschechei ein, Prag wurde Verwaltungssitz des Protektorates Böhmen und Mähren. Nun tauchten verstärkt in regelmäßigen Abständen Geschütz-Batterien in Bobischau auf, um sich auf die tschechischen Bunkeranlagen, die die CSR vor 1938 hatte anlegen lassen, einzuschießen und deren Festigkeit zu testen. Wenn die Geschütze unweit des Dürren Berges in Stellung gebracht wurden, bedeutete das für die meisten Dorfbewohner, daß sie an den Tagen des Beschusses der Bunker Haus und Hof verlassen mußten. Bis morgens um 9 Uhr mußten die Häuser geräumt sein. Am Nachmittag gegen 16 Uhr durften sie wieder zurückkehren. Für diese Aktion erhielt jeder davon betroffene Bewohner 3 RM pro Tag. Für viele war es eine willkommene Abwechslung, aber nicht immer eine begrüßte Unterbrechung der landwirtschaftlichen Tätigkeiten, wenn z. B. gutes Wetter zum Einbringen der Ernte nicht genutzt werden konnte. … Für die deutsche Wehrmacht war das Einschießen auf konkrete Ziele bedeutungsvoll, ihr besonderes Interesse aber galt den Panzerkuppeln auf den Bunkern. Sie wurden abgesprengt und auf großen Lastwagen oder Tiefladern zu den Befestigungsanlagen des Westwalls nach Frankreich transportiert und dort eingebaut.49 Das außenpolitische Vorgehen Hitlers 1938/39, insbesondere die Auswirkungen der Sudetenkrise auf die Grafschaft Glatz, gaben wachen Zeitgenossen einen Vorgeschmack auf den Krieg. Im Zuge seiner Ideologie vom Lebensraum im Osten ließ er deutsche Truppen am 1. September 1939 in Polen einmarschieren. Anders als zu Beginn des Ersten Weltkriegs stellte sich jetzt keine Kriegsbegeisterung ein. Auch an keiner Stelle in den Grafschafter Ortschroniken finden sich dazu Hinweise, vielmehr ist häufig von den jungen Männern die Rede, die nun als Soldaten in den Krieg ziehen mussten. In diesen Anmerkungen drückte sich wohl eher die Sorge vor einer unheilvollen Zukunft aus.
4. Fazit Überblickt man die zahlreichen Ortschroniken der Grafschaft Glatz, so ergibt sich ein sehr heterogenes Bild, das einem schwer zusammensetzbaren Puzzle gleicht, welches obendrein von einigen Lücken geprägt ist. Einige Berichte blenden die Zeit des Dritten Reiches bis zum Ausbruch des Krieges fast vollständig aus, andere wiederum konzentrieren sich nur auf Teilaspekte oder kommentieren Einzelereignisse, die die örtliche Bevölkerung bewegt haben. In der Minderheit sind es Chroniken, die sich durchgehend mit der Zeit von 1933 bis 1939 in politischer, gesellschaftlicher und religiöser Hinsicht beschäftigen. Wie hat die Einwohnerschaft der Grafschaft Glatz die NS-Herrschaft erlebt und empfunden? Als Ausgangspunkt gilt es festzuhalten, dass am 30. Januar 1933 das System der Weimarer Demokratie, welches sich in Deutschland zunehmend gerin49
Katzer: Bobischau, S. 36.
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ger Beliebtheit erfreute, durch die nationalsozialistische Diktatur abgelöst wurde. Viele setzten ihre Hoffnung auf den Führer, der nahezu allen Bevölkerungsgruppen bessere Zeiten versprach. Dies gilt bis zu einem gewissen Grad auch für die Grafschaft Glatz. In zwei Milieus konnte sich Hitler jedoch nicht durchsetzen: Bei den praktizierenden Katholiken, die nach wie vor die Zentrumspartei gewählt hatten, sowie bei den Arbeitern des Neuroder Kohlereviers, die in alter Tradition der SPD die Treue hielten. Aufgrund des ausgewerteten Quellenmaterials lassen sich mehrere Beobachtungen treffen, die deutlich machen, wie sich das Verhältnis der Grafschaft Glatzer Bevölkerung zu den braunen Machthabern gestaltete: 1. Wie überall in Deutschland gab es in der Grafschaft Glatz einen gewissen Prozentsatz von Sympathisanten, die Vorteile aus dem System zogen und in politische Leitungspositionen gelangten, die ihnen in der Demokratie verschlossen geblieben wären. Über sie berichten die Ortschroniken relativ wenig, Namen werden nur genannt, wenn es gilt, Maßnahmen der NS-Diktatur notfalls mit Gewalt gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen durchzusetzen. 2. Das Schweigen einiger Ortschroniken zu dieser Zeit darf sicherlich nicht als Zustimmung zum politischen System gewertet werden. Es zeugt vielmehr davon, dass der Alltag vieler Leute sowohl im städtischen als auch im ländlichen Milieu nicht von Politik geprägt war, dass man sich aber im System der NSDiktatur, so gut es ging, eingerichtet hatte, um sozusagen als Mitläufer politisch nicht aufzufallen. 3. Recht häufig berichten die Chronisten über Vorfälle, bei denen die örtliche Parteiadministration und das Militär in das private, gesellschaftliche und religiöse Leben der jeweiligen Ortsbewohner eingegriffen haben. Diese wurden zunehmend als störend, teilweise sogar als bedrohlich empfunden und dürften die Zustimmung zum NS-System mit fortschreitender Dauer verringert haben. 4. Besonders im Visier der braunen Machthaber stand ein nicht unbeträchtlicher Teil des Grafschaft Glatzer Klerus. Vor allem jüngere Geistliche scheuten sich nicht, in ihren Predigten die Ideologie des Nationalsozialismus und die Behinderungen und Störungen durch die Jugendarbeit im kirchlichen Raum durch die örtliche Parteihierarchie offen anzugehen. Auch die Fortführung der seelsorglichen Kinder- und Jugendarbeit bedeutete einen Angriff auf das staatliche Erziehungsmonopol von HJ und BDM und zog für die betreffenden Geistlichen empfindliche Geld- und Haftstrafen nach sich. Einhellig geben in diesem Punkt die jeweiligen Ortschroniken Zeugnis davon, dass die Bevölkerung hinter ihren Seelsorgern stand, weil sie aus deren couragiertem Verhalten selber Mut für den Alltag im NS-System zog. In der Summe machen die Ortschroniken deutlich, dass die Grafschaft Glatz bei aller Dominanz des nationalsozialistischen Herrschaftssystems ihre Eigenart als religiös geprägtes Land zumindest in fundamentalen Bestandteilen bewahren konnte.
Juden während der NS-Zeit in der Grafschaft Glatz Die Autoren bemühten sich, aus Quellen verschiedener Archive und durch persönliche Begegnungen bzw. schriftliche Aufzeichnungen jüdischer ehemaliger Glatzer Bürger deren Schicksal in der NS-Zeit aufzuarbeiten. Die Daten der Volkszählung in Preußen von 1925 nannten 346 Personen jüdischer Religion in der Grafschaft Glatz, was einem Anteil von 0,19 % an der Gesamtbevölkerung entsprach.1
1. Die Juden in den Bädern Von Gerald Doppmeier
D
ie Bäder in der Grafschaft Glatz mit ihren heilenden Mineralquellen und dem die Heilwirkung unterstützenden milden Klima werden schon im Jahr 1625 von Georg Aelurius in seiner „Glaciographia“ genannt.2 Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgte ein langsamer Aufschwung der Bäder. Ein Grund dafür ist bestimmt, dass sie unter Ärzten und Patienten sehr beliebt waren.3 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde mit dem Ausbau der Straßenverbindungen begonnen, jedoch erst mit der Anbindung an das Eisenbahnnetz (1874 Breslau–Glatz, 1897 Glatz–Seitenberg, 1880 Dittersbach–Glatz,4 1906 Glatz–Schlaney5) rückte die Grafschaft Glatz aus ihrer Randlage. Die Erholung suchenden Kurgäste konnten jetzt bequem und schnell aus Prag, Wien, Krakau, Warschau oder Berlin in die Grafschaft Glatz reisen. Unter den vielen Kurgästen befanden sich auch viele wohlhabende jüdische Kurgäste, sie reisten aus der ganzen Welt an und Bad Kudowa wurde auch als „Judenbad“6 bekannt. Darüber berichtet der deutsch-jüdische Schriftsteller und Kommunist Jan Koplowitz, der in seinem Roman „Bohemia – mein Schicksal“ über sein Leben und die Geschichte seiner jüdischen Familie, der das Hotel Bohemia (Austria) in Grenzbrunn (Bad Kudowa) gehörte, schreibt: Sie kamen in hellen Haufen: diese Diamantenhändler aus Südafrika, Amsterdam und Antwerpen, die reichen Kürschner aus New York und vom Leipziger Brühl, Bankmakler aus London, Konfektionäre, Modehausbesitzer und Entwerfer der Haute Couture aus Paris, südamerikanische Kaffeeröster und Konservenproduzenten, die wohlhabenden Kaufleute, Handwerker, Viehzüchter und Händler aus Kongreßpolen und Rußland, alles Juden. Solche Badeorte wurden rasch zu gesellschaftlichen Zentren. Damen der Gesellschaft brachten zwischen Kurpromenade und Tanz ihre Töchter an 1
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Vgl. Preußisches Statistisches Landesamt, Gemeindelexikon für den Freistaat Preußen, 1.2.1933, S. XXXI. Vgl. Bernatzky: Landeskunde der Grafschaft Glatz, S. 107. Vgl. Herzig/Ruchniewicz: Geschichte des Glatzer Landes, S. 351. Vgl. ebd., S. 319-321. Vgl. Die Schlesische Gebirgsbahn, http://www.schlesische-eisenbahnen.de, 9.11.2011. Vgl. Koplowitz: „Bohemia“ – mein Schicksal, S. 20.
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j u d e n w ä h r e n d d e r n s - zeit in der grafschaft
| gerald doppmeier
den Mann. Unbeobachtet schlossen Geschäftsleute Transaktionen ab. Alle zusammen sorgten für den Fluß des Geldes während der Badesaison.7 In den Badeorten war man auf die jüdischen Kurgäste eingestellt, jüdische Ärzte – bekannt sind uns in Bad Kudowa der Kurarzt Dr. med. Franz Cohn im Fürstenhof,8 in Bad Landeck Dr. med. Erwin Salinger in der Thalheimer Straße 1,9 Dr. Sandberg in der Thalheimer Straße 3 und Dr. Landsberg in der Thalheimer Straße 5,10 in Bad Reinerz der Zahnarzt Dr. Lewin,11 in Bad Altheide Dr. med. Hirschberg in der Wandelhalle (Helenenbad)12 – behandelten ihre jüdischen Patienten. Kurgäste ließen sich in den jüdisch geführten Hotels und Restaurants mit koscheren Speisen bewirten, in den Cafés und Kurhäusern las man jüdische Zeitungen. Abends trafen sich fromme Juden zum Gottesdienst oder zum gemeinsamen Gebet in ihren Unterkünften. Folgende jüdisch geführte Hotels, Logierhäuser und Restaurants in den Badeorten der Grafschaft Glatz möchte ich an dieser Stelle erwähnen: Bad Altheide Das Logierhaus „Bellevue“, später Haus „Schlesien“, in der Mühlstraße, war das einzige rituelle Haus am Platze unter der Aufsicht des Breslauer Rabbinats, in dem auch jüdische Gottesdienste gehalten wurden,13 das Haus „Heidelberg“. 1937 war der Kaufmann Bernhard Horwitz Besitzer.14 Bernhard Horwitz wurde am 18.1.1868 in Cziasnau, Kreis Guttentag, Oberschlesien, geboren.15 Verheiratet war er mit Regina geb. Furman, geboren am 8.2.1874 in Ellguth.16 Während des Zweiten Weltkrieges wurden sie in die sogenannte „Jüdische Wohngemeinschaft“ im Kloster Grüssau, Kreis Landeshut, gebracht.17 Am 27.7.194218 waren sie unter den 1.10019 Häftlingen, die mit dem Transport No. IX/120 von Breslau in das
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Koplowitz: „Bohemia“ – mein Schicksal, S. 20. Vgl. Adressbuch für die Grafschaft Glatz 1924, S. 201. Vgl. Die Grafschaft Glatz/Schlesien. Einwohnerbuch 1937, S. 378. Vgl. Die jüdische Gemeinde Landeck, http://ladekzdroj.w.interia.pl, 9.11.2011; Adressbuch für die Grafschaft Glatz 1924, S. 324. Vgl. Herzig: Die Grafschaft Glatz und die Grafschafter aus der Sicht des jüdischen Studienrats Dr. Willy Cohn zur Zeit des Nationalsozialismus, in: Pohl: AGG-Mitteilungen Nr. 8, 2009, S. 71. Wenzel, Georg: E-Mail vom 7.2.2011, Verzeichnis der Badeärzte in Bad Altheide, ohne Jahr. Vgl. Briegers Reiseführer, Bad Altheide, S. 21. Vgl. Adressbuch für die Grafschaft Glatz 1924, S. 205; Die Grafschaft Glatz /Schlesien. Einwohnerbuch 1937, S. 32. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. ebd. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011.
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Ghetto Theresienstadt deportiert wurden.21 Am 23.9.194222 sind sie und weitere 1.97823 Häftlinge vom Ghetto Theresienstadt in das Vernichtungslager Treblinka deportiert worden.24 Bernhard und Regina Horwitz sind in der Schoah ermordet worden. Bad Kudowa Das Logierhaus und Restaurant „Löwy“, Mittelweg mit 45 Zimmern.25 In den Jahren 1924 bis 1937 gehörte das Haus Rafael Löwy,26 1939 wurde das Haus von der Besitzerin Cilly Löwy geb. Uhry an die Eheleute Erich und Elisabeth Hahn aus Berlin verkauft,27 das Restaurant „Zur Krone“, mit 10 Zimmern,28 1924 war Adalbert Effenberger Besitzer des Hauses.29 Bad Reinerz Der „Frankfurter Hof“, koscheres Restaurant und Pension, 1924 war Moritz Beer Besitzer,30 1935 war Blau Inhaber,31 im Adressbuch von 1937 wurde Jakob Blau als Fremdenheimpächter erwähnt,32 im Wohnungsanzeiger 1937 von Bad Reinerz war der „Frankfurter Hof“ in das Fremdenheim „Annemarie“ umbenannt worden, und es gab einen neuen Pächter.33 Das Haus „Schulhof“ – koscheres Restaurant und Pension. Frau Schulhof war hier die Besitzerin,34 1924 war S. Horwitz Pächter.35 Bad Langenau Das Haus „Gertrudsheim“ machte im Jahr 1912 Werbung als rituelles Speisehaus,36 1924 wurde als Besitzer Frühling genannt.37
21
22 23
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25 26
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28 29 30 31 32 33 34 35 36 37
Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. ebd. Vgl. ebd., Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. ebd., Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. Adressbuch für die Grafschaft Glatz, Jahrgang 1924/25, S. 140. Vgl. Adressbuch für die Grafschaft Glatz 1924, S. 205; Die Grafschaft Glatz/Schlesien. Einwohnerbuch 1937, S. 39. Vgl. Jersch-Wenzel: Quellen zur Geschichte der Juden in polnischen Archiven, Bd. 2, Ehemalige preußische Provinz Schlesien, S. 23. Vgl. Adressbuch für die Grafschaft Glatz, Jahrgang 1924/25, S. 140. Vgl. Adressbuch für die Grafschaft Glatz 1924, S. 205. Vgl. ebd., S. 186. Vgl. Wohnungsanzeiger Bad Reinerz, 1935. Vgl. Die Grafschaft Glatz/Schlesien. Einwohnerbuch 1937, S. 46. Vgl. Wohnungsanzeiger Bad Reinerz, 1937. Vgl. Werbeprospekt, Hotels und Fremdenheime Bad Reinerz, Jahr unbekannt. Vgl. Adressbuch für die Grafschaft Glatz 1924, S. 186. Vgl. Stahl- und Moor-Bad Langenau, Saison 1912, S. 55. Vgl. Adressbuch für die Grafschaft Glatz 1924, S. 287.
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Bad Landeck Die Villa „Johanna“, Tahlheimer Straße 1, mit 22 Betten,38 1924 war der Sanatoriums-Rat Herr Sally Lachmann Besitzer,39 1937 der Arzt Dr. Erwin Salinger,40 die Villa „Püschel“, Völkelstraße 8, mit 33 Betten,41 1924 bis 1937 ist Martha Cracauer Besitzerin.42 Mit der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 verschlechterte sich auch die Lage der Juden in den Bädern. Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 wirkte sich sofort auf die jüdischen Kurärzte aus. Eine heute für uns wichtige historische Quelle zum Alltag in den Badeorten in der NS-Zeit (speziell Bad Kudowa) sind die Tagebücher des jüdischen Historikers und Pädagogen Willy Cohn aus Breslau. Willy Cohn war Bruder des Kurarztes Dr. med. Franz Cohn.43 Er notierte Wichtiges und Allfälliges bei seinen jährlichen Kuraufenthalten in Bad Kudowa in seinem Tagebuch, und ich möchte ihn an dieser Stelle zitieren: 12.05.1933 Breslau. … Franz hat in Kudowa die Krankenkasse verloren! Schlimm für ihn, aber es war ja damit zu rechnen! Er wird sich schwer mit den verringerten Einnahmen einrichten können!44 14.05.1933 Breslau. Herr Landau brachte mir auch ungünstige Nachrichten von Franz! Er spricht so viel von Freitod! Es ist eine große Gefahr, daß er sich etwas antut. Man hat ihm die Kasse genommen, und bei seiner Veranlagung kann er schwer einen schweren Schlag überwinden! Gebe Gott, daß sich alles wieder ein wenig bei ihm einrenkt. Ich bin sonst ganz optimistisch gestimmt, und ich habe das Gefühl, daß man sonst manche Maßnahme, die man gegen uns gemacht hat, wird rückgängig machen.45 26. September 1934 Kudowa, Mittwoch abend. … Heute war hier Bädertag! Wie hätte es Franz [† 18.05.1934] geschmerzt, wenn man ihn übergangen hätte! Selbstverständlich sind die jüdischen Ärzte nicht eingeladen.46 Die Ausmaße des Antisemitismus in den Bädern hielten sich gegenüber anderen Orten und Städten wohl in Grenzen. Willy Cohn notierte in seinem Tagebuch: 24. September 1934 Kudowa, Montag. … Den ersten Tag meines Aufenthaltes habe ich ganz angenehm verbracht; ... Die wundervolle Waldluft eingeatmet, mit niemandem gesprochen. Man liebt diese Landschaft, aber man fühlt sich als Fremder unter den Menschen, die uns Juden doch nur als Feinde ansehen.47 1. Juli 1935 Kudowa, Montag. Von Unruhe geplagt, etwas Hebräisch gelernt! In den Wald oberhalb des Kurplatzes gegangen, aber es ging mit dem Steigen wenig gut; ich verlor schon beim kleinsten Ansteigen den Atem. Auf verschiedenen Bänken geses38 39 40 41 42
43 44 45 46 47
Vgl. Wohnungsanzeiger Bad Landeck, Jahr unbekannt. Vgl. ebd., S. 328. Vgl. Die Grafschaft Glatz/Schlesien. Einwohnerbuch 1937, S. 385. Vgl. Wohnungsanzeiger Bad Landeck, Jahr unbekannt. Vgl. Adressbuch für die Grafschaft Glatz 1924, S. 328; Die Grafschaft Glatz/Schlesien. Einwohnerbuch 1937, S. 385. Vgl. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 64. ebd., S. 43. ebd., S. 44. ebd., S. 159. ebd.
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sen, später im Lesezimmer; dieses Jahr sind leider keinerlei jüdische Zeitungen mehr abonniert.“48 10. Juli 1935 Kudowa, Odenhall, Mittwoch. … Ich war übrigens beim Kurdirektor und habe gebeten, daß man die Jüdische Rundschau und die Breslauer Zeitung (auslegt).49 13. Juli 1935 Kudowa, Sonnabend. Am Nachmittag noch am Brunnen gewesen, Lesesaal; die Jüdische Zeitung lag das erste Mal aus; sie ist auf meine Veranlassung abonniert worden.50 17. Juli 1935 Kudowa, Mittwoch. In einem einfachen Gasthaus zu einer Tasse Kaffee eingekehrt. Jüdische Jugend kam auf Fahrt vorbei; als ich sie mit „Schalom“ begrüßte, sagten sie „guten Tag“, und als ich sie fragte, ob sie vom Habonim51 wären, sagten sie, sie wären vom BdjJ (Bund deutscher jüdischer Jugend, dies nur für spätere Zeiten, wenn man diese Abkürzung nicht mehr verstehen wird). In Tscherbeney ist auch eine Stürmertafel52 mit der Aufschrift „Die Juden sind unser Unglück“. In Kudowa macht man das während der Saison nicht, weil man das Geld von den jüdischen Kurgästen braucht; hier ist man nur im Winter antisemitisch.53 24. Juli 1936 Kudowa, Freitag mittag. … Kleine Notiz: Im vergangenen Sommer hing hier das Café Weber Schilder: „Juden unerwünscht“ heraus; sie hingen bis gestern. Heute sind sie weg. Das Geschäft scheint zu schlecht gegangen zu sein! Brr!54 04. August 1936 Kudowa, Dienstag. … Gestern Abend am Walde noch mit dem jungen Ehemann Christa mir gegenüber unterhalten; er ist ein netter Mann, ebenso wie seine Frau: Schreiber bei der Gemeinde und Mitglied der N.S.D.A.P. Ich sagte ihm, daß er dann eigentlich gar nicht mir reden dürfte, aber er sagte, hier in Kudowa sei das ganz gemütlich und gar nicht so schlimm! … 23. Juli 1937 Freitag. Gestern … In der Nacht haben sie am Orte alles mit einem Stempel: „Juden raus“ vollgepflastert; nun, mich berührt das wenig; ...55 27. Juli 1937 Kudowa, Dienstag. … Gestern abend kam ich mit dem Kutscher, der mich herunterfuhr, ins Gespräch; er kannte Franz noch, dessen guter Namen sein Andenken hier überall ehrt. Besagter Kutscher sagte mir, daß die Bevölkerung von Kudowa diese „Juden raus“–Aktion nicht will. Es seien junge Leute aus dem Orte, die das angemalt haben. Er meinte, man würde die Sache nicht verfolgen! …56 Ein Blick in das Einwohnerverzeichnis der Grafschaft Glatz von 1937 zeigt uns aber, dass 1937 von den oben erwähnten jüdischen Ärzten nur noch Dr. Erwin Salinger in Bad Landeck erwähnt wurde, der Kurarzt Dr. med. Franz Cohn war am 18.5.1934 an Diabetes verstorben, seine Urne wurde in Berlin beigesetzt.57 Seine Wit48 49 50 51 52
53 54 55 56 57
ebd., S. 249. ebd., S. 251. ebd. Habonim, „Bauleute“, zionistischer Jugendverband, 1932 durch Zusammenschluss entstanden. Stürmertafel, Die Zeitung „Der Stürmer“, gegründet vom NS-Politiker Julius Streicher am 20.4.1923, ab 1927 war der Zeitung stets das Zitat „Die Juden sind unser Unglück“ angefügt. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 253. ebd., S. 239, 340. ebd., S. 452. ebd. S. 453. Vgl. ebd., S. 130.
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we, die Ärztin Charlotte Cohn geb. Wolpe,58 heiratete am 23.1.1935 Dr. Joseph Ziegler und wanderte Anfang 1939 mit ihm nach Shanghai, China, aus.59 Dr. med. Hirschberg in Bad Altheide konnte bis Ende 1935 mit seiner Familie nach Chile auswandern,60 seine Tochter Schoschana Efrati – Susi Hirschberg lebt heute im Kibbutz Maabaroth in Israel.61 Das Ehepaar Dr. Lewin aus Bad Reinerz wanderte im Jahr 1936 aus,62 auch Dr. med. Erwin Salinger aus Bad Landeck konnte Ende 1938 mit Frau und Kind noch nach Shanghai, China, auswandern.63 Die jüdischen Besitzer der Hotels, Logierhäuser und Restaurants verkauften teilweise ihre Häuser, wanderten ins sichere Ausland aus, vielen stand jedoch die Deportation in die Vernichtungslager bevor. Zum Schluss möchte ich auf die Besitzer des Logierhauses „Austria“ in Bad Kudowa, Familie Pollak/Salomon, eingehen. Der Restaurateur (Gastwirt) Philipp Pollak64 (geboren am 11.5.185465 vermutlich in Nachod, Böhmen, verstorben am 12.10.191966 in Bad Kudowa und bestattet auf dem Friedhof der Synagogengemeinde Glatz) und dessen Ehefrau Josefine, geborene Fleischer, erwarben am 26.10.1897 in Bad Kudowa ein bebautes Grundstück mit einer Fläche von 16 ar, 92 qm67 und eröffneten hier das jüdische Logierhaus „Austria“. Die Tochter Ida (geboren am 1.5.1885 in Nachod, Böhmen) heiratete am 10.2.1909 in Tscherbeney den in Kudowa wohnenden Kaufmann Benno Benjamin Koplowitz (geboren am 27.6.1883 in Scharley, Kreis Beuthen als Sohn des Gasthausbesitzers Abraham Koplowitz und dessen Ehefrau Dorothea geb. Iotkowitz).68 Am 1.12.1909 wurde in Bad Kudowa der Sohn Adolf Abraham (später Jan) Koplowitz geboren.69 Nach dem Tod ihres Mannes heiratete sie Eugen Salomon, der aber auch früh verstarb. Im Jahr 1913 ließen die Eigentümer, Philipp Pollak und dessen Ehefrau,70 das Logierhaus „Austria“ umbauen und erweitern. Hier erhielt das Haus das Aussehen, wie es bis zum Verkauf im Jahr 1939 bestanden hatte. Das Haus „Austria“ verfügte über insgesamt 16 Fremdenzimmer71 und einen Saal.72 Im Jahr 1924 wird im Adressbuch für die 58 59 60 61
62 63 64 65 66
67 68 69 70
71 72
Vgl. ebd. S. 1052. Vgl. ebd. S. 203. Vgl. ebd., S. 309. Vgl. Mose: Susi Hirschberg / Schoschana Efrati, Kibbutz Maabaroth, Israel, in: Wenzel (Hg.): Altheider Weihnachtsbrief, Ausgabe 13. Dezember 2009, S. 91f. Vgl. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 309. Vgl. ebd. S. 569. Vgl. APKa., Akta gminy Kudowa Zdrój (Gemeindeverwaltung Bad Kudowa), Sign. 1, S. 13–16. Vgl. Włodarczyk: Dzieje społeczności żydowskiej w Kłodzku w XIX–XX w., 2006, S. 121. Vgl. Jüdische Gemeinde Glatz (Schlesien), Matrikel 1832–1940, Tote 1910–1940, FHL INTL Film 1184414, Item 2. / Vgl. Włodarczyk: Dzieje społeczności żydowskiej w Kłodzku w XIX– XX w., 2006, S. 121, Pollak Philipp verstorben am 6.10.1920 und bestattet auf dem Friedhof der Synagogengemeinde Glatz. Vgl. APKa., Akta gminy Kudowa Zdrój (Gemeindeverwaltung Bad Kudowa), Sign. 1, S. 13–16. Vgl. APWr., Urząd Stanu Cywilnego w Czermnej, Tscherbeney, Księga Małżeństw, 1909, Nr. 4. Vgl. APWr., Urząd Stanu Cywilnego w Czermnej, Tscherbeney, Księga Urodzeń, 1909, Nr. 100. Vgl. APKa., Akta gminy Kudowa Zdrój (Gemeindeverwaltung Bad Kudowa), Sign. 1, S.17–20, am 19.9.1913 wird eine bestehende Sicherungshypothek in eine gewöhnliche Hypothek umgewandelt und in das Grundbuch eingetragen. Vgl. Adressbuch für die Grafschaft Glatz, Jahrgang 1924/25, S. 140. Vgl. APKa., Akta gminy Kudowa Zdrój (Gemeindeverwaltung Bad Kudowa), Sign. 1, S. 201.
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Grafschaft Glatz als Besitzer des Logierhauses „Austria“ Eugen Salomon genannt.73 Im Grundbuch von Bad Kudowa wurde für den am 20.4.1926 aufgelassenen Eintrag Frau Ida Salomon verwitwet gewesene Koplowitz, geborene Pollak in Kudowa, am 3.6.1926 als Eigentümerin eingetragen.74 Am 2.4.1928 schlossen Frau Ida Salomon als Vermieterin und der Bäckermeister Franz Krista als Mieter einen Mietvertrag für einen Laden mit Nebenraum zum Betrieb einer Bäckerei und Konditorei in der Heuscheuerstraße.75 Über die letzten Jahrzehnte entwickelte sich das Haus „Austria“ zu einem Haus der Begegnung, gläubige jüdische Kurgäste trafen sich zum abendlichen Gottesdienst,76 oder die Arbeitsgemeinschaft jüdischer Künstler lud zu einem kulturellen Abend ein.77 Mit der sogenannten Reichspogromnacht wurde auch dem Logierhausbetrieb im Haus „Austria“ ein jähes Ende gesetzt. Bereits am 2.12.1938 gab die Fremdenheimbesitzerin Witwe Ida Salomon der Gemeinde Bad Kudowa, vertreten durch den Bürgermeister Schäfer, eine Verpflichtungserklärung ab. Sie verpflichtete sich, ihr Grundstück Fremdenheim Salomon (= Logierhaus „Austria“), nebst Laden und Wirtschaftsgebäude, ohne Fremdenheim- und Privateinrichtung, zum Preis von 22.000,– RM, vorbehaltlich der Zustimmung des Gemeinderates, an die Gemeinde zu verkaufen.78 Die Gemeinde Bad Kudowa beabsichtigte das im Zentrum des Bades liegende Logierhaus „Austria“ als Behördenhaus für die Amts- und Gemeindeverwaltung einzurichten, da die bisherigen Büroräume im Feuerwehrgerätehaus zu weit entfernt vom Badebezirk lagen und außerdem nicht mehr ausreichend waren.79 In dem Haus sollten folgende Verwaltungen untergebracht werden: Gemeindeverwaltung, Amtsverwaltung, Standesamt, Büro der Geheimen Staatspolizei, Büro der Gendarmerie-Station und Parteibüro der NSDAP. Der vorhandene Saal sollte für Versammlungen und Schulungsabende der NSDAP verwendet werden.80 Der Gemeinderat Bad Kudowa beriet am 5.12.1938 über den beabsichtigten Kauf des Grundstücks „Austria“. Der Ankauf fand allgemeine Zustimmung. Nach nochmaliger Nachverhandlung mit Frau Salomon wurde der Kaufpreis auf 20.000,– RM festgesetzt.81 Vor dem unterzeichneten Notar Dr. Dr. Walter Eschenberg mit Amtssitz in Bad Reinerz, schlossen Frau Ida Salomon und Bürgermeister Friedrich Schäfer den am 7.12.1938 verhandelten Kaufvertrag für das Grundstück „Austria“.82 Am 1.1.1939 ging das Grundstück und Haus „Austria“ in den Besitz der Gemeinde Bad Kudowa über.83 Nachdem Frau Ida Sara Salomon der Gemeinde Bad Kudowa am 16.1.1939 sämtliche vorhandenen Schlüssel des Hauses „Austria“ überreicht hatte,84 wohnte sie im 73 74
75 76 77 78 79 80 81 82 83 84
Vgl. Adressbuch für die Grafschaft Glatz 1924, S. 205. Vgl. APKa., Akta gminy Kudowa Zdrój (Gemeindeverwaltung Bad Kudowa), Sign. 1, S. 178, 179. Vgl. ebd., S. 188–191. Vgl. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 454. Vgl. ebd., S. 344. Vgl. APKa., Akta gminy Kudowa Zdrój (Gemeindeverwaltung Bad Kudowa), Sign. 1, S. 173. Vgl. ebd., S. 197. Vgl. ebd., S. 200f. Vgl. ebd., S. 166. Vgl. ebd., S. 209–212. Vgl. ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 204.
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jüdischen Logierhaus Löwy.85 Zwischen dem 11.4. und dem 21.4.1939 zog sie nach Berlin um und wohnte dort in der Prenzlauer Straße 16, bei Baszynski.86 Ida Sara Salomon musste noch einige Zeit um die Zahlung ihres Geldes aus dem Verkauf des Hauses „Austria“ kämpfen. Am 15.6.1939 schrieb sie einen Brief an den Bürgermeister von Bad Kudowa, dass sie auf sämtliche Schreiben keine Antwort erhalten habe und noch ausstehende Gelder ihr noch nicht überwiesen wurden. Bei dem billigen Verkaufspreis der „Austria“ habe ich auf keinen Fall dieses Vorgehen verdient. Bitte daher nochmals dringend mein Guthaben zu überweisen.87 Erst mit einem Schreiben des Notars Dr. Dr. Eschenberg an den Bürgermeister Friedrich Schäfer am 6.7.1939 mit der Bitte, umgehend den Betrag von 10.812,57 RM zur Zurückzahlung der Hypotheken in der Grundstückssache „Austria“ zu überweisen, da einige Gläubiger auf die Zahlung drängten und er in den Verdacht geriet, unberechtigt das Geld zurückzuhalten, wurde ihm der genannte Betrag am 7.7.1939 überwiesen. Frau Salomon erhielt 2.000,– RM88 und die Restsumme von 1.136,28 RM bekam sie erst im April 1940.89 Insgesamt lässt sich feststellen, dass Ida Sara Salomon als jüdische Besitzerin eines Logierhauses nach der Reichspogromnacht nicht mehr erwünscht war und sie unter Druck gesetzt wurde, das Logierhaus „Austria“ für den billigen Verkaufspreis von 20.000,– RM zu verkaufen. Das Finanzamt Glatz hatte am 21.12.1938 den Einheitswert für das Grundstück Haus „Austria“ auf den 1.1.1935 in Höhe von 40.300,– RM rechtskräftig festgestellt,90 der Geschäftswert nach Abschätzung des Bauunternehmers Hermann Schmidt in Bad Kudowa vom 5.12.1938 betrug 43.919,78 RM.91 Als Begründung für die große Differenz zwischen dem Kaufpreis und dem Einheitswert wurde immer wieder der schlechte Bauzustand des Hauses „Austria“ genannt.92 Um das Gebäude vor dem „Verfall“ zu bewahren, begann die Gemeinde zügig mit den Bauarbeiten. Außer den Veranden wurden alle Nebengebäude, ferner der Anbau der Toiletten und Waschräume am Hauptgebäude, die sich in einem trostlosen Zustande befanden, abgebrochen. Der Abbruch war wegen der jüdischen Sauwirtschaft unbedingt notwendig.93 Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1.9.1939 gab es jedoch neue Prioritäten. Das Baugeschäft Hermann Schmidt richtete vom 4. bis 13.9.1939 vier Luftschutzräume her,94 ausgestattet mit einer Hausapotheke95 und sieben Decken.96 Ab Mitte Mai 1940 sollte mit dem Einbau der Zentralheizungsanlage begonnen werden,97 ob diese Arbeit noch durchgeführt wurde, lässt sich anhand der Akten nicht feststellen. Seit dem 10.3.1941 stellte die Gemeinde Bad Kudowa dem Arbeitsamt Glatz, Neben85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97
Vgl. ebd., S. 136. Vgl. ebd., S. 127. Vgl. ebd., S. 94. Vgl. ebd., S. 66–68. Vgl. ebd., S. 46. Vgl. ebd., S. 202. Vgl. ebd., S. 167–169. Vgl. ebd., S. 200f. APKa., Akta gminy Kudowa Zdrój (Gemeindeverwaltung Bad Kudowa), Sign. 1, S. 6. Vgl. APKa., Akta gminy Kudowa Zdrój (Gemeindeverwaltung Bad Kudowa), Sign. 1, S. 80–82. Vgl. ebd., S. 64. Vgl. ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 53.
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stelle Bad Reinerz, anstelle des bisherigen Raumes in der evangelischen Schule einen Raum in dem ehemaligen Fremdenheim „Austria“ mit dem entsprechenden Inventar zur Durchführung ihrer Sprechtage zur Verfügung. Die Miete betrug 10,– RM monatlich.98 Nachdem seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges die Bauarbeiten am Haus „Austria“ weitgehend ruhten, wurden sie im Juli 1941 eingestellt bzw. sollten erst nach Kriegsende wieder aufgenommen werden. In einem Brief vom 8.7.1941 schrieb der Bürgermeister Schäfer an das Finanzamt Glatz, Betreffend: Grundsteuermeßbescheid …. Es war beabsichtigt, das Haus nach einem gründlichen Umbau im Jahr 1939 als Behördenhaus für die Amts- und Gemeindeverwaltung einzurichten. Infolge Arbeitermangel, Baumaterialmangel und dem im September 1939 ausgebrochenen Kriege mußte das Vorhaben bis auf Weiteres zurückgestellt werden. Die angefangenen Arbeiten wurden eingestellt. Wegen Raummangel wurden drei Räume in dem Hause für die Lebensmittelkartenstelle und für das Wirtschaftsamt eingerichtet. Ferner hält das Finanzamt Glatz die Sprechtage in einem der Zimmer ab. Die übrigen Räume sind wegen dem sehr schlechten Bauzustand ungenutzt.99 … Am 25.7.1941 schreibt der Landrat des Kreises Glatz, Klosterkemper, in einem Brief an Bürgermeister Schäfer in Bad Kudowa: … Wie Ihnen bekannt, ist das Projekt für den Ausbau des Baues Salomon zu einem Gemeindeamt vom Kreisbauamt – hier bereits aufgestellt. Ich halte jedoch trotz des Erlasses vom 30.05. die Durchführung für nicht möglich, da m. E. das Bauvorhaben als nicht lebenswichtig anerkannt werden wird. Außerdem werden sich auch nicht genügend Bauhandwerker auftreiben lassen, um ein so großes Bauvorhaben jetzt im Kriege ausführen zu können. Auch dürfte die Materialbeschaffung auf große Schwierigkeiten stoßen. Ich stelle daher anheim, den Ausbau bis nach Kriegsende zurückzustellen. …100 Die ehemalige Besitzerin des Logierhauses „Austria“, Ida Sara Salomon, war unter den 952 Juden, die am 3. Februar 1943 von Berlin mit dem Transport No. 28, Zug Da 15, in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden,101 und sie wurde dort ermordet.102 Ihr Sohn Adolf Abraham Koplowitz nahm später den Vornamen Jan als Künstlernamen an. Ende der 1920er Jahre schloss er sich der kommunistischen Bewegung an. Er floh vor den Nationalsozialisten und lebte von 1939 bis 1945 im englischen Exil. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand er als Kommunist seine neue Heimat in der DDR, später wurde er als deutsch-jüdischer Schriftsteller bekannt und verstarb am 19.9.2001 in Berlin.103 Seine letzte Ruhe fand er am 11.10.2001 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof im Berliner Bezirk Mitte.104
98 99 100 101
102 103 104
Vgl. ebd., S. 10. APKa., Akta gminy Kudowa Zdrój (Gemeindeverwaltung Bad Kudowa), Sign. 1, S. 5. ebd., S. 7. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. Wikipedia, Jan Koplowitz, http://de.wikipedia.org, 9.11.2011. Vgl. Ancestry, Familienforschung, Jan Koplowitz, http://boards.ancestry.de, 9.11.2011.
2. Die Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 in Glatz Von Reinhard Schindler
I
n der Nacht des Judenpogroms wurden im Deutschen Reich über tausend Synago-
gen niedergebrannt und zerstört, darunter war auch die Synagoge von Glatz. In der polnischen Zeitschrift „Ziemia Klodzka“ Nr. 47/48 von 1994 befasste sich der Redakteur Edward Osowski mit der Judenverfolgung in der Grafschaft Glatz anhand der Glatzer Synagoge unter dem Titel: „Von der Kristallnacht schweigen die Deutschen im Glatzer Land“. Dieser Artikel gab den Anstoß zu meiner Initiative zur Errichtung eines Gedenksteins für die abgebrannte Synagoge. Die dort angebrachte Tafel trägt den Text in Deutsch, Polnisch und Hebräisch: Hier stand die Glatzer Synagoge, entweiht und verbrannt in der Pogromnacht vom 9. November 1938 durch die Nationalsozialisten. Ehemalige deutsche und heutige polnische Bewohner 1995 – 50 Jahre nach Kriegsende Ein Augenzeugenbericht von Klaus Hauck erschien in „Heimat und Glaube“ Nr. 4/1993 unter dem Titel: „Wie ich die Vernichtung der jüdischen Synagoge in Glatz miterlebte“, in dem es hieß: Als Kind habe ich die Vernichtung der jüdischen Synagoge aus unmittelbarer Nähe miterlebt. Den Morgen nach der sogenannten Reichskristallnacht in meiner Heimatstadt habe ich, obwohl damals erst achtjährig, noch in guter Erinnerung. Am Morgen des 10. November 1939 ging ich wie jeden Tag zur Schule. Am Schulweg musste ich die Brücke der Glatzer Neiße überqueren. Dabei war ich verwundert, als ich mehrere Feuermänner in Aktion sah. Es lagen auch Feuerwehrschläuche am Boden. Plötzlich hörte ich, dass die jüdische Synagoge in Flammen stehe. Meine Vermutung, dass die Synagoge gelöscht werden sollte, war falsch. Es sollte nur ein Übergreifen auf benachbarte Häuser verhindert werden. Die Glatzer Franz-Ludwig-Schule, die ich besuchte, lag dem jüdischen Gotteshaus direkt gegenüber. Beim Näherkommen sah ich große Flammen aus dem prächtigen Bauwerk hervorlodern. Vor Brandbeginn hatten SA-Leute die Kunstschätze herausgeholt. Bis in das Schulzimmer verspürte man den Qualm und hörte das Prasseln der Flammen. Während der Pause sahen wir, wie sich die schöne Kuppel immer mehr zur Seite neigte und unter Funkenregen zur Erde fiel, wo sie in viele Stücke zerbarst. Eine Gruppe größerer Jungen grölte dabei, was mich sogar als achtjährigen erschütterte. Nach Schulschluß sah ich dann das Chaos. Geschäfte jüdischer Bürger waren geplündert und die Schaufenster zertrümmert worden. Mit diesem Tag hatte die Judenverfolgung in unserer Stadt einen Höhepunkt erreicht. Viele ehrbare jüdische Bürger mussten sich den Judenstern anheften und wurden auf Straßen oft verspottet, schließlich sah man immer weniger, da viele in ein Konzentrationslager abtransportiert waren ... Der in Glatz geborene ehemalige Chefredakteur der „Rheinischen Post“, Joachim Sobotta, erinnert sich: Ich sah 1938 als Erstkläßler die Synagoge brennen. Der Lehrer hatte die Pause verlängert, damit die Schüler das Ereignis auch sähen ... .
die reichspog r o m n ac h t 9/10. no v e m b e r 1938 in glatz
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Der 1924 in Glatz geborene Klaus Maisel erinnert sich: Den Brand der Synagoge habe ich als Schüler miterlebt. Von unserer „Franz-Ludwig-Schule“ konnte man aus dem oberen Stockwerk das brennende Gebäude sehen, und alle unsere Versuche, unseren Klassenlehrer und Schulleiter, Rektor Josef Beer, zum Hinschauen zu bewegen, schlugen fehl. Er blieb mit tief traurigem Gesicht am Katheder sitzen, während wir den Brand betrachteten. Sein damaliger stummer Protest ist mir leider erst sehr viel später klar geworden. Die im Folgenden geschilderte Erinnerung des überzeugten Nationalsozialisten Hugo-Ernst Issmer lässt das Ausmaß der Judenhetze auch in Glatz erkennen: Als ich am Morgen des 9. November in der Dienststelle erschien, wurde mir sofort aufgeregt berichtet, bei allen jüdischen Geschäften in der Stadt seien in der Nacht die Schaufensterscheiben zertrümmert worden und die jüdische Synagoge an der Ecke Grüne Straße/Heinrich Vogstdorf Wall brenne. Ich lief schnell hin. Eine große Menschenmenge, durch Polizei nur lässig abgewehrt, betrachtete die Vorgänge. Die Fenster der Synagoge waren bereits zersprungen, aus der mit dem Davidstern gezierten Kuppel drangen dichte Rauchwolken. Auf dem flachen Dach des Nachbarhauses in der Grüne Straße, das die Synagoge überragte, standen Männer, SS in Zivil, wie ich später erfuhr, und schleuderten Benzinflaschen in das Innere des brennenden Gebäudes. Vor dem Tor der Synagoge stand ein Feuerwehrmann mit einem Schlauch, aus dem aber nur ein dünner Wasserstrahl drang. Der Wasserdruck sei zu schwach, versicherte der Feuerwehrmann, verständnisvoll grinsend. Später erzählte der SS-Obersturmbannführer F., er hätte selbst mit andern den Brand in der Synagoge angelegt. Er hätte jedoch noch Zeit gefunden, die Goldbuchstaben aus den Talmudsprüchen an der Wand herauszubrechen, die die Wände zierten. Davon hätte er sich Goldzähne machen lassen. Dabei entblößte er triumphierend das Gebiss, als er das in vorgerückter Stunde in irgendeiner Kneipe in Glatz erzählte. Da hat mich doch geekelt trotz aller Nazigläubigkeit. Am Nachmittag sah ich mir mit zwei Mitarbeiterinnen der Dienststelle die geplünderte und verwüstete Wohnung des jüdischen Schnapshändlers Schott in der Böhmischen Straße an. Alle Möbel waren kurz und klein geschlagen, die Scheiben zerbrochen, alle Vorhänge zerrissen, ein Bild des Grauens. Und die beiden Mitarbeiterinnen nahmen sich seelenruhig Kleinigkeiten von dem Plunder, der da herumlag, und forderten mich auf, das Gleiche zu tun. Dazu war ich dann doch nicht fähig. Diese verwüstete Wohnung von jüdischen, geachteten Mitbürgern – die Firma Schott hatte soeben ihr 60jähriges Geschäftsjubiläum gefeiert – schien mir in keinem Zusammenhang zu stehen zu der Wahnsinnstat des jüdischen Fanatikers in Paris. Dagegen hatte ich – zu meiner Schande muß ich es geschehen – bei dem Brand der Synagoge nicht das Gefühl, das hier ein Gotteshaus entweiht und zerstört wurde, sondern empfand so etwas wie Schadenfreude und daß den Juden ein Denkzettel nichts schaden könnte. Soweit war man als anständiger Mensch also doch gekommen, eine Folge der fortwährenden Propaganda und der wüsten Hetze gegen die Juden...105 Auch in der Glatzer Presse fand die sogenannte Reichskristallnacht ihren Widerhall, so findet der Schreiber den Pogrom als das Resultat „ungezügelter Volkswut“: 105
Issmer: Als „Mitläufer“ (Kategorie IV) entnazifiziert, S. 262f.
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Der Judentempel in Glatz brannte, Fensterscheiben wurden eingeschlagen. Die Menschen wachten aus einem irren Traum auf. Was geschehen ist? Nichts, was unnatürlich wäre. Einmal ist eben die Geduld zu Ende! ... Das Maß der Juden ist wahrhaftig übervoll. Aus einem Zeitungsartikel ist indirekt zu entnehmen, dass einige Einwohner die Übergriffe in der Nacht des 9. November mit Bestürzung und Trauer erlebten: Wir haben keinen Anlaß, darüber traurig zu sein, wenn es auch einige gegeben haben soll, die angesichts des brennenden Tempels das Schnupftüchel, das rosarote, gezogen haben sollen.106 Auf Grund des aktuellen Wissensstandes ist es jedoch nicht möglich, die Reaktion der einfachen Bürger dieses Gebietes auf diese Taten, die hauptsächlich von SA- und SS-Mitgliedern begangen wurden, zu rekonstruieren. Es ist schwer zu sagen, inwieweit der offiziell propagierte Antisemitismus geteilt wurde. Der Anblick der brennenden Synagoge war für viele sicherlich erschütternd.107 Abb. 1: Synagogengedenkstein in Glatz mit Peretz May, mit Hut. (Foto R. Schindler)
Abb. 2: Inschrift auf dem Gedenkstein für die Glatzer Synagoge (Foto R. Schindler) 106
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Laqua: Prozess der „Entjudung“ in der schlesischen Stadt Glatz 1933–1944, in: Herzig (Hg): Glaciographia Nova, S. 308, 309. Herzig/Ruchniewicz: Geschichte des Glatzer Landes, S. 294.
3. Auswanderung und Deportation der Juden Von Gerald Doppmeier
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it der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933 wurde allmählich dem jüdischen Leben ein Ende gesetzt. Mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 und dem „Nürnberger Gesetz“ vom 15.9.1935 sowie der Propaganda aus Rundfunk und Zeitung verschlechterte sich auch die Lage der Juden in der Grafschaft Glatz. Mit der „Reichspogromnacht“ vom 9. auf den 10.11.1938 erhielt der Antisemitismus im Deutschen Reich einen Höhepunkt. In Glatz wurde die im Jahr 1884108 errichtete Synagoge in Brand gesetzt und zerstört, jüdische Geschäfte und Betriebe wurden in Glatz und Habelschwerdt verwüstet. Bis zum 1.1.1939 waren Juden noch berechtigt, ihre Geschäfte zu führen, jedoch war eine Wiedereröffnung nach der Reichspogromnacht unerwünscht. Von 1933 bis 1939 wanderten viele jüdische Familien und einzelne Personen aus der Grafschaft Glatz ins Ausland aus.109 Denen, die das Geld für eine Auswanderung nicht hatten oder welche die Gefahr ignorierten, stand die Deportation in die Vernichtungslager bevor. In meinem Beitrag möchte ich auf einige jüdische Familien und Personen aus der Grafschaft Glatz näher eingehen und über deren Schicksal berichten. Eine komplette Darstellung des Schicksals aller ehemaligen jüdischen Bewohner würde über die Möglichkeiten dieses Buches hinausgehen. Grundlage meines Beitrages ist die von Paul Henkel im Jahr 1938 bearbeitete, aber bisher unveröffentlichte „Geschichte der Juden zu Glatz“ aus dem Staatsarchiv Breslau mit einer Auflistung der noch im Jahr 1938 in Glatz ansässigen Juden. Für Habelschwerdt bildete das „Verzeichnis der selbständigen jüdischen Einwohner von Habelschwerdt“, welches im Staatsarchiv Kamenz lagert, eine gute Grundlage. Von großer Bedeutung waren auch die Unterlagen des Oberfinanzpräsidiums der Provinz Niederschlesien in Breslau über die „Konfiskation jüdischen Eigentums“, die im Staatsarchiv Breslau archiviert sind, sowie die Gedenkblätter der Gedenkstätte Yad Vashem.
Jüdische Bewohner aus Glatz: Borchard, Bruno, Kaufmann, geboren am 26.7.1888. Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnte er in der Frankensteiner Straße 11 in Glatz110 und führte dort einen Handel mit Wäsche, Kleiderstoffen und Kurzwaren. Nach der Reichspogromnacht blieb das Geschäft geschlossen, ein volkswirtschaftliches Interesse für die Aufrechterhaltung des Geschäftes unter arischer Leitung bestand nicht.111 Im Februar 1939 wanderte Bruno Borchard mit seiner Frau nach Holland aus und von dort gingen sie später nach Rio de Janeiro, Brasilien.112 108 109
110 111 112
Herzig/Ruchniewicz: Geschichte des Glatzer Landes, S. 295. Vgl. Laqua: Prozess der „Entjudung“ in der schlesischen Stadt Glatz 1933–1944, in: Arno Herzig (Hg): Glaciographia Nova, S. 301–316. Vgl. APWr., AM K, Sign. 5411, S. 25. Vgl. Laqua: Prozess der „Entjudung“ in der schlesischen Stadt Glatz 1933–1944, S. 310, 311. Vgl. Włodarczyk: Dzieje społeczności żydowskiej w Kłodzku w XIX–XX w., 2006, S. 106.
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| gerald doppmeier
Brass, Else (Elsbeth), geb. Glücksmann, geboren am 12.10.1878 (12.1.1878)113 in Breslau als Tochter von David und Regina Glücksmann. Sie war verheiratet mit Jacques Brass114 (geboren am 10.5.1851,115 verstorben am 24.10.1932 und bestattet auf dem Friedhof der Synagogengemeinde Glatz116). Beide führten ein Geschäft mit Damenund Herren-Konfektion am Ring 11 in Glatz,117 nach dem Tod von Jaques wird seine Frau Else wahrscheinlich mit der Tochter Edith das Geschäft bis zur Reichspogromnacht weitergeführt haben, spätestens bis zum 31.12.1938 wurde das Geschäft jedoch aufgelöst.118 Während des Zweiten Weltkrieges kam sie wegen der bevorstehenden sogenannten Umsiedlung nach Breslau, denn am 30.8.1942 wurden 1.065 Häftlinge119 mit dem Transport No. IX/2 Zug Da 508 von Breslau in das Ghetto Theresienstadt deportiert, darunter Else Brass mit der Transporthäftlingsnummer 966. Else wurde am 14.1.1943 im Ghetto Theresienstadt ermordet.120 Brass, Edith, geboren am 27.3.1904 in Glatz121 als Tochter von Jaques und Else Brass.122 Vor dem Zweiten Weltkrieg arbeitete sie im Haushalt.123 Während des Krieges wohnte sie in Breslau in der Brandenburger Straße 24, seit dem 13.10.1941 war sie wohnhaft in der sogenannten Jüdischen Wohngemeinschaft im Kloster Grüssau, Kreis Landeshut,124 wo sie in der Schuhfabrik arbeitete.125 Am 29.4.1942 gab sie in Grüssau ihre Vermögenserklärung ab, ihr Vermögen bestand aus einem Federbett im Wert von 15,– RM, 2 Kopfkissen im Wert von 10,– RM und neun einzelnen Silberteilen im Wert von 9,– RM. Am 3.5.1942126 wurden von Breslau aus 1.000 Juden in den Distrikt Lublin deportiert,127 darunter war Edith, die kurz darauf, noch im Jahr 1942,128 in der Schoah ermordet worden ist. Brass, Gerhard, geboren am 21.5.1906 in Glatz als Sohn von Jaques und Else Brass. Er war verheiratet und lebte vor dem Zweiten Weltkrieg in Glatz. Gerhard ist in der Schoah ermordet worden.129 113
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In YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011, werden zwei verschiedene Geburtsdaten angegeben. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. Włodarczyk: Dzieje społeczności żydowskiej w Kłodzku w XIX–XX w., 2006, S. 106. Vgl. Jüdische Gemeinde Glatz (Schlesien), Matrikel 1832–1940, Tote 1910–1940, FHL INTL Film 1184414, Item 2. Vgl. Włodarczyk: Wegweiser durch die Welt der Glatzer Juden, Krzyzowa/Kreisau, 2007, S. 37. Vgl. Laqua: Prozess der „Entjudung“ in der schlesischen Stadt Glatz 1933–1944, S. 311, 312. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 428, S. 1–21. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 428, S. 1–21. Die „Jüdische Wohngemeinschaft“ im Kloster Grüssau, Kreis Landeshut, war ein Durchgangslager des NS-Regime und bestand vom 3.9.1940 bis zum 7.5.1945. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 428, S. 1–21. Vgl. Włodarczyk: Dzieje społeczności żydowskiej w Kłodzku w XIX–XX w., 2006, S. 106. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. ebd. Laut der Vermögenserklärung der Edith Brass wanderte ihr Bruder Gerhard Brass
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Bucka, Heinrich, Getreidehändler, geboren am 1.11.1891 in Rawitsch, Posen. Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnte er in der Friedrichstraße 17 in Glatz. Er war verheiratet mit Herta Bucka, geb. Klar, geboren am 9.3.1897 in Thorn.130 Am 15.2.1938 wanderte Heinrich von Glatz aus, seine Frau wohnte 1939 noch in Glatz, ihr weiteres Schicksal ist bisher unbekannt.131 Dzialoszynski, Erich, Kaufmann, geboren am 30.01.1898 in Glatz. Er war verheiratet mit Herta Dzialoszynski geb. Löwy, geboren am 10.09.1910 in Glatz, sie hatten eine Tochter namens Ruth Luise Dora (geboren am 25.6.1935). Sie wohnten in der Schwedeldorfer Straße 7 in Glatz,132 hier befand sich auch das 1884 gegründete Modehaus Dzialoszynski,133 welches er zusammen mit Alfred Dzialoszynski besaß.134 Mit der Reichspogromnacht wird auch hier der Verkauf von Modewaren beendet worden sein. Die Familien Erich und Alfred Dzialoszynski wanderten am 27.3.1939 nach Brasilien aus, wo sie in Sao Paulo, in der Rua Dr. Costa jr. 302, eine neue Heimat fanden. Am 2.6.1942 teilte die Devisenstelle Breslau dem Oberfinanzpräsidenten in Breslau mit, dass das Grundstück und das Warenlager in der Schwedeldorfer Straße 7, das Alfred und Erich Dzialoszynski zusammen besaßen, an den Kaufmann Wachsmann (Glatz, Schwedeldorfer Straße 7) verkauft worden sind. Der Verkaufspreis betrug für das Grundstück 87.000,– RM und für das Warenlager 51.600,– RM.135 Der Oberfinanzpräsident Niederschlesien stellte am 20.5.1942 fest, dass aufgrund der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetzt vom 25.11.1941 das Vermögen des Erich Dzialoszynski dem Reich verfallen ist und einzuziehen sei. Am 17.6.1942 stellte das Finanzamt Glatz in einem Schreiben an den Oberfinanzpräsidenten in Breslau fest, dass sich das Gesamtvermögen von Erich Dzialoszynski, seiner Frau und Tochter auf 108.108,46 RM bezifferte.136 Dzialoszynski, Alfred, Kaufmann, geboren am 19.7.1891 in Glatz. Er war verheiratet mit Margot Dzialoszynski, geb. Gelbstein, geboren am 17.1.1901 in Stolp, Pommern. Sie hatten eine Tochter Ursula (geboren am 13.12.1926 in Glatz) und einen Sohn Thomas (geboren am 26.8.1936 in Breslau). Sie wohnten am Sellgitplatz 4a (später Platz der SA 4) in Glatz. Am 20.5.1942 stellte der Oberfinanzpräsident Niederschlesien fest, dass aufgrund der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941 das Vermögen dem Reich verfallen ist und einzuziehen sei. Am 16.6.1942 stellte das Finanzamt Glatz in einem Schreiben an den Oberfinanzpräsidenten in Breslau fest, dass sich das Gesamtvermögen von Alfred Dzialoszynski, seiner Frau und seinen Kindern am 12.1.1938 auf 182.889,86 RM bezifferte.137
130 131 132 133 134 135 136 137
nach Nordamerika aus. Ein weiterer Bruder Namens Georg wanderte nach Brasilien aus. (Vgl. APWr., KMZ, Sign. 428, S. 1–21). Vgl. APWr., AM K, Sign. 5411, S. 25. Vgl. Włodarczyk: Dzieje społeczności żydowskiej w Kłodzku w XIX-XX w., 2006, S. 108. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 749, S. 1-13. Vgl. Włodarczyk: Wegweiser durch die Welt der Glatzer Juden, Krzyzowa/Kreisau, 2007, S. 35. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 747, S. 1-12. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 747, S. 1-12 und Sign. 749, S. 1-13. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 749, S. 1-13. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 747, S. 1-12.
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| gerald doppmeier
Ellguther, Benno, Kaufmann und Textilwaren-Einzelhändler,138 geboren am 11.10.1873 in Krappitz, Kreis Oppeln, Oberschlesien. Er war verheiratet mit Flora Ellguther, geb. Rothmann, geboren am 11.6.1880 in Bartschin, Kreis Schubin, Posen. Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnten sie am Brücktorberg 2 in Glatz.139 Ihr Versandgeschäft von Herren-Artikeln, Wäsche, Hüten, Handschuhen und Lederwaren wurde bis zum 31.12.1938 aufgelöst.140 Am 30.1.1939 traf Willy Cohn, Benno und Flora Ellguther aus Glatz, die er bei seinen Reisen in die Grafschaft Glatz besuchte,141 in Breslau. Er notiert in seinem Tagebuch: Dann traf ich Ellguther aus Glatz; auch diese alten Leute wollen noch heraus! Alles im Aufbruch; aber wie viele werden noch einen Hafen erreichen?142 In der Zeit danach gingen sie nach Berlin, denn am 5.11.1942 wurden 100 Häftlinge143 mit dem Transport No. I/76 von Berlin in das Ghetto Theresienstadt deportiert, darunter Benno Ellguther mit der Transporthäftlingsnummer 9657 und seine Ehefrau Flora mit der Häftlingsnummer 9.658. Benno wurde am 25.6.1943 im Ghetto Theresienstadt ermordet.144 Flora Ellguther war unter den 2.500 Häftlingen,145 die am 16.5.1944 vom Ghetto Theresienstadt in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurden, während des Transportes erhielt sie die Häftlingsnummer 1.659. Flora ist in der Schoah ermordet worden.146 Glücksmann, Gustav, Kaufmann, geboren am 26.11.1874 als Sohn von David und Regina Glücksmann in Breslau. Er war verheiratet mit Meta Glücksmann, geb. Ohnstein, geboren am 23.4.1880 in Haynau, Kreis Goldberg, Niederschlesien.147 Im Jahr 1899 eröffnete Gustav Glücksmann eines der ersten Warenhäuser in Glatz, am Ring 19, welches 1938 von der Firma Hawa „arisiert“ wurde.148 Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnten sie in der Böhmischen Straße 1 in Glatz. Während des Zweiten Weltkrieges gingen sie nach Berlin, denn am 10.9.1942 wurden 100 Häftlinge149 mit dem Transport No. I/63 von Berlin in das Ghetto Theresienstadt deportiert, darunter Gustav Glücksmann mit der Transporthäftlingsnummer 6.517 und seine Ehefrau Meta mit der Häftlingsnummer 6.518.150 Gustav wurde am 19.12.1942 im Ghetto Theresienstadt ermordet. Meta wurde am 7.1.1943 ebenfalls im Ghetto Theresienstadt ermordet.151 138 139 140 141 142 143
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Vgl. Die Grafschaft Glatz – Schlesien – Einwohnerbuch 1937, S. 130. Vgl. APWr., AM K, Sign. 5411, S. 25. Vgl. Laqua: Prozess der „Entjudung“ in der schlesischen Stadt Glatz 1933–1944, S. 311. Vgl. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 371. Ebd., S. 597. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. APWr., AM K, Sign. 5411, S. 25. Vgl. Włodarczyk: Wegweiser durch die Welt der Glatzer Juden, Krzyzowa/Kreisau, 2007, S. 34. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933– 1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011.
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Goldmann, Heinrich, geboren am 25.1.1900152 in Bad Kudowa, vor dem Zweiten Weltkrieg wohnte er in der Wassertorstraße 6 in Glatz und war Besitzer eines Friseur geschäftes. Am 3.10.1939 wanderte er von Glatz nach Rotterdam aus, seine Frau Hedwig (mit der er in einer Mischehe lebte) und seine zwei Kinder (Günther geboren am 1.9.1927 in Landeck und Dorothea geboren am 1.8.1929 in Landeck) blieben in Glatz. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam Heinrich Goldmann nach Glatz zurück und war einer der Vorsitzenden der deutsch-jüdischen Gemeinschaft. Mit polnischen Juden gründete er in Glatz ebenfalls eine religiöse Gemeinschaft. 1946 wurde er mit seiner Familie und anderen deutschen Juden von den polnischen Machthabern nach Deutschland vertrieben und wanderte später mit seiner Familie in die USA aus.153 Hammerschmidt, Siegfried, Kaufmann, geboren am 13.12.1896 in Rafenstein. Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnte er am Bergblick 34 in Glatz.154 Sein weiteres Schicksal ist bisher unbekannt. Jacob, Rudolf, Dr., Facharzt, geboren am 16.3.1902 in Glatz155 als Sohn des Albert Jacob (geboren am 5.1.1874,156 verstorben am 29.5.1934 in Glatz und bestattet auf dem Friedhof der Synagogengemeinde Glatz157), des Besitzers der Likör-Fabrik Jacob in der Zimmerstraße 11. Rudolf konnte noch 1940 nach Palästina auswandern.158 Klar, Fanny, geb. Aber, Witwe, geboren am 23.2.1869159 in Rawitsch, Posen. Sie war verheiratet mit Jacob Klar (geboren am 24.7.1868,160 verstorben am 4.4.1936 in Glatz und bestattet auf dem Friedhof der Synagogengemeinde Glatz161). Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnte sie in der Sudetenstraße 2 in Glatz.162 Am 2.4.1943 wurden 276 Häftlinge163 mit dem Transport No. IX/4 von Breslau in das Ghetto Theresienstadt deportiert, darunter war Fanny Klar mit der Transporthäftlingsnummer 126. Fanny wurde am 31.1.1945 im Ghetto Theresienstadt ermordet.164 Korytowski, Konrad, Reisender, geboren am 1.3.1875165 in Koschmin, Kreis Krotoszyn, Posen. Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnte er in der Friedrichstraße 22 in
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Vgl. APWr., AM K, Sign. 5411, S. 25. Vgl. Włodarczyk: Dzieje społeczności żydowskiej w Kłodzku w XIX–XX w., 2006, S. 112. Vgl. APWr., AM K, Sign. 5411, S. 25. Vgl. ebd. Vgl. Włodarczyk: Dzieje społeczności żydowskiej w Kłodzku w XIX–XX w., 2006, S. 114. Vgl. Jüdische Gemeinde Glatz (Schlesien), Matrikel 1832–1940, Tote 1910–1940, FHL INTL Film 1184414, Item 2. Vgl. Włodarczyk: Wegweiser durch die Welt der Glatzer Juden, S. 27. Vgl. Włodarczyk: Dzieje społeczności żydowskiej w Kłodzku w XIX–XX w., 2006, S. 115. Geburtsdatum 23.2.1879 in: APWr., AM K, Sign. 5411, S. 25. Vgl. ebd., S. 115. Vgl. Jüdische Gemeinde Glatz (Schlesien), Matrikel 1832–1940, Tote 1910–1940, FHL INTL Film 1184414, Item 2. Vgl. APWr., AM K, Sign. 5411, S. 25. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. APWr., AM K, Sign. 5411, S. 25. Geburtsdatum 10.3.1875 in: YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011.
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Glatz.166 Am 2.4.1943 wurden 276 Häftlinge167 mit dem Transport No. IX/4 von Breslau in das Ghetto Theresienstadt deportiert, darunter war Konrad Korytowski mit der Transporthäftlingsnummer 130. Konrad wurde am 13.4.1943 im Ghetto Theresienstadt ermordet.168 Kronheim, Arthur, Dr. med., Augenarzt, geboren am 18.6.1872 in Danzig. Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnte er in der Wilhelmstraße 9 in Glatz.169 Im Zweiten Weltkrieg soll er im Haus „Heidelberg“ in Bad Altheide gewohnt haben. Von dort soll er, mit den anderen Bewohner des Hauses „Heidelberg“, in ein Vernichtungslager deportiert worden sein.170 Ledermann, Jakob, Kantor und Prediger der Synagogengemeinde Glatz, geboren am 6.10.1871171 als Sohn von Moses Ledermann und seiner Frau Reichel/Regina geb. Kahn in Kleineibstadt, Landkreis Rhön-Grabfeld, Unterfranken.172 Seine Ehefrau könnte die am 24.5.1934 in Glatz verstorbene Frau E. Ledermann sein.173 Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnte er in der Schwedeldorfer Straße 20 in Glatz. Am 19.2.1939 wandert er nach Schottland aus und wohnte dort in Glasgow S 1, 7 Newark Drive, bei Dr. Ehrlich.174 Leokowitz, Walter, Angestellter, geboren am 10.6.1901. Im Jahr 1938 wohnte er in der Adolf-Hitler-Straße 10 in Glatz.175 Sein weiteres Schicksal ist bisher unbekannt. Lesser, Kurt, geboren am 15.12.1885 in Glatz. Er war verheiratet mit Grete Lesser, geb. Sachs, geboren am 9.9.1891 in Meißen. Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnten sie in Glatz in der Schwedeldorfer Straße 12, am 6.11.1940 wanderten sie nach Rio de Janeiro, Brasilien, aus. Die Geheime Staatspolizeileitstelle Breslau teilte am 12.11.1944 dem Reichssicherheitshauptamt -Referat IV B 4– in Berlin mit, dass auf Grund der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941 (RGBl. I S. 722 ff.) das Vermögen des Juden Kurt Lesser dem Reich verfallen ist. Das Konto mit einem Guthaben von 407,86 RM bei der Commerzbank-Filiale-Breslau wurde am 5.2.1942 sichergestellt.176 Löwy, Georg, Kaufmann, geboren am 9.10.1879 in Glatz.177 Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnte er am Ring 10 in Glatz, wo er ein Geschäft für Galanteriewaren, 166 167
168 169 170
171 172 173
174 175 176 177
Vgl. APWr., AM K, Sign. 5411, S. 25. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. APWr., AM K, Sign. 5411, S. 25. Vgl. Wenzel: Jüdisches Leben in Altheide, S. 111, 112. Wahrscheinlich ist Arthur Kronheim bereits am 28.12.1939 in Bad Altheide verstorben und wurde auf dem Friedhof der Synagogengemeinde Glatz bestattet, Vgl. Jüdische Gemeinde Glatz (Schlesien), Matrikel 1832–1940, Tote 1910–1940, FHL INTL Film 1184414, Item 2, kaum entzifferbarer Eintrag. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 2022, S. 1–23. Vgl. StA Wü., Jüdische Standesregister, Nr. 60, Kleineibstadt. Vgl. Jüdische Gemeinde Glatz (Schlesien), Matrikel 1832–1940, Tote 1910–1940, FHL INTL Film 1184414, Item 2. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 2022, S. 1–23. Vgl. APWr., AM K, Sign. 5411, S. 25. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 2060, S. 1–13. Vgl. Włodarczyk: Dzieje społeczności żydowskiej w Kłodzku w XIX–XX w., 2006, S. 117.
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Spielzeug und Haushaltswaren führte. Während der Reichspogromnacht wird sein Geschäft verwüstet und geplündert.178 Am 13.4.1942 wurden 1.000 Juden von Breslau in das Konzentrationslager/Ghetto Izbiza deportiert, darunter befand sich Georg Löwy.179 Reich, Georg, Kaufmann, geboren am 23.1.1893 in Sadke, Kreis Wirsitz, Posen. Im Jahr 1938 wohnte er in der Mälzstraße 15 in Glatz, wo er ein Geschäft für Tuchversand und Schneiderartikel führte. Mit der Reichspogromnacht beendete auch dieser Betrieb seine Arbeit. Da ein volkswirtschaftliches Interesse für die Aufrechterhaltung des Betriebes unter arischer Leitung nicht bestand, wurde das Geschäft zum 31.12.1938 aufgelöst.180 Er wird Georg Reich gewesen sein, der 1942 als Untermieter im Haus des Siegfried Schott, Böhmische Straße 40, gewohnt hat. Ich gehe davon aus, dass er zusammen mit der Familie Schott am 13.4.1942 von Breslau in das Konzentrationslager/Ghetto Izbiza deportiert wurde, er wird in der Schoah ermordet worden sein. Riesenfeld, Tekla, Geschäftsinhaberin, geboren am 9.10.1880 in Glatz. Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnte sie in der Königshainer Straße 1 in Glatz.181 Ihr weiteres Schicksal ist bisher unbekannt. Samuel, Jeanette, geb. Ledermann, Bankbeamtin,182 später Haushälterin,183 geboren am 18.2.1884184 als Tochter von Moses Ledermann und seiner Frau Reichel/Regina geb. Kahn in Kleineibstadt, Landkreis Rhön-Grabfeld, Unterfranken.185 Sie war verheiratet mit N. Samuel. Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnte sie in der Schwedeldorfer Straße 20 in Glatz. Sie wanderte nach England aus und wohnte dort in London N16/14, West Bank, Stamford Hill, p. Adr. Mr. Finn.186 Schott, Siegfried, Kaufmann und letzter Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Glatz,187 geboren am 18.12.1879 in Glatz. Er war verheiratet mit Margot Schott, geb. Herlitz, geboren am 14.10.1891 in Habelschwerdt. Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnten sie in der Böhmischen Straße 40 in Glatz. In ihrem Haushalt wohnte noch der am 20.4.1920 in Glatz geborene, schwerkranke Sohn Erwin. Als Untermieter wohnten in seinem Haus der Sohn Gerhard Schott mit seiner Ehefrau Hildegard Schott, geb. Ascher, sowie der Jude Georg Reich.188 Siegfried Schott war der Besitzer der im Jahr 1874 von Louis Schott († 10.10.1928 in Glatz)189 gegründeten Destillations- & Likörfabrik Louis Schott. Während der Reichspogromnacht wurde die Fabrik und Wohnung 178 179 180 181 182 183 184 185
186 187 188 189
Vgl. Włodarczyk: Wegweiser durch die Welt der Glatzer Juden, S. 38. Vgl. Włodarczyk: Dzieje społeczności żydowskiej w Kłodzku w XIX–XX w., 2006, S. 118. Vgl. Laqua: Prozess der „Entjudung“ in der schlesischen Stadt Glatz 1933–1944, S. 311. Vgl. APWr., AM K, Sign. 5411, S. 25. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 2968, S. 1–6. Vgl. Die Grafschaft Glatz/Schlesien. Einwohnerbuch 1937, S. 85. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 2968, S. 1–6. Die Eltern von Jeanette Samuel, geb. Ledermann sind Moses Ledermann und seine Frau Reichel/Regina, geb. Kahn, so wurde es vom Standesamt Königshofen bestätigt. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 2968, S. 1–6. Vgl. Włodarczyk: Wegweiser durch die Welt der Glatzer Juden, S. 26. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 3154, S. 1–94. Vgl. Jüdische Gemeinde Glatz (Schlesien), Matrikel 1832–1940, Tote 1910–1940, FHL INTL Film 1184414, Item 2.
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der Schotts verwüstet und geplündert.190 Da ein volkswirtschaftliches Interesse für die Aufrechterhaltung des Betriebes unter arischer Leitung nicht bestand, wurde die Firma zum 31.12.1938 aufgelöst.191 Am 10.4.1942 gaben Siegfried und Margot Schott in Breslau ihre Vermögenserklärung ab, kurz darauf wurden sie mit der zweiten Aktion umgesiedelt,192 wahrscheinlich waren sie unter den 1.000 Juden, die am 13.4.1942 von Breslau in das Konzentrationslager/Ghetto Izbiza deportiert wurden,193 sie werden in der Schoah ermordet worden sein. Der nicht abwanderungsfähige Sohn Erwin wurde wegen eines Nervenleidens vom 10.4.1942 bis zu seinem Tod am 27.4.1942 im jüdischen Krankenhaus in Breslau, Abteilung Wallstraße 9, von Dr. med. Erich Schneider (Arzt für Nerven und Geisteskrankheiten, berechtigt zur ärztlichen Behandlung von Juden) behandelt. Am 11.4.1942 stellte das Postamt Glatz seine Schlussrechnung für die Fernsprecheinrichtung sowie am 1.5.1942 die Städtischen Betriebswerke Glatz GmbH. ihre Schlussrechnung für Wasser, Gas und Strom des Herrn Siegfried Schott, Böhmische Straße 40, an die Geheime Staatspolizei. Am 24.8. und 5.9.1942 schloss der Oberfinanzpräsident Niederschlesien in Breslau mit dem Käufer, Herrn Oskar Ritter, Münsterberg/Schlesien, zwei Kaufverträge über die Übernahme der Einrichtungsgegenstände im Wert von 1.568,– RM und 279,50 RM in der Wohnung des abgeschobenen Juden Siegfried Schott ab. Der Käufer verpflichtete sich, die Einrichtungsgegenstände am 30.8.1942 bzw. sofort aus der Wohnung zu entfernen.194 Schott, Gerhard Paul, Arbeiter in der Firma J. Arthur Gläser, Glatz/Schlesien, Spulen- & Holzwarenfabrik, geboren am 15.11.1914 in Glatz als Sohn von Siegfried und Margot Schott, geb. Herlitz. Er wohnte seit seiner Geburt im Hause des Vaters, Böhmische Straße 40, und war verheiratet mit Hildegard Schott, geb. Ascher, geboren am 9.4.1921 in Breslau. Am 10.4.1942 gaben Gerhard und Hildegard Schott kurz nach ihrer Ankunft aus Glatz in Breslau ihre Vermögenserklärung ab. Sie wurden, wie seine Eltern, kurz darauf mit der zweiten Aktion umgesiedelt,195 wahrscheinlich waren sie unter den 1.000 Juden, die am 13.4.1942 von Breslau in das Konzentrationslager/Ghetto Izbiza deportiert wurden,196 sie werden in der Schoah ermordet worden sein. Am 23.6. und 24.8.1942 schloss der Oberfinanzpräsident Niederschlesien in Breslau mit dem Käufer, Herrn Oskar Ritter, Münsterberg/Schlesien, zwei Kaufverträge über die Übernahme der Einrichtungsgegenstände im Wert von 1.308,– RM und 200,– RM in der Wohnung des abgeschobenen Juden Gerhard Schott ab. Der Käufer verpflichtete sich, die Einrichtungsgegenstände am 25.6.1942 bzw. am 30.8.1942 aus der Wohnung zu entfernen. Am 25.1.1943 wurde die Einziehung des Vermögens von Gerhard und Hildegard Schott mit dem Verkauf von Pfandbriefen im Wert von 3.096,10 RM abgeschlossen.197 190 191 192 193
194 195 196
197
Vgl. Włodarczyk: Wegweiser durch die Welt der Glatzer Juden, S. 25. Vgl. Laqua: Prozess der „Entjudung“ in der schlesischen Stadt Glatz 1933–1944, S. 311. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 3154, S. 1–94. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 3154, S. 1–94. Vgl. ebd., Sign. 3153, S. 1–54. BA Koblenz, Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939– 1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 3153, S. 1–54.
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Schütz, Minna, geb. Herzberg, Witwe, geboren am 17.9.1867 in Glatz.198 Sie war verheiratet mit Bernhard Schütz199 (geboren am 22.1.1865,200 verstorben am 12.5.1937 in Glatz und bestattet auf dem Friedhof der Synagogengemeinde Glatz201). Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnte sie in der Friedrichstraße 22 in Glatz.202 Am 2.4.1943 wurden 276 Häftlinge203 mit dem Transport No. IX/4 von Breslau in das Ghetto Theresienstadt deportiert, darunter war Minna Schütz mit der Transporthäftlingsnummer 237. Minna wurde am 4.11.1943 im Ghetto Theresienstadt ermordet.204
Jüdische Bewohner aus Habelschwerdt: Glaser, Stefan, Kaufmann205, geboren am 27.3.1856 in Habelschwerdt.206 Er verstarb am 26.12.1923 am Ring 7 in Habelschwerdt und wurde auf dem Friedhof der Synagogengemeinde in Glatz begraben.207 Er war verheiratet mit Nanny Glaser, geb. Loewy, geboren am 3.5.1862 in Konstadt, Kreis Kreuzburg, Oberschlesien.208 Sie verstarb am 8.5.1940 in Habelschwerdt, Ring 7 und wurde auf dem Friedhof der Synagogengemeinde in Glatz begraben.209 Im Testament des verstorbenen Kaufmanns Stefan Glaser vom 11.3.1915 wurden folgende Nacherben genannt: die verehelichte Musiker Elisabeth Kürschner, geb. Glaser, die verehelichte Chemiker Regina Grünwald, geb. Glaser, in Berlin-Weißensee, der Kaufmann Bruno Glaser in Rathenow, das Fräulein Gertrud Glaser in Habelschwerdt und das Fräulein Hedwig Glaser in Habelschwerdt.210 Ob die genannten Nacherben alle Kinder von Stefan und Nanny Glaser sind, ist offen. Sicher ist nur, dass Gertrud und Hedwig Töchter sind. Eine Schwester von Hedwig wanderte nach Litauen aus.211 Vermutlich ist Bruno der Bruder der beiden Schwestern, der 1939 in die USA ausgewandert war.212 Am 20.1.1940 reichte Nanny Glaser bei der Devisenstelle des Oberfinanzpräsidenten Schlesien eine Vermögenserklärung ein und erklärte, dass sie eine Hypothek unverzinst auf dem Haus ihrer Tochter habe (hier wird die Tochter Hedwig gemeint sein). Hedwig Glaser teilte der 198 199 200 201
202 203
204 205 206 207
208
209
210 211 212
Vgl. APWr., AM K, Sign. 5411, S. 25. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. Włodarczyk: Dzieje społeczności żydowskiej w Kłodzku w XIX–XX w., 2006, S. 125. Vgl. Jüdische Gemeinde Glatz (Schlesien), Matrikel 1832–1940, Tote 1910–1940, FHL INTL Film 1184414, Item 2. Vgl. APWr., AM K, Sign. 5411, S. 25. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. APKa., AM B, Sign. 2172, S. 294–306. Vgl. Włodarczyk: Dzieje społeczności żydowskiej w Kłodzku w XIX–XX w., 2006, S. 111. Vgl. Jüdische Gemeinde Glatz (Schlesien), Matrikel 1832–1940, Tote 1910–1940, FHL INTL Film 1184414, Item 2. Vgl. Jersch-Wenzel: Quellen zur Geschichte der Juden in polnischen Archiven, Bd. 2, Ehemalige preußische Provinz Schlesien, S. 76. Vgl. Jüdische Gemeinde Glatz (Schlesien), Matrikel 1832–1940, Tote 1910–1940, FHL INTL Film 1184414, Item 2. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 1127, S. 1–40. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 1121, S. 1–78. Vgl. ebd.
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Devisenstelle des Oberfinanzpräsidenten Schlesien am 24.05.1940 mit, dass das Testament der Nanny Sara Glaser an diesem Tag vor dem Amtsgericht Habelschwerdt eröffnet worden ist. Als Erben wurden die Töchter Frau Gertrud Sara Siedner, geb. Glaser, in Breslau, Wallstraße 11/III, und Hedwig Glaser in Habelschwerdt, Ring 7, angegeben.213 Glaser, Hedwig, Hausbesitzerin, geboren am 15.01.1893 in Habelschwerdt als Tochter von Stefan und Nanny Glaser, geb. Loewy. Zuletzt wohnte sie in Habelschwerdt am Ring 7, wo sie seit Geburt lebte. Am 22.4.1942 gab sie dort ihre Vermögenserklärung ab und meldete sich beim Einwohnermeldeamt ab, um vorübergehend nach Breslau zu verziehen.214 Am 3.5.1942 wurden von Breslau aus 1.000 Juden in den Distrikt Lublin deportiert,215 darunter könnte Hedwig gewesen sein, die kurz darauf in der Schoah ermordet worden ist. Am 28.5.1942 schloss der Oberfinanzpräsident Niederschlesien in Breslau mit der „Fachgruppe Gebrauchtwarenhandel, Bezirksgruppe Breslau, Wallstraße“ einen Vertrag über die Übernahme der Einrichtungsgegenstände im Wert von 1.168,– RM in der Wohnung der abgeschobenen Jüdin Hedwig Glaser ab. Der Käufer verpflichtete sich, die Einrichtungsgegenstände bis zum 31.5.1942 aus der Wohnung zu entfernen. Die Ortspolizeibehörde der Stadt Habelschwerdt erhielt am 1.6.1942 vom Oberfinanzpräsident Niederschlesien in Breslau die Mitteilung, dass die Wohnung geräumt sei und zu ihrer Verfügung stehe. Die Verwaltung des Grundstückes Ring 7 wurde am 11.6.1942 vom Oberfinanzpräsident Niederschlesien in Breslau an das Finanzamt übertragen.216 Am 17.11.1942 kauften der Schuhmachermeister Josef Schneider und seine Frau Maria Schneider, geb. Wolf,217 die dort schon in der Parterrewohnung wohnten, das Haus und Grundstück Ring 7 in Habelschwerdt.218 Goldschmidt, Klara, Kleinrentnerin,219 ledig, geboren am 29.11.1866220 (laut anderen Quellen am 29.11.1867,221 am 29.9.1867222) in Habelschwerdt als Tochter des Jakob Goldschmidt und der Henriette, geb. Guttentag. In Habelschwerdt in der Gartenstraße 9 hatte sie ihren Wohnsitz.223 Um 1934 erhielt die Gartenstraße den neuen Namen Adolf-Hitler-Straße,224 nach 1937225 wohnte sie im Altenheim in Altweistritz, Kreis Habelschwerdt. Im Mai 1942 wurde sie in die „Jüdische Wohngemeinschaft“
213 214 215
216 217 218 219 220 221
222 223 224 225
Vgl. APWr., KMZ, Sign. 1127, S. 1–40. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 1121, S. 1–78. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 1121, S. 1–78. Vgl. ebd., Sign. 1127, S. 1–40. Vgl. ebd., KMZ, Sign. 1121, S. 1–78. Vgl. APKa., AM B, Sign. 2172, S. 294–330. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 1174, S. 1–19. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. APKa., AM B, Sign. 2172, S. 313–326. Vgl. ebd., S. 329f. Vgl. Die Grafschaft Glatz/Schlesien. Einwohnerbuch 1937, S. 327.
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im Kloster Grüssau, Kreis Landeshut, übergesiedelt, wo sie am 20.7.1942226 (laut anderen Quellen am 21.7.1942227 oder am 9.6.1942228) an Herzversagen229 verstarb. Vor dem Amtsgericht Landeshut in Schlesien wurde am 14.8.1942 das Testament vom 26.7.1935 der verstorbenen Jüdin Klara Goldschmidt eröffnet. Als Erben wurden die Geschwister eingesetzt, nämlich: die Kaufmannswitwe Angelika Herlitz, geb. Goldschmidt, zu dieser Zeit wohnhaft in Habelschwerdt, Ring 5, und der Kaufmann Georg Goldschmidt, zu dieser Zeit wohnhaft in Breslau, Hohenzollernstraße 76. Als dritte Erbin, unter bestimmten Bedingungen, wurde ihre Nichte Frau Frida Struck, geb. Herlitz, eingesetzt. In einem Schreiben des Amtsgerichts Landeshut in Schlesien an den Oberfinanzpräsidenten Niederschlesien vom 27.1.1943 um die Nachlasssache der am 20.7.1942 in Grüssau verstorbenen Jüdin Klara Goldschmidt wurden die Geschwister Georg Goldschmidt und Angelika Herlitz, geb. Goldschmidt, am 24.8.1942 von Grüssau nach dem Protektorat evakuiert.230 Goldschmidt, Georg, Kaufmann, geboren am 13.3.1865231 in Habelschwerdt als Sohn des Jakob Goldschmidt und der Henriette, geb. Guttentag. Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnte er in Breslau, Hohenzollernstraße 76. Während des Zweiten Weltkrieges wurde er in die „Jüdische Wohngemeinschaft“ im Kloster Grüssau, Kreis Landeshut übergesiedelt. Am 24.8.1942 wurde er von Grüssau nach Breslau transportiert232 und weiter mit dem Transport No. IX/2, Zug Da 508, und der Zug-Häftlingsnummer 23, von Breslau zum Ghetto Theresienstadt deportiert233 (es wird der Zug gewesen sein, mit dem am 30.–31.8.1942 1.065 Juden von Breslau zum Ghetto Theresienstadt deportiert wurden234). Georg wurde am 12.9.1942 im Ghetto Theresienstadt ermordet.235 Herlitz, Angelika, geb. Goldschmidt, Kaufmannswitwe236 und ab 1924 Rentnerin,237 geboren am 5.2.1864 in Habelschwerdt238 als Tochter von Jakob Goldschmidt und seiner Frau Henriette, geb. Guttentag. Vor dem Zweiten Weltkrieg wohnte sie in Habelschwerdt, Ring 5.239 Während des Zweiten Weltkrieges wurde sie in die „Jüdische Wohngemeinschaft“ im Kloster Grüssau, Kreis Landeshut, übergesiedelt. Am 24.8.1942 wurde sie von Grüssau nach Breslau transportiert240 und weiter 226 227
228 229 230 231 232 233 234
235 236 237 238 239 240
Vgl. APWr., KMZ, Sign. 1174, S. 1–19. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. ebd. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 1174, S. 1–19. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 1174, S. 1–19. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 1174, S. 1–19. Vgl. APKa., AM B, Sign. 2172, S. 309–330. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. APKa., AM B, Sign. 2172, S. 313–330. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 1174, S. 1–19.
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mit dem Transport No. IX/2, Zug Da 508, und der Zug-Häftlingsnummer 29, von Breslau zum Ghetto Theresienstadt deportiert.241 (es wird der Zug gewesen sein, mit dem am 30.–31.8.1942 1.065 Juden von Breslau zum Ghetto Theresienstadt deportiert wurden242). Angelika wurde am 10.9.1942 im Ghetto Theresienstadt ermordet.243 Ihre Tochter Frida Struck, geb. Herlitz, geboren am 16.12.1886 in Habelschwerdt, wanderte mit ihrem Gatten und Sohn im Sommer 1934 nach Barcelona, Spanien, aus.244 Schwenk, Maximilian (Max), Kaufmann, geboren am 1.10.1872 in Habelschwerdt.245 Er war mit Hedwig verheiratet.246 Er wohnte vor dem Zweiten Weltkrieg in Habelschwerdt in seinem Wohnhaus in der Glatzer Straße 11, welches er zusammen, je zu Hälfte, mit seinem Bruder Friedrich Schwenk und später mit seiner Nichte Maria Schwenk besaß. Zusammen mit seinem Bruder Friedrich führte er die Fa. O.H.G. Gebr. Schwenk und Hirsch,247 eine Getreide- und Häutehandlung sowie ein Textilgeschäft für Wäsche- und Webwaren in der Glatzer Straße 11.248 Das Textilgeschäft führten seine Frau Hedwig Schwenk und deren Tochter Erna Gruschka bis zur sogenannten Reichskristallnacht. Werner Taubitz berichtet über die Pogromnacht in seinem Buch „Habelschwerdt und die Habelschwerdter im 20. Jahrhundert“: Das Unheil folgte in der „Reichskristallnacht“, am 09./10.11.1938, als zwei renommierte Habelschwerdter Parteileute im Beisein eines „Aufsehers“ das Schaufenster von Schwenk mit einer Wagendeichsel zertrümmerten. Hedwig Schwenk erlitt einen Schlaganfall, von dem sie sich nicht mehr erholte. Sie starb kurz darauf und wurde in Münsterberg begraben.249 Aus einem Schreiben vom 14.1.1943 des Finanzamts Habelschwerdt an den Oberfinanzpräsidenten Niederschlesien in Breslau geht hervor, dass die Fa. O.H.G. Gebr. Schwenk und Hirsch schon vor dem 1.1.1940 aufgelöst wurde.250 Das Textilgeschäft für Wäsche- und Webwaren wurde am 20.11.1938 an Walter Klose verkauft. Die Tochter Hertha war mit Martin Hirsch verheiratet, sie führten in Grottkau ein gutgehendes Geschäft. Die Tochter Erna war in erster Ehe mit dem Kaufmann Alex Gruschka verheiratet,251 vermutlich ließ sie sich vor 1937 von ihm scheiden, in 241 242
243 244 245 246 247 248 249 250 251
Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 1174, S. 1–19. Vgl. ebd., Sign. 3243, S. 1–65. Vgl. Taubitz: Habelschwerdt und die Habelschwerdter im 20. Jahrhundert, S. 49. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 3243, S. 1–65. Vgl. Die Grafschaft Glatz/Schlesien. Einwohnerbuch 1937, S. 350, 353. Taubitz: Habelschwerdt und die Habelschwerdter im 20. Jahrhundert, S. 49, 50. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 3243, S. 1–65. Im Verzeichnis der selbständigen jüdischen Einwohner von Habelschwerdt (APKa., AM B, Sign. 2172, S. 326–330) welches bis zum Jahr 1934 geführt wurde, wird Alex Gruschka als Kaufmann, wohnhaft in der Glatzer Straße 11, 1933 und 1934 genannt. Werner Taubitz schreibt in seinem Buch „Habelschwerdt und die Habelschwerdter im 20. Jahrhundert“ auf S. 50, dass die Tochter Erna mit einem Gruschke verheiratet war. In den Akten des Oberfinanzpräsidiums der Provinz Niederschlesien in Breslau, Konfiskation jüdischen Eigentums (APWr., KMZ, Sign. 3243, S. 1) wird Erna Gruschka, geborene Schwenk, genannt, die mit Maximilian Schwenk am 5.8.1940 in die USA auswanderte. Ich gehe davon aus, dass Erna Gruschka, geborene Schwenk, mit dem Kaufmann Alex Gruschka verheiratet war.
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zweiter Ehe war sie in den USA mit Fred Magnus verheiratet.252 Max Schwenk wanderte mit seiner Tochter Erna Gruschka, geb. Schwenk am 5.8.1940 (31.7.1940) nach Philadelphia/ Pa. USA, 3750 N. Bonnwierstr. aus.253 Schwenk, Maria, Geschäftsinhaberin,254 ledig, wurde als Tochter von Friedrich Schwenk255 am 22.10.1895 in Habelschwerdt geboren.256 Sie wohnte vor dem Zweiten Weltkrieg in Habelschwerdt in ihrem Wohnhaus in der Glatzer Straße 11, welches sie zusammen, mit ihrem Onkel Max Schwenk besaß. In der Ritterstraße 1257 führte sie ein Schuhgeschäft.258 Ihre Lebenssituation war zuletzt so hoffnungslos, dass sie sich mit einer Überdosis Tabletten das Leben zu nehmen versuchte. Von einer Hospitalschwester wurde sie versorgt,259 jedoch scheint ihr Gesundheitszustand so schlecht gewesen zu sein, dass man sie in Breslau im Krankenhaus in der Wallstraße 9F unterbrachte. Am 5.6.1943 unterschrieb dort Susanna Kaiser in Vertretung für sie ihre Vermögenserklärung. Mit der Verfügung des Regierungspräsidenten in Breslau vom 7.6.1943 wurde das gesamte Vermögen von Maria Schwenk zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen.260 Maria Schwenk wurde mit dem Transport No. IX/5 und der Zug-Häftlingsnummer 137 von Breslau zum Ghetto Theresienstadt deportiert261 (es war der Zug, mit dem am 9.–10.6.1943 161 Juden von Breslau zum Ghetto Theresienstadt deportiert wurden262). Maria wurde am 8.7.1944 im Ghetto Theresienstadt ermordet.263 Ein Bruder wanderte nach Chile aus, und ihr Onkel und ihre Cousine wanderten in die USA aus.264
Jüdische Bewohner aus Neurode: Brass, Max, Kaufmann, geboren am 1.1.1884. Er war verheiratet mit Grete Brass, geb. Schulz, geboren am 5.10.1883. Sie führten eine Schuhwarenhandlung in der Schuhmacherstraße 1 in Neurode.265 Sie wanderten im Jahr 1939 nach Shanghai, China, aus.266 Max Brass verstarb dort zwischen 1940 und 1945.267 252 253 254 255 256 257 258 259 260 261 262
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264 265 266 267
Vgl. Taubitz: Habelschwerdt und die Habelschwerdter im 20. Jahrhundert, S. 50. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 3243, S. 1–65. Vgl. APKa., AM B, Sign. 2172, S. 323–330. Vgl. Taubitz: Habelschwerdt und die Habelschwerdter im 20. Jahrhundert, S. 50. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 3241, S. 1–27. Vgl. APKa., AM B, Sign. 2172, S. 323–330. Vgl. Taubitz: Habelschwerdt und die Habelschwerdter im 20. Jahrhundert, S. 50. Vgl. Ebd., S. 50, 51. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 3241, S. 1–27. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. BA Koblenz, Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933– 1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 3241, S. 1–27. Vgl. Die Grafschaft Glatz/Schlesien. Einwohnerbuch 1937, S. 174. Vgl. APWr., KMZ, Sign. 431, S. 1–8. Vgl. YV, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem.org, 9.11.2011.
4. Begegnung mit jüdischen Bürgern aus Glatz Von Reinhard Schindler
E
rinnerungen von Peretz May aus Israel – veröffentlicht im Grafschafter Boten 1/1989 – ergaben den ersten Anstoß zu meinen Nachforschungen zu jüdischen Familien in der Grafschaft Glatz: Die jüdische Gemeinde in Glatz zählte bis zum Jahre 1933 etwa 30 Familien mit etwa 150 Seelen. Weitere jüdische Familien lebten in mehreren Nachbarorten, wie Neurode, Bad Altheide, Bad Reinerz, Bad Landeck ... Die jüdischen Familienväter betätigten sich in allen den Juden offenen Berufen: Fabrikbesitzer und Geschäftsinhaber, Ärzte, Rechtsanwälte usw. Juden waren im Handel und Gewerbe völlig in die christliche Bevölkerung integriert. Gesellschaftlich verkehrten die Juden meist unter sich ... Die Glatzer Juden waren geachtete Mitbürger. Noch bis 1935 gab es, abgesehen von den „von oben“ befohlenen Aktionen, keinerlei Ausschreitungen oder Belästigungen ... 1933 verließen die ersten Juden die Stadt. Nach 1936 gingen viele mit der Durchführung der „Gleichschaltung“ und der „Rassengesetze“ in die nahe Großstadt Breslau oder wanderten aus, soviel mir bekannt nach England, USA, Chile, Südafrika, Australien und Palästina (dem heutigen Israel). In der Zeit der „Kristallnacht“ waren noch einige jüdische Familien in Glatz. Leider konnten sich nicht alle retten, und so manche ereilte die Deportation und ein grausiges Schicksal .... Peretz May, den ich 1993 im Kibbutz Mizra besuchen konnte, schrieb in einem Brief: Mein Vater Erwin May (1880–1950) war Mitinhaber der Likör- und Marmeladenfabrik Hermann May & Co. bis 1935, als er auf Grund der Ereignisse aus der Firma heraus gedrängt wurde. Mein Vater kam 1940 mit dem letzten Schiff, das von Triest nach Haifa fuhr, hier in Palästina an. Er hat das Unrecht, das man ihm angetan, nie verwunden. Er lernte, da er völlig erblindet war, aber zum Lebensunterhalt beisteuern wollte, Körbe und Stühle aus Flechtarbeit machen, meine Mutter überlebte ihn um 16 Jahre. Ich selber (Fritz) bin Jahrgang 1913, 1931 machte ich am Glatzer Gymnasium das Abitur, ging dann nach Breslau, wo ich bei der Schlesischen DampferCompanie Berliner Lloyd Ende 1933 fristlos entlassen wurde. Dann arbeitete ich kurze Zeit in Glatz bei der Gärtnerei Nentwig (eine ungewollte Vorbereitung für die Landarbeit in Palästina) und half meinen Eltern beim Umzug nach Breslau. 1934 ging ich nach Italien und von dort nach Palästina, zusammen mit meinem Bruder Ernst und meiner Schwester Eva, meine ältere Schwester Thea verstarb 1937 in Deutschland. Peretz May spendete selbst 100 Dollar für die im November 1995 in Glatz enthüllte Gedenktafel für die 1938 abgebrannte Synagoge und schrieb in seinem Beitrag: Die Synagoge diente mehreren Generationen der jüdischen Bewohner als Gotteshaus, in dem regelmäßig jeden Freitagabend und Sonnabendmorgen (Schabbat) Gottesdienst abgehalten wurde. Darüber hinaus diente sie als Zusammenkunftstätte des jüdischen Gemeinderates. An den Hohen Feiertagen (Neujahr und Jom Kippur) kamen jüdische Besucher auch aus der weiteren Umgebung und den Nachbarländern zum Gebet. Das Innere der Synagoge enthielt die Thoraschreine, Predigtpult für den Vorbeter und Sitzbänken für die Zuhörer. An den Seiten war die Frauenempore mit der Orgel errichtet.
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Bemerkenswert in den Ausführungen von Peretz May ist folgender Hinweis: Im Vordergrund der Synagoge waren zwei große Tafeln angebracht, die eine mit den Namen der im 1. Weltkrieg gefallenen jüdischen Soldaten von Glatz und Umgebung, die zweite enthielt eine Loyalitätserklärung der jüdischen Bewohner an die jeweils herrschende Regierung, in der Gott angefleht wurde, den Herrschern Einsicht und Vernunft einzuflößen zum Wohle der gesamten Bevölkerung. Und weiter heißt es: Besonders der Jom-Kippur (Versöhnungsfest) wurde durch Fasten und lange Gebete feierlich begangen. Dieses Fest erfüllt einen doppelten Zweck: Es soll den Menschen zum Bekennen und zur Buße aufrütteln und durch Gebete Gottes Gnade und Verstehen erbitten, andererseits soll es auch die Menschen untereinander dazu bewegen, sich für etwa angetanes Unrecht zu entschuldigen und gegenseitiges Vertrauen wieder herzustellen. Dadurch begegnen sich viele Menschen und bestätigen durch Händedruck, dass sie verzeihen und ein neues Blatt in ihren Beziehungen zueinander aufschlagen wollen. In einem seiner Briefe betonte er ausdrücklich: Die Grafschaft bleibt für mich meine „erste Liebe“, und heute nach 60 Jahren verblassen die bösen Erinnerungen gegenüber den guten unauslöschlichen Bildern der Vergangenheit. Im Sommer 1996 konnte Peretz May mit zwei Töchtern seinen Geburtsort wieder besuchen und war, wie er mir danach schrieb: so erregt in meiner elterlichen Wohnung Königshainer Straße bei der netten Polin, wirklich bis zu den „Wurzeln“ gedrungen zu sein, so überwältigt, dass ich nicht die passenden Worte fand ... Seinen angekündigten Bericht für die „Heimatpresse“ konnte er nicht mehr vollenden, Peretz May starb am 2.4.1997 im Alter von 83 Jahren in Israel. Einen weiteren persönlichen Kontakt habe ich zu der in Israel lebenden Ruth Lewin, geb. Prager (Jahrgang 1929). Zu ihrer Familie findet sich der Eintrag ihres Vaters, Inhaber der Handelsfirma Prager und Co, an die örtliche Polizei in Glatz: Hierdurch teile ich Ihnen höflichst mit, dass ich laut behördlicher Verfügung ab 1. Januar 1939 den Namen Kurt Israel Prager, meine Ehefrau den Namen Toni Sara Prager, geb. Schottländer und meine Tochter den Namen Ruth Sara Prager führen.268 Gemeinsam mit mir konnte Ruth Lewin am 10. November 1995 an der Enthüllung des Gedenksteins für die abgebrannte Synagoge in Glatz teilnehmen und sagte in einer kurzen Rede im Rathaus: Der 10. November hat für mich eine doppelte Bedeutung. An diesem Tage im Jahre 1938 bin ich von meiner glücklichen und behüteten Kindheit krass aufgewacht. Meine Eltern hatten mich vollkommen ignorant gelassen über ihre Besorgnis anlässlich der politischen Probleme, die sich abspielten. Auf meinem Weg in die Schule sah ich zertrümmerte und geplünderte Geschäfte und im Hintergrund die brennende Synagoge. In diese Synagoge begleitete ich regelmäßig meine Eltern am Freitagabend zum Schabbat-Gottesdienst, wo Dr. Hirschberg (Altheide) und Herr Ledermann amtierten. Ja, es war eine furchtbare Zeit als Jude verfolgt zu werden. Ich wurde aus der Schule gewiesen, und mein Vater verschied nach einem Schlaganfall als Folge des Konzentrationslagers am 9.2.1939.
268
Laqua: Prozess der „Entjudung“ in der schlesischen Stadt Glatz 1933–1944, in: Herzig (Hg): Glaciographia Nova, S. 313.
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Und doch kann ich die Güte vieler Glatzer seiner Zeit nicht vergessen, so meine Klassenlehrerin Frau Polke, die nicht nur ihren Posten riskierte, als sie sich belobigend über mich vor meiner Klasse äußerte, meine Schulfreundin Lotte, die durch den Hintereingang unseres Hauses die Freundschaft mit mir weiter aufrecht hielt; Beamte und Personen, die meiner jung verwitweten Mutter bei den Laufereien zur Verwirklichung ihrer Auswanderung behilflich waren und so ermöglichten, dass sie sich noch in letzter Minute nach Chile retten konnte. Nun bin ich wieder in Glatz, am 10. November 1995 – zum ersten Male nach 56 Jahren – und versuche wieder in den Fußstapfen meiner Kindheit zu gehen. Vieles hat sich verändert, und mein Elternhaus auf der Zimmerstraße 10 (damals unter Zwang an die SS übergeben, die es als Hauptquartier haben wollte) hat eine grässliche Bedeutung für die Einwohner dieser Stadt bekommen. Der Krieg und seine Folgen haben viel Elend gebracht, nicht nur für uns Juden, und so fragt man sich „war das nötig?“ Die heutige Feier und Gedenkstunde, die durch viele Bemühungen von deutscher und polnischer Seite zu Stande gekommen ist, soll bezwecken Versöhnung und Verständnis unter Menschen aller Nationalitäten und Religionen zu bringen. Sei diese Tafel ein Symbol des menschlichen Strebens in Frieden und Harmonie zusammen zu leben und der Hoffnung Ausdruck zu geben, dass solche Greueltaten nie wieder geschehen mögen ... Shalom – Frieden.269 Ruth Prager kam im Frühjahr 1939 als Zehnjährige mit einem Kindertransport ins schottische Glasgow (tausende jüdische Kinder konnten mit Kindertransporten nach England vor den Verfolgungen der Nazis gerettet werden). Durch Vermittlung traf sie bald in Belgien ihre Mutter wieder und erreichte im September mit dem letzten Schiff vor Kriegsausbruch durch den Panamakanal das Auswandererland Chile.
Abb. 1: Ruth Lewin, geb. Prager, 1995 vor ihrem Elternhaus, Glatz, Zimmerstaße 10, das 1945, so R. Lewin, eine grässliche Bedeutung für die Bewohner der Stadt bekam (Foto R. Schindler) 269
Lewin, Ruth, in: Ziemia Kłodzka, Ausgabe 68, 1995, S. 4.
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In einem mir vorliegenden Brief von Hans Lewy vom 10.4.1989 berichtet er vom Schicksal seiner Familie: Mein Vater Max Lewy geb. 14.2.1860 zog von Hamburg nach der Heirat nach Glatz und kaufte die Königlich-Privilegierte Hirschapotheke (Theodor Mende´s Nachfolger) und blieb ein angesehener Fachmann und Mitbürger. Für einige Jahre war er Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde und für viele Jahre Stadtverordneter. Dank seines Ansehens wurde er selbst nach 1933 zunächst nicht verfolgt. Trotzdem mußte er später die Apotheke und das dazugehörende Laboratorium zwangsverkaufen, obwohl mein Bruder Fritz zu der Zeit gerade im Begriff war, das Geschäft zu übernehmen. Vater und Mutter lebten dann noch, relativ ungestört, in einer kleinen Wohnung bis sie im August 1939 – geldlos – nach Südafrika auswanderten, wo ich, zwei Brüder und eine Schwester, inzwischen Fuß gefasst hatten. Er starb an seinem 83. Geburtstag am 14. Februar 1943 in Kapstadt. Die Glatzerin Maria Neudeck schrieb 1995 in ihren Aufzeichnungen: An diese Familie kann ich mich besonders gut erinnern, da die Tochter Anneliese eine meiner Mitschülerinnen in der Untersekunda war. Die älteren Geschwister waren die Brüder Fritz und Bob und Schwester Lotte, der jüngere Bruder Hans. Sie waren sehr musik liebend. Noch gut erinnere ich mich an die alte Dame, die später im Rollstuhl saß und von ihrem Ehemann betreut wurde. Diese Familie war sehr bekannt und geschätzt, da sie sehr sozial eingestellt und hilfsbereit war.
Schlussbetrachtung Die Auswertung der uns vorliegenden Quellen ergab, dass von den Juden der Stadt Glatz ca. 37 % die Möglichkeit der Auswanderung in das sichere Ausland nutzten, wie z.B. Brasilien, China, Palästina und Chile. Ca. 32 % der jüdischen Bevölkerung wurde in die Vernichtungslager deportiert (viele kamen in das Ghetto Theresienstadt und Izbiza). Nur ca. 2 % blieben in Glatz und überlebten, da sie Halbjuden waren. Über den Verbleib von ca. 29 % konnten wir noch nichts in Erfahrung bringen, hier sind noch weitere Forschungen notwendig. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges füllte sich die Stadt Glatz mit jüdischen Ostflüchtlingen aus Polen, der Sowjetunion und mit Überlebenden aus den Konzentrationslagern,270 im Juli 1946 stieg ihre Zahl auf 3.431 Personen. Ca. 2.300 Juden versuchten, hier eine neue Heimat zu finden, jedoch mit den großen Flucht- und Auswanderungswellen der Jahre 1946, 1957 und nach 1968 endete das gerade neu erwachende jüdische Leben in der Stadt Glatz endgültig.271 Archivalische Quellen −− Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Oddział w Kamieńcu Ząbkowickim/Staatsarchiv Breslau, Abteilung Kamenz [=APKa/Sta Ka] −− Akta miasta Bystrzyca Kłodzka/Stadtverwaltung Habelschwerdt [=AM B] −− Judenfamilien, Sign. 2172 −− Akta gminy Kudowa Zdrój / Gemeindeverwaltung Bad Kudowa Haus „Austria“, Sign. 1 270 271
Vgl. Włodarczyk: Dzieje społeczności żydowskiej w Kłodzku w XIX–XX w., 2006, S. 32. Vgl. Włodarczyk: Wegweiser durch die Welt der Glatzer Juden, Krzyzowa/Kreisau, 2007, S. 43.
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−− Archiwum Państwowe we Wrocławiu/Staatsarchiv Breslau [=APWr/StaBr]: Naczelne Prezydium Skarbowe Prowincji Dolnosląskiej we Wrocławiu/Oberfinanzpräsidium der Provinz Niederschlesien in Breslau [=KMZ] Konfiskation jüdischen Eigentums Brass, Edith Sara, Sign. 428 Brass, Max Israel, Sign. 431 Dzialoszynski, Alfred Israel, Sign. 747 Dzialoszynski, Erich Israel, Sign. 749 Glaser, Hedwig Sara, Sign. 1121 Glaser, Nanny Sara, geb. Loewy, Sign. 1127 Goldschmidt, Klara Sara, Sign. 1174 Ledermann, Jacob Israel, Sign. 2022 Lesser, Kurt Israel, Sign. 2060 Samuel, Jeanette Sara, Sign. 2968 Schott, Gerhard Paul Israel, Sign. 3153 Schott, Siegfried Israel, Sign. 3154 Schwenk, Maria Sara, Sign. 3241 Schwenk, Max Israel, Sign. 3243 −− Akta miasta Kłodzko/Stadtverwaltung Glatz [=AM K] Geschichte der Juden zu Glatz von Paul Henkel (bearbeitet), Sign. 5411 Urząd Stanu Cywilnego w Czermnej, gm. Kudowa Zdrój/Standesamt Tscherbeney Trauungen 1909, Geburten 1909 −− Staatsarchiv Würzburg [=StA Wü) Jüdische Standesregister, Nr. 60, Kleineibstadt Mikrofilme Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, Jüdische Gemeinde Glatz (Schlesien), Matrikel 1832–1940, Tote 1910–1940, FHL INTL Film 1184414, Item 2. Internetseiten Bundesarchiv Koblenz, Gedenkbuch – Das Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933–1945), Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Bundesarchiv Koblenz, Gedenkbuch – Das Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933–1945), Gedenkbuch – Chronologie der Deportationen aus dem Deutschen Reich 1939–1945, http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch, 9.11.2011. Die jüdische Gemeinde Landeck, http://www.ladekzdroj.w.interia.pl, 9.11.2011. Die Schlesische Gebirgsbahn, http://www.schlesische-eisenbahnen.de, 9.11.2011. Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims’ Names, http://www.yadvashem. org, 9. 11.2011. YV: „Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust“ in Jerusalem Wikipedia, Jan Koplowitz, http://de.wikipedia.org, 9.11.2011. Ancestry, Familienforschung, Jan Koplowitz, http://boards.ancestry.de, 9.11.2011.
5. Der Fall Felix Rose Von Horst-Alfons Meißner
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m Einwohnerbuch 1937 der Stadt Glatz in Niederschlesien ist Felix Rose verzeichnet. Er wohnt mit seiner Mutter Ida Rose in der Frankensteiner Straße 41, einem Haus mit sechzehn Mietparteien.1 Wir wüssten heute nichts über ihn, wenn er nicht zwischen 1936 und 1939 mehrere hohe Behörden beschäftigt und der Aktenbestand, wenn auch lückenhaft, überdauert hätte.2 Sein besonderes Schicksal macht ihn zum „Fall Felix Rose“, und die Dokumente erlauben uns, ihn zu rekonstruieren und ein wenig Licht in die Arbeitsweise der NS-Führer und NS-Verwaltung in der Grafschaft Glatz zu bringen. Zeitzeugen, die diese Vorgänge bewusst beobachtet haben, gibt es leider nicht mehr – vermutlich hat auch die damalige Öffentlichkeit kaum Notiz von Roses Schicksal genommen. Ida Rose ist 70 Jahre alt und betreibt noch immer einen Herrensalon, den kleinsten in Glatz, mit einem monatlichen Umsatz von 100 RM. Ihr Sohn Felix braucht zum Lebensunterhalt eine berufliche Doppelexistenz: Er arbeitet gelegentlich als Masseur und seit elf Jahren als staatlich geprüfter Desinfektor der Kreisverwaltung Glatz, wie es Landrat Dr. Georg Horstmann im Amtsblatt der Behörde, dem „Glatzer Kreisblatt“, unter dem Datum 5. Februar 1936 anzeigt.3 Abb. 1: Anzeige im Einwohnerbuch 1937 (Die Grafschaft Glatz. Einwohnerbuch 1937, Teil II, S. 171)
Die Roses sind arm und leben von der Hand in den Mund. Sie besäßen weder ein Grundstück noch Bargeld, teilt Felix Rose am 20. Januar 1938 dem Stellvertreter des Führers, Herrn Reichsminister Hehs [Rudolf Heß], in München voller Verzweiflung mit. Er kämpft um seinen Arbeitsplatz, den man ihm gerade endgültig genommen hat, weil er nicht arischer Abstammung, oder – gemäß § 2 (2) der 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz – jüdischer Mischling ist.4 Mutter Ida Rose ist nämlich Jüdin, die bei der Heirat zum Katholizismus konvertierte. Felix hat zwei jüdische Großeltern. Aus demselben Kreisblatt, das ihm zwei Jahre zuvor noch seinen Desinfektionsbezirk bestätigt hatte, erfährt Felix Rose am 18. Januar 1938, dass der Landrat, es ist jetzt Heinrich Klosterkemper, seine Stelle mit einem Herrn Gottwald anderweitig 1 2 3 4
Einwohnerbuch Grafschaft Glatz 1937. BA Berlin, R 1501, Nr. 140 674. Akten über Felix Rose vom 14.1.1935–12.1.1939. Glatzer Kreisblatt v. 5.2.1936, S. 21. Verordnung zum Reichsbürgergesetz, S. 1333. (1. Verordnung zum Reichbürgergesetz vom 14.11.1935. Reichsgesetzblatt, Jg. 1935, Teil I, S. 1333).
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und endgültig besetzt hatte. Klosterkemper wird von einem Zeitzeugen als ganz junger, aber sachlicher Nazi beschrieben.5 Er ist 35 Jahre alt und in Osnabrück geboren. Zu seinem Schrecken ist Rose damit arbeitslos. Sein ehemaliger Desinfektionsbezirk, in dem zu dieser Zeit 39.000 Menschen leben, ist einer von vieren im Altkreis und umfasst die Stadt Glatz mit den umliegenden Dörfern. Dabei hatte Landrat Georg Horstmann, Heinrich Klosterkempers Vorgänger, dem Desinfektor Felix Rose noch am 22. Oktober 1936, nach Auswertung eines „Fragebogens über den Nachweis der arischen Abstammung“, den Rose am 17. Oktober 1936 eingereicht hatte, schriftlich mitgeteilt: 6 Abb. 2: Schreiben des Glatzer Landrats an Felix Rose (BA Berlin, R 1501, Nr.140 674)
5 6
Mitteilung von Herrn Ernst Hasler, Rixbeck, früher Lewin, am 28.3.2009. BA Berlin, R 1501, Nr. 140 674.
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Der Brief, dem Rose damals sicher auch ein gewisses Wohlwollen entnommen hat, muss ihn beruhigt haben. Denn laut § 4 der 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz kann ein Jude weder Reichsbürger sein, noch ein öffentliches Amt bekleiden. Am 31. Dezember 1935 wurden die letzten jüdischen Beamten mit Frontkämpferprivileg in den Ruhestand gezwungen. Felix Rose hat zwar zwei jüdische Großeltern, gilt aber im Sinne der Verordnung als „jüdischer Mischling“ und Reichsbürger mit allen Rechten, weil er keine Verbindung mehr zum Judentum hat. Seine Mutter und er sind Christen. Rose wäre nach § 5 (2) derselben Verordnung mit zwei jüdischen Großeltern aber doch „Jude“, wenn er noch eine Verbindung zum Judentum hätte, also z. B. mit einer Jüdin verheiratet oder nicht Christ wäre. Das ist kompliziert und Auslegungssache, die Materie brandneu, vor allem aber brisant – und das erklärt zu einem Teil, warum der vorsichtige Jurist und Landrat Dr. Georg Horstmann im Fall Rose Kontakt mit der Breslauer Regierung aufnimmt, um sich abzusichern. Es ist seine Sache nicht, den Kopf aus dem „Mainstream“ zu halten. Gemäß Desinfektionsordnung des Kreises Glatz ist nämlich der Landrat in diesem Fall ohne Einschränkungen allein zuständig, aber allein will er ihn nicht entscheiden. Horstmann weiß, dass Rose ein verdienter Angestellter des Kreises ist, er weiß aber auch, dass sein Tun von Neidern aus nationalsozialistischen Kreisen, die sehr interessiert an Roses Posten sind, genau beobachtet wird. Der tiefere Grund für seine Anlehnung an Breslau liegt aber wohl darin, dass er sich seiner Autorität als NS-Landrat nicht sicher ist und seine Karriere nicht gefährden will. Horstmann, ein aus Bielefeld stammender Westfale, wechselte nämlich erst 1933 von der Deutschen Volkspartei (DVP) zur NSDAP.7 Er muss deshalb mit dem Misstrauen und dem zersetzenden Spott „alter Kämpfer“, aber auch vieler anderer Volksgenossen rechnen, die solche Leute verächtlich „Konjunkturritter“ nennen.8 Horstmann, von Januar 1934 bis 16. November 1936 Landrat in Glatz, zieht darum weitere Erkundigungen über Rose ein und legt ihr Ergebnis dem Regierungspräsidenten vor: Der Desinfektor ist Frontkämpfer, als wehrfähig eingestuft und Inhaber eines Wehrpasses, er ist Mitglied der NS-Organisation Deutsche Arbeitsfront (DAF), Mitglied des Deutschen Roten Kreuzes und der Freiwilligen Feuerwehr Glatz, und er steht der nationalsozialistischen Bewegung nicht fern.9 Genau das ist wichtig, denn nach § 2 (1) Reichsbürgergesetz ist Reichsbürger nur, wer durch sein Verhalten beweist, dass er gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen.10 Die Recherchen des Landratsamts fördern aber noch etwas anderes zu Tage: Zwar amtiert Rose schon seit elf Jahren als Desinfektor, also seit 1927, er ist aber niemals von einem Landrat auf Einhaltung der Vorschriften verpflichtet worden, ein Versäumnis der Verwaltung. Rose arbeitet somit nicht legal und schon gar nicht in amtlicher Funktion, sondern aushilfsweise und privat als Gesundheitsspezialist. An 7 8 9 10
Romeyk: Verwaltungsbeamte der Rheinprovinz, S. 543f. Hattenhauer: Beamtentum, S. 386. BA Berlin, R 1501, Nr. 140 674. Reichsbürgergesetz, S. 1146. (Reichsbürgergesetz v. 15.9.1935. Reichsgesetzblatt, Jg, 1935, Teil 1, S. 1146).
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diesen „Job“ ist er – noch unter dem langjährigen Landrat Dr. Franz Peucker – durch die Unterstützung und Vertretung eines erkrankten alten Desinfektors gekommen, und bei niemandem hat das bis jetzt Anstoß erregt. Roses Status widerspricht der Kreisdesinfektionsordnung von 1935,11 die im Zuge der Volksgesundheitsfürsorge entstanden ist. Auch das berichtet der Landrat seinem Regierungspräsidenten. Wo aber liegt die Ursache dieser eingehenden Nachforschungen? Rose vermutet in einer Eingabe vom 16. Januar 1938 an den Reichsinnenminister, dass eine mir nicht wohlwollende Person, mich irgendwo verleumdet hat,12 und das ist richtig. Der Denunziant ist unbekannt, nicht aber das Datum seiner Anzeige, der 26. September 1936. Er muss die Veröffentlichung der amtlichen Funktion Roses im „Glatzer Kreisblatt“ gelesen und sich an den Landrat gewandt haben. Nun war die Familiengeschichte der Roses gewiss kein Geheimnis im kleinen Glatz und darum vermutlich ebenso wenig im Landratsamt, das sich bis dahin nicht gerührt hatte. Auf die Anzeige hin muss die Kreisbehörde aber tätig werden, denn laxen Umgang mit neuen Gesetzen kann man sich nicht erlauben, wenn man die eigene Stelle behalten will. So verschickt der Kreis an Rose den Fragebogen über die „arische Abstammung“, den übrigens alle Personen, die im öffentlichen Dienst stehen, nach einem Erlass des Reichsministers des Innern (RMdI) vom 9. Dezember 1935 schon früher auszufüllen hatten. Ministerialrat Dr. Hoffmann vom RMdI bestätigt Roses Vermutung später in einem Vermerk: Auf Grund einer Anzeige vom 26. 9.1936 ... wurde festgestellt, dass er jüdischer Mischling ist.13 Das Ergebnis der nun folgenden Überprüfung ist einmal der oben zitierte beruhigende Brief des Landrats Horstmann. Zum anderen aber wird der Regierungspräsident tätig. Er verlangt vom Glatzer Landrat die Heilung des ungesetzlichen Zustands im Desinfektionsbezirk Glatz, d.h.: Der Desinfektor soll gemäß Kreisdesinfektionsordnung amtlich bestellt, per Handschlag zu einem gesetzkonformen Handeln verpflichtet werden und somit quasi auch Beamtenstatus erlangen. Der Landrat soll Ordnung schaffen. Weiter geht es nach Aktenlage so: Vermutlich will der Landrat nun Felix Rose als amtlichen Desinfektor verpflichten und ihn damit aufwerten, denn er hatte ihm ja kurz zuvor die Amtsfähigkeit im Sinne des neuen Rassegesetzes und dazu gute Arbeit bescheinigt. Doch muss er an dieser Amtshandlung den NS-Kreisleiter beteiligen – was Rose sicher verborgen bleibt – und der Glatzer Kreisleiter der NSDAP verweigert die Zustimmung strikt. Der Landrat bestellt deshalb einen neuen Desinfektor namens Gottwald, und Rose, der aus seinem labilen Arbeitsverhältnis jederzeit entlassen werden kann, erhält einfach keine Aufträge mehr. Gottwald, den Rose offenbar gut kennt, macht ihm Arbeitsplatz, Lebensunterhalt und gesellschaftliches Ansehen streitig. Roses Glaube an die Bewegung und die neue Zeit ist schwer erschüttert. 11 12 13
Desinfektionsordnung des Kreises Glatz v. 14.1.1935, BA Berlin, R 1501, Nr. 140 674. BA Berlin, R 1501, Nr. 140 674. ebd., 6.12.1937.
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In Existenzangst wendet sich Felix Rose mit einem Gesuch um Weiterbeschäftigung an den neuen Landrat Heinrich Klosterkemper und macht Vorschläge zur Lösung des Konflikts. Auch dieser Landrat leitet die Eingabe mit allen Unterlagen an den Regierungspräsidenten in Breslau zur Entscheidung weiter. Gegen den Kreisleiter mag er sich nicht stellen. Der Aktenbestand enthält kein Schreiben des Glatzer NSDAP-Kreisleiters. Er bleibt im Hintergrund, aber aus den Dokumenten der höheren Behörden ergibt sich seine entscheidende Rolle in diesem Fall. Roses Gesuch auf Weiterbeschäftigung, später als Beschwerde deklariert, wird nun in der Breslauer Regierung bearbeitet. Obermedizinal- und -regierungsrat Dr. Bräuer, vermutlich ein älterer Fachbeamter des Gesundheitsdezernats, verfasst aufgrund der eingereichten Unterlagen am 4. November 1937 folgende Stellungnahme – gefordert offenbar von Regierungsvizepräsident von Scheller: Ich bitte, mich bezüglich des Sachverhalts auf die Anlagen beziehen zu dürfen und bemerke zusammenfassend lediglich Folgendes: Rose hat seit Jahren „aushilfsweise“ für den überalterten Kreisdesinfektor die amtlichen Desinfektionen zu voller Zufriedenheit der Beteiligten ausgeführt. Er ist Kriegsteilnehmer, Frontkämpfer, z. Zt. wieder im Wehrverhältnis stehend, unverheiratet und unbescholten. Im Sinne des § 2 Abs. 2 der 1. V.O. vom 14. XI. 1935 zum Reichsbürgergesetz .... ist R. jüdischer Mischling ... Es erweckt den Anschein, dass Rose dem nationalsozialistischen Staat gegenüber keineswegs ablehnend, sondern bejahend eingestellt ist. Auch sonst hat er durch seine Tätigkeit bei der freiwilligen Feuerwehr und dem Deutschen Roten Kreuz seine Hinneigung zu dem Gemeinschaftsgedanken und zu sozialer Hilfsbereitschaft bewiesen, er ist Mitglied der Deutschen Arbeitsfront. In beruflicher Hinsicht zählt Rose zu den tüchtigsten Leuten seines Faches im Kreise Glatz.14 Ein Plädoyer zugunsten Roses, erkennbar schon an Dr. Bräuers Unterstreichungen! Doch fährt der Obermedizinalrat überraschend fort: Die Kreisleitung der NSDAP in Glatz hat Rose das politische Zuverlässigkeitszeugnis versagt und ihm damit die Möglichkeit eines Bleibens in seiner bisherigen Stellung als aushilfsweiser Kreisdesinfektor verschlossen ... Ich sehe bei der Stellungnahme der Kreisleitung und bei der inzwischen erfolgten Einstellung eines Ersatzmannes für Rose als „Kreisdesinfektor“ keine rechte Möglichkeit, seinen Wünschen zu entsprechen. Über die Stelle eines Gesundheitsaufsehers beim Gesundheitsamt ist jedenfalls bereits verfügt und die Übertragung eines „Teildesinfektorenbezirks“ an Rose dürfte an dem Widerspruch der Kreisleitung [der NSDAP] scheitern. Das Gesuch des Rose dürfte demnach abschlägig zu bescheiden sein. Auch diese Stellungnahme ist durch große Vorsicht gekennzeichnet und eine kampflose Kapitulation vor der Entscheidung der Glatzer NS-Kreisleitung. Immerhin spricht aus ihr auch Mitgefühl, und zudem bestätigt Bräuer dem Desinfektor – zwar amtsintern und indirekt, aber erneut – Rose habe seine Hinneigung zum Gemeinschaftsgedanken ... bewiesen ... und damit die Forderung des § 2 (1) Reichsbürgergesetz für die Reichsbürgerschaft erfüllt.
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ebd., wie die folgenden drei Zitate.
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Ähnlich, denn ein Gesuch um Wiedereinstellung hat Rose auch nach dort geschickt, äußert sich der Reichsinnenminister durch Ministerialrat Dr. Hoffmann am 6. Dezember 1937 in einem Vermerk: Obwohl der Antragsteller zu den tüchtigsten Leuten seines Fachs im Kreise Glatz gehört und Kriegsteilnehmer ist, wurde ihm die Übertragung der Stelle versagt, da der Kreisleiter der NSDAP die politische Zuverlässigkeit wegen seines jüdischen Blutes verneinte. Die Stelle ist inzwischen anderweitig besetzt.15 Es ist demnach allein das knappe und unumstößliche Votum der Glatzer Kreisleitung der NSDAP, das Rose mit der Behauptung, ein Mann mit jüdischen Wurzeln sei politisch unzuverlässig, gnadenlos aus dem Amt drängt, obwohl doch gerade in diesem Fall das Gegenteil bewiesen war. Jahrelange Verdienste und Einstellungen, mögen die dem Nationalsozialismus auch noch so nahe kommen, bedeuten aber nichts, wenn jemand jüdischer Herkunft ist – und wenn es um die Grundlinien der NS-Ideologie geht. Die NSDAP–Kreisleitung, eine Parallelorganisation zur staatlichen Kreisverwaltung, wird in Glatz zwischen 1933 bis 1945 rigoros von dem 1899 geborenen Friedrich Kittler geführt, den ein Zeitzeuge als schneidigen Mann16 beschreibt. Die Kreisleitung, Hoheitsträgerin, beansprucht in Personalfragen die Dominanz über das Landratsamt und degradiert es zum Handlanger der Partei. Die Partei [befiehlt] dem Staat, lautet die theoretische Vorgabe.17 Doch ist das Dualsystem noch im Aufbau und nicht immer weichen Beamte der traditionellen Verwaltung Konflikten mit den Parteiorganisationen aus. Hier aber ist das durchgängig der Fall – Zeichen für die Stärke Kittlers? Oder auch für die Schwäche Klosterkempers, der sich im Entnazifizierungsverfahren mehrfach bescheinigen lässt, dass er die Rechte der staatlichen Fachverwaltung, also die des Landrats, erfolgreich gegen die Partei-Kreisverwaltung verteidigt?18 Rose schreibt am 16. Januar 1938 an den Reichsinnenminister: Gleichzeitig möchte ich bemerken, dass hierorts die höheren behördlichen Stellen, seit vorigem Jahr [1937], von anderen Herren besetzt sind, die mich leider nicht näher kennen. Über mein politisches Verhalten in der Kampfzeit bis zum heutigen Tage würde aber... Herr SS-Sturmhauptführer Pg. Walter Faulhaber und Herr SS-Sturmbannführer Pg. Fiebak Auskunft geben.19 [Zwei Tage später ebenso an Heß] Nicht einmal die ihm gut bekannten Parteigenossen könnten Rose helfen, wenn sie denn wollten, weil sich Männer wie Friedrich Kittler nicht um örtliche Traditionen, Besonderheiten und Verdienste scheren. Die Hardliner differenzieren nicht, schauen nicht zurück, sondern handeln im Interesse der neuen Lehre im Wortsinn rücksichtslos. Sie sind meist jung, kommen selten aus der Region, argumentieren nicht lange und setzen ihr Credo um. In Stadt- und Kreisverwaltung Glatz wurden – 1937 meistens zum zweiten Mal – entscheidende Stellen mit neuen Männern besetzt, und der neue, gerade 34-jährige Landrat Heinrich Klosterkemper, der am 18. Januar 1937 aus Unna nach Glatz 15 16 17 18 19
BA Berlin, R 1501, Nr. 140 674. Mitteilung v. Herrn Karlheinz Mose, Hamburg, 2011. Hattenhauer: Beamtentum, S. 382. StA Osnabrück, Rep 980, Nr. 7660. BA Berlin, R 1501, Nr. 140 674. Fieback, Josef, Stadtinspektor, Einwohnerbuch 1937.
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Abb. 3: Vermerk des Ministerialrats Dr. Hoffmann zum Fall Felix Rose (Kopie aus dem BA Berlin, R 1501, Nr. 140674).
kommt und sich offenbar Roses wegen nicht mit dem Kreisleiter anlegen will, gehört dazu. Rose vermutet wohl zu Recht, dass sich Kreisleitung der NSDAP und Kreisverwaltung nun in die Hände spielen. Rose, der sich offenbar bis Ende 1936 nicht als „Jude“ fühlte, hatte wohl die NSBewegung begrüßt, wie viele Deutsche, und große Hoffnungen auf Hitler gesetzt. In grenzenloser Enttäuschung und Existenznot wendet er sich mit Anfragen und Eingaben ähnlichen Wortlauts nacheinander an das Landratsamt in Glatz, an die Regierung in Breslau und an das Reichsinnenministerium in Berlin mit der Bitte, ihm seinen Arbeitsplatz zu lassen oder sich zu seinen Gunsten einzuschalten. Er ist sich sicher, Teil der Volksgemeinschaft zu sein und erläutert seine Situation eindrücklich. Er schlägt auch einen Deal vor: Gottwald möge als Gesundheitsaufseher ins staatliche Gesundheitsamt wechseln, denn da sei noch ein Arbeitsplatz frei, man könne aber auch seinen Desinfektionsbezirk teilen. Aber die Stelle des Gesundheitsaufsehers ist da schon besetzt. Das Reichsinnenministerium, das sich mit dem Regierungspräsidenten über den Fall Rose austauscht, beauftragt die Regierung in Breslau mit der Regelung des Falles,
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die wiederum am 8. Februar 1938 dem Innenminister schreibt, dass [es] unter den vorliegenden Umständen geboten erscheint, dem Landrat in Glatz auf grund seiner Kenntnis der örtlichen und persönlichen Verhältnisse die Entscheidung darüber zu überlassen, ob Rose weiterhin als Desinfektor beschäftigt werden solle.20 Der Innenminister reicht Roses Gesuch nach Breslau mit klaren Direktiven zur Entscheidung zurück und teilt das am 6. Dezember 1937 auch Felix Rose mit. Die Breslauer Regierung hat endlich Einsicht in die Glatzer Desinfektionsordnung genommen, um die Zuständigkeiten zu klären. Sie sieht keine Möglichkeit, Roses zweitem Vorschlag zu entsprechen, den Desinfektionsbezirk zu teilen, weil die NS-Kreisleitung sich dagegen sperren würde. Sie gibt den Fall mit ihrer Stellungnahme zuständigkeitshalber zur Entscheidung an den Glatzer Landrat Heinrich Klosterkemper ab. Damit ist der Kreislauf geschlossen und Roses Gesuch wieder bei der Behörde, bei der er es ursprünglich eingereicht hatte. Felix Rose bekommt am 13. Januar 1938 die Abgabenachricht des Regierungspräsidenten mit der Entscheidung, dass seine Wiederbeschäftigung im Ermessen des Landrats liege. Landrat Heinrich Klosterkemper21 stellt Gottwald daraufhin am 16. Januar 1938 endgültig ein, veröffentlicht die Maßnahme im Kreisblatt und informiert Rose über seine Entlassung. Der weiß jetzt, dass ihm nur noch höchste Dienststellen helfen können. Am 16. Januar 1938 wendet sich Rose noch einmal an das Reichs- und preußische Innenministerium in Berlin und am 20. Januar 1938 sogar an den Stellvertreter des Führers in München in ähnlich lautenden Eingaben. Daraus spricht auch Rechtskenntnis oder gute Beratung, denn im Reichsbürgergesetz wird unter § 3 festgelegt, dass der Reichsminister des Innern im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers die zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften22 erlässt. Die obersten Reichsbehörden können Ausnahmen zulassen. Beiden Behörden schildert Felix Rose erneut seine Lage in bewegenden Worten und bittet, ihm wenigstens einen Teil seiner bisherigen Erwerbstätigkeit zu lassen.23 Der Brief vom 20. Januar 1938: An den Stellvertreter des Führers Herrn Reichsminister Rudolf Hehs, Roses letzte Hoffnung, soll hier im Wortlaut wiedergegeben werden, weil er Roses ganze Verzweiflung und Enttäuschung spiegelt: Unterzeichneter ist seit elf Jahren ununterbrochen für den Kreis Glatz ... als Desinfektor tätig. Ich bin mütterlicherseits nicht arischer Abstammung und bin jetzt, obgleich ich mich schon an den Herrn Minister des Inneren ... gewandt hatte und zumal die Angelegenheit ... bereits im Vorjahr durch den Herrn Regierungspräsidenten in Breslau geregelt wurde entlassen worden, weil sich ein anderer Desinfektor, um die nebenberufliche Desinfektorenstelle beworben hat. Ich erlaube mir hinzuweisen, dass ich Kriegsteilnehmer (Frontkämpfer) Mitglied der Deutschen Arbeitsfront, wieder wehrfähig und im Besitz des neuen Wehrpasses bin. Wenn unser Führer und Reichskanzler uns Mischlinge, als Reichsbürger anerkennt, die Wehrfähigkeit gestattet und 20 21 22 23
ebd., und Nr. 128 114. ebd., VBS 254, Nr. 3 410 865. Reichsbürgergesetz v. 15.9.1935, § 3, Reichsgesetzblatt, Jg. 1935, S. 1146. BA Berlin, R 1501, Nr. 140 674.
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Schutzgesetze erlassen hat, damit wir unser Vaterland wieder schützen dürfen, da wird wohl unser Führer auch damit unsere Existenz schützen wollen. Durch meine erneute Dienstfähigkeit bedingt, müsste mir doch diese kleine Verdienstmöglichkeit bleiben, da ich außer meinem anständigen Charakter, weder ein Grundstück, noch Bargeld besitze. Meine 70 jährige Mutter hat das kleinste Friseurgeschäft am Ort, von dem sie sich kaum selbst erhalten kann ... Und trotzdem lässt es mir mein Ehrgeiz kaum zu, die Wohlfahrt in Anspruch zu nehmen. Meine Treue zum Dritten Reich kann ich auch nachweisbar damit beweisen, dass ich keine Geld-, Pfund-, Plakettenspenden u.s.w. ausgelassen habe. Die plötzliche Entlassung bedeutet demnach, eine unverdiente, unbillige Härte für mich. Es kann unmöglich im Sinne der Regierung sein, einen anderen Desinfektor einzusetzen, um mich arbeitslos zu machen. Selbiger hatte seinen Erwerb in seinem Geschäft. Durch eine Teilung aber im Desinfektionsbezirk Glatz, könnte sowohl der neueingestellte Desinfektor, wie auch ich beschäftigt werden. Auf meine wiederholten Gesuche erhielt ich vom Herrn Regierungspräsidenten Breslau folgendes Schreiben (Abschrift) [gemeint ist die Abgabenachricht v. 13.1.1938]. Am selben Tag aber hat der Herr Landrat in Glatz, den von mir seit elf Jahren bearbeiteten Desinfektionsbezirk, laut Kreisblattverfügung dem anderen Desinfektor übergeben. Ich stehe dadurch unverschuldeter Weise ohne Erwerb und fällt es mir ... sehr schwer dem Staat zur Last zu fallen. Ich empfinde dieses als eine besondere Härte, zumal ich mir in diesem Beruf, einen Arm- und Bauchbruch zugezogen habe und ich im Alter von 42 Jahren keine andere Stellung finde. Ich habe in dieser elf jährigen Tätigkeit, weder politisch noch beruflich irgend etwas verfehlt und auf grund der beiliegenden Abschrift, des Herrn Landrat vom Jahre 1936 auch meine Bestätigung erhalten. Ich habe im Laufe der elf Jahre ohne Rücksicht auf meine Gesundheit, tausende Desinfektionen, für den hiesigen Bezirk, wenn auch ohne feste Anstellung allein ausgeführt, trotzdem hat sich bisher keine der höheren Stellen, an die ich mich gewandt habe, in meiner Angelegenheit für zuständig erklärt. Es steht einwandfrei fest und jeder, der im Laufe der elf Jahre mit mir dienstlich zusammen kam, bestätigt, dass mir großes Unrecht angetan wurde. Ich kann deshalb nur annehmen, dass eine mir nicht wohlwollende unbekannte Person, mich irgendwo verleumdet hat. Gleichzeitig möchte ich bemerken, das hierorts die höheren behördlichen Stellen, seit vorigem Jahr von anderen Herren besetzt sind, die mich nicht näher kennen. Über mein politisches Verhalten in der Kampfzeit, bis zum heutigen Tage, würde über mich Herr SS Sturmhauptführer Pg. Walter Faulhaber und Herr SS Sturmbannführer Pg. Fieback Auskunft geben. Nachdem ich mich bei allen anderen Instanzen, dem Herrn Landrat in Glatz, dem Herrn Reg. Präsidenten Breslau und dem Herrn Reichminister des Innern Berlin, vergeblich bemüht habe, bitte ich Sie Herr Reichsminister, als letzte Instanz, an die ich mich wenden kann, meiner unverschuldeten Lage Verständnis entgegen zu bringen, auf irgend eine Weise helfend einzugreifen, und mir wenigstens zu einem Teil meiner bisherigen Tätigkeit zu verhelfen, meine Angelegenheit gütigst zu regeln und mit gefl. Bescheid zukommen zu lassen. Heil Hitler! Gez. Felix Rose. Staatl. gepr. Desinfektor. Glatz, i./Schlesien, Frankensteinerstrasse 41.24 24
ebd. (20.1.1938).
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Abb. 4: Brief Roses an Rudolf Heß (Kopie aus dem BA Berlin, R 1501, Nr. 140 674)
Der Stellvertreter des Führers informiert Rose darüber, dass er seine Eingabe zuständigkeitshalber am 2. Februar 1938 an den Reichinnenminister weitergereicht habe, von dem er Nachricht erhalten werde. Dort ist der Fall ja lange bekannt. Die Eingaben vom 16. und 20. Januar 1938 an den Reichsinnenminister und den Führerstellvertreter, nichts anderes als ein Aufschrei gegen Ungerechtigkeit, werden nun vom Reichsinnenministerium als Beschwerde gegen die Entscheidung des Regierungspräsidenten vom 13. Januar 1938 gewertet, Entlassung oder Wiederbeschäftigung Roses stünden im Ermessen des Landrats. Man legt zugrunde, dass Roses Beschäftigung laut Kreisdesinfektionsordnung vom 14. Januar 1935 nicht legal und jederzeit widerrufbar ist. Keine Rede mehr von Reichsbürgerschaft und Reichsbürgerrechten, dem Ausgangspunkt des Falles. Im Vermerk, der diese Entscheidung begründet, schreibt Ministerialrat Dr. Hoffmann vom Reichsministerium des Innern u.a.:
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Die Entscheidung des Reg. Präs. ist an sich nicht zu beanstanden. Unbequem ist, dass der Landrat [Horstmann] dem Beschwerdeführer anfänglich die Weiterbeschäftigung ausdrücklich zugesichert hatte, was er nach der damaligen Rechtslage auch ohne weiteres tun konnte, dass aber später [durch Landrat Klosterkemper] gleichwohl der Widerruf erfolgt ist. Dieser Widerspruch findet jedoch seine Begründung in den veränderten Grundsätzen über die Behandlung von beamteten jüdischen Mischlingen. Die Beschwerde ist demnach abzuweisen.25 Die Gesetze gegen Juden werden verschärft, und die Juristen schützen sich gegenseitig. Der Reichsinnenminister formuliert dann folgende knappe Entscheidung: Herrn Felix Rose Glatz Frankensteinerstr. 41 Betr.: Wiederbeschäftigung als Desinfektor Ihre Beschwerde vom 16.1.1938 gegen die Entscheidung des Herrn Reg. Präs. in Breslau vom 13.1. 1938 sowie Ihre Eingabe an den Stellvertreter des Führers v. 20.1.1938, die zuständigkeitshalber an mich angegeben worden ist, habe ich nachgeprüft. Nach dem Ergebnis der angestellten Ermittlungen besteht zu einem Eingreifen, von Oberaufsichts wegen und zu einer Beanstandung der von dem Herrn Landrat des Landkreises Glatz getroffenen Maßnahmen keine Veranlassung.26 Damit ist die Entlassung Roses durch den Landrat sanktioniert. Der Regierungspräsident bekommt Anweisung, den Erlass durch den Landrat des Landkreises Glatz zustellen zu lassen, sofern nicht die Angelegenheit inzwischen als überholt anzusehen sein sollte ... 27 Das klingt zynisch, denn seit Roses letztem Hilferuf an den „Stellvertreter des Führers“ ist ein Jahr vergangen. Und vielleicht war die Bemerkung auch anders gemeint, denn viele Juden verließen Glatz, wo ihre Situation immer bedrohlicher wurde. Am 9. November 1938 brannten die Synagogen, auch die in Glatz wurde zerstört. Die staatliche Verwaltung hat Roses Beschwerden nicht einfach abgeschmettert, sondern ernsthaft bearbeitet. Sie kam aber nicht gegen das Votum der NS-Kreisleitung an, versuchte es gar zu decken und dabei den Anschein des „Rechts“ zu wahren. Felix Rose, der an „Gesetz“ und Lauterkeit glaubte, kämpfte als jüdischer Mischling mehr als ein Jahr lang vergeblich um seinen Arbeitsplatz. Er wollte der Gesellschaft angehören, die ihn allein wegen seiner Abstammung gnadenlos ausgestoßen hatte. Die Bekannten, die jahrelang mit ihm zusammenarbeiteten, erklärten Rose gegenüber ihr Unverständnis und Mitgefühl, mehr aber konnten oder wollten sie offenbar nicht tun. Der Internationale Suchdienst, Bad Arolsen, hat keinen Hinweis auf den Verbleib Ida und Felix Roses nach 1938.28
25 26 27 28
ebd. (12.1.1939). ebd. ebd. Mitteilung Internationaler Suchdienst Bad Arolsen v. 25.1.2011.
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Abkürzungen DVP = Deutsche Volkspartei Pg. = Parteigenosse RMdI = Reichsminister des Innern Informationen verdanke ich den Herren Ernst Hasler, fr. Lewin (2009), und Karlheinz Mose, fr. Glatz (2011).
Priester der Grafschaft Glatz während der NS-Zeit Grafschaft Glatzer Priester im Konflikt mit dem NS-Regime Von Michael Hirschfeld
D
er Grafschafter Priester Franz Heinsch veröffentlichte 1968 einen umfassen-
den Aufsatz über die Auseinandersetzungen von Glatzer Priestern mit dem NS-Regime1. Dieser Aufsatz, als dessen Vorbild ein Beitrag von Kurt Engelbert über Maßnahmen der Gestapo gegen Breslauer Diözesanpriester während des Zweiten Weltkriegs diente2, stellt eine sehr frühe Dokumentation eines zu diesem Zeitpunkt allein aufgrund der zeitlichen Nähe kaum ansatzweise aufgearbeiteten Themas dar. Das Verdienst von Heinsch liegt somit darin, Konfliktfälle von 28 Grafschaft Glatzer Weltgeistlichen recherchiert und damit Pionierarbeit geleistet zu haben. Dies wird auch deutlich, wenn man das Kapitel über das Generalvikariat Glatz in der 1984 erstmals von der Bonner Kommission für Zeitgeschichte herausgegebenen Dokumentation „Priester unter Hitlers Terror“ aufschlägt3. Bei nahezu allen der 31 unter der Rubrik Generalvikariat Glatz verzeichneten Biogramme wird der Aufsatz von Franz Heinsch als Quelle angegeben. Wirft man allerdings einen Blick in die 1998 erschienene 4. und bisher letzte Auflage dieses Standardwerkes, lässt sich die angesichts Öffnung bzw. Entdeckung verschiedener Archivbestände in den letzten Jahrzehnten deutlich verbesserte Forschungslage erkennen, werden hier doch 55 Glatzer Welt- und Ordenspriester angeführt, die Verfolgungsmaßnahmen im Dritten Reich erlitten haben4. Die Ursache für diese Ausweitung liegt nicht nur darin, dass in der Zwischenzeit in den Akten wie auch in der regionalgeschichtlichen Literatur bisher unbekannte Konfliktfälle aufgetaucht waren, sondern auch in der erstmaligen Einzelerfassung aller betroffenen Ordensgeistlichen, die Heinsch noch lediglich kollektiv berücksichtigt hatte5. Nach derzeitigen Erkenntnissen sind 28 % des Grafschafter Weltklerus und 12 % der Ordenspriester in Konflikt mit dem System geraten6. Im Unterschied zur benachbarten Erzdiözese Breslau, wo die bekannten Fälle nur 18 % des Welt- und 8 % des Ordensklerus betrugen, ist das recht viel. Im Vergleich mit den Hochburgen von Staat-Kirche-Konflikten während der nationalsozialistischen Herrschaft in Westdeutschland (z.B. Paderborn 50 % und Münster 40 %) oder Süddeutschland (z.B. Eichstätt 58 % und Würzburg sogar 68 %) erscheint die Zahl gering. 1 2 3 4 5
6
Vgl. Heinsch: Priester der Grafschaft Glatz im „Dritten Reich“, S. 279–288. Vgl. Engelbert: Schlesische Priester, S. 221–242. Vgl. Hehl/Kösters: Priester unter Hitlers Terror 1984, S. 1526–1531. Vgl. dies.: Priester unter Hitlers Terror 1998, S. 1693–1699. Dabei erfasste Heinsch nur die Jesuiten und die Arnsteiner Patres (Genossenschaft von den hl. Herzen Jesu und Mariä), nicht aber die Missionare von der hl. Familie und die Franziskaner. Vgl. hierzu und zum Folgenden die Auswertung in: Priester unter Hitlers Terror 1998, S. 99, Abb. 9.
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p r i e s t e r d e r g r a f s c h a f t g l at z während der ns - zeit
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michael hirschfeld
So wie im Zuge des Seligsprechungsprozesses für Kaplan Gerhard Hirschfelder durch intensive Archivrecherchen beispielsweise Akten zu den diese Geistlichen betreffenden Anklagen und Prozessen ausfindig gemacht werden konnten, dürften auch zu den meisten übrigen in der NS-Zeit verfolgten Priestern noch Materialien insbesondere in den Beständen des Reichskirchenministeriums und des Reichsministeriums der Justiz im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde zu heben sein. Diese mit erheblichem zeitlichem Aufwand verbundene Kärrnerarbeit systematisch zu leisten, ist wünschenswert für die künftige Forschung zum Widerstand aus christlicher Motivation in der Grafschaft Glatz. Anzunehmen ist aber, dass eine Auswertung der relevanten Akten in den meisten Fällen lediglich zu Konkretisierungen im Detail führen wird, sodass eine – wenn auch keineswegs abschließende – Bilanz schon heute möglich erscheint. Dieser Anspruch ist auch deshalb nicht vermessen, weil der hier wiedergegebene Forschungsstand durch die Einarbeitung von Quellenfunden aus dem Dekanatsarchiv in Glatz in vielen Einzelfällen erheblich ergänzt werden konnte, sodass letztlich doch ein vielfach äußerst vollständiges Ergebnis vorgelegt werden kann. Hilfreich erscheint es, abschließend eine qualitative Einordnung der Vergehen vorzunehmen, die auf den theoretischen Überlegungen der Autoren von „Priester unter Hitlers Terror“ basiert7. Gleichzeitig soll versucht werden, die bekannten Konfliktfälle in der Grafschaft Glatz den einzelnen Konfliktfeldern quantifizierend zuzuordnen. Auf diese Weise wird nicht allein die Bandbreite der NS-Maßnahmen gegen Geistliche sichtbar, sondern es lassen sich auch Schwerpunkte der Auseinandersetzung ausloten. Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass teilweise Grauzonen zwischen den einzelnen Stufen des Terrors vorliegen. In der Kategorie „Maßnahmen“ ist als erste Stufe der „Terror“ zu nennen, worunter Aktionen von Staats- bzw. Parteistellen vor Ort gegen einen Geistlichen zu fassen sind, z.B. Bedrohungen, Überfälle und Denunziationen. In der Grafschaft waren nahezu alle Geistlichen von diesen und ähnlichen Vorgängen betroffen. Eine genauere quantifizierende Aussage ist problematisch, weil manche Vergehen wie etwa Denunziationen nicht konkret zu verifizieren sind. Als zweite Stufe sind (staats)polizeiliche Ermittlungen zu erfassen, zu denen etwa Überwachungen von Predigten und Versammlungen kirchlicher Vereine, Verhöre und Verwarnungen gehören. Von 36 Geistlichen sind Probleme dieser oder ähnlicher Art fassbar, wobei zu berücksichtigen ist, dass zahlreiche betroffene Priester mehrfach bzw. an wechselnden Wirkungsstationen in das Visier von Ermittlern gerieten. Die dritte Stufe bilden dann Konsequenzen, wie Gerichtsverfahren, aber auch Ausweisungen, Redeverbote usw. So sind gegen etwa 30 Geistliche entsprechende Maßnahmen verhängt worden. Fünf Priester wurden vorübergehend in Schutzhaft genommen, zwei wurden in Gerichtsverfahren zu Geldstrafen verurteilt und zwei weitere freigesprochen. Das Gros der Verfahren, und zwar in zehn Fällen, wurde aufgrund von Amnestiegesetzen eingestellt. Mit Augustin Heinsch wurde lediglich gegen einen Grafschafter Priester eine im Übrigen auch in einigen anderen Fällen angedrohte bzw. bevorstehende Ausweisung aus Schlesien und dem Sudetenland konkret durchgeführt. 7
Vgl. ebd., S. 74–78.
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Die vierte Stufe bildeten jeglicher rechtsstaatlichen Kontrolle entzogene Maßnahmen wie Inhaftierungen ohne Anklageschriften (Schutzhaft) und letztlich als drastischste Maßnahme Überstellungen in ein Konzentrationslager, wie es im Untersuchungsraum konkret nur in zwei Fällen, nämlich bei dem seligen Gerhard Hirschfelder und bei dem Jesuiten Frater Johannes Albrecht, geschehen ist. In der zweiten Kategorie „Vergehen“ (in Klammern ist jeweils die Anzahl der belegten Fälle im Klerus der Grafschaft Glatz angegeben) ist zwischen den Bereichen Gottesdienst bzw. Predigten (9), allgemeine Seelsorge, Vereins- und Jugendarbeit (6), Schule sowie Gefangenenseelsorge (5) zu unterscheiden. Dazu kamen politische Unzuverlässigkeit durch Aktionen, die als gegen Staat und Partei gerichtet angesehen wurden (11), sowie Devisen- und Sittlichkeitsvergehen (4). Während es sich bei ersteren um den Vorwurf finanzieller Unregelmäßigkeiten, etwa durch Geldtransfer in das oder aus dem Ausland, handelte, betrifft der letztgenannte Bereich Vorwürfe der Unzucht mit Minderjährigen etc. Als Instanzen, die Maßregelungen vornahmen, traten auf zum einen die Partei und ihre Organisationen, also sowohl die NSDAP als auch die HJ usw., zum anderen Polizei und Gestapo, wobei deren Zuständigkeitsbereiche in der Regel nicht trennscharf abzugrenzen sind. Schließlich kommt die Instanz der Justiz hinzu, wobei zwischen ordentlicher Gerichtsbarkeit und den in Folge einer Notverordnung des Reichspräsidenten vom 21. März 1933 gebildeten Sondergerichten zu unterscheiden ist, die Delikte, wie Verstöße gegen das sogenannte Heimtückegesetz8 von 1934 oder den 1938 eingeführten Straftatbestand der Wehrkraftzersetzung, abhandelten. In der Rückschau lässt sich resümieren, dass in der Grafschaft Glatz die Bereiche Predigt und Vereins- bzw. Jugendarbeit deutlich im Zentrum der seitens des NS-Systems Anstoß erregenden Verhaltensweisen des Klerus standen. Einen herausgehobenen Stellenwert nahm außerdem der Sektor der politischen Unzuverlässigkeit ein, wobei sich die Anklagepunkte hier in der Regel neben dem Heimtückegesetz auf den seit dem Kulturkampf nicht außer Kraft gesetzten Kanzelparagraphen9 bezogen.
Biogramme und Liste der Priester unter Hitlers Terror Nachfolgend werden alle mit dem NS-Regime in der Grafschaft Glatz in Konflikt geratenen Geistlichen alphabetisch mit den wichtigsten Daten ihres Lebens und Wirkens und unter kurzer Benennung der jeweiligen Auseinandersetzungen summarisch aufgeführt, wobei – wie eingangs bereits dargelegt – manche Angaben nur rudimentär sind und detaillierterer Nachforschungen bedürften. Basierend auf bisher weitestgehend unausgewerteten Quellen aus dem Dekanatsarchiv in Glatz werden zudem drei ausführliche Biogramme von Glatzer Priestern unter NS-Terror vorangestellt, die einen exemplarischen Charakter besitzen. Bewusst außen vor gelassen wurde an dieser Stelle das bedeutendste Opfer im katholischen Klerus der Grafschaft Glatz der NS-Zeit, der 2010 selig gesprochene Kaplan Gerhard Hirschfelder, weil er an anderer 8
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Gesetz, das jede Art der Kritik am NS-Regime unter Strafe stellte. Vgl. Glossar in Priester unter Hitlers Terror 1998, S. 57. Im Kulturkampf 1871 zur Reglementierung staatlich missliebiger Geistlicher erlassenes Gesetz. Vgl. Glossar ebd.
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Stelle in diesem Sammelband eine gebührende Würdigung erfährt. Berücksichtigung findet hier allerdings Großdechant und Generalvikar Franz Monse, obwohl der 1943 gegen ihn geführte sogenannte Reichsgarten-Prozess nicht nur politisch motiviert war. Jedoch wurde im Folgenden darauf verzichtet, eine Reihe von Ordensgeistlichen aufzunehmen, als deren einziges Vergehen in dem Standardwerk „Priester unter Hitlers Terror“ der Verlust des Wirkungskreises durch Aufhebung ihrer Ordensniederlassung bzw. Ordensschule angegeben wird.
1. Großdechant und Generalvikar Prälat Franz Dittert und Generalvikariatssekretär Leo Christoph Als die Gestapo am 23. November 1935 die Diensträume des Generalvikars und Großdechanten in Mittelwalde durchsuchte, gerieten gleich mehrere Geistliche in das Visier der Staatsmacht. Zum einen der amtierende Generalvikar Großdechant Prälat Franz Dittert, zum anderen sein Sekretär Leo Christoph. Daher lässt sich der Konflikt nur kollektiv erfassen. Was die Biographien der beteiligten Geistlichen anbetrifft, ist über den zu diesem Zeitpunkt bereits 78-jährigen Prälaten Dittert, zugleich Stadtpfarrer von Mittelwalde, auf den Beitrag über die Ernennung der Grafschafter Generalvikare in diesem Band zu verweisen. Allein über Leo Christoph sind an dieser Stelle vorab einige Informationen zu seinem Leben nötig10. Er wurde am 6. Februar 1901 in Buchau bei Neurode als Sohn eines Lehrers geboren. 1926 in Breslau zum Priester geweiht, führten ihn seine Kaplansjahre nach Ludwigsdorf und Habelschwerdt, bevor er im Februar 1931 das Amt des Generalvikariatssekretärs bei Großdechant Dittert in Mittelwalde antrat. Weshalb besetzte die Gestapo aber an dem eingangs erwähnten 23.11.1935 das Mittelwalder Pfarrhaus und wie ging die AktiAbb. 1: Leo Christoph (1901–1985) on konkret vor sich?11 Der Hintergrund lag (Foto: Archiv des Großdechanten der in einer Geheimen Verfügung der Gestapo Grafschaft Glatz, Münster) hinsichtlich des Verbots der Katholischen Jungmännervereine (KJMV). Der Amtsvorsteher von Neuwaltersdorf, Carl Taube, hatte davon Kenntnis erhalten und sich als treuer Katholik verpflichtet gefühlt, eini10
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Vgl. Jung: Leo Christoph (1901–1985), in: Gröger u.a. (Hg.): Schlesische Kirche in Lebensbildern, S. 215–219, u. ders.: Leo Christoph, in: BBKL, Bd. 22 (2003), Sp. 194–201. Vgl. hierzu den umfangreichen Bericht bei Berger: Eine Übersicht über die Pfarreien und Kuratien, S. 57f.
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ge Geistliche, so die Pfarrer Georg Charfreitag von Neuwaltersdorf und Petrus Tautz von Konradswalde, vorab zu warnen. Generalvikariatssekretär Christoph hatte die Geheime Verfügung auf einer Schreibmaschine abgeschrieben und dem Großdechanten Dittert übergeben, der sie an die Bischöfliche Informationsstelle in Berlin weitergeleitet hatte. Entsprechendes belastendes Material war in Berlin bei einer Hausdurchsuchung gefunden worden. In Mittelwalde wurden gegen 9 Uhr am Morgen die Eingänge des Pfarrhauses besetzt und die beiden Kapläne in einem Zimmer festgehalten. Die Durchsuchung galt dem Büro des Generalvikars und der außerhalb des Pfarrhauses befindlichen Wohnung des Generalvikariatssekretärs Christoph. Während letztgenannter während der bis 15 Uhr dauernden Aktion verhaftet wurde, konnte der zufällig auf Visite im Pfarrhaus weilende Arzt Dr. Kronisch die Verhaftung des Großdechanten verhindern, indem er unter Verweis auf Ditterts Alter und Gesundheitszustand dagegen Verwahrung einlegte und den Generalvikar für haftunfähig erklärte, sodass über ihn nur Hausarrest verhängt wurde. Wie er den als Verteidiger in den Prozess eingeschalteten Berliner Rechtsanwalt Dr. Franz Köhler am 19. Dezember 1935 wissen ließ, habe er gegenüber einem Gestapo-Kommissar schriftlich auf sein Ehrenwort versichert, während des Prozesses die Stadt Mittelwalde nicht zu verlassen, und außerdem seinen Pass abgegeben12. In der bereits zwei Tage darauf, am 25. November 1935 erstellten Anklageschrift wurde dann auch vordringlich Generalvikariatssekretär Christoph beschuldigt, sich vorab behördliche Erlasse und Verfügungen verschafft und deren Inhalt an Dritte mit dem Ziel weitergegeben zu haben, polizeiliche Maßnahmen zu verhindern13. Christoph und die gleichfalls verhafteten Pfarrer Charfreitag und Amtsvorsteher Taube wurden am 27.11. vom Breslauer Polizeigefängnis in das Konzentrationslager Columbia in Berlin überstellt, der ebenfalls inhaftierte Pfarrer Tautz hingegen freigelassen. Aus Prälat Ditterts Korrespondenz mit dem Verteidiger Franz Köhler geht zudem hervor, dass er am 25. November 1935 vom zuständigen Amtsgerichtsrat – der Name ist aus den Akten nicht ersichtlich – noch einmal vernommen worden war. Der Großdechant berief sich dabei auf seine Erkrankung, die dazu geführt haben könnte, dass er die inkriminierte Geheime Verordnung der Gestapo nicht von einer gewöhnlichen Gestapoverordnung habe unterscheiden können. Am 6. März 1936 wurden die drei Verhafteten ohne weitere Begründung entlassen. Gleichzeitig ließ der Oberreichsanwalt dem Generalvikar mitteilen, dass das Verfahren gegen ihn eingestellt worden sei. Ditterts Pass hingegen blieb eingezogen. Als er am 26. Mai 1936 das KriminalGrenzkommissariat in Glatz unter Verweis auf die bereits Monate zuvor erfolgte Einstellung des Verfahrens um dessen Rückgabe ersuchte, wurde er an das Preußische Gestapoamt in Berlin verwiesen, wohin der Pass mittlerweile überstellt worden sei. Während Großdechant Dittert am 18. Dezember 1937 in Mittelwalde starb, wechselte Leo Christoph zum 1. März 1939 als Stiftspfarrer nach Glatz-Scheibe. Darüber hinaus wurde er 1942 zum Diözesan-Caritasdirektor für die Grafschaft Glatz ernannt. Diese Aufgabe bekleidete er von 1952 bis 1956 auch in seinem Aufnahmebistum Osnabrück, das ihn nach der Vertreibung zunächst als Kaplan in Aurich beschäftigt hatte. 1956 wechselte Leo Christoph als Kurator in das Mutterhaus der 12 13
Vgl. Dittert an Köhler v. 19.12.1935, in: Dekanatsarchiv Glatz, AG: Personalakte Dittert. Anklageschrift gegen Leo Christoph v. 25.11.1935, in: Dekanatsarchiv Glatz, AG: Personalakte Christoph.
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Grauen Schwestern von der hl. Elisabeth nach Reinbek bei Hamburg. Der 1967 mit der höchsten Prälatenwürde eines Apostolischen Protonotars ausgezeichnete Geistliche wirkte von 1962 bis 1977 als von der Deutschen Bischofskonferenz bestellter Kanonischer Visitator der Priester und Gläubigen aus der Grafschaft Glatz und starb am 3. Januar 1985 in Reinbek, wo er auch beigesetzt wurde.
2. Konrad Leister14 Bereits im Jahr der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten geriet der 25-jährige Kaplan von Lewin, Konrad Leister, in das Visier der Staatsbehörden. Konkreter Grund einer ersten Anzeige war eine am 26. November 1933 gehaltene Predigt, in der er kirchenfeindliche Äußerungen nationalsozialistischer Politiker aufgegriffen und über das Königtum des Priesters gesprochen hatte. Der zuständige Amtsrichter warf ihm zudem eine zu engagierte kirchliche Vereinsarbeit und Warnungen vor der Hitler-Jugend vor, konnte aber keine Beweise vorlegen. Stattdessen bezeichnete er Leister als Staatsfeind und drohte ihm an, seine Versetzung betreiben zu wollen. Gegenüber dem Generalvikariatssekretär erwog der Kaplan daher sogar die Möglichkeit, in den tschechischen Teil der Erzdiözese zu wechseln oder ein Weiterstudium in Rom aufzunehmen. Konrad Leister, als Sohn eines Lehrers am 9. Februar 1908 in Brand/Kreis Habelschwerdt geboren und nach dem Abitur in Glatz 1926 und dem Theologiestudium in Breslau dort am 1. Februar 1931 zum Priester geweiht und nach kurzer Tätigkeit in Altlomnitz seit Oktober 1932 in Lewin eingesetzt, wurde von seiner vorgesetzten Behörde dort als Kaplan belassen. Das war möglicherweise Abb.: 2: Konrad Leister (1908–1981) keine gute Entscheidung, denn am 4. Okto(Foto: Archiv des Großdechanten der ber 1935 wurde er dort wegen verbotener öfGrafschaft Glatz, Münster) fentlicher kirchlicher Jugendarbeit angezeigt, worauf er die Jungschar- und Frohscharstunden in den Schutz eines sakralen Raums verlegte. Wenige Wochen später, am 21. Oktober 1935, kam es zu einem erneuten Vorfall, als der Hauptlehrer den Kaplan bezichtigte, dieser habe beim Betreten des 14
Vgl. allgemein Elsner: Konrad Leister (1908–1981), in: Gröger u.a. (Hg.): Schlesische Kirche in Lebensbildern, S. 304–306; Hirschfeld/Trautmann: Vor 1945 geweihte Priester ostdeutscher Herkunft, in: dies. (Hg.): Gelebter Glaube Hoffen auf Heimat. Katholische Vertriebene im Bistum Münster, Münster 1999, S. 265–371, hier S. 324f. Vgl. im Einzelnen Heinsch, S. 287, Hehl/ Kösters: Priester unter Hitlers Terror 1998, S. 1697, Dekanatsarchiv Glatz, A G I F-56 Pfarrjugendseelsorge ab 1936; ebd., Personalakte Konrad Leister.
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Klassenraums nicht laut genug mit dem Hitlergruß gegrüßt und seine Hand nicht hoch genug erhoben. Am 22. März 1937 wurde Leister in dieser Frage von der Gestapo-Dienststelle in Bad Kudowa vorgeladen. Ihm wurde erneut vorgeworfen, den Hitlergruß in der Schule nicht zu verwenden und stattdessen mit „Gelobt sei Jesus Christus“ zu grüßen. Außerdem wurde Anstoß an dem Lied „Wir sind dein Jungvolk, Herr und Gott“ genommen, das der Geistliche innerhalb und außerhalb der Schule mit Jugendlichen singen würde15. Leister wurde mit der Drohung entlassen, er würde künftig eingesperrt oder ihm würde die Unterrichtserlaubnis entzogen. Generalvikar Dittert empfahl ihm nach diesem Vorfall, zum einen die betreffenden staatlichen Verfügungen stets genau zu studieren und zum anderen in Konfliktfällen den Landrat in Glatz einzuschalten16. Aus seinen nachfolgenden Stationen als Kuratus in Stuhlseiffen ab Juli 1938 sowie als Pfarrer in Voigtsdorf/Kreis Habelschwerdt ab Mai 1940 sind keine Konflikte mehr belegt. Durch die Vertreibung gelangte Pfarrer Leister mit einem Großteil seiner Gemeindemitglieder im April 1946 nach Hude/Kreis Oldenburg im niedersächsischen Teil der Diözese Münster, wo er eine Diasporagemeinde aufbaute. Überörtlich engagierte er sich als geistlicher Redakteur in der Grafschafter Heimatpresse und wurde 1973 mit dem Titel eines Päpstlichen Ehrenkaplans (Monsignore) und 1981 mit der Würde eines Päpstlichen Ehrenprälaten ausgezeichnet. Konrad Leister starb am 24. Oktober 1981 in Hude und wurde dort auf dem von ihm angelegten Katholischen Friedhof beigesetzt. Seit 1988 erinnert zudem eine Gedenktafel in der unter seiner Regie 1952 erbauten St.-Marien-Kirche an ihn.
3. Johannes Taube17 Dass der Glatzer Kaplan Johannes Taube am 27. November 1937 in Untersuchungshaft genommen wurde, erwähnte sein Pfarrer Prälat Dr. Franz Monse mit keinem Wort in seiner Pfarrchronik. Dort vermerkte er lediglich unter dem Datum des 24. September 1937, dass Kaplan Taube von Ludwigsdorf nach Glatz versetzt worden sei18. Tatsächlich bezogen sich die Ermittlungen der Gestapo auf Taubes Ludwigsdorfer Amtszeit, wo ihn ein Parteigenosse wegen staatsfeindlicher Äußerungen denunziert hatte. Der Vater des Kaplans, der im Zuge der Ermittlungen gegen den Großdechanten bereits von November 1935 bis März 1936 inhaftierte Rittergutsbesitzer Carl Taube in Neuwaltersdorf, schaltete den bekannten Breslauer Rechtsanwalt und nachmaligen Bundesvertriebenenminister Hans Lukaschek als Verteidiger für seinen Sohn ein. Wie Lukaschek am 13. Dezember 1937 Taubes Vater mitteilte, bezogen sich die Anschuldigungen auf zwei Predigten sowie auf ein Gespräch mit einem Gemeindemitglied, das er ermahnt habe, nicht aus der Kirche auszutreten19. Für den Anwalt schien es sich um Lappalien zu handeln, denn er rechnete seinem Mandanten gute Chancen 15
16 17
18 19
Vgl. Leister an Dittert v. 22.3.1937, in: Dekanatsarchiv Glatz, I F-56, Akte Pfarrjugendseelsorge ab 1936. Vgl. Dittert an Leister v. 24.3.1937, ebd. Vgl. Elsner: Johannes Taube (1907–1986), in: Gröger u.a. (Hg.): Schlesische Kirche in Lebensbildern, S. 301–304. Vgl. Pohl: Pfarrchronik, S. 348. Vgl. hierzu u. zum Folgenden Dekanatsarchiv Glatz, Personalakte Johannes Taube.
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auf ein mildes Urteil der Justiz aus. Auf eine Haftbeschwerde Lukascheks vom 8. Februar 1938 hin hob das Amtsgericht Glatz den Haftbefehl gegen den Kaplan am 21. Februar 1938 auf mit dem Hinweis, es bestehe zwar dringender Tatverdacht gemäß §2 des Heimtückegesetzes, aber kein Fluchtverdacht20. Im Juli 1938 wurde schließlich das Verfahren unter Verweis auf das im Zuge des Anschlusses Österreichs ergangene Straffreiheitsgesetz vom 30. April 1938 eingestellt. Johannes Taube, der am 7. Oktober 1907 in Neuwaltersdorf geboren wurde und nach der 1934 in Breslau erhaltenen Priesterweihe seine erste Kaplansstelle in Ludwigsdorf bekommen hatte, wirkte nach seiner Haftentlassung weiterhin als Kaplan in Glatz. Nach einem IntermezAbb.: 3: Johannes Taube ( 1907–1986) zo als Pfarradministrator in Mittelsteine (Foto: Archiv des Großdechanten der Grafab November 1942, erhielt er im August schaft Glatz, Münster) 1943 die Pfarrei Rengersdorf. Nach der Vertreibung war Johannes Taube im Erzbistum Paderborn als Pfarrvikar in Oerlinghausen bei Bielefeld und – ab 1950 – in Serkenrode bei Finnentrop tätig, wo er am 7. Januar 1986 starb. 1974 hatte er den Ehrentitel eines Päpstlichen Ehrenkaplans (Monsignore) erhalten.
Liste der in Konflikt mit dem NS-Regime geratenen Grafschafter Geistlichen21 1. Frater Johannes Albrecht SJ22, geb. 18.4.1907 Dingelstädt/Eichsfeld, gest. 18.9.1943 Zuchthaus Brandenburg-Görden, lebte 1936–1938 im Noviziat in Mittelsteine, 1942 wegen Seelsorge an tschechischen Kriegsgefangenen im Lager Dabendorf verhaftet, vom Kriegsgericht Berlin am 5.8.1943 zum Tode verurteilt. 2. Pater Matthias Bauer MSF, geb. 29.2.1884, gest. 15.6.1952 Düren, Rektor des Missionshauses Regina Pacis auf Burg Waldstein bei Rückers, 1942 durch das Landgericht Glatz zu RM 2.000,– Geldstrafe verurteilt wegen verbotener Sammlungstätigkeit für die Missionsarbeit seiner Kongregation. 20 21
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Mitteilung des Amtsgerichts Glatz v. 21.2.1938, ebd. Die biographischen Angaben wurden in der Regel den drei Nekrologbänden: Sie gehören zu uns, Lüdenscheid o.J. (1969), Reinbek 1973 u. Münster 1989 entnommen. Die Vergehen der Geistlichen stammen aus der 4. Aufl. von Priester unter Hitlers Terror. Um eine bessere Übersichtlichkeit zu garantieren, wurde auf Einzelnachweise verzichtet, sofern nicht weitere Literatur vorlag. Vgl. Moll: Frater Johannes Albrecht, in: ders. (Hg.), Zeugen für Christus, S. 779f.
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3. Pater Ernst Behlau SJ, geb. 2.3.1903, gest. 9.5.1942 Kursk, 1941 Ausweisung wegen staatsfeindlichen Verhaltens, Gestapo-Überwachung und Einberufung zur Wehrmacht. 4. Aloys Berger, geb. 29.7.1896 Altweistritz, gest. 27.11.1961 Bamberg, als Kaplan in Mittelwalde im November und Dezember 1935 im Kontext der Aktion gegen Großdechant Dittert von der Gestapo überwacht. 5. Franz Berger23, geb. 5.2.1907 Altweistritz, gest. 31.12.2000 Kirchlengern, als Kaplan in Neurode fünf Gestapo-Verhöre aufgrund von Predigten, Vorträgen vor der Kolpingfamilie, öffentlichen Rügens wegen HJ-Dienstes der Sonntagsmesse ferngebliebener Jugendlicher u.a. 6. Wenzeslaus Bergmann, geb. 8.10.1877 Neurode, gest. 31.3.1935 Passendorf, Pfarrer in Passendorf, im Zuge der Devisenprozesse 1935 wegen Beschäftigung eines tschechoslowakischen Staatsbürgers als Kirchenmaler angezeigt. 7. Rochus Bernatzky, geb. 15.8.1903 Mittelsteine, gest. 6.2.1997 Bergisch Gladbach, Kuratus in Wölfelsgrund, Verfahren wegen Verstoßes gegen den Kanzelparagraphen, durch Amnestiegesetz vom 11.5.1938 aufgehoben, zwei Gestapoverwarnungen: 1939 wegen einer politischen Äußerung und zwei Jahre später aufgrund von Seelsorge an polnischen Kriegsgefangenen. 8. Paul Beschorner, geb. 2.8.1882 Wölfelsdorf, gest. 3.1.1963 Maxen/Kreis Pirna, Pfarrer in Altwaltersdorf, gegen ihn ermittelte der Oberstaatsanwalt des Sondergerichts Breslau wegen angeblich regimekritischer Bemerkungen. 9. Pater Bonaventura (Johannes) Boecker SSCC, geb. 16.3.1893 Wessum bei Ahaus, gest. 31.7.1962 Eppendorf, Superior des Missionshauses Christus Rex in Falkenhain bei Bad Altheide. 10. Eduard Brauner, geb. 12.5.1878 Neuwaltersdorf, gest. 19.6.1976 Neheim-Hüsten, Pfarrer in Königswalde, drei Verhöre durch die Gestapo, Androhung der Überstellung in das KZ Dachau kurz vor Kriegsende 1945. 11. Joseph Buchmann, geb. 10.7.1907 Rybnik (O/S), gest. 2.9.1986 Hamm, Kaplan in Bad Reinerz, wegen Nichtflaggens an der von ihm betreuten Filialkirche in Friedersdorf 1939 angezeigt. 12. Georg Charfreitag, geb. 5.12.1884 Habelschwerdt, gest. 14.4.1942 Habelschwerdt, Pfarrer in Neuwaltersdorf, im Zusammenhang mit der Gestapoaktion gegen Großdechant Dittert am 23. November 1935 ebenso wie der Neuwaltersdorfer Kirchenpatron und Rittergutsbesitzer Carl Taube verhaftet und bis zum 6. März 1936 in Schutzhaft. Am folgenden Tag in seine Pfarrei zurückgekehrt, traf ihn die Anordnung des Schulrats, dass er keinen Religionsunterricht mehr übernehmen dürfe24. 13. Leo Christoph Vgl. Biogramm 14. Franz Dittert25 Vgl. Biogramm 15. Georg Faber, geb. 1.10.1906 Wölfelsdorf, gest. 31.10.1980 Maring-Noviand bei Bernkastel-Kues, Kaplan in Ludwigsdorf, verfasste einen scharfen Artikel gegen das 23
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Vgl. Adam: Franz Berger (1907–2000), in: Hirschfeld u.a. (Hg.): Schlesische Kirche in Lebensbildern, Bd. 7, S. 20f. Vgl. Dekanatsarchiv Glatz, Personalakte Georg Charfreitag. Vgl. Personalakte Franz Dittert.
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von Alfred Rosenberg proklamierte Neuheidentum, der am 13. Mai 1934 im „Arnestusblatt“ abgedruckt wurde. Bereits am Folgetag wurde Faber vom Bürgermeister persönlich – offensichtlich auf höhere Weisung hin – verhaftet und im örtlichen Spritzenhaus eingesperrt. Eigens herbeigebrachte fanatische SA-Männer von außerhalb versuchten vergeblich, Faber im Spritzenhaus anzugreifen. Als der Geistliche nach Verweis darauf, dass Schutzhaft nur 24 Stunden dauern dürfe, freigelassen wurde, lauerte einer der SA-Männer dem Kaplan auf dem Heimweg auf und griff ihn an. 16. Dr. Franz Filla, geb. 16.1.1883 Alt-Schalkowitz (O/S), gest. 15.1.1945 Bad Altheide, Geistlicher Studienrat am Gymnasium Glatz und Regens des Schülerkonvikts, wegen Kritik an den Nürnberger Gesetzen und Weigerung, seinen Biologieunterricht daran auszurichten, am 19.10.1935 seiner Ämter in Schule und Konvikt enthoben, kam in der Gemeindeseelsorge unter. 17. Bruno Fischer, geb. 14.5.1902 Habelschwerdt, gest. 17.11.1963 Zetel, Kaplan in Mittelwalde, im Zuge der Durchsuchungsaktion der Gestapo am 23. November 1935 unter Hausarrest gestellt, wegen seiner Jugendarbeit zum Verhör nach Breslau gebracht und das Jugendheim geschlossen. 18. Erich Friemel, geb. 7.6.1913 Neurode, gest. 15.4.1998 Garmisch-Partenkirchen, Kaplan in Grenzeck, Hausdurchsuchung durch die Gestapo wegen kirchlicher Vereinsarbeit (Gesellenverein und Bund Neudeutschland), Überwachung von Predigten im Sommer 1939. 19. Georg Goebel, geb. 25.9.1900 Albendorf, gest. 7.6.1965 Lüdenscheid, Pfarrer in Rosenthal, ein wegen seiner vorherigen Tätigkeit als Deutschenseelsorger in der Diözese Jassy in Rumänien erlassenes Seelsorgeverbot und ein Verweis aus der Grafschaft Glatz und aus Schlesien wurde nach Intervention des Osnabrücker Bischofs Wilhelm Berning rückgängig gemacht. 20. Hubertus (bis 1942 Pater Xaverius OFM) Günther26, geb. 2.6.1907 Oppeln, gest. 6.3.1994 Georgsmarienhütte-Oesede, Kaplan in Glatz, bereits 1935 wegen Verstoßes gegen den sog. Kanzelparagraphen und gegen das Heimtückegesetz zu neun Monaten Gefängnis bzw. einer Geldstrafe von 450,– RM verurteilt. Weil er im Juni 1937 ein über die Hintergründe der NS-Sittlichkeitsprozesse aufklärendes Plakat an der Tür der Glatzer Minoritenkirche aushängte, wurde er angezeigt, das Verfahren aber im Mai 1938 aufgrund des Amnestiegesetzes vom 30.4.1938 eingestellt, zwei weitere Prozesse führten zu Verwarnungen.14 Gestapo-Verhöre, seit 1942 unter Aufsicht des Sicherheitsdienstes (SD), sollte nach ihm vorliegenden Informationen zu Zwangsarbeit in einem Rüstungsbetrieb verpflichtet werden. 21. Wilhelm Hattwig, geb. 3.12.1902, gest. 24.9.1999; Kaplan in Kunzendorf/Biele, wegen kirchlicher Jugendarbeit Prozess vor einem Sondergericht, der aber eingestellt wurde. 22. Augustinus Heinsch27, geb. 12.11.1882 Dürrkunzendorf, gest. 2.2.1946 Stralsund, Pfarrer in Langenbrück, wurde dort von einem nationalsozialistischen Lehrer schikaniert und wechselte im Dezember 1938 als Pfarrer nach Mittelsteine, wo ihn der Volksschulrektor durch Schüler bespitzeln ließ, mehrere Gestapo-Verhöre 26
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Vgl. Hirschfeld: Hubertus Günther (1907–1994), in: ders. u.a. (Hg.): Schlesische Kirche in Lebensbildern, Bd. 7, S. 82–86. Vgl. auch Teichmann: Steinchen aus dem Strom, S. 95–98.
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wegen angeblichen Gebets für einen feindlichen Sieg nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, am 14.2.1941 von der Gestapo unter der Begründung, er spalte die Gemeinde, aus seiner Pfarrei ausgewiesen und mit Aufenthaltsverbot für Schlesien und das Sudetenland belegt, über Berlin zu einem Studienfreund, der als Pfarrer in Stralsund wirkte, dort wegen Rundbriefes an Eltern von Erstkommunionkindern angezeigt. 23. Gerhard Hirschfelder, Seliger. Vgl. die ausführlichen Beiträge in diesem Band. 24. Dr. Josef Hornig, geb. 14.6.1900 Königsberg/Ostpreußen, gest. 15.12.1980 Münster, Studienrat am Gymnasium in Glatz, dort Ende 1942 der in Personalunion ausgeübten Aufgabe als Regens des nunmehr staatlichen Konvikts enthoben, zwangsweise (offenbar kurz vor Kriegsende 1945) zu Schanzarbeiten eingezogen. 25. August Hübner, geb. 7.1.1888 Neisse (O/S), gest. 19.12.1968 Annaberg/Erzgebirge, Kuratus in Verlorenwasser. Weil er für die Renovierung seiner Kirche eine Sammlung veranstaltet hatte, wurde er wegen verbotener Sammlungstätigkeit angezeigt, das Verfahren aber am 11.4.1940 vom Amtsgericht Habelschwerdt aufgrund des Straffreiheitsgesetzes vom 9.9.1939 eingestellt. 26. Adolf Jaschke, geb. 17.6.1907 Rothwaltersdorf, gest. 14.12.1981 Bad DriburgReelsen, Kaplan in Oberschwedeldorf, wegen Jugendarbeit Überwachung und Vorladungen durch die Gestapo, 1941 und 1942 zwei Mal längere Schutzhaft wegen Jugendarbeit und Predigtäußerungen, weil auch nach Versetzungen nach Grenzeck und Neuwaltersdorf die Einlieferung in ein KZ drohte, meldete er sich 1942 freiwillig an die Front. Vielleicht zufällig sah er in einem Feldpostbrief vom Mai 1944 an den Großdechanten das Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 voraus. 27. Hermann Jünschke, geb. 27.1.1877 Habelschwerdt, gest. 13.1.1950 Gut Hange bei Freren, Pfarrer in Lewin, wurde 1933 durch NSDAP-Mitglieder öffentlich beschimpft. 28. Erich Kapaun, geb. 26.11.1903 Neurode, gest. 3.3.1981 Arnstein/Unterfranken, als Kaplan in Rückers und – ab 1939 – in Bad Landeck sechs Anzeigen bei der Gestapo und nachfolgende Verhöre, ein Mittelsmann bei der Gestapo in Breslau soll seine Akten verschwinden lassen und ihn dadurch vor einer Einlieferung in ein KZ bewahrt haben. 29. Rudolf Karger, geb. 12.4.1902 Neurode, gest. 10.11.1984 Bad Imnau, Pfarrer in Gabersdorf, mehrere Gestapoverhöre, zur Hinterlegung eines Sicherheitsgeldes in Höhe von RM 1000,– gezwungen. 30. Robert Klein, geb. 8.1.1885 in Bad Landeck, gest. 25.7.1963 Hildesheim, Pfarrer in Albendorf, eine erste Anzeige gegen Pfarrer Klein bezog sich auf seine kirchliche Vereinsarbeit als Präses der Marianischen Kongregation. Eine Versammlung im Vereinszimmer einer örtlichen Gaststätte war am 25. Januar 1938 polizeilich geschlossen worden – als Grund wurde dem Pfarrer seitens der Gestapo am 13. April 1938 gemeldet, es habe sich nicht um eine rein religiöse Veranstaltung gehandelt, da diese in einem weltlichen Rahmen stattgefunden habe und dort auch getanzt worden sei – und führte zu einer Geldstrafe. Eine weitere Anzeige aufgrund der Jahresschlusspredigt 1938 führte zu einer Verhandlung vor dem Sondergericht in Breslau, endete aber mit einer Amnestie nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
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31. Adolf Langer, geb. 4.11.1902 Schlaney/Schnellau, gest. 6.6.1965 Lohne/Oldenburg, Pfarrer in Habelschwerdt, dort Konflikte um die Schließung des kath. Kindergartens und der Mädchen-Mittelschule der Armen Schulschwestern. 32. Konrad Leister Vgl. Biogramm 33. Pater Hans-Werner Mende SJ, geb. 26.9.1911 Breslau, gest. 8.4.1984 Hamburg, als Aushilfsgeistlicher in Neurode zwei Mal nur mit Hilfe von Freunden einer Verhaftung durch die Gestapo entgangen. 34. Dr. Franz Monse, geb. 11.7.1882 Mittelwalde, gest. 24.2.1962 Bad RothenfeldeStrang, Stadtpfarrer in Glatz, Großdechant und Generalvikar, im sogenannten Reichsgartenprozess am 5.2.1943 vom Landgericht Glatz zu einer Geldstrafe von RM 3.000,– verurteilt, weil er den Staat um RM 2.000,– betrogen habe28. Dies sei geschehen, weil er während der Restaurierung der Dekanatskirche die Existenz eines Fonds verschwiegen habe, um höhere Staatsbeihilfen zu erhalten. 35. Dr. Josef Palluch, geb. 17.2.1891 Niwka (O/S), gest. 21.10.1965 Ursberg/Schwaben, Pfarrer in Sackisch, soll sich zu Staatsjugend und Kriegswirtschaft kritisch geäußert haben und geriet daher im Mai 1942 in das Visier der Oberstaatsanwaltschaft. 36. Gustav Pangratz, geb. 3.7.1881 Kaiserswalde, gest. 30.7.1945 Bad Landeck, Pfarrer in Grunwald, am 1.6.1937 wurden bei einer Hausdurchsuchung bei ihm Schriften beschlagnahmt, kurz darauf kam es wegen Predigtäußerungen zu Ermittlungen der Oberstaatsanwaltschaft und des Sondergerichts in Breslau, Verfahrenseinstellung im Mai 1938 aufgrund des Straffreiheitsgesetzes vom 30.4.1938. 37. Hermann Schmidt, geb. 11.9.1870 Oberrathen, gest. 3.3.1954 Salzkotten, Pfarrer in Mittelsteine, wegen „Begünstigung“ eines schuldhaften Autofahrers einige Wochen inhaftiert, anschließend von den Nationalsozialisten schikaniert, sodass er 1938 um Eintritt in den Ruhestand nachsuchte. 38. Alfons Scholz, geb. 25.3.1898 Rengersdorf, gest. 25.10.1979 Kesseling, Pfarrer in Langenbrück, übertrat das Verbot der Ausländerseelsorge, indem er eine Messe für französische Kriegsgefangene hielt und wurde deshalb von der Gestapo vorgeladen und vernommen. 39. Friedrich Simon, geb. 21.12.1876 Brieg, aufgewachsen in Glatz, gest. 3.2.1934 Konradswalde, Pfarrer in Konradswalde, von Nationalsozialisten schikaniert. 40. Josef Strauch, geb. 17.2.1911 Habelschwerdt, gest. 19.9.1954 Kaiserslautern, Pfarrer in Reichenau, wegen Kanzelmissbrauchs – er hatte sich kritisch über Grabreden von Laien bei der Beisetzung von Parteimitgliedern geäußert – am 2.8.1943 zu einer Gefängnisstrafe von einem Monat verurteilt, die er nie antrat und die vom Sondergericht Breslau am 31.1.1944 in eine Geldstrafe von RM 300,– umgewandelt wurde. 41. Johannes Taube Vgl. Biogramm 42. Petrus Tautz, geb. 8.3.1888 Bad Reinerz, gest. 5.6.1976 Thammenhain/Thüringen, Pfarrer in Konradswalde, wurde vom 23. bis 27.11.1935 im Rahmen der Vorgänge gegen Großdechant Dittert in Schutzhaft genommen.
28
Vgl. zu dieser komplexen Thematik ausführlich Hirschfeld: Monse, S. 55–69.
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43. Pater Dr. Lucius (Alfons) Teichmann OFM29, geb. 21.1.1905 Soppau/Kreis Leobschütz (O/S), gest. 8.3.1996 Warendorf, Lektor der Alten Kirchengeschichte und Patrologie im Konvent in Glatz und Religionslehrer am Oberlyzeum der Armen Schulschwestern in Glatz, wegen Verdachts staatsfeindlicher Betätigung – er hatte einer früheren Glatzer Schülerin zur Trennung von einem Verehrer geraten und war darauf von diesem angezeigt worden – am 5.4.1940 von der Gestapo in Breslau verhört, ein Verfahren wegen parteifeindlicher Betätigung wurde im Januar 1941 eingestellt. 44. Pater Dr. Hieronymus (Arthur) Trumpke OFM, geb. 18.8.1890 Gleiwitz (O/S), gest. 8.9.1959 Nürnberg, Guardian des Franziskanerklosters in Glatz, gegen ihn wurde ab Juni 1937 ebenso wie gegen P. Xaverius (Hubertus) Günther OFM wegen Aushängens eines Plakates ermittelt, das die NS-Sittlichkeitsprozesse kritisch kommentierte, das Verfahren im Mai 1938 aufgrund des Straffreiheitsgesetzes vom 30.4.1938 eingestellt. 45. Georg Wache, geb. 22.12.1876 Glatz, gest. 20.11.1949 Nieheim, Pfarrer in Neurode, wurde im Juni 1937 wegen Predigtäußerungen verhört, das Verfahren aber aufgrund des Straffreiheitsgesetzes vom 30.4.1938 eingestellt, im Juli 1937 ermittelte die Oberstaatsanwaltschaft erneut gegen ihn wegen kritischer Predigtäußerungen, und seine Trauerpredigt für die Opfer eines Grubenunglücks vom 14. Mai 194130 auf der Rubengrube in Neurode führte wegen des Passus, dass Sonn- und Feiertagsarbeit kein Glück bringe, zu einer Vorladung der Gestapo. 46. Maximilian Wache, geb. 9.10.1879 Glatz, gest. 24.6.1943 Rengersdorf, Pfarrer in Rengersdorf, soll sich gegenüber Sammlern des NS-Winterhilfswerkes am 20. Oktober 1940 staatsabträglich geäußert haben, ein gegen ihn angestrengtes Verfahren vor dem Sondergericht in Breslau führte am 13. Juni 1941 zu einem Freispruch. 47. Georg Wengler, geb. 9.6.1905 Walditz, gest. 14.9.1971 Mandelsloh, geriet schon als Kaplan in Altwilmsdorf in Konflikt mit dem Gemeindevorsteher und Rittergutsbesitzer Büttner, der zugleich Kirchenpatron war, und den Generalvikar am 28. März 1934 darum ersuchte, den jungen Geistlichen zu versetzen, da durch die Arbeit von Wengler nur Zwiespalt in die Altwilmsdorfer Jugend getragen wird31. Als Prälat Dittert hierauf nicht reagierte, informierte Büttner den Glatzer Landrat Dr. Horstmann, der wesentlich vorsichtiger agierte und den Generalvikar am 5. Juli 1934 lediglich bat, auf den Kaplan einzuwirken. Es seien aufgrund mehrerer Predigten Wenglers Zweifel vorhanden, ob er seine Worte auf religiöses Denken und Fühlen oder auf politische Vorkommnisse bezogen wissen will. In seiner nächsten Kaplanstelle in Bad Reinerz erhielt Georg Wengler im September 1939 ein Verbot des Bürgermeisters, Bibelstunden für Jugendliche unter 21 Jahren abzuhalten, als Pfarrer in Eckersdorf (seit 1940) wurde er wegen seiner Jugendpredigten neun Mal durch die Gestapo verhört. 29
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Vgl. Grocholl: Lucius (Alfons) Teichmann (1905–1996), in: Hirschfeld u.a. (Hg.): Schlesische Kirche in Lebensbildern, Bd. 7, S. 332–338; E. Kutzner: Lucius Teichmann, in: BBKL, Bd. 21 (2003), Sp. 1479–1482; auch Teichmann: Steinchen aus dem Strom, S. 98–105. Bei Heinsch, S. 288, ist fälschlich der 14.5.1940 angegeben. Dekanatsarchiv Glatz, Personalakte Georg Wengler.
Feldpost Glatzer Theologen 1941 bis 1945* Von Horst-Alfons Meißner
E
uch Glatzer Priestern im Felde ... oder Ihr lieben Priester – weit draußen alle in unerreichbarer Ferne, oder Ihr Freunde Gottes allzumal, oder auch Confratres mei dilectissimi, [Meine geliebtesten Mitbrüder], so und ähnlich beginnt der Sekretär des Grafschaft Glatzer Generalvikariats, Joseph Buchmann, seine oft geradezu humor- und liebevollen Briefe zwischen 1941 und 1945 an die lieben Mitbrüder in der Wehrmacht. Er schreibt und unterschreibt sie im Auftrag des fürsterzbischöflichen Generalvikars Dr. Franz Monse, der seine „Priestersoldaten“ auf diesem Weg mit allen wichtigen Informationen über die Grafschafter Kirche versorgt. Und die Grafschafter Kapläne und Theologiestudenten antworten durch Feldpost, die sie immer an den Generalvikar richten und den sie äußerst respektvoll mit: Euer Gnaden, Hochwürdigster Herr Generalvikar, Hochwürdigster Herr Großdechant oder Sehr geehrter hochwürdigster Herr Prälat titulieren. Die Grußformel entspricht der Anrede und ist oft militärisch gefärbt: Ihr ergebener Kaplan ..., Euer Gnaden ergebenst ... oder Um Ihren Segen und Ihr Gebet bittend verbleibe ich gehorsamst ... Die funktionelle Distanz in der kirchlichen Hierarchie zwischen einem Vorgesetzten und seinen Mitarbeitern ist größer als heute, wie daraus unschwer zu erkennen ist. Aber auch der Sekretär wird nicht vergessen: Ich muss mich endlich einmal bedanken ... für alles, das mir durch J. Buchmann zugeschickt wurde. Ich glaube, durch diese Sendung wird doch das Band zwischen uns Grafschafter Kaplänen im Felde und den geistlichen Brüdern in der Heimat fest und eng über alle Entfernung. Wir nehmen hier draußen in der Einöde ja den kleinsten Gruß von zu Hause begierig auf … (Beschorner, Kaplan, 27.7.1942, Ostfront). Einer der eingezogenen Kapläne, Franz Glowik, Sanitätssoldat, bedankt sich mit einem anrührenden und auch sprachlich bemerkenswerten Gedicht, das sein Selbstverständnis spiegelt, vom bewegten Einsatz an der Donez-Front für das treue Gedenken des Grafschafter Priester-Konvents vom 28. Januar 1942:
Den Freunden! Wenn unser Licht von Schleiern überhangen und unser Leben von den langen, den grauen Stunden war umfangen, dann kamen manchmal jene Strahlen, die auch das größte Dunkel übermalen, emporgehoben aus der Freunde Schalen. Und fordernd in die tote Ruhe rief vielleicht ein kurzer Satz aus einem Brief uns auf den Weg, der in die Höhe lief. * Überarbeitete Version des Aufsatzes „Feldpost Glatzer Theologen 1941–1945“, erschienen im Archiv für schlesische Kirchengeschichte, Bd. 68 (2010), S. 87–127.
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Trotz unser Trennung stehn wir eingespannt In seinen Willen, der uns ausgesandt, der unsre Herzen zueinander band, sodass wir in der Liebe zu dem Herrn die Brücken schlagen zwischen nah und fern, ganz unbewusst, doch leuchtend wie ein Stern. (30.3.1942, Ukraine, gefallen am 4.12.1942 als letzter von vier Brüdern) Glowik fährt fort: Gebe Gott der Welt einen baldigen Frieden ... Täglich denke ich an Euch alle. Eure Anliegen sind auch die meinen, Eure Freude und besonders auch Euer Schmerz der meine. Oremus pro invicem! [Lasst uns beten für einander] Nehmt meine herzlich-brüderlichen Wünsche entgegen, und alle grüße ich mit dem Oster-Alleluja, das uns den Sieg verheißt. Gemeint ist der Sieg des Christentums über jedwede Barbarei. Vielleicht verdanken wir der Überlastung Joseph Buchmanns, der wegen der Vertreibung 1946 offenbar nicht mehr zur Abheftung der umfangreichen Korrespondenz kam, – und natürlich dem Zufall – die Entdeckung einer Mappe im Glatzer Pfarrarchiv, die der Generalvikar mit Theologenbriefe aus dem Feld gekennzeichnet hatte.1 Sie enthält zahlreiche Grüße Dr. Monses und 22 längere Schreiben seines Sekretärs Buchmann an die eingezogenen Grafschafter Priester und Theologiestudenten sowie 108 Feldpostbriefe und Kartengrüße der Eingezogenen. Im Folgenden wird auf diese Korrespondenz, insbesondere auf die Feldpostbriefe der Glatzer Theologen, eingegangen, um dieses Kapitel der NS- und Kriegszeit dem Vergessen zu entreißen und auch, um den sonst Namenlosen ein Denkmal zu setzen. Dabei sollen sie selbst ausführlich zu Wort kommen. Darüber hinaus erlaubt die Auseinandersetzung mit dieser Post einen Einblick in die Gedankenwelt des jungen Glatzer Klerus zu jener Zeit. Joseph Buchmann, geboren am 10. Juli 1907, selbst Kaplan in Friedersdorf bei Bad Reinerz, Ordinariatsrat und Altersgenosse der eingezogenen Mitbrüder, ist Drehund Angelpunkt des regen Austausches zwischen dem heimatlichen Generalvikariat2 und den Glatzer Priestersoldaten, die meist an der Ostfront eingesetzt sind. Er arbeitet jahrelang ohne Urlaub, er erfüllt ihre Wünsche, so gut es geht, er ist Mädchen für alles in der Kirchenverwaltung, wie er in einem Brief vom 29. Juni 1944 an die Kollegen schreibt, die das gemeinsame Band des Priestertums verbindet. Ein Licht auf die Brisanz des Feldpostverkehrs, den das Regime durch Portofreiheit unterstützt, werfen folgende Fragen, die Buchmann 1941, zu Beginn des Postaustauschs, seinem Chef vorab zur Entscheidung vorlegt, um die Soldatenpriester aus böser Erfahrung zu schützen: −− Briefe statt offener Karten? −− Amtl. (Generalvikariat) oder privater Absender? −− Unterschreibt der Großdechant oder der Generalvikariatssekretär? −− Nachrichten aus dem kirchlichen Leben? 1 2
Dekanatsarchiv/Pfarrarchiv Glatz/Klodzko, Fach-Nr. 14001. Damalige Adresse des fürsterzbischöflichen Generalvikariats: (8) Glatz/Niederschlesien, Kirchstraße 10.
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Die Nationalsozialisten üben nämlich trotz des Konkordats vom 20. Juli 1933 seit Herrschaftsbeginn großen Druck auf die etwa 140 Grafschafter Geistlichen aus – nach Heinsch3 weit mehr als anderswo im Reich. Letztere genießen hohes Ansehen in der Bevölkerung, die zu 90 % katholisch ist und bis 1933 mehrheitlich Zentrum wählt. Das NS-Regime sucht die katholischen Priester durch Drohungen, Überwachungen, Predigtund Unterrichtsverbote, Hausdurchsuchungen, Verhöre, Gerichtsverfahren und Inhaftierungen einzuschüchtern und von ihren Gemeindemitgliedern zu trennen. Die Maßnahmen zeigen Wirkung, denn der Glatzer Klerus, den die Verfolgung durch die Nationalsozialisten an den 60 Jahre zurückliegenden Kulturkampf erinnert, wird vorsichtig. Besonders gilt das für Generalvikar Dr. Franz Monse,4 den obersten Kirchenvertreter in der Grafschaft Glatz, die als Teil Abb. 1: Prälat Joseph Buchmann 1977 Deutschlands seit mehr als 900 Jahren (*10.7.1907 in Rybnik, † 2.9.1986 in auch Teil des jetzt tschechoslowakischen Hamm). Foto: Archiv des Großdechanten Erzbistums Prag ist. Den Kirchenführern der Grafschaft Glatz, Münster. steckte die Angst vor einem neuen Kulturkampf noch stärker in den Gliedern als den vielen kleinen Seelsorgern, die in ihren Gemeinden ständig von den Nazis angegriffen, beschimpft, belästigt wurden.5 Franz Monse machen die Nationalsozialisten gerade den Prozess wegen Unterschlagung,6 und so hält er sich in dieser Korrespondenz verständlicherweise zurück. Seine Briefe sind kurze geistlich-religiöse Grüße zu den Hochfesten und Dank für Glückwünsche, die mit kleinen individuellen Abänderungen an alle erreichbaren Theologen gehen, meist wohl zusammen mit den längeren Schreiben Buchmanns. Sie wirken unpersönlich und formelhaft. Beinahe alle Feldpostbriefe enthalten aber Bearbeitungsvermerke sowie Anmerkungen Monses, die belegen, dass er die Feldpost genau gelesen hat. Buchmann ist sorgloser (oder mutiger?) und lässt gegen Ende des Krieges manchmal alle Vorsicht außer acht, wie folgende Passage beweist, die – wäre sie der Zensur aufgefallen – sicher zu Problemen wegen Wehrkraftzersetzung geführt hätte: 3 4 5
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Vgl. Heinsch: Priester in der Grafschaft Glatz, S. 279, u. Stephan: Gewissen, 7/1986. Hirschfeld: Franz Monse. Klausa: Ein Löwe für den Himmel. – Die Grafschaft Glatz mit den Kreisen Glatz und Habelschwerdt hatte 1939 182.000 Einwohner, darunter 165.000 Katholiken. (vgl. Heinsch, S. 279). Beginn der Ermittlungen Januar 1941, Verurteilung zu einer hohen Geldstrafe am 5.2.1943.
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Umso mehr freut uns jedes Lebenszeichen ... von Hauck ..., von Siegmund ..., von Rudolph, der im Oktober schrieb. – Seine Voraussage des Kriegsendes in 3 Monaten müsste nun allmählich in Erfüllung gehen, wenn er zu den großen Propheten gezählt zu werden verdienen würde! (30.12.1944, Glatz) Manche Sendungen des Generalvikariats gehen zur Tarnung über Privatadressen. Auch möchte ich ... danken für die Schriften, die Euer Gnaden mir durch meine Mutter zugehen ließen. (stud. Hoffmann; Weihnachten 1942, Westen) Ein Urlauber aus Glatz brachte mir die dicke Feldpostsendung aus dem Glatzer Pfarrhaus mit. Mit großer Freude habe ich mich über den Inhalt hergemacht. (Beschorner, 16.12.1943, Südukraine, vermisst 1944) Über die Zahl der eingezogenen Grafschafter Theologen, die aus der Feldpost bekannt sind, gibt Tabelle 1 Auskunft. (ohne Ordensgeistliche) Nur jeder zweite Kaplan übersteht den Krieg lebend, meistens mit schweren Verwundungen. Als letzter der ehemaligen Priestersoldaten stirbt am 31. Mai 2005 Pfarrer i. R. Josef Göbel (*1913) in Sande/Oldenburg, leider wenige Tage vor einem geplanten Gespräch über dieses Thema. Er war vor dem Kriegsdienst in Alt-Wilmsdorf tätig. Theologen Kapläne Theologiestudenten
Anzahl 15 11
davon gefallen 6 5, soweit bekannt, vermutl. mehr
in v. H. 40% 45%
Abb. 2: Eingezogene Theologen aus der Grafschaft Glatz (ohne Ordensgeistliche)
Eingezogen werden von Beginn des Krieges an die Theologiestudenten, und zwar zu allen Wehrmachtsteilen. Sie erreichen auch Offiziersränge, doch mindestens jeder Zweite erleidet den Soldatentod. Genaue Zahlen sind unbekannt. Die Studenten halten mit Kartengrüßen und kurzen Briefen Kontakt zum Generalvikariat, das sie in seine Informationsarbeit einschließt. Dass die Aufnahme eines Theologiestudiums in der NS-Zeit Mut verlangt, versteht sich von selbst. Dass Ernst-Günther Mann fiel, hörtet Ihr wohl († 4.7.41, war nach dem 8. Semester). Auch in Klemens Stenzel, Glatz, († 22.4.41) und Max Ullmann ... beklagen wir zwei prächtige Jungen, von denen man mit Recht hoffen konnte, dass sie Theol.[ogen] werden würden.“ (Buchmann, 26.9.1941, Glatz) Stud. theol. Hoffmann schreibt: Der Krieg verzögert die Erreichung meines Berufsziels immer mehr ... Vorläufig nimmt mich der Herrgott noch in seine hohe Schule. Gern will ich darin aushalten. (4.10.1941, Ostfront), und etwas später: Euer Gnaden fragen ... an, wie ich über meine Zukunft denke. Soweit es in meinen Kräften steht, halte ich an meinem Berufsziel fest. (Gründonnerstag 1942, Ostfront) ... ich ... spreche trotz allem Schweren ... die Hoffnung aus, noch einmal am Wecken des göttlichen Lebens in der Heimat an bescheidenem Platz mitarbeiten zu dürfen.“ (stud. theol. Heinze, 10.4.1943, Ostfront, gefallen am 15.7.1944 in Frankreich) Dieser Gewissheit stehen in anderen Fällen auch Zweifel entgegen: Doch das [Gebet] fällt mir jetzt ... schwer, schreibt ein anderer Theologiestudent, weil die Welt zu sehr lockt ... und diese ... Lockungen ... heischen ihr Recht. (10.6.1943, Döberitz) Den Generalvikar scheinen diese Zeilen zu irritieren, er fürchtet wohl die Abwendung des Kandidaten vom bisherigen Berufsziel.
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Lediglich zwei der aus der Korrespondenz bekannten Studenten, Felix Hoffmann und Theo Hubrich, werden nach dem Krieg tatsächlich Priester, Hoffmann wirkt als Pfarrer in Altheim, Kreis Horb, letzterer als Bischof in Magdeburg und Schwerin. Die anderen sind gefallen oder haben sich beruflich anders orientiert. Die Kapläne rekrutiert die Wehrmacht ab 1941, also im Rahmen des Russlandfeldzugs, und Buchmann teilt den bereits eingezogenen lieben Confratres in seinem ersten Brief vom 16. März 1941 resigniert mit: Und es scheint, dass demnächst auch andere [von Euch] hinterherziehen werden. So stehen wir hier machtlos und denken halt, dass auch dies irgendwie für Eure spätere Seelsorgtätigkeit ... zum Segen sein wird. Schon im zweiten Brief vom 22. April 1941 wird er konkreter, denn dort heißt es: Dann ist bereits 1/3 aller Kapläne unterwegs! Und die H. H. Pfarrer seufzen! Und an anderer Stelle: Zu den ... drei Priestern ist nun auch noch Glowik dazugeeilt. Damit ist in Ludw. [Ludwigsdorf] wirkliche seelsorgl. Katastrophe entstanden. Wie soll das enden? (2.7.1941, Glatz) Doch es gibt zeitliche Ausnahmen. Josef Herden, noch nicht Kaplan, muss schon am 10. März 1940, einen Tag nach seiner Priesterweihe in Fulda und sofort nach der Primiz, am frühen Morgen, in die Kasseler Sanitätskaserne einrücken, wo man ihm mit Absicht die niedrigsten Arbeiten zuweist, um ihn zu demütigen.7 Er fällt 1944 in Russland. Adolf Jaschke, Pfarradministrator in Neuwaltersdorf, vorher Kreisvikar in Grenzeck, den die Gestapo wegen intensiver Jugendarbeit schon mehrfach verhört und zweimal für längere Zeit inhaftiert hatte, soll sich 1942 als einziger freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet haben, um dem Schicksal seines Mitbruders Gerhard Hirschfelder zu entgehen, der 1941 nach Dachau deportiert wurde und dort 1942 umkam.8 Die Wehrmacht bot Schutz vor solcher Verfolgung. Jaschke äußert sich in seinen Briefen dazu nicht. Aber die Mitbrüder wissen darum, und auch Hirschfelders Schicksal wird in der Feldpost mehrfach vorsichtig angesprochen: Gott sei Dank, dass Kaplan Jaschke wieder nach Rengersdorf zurück ist.[aus dem Gefängnis] Albendorfer berichten mir von Kaplan Hirschfelder. Hoffentlich hat sich inzwischen alles zum Besten gewendet. (Rummler, 20.8.1941, Drachenbronn, gefallen am 17.7.1942 in Russland) Wie ich hörte, hat Hirschfelder seinen Wohnsitz in Glatz aufgeschlagen. (Friemel, 7.9.1941, Ostfront) Gemeint ist das Glatzer Gefängnis. Wie ich hörte, ist Jaschke vorübergehend eingesperrt worden und ebenso Hirschfelder. Hoffentlich hört man mit solchen Methoden bald mal auf. (Rudolph, 17.9.1941, Warschau) Erstaunt war ich, dass auch Adolf Jaschke den grauen Rock angezogen hat. (Friemel, 30.7.1942, Ostfront) 7
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Christoph, L. (Hg.): Sie gehören zu uns, S. 54f. – Herdens Bitte um einen kurzen Aufschub für die Primiz wurde abgelehnt. Er hatte keine Gelegenheit mehr, eine Kaplanstelle in der Grafschaft Glatz anzutreten. v. Hehl/Kösters: Priester unter Hitlers Terror, 1984, S. 1696f., und Buchmann: A. Jaschke, in: Jung (Hg.): Sie gehören zu uns, S. 31f., sowie Stephan: Gewissen.
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Mit Bedauern und Trauer hörte ich von Rummler und Hirschf.[elder]! Sie haben es überstanden. Manchmal hat es hier Stunden (der Strapazen und Müdigkeit), wo sich jeder dasselbe ... wünscht. (Bartsch, 6.10.1942, Kaukasus) Die eingezogenen Kapläne entstammen den Geburtsjahrgängen 1906 bis 1915, sind demnach bei Antritt des Wehrdienstes 26 bis 35 Jahre alt. Die Wehrmacht setzt sie konkordatsgemäß im Sanitätsdienst als Krankenträger, Sanitätssoldaten, Sanitätsgefreite und in einem Fall auch als Sanitätsfeldwebel bei der kämpfenden Truppe, auf Verbandsplätzen hinter der Front und in Lazaretten ein, anfangs sämtlich an der Ostfront, nach Ausheilung von Verwundungen aber auch an anderen Stellen. Dabei teilen sie alle Entbehrungen und Strapazen der übrigen Soldaten, und ihr Blutzoll ist entsprechend hoch. Habt Ihr gehört, dass Glowik ... seit Ende Dezember 42 vermisst ist? ... .dass er aber nicht bei den Stalingradkämpfern ... war. Norbert Bartsch ist am linken Oberarm verwundet und liegt in Saporoshje [Ukraine] ... Fleischhauer wurde nach Bad Landeck [Grafschaft Glatz], Reserve-Kur-Lazarett, überführt, Roter-Bernhard liegt mit schweren Erfrierungen ... in Litzmannstadt [Lodz] ... Rudolph ... hatte ... eine Herzerweiterung, die ihn ... in Riga ins Lazarett brachte. – So stehen die Aktien, – was soll da noch werden? Wie soll das enden? So Buchmann am 10. März 1943, und am 30. Dezember 1944, vier Monate vor Kriegsende, schreibt er: Mit Schrecken beobachte ich, dass Euer immer weniger werden, – nachdem Rummler und Herden nach Walhalla zogen, Glowik, der gute, sich im Osten verlor, wird nunmehr Göbel-Josef als vermisst gemeldet, gestern kam die letzte Sendung von Gerh. Beschorner zurück als unzustellbar und von Gruner-Johannes fehlt auch schon seit Monaten jedes Lebenszeichen! (Buchmann, 30.12.1944) Wie sich die aufgefundene Feldpost, darunter auch kurze Kartengrüße, über die einzelnen Kriegsjahre verteilt, zeigt Abb. 3. Der Postverkehr setzt 1941 plötzlich ein und läuft 1945 wegen des Zusammenbruchs der Fronten und der Kapitulation aus. Kriegsgefangenenpost empfängt das Generalvikariat nicht mehr. Der Höhepunkt der Korrespondenz fällt ins Jahr 1942, als sich die Wehrmacht noch überall auf dem Vormarsch befindet. In der Regel wird eine gepflegte Sprache verwendet, oft lassen sich aber auch Eile und ungünstige Schreibbedingungen, vor allem im Laufe des Rückzugs, erkennen, die sich negativ auf Stil und Interpunktion auswirken. Bitte Euer Gnaden um Entschuldigung [wegen] der Fehler in Schrift und Form. Der Raum, in dem ich schreibe, ist wenig geeignet dazu. Wir liegen zu 17 Mann darin, ... eine kümmerliche Petroleumlampe steht auf dem „Tisch“, der nur ein Bein hat. Am anderen Ende wird gereizt: 18, 20 ... Grand, Solo. Und neben mir zankt ein Betrunkener mit einem anderen ... (Hauck, 5.1.1944, Ukraine) Zwei der Priester, Göbel und Herden, und drei der Studenten, Mann, Stenzel und Ullmann, scheinen weder Brief noch Karte geschrieben zu haben, vielleicht, weil sie schon früh fallen oder weil die Betreffenden während des Urlaubs im Generalvikariat von ihren Erlebnissen erzählen können. Eure Nachrichten freuen uns alle im einzelnen sehr ... Wir lesen sie zumeist in der Glatzer Runde vor ..., schreibt Buchmann den lieben Priestern draußen allesamt am 26. September 1941. Und in seinem sechsten Brief vom 18. November 1941 teilt er mit: Vielen Dank für Eure Nachrichten, die wir begierig aufnahmen. Denn in Euren
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Nachrichten spiegelt sich doch jedes Mal das große Geschehen, wie es ein jeder ganz persönlich und individuell aufnimmt und zu bestehen versucht ... Siegmund war unlängst auf Urlaub hier, er stürzte sich gierig auf Eure Feldpostbriefe, die nunmehr allmählich bald zu beachtlichen Bergen anwachsen. Am Ende des Krieges sah das schon anders aus: Eure Nachrichten laufen leider spärlich ein ... (27.9.1944, Glatz) Jahr 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 Zus.
Briefe des Generalvikariats 0 0 10 10 10 6 0 36
Anzahl aller Feldpostbriefe 1 0 23 36 30 16 2 108
Feldpost der Kapläne 0 0 17 27 23 11 2 80
Feldpost der Theologiestudenten 1 0 6 9 7 5 0 28
Abb 3: Verteilung der Feldpost auf die einzelnen Kriegsjahre
Im Weiteren soll ein Überblick über das gegeben werden, was die Kapläne von ihrem Militäreinsatz berichten. Dabei überschneidet sich manches, auch ist zu bedenken, das die Feldpost mehrfach gefiltert ist, denn 1. sind es besondere Soldaten, nämlich Geistliche, die Briefe nicht an Verwandte, sondern an ihren Vorgesetzten richten und darin spezielle Themen anschneiden und 2. haben fast alle Kaplänen in ihren Gemeinden bereits gefährliche Bekanntschaft mit der Gestapo gemacht.9 Sie sind wegen der Zensur vorsichtig in ihren Äußerungen, und 3. sprechen sie im Urlaub persönlich im Generalvikariat vor, wo sie ausführlich und zensurfrei unter vier Augen erzählen, was sie nicht schreiben können. Hierzu finden sich in Buchmanns Briefen verschiedentlich Hinweise, z. B.: Josef Göbel ist hierselbst in Glatz eingetroffen, allerdings nicht auf Urlaub, sondern im Lazarett ... Er hat interessant erzählt; umso deutlicher können wir uns vorstellen, wie es Euch draußen geht und – bei der Ausbildung gegangen ist! (31.1.1942, Glatz) In einem Brief heißt es: Ich werde mir erlauben, später Euer Gnaden Näheres zu berichten! (Roter, 1.8.1944, Saalow bei Zossen) 1944 werden die persönlichen Kontakte weniger: ... höchstens kommt mal einer im Urlaub schnell hereingeschneit ... (14.2.1944) Trotzdem dürfte das Glatzer Generalvikariat gut über die Situation auf dem östlichen Kriegsschauplatz informiert gewesen sein. 9
Heinsch: Priester. Der Leiter der Jesuitenniederlassung in Mittelsteine wurde im Mai 1941 verhaftet. Der tiefere Grund dafür dürfte ... gewesen sein, dass P. Pries mit seinen Novizen, die nun Soldaten waren, in regem Briefwechsel stand. (S. 285) Nach Heinsch löste man die Mittelsteiner Jesuitenniederlassung am 15.4.1941 auf. (S. 285). Jesuiten wurden auch als wehrunwürdig aus der Wehrmacht entlassen
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Bei den Urlaubsbesuchen im Generalvikariat muss es wegen der Zensur zu Absprachen über Themen10 gekommen sein, die in der Feldpost nicht behandelt werden sollten, denn es fällt auf, dass Regimekritisches fast ganz fehlt. Die Priestersoldaten sind über das Schicksal Hirschfelders unterrichtet, sie kennen die Predigten des Münsteraner Bischofs von Galen, sie interessieren sich für Heeresberichte, sie erwähnen jedoch niemals den Prozess gegen ihren Vorgesetzten. Niemand geht auch auf den Fehlschlag in Afrika, die Invasion an der Kanalküste, auf das Attentat auf Hitler oder auf die schweren Zerstörungen in deutschen Städten durch Bomben ein, von denen ja die Kameraden und Verwundeten an der Front in großer Sorge berichteten: Im Übrigen darf ich hier vielen Kameraden zur Seite stehen, die dauernd unruhige Nachrichten aus ihrer Heimat erhalten. (Roter, 1.8.1944, Saalow bei Zossen – gemeint ist wohl der Bombenkrieg) Das Stalingraddesaster wird nur beiläufig gestreift, das Partisanenproblem vorsichtig angedeutet, obwohl es die Ostfrontsoldaten zusätzlich bedroht. Der Zensurstift ist in der Feldpost freilich nur einmal sicher nachweisbar. In einem Brief von 1942 wurde ein Ortsname zweimal gestrichen, im selben Brief an anderer Stelle aber übersehen. Das beweist, dass die Zensur nur Stichproben genommen und flüchtig gearbeitet hat. Vorher wissen konnte das aber niemand.
Die Ausbildung in Drachenbronn Die infanteristische und die Sanitätsausbildung fast aller Glatzer Kapläne erfolgt in Drachenbronn im Elsass [bei Weissenburg]. Dort lernen die Geistlichen das Militär kennen, und dort gewöhnen sie sich rasch an die fremde Welt, die sie mehrheitlich zwar als anstrengend, doch offenbar nicht als feindlich gesinnt erfahren. Verständnisvolle Ausbilder sind nicht selten, und in Drachenbronn treffen sie viele Mitbrüder, wie z. B. Rudolph schreibt: In Drachenbronn traf ich auch Kapl. Hentschel u. Fleischhauer sowie Rummler. (8.5.1942, Ilmensee) Der Jesuit Ernst Behlau, Mittelsteine, den auch Kaplan Rummler in seinem Drachenbronner Brief vom 20. August 1941 erwähnt, berichtet hingegen von der Einberufung zur berüchtigten 1. Rekrutenkompanie im Lager Drachenbronn/Elsass.11 Hören wir dazu die Glatzer Weltgeistlichen: Heute ist die 1. Woche Dienst vorüber; der 1. Komp. war es gelungen, ... den Gottesdienst zu besuchen ... Während der heutigen Messe konnten 2 von 30 Priestern zelebrieren. Ich spielte die Orgel, ... man ist den ganzen Tag auf den Beinen, dazu 40 Mann im Zimmer ... Am 1.3. kommen wir nach Drachenbronn, 30 km nördlich von Oberhofen ... [bei Hagenau] Von 1901 bis 1921 sind die Jahrgänge in unser 1. Komp., 120 Mann etwa, vielen fällt es schwer, es müht sich aber jeder, ... herrlich, immer alles 10
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ebd., S. 280f. Unabhängig vom Prozess gegen Dr. Monse musste das Generalvikariat immer mit einer Durchsuchung der Amtsräume rechnen, so wie es am 23.11.1935 geschah. Akten wurden dabei beschlagnahmt. Dittert, der Vorgänger Monses, kam unter Hausarrest und Generalvikariatssekretär Christoph wurde verhaftet. Man hatte 1935 Geheimnisverrat an Prag unterstellt. Es gab also gute Gründe zur Vorsicht. v. Hehl/Kösters: Priester unter Hitlers Terror, S. 1693.
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ist „Dienst“, abends 10 h ist Dienst: „Schlafen.“ Die Verpflegung ist reichlich ... nur eines schmerzt vorerst: dass man noch nicht zelebrieren kann ... (Bartsch, 16.2.1941 aus Oberhofen) Heute bin ich 14 Tage hier im Lager ... Unseren Sammeltransport führte ein Unteroffizier Daumann, gebürtig in Schwenz [bei Glatz], ehemaliger ND`er12. Ein feiner Mann ... Im ganzen Lager sind sicher 50 Priester ... In meiner Stube sind wir 6 Priester unter 16 Mann ... Ich denke schon, dass unser Einfluss etwas ausmacht. Ich habe noch nie etwas Anstößiges gehört ... Die Gruppe ... hat einen sehr feinen Unteroffizier bekommen, einen Mediziner ... die Umstellung von der geistigen auf die körperliche Beschäftigung war nicht ganz leicht, aber es geht alles. Sehr fehlt mir die tägliche Hl. Messe und die Seelsorge. (Friemel, 27.2.1941 aus Oberhofen) [Heute] ... will ich...endlich aus meinem Soldatenleben ... [berichten]. Wir begannen vor 13 Wochen mit über 200 Mann ... unsere Ausbildungszeit. Bisweilen war der Dienst recht anstrengend, aber wir Geistliche sind wohl alle ohne große Beschwerden mitgekommen. Wir waren gegen 25 Geistliche im feldgrauen Rock ... Auch ich erhielt heut vor 3 Wochen den Marschbefehl zur 8. Panzerdivision ... Da kam eine halbe Stunde [vor Abfahrt] die Meldung, dass ich dableiben könne und ... in das Musikkorps komme ... Jede Woche haben wir ... im Lager Platzkonzert und bisweilen ... in Ausflugslokalen Militärkonzert ... Möglichkeit zum Zelebrieren habe ich jeden Sonntag. In der letzten Zeit bin ich meistens in Lembach, wo ich vergangenen Festtag Maria Himmelfahrt das Hochamt hielt. Meistens sind wir eingeladen bei Gläubigen der Gemeinde, die uns herzlich u. gut bewirten ... Gemütlich und anregend sind auch die Stunden im Lembacher Pfarrhaus,13 wo sich meistens ... zwei Unterärzte aus Drachenbronn noch einfinden ... (Rummler, 20.8.1941 aus Drachenbronn, gefallen am 17.7.1942, Russland) Von Troppau aus, Zwischenstation für einige Priestersanitäter, blickt einer auf die Ausbildung zurück: Die Ausbildung ist nun glücklich überstanden. Es war manchmal nicht ganz leicht, aber das Zusammensein mit bekannten Konfratres brachte auch viel Freude. Das Schönste war, dass wir nach den ersten vier Wochen am Sonntag zelebrieren durften ... Palmsonntag verlebte ich mit Kaplan Hauck in Straßburg … (Friemel, 22.4.1941)
An der Front Die Äußerungen über das Kriegsgeschehen, die Zerstörungen und Entbehrungen sind vielfältig und beanspruchen naturgemäß einen großen Raum in der Feldpost. Sie geben einen Einblick in das ganze Ausmaß der Schrecklichkeit dieses verbrecherischen Krieges und in seine wahrlich rücksichtslose und menschenverachtende Führung. Es ist schier unvorstellbar, welche Opfer er auf allen Seiten verlangt. Die Priestersoldaten sind geschockt, sie beschreiben, was sie sehen und durchmachen. Doch nehmen sie den Militärdienst als Zeit der Prüfung hin, und zwar mit einer Gelassenheit, die erstaunt und in einem tiefen Glauben an Gottes Plan und Fügung 12 13
ND = „Neudeutschland“, Bund der studierenden kath. Jugend. Mehrere Briefe an das dortige Pfarrhaus mit der Bitte, die Recherche per Durchsicht der Pfarrchronik auf entsprechende Eintragungen zu unterstützen, blieben unbeantwortet.
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wurzelt. Natürlich ist damit auch die Einsicht in die eigene Machtlosigkeit verbunden, keinesfalls aber Fatalismus. Denn die eingezogenen Kapläne erleiden die Geschehnisse nicht nur, sondern beteiligen sich aus Überzeugung wie Samariter aktiv an der Versorgung der Verwundeten, die sich gut mit dem Priestersein vereinbaren lässt: Seit 4 Wochen bin ich nun schon im östlichen Einsatz ... Vor 4 Stunden habe ich den ersten Bombenangriff erlebt ... Es gab 10 Tote ... Es ist ein furchtbarer Krieg, der Krieg im Reiche der Hölle ... 3 Tage lang bin ich ... auf einem LKW gefahren, noch zittern mir vor Anstrengung die Hände. Es ging vorbei an manchem deutschen Heldengrab. Oft waren die Toten noch nicht beerdigt, lagen halbverbrannt in den Tanks. Ein furchtbarer Anblick. (Hauck, 30.7.1941, Ostfront) Überall Spuren des Krieges. Verbrannte Tanks, abgeschossene Flugzeuge, in die Luft gesprengte Munitionszüge. Bild der Zerstörung ... Arbeit gibt es auch genug. Nebenher Nachtwachen bei den Verwundeten. Oft unter Flak- und Bombenmusik. (Friemel, 7.9.1941, Ostfront) Während des Ostfeldzugs tue ich wieder Dienst als Sanitäter. Verwundeten Kameraden rechtzeitige Hilfe bringen zu können, das ist ... eine recht schöne u. zufriedenstellende Aufgabe ... Diese Gedanken u. das Gebet u. die Opfer der Heimat geben uns Soldaten immer wieder Kraft u. Mut zu neuem Einsatz. (stud. Hoffmann, 4.10.1941, Ostfront) Als wir letzt mehrere Tage in schwerste Gefahr hineingerieten ... östlich von Kiew in der großen Schlacht, zeigte es sich, wie in der Not so Manchem Gott und [die] Ewigkeit deutlicher vor Augen trat … (Beschorner, 25.10.1941, Ukraine, vermisst August 1944) .... Ich bedauere oft die Landser, die von Rostow bis hierher kommen zur Entlausung, so [nach] 14 Tagen in Erdlöchern, vielleicht nur überdacht vom eigenen Panzer, im feindl. Beschuss, so dass sie den ganzen Tag das Loch nicht verlassen können u. der Urin in Büchsen hinausgeschleudert wird! Man sieht es denen an! Ich glaub schon, ein Krieg mit Frankreich ist [dagegen] ein Spaziergang ... Und doch frohe Gesichter! (Bartsch, 14.11.1941, Ukraine) „Vom ... Krieg spürt man hier so gut wie nichts ... Erschüttert liest man immer wieder Nachrichten von Gefallenen, so auch von unserem Ernst-Günter Mann. Möge doch der Herrgott die Zeit der Prüfung abkürzen und uns seinen Frieden schenken!“ (Siegmund, 4.12.1941, Frankreich, gefallen an der Ostfront) Bald ist ein Jahr vergangen, dass ich zu den Preußen kam. Ein Jahr mit viel Neuartigem und auch Schwerem. Aber trotz allem auch ein Jahr, für das ich dem Herrgott danken muss. Der Krieg lehrt ... wieder manches schätzen, was man vielleicht in dem Wohlbehütetsein eines Kaplanslebens in der Heimat übersehen konnte. So hat alles sein Gutes. Auch dafür muss ich Gott danken, dass ich noch meine gesunden Glieder und das Leben habe. Es könnte gewiss auch anders sein. (Friemel, 15.12.1941, Ostfront) Ich bin gerade bei der 1. Nachtwache! Ich arbeite freiwillig auf Station und habe ein Zimmer mit 16 Verwundeten als Pfleger! Man lernt viel dabei u. darüber freue ich mich auch! (Bartsch, 2.1.1942, Ukraine) Seit Anfang Dezember ist bei uns im Lazarett wieder sehr viel zu tun ... Vorgestern wurden 50 Schwerverletzte eingeliefert. Zwischen Lemberg und Berditschew fuhr ein
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Güterzug in die letzten Wagen eines Urlauberzuges ... 9 Patienten sind schon tot. – Auch viele Erfrierungen kommen vor. Bei einem Nachtmarsch bei 30° Kälte verlor ein Marschbatl.[Bataillon] 30 Mann durch den Frost. Die Männer kamen aus Südfrankreich, wo sie 30° Hitze gehabt hatten. (Gruner, 16.1.1942, Ukraine, vermisst Ende 1942, gestorben in russischer Gefangenschaft am 31.12.1945) Am 1. Feiertage ... wurde gepackt und verladen, an St. Stephanus [2.Weihnachtstag] ging es hinaus in den russischen Winter, eine lange Wagenkolonne (wir sind bespannte Sanitätskompanie), wir zu Fuß neben den Fahrzeugen. 350 km sind wir so marschiert in 10 Tagen ohne Ruhetag bei 30 – 40° Kälte, einmal waren’s 45°, und eisigem Schneegestöber. Die meisten haben sich was erfroren. Ich bin gut durchgekommen. Jetzt liegen wir ... südlich von Kursk, Hauptverbandsplatz mit großem Betrieb, über 500 Verwundete u. Erfrorene in den paar Tagen. Mein Dienst ist ... Leitungsbau draußen im Schnee. (Beschorner, 23.1.1942, Kursk, vermisst August 1944, Moldau) Bis jetzt habe ich alle Strapazen des Russlandfeldzuges glücklich überstanden. Als ich ... von Drachenbronn ... nach dem Osten kam, war ich zuerst bei der Infanterie, die inzwischen fast aufgerieben ist. Von da wurde ich zum Hauptverbandsplatz versetzt, wo ich das ganze Elend des Krieges und der strengen Winterkälte bis 40 Grad miterlebt habe. Kürzlich bin ich mitten aus dem Einsatz heraus etwa 50 km zurück gezogen worden, da seit dem 1. IX. 41 mein noch einziger Bruder als Leutnant im Osten vermisst gemeldet wird. So bin ich von 4 Brüdern noch der einzige überlebende Sohn meiner Mutter. Anfangs fand ich mich ... schwer in meine neue Lage hinein und meinte, jeder ... Laie könnte das Verbinden und die Pflege verwundeter Kameraden genau so gut besorgen. Bald aber merkte ich im Einsatz die besondere gottgewollte Sendung. (Glowik, 20.3.1942, Ostfront, gefallen am 4.12.1942) Wir haben einen überaus strengen Winter hinter uns, der – besonders durch die fürchterlichen Erfrierungen – außerordentlich viel Arbeit brachte. Ich habe viel Leid gesehen. (Friemel, 20.4.1942, Ostfront) Im Winter kam es oft vor, dass Kameraden durch Blutverlust so geschwächt waren, dass nur eine Bluttransfusion das Leben erhalten konnte. Da haben Kriegspfarrer, Sanitätssoldaten und Theologen gern ihr Herzblut geopfert ... Bei einem Überfall auf Feodosia (Krim) konnte ein Lazarett nicht alle Verwundeten retten. Da erbot sich ein Priestersanitätssoldat, bei den Verwundeten zu bleiben. Als die Deutschen zurückkamen, fanden sie diesen Priestersoldaten mit eingeschlagenem Schädel inmitten seiner ermordeten Kameraden. (Hauck, 10.5.1942, Ukraine) Das Rgt.[Regiment] ist seit Januar im Einsatz und hat ziemliche Verluste ... Der Russe kämpft hier [Waldai-Höhen] mit großer Zähigkeit, und infolgedessen ist auch der Kampf ziemlich erbittert. Der jetzige Kompaniechef ist Vikar ... (Rudolph, 28.5.1942, Ilmensee) Jüngst äußerte eine Frau ... wie ich alles für den Standortgottesdienst fertig mache: Die Deutschen müssten ja siegen, weil sie beten! Nun, aus dem Gegensatz zu Russl. [and] mag dieser Satz gelten ... (Bartsch, 24.6.1942, Ostfront) Schwerste Tage hat mein Btl. [Gebirgsjäger] hinter sich. Über 100 haben wir auf der Höhe beerdigt, noch liegen eine Menge vor der H.K.L. [Hauptkampflinie]. Von einer Kp. (Gefechtskomp.) als Beispiel ist ein Mann übrig ... 8 mal am Tag griff der
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Feind an, 8 mal ging es zurück und wieder vor ... Nun hausen wir wie immer im Berge, etwa wie der Heidelberg bei Hohndorf [Grafschaft Glatz], im Splitterloch ... (ders., 15.11.1942, Kaukasus) ... Sturmstimmung. Der Russe war uns heute auf den Fersen ... Die Nacht hält uns darum in Alarmbereitschaft, während ich in der gestrigen Nacht Verwundete von vorn per Krankenkraftwagen holte. Dazu hatte ich mich allerdings freiwillig gemeldet ... (Hentschel, 28.11.1942, Ostfront) Infolge des Durchbruchs der Russen mussten im bedrohten Gebiet die Lazarette geräumt werden ... 150 – 200 Neuaufnahmen gab es täglich. Alle 2 – 3 Tage wurden mehrere Hundert mit Lazarettzügen in die Heimat geschickt. Der Zugang dauert im Augenblick noch unvermindert an ... Viele Verwundete sind noch sehr jung, erst 17 – 18 Jahre ...“ (Gruner, 10.12.1942, Ostfront) ...Geist und Körper werden stetig ... in Bereitschaft gehalten. Das ist für das eroberte Hinterland ebenso nötig wie für den Einsatz an der Front. Der Begriff „Partisanen“ ist ernster zu nehmen, als mancher in der Heimat vermutet. Ich persönlich wurde hier bald zu Anfang der Funkerei zugeteilt ... Nun hoffe ich, der Verwundetenpflege zugeschrieben zu werden, die ich als Erfüllung meines lang gehegten Wunsches begrüßen würde, doch fürchte ich, nicht so leicht von der Strippe loszukommen ... Schließlich ist es eine Sache der inneren Auffassung, dass man überall, wohin man auch befohlen wird ... Gottes Auftrag groß und würdig ausführen darf. (Jaschke, 8.1.1943, Ostfront, Mittelabschnitt) Die Komp. hatte allerhand Ausfälle ... Ich bin froh, hier zu sein u. ... wieder etwas Kultur zu sehen, d. h. ein Bett, ein Dach, Sauberkeit, Läusefrei[heit], dafür leider umso mehr von den bisher unbekannten Wanzen ... Seit 16.12. waren wir in Bewegung nach rückwärts ... Dreckiger konnte es uns in manchen Situationen nicht mehr gehen! Am 7.12. erhielt ich das EK II. (Bartsch, 11.2.1943, nach Rückzug aus dem nördlichen Kaukasusvorland, Kuban-Brückenkopf) Sobald ich ... laufen kann, will ich Antrag stellen zur Verlegung in ein Glatzer Lazarett ... Ich muss nun jeden Tag meinem Herrgott danken, dass alles so glimpflich abgelaufen ist. [beide Füße erfroren!] Neben mir liegt ein Kamerad aus Stalingrad, dem beide Arme und Füße erfroren sind u. amputiert werden. (Roter, 25.2.1943, Lodz) Sechs Wochen stapfe ich jetzt schon wieder durch den russischen Schnee u. Schlamm. Wohl scheint mir der Süden ... gegenüber der Mitte Erleichterungen zu bieten, aber der Krieg ... ist hier so grausam wie an der übrigen Ostfront. Ich bin jetzt in der Operationsgruppe eines San. Chirurg. tätig ... es ist doch eine schöne Aufgabe, Verwundeten erste Hilfe ... zu bringen u. dafür dankbaren Blicken ... zu begegnen. (stud. Hoffmann, 8.4.1943, Charkow) So will ich halt, so lange ich vorn sein muss, in Gottes Namen ... gehen u. verbinden u. nicht „vorübergehen“ [wie der Priester auf dem Weg nach Jericho], denn ... manchmal kostet es Nerven, aus der Deckung herauszugehen ... (Bartsch, 29.9.1943, Südrussland) Seit langem bin ich ... auf Großfahrt durch das weite Land des Ostens: bald frontwärts, bald rückwärts ... Nun sind wir sieben Wochen unterwegs und ebenso lange ohne Post ... Im übrigen haben wir sieben Wochen lang unsere Uniformen weder bei Tag noch bei Nacht vom Leibe bekommen ... Nachts sah man rundum den Feuer-
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schein brennender Dörfer. Zu meiner Befriedigung wurde ich ... zum sanitären Dienst an Hauptverbandsplätzen abkommandiert. Das ist eigentlich das aufgabenreichste Gebiet für den Geistlichen im Feld. (Jaschke, 20.10.1943, Gomel) Ich kann den Herrgott nur herzlich bitten, dass er mich alles gesund überstehen lässt, damit ich einmal die Heimat wiedersehe und den Beruf, der mir über allem am Herzen liegt, ausüben darf. Schwere Tage liegen hinter mir. Die Strapazen, wie sie wohl nur der Infanterist kennt, habe ich voll an mir erfahren. Angriff, Verteidigung, tagelanges Liegen und Nächtigen im Freien bei Kälte und ständig feuchten Füßen ohne warmes Essen und Trinken. Dazu die seelische Belastung durch all die furchtbaren Erlebnisse des Krieges ... Aber bei allem habe ich immer die Hilfe Gottes erfahren ... Ohne sie wäre ich nicht durchgekommen. (Friemel, 2.4.1944, Ostfront) Der Schrecken vor einer russ. Gefangenschaft ... ist so langsam verschwunden ... Die Stimmung ist jedenfalls so! (Bartsch, 18.5.1944, Rumänien) Am 6.6. ... wurde ich von Panzergranatensplittern verwundet [zum 3. Mal!] ... (ders., 12.7.1944, Prossnitz/Olmütz) Wir sind vom Ernst und der ganzen Schwere der augenblicklichen Lage fest überzeugt – und doch sehen wir mit ruhiger Gelassenheit in die Zukunft, auch wenn die Opfer noch so groß sind! Wissen wir uns doch in der sicheren Geborgenheit unseres gütigen Vatergottes. (Roter, 1.8.1944, Saalow/Zossen) Von Mitte Mai war ich dauernd im Einsatz und bin es jetzt noch ... An einem Sonntag war ich in [Lemberg] ... mit anderen von Russen eingeschlossen. Für den Abtransport von 3 Verwundeten war ich verantwortlich. Im Schutz der Nacht konnten wir uns durchschlagen ... Die Freude, als wir wieder auf deutsche Kameraden stießen! Gottlob haben wir die Verwundeten gut durchgebracht ... Gegenwärtig hause ich schon seit 3 Wochen im Walde und schlafe in einem Erdloch ... Es ist wohl .. an der Zeit, sich innerlich von allem zu lösen, was einem an äußerem Besitz lieb und teuer ist. Man weiß ja nicht, welche Entwicklung die Dinge nehmen werden. Jedenfalls ist der Ernst des Krieges auch unserer lieben Heimat näher gerückt. (Friemel, 15.9.1944, Galizien) Die Auszüge spiegeln den Schrecken dieses furchtbaren Krieges, den fast alle Theologen von Anfang an ablehnen. 1944 sind die frohen Gesichter Vergangenheit, denn inzwischen fürchten viele Soldaten die blutigen Kämpfe mehr als eine Gefangenschaft in Russland, die noch einmal viele Menschenleben kosten wird.
Das Verhältnis zu den Kameraden Oft befassen sich die Theologen in ihren Briefen mit den Kameraden und mit Beobachtungen zum religiösen Leben in der Truppe. Die Priestersoldaten lernen eine Männerwelt und eine Umgebung kennen, die nicht katholisch geprägt ist, wie die vertraute in der Grafschaft. Sie kommen dabei auch erstmals in engen Kontakt zu evangelischen Geistlichen und lernen sie schätzen. Sie gewinnen an Lebenserfahrung und Toleranz. Die Eindrücke sind sehr unterschiedlich. In der Regel werden die Soldatenpriester trotz des eher antireligiösen Klimas in der Truppe geachtet. Die Anerkennung der Kameraden erringen sie durch Tapferkeit und Aufopferung, vielleicht auch durch ihre
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Gelassenheit, die Ergebnis ihres Gottesglaubens ist. Im „totalen“ Krieg des Ostens stehen sie für die alten Werte, nach denen sich viele Soldaten sehnen. Und so rühmen manche Briefschreiber die gute Kameradschaft in der Truppe. Dort entsteht nicht selten ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Männern, die schier unmenschliche Strapazen miteinander teilen. Die Kompanie wird dabei für manche Priester zur Ersatzgemeinde, mit der sie bei Gelegenheit die Messe feiern. Wir Geistlichen stehen bei den Vorgesetzten wie auch bei den Kameraden in einem nicht schlechten Ansehen, hoffentlich bleibt das auch [so] für die Zeit nach dem Kriege ... (Rudolph, 14.7.1941, Drachenbronn) Im Großen und Ganzen ist unsere Kompanie Gott und dem Priester nicht fremd, nein, gottesfürchtige und aufrechte Männer haben bestimmenden Einfluss ... Als Kamerad im grauen Rock lernt man den Menschen besser kennen, als wenn zu große Ehrfurcht Schranken baut von Mensch zu Mensch. (Beschorner, 25.10.1941, Ukraine) Die Führung ist uns gegenüber recht loyal eingestellt. So sagte mir mein Kompanieführer, ein kath. Oberarzt, ich solle die Tradition der ausgebildeten Geistlichen fortführen. (Roter, 30.11.1941, Schweidnitz) Zunächst e. Kompanie-Weihnachtsfeier mit allen Offizieren ... [die] uns Theologen übertragen war ... die gute u. herzliche Kameradschaft lässt uns alles Unangenehme vergessen ... (Beschorner, 23.1.1942, Kursk) Der Krieg und der Umgang mit so vielen Kameraden ist ... eine ständige ... Schulung.“ (Glowik, 20.3.1942, Ostfront) So kann ich nur als Kamerad seelsorglich einwirken durch mein Beispiel und Benehmen ... (Hentschel, 5.7.1942, Ostfront) „So viele feine Menschen habe ich kennen gelernt ... (Friemel, 20.4.1942, Ostfront) In unserer Stube, die mit 34 Mann belegt ist, darf ich ... den Stubenältesten vertreten und habe so des öfteren Gelegenheit, das Wort zu ergreifen ... (Jaschke, 16.7.1942, Drachenbronn) Wie dankbar bin ich, dass ich als Priester nicht allein hier stehe, dass ich mit zwei westfälischen Kaplänen und einigen Franziskanerpatres zusammen sein darf ... Eine Freude ist es ... dass in den vordersten Reihen unserer sonntäglichen Gemeinschaft bewährte, tapfere, in der Kompanie angesehene Männer stehen wie der Feldwebel Bartonitschek aus Grenzeck, dem ... das E.K. erster Klasse verliehen wurde, Feldwebel Schindler aus Wünschelburg, Uffz. Blaschke aus Ludwigsdorf [Orte in der Grafschaft Glatz] ... (Beschorner, 27.7.1942, Ostfront, verm.) Im Advent ... hatten wir uns zu schlichten Feiern um den Adventskranz zusammengefunden. Solch eine Stunde ist immer wieder seelischer Kraftquell für das oft harte Soldatenleben ... In unserer Stube stand neben einem schönen Christbaum mit Lichtern aus der Heimat eine Krippe, die das Interesse von Mannschaften und Offizieren fand. Sie wurde uns von der Familie Eppelt gearbeitet ... (Jaschke, 8.1.1943, Ostfront, Mittelabschnitt) Was nun meine eigenen Kameraden anbetrifft ... Es gibt ... viele, die sorglos und uninteressiert in den Tag hineinleben ... die keine anderen Sorgen kennen als Essen und Trinken und Rauchen. (Roter, 8.11.1942, Ostfront) Böswillige findet man selten. Nur viele ... schwache Naturen ... (Hauck, 28.6.1943, Ostfront)
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Aber es gibt auch andere Erfahrungen: ... ich könnte hier bleiben, aber man rät mir ab. Die Vorgesetzten u. der gesamte Zug ist nicht wohlmeinend ... Am hl. Abend holte der Spieß ... aus unserer Mannschaft den Christbaum heraus! Wir waren empört! (Bartsch, 1.2.1941, Ukraine) Und für einige Priestersoldaten hält der Militärapparat Schikanen und Demütigungen wie den Einsatz in der Sanitätsstation eines Frontbordells bereit, die zwar als Gottes Plan und Fügung akzeptiert werden, doch auch zum Nachdenken über die eigenen Möglichkeiten führen: Zur Zeit bin ich abkommandiert in die Sanierstube des Wehrmachtsbordells – das ist freilich nicht angenehm, zumal für unsereinen. Aber ich bin nicht der erste, der es tun muss. Man darf sich natürlich keinerlei Illusionen hingeben, als ob man da seelsorglich irgendeinen Einfluss ausüben könnte ... Man sieht ... wie schwer ... es ist „für Christus Zeugnis zu geben“ ... Wir sind ja gar nicht die Stadt auf dem Berge, sondern ein kleines Häuflein Unentwegter, die darauf bedacht sein müssen, nicht selbst von der großen Masse angesteckt zu werden. (Siegmund, 8.12.1942, Ostfront, dort gefallen)
Urlaub Bei der Urlaubsvergabe rangieren die Geistlichen an letzter Stelle in ihren Einheiten, aber sie beklagen sich darüber nicht. Joseph Buchmann bemerkt in zwei Briefen an alle Mitbrüder: Mittlerweile war Gerhard Beschorner nach 17 Monaten – eine lange Zeit! – auf Urlaub da, – bei einigen von Euch ist es ähnlich lange, – umso eher hoffen wir, Euch mal wieder sehen zu können. (29.11.1942) Hauck hoffte auf Urlaub, Bartsch ebenfalls, – noch aber habe ich von beiden nichts gesehen. (14.2.1944) Die Priestersoldaten liefern die Erklärung dafür: Seit Mitte März fährt unsere Einheit in Urlaub. Wir sind alle nach Punkten eingeteilt. Wir Theologen haben 1 Punkt und fahren zuletzt. Da ich nun wieder der Benjamin bin, werde ich wohl erst im März die Heimat wiedersehen. (Gruner, 16.1.1942, Ukraine, vermisst 1942) Die Sehnsucht nach den lieben Glatzer Bergen wird mit jedem Tag größer. Es gibt ja bei unseren Einheiten Urlaub, aber wir unverheirateten Geistlichen dürfen uns nicht vordrängen und bringen ein Opfer, wenn wir zugunsten verheirateter Kameraden darauf verzichten. (Hauck, 10.5.1942, Ukraine) Auf Urlaub kann ich hier vorn noch immer nicht rechnen. Sollte es aber einmal noch vor Kriegsende werden, dann melde ich mich ... bei Ihnen. (Glowik, 20.3.1942, Ostfront, gefallen am 4.12.1942) Glowik glaubt Anfang 1942 offenbar, wie viele Menschen, dass das Kriegsende nahe sei. Und wünsche mir mal Urlaub! Einmal wird ja auch diese Stunde schlagen. Der Urlaub kann nur ein Traum sein, so schön muss er sein! (Bartsch, 6.10.1942, Kaukasus)
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Auszeichnungen und Beförderungen Glatzer Kapläne werden für Tapferkeit mit Sturm- und Verwundetenabzeichen und mit Eisernen Kreuzen ausgezeichnet, jedoch nur selten befördert. Lediglich einer bringt es bis zum Feldwebel. ... in der 5. u. 6. Woche habe ich eine Sanitätsschule mitgemacht und bin nicht mehr Krankenträger, sondern Sanitätsdienstgrad. (Rudolph, 14.7.1941, Drachenbronn) Ende November wurde ich als Kriegspfarreranwärter eingereicht ... Ich könnte es werden, wenn ich mich als aktiver Wehrmachtspfarrer verpflichtete. Das tue ich natürlich nicht. Da ist mir die Seelsorge in unserer lb. Grafschaft zu lieb. (Friemel, 20.4.1942, Ostfront) Vor 8 Tagen erhielt ich das Verwundetenabzeichen. (Bartsch, 6.10.1942, Kaukasus) ...und erhielt am Sylvester-Abend die Ernennung zum San. Soldaten. (Jaschke, 8.1.1943, Ostfront, Mittelabschnitt) Seit 1.6. bin ich San. O. Gefr.! ... Man musste sich schon dahinterklemmen. (Bartsch 29.9.1943, Südrussland) Ende Januar erhielt ich das Eiserne Kreuz 2. Klasse, weil ich am 8.12.43 Schwerverwundete aus einem Minenfeld bei schwerem Granatfeuer geborgen habe. Für ... [mitgemachte] Sturmangriffe wurde mir ... das Infanteriesturmabzeichen in Silber verliehen. (Friemel, Februar 1944, Galizien) Am 1. Mai wurde ich zum Feldwebel befördert. (derselbe, 16.5.1944, Galizien) Aus diesen Mitteilungen an den Generalvikar spricht durchaus Stolz und militärischer Ehrgeiz wie auch die Bereitschaft zur Eingliederung in die Welt des Militärs, denn die Theologen stehen noch in einer soldatischen Tradition, die vom Ersten Weltkrieg ausging und vom NS-Regime gepflegt wurde. Buchmann begleitet diese Meldungen in seinen Rundbriefen mit distanziertem, kameradschaftlichem Spott, der ihm nicht verübelt wird: Friemel-Erich gratulieren wir hiermit gemeinsam zum Uffz. [Unteroffizier] „Ganz groß“!!!! (30.12.1941) Hauck können wir zum Obergefr.[eiten] gratulieren, – damit steigt er, glaube ich, in den Rang der höheren Offiziere auf?! Wacker! (24.6.1943) Oder: Im übrigen ist er [Josef Göbel] Obergefr.[eiter] geworden, infolge seiner enormen strateg.[ischen] Fähigkeiten ...! (27.9.1944) Der Priestersoldat Adolf Jaschke wurde vor seiner Einberufung für ähnliche Äußerungen wegen Verächtlichmachung der Wehrmacht von der Gestapo über längere Zeit inhaftiert und danach weiter verfolgt.14
Priestertum im Feld In vielen Zusammenhängen klingt in den Briefen die besondere Rolle der Priestersoldaten in der Wehrmacht an. Zwar rangieren sie in der militärischen Hierarchie meist weit unten, doch zeigen die Geistlichen, z. B. im Rahmen von Gottesdiensten, immer wieder – und für alle sichtbar – eine anders ausgerichtete geistige Führerschaft, die 14
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allerdings die Autorität der Offiziere nicht schmälert. Das sichert Aufmerksamkeit, Anerkennung – und manchmal vielleicht auch Gegnerschaft. Vom Selbstverständnis der Priestersoldaten her ist die Feier der Hl. Messe und die Möglichkeit dazu zentrales Thema, das sich wie ein roter Faden von der Ausbildung bis zum Fronteinsatz durch die Feldpost zieht. Aus dem Gottesdienst und dem Bewusstsein ihrer Berufung durch einen lenkenden und gütigen Gott schöpfen die Kapläne Kraft und Mut zum Bestehen auch der schrecklichsten Situationen und zur Annahme und Bewahrung ihrer Sonderstellung. Das erste Mal ist von [Ihren] Kaplänen das Opfer Christi in einer gottlosen Stadt erneuert worden ... in einer kleinen Stube bei zerschossener Tür ... Am Sonntag [war] ein gut besuchter Feldgottesdienst. Es war ergreifend, als mehr als 10 000 Soldaten das „Heilig, heilig ist der Herr“ im Reich der Hölle sangen ... (Hauck, 30.7.1941, Ukraine) Weihnachten werde ich in der Fremde feiern ... Alles Äußere fällt jetzt weg, das Wesentliche bleibt. In der hl. Nacht werden wir Priester auf meiner Stube die hl. Messe feiern. (Friemel, 15.12.1941, Ostfront) Wir sind im Lazarett 10 Confratres, 5 haben ... auf meinem Zimmer die Christnacht gefeiert ... Eine eigenartige Stimmung erfüllte uns; im Hause wurde gelacht und gesungen, aber die wahre Freude und das schönste Lachen fanden wir beim göttl. Kind in der Krippe. (Gruner, 16.1.1942, Ukraine) Weihnachten haben wir ... uns ... angestrengt ..., die Mitternachtsmesse möglichst feierlich zu gestalten ... ein Mediziner hat uns eine „Feldmesse“ komponiert ... Ebenfalls wurden unsere feinen Weihnachtslieder gesungen bei der weltlichen Weihnachtsfeier wie: Stille Nacht ... Es kam ein Engel ... Es ist ein Ros` entsprungen ... Andere Lieder wurden nicht gesungen. Sie finden auch gar keinen Anklang bei den Soldaten. (Hauck, 6.2.1942, Ukraine) Auch am Altare stehe ich ... mehr oder weniger oft. So las ich z. B. meine Weihnachtsmitternachtsmesse in einem Pferdestall. Es sind das stets die kostbarsten Minuten hier draußen im großen Erleben für die Kameraden und für mich. (Glowik, 20.3.1942, Ostfront) Die Heimat hätte sehen sollen, wie begeistert die Landser die Ostertage mitgefeiert haben. Ostersonntag fasste der Kinosaal nicht die Soldaten. Viele Offiziere und ein General bei jedem Gottesdienst. (Friemel, 20.4.1942, Ostfront) Dass ich neben meiner neuerlichen Berufung zum Soldaten auch in vielfacher Weise als Priester tätig sein kann, erfüllt mich immer wieder aufs Neue mit großer Freude. (Jaschke, 8.1.1943, Ostfront, Mittelabschnitt) Wie glücklich war ich selber, als ich am hl. Abend in der Kompaniefeier die Festansprache halten durfte, meinen Kameraden das hl. Weihnachtsgeheimnis näher bringen konnte! (Roter, 1.1.1943, Ostfront) Im Rahmen des Rückzugs, auf Grund allseitiger Feind- und Partisanengefahr (Jaschke, 20.10.1943) wurde es immer schwieriger, Gottesdienste zu feiern und die Messe zu lesen: Der fühlbarste Mangel in der letzten Periode meines Soldatenlebens aber ist, dass ich seit etwa 2 ½ Monaten nicht mehr zelebrieren konnte. In solcher Lage spürt man, wie sehr das ganze Priestersein doch um das heilige Opfer konzentriert ist ... (Jaschke, 20.10.1943, Ostfront, Raum Gomel)
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Denn wir wissen, dass die kommenden Wochen und Monate noch manches Opfer von uns verlangen werden. Aber wir wissen uns auch wohlbehütet und geborgen in der gütigen Vaterhand des großen Gottes. Und das gibt uns große Ruhe und frohe Zuversicht. Darum kann uns nichts kleinmütig machen und uns den frohen Sinn nehmen! (Roter, 1.1.1943, Ostfront)
Beobachtungen in den besetzten Gebieten Beobachtungen über das Martyrium der Zivilbevölkerung fließen an verschiedenen Stellen in die Berichte ein. Friemel schreibt: Als wir durch Polen fuhren, standen kilometerweit bis in den späten Abend hinein Kinder an der Bahnstrecke, die immer riefen: „Bitte Brot, bitte Brot!“ (16.7.1941, Ukraine) Aus Warschau wird nicht direkt über das Ghetto geschrieben, auch nicht aus Lodz, obwohl sich einige Kapläne kurz dort aufgehalten haben. Aber es gibt Andeutungen, die in diese Richtung gehen: „Not und Elend habe ich schon viel gesehen, ohne helfen zu können ... Unser Einheitsführer, [ein protestantischer] Feldapotheker, ist ein sehr christlicher Mann und steht ganz auf unserer Seite ... (Rudolph, 17.9.1941, Warschau) Die Zivilisation vom Paradies der Bauern und Arbeiter lässt viel zu wünschen übrig. Die Häuser gleichen mehr den Pfahlbauten der Steinzeit ... Alles ist nur Holz und Stroh. (Hauck, 30.7.1941, Ostfront) Kilometerweit fuhr der Zug durch die weite Ebene ... An den Haltestellen überall das gleiche Bild. Zerlumpte Kinder und Männer, die gierig nach Zigarrenstummeln suchten. In dieser Gegend ist viel Industrie ... Große Kohlenhalden, Fördertürme, riesige Mietskasernen, in denen die Menschen eng beieinander wohnen. Eine Kirche habe ich nirgendwo gesehen. Die Stadt...hatte einmal 500 000 Einwohner ... Protzenhafte Prunkbauten neben kleinen Elendshütten ... (Friemel, 30.7.1941, Ukraine) Vielleicht interessiert Sie es, etwas aus diesem „paradiesischen“ Lande zu erfahren. Das Land mit seinen ... Weiten und der ewigen Ebene kann schon einen Grafschafter als Freund der Berge niederdrücken. Getreidefelder von unübersehbarer Ausdehnung. Kollektivwirtschaft. Alles einheitlich. Eine öde Gleichmacherei ... Die Dörfer sehen überaus armselig aus. Da ist ja das letzte Grafschafter Gebirgsdorf beinahe ein Musterdorf. Nirgendwo ... eine Kirche ... Es scheint ein Land ohne Freude zu sein, weil es ein Land ohne Gott ist ... Allmählich kehrt die Zivilbevölkerung wieder zurück [in] eine ... zerstörte Heimat ... Aber alles macht den Eindruck, dass die Russen bei ihrem Rückzug die Häuser selbst in Brand gesteckt haben ... (Friemel, 7.9.1941, Ostfront) Diese Gegend ist arm; vom Bad komme ich fast jeden Tag auf den Markt; nur alte Schuhe, zerrissene Kleider, schlechte Tomatensauce, Rüben u. dgl. ... u. vieles hat er [der „Feind“] hier an Weizen verbrannt oder ins Meer geworfen! ... Ich fürchte für den Winter eine arge Hungersnot. Gestern aß ich ... bei einem Ingenieur etwas Brot, ... um die Leute nicht zu kränken, der Weizen war in der Kaffeemühle gemahlen ... Und wenn der weg ist? Keine Kartoffel ... das muss grauenhaft sein! (Bartsch, 14.11.1941, Ukraine) ... das Volk weiß gar nicht, wie arm es ist! Es tut einem leid ... Für unsereinen ist [das] ... etwas Furchtbares! ... Ich lerne mit allem Eifer die russ. Sprache. Eine Qual,
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dass man sich ... nicht verständigen kann! Der Menschenschlag ... hier in der Ukraine ist ein angenehmer ... (Bartsch, 23.4.1942, Ukraine) Zwar mokieren sich einige Priestersoldaten enttäuscht über das Paradies der Bauern und Arbeiter, das sie sich aufgrund idealisierender Literatur oder kommunistischer Propaganda als Errungenschaft des Bolschewismus ganz anders vorgestellt hatten. Doch von Nichtachtung der Russen oder gar einem Herabblicken auf Untermenschen keine Spur! Niemals werden Russen in den Priesterbriefen als Iwans herabgesetzt und nur einmal wird der Gegner als Feind bezeichnet. Eher spricht Mitleid aus den Texten und auch Klage über die kulturelle Öde in der UdSSR. Möglicherweise sind Absprachen mit dem Generalvikariat der Grund dafür, dass sich in den Briefen nichts über die Massenmorde an Juden und anderen Menschen oder über die Massenverschleppungen im Hinterland der Front findet. Oder haben die Theologen nicht erfahren, was die Einsatzkommandos hinter den Linien trieben? Die Frage muss offen bleiben. Vielleicht aber deuten folgende Bemerkungen auf Untaten mancher Mitglieder des Invasionsheeres hin: Erfreulich ist der gute Kern, der in so vielen Männern steckt. Bitte beten Sie für ... uns, dass wir nicht zum Ärgernis werden, dass wir den rechten Weg ... im Christentum und Soldatentum finden. (stud. Hubrich, 19.11.1941, Krim) Mag der Herrgott einem jeden, der guten Willens ist, den Seelenfrieden zum Weihnachtsfest schenken, der notwendig ist, in den schweren Tagen das Gleichgewicht zu bewahren! (stud. Rauch, Uffz., 20.12.1942, Ostfront, verm. 1945) Was unsere Tätigkeit hier anbetrifft, so kann und darf ich wohl nicht allzuviel darüber verlauten lassen ... (Jaschke, 8.1.1943, derzeit Telefonkabelverleger im Mittelabschnitt der Ostfront)
Äußerungen zur religiösen Situation in Russland Die Priestersoldaten sind aufmerksame Zeugen des Zusammenpralls der beiden totalitären Systeme und ihrer Ideologien und registrieren, dass der Bolschewismus brutaler und radikaler gegen das Christentum vorgegangen ist als der Nationalsozialismus, und naturgemäß findet die orthodoxe Kirche größte Aufmerksamkeit bei ihnen. Sie lernen die Ostkirche in Selbstverständnis, Liturgie und Volksfrömmigkeit kennen und auch bewundern. Das sind tiefe Eindrücke, über die sie ausführlich in ihren Briefen an den Generalvikar berichten: Nirgends findet man Kirchen. Und ist eine noch ... aufzufinden, dann ist sie leer und baufällig oder gar ein Trümmerhaufen. Priester gibt es keine hier. Die Leute sind so abgestumpft, dass [sie] weder eine Revolution machen gegen die Sowjets, noch gar selbst zum Neuaufbau der Kirche ... Hand anlegen ... Ich glaubte, die Orthodoxen würden in den befreiten Gebieten im Triumph das Kreuz wieder in ihre Stuben tragen, aber man merkt nichts davon. Die Menschen sind stumm für Leid und Freude. Es ist der Wunsch aller, dass dieser schlimmste Feldzug bald aufhören möge. (Hauck, 30.7.1941, Ostfront) Die Kirchen, die noch in den Städten stehen, sind verwandelt in Turnsäle, Museen ... Das einzig Tröstliche ist, dass viele ihren Herrgott trotz aller Verfolgung nicht vergessen haben ... [bald] machten sich die Leute ... an die Wiederherstellung der Kirchen.
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... Den ganzen Tag ist die Kirche gefüllt von Betern. Allen sieht man die Ergriffenheit an ... Freilich wird es nicht leicht sein, in diesem Land wieder christliches Leben einzuführen ... (Friemel, 7.9.1941, Ostfront) Beispiellos ist hier der Schlamm und erschreckend die Kulturlosigkeit, doch einen Herrgottswinkel hat sich fast jede Kate herübergerettet. (stud. Heinze, 6.11.1941, Ostfront) Der Krieg hat mich in eine Gegend verschlagen, die von der russischen Oberschicht zur Erholung aufgesucht wurde. Heute sind die Kulturhäuser zerstört, die Kirchen aber wurden hier wieder ihrer Bestimmung zugeführt. Den Kindern, die dem Gottesdienst beiwohnen, ist alles neu, sie folgen mit Neugier der Handlung, die für die Erwachsenen etwas lang Erhofftes und Entbehrtes ist ... (stud. Hubrich, 19.11.1941, Krim) Vor 2 Tagen war in unserem Privatquartier ein merkwürdiges Concilium – ein ökumenisches. Der russische Presbyter ... besuchte uns ... Gleichzeitig war ein prot. Kriegspfarrer zu Besuch. Man konnte sich notdürftig unter Zuhilfenahme sämtlicher lat., griech. und russischen Wortbrocken verständigen. Ich habe ihn später noch einmal in seiner Wohnung besucht, weil er uns eingeladen hatte. Er dankte uns Deutschen, dass der Bolschewismus endlich in der Ukraine ein Ende gefunden hat. Allerdings ist die gesamte ukrainische und russische Hierarchie vernichtet, ... ermordet oder verbannt nach Sibirien ... Er selbst hatte 24 Jahre keine ... hl. Messe gefeiert und war ... Arbeiter in einer chemischen Fabrik ... Sein Quartier war überaus ärmlich. 1 Bett für die ganze Familie ... Kein Tisch, kein Schrank, nichts.– Die übrigen schliefen wohl auf der Erde. Die Kleider sind in unseren Augen nur Lumpen. Er aber war für russische Verhältnisse noch gut gekleidet. Und sein Gesicht: Ich werde es nie vergessen. Sein Gesicht sagt alles, sagt alles, was er für Christus gelitten [hat]. Er war ... sieben Jahre eingesperrt ... Der Gottesdienst war gut besucht. Aber er dauert meiner Meinung nach zu lange ... Das ganze andere Leben in Russland hat durch die Bolschewisten ein ziemlich westeuropäisches Gesicht bekommen, nur die Kirche macht im alten Fahrwasser wie vor 1000 Jahren weiter ... Die Leute über 40 Jahre sind durchweg dem Christentum treu geblieben. Die Jugend ist areligiös. (Hauck, 6.2.1942, Ukraine) Ich hatte auch Gelegenheit, dem ukrainischen Gottesdienst in den Ostertagen beizuwohnen. Der notdürftig hergerichtete Gottesdienstraum war übervoll. Drei alte Priester und ein Diakon hielten die Liturgie. Wenn auch die Jugend fehlte, so brachten doch die älteren Frauen ... die Kinder mit, die mit offenen Augen und Mund dem hl. Geschehen folgten ... Hätte man es vor einem Jahr noch für möglich gehalten, dass man heut allenthalben den alten Ostergruß der Russen hören konnte: Christus ist erstanden! Ja, wahrhaftig, er ist auferstanden!? (Friemel, 20.4.1942, Ostfront) Gegenwärtig liegen wir hinter der Front ... nahe eines Dorfes, in dem ich von den Eingeborenen als Arzt betrachtet werde, da ich sie mitbetreue, soweit das in meinen Kräften steht ... so habe ich Gelegenheit, in jedes Haus hineinzusehen, und überall findet man noch die religiöse Ecke ... Die älteren beten noch, aber die Kinder wohl kaum. In einem Haus waren 2 Töchter mit höherer Schulbildung und deutschen Sprachkenntnissen ... Als ich meinen Beruf verriet, staunten sie ... die Leute bringen mir Eier und Milch und Räucherfische bis ins Zelt. (Rudolph, 19.6.1942, Ostfront)
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Die Neugier der russischen Bevölkerung ist ... tiefe religiöse Sehnsucht ... nach allem, was man ihr in den letzten Jahrzehnten zertrümmern wollte. Wenn die Leute einen Rosenkranz bei uns sehen, ein Brustkreuz, kommen sie bald mit Eiern und Milch angelaufen ... Wir dürfen es als ein großes Geschenk Gottes ansehen, hochwürdigster Herr, dass wir mitten hineingestellt sind in das Kriegsgeschehen. Da ... tritt Gottes Macht stärker hervor. Es ist die Stunde für die, die es fassen können. So bitten wir .., dass wir voll demütiger Ehrfurcht Gottes Werkzeuge sein dürfen ... (Beschorner, 27.7.1942, Ostfront) Ich wohne bei älteren russischen Leuten. Ein Ledersofa, ... ein paar Stühle und kein Licht. Es ist gut, dass ich hier täglich zelebrieren kann. Die Quartiersfrau stand ganz ehrfürchtig in der Ecke ... Unlängst traf ich eine Volksdeutsche, deren Mann nach Sibirien verschleppt war, 2 ihrer Söhne erschossen. Sie freute sich, jetzt wieder zu den Sakramenten gehen zu können. (Friemel, 30.7.1942, Ukraine) Und dann lernte ich auf fast einwöchiger Rundfahrt den Osten kennen. Alles nur Fläche und Armseligkeit. Die glanzvollen Zeugen von Wohlstand und Kultur sind fast ausnahmslos Ruinen ... Auffallend gut erhalten fand ich die Kathedrale von Smolensk. Wie in einsamer stolzer Trauer steht sie auf einer die ganze Stadt beherrschenden Anhöhe ... Ein zugleich traurig und andächtig stimmender Anblick ... Ich hatte seither wiederholt Gelegenheit, der heiligen Handlung des russischen Gottesdienstes beizuwohnen, und ich habe mich jedes Mal in tiefer Seele erbaut an der gesammelten Haltung der ... Popen ... ebenso an den Gesängen der Chöre ... Es finden sich darin die wunderbaren Donkosaken-Bässe, die ... mit den übrigen Stimmen oftmals von einem andachtsvollen Pianissimo anwachsen zu einem leidenschaftlichen Fortissimo, bei dem man mitunter fast erschrecken möchte. Man spürt daraus ... die ungeheure gemütstiefe, slawische Erlebnisfähigkeit, und – ich meine dabei nicht irre zu gehen – auch wohl den jahrzehntelangen Leidensweg des russischen Volkes ... Obwohl das eroberte Russland und sein durch Krieg und Bolschewismus entstelltes Antlitz kaum mehr äußere Schönheit aufzuweisen hat, so erlebe ich es dennoch als ein großes ... Lehrstück Gottes. (Jaschke, 8.1.1943, Ostfront, Mittelabschnitt) ...recht freundlich sind die orth.[odoxen] Geistlichen zu uns deutschen Priestern. Allerdings – von einer Union wollen sie nichts wissen. (Hauck, 28.6.1943, Ostfront) Ich bin dem lieben Gott dankbar, dass ich persönlich sehen und erleben konnte, wie der Bolschewismus trotz mehr als zwanzigjähriger Christenverfolgung es nicht fertig gebracht hat, dem Volk seinen Glauben, seine Religion zu nehmen. Nach all dem ... erscheint es mir wie ein Wunder, was ich selbst an Ort und Stelle erleben durfte: Wie die vielen großen und kleinen Kirchen nach ihrer Wiederherstellung ... trotz der oft vierbis sechsstündigen Gottesdienste wieder gefüllt waren, ... wie Alt und Jung auf den typischen Panjewagen, zu Fuß oder in Kähnen ... kamen und ihre Gotteshäuser in ein Blumen- und Lichtermeer verwandelten. Die Chöre mit ihren wundervollen Kosakenbässen sangen ihre alten ... mehrstimmigen Gesänge aus den vergilbten Notenbüchern ... Außer diesem offiziellen kirchlichen Leben hatte ich während des mehrmonatigen Rückzugs ... reichlich Gelegenheit, auch das Familienleben etwas kennen zu lernen ... Meist lagen wir Landser noch in unserem Strohgeniste am Fußboden, wenn die Leute bereits aufstanden ... und vor dem Herrgottswinkel ihr Morgengebet sprachen. Und das alles nach über 20jährigem Katakombenleben! (Jaschke, 23.5.1944, Litauen)
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Außerdem hatte ich Gelegenheit, das Osterfest der Unierten ... mitzuerleben. Der Pfarrer hatte mir hinter der Ikonostase einen Platz angewiesen, sodass ich alles gut sehen konnte. Eingeleitet wurde die Feier durch dreimalige Prozession um die Kirche. Alle sangen begeistert: „Christus ist erstanden“ ... Darauf wurden vom Priester die Osterkörbe mit Brot und Eiern, die vom Volk in großem Kreise auf dem Kirchplatz aufgestellt waren, gereicht ... die Trennung der russischen Kirche von Rom [hat] eine Erstarrung ... des religiösen Lebens gebracht ... Vielleicht musste die furchtbare Zeit kommen, damit der Weg für die Union [mit der römischen Kirche] geebnet wird. (Friemel, 16.5.1944, Galizien) Erschüttert reagieren die Kapläne zunächst auf die überall sichtbare rigorose Unterdrückung und Zerstörung der orthodoxen Kirche durch die Sowjets. Der Soldatenpriester Hauck wähnt sich in Russland im Reich der Hölle (30.7.1941) und meint damit, dass es ein Land ohne Gott sei. Aber die Erkenntnis, dass die Kirche Russlands im Untergrund überlebt hat, bestärkt sie in der Überzeugung, dass auch die Nationalsozialisten die katholische Kirche in Deutschland nicht bezwingen werden. Die brutale Auslöschung des kirchlichen Lebens in Russland bestärkt die Priestersoldaten aber auch in ihrer grundsätzlichen Ablehnung des Bolschewismus, die den politischen Auseinandersetzungen in Deutschland nach 1918 entstammt und damit älter ist als dieser Krieg. Schließlich hatte sich der Grafschafter Klerus – und die katholische Geistlichkeit anderswo in Deutschland – lange vor 1933 auch vieler schlimmer kommunistischer Angriffe zu erwehren.15 Im Vergleich zur 24-jährigen Kirchenverfolgung in Russland, deren Zeugen die Grafschafter Geistlichen nun sind, erscheint ihnen die Unterdrückung, die sie selbst durch die Nationalsozialisten sehr schmerzlich erfahren haben und weiterhin erfahren, offensichtlich als weniger schwerwiegend. Denn manche der Priestersoldaten schreiben angesichts der Auswirkungen des Bolschewismus auf die russische Kirche von befreiten Gebieten, manche der Geistlichen geben sich während der ersten Monate des Vormarsches in Verkennung der Absichten des NS-Regimes wohl auch der Hoffnung hin, dass durch die deutsche Besetzung in diesem Land wieder christliches Leben aufblühen könne. Lässt sich nun aus solchen Bemerkungen auf eine Rechtfertigung des Überfalls auf die Sowjetunion und auf die Übernahme des NS-Feindbildes durch die Priester schließen, das die NS-Opfer wenigstens partiell an die Seite eben dieser nationalsozialistischen Täter bringt? Dem Gesamtbefund nach ist diese Annahme abwegig. Der Nationalsozialismus, der als Gegenspieler des Bolschewismus auftritt, kann die Priestersoldaten nicht auf seine Seite ziehen und dazu bringen, diesen Krieg als notwendig zu erachten. Schon 40 Tage nach seinem Beginn schreibt Hauck: Es ist der Wunsch aller, dass dieser schlimmste Feldzug bald aufhören möge. (30.7.1941, Ostfront) Er und nahezu alle anderen jungen Grafschafter Geistlichen unterscheiden sich damit z. B. vom Münsteraner Bischof von Galen, der mit heißem Herzen dem Kampf der deutschen Heere gegen den gottlosen Kommunismus vollen Erfolg ... von
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Pohl: Pfarrchronik, S. 269, 273, 292f.
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Gott, dem Lenker der Schlachten, erflehte.16 Sie sehen in beiden Ideologien eine fundamentale Bedrohung des Christentums und des Menschseins und wissen, dass der Teufel nicht durch Beelzebub auszutreiben ist. Sie bleiben NS-Gegner und dienen dem Hitler-Regime allein aus Zwang, hinter dem für sie Gottes Wille und Prüfung steht.
NS-Gedankengut bei den jungen Priestern? Aufgrund von Äußerungen einiger Feldpostschreiber soll nun der Frage nachgegangen werden, ob und wie weit der NS-Bazillus auch die Soldatenpriester und eingezogenen Theologiestudenten infizieren konnte, ein kleines Häuflein Unentwegter, die darauf bedacht sein müssen, nicht selbst von der großen Masse angesteckt zu werden, wie es Kaplan Wilhelm Siegmund am 8. Dezember 1942 ausdrückte. Nun, der Bazillus ist übergesprungen, jedoch nur in drei Fällen und auch wohl nur einmal chronisch krank machend. Dazu muss ein Blick auf das Milieu geworfen werden, aus dem die Kapläne und Studenten überwiegend stammen. Alle Theologen sind jung und universitär gebildet, aber Kinder ihrer Zeit mit einem entsprechenden Sprachgebrauch. So ist ihnen z. B. der Begriff Heldentod nicht suspekt. Ihr Weltbild ist geprägt von den Folgen des Ersten Weltkriegs und erlebter wirtschaftlicher und politischer Labilität und Not in einem schönen, aber armen Grenzraum. Es ist vermutlich auch stark konservativ gefärbt und so patriotisch, dass sie sich um Deutschland (!), nicht um das herrschende NS-Regime, in jeder Phase des Krieges sorgen.17 Das verbindet die Theologen mit den Wehrmachtskameraden, die trotz NS-Propaganda an den hergebrachten christlich-humanistischen Werten festhalten. Diese und ihr Land im Krieg durch Frontwechsel im Stich zu lassen, käme den Priestern im Soldatenrock nicht in den Sinn. Die Geistlichen können den Militärdienst nicht verweigern und würden das aus zeitentsprechender patriotischer Haltung heraus in ihrer Mehrheit auch sicher nicht tun. Sie finden im Sanitätsdienst überdies eine akzeptable Nische und Brücke über den moralischen Abgrund zum Mittun. Sie sind aber aus eigener bitterer Erfahrung gegen den Nationalsozialismus eingestellt und von Anfang gegen diesen Krieg, wie die Briefe eindrucksvoll belegen. Freiwillig zum Heeresdienst gemeldet hat sich von den Geistlichen nur einer aus Not, um nicht nach Dachau deportiert zu werden. Er hat in der Wehrmacht überlebt, sein Kaplanskollege Gerhard Hirschfelder nicht. Auch die Studenten sind in ihrer Mehrheit sicher nicht aus Begeisterung Soldat geworden, wie folgende Äußerungen andeuten: Auch ... will ich mir Mühe geben, sowohl ein tapferer Soldat als auch ein treuer miles [Soldat] Christi zu sein. Das Gebet der Heimat wird dazu beitragen, dass wir Soldaten die schweren Aufgaben mit Gottes Beistand bewältigen können. (stud. Rauch, 2.2.1942, Ostfront, vermisst 1945) 16 17
Klausa: Ein Löwe für den Himmel. Hartelt: Ferdinand Piontek (1878–1963), S. 210. Piontek vermerkt in seinem Tagebuch unter dem 14.3.1933: Für unser Vaterland eine hl. Messe gelesen ... mein Herz ist voll Sorge um die Zukunft. Ähnlich bei Pohl: Pfarrchronik, S. 318f. In einer Predigt (15.5.1933) und bei anderen Gelegenheiten äußert Generalvikar Monse seinen Patriotismus.
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Ich hatte für das ... Wintersemester Studienurlaub eingereicht, er ist mir aber nicht genehmigt worden ... (stud. Hubrich, Weihnachten 1942, Westen) Doch kann einer der Studenten, der bezeichnenderweise an seiner geistlichen Berufung zweifelt, seinen Glauben und sein Berufsziel offensichtlich in naiver Weise mit der NS-Ideologie verbinden. Er schreibt an den Generalvikar von Bord eines Schiffes: Hoffen und beten wir, dass der Opfergang unseres geprüften Volkes mit dem siegreichen Osteralleluja beendet werden kann! (25.3.1942) Ein paar Monate später lesen wir von ihm: ... im Augenblick jage ich von Kursus zu Kursus, um die Grundlagen für mein Ltn. Patent z. See zu sammeln. (4. Adventssonntag 1942) Und ein Jahr weiter äußert er sich so: Hoffentlich geht sie bald in Erfüllung [die Frohbotschaft!], und unserem lb. Vaterland wird ein stolzer und siegreicher Friede geschenkt. (24.12.1943, Kulmsee/Westpreußen) Hier hatte die nationalsozialistische Erziehung offensichtlich Tiefenwirkung – vielleicht verstärkt durch die ideologische Schulung in der Truppe – und die daraus entstandene Haltung ist eine ungute Symbiose mit dem ursprünglichen Berufswunsch eingegangen. Einmalig hingegen ist für einen zweiten Studenten die folgende Bemerkung; die zeigt, dass er anfangs die NS-Begründung für den Überfall auf die Sowjetunion teilt, der ja einem solchen der UdSSR auf Deutschland zuvorgekommen sein will:18 ... stehe ich doch mit all den Kameraden hier, um die Schrecken des Krieges von der Heimat fernzuhalten, die einem hier ganz deutlich begegnen. (4.10.1941, Ostfront). Diese Einstellung hat er sehr bald revidiert. Nur einer der Priester, im Laufe des Krieges mehrfach verwundet, lässt zeitweise eine merkwürdige Faszination vom Kriegshandwerk und eine Nähe zur NS-Ideologie erkennen, wie die folgenden Äußerungen zeigen werden. Zu Beginn des Feldzugs hatte er besorgt geschrieben: Gestern bekam ich den Sermo [Predigt v. Galens] vom 3.8. aus Münster/Westf. Die vom 13. u. 20.7. habe ich auch lesen können. Wie soll das alles noch enden? (14.11.1941, Ukraine) Am 23. April 1942 äußert er: Eines lässt sich jetzt schon sagen ... wäre man nicht eingezogen ... man würde die heutige Jugend nicht mehr verstehen ... Da zeigt sich die neue [antichristliche NS-] Erziehung in der Heimat! (Ukraine). Im selben Brief berichtet er aber auch Folgendes: Übung Häuserkampf ... als San.Dienstgrad mache ich da freiwillig mit, um infanteristisch etwas nachzuholen! Hier kann man wenigstens schießen! Und Sonntags nachm. in den Spaziergängen in die Balka [Schlucht] wird Pistolenschießen gemacht: russ. Kommissarspistole 1936, mein Eigentum! Munition ... hat es genug! (23.4.1942, Ukraine) Und gut ein halbes Jahr später klingt es so über den Krieg im Kaukasus: ... der Btl. Kdr. [Bataillonskommandeur] selbst sprang als Führer ein, innerhalb 36 Stdn.. hatte er, ohne dass das Regiment einen Antrag zu machen brauchte, das Ritterkreuz; ein Beweis, wie sehr unser Frontabschnitt von oben gekannt u. für wert gehalten wird. Das Ritterkreuz erteilt ja nur der Führer. ... heute war von anderen Btl. seitwärts ein herrlicher Angriffstag. Das „Hurra“ beim Stürmen drang bis hier nach oben“ (15.11.1942, Kaukasus) 18
Vgl. z. B: BNN v. 31.7.1941.
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Der Schreiber hat sich mitreißen lassen und äußert ein befremdliches Gemisch aus Ablehnung der NS-Ideologie auf der einen Seite, z. B. der unchristlichen, nationalsozialistischen Erziehung der Jugend, und einer Begeisterung für die erfolgreiche NSWehrmacht auf der anderen Seite, als deren Teil er sich voller Stolz und distanzlos begreift. Es fehlt offenbar an Reife und grundsätzlichen Entscheidungen als Voraussetzung für das Priestertum. Dennoch ist er ohne Zweifel aus vollem Herzen Priester, der beabsichtigt, sich dieser Einheit zu entziehen. In Kenntnis der Biographie dieses Kaplans wäre es verfehlt, in ihm – auch nur zeitweise – einen Sympathisanten des Nationalsozialismus zu sehen. Er hat Schreckliches durchgemacht, der Krieg hat ihn gesundheitlich schwer geschädigt – und geläutert. Er hält über das Kriegsende hinaus an seinem Beruf fest, der wohl wirkliche Berufung ist und arbeitet ab 1946 unermüdlich und klaglos als Pfarrer unter ärmlichsten Verhältnissen kirchlicher wie materieller Art in der Diaspora der DDR – wieder unter einem autoritären Regime, das die Kirche bekämpft, ihre Träger diffamiert und zu Außenseitern degradiert. In einem kurzen Lebensbild heißt es über ihn: Sein Optimismus und seine Fröhlichkeit begleiteten ihn ein Leben lang.19 Vielleicht ist die Unbekümmertheit ein Schlüssel zu seinem Verhalten. Die obigen Passagen sind untypisch für die Feldpost der Glatzer Geistlichen, aber sie existieren und belegen, dass die NS-Propaganda doch nicht spurlos an allen jungen Theologen vorübergegangen ist. Die regimekritischen Priestersoldaten beobachten wach und misstrauisch, dass die NS-Machthaber in der Heimat während des Kriegs die Zügel gegenüber der Kirche plötzlich schleifen lassen: Aus den amtlichen Verfügungen des Kirchenministeriums schien mir jetzt ein anderer Ton zu sprechen als bisher, vielleicht hat sich dort auch etwas geändert oder habe ich mich getäuscht? (Rudolph, 19.6.1942, Ostfront). Sie kennen die NS-Kirchenpolitik. Eine Briefpassage, zwei Monate vor dem Attentat auf Hitler durch Stauffenberg und zwei Wochen vor der alliierten Landung in der Normandie geschrieben, lässt aufhorchen: Dieses große Ereignis [Urlaubsschein] erhoffe ich für Ende Juli oder Anfang August ... Doch ist es möglich, dass sich bis dahin Dinge in das Zeitgeschehen einschalten, die allem Schwerterkampf ein schnelles Ende aufzwingen. (Jaschke, 23.5.1944, Litauen) Die Bemerkung erstaunt sehr und deutet darauf hin, dass der Autor, mehrfach von der Gestapo verhört und zweimal längere Zeit inhaftiert, Mitwisser der Attentatspläne auf Hitler gewesen sein könnte. Kreisau war ja nicht weit von der Grafschaft entfernt. Jaschke deutet an, nicht nur über die Absicht eines Anschlags, sondern auch über den ungefähren Termin des Attentats informiert zu sein. Der Priester hat den Krieg überlebt, aber offenbar in der Nachkriegszeit keine Erklärungen über eine Beteiligung am Widerstand abgegeben, möglicherweise auch deshalb nicht, weil das Attentat auf Hitler in den ersten Nachkriegsjahren in weiten Kreisen der deutschen Gesellschaft noch anders bewertet wurde als heute. 19
Jung, Franz (Hg.): Sie gehören zu uns, S. 16.
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Friedenssehnsucht, Heimatverbundenheit Alle eingezogenen Priester und Theologiestudenten sind voller Friedenssehnsucht und wünschen ein baldiges Ende des Krieges: Wie ich aus der Heimatzeitung ersah, sind schon viele Grafschafter gefallen. Wenn uns doch Gott bald seinen Frieden schickte. (Friemel, 16.7.1941, Ukraine) Es ist der Wunsch aller, dass dieser schlimmste Feldzug bald aufhören möge. (Hauck, 30.7.1941, Ostfront) Hoffentlich findet der Krieg recht bald, wenn noch dieses Jahr sein Ende, damit wir wieder in die schöne Grafschaft zurückkehren können. (Rudolph, 4.7.1943, Warschau) Aus vielen Feldpostbriefen spricht die Liebe der Priestersoldaten zu ihrem Beruf. Kein einziger Priester lässt Zweifel an der Berufswahl oder eine Distanzierung oder Entfremdung davon erkennen, und bei den meisten Studenten ist das hinsichtlich des Berufszieles kaum anders. Damit einher geht eine starke Heimatverbundenheit der Theologen. Sehnsucht nach der Grafschaft wird immer wieder artikuliert, man möchte zurück in die Berufstätigkeit, in die Seelsorge dort, und hofft auf Rückkehr noch in den schlimmsten Abwehrkämpfen. Die Rache der Sieger wird am Ende wohl auch bedacht, doch blicken die Priester voller Gottvertrauen in die Zukunft. Ein Ereignis wie die spätere Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus dem Glatzer Land ist völlig außerhalb des Denkhorizonts der geistlichen Soldaten, denn die Pläne der Alliierten sind bis in die letzten Kriegsmonate unbekannt. Umso schwerer dürfte es die überlebenden Heereskapläne getroffen haben, dass sie nicht mehr in der Grafschaft tätig werden konnten.20 Den geliebten Beruf dürfen sie nur noch in der Fremde, unter Menschen anderer Mentalität und dazu vielfach noch in der Diaspora ausüben. Die eigenen Gemeindemitglieder sind in alle Winde zerstreut und damit versiegt auch eine Kraftquelle, die wesentlich für ihr Durchhalten im Krieg war. Schon 1941 heißt es: Wer weiß, wann der Krieg zu Ende geht, was aus uns noch wird und wohin wir noch kommen. Wann werden wir wieder in unseren Beruf und in die Heimat zurückkommen? (Rummler, 20.8.1941, Drachenbronn, gefallen) Man kommt sich nicht so verlassen und isoliert vor, wenn man weiß, dass die Heimat mit ihren Gebeten hinter uns steht. (Friemel, 15.12.1941, Ostfront) Gern würden wir zur alten Arbeit zurückkehren. Doch wenn wir durch unser Kämpfen und unsere Arbeit dem Gottesreich dienen können, wollen wir aushalten, solange es Gott will. (Gruner, 16.1.1942, Ukraine, gefallen) Wenn ich nach Gottes hl. Willen gesund aus dem Kriege heimkehren darf, dann steht ... fest, ... alle Kräfte ... für die Reichsgottesarbeit einzusetzen. (Glowik, 20.3.1942, Russland, gefallen) In den letzten Tagen ist auch hier der Frühling eingezogen und da ist es auch hier ganz schön. Freilich mit der schönen Glatzer Heimat ist nichts zu vergleichen. Umso 20
ebd., S 16: Der mehrfach verwundete Kaplan Bartsch soll am 6.1.1946 aus einem bayrischen Lazarett in seine Heimatgemeinde Hausdorf zurückgekehrt und im Oktober 1946 aus der Grafschaft vertrieben worden sein. Nach Christoph (Sie gehören zu uns, Bd. II, S. 7f) wurde August Fleischhauer, krank aus der Wehrmacht entlassen, noch 1944 Kaplan in Bad Reinerz und 1946 von dort vertrieben.
feldpost glat z e r t h e o l o g e n 1941–1945
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lieber sind wir Patres exules [umherschweifende, heimatlose] dann wieder an unserem Platz, so Gott will. (Fleischhauer, 20.5.1942, Ostfront) Eine Nachricht aus der Heimat ist ja doch immer eine rechte Freude und Aufmunterung ... Inzwischen bekam ich von meiner Mutter die traurige Nachricht: Heute vor einem Monat ist mein lieber Bruder Gerhard beim Rückzug aus Ägypten einem englischen Fliegerangriff zum Opfer gefallen. Im September noch hatte er Heimaturlaub gehabt, und ich bekam ebenfalls 3 Tage Sonderurlaub, um ihn nach fast 2 Jahren wiederzusehen. Es sollte das letzte Mal sein, und ich bin dem Herrgott ... dankbar, dass er uns dieses Wiedersehen noch gestattete. (Siegmund, 8.12.1942, Ostfront, später selbst gefallen) In den kommenden Wochen und Tagen werden meine Gedanken mehr als sonst in meiner lb. Grafschaft sein ... dann will ich beim hl. Opfer meiner lb. Confratres und meiner Heimat besonders gedenken. (Gruner, 10.12.1942, Ostfront) Es ist ein großer Trost in dieser Einsamkeit hier draußen, sich ... mit der ... Gemeinschaft der priesterlichen Brüder in der Heimat verbunden zu wissen ... Wie gern und freudig würde ich wieder mitarbeiten wollen im heimatlichen Weinberge Gottes! (Beschorner, 16.12.1943, Ostfront, vermisst 1944) Der Heldentod von Kpl. Herden und meinem Mitkaplan in Grenzeck, P. Malernus, hat mich tief erschüttert. In meiner Division ist ... auch ein Kaplan gefallen, mit dem ich über 2 Jahre in einer Einheit war. Ferner erhielt ich die Todesnachricht von einem meiner besten Freunde ... aus Westfalen ... So lichten sich immer mehr die Reihen. Und auch für mich gilt: ... täglich bereit zu sein. Wie gern freilich käme ich noch einmal in meine geliebte Grafschaft und in die Ausübung meines Berufes, den ich von Herzen liebe. (Friemel, 16.5.1944, Galizien) Die Gedanken und Empfindungen, die ich beim hl. Opfer hatte, kann man schwer ausdrücken Es war ein Dankopfer für die Gnade des Berufes und die ... Hilfe Gottes ... in ... schweren Tagen des Krieges und zugleich die Bitte an Gott, dass er mich noch einmal in die Heimat kommen und als Priester arbeiten lässt. (Friemel, 15.9.1944, Galizien) Mit Spannung verfolge ich den Wehrmachtsbericht, besonders die Ereignisse in Schlesien ... Hoffentlich hat der Krieg bald ein Ende! (Rudolph, 23.3.1945, Fürstenwalde) Am Ende des Krieges drückt Bartsch die schlimmen Ahnungen auf das Kommende so aus: ... einen Frieden sieht man nicht! ... u. was der Gegner mit uns vorhat ... man müsste sich bald sogar vor dem Frieden fürchten. (15.3.1945, Miesbach/Bayern)
Die Grafschafter Kapläne im Nachkriegsdeutschland Doch auch den Vertreibungsschock überwinden die Priestersoldaten dank ihres Gottvertrauens, das ihnen schon das Überleben im Krieg ermöglichte. Trotz der Entwurzelung durch die Vertreibung arbeiten die ehemaligen Glatzer Kapläne und Theologiestudenten erfolg- und segensreich in ihren neuen Gemeinden. Manche reiben sich in der Diaspora auf, einer wird sogar Bischof, ein anderer Ehrenbürger der Stadt Töging am Inn, in der er 27 Jahre als Pfarrer wirkt. Die Entwurzelten wachsen an anderen Stellen Deutschlands wieder ein, vergessen aber die geliebte Grafschaft nie und halten lebenslang Kontakt zu den verstreuten Landsleuten.
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In Abb. 4 finden sich die wichtigsten biographischen Daten der in der Feldpost vertretenen Kapläne und Theologiestudenten, soweit sie verfügbar sind. Während erstere von den Mitbrüdern nach dem Krieg oft in kleinen Lebensbildern gewürdigt wurden,21 ist das bei den Theologiestudenten leider anders. Ihre Bindung zum Glatzer Klerus oder den Gläubigen war meist noch locker. Nur von zweien, die nach dem Krieg tatsächlich Priester wurden, kennen wir die Lebensdaten. Über die anderen ist wenig bekannt. Sie oder ihre Angehörigen scheinen sich nach 1946 nicht beim Großdechanten gemeldet zu haben, vermutlich, weil sie gefallen sind, vielleicht auch, weil sie in einen anderen Beruf strebten. Es wäre schön, wenn Leser helfen würden, die Lücken zu füllen. Abb. 4: Biographische Daten der eingezogenen Theologen Name
geb. am
Bartsch, Norbert
geweiht in
letzte Stelle
eingezogen
10. 2. 1914 Rengersdorf
7.8.1938 Breslau
Hausdorf
1941
8.1.1988, Erfurt
Beschorner, Gerhard
2. 8. 1913
2. 7.1939 Dillingen
Lewin
1942
verm. Aug.1944, Moldau
Fleischhauer, August
26. 7. 1909 Niedersteine
1. 8. 1937 Breslau
n. Entlassung 1944: Bad Reinerz
1941
6. 12. 1971
Pfr. Rödinghausen, Paderborn
Friemel, Erich
7. 6. 1913
7. 8. 1938 Breslau
Grenzeck
1941
15.4.1998, GarmischPart.
Pfr.,Ehrenbürger Töging a. Inn München
Glowik, Franz
27. 1. 1911 Breslau
19.3.1939
Ludwigsdorf 7/1941
verm. 4.12. 1942, Russland
Göbel, Josef
25. 1. 1913 Brand
30.7.1939
Altwilmsdorf
1941
31. 5. 2005
Gruner, Johannes
24. 6. 1914 Glatz
7.8.1938 Breslau
Rengersdorf
1941
31.12.1945 in Russland.
Hauck, Georg
23. 4. 1915 Bad Landeck
2. 7. 1939 Dillingen
Niedersteine 2/1941, russ. Gefan. bis 1949
6. 11. 1977, Garmisch-P.
Pfr. Aufenau, Gelnhausen, Fulda
Hentschel, Karl 13. 8. 1906 Bad Reinerz
27.1.1935
Habelschwerdt
1941
17. 1. 1991
Pfr.Rodenkirchen, Lemwerder, Falkenberg bei Garrel, Münster
Herden, Josef
10. 11.1911
9. 3.1940 Fulda
10.3. 1940
gef. 21.2. 1944, Russland
Jaschke, Adolf
17. 6. 1907 Rothwaltersdorf
21
in
Rosenthal
Neurode
Königswalde
7.8.1938 Breslau
–
Rengersdorf, 19.6. Neuwal1942 tersdf.
gestorben
14. 12. 1981, Bad Driburg
nach 1945, Ort, Diözese Pfr.Ringleben Artern, Fulda –
– Pfr. Neustadtgödens/Ostfriesl., Osnabrück –
– Pfr. in Bottrop, Paderborn
z. B. Jung, F., Sie gehören zu uns oder v. Hehl/Kösters, Priester, oder auch Stephan, H., Grafschafter Priester.
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feldpost glat z e r t h e o l o g e n 1941–1945 Name
geb. am
Roter, Bernhard
in
geweiht in
letzte Stelle
eingezogen
gestorben
nach 1945, Ort, Diözese
13. 2. 1915 Lissa (Posen)
30.7.1939 Breslau
Rückers
14.11. 1941
Rudolph, Lukas
17. 3. 1912 Neudorf b. Neurode
7.8.1938 Breslau
Schreckendorf
?
Rummler, Ludwig
4. 12. 1911 Ludwigsdorf
1.8.1937 Breslau
Albendorf
1941
gef. 17. 7.1942, Russland
–
Siegmund, Wilhelm
19.11.1914 Ullersdorf
2. 7. 1939
Schönfeld
11/1941
gef. in Russland
–
15. 1. 2000
Pfr. Eglingen, Heidenheim, Rottenburg
23. 6. 1975, Helpsten
Pastor Helpsen, Stadthagen, Osnabrück
Studenten Griffig, Georg
–
Heinze, Reinhard
16.11. 1916
Neurode
Hoffmann, Felix
18. 11.1912
Tuntschendorf
Hubrich, Theo
13. 5. 1919 Glatz
Krzonzolla, Gerhard
?
Mann, ErnstGünter
?
Minde, Hannes Plaschke, Klaus
?
– ?
22.3.1947 Rottenburg 27.6.1948
– –
–
–
?
?
San.-Uffz. gef. 15. 7. 1944, Frankreich
? –
1940, russ. 9.7.1972, Gefan. bis Altheim 1946
Pfr. Altheim, Kr. Horb, Rottenburg
Uffz.
Bischof Magdeburg/Schwerin
Offz.
27.3.1992, Reichenau/ Bodensee
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–
Glatz
?
–
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–
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?
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Priesnitz, Paul
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?
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–
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Rauch, Richard
2. 5. 1916
Neurode
?
–
12/1939 Hptm.
Stenzel, Klemens
?
?
?
–
Ulmann, Max
?
?
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–
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? Gef. 4.7.1941
Ltn. z. See
? –
?
verm. 1945, Osten
–
?
gef. 22.6.1941, Russland
–
?
gef. 1941, Rußl.
–
Quelle Theologen-Briefe aus dem Feld, Dekanatsarchiv/Pfarrarchiv Glatz/ Klodzko, Fach Nr. 14001, kopiert am 27/28.9.2004 und übertragen durch Annelies und H.-A. Meißner. Kopien der Feldpost hinterlegt beim Archiv des Großdechanten der Grafschaft Glatz, Münster.
Gerhard Hirschfelder im Konflikt mit dem NS-Regime. Lebensstationen, Leidensstationen und Verehrungsstationen eines neuen Seligen* Von Michael Hirschfeld
W
arum gerade Gerhard Hirschfelder? Diese Frage wurde im Zusammenhang mit der Seligsprechung dieses Grafschaft Glatzer Geistlichen 2010 häufiger gestellt. Schließlich ist er doch nur einer unter vielen gewesen, ließe sich argumentieren. Allein 12.000 Priester, die mit dem NS-Regime in Konflikt geraten sind, werden in der jüngsten Ausgabe des Standardwerkes „Priester unter Hitlers Terror“ aufgelistet, davon 54 aus der Grafschaft Glatz1. Und das in 5. Auflage vorliegende deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts „Zeugen für Christus“ führt über 160 Geistliche und dazu gut 100 Laien an, die in der NS-Zeit das Martyrium erlitten haben, von den übrigen deutschen Blutzeugen der letzten Jahrzehnte, etwa im Kommunismus in der DDR oder in der Mission, ganz zu schweigen2. Hätten sie nicht alle verdient, in die Schar der Seligen aufgenommen zu werden? Gerhard Hirschfelder muss über die Verfolgung und über das Martyrium hinaus etwas auszeichnen, das dem Gros seiner priesterlichen Mitbrüder in der NS-Zeit fehlte – und damit steht er selbstverständlich nicht allein, wenn man an Kardinal von Galen denkt, der 2005 in Rom selig gesprochen wurde, oder an die drei Lübecker Kapläne Hermann Lange, Eduard Müller und Johannes Prassek, deren Seligsprechung im Juni 2011 stattfand. Allen gemeinsam ist der Konflikt mit dem Nationalsozialismus, der sie nachhaltig in den Köpfen der Nachlebenden verankert hat. Worin aber gerade das gewisse Etwas, das Proprium des Konflikts von Gerhard Hirschfelder liegt und was ihn auszeichnet, in die Schar der Seligen eingereiht zu werden, dem soll im Folgenden nachgespürt werden. Ganz bewusst wurde dazu ein Dreischritt gewählt, der zugleich einen chronologischen Zugriff ermöglicht: Lebensstationen, Leidensstationen und Verehrungsstationen. Damit wird nicht nur darauf angespielt, dass nach christlichem Verständnis Geburt und Tod nicht die einzigen Zäsuren im menschlichen Leben sind. Es wird zugleich auf eine vom langjährigen Bischof von Münster, Reinhard Lettmann, überlieferte Antwort angespielt. Auf die Frage, weshalb für einen wirklich heiligmäßigen Priester des Bistums denn kein Seligsprechungsprozess angestrengt würde, antwortete er nur schlicht: Und wo bleibt die Verehrung? Für ein Porträt im Kontext der Seligsprechung reicht es also keineswegs aus, nur das Leben zu betrachten, so wie * Vortrag beim Hirschfelder-Symposion in der Bistumsakademie Franz-Hitze-Haus in Münster im Vorfeld der Seligsprechung im September 2010. Eine gekürzte Fassung erschien unter dem Titel Leben – Leiden – Verehrung. Auf der Suche nach dem Besonderen, in: Franz Jung/Marian Linnenborn (Hg.): Gerhard Hirschfelder. Ein Seliger für unsere Zeit, Münster 2011, S. 84-93. 1 2
Vgl. Priester unter Hitlers Terror 1998. Vgl. Moll: Theologische Einführung, in: ders. (Hg.): Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, Bd. I, S. XXXIV. In Bd. II, S. 701-703, findet sich das Biogramm von Gerhard Hirschfelder aus der Feder von Johannes Nitsche.
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michael hirschfeld
es in den lapidaren Angaben der standardisierten Darstellung in einem Lexikon aller in der NS-Zeit inhaftierten Priester, herausgegeben von Eugen Weiler, durchscheint: Dachau seit 27.12.1941, Nr. 28972, Schicksal: gestorben, 1.8.1942.3 Es folgen Geburtsjahr und -ort sowie der Tätigkeitsort. So nüchtern lässt sich das Leben und Sterben Gerhard Hirschfelders fassen, aber es wird der Eingangsfrage nach seiner besonderen Qualifikation als Seliger in keinem Fall gerecht. Auch das Leiden und das Nachleben bedürfen der Beachtung.
Lebensstationen So gut es die Quellenlage dem Historiker ermöglicht, sollen zunächst die Lebensstationen dargestellt werden. Tagebuchaufzeichnungen hat Gerhard Hirschfelder nämlich nicht hinterlassen, auch keinen Nachlass, sieht man einmal von seinen Briefen aus dem Gefängnis bzw. KZ und den dort entstandenen geistlichen Aufzeichnungen ab. Und was wir über ihn wissen, verdanken wir zum einen späteren Erinnerungen von Weggefährten, zum anderen behördlichen Akten. Kindheit und Jugend Gerhard Hirschfelders waren nämlich von seiner damals in allen Teilen der Gesellschaft als großer Makel angesehenen unehelichen Herkunft überschattet. Obgleich uneheliche Kinder gemäß dem damals geltenden Kirchenrecht von der Priesterweihe ausgeschlossen waren, 4 genoss der am 17. Februar 1907 als Sohn der ledigen Modeschneiderin Maria Hirschfelder in Glatz geborene Gerhard Hirschfelder5 das Vertrauen seines Heimatpfarrers Dr. Franz Monse. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätte Monse wohl den Erlös eines ihm Anfang 1927 von einem Gemeindemitglied vermachten goldenen Rings im Sinne des Stifters für eine neue Monstranz verwendet und nicht für bedürftige Theologiestudenten aus seiner Pfarrei. Und zu letzteren gehörte eben in erster Linie gerade zu diesem Zeitpunkt Gerhard Hirschfelder6 . Der hatte 1927 am Glatzer Gymnasium sein Abitur mit genügendem Erfolg, also mit der Durchschnittsnote 4, abgelegt und das Studium der Theologie in Breslau aufgenommen. Angesichts der zu 90 % katholischen Grafschaft Glatz, die auch als Herrgottswinkel Schlesiens, ja sogar Deutschlands bezeichnet wurde und zahlreiche Priester- und Ordensberufe hervorbrachte, verwundert dieser Weg im ersten Moment kaum. Blättert man aber einmal in der minutiös geführten und mittlerweile edierten Chronik der Glatzer Stadtpfarrei, der mit damals 17.000 Gläubigen größten Kirchengemeinde der Region, erhält man ein anderes Gesellschaftsbild. Der Einfluss der katholischen Kirche begann in der Kreisstadt nach 3
4
5
6
Vgl. Weiler: Die Geistlichen in Dachau sowie in anderen Konzentrationslagern und Gefängnissen, S. 298. Vgl. CIC 1917, Kanon 984,1: „Vom Empfang der Weihe sind die unehelich Geborenen ausgeschlossen“. Grundlage für zahlreiche hier aufgegriffene Aspekte der Vita Hirschfelders sind: Hirschfeld: „Wer der Jugend den Glauben an Christus aus dem Herzen reißt, ist ein Verbrecher“; Goeke: Gerhard Hirschfelder. Priester und Märtyrer, u. Hirschfeld: Gerhard Hirschfelder, in: Schlesische Lebensbilder, Bd. XI (im Druck). Auf Einzelnachweise wurde weitestgehend verzichtet, um den Anmerkungsapparat nicht zu überfrachten. Vgl. Pohl: Pfarrchronik, S. 217. Hier Eintrag vom 4.2.1927. Später wurde er vom Grafschafter Priesterhilfswerk unterstützt. Vgl. ebd., S. 278, Eintrag v. 24.4.1930.
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dem Ersten Weltkrieg spürbar zu bröckeln. Sozialdemokraten und Kommunisten erhielten großen Zulauf und bei den Reichstagswahlen 1928 über 20 % der Wählerstimmen. Gleichzeitig erstarkten die Nationalsozialisten und lagen bei den letzten, halbwegs freien Reichstagswahlen im März 1933 über dem Reichsdurchschnitt. Eine tief katholische Erziehung, wie sie Maria Hirschfelder ihrem einzigen Sohn zuteil werden ließ, war also zu dieser Zeit keineswegs mehr selbstverständlich. Gerade für einen jungen Menschen, der wegen seiner Herkunft in seiner Kirche auf Vorbehalte stieß, wäre eine Abwendung vom Glauben nicht überraschend gewesen. Aber Hirschfelder, der als Kind schon früh ein schauspielerisches Talent zeigte, sowohl „Messe spielte“ als auch weltliche Riten imitierte, wenn er mit einer Spielgefährtin eine Trauung inszenierte, die auch fotografisch festgehalten wurde, fand seine geistliche Heimat im Jugendbund „Quickborn“. Aus Ideen der weltlichen Wandervogelbewegung und der liturgischen Bewegung in der Kirche nach dem Ersten Weltkrieg entstanden, maßgeblich von Romano Guardini beeinflusst, verband diese Bewegung Sportlichkeit, Geselligkeit und Religiosität miteinander. Für einen aufgeweckten jungen Mann wie Gerhard Hirschfelder eine faszinierende Mischung, die seinem Naturell entsprach. Schon hier zeigte sich seine Begeisterungsfähigkeit, die ihn so überzeugt in den Dienst einer Sache treten ließ, dass er andere wichtige Dinge darüber vernachlässigte. Die Schule war nebensächlich, sodass sich die schlechten Noten häuften und er eine Klasse wiederholen musste. Offenbar fehlte aber auch die Begabung zum Lernen und zu den Grundzügen wissenschaftlichen Arbeitens. Zumindest lässt sich dies aus einer Beurteilung des Breslauer Alumnatsrektors erkennen, den es störte, dass Hirschfelder den theologischen Stoff nicht so tief wie gewünscht durchdrang, dafür aber umso selbstbewusster auftrat7. Doch war er unter seinen Kommilitonen geschätzt. In Breslau, wo alle Glatzer Priesteramtskandidaten an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Schlesischen FriedrichWilhelms-Universität ihre Ausbildung erhielten, wurden dann auch die Weihen durch den dortigen Erzbischof gespendet, aber auf den Titel der Erzdiözese Prag, der eine Anstellung in der heimatlichen Grafschaft Glatz garantierte. Entscheidend war die – ja auch im Taufregister einzutragende – Subdiakonatsweihe und genau hierfür brauchte Gerhard Hirschfelder Dispens von Rom, die von der zuständigen römischen Kongregation erst verspätet ausgestellt wurde. Jedenfalls konnte er mit seinem Weihekurs nicht gemeinsam diese Vorstufen zur Priesterweihe empfangen. Nach Eintreffen der Dokumente erhielt er allerdings innerhalb kürzester Frist die höheren Weihen und konnte schließlich zusammen mit seinen Kurskollegen am 31. Januar 1932 mit knapp 25 Jahren die Priesterweihe empfangen. Interessanterweise gibt der Stadtpfarrer in seinem Eintrag in der Pfarrchronik anlässlich der Priesterweihe und Primiz auch den Namen des Vaters an. Es ist der Kaufmann Oswald Wolff, ein verheirateter Vater von fünf ehelichen Kindern8. Er fügt aber auch lapidar an, dass die Primiz im Herz-Jesu-Kloster in Bad Langenau (Dienerinnen des heiligsten Herzens Jesu, Mutterhaus Wien) stattgefunden habe, einem mehr als 20 Kilometer südlich von Glatz gelegenen Kurort, da er unehelich ist. 7 8
Vgl. Eintrag in der Personalakte Hirschfelders, in: Archiv des Großdechanten, Münster. Vgl. Pohl: Pfarrchronik, S. 304, Eintrag v. 3.2.1932. Hier auch das folg. Zit.
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Im Klerus einer überschaubaren Region muss sich die illegitime Herkunft des Neupriesters rasch herumgesprochen haben. Wahrscheinlich deshalb sah ihn Pfarrer Augustin Hauffen zuerst ungern in Tscherbeney, einer Pfarrei im sogenannten böhmischen Winkel im Westen der Grafschaft Glatz, wohin Hirschfelder von Großdechant Franz Dittert als Kaplan entsandt wurde. Doch unter den rund 4.500 Katholiken dieser Pfarrei, zu der auch der bekannte Kurort Bad Kudowa gehörte, erfreute sich der Neupriester bald großer Beliebtheit. Ein Gemeindemitglied brachte im Rückblick den Grund für die Sympathie der Gläubigen gegenüber Hirschfelder treffend auf den Punkt, wenn er darauf hinwies, der Kaplan habe es verstanden, das Fromme und das Heitere in erbaulichem Wert zu bringen9. Konkret hieß das, Hirschfelder verband seine Katechese mit Gitarrenspiel und Singen von Volksliedern. Pfarrer Hauffen bat nach zwei Jahren den Generalvikar inständig, seinen aktiven Kaplan länger in der Gemeinde zu belassen und nicht zu versetzen, denn er habe noch keinen gehabt, der zu vollster Zufriedenheit und zuverlässigster Gewissenhaftigkeit arbeitet wie er. Dazu ist er persönlich so nett, dass man ihn wie einen Bruder gern haben kann.10 Freundlichkeit und Sanftmut als Grundzug von Hirschfelders Wesen spricht aus diesem Zeugnis seines Vorgesetzten. Mit Bedacht hatte er wohl das Symbol des Osterlammes mit dem Schriftzug „Pax vobis“ für sein Primizbild ausgesucht und als Unterschrift gewählt Christus, unser Osterlamm, ist geschlachtet. Das besondere Augenmerk des Kaplans gehörte dem kirchlichen Vereinswesen und hier als Präses einerseits dem Gesellenverein (Kolping) und andererseits dem Katholischen Jungmännerverein (KJMV). Die mit den Gesellen einstudierten und unter der Regie des Kaplans aufgeführten Theaterstücke stellten einen festen Bestandteil des kulturellen Lebens in der Gemeinde dar und die Jugendlichen strömten dem charismatischen Seelsorger zu. Jedenfalls bis zur sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten, in deren Gefolge am 20. Juli 1933 das Reichskonkordat abgeschlossen wurde. Von der NS-Propaganda als Schulterschluss mit der katholischen Kirche gefeiert, bot gerade der die kirchlichen Vereine betreffende Artikel 31 des Konkordats Legitimationsmöglichkeiten für eine Zurückdrängung der Kirche aus dem öffentlichen Leben. Hier wurden nämlich die kirchlichen Vereine unter den Schutz des Staates gestellt, dabei aber nicht explizit gesagt, welche Gruppierungen sich der staatlichen Protektion erfreuen sollten. Das war Zusatzvereinbarungen vorbehalten, die nie zustande kamen. Zudem sollte sich die Protektion des Staates allein auf die religiöse Betätigung der Vereine beziehen. Und hier eröffneten sich eben Grauzonen: Waren gesellige Unternehmungen des Kaplans mit dem KJMV rein religiös oder gingen sie darüber hinaus? Der neue Amtsvorsteher (Bürgermeister) Arno Rogowski, ein früherer Lehrer der Evangelischen Volksschule in Bad Kudowa, sah in den Inszenierungen der katholischen Gesellen jedenfalls eine Konkurrenz zum weltlichen Theaterverein vor Ort und verweigerte Anfang 1934 die Genehmigung für eine in der Fastenzeit geplante Aufführung. 9
10
Wilhelm Hannusch an Barbara Franke v. 27.6.1985, zit. nach Franke u.a.: Kaplan Gerhard Hirschfelder, ein Märtyrer aus der Grafschaft Glatz, Münster 1989, S. 7. Hauffen an Dittert v. 21.3.1934, in: Archiv des Großdechanten, Münster: Personalakte Gerhard Hirschfelder.
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Auf einer der regelmäßigen KJMV-Versammlungen auf dem Zimmer des Kaplans erschien im März 1936 plötzlich Rogowski, weil er das Treffen ganz offensichtlich beobachten wollte. Kurz darauf ersuchte er Hirschfelder schriftlich, jeweils bis Mitte eines Monats eine Aufstellung aller geplanten Versammlungen kirchlicher Vereine bei ihm einzureichen. Von diesem Vorfall haben wir heute Kenntnis, weil der Kaplan umgehend Generalvikar Dittert informierte und um Weisung ersuchte, ob er der Forderung Folge leisten solle, und sich der Briefwechsel mit der kirchlichen Behörde im Dekanatsarchiv in Glatz erhalten hat11. Der Generalvikar wandte sich umgehend an den Landrat in Glatz mit der höflichen Bitte, den Amtsvorsteher darüber aufzuklären, dass Versammlungen kirchlicher Vereine nicht angemeldet werden müssten und eine im Juli 1935 erlassene Polizeiverordnung darüber nichts enthalte. Mit der Polizeiverordnung war ein Erlass des Gestapo-Chefs Heinrich Himmler gemeint, in dem den katholischen Jugendverbänden das Tragen von Uniformen, der Gebrauch von Fahnen, die Abhaltung von Zeltlagern usw. untersagt wurde12. Religiöse Veranstaltungen hingegen waren ja weiterhin durch das Reichskonkordat geschützt, weshalb der Generalvikar entsprechend harsch reagierte. Vor allem aber war er deutlich bemüht, seinen Kaplan gleichsam aus der Schusslinie zu nehmen. Er wies ihn nämlich an, Konflikte mit dem lokalen Staatsrepräsentanten künftig auf der nächst höheren Ebene, also zwischen Generalvikar und Landrat, klären zu lassen. Inwieweit Rogowski einen Rüffel des Landrats erhielt, ist aus den vorliegenden Quellen nicht mehr ersichtlich. Da der Vorfall jedoch ohne Nachspiel blieb, ist anzunehmen, dass er von seiner vorgesetzten Behörde gebremst wurde. Hirschfelders Gegenpart Arno Rogowski, der seinen slawischen Namen später in Rogard germanisieren ließ – ebenso wie Tscherbeney seit 1936 Grenzeck hieß – ließ nicht locker. Als die Hitler-Jugend durch Gesetz vom 1. Dezember 1936 zur Staatsjugend erhoben wurde und es dort in § 3 hieß, dass sie die Aufgabe der Erziehung der gesamten deutschen Jugend zu übernehmen habe, startete er einen neuen Versuch staatlicher Reglementierung und Überwachung kirchlicher Alternativangebote. Erneut beharrte er auf der vorherigen Meldepflicht kirchlicher Vereinsaktivitäten und spielte als Trumpf aus, dass er allein gemäß einer Weisung des Landrats handle. Zudem habe der Kaplan dafür zu sorgen, dass in der Staatsjugend eingeführte Bezeichnungen wie etwa Gruppe in der katholischen Jugend nicht verwendet würden, um Verwechslungen zu vermeiden. Diese neuerliche Schikane ließ sich der Geistliche nicht bieten, antwortete vielmehr lapidar, ihm seien derartige Bestimmungen unbekannt, vor allem aber habe er von seinem kirchlichen Vorgesetzten keine entsprechende Anweisung erhalten und folglich könne er sich mit gutem Recht dem Ansinnen verweigern. Als er darauf eine Vorladung in das Büro des Amtsvorstehers erhielt, konnte dieser ihm keinen Erlass zur Rechtfertigung seines Verhaltens präsentieren, beharrte allerdings auf seiner Anordnung. Da sich kein Konsens erzielen ließ, obwohl der Kaplan zugestanden hatte, die Bezeichnung Gruppe durch Pfarrjugend zu ersetzen, ja weil Rogowski zusätzlich verlangte, der Kaplan möge sowohl auf der Straße als auch im Beicht- und Kommunionunterricht stets den deutschen Gruß, also den Hitlergruß, 11 12
Vgl. ebd. Vgl. Hürten: Deutsche Katholiken 1918–1945, S. 280.
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verwenden, schaltete Hirschfelder wiederum den Generalvikar ein. Der wurde nicht müde, den Landrat um Schützenhilfe zu bitten. Und erneut zog der lokale NS-Repräsentant den Kürzeren. Der Landrat bestätigte zwar, dass er die Bürgermeister gebeten habe, Erkundigungen nach den Versammlungen der kirchlichen Vereine einzuziehen, jedoch keinerlei Zwang auszuüben. Und genau das hatte Rogowski ja fortgesetzt getan. Diesmal ging Hirschfelder zudem in die Öffentlichkeit, indem er die Gläubigen über den misslungenen Versuch staatlicher Zensur über innerkirchliche Treffen informierte. Dabei gab er keineswegs einer wie auch immer gearteten Schadenfreude Ausdruck, sondern verlas von der Kanzel schlicht zunächst die Anordnung Rogowskis, dann die Richtigstellung des Landrats. Die Interpretation überließ er jedem Gottesdienstbesucher selbst. Es wäre außerdem zu kurz gegriffen, in einer Durchsuchungsaktion, welche die Gestapo im Oktober 1937 in der Wohnung von Kaplan Hirschfelder vornahm, einzig und allein einen Rachefeldzug des Bürgermeisters zu sehen. Hintergrund war vielmehr die gemäß den Richtlinien der Fuldaer Bischofskonferenz zur Jugendseelsorge von 1936 erfolgte Neuordnung der kirchlichen Jugendarbeit unter dem Dach der Pfarrgemeinde bzw. des Generalvikariates. Die Bildung religiös und apostolisch lebendiger Menschen, die … bereit sind, in Gemeinschaft mit ihren Priestern an der Verwirklichung des Reiches Gottes mitzuarbeiten, wie es in den Richtlinien expressis verbis hieß, sollte in der Grafschaft Glatz von einem neu gegründeten zentralen Jugendseelsorgeamt aus gesteuert werden. Dort, wo vor Ort engagierte Kapläne diese Linie konsequent mittrugen und die früheren katholischen Jugendverbände in die Pfarrjugend überführt hatten, fanden die Durchsuchungen parallel statt und überall wurde die Konfiszierung von kirchlichem Schrifttum als Vorwand genommen, um die Pfarrjugend zu verbieten. Wenn es aber nur im Fall des Grenzecker Kaplans Gerhard Hirschfelder zu einer Anklage seitens der Staatsanwaltschaft kam, stand wohl doch die Vehemenz Arno Rogowskis dahinter. Der hatte dem Kaplan seine öffentliche Bloßstellung in der Kirche nicht verziehen und bemühte sich sichtlich, die Staatsanwaltschaft gegen Hirschfelder wegen staatsfeindlichen Betragens ermitteln zu lassen, ja schlug sogar dessen Inhaftierung vor. Das hielt die Anklagebehörde aber für übertrieben, weil der Geistliche zu allen behördlichen Vorladungen bisher stets pünktlich erschienen sei. Tatsächlich wurde dem Kaplan wegen der Gemeinschaftsabende der Pfarrjugend ein Verstoß gegen den Paragraph 4 der Reichstagsbrandverordnung vorgeworfen und die Anklageschrift Ende 1937 – vielleicht liegt darin ja eine Ironie der Geschichte nämlich genau am 24. Dezember – fertig gestellt. Doch zu dem vor dem Sondergericht in Breslau geplanten Prozess sollte es nicht kommen, da das Verfahren im Mai 1938 unter Verweis auf ein kurz zuvor ergangenes Straffreiheitsgesetz eingestellt wurde. Das war kein Privileg für Hirschfelder, sondern ein in den 30er Jahren mehrfach angewendetes Mittel des NS-Staates um verloren gehende Sympathien wiederzugewinnen, gerade auch in politischen Situationen, in denen die Zustimmung der Massen benötigt wurde: In diesem Fall im Kontext des sogenannten Anschlusses Österreichs im März 1938, der durch eine Volksabstimmung sanktioniert werden sollte. Weil Kapläne ohnehin regelmäßig versetzt werden, aber sicher auch um Gerhard Hirschfelder dem Einflussbereich von Arno Rogowski zu entziehen, wurde er im Fe-
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bruar 1939 nach Habelschwerdt versetzt. In der Kreisstadt im Süden der Grafschaft Glatz wirkte er fortan als 2. Kaplan, ab dem Folgejahr als Oberkaplan. Aber auch hier, wo er bald in dem aus Schlaney in der Pfarrei Grenzeck stammenden neuen Pfarrer Adolf Langer einen treuen Freund und Förderer fand, wurde sein Tun und Handeln von Parteikreisen vom ersten Augenblick an argwöhnisch beobachtet. Als Hirschfelder in einer Glaubensstunde für junge Mädchen in einem Filialort (Altweistritz) ganz gemäß der Lehre der Kirche davon sprach, dass die Mädchen sich später einen katholischen Mann suchen sollten, führte dies zu Diskussionen innerhalb der lokalen NS-Stellen. Gleichzeitig mit der Bespitzelung setzte sich in Habelschwerdt auch die Verehrung Hirschfelders durch die Gemeindemitglieder fort. Exemplarisch sei nur eine damalige Jugendliche zitiert, die in der Rückschau urteilte: Für mich war er der ideale Priester. Bei der hl. Messe und allen Gottesdiensten war er sehr fromm und andächtig, aber er stand trotzdem mit beiden Füßen auf der Erde13. In eine exponierte Lage geriet der Habelschwerdter Kaplan ab Juli 1939 auch als Diözesanjugendseelsorger für die ganze Grafschaft, einer in Personalunion wahrgenommenen Aufgabe. Der neue Generalvikar und Großdechant Franz Monse hatte die Jugendarbeit unter dem Dach der bischöflichen Behörde neu geordnet und sich dabei seines früheren Glatzer Pfarrkindes Hirschfelder erinnert. Mit dessen erweitertem Radius erhöhte sich folglich auch der Bekanntheitsgrad Hirschfelders über seinen Wirkungsort hinaus. Vor allem aber geriet er als Organisator der gesamten katholischen Jugendarbeit in der Region automatisch noch stärker in das Visier der NS-Behörden. Eindrucksvolle Zeichen seiner Arbeit waren jährliche Gottbekenntnis-Feiern der Jugend im Wallfahrtsort Albendorf, so zuletzt im Juli 1941 mit 2.300 Teilnehmern. Solche kirchlichen Massendemonstrationen sollte es natürlich im NS-Staat eigentlich nicht mehr geben. Seine Gegner konnten sie aber nicht verhindern, weil ihnen eine gesetzliche Handhabe fehlte. So wussten sie sich im Moment nicht anders zu helfen, als eine Gegendemonstration auf die Beine zu stellen. Der Fanfarenzug der HJ aus einem Nachbarort störte die Veranstaltung, woraufhin katholische Jugendliche kurzerhand die Glocken der Albendorfer Basilika läuteten, die alles übertönten. Hirschfelder wurde als Verantwortlicher des Treffens von der Gestapo vorgeladen und von einem Beamten als Feind von Führer und neuem Staat beschimpft. Jetzt bedurfte es nur noch eines geeigneten Anlasses um ihn zu verhaften. Als Angehörige der Hitlerjugend einen Bildstock mit einer barocken Darstellung der Krönung Mariens auf der Habelschwerdter Promenade schändeten, sie stachen dem Christus beide Augen aus und schlugen den Figuren die Köpfe ab, machte Gerhard Hirschfelder diese Tat zum Gegenstand einer Predigt am folgenden Sonntag, 27. Juli, in der er mit Blick auf die NS-Ideologie einen Satz sagte, der sich seinen Zuhörern tief einprägte: Wer der Jugend den Glauben an Christus aus den Herzen reißt, ist ein Verbrecher. Gottesdienstbesucher bestätigten später, dass mindestens ein Spitzel in der Pfarrkirche zugegen war. Fünf Tage darauf griff die Gestapo zu und verhaftete den Geistlichen am 1. August 1941 während einer Jugendstunde im Habelschwerdter Vereinshaus. 13
Elisabeth Prein, geb. Nonnast v. 21.1.1987, zit. bei Franke u.a.: Kaplan Gerhard Hirschfelder, S. 16.
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Leidensstationen Damit beginnen die Leidensstationen von Gerhard Hirschfelder. Zunächst wurde er für viereinhalb Monate in das Gefängnis in Glatz gebracht, wo es in dieser Zeit zu keinerlei Vernehmung kam. Für den inhaftierten Priester aber war es eine Phase, in der er etwas tat, was aus seinem bisherigen Leben zumindest nicht bekannt ist: Er griff zum Stift und brachte Gebete zu 14 Kreuzwegstationen zu Papier. Vielleicht ahnte er schon, dass er den Weg Jesu zum Martyrium gehen würde. Hinzu kamen Kommentare zu den Paulus-Briefen. Es sind in ihrer Schlichtheit und Nüchternheit ergreifende Reflexionen über das Gebet, die Arbeit, die Freude und das Leid des Priesters14. Mitte Dezember 1941 erhielt der Glatzer Jugendseelsorger Hubertus Günther durch einen kirchlich gesinnten Beamten den Wink, dass Hirschfelder zu einer bestimmten Stunde in das KZ Dachau überstellt werden sollte. Die Jugendreferentin Anna Maria Boese konnte ihn daher am Glatzer Bahnhof noch kurz verabschieden und ihm Brot und Süßigkeiten mitgeben, die Hirschfelder im Zug an andere Mitgefangene verteilte. Der Transport ging über Wien in das KZ Dachau, wo er am 27. Dezember eintraf. Wenn wir über Hirschfelders Leidenszeit im Lager, das allein rund 300 deutsche Geistliche beherbergte15, etwas sagen können, verdanken wir dies zum einen Erinnerungen von Mithäftlingen, so etwa des aus Steinfeld/Oldenburg stammenden Oblatenpaters Engelbert Rehling OMI, der einen Tag vor ihm in Dachau eingeliefert worden war, der ihn als ganz feiner, ausgeglichener Charakter, sehr lieb und entgegenkommend charakterisierte. Zum anderen durfte der Häftling alle 14 Tage einen Brief schreiben. Insgesamt 14 Briefe sind erhalten, die Gerhard Hirschfelder an seinen Onkel Klemens Hirschfelder in Sackisch bei Kudowa bzw. an Pfarrer Adolf Langer in Habelschwerdt richtete. Sowohl in den ersten Monaten im polnischen Priesterblock 30 als auch später im deutschen Block fiel seine Aufopferung für seine Mitgefangenen auf. Selbst völlig unterernährt, machte ihm nach dem Schneeschieben des Winters die an sich nicht so schwere Arbeit auf den Obstplantagen des Lagers schwer zu schaffen. Vom 26. Juli 1942 datiert der letzte Brief, am 1. August ist er an Entkräftung, auf dem Totenschein steht Rippenfellentzündung, gestorben. Natürlich lässt sich jetzt die Frage stellen, inwieweit ein solcher Tod überhaupt ein Martyrium darstellt. Ein kleiner Exkurs in die theologischen Kriterien des Martyriums lässt aber erkennen, dass die drei zentralen Motive bei Gerhard Hirschfelder vorlagen: ein gewaltsamer Tod (martyrium materialiter), wobei wir natürlich keine Gewissheit darüber haben, ob NS-Schergen direkt nachgeholfen haben, das Motiv des Kirchen- und Glaubenshasses (martyrium formaliter ex parte tyranni) und die bewusste innere Annahme des Todes als Willen Gottes (martyrium formaliter ex parte victimae)16. Ob in der Urne, welche dem Pfarramt in Grenzeck zugestellt wurde, wirklich die Asche von Gerhard Hirschfelder ist, lässt sich ebenso wenig sicher sagen. Wichtiger 14
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Die Aufzeichnungen Hirschfelders aus dem Gefängnis finden sich bei Jung: Aus dem Nachlass des Dieners Gottes Gerhard Hirschfelder. Weiler: Die Geistlichen in Dachau, nennt 291 deutsche Priester, gemäß von Hehl: Priester unter Hitlers Terror 1998, waren in allen KZs insgesamt rund 420 Geistliche inhaftiert. Vgl. Moll: Theologische Einführung, in: Zeugen für Christus, S. XXXII.
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ist aber, dass mit der Beisetzung der Urne auf dem Friedhof seiner ersten Kaplanstelle, in deren Pfarrbezirk ja auch sein Onkel Klemens wohnte, eine Verehrungsstation geschaffen wurde. Wenn auch der wahre Grund für das Ableben in Nachrufen und bei der Beisetzung verschwiegen werden musste, erinnern sich Zeitzeugen, dass sich der Tod im KZ herumgesprochen hatte, Eltern aber ihren Kindern einschärften, darüber zu schweigen.
Verehrungsstationen Wenn das Grab Hirschfelders einen ersten Ansatz für eine Verehrung geben konnte, wenn seine Kreuzweg-Gebete bereits kurz nach seinem Tod vervielfältigt und verbreitet wurden, so wird sich kritisch einwenden lassen, wie denn aufgrund der Vertreibung 1946 die Verehrung bis in die Gegenwart auch in den Jahrzehnten des Eisernen Vorhangs weitergetragen werden konnte. Die Initialzündung lieferte ein Artikel seines einstigen Vorgesetzten Pfarrer Adolf Langer zu Hirschfelders 10. Todestag in den „Grafschaft Glatzer Heimatblättern“.17 Hier lässt sich auch eine erste Brücke zur Diözese Münster als Ort der Seligsprechung schlagen. Denn Langer war 1946 nach Südoldenburg gelangt, arbeitete erst als Hilfspriester in Lohne, ab 1948 als Pfarrrektor in dem Heidedorf Beverbruch nördlich von Cloppenburg. Ende der 50er Jahre ließ er Hirschfelders Kreuzweg-Gebete in Cloppenburg, versehen mit dem Imprimatur des Bischöflichen Offizials Grafenhorst aus Vechta, drucken. Erschütternd auf die Grafschafter wirkte sicherlich auch ein Bericht von Kaplan Hubertus Günther über Meine letzte Begegnung mit Kaplan Hirschfelder in einem der ersten Rundbriefe der Jungen Grafschaft in den 1950er Jahren18, der von Pfarrer Konrad Leister in eine weiter verbreitete literarische Form gebracht wurde19. Trotz dieser deutlichen Bemühungen von Priestern wie in der Grafschafter Arbeit aktiven Laien, das Andenken Hirschfelders in Ehren zu halten, blieb das Wissen um sein Leben und Sterben über Jahrzehnte im Wesentlichen auf den Kreis der Grafschafter Glatzer Katholiken beschränkt. Allenfalls ein Biogramm aus der Feder von Adolf Langer im 1967 erschienenen 5. Band der „Schlesischen Priesterbilder“ machte ihn in breiteren kirchenhistorisch interessierten Kreisen der katholischen Schlesier als Priesterpersönlichkeit der Zeitgeschichte bekannt20. Selbst die feierliche Eröffnung des Seligsprechungsprozesses am 19. September 1998 mit einem von dem aus der Grafschaft Glatz stammenden Bischof von Dresden-Meißen, Joachim Reinelt, zele brierten Pontifikalamt im Dom zu Münster erregte kaum größere Beachtung. Und im Martyrologium des 20. Jahrhunderts steht Hirschfelder eben als einer von hunderten dem NS-Regime zum Opfer gefallenen Priestern und Laien. 17
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Adolf Langer: Gerhard Hirschfelder (1907–1942), in: Gottschalk (Hg.):, Schlesische Priesterbilder, Bd. 5, S. 226–229. Vgl. im selben Zeitraum auch Heinsch: Priester der Grafschaft Glatz im „Dritten Reich“, S. 285. Vgl. Günther: Meine letzte Begegnung mit Kaplan Hirschfelder, in: Rundbrief der Jungen Grafschaft 3/1954, S. 6f. Vgl. Leister, in: Hedwigskalender 1954, erneut abgedruckt in der Sonderausgabe der „Ziemia Klodzka“ zur Seligsprechung im September 2010, S. 33f. Vgl. Langer: Hirschfelder, in: Gottschalk (Hg.): Schlesische Priesterbilder, Bd. 5, S. 226–229.
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So ist es dem seit 1983 amtierenden Visitator der Glatzer in Deutschland, Großdechant Prälat Franz Jung zu verdanken, dass der Seligsprechungsprozess überhaupt beantragt wurde. Noch zu Beginn der 80er Jahre hatte auf Initiative älterer Mitglieder der Konsult der Grafschaft Bestrebungen der Caritaswissenschaftlerin und Autorin Angela Rozumek, ein Buch über den heutigen Seligen zu schreiben, zurückgewiesen, weil Hirschfelder unehelich sei. Ein erster Durchbruch wurde 1989 erzielt, als ein kleines Heft im Selbstverlag erschien, in dem Aussagen von Zeitzeugen zu einem knappen Lebensbild verarbeitet wurden.21 Im Frühjahr 1998 regte Großdechant Jung nach dem Vorbild des Internationalen Karl-Leisner-Kreises die Gründung des Internationalen Gerhard Hirschfelder-Kreises an und im Folgejahr publizierte er auch die Kommentare Hirschfelders zu den Paulusbriefen22. Im Übrigen konnte bereits nach einem halben Jahr, im März 1999, die diözesane Stufe des Prozesses erfolgreich abgeschlossen werden und der Apostolische Prozess eingeleitet werden. Die 2005 zur Aufrechterhaltung des Kulturerbes der Grafschaft Glatzer Katholiken gegründete Stiftung trägt den Namen des neuen Seligen. In Polen erweisen sich die sogenannten Tschechendeutschen, 1945 in benachbarte Dörfer in der Tschechoslowakei geflüchtete Einwohner von Tscherbeney und Bad Kudowa, als Mittler. Ein Übriges taten Grafschafter Wallfahrten in die Heimat und der Kontakt zum jetzigen Tscherbeneyer Pfarrer Prälat Romuald Brudnowski, der die Verehrung gleichfalls aktiv förderte. Ein wichtiges Zeichen für die Wahrnehmung Hirschfelders als Integrationsfigur zwischen Deutschen, Polen und Tschechen und damit für die internationale Dimension des Prozesses war der gemeinsame Gottesdienst, den Deutsche, Polen und Tschechen am 60. Todestag Hirschfelders 2002 an dessen Grab in Tscherbeney feierten, mit dabei waren ranghohe Vertreter der kirchlichen Hierarchie, so Bischof Dominik Duka von Königgrätz, der jetzige Erzbischof von Prag, Weihbischof Jan Tyrawa aus Breslau und Nuntius Erzbischof Erwin Josef Ender, damals in Prag, später in Berlin päpstlicher Botschafter. Im Vorfeld war das Grab als zentraler Erinnerungsort würdig hergerichtet und mit einer zweisprachigen Gedenktafel versehen worden. Die Urne wurde exhumiert und untersucht. Ein zweiter solcher, westdeutscher Gedächtnisort für den Märtyrerpriester ist ebenfalls 2002 in Telgte entstanden, wohin die Grafschafter Katholiken seit der Vertreibung ihre Jahreswallfahrt führt. 2010 hat die nahe der Propsteikirche St Clemens befindliche Gedenktafel eine Plakette zum Andenken an die Seligsprechung erhalten, die vom Vertriebenenbischof, dem Erfurter Weihbischof Reinhard Hauke, im Rahmen der 64. Jahreswallfahrt der Glatzer nach Telgte gesegnet wurde. Einen entscheidenden Schritt kam der Seligsprechungsprozess im April 2002 voran, als die Positio fertig gestellt war.23 Unter der Positio ist die Zusammenfassung aller Schriften und Dokumente des Seligsprechungskandidaten zu verstehen. Auf 427 Seiten enthält sie weiterhin einen Lebenslauf, dazu die Gutachten sowohl einer eigens eingesetzten theologischen wie einer historischen Kommission sowie die Protokolle der im Verfahren gehörten Zeugen. Alles fein säuberlich ins Italienische übersetzt. Ein großer Vorteil im Vergleich zu anderen zur selben Zeit in Rom anhängigen Selig21 22 23
Vgl. Franke u.a.: Kaplan Gerhard Hirschfelder, ein Märtyrer aus der Grafschaft Glatz. Vgl. Jung: Aus dem Nachlass des Dieners Gottes Gerhard Hirschfelder. Vgl. Positio super martyrio Gerhardi Hirschfelder, Roma 2002.
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sprechungsverfahren ist die unumstößliche Tatsache, dass Hirschfelder das Martyrium erlitten hat. Nachdem die zuständige Kongregation für die Heilig- und Seligsprechungen ihr positives Votum erteilt und Papst Benedikt XVI. am 29. März 2010 das entsprechende Dekret unterzeichnet hat, stand dem positiven Ende eines 12-jährigen Prozesses mit der feierlichen Seligsprechung durch Joachim Kardinal Meisner am 19. September 2010 im Dom zu Münster nichts mehr entgegen.
Fazit Leben, Leiden und Verehrung. Alle drei Elemente gehören unabdingbar zusammen und machen erst den Seligen bei Gerhard Hirschfelder aus. Die illegitime Herkunft dürfte zumindest indirekt von ihm als Herausforderung wahrgenommen worden sein, in seiner Aktivität als Priester mehr zu geben als andere. Dabei war er kein Hitzkopf, der seine individuelle Mutprobe bestehen wollte. Schließlich unterrichtete er seinen kirchlichen Vorgesetzten stets von allen Schritten, die er unternahm. Aber auf die Sublimierung ihm ohnehin eigener Tugenden wie Selbstdisziplin, Geradlinigkeit und Freigebigkeit wird seine familiäre Situation durchaus Auswirkungen gehabt haben. Das Schicksal des jungen Priesters Gerhard Hirschfelder steht exemplarisch für den Versuch der Einschüchterung und Verfolgung des niederen Klerus durch das NS-Regime, um den Einfluss der katholischen Kirche als konkurrierender Macht auf lokaler Ebene zurückzudrängen. So reihen sich die Konflikte Hirschfelders in den Kampf des NS-Regimes gegen die katholische Kirche ein und dies gerade auch in der zunehmenden Steigerung ihrer Bedrohlichkeit. Eckpunkte des Konflikts waren ja einerseits eine gewisse, vom Konkordat rechtlich garantierte äußere Sicherung der Pastoral und andererseits eine fortschreitende Aushöhlung des kirchlichen Einflusses auf die Gesellschaft bei gleichzeitiger Verbreitung antichristlicher Normen bis hin zur Erhebung der eigenen Ideologie zum Religionsersatz. Wenn sein Gegenspieler Rogowski sich an Hirschfelders Einsatz für den KJMV stieß, so berührte er damit auf lokaler Ebene eben nur eines der vornehmsten Objekte nationalsozialistischer Verdrängungspolitik.24 Gerhard Hirschfelder aber geriet als unbeirrbarer Zeuge der Frohen Botschaft, als Priester-Persönlichkeit, die Menschen, vor allem Jugendlichen, Handreichungen für ein aus dem Glauben gestaltetes erfülltes Leben geben wollte, der sie resistent gegen den Ungeist der Zeit machen wollte, unverschuldet und eben nicht aufgrund eigener Unvernunft oder Unvorsichtigkeit in die Mühlen des Getriebes eines menschenverachtenden Systems. Es ist deshalb meines Erachtens mehr als symbolträchtig, dass im Jahr seiner Seligsprechung ein anderer Priester zur „Ehre der Altäre“ erhoben wurde, der mit 37 Jahren kaum älter war als Gerhard Hirschfelder als er den Schergen eines anderen totalitären Regimes zum Opfer fiel. Ich spreche von dem polnischen Priester Jerzy Popiełuszko, der 1984 von Mitarbeitern des polnischen kommunistischen Geheimdienstes ermordet und im Juni 2010 – nur 26 Jahre nach seinem Tod – in Warschau seliggesprochen wurde. Vielleicht können die Analogien zwischen dem Charisma 24
Hürten: Deutsche Katholiken 1918–1945, S. 345.
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eines Popieluszko und dem Charisma eines Gerhard Hirschfelder dazu beitragen, den Grafschaft Glatzer Märtyrer in breiteren Kreisen in Polen, vor allem in Schlesien und der Grafschaft Glatz, bekannt zu machen und sein Grab zu einer Wallfahrtsstätte in den Anliegen der Menschen zu machen. Denn steinerne Erinnerungsorte sind wichtig, noch zentraler ist aber die Nachhaltigkeit der Verehrung, damit aus einem lebendigen Seligen kein toter und vergessener Seliger wird. Jerzy Popieluszko mit seiner enormen Anziehungskraft für gläubige Menschen kann da nur Vorbild sein, zumal auch auf ihn die Worte passen, die Gerhard Hirschfelder in der Haft betete und die in einer auf Ruhm, Ehre und Reichtum, ja auf viele andere Äußerlichkeiten ausgerichteten Welt des 21. Jahrhunderts eine zum Nachdenken anregende tiefe Botschaft beinhalten: Herr, wenn man mir auch meine äußere Ehre nimmt, ich bleibe doch Kind Gottes, Kämpfer Gottes, Priester Gottes, das kann mir niemand nehmen.25
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Gebet zur 10. Kreuzweg-Station der Kreuzweg-Gebete, zit. nach Jung: Aus dem Nachlass des Dieners Gottes Gerhard Hirschfelder, S. 29.
Brückenschläge in die Gegenwart 1. Die Feier der Seligsprechung von Gerhard Hirschfelder in Münster am 19. September 2010 Von Günther Gröger
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uf den Tag genau 12 Jahre nach der Eröffnung des Seligsprechungsprozesses für
Gerhard Hirschfelder im Hohen Dom zu Münster erfolgte nun am selben Ort seine Erhebung in den „Stand der Seligen“, den die Grafschafter Katholiken als Symbol des kirchlichen Widerstands gegen das NS-Regime in der Grafschaft Glatz lange erhofft hatten. Papst Benedikt XVI. unterzeichnete am 27. März 2010 in Rom das Dekret und bestimmte die Diözese Münster, die offizielle Seligsprechungsfeier durchzuführen.
Der Hohe Dom zu Münster Der Dom in Münster trägt den Namen des Völkerapostels Paulus. Insofern besteht ein Bezug zu Gerhard Hirschfelder, als der sich besonders mit den Briefen des Hl. Paulus auseinandersetzte und ihm nacheiferte. In einer Seitenkapelle des Doms ruhen die Gebeine des Kardinals Clemens August Graf von Galen, des „Löwen von Münster“, ebenfalls ein Gegner der unheilbringenden Lehren der Nationalsozialisten. Kaplan Hirschfelders Ermutigung der Jugend, Christus-Träger zu sein und zu bleiben, wird hier im Kirchenraum durch eine überdimensionale Christophorus-Statue symbolisiert. Der Dom in Münster, wo es bisher noch keine Seligsprechung gab, ist ein sinnvoller Ort, den mutigen Kampf des Priesters Hirschfelder in der fernen Grafschaft Glatz gegen das NS-Regime durch die Weltkirche in ihrer Weise zu würdigen und ihn zum „Seligen“ zu erklären.
Erster Seliger aus dem Bereich der Grafschaft Glatz Durch Jahrhunderte richteten die Grafschaft Glatzer Katholiken ihre Bitten um Fürsprache besonders an den „seligen Arnestus von Pardubitz“, der in Glatz die Schule besuchte und dessen Gebeine in der Dekanatskirche ruhen. Er wirkte als erster Prager Erzbischof (1344), erster Kanzler der Prager Universität (1348) und enger Berater des römisch-deutschen Kaisers Karl IV., der die böhmische, italienische und deutsche Königswürde auf sich vereinigte. Als Kardinal war er sogar als angehender Papst im Gespräch, aber seliggesprochen wurde er nie! Für Kaplan Andreas Faulhaber, der während der schlesischen Kriege vom Preußenkönig Friedrich II. 1757 persönlich zum Tod am Galgen verurteilt wurde, weil er angeblich im Beichtstuhl einem Soldaten die Fahnenflucht erlaubt haben sollte, wurde zwar eine Seligsprechung angestrebt, aber nie ein offizielles Verfahren eröffnet.
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Überwältigende Teilnehmerzahl Die Erhebung Gerhard Hirschfelders zur „Ehre der Altäre“ in einer Feier, die so nur die katholische Kirche gestalten kann, erfolgte am 19. September 2010 im Hohen Dom zu Münster. Wegen der zu erwartenden großen Anteilnahme wurde das beeindruckende Ritual zeitgleich auf große Bildwände in der Überwasser- und in der St.Lamberti-Kirche übertragen, und tatsächlich waren alle drei Kirchen mit rund 4.000 Gläubigen dicht gefüllt! Zahlreiche Bischöfe, Visitatoren, Prälaten, Priester und Diakone sowie Ordensleute und etwa 40 Damen und Ritter vom Heiligen Grab zu Jerusalem nahmen an der Feier teil, die vom Metropoliten von Köln, Joachim Kardinal Meisner, geleitet wurde. Alle wurden von Dompropst Josef Alfers herzlich willkommen geheißen. Das Grün der Bischofsgewänder, das Violett des Domkapitels und der Prälaten sowie die weißen Mäntel der Ordensmitglieder mit dem leuchtend roten JerusalemKreuz und 18 Fahnen ergaben zusammen ein farbenfrohes Bild!
Die festliche Zeremonie Brausendes Orgelspiel des Domorganisten Thomas Schmitz eröffnete die Seligsprechung. Die musikalische Ausgestaltung wurde zudem vom Grafschaft Glatzer Chor unter dem Dirigat von Georg Jaschke und dem Grafschaft Glatzer Orchester unter der Leitung von Mona Veit mit der Festmesse von Ignaz Reimann, dem Grafschafter Komponisten aus Albendorf, sowie lateinischen Gesängen der Schola Ludgeriana mit Domkapellmeister Andreas Bollendorf übernommen, ergänzt durch Lieder der Gemeinde. Im Altarraum hatten der Münsteraner Altbischof Dr. Reinhard Lettmann, die Weihbischöfe Friedrich Ostermann und Heinrich Timmerevers Platz genommen, dazu die Vertriebenenbischöfe Dr. Reinhard Hauke, Erfurt, und Gerhard Pieschl (em.), Limburg, Bischof Franz-Josef Overbeck, Essen, sowie die Visitatoren Dr. Joachim Giela, Winfried König (em.), Dr. Wolfgang Grocholl, Dr Alexander Hoffmann, Dr. Lothar Schlegel , ferner - unter anderen - die Prälaten Martin Hülskamp, Münster, und Helmut Moll, Köln, sowie Franz M. Herzog, Bonn, Leiter der Arbeitsstelle für Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz.
Feierliche Konzelebration beim Pontifikalamt Joachim Kardinal Meisner zelebrierte die Festmesse zusammen mit Bischof Dr. Felix Genn, Münster, Erzbischof Dominik Duka, Prag, Bischof Dr. Ignac Dec, Schweidnitz, Nuntius em. Erzbischof Dr. Erwin Josef Ender, Rom, Bischof Joachim Reinelt, Dresden, und Großdechant Prälat Franz Jung, Münster. Es assistierten die Diakone Johannes Gröger und Ewald Pohl, während Diakon Arnold Bittner bei Einund Auszug mit dem Tragekreuz voranschritt.
1. die feier d e r s e l ig s p r e c h u n g v o n g e r h ard hirschfelder
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Der Akt der Seligsprechung Als das Kyrie aus der „Missa de Angelis“ verklungen war, wurde die offizielle Beatifikation auf die von Bischof Dr. Felix Genn vorgetragene Bitte und die Vorstellung der besonderen Verdienste des neuen Seligen durch Großdechant Prälat Franz Jung von Joachim Kardinal Meisner feierlich verkündet, indem er die „Apostolische Bulle“ vom 14. September 2010 aus Rom verlas, in der Papst Benedikt XVI. Gerhard Hirschfelder „zur Ehre der Altäre“ erhebt. Sein Festtag wird auf den 2. August gelegt. Daraufhin wurde ein 3 x 5 m großes Hirschfelder-Porträt enthüllt und eine prächtige Gedächtniskerze entzündet. Auf den Gesang des neuen Hirschfelder-Liedes und die Dankesworte des Bischofs Dr. Genn folgten das Gloria der Festmesse von Ignaz Reimann und die Lesungen.
Eine aufrüttelnde Predigt Jugendseelsorger von solchem Format möge Gott unserer geplagten Jugend gerade heute schenken und: Bei diesem jungen Priester können auch ältere Priester und Bischöfe in die Schule gehen. Kardinal Meisner zeigte sich begeistert von diesem forschen, sympathischen und schwungvollen Jugendseelsorger und dessen tiefen theologischen Kommentaren zu den Paulusbriefen und den Kreuzwegbetrachtungen, die der Eingekerkerte im Gestapo-Gefängnis in Glatz niederschrieb. Die Liebe Christi drängte ihn über alle Gefahren und Widerstände hinweg ... Sie habe ihm die Tapferkeit, die Energie des Glaubens verliehen, ein Zeuge des Evangeliums zu werden; sie gab ihm die Kraft, alle Vorsicht und Angst zu vergessen und als Prediger mutig anzuklagen: Wer der Jugend den Glauben an Christus aus dem Herzen reißt, ist ein Verbrecher! ... Mit seinem Gott sprang er gleichsam über Mauern von Angst, Vorurteilen, Feigheiten und Leisetretereien. Und Gott ließ ihn leiden. Er hat gleichsam die horizontale Lebenslinie … durch die vertikale Gotteslinie durchkreuzt, sodass aus dem Minus seiner Widersacher das Plus seines Zeugnisses geworden ist. … Gerhard Hirschfelder ist durch und durch ein solcher Plustyp. Gerhard Hirschfelder – Christ, Priester und Märtyrer – ist einer von euch. Zunächst werden das im engeren Sinne die Grafschafter und Schlesier sagen dürfen. Aber er gehöre darüber hinaus uns allen in Deutschland, jedoch auch den heutigen polnischen Mitchristen der jetzigen Diözese Schweidnitz sowie den tschechischen Christen in der Erzdiözese Prag, zu der die Grafschaft bis 1972 gehörte. Hierbei begrüßte der Kardinal herzlich den Bischof von Schweidnitz, Professor Dr. Ignacy Dec, und den Erzbischof von Prag, Dominik Duka. In der Kirche sind wir immer zuerst Kinder Gottes, Schwestern und Brüder Christi, und dann erst Mitglieder unserer Nationen.
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Dreisprachige Fürbittgebete Die Fürbitten wurden deutsch, polnisch und tschechisch vorgetragen −− um Freude und Zuversicht im Glauben und den Mut zu einem glaubwürdigen Zeugnis in der Welt, −− um Kraft für die wegen ihres Glaubens oder im Kampf für Gerechtigkeit Verfolgten, −− um den Mut für junge Menschen, dem Ruf zu einem Leben als Priester oder Ordensmitglied für das Reich Gottes zu folgen, −− um Vertrauen auf die Nähe und den Beistand Gottes bei Not, Krieg und Heimatverlust, −− um die Bereitschaft für das polnische, tschechische und deutsche Volk, gemeinsam am Aufbau Europas im christlichen Geist mitzuwirken. Dazu wurde der neue Selige um seine Fürsprache angerufen.
Eine besondere Gabenprozession Eine Gruppe von etwa 50 polnischen und tschechischen Besucherinnen und -besuchern, die von Elisabeth Kynast fürsorglich betreut wurden, brachte Wein und Hostien zum Altar. Danach wurde eine Flöte aus dem Besitz des Seligen als Zeichen für dessen Fröhlichkeit und Musikalität, mit denen er viele junge Menschen begeistert hatte, herangetragen. Es folgte ein Kelch, mit dem Gerhard Hirschfelder die Heilige Messe feierte bis zur Hingabe seines Lebens. Schließlich überbrachte man seine im Gefängnis von Glatz handgeschriebenen Kreuzweggebete, mit denen er sich in unerschütterlichem Vertrauen auf Gottes Liebe unter das Kreuz Jesu stellte, in Solidarität zu allen ungerecht leidenden Menschen. Seine Betrachtungen können zur Hilfe werden, von Gott zugedachte „Kreuze“ anzunehmen und zu tragen.
Gruß- und Dankesworte zum Abschluss Nach dem Schlussgebet wurde Gelegenheit gegeben für Grüße, Dankesworte und Freundschaftsbekundungen. −− Erzbischof Duka sieht in dem ehemaligen Priester seiner Diözese Prag einen von Deutschen, Tschechen und Polen gemeinsam zu verehrenden Diener Gottes, der als Hoffnungsträger, Mutmacher und Brückenbauer Fürbitte einlegen wird. −− Dem schloss sich Bischof Dec von Schweidnitz an, in dessen Bistum das Grab des neuen Seligen verehrt wird. Er lud alle Gläubigen zu einer Dankesmesse am 10. Oktober 2010 in Tscherbeney ein. Beide Bischöfe erhielten herzlichen Applaus. −− Der Bürgermeister von Glatz, Boguslaw Szpytma, überbrachte als Zeichen der Verbundenheit ein Kästchen Heimaterde. −− Der Marschall von Breslau, Marek Lapinski, bekundete schriftlich seine Verehrung. −− Der Bürgermeister von Bad Kudowa, Czeslaw Krecichwost, versicherte, dass alle Bewohner der Stadt Kudowa den Seligen für seinen heldenhaften Mut und seine Heiligkeit ehren werden.
1. die feier d e r s e l ig s p r e c h u n g v o n g e r h ard hirschfelder
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Schließlich richtete Großdechant Prälat Franz Jung ein herzliches Vergelt’s Gott! an alle, um keinen zu vergessen! Er dankte im Besonderen Gott für die Berufung des Priesters Hirschfelder, einen Hoffnungsträger, Mutmacher und Brückenbauer. Sein Dank galt Papst Benedikt XVI. für die Seligsprechung, Kardinal Meisner – einem gebürtigen Breslauer - für die heutige Zeremonie. Er dankte auch den Bischöfen Duka und Dec, die er herzlich umarmte. Dann wandte er sich dankend an die Landsleute aus der Grafschaft mit den polnischen und tschechischen Freunden, die die Strapazen der weiten Fahrt nicht gescheut hatten. Mit ihnen bilde sich eine große Familie heraus. Dank zollte er auch der Diözese Münster, ohne deren tatkräftige Unterstützung das Vorhaben gescheitert wäre. Hier seien besonders die Bischöfe Dr. Reinhard Lettmann, Dr. Felix Genn, Generalvikar Norbert Kleyboldt und Prälat Martin Hülskamp zu nennen! Großdechant Jung fügte noch die Einladung zu einem gemeinsamen Imbiss auf dem Domplatz an, wo Malteser Kaffee und Kuchen reichten und ein Buch über „Gerhard Hirschfelder – Priester und Märtyrer“ von Professor Dr. Hugo Goeke sowie ein dreisprachiges Sonderheft der Zeitung „Ziemia Klodzka,“ Kerzen, Umhängetücher und Taschen zum Kauf angeboten wurden. An den Schluss stellte er die letzten Worte des Seligen beim Abtransport aus Glatz: Nu macht’s ock gutt!
Eingereiht bei den Märtyrerpriestern Papst Johannes Paul II. hat etliche Glaubenszeugen, die sich des Evangeliums wegen dem Hitlerregime widersetzten und dadurch ihr Leben verloren, seliggesprochen, so z. B. 1987 Pater Rupert Mayer, 1996 die Priester Karl Leisner und Bernhard Lichtenberg, 1987 den polnischen Bischof Michał Kozal, 1999 eine Gruppe von 108 polnischen Geistlichen. Sie halten stellvertretend die Erinnerung an zahllose andere KZ-Opfer wach. Im Dom zu Münster wurde mit der Seligsprechung Hirschfelders ein Zeichen gesetzt. Das Fürbittgebet auf dem Gebetszettel gibt der Hoffnung Ausdruck, dass er als verbindendes Glied bei polnischen und tschechischen Christen eine ebensolche Verehrung finden möge, wie bei uns ganz selbstverständlich die Seligen Maximilian Kolbe, Jerzy Popiełuszko, der im Widerstand gegen die kommunistische Schreckensherrschaft ermordet wurde, oder die heilige Edith Stein, der Heilige Nepomuk und Mutter Teresa, bei denen die nationale Zugehörigkeit keine Rolle spielt.
Vigilfeier am Vorabend Am 18. September 2010 füllte sich zur Abendstunde die Liebfrauen Überwasserkirche in Münster zur Meditation. Pfarrer i. R. Eberhard Grond aus Oberlangenau nahm daran teil und erlebte mit dem Großdechanten und dem Grafschafter Chor die Einstimmung auf das Festgeschehen am nachfolgenden Tag. Er berichtet: Nach der Einführung sangen Chor und Gemeinde im Wechsel das von Winfried Offele getextete und komponierte Lied: „Wer sein Leben gibt für seine Freunde …“
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Es leitete über zur Autorenlesung von Prof. Dr. Hugo Goeke, ergänzt durch Kommentare von Dr. Hans-Josef Joest. Danach erfolgte die Segnung der neuen Fahne mit dem Bildnis Gerhard Hirschfelders und der Gedenkkerze, die schließlich in einer Lichterprozession in den St.Paulus-Dom getragen wurden, wo die Feier mit dem sakramentalen Segen endete.
Auswirkungen der Seligsprechung Gerhard Hirschfelder wurde zur „Ehre der Altäre“ erhoben – Dank der vor sechseinhalb Jahrzehnten vor allem nach Mittel-, Nord- und Westdeutschland zerstreuten Grafschafter, die noch immer zusammen- und am angestammten Glauben und ihrer Kultur festhalten. Noch immer finden sie sich als zweitstärkste Gruppe jährlich zur Wallfahrt in Telgte ein, sie wallfahren nach Werl und zu den Marienstätten in der alten Heimat, nach Maria Schnee, Albendorf, Altwilmsdorf, Glatz und Wartha. Eine große Zahl der Festteilnehmer wird zukünftig auch die Stätten von Hirschfelders Wirken in der Grafschaft aufsuchen, wo Gedenktafeln in Tscherbeney und Habelschwerdt sowie ein weithin sichtbares Kreuz auf dem Glatzer Schneeberg (1.425 m) an ihn erinnern sollen.
2. Dankgottesdienst in Bad Kudowa mit Gläubigen dreier Nationen Von Günther Gröger
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ies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah, formulierte Friedrich Hebbel einst dichterisch sein Empfinden; so könnte auch der 10. Oktober 2010 in Bad Kudowa gekennzeichnet werden. Der Kurpark zeigte sich in herbstlicher Schönheit, die Sonnenstrahlen erwärmten bereits um 10 Uhr die versammelten Gläubigen.
Gottesdienst im Kurpark Nach der Seligsprechung durch Joachim Kardinal Meisner am 19. September 2010 in Münster wurde in Bad Kudowa und Tscherbeney eine Nachfeier angesetzt. In der offenen Wandelhalle hatte man ein Podest als Altar aufgebaut und auf der gesamten Freifläche Stühle bereitgestellt. Etwa 2.000 Gottesdienstbesucher versammelten sich hier zur Dankesmesse für die Seligsprechung des Jugendseelsorgers Gerhard Hirschfelder, des Märtyrers von Dachau. Viele trugen ein gelbes Dreiecktuch über den Schultern mit dem Bild des Seligen und dem Schriftzug „Seliger (bzw. Blogosławiony) Gerhard Hirschfelder“.
Besucher aus drei Nationen Neben der ortsansässigen polnischen Bevölkerung aus Bad Kudowa und Umgebung nahmen viele tschechische Christen aus der nur wenige hundert Meter entfernten Tschechischen Republik teil, darunter überwiegend deutschstämmige Grafschafter, die 1945 auf tschechoslowakisches Gebiet geflohen waren. Aus der Bundesrepublik reisten mit drei Bussen und privaten Pkws Wallfahrer an, die ebenfalls überwiegend aus der Grafschaft Glatz stammten; weitere vier Busse brachten Angehörige der deutschen Freundschaftskreise aus Breslau, Waldenburg und Oberschlesien heran.
Farbenprächtiger Einzug Die Prozession in die Wandelhalle führten Fahnenabordnungen an; ihnen folgten Ministranten, etwa 20 Theologiestudenten und ca. 40 Priester. Sie geleiteten Prof. Dr. Ignacy Dec, den hier zuständigen Bischof von Schweidnitz, zusammen mit Josef Kajnek, Weihbischof in Königgrätz, und Prälat Franz Jung, Großdechant und Visitator für die Priester und Gläubigen aus der Grafschaft Glatz zum Altar. Der Bischof zog mit Mitra und Hirtenstab ein, der Visitator neben ihm trug ebenfalls eine Mitra: Zeichen des gegenseitigen Respekts, unterschiedliche Aufgaben in der selben Kirche zu erfüllen.
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Die Lebensdaten Vor der Messe wurde die Lebensgeschichte des Seligen noch einmal in deutscher und nachfolgend in polnischer Sprache vorgetragen, wobei wohl die meisten Anwesenden sich schon vorher darüber informiert hatten; denn nicht allein auf deutscher Seite wurde der Lebensweg Gerhard Hirschfelders auf mehrfache Weise schriftlich vorgestellt. Auch den polnischen Gläubigen standen im Vorfeld ein Sonderheft der dreisprachigen Zeitschrift „Ziemia Klodzka“, Faltblätter, Kreuzwegbüchlein, Heiligenbildchen, Gebetszettel, Comic-Darstellungen oder das Buch von Zdzisław Szczepaniak zur Verfügung.
Begrüßungsworte Der Bürgermeister von Bad Kudowa, Czeslaw Krecichwost, betonte: Kaplan Gerhard Hirschfelder betrachten wir hier in Kudowa als einen Priester, der zu uns gehört – der als Märtyrer starb und unseren Herzen sehr nahe ist durch seine heldenhafte Tat und sein Wirken als Kaplan in Tscherbeney/Czermna. Bürgermeister Bogusław Szpytma von Glatz, der in Münster ein Kästchen mit Heimaterde überbracht hatte, sagte: Es herrsche Einigkeit darüber, dass Deutsche wie Polen Opfer des Totalitarismus geworden seien. Zu den Patronen der Stadt Glatz, dem Hl. Franz Xaver und dem Seligen Arnestus von Pardubitz, trete nun Gerhard Hirschfelder als Fürsprecher hinzu. Auch heute sei Standhaftigkeit gefragt; denn es sei durchaus aktuell, der Jugend den Glauben aus dem Herzen zu reißen. Landrat Krzysztof Baldy sah in der Seligsprechung eine Freude für das Glatzer Land. In das Schatzkästchen des Glatzer Landes mit kostbaren Kulturgütern wie Kirchen und Kapellen, mit Werken von Michael Klahr und Ignaz Reimann, aber auch mit schmerzhaften Einschnitten einer schwierigen Geschichte, komme jetzt die heldenhafte Tat des Seligen, sein Leben hinzugeben. Ein Saal des Glatzer Gymnasiums werde künftig seinen Namen tragen.
Feierliche Liturgie Bischof Ignacy Dec zelebrierte dann das Pontifikalamt in Konzelebration mit Weihbischof Josef Kajnek, mit Großdechant Prälat Franz Jung und Prälat Romuald Brudnowski aus Tscherbeney sowie einem Prälaten aus der Diözese und mit zwölf Priestern in goldschimmernden Gewändern. Zeremoniar Dieter Schöngart dirigierte diskret und gekonnt den Ablauf. Der bekannte Chor „Salve Regina“ aus Bad Salzbrunn intonierte lateinische Gesänge. Er sang ein Kyrie-Lied, vor dem Evangelium das „Alleluja“ von Mozart, und auch beim Sanctus und Agnus Dei ließ er die Stimmen erklingen. Die Lieder der mitfeiernden Gemeinde ertönten mal in Deutsch, mal in Polnisch. Aus bewegtem Herzen kam vielstimmig das traute „Über die Berge schallt“ und das noch ungewohnte feierliche Hirschfelder-Lied.
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Zweisprachige Predigt Lesung und Fürbitten erfolgten ebenfalls in beiden Sprachen, und Bischof Dec unterteilte auch seine Predigt. Im polnischen Teil sagte er - so berichtet Irena Rogowska, dass durch die Seligsprechung ein heller Schein auf das deutsche Volk gefallen sei, ein Beweis, dass sich nicht alle Deutschen vom Naziregime überwältigen ließen. Als drei Tugenden des Seligen habe er herausgestellt: Die Liebe zu Gott, den Mut und die Tapferkeit. Um die ihm anvertrauten Jugendlichen zu schützen, habe er ohne Angst gegen das Böse angekämpft: Wer der Jugend den Glauben an Christus aus dem Herzen reißt, ist ein Verbrecher! Diese Tugenden würden auch heute gebraucht. Gerhard Hirschfelder fordere, gute nachbarliche Beziehungen zu bauen. Alle seien Kinder Gottes; sie sollten danken und beten, um das Evangelium – wie der Selige - wahren zu können. In deutscher Sprache hob er hervor, wie wichtig ihm das Danken sei. Dankbarkeit sei die Erinnerung des Herzens, Dankbarkeit verbinde in Liebe den Menschen mit Gott und die Menschen untereinander. An diesem Tage solle vor allem für die Seligsprechung des Kaplans Gerhard Hirschfelder gedankt werden, der immer an der Seite der Wahrheit, der Freiheit und der Liebe gestanden habe. Deswegen sollen Sie, liebe Schwestern und liebe Brüder von Deutschland, stolz sein. Kardinal Meisner habe im Dom zu Münster gesagt: In der Kirche sind wir immer zuerst Kinder Gottes, Schwestern und Brüder Christi, und dann erst Mitglieder unserer Nationen. Als jetziger Heimatbischof des Seligen möchte er allen für ihre Mithilfe zur Seligsprechung herzlich danken. Er bedanke sich vor allem bei dem lieben Herrn Großdechant und Prälat Franz Jung für seinen Mut und seine Hingabe, die uns die Seligsprechung Gerhard Hirschfelders gebracht hat. Er danke allen Pilgern für deren Gebet. Er wisse sehr gut, dass seit 64 Jahren die Grafschafter zur Schmerzhaften Mutter von Telgte pilgerten. Am 27. September dieses Jahres sei er selbst als Pilger dort gewesen und habe an der Wallfahrtskirche auf einer Wandtafel gelesen: 1946 aus der Heimat vertrieben, fanden wir hier kirchliche Heimat. Er habe dort und einen Tag später auf dem Annaberg für alle Pilger gebetet und sie der Gottesmutter empfohlen. Liebe Schwestern, liebe Brüder, preisen wir, loben wir Gott in dieser Eucharistie für seine Gnaden und Gaben. Danken wir ihm für die Erhebung von Kaplan Gerhard Hirschfelder zur Ehre der Altäre. Möge der Selige unser guter Fürsprecher bei Gott sein. Amen.
Dank und Ehrungen Am Ende der liturgischen Feier spendeten sich Deutsche, Polen und Tschechen, gegenseitig Lob und Anerkennung. Bischof Dec, Großdechant Jung und Prälat Brudnowski erhielten als Zeichen des Dankes Blumensträuße überreicht. Auch Teresa Bazala und Julian Golak, der als Ritter vom Heiligen Grab zu Jerusalem an der Feier teilnahm, ehrte man mit Blumengebinden. Beide waren schon bei der Eröffnung des Seligsprechungsprozesses in Münster.
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Dem Großdechanten Franz Jung verlieh Bischof Dec den höchsten kirchlichen Orden der Diözese, das vergoldete „Stanislaus-Kreuz“ aus Silber. Der Heilige Stanislaus wurde 1253 heiliggesprochen, nachdem er im Auftrag des Königs Boleslaw, den er exkommuniziert hatte, 1079 in der Michaelskirche in Krakau ermordet worden war. Er wird als Patron Polens, Krakaus und der Diözese Schweidnitz verehrt. Die herausragende Auszeichnung erhielt anschließend auch Elisabeth Kynast, geborene Schmidt aus Grenzeck, die „Schmidt Liesel“, die sich über Jahrzehnte hinweg um das Grab Hirschfelders kümmerte, es pflegte und sich Verdienste um Vorbereitung und Durchführung der Seligsprechung und als frühe „Brückenbauerin“ erworben hat.
Prozession vom Kurpark zum Grabe Hirschfelders Im Anschluss an den Gottesdienst bewegte sich eine lange Prozession zur Gedenkstätte in Tscherbeney. Die Bischöfe und Priester trugen noch ihre Messgewänder, die Messdiener ihre Ministrantenkleider. Feuerwehrleute marschierten mit in ihrer schwarzen Uniform. Vereine, die sich beispielsweise zur Erinnerung an Verbrechen in Katyn und Verschleppungen nach Sibirien gegründet haben, beteiligten sich mit Fahnenabordnungen. Neben der bekannten Fahne mit dem Bild des Arnestus von Pardubitz wurde auch die neue Grafschafter Fahne mit dem Bildnis des Seligen in der Prozession mitgetragen. Auf einer hölzernen Trage schulterten uniformierte Männer ein großes gerahmtes Foto des Geehrten für die Gedenkstätte in Tscherbeney. Unterwegs betete man den Rosenkranz, wieder im Wechsel zwischen Deutsch und Polnisch. Der Weg führte durch den herbstlichen Kurpark zum Ziel auf dem Tscherbeneyer Friedhof und zu einer feierlichen Segnungszeremonie an der neugestalteten Gedächtnisstätte. Dabei erklang das Hirschfelder-Lied in polnischer Sprache nach der Melodie des Liedes „Wohl denen, die da wandeln“(GL 614). Die Feier schloss mit dem „Salve regina“.
Geselliges Beisammensein Den kirchlichen Feiern folgte ein „internationales“ Treffen auf der an den Friedhof angrenzenden Pfarrwiese, wo man noch einige Stunden bei Speise und Trank vergnügt zusammensaß. Zum Glück waren viele, vor allem deutschstämmige Besucher dabei, die dank ihrer Zwei- oder auch Dreisprachigkeit ein Gespräch miteinander ermöglichten.
Rahmenveranstaltungen Zwei Tage vorher hatte man in Bad Kudowas „Fürstenhof“ ein deutsch-polnisches Symposium anberaumt. Geschichtslehrer und Priester referierten vor Schulklassen mit ihren Lehrern/innen über Gerhard Hirschfelder, seine Zeit und sein Martyrium. Am Rednerpult standen bekannte Persönlichkeiten wie Zdzisław Szczepaniak, Waldemar Wieja, Dr. Tomasz Blaszczyk, Dr. Bogusław Konopka. Dr. Tadeusz Miron-
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czuk und Prof. Tadeusz Fitych. Von deutscher Seite sprach Großdechant Jung zu der Schülerschar, und Elisabeth Kynast berichtete über eigene Erfahrungen im Umfeld des Kaplans. Deutsche Teilnehmer/innen bereisten in zwei Bussen unter der bewährten Leitung von Johannes Güttler die Orte, in denen in letzter Zeit Gedenkstätten errichtet wurden, z. B. Glatz, Habelschwerdt, Oberlangenau und Winkeldorf.
Heimat bleibt Heimat Diese Pilgergruppe war auch nach Albendorf ins „schlesische Jerusalem“ gefahren, wo sie in der Wallfahrtsbasilika mit Konsistorialrat Pfarrer Walter Junk in Konzelebration mit Großdechant Franz Jung, Prälat Johannes Adam, Pfarrer Heinz-Werner Bittner, Prof. Dr. Hugo Goeke, Prof. Dr. Georg Hentschel und Propst Josef Kuschel einen Gottesdienst feierte. Ihnen assistierten die Diakone Ewald Pohl, Kurt Reinelt und Peter Schiller. Unverhofft kam dazu auch Bischof Dec, der sich in einer kurzen Ansprache an die gläubigen Grafschafter wandte, die den Kirchenraum bis auf den letzten Platz füllten. Heimat bleibt Heimat, bis zum Ende des Lebens. Sie sind hier zu Hause! Spontaner Beifall zeigte ihm, wie sehr er die Gefühlslage der Anwesenden getroffen hatte.
Das Kriegsende in der Grafschaft Glatz und die Vertreibung ihrer Bewohner Von Otto Menzel Die Hintergründe der Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg
I
m Februar 1946 begann auch für die Einwohner der Grafschaft Glatz die Ver-
treibung aus der angestammten Heimat. Sie reihten sich ein in die insgesamt 14 Millionen Deutschen, die ihre Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen mussten. Dieses Ereignis hatte eine längere Vorgeschichte, die hier kurz skizziert werden soll: Bereits im Dezember 1941 forderte der Ministerpräsident der polnischen Exilregierung, Sikorski, anlässlich seines Besuches in den USA in einem Memorandum, die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze anzuerkennen. Zugleich bestand die Exilregierung wiederholt auf der Entfernung der deutschen Bevölkerung aus diesen Gebieten. Neben der nationalstaatlichen Ideologie bestimmten aber auch andere Motive die polnischen Forderungen: Macht- und Besitzstreben, Entschädigungen für die Verluste an Menschen und Gütern und Wiedergutmachung für die Verbrechen im Generalgouvernement. In einem Entwurf schlugen die Briten 1944 vor, Deutschland in Besatzungszonen aufzuteilen. Die deutschen Ostgebiete sollten abgetrennt und die dort lebenden Deutschen ausgesiedelt werden. Auf den Konferenzen der „Großen Drei“ (Churchill, Roosevelt und Stalin) im November 1943 in Teheran, im Februar 1945 in Jalta und – nach Roosevelts Tod und Churchills Abwahl in etwas anderer Zusammensetzung – Ende Juli/Anfang August 1945 in Potsdam wurde in diesem Sinne Europa neu geordnet. Stalin war nicht bereit, die im Hitler-Stalin-Pakt verankerten Gebietsgewinne, die zu Lasten Polens gingen, wieder rückgängig zu machen. Das führte zur Westverschiebung der polnischen Grenzen und zur Entfernung der polnischen Bevölkerung (etwa 1,5 Millionen Menschen) aus den 1921 an Polen verlorenen, nun aber wieder zur Sowjetunion gehörenden Gebieten. Der Verlust von Lemberg, einem der großen Zentren Polens, hatte den Verlust von Breslau zur Folge ... Eine ewige Feindschaft zwischen Deutschland und Polen lag durchaus im Kalkül von Stalin, der hoffte, Polen damit auf Dauer außenpolitisch an sich binden zu können.1 Churchill stimmte den territorialen Plänen Stalins ausdrücklich zu, und so kam es auf der Konferenz von Potsdam zur Entscheidung über die territorialen Veränderungen und die Vertreibung der Deutschen. Es sollte nicht vergessen werden, dass an der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus dem Osten außer dem Diktator Stalin und der vom Deutschenhass getriebenen polnischen und tschechischen Gesellschaft zwei westliche parlamentarische 1
Ther: Deutsche und polnische Vertriebene, S. 40.
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Demokratien aktiv mitgewirkt haben und der monatelange Transport der Vertriebenen in die britische Zone den englischen Namen „operation swallow“ trägt.2
Die Monate vor Kriegsende in der Grafschaft Glatz Die Grafschaft Glatz war von Kriegshandlungen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges im Mai 1945 verschont geblieben und so zur Zuflucht für eine sehr große Zahl von Menschen aus bombengefährdeten Großstädten und Flüchtlingen aus den östlichen Kampfgebieten geworden. Die ersten, die in der Grafschaft Zuflucht suchten und fanden, waren Evakuierte aus den Großstädten des Ruhrgebietes sowie aus Köln und Berlin. Es folgten Trecks von Umsiedlern aus Siebenbürgen und dem Banat, die durch das Glatzer Land weiter nach Westen zogen. Als nächste Gruppe kamen viele Oberschlesier, die versuchten, über die Grafschaft Glatz und Böhmen nach Süddeutschland zu gelangen.3 Die Flüchtlingswelle nahm Mitte Januar 1945 mit Beginn der großen Offensive der Roten Armee dramatisch zu. Die verbreitete Angst vor den Russen und der Wunsch, sich vor dem Kriegsgeschehen in Sicherheit zu bringen, ließ die Menschen oft in wilder Panik in das vermeintlich sichere Gebiet flüchten. Die Fluchtbewegung verstärkte sich noch, als die deutschen Befehlshaber die Gebiete links und rechts der Oder räumen ließen. Die meisten dieser Flüchtlinge blieben aber nicht im Glatzer Gebiet, sondern zogen weiter nach Böhmen. Am 23. Januar 1945 kamen die ersten Flüchtlinge aus Oberschlesien. Sie erzählten furchtbare Dinge von der Begegnung mit der Roten Armee. Ende Februar wurden allein in Neuwaltersdorf 1735 Flüchtlinge gemeldet. Der Pfarrhof war mit 21 Personen belegt.4 Zwischen den Flüchtlingen zogen Kolonnen von Gefangenen, die die deutsche Wehrmacht gemacht hatte, durch die Dörfer der Grafschaft nach Westen. Sie verstärkten das Bild des Elends, zumal [auch] die gefangenen Soldaten unter körperlichen Strapazen und Hunger leiden mussten.5 Auch die Bevölkerung der Grafschaft Glatz wurde durch das Oberkommando der Wehrmacht, das die Grafschaft Glatz nach der Kapitulation Breslaus am 6. Mai 1945 zum Kriegsgebiet erklärt hatte, aufgefordert, ihre Heimat binnen 48 Stunden zu verlassen. Sie ignorierte jedoch weitgehend die Befehle, weil sie die Sinnlosigkeit der Aufforderung angesichts der vielen Flüchtlinge und des nahen Kriegsendes erkannte. Am Sonntag, dem 6. Mai 1945, rief der Bürgermeister und Ortsgruppenleiter ... alle Amts- und Funktionsträger ... zusammen, um die Lage zu klären. Es sollten Frauen, Kinder bis 14 Jahre und alte Leute evakuiert und per Achse bis Braunau gebracht werden. Von dort Weiterkommen auf gut Glück. Dagegen gab es Einwände. Und so kam es zu dem einzigen vernünftigen Entschluss, dass alle am Ort blieben und keiner die Heimat verließ.6 2 3 4 5 6
Sauermann: Fern doch treu, S. 3. ebd., S. 15. Lechler, früher Neuwaltersdorf: persönliche Aufzeichnungen. Sauermann: Fern doch treu, S. 19. Hoffart, früher Bad Reinerz: persönliche Aufzeichnungen.
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Hedel Richert berichtet: Am 6. Mai wurde für Volpersdorf Pack- und Räumungsbefehl erteilt. Aber wer konnte und wollte noch die Befolgung des Befehls durchsetzen? Durchziehende Soldaten gaben wohl den Leuten – vor allem Frauen – den dringenden Rat zu flüchten ... aber losfahren? Wohin? So blieb man und wollte abwarten.7 Die Berichte machen auch deutlich, wie verworren die Lage für die anwesenden Flüchtlinge und die Grafschafter Bevölkerung kurz vor Kriegsende war. Die meisten Flüchtlinge wollten das Kriegsende in dem relativ sicheren Gebiet abwarten und danach in ihre Heimat zurückkehren. Vielen Bombengeschädigten aus dem Westen des Reiches gelang das gleich nach Kriegsende. Die anderen Flüchtlinge blieben in der Grafschaft und wurden mit den Einheimischen im Jahre 1946 vertrieben. Wie überbevölkert die Grafschaft Glatz war, verdeutlichen folgende Zahlen: In der Stadt Glatz [1939: 22.000 Einwohner] hielten sich bei Kriegsende 20.000, in Habelschwerdt [1939: 7.000 Einwohner] 5.000 Flüchtlinge auf. Johannes Güttler berichtet, dass sich in Bad Landeck laut Statistik des Ernährungsamtes vom 8. Mai 1945 1.800 Ausgebombte (aus Berlin und Hamburg) befanden, dazu kamen 8.500 Flüchtlinge u.a. aus Siebenbürgen, Posen, Oppeln und Breslau. Bad Landeck hatte 1939 ca. 4.900 Einwohner! Das Dorf Lauterbach war zu Kriegsende mit Flüchtlingen und Bombengeschädigten bei einem Einwohnerstand von rund 740 Personen mit rund 1.800 Flüchtlingen belegt. In Sälen und Schulräumen waren Massenquartiere eingerichtet und eine sogenannte Volksküche teilte Mahlzeiten aus.8 Viele Flüchtlinge hatten das Sudetenland als Ziel, weil sie dort keine sowjetischen Truppen vermuteten. In den ersten Maitagen waren die Straßen noch voll von Militär und Flüchtlings trecks, alles bewegte sich in Richtung tschechische Grenze in der Annahme, man würde hinter der Grenze ungeschoren davon kommen. ... [Doch] alle, die noch das Sudetenland erreicht hatten, erlebten dort die Hölle, denn die Tschechen machten blutige Jagd auf alles Deutsche.9 Die Entscheidung, nach Böhmen zu flüchten, erwies sich für viele als fatal, denn die Flüchtlinge gerieten bei Kriegsende in den tschechischen Aufstand, der sich in zahlreichen Racheakten gegen Deutsche Luft verschaffte. Der Schlachtruf der Aufständischen lautete: Tod den deutschen Okkupanten! Diese Revolutionäre etablierten in vielen Orten ein System konsequenter Verfolgung der Sudetendeutschen. Es kam vielerorts zu pogromartigen Szenen. Zwar richtete sich die Wut der Tschechen in erster Linie gegen die Sudetendeutschen, aber auch die ... Flüchtlinge aus Schlesien ... hatten bei den Vergeltungsmaßnahmen ... mitunter eine geradezu sadistische Behandlung zu erleiden, die in mancher Hinsicht schlimmer war als die brutalen Gewalttaten sowjetischer Truppen, vor denen sie geflohen waren.10 7 8 9 10
Richert, früher Volpersdorf: persönliche Aufzeichnungen. Gröger, H., früher Lauterbach: persönliche Aufzeichnungen. Sprey: Meine Erinnerungen, persönliche Aufzeichnungen. Bundesministerium für Vertriebene, Bd. I, S. 59.
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Die Tschechen drängten die Deutschen über die Grenze zurück, sodass besonders in den Grafschafter Grenzdörfern eine große Enge entstand. Die tschechischen Milizen führten bei der Verfolgung von Deutschen auch grenzüberschreitende Aktionen durch. Besonders betroffen war das Grafschafter Grenzdorf Batzdorf. Auch die Tschechen waren in unser Dorf gekommen. Ein sinnloses Vertreiben und Morden begann. Bestialisch wurden Männer und Frauen unseres Dörfchens hingerichtet. Auch der Vater meiner Schulfreundin starb so grausam.11 Nach dem 9. Mai 1945, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, setzte ein gewaltiger Rückkehrerstrom aus Böhmen und Mähren ein. Die Flüchtlinge, von den Soldaten der Roten und polnischen Armee ausgeplündert, kamen zu Fuß in die Grafschaft Glatz zurück, wo sich Versorgungslage und Unterbringungsmöglichkeiten dramatisch verschlechterten.
Das Kriegsende in der Grafschaft Glatz: Die Besetzung durch die Rote Armee Im Unterschied zu den übrigen Teilen Schlesiens, die schon Monate zuvor von den sowjetischen Truppen besetzt worden waren, marschierten russische Soldaten erst am 8. Mai 1945, nach Kriegsende, in die Grafschaft Glatz ein. Die Ereignisse, die sich dabei abspielten, stellten zweifellos den tiefsten Punkt der Erniedrigung dar, den die Deutschen dort erleben mussten. Massenhafte Vergewaltigungen von Frauen, willkürliche Tötung vieler Deutscher, Raub und Misshandlungen begleiteten den Einzug der Roten Armee. Abgesehen von den physischen und psychischen Schädigungen, die die Vergewaltigungen für die betroffenen Frauen bedeuteten, haben besonders die Brutalität und Schamlosigkeit, mit der sich die Vorgänge vollzogen, zur Verbreitung von Angst und Schrecken unter der deutschen Bevölkerung geführt. Die Grafschaft Glatz war zur Plünderung freigegeben. Alles, was die Rotarmisten im besetzten Gebiet vorfanden, Sachen, Vieh und Menschen, wurde als Kriegsbeute betrachtet. Dies gilt buchstäblich auch für die Menschen, denn viele Misshandlungen und Morde geschahen mit der gleichen erschreckenden Zufälligkeit und geradezu Beiläufigkeit, mit der Fensterscheiben und Wohnungseinrichtungen zerschlagen wurden. Viele Morde geschahen auch als brutale Reaktion auf Widerstand gegen Beraubung und Maßnahmen von Gewalt, besonders, wenn sich Frauen Vergewaltigungen widersetzten oder Verwandte oder Bekannte sie zu schützen versuchten. Es gab dagegen kaum einen Schutz. Die Länge der Schreckensperiode für die Zivilbevölkerung ... hing in erster Linie davon ab, welche Haltung die zuständigen Militärkommandanten einnahmen und wie energisch sie die in Auflösung befindliche Truppendisziplin betrieben.12 Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass in den Zeitzeugenberichten der Einmarsch der Roten Armee einen zentralen Platz einnimmt. Vergewaltigungen und 11 12
Sprey: Meine Erinnerungen. Hofmann: Nachkriegszeit in Schlesien, S. 28.
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Plünderungen stehen im Mittelpunkt der Beschreibungen über die Zeit nach der Kapitulation. Franz Rotter aus Steinbach schreibt: Angst und Sorge verbreiteten sich, als sowjetische Truppen in den ersten Maitagen den Warthaer Pass überschritten und in die Grafschaft einfielen. In Windeseile verbreiteten sich die Nachrichten und Gerüchte über schreckliche Gräueltaten der Russen in Glatz und Umgebung.13 Maria Felgenhauer (Altwilmsdorf ) überliefert: Am 8. Mai drangen Mongolen und Russen in das Dorf ein. Sie waren alle schrecklich betrunken. Die Dorfbewohner hatten von dem Augenblick an keine ruhige Minute mehr. Tag und Nacht waren junge Frauen, ja sogar Frauen bis ins hohe Greisenalter vor Vergewaltigungen nicht mehr sicher. Viele junge Mädchen wurden darum von ihren Angehörigen versteckt. Aber täglich wurden mehrere Vergewaltigungen bekannt (auch in meiner Familie!). In einer Familie wurden Vater, Mutter und Tochter erschossen, weil die Eltern das Mädchen vor einer Schändung schützen wollten.14 Marianne Kaschel aus Niederhannsdorf schildert die Vorgänge so: Wir Kinder, meine Mutter, unsere Mieterin, die Flüchtlinge verbrachten die Nacht zum 8. Mai im Keller unseres kleinen Hauses. Die Kellerfenster waren mit Mist zugepackt als Schutz vor Granatsplittern ... Und in der Nacht hörten wir das furchtbare Schreien um Hilfe, denn die Russen waren auf den Hof gekommen und hatten alle Frauen und Mädchen vergewaltigt, ob jung oder alt, keine war verschont geblieben. ... Von diesem Tage an haben meine beiden großen Schwestern nicht mehr zu Hause geschlafen. Zuerst war ihr Quartier bei einem Nachbarn über dem Kuhstall. Zwischen Decke und Heuboden befand sich ein Zwischenraum [von] etwa ½ Meter Höhe, dort verbrachten sie mehrere Wochen, der Nachbar brachte ihnen das Essen.15 Pfarrer Alfred Langer aus Neundorf schreibt darüber: Noch am selben Nachmittag kamen russische Kavalleristen und deuteten ihren Besitz auf dieses Fleckchen Erde an. Kühe und Pferde wurden aus den Ställen gezerrt ... Keine Frau war vor den betrunkenen russischen Soldaten sicher. Jeden Abend mussten sie vor der Zudringlichkeit der Siegermacht flüchten. Vergewaltigungen kamen täglich vor. Männer, die sich schützend vor die Frauen stellten, wurden erschossen.16 Die Vergewaltigungen hinterließen bei allen betroffenen Frauen, aber nicht nur bei diesen, tiefe seelische Verletzungen und eine ausgeprägte Scham. Die schrecklichen Geschehnisse werden deshalb in den Berichten oft nur angedeutet. Die Berichte über Vergewaltigungen sind geprägt von einem bis heute andauernden Tabu. Die Vorfälle werden mehr angedeutet, als genauer beschrieben. Man scheut sich, darauf genauer einzugehen. ... Über Sexualität spricht man nicht und über sexuelle Zwangshandlungen erst recht nicht.17 Neben den Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen wird immer wieder über die Plünderungen durch russischen Truppen berichtet; so u.a. von Franz Gröger: 13 14 15 16 17
Rotter, früher Verlorenwasser: Vom Kriegsende bis zur Vertreibung, S. 5. Felgenhauer, früher Altwilmsdorf: persönliche Aufzeichnungen. Kaschel, früher Nierderhannsdorf: persönliche Aufzeichnungen. Langer, früher Neundorf: persönliche Aufzeichnungen. Sauermann: Fern doch treu, S. 58.
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In den folgenden Tagen kam es zu zahlreichen Plünderungen. Vielen Bauern nahmen die Russen die Pferde und Wagen weg. Auch viel Schlachtvieh wurde aus den Ställen geraubt ... und Lebensmittel. Schmuck, Uhren, Fahrräder, Radios, alles was glänzte und nicht sehr gut versteckt war, wurde eine Beute der marodierenden Soldaten.18 Aus Neuwaltersdorf berichtet dazu Annelies Lechler: Am 9.5. 1945 kamen die ersten russischen Autos an. Die Offiziere waren freundlich, es geschah zunächst kein Unrecht, und wir alle waren froh. Aber dann zogen immer mehr Siegertruppen durch. Und dabei wurden Pferde, Fahrräder und Uhren gestohlen und geraubt. In manchen Häusern wurde geplündert.19 Aber es plünderten nicht nur Rotarmisten, sondern auch marodierende, polnische Zivilisten, und die Plünderungen zogen sich bis zur Vertreibung hin. Herbert Gröger hält fest: Die Polen im Dorf wurden immer dreister und die Plünderungen gingen oft nach dem Motto vor: „Uns gehört sowieso alles.“ Bei den polnischen Plünderungen konnte man unterscheiden zwischen den Plünderungen, die durch die Staatsorgane durchgeführt wurden. Es erschienen dann Milizionäre in Uniform als Vertreter des polnischen Staates mit der Begründung einer Hausdurchsuchung nach Waffen; dabei nahmen sie alles mit, was ihnen gefiel. Die andere Art war die, dass die Gemeindeorgane, also Bürgermeister und Zugehörige, willkürliche Hausdurchsuchungen vornahmen und dabei sich schadlos hielten. Die dritte Art waren die wilden Plünderungen, bei denen sich ein paar Polen zusammentaten und die Häuser durchstöberten nach Dingen, die ihnen gefielen.20 Es waren überwiegend junge Männer, die Beute machten, aber auch ehemalige Zwangsarbeiter. Diese Aktionen fanden in aller Öffentlichkeit und vor allem tagsüber statt. Die zuständigen Ortskommandanten griffen nicht in das Geschehen ein und wiesen Beschwerden rigoros zurück. Die Überfälle und Plünderungen durch die Polen wurden von den Grafschaftern, die ja derselben Konfession angehörten wie die Polen, als besonders hinterhältig und beschämend empfunden. Die Polonisierung und der Deutschenhass dieser Angehörigen einer gemeinsamen katholischen Kirche passte nicht zu der von ihnen oft demonstrativ vorgebrachten Frömmigkeit.21 Den Großdechanten der Grafschaft Glatz erreichten zahlreiche Schreiben der örtlichen Geistlichkeit, so am 25. August 1945 eines aus Ludwigsdorf, die auf die Vergewaltigungen und Plünderungen erschüttert hinwiesen: Beifolgendes Schreiben ist ein eiliger, dringlicher Notschrei aus Ludwigsdorf. Konsistorialrat Pfr. Strangfeld bittet um Hilfe des Generalvikariatsamtes! Wenn die Plünderungen, Vergewaltigungen, Erschießungen usw. nicht bald aufhören, ist es mit der hiesigen Bevölkerung bald aus. Das hält niemand aus ... Und solche Notrufe kommen fast täglich aus der ganzen Grafschaft. Gott erbarm sich.22 18 19 20
21 22
Gröger, Franz: Wie mir meine liebe und schöne Heimat zur Hölle wurde, S. 10. Lechler, früher Neuwaltersdorf: persönliche Aufzeichnungen. Gröger, Herbert: Lauterbach, in: Großpietsch (Hg.): Die Grafschaft Glatz/Schlesien 1945/1946, S. 149f. Sauermann: Fern doch treu, S. 142. Pohl: Pfarrchronik, S. 398.
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Alle Grafschafter fragten sich, wie diese schreckliche Zeit sich weiter entwickeln würde. Viele Gerüchte und Vermutungen traten an die Stelle von Informationen, denn der Besitz von Radios war den deutschen Bewohnern streng verboten. Paul Allnochs Tagebuchaufzeichnungen machen deutlich, dass die Grafschafter Bevölkerung keine Informationen darüber besaß, was mit ihr geschehen würde: 7. Juni 1945: Entgegen ersten Gerüchten, dass Schlesien ... bei Deutschland bleiben soll, erzählt man heute, dass wir zu Russland kommen sollen, ... Genaues weiß niemand, da keine Zeitung kommt und man kein Radio hört. ... Man hört die widersprechendsten Gerüchte. Im Radio soll es geheißen haben, dass Schlesien deutsch bleibt und Polen hinaus müssen – aber nicht gehen! Nach der Konferenz von Potsdam notiert Allnoch: Heut soll das Resultat der Konferenz bzw. der Grenzziehung bekannt gegeben werden. Fast von allen hört man, dass die Radios die traurige Nachricht brachten, dass Schlesien rechts der Lausitzer Neiße polnisch wird. Man kann es kaum glauben und hoffnungslos hoffen, dass es nicht der Fall ist. Hiermit ist unser Leben wertlos geworden, da wir für die Zukunft vor einem Nichts stehen. So sieht unser Leben, nachdem man bisher nur gearbeitet, aus. Leid muss es einem um die Kinder und Kindeskinder tun.23 Aber endgültige Gewissheit hat Allnoch erst am 19. Februar 1946, drei Tage vor der Vertreibung! Schlechte Nachricht mitgebracht, wonach Schlesien zur Vermeidung eines Krieges mit Russland den Polen zugesprochen ist und wir evakuiert werden.24
Unterstellung der Grafschaft unter polnische Verwaltung und Einwanderung von Polen Ehe die Bevölkerung der Grafschaft Glatz ihre Heimat verlassen musste, lebte sie viele Monate lang erst unter russischer und nachfolgend unter polnischer Herrschaft im Zustande völliger Rechtlosigkeit und unter kaum zu beschreibenden Lebensbedingungen. Willkür der neuen Behörden, Schikanen, Übergriffe, Plünderungen und dazu noch die völlig unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln vor allem in den Städten machten das Leben unerträglich. Seit den Beschlüssen von Potsdam waren die Deutschen auch in der Grafschaft Glatz Angehörige eines fremden Landes und ihnen waren nach Gomulka solche Bedingungen zu schaffen, dass sie nicht da bleiben wollen.25 Bevor die Städte und Dörfer Anfang Juni 1945 unter polnische Verwaltung gestellt wurden, gab es eine Periode des Übergangs, des Neben- und Durcheinanderregierens von Russen und Polen. Die Zuständigkeiten wechselten mehrmals, und in vielen Fällen verweigerten die sowjetischen Militärkommandanturen sogar die Übergabe der Verantwortung an die neuen polnischen Behörden. Im Kreis Glatz beispielsweise forderten die sowjetischen Kommandanten sogar den Abzug der polnischen Zivilverwaltung.26 23 24 25 26
Allnoch, Paul, früher Niederhannsdorf: Tagebuch. ebd. Ther: Deutsche und polnische Vertriebene, S. 56. Vgl. Hofmann: Nachkriegszeit in Schlesien, S. 109.
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Das Verhältnis zwischen Polen und Russen war in Ostdeutschland infolge der gegenseitigen Konkurrenz in der Beherrschung des Landes naturgemäß sehr gespannt, und in vielen Orten ist es zu fortgesetzten Auseinandersetzungen, ja sogar zu Schießereien zwischen ihnen gekommen.27 Franz Rotter berichtet darüber: Das Vieh, das sie auf den einzelnen Höfen zusammengetrieben hatten, nahmen die Russen mit. Riesige Herden wurden durch die Grafschaft getrieben und nach Russland transportiert.28 Den Bauern nahm man die Pferde weg, sodass sie Schwierigkeiten hatten, die Felder zu bestellen. Gleichzeitig erfolgte die Beschlagnahme von Schweinen, Schafen und Geflügel. Bei dem Viehzusammentrieb wurden auch die Güter nicht verschont. So sollen von dem Niederschwedeldorfer Dominium insgesamt 66 Pferde, 120 Kühe, 30 Zugochsen und 600 Schafe abtransportiert worden sein. Aus Grafenort stammen die folgenden Zahlen: von den 600 hochwertigen Milchkühen wurden ca. 400 nach Osten getrieben ... Die tägliche Milchlieferung an die Molkerei Habelschwerdt verringerte sich daher von 2–3000 Liter Milch bei Kriegsende auf 50 bis 80 Liter in der „Polenzeit“. Von ca. 45 000 Stück Rindvieh der Grafschaft Glatz waren im Februar 1946 nur noch 3 000 Tiere vorhanden.29 Im Sommer 1945 kamen viele polnische Zivilpersonen in die Grafschaft, die sogleich begannen, die Geschäfte, Handwerksbetriebe und Bauernhöfe für sich zu beschlagnahmen. Jede Initiative seitens der deutschen Bevölkerung zur Neubelebung der Wirtschaft wurde damit im Keime erstickt. Die Folge war eine katastrophale Verschlechterung der Versorgungslage vor allem in den Städten. Rudolf Herzig schreibt: Für die Deutschen wurden die Lebensumstände ... immer schwieriger. In den Geschäften gab es nichts ... mehr zu kaufen, überleben konnte man nur, indem Wäsche, Kleidung und Sonstiges auf dem Schwarzmarkt eingetauscht wurde. In allen Häusern und Bauernhöfen musste Platz gemacht werden für polnische Familien.30 Je mehr Polen in die Grafschaft kamen, umso bedrückender wurde die Situation. Die ersten Ankömmlinge suchten nicht einen neuen Wohnsitz, sondern in erster Linie nach Beutegut. Erst nach und nach wanderten Polen ein, die in der Grafschaft sesshaft werden wollten. Sie kamen fast ohne Gepäck. Auch nach der Übernahme der Verwaltung durch Polen beschlagnahmte die Rote Armee große Teile der landwirtschaftlichen Produktion. So wurden beispielsweise nach der Ernte 1945 80 % des Wintergetreides in die Speicher der Armee gebracht, was sich verheerend auf die Versorgung der deutschen und polnischen Bevölkerung auswirkte. Paul Allnoch notiert dazu am 15 August 1945 in seinem Tagebuch: Die Karger-Mühle, bisher von Polen verwaltet, wurde wieder von den Russen übernommen, dabei die Polen hinaus gejagt und [die] russische Fahne gesteckt. Der polnische Bürgermeister, bisher Treuhänder, wurde von den Russen verprügelt.31 27 28 29 30 31
Bundesministerium für Vertriebene: Vertreibung der deutschen Bevölkerung, Bd. 1, S. 105. Rotter: Vom Kriegsende bis zur Vertreibung, S. 9. Sauermann: Fern doch treu, S. 35. Herzig: Heimatbuch Mittelsteine. Allnoch: Tagebuch.
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Der Bevölkerung wurde immer deutlicher, dass sie rechtlos den neuen polnischen Besitzern des Landes ausgeliefert war. Wegen ihrer Brutalität und Willkür wurde die polnische Miliz von der Bevölkerung mehr gefürchtet als die Truppen der Roten Armee. Franz Rotter schreibt dazu: Deutsches Leben galt nicht mehr viel in Schlesien. Erschreckend deutlich wurde uns allen die Tatsache, als am Jahresende zwei völlig unschuldige Bauern ... von polnischen Milizionären auf unmenschliche Weise umgebracht wurden. Das Leben unter polnischer Herrschaft wurde immer unerträglicher.32 Von einem geordneten Besitzerwechsel der Bauernhöfe von den Deutschen zu den Polen konnte keine Rede sein. Verwalter kamen, nahmen kurzzeitig Besitz und verschwanden wieder, nachdem sie die Häuser mehrmals geplündert hatten. Franz Rotter beschreibt die Vorgänge: Kaum eine halbe Stunde nach Abzug der Russen vom Hof erschien eine Abordnung der polnischen Landverwaltung. Zwei Verwalter wurden eingewiesen. Jetzt fing der Leidensweg erst richtig an. Als Eigentümer hatte ich nichts mehr zu sagen. Arbeiten musste die Familie von früh bis spät in die Nacht. Von Vergütung oder Bezahlung war keine Rede. Was der Hof abwarf, verkauften die Verwalter sofort.33 Die polnische Regierung fasste im Juni 1945 einen Kabinettsbeschluss, der die Ansiedlung von 2,5 Millionen Siedlern in den neuen Gebieten vorsah. Diese Zahl wurde nie erreicht. Die Behörden transportierten die polnischen Neusiedler nach Anweisung der Siedlungsabteilungen in ihre Zielorte und überließen sie dort mehr oder weniger sich selbst. Die Ankömmlinge waren unzureichend informiert und lebten in völliger Ungewissheit über ihre Eigentums- und Nutzungsrechte. Sie fühlten sich allerdings als Sieger und schikanierten die deutsche Bevölkerung. Das Interesse der politisch Verantwortlichen konzentrierte sich vor allem darauf, eine möglichst große Zahl von Siedlern in möglichst kurzer Zeit in die neuen Gebiete zu schaffen.34 Die neuen Besitzer kamen zunächst nicht aus Ostpolen, sondern es waren in erster Linie polnische Rückwanderer aus Deutschland und dem Ausland, erst später reisten Polen aus der Gegend von Lemberg an. In den Städten mussten die Deutschen innerhalb kürzester Frist ihre Wohnungen räumen und lebten dann oft in Notunterkünften. Auf dem Land verlief die polnische Ansiedlung etwas langsamer. Es dauerte bis Ende 1945, bis alle Höfe und Anwesen mit Polen besetzt waren.35 Auf größeren Höfen wurden oft mehrere polnische Familien untergebracht, die ihre Zuständigkeiten unter sich aufteilen mussten, vor allem die Dienste der Deutschen, was zu erheblichen Spannungen unter ihnen führte. Administrative Maßnahmen der polnischen Behörden ab Sommer 1945 machten der deutschen Bevölkerung klar, dass die eingeleiteten Veränderungen endgültiger Art waren, und dies empfand die deutsche Bevölkerung als Katastrophe. Doch was dann wirklich geschah, hatte keiner erwartet. Es folgte eine rücksichtslose, vom polnischen Chauvinismus geprägte Unterdrückung und Ausbeutung der 32 33 34 35
Rotter: Vom Kriegsende bis zur Vertreibung, S. 24. ebd. Hofmann: Nachkriegszeit in Schlesien, S. 96. Sauermann: Fern doch treu, S. 108.
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deutschen Bevölkerung. Sie begann mit der systematischen Polonisierung und vielen Maßnahmen zur Verelendung der Deutschen, die in einen rechtlosen Zustand versetzt wurden.36 Die Polonisierung ging einher mit der Entdeutschung. Die deutschen Straßennamen in den Städten, alle Firmen und Ortsschilder wurden Anfang Juni 1945 durch polnische ersetzt, Hinweisschilder auf Amtsgebäuden in polnischer Sprache abgefasst und polnisch als Amtssprache eingeführt. Alle offiziellen Verlautbarungen geschahen auf Polnisch, das die meisten Deutschen nicht verstanden. Die deutschen Denkmäler, vor allem die Kriegerehrenmale, mussten ... abgetragen werden. Die Polen ließen die Grabsteine auf den Friedhöfen zerstören und die darauf befindlichen deutschen Inschriften entfernen.37 Ziel war, alle Zeichen deutscher Vergangenheit verschwinden zu lassen und den neuen Besitzstand zu dokumentieren. Die Bücher im Standesamt und die dazu gehörigen Akten wurden von nun an durch die polnischen Behörden verwaltet. Die deutschen Schulgebäude waren ab sofort nicht mehr für deutsche Schülerinnen und Schüler zugänglich. Die Veränderungen machten auch nicht vor den Kirchen Halt. Die neue Gottesdienstordnung bevorteilte die polnischen Bewohner sehr deutlich: Erst durften die Polen den Gottesdienst feiern, dann die Deutschen, deren Messen oft von Polen gestört wurden. Die polnischen Geistlichen waren stark von nationalistischen Gefühlen geprägt, und dass die Grafschafter Bevölkerung auch katholisch war, war selbst für sie ohne Bedeutung. Zu welchen Handlungen dieser Hass sogar innerhalb der Geistlichkeit fähig war, zeigt der Bericht des letzten Abtes der Benediktiner-Abtei Grüssau, der davon berichtet, wie im Kreise Landeshut ein polnischer Dominikanerpater den deutschen Pfarrer persönlich aus dem Pfarrhaus verjagte, der dann bei seinem evangelischen Amtsbruder Obdach erhielt.38 Von Zeitzeugen wird wiederholt berichtet, dass Plünderungen von einigen Ortsgeistlichen ausdrücklich gebilligt wurden. Lieselotte Scholz schreibt: Der polnische Pfarrer hat gepredigt, dass das Plündern keine Sünde ist, es ist nur eine Enteignung der Deutschen und eine Vergeltung.39 Die deutschen Geistlichen wurden zudem mehr und mehr aus ihrer Funktion gedrängt und durften nur mit Billigung der polnischen Geistlichen ihre Aufgaben wahrnehmen. Am 20. September 1945 notierte Großdechant Dr. Monse: Heut kam ein Schreiben des Primas von Polen, Cardinal Hlond, an: Das Amt des Glatzer Generalvikariats bleibt ab 1. Oktober in der Schwebe. ... Das Glatzer Land untersteht kirchlich ab 1. Oktober dem Apostolischen Administrator von Niederschlesien in Breslau.40 36 37 38
39 40
ebd., S. 92. ebd., S. 102. Blaser: 40 Jahre Vertreibung, in: Großpietsch (Hg.): Die Grafschaft Glatz/Schlesien 1945/1946, S. 21. Scholz, früher Neurode: Tagebuch. Pohl: Pfarrchronik, S. 398.
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Damit Polen und Deutsche voneinander zu unterscheiden waren, wurde das Tragen von weißen Armbinden mit einem „ N“ (Niemiec) für die Deutschen im Alter über 10 Jahre angeordnet. Jeder über zehn Jahre musste am linken Arm eine weiße Binde tragen, um als Deutscher kenntlich zu sein. Auf offener Straße wurden dann an dieser Armbinde erkennbare Deutsche von Zivilisten und uniformierten Polen grundlos niedergeschlagen und mit Fußtritten traktiert, schreibt Hermann Henkel aus Habelschwerdt.41 Nach Übernahme der Verwaltung durch die polnischen Behörden verteuerten sich die Lebensmittel um das Zehnfache, ein Krankenhausaufenthalt sogar um das 20fache, der Kurs des Złoty wurde auf 2:1 gegenüber der Reichsmark festgelegt und die Sparkonten der Deutschen gesperrt. Die städtische Bevölkerung hatte darunter besonders schwer zu leiden. Die Dinge des täglichen Lebens, sofern sie überhaupt vorhanden waren, wurden für sie immer weniger bezahlbar, die Verdienstmöglichkeiten immer seltener und der Erwerb von Złotys, dem einzigen gültigen Zahlungsmittel, immer schwieriger. Die Ausgabe von Lebensmittelkarten, die allerdings nur die erhielten, die einer regelmäßigen Arbeit nachgehen konnten, sorgte zwar für die Zuteilung von Brot und Kartoffeln, aber das reichte bei weitem nicht aus, sodass der Verkauf von Kleidungsstücken und Gebrauchsgegenständen an Polen oft die einzige Einnahmemöglichkeit der Deutschen blieb. Es gab zwar auch Brot auf dem freien Markt zu kaufen, aber dafür musste viel polnisches Geld ausgegeben werden, das die meisten Deutschen nicht hatten. Darüber hinaus erhielten die deutschen Arbeitskräfte nur 25 % bis 50 % des Lohnes eines polnischen Arbeiters. Vor allem Kinder aus den Städten zogen in die Dörfer, um dort nach Lebensmitteln zu betteln. Sie gingen hamstern.
„Wilde“ Vertreibungen der Deutschen Eine besonders grausame und äußerst brutale Maßnahme der polnischen Armee und Milizen stellte die wilde Vertreibung vieler Deutscher im Juni 1945 dar. Die Vertreibungen waren insofern wild, als sie schon vor der Konferenz von Potsdam, auf der die Vertreibung der Deutschen erst beschlossen wurde, durchgeführt wurden. Die offizielle Begründung der Polen für diese Maßnahme war, Platz für die polnischen Neusiedler zu schaffen. Die polnische Miliz sperrte am 1. Juni 1945 die OderNeiße-Grenze für alle nach Osten ziehenden Deutschen hermetisch ab und ließ nur Grenzüberschreitungen in westlicher Richtung zu. Betrachtet man den Ablauf dieser „wilden Vertreibungen“, werden die Zweifel an dem eigentlichen Gedanken, lediglich Platz für umgesiedelte Polen zu schaffen, größer. Viel eher ging es darum, den Deutschen und den alliierten Partnern vor Augen zu führen: Hier ist kein Platz mehr für Deutsche.42 Polnisches Militär ließ nach festen Plänen – zunächst im Einverständnis mit der sowjetischen Führung – Ortschaft für Ortschaft u. a. in Niederschlesien ... aus den unmittelbar östlich der Oder [und] Lausitzer Neiße gelegenen Territorien – 200 km ins 41 42
Henkel: Die letzten Tage von Habelschwerdt, S. 11. Lemberg/Franzen: Die Vertriebenen, Hitlers letzte Opfer, S. 134.
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Land gehend – durch Militär- und Milizeinheiten zu Fuß auf das westliche Ufer der Oder bringen. ... Voll gepferchte Güterzüge transportierten Menschen aus den weiter entfernt gelegenen Gebieten in Großstädte und zu den Eisenbahnknotenpunkten der Sowjetischen Besatzungszone.43 Wie hasserfüllt diese Vertreibung vorbereitet und durchgeführt wurde, macht ein Dokument deutlich, aus dem der Historiker Philipp Ther zitiert: Auf der Sitzung des Zentralkomitees der polnischen Arbeiterpartei am 21./22. Mai 1945 gab der Generalsekretär ... Gomulka folgende Losung aus: An der Grenze ist ein Grenzschutz aufzustellen und die Deutschen sind hinauszuwerfen, denen die dort noch sind, sind solche Bedingungen zu schaffen, dass sie nicht da bleiben wollen. Der Grundsatz, von dem wir uns leiten lassen wollen, ist die Säuberung des Terrains von den Deutschen.44 Polen war entschlossen, bis zur nächsten Konferenz der Alliierten in Potsdam die Zusammensetzung der Bevölkerung so zu verändern, dass sich die polnischen Ansprüche auf diese Gebiete auch mit ethnischen Argumenten begründen ließen. Die Aktion wurde Mitte Juli plötzlich abgebrochen. Ein Grund dafür war sicherlich die Wirkung dieser schrecklichen Vorgänge auf die Westmächte, ein anderer war, dass durch die massenhaften Vertreibungen in die Sowjetische Besatzungszone dort katastrophale Zustände u.a. in der Versorgung eintraten. Auch in der Grafschaft Glatz wurden durch die polnischen Milizen und die polnische Armee wilde Vertreibungen durchgeführt. In vielen Orten, so in Neurode und Wünschelburg, kündigten Bekanntmachungen die Vertreibungen in folgender Weise an: Befehl Damit die deutsche Bevölkerung wieder ruhig im Lande leben kann, ist durch erfolgte Eingliederung der Westgebiete zu Polen Zwangsevakuierung für die gesamte deutsche Bevölkerung aus den Grenzgebieten angeordnet worden. Die Evakuierung wird wie folgt durchgeführt: Teil I Sammelort: Mittelsteine, am 26. Juni 1946 Marschziel: Mittelsteine, Reichenbach ... Görlitz. ... II. Teil Der Aussiedlung unterliegen alle deutschen Volksgenossen mit folgenden Ausnahmen: Alle Beamten, Angestellten, Arbeiter der öffentlichen Verwaltung, Handwerker mit besonderer Genehmigung ... Ärzte, Sanitäter, Fachmänner: Ingenieure, Arbeiter, welche in Fabriken und Werkstätten und Anstalten beschäftigt sind.45 Generalvikar Dr. Monse befasst sich in mehreren Eintragungen mit den wilden Vertreibungen: 29. Juni 1945: Ein böser Tag! Seit gestern ist ein Befehl der Polen angeschlagen: Damit die Deutschen ruhig leben können, wird Zwangsevakuierung angeordnet. Bei Widerstand wird Gewalt angewendet. Ausgenommen sind die, die einen Ausweis haben.46 43 44 45 46
Bundesministerium für Vertriebene: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, Bd. I, S. 115. Ther: Deutsche und polnische Vertriebene, S. 56. Sauermann: Fern doch treu, S. 95. Pohl: Pfarrchronik, S. 391.
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Seine Eintragung vom 2. Juli 1945 macht die Ratlosigkeit gegenüber den eingeleiteten Entwicklungen deutlich und weist auch darauf hin, dass keine Informationen zwischen der polnischen und der örtlichen deutschen Geistlichkeit ausgetauscht wurden. Es entstehen drei Fragen: 1. Ist die Grafschaft polnisches Staatsgebiet? ... 2. Erfolgt die Evakuierung mit Zustimmung der Alliierten in Berlin? 3. Wenn ja, lässt sich nicht eine mildere Form der Evakuierung wählen? ... Die Glatzer Evakuierten (29. Juni) kehren zurück. 47 26. Juli: Hilferufe aus Bad Landeck! Dort wird mit der Evakuierung begonnen. Hilferufe auch aus Rengersdorf, Niederhannsdorf! Aus demselben Grund. Man erwartet alles von der Kirche und denkt nicht daran, dass sie fast machtlos ist. Ein Telefunk(?)befehl soll am nächsten Tage früh 8 Uhr angekommen sein und verlangte die Einstellung der Evakuierung.48 Aber nicht in allen Teilen der Grafschaft Glatz kam es zu wilden Vertreibungen. Betroffen waren vor allem Habelschwerdt, Glatz, das Bieletal und die Gegend um Neurode. Im Kohlenrevier setzte in der zweiten Junihälfte eine Massenflucht der deutschen Bevölkerung ein. Die Menschen flüchteten mit ein paar Sachen unter dem Arm aus der Stadt, um den Peitschenhieben und Schlägen der Austreiber zu entgehen. Im nördlichen Teil des Neuroder Gebietes gelangten die Deutschen weit über die Grenzen der Grafschaft Glatz hinaus bis in die Gegend von Liegnitz. Nach drei Tagen kehrte der allergrößte Teil der Bevölkerung nach Neurode zurück. Der eigentliche Zweck der Austreibung war offenbar erfüllt. So waren viele Wohnungen, insbesondere die besseren Häuser, inzwischen mit Polen besetzt worden, so dass die Bewohner zu ihrem größten Schmerz nicht mehr in ihre Wohnungen konnten.49 In Volpersdorf hieß es am 28. Juni 1945: Die Deutschen müssen raus! So haben die Dorfbewohner das Nötigste auf den Handwagen gepackt und sind geflüchtet, meist in den Wald. Die Miliz hat sich nicht weiter um sie gekümmert, so sind sie in der Nacht oder nach einigen Tagen zurückgekehrt, schreibt Hedel Richert.50 Über die wilden Vertreibungen in Habelschwerdt berichtet Hermann Henkel, der letzte deutsche Bürgermeister dieser Stadt: Um 12 Uhr machten sie bekannt, dass die gesamte Einwohnerschaft von Habelschwerdt zusammen mit den Flüchtlingen sich bis 16 Uhr auf dem Sportplatz zu versammeln hätte. Es durften nur 25 kg Gepäck mitgenommen werden. Abmarsch geht in Richtung Glatz. Die Schlüssel seien mit Straße und Hausnummer versehen gebündelt abzugeben. Diese Aufforderung wurde alle zehn Minuten wiederholt. Es gab großes Entsetzen und helle Aufregung. ... Um 16.30 Uhr war durchgegeben worden, dass das Militär die Wohnungen kontrollieren werde. Es war bis zu diesem Zeitpunkt niemand gegangen. Dann begann die polnische Miliz die Ritterstraße auszuräumen. Wer keinen Schein vorweisen konnte, wurde rücksichtslos ausgetrieben. ... Die Soldateska schlug mit Gewehrkolben und Gummiknüppeln auf die Menschen ein, warf 47 48 49 50
ebd. ebd., S. 395 Stiller: Neurode, in: Großpietsch (Hg.): Die Grafschaft Glatz/Schlesien 1945/1946, S. 206. Richert: Kriegsende in Volpersdorf, persönliche Aufzeichnungen 1986.
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sie die Treppen hinunter und verschonte auch Kranke nicht. ... Alle wurden wie eine Herde Schlachtvieh zum Hauptbahnhof getrieben und in weiß gekalkte Viehwaggons gestoßen und nach Glatz gefahren. Dort kümmerte sich kein Mensch um diese Armen, und so kamen sie nach drei Tagen Fußmarsch in denkbar schlechtester Verfassung wieder in der Heimatstadt an. Hier konnten sie aber nicht in ihre Wohnungen, denn die waren schon von den Polen besetzt.51 Wilde Vertreibungen erfolgten auch entlang der Grenze auf tschechischer Seite durch tschechische Sonderkommandos: Tschechische Soldaten klopften. Innerhalb einer halben Stunde sind Haus und Hof zu verlassen. Türen und Schränke mussten geöffnet bleiben. Schmuck und Geld ist abzugeben. Auf dem Wege zur Dorfmitte gesellten sich Freunde und Bekannte zu einem langen Treck. Viele Stunden waren vergangen. Wir standen in der prallen Sonne. Endlich wurden wir über die Grenze nach Marienthal getrieben.52 Die wilde Vertreibung hatte im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung schreckliche und nachhaltige Wirkungen. Diese Aktion hatte dazu geführt, dass der deutschen Bevölkerung schlagartig klar wurde, dass die Kluft zwischen Deutschen und Polen unüberwindlich groß geworden war und ein erträgliches Zusammenleben beider Volksgruppen schwer zu verwirklichen sein würde.53 Die polnische Verwaltung der deutschen Ostgebiete begann im Juni 1945. Sie wurde durch das Potsdamer Abkommen de facto anerkannt und durch die Verträge von 1972 und 1990 endgültig legitimiert. Die Polen nannten die neu hinzu gewonnenen Gebiete von vornherein Wiedergewonnene Gebiete und wollten damit dokumentieren, dass diese 700 Jahre lang deutsch besiedelten Gebiete immer polnisch gewesen seien.
Die organisierte Vertreibung der Deutschen aus der Grafschaft Glatz Den wesentlichen Einschnitt für die weitere Entwicklung der Grafschaft Glatz stellte die Konferenz von Potsdam dar. Auf ihr wurden die „illegalen“ Maßnahmen der polnischen Regierung weitgehend von den drei Alliierten legalisiert. Zu dem Einverständnis der westlichen Regierungschefs haben ferner die von ihnen nicht nachprüfbaren falschen Angaben der sowjetischen und polnischen Stellen über die geringe Zahl der in den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie noch zurück gebliebenen Deutschen beigetragen. Stalin hatte zunächst behauptet, es befänden sich überhaupt keine Deutschen mehr dort, während die polnische Regierung eine geschätzte Zahl von 1 ½ Millionen einräumte. In Wahrheit befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch mindestens fünf Millionen Deutsche in diesen Gebieten.54 Die drei Siegermächte stimmten darin überein, dass bis zur endgültigen Festlegung der Westgrenze Polens in einer Friedenskonferenz die Gebiete östlich der Oder 51 52 53 54
Henkel: Die letzten Tage von Habelschwerdt, S. 10. Sprey: Meine Erinnerungen, persönliche Aufzeichnungen. Sauermann: Fern doch treu, S. 99. Blaser: 40 Jahre Vertreibung, in: Großpietsch (Hg.): Die Grafschaft Glatz/Schlesien 1945/1946, S. 19.
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und Neiße unter die Verwaltung des polnischen Staates gestellt werden sollten. Die Alliierten stimmten weiter darin überein, dass die Überführung der deutschen Bevölkerung nach Deutschland ausgeführt werden muss. Sie stimmten auch darin überein, dass jede derartige Überführung in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll. Den einzelnen Verbündeten wurde aufgetragen, die Verantwortung dafür in ihren jeweiligen Besatzungszonen zu übernehmen. Am 17. November 1945 beschloss der Alliierte Kontrollrat einen Plan zur Überführung der deutschen Bevölkerung auf die einzelnen Besatzungszonen nach folgendem Verteilerschlüssel: Amerikanische Zone: 2,25 Millionen, Britische Besatzungszone 1,5 Millionen, Sowjetische Besatzungszone 2,75 Millionen Menschen, und in die Französische Besatzungszone, die etwas später eingerichtet wurde, sollten 150.000 Personen gebracht werden. Zur Kontrolle der Transporte wurden in Stettin und Kohlfurt britische Militärmissionen eingerichtet, die am 18. Februar 1946 mit ihrer Arbeit begannen. Die meisten der Betroffenen erlebten die von den Politikern beschlossene Maßnahme als eine Handlung voller Menschenverachtung und Grausamkeit. Die Vertreibung wurde offiziell nicht von der russischen Besatzungsmacht, sondern von der polnischen Regierung durchgeführt. … Das erklärte Ziel der polnischen Politiker aller Fraktionen, also der Kommunisten und Nichtkommunisten sowie der katholischen Kirche Polens, war es, ein Land zu schaffen, in dem es keine Deutschen mehr geben sollte.55 Den russischen und polnischen Behörden lag daran, die betroffenen Deutschen über die anstehenden Pläne möglichst lange im Unklaren zu lassen. Am 7. Februar 1946 veröffentlichte die polnische Regierung folgende Bekanntmachung, die der deutschen Bevölkerung aber weitgehend unbekannt blieb: Aufgrund des Entschlusses der Interalliierten Kontrollkommission wird in den nächsten Tagen mit Repatriierung der deutschen Bevölkerung aus Niederschlesien nach der englischen Okkupationszone begonnen. Die Transporte werden mit der polnischen Eisenbahn direkt zur englischen Okkupationszone Deutschlands geleitet. Damit der Transport der deutschen Bevölkerung reibungslos und bequem vorgenommen werden kann, werden Sammelpunkte eingerichtet, um von diesen dann die Einwaggonierung vornehmen zu können. Zu jedem Eisenbahnzug sind zwei Eisenbahnwaggons für sanitäre Zwecke vorgesehen. Jeder Zug wird durch eine polnische Militärabteilung gesichert. Die Teilnehmer der Fahrt dürfen mitnehmen außer der Bekleidung, die sie selbst tragen, auch Gepäckstücke, die jeder persönlich tragen kann, wobei Lebensmittel inbegriffen sind. Da Lebensmittel unterwegs nicht zu haben sein dürften, wird empfohlen, sich auf ungefähr 14 Tage mit Proviant einzudecken. Die deutsche Bevölkerung wird dringend in ihrem eigenen Interesse ersucht, während der Repatriierung Ruhe und Ordnung zu bewahren.56 So ahnten die ersten Vertriebenen nicht, dass es ein Abschied für immer sein sollte, als sie am 19. Februar 1946 abends völlig überraschend binnen einer Viertelstunde aus ihren Wohnungen in der Glatzer Schwedeldorfer Straße gejagt und nach langem War55 56
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ten auf der Straße bei eisiger Kälte und in hohem Schnee zum Finanzamt getrieben wurden. Für Familie Allnoch – nun vorgewarnt – wurde am 20. Februar 1946 – einen Tag vor Beginn der Vertreibung – die Ausweisung zur Gewissheit: Nachricht durch Dechant Monse bestätigt und alles voller Spannung. Abends um ½ 11 Uhr wurde plötzlich durch Nachbarn angekündigt, dass wir früh um 7 Uhr mit Handgepäck in Neuland zum Abtransport sein müssen. Die ganze Nacht wurde gepackt und das Nötigste zusammen gestellt.57 Vor allem die ersten Betroffenen waren überzeugt, dass die beabsichtigten Maßnahmen eine der vielen Schikanen der Polen und damit vorübergehender Art seien, so wie sie es bei den wilden Vertreibungen bereits erlebt hatten. Erst sehr spät wurde ihnen bewusst, dass es sich nun um die endgültige Vertreibung handelte. Um dem Zwang der Ausweisung zu entgehen, wich eine nicht kleine Zahl von Grafschaftern, die im Grenzland wohnten [und auch Tschechisch sprachen], in die Tschechoslowakei aus in der Hoffnung, eventuell in ihre Heimatorte wieder zurückkehren zu können.58 Die Informationen durch die polnischen Behörden über die anstehende Vertreibung erfolgten so kurzfristig, dass es den Bewohnern kaum möglich war, ein planvolles Vorgehen zu organisieren. Die meisten Befehle ergingen am späten Abend für den nächsten Tag durch die polnische Miliz – und oft in schikanöser Form. Viele Zeitzeugen, darunter Maria Felgenhauer, beschreiben die Vorgänge: An einem Sonntag Abend um 21.30 Uhr, es war der 24. Februar 1946, kamen die Polen mit dem Befehl ins Haus, dass alle Deutschen in einer halben Stunde am Gasthaus des Dorfes sein sollten. ... Bei Schneesturm und Schneewehen bis über einen Meter Höhe machten wir uns auf den Weg zum Gasthaus. Die Mütter blieben mit ihren Kinderwagen im Schnee stecken. ... Die ganze Nacht blieben wir in der Wirtschaft und warteten auf den Augenblick, da wir wieder nach Hause könnten. Aber leider kam es anders.59 Pfarrer Alfred Langer berichtet: Ein Pole bläst aus unserer Haustür das Feuerhorn und schreit: „Alles Deutsche chalbe Stunde raus.!“ Dieser Schreckensruf fuhr uns durch alle Glieder. Innerhalb einer halben Stunde waren wir auch soweit, als polnische Milizen mit Maschinenpistolen in die Stube traten, uns befahlen, in einer Reihe anzutreten und uns mustern zu lassen ... Schließlich wurden wir hinaus beordert, jeder mit seinem Päckchen, soviel er tragen konnte.60 Ein System der Vertreibung, an dem sich die deutsche Bevölkerung hätte orientieren können, war für sie nicht erkennbar. Vieles wirkte – und war es wohl auch – zufällig und ungeordnet. Wie unmenschlich der Beginn der Vertreibung war, zeigt auch die Tatsache, dass eine Rücksichtnahme auf Kranke und alleinerziehende Mütter auf dem Wege zum Transportzug nicht genommen wurde. In der Grafschaft Glatz waren an Bahnstationen drei Sammelstellen für die zunächst aus ihren Wohnungen vertriebenen Menschen eingerichtet worden: Glatz 57 58 59 60
Allnoch, früher Niederhannsdorf: Tagebuch. Sauermann: Fern doch treu, S. 177. Felgenhauer, früher Altwilmsdorf: persönliche Aufzeichnungen. Langer, früher Neundorf: persönliche Aufzeichnungen.
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für die Kreise Glatz und Neurode, Mittelwalde für den Kreis Habelschwerdt und Bad Landeck für das hintere Bieletal des Kreises Habelschwerdt. Von hier aus gingen die Eisenbahntransporte mit den Vertriebenen ab. Die Bewohner der von den Sammelstellen weit entfernten Dörfer mussten Wege bis zu 30 km oft bei eisiger Kälte und in tiefem Schnee und z.T. mit Kinderwagen – das Gepäck war von ihnen zu tragen – zu den Sammelstellen zurücklegen. Diese Märsche sind vielen Menschen in schmerzlichster Erinnerung. Die Marschkolonnen wurden von polnischen Milizen, mit Gewehren und Gummiknüppeln bewaffnet, begleitet und angetrieben. In einigen Fällen wurden für den Transport zum Sammellager Glatz auch Eisenbahnzüge eingesetzt, so von Bad Kudowa und Grafenort. Das größte und wichtigste Sammellager war das Finanzamt in Glatz, ca. 2,5 Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt, von dem aus die meisten Transporte die Grafschaft verließen. Das nächst größere war das ehemalige, aus Holzbaracken bestehende Arbeitsdienstlager in Mittelwalde, das für die vielen Menschen als Unterkunft nicht ausreichte, gefolgt von Bad Landeck, wo die Sammelstelle ebenfalls im ehemali gen Reichsarbeitsdienstlager eingerichtet worden war. Von Mittelwalde und Bad Landeck fuhren Eisenbahnzüge zunächst nach Glatz, wo die Vertriebenen die Waggons nicht verlassen durften. Das Finanzamtsgebäude in Glatz war für die nach Tausenden zählenden Vertriebenen zu klein. Eigentlich sollte der Aufenthalt dort nur einen Tag dauern, aber in Wirklichkeit wurde daraus oft ein mehrtägiges Warten der zusammengepferchten Menschen, darunter viele Kinder und gebrechliche alte Leute, unter menschenunwürdigsten Umständen auf den Abtransport. Es wird wiederholt berichtet, dass die Marschkolonnen aus den einzelnen OrAbb 1: Das ehemalige Finanzamt in Glatz, ten erst spät in der Nacht ankamen und eine frühere Kaserne. zunächst nicht in den Gebäuden unterge(Aufn. Meißner 19.6.2002) bracht werden konnten. So mussten viele – manchmal sogar tagelang – im Freien auf dem Hof leben. In den Wintermonaten, in denen es sehr kalt war, führten dieses lange Warten im Freien und die Kälte in den Räumen zu Gesundheitsschäden und manchmal auch zum Tod.61 Viele Zeitzeugen beschreiben die katastrophalen Umstände der Vertreibung und in der Sammelstelle Finanzamt Glatz, so Hans Veit aus Wiesau: 61
Sauermann: Fern doch treu, S. 195.
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Am 22. Februar 1946 kam die polnische Miliz und verlangte, dass wir alle in einer Stunde unser Haus zu verlassen und uns beim Gasthaus des Dorfes einzufinden hätten. ... Es zeigte sich schnell, dass fast das ganze Dorf auf dem Weg zum Gasthaus war, in einer Nacht von mindestens 15 Grad unter Null. Nachdem wir dort mehrere Stunden herumgestanden hatten, durften wir wieder nach Hause gehen. Aber drei Tage später kam auch für die Familie Veit die endgültige Ausweisung: Diesmal wurden wir nach Glatz getrieben, Miliz vorne, Miliz hinten und auch an den Seiten ... Sie trieben uns durch den hohen Schnee und halfen mit Stöcken und Karabinerkolben nach. ... Zehn Kilometer können lang werden ... In Glatz wurden wir in das Gebäude des Finanzamtes getrieben ... Wir lagen auf dem Fußboden dicht wie die Heringe. Die hygienischen Bedingungen waren katastrophal.62 Annelies Lechler schreibt dazu: Unsere restliche Familie ... musste nun am 21.3.1946 ins Glatzer Finanzamt zur sogenannten Zollkontrolle ... Was den Polen in dem wenigen Gepäck gefiel, beschlagnahmten sie kurzerhand.63 Luzia Nößler beschreibt die dortige Situation: Das Finanzamt war zu einem riesigen Auffanglager umfunktioniert worden. Viele Menschen aus den anderen Gemeinden waren bereits dort, und es kamen ständig neue Bewohner aus anderen Dörfern dazu.64 Das Gebäude hatte drei Stockwerke. In dem obersten Stockwerk wurden die Neuankömmlinge untergebracht und im untersten die, deren Abtransport unmittelbar bevorstand. Rudolf Herzig beschreibt die Situation so: Schließlich erreichten wir die immerhin 15 Kilometer entfernte Kreisstadt Glatz und bogen auf den Holzplan ein, an dessen Ende sich das Finanzamt befand, ehemals eine Kaserne, die mit hohem Eisengitter umgeben war. Als wir näher kamen, sah ich die vielen Menschen, die sich schon innerhalb des Zaunes befanden und eine erste Ahnung dessen, was uns erwartete, stieg in mir auf. Dreißig Personen wurden dort in einen Raum eingewiesen und weiterhin sich selbst überlassen. Verpflegung gab es nicht, die hygienischen Verhältnisse waren nicht zu beschreiben.65 Und August Moschner schreibt darüber: Zum Schlafen ließ man keine Zeit, da Gepäckkontrollen gemacht wurden und manches Andenkenstück dabei „verloren“ ging. In den Kasernengebäuden herrschte ein Zustand, den man nicht beschreiben kann. ... Die Klosettanlagen waren verstopft.66 Diese Berichte machen deutlich, dass von einer humanen und ordnungsgemäßen Überführung der Bevölkerung – auch aus der Grafschaft Glatz – wie sie Abschnitt III des Potsdamer Abkommens forderte, keine Rede sein konnte. Die Deutschen waren den Polen wehrlos ausgeliefert. In den Sammelstellen erfolgte die Registrierung der Vertriebenen und danach die Zuweisung in die jeweiligen Viehwaggons des Transportzuges, der aus 50 bis 55 62 63 64 65 66
Veit: Auf verschlungenen Wegen, S. 55f. Lechler, früher Neuwaltersdorf: persönliche Aufzeichnungen. Nößler, früher Altwilmsdorf: persönliche Erinnerungen an die Vertreibung, 1997. Herzig: Heimatbuch von Mittelsteine. Moschner, Reichenau/Stolzenau, in: Großpietsch (Hg.): Die Grafschaft Glatz/Schlesien 1945/1946.
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durchnummerierten Waggons bestand. Bei der Registrierung erhielt jeder Deutsche ein Schild mit der Waggonnummer, das sichtbar zu tragen war. In der Waggonliste, die Namen, Geburtsdaten, Berufe, die Unterteilung in Männer, Frauen und Kinder enthielt und den Namen des Wagenältesten auswies, waren bis zu maximal 36 Personen aufgeführt, sodass in einem Zug bis zu 1.750 Menschen abtransportiert wurden. Von den Sammelstellen aus ging es zu Fuß zu dem jeweiligen Bahnhof, wo oft stundenlang auf das Vorfahren des Zuges gewartet werden musste. Drangsalierungen der Vertriebenen durch polnische Milizen auf dem Weg dorthin waren alltäglich. Der Boden der Viehwaggons war spärlich mit Stroh bedeckt und in der Mitte stand ein Kanonenofen mit einem Abzugsrohr ins Freie. Das Einsteigen in die Viehwagen erwies sich wegen des Höhenunterschieds vor allem für die Älteren und kleinen Kinder als besonders beschwerlich. Im Waggon stand in der Mitte ein kleiner Eisenofen, sonst lagen nur Strohballen an den Seiten ... dann wurde das Ofenrohr nach oben durch das Dach verlegt. So konnten wenigstens die Türen geschlossen bleiben. Von Innen wurden Riegel geschaffen, da auch in der Nacht immer wieder Polen [zum Plündern] kamen. Zum Schluss wurde noch ein Eimer gesucht, denn alle mussten ja irgendwann einmal, schreibt Marianne Kaschel.67 Wie brutal die Milizen sich den zum Bahnhof ziehenden Menschen gegenüber verhielten, beschreibt Hans Veit: Nach einer Woche, es war der 2. März 1946, mussten wir dann plötzlich vor dem Gebäude des Finanzamtes mit unseren Habseligkeiten antreten, die jetzt noch einmal einer Kontrolle unterzogen wurden. Dann ging es nicht etwa wieder nach Hause, sondern zum Hauptbahnhof von Glatz. Dort standen Viehwaggons. 30 bis 50 Personen wurden ... von der Miliz für einen Waggon vorgesehen. Eine Aufteilung wurde von den Polen nicht vorgenommen. Sie schrieen und stießen nach Kräften. Die Familien hatten große Not, zusammenzubleiben ... Es kam hinzu, dass es nicht leicht war, in einen solchen Waggon hinein zu kommen ... Kaum hatten wir das Gepäck hinein geworfen und waren hinterher geklettert, da wurden die Türen krachend zugeschoben und wir standen im Dunkeln. Nur über Zuruf konnten wir feststellen, ob unsere Familie vollständig geblieben war ... Der Zug fuhr an. Wohin wird er uns bringen?68 Alles spielte sich im Halbdunkel der fensterlosen Viehwaggons bei empfindlicher Kälte ab, und bis zum letzten Augenblick raubten die polnischen Milizen die Vertriebenen aus. Zuvor mussten alle zum Abtransport anstehenden Männer, Frauen und Kinder ihre Sachen auf dem Bahnsteig ausbreiten und Milizsoldaten prüften nochmals und nahmen auch das noch weg, was ihnen gefiel. Auch Leibesvisitationen wurden durchgeführt, schreibt Herbert Gröger.69 Besonders bedrückend war das Fehlen jedweder sanitärer Einrichtungen, wenn man bedenkt, wie lange die Transporte unterwegs waren. 67 68 69
Kaschel, früher Niederhannsdorf: persönliche Aufzeichnungen. Veit: Auf verschlungenen Wegen, S. 56. Gröger, H.: Lauterbach, in: Großpietsch (Hg.): Die Grafschaft Glatz/Schlesien 1945/1946, S 149f.
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Wenn der Zug [auf freier Strecke] hielt, dann liefen die Menschen hinaus, um ihre Notdurft zu verrichten, und wenn er an einem Bahnhof hielt, dann ging der Kampf um Wasser und Heizmaterial los, berichtet Herbert Gröger.70 Brennmaterial und Wasser fehlten gänzlich in den Waggons, sodass nur mit größter Mühe Essbares zubereitet werden konnte. Auch eine ärztliche Versorgung gab es nicht, sodass Kranke während des Transportes oft starben. Geplant war, die Strecke Breslau-Kohlfurt, Kreis Görlitz, in zehn Stunden zurückzulegen, tatsächlich wurden dafür aber fünf bis zehn Tage benötigt, denn sicher hatten andere Transporte Vorrang. Während des Transportes hielten die Vertriebenen die Waggontüren vor allem des Nachts oder bei kurzen Aufenthalten des Zuges geschlossen, um Plünderungen durch die Milizen zu verhindern. Bei einem Stopp in Bahnhöfen wurde vor allem von Lokomotiven Wasser geholt. Die Dauer solcher Halte war allerdings ungewiss, und so hatten alle Angst, dass der Zug wieder anfahren und sie nicht rechtzeitig zurück sein würden, was wiederholt vorkam. Wie schlimm die Transportbedingungen waren, macht eine Aktennotiz der Transportabteilung der Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler (ZVU) in der SBZ deutlich: Zu den untragbaren Zuständen bei der Polen-Aktion-Übernahme in die sowjetische Zone und Transitverkehr in die britische Zone ist folgendes zu sagen: Die Züge, die aus dem polnischen Gebiet kommen, sind zu 80 % nicht beheizbar – beheizt werden die Waggons nur für das Begleitpersonal. Die Wagendächer sind mehr oder weniger beschädigt und in den Waggons befindet sich zu wenig Stroh. Damit sind keine Liegemöglichkeiten und kein Schutz gegen die einbrechende Kälte gegeben. Die Transporte rollen tagelang durch polnische Gebiete und kommen an der Grenze bereits mit Todesfällen und hochgradigen Erfrierungen an ... warme Verpflegung und heiße Getränke sind auf polnischer Seite nicht verabreicht worden.71
Action swallow: Transporte in die Britische Zone – Erste Vertreibungswelle Die deutsche Bevölkerung der Grafschaft Glatz wurde bis Anfang September 1946 ganz überwiegend in die Britische Besatzungszone, danach in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) transportiert. Es gab zwei Hauptstrecken von der Grafschaft Glatz nach Kohlfurt ... über die die Züge Schlesien verließen: einmal über Neurode, Waldenburg und Hirschberg und zum anderen über Wartha, Kamenz, Jauer, Liegnitz, Striegau und Bunzlau. Auch wird berichtet, dass etliche Züge über Breslau geleitet wurden.72 Einzelheiten der Vertreibung. in die britische Zone legte ein Abkommen fest, das am 14. Februar 1946 – also eine Woche vor Beginn der Aktion – vom britischen und polnischen Beauftragten beim Alliierten Kontrollrat unterzeichnet wurde. Die Vertreibung aus Schlesien in die britische Zone lief zynischerweise unter dem Tarnnamen „action swallow“, also „Aktion Schwalbe“. Täglich sollten zwei Züge mit insgesamt 3.000 Menschen in Kohlfurt abgefertigt werden. 70 71 72
ebd. Wille: Die Vertriebenen in der SBZ/DDR, Bd. I, S. 85. Sauermann: Fern doch treu, S. 206.
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Danach sollte der Abtransport am 20. Februar 1946 ab Lager Kohlfurt beginnen, wo ein britisches Kommando, das sogenannte „Linson-Team“, die Transporte übernahm.73 Die Vereinbarung umfasste 12 Punkte, darunter: Die Überführung habe in humaner und geordneter Weise zu erfolgen. Polnische Wachen begleiten die Züge. Jeder Zug weist wegen der medizinischen Versorgung einen Sanitätswagen auf. Die Verpflegung für drei Tage ist sicherzustellen. Jeder Deutsche hat neben dem Handgepäck seinen Ausweis bei sich zu tragen und darf höchstens 500 Reichsmark mit sich führen. Die Desinfizierung mit DDT-Pulver erfolgt in Kohlfurt und Mariental/Alversdorf. Jeder Zug erhält einen Fahrbefehl und eine Namensliste der Zuginsassen. Für die Polen hatte unbedingten Vorrang, das Tempo der Vertreibung aufrecht zu erhalten oder, wenn möglich, zu beschleunigen, auch wenn sich die Transportbedingungen dadurch verschlechterten. Die britischen Militärmissionen an den Übergangsstellen wiesen immer wieder auf die Verstöße hin. Der Kreis Glatz machte mit der Vertreibung in die Britische Zone den Anfang. Vom 20.2.1946 an verließ täglich oder im Abstand von 2-3 Tagen jeweils ein Zug den Glatzer Bahnhof. Diese erste Ausweisung dauerte bis zum 6./7. April 1946. ... Etwa einen Monat später begann die Vertreibung der Bewohner des Kreises Habelschwerdt. Der Sammelpunkt war der Bahnhof von Mittelwalde, den am 17.3.1946 der erste Zug verließ. ... Nach einer Pause von knapp vier Monaten begann die zweite Evakuierungswelle aus der Grafschaft. ... Den Anfang machte diesmal der Kreis Habelschwerdt. Am 24.8.1946 verließ der erste Transport Mittelwalde. Bis zum 2.9.1946 fuhren von dort acht Züge ab, die in die britische Zone geleitet wurden.74 Die Transportzüge, von denen in Kohlfurt, aber auch anderswo häufig Waggons zum Verbleib in der SBZ abgekoppelt wurden, waren in der Regel sieben bis zehn Tage unterwegs. Stellvertretend für viele andere Transporte in die Britische Zone sollen die Tagebuchaufzeichnungen von Paul Allnoch aus Niederhannsdorf stehen: 22. Februar 1946: Abends um 6 Uhr fuhren wir in Viehwagen á 30 Mann Richtung Breslau ab, das wir nach Aufenthalt früh verließen. Die Fahrt ging mit vielen Unterbrechungen (auf freier Strecke) über Liegnitz, Kohlfurt, wo wir früh hielten. 23. Februar 1946: Nachmittags kamen wir in die russische Zone (oberhalb von Görlitz). Dort wurde an die kleinen Kinder 1/2 Liter Milch verteilt, und wir wurden untersucht und eingepudert [Entlausung]. Dann hielten wir auf freier Strecke. Verteilt wurde für fünf Personen ein Brot und etwas Graupe. In Kohlfurt wurden wir nach Geld gefragt und teilweise durchsucht, auch nach Uhren, und teilweise weggenommen. 24. Februar 1946: Weiterfahrt nach Wittenberg – Magdeburg. Öfters Halten und Übernachten auf freier Strecke bei kaltem Sturm. 25./26. Februar 1946: Von Magdeburg zum Lager Alversdorf, Kr. Helmstedt; gleichzeitig erreichen wir die englische Zone. Ankunft des Nachts nach 10-stündigem Halten auf freier Strecke im Auffanglager Alversdorf. 73 74
Volkmann: Das Flüchtlingslager Mariental, S. 55. Sauermann: Fern doch treu, S. 184f.
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27. Februar 1946: Ausladen gegen 2 Uhr in Baracken. Registrierung, Einspritzen [Entlausung] und erste Verpflegung (Graupensuppe) und kalte Marschverpflegung (Butter, Brot, Wurst). 28. Februar 1946: Verladen in Sonderzug (Personenwagen) nach Aurich. Beginn mittags um 1 Uhr und Fahrt bis Freitag früh um 5 Uhr.75 Die Transporte in die britische Zone verliefen alle in ähnlicher Weise. Mit der Übernahme der Zuständigkeiten durch die Briten war eine Veränderung im Verhalten und in der Versorgung gegenüber den Vertriebenen durchaus spürbar und wurde dankbar zur Kenntnis genommen. Die Vertriebenen konnten ihre Waggons verlassen und erhielten nach langer Zeit ein warmes Getränk und auch Grundnahrungsmittel. Sie konnten sich mit Wasser versorgen und wurden zum ersten Mal wieder als Menschen behandelt. Die verhassten weißen Armbinden warfen sie als Symbol der Unfreiheit und Unterdrückung bei nächster Gelegenheit weg. Die Erleichterung über das Ende der schrecklichen Zeit unter polnischer Herrschaft war groß. Franz Rotters Bericht soll für viele ähnliche stehen: Trotzdem wurde kaum ein Auge nass in dieser Nacht. Die unmenschliche Behandlung, die erbarmungslose Willkür, die Bedrückung, das erlittene Leid, die dauernde Angst haben den Abschied wohl nicht weniger bitter gemacht. Aber in sehr vielen Herzen wuchs ein Gefühl der Erleichterung. Wir waren wieder Menschen unter Menschen.76 Die ersten Transporte aus der Grafschaft Glatz durchliefen das Lager Alversdorf, das am 19. Mai 1946 geschlossen wurde. Für die meisten Transportzüge war dann das benachbarte Mariental, Kr. Helmstedt, ein ehemaliger Fliegerhorst, das Ziel. Der erste Transport aus Glatz und Umgebung traf am 28. Februar in Mariental ein. In ihm waren 1.500 Personen untergebracht, davon 266 Männer, 718 Frauen und 516 Kinder. Nach beschwerlichem Aussteigen, weil Bahnsteige oder Rampen fehlten, erfolgte in einer Baracke eine erneute Desinfizierung mit DDT-Pulver, und erst danach fand die Registrierung zusammen mit der Festlegung des Zielbahnhofs statt. Die bisherigen Waggongemeinschaften wurden dabei oft auseinandergerissen. Große Landwirtschaftsbetriebe im Kreise Helmstedt erhielten bei der ersten Kontrolle geeignete Kräfte (Landwirte) zugewiesen, die dort bleiben mussten, schreibt August Moschner.77 Der Weitertransport aus den Durchgangslagern Alversdorf oder Mariental erfolgte in Personenzügen, in denen man genau so beengt wie in den ursprünglichen Viehwaggonzügen untergebracht war. Über Hannover ging es nach Nordwesten, Westen oder Südwesten. Eine Hauptstrecke führte über Bremen, Oldenburg und Leer nach Aurich. Die meisten Transporte fuhren von Hannover aus nach Süden. Entweder endeten die Transporte an dieser Haupteisenbahnstrecke (z.B. in Herford, Bielefeld oder Ahlen), oder sie wurden von Löhne aus weiter nach Westen geleitet, über Melle nach Osnabrück. Von dort aus ging es dann teilweise weiter nach Norden bis in die Weser75 76
77
Allnoch, früher Niederhannsdorf: Tagebuch. Rotter: Vom Kriegsende bis zur Vertreibung, 1950, S. 32 oder in: Großpietsch (Hg.): Die Grafschaft Glatz/Schlesien 1945/1946, S. 175-177. Moschner, früher Reichenau: persönliche Aufzeichnungen.
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marsch oder ins Emsland. Eine zweite Westroute zweigte von Rheda ab und verlief über Warendorf, Münster in Richtung Rheine. Ein großer Teil endete in Siegen, dem südlichsten Zipfel der britischen Zone.78 An den Zielbahnhöfen waren Durchgangslager eingerichtet worden, wo man die Ankömmlinge registrierte und verpflegte. Hier wurde festgelegt, welche Familien in welchem Landkreis Aufnahme finden sollten. Verwandte, Nachbarn und Bekannte, die schon in den Transportzügen aus Schlesien zusammen waren, durften dabei zusammen bleiben. Es waren mehrere Landkreise, die ein Kontingent von Vertriebenen unterbringen mussten. Von Siegen aus wurden die Ausgewiesenen in das Wittgensteiner Land, das Sauerland und in den Kreis Lippstadt geschickt. In Rheine erfolgte eine Verteilung der Ankommenden auf die Altkreise Borken, Ahaus, Burgsteinfurt, Coesfeld und Tecklenburg, also das westliche Münsterland. Über Ahlen, Beckum und Warendorf gelangten Vertriebene ins östliche Münsterland. Elverdissen war der Ausgangspunkt für die Verteilung im Kreis Herford, Detmold für das Lipper- und Paderborner Land.79 Ähnliche Verteilungen wurden u.a. im Osnabrücker Land und in Aurich vorgenommen. (vgl. die Tabellen in der Anlage) Wie weit auseinandergerissen die Dorfgemeinschaften und die Einwohner der Städte der Grafschaft Glatz in der britischen und sowjetischen Besatzungszone wurden, macht das Beispiel der Gemeinde Seifersdorf, Kreis Neurode, deutlich, das Manfred Klinke im Grafschafter Boten vorgestellt hat. Es wurden insgesamt 390 Einwohner der Gemeinde Seifersdorf, Kreis Neurode vertrieben. Der erste Transport umfasste 210 Personen, die am 11. März 1946 Seifersdorf verlassen mussten. ... Nach Registrierung und „Entlausung“ wurden einige Waggons hier [Alversdorf oder Mariental] bereits vom Zug getrennt und in Richtung Wolfsburg/Vorsfelde weiter geleitet. Der übrige Transport mit ca. 150 Seifersdorfern endete in Brackwede ... Einige Familien wurden in den Raum Delmenhorst eingewiesen. Der zweite Transport umfasste ca. 170 Personen, die Seifersdorf am 22. Oktober verlassen mussten ... Der Transport endete in Coswig/SBZ.80 Am Beispiel Seifersdorf lässt sich auch ablesen, dass nicht alle Bewohner eines Ortes zur gleichen Zeit ausgewiesen worden sind, sondern die Vertreibung in mehreren Schüben erfolgte. Ob dahinter eine Strategie stand, dergestalt, dass eine Gemeinschaft aufgelöst wurde, um spätere Zusammenschlüsse zu verhindern, wie manche vermuten, kann allerdings nicht nachgewiesen werden. Die in Jahrhunderten gewachsenen Siedlungsgemeinschaften wurden jedenfalls – das zeigen alle Beispiele – durch die Vertreibung weitgehend zerstört. Andererseits lassen sich in nicht wenigen Gemeinden und Kreisen Ballungen von Personen aus einem Heimatdorf feststellen ... Da viele Ortschaften der Grafschaft in drei oder vier Teilschüben ausgesiedelt wurden, lässt sich oft feststellen, dass die Bewohner einer Gemeinde oder einer Siedlungseinheit auf drei bis vier Ansiedlungsräume in der britischen und sowjetischen Zone konzentriert sind.81 78 79 80 81
Sauermann: Fern doch treu, S. 218. ebd., S. 224. Kinke: Seifersdorf/Kreis Neurode, in: Grafschafter Bote, 11/2010, S. 18-21. Sauermann: Fern doch treu, S. 224.
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Die Bewohner der großen Dörfer und vor allem der Städte hat man aus Unterbringungsgründen weiter verstreut als die der kleinen Dörfer. Mehr als siebzig Prozent der Vertriebenen wurden wegen der Zerstörung der größeren Städte auf dem Land untergebracht.
Reaktion der Aufnahmegesellschaft Bei den Vertriebenen setzte sehr schnell eine starke Ernüchterung und Enttäuschung ein. Mit der Ankunft im Westen lag das Schlimmste hinter den Vertriebenen, aber ihr Unglück setzte sich fort. Denn die Einheimischen waren keineswegs bereit oder in der Lage, deren schweres Schicksal mitzutragen. Abwehr und Verachtung schlugen ihnen entgegen, und zuweilen ließ man ihnen nicht einmal das Nötigste zukommen.82 Vielerorts löste die Ankunft der Fremden Abwehr aus. Nur mit Hilfe von Zwangsmaßnahmen oder der Beschlagnahme von Wohnraum konnten die Vertriebenen eine Unterkunft finden. Es gab, berichten manche Zeitzeugen, allerdings auch Hilfsbereitschaft und Unterstützung seitens der einheimischen Bevölkerung, vor allem durch die Ortsgeistlichkeit. Die Vertriebenen aus der Grafschaft Glatz standen auch deshalb oft fassungslos und mit großer Enttäuschung dem Verhalten der Einheimischen gegenüber, weil sie selbst in den letzten Jahren des Krieges sehr viele Flüchtlinge in ihren Häusern und Wohnungen hatten aufnehmen und mit ihnen teilen müssen. Die Grafschafter waren zusammengerückt und bereit zu helfen, um das Leid der Flüchtlinge abzumildern. Diese Haltung vermissten viele von ihnen nun bei einer großen Zahl von Einheimischen, die nicht zusammenrücken wollten. Denn diejenigen, die glücklich über den Krieg gekommen und ihren Besitz weitestgehend gerettet hatten, sollten nun teilen mit den Habenichtsen, über deren Besitzverhältnisse Erich Kästner gereimt hat: Ich trage Schuhe ohne Sohlen. Und der Rucksack ist mein Schrank. Meine Möbel hab’n die Polen Und mein Geld die Dresdner Bank.83 Die Vertriebenen aus der gebirgigen Grafschaft, nach den fürchterlichen Erlebnissen im Osten und der schrecklichen Fahrt in den Westen Deutschlands traumatisiert, kamen zudem in Landschaften und zu Menschen, die ihnen völlig fremd waren, z.B. an die Nordsee. Das Zusammentreffen von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft, Konfession und Bildung, die überdies in ihren Wertvorstellungen und ihrem zivilisatorischen Status nicht übereinstimmten, musste zwangsläufig zu Spannungen führen ... Neben der Ignoranz der Einheimischen machte ihnen der abrupte soziale Abstieg zu schaffen. Ehemals selbständige Gutsbesitzer und Bauern mussten sich als Knechte und Landarbeiter verdingen, Fachkräfte aus Handel, Handwerk und Industrie sich oft jahrelang als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft durchschlagen.84 82 83 84
Kossert: Kalte Heimat, S. 47. ebd., S. 49. ebd., S. 50.
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Zwei Beispiele dazu: Am 19. März ging der Transport nach Billerbeck, dort standen schon Pferdewagen, die uns nach Beerlage brachten. Dort auf dem Platz an der Mühle war es wie auf einem Pferdemarkt, jeder Bauer suchte sich Leute aus, von denen er sich die meiste Arbeitskraft erwartete. Die Alten und Frauen mit Kindern wollte keiner haben. Sie wurden nach einer Nacht im Gasthof bei einem anderen Bauern zwangseingewiesen.85 Ähnlich Pfarrer Langer: In Quernheim [bei Diepholz] wurden wir ausgeladen. Nun standen wir auf der Dorfstraße, hörten die verantwortlichen Politiker palavern und sich sorgen, wo sie uns unterbringen sollten. Beim Gasthaus am Friedhof standen wir nun buchstäblich auf der Straße und hörten mit an, wie schwer es sei, uns in ein lebenswürdiges Umfeld zu bringen. ... man [sprach] ausschließlich Platt. Unser katholischer Glaube war plötzlich auch eine Besonderheit. Das war uns Kindern nie ein Problem gewesen. Nun fielen wir dadurch auf, dass wir sonntäglich in die Kirche gingen. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass auch wir Menschen waren.86 Dazu Auszüge aus dem Tagebuch von Paul Allnoch: 1. März 1946: In Aurich warmes Essen, Registrierung und Zusammenstellung der Transporte (8 bis 50 Personen für größere und kleinere Orte). Demnächst Beförderung durch Lastautos nach Blomberg, Kr. Aurich. Unterkunft bei Sägewerk Nanninga in der Waschküche, sehr kalt, weil vorher ungefeuert. Vier Decken von Gemeinde empfangen. 2. März 1946: Nachts vor Kälte nicht geschlafen. Heizung erfolgt mit Torf gegen Bezahlung. Untergebracht waren wir 4 dort, da uns 4, weil zu viele, niemand nahm. ... Kartoffeln und Steckrüben haben wir im Dorfe erbettelt.87 Das Leben in Notunterkünften, so u.a. in Ställen, Scheunen, Backhäusern und auf Getreideböden, war für viele Grafschafter sehr deprimierend. Besonders hart traf es die Vertriebenen, die in Massenquartieren untergebracht wurden und oft erst sehr spät eine andere Unterkunft fanden. Die von der Besatzungsmacht zugewiesenen Menschen wurden von den Bauern als sozial nicht ebenbürtig betrachtet. In den Aufnahmegemeinden suchten die Bauern billige Landarbeiter, die zupacken konnten und von denen sie sich Vorteile versprachen. Alte Frauen und Mütter mit kleinen Kindern hatten es besonders schwer, eine Bleibe zu finden. Hinzu kamen weitere Demütigungen, so u.a.: Die Vertriebenen waren oft erstaunt über das mangelnde Wissen der Westdeutschen bezüglich des deutschen Ostens. Alles, was hinter Breslau lag, gehörte zu Polen, das war wenigstens die Grundvorstellung ... Was die Vertriebenen zutiefst verletzte, war, dass sie als „Polen“ bezeichnet und auch dementsprechend angesehen wurden. Ganz besonders aufgebracht waren sie, wenn Einheimische ihnen unterstellten, ihre Muttersprache sei Polnisch.88 Der Verlust der Heimat, von Hab und Gut und oft auch der nächsten Angehörigen bedeutete für jeden Vertriebenen einen schweren Bruch in seiner Lebensge85 86 87 88
Kaschel, früher Niederhannsdorf: persönliche Aufzeichnungen. Langer, Neundorf: Chronik. Allnoch, früher Niederhannsdorf: Tagebuch. Sauermann: Fern doch treu, S. 237.
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schichte. Am härtesten war der Einschnitt aber für die älteren Menschen. Sie litten besonders unter der Trennung von der Heimat, in der sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hatten: ihre Kindheit, Schulzeit, die Familiengründung und ihre berufliche Entwicklung. Der Verlust der vertrauten Lebensgemeinschaft und ihre bis zur Vertreibung abgesicherte Existenz konnten sie kaum verschmerzen. Paul Allnoch, zur Zeit der Vertreibung über 70 Jahre alt, hat seine tiefe Resignation in ein Gedicht gefasst. Heimweh ... Du Vater mit dem Silberschein bist mit dem alten Mütterlein verbannt vom Heim und mittellos, entrechtet und Vertriebener bloß.
Bei harten Menschen, ohne Trost, bei hartem Lager, magrer Kost, muss leben man, beachtet kaum in so unglaublich schlechtem Raum.
Verjagt des Nachts zur Winterzeit, stand Freund und Nachbar schon bereit, mit wenig Kram und Proviant trieb uns der Pol’ in fremdes Land.
Wohl dem, der hier behalten hat sein Heim, sein Hab und noch wird satt. Kann unseren Jammer nicht versteh’n, braucht nicht den Herrgott anzufleh’n.
O, Heimat, lieb, leb’ wohl, ade! Uns allen war ums Herz so weh, als wie Verbrecher, strafverbannt schafft uns man zum Nordseestrand.
So Wirt, der du das Glück gehabt, dass Speis und Trank dich reichlich labt, denk doch, dass Menschen sind auch wir, schuldlos vertrieben leben hier.
Wenn auch viele von uns hoffen zu kehren einstmals wieder heim, dem entgegen sag ich offen: Die Polen lassen uns nicht rein.89
Die Sehnsucht nach der Heimat und die Hoffnung auf eine Rückkehr verloren vor allem die Alten niemals. Ihre sozialen Kontakte blieben weitgehend auf die Familie beschränkt. Aber auch die über Dreißigjährigen hatten schwer an den Erlebnissen und Folgen von Flucht und Vertreibung zu tragen. Die Männer mussten die Kriegserfahrungen verarbeiten, die Frauen hatten während des Krieges, der Vertreibung und auch in der ersten Anfangszeit als Alleinverantwortliche für die Familien Mühsal und Entbehrung auf sich nehmen müssen. Einst erarbeitete Existenzgrundlagen waren nicht mehr vorhanden. Es bestand also die Notwendigkeit, ein zweites Mal sich als Erwachsener zu etablieren.90 Doch hatte diese Generation gegenüber den Älteren den Vorteil der größeren Lebenskraft, und sie öffnete sich der Aufnahmegesellschaft. Obwohl auch sie sich der Heimat stark verbunden fühlte, war sie gezwungen, sich den neuen Lebensverhält89 90
Allnoch, früher Niederhannsdorf: Tagebuch. Lemberg/Franzen: Die Vertriebenen – Hitlers letzte Opfer, S. 205.
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nissen anzupassen, denn wer beruflich und auch im privaten Bereich Erfolg haben wollte, musste sich den neuen Herausforderungen stellen. Kennzeichnend für diese Gruppe war ... die Herausbildung einer „doppelten Identität“: in zwei verschiedenen Welten zu leben ... Das brachte aber Probleme mit sich: Wo war denn nun das Zuhause, in welcher Heimat lebte man? In der ersten, zweiten oder in gar keiner mehr?91 Auch die Kinder und Jugendlichen hatten mit dem Bruch in ihrer Biographie zu kämpfen. Sie alle erfuhren in jungen Jahren Bedrohung und tiefe Demütigung. Die Eltern erlebten sie oft hilf- und machtlos. Das Gefühl, keine richtige Kindheit oder Jugend gehabt zu haben, war unter ihnen weit verbreitet. Sie hatten es schwer, an etwas zu glauben oder Vertrauen aufzubauen. Allerdings gelang es dieser Gruppe am schnellsten und eindrucksvollsten, sich in die neue Welt einzufügen und sie mitzugestalten.
Transporte in die Sowjetische Besatzungszone: Zweite Vertreibungswelle Das Abkommen, das am 5. Mai 1946 vom polnischen und vom sowjetischen Vertreter beim Alliierten Kontrollrat unterzeichnet wurde, sah u. a. vor, dass täglich ein Transport mit 1.500 bis 1.750 Personen aus Schlesien in der SBZ aufgenommen werden sollte. Als Übergabestellen waren Forst, Teuplitz/Kreis Sorau, und Wehrkirch [jetzt Horka] vorgesehen. Die Transporte aus der Grafschaft Glatz in die SBZ – als zweite große Vertreibungswelle – begannen Anfang September 1946 und endeten im Januar 1947, obwohl schon vorher wiederholt einzelne Waggons eines Zuges ihren Zielort in der SBZ gefunden hatten. Der zweite Ausweisungsschub betraf zunächst den Kreis Habelschwerdt, aus dem nach einer Pause im Sommer in den Wochen vom 5. bis 22. September 1946 sechs Transporte mit 9.144 Personen in die SBZ geleitet wurden. Ihnen folgten in der Zeit vom 24. bis 28. September 1946 vier Transporte mit 6.924 Personen aus Bad Landeck. Den Abschluss bildete der Kreis Glatz, aus dem vom 14. Oktober 1946 bis Januar 1947 17 Züge mit insgesamt 28.041 Personen in die SBZ fuhren.92 Trotz vergleichbarer technischer Rahmenbedingungen unterschied sich die Situation der Vertriebenen in der SBZ erheblich von der in der Britischen Zone. Erstens wurde das Leid der Vertriebenen von den Behörden streng tabuisiert. Die Entwurzelten durften offiziell nicht als Vertriebene bezeichnet werden, sondern waren – verharmlosend – für die Behörden Umsiedler. Die zuständige Dienststelle in der sowjetischen Besatzungszone trug deshalb auch den Namen Zentralstelle für deutsche Umsiedler. (ZVU) Die Falschheit des Umsiedlerbegriffs ist ziemlich offensichtlich. Er beschreibt den Vorgang so, als hätten sich die Vertriebenen selbsttätig umgesiedelt. Polen und die Tschechoslowakei benutzten daher ebenfalls diesen Terminus und behaupteten bis 91 92
ebd., S. 207. Vgl. Sauermann: Fern doch treu, S. 185.
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1989 doktrinär, dass im Sinne des Potsdamer Abkommens eine ordnungsgemäße und humane Umsiedlung und keine Vertreibung stattgefunden habe.93 Zweitens wurde nicht anerkannt, dass die Vertriebenen im Vergleich zu den Einheimischen durch den Verlust des Besitzes und der Heimat zusätzliche Lasten zu tragen hätten. Dadurch sollte das völkerrechtliche Unrecht der Ausweisung der Deutschen von vornherein verneint werden. In dieser Auffassung stimmten Polen, teilweise bis heute, Sowjets und die deutschen Behörden in der Sowjetischen Besatzungszone überein. Dass die Sowjetunion eine Hauptverantwortung für die Vertreibung trug, war den Vertriebenen durchaus bewusst, wurde aber von offizieller Seite bestritten. So wie schon um 1950 die Vertriebenen aus den Statistiken als eigene Gruppe verschwanden, gab es in der späteren DDR-Gesellschaft keinen Platz für die Geschichte von immerhin vier Millionen Menschen, einem Viertel der Gesamtbevölkerung. Eine Identitätsfindung konnte nur in Nischen stattfinden, niemals aber in der Öffentlichkeit. Schlimme Erlebnisberichte von Flucht und Vertreibung galten als unwahr. Die Sehnsucht nach der alten Heimat wurde als reaktionär abgestempelt.94 Drittens unterbanden die SBZ-Behörden rigoros jeden Versuch der Vertriebenen, Interessengemeinschaften zu bilden. Allerdings bestand dieses Koalitionsverbot in den ersten Nachkriegsjahren auch in den Westzonen. Als in Westdeutschland landsmannschaftliche Vereinigungen der Vertriebenen und Flüchtlinge gegründet wurden, gab es in der DDR schon keine Umsiedler mehr, sondern nur noch gleichberechtigte Bürger. Die Lage der Vertriebenen aus der Grafschaft Glatz in der SBZ war äußerst schwierig, wie Berichte Betroffener belegen. Sie kamen in eine Besatzungszone, in der bereits im Sommer 1945 etwa 2 bis 2,5 Millionen Flüchtlinge und wild Vertriebene ihren Platz suchten und die nun weitgehend in den Gebieten unmittelbar westlich der Oder und Neiße und vor allem in Sachsen lebten. Die Behörden versuchten oft vergeblich, diese Flüchtlingsströme zu lenken. Als die organisierte Vertreibung ab Anfang Juli 1946 – die Vertriebenen aus der Grafschaft Glatz kamen drei Monate später hinzu – zusätzliche Heimatlose in die Sowjetische Besatzungszone brachte, verschlechterte sich die Situation nochmals. Nicht weniger überfordert als die zonenweit agierenden Behörden und die Länder waren die Landkreise und Kommunen. Sie schickten Vertriebene zwischen Ortschaften und Kreisen hin und her, da in der allgemeinen Notlage niemand zusätzliche Kostgänger aufnehmen wollte.95 Die Kriegsschäden in der SBZ waren vor allem in ihrem östlichen Teil besonders verheerend. Ein weiteres Charakteristikum der SBZ lag darin, dass dort die Verluste in der Industrie mit dem Kriegsende nicht aufhörten, sondern in Form umfangreicher Demontagen zugunsten der Sowjetunion weitergingen.96 93 94 95 96
Ther: Deutsche und polnische Vertriebene, S. 92. Schwab: Flüchtlinge und Vertriebene in Sachsen 1945–1952, S. 18. Ther: Deutsche und polnische Vertriebene, S. 117. ebd., S. 111.
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Die Unterbringungsverhältnisse der Vertriebenen in der Britischen und der Sowjetischen Zone unterschieden sich nicht gravierend voneinander, aber die Versorgung mit Nahrungsmitteln war in der SBZ wesentlich schlechter als in der Britischen Zone. Man kann rückblickend feststellen, dass der überwiegende Teil der Vertriebenen, die in der Ostzone lebten, einen längeren Zeitraum über hungern mussten und dass viele von ihnen an Unterernährung gestorben sind. Der Hunger trieb viele Grafschafter in die Westzonen.97 Die Transporte aus der Grafschaft Glatz, die in der Übergabestelle Wehrkirch [heute Horka] eintrafen, waren in der Regel für das Land Sachsen, die über Forst überwiegend für die Provinz Brandenburg und Sachsen-Anhalt bestimmt. Von Anfang an war vorgesehen, die große Mehrheit der Vertriebenen über einen Lageraufenthalt – zeitlich auf höchstens zwei bis drei Wochen befristet – zu erfassen und sie dann in die Kommunen einzuweisen ... Seit Anfang 1946 gab es in der SBZ 358 Vertriebenenlager mit einer Aufnahmekapazität von 347.816 Personen.98 Alle ankommenden Vertriebenen wurden zunächst für 14 Tage oder drei Wochen in ein Quarantänelager gebracht. Von dort aus erfolgte die Verteilung über die SBZ. Solche Durchgangslager gab es z. B. in Hoyerswerda, Neuenwiese [bei Görlitz], Leipzig-Taucha, Dresden-Freital, Köthen, Sonneborn/Kreis Gotha und Niederoderwitz/Kreis Zittau. In den Lagern, die vor Kriegsende z. T. als Gefangenenlager dienten, herrschte große Enge, verbunden mit sehr schlechten hygienischen Verhältnissen. Die Versorgung mit Lebensmitteln war teilweise so schlecht, dass die Vertriebenen weiter hungern mussten. Viele Glatzer berichten auch, dass die Lager umzäunt waren und nur mit Zustimmung der Lagerleitung verlassen werden durften. Die Quarantäne wurde konsequent eingehalten. Im Anschluss erfolgte ein Aufenthalt in einem oft weit entfernt liegenden anderen Lager. Ein solches Lager war für Vertriebene aus der Grafschaft Glatz, die in die Mark Brandenburg kamen, in Belzig eingerichtet worden. Ihr zweiter Lageraufenthalt war Hennigsdorf bei Berlin, von wo aus sie auf die Gemeinden und Wohnungen verteilt wurden. Vielerorts stellten sie nach der Zuweisung 50 % der Bevölkerung. Erhebliche Spannungen zwischen den Einheimischen, die sich eingeengt fühlten, und den Vertriebenen, die eine Bleibe suchten, waren die Folge. Ähnlich erging es den Vertriebenen in den anderen Ländern der Sowjetischen Besatzungszone. Hier wie dort erwartete sie die Fortführung des seelischen und materiellen Notstandes. Schlimm war der Mangel an Unterkünften, die in vielen Fällen zudem menschenunwürdig waren. An den Bau neuer Wohnungen war in diesen Jahren nicht zu denken, sodass es keine andere Möglichkeit gab, als den vorhandenen Wohnraum zu verteilen, was eine Verhärtung der Fronten zwischen beiden Bevölkerungsgruppen nach sich zog. Oftmals drehte sich der tägliche Kleinkrieg um Wohnraumzuteilung, Küchennutzung und andere Rechte. Sie führten oftmals zu Verdächtigungen und Schikanen über die Grenzen der psychischen und physischen Belastbarkeit hinweg.99 97 98 99
Sauermann: Fern doch treu, S. 214. Wille: Die Vertriebenen in der SBZ/DDR, Bd. I, S. 328f. ebd., Bd. II, S. 164.
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Außer ihrem Handgepäck besaßen die Vertriebenen ja nichts, sodass Gegenstände des täglichen Lebens von den Einheimischen zur Verfügung gestellt werden mussten, was wiederum zu fortwährenden Auseinandersetzungen führte. Die meisten Vertriebenen aus der Grafschaft wurden nach Sachsen transportiert, andere nach Sachsen-Anhalt. Schwerpunkt der Aufnahme in der Provinz Brandenburg war der Großraum Berlin.
„Spätaussiedler“ aus der Grafschaft Glatz Die radikale und vollständige Vertreibung aller Deutschen in der schnellstmöglichen Zeit hätte und hatte zu einer Verödung ganzer Landstriche und zum völligen Ruin der gesamten Wirtschaft geführt Die eingewanderten Polen konnten die entstandenen Lücken weder quantitativ noch qualitativ schließen. Vor allem im Bergbau, in der Textilindustrie und den öffentlichen Einrichtungen gab es nicht genügend geschultes polnisches Personal, das die Deutschen hätte ersetzen können. Deshalb musste die polnische Regierung die bisherige Praxis der radikalen Vertreibung in bestimmten Fällen durchbrechen, um deutsche Fachkräfte auch gegen ihren Willen als Zwangsarbeiter im Land zu halten. Bis zum 31. Januar 1946 waren Listen der deutschen Fachkräfte zu erstellen, die die Betriebsleitungen für den Erhalt der Betriebe und die Ingangsetzungen oder Aufrechterhaltung der Produktion für unentbehrlich hielten.100 Die Fachkräfte wurden nach dem Bedarf in Gruppen eingeteilt. Sie erhielten verschiedenfarbige Arbeitsbescheinigungen, auf deren Rückseite man die Familienmitglieder, die natürlich auch nicht vertrieben wurden, eintrug. Weiße Bescheinigungen (Kategorie I) galten für niedrig qualifizierte Arbeitskräfte, die z. B. bis dahin in der Land- und Forstwirtschaft tätig waren. Else Kühn aus Hausdorf bei Neurode war eine von ihnen. In ihrem Tagebuch notiert sie: 5. 4. 46: Ich musste weiter in den Wald arbeiten gehen, Holz schälen, Himbeeren pflücken und abgeben. Für ¼ Jahr Waldarbeit bekamen wir nach langem Hin und Her 15 Zloty (1 Pfund Salz kam damals 13 Zloty) 15. 4. 1946: Muss ... in den Wald, Bäume pflanzen. 15. 10. 1946: [Es] wurde evakuiert. Unsere Polin schickte uns in den Wald, sie wollte uns behalten, da sie mit ihren Kindern die Landarbeit noch nicht kannte. 16. 11. 1946: Sollte Evakuierung sein (es hieß öfters, es wird evakuiert, sie machen uns damit nur Angst) 9. 12. 1946: Evakuierung; 16 Uhr kommt die Kommission zu uns, wir kommen bis ins Dorf, ... da zerreißt die Kommission den Schein, und wir mussten wieder zurück. Nachts mussten wir wieder runter zum Registrieren und wurden nach Hause geschickt, das Gepäck blieb oben, war weg, und zu Hause war inzwischen [auch alles] ausgeräumt. 29. 4. 1947: Werden wir mittags rausgejagt. 19 Uhr fuhren wir mit einem Trecker ab, es war nur ein Kastenwagen voller Leute. 24 Uhr waren wir in Glatz im Finanz100
Hofmann: Nachkriegszeit in Schlesien, S. 244.
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amt, Stube 15. In der Nacht war ein Transport ... abgefahren. So mussten wir warten, bis unser Transport [mit] 1500 Mann wieder voll war. 12. 5. 1947: War Kontrolle. 12. bis 13. 5. 1947: Übernachtung im Hof. 13. 5. 1947: Verladen 14. 5. 1947: Morgens um zwei [Uhr] fahren wir von Glatz ab.101 Die Betriebe hatten die Aufgabe, für einen baldigen Ersatz durch polnische Arbeitskräfte zu sorgen. Die Ausweisung dieser deutschen Fachkräfte aus der Grafschaft Glatz vollzog sich überwiegend im Jahr 1947, und ihre Zielorte lagen in der Sowjetischen Besatzungszone vor allem in Sachsen und Sachsen-Anhalt. Blaue Bescheinigungen (Kategorie II) erhielten die höher qualifizierten Arbeitskräfte, deren Aufgabe es war, polnische Arbeitskräfte auszubilden. Viele Deutsche dieser Kategorie waren in der Grafschaft Glatz bis dahin in der Textilindustrie und in den öffentlichen Versorgungsunternehmen tätig. Diese Gruppe wurde überwiegend ab Herbst 1947 aus ihrer Heimat ausgewiesen und gelangte ebenfalls in die SBZ. Rote Bescheinigungen (Kategorie III) erhielten hochqualifizierte Arbeitskräfte, die in absehbarer Zeit nicht durch Polen ersetzt werden konnten. In dieser Gruppe befanden sich vor allem Bergleute aus der Gegend um Neurode, die erst Mitte der 50er Jahre ausreisen durften. Die Anzahl dieser Spätaussiedler war aber – verglichen mit der riesigen Zahl der großen Vertreibung – relativ gering. Laut einer polnischen Statistik lebten in der Grafschaft am 1.2.1948 noch folgende deutschstämmige Bewohner: Kreis Habelschwerdt (auf dem Land ) 956 Personen, Kreis Glatz (auf dem Land) 3.689 Personen, das sind 2,5 % der ehemaligen deutschen Einwohnerschaft.102 Die Arbeitsbedingungen der zurückbehaltenen Deutschen waren schlecht. Während sie 60 Stunden in der Woche arbeiten mussten, galt für die Polen die 40-Stunden-Woche. Ausgeschlossen waren die deutschen Fachkräfte von der polnischen Sozialgesetzgebung mit teilweise schlimmen Folgen u.a. bei Krankheit. Die Deutschen wurden in der polnischen Gesellschaft diskriminiert und lebten isoliert, und für ihre Kinder wurden erst spät deutsche Schulen eingerichtet.
Schlussbemerkungen Die Vertreibung aus der Heimat war für die Grafschafter sicherlich der tiefste Einschnitt in ihrem Leben, denn sie war mit unermesslichem Leid und hohen materiellen Verlusten verbunden. Die Siedlungs- und Dorfgemeinschaften wurden dabei auseinandergerissen und ihre Mitglieder über die Britische Zone und die SBZ verstreut. Unterschiedliche Vertreibungstermine, die oft wahllose Belegung der Viehwaggons und die Unterbringungsmöglichkeiten in den Aufnahmegebieten trugen dazu bei. (vgl. Kartenskizze)
101 102
Kühn: Tagebuchaufzeichnungen. Sauermann: Fern doch treu, S. 186.
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Von den gut 180.000 Einwohnern der Grafschaft Glatz brachte man 110.788 Personen103 in die Britische Besatzungszone, vor allem in die späteren Bundesländer Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, 45.903 Grafschafter transportierte man in die Sowjetische Besatzungszone. Innerhalb Niedersachsens kamen die meisten Vertriebenen aus der Grafschaft Glatz in die Verteilungsstelle in Aurich, von wo aus sie dann über ganz Ostfriesland verteilt wurden. In den Monaten März und April 1946 gelangten aus der Grafschaft Glatz sieben große Transporte mit insgesamt rund 12.000 Personen nach Aurich. Fast genau so viele Grafschafter wurden im Osnabrücker und Oldenburger Land untergebracht. Im Land Nordrhein-Westfalen hatten die meisten Frühjahrstransporte aus der Grafschaft Glatz das Münsterland zum Ziel, gefolgt von Herford-Elverdissen, dem Sauerland, dem Siegerland, Bielefeld, Rheine und Paderborn. Die in die Sowjetische Besatzungszone Vertriebenen kamen überwiegend in den Großraum Leipzig, gefolgt von Hoyerswerda, Pirna, Blankenburg, Dresden und dem Großraum Berlin. Bald nach der Ankunft in den neuen Gebieten bemühten sich die Vertriebenen, ihre Verwandten und Bekannten aus ihrem Heimatdorf und der Heimatstadt wiederzufinden. Gemeinsame Treffen auf örtlicher Ebene sowie der sonntägliche Kirchgang führten sie zusammen. In der Diaspora Ostfrieslands mussten von den Gläubigen viele Kilometer zurückgelegt werden, um an der gemeinsamen Messe mit den Liedern aus der Grafschaft Glatz teilnehmen zu können. Sie suchten dort ihr verlorengegangenes Zuhause, denn über den Heimat- und Besitzverlust sind die Vertriebenen viele Jahre lang nicht hinweg gekommen, die meisten wohl niemals. Die Gegensätze, die sich vor allem in den ländlichen Räumen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen auftaten, hätten kaum größer sein können. Die ländliche einheimische Bevölkerung hatte fast alles behalten: Heimat, Wohnraum, Besitz, angestammte Berufs- und Erwerbstätigkeit, eigenes Land zur Sicherstellung der Ernährung, vor allem auch den angestammten sozialen Status und die gesicherte Identität. ... Unterschiedliche Normen und Leitbilder, Verhaltensweisen und mentale Eigenarten, politische Traditionen und überkommene Bräuche wirkten sich in ländlichen Gebieten sehr viel belastender aus als in großstädtischen und industriell geprägten Gebieten.104 Bereits 1948 legte Elisabeth Pfeil die Studie vor: Der Flüchtling, Gestalt und Zeitenwende. Darin verdeutlicht sie die langfristigen Auswirkungen der Vertreibung bzw. Flucht. Alles, was einem Menschen Halt gibt, geht durch solche schwerwiegenden Ereignisse verloren. Die selbstverständliche Einordnung in die mitmenschliche Welt fehlt. Damit ist auch die soziale Einbindung weggefallen, und es zeigt sich, welcher Stützen der Mensch damit beraubt ist. Ohne die hegende Umwelt der Heimatgemeinschaften ist der Mensch auf sich verwiesen: Alle Einschätzungen, sowohl die Selbstachtung wie die Beurteilung anderer und die Bewertung der Lagen des öffentlichen Lebens sollen aus ihm selber kommen.105 103 104 105
ebd., S. 185. Bade/Oltmer: Zuwanderung und Integration in Niedersachsen, S. 71f. Elisabeth Pfeil, zit, nach Kossert: Kalte Heimat, S. 44.
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Damit waren viele Vertriebene überfordert und die Nachwirkungen bestehen teilweise noch fort.
Bemerkungen zur Anlage In zweijähriger Arbeit habe ich durch Befragung von Zeitzeugen und deren Nachkommen versucht, die Vertreibungsdaten der einzelnen Siedlungen in der Grafschaft Glatz und die Zielorte der Transporte zu ermitteln, um den Ablauf der Vertreibung aus der Grafschaft und die Zerstreuung ihrer Bewohner über Nord- und Mitteldeutschland zu rekonstruieren. Das Unterfangen war deshalb so schwierig, weil die älteren Zeitzeugen, die genaue Auskünfte hätten erteilen können, inzwischen verstorben und präzise Aufzeichnungen in Privatbesitz weit verstreut sind. Zeitlich war es wohl die letzte Möglichkeit, die Vertreibungsdaten der einzelnen Grafschafter Gemeinden der Nachwelt zu überliefern. Sie sind in den folgenden Tabellen zusammengestellt. Die Tabellen enthalten in der ersten Spalte alle selbständigen Gemeinden der beiden Grafschafter Kreise Glatz und Habelschwerdt – die sogenannten „Kolonien“, also Ortsteile, aber nur insoweit, als die Daten zu erfassen waren. In Spalte zwei befinden sich die Sammelstellen mit ihren Bahnhöfen, von denen aus die Transporte in die Britische und in die Sowjetische Besatzungszone abgingen. In der dritten Spalte folgen die Tagesdaten der Vertreibung aus der jeweiligen Gemeindewohnung, die lange vor den Abgangsdaten der Transportzüge liegen können, und in der vierten ist das Ziel der Transporte eingetragen. Hier wird deutlich, dass mancher Eisenbahnzug mit seinen mehr als 50 Waggons während seiner langen Fahrt mehrmals geteilt wurde mit der Folge, dass auch mehrere Zielorte für diesen Transport ausgewiesen werden mussten. So wird Braunschweig, nicht die Stadt, sondern ihr Umland, beispielsweise oft als Ankunftsort genannt. Hierbei handelt es sich aber meist nur um einzelne Waggons eines Transportzuges, die in Mariental dieses Ziel zugewiesen bekommen hatten, während der größte Teil des Zuges zu seinem eigentlichen Zielort weiterfuhr. Einzelne Angaben in den Spalten Termin und Ziel fehlen, weil es trotz eingehender Nachforschungen bislang nicht gelungen ist, entweder das Austreibungsdatum, das Ziel des Transports oder sogar beides zu ermitteln. Die Angaben, die nach langen Bemühungen von den einzelnen Grafschafter Ortsgemeinschaften, vorgelegt wurden, konnten in vielen Fällen nicht zwischen dem Zielbahnhof eines Durchgangslagers und dem Ort der endgültigen Aufnahme der vertriebenen Menschen unterscheiden. Das trifft in besonderer Weise für die Transporte in die SBZ zu, für die in manchen Fällen in der Spalte Ziel eben nur „SBZ“ eingetragen werden konnte. Es bedarf weiterer mühseliger Nachforschungen, diese Lücken zu schließen, und vielleicht können Leser dabei helfen. Besonders danken möchte ich an dieser Stelle den vielen Berichterstattern aus den einzelnen Grafschafter Ortsgemeinschaften und den zahlreichen anderen Informanten, ohne deren selbstlose und unermüdliche Hilfe die Ermittlung der Vertreibungsdaten der einzelnen Gemeinden unmöglich gewesen wäre. Danken möchte ich auch den vielen Landsleuten, die mir bereitwillig und vertrauensvoll ihre persönlichen
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DIE GRAFSCHAFT GLATZ in Schlesien Zerstreuung der Bevölkerung der Grafschaft Glatz durch die Vertreibung 1946 über die Britische und die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands ~
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Grafschaft Glatz mit Ausgang,bahnhöfen . • . •• der Vertriebenentransportzüge Hauptrouten der Transportzüge in Schlesien und Westdeutschland ()
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Zielorte bzw. - kreise der Vertriebenentransport
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