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German Pages 182 [180] Year 2014
Martin Schaad
Die fabelhaften Bekenntnisse des Genossen Alfred Kurella Eine biografische Spurensuche
Hamburger Edition
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2014 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-614-9 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © 2014 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-275-2 Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras Typografie und Herstellung: Jan und Elke Enns Satz aus Stempel Garamond von Dörlemann Satz, Lemförde
Inhalt
Einleitung
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Die zwei Seiten des Kunstprozesses
10
Die »Gronauer Akten«
14
Kurella als literarischer Meister des Sozialistischen Realismus
32
Ein geselliger Abend und seine Folgen
38
Kurellas Renitenz
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Ein gescheiter Kerl?
53
Rückschläge und neue Hoffnung
57
Wachsende Verzweiflung
65
Die »Gronauer Akten« – ein linientreues Echo
76
Die »Gronauer Akten« – eine Tschernyschewski-Kopie
88
Die »Gronauer Akten« – eine Selbstdarstellung
102
Die »Gronauer Akten« – eine Persönlichkeitsspaltung
118
Willi, Lilly und das »N … pabo … Na … Bock … rec …« 152 Wie man wird, was man ist
159
Kurzbiografien der handelnden Personen 1934–1936
163
Bibliografie
175
Zum Autor
183
Einleitung
Eigentlich sollte es hier um ein ungeschriebenes Buch gehen: um die Autobiografie des Schriftstellers und DDR-Kulturfunktionärs Alfred Kurella (1895–1975). Dass er dieses Buch nicht geschrieben hat, ist mehr als erstaunlich; es ist nachgerade unerhört. Denn die Lebenserinnerungen zu Papier zu bringen war nicht etwa sein Privatvergnügen. Es handelte sich um einen offiziellen Auftrag der Partei.1 Genosse Kurella hatte doch sonst immer alle Parteiaufträge gewissenhaft erfüllt. Warum diesen letzten nicht? Nicht, dass er es nicht hatte versuchen wollen. Von der überragenden Bedeutung seiner Vita war er allemal überzeugt: »Mein bewegtes und ungewöhnliches Leben, das mir die Bekanntschaft, Zusammenarbeit und Freundschaft mit vielen bedeutenden Persönlichkeiten des halben Jahrhunderts gebracht hat, gibt einen in jeder Hinsicht interessanten Stoff ab.«2 Auch mit dem eigenen Schaffen war Kurella mehr als zufrieden: »[Ich] möchte sagen wie der Liebe Gott in Genesis: ›und siehe es war sehr gut‹.«3 Vollmundig kündigte er also ein mehrbändiges Werk an und sorgte sich schon im Voraus, ob dem Aufbau Verlag auch genug Papier zur Verfügung stünde.4 Fast sieben Jahre verbrachte er damit, Unmengen an Material zusammenzutragen, an alte Wirkungsstätten zu reisen, Archivbestände zu sichten und mit vielen Weg1 Vgl. den entsprechenden »Beschlussantrag« an das Sekretariat des ZK, datiert 28. 12. 1968, in: Alfred-Kurella-Archiv im Archiv der Akademie der Künste, Berlin (im Folgenden: AdK Alfred-Kurella-Archiv), Band 1306, Hefter 20. Dass er den Parteiauftrag auch an seinem Lebensende noch zu erfüllen hoffte, zeigt sich in Dietzel, »Gespräch mit Alfred Kurella«, S. 236. 2 Alfred Kurella an das Lektorat des Aufbau Verlags, Herrn Jahn, 1. 11. 1966, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 2348. 3 Alfred Kurella an den Verlagsleiter des Aufbau Verlages, Dr. Voigt, 24. 7. 1969, über den Nachdruck eines seiner Aufsätze, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 2348. 4 Alfred Kurella an Klaus Gysi, 27. 12. 1965, in: AdK Alfred-KurellaArchiv, Band 2348.
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gefährten zu sprechen.5 Alles umsonst: Am Ende hatte Kurella kein einziges Wort zu Papier gebracht. Dabei war er doch Zeit seines Lebens ein Vielschreiber gewesen, der die Tinte nicht halten konnte. Warum diese Blockade? Lag es womöglich an dem, was er zu berichten hatte? Was hätte er in seiner Autobiografie erklären müssen? Wie aus ihm, dem Spross einer bildungsbürgerlichen Arzt- und Literatenfamilie, ein überzeugter Kommunist geworden war? Konkreter: Wie aus dem jugendlichen Künstler und Freigeist der verbohrte Funktionär wurde, der die Einhaltung der Parteilinie über alles stellte und als Kulturpapst die Literaten, Maler und Theaterschaffenden der jungen DDR drangsalierte? Auch der Verfasser eines Nachrufs auf diesen »letzten unter den einst einflussreichen Kulturfunktionären«, bedauerte das Fehlen einer Autobiografie: Kurella nehme »mit sich ins Grab manche illustre Erfahrung, die er Zeit seines Lebens nicht mehr preisgeben wollte«.6 Als gesichert gelten konnte allein die augenfällige Wirkung seiner Politik; also die »verheerenden Folgen für die gesamte Kulturentwicklung«. Wie aus dem einstigen Bürgersohn, der mit so viel revolutionärem Schwung begonnen hatte, später ein stalinistischer Dogmatiker geworden war; auf diese Frage wusste auch der Verfasser des Nekrologs keine Antwort. Jedenfalls keine, die nicht Plattitüde war: »›Berufsrevolutionär‹ hat er sich gerne genannt; es scheint aber, er hat nicht bemerkt, daß er in dem Augenblick Berufsfunktionär wurde, als er sich sein Denken von der Partei hat abkaufen lassen.« Natürlich entspricht diese Charakterisierung genau dem Bild eines SED-Führungskaders, wie es im Westen oft und gerne gemalt wurde. Der zitierte Nachruf ist dann auch in der Frankfurter Rundschau erschienen und nicht im Neuen Deutschland. Und doch war es möglicherweise ein DDR-Intellektueller gewesen, der hier klandestin eine auch im Osten verbreitete Einschätzung des Genossen Kurella publik machen durfte. Der angegebene Name des Verfassers – Bernhard 5 Vgl. AdK Alfred-Kurella-Archiv, die Bände 1296–1306, im Findbuch bezeichnet als »Materialsammlung von Alfred Kurella zu seinen geplanten Memoiren«. 6 Diese und die folgenden Zitate aus Ziegler, »Vom Revolutionär zum Funktionär«, Frankfurter Rundschau, 16. 6. 1975.
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Ziegler – war jedenfalls ein Pseudonym. Und nicht etwa irgendeines, sondern das des Verstorbenen selbst! Eine »posthume Autobiografie« als makabrer Scherz? Von wem? Man weiß es nicht. Bekannt ist dagegen, was der echte Kurella zu Lebzeiten als Kulturpolitiker der DDR »geleistet« hat; und genau das lässt vermuten, dass der zweite Band der ungeschriebenen Lebenserinnerungen wohl dröge gewesen wäre – eine endlose Abfolge von programmatischen Reden, ideologisch gefärbten Kongressberichten und einschläfern- Alfred Kurella (1966) Bundesarchiv, den Sitzungsprotokollen.7 Bild 183-E1114-0201-001 Dagegen wäre der erste Band seiner Foto: Klaus Franke Autobiografie sicher sehr spannend gewesen. Hier hätte er seinem »Jahrhundertleben« den entwicklungsgeschichtlichen Sinn geben müssen. Aber: Über ungeschriebene Bücher zu schreiben ist müßig, in jedem Fall schwierig, und vielleicht sogar unredlich – man würde dem gescheiterten Autobiografen die Worte in den Mund legen. Da sollte man sich doch besser an ein Buch halten, das er tatsächlich verfasst hat. Was folgt ist also eine philologische Spurensuche in Alfred Kurellas Werk – genauer: in dem einzigen Roman, den der Schriftsteller vollendet hat.8 Vielleicht gelingt so eine Rekonstruktion des ersten Bandes seiner Erinnerungen und damit zugleich eine Annäherung an die vielleicht interessanteste lebensgeschichtliche Frage, die Alfred Kurella in seiner Autobiografie hätte beantworten müssen: Wie wird man eigentlich Stalinist?
7 Vgl. unter vielen Barck, »Das Dekadenz-Verdikt«, und Gaßner, »Alfred Kurella. Wandervogel auf bitterem Feldweg«. 8 Natürlich hat Kurella mit Kleiner Stein im Großen Spiel und Unterwegs zu Lenin noch zwei weitere Prosawerke vorgelegt, doch beim erstgenannten handelt es sich um den ersten Teil einer unvollendeten Trilogie, während das zweite eher als kurzer Erinnerungsbericht anzusehen ist.
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Die zwei Seiten des Kunstprozesses
Nach einem zwanzigjährigen – nicht immer ganz freiwilligen – Aufenthalt in der Sowjetunion war Alfred Kurella im Februar 1954 nach Deutschland zurückgekehrt. Nur ein Jahr später wurde er als Gründungsdirektor an das Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig berufen, und damit nahm die Karriere des nunmehr 60-jährigen »Berufsrevolutionärs« endlich wieder Fahrt auf. Er sollte in der Folgezeit an entscheidenden Positionen die Kulturpolitik der jungen sozialistischen Republik prägen – zunächst als Institutsdirektor, später als Leiter der Kulturkommission des Politbüros und auch nach seinem Ausscheiden aus der Politik als Vizepräsident der Akademie der Künste. In all diesen Funktionen wirkte er entweder direkt als »Großinquisitor«9 der DDR-Kulturpolitik oder aber als hintergründige graue Eminenz, die protegierend, verhindernd oder gar zerstörerisch die Kulturschaffenden in Literatur, bildender Kunst, Theater und Film auf Parteilinie trimmen wollte. Was immer die Künstler und Literaten der DDR von ihm gehalten haben – viele sehr wenig, einige wenige viel –, keiner von ihnen konnte behaupten, Kurella habe sie im Unklaren darüber gelassen, welches Kunstverständnis er seinen dogmatischen politischen Entscheidungen und seinen scharfen ästhetischen Urteilen zugrunde legen wollte. Schon in seiner Antrittsrede in Leipzig hatte er hierzu eine »Bemerkung allgemeiner Art« gemacht: »Die ganzen folgenden Überlegungen bewegen sich auf der Ebene einer bestimmten, und zwar der realistischen Kunstauffassung. Ich meine das hier im allgemeinsten Sinne dieses Wortes; danach kommt jedes Kunstwerk als Äußerung sinnlicher Menschen zustande, Quelle und Ursprung sind letzten Endes Vorgänge der Außenwelt, deren über die Sinne aufgenommene Abbilder im schöpferischen Individuum verarbeitet, verwandelt werden. Nach dieser Auffassung ließe sich auf die Kunst und ihr Bilderdenken etwa der Grundsatz des berühmten Lockeschen Sensualismus so anwenden: Nihil
9 Mayer, Der Turm von Babel, S. 206.
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est in effige, quod non prius fuerit in sensu – es ist nichts im Bild des Künstlers, was nicht früher in den Sinnen war. In einer Zeit, da durch alle mögliche pseudophilosophischen Hintertüren ›jenseitige Offenbarung‹, ›transzendente Inspiration‹ und dergleichen mehr als Wesensmerkmal des künstlerischen Schaffens in die Kunstbetrachtung eingeschmuggelt werden, ist diese Feststellung wichtig. Sie schließt auch noch die realistische Betrachtung der anderen Seite des Kunstprozesses ein, seiner Bestimmung und Wirkung in der Gesellschaft: die Kunst ist auch auf die Wirklichkeit gerichtet, sie will und soll (soweit es sich um vollblütige und lebensbejahende Künstler handelt) bildend und ändernd in die Wirklichkeit des Menschenlebens eingreifen. Wenn also im weiteren hier von Kunst die Rede ist, dann immer nur von jener Kunst, die sich als besondere Art menschlicher Widerspiegelung der Wirklichkeit weiß und bildender, ändernder Faktor im Zusammenleben der Menschen sein will.«10 Prägnanter lässt sich kaum zusammenfassen, was Alfred Kurella umtrieb, als er zwei Jahre nach dieser Rede den »Bitterfelder Weg« formulierte, als er sich 1961 mit Fritz Cremer wegen der Ausstellung »Junge Kunst« überwerfen sollte, im gleichen Jahr Heiner Müllers »Umsiedlerin« attackierte oder auch als er zwei Jahre später eine Neubewertung von Franz Kafkas Werk verhindern wollte.11 Aber nicht nur in seinen kritischen, sondern auch in seinen positiv-fördernden Aktivitäten blieb sich Alfred Kurella stets treu; so etwa in seiner Unterstützung der »realistischen« Leipziger Maler Heinrich Witz, Werner Tübke und Bernhard Heisig.12 In seinem Wirken als DDR-Kulturpolitiker konnte man Alfred Kurella viel Übles nachsagen; nur eines nicht: Inkonsequenz. Doch welche Qualifikation brachte Kurella eigentlich mit, um in Leipzig über die »Lehrbarkeit literarischer Meisterschaft« zu räsonie-
10 Kurella, »Von der Lehrbarkeit«, S. 287f. 11 Vgl. u.a. Kurella, »Vom neuen Lebensstil«; die Diskussion zur Ausstellung »Junge Kunst«, in: AdK-O 170 (Kurella hat hier wohl vor der Eröffnung eigenhändig Bilder abgehängt, die ihm missfielen); Braun, Drama um eine Komödie, und schließlich Kurella, »Der Frühling, die Schwalben und Franz Kafka«, Sonntag, Nr. 31, vom 4. August 1963. 12 Vgl. hierzu Dürers Erben. Dokumentarfilm von Lutz Dammbeck, Deutschland 1995.
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ren und mit seinem eng gefassten Realismusbegriff gar das Institut leiten zu dürfen? Sicher, er hatte in seiner beruflichen Laufbahn bereits Erfahrungen in der Lehre sammeln können, doch diese beschränkten sich auf Einführungskurse zum Marxismus-Leninismus an der Marxistischen-Arbeiter-Schule (MASCH) in Berlin (1930–1931) und ebensolche Seminare an der französischen Parteischule in Bobigny (1924–1926). Aber vielleicht war Lehrerfahrung nicht das entscheidende Kriterium für seine Berufung. War er stattdessen selbst ein »literarischer Meister«, der diese Fertigkeit weitergeben konnte? Gewiss, seit seiner Jugend hatte sich Kurella mit Literatur befasst und war aus dem Moskauer Exil heraus als Kritiker und Übersetzer durchaus einflussreich, wenn nicht sogar gefürchtet gewesen.13 Doch sein eigenes Œuvre war überschaubar und beschränkte sich auf einige wenige Gedichte, Erzählungen und essayistische Reiseberichte. Natürlich hatte er viele moskautreue Propagandaschriften verfasst, doch die konnte man auch wohlwollend nicht als Literatur bezeichnen. Nun, da er nicht mehr nur kritisieren oder agitieren konnte, sondern den literarischen Schaffensprozess selbst lehren sollte, war das natürlich zu wenig. Und dieses Manko war dem angehenden Literaturprofessor durchaus bewusst. Unmittelbar nachdem er aus Moskau zurückgekehrt war, hatte er dies sogar einmal öffentlich eingestanden: »Was habe ich schon geschrieben? Wenn ich mir die langen Reihen dick- und dünnleibiger Bücher ansehe, die bei Kollegen in den verglasten Teilen ihrer Bücherschränke stehen, wo sie ihre ›opera omnia‹ aufbewahren, dann könnte mich der gelbe Neid überkommen. Mir will und will es nicht gelingen, auch nur in der Ecke eines Bücherregals meine Kinder zusammenzukriegen, und wenn es einmal gelänge, würde es eine etwas schüchterne Schar magerer Figürchen sein.«14 13 So war Kurella schon zwischen Oktober 1917 und Dezember 1918 als Schriftleiter verantwortlich für die Buchbesprechungen in der Zeitschrift Freideutsche Jugend. Zu den bekannteren unter seinen vielen literaturkritischen Beiträgen zählen: seine Kritik an Bertolt Brechts Theaterstück Die Maßnahme, Kurella: »Ein Versuch mit nicht ganz tauglichen Mitteln«; seine Kritik eines Aufsatzes von Walter Benjamin, Kurella: »Deutsche Romantik«, sowie seine unter dem Pseudonym Bernhard Ziegler erschienenen Beiträge zur so genannten Expressionismusdebatte, abgedruckt in Schmitt, Die Expressionismusdebatte. 14 Kurella, »Von der Feder zum Hammer«, S. 298.
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Vor seinem Dienstantritt in Leipzig wollte Alfred Kurella diese Unzulänglichkeit wohl noch beheben, denn er entfaltete plötzlich eine rege Publikationstätigkeit, die seiner Stimme in literarischen Fragen mehr Gewicht verleihen sollte. Am Bedeutsamsten darunter war seine 1953 erschienene Übersetzung der philosophischen Schriften von Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski, jenem vormarxistischen Literaten und Revolutionär, dessen Abhandlung über die »Ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit« als eine der tragenden Säulen der sozialistischen Realismuskonzeption diente.15 In Tschernyschewskis Dissertation von 1855 findet sich in knapper Form ziemlich genau das, was Kurella ein Jahrhundert später in seiner Leipziger Antrittsvorlesung über die »zwei Seiten des Kunstprozesses« zu sagen hatte: »Die Nachbildung des Lebens ist das allgemeine charakteristische Merkmal der Kunst, das ihr Wesen ausmacht; häufig haben die Kunstwerke auch noch eine andere Bestimmung – die Erklärung des Lebens; oft haben sie auch die Bestimmung, ein Urteil über die Erscheinungen des Lebens zu fällen.«16 Eine »Nachbildung des Lebens« und ein »Urteil über [dessen] Erscheinungen« – genau das hatte der angehende Literaturprofessor wohl auch im Sinn, als er kurz vor dem Dienstantritt noch schnell seinen ersten Roman vorlegte: »Die Gronauer Akten«. Wer den Sozialistischen Realismus lehren wollte, sollte ihn wohl besser auch beherrschen. Wollte Kurella mit dem Roman also seine praktisch-literarische »Meisterschaft« unter Beweis stellen? Oder ging es ihm um mehr, gar um etwas ganz anderes? Welches – oder vielleicht auch wessen – Leben wollte er hier »nachbilden« und »beurteilen«?
15 Vgl. Tschernyschewski, Ausgewählte Philosophische Schriften, und darin besonders »Die Ästhetischen Beziehungen«. Ebenfalls unter dem Titel Ausgewählte philosophische Schriften veröffentlichte Kurella in dieser Zeit auch Übersetzungen umfangreicher Schriften von Nikolai Dobroljubow, Alexander Herzen und Wissarion Grigorjewitsch Belinski. 16 So die resümierende 17. und zugleich letzte »Schlussfolgerung« in Tschernyschewski, »Die Ästhetischen Beziehungen«, S. 493.
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Die »Gronauer Akten«
Alfred Kurellas Erstlingswerk handelt von den Ermittlungen in einem Mordfall, der sich im Jahr 1936 im faschistischen Deutschland zugetragen haben soll. Auf einem Landgut – dem fiktiven Gut Gronau in der Nähe des ebenfalls fiktiven Ortes Federsen im real-existierenden Kreis Holzminden im Weserland – ist in der Nacht zur Sommersonnenwende der SA-Mann Willi Keith erschlagen worden. Man hat bereits drei Landarbeiter festgenommen – unter ihnen der dringend tatverdächtige Hans Moser. Doch für die lokalen Behörden ist der Fall eine Nummer zu groß. Die politische Brisanz, die das Verbrechen an einem Mitglied der Sturmabteilungen birgt, veranlasst das Reichsinnenministerium im fernen Berlin dazu, einen Sonderermittler in die niedersächsische Provinz zu schicken. Dieser Jurist und Kriminalbeamte mit Namen Günther Geismar ist die Hauptfigur des Romans. Aus seiner Perspektive – nicht ausschließlich, aber doch weitgehend – wird über den Fortgang der Ermittlungen und andere Ereignisse berichtet. Bevor die kriminalistische Spurensuche so richtig in Gang kommt, begegnet Günther Geismar dem Dorfpfarrer, der ihn mit in das Kirchenarchiv nimmt, wo der historisch interessierte Jurist auf eine interessante lokalgeschichtliche Archivalie stößt, die er zur erbaulichen Lektüre sogar ausleihen darf. Es ist das Originalprotokoll eines Hexenprozesses: Im Jahre 1641 war in dieser Gegend die Hirtenfrau Thrine Frese’n der Hexerei beschuldigt worden. Nach anfänglichem Leugnen wurde sie durch qualvolle Folterungen zu einem Geständnis gezwungen und alsdann »durch Feuer vom Leben zum Tode« gebracht. Schon bei den ersten Seiten des Protokolls ist Geismar so fasziniert von dem Schriftstück, dass er sich dazu entschließt, allabendlich nach getaner Ermittlungsarbeit je einen Abschnitt abzuschreiben und seiner Frau nach Berlin zu senden – »finsterstes, allerfinsterstes Mittelalter« kündigt er ihr in seinem ersten Brief an.17
17 Kurella, Gronauer Akten, S. 45.
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Tagsüber versucht er, die Untersuchungen im aktuellen Mordfall voranzubringen. Um dem zuständigen Amtsrichter die Kontrolle zu entziehen, beschließt Geismar schon nach wenigen Tagen, die Verhöre des Beschuldigten in das unweit vom Dorf gelegene Gutshaus derer von Hadeln zu verlegen, und bezieht dort ebenfalls ein Zimmer. Gefangen gehalten im Keller von Gut Gronau, muss Hans Moser fortan die Demütigungen und die Schläge der ihn bewachenden SS-Männer ertragen, während Günther Geismar die Zeit zwischen den Vernehmungen in Gesellschaft des Gutsbesitzers Freiherr von Hadeln und seiner Familie verbringt. Der alte Freiherr – ein Anhänger von Papens – ist noch vor der nationalsozialistischen Machtübernahme verstorben und hat das Gut seinem nun etwa 40-jährigen Sohn Hans vermacht. Dieser unterstützt das neue Regime und versteht sich als Protektor der ortsansässigen SS-Truppe, die ihm im Gegenzug dabei behilflich ist, jeglichen Protest der von ihm ausgebeuteten Landarbeiter im Keim zu ersticken. Hans von Hadeln ist – ganz im Sinne der faschistischen Autarkiepolitik – bestrebt, die Lebensmittelversorgung des Reiches sicherzustellen, möchte dabei aber auch seinen eigenen Anteil verdienen. Denn bei aller offen zur Schau getragenen Sympathie für die nationalsozialistische Sache betrachtet Hans von Hadeln die neuen Machthaber dann doch nur als Erfüllungsgehilfen der Interessen des Großkapitals und der Großgrundbesitzer – ein überheblicher Zug, der dem Sonderermittler Geismar zunächst verborgen bleibt. Weit weniger ideologisch differenziert werden die anderen Bewohner des Gutes Gronau geschildert: Die Witwe des alten Gutsherren, Freifrau von Hadeln, ist eine herrische, letztlich jedoch in ihrem Standesdünkel für die nationalsozialistische Aufbruchsstimmung nicht empfängliche Dame, die der neuen Zeit abschätzig gegenübersteht und viel lieber Karten spielt oder (noch immer) die Frankfurter Zeitung liest.18 Der jüngere Bruder des Gutsherren, Edgar von Hadeln, ist dagegen ein begeisterter Nazi, der den Führer und andere Parteigrößen mit kindlicher Verehrung bedenkt und alle ihm bekannten – und »erblich« vermittelten – Formen der Ritterlichkeit auf die neuen Verhältnisse projiziert.19 Allein die vierte Person, die Geismar im Gutshaus kennenlernt, wird mit einiger Tiefe beschrieben: Walter Berger,
18 Vgl. ebenda, S. 26. 19 Vgl. ebenda, S. 148.
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der mit scharfem Intellekt und »umfassenden« historischen, philosophischen und kulturgeschichtlichen Kenntnissen gesegnete Hauslehrer des jungen Edgar. Sonderermittler Günther Geismar selbst ist ein glühend-überzeugter Nationalsozialist, doch seine politische Gesinnung ist viel eher romantischen denn revolutionären Ursprungs. Wenn er nicht gerade Gedichte von Stefan George liest, ergeht sich der bürgerliche Großstädter in schwärmerischen Naturbetrachtungen der »Hügel und Täler des Wesertales«. Oder er schwelgt in Erinnerungen an seine Zeit als jugendlicher Wandervogel, nachdem ihm bewusst wird, dass er auf seiner ersten großen Ferienwanderung 25 Jahre zuvor genau diesen Landstrich schon einmal durchquert hat.20 Ganz im Einklang mit der faschistischen Ideologie sieht er in der bäuerlichen Existenz das »natürliche, urwüchsige, ursprünglich Menschliche«21: »Kann man Blut und Boden wirklich tief verstehen, wenn man nicht die Blutsverwandtschaft mit den Bauern erlebt, wenn man sich das Land, die Heimat nicht erwandert hat? Ich jedenfalls spüre, daß in diesem Erlebnis [der jugendbewegten Wandervogelzeit] die tiefen Quellen meiner Zugehörigkeit, meiner Treue zur Bewegung liegen.«22 Und noch eine weitere »tiefe Quelle der Treue« macht der Aufenthalt in der niedersächsischen Provinz ihm bewusst: Die Begegnung mit den »prächtigen Jungens« der lokalen SA, dem »Gold unserer Bewegung«, erinnert ihn an das eigene Kriegserlebnis, wo ihm erstmals »sein Sozialismus« als die Aufhebung des Selbst in der klassenlosen Kameradschaft des Schützengrabens bewusst geworden war.23 Hier auf dem Land – davon ist der Nationalsozialist Günther Geismar überzeugt – sei die wahre deutsche Volksgemeinschaft zu finden. Und wer nicht zu dieser Gemeinschaft gehört, ist ihm auch schnell klar. Es ist der tatverdächtige Hans Moser, den Geismar schon vor der ersten Begegnung als Kommunist ausgemacht hat.24
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Vgl. ebenda, S. 17–20. Ebenda, S. 52. Ebenda, S. 24. Vgl. ebenda, S. 47–50 und S. 54. Vgl. ebenda, S. 36.
Im weiteren Verlauf der Geschichte gerät Günther Geismars wohlgeordnete Weltanschauung jedoch ins Wanken. Seine Verunsicherung ist das Resultat sich summierender Kleinigkeiten, die er eher widerwillig zur Kenntnis nimmt. Da ist zunächst die direkte Begegnung mit dem Landvolk, das so gar nicht seinen romantisch verklärten Vorstellungen entsprechen will. Die Bauern sind keineswegs so herzlich und zuvorkommend, wie er sie aus alten Wandervogelzeiten in Erinnerung hat. Mürrisches Misstrauen schlägt ihm entgegen, als er auf einem Ausflug an ein Hoftor klopft, um Rast zu machen. Als er schließlich doch bewirtet wird, muss er erkennen, dass die unter den strengen Ablieferungsgesetzen leidenden Bauern über schlechte Milcherträge klagen, selbst aber heimlich Butter produzieren, um die Einkommenslage zu verbessern.25 »Unglaublich egoistisch« seien diese »engstirnigen verbitterten Menschen«; ihnen fehle das »Verständnis für die großen Probleme des Reichs«.26 Auch die Landarbeiter gehen ihrer Arbeit nicht so freudig nach, wie Geismar es sich eingeredet hatte, als er in deren »gemessenen rhythmischen Bewegungen« etwas »ungeheuer Beruhigendes« zu spüren glaubte.27 Tatsächlich ist die Haltung der gesamten Landbevölkerung alles andere als »beruhigend«. Seien es Kätner, Kleinbauern oder Landarbeiter; ihre Stimmung schwankt zwischen Unzufriedenheit und Auflehnung gegen die neuen Machthaber.28 Günther Geismar trifft nur einen einzigen Bauern, der seinem Idealbild auch nur annähernd entspricht. Dieser habe »einen schönen Erbhof und eine ganze Menge Knechte«, er sei »recht intelligent und […] sehr sauber gekleidet«; »bessere Rasse« eben. »Man wird schon wissen, warum man ihm einen Erbhof gegeben hat.«29 Doch diese eine Begegnung reicht nicht aus, um Geismars romantische Vorstellung der bäuerlichen Ursprünglichkeit aufrechtzuerhalten. Die Begeisterung für das neue, das faschistische Deutschland, die er bei den Bestellern der heimatlichen Scholle vermutet hat, hält sich in Wirklichkeit in Grenzen. So muss er sich schließlich eingestehen, dass der Nationalsozialismus nicht auf die Bauernschaft zählen kann, sondern eher Leuten wie Hans von Hadeln vertrauen muss. »Man muss bei den 25 26 27 28 29
Vgl. ebenda, S. 22. Ebenda, S. 132. Ebenda, S. 52. Vgl. ebenda, S. 127. Ebenda, S. 70.
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Adligen gewiss etwas auf der Hut sein, aber letzten Endes ist der Grundbesitz doch eine unserer besten Stützen.«30 Aber auch in diesem Punkt wird Günther Geismar im Verlauf der Geschichte in Zweifel gestürzt. Im Gutshaus wird er, der Sonderermittler aus der Reichshauptstadt, anfangs mit kaum verhüllter Herablassung behandelt;31 eine Demütigung, die er mit ebensolcher Herablassung quittiert: »Diese Junker sind im Grunde doch Hinterwäldler. Sie leben auf ihrer Klitsche und haben wenig Ahnung, was in der großen Welt geschieht. […] Es war mir nicht schwer, sie meine Überlegenheit fühlen zu lassen. Sie sind ja letzten Endes doch auf uns angewiesen.«32 Doch schon bald muss er erkennen, dass die Familie von Hadeln dann doch viel weltgewandter war und noch immer ist. Nicht nur, dass die von Hadelns in der Vergangenheit »eifrige Agenten« Hugenbergs waren, sondern sie pflegen auch weiterhin »nicht ganz durchsichtige Verbindungen« zu Industriellen.33 Als ein Stahlfabrikant namens Mönkebach das Gut Gronau aufsucht, um wirtschaftspolitische Gespräche mit dem Freiherrn zu führen, schiebt man Geismar kurzerhand ab – was er allerdings erst viel später erfahren wird. Statt der Begegnung beizuwohnen, darf er einen Badeausflug mit Edgar von Hadeln unternehmen. Der Nationalsozialist soll also nicht mitbekommen, wie gut die alten Verbindungen des »Herrenklubs« noch funktionieren.34 Noch verhängnisvoller ist Günther Geismars Desillusionierung mit Blick auf die lokale nationalsozialistische Bewegung selbst. Schon kurz nach seiner Ankunft erhält er Besuch von einem Oberscharführer der SA namens Wittler, der ihm andeutungsreich über Unregelmäßigkeiten, Cliquenwirtschaft und über die Rivalität zwischen der örtlichen SA und der am Gut stationierten SS-Truppe berichtet. Letztere würden gar von dem Gutsherren »ausgehalten«. Dass der Oberscharführer mit seiner »plump vertraulichen [Art] keinen sehr angenehmen Eindruck« macht, erleichtert es Geismar, die Sache erst einmal als Einzelfall von Querulantentum beiseitezuschieben (um es nicht als Fortsetzung des sogenannten Röhm-Putsches interpretieren zu müs30 31 32 33 34
18
Ebenda, S. 79. Vgl. ebenda, S. 33. Ebenda, S. 95. Ebenda, S. 167. Vgl. ebenda, S. 167–168.
sen).35 Doch das positive Bild vom »wahren kameradschaftlichen Geist«36 in der Bewegung – das kann er nicht allzu lange aufrechterhalten. Zunächst erfährt er, dass es vor seiner Ankunft in der Stadt eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen SA- und SS-Leuten gegeben hat;37 später wird er dann selbst Zeuge einer Massenschlägerei. Schließlich wird er als ranghöherer Sonderermittler aus Berlin auch noch von dem Truppführer der SS genötigt, die lokalen SA-Leute zu verhaften, da diese auch vor Erpressung und Unterschlagung von Parteigeldern nicht haltmachten.38 All das ärgert Günther Geismar, der doch eigentlich einen Mordfall aufzuklären hat: »›So ein Schlamassel! Die einen [die SS] von diesem Kerl, diesem Hadeln gekauft – die anderen [die SA] verludert und verrottet und bei der Bevölkerung diskreditiert. Und mit so was soll man nun arbeiten!‹ Etwas später dann schlägt sein Ärger in schiere Verzweiflung um: ›Ja, woran halte ich mich eigentlich? Unsere Leute? Die SA – was für kindische romantische Träume waren das in den ersten Tagen! Gemeinschaftserlebnis, Kameradschaftsgeist … Ein Haufen Dreck, verseucht von solchen Kerlen wie diesem Wittler. Wer weiß, was da überhaupt noch alles drinsteckt. Die SS – dem Hadeln verschworen, gar nicht unsere Leute. Vielleicht überhaupt verkappter Stahlhelm! Das einzige, was die zusammenhält, ist die Angst voreinander (auch eine Angst!) und ihre Rohheit.‹«39 Neben den Zweifeln an den Bauern, dem Gutsbesitzer und den »eigenen Leuten« beginnt auch die abendliche Lektüre des Protokolls des Hexenprozesses Günther Geismar zu verunsichern. Der Sonderermittler ist zwar fasziniert, aber auch abgestoßen von dem Aberglauben und der Bösartigkeit, die aus den Beschuldigungen der »Zeugen« spricht, von der so offensichtlichen »Fabrikation der Beweise«, vom unbekümmerten Einsatz exzessiver Gewalt und schließlich auch von der Überzeugung des untersuchenden Amtsmanns, dass all dies durch ein erpresstes Geständnis legitimiert werden wird. Der Keim eines
35 Ebenda, S. 79. Wittler hatte von der »zweiten Revolution« gesprochen; also Ernst Röhms plakative Forderung nach einer radikalen sozialen Umgestaltung des Reichs zitiert. 36 Ebenda, S. 106. 37 Vgl. ebenda, S. 173. 38 Vgl. ebenda, S. 172–173. 39 Ebenda, S. 226.
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weiteren Zweifels setzt sich in Günther Geismar fest. Über die Anwendung mittelalterlicher Folter nachdenkend, sieht er »die einzige Entschuldigung, die man für solche Unmenschlichkeit finden kann«, darin, »daß jene Leute offenbar doch an den ganzen Hexenspuk geglaubt haben. Oder? Nein, man kann derartige Grausamkeiten nicht begehen, ohne fest und unverbrüchlich an die höhere Berechtigung der Sache zu glauben, die man vertritt. Was geschieht, wenn dieser Glaube wankt?«40 Zu diesem Zeitpunkt hat er sich die Verbindung zu seinen eigenen Ermittlungen noch nicht eingestanden. Diese gestalten sich schwieriger als zunächst vermutet. Die von den lokalen Behörden gesammelten Indizien erweisen sich lediglich als bösartige Gerüchte, die sich in Zeugenbefragungen nicht erhärten lassen.41 Und so hat der Sonderermittler wenig Konkretes gegen Hans Moser in der Hand. Die einzige belastbare Aussage ist die des Gutsherrn Hans von Hadeln, der Moser gesehen haben will, wie er im Morgengrauen nach der Sonnenwendenacht mit einem länglichen Paket aus Federsen nach Hause kam.42 Im Verlauf eines scharfen Verhörs gibt der Landarbeiter zu, dass er ein Paket bei sich getragen hatte, und auch, dass darin seine Axt gewesen sei. Er habe sie bei einem Bauern schärfen wollen, weil sein eigener Schleifstein kaputt sei. Die Axt selbst sei nun bei ihm zu Hause – die längst vorgenommene Hausdurchsuchung hatte die »Tatwaffe« jedoch nicht zutage gefördert.43 An diesem Punkt kommt Günther Geismar einfach nicht weiter. Auch als er den SS-Wachen eine härtere Gangart mit dem Gefangenen gestattet und sogar selbst einmal die Peitsche schwingt, bleibt Hans Moser standhaft und bestreitet weiterhin jede Beteiligung an dem Mord.44 Nach wie vor ist Günther Geismar aber davon überzeugt, dass der von ihm als Kommunist ausgemachte Hans Moser den SA-Mann erschlagen hat. Doch der Zweifel nagt weiter. Als seine Frau ihn brieflich auf die Parallelen zwischen den Mordermittlungen und dem Hexen-
40 41 42 43 44
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Ebenda, S. 50, Hervorhebung im Original. Vgl. ebenda, S. 35–36 und S. 105. Vgl. ebenda, S. 36 und S. 126–127. Vgl. ebenda, S. 113–115. Vgl. ebenda, S. 129.
prozess aufmerksam macht, verirrt Geismar sich in einer abstrusen Selbstrechtfertigung, die er in seinem Tagebuch notiert: »So etwas gibt es doch nicht mehr, kann es nicht geben. Die Inquisitoren glaubten, daß in ihrem Opfer der Teufel stecke – wir wissen, daß sie insgeheim dem Bolschewismus anhängen. Im Mittelalter glaubte man, wenn ein Gefolterter schwieg, der Teufel hielte ihm die Zunge fest. Wir wissen, daß das die Methode der Kommunisten ist, die es in ihrem fanatischen Glauben an Moskau fertigbringen, zu schweigen.«45 Während Hexenprozess und Mordermittlung sich allmählich überlagern, wird der ohnehin labile Gefühlshaushalt des Sonderermittlers noch von einer anderen – von ihm gänzlich unerwarteten – Entwicklung durcheinandergebracht. Kurz nach seiner Ankunft in Federsen begibt er sich zu einem Antrittsbesuch zum nahe gelegenen Gut Gronau. Auf dem Weg dorthin kommt es zu der schicksalhaften Begegnung: »Am Ausgang des Dorfes, das zwischen dem Städtchen und dem Gut liegt, saß am Straßenrand ein Mädchen. Das Gänseliesel, dachte ich von weitem. Wir fuhren gerade im Schritt, so daß ich sie mir genauer ansehen konnte. Beim Näherkommen änderte sich der Eindruck. In der ziemlich verwahrlosten Kleidung steckte ein reizender, zarter Körper. Das Aufregendste aber war der Kopf. Ein rundes, aber nicht mehr kindliches Gesicht, umgeben von einem Kranz aschblonder, lockerer Haare, die, von der Sonne durchleuchtet, so etwas wie einen Heiligenschein bildeten. […] Sie saß da und zerpflückte Blumen. Unser Pferd ging immer noch im Schritt. Als das Mädchen uns kommen hörte, ließ es die Hände in den Schoß sinken und blickte zu mir herüber. Es waren übernatürlich große, glänzende Augen, die mir folgten, während die Gestalt sonst unbewegt dasaß. Als wir fast vorüber waren – ich konnte den Blick nicht von ihr abwenden –, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie nickte wie geistesabwesend, dann nahm sie wieder ihre Blumen auf. Ihr Blick steht immer noch vor meinen Augen.«46 Im Wirtshaus erfährt Günther Geismar kurz darauf, dass es sich bei der jungen Frau um Hans Mosers Schwester Lore handelt, die zudem die Verlobte des ermordeten SA-Mannes gewesen sei. Dessen gewalt-
45 Ebenda, S. 156, Hervorhebungen im Original. 46 Ebenda, S. 38.
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samer Tod und die anschließende Verhaftung des Bruders, so erzählt man ihm, hätten Lore Moser der Sinne beraubt; sie sei verrückt! Zunächst reagiert Geismar recht professionell auf diese Neuigkeiten. Konnte es sein, dass die Ermittlungen nicht nur in »politischer« Richtung zu führen waren, dass es sich möglicherweise um eine Beziehungstat handeln könnte? Als er einmal mehr auf Lore Moser trifft, zeichnet sich aber schon ab, dass der Sonderermittler die professionelle Contenance nicht allzu lange würde wahren können: »Ein erschütternde Begegnung! Ich habe sie wiedergesehen, heute nachmittag im Dorf. Aber in welcher Verfassung! Sie lief, ja sie rannte mit aufgelöstem Haar und verstörtem Blick über die Dorfstraße. Hinter ihr eine Schar johlender Kinder. ›Hexe, Hexe!‹ schrien sie. Sie ahnten ja nicht, was das Wort in diesem Augenblick für mich bedeutet.«47 Mit den Jugenderinnerungen, die der Landaufenthalt bei Geismar wachrief, kam nun auch »sein altes romantisches Liebesbedürfnis wieder an die Oberfläche, suchte nach einem Objekt und fand es. Er konnte auch jetzt nicht anders, als das arme irrsinnige Mädchen, das ein Zufall ihm zugeführt hatte, mit allen Attributen seiner kitschigen Vorstellung von Liebe zu umkleiden. Ihr Zustand kam seinen romantischen und zugleich pervertierten Neigungen in gleichem Maße entgegen.«48 Doch Geismar ist nicht der Einzige, der sich »romantisch-pervertiert« zu Lore Moser hingezogen fühlt; auch der Freiherr hat längst ein Auge auf sie geworfen. In einer heftigen Auseinandersetzung mit seiner Mutter setzt Hans von Hadeln sogar durch, dass die »Verrückte« vorübergehend im Gutshaus einquartiert wird.49 Dabei spricht der Freiherr hochtrabend von »Menschenpflicht und guten Werken«, hat aber doch wohl anderes im Sinn. Günther Geismar ahnt nichts von Lores Anwesenheit im Gutshaus, als er sich eines Abends auf sein Zimmer zurückziehen will. Auf dem Korridor wirft sich plötzlich die spärlich bekleidete, völlig verwirrte Lore Moser in seine Arme. Dabei nennt sie ihn zärtlich beim Namen ihres ermordeten Verlobten. Obwohl er weiß, dass die Umarmung nicht wirklich ihm gilt, zeigt Geismar keine Zurückhaltung: 47 Ebenda, S. 76. 48 Ebenda, S. 85. 49 Vgl. ebenda, S. 111–112.
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»Sie muss mich mit dem Verstorbenen verwechselt haben. Wegen der Uniform? Mir war durchaus nicht wie einem Verstorbenen. Ich fühlte den zarten Körper, der sich an mich schmiegte, fühlte ihre Schenkel, die Arme um meinen Hals. Ich kam gar nicht auf den Gedanken, mich loszumachen. Ich hob nur die Kerze hoch und beugte den Kopf zurück. Und da fiel mein Blick auf die Brust, die an meiner ruhte. Herrgott! Ich glaube, ich habe noch nie so wunderbare zarte Brüste gesehen; das feine weiße Leinenhemd hatte sich verschoben. Lore hob langsam den Kopf: Ihre Augen waren geschlossen und sie bot mir ihren Mund, einen leicht geöffneten, zarten Mund.«50 Doch es kommt nicht zu dem ersehnten Kuss, denn in diesem Moment hört Geismar im Korridor hinter sich die Stimme des Freiherrn: »Na, na!«. Vor Schreck rennt Geismar in sein Zimmer. Aber auch dort findet er keine Ruhe, sondern stürzt in eine existenzielle Krise, in der all seine Verunsicherungen sich Bahn brechen: »Kein Zweifel, ich liebe sie, ich liebte sie vom ersten Augenblick an, da ich sie am Straßenrand sitzen sah. Wie kommt sie nur hierher und auf meinen Korridor? Das ist ja Teufelsspuk! Hexerei – ja, es ist alles wie verhext. Ich bin hier auf diesem schönen Fleck Erde, in diesem wunderbaren Park, das herrlichste Geschöpf der Welt ist in meiner Nähe, ich habe sie in meinen Armen gehalten –. Und wozu bin ich hier? Morgen früh ist wieder Tag. Meine Arbeit wartet auf mich. Arbeit – ich muss einen Prozess führen! Aber das ist es ja – Nein, nein, die ›Hexe‹ war doch eine alte Frau! Aber dieser hier haben die Kinder auch ›Hexe‹ nachgeschrien. Ich kenne mich nicht mehr aus. Was soll ich hier? Was tue ich hier?«51 Derart aus dem emotionalen Gleichgewicht geraten, findet Günther Geismar keinen Halt mehr. Er hat niemanden, mit dem er reden kann; niemanden, dem er vertraut. Genau zu diesem Zeitpunkt rückt nun eine weitere Person in den Vordergrund der Geschichte. Es ist der Hauslehrer Walter Berger, der zwar zuvor schon häufiger aufgetreten, für den Verlauf der Handlung aber eher nebensächlich geblieben war.
50 Ebenda, S. 133–134, Hervorhebung im Original. 51 Ebenda, S. 134–135.
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Weil Geismar aus dem offensichtlich hochintelligenten, aber eher zurückhaltenden jungen Mann nicht schlau wurde, hatte er ihn zunächst zum Kreis der Verdächtigen gezählt. Zwei Tage nach der nächtlichen Begegnung mit Lore Moser möchte Geismar dem Hauslehrer nun endlich »politisch« auf den Zahn fühlen. Er inspiziert eine Unterrichtsstunde, in der Walter Berger versucht, dem jungen Freiherrn Edgar von Hadeln die Geschichte Karls des Großen näherzubringen. Nach dem Unterricht will sich Geismar den Hauslehrer zur Brust nehmen und konfrontiert ihn damit, dass in seiner Darstellung der karolingischen Reichsgeschichte die Figur von Karls Widersacher Herzog Widukind gefehlt habe und dass dies doch ganz und gar nicht im Sinne der »parteiamtlichen« nationalsozialistischen Geschichtsauffassung sei. Zu seiner Überraschung kontert der Kritisierte, dass er bewusst nicht auf Widukind eingegangen sei, denn gerade zu dessen Person stünde ein Urteil der »parteiamtlichen« Zeitschriftenliteratur noch aus; das habe der Sonderermittler doch sicher gelesen. Er habe vielmehr darzustellen versucht, dass Karl der Große zur »Deutschen Geschichte« gehöre und dass der Versuch, aus dem Kaiser einen »papistischen Gallier« zu machen, eine Geschichtsfälschung sei, die man den »französischen Chauvinisten« überlassen solle.52 Selbstkritisch gesteht sich Günther Geismar nach dieser Unterhaltung ein, dass er sich »eine richtige Blöße« gegeben hatte; mit der »parteiamtlichen Zeitschriftenliteratur« zu geschichtspolitischen Fragen ist er nämlich nicht wirklich vertraut. Glücklicherweise war es ja nicht zu einer Peinlichkeit gekommen. Denn der Hauslehrer war einfach darüber hinweggegangen und hatte dem Sonderermittler sogar angeboten, für ihn die einschlägige Literatur zu besorgen. In Geismars Estimation hatte Walter Berger sich »kolossal anständig benommen«.53 Es handelte sich ganz offensichtlich um einen verlässlichen Parteigenossen, der über jeden Zweifel erhaben sei! Ganz unverhofft hatte Günther Geismar also doch jemanden gefunden, dem er vertrauen wollte. Dabei hatte er gar nicht registriert, dass Walter Berger in der Unterhaltung weder seine nationalsozialistische Gesinnung noch eine Parteimitgliedschaft wörtlich bestätigt hatte. Der verunsicherte Sonderermittler hatte diese voreiligen Schlüsse selbst gezogen; der Haus-
52 Vgl. ebenda, S. 158–167. 53 Ebenda, S. 171.
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lehrer hatte ihn dann einfach in dem Glauben gelassen. Das genaue Gegenteil ist tatsächlich der Fall, doch das weiß allein der Leser schon: Bei Walter Berger handelt es sich um einen kommunistischen Parteiarbeiter, der noch bis vor Kurzem als verdeckter Agitator und Propagandist in den intellektuellen Kreisen in Berlin tätig war. Die Stelle als Hauslehrer in der niedersächsischen Provinz hat er nur angenommen, weil die Parteioberen meinten, dass ihm in der Reichshauptstadt »der Boden unter den Füßen« zu heiß werden könnte.54 Nach der Geschichtsstunde avanciert der Hauslehrer nun zur zweiten Hauptfigur des Romans. Die prekäre Gemütsverfassung Geismars erkennend, setzt Walter Berger in der Folge alles daran, dessen Selbstzweifel zu verstärken, um einen psychischen Zusammenbruch des Sonderermittlers herbeizuführen. Dabei betrachtet er diese Angelegenheit gewissermaßen als experimentelle Versuchsanordnung. So stellt er sich vor, »in Geismar [hineinzukriechen] und ihn von innen heraus [zu] zersetzen. […] So würde einmal der ganze Faschismus zu Fall kommen, an der jämmerlichen inneren Schwäche, an den Widersprüchen, die unter der brutalen Rüstung lagen, an seiner geschichtlichen Unsinnigkeit. Aber er müßte gestürzt werden, indem man diese Schwächen und Widersprüche ausnützte! Ob sich so etwas hier im Kleinen einmal durchführen ließ? Hier an diesem besonders jämmerlichen Vertreter der ›Herrenrasse‹?«55 Eine Gelegenheit, das Experiment durchzuführen, bietet sich schon bald, denn Günther Geismars Krise spitzt sich weiter zu. Der Hexenprozess tritt in seine abschließende Phase. In dem mittelalterlichen Dokument werden die Folterungen, die schließlich dazu führen, dass die »Hexe« ein volles Geständnis ablegt, von dem protokollierenden Notarius zwar in nüchterner Sprache, aber in all ihren drastischen Details geschildert.56 Geismar, der die entsprechenden Szenen wie gebannt zweimal liest,57 kann sich nicht dagegen wehren, in einer sexuell aufgeladenen Überblendung die unglückliche Lore Moser anstelle der »Hexe« Thrine Frese’ns zu fantasieren:
54 55 56 57
Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 170. Vgl. ebenda, S. 177–187. Vgl. ebenda, S. 188.
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»Ich sehe die Szene ordentlich vor mir, von Rosetti gemalt. Und wieder erscheint mir in dieser Vorstellung die Hexe als junges Mädchen. Auch in den Folterszenen, dort vor allem, wo der Meister ihr ›ein scharf hölzernes Instrument an die Brust legt‹.«58 Die erneute Lektüre der Folterszene lässt Geismar sogar ganz unvermittelt seine bislang so positiv-kameradschaftliche Erinnerung an den Ersten Weltkrieg relativieren. Ohne zu wissen warum, muss er »an den Abend denken, als vor Sommepy die ersten Engländer eingesetzt wurden. Sie hatten viele neue Artillerie mitgebracht und wir waren ein so dichtes Feuer noch nicht gewöhnt. Als sie dann zum Sturm ansetzten und die Beschießung unserer Gräben einstellten, empfanden wir diese Stille besonders stark. Dazu kam dann das Gekreische ihrer Pfeifen und Dudelsäcke. Damals gaben wir dem Ort den Namen Hexenkessel. Es schien uns, als sollten wir niemals wieder herauskommen. So würgt mich auch jetzt irgend etwas im Halse. Wie werde ich hier herauskommen?«59 Alles beginnt ineinander zu verschwimmen: die Folterszenen, die Kriegserinnerungen, das Verlangen nach Lores Zärtlichkeit und schließlich sogar die eigenen Ermittlungen. Denn zur gleichen Zeit kommt es zu Übergriffen der am Gut Gronau stationierten SS-Leute auf den Verdächtigen Hans Moser. Der Landarbeiter wird übel zugerichtet, und erneut stürzen die Parallelen zum Hexenprozess den hinzukommenden Günther Geismar in tiefe Verzweiflung: »Er [Hans Moser] konnte kaum noch sprechen, aber die drei Worte: ›Das dulden Sie?‹ brachte er so heraus, daß es mir durch Mark und Bein ging. Plötzlich fiel mir ein: Im engen Gang hinter des Amtsmanns Zimmer!«60 Einen doppelten Höhepunkt erreicht Geismars Krise am darauffolgenden Abend, als Hans von Hadeln die oberen Chargen der SA und SS zu sich ins Gutshaus einlädt. Von vornherein als reine Männerrunde geplant, artet die Gesellschaft in ein regelrechtes Saufgelage aus.61 Hier nun erfährt Geismar von dem betrunkenen Gutsherrn, was 58 Ebenda, S. 157. Günther Geismar (besser Alfred Kurella) bezieht sich hier auf den Präraffaeliten Dante Gabriel Rossetti – aus offensichtlichen Gründen wohl auf sein Gemälde »Venus Verticordia«. 59 Ebenda, S. 188. 60 Ebenda, S. 193, Hervorhebung im Original. 61 Vgl. ebenda, S. 201–208.
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sich an dem Morgen nach der Mordnacht wirklich ereignet hat. Hans von Hadeln erzählt, dass er Hans Moser mit einem Paket angetroffen und ihm dieses sogleich abgenommen habe. Darin sei aber keine Axt gewesen, sondern kommunistische Flugblätter. Er – von Hadeln – habe dieses Detail verschwiegen, »um Moser zu schonen […]. Für Flugblätter hätte man ihn gleich totgeschlagen, für Mord wegen gekränkter Ehre könne er mit fünfzehn Jahren Zuchthaus wegkommen.«62 Damit hat Geismar nun den »Beweis«, dass der Landarbeiter Kommunist ist, aber gleichzeitig entlasten die Flugblätter Hans Moser in der Mordsache: »Aber dann ist er nicht der Mörder. Denn dann war nicht die Axt im Paket. Er hat gelogen. Hier hat er gelogen. Aber damit ist er unschuldig!«63 Geismar begreift, dass er den Falschen hatte quälen lassen. Doch damit nicht genug: Spät in derselben Nacht hört der Sonderermittler Schritte auf dem Korridor vor seinem Zimmer. Leise öffnet er die Tür und sieht den Freiherrn, wie er zu Lore ins Zimmer schleicht. »Er trug Uniform – unsere Uniform. […] Was für ein Wahnsinn. Ich bin auf den Gang hinausgeschlichen. Ich habe an der Tür gelauscht! Das war ihre Stimme: Willi, Willi, du bist doch gekommen! Dann ein unterdrückter Schrei. Und die Stimme des Freiherrn; er lachte!«64 Auch für den Hauslehrer Walter Berger birgt der Abend überraschende Neuigkeiten. Berger hatte an der Gesellschaft nicht teilnehmen wollen, war aber vom Freiherrn dazu verdonnert worden, für alkoholischen Nachschub aus dem Weinkeller des Gutes zu sorgen. Obwohl er die ihm gestellte Aufgabe erfüllt, ist die Stimmung der Herren alles andere als ausgelassen, sondern gelangweilt und ob der Rivalität von SS und SA sogar latent aggressiv. So überredet der schon deutlich angetrunkene Gutsherr den Hauslehrer auch noch dazu, sich ans Klavier zu setzen, um mit dem Horst-Wessel-Lied und anderen einschlägigen Weisen die Stimmung anzuheizen. Klavier spielend hört Berger nun das Gespräch zwischen Hans von Hadeln und Günther Geismar mit: Auch er erfährt also, dass Hans Moser ein kommunistischer Parteigenosse ist.
62 Ebenda, S. 207. 63 Ebenda, S. 208. 64 Ebenda, S. 209.
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Da die SS-Wachen völlig betrunken sind, nutzt Walter Berger die Gelegenheit, um noch in dieser Nacht mit dem Genossen Kontakt aufzunehmen. Er schleicht sich in den Keller, muss aber feststellen, dass die gut verriegelte Tür eine Befreiung des Inhaftierten unmöglich macht. Doch kann er durch die geschlossene Tür mit ihm sprechen und will sich als Erstes als Kommunist zu erkennen geben. Doch Moser ist offensichtlich genau informiert: »›Ich weiß wer Du bist, Genosse, und wer ich bin. Und ich hafte dafür, daß dir nichts geschieht.‹ Welche Treue und Disziplin in dieser verzweifelten Lage.«65 Eine Sache kann Berger aber doch für ihn tun. Auf einem unter der Tür durchgeschobenen Stück Zeitung notiert Hans Moser eine Botschaft an die Genossen in Federsen; denn er allein weiß, wer den SA-Mann wirklich erschlagen hat: »Peter! Sofort nach Erhalt Flugblatt. Mörder Keiths ist Hadeln. Bin ihm morgens nach der Feier begegnet (hatte Fb. mit!) Beweisstück gegen ihn: Anzug, Blutflecke an der Hose, Ärmel zerrissen […]. Hilsingen, Essendorf mobilisieren.«66 Am frühen Morgen gibt Walter Berger den Kassiber einem Bauernjungen, der die Nachricht nach Federsen bringen soll. Doch der Junge kommt nicht weit; schon auf dem Vorplatz des Gutshauses wird er von Günther Geismar gestellt, der ihm mit Gewalt den Zettel wegnimmt und ihn dabei bewusstlos schlägt. Nach Lektüre des Zettels erreicht die Krise Geismars ihren Höhepunkt. Er weiß nun alles: dass Hans Moser Kommunist, aber kein Mörder ist und dass es stattdessen der Gutsherr selbst war, der den SA-Mann erschlagen hatte, um ungestört dessen Verlobte zu drangsalieren.67 Wollte Geismar seinen Ermittlungsauftrag »gewissenhaft« durchführen, so »mußte er den Herrn von Hadeln, den Förderer der SS, den mächtigen, einflußreichen Mann dem Henker ausliefern und – einen notorischen Kommunisten freilassen! Einen Freund verraten und einen Feind retten – ›Freund‹ und ›Feind‹ vom Standpunkt der Sache aus betrachtet, die er vertrat. Aber was war das für eine Sache? Worauf stützte sie sich? Alle Stützen waren ins Wanken gekommen.
65 Ebenda, S. 204. 66 Ebenda, S. 210. Siehe auch S. 204. 67 Vgl. ebenda, S. 210.
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Günther Geismar war wirklich am Ende seiner Kräfte. Der ganze Widersinn der ›Bewegung‹, die ganzen Widersprüche seiner ›Weltanschauung‹ wirkten sich plötzlich mit ihrer ganzen Wucht an ihm aus – und er stand allein!«68 Nichts zu tun war auch kein gangbarer Ausweg – der bewusstlose Bauernjunge konnte jederzeit aufwachen und erzählen, was auf dem Zettel stand, von wem er ihn erhalten und wem er ihn gegeben hatte. Dann würden Hadeln und die SS sich sicher nicht nur Moser, sondern auch ihn – Geismar – vorknöpfen, um den Mord zu vertuschen. Niedergeschlagen und verängstigt wendet sich der Sonderermittler an den Hauslehrer Walter Berger, von dem er sich eine Auskunft über nichts Geringeres als den »Sinn des Lebens« erhofft. Berger ergreift die Gelegenheit, um die Krise seines Gegenübers noch zu verschärfen, indem er in seiner Erwiderung eine eigenwillige Interpretation von Martin Heideggers existenzphilosophischen Überlegungen zu Sorge und Angst liefert. Berger zitiert Heideggers Diktum, der Tod sei »die eigenste, gewisseste und als solche unüberholbare Möglichkeit des Daseins«.69 Damit – so Berger – habe der Philosoph nicht weniger als »den modernen theoretischen Ausdruck der Weltanschauung der alten Germanen« formuliert, denn diese hätten kein Erlösungsbedürfnis gehabt: »[Unsere Vorfahren] bejahten das Schicksal, an dessen Ende der Tod steht, und sahen darin ihre Erfüllung. Sie kehrten vor dem Tod niemals um.«70 Walter Bergers Versuch der psychologischen »Zersetzung« des Sonderermittlers scheint ein voller, ein fast beängstigender Erfolg zu werden: »›Sie kehrten nicht um!‹ Geismars Stimme klang wie aus dem Grabe. ›Und am Ende steht der Tod. Der Tod, zu dem man vorlaufen muß …‹.«71 Doch der Gang der Ereignisse lässt sich auch durch die Gedanken an Selbstmord nicht mehr aufhalten. Längst schon hat der Sonderermittler die Kontrolle über den Fall verloren, als der Hütejunge zu sich kommt und dem SS-Truppführer von dem Zettel erzählt. Der SSMann zwingt Geismar zur Herausgabe der Botschaft, um diese dem Freiherrn zu übergeben. Der Sonderermittler ist verloren. 68 69 70 71
Ebenda, S. 212. Ebenda, S. 218, bezugnehmend auf Heidegger, Sein und Zeit, S. 250. Ebenda, S. 218–219. Ebenda, S. 219.
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Durch den Aufruhr, den der SS-Truppenführer beim Freiherrn veranstaltet, wird auch Walter Berger gewahr, dass der Junge aufgewacht und der Zettel gefunden ist. Ihm ist klar, dass nun auch seine eigene Tarnung auffliegen wird. Schnellen Schrittes, doch wohlüberlegt, geht er in das Zimmer von Günther Geismar, nimmt dessen Papiere an sich und verschwindet für immer durch das offen stehende Fenster. Durch den Garten und die angrenzenden Wälder verlässt der Kommunist das Gut Gronau – zweifelsohne auf dem Weg zu neuen Parteiaufträgen und Abenteuern.72 Auch Günther Geismar verschwindet spurlos. Jedenfalls finden der Gutsherr und seine SS-Leute nur das leere Zimmer vor, nachdem sie zunächst Hans Moser totgeschlagen haben und sich nun um den Sonderermittler »kümmern« wollen. Auf dem Schreibtisch erblickt Hans von Hadeln zwei vergilbte Seiten eines alten Manuskripts. Es sind die letzten beiden Seiten des Hexenprotokolls, in dem das Todesurteil der Thrine Frese’n niedergeschrieben steht. Darunter – in Geismars Handschrift – ist zu lesen: »Vom Leben zum Tode!« »›Richtig, natürlich!‹ brüllte der Herr von Hadeln, als er sich von seinem Lachanfall erholt hatte. ›Den sind wir los! Umgebracht hat er sich. Soll ihn der Teufel holen!‹«73 Scheinbar unvermittelt endet so Alfred Kurellas Roman »Die Gronauer Akten«. Doch in einem knapp dreiseitigen Nachtrag zu dem, was der Autor nun rückblickend als »Bericht« über den Mordfall bezeichnet, nimmt die Sache noch eine entscheidende Wendung. Kurella schildert, wie er selbst, ein halbes Jahr nachdem er die Dokumente erhalten hatte, ganz unerwartet in Kopenhagen auf Walter Berger getroffen war: »›Sie sind mir noch eine Erklärung schuldig, bevor wir uns trennen‹«, sagte ich. ›Ich habe jetzt alles geordnet und so gut ich konnte eingefügt, was Sie mir erzählt haben. Aber die Dokumente und Ihre Erzählung brechen so unvermittelt ab. Geismars Verschwinden – ist das das Ende?‹«74 Walter Berger erzählt ihm daraufhin, dass er in der Zwischenzeit herausgefunden habe, dass Günther Geismar sich doch nicht umgebracht habe: »Er hat etwas Schlimmeres getan. Er ist am Leben geblie72 Vgl. ebenda, S. 231–232. 73 Ebenda, S. 235–236. 74 Ebenda, S. 237.
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ben, wenn man das so nennen will.« Statt an seinem inneren Konflikt zu zerbrechen, hatte Günther Geismar eine andere, eine perverse Lösung seiner Selbstzweifel gefunden. Er hatte alles Menschliche abgestreift und sich als Kommandant in ein Konzentrationslager versetzen lassen. Dort quält er sadistisch die Gefangenen und schikaniert auch die eigenen Leute, wenn sie nicht willens sind, es ihm gleichzutun: »Ich werd’ ihn Euch schon austreiben, den ›inneren Schweinehund‹! ………..« lautet der allerletzte Satz der »Gronauer Akten«.75
75 Ebenda, S. 239.
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Kurella als literarischer Meister des Sozialistischen Realismus
Was immer man in literarischer Hinsicht von Alfred Kurellas Romandebut halten mag, die »Gronauer Akten« erscheinen zunächst als beispielhafte Einlösung der von ihm proklamierten »realistischen Kunstauffassung«. Alfred Kurella hatte in der Tat versucht, die faschistische Herrschaft im ländlichen Niedersachsen so genau wie möglich zu schildern und dabei gleichzeitig »parteilich« zu wirken, denn die Geschehnisse auf Gut Gronau waren ebenso detailliert wie moralisch eindeutig dargestellt. Entsprechend dem eigens formulierten Kunstverständnis hatte Kurella also »beide Seiten des Kunstprozesses« zur Geltung bringen wollen: nicht nur die Wirklichkeit abzubilden, sondern auch »ändernd in die Wirklichkeit des Menschenlebens eingreifen«. Und doch wäre es chronologisch falsch, die »Gronauer Akten« als literarische Entsprechung der Leipziger Antrittsrede verstehen zu wollen: Kurella hatte das Romanmanuskript nicht Anfang der 1950er Jahre, sondern bereits im Jahre 1936 verfasst – wie im Innendeckel der Erstausgabe zu lesen war. Damals war Kurella nicht der eigenen, sondern Nicolai Tschernyschewskis Kunstauffassung gefolgt (was wie gesagt keinen großen Unterschied machte): Er wollte das Leben »nachbilden« und ein »Urteil über die Erscheinungen des Lebens« fällen. Sowohl in der Leipziger Rede wie auch – fast zwei Jahrzehnte zuvor – in den »Gronauer Akten« wollte Alfred Kurella aber noch einen anderen Ratschlag Tschernyschewskis aufnehmen: »[E]s ist richtig, wenn die moderne Ästhetik sich in steigendem Maße dem theoretischen Studium des Typischen zuwendet, denn im Bereich der Kunst bildet das Typische gerade jenen Schnittpunkt des Einzelnen und des Allgemeinen, des Individuellen und des Gattungsmäßigen, wo das widersprüchliche Wesen der Wirklichkeit im künstlerischen Bild unmittelbar erlebbar gemacht werden kann.«76 76 Kurella, Wofür haben wir gekämpft?, S. 290. Auch Tschernyschewski beschäftigte sich in seiner Arbeit ausführlich mit dem »typischen Charakter«, Tschernyschewski, »Ästhetik und Leben«, (5. Teil), S. 62ff.
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Natürlich handelte es sich bei den »Gronauer Akten« nicht um ein »theoretisches Studium des Typischen«, wohl aber um dessen praktisch-literarische Umsetzung. So wurde in dem Roman ein ganzes Tableau entsprechender »Typen« entworfen: Da war zunächst der heroische Parteisoldat Hans Moser, der bereit war, für seine Überzeugung Folter zu ertragen oder gar dem Tod ins Auge zu blicken; dann der politisch opportunistische, ausbeuterische Gutsbesitzer Hans von Hadeln, der seine Machtstellung auch sexuell auszunutzen wusste; der romantisch-schwärmerische, aber moralisch völlig degenerierte Nationalsozialist Günther Geismar, der durch die Widersprüche in seiner Weltanschauung in eine existentielle Krise gestürzt wurde, im Zuge derer er alle Menschlichkeit verlieren sollte; und schließlich der intellektuell allen überlegene Hauslehrer Walter Berger, der trotz seiner bürgerlichen Herkunft aus rationaler Erkenntnis der Richtigkeit der historisch-materialistischen Wissenschaft sein Leben dem Sieg der Arbeiterklasse verschrieben hatte. Dass diese Charaktere trotz ihrer holzschnittartigen Eindeutigkeit dem Leser nicht unrealistisch oder platt erschienen, dafür hatte Alfred Kurella mit einem simplen, aber gleichwohl effektvollen Trick gesorgt, der ihm erlaubte, mehrere und völlig unterschiedliche Erzählformen in einem Text zu vereinen. Schon in der Einleitung gab Kurella nämlich vor, ein halbdokumentarisches Projekt zu verfolgen: sein »Roman« bestehe aus verschiedenen »Dokumenten«, die durch eine verbindende Erzählung zusammengehalten und miteinander in Beziehung gesetzt würden. Neben den langen Exzerpten aus dem Protokoll des Hexenprozesses waren dies vor allem die Briefe und Tagebucheintragungen von Günther Geismar. Die Schreiben, in denen der Sonderermittler dem Innenministerium über den Fortgang der Ermittlungen Bericht erstattete, waren dabei natürlich viel formeller als die Briefe an seine Frau, die bisweilen romantisch-kitschig oder auch selbstverliebt daherkamen, in jedem Fall aber gekünstelt erschienen. Die Tagebucheintragungen dokumentierten hingegen den wahren Gefühlszustand Geismars, zunächst seinen Hochmut, dann seine Verliebtheit und schließlich die wachsende Verzweiflung mit dem Fall und den daran Beteiligten. Damit bildeten diese Aufzeichnungen einen starken Kontrast zum Hexenprotokoll, in dem hinter der ornamentreichen mittelalterlichen Sprache ein nüchtern-sachlicher, ja fast gefühlskalter Tenor zu vernehmen war. Geismars schlussendlicher Zusammenbruch zeichnete sich sowohl im Tagebuch wie auch in den Briefen an seine Frau 33
ab, wenn auch in unterschiedlicher Form: in weinerlichem Selbstmitleid im Tagebuch; in theatralischer Todeslyrik in den Briefen. Der verbindende Erzähltext, der all diese Teile zusammenhalten sollte, blieb weitgehend sachlich-neutral, doch eine gewisse »parteiliche« Voreingenommenheit gegen den Gutsherren und den Sonderermittler, aber für Moser und Berger ließ sich hier nicht verleugnen. Diese war insofern nur konsequent, als Alfred Kurella ja im Buch selbst berichtet hatte, wie er von dem Fall gehört und in den Besitz der »Dokumente« gelangt sein wollte: Walter Berger hatte ihm Geismars Papiere zugeschickt und ihm die ganze Geschichte erzählt. Nicht zuletzt wegen der ausgefeilten Erzähltechnik wurde das Buch recht positiv aufgenommen. So sprach die Kulturzeitschrift Aufbau von einem »faszinierenden Roman«, in dem Kurella »teils direkt erzählend, teils in Geismars Briefen und Tagebuchaufzeichnungen verschlüsselt, die Hintergründe des Mordes aufdeckt«. Besonders »kunstvoll« sei die Konfrontation der faschistischen mit der inquisitorischen Ermittlungsgeschichte, die »die mittelalterlich-dunkle Atmosphäre des Hitlerschen ›Dritten Reiches‹ in ihren Wurzeln anschaulich« machten.77 Aber der Roman war nicht nur von historischem Interesse. Auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht erschienen die »Gronauer Akten« zur rechten Zeit; hatte man doch erst kürzlich auf der 2. Parteikonferenz der SED (9.–12. Juli 1952) die Kollektivierung der Landwirtschaft beschlossen. Ein Roman, der die Ausbeutung der Landarbeiter und Kleinbauern durch die Großgrundbesitzer hervorhob, kam da nicht ungelegen. Ein Teil der ersten Auflage des Buches wurde also »für hervorragende Leistungen im Wettbewerb zur Entwicklung der Viehwirtschaft und Steigerung der tierischen Produktion« vom Ministerium für Land- und Forstwirtschaft an ausgewählte Landarbeiter verschenkt.78 Dass dies eine ernst gemeinte Würdigung sein sollte und nicht etwa der Versuch, eine unverkaufte Restauflage loszuwerden, zeigt sich daran, dass noch 30 Jahre später eine dritte Ausgabe der »Gronauer Akten« erscheinen sollte. Zu diesem Zeitpunkt war ihr Autor schon zehn Jahre tot, konnte also keinen ungebührlichen Einfluss auf die Publikationspolitik der DDR nehmen. Natürlich wollte 77 O. A. »Rezension der Gronauer Akten«, S. 185. 78 So lautet der Text einer eingeklebten Urkunde in einem Exemplar, das sich im persönlichen Besitz des Verfassers befindet.
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der Verlag damit nicht unbedingt das große literarische Erbe pflegen – doch immerhin sprach die Neuauflage für den Erfolg dieser spannenden Geschichte, in der man ein durchaus gelungenes Beispiel der sozialistisch-realistischen Literatur sehen konnte. Bei der Erstveröffentlichung hatte sich nur ein einziger Rezensent mit verhaltener Kritik zu Wort gemeldet. In der einflussreichen kulturpolitischen Wochenzeitung Sonntag war am 27. Februar 1955 eine längere Besprechung abgedruckt, die den »Realismus« der »Gronauer Akten« wörtlich nehmen wollte. Der Kritiker – ein gewisser Lutz Joachim – hatte nicht bemerkt, dass Aufbau Verlag 1985 es sich bei den »Dokumenten« Schutzumschlag: Margot Hoppe um einen literarischen Kunstgriff des Autors handelte, und betrachtete diese Textteile stattdessen als »realistisch« im Sinne von »authentisch«: »[…] was Alfred Kurella hier veröffentlicht hat, ist kein Roman, auch wenn in einer Vorbemerkung gesagt wird, daß die hier wiedergegebenen Dokumente Geismars ›durch eine erzählende Darstellung ergänzt‹ wurde.«79 Dann lobte der Rezensent (pflichtgemäß?) die »große Geschicklichkeit«, mit der Kurella das ihm bekannt gewordene Material montiert habe. Gegen Ende der Rezension kam er aber noch einmal auf die »erzählende Darstellung« zurück: »Dieser deskriptive, teils kommentierende Zwischentext Kurellas« sei »nicht immer geglückt« und in Teilen sogar »überflüssig«. Lutz Joachims Kritik beruhte natürlich auf einem kolossalen Missverständnis. Mit Ausnahme des Hexenprotokolls, das in der Tat »authentisch« war (wenngleich Ku-
79 Joachim, »Die Gronauer Akten«, Sonntag, 27. 2. 1955.
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rella die Handlung von Mecklenburg nach Niedersachsen verlegt hatte80), entsprangen alle anderen »Dokumente« der literarischen Phantasie des Romanautors. Gerade weil der Kritiker ihm die Autorenschaft abgesprochen hatte, dürfte Alfred Kurella auf diese Rezension besonders stolz gewesen sein: Wem es gelang, sogar die Literaturkritik derart hinters Licht zu führen, der konnte sich wahrlich als »literarischer Meister« des »sozialistischen Realismus« fühlen. Bei aller Naivität hatte Lutz Joachim mit seiner Authentizitätsvermutung aber eine durchaus interessante Frage aufgeworfen. Denn selbst wenn Alfred Kurella den Begriff nicht ausdrücklich erwähnt hatte, war er in seiner Leipziger Antrittsvorlesung sehr wohl auf das Verhältnis zwischen authentischem Erleben und künstlerischer Darstellung eingegangen: Nihil est in effige, quod non prius fuerit in sensu. Wenn die »Dokumente« aber nicht echt waren, welche »Vorgänge der Außenwelt« könnten dann »Quelle und Ursprung« der »Gronauer Akten« gewesen sein? Will man Alfred Kurellas Leipziger Antrittsrede ernst nehmen, so kommt man nicht umhin, die Entstehungs-
80 Vgl. Abschrift des Hexenprotokolls, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1085. Eine Notiz der Nachlassbearbeiter bezeichnet die Autorenschaft als ungeklärt; es könne nicht ausgeschlossen werden, dass Kurella das Protokoll selbst verfasst habe. Das macht allerdings schon dessen Umfang von 40 Manuskriptseiten eher unwahrscheinlich – in den Gronauer Akten wurde nur ein Bruchteil davon verwandt. Warum hätte Kurella sich diese Mühe machen sollen? Kurellas Autorenschaft erscheint noch fragwürdiger angesichts der Tatsache, dass er das Protokoll umschreiben musste, um den Ort der Handlung von Greifswald, nach Niedersachsen zu verlegen. Einige Spuren dieser »Verlegung« finden sich noch in den Gronauer Akten. Kurella hatte hier etwas nachlässig gearbeitet und versäumt, einige Ortsnamen zu ersetzen. So »gestand« Thrine Frese’n, ihre Zauberkunst in Boltenhagen, nahe Greifswald erlernt zu haben, oder auch, dass sie in Hanshagen betteln war, vgl. Kurella, Gronauer Akten, S. 183–185. Dass es sich tatsächlich um ein Original handelt, wird schließlich dadurch unzweifelhaft, dass sowohl der protokollierende Universitätssekretär und Notarius Michael Knuth (in der Abschrift Cnuth) als auch der Amtmann Georg Gumbertius reale Personen der Greifswalder Universitätsgeschichte um 1641 sind. Vgl. die Beglaubigung der Statuten der Juristischen Fakultät durch den Notarius Michael Cnuth im Jahre 1642, abgedruckt in: Schmidt /Spiess (Hg.), Die Matrikel der Universität Greifswald, Band 2, S. 811; zu Georg Gumbertius vgl. Friedländer u.a. (Hg.), Ältere Universitäts-Matrikeln, S. 1641.
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geschichte seines Romans zu untersuchen; die Umstände also, die ihn Mitte der 1930er Jahre dazu gebracht haben, diese und keine andere Geschichte aufzuschreiben. Wer diesen Versuch unternimmt, muss zunächst Alfred Kurellas Lebenssituation im Moskauer Exil verstehen. Und die war alles andere als komfortabel.
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Ein geselliger Abend und seine Folgen
Im Spätherbst 1934 kam es in Moskau am Rande der Feierlichkeiten zum 15. Jubiläum der Kommunistischen Jugendinternationale (KJI) zu einem Wiedersehen alter Bekannter. Während der schwer verständlichen Rede eines chinesischen Genossen verließen einige Teilnehmer des Festaktes den Kolonnensaal im Gewerkschaftshaus und begegneten sich dann eher zufällig im Foyer.81 Miteinander ins Gespräch zu kommen fiel ihnen nicht schwer, denn sie teilten viele Erinnerungen. So hatten sie alle als Gründungsmitglieder der KJI schon an den ersten beiden Weltkongressen 1919 und 1921 teilgenommen. Was sie darüber hinaus noch verband, war das Gefühl, von »ihrer« Organisation nicht ausreichend gewürdigt zu werden. Einige waren sogar ein wenig beleidigt, diesmal nicht in das Präsidium des Kongresses gewählt worden zu sein. Statt also auf dem Podium zu sitzen, mussten sie dem Festakt von den seitlichen Logen aus folgen. Andererseits hatte dies auch sein Gutes. Von dort konnte man sich unbemerkt hinausstehlen und musste den oft langatmigen Reden nicht bis zum Ende zuhören. Da war es gegenüber im Café »Artist« doch viel angenehmer; hier konnten die Genossen Edouard Winter (d. i. Fritz Heilmann), Stach Huber (d. i. Stanislaw Huberman), Luigi Polano, Fritz und Marta Globig, Voja Vujovi˙c, Lazar Schatzkin und Alfred Kurella in aller Ruhe über alte Zeiten plaudern.82 Später konnte sich keiner mehr erinnern, wer auf die Idee gekommen war, ein weiteres Treffen zu verabreden. Und darauf, dass man dazu auch andere KJI-Veteranen, wie etwa Otto Bork (d. i. Otto Unger) und Francesco Misiano, einladen könnte. Über den Ort des Treffens war man sich aber schnell einig gewesen. Zu Hause bei den Globigs sollte es stattfinden; sie hatten die größte Woh-
81 Vgl. Alfred Kurellas Vernehmung vor der späteren Untersuchungskommission, in: Russisches Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte (nachfolgend RGASPI) 495/4/335, Bl. 246ff., hier Bl. 247. 82 Vgl. Vernehmung von Stach Huber (d. i. Stanislaw Huberman), in: RGASPI 495/4/335, Bl. 279.
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nung. Jeder könne doch etwas zu essen oder trinken mitbringen? Doch Fritz Globig hatte etwas dagegen: »Um Gottes Willen, dann bringt jeder irgendeinen Dreck, ein Gesöff und dann wird es am Ende eine besoffene Geschichte.«83 Auch Alfred Kurella hatte keine große Lust auf eine »Sauferei«. Also einigten sich die Genossen darauf, von jedem etwas Geld einzusammeln, damit Marta Globig für ein kleines Abendessen einkaufen könne.84 Gesellige Zusammenkünfte dieser Art – auch Wetscher oder »veљerinki« genannt – waren unter den Exilanten in Moskau nichts Außergewöhnliches. Die wenigsten Ausländer waren in die sowjetische Gesellschaft integriert; man blieb eher unter sich. Und da das Geld knapp und die wenigen Restaurants teuer waren, trafen sich die Exilanten ganz gerne bei dem einen oder anderen zu Hause. Solche Verabredungen waren also durchaus üblich, doch genau dieser Wetscher sollte ungeahnte Folgen für die Teilnehmer haben. Und das, obwohl an dem Abend des 28. November 1934 in der Wohnung der Globigs gar nichts Besonderes vorfallen sollte. Ganz im Gegenteil, Alfred Kurella meinte später, er habe sich dort gelangweilt: »Es kam nicht die Stimmung zustande, wie wir es erwartet hatten, es begegneten sich Menschen, die einander 10 und 15 Jahre nicht gesehen haben, […] es wollte zu keinem Gespräch und zu keiner Diskussion kommen und tatsächlich war der Abend ziemlich früh zu Ende. Ich bin ungefähr gegen 12 Uhr weggegangen.« Ein anderer Teilnehmer beschrieb den Wetscher als »langweilig«, ja sogar als »spießerisch«, und selbst der Gastgeber musste einräumen, dass die Zusammenkunft »stumpfsinnig und einsilbig verlaufen« sei.85 Das private Treffen der »alten KJI-ler« wäre sicher nebensächlich geblieben, wäre nicht drei Tage später der Erste Sekretär der Leningrader Parteiorganisation, Sergej Mironowitsch Kirow, erschossen worden. Nicht etwa, dass die »alten KJI-ler« damit irgendetwas zu tun gehabt hätten. Doch die Ermordung des einflussreichen Mitglieds des Politbüros der KPdSU bot Josef Stalin den Anlass, die als Großer Terror bekannte Säuberungspolitik einzuleiten, die unzähligen Partei83 Vernehmung von Fritz Globig, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 313. 84 Vgl. Kurellas Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 248. 85 Vgl. Kurellas Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 248–249, Vernehmung von Otto Bork, in: RGASPI 495/4/335 Bl. 355, und Globigs Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 306–307.
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mitgliedern die Freiheit oder gar das Leben kosten sollte.86 Obwohl die Säuberungen gemeinhin auf die Jahre der Moskauer Schauprozesse von 1936 bis 1939 datiert werden, setzten die ersten parteiinternen Untersuchungen und Bestrafungen unmittelbar nach dem Mord an Sergej Kirow ein. Die Art und Weise, wie in den folgenden Jahren »ermittelt« werden sollte und was dabei als »verdächtig« gelten würde, all dies zeichnete sich schon Anfang 1935 ab. Die Kaderabteilungen – auch die der Komintern – richteten ihr Augenmerk auf Parteimitglieder, die bereits in der Vergangenheit eine oppositionelle Haltung an den Tag gelegt hatten und für ihre »Abweichungen« bestraft worden waren. Deren Umfeld wurde nun einer erneuten Prüfung unterzogen. Dabei ging man davon aus, dass hinter diesen Hauptverdächtigen ein »Chwost« (hvost), also ein »Schwanz« von Helfern und Sympathisanten stecke. Und damit waren nicht nur politische oder berufliche Verbindungen gemeint, auch der private Umgang mit einem ehemaligen Versöhnler, Sektierer, Trotzkisten oder sonstigen Abweichler führte nun dazu, selbst in Verdacht zu geraten. Wem erst einmal solch eine persönliche Verbindung nachgewiesen wurde, der konnte sich in parteiinternen Untersuchungen kaum gegen den Verdacht der oppositionellen Betätigung zur Wehr setzen. Denn der »politische Charakter« einer privaten Begegnung galt durch die bloße Anwesenheit eines Hauptverdächtigen bereits als ausgemacht. Um diese Schuld durch Assoziation von sich zu weisen, blieb denjenigen, die mit einem Parteifeind »verkehrt« hatten, nur eine einzige Möglichkeit – eine Verteidigungsstrategie, mit der sie sich jedoch umgehend in einer Zwickmühle wiederfinden sollten: Sie mussten darauf beharren, den »parteifeindlichen Charakter« des Betreffenden nicht bemerkt zu haben. Doch genau damit gaben sie indirekt zu, sich einer anderen »Verfehlung« schuldig gemacht zu haben. In einer parteiinternen »Selbstkritik« blieb ihnen dann nur das Bekenntnis, nicht die nötige »revolutionäre Wachsamkeit« an den Tag gelegt zu haben. Auch hierfür konnte man bestraft werden. So verwundert es nicht, dass spätestens nach dem ersten Schauprozess 1936 die Kontakte der Exilanten untereinander sich auf die allernotwendigsten Begegnungen am Arbeitsplatz
86 Bis heute bleibt umstritten, ob Stalin selbst als Auftraggeber oder zumindest als Mitwisser an dem Mord beteiligt war. Vgl. den Versuch einer Neubewertung der Archivmaterialien hierzu, in: Lenoe, The Kirov Murder.
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oder bei Versammlungen beschränken sollten. Allzu viele Wetschera wurden danach nicht mehr organisiert. Ende November 1934 – vor dem Kirow-Mord – war man da noch eher unbekümmert. Zum geselligen Abend in Globigs Wohnung waren nicht nur eine, sondern gleich zwei Personen eingeladen, die in der Vergangenheit wegen ihrer »parteifeindlichen« Haltung aufgefallen waren. Da war zum einen der Serbe Voja Vujovi˙c, der zwischen 1924 und 1927 als Vertreter der Kommunistischen Jugendinternationale dem Exekutivkomitee der Komintern (EKKI) angehört hatte. Als Anhänger der Linken Opposition hatte man ihn allerdings im September 1927 gemeinsam mit Leo Trotzki aus dem EKKI entfernt und nur wenige Monate später auch aus der Partei ausgeschlossen. Erst nach zwei Jahren Verbannung in Archangelsk und Saratow hatte man ihm erlaubt, wieder nach Moskau zurückzukehren. Im April 1930 war Vujovi˙c wieder in die Partei aufgenommen worden, doch schon 1932 wurde er gemeinsam mit seiner Frau erneut verbannt, diesmal nach Taschkent. Dass er im November 1934 gerade in Moskau weilte und so Gelegenheit hatte, an den KJI-Feierlichkeiten und dem Wetscher teilzunehmen, war eher zufällig. Er wollte versuchen, von der Jugoslawischen KP neue Aufgaben übertragen zu bekommen, um so endlich die Verbannung beenden zu können.87 Aus dem gleichen Grund war auch der zweite bei dem Wetscher anwesende »Parteifeind« gerade in Moskau: Lazar Schatzkin, der gemeinsam mit Willi Münzenberg den Gründungskongress der KJI geleitet und später nicht nur im EKKI-Präsidium, sondern auch als Mitglied der Zentralen Kontrollkommission der KPdSU einflussreiche Posten innegehabt hatte. Doch 1931 war auch er in Ungnade gefallen, als man ihm eine Beteiligung an der von Wissarion »Besso« Lominadse angeführten Oppositionsbewegung vorgeworfen hatte. Die Gruppe um den Ersten Sekretär des Regionalen Parteikomitees von Transkaukasien hatte sich mit mehreren geheimen Rundschreiben gegen die Zwangskollektivierung, gegen eine überstürzte Industrialisierung, ja sogar gegen den Führungsanspruch Stalins gewandt.88 Obwohl Schatzkin nicht offiziell aus der Partei ausgeschlossen worden 87 Alle Angaben aus der Zusammenfassung von Vujovi˚cs’ Kaderakte RGASPI 495/277/1797 in der Biografie-CD-Rom zu: Meschkat/Buckmiller (Hg.), Biographisches Handbuch. 88 Vgl. Davies, »The Syrtsov-Lominadze Affair«.
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war, hatte er seine Ämter und Funktionen verloren, und ihm war jegliche politische Betätigung untersagt. Seit 1931 hatte er stattdessen bei den Gewerkschaften und im Bildungswesen gearbeitet, zuletzt als Ökonom an einem Wirtschaftsplanungsinstitut in Taschkent. Doch das dortige Institut wurde gerade geschlossen, sodass auch Lazar Schatzkin nach Moskau gekommen war, um beim ZK der KPdSU um Zuweisung einer neuen Beschäftigung nachzusuchen.89 Nach dem Mord an Kirow zerschlugen sich nun aber die Hoffnungen der beiden Verbannten auf einen beruflichen oder gar politischen Neuanfang. Von Voja Vujovi˙c ist sogar überliefert, dass ihm mit der Nachricht über den Mord in Leningrad die furchterregenden Konsequenzen sofort bewusst geworden sind: »Das ist das Ende. Man wird mit uns beginnen, und dann geht es weiter wie eine Lawine.«90 Und genau so kam es dann auch. Schon im Januar 1935 wurde er verhaftet; Schatzkin nur einen Monat später. Beide sollten den Großen Terror nicht überleben: Voja Vujovi˙c wurde im Oktober 1936 erschossen; Lazar Schatzkin erhielt sein Todesurteil im Januar 1937, zog es aber vor, sich durch einen Sprung aus dem Fenster selbst das Leben zu nehmen.91 In der Logik des »chwost« gerieten kurz nach der Verhaftung Vujovi˚cs’ auch die anderen Teilnehmer des Wetschers ins Visier der Kaderabteilung. Auf höchster Ebene – in der Politkommission des EKKI – wurde beschlossen, eine spezielle Kommission einzurichten, die den politischen Charakter des Abends der ehemaligen leitenden KJIler untersuchen sollte.92 Als Vorsitzender der dreiköpfigen Kom-
89 Vgl. Kurellas Vernehmung, Bl. 255, Vernehmung von Stach Huber, Bl. 285–287, und Vernehmung von Fritz Globig, Bl. 302, alle in: RGASPI 495/4/335. 90 So zitiert in: Rogowin, Vor dem großen Terror, S. 101. 91 Zum Todesurteil vom 10. 1. 1937 siehe den Eintrag zu Schatzkin (hier Szackin/Sackin) in der Biografie-CD-Rom zu: Meschkat/Buckmiller (Hg.), Biographisches Handbuch. Zu seinem Freitod vgl. Mayenburg, Hotel Lux, S. 175. 92 Vgl. den hierzu von Wassilij Tschemodanow gestellten handschriftlichen Antrag an die Politkommission, den er auf einen ausgerissenen Notizblockzettel »gekritzelt« hatte, in: RGASPI 495/4/329 Bl. 454. So achtlos begann die Auseinandersetzung. Wie schwer die Rollenzuschreibung von »Opfer« und »Täter« im stalinistischen Terror bleibt, zeigt die Tatsache, dass sowohl Tschemodanow als auch Alichanow später selbst in die Fänge der NKWD gerieten. Beide wurden erschossen.
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mission fungierte der Komsomolleiter und Erste Sekretär der Jugendinternationale Wassilij Tschemodanow; ihm zur Seite standen der Leiter der Kaderabteilung der Komintern, Gework Alichanow, und Sepp Schwab, ein Mitarbeiter des Deutschlandreferats des Exekutivkomitees. Zunächst wurden schriftliche Stellungnahmen der Teilnehmer des Wetschers angefordert, und danach wurden die Betreffenden einzeln zu einer Aussprache vorgeladen. In den Vernehmungen verhielten sich die Befragten nach dem bekannten Muster: Der Abend sei eher langweilig gewesen, man habe Erinnerungen ausgetauscht, aber die Unterhaltungen hätten ganz sicher keinen politischen Charakter gehabt.93 Die parteifeindliche Vergangenheit Schatzkins und Vujovi˚c’ sei zwar allen bekannt gewesen, man habe aber gedacht, sie seien rehabilitiert.94 Doch die Kommissionsmitglieder ließen nicht locker und hielten den Befragten vor, dass die Entwicklungen seit dem Kirow-Mord doch gezeigt hätten, dass die »Wühlarbeiten« der Parteifeinde angehalten hätten und dass man sich doch nicht einfach mit solchen Leuten an einen Tisch setzen dürfe, ohne hierüber die KJI- oder Komintern-Leitung zu informieren. So ging es zwischen der Kommission und den Befragten hin und her, bis schließlich die wichtigste Frage gestellt wurde: Ob die Aussprache denn nun irgendetwas an der Einschätzung der Befragten über den Abend geändert habe. Hierauf folgte dann die rituelle Selbstkritik. »Ich sehe ein, daß es mangelnde revolutionäre Vorsicht war, keine gebotene Wachsamkeit gegenüber Genossen«, erwiderte Fritz Globig.95 Andere Teilnehmer äußerten sich nahezu wortgleich, wie etwa Stach Huber: »Ich mache mir einen großen Vorwurf, aber das ist zweifellos ein großer politischer Fehler, das ist zweifellos ein Fehlen von Wachsamkeit.«96
93 Vgl. Globigs Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 306–307. 94 Vgl. Globigs Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 300–302 und Bl. 322; sowie Hubers Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 283. 95 Globigs Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 308. 96 Hubers Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 295. Ähnlich lautend auch Borks Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 355, Globigs Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 341, und die Aussagen von Fritz »Winter«, wiedergegeben in Studer/Unfried, Der Stalinistische Parteikader, S. 175–176. »Winter« wird dort statt als Fritz Heilmann fälschlich als Vujovi˙c identifiziert.
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Kurellas Renitenz
Als letzter Teilnehmer des Wetschers wurde schließlich Alfred Kurella vor die Kommission zitiert. Wie alle anderen erklärte auch er, dass der Abend langweilig und gänzlich unpolitisch gewesen und auch er davon ausgegangen sei, Schatzkin und Vujovi˙c wären rehabilitiert. Der Vernehmungsleiter Tschemodanow warf Kurella aber vor, als einer der »Hauptorganisatoren« den Kreis der Teilnehmer bestimmt und dabei ganz bewusst Leute eingeladen zu haben, die gegen Partei und Komintern kämpften.97 Doch Alfred Kurella wollte partout nicht einsehen, dass er etwas falsch gemacht hatte, oder auch nur, dass er wachsamer hätte sein müssen. Die ganze Sache habe sich doch vor dem Mord an Kirow abgespielt und erst hinterher habe man mehr über die parteifeindlichen Verschwörungen erfahren; die Kommission solle doch jetzt im Nachhinein »keine künstliche Konstruktion schaffen«.98 Der Vernehmungsleiter war völlig perplex angesichts dieser Belehrung durch den Beschuldigten. Doch Tschemodanow fehlte ein stichhaltiges Gegenargument, sodass er nur erneut insistieren konnte, es sei nun einmal eine Tatsache, dass Kurella als einer der Organisatoren des Abends bekannte Parteifeinde wie Schatzkin und Vujovi˙c eingeladen habe. Zugleich versuchte er, Alfred Kurella mit den Aussagen der anderen Beteiligten unter Druck zu setzen: »[…] jetzt, wo wir mit allen Genossen sehr offen sprechen, so sagen sie alle, alle Genossen sagen das eine, daß da keine genügende Wachsamkeit war.«99 Von dem, was die anderen gesagt oder nicht gesagt hatten, ließ sich Kurella aber auch nicht beeindrucken. Ganz im Gegenteil. Für einen kurzen Moment gelang ihm sogar ein Rollentausch mit dem Vernehmungsleiter, als er eine Gegenfrage an Tschemodanow richtete: Wie sei es überhaupt dazu gekommen, dass die KJI – deren Vorsitzender 97 Vgl. Kurellas Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 252–254. 98 Vgl. Kurellas Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 257. 99 Tschemodanows Kommentar in Kurellas Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 259.
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Tschemodanow doch war – die beiden Parteifeinde Lazar Schatzkin und Voja Vujovi˙c zu den Feierlichkeiten in den Kolonnensaal eingeladen habe: »Was waren in dem Augenblick für Dich diese Menschen?«100 Weder musste Kurella die Antwort abwarten noch seine Frage weiter ausführen. Der Vorwurf stand nun unmittelbar im Raum: Wenn sich hier irgendjemand mangelnde revolutionäre Wachsamkeit vorzuwerfen habe, dann sei dies doch wohl Tschemodanow selbst. Eine unerhörte Dreistigkeit, die Alfred Kurella in der Befragung sogar noch einmal wiederholte, damit auch der verspätet eingetroffene Kaderleiter Alichanow davon hören konnte.101 Und das blieb nicht der einzige Vorwurf, den er gegen den Vernehmungsleiter Tschemodanow erheben sollte. Mehrfach lenkte Kurella das Gespräch zurück auf die KJI-Feierlichkeiten. Der Abend bei den Globigs sei zwar unpolitisch verlaufen, aber im Foyer des Kolonnensaals und anschließend im Café, da habe man sehr wohl über politische Fragen diskutiert, besonders über die KJI und deren derzeitige Führung. Man sei sich einig darüber gewesen, dass dort vieles im Argen liege. Zum Beispiel, dass die KJI-Führung öffentliche Kritik an Willi Münzenberg übe und damit dessen politische Arbeit untergrabe. Außerdem, so fügte Kurella hinzu, sei die Rede des KJI-Vorsitzenden – also ausgerechnet Tschemodanows Rede! – viel zu trocken gewesen. Überhaupt sei es früher in der Jugendorganisation viel lebhafter zugegangen. Die alte KJI-Führung habe sicher einige Fehler gemacht, doch immerhin habe damals eine »Verbindung zu den Massen« bestanden, die nun gänzlich fehle. Nachdem der Vernehmungsleiter von Alfred Kurella wiederholt angegriffen worden war, dürfte er nicht allzu überrascht darüber gewesen sein, wie dieser die abschließende, die wichtigste Frage beantworten sollte. »Gen. Tschemodanow: Was denkst Du zum Schluß unserer Unterredung über diese Sache? Wir müssen der Politkommission Bericht erstatten. Was denkst Du nun selbst im Ergebnis unserer Unterredung? Gen. Kurella: Ich kann meine Meinung nicht ändern. Ich habe sie schon geäußert.«102 100 Kurellas Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 259. 101 Vgl. Kurellas Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 269. 102 Vgl. Kurellas Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 246–247, Hervorhebung im Original.
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Was mag sich Alfred Kurella bei alledem gedacht haben? War es Mut, Fahrlässigkeit oder gar Unwissenheit, die ihn dazu brachte, derart aufsässig vor die Untersuchungskommission zu treten und die Selbstkritik zu verweigern? Unwissenheit kann es schwerlich gewesen sein. Als altgedienter Kader hatte er bereits mehrere »Parteireinigungen« durchlaufen und für verschiedene »politische Abweichungen« bereits Parteistrafen erhalten.103 Alfred Kurella wusste nur allzu gut, was bei der Parteiführung, vor Kontrollkommissionen oder in der Kaderabteilung als überzeugende Selbstkritik gelten würde und was nicht. Er kannte das festgelegte Ritual, hatte es also absichtlich nicht befolgt. Als besonders mutig kann man sein Verhalten aber trotzdem nicht bezeichnen. So hatte er für seinen langjährigen Weggefährten und engen Freund Lazar Schatzkin nicht ein einziges Wort der Verteidigung gefunden. Es war nun schon 16 Jahre her, dass Alfred Kurella bei seinem ersten Besuch in Moskau den damaligen Sekretär des Komsomol kennengelernt hatte. Der 17-jährige Russe hatte den sechs Jahre älteren Deutschen unter seine Fittiche genommen: »Lazar Schatzkin, mit dem ich schnell eine Freundschaft schloß, die viele Jahre anhielt […], war ein Mensch von hohen geistigen Gaben und schnellem Verständnis, besaß ein für seine jungen Jahre erstaunliches Wissen und war sehr musisch. Er stammte aus einer fortschrittlich gesinnten Moskauer Kaufmannsfamilie, hatte sich aber schon vor 1917 zum führenden Kopf der revolutionären Moskauer Oberschüler aufgeschwungen und dann bald auch die Führung der im Sommer 1917 gebildeten Vereinigung der revolutionären Arbeiterjugend Moskaus übernommen. Uns verband nicht nur seine Sprachkenntnis und die Gemeinsamkeit unserer geistigen und künstlerischen Interessen, sondern auch die Arbeit, die uns in den folgenden Monaten beschäftigte.«104 Aus den »Monaten« gemeinsamer Arbeit waren schließlich fünf Jahre geworden, in denen Schatzkin und Kurella als erster und zweiter Vertreter des russischen Jugendverbands maßgeblichen Anteil an der Gründung und Entwicklung der Kommunistischen Jugendinternationale hatten.105 Doch von alledem wollte Kurella in Zeiten der Bedräng103 Vgl. Kurellas handschriftlichen Lebenslauf vom 27. 10. 1934 in seiner Kaderakte RGASPI 495/205/6339, Bl. 385–391. 104 Kurella, Unterwegs zu Lenin, S. 94–95. 105 Vgl. Kurella, Gründung und Aufbau, passim.
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nis nichts mehr wissen und schimpfte Schatzkin nun einen Zyniker.106 Mehr als drei Jahrzehnte sollten vergehen, bevor Kurella sich wieder zu dieser Freundschaft bekennen durfte – erst nachdem Schatzkin posthum rehabilitiert worden war.107 Wenn weder Unwissenheit noch Mut als Erklärung von Kurellas Renitenz dienen können, erscheint es also fahrlässig, den Vorwurf mangelnder revolutionärer Wachsamkeit dem Vernehmungsleiter Wassilij Tschemodanow einfach so zurückzuspielen. Doch betrachtet man dieses Manöver in Verbindung mit Kurellas offener Kritik an der KJI-Führung, so entpuppt sich das, was zunächst wie eine trotzige Retourkutsche erscheint, als wohlkalkulierte Provokation. Es lag nämlich keineswegs in Alfred Kurellas Absicht, sich vor dieser Kommission für seine Teilnahme an einem langweiligen Abend zu rechtfertigen. Stattdessen bestimmte Kurella – und nicht etwa Tschemodanow – den Verlauf der Aussprache, und all seine Ausführungen zusammengenommen richtete Kurella dabei eine unmissverständliche Drohung an die Adresse des Vernehmungsleiters. Alfred Kurella wusste nämlich, dass Wassilij Tschemodanow selbst in großen politischen Schwierigkeiten steckte, und in dieser Situation meinte er, die Oberhand gewinnen zu können. Weniger als zwei Monate zuvor hatte Tschemodanow in einer öffentlichen Sitzung des Exekutivkomitees der Komintern eine umfassende »Selbstkritik« verlesen müssen. Anlass für diesen demütigenden Schritt war ein »grober politischer Fehler« Tschemodanows, den die Politkommission am 11. Dezember 1934 in einem Beschluss wie folgt festgehalten hatte: »1./Statt die vom KJV Frankreichs tatsächlich begangenen Fehler richtig zu korrigieren, glitt Gen. Tschemodanow, der gegenüber der vom KJVF durchgeführten Einheitsfronttaktik auf einem falschen Standpunkt stand, selber auf den Weg sektiererischen Kampfes gegen den richtigen, auf die Massen eingestellten Kurs der KP und des KJV Frankreichs ab […].
106 Vgl. Kurellas Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 262. 107 Kurellas Erinnerungsband Unterwegs zu Lenin erschien erst, nachdem Schatzkin 1963 offiziell rehabilitiert worden war. In einer vor der Rehabilitierung als Groschenheft erschienenen Version der Geschichte seiner Moskaureise blieb Schatzkin unerwähnt. Vgl. Kurella, Die Depesche.
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2./Zur Verteidigung seiner falschen Haltung griff Gen. Tschemodanow zu wissentlicher Tatsachenentstellung, indem er versuchte, das EKKI-Präsidium irrezuführen durch die Erklärung, der von ihm an den französischen KJV ohne Wissen des Parteivertreters und des romanischen Sekretariats des EKKI gerichtete Brief sei von den Genossen Vassart und Manuilski gebilligt. Den sofortigen Richtigstellungsversuch des Gen. Manuilski im EKKI-Präsidium erwiderte Gen. Tschemodanow mit einem unzulässigen parteiwidrigen Ausfall gegen Gen. Manuilski. […] 4./Dieses Auftreten des Gen. Tschemodanow verfolgte den Zweck, die falsche, administrativ-bürokratische Handhabung der Leitung der KJV-Arbeit in den kapitalistischen Ländern, im speziellen in Frankreich, zu verteidigen.«108 Vor dem Hintergrund dieses Beschlusses offenbarten die kritischen Äußerungen, mit denen Alfred Kurella die Untersuchungskommission überraschte, einen tieferen Sinn, der in seinen Bezügen weit über seine Teilnahme an dem Wetscher hinausführte. Als Kurella während der Vernehmung anmerkte, die KJI-Führung gefährde durch ihre übertriebene Kritik die politische Arbeit von Willi Münzenberg, so waren damit dessen Bemühungen um die Bildung der Einheitsfront in Frankreich gemeint – ein erster Versuch, ein breites antifaschistisches Bündnis zu schmieden. Nun war Tschemodanow gerade für sein Unverständnis gegenüber der französischen Einheitsfronttaktik als »Sektierer« gebrandmarkt worden. Auch in den anderen Vorwürfen Kurellas konnte man ein Echo der Verurteilung Tschemodanows vernehmen. Damit, dass er die Rede des KJI-Sekretärs als »trocken« bezeichnete, bekräftigte er den Vorwurf einer »falschen, administrativbürokratischen Handhabung der Leitung der KJV-Arbeit«. Kurellas mehrfach geäußerte Behauptung, dass die alte KJI-Führung – der er ja selbst Anfang der 1920er Jahre angehört hatte – eine bessere »Verbindung zu den Massen« gepflegt habe, wiederholte und unterstrich schließlich den zentralen Kritikpunkt der Politkommission an Tschemodanows derzeitiger Arbeit.
108 Beschluss der Politkommission vom 11. 12. 1934, in: RGASPI 495/2/224, Bl. 143–44.
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Was aber bezweckte Kurella damit, die »sektiererischen« politischen Fehler des Vernehmungsleiters aufzuzählen? Sollten die Fehler seines Gegenübers die eigenen Fehler aufwiegen? Und vor allem: Warum sollte sich ausgerechnet Tschemodanow davon beeindrucken lassen? Die Kommission hatte doch nicht über ihn zu befinden, sondern vielmehr über Kurella. Dessen eigentümliches Verhalten lässt sich indes nur verstehen, wenn man den politischen Richtungswechsel der Komintern mitbedenkt, der sich just zu dieser Zeit abzeichnete, auch wenn er noch nicht gänzlich vollzogen war.109 Ein Politikwechsel, der auch mit personellen Veränderungen verbunden war, die im Aufstieg von Georgi Dimitroff an die Spitze der III. Internationale münden sollten. Doch im Januar 1935 war es noch nicht ganz so weit. Zwar hatte man den Helden des Reichstagsbrandprozesses bereits dazu auserkoren, auf dem bevorstehenden VII. Weltkongress der Komintern das Hauptreferat zu halten. Auch wurde allgemein erwartet, dass der Bulgare diese Gelegenheit nutzen werde, um die in Frankreich erprobte Politik der Einheitsfront zur allgemein gültigen Doktrin zu erheben. Doch den Machtkampf mit jenen Sekretären des EKKI, mit deren Namen die bislang vertretene Sozialfaschismusthese verbunden war – insbesondere mit Ossip Piatnitzki und Wilhelm Knorin –, diesen Machtkampf hatte Georgi Dimitroff noch längst nicht für sich entscheiden können. Alfred Kurella hoffte inständig, dass Dimitroff sich durchsetzen würde, denn damit müsste auch seine eigene Karriere einen Schub erfahren. Nicht nur, weil er seit Februar 1934 als Dimitroffs persönlicher Sekretär an der publizistischen Nachbereitung des Leipziger Reichstagsbrandprozesses mitgewirkt hatte. Auch vorher schon war Kurella an der Durchsetzung der Einheitsfrontpolitik beteiligt, als er 1932/33 als Sekretär dem Weltkomitee gegen den imperialistischen Krieg gedient und unter anderem den von Henri Barbusse geleiteten Weltkongress in Paris (Amsterdam-Pleyel) organisiert hatte. In dieser Zeit war Kurella gleich drei Mal mit den führenden Vertretern der Sozialfaschismusthese aneinandergeraten.110 Einmal, als er es ohne Rückspra-
109 Vgl. Huber, »Das Führungskorps der Komintern«, besonders S. 226–230. 110 Zu den folgenden drei »Abweichungen« vgl. Alfred Kurellas Kaderakte RGASPI 495/205/6339, Bl. 373. Dass Kurella zu diesem Zeitpunkt noch ein unabhängiger, streitbarer Parteiarbeiter gewesen war, zeigt sich in sei-
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che mit Moskau zugelassen hatte, dass Barbusse »linke« Sozialdemokraten wie Friedrich Adler, Otto Bauer und andere schriftlich zur Mitarbeit eingeladen hatte. Hierfür hatte Kurella im April 1933 im Politischen Sekretariat der Komintern eine mündliche Rüge erhalten. Im Sommer des gleichen Jahres hatte er sich gegen die Übernahme des von Intellektuellen aller pazifistischen Gruppierungen getragenen Weltkomittees durch die von Kommunisten dominierte Antifaschistische Arbeitervereinigung Europas gewandt und war deswegen mit EKKI-Sekretär Ossip PiatJosef W. Stalin und Georgi Dimitroff, nitzki aneinandergeraten, der ihn 1936 schließlich aus Paris abberufen Wikimedia Commons hatte. Schließlich hatte er noch große Zweifel an der Politik der Kominternführung geäußert, nachdem das Exekutivkomittee in einer Resolution zur »Lage in Deutschland« auch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme den Erfolg einer proletarischen Revolution noch immer als greifbar nah bezeichnet und an der Sozialfaschismusthese festgehalten hatte. Nach einer entsprechenden »Belehrung« durch die französische Parteiführung hatte Kurella die »Unrichtigkeit seiner Bedenken« zwar eingestanden, hatte aber nicht aufgehört, in Paris über Moskaus weltfremde Einschätzung der deutschen Verhältnisse zu lästern. Allerdings ahnte er nicht, dass er genau dort dafür denunziert wurde, und zwar ausge-
nem scharfen Protestbrief an Béla Kun, in dem er sich dagegen wehrte, »blinder Vollstrecker« der Direktiven sein zu müssen (vgl. Kuns Zusammenfassung vom 2. 8. 1933, in: RGASPI 543/1/23, Bl. 144–147, Zitat auf Bl. 146). Ebenso scharf protestierte er später gegen seine Abberufung, vgl. Alfred Kurella an Ossip Piatnitzki (geschwärzt), 8. 2. 1934, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1306.
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rechnet bei Fritz Heckert, dem KPD-Vertreter im EKKI, auf dessen Bericht die Resolution beruhte.111 Dass Kurella nach seiner Abberufung aus Paris umgehend den Sekretärsposten bei Georgi Dimitroff hatte antreten dürfen, erwies sich für ihn als ein echter Glücksfall. Vor allen anderen konnte er sich mit Dimitroffs Überlegungen zur Revision der Faschismustheorie vertraut machen und unterstützte ihn nach Kräften in dem monatelang schwelenden Machtkampf.112 Gegen Ende des Jahres 1934 vermeinte Alfred Kurella endlich, Rückenwind zu spüren. Nun wurde allerorten ganz offen darüber spekuliert, dass Dimitroff als Generalsekretär womöglich die alleinige Führung der Komintern übernehmen würde. Damit wären Kurellas Abweichungen von der Parteilinie im Nachhinein gerechtfertigt – die politische Haltung von Leuten wie Wassilij Tschemodanow dagegen wäre vollständig diskreditiert. Und das war genau die Botschaft, die Kurella dem Vernehmungsleiter hatte übermitteln wollen, als er freimütig zugegeben hatte, mit Lazar Schatzkin über die künftige Position Dimitroffs an der Spitze der Kominternhierarchie gesprochen zu haben. Diese Randbemerkung war der Hinweis, der Kurellas kritische Äußerungen zu einer unmissverständlichen Drohung machten: Tschemodanow solle es bloß nicht wagen, ihm politische Fehler anzudichten, denn in Kürze könne er – Kurella – als Sekretär des Kominternführers dafür sorgen, dass Tschemodanows eigene Verfehlungen erneut behandelt werden. In Kurellas Verhalten zeigte sich die kalkulierende Arroganz des Besserwissers, der meinte, in seiner politischen Haltung allen anderen voraus zu sein, ja sogar so weit voraus, dass er die offizielle Parteilinie vor deren Verkündung zu kennen glaubte. Alfred Kurella – fürwahr ein Vertreter der revolutionären Avantgarde. In einem Moment der Selbsterkenntnis sollte er später einmal sein Verhalten vor der Kommission als »distanziert« und »überheblich« bezeichnen; und sich selbst charakterisieren als jemanden, »der über laufende politische Probleme nicht mehr mit der Partei denkt, sondern sofort seine eigene Meinung hat, sie überschätzt, sie 111 Vgl. das Schreiben von Ákos Hevesi vom 4. 9. 1933 in Alfred Kurellas Kaderakte, RGASPI 495/205/6339, Bl. 134–135. 112 Vgl. Kurella, »Ein großer Lehrer«, S. 658–660, und Alfred Kurella an Walter Ulbricht, 6. 1. 1966, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1693. Siehe auch: o. A., »Stenogramme«, S. 749–753.
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dann mit der Parteiauffassung vereinbart. Dann aber wieder zuerst seine eigene Meinung hat und sie mit der Parteilinie vereinbart und dann mit der Einbildung, daß seine Meinung doch die richtige war, die dann von der Partei ausgesprochen wurde, und daraus den Schluß zieht, was bin ich für ein gescheiter Kerl.«113
113 Vgl. Reinhard Müller, Säuberung, S. 507. Eine seltene Selbsterkenntnis, die später einem besonderen Akt der Verdrängung weichen sollte: In den 1950er Jahren meinte Kurella, die härteste Strafe von allen bekommen zu haben (vgl. »Kurze Selbstbiographie«, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1296) – »vergaß« dabei allerdings, dass Martha und Fritz Globig in ein Lager verschleppt worden waren und man Stach Huber aus der Partei ausgeschlossen hatte. Er wollte sich wohl auch nicht mehr an Otto Bork, Voja Vujovi˙c und Lazar Schatzkin erinnern, die den Terror nicht überlebten. In den 1960er Jahren verdrängte Kurella sogar, dass es überhaupt eine Vernehmung gegeben hatte: »Gegen alle Teilnehmer (des Wetschers) wurde ein Schnellverfahren ohne Verhör durchgeführt. Mit einigen anderen erhielt ich eine strenge Rüge und wurde aus dem Apparat der Komintern ausgeschlossen«, in: Alfred Kurella an Walter Ulbricht, 8. 1. 1965, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1693.
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Ein gescheiter Kerl?
Ganz so gescheit war die Drohgebärde gegenüber Wassilij Tschemodanow dann aber doch nicht. In all seiner Arroganz hatte Kurella zwei entscheidende Aspekte übersehen. Zum einen, dass eine einmal festgestellte politische Abweichung immer eine politische Abweichung bleiben würde, selbst nachdem genau diese Haltung zur offiziellen Politik erhoben worden war. Die Partei hatte immer recht und auch schon immer recht gehabt, selbst wenn die Parteilinie bisweilen in ihr Gegenteil verkehrt werden sollte. Niemandem war es gestattet zu behaupten, schon früher als die Partei die Lage richtig eingeschätzt zu haben. Dass Alfred Kurella ernsthaft geglaubt haben sollte, seine frühe, von der Parteilinie abweichende Unterstützung der Einheitsfront würde nun Anerkennung finden, überrascht umso mehr, als ihm durch seine Tätigkeit in Frankreich das wohl prominenteste Gegenbeispiel vertraut gewesen sein musste: Im Streit um die Parteiführung der französischen Kommunisten ging es zwischen den Rivalen Jacques Doriot und Maurice Thorez auch um die Frage, ob man ein breites Bündnis mit den Sozialisten eingehen oder aber die proletarische Revolution alleine und vor allem gegen die Sozialisten durchfechten solle. Jacques Doriot plädierte für die Einheitsfront, unterlag aber seinem Konkurrenten Thorez, nachdem dieser mit Unterstützung aus Moskau den Parteiausschluss des populäreren Bürgermeisters von Saint-Denis hatte durchsetzen können.114 Als unangefochtener Parteiführer vollzog Maurice Thorez umgehend eine Kehrtwende und sprach sich nun seinerseits für eben jene Einheitsfront aus, für die er seinen Konkurrenten gerade erst verurteilt hatte. Jacques Doriot wurde dadurch aber in keiner Weise rehabilitiert; er driftete später ins Lager der Nationalsozialisten ab.115
114 Vgl. das Protokoll der außerordentlichen Sitzung der Politkommission des EKKI, am 16. 5. 1934, in: RGASPI 495/2/214, Blatt 15ff. 115 Vgl. Jackson, Popular Front in France, S. 28–33.
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Die zweite Fehleinschätzung, die Kurella unterlaufen war, war vielleicht noch gröber. Die Wirkung seiner Drohung gegenüber Tschemodanow beruhte auf der Annahme, der Machtkampf innerhalb der Kominternführung werde sich in Kürze entscheiden und Georgi Dimitroff daraus siegreich hervorgehen. Und gerade weil diese Annahme gar nicht unbegründet war, hatte Alfred Kurella wohl übersehen, dass die Vernehmung der alten KJIler selbst Teil des Machtkampfs war, oder zumindest werden könnte, und dass dadurch Dimitroff geschwächt werden sollte. Zu spät dämmerte es Alfred Kurella, dass in der Logik des »chwost«, des »Schwanzes« parteifeindlicher Verbindungen, nicht nur den Teilnehmern des Wetschers Vorwürfe gemacht werden konnten, sondern dass sich der Kreis der Belasteten fast beliebig ausdehnen ließ. Sobald man ihm – Kurella – mangelnde revolutionäre Wachsamkeit nachweisen würde, konnte man auch behaupten, dass sich Georgi Dimitroff einer ebensolchen Verfehlung schuldig gemacht hatte, weil er einem Sekretär vertraut hatte, der privaten Umgang mit Parteifeinden pflegte.116 Erst nachdem Alfred Kurella seinen Vorgesetzten über den Verlauf der Aussprache unterrichtet hatte, erkannte er plötzlich, dass er einen großen Fehler gemacht hatte. Georgi Dimitroff machte es ihm unmissverständlich klar: »Sie müssen verstehen – ich kann im Augenblick nichts für Sie tun. Diese ganze Geschichte ist auch gegen mich gerichtet.«117 Daraufhin versuchte Kurella, die von ihm erwartete Selbstkritik noch schnell nachzureichen, um so wenigstens den Schaden von seinem Vorgesetzten abzuwenden. In einem Schreiben an die Politkommission des EKKI gab er nun zu, dass die Teilnahme an dem Abend der KJIler ein »politischer Fehler war, der mit meinem Verbleiben an der verantwortlichen Stelle im Sekretariat Gen. Dimitroffs unvereinbar ist«, und dass sein eigener Fehler in dem »Nichterkennen [der] politischen Tendenz« des Wetschers gelegen habe. Als persön-
116 Dass auch Komintern-Sekretäre nicht gegen eine solche Assoziativschuld gefeit waren, sollte wenig später der Fall Wilhelm Piecks zeigen, der sich nur durch eine umfassende Selbstkritik aus einer gefährlichen Lage befreien konnte, nachdem sein Redenschreiber Ilja Krugljanskij [Fritz David] verhaftet worden war. Vgl. Langkau-Alex, Deutsche Volksfront, S. 192–193. 117 So erinnerte sich Kurella, in: Alfred Kurella an Walter Ulbricht, 6. 1. 1966, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1693.
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lichen Wunsch bat er die Kommission, ihm eine neue Tätigkeit zuzuweisen, in der er seine »literarischen Fähigkeiten« einbringen konnte.118 Mit dem verspäteten »Schuldeingeständnis« hatte sich Alfred Kurella für seinen Vorgesetzten geopfert; kein Schatten sollte auf den Helden von Leipzig fallen. Doch für den Beschuldigten selbst erwies sich dieser letzte Rettungsversuch als vergeblich. Am 15. Februar 1935 erhielt Alfred Kurella als »Hauptorganisator« des Abends der alten KJIler eine strenge Parteirüge und wurde zudem aus dem Kominternapparat entfernt.119 Fortan durfte er in keiner Abteilung der internationalen kommunistischen Bewegung mehr Beschäftigung finden – er war also nicht nur politisch diskreditiert, sondern nun auch noch arbeitslos. Die Begründung für diese Maßnahme zeigte, wie sehr er Wassilij Tschemodanow unterschätzt hatte. Genau jene Äußerung, mit der Kurella dem Vernehmungsleiter hatte drohen wollen – dass er mit Schatzkin über Dimitroffs künftige Rolle in der Kominternführung gesprochen habe –, nahm die Kommission als Beleg dafür, dass er Interna aus der Kominternarbeit an einen Parteifeind weitergegeben hatte! Angesichts der Gerüchte, die allerorten über diese Frage kursierten, war dieses Urteil natürlich völlig überzogen, dennoch nicht zu widerlegen. Wenn Alfred Kurella während seiner Vernehmung auch wenig »zugegeben« hatte, diese Unterhaltung hatte er selbst bestätigt. Es sollte aber noch schlimmer kommen: In einer öffentlichen Sitzung des Parteikollektivs der Komintern am 20. Februar 1935 distanzierte sich Georgi Dimitroff unmissverständlich von Alfred Kurella und bezeichnete seinen ehemaligen Sekretär vor allen Kominternmitarbeitern als uneinsichtigen »Missetäter«, der immer noch versuche, seine Verfehlungen zu bagatellisieren.120 Dimitroff sah sich zu diesem Schritt gezwungen, weil seine politischen Gegner versuchten, den Fall noch weiter aufzubauschen, um so mittelbar auch ihn zu beschädigen. Der bösartigste Angriff in der Sitzung des Parteikollektivs kam von
118 Alfred Kurella an die Politkommission des EKKI, 7. 2. 1935, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 147. 119 Vgl. den entsprechenden Beschluss der Politkommission des EKKI vom 15. 2. 1935, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 3; auch in Kurellas Kaderakte RGASPI 495/205/6339, Bl. 376–377. 120 Vgl. Dimitroffs Rede in: RGASPI 546/1/274, Bl. 93–96. Original in russischer Sprache, englische Übersetzung abgedruckt als Dokument Nr. 5 in: Chase, Enemies Within the Gates.
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Fritz Heckert, dem Vertreter der KPD im Exekutivkomitee der Komintern. Er bezeichnete Kurella als »Dwuruschnik« (DvuruПnik), also als »Doppelzüngler«, eine Charakterisierung, die in den Jahren des Großen Terrors häufig genug ausreichen sollte, ein Todesurteil zu begründen. Heckert ging sogar noch einen Schritt weiter und behauptete, Alfred Kurella habe nicht nur dieses eine Mal, sondern immer schon »auf einem gegen die Komintern laufenden Pferde« gesessen.121 Der 20. Februar 1935 war zweifellos ein rabenschwarzer Tag für den nun fast 40-jährigen Alfred Kurella, der sein Leben der proletarischen Revolution verschrieben hatte. Schon 1918 war er in die Partei eingetreten, hatte mit einer kurzen Unterbrechung seit den frühen 1920er Jahren als bezahlter Parteifunktionär der Kommunistischen Jugendinternationale und der Komintern gedient, wichtige internationale Aufgaben wahrgenommen und mit vielen bedeutenden Persönlichkeiten der Bewegung zusammengearbeitet. Mit einem Schlag stand er nun vor dem Scherbenhaufen seiner Karriere: arbeitslos, von seinem Mentor scheinbar im Stich gelassen und vom KPD-Vertreter als »Doppelzüngler« an den politischen Pranger gestellt. Und all dies zu einer Zeit, in der sich das Klima innerparteilicher Anfeindungen und Abrechnungen spürbar verschärfte. Kurella musste sich irgendwie rehabilitieren – aber wie?
121 So berichtet Kurella in seinem Brief an die Parteileitung des EKKI vom 22. 2. 1935, in: RGASPI 495/205/6339, Bl. 371. Heckert rächte sich offensichtlich für Kurellas Lästereien. Wörtlich übersetzt heißt DvuruПnik »Doppelhänder«. Die Bezeichnung geht auf Bettler zurück, die mit beiden Händen Almosen sammeln, und gleicht im übertragenen Sinn dem Vorwurf, »Diener zweier Herren« zu sein.
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Rückschläge und neue Hoffnung
Zunächst versuchte Alfred Kurella, den offiziellen Weg einzuschlagen. Nur zwei Tage nach der Versammlung richtete er einen schriftlichen Antrag auf Überprüfung seiner gesamten Parteivergangenheit an die Parteileitung des Exekutivkomitees der Komintern.122 Damit wollte er nicht etwa seine Weiterbeschäftigung sichern, sondern zunächst einmal Fritz Heckerts Beschuldigungen abwehren. Denn bliebe dessen Behauptung, Kurella sei ein »Doppelzüngler«, unwidersprochen, so würde ihn über kurz oder lang niemand mehr unterstützen. Sogar Freunde und Bekannte würden die Logik des »chwost« fürchten und sich von ihm abwenden. Doch zu seinem Schrecken wurde der Antrag abgelehnt. Alfred Kurella stieß hier auf genau jene »bürokratischadministrative« Blockadehaltung, die er Tschemodanow vorgeworfen hatte. Denn die Parteileitung des EKKI erklärte sich ganz einfach für nicht zuständig. Kurella wurde mitgeteilt, er sei nicht mehr als Funktionär im Komintern-Apparat tätig und wäre somit auch nicht länger Mitglied der dortigen Parteigruppe. Also könne man sein Anliegen in diesem Gremium auch nicht beraten.123 Wenige Tage später schöpfte Kurella neue Hoffnung, als Fritz Heckert aus gesundheitlichen Gründen die Vertretung der KPD im EKKI niederlegen musste. Unverzüglich schrieb Kurella einen langen persönlichen Brief an dessen Nachfolger Max Richter (d. i. Hermann Schubert), in dem er erneut darum bat, »in dieser Frage aufzuklären, was objektiv wahr ist«. Wenn schon die Parteigruppe sich weigerte, seinen Fall zu diskutieren, musste doch wenigstens die deutsche KPD dazu bereit sein. Er war nun einmal Mitglied der Partei. Und weil der deutschen Sektion der Komintern seine umfangreichen Tätigkeiten vielleicht nicht präsent waren, listete Kurella in einer 3-seitigen Anlage minutiös alle Stationen seines revolutionären Kampfes seit 1918 auf, benannte Zeugen für die Richtigkeit der Angaben und vergaß dabei 122 Vgl. den Brief Kurellas an Parteileitung des EKKI vom 22. 2. 1935, in: RGASPI 495/205/6339, Bl. 371. 123 Vgl. Reinhard Müller, Säuberung, S. 503.
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auch nicht zu betonen, wie oft er schon die Parteilinie gegen »Rechte und später Ultralinke« und natürlich auch gegen Trotzkisten verteidigt habe. Selbstkritisch räumte er auch eigene »Abweichungen, Schwankungen und Fehler« ein, doch diesen stünde »in der ganzen Zeit ein aktiver politischer Kampf gegen alle parteifeindlichen Fraktionen, Gruppierungen und Strömungen […] gegenüber«.124 Aber Kurella wurde abermals enttäuscht, denn nachdem Max Richter das Schreiben an seinen erkrankten Vorgänger weitergegeben hatte, erklärte auch er sich für nicht zuständig, eine solche Untersuchung durchzuführen. Fritz Heckerts Vorwurf stand also weiterhin im Raum. Langsam – und sehr bedrohlich für ihn – begann es sich herumzusprechen, dass man den »Doppelzüngler« Kurella besser meiden sollte. Der offizielle Weg der Rehabilitierung schien also versperrt, und damit blieb Alfred Kurella nur noch das ihm zugewiesene Feld der Literatur, um seine Linientreue zu beweisen. Und hier tauchte plötzlich ein neuer Hoffnungsschimmer am Horizont auf. Ausgerechnet Georgi Dimitroff schien ihm den richtigen Weg zu weisen. Dass Kurella seinem ehemaligen Mentor auch weiterhin vertraute, lag daran, dass er dessen öffentliche Kritik als taktisch notwendige Distanzierung und nicht als persönliche Ablehnung verstanden hatte.125 Und als Vorsichtsmaßnahme war das auch erfolgreich gewesen. Dimitroff war unbeschadet aus der Wetscher-Geschichte hervorgegangen, und seine Popularität war ungebrochen. Auf ihn, auf den Helden von Leipzig, hörten schon zu diesem Zeitpunkt nicht nur die Parteifunktionäre, sondern auch die Künstler. So zum Beispiel am 28. Februar 1935, als Dimitroff im Schriftstellerhaus in Moskau eine viel beachtete Rede über »Die revolutionäre Literatur im Kampfe gegen den Faschismus« hielt.126 Diese Rede wollte und konnte der nun freischaffende Schriftsteller Alfred Kurella als eine an ihn persönlich gerichtete Botschaft verstehen:
124 Vgl. Alfred Kurella an Richter, nebst Anlage vom 28. 2. 35, in: RGASPI 495/205/6339, Bl. 372–375; vgl. zudem Kurellas Aussagen ein Jahr später, abgedruckt in Reinhard Müller, Säuberung, S. 503. 125 So zumindest in seiner eigenen Erinnerung. Vgl. Alfred Kurellas Bericht über diese Episode für Walter Ulbricht vom 6. 1. 1965, in: AdK AlfredKurella-Archiv Band 1693. 126 Dimitroff, »Die revolutionäre Literatur«. Alle Zitate aus dieser Fassung. Auch erschienen in der DZZ (Deutsche Zentralzeitung) am 4. März 1935.
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»Die Literatur spielt eine ungeheure Rolle bei der Erziehung einer Generation von Revolutionären. Helft uns, helft der Partei, der Arbeiterklasse, der Komintern, gebt uns in künstlerischer Form sichertreffende Kampfwaffen – in Gedichten, Romanen, Novellen! Helft uns mit eurem künstlerischen Schaffen, revolutionäre Kader zu erziehen.« Dimitroff gab den anwesenden Schriftstellern auch einen Hinweis, worüber sie schreiben könnten: »Auf dieser Versammlung von Sowjetschriftstellern sei es mir erlaubt, einige Verwunderung darüber zu äußern, daß der Leipziger Prozeß, dieses riesige Material, dieses gewaltige Kapitel der revolutionären Theorie und Praxis der proletarischen Bewegung, von euch auch nicht im geringsten Maße verwendet worden ist. (Zwischenruf: ›Sehr richtig, Genosse Dimitroff‹).« Schließlich erläuterte Dimitroff den versammelten Schriftstellern auch noch, wie sie zu schreiben hätten: »Ich erinnere mich selbst: was aus der Literatur hat in den Tagen meiner Jugend besonders starken Eindruck auf mich ausgeübt? Was hat meinen Charakter als Kämpfer beeinflußt? Ich muß sagen: Es war das Buch Tschernyschewskis: ›Was tun?‹ (Beifall.) Die Ausdauer, die ich in den Tagen erworben habe, da ich an der Arbeiterbewegung Bulgariens teilnahm, die unentwegte Ausdauer, die Sicherheit und die Festigkeit auf dem Leipziger Prozess – alles das steht zweifellos in Verbindung mit dem Kunstwerk Tschernyschewskis, das ich in den Tagen meiner Jugend gelesen habe.« Nach dieser Rede konnte Alfred Kurella wieder einigermaßen beruhigt sein. Denn das Buch, das Dimitroff hier anmahnte, das hatte Kurella schon fast fertig. Als dessen Sekretär hatte er in den Monaten zuvor einen in dimitroffscher Ich-Perspektive gehaltenen Bericht über den Leipziger Prozess verfasst. Nach der Lektüre des Manuskripts hatte Dimitroff aber die Befürchtung geäußert, die Ich-Perspektive könne ihn vielleicht zu eitel erscheinen lassen. Mit einer Erzählung in der dritten Person ließen sich die Geschehnisse besser zur Geltung bringen. Er hatte also Alfred Kurella beauftragt, das Manuskript entsprechend umzuschreiben. Kurz nachdem Kurella die Parteistrafe erhalten hatte, konnte er Dimitroff einen ersten Entwurf zur Durchsicht übergeben. Natürlich durfte das Buch nicht wie geplant unter dem Namen Kurella erscheinen. Dimitroff hatte sich ja erst kurz zuvor von seinem ehemaligen Sekretär öffentlich distanziert. Der Autor bestand 59
aber gar nicht darauf, genannt zu werden. Wenn es nach ihm ginge, könne die Erzählung ohne Weiteres auch unter einem Pseudonym – etwa »Habakuk« oder »Smirno« – veröffentlicht werden.127 In Parteikreisen – und genau die musste Kurella von seiner Linientreue überzeugen – würde man ohnehin wissen, wer sich hinter dem Pseudonym versteckte. Kein anderer als Dimitroffs ehemaliger Sekretär würde mit so viel Detailkenntnis über den Prozess in Deutschland schreiben können. Dass Kurella mit der Frage der Autorenschaft so kulant umging, lag auch daran, dass er noch ein anderes Eisen im Feuer hatte. Gemeinsam mit Gustav von Wangenheim und Joris Ivens war er gerade damit beschäftigt, das Szenarium für den Spielfilm »Der Kämpfer« zu entwickeln, mit dem Dimitroffs heldenhaftes Auftreten in Leipzig einem breiten Kinopublikum vermittelt werden sollte.128 Hierzu hatte Kurella die entscheidende Idee beigesteuert, dass man künstlerisch mehr tun könnte, als nur die Gerichtsverhandlung nachzustellen. Auf seinen Vorschlag hin wurde der Darstellung des Prozessverlaufs eine Spiegelhandlung beigegeben, die von einem Fabrikarbeiteraufstand gegen die Faschisten erzählt.129 Als Parallele zum Reichstagsbrand wird den Arbeitern vorgeworfen, das Chemiewerk Loerke angezündet zu haben. Angeführt werden die protestierenden Proletarier von Mutter Lemke, deren Sohn Hans von der SA ermordet worden war, weil er durchschaut hatte, dass in der Fabrik Giftgas statt Parfüm produziert wurde. Es ist die heroische Haltung, die Georgi Dimitroff im gleichzeitig stattfindenden Reichstagsbrandprozess zeigt, die schließlich auch den zunächst mit den Nazis sympathisierenden Fritz Lemke – Bruder von Hans – überzeugt, sich dem Kampf gegen die Faschisten anzuschließen. Die Geschichte des Fabrikarbeiteraufstands und der »Bekehrung« von Fritz Lemke war eine einfache, aber effektive Methode, das Hel-
127 Vgl. Alfred Kurella an Georgi Dimitroff, 6. 7. 1935, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1584. 128 Vgl. hierzu die ausgezeichnete Dokumentation der Entstehung des Films: Agde, Kämpfer. 129 Dass es tatsächlich Kurellas Idee war, stellte Monate später eine eigens einberufene Kommission fest, vgl. die Ergebnisse der Sonderkommission zur Prüfung der Beteiligung des Gen. Alfred Kurella, vom 29. 4. 1936, in: Agde, Kämpfer, S. 18.
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denhafte an Dimitroff über die unmittelbare Wirkung seines Auftretens innerhalb der Filmhandlung zu vermitteln, die Deutung also nicht dem Kinobesucher zu überlassen. Aber war diese Methode auch vereinbar mit den kulturpolitischen Vorgaben? In dieser Frage hatte Kurella Wert darauf gelegt, die Zustimmung von allerhöchster Autorität einzuholen; von Maxim Gorki, jenem herausragenden Vertreter des Sozialistischen Realismus und Erstem Vorsitzenden des Sowjetischen Schriftstellerverbandes.130 Gorki hatte einen ersten Entwurf des Szenariums als »literarisch einwandfrei« bezeichnet, aber auch gewarnt, dass man in der filmischen Umsetzung genauso konsequent realistisch bleiben müsse: »Es ist oft so, daß die Regisseure sich nicht in den Inhalt des Drehbuches, in seine Zielstellung hineindenken, sie bringen einen Überfluß an ›Schönheit‹ in den Streifen, belasten den Film mit leerer Ästhetik, billiger Lyrik und überhaupt mit ›Marmelade‹. Das ist die Gefahr, die man voraussehen und verhindern muß.«131 Mit einem zweiten Entwurf – der nun auch schon Dialoge enthielt – konnten Kurella und seine Mitstreiter den Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes Anfang April 1935 dann aber restlos überzeugen: »Von allen Manuskripten, die ich gelesen habe / ich lese in letzter Zeit sehr viele / ist dies das erste, das mich wirklich gepackt hat. Das ist nicht wegen der geschichtlichen Fakten – die kenne ich. Dimitroff hat mir selbst einige Male erzählt –, sondern wegen seiner Gestalten, wegen seiner Künstlerschaft. […]. Von den politischen Sachen, die ich gelesen habe, ist es die erste derartige Sache. Eine sehr große Sache. Sie ist ein Beispiel – ein Vorbild.«132 Auch wenn die offizielle Rehabilitierung über die Parteigremien nicht gelingen wollte, so dürfte Alfred Kurella zwei Monate nach seiner Demütigung doch wieder recht zuversichtlich gewesen sein. Der Versuch, durch literarische Arbeiten seine Linientreue unter Beweis zu stellen, schien erfolgversprechend. Mit zwei großen Projekten würde er Dimitroff seiner fortdauernden Loyalität versichern; den Partei130 Vgl. Alfred Kurellas Brief an Maxim Gorki vom 10. 1. 1935, abgedruckt in: Agde, Kämpfer, S. 19. 131 Vgl. Brief Maxim Gorkis an Alfred Kurella vom 29. 1. 1935, abgedruckt in: Agde, Kämpfer S. 19. 132 Vgl. Protokollarische Aufzeichnungen über Kurellas Treffen mit Gorki, Wangenheim, Ivens u.a., am 9. 4. 1935, in: Agde, Kämpfer, S. 21–23.
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oberen würde er dadurch deutlich machen, dass er auch weiterhin mit dem Kominternchef in spe verbunden war; und in Schriftstellerkreisen konnte er sich durch das Lob Maxim Gorkis sogleich geadelt fühlen. Eigentlich musste er nur noch abwarten, bis Georgi Dimitroff seine Widersacher ausschalten und zum alleinigen Führer der Komintern aufsteigen würde. Danach würde einer Rehabilitierung seines loyalen Sekretärs wohl nichts mehr im Wege stehen. Alfred Kurella war aber nicht der Typ, dem untätiges Abwarten leichtfiel, und außerdem wollte er in Sachen Rehabilitation ganz sichergehen. Da er nun etwas freie Zeit hatte, nahm er noch eine weitere Anregung von Georgi Dimitroffs Rede auf und widmete sich der Lektüre des erklärten Lieblingsbuches des Bulgaren: Nikolai Tschernyschewskis »Was tun?«133 Dieser im Stil der Populärliteratur gehaltene Bildungsroman erzählt von dem Schicksal eines idealistischen Liebespaares – der jungen Wera Pawlowna und dem Medizinstudenten Dmitri Lopuchow –, die sich zum Ziel gesetzt hatten, in ihrer Beziehung und ihrem weiteren Umfeld die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Befreiung und Bildung der Arbeiterschaft und die Einführung sozialistischer Produktionsmethoden durchzusetzen. Lange vor Georgi Dimitroff hatte sich bereits Wladimir Iljitsch Lenin für Tschernyschewskis Roman begeistern können. Inspiriert von »Was tun?« entwickelte Lenin in seiner programmatischen Schrift gleichen Titels den Begriff des Berufsrevolutionärs, also jenes hochqualifizierten Parteikaders, der – obwohl selbst nicht unbedingt Angehöriger der Arbeiterklasse – sein Leben dennoch voll und ganz in den Dienst der proletarischen Revolution stellt und dafür alle privaten Ziele und Bindungen aufzugeben bereit ist.134 Mit Lenins Bezugnahme war Tschernyschewski natürlich ideologisch über alle Zweifel erhaben, darüber hinaus war er aber auch literaturtheoretisch von großer Bedeutung, denn seine Schriften galten als bedeutende Vorläufer des Sozialistischen Realismus. Darin erkannte Alfred Kurella einmal mehr die Möglichkeit, Linientreue zu demonstrieren und gleichzeitig seinem ehemaligen Vorgesetzten Dimitroff in Erinnerung zu bleiben. Nach dessen Rede im Schriftstellerhaus machte er sich also umgehend daran, Tschernyschewskis wichtigste
133 Vgl. Tschernyschewski, Was tun? 134 Vgl. Lenin, Was tun?
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Nikol Verlag 2010 Covergestaltung: Timon Schlichenmaier, Hamburg
Aufbau Verlag 1979 Schutzumschlag: Erhard Grüttner
theoretische Schrift über »Ästhetik und Leben« ins Deutsche zu übertragen; eine Arbeit, die in serialisierter Form zwischen August 1935 und April 1936 in der Zeitschrift »Internationale Literatur« erscheinen sollte.135 Die Situation, in der sich Alfred Kurella zur Mitte der 1930er Jahre befand, war also prekär, aber nicht hoffnungslos. Politisch schwer angeschlagen, ohne geregelte Arbeit und in Gefahr, dass ihm der »Doppelzüngler«-Vorwurf in der anschwellenden Säuberungswelle zum Verhängnis werden könnte, setzte Kurella alle Hoffnung auf seinen ehemaligen Vorgesetzten und zukünftigen Generalsekretär der Komintern. Alle Aktivitäten, die er nach der Parteirüge und der Entfernung aus dem Kominternapparat entwickelte, verfolgten ein doppeltes Ziel: einerseits als Schriftsteller seine Linientreue unter Beweis zu stellen
135 Vgl. Tschernyschewski, »Ästhetik und Leben« (1.–7. Teil). In der 1953 erschienenen Übersetzung heißt die Arbeit »Die Ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit«. Sie ist aber im Wesentlichen textidentisch.
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und andererseits sich Georgi Dimitroffs Wohlwollen zu bewahren. Diese Kombination bestimmte sowohl die Themen als auch deren künstlerische Umsetzung. Die literarische und filmische Beschäftigung mit dem Reichstagsbrandprozess folgten der direkten Anregung Dimitroffs. Die Art und Weise, wie er diese Themen ausarbeiten wollte, orientierte sich an Maxim Gorkis Ermahnung, der Sozialistische Realismus erlaube keine »Marmelade«. Die Übersetzung von Tschernyschewskis Programmschrift über das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit stellte dabei schließlich die Klammer dar, mit der beide Ziele verbunden werden konnten. Alfred Kurellas Konversion zum bedingungslosen Verfechter des Sozialistischen Realismus hatte also ganz persönliche Gründe, und diese hatten weniger mit irgendeiner geschmäcklerischen Präferenz als vielmehr mit dem politischen (oder vielleicht sogar physischen) Überleben zu tun.
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Wachsende Verzweiflung
Während sich Alfred Kurella im Frühjahr 1935 also Hoffnungen auf eine baldige Rehabilitierung gemacht hatte, sollten ihn die nächsten Monate in Verzweiflung stürzen. Eine Reihe ganz unterschiedlicher Entwicklungen sorgte nicht nur dafür, dass seine ehrgeizigen Projekte scheiterten, sondern auch, dass seine politische Lage immer bedrohlicher wurde, ohne dass er auf den Beistand Dimitroffs zählen konnte. Die ersten Anzeichen für die Verschärfung seiner Krise hatte er zunächst übersehen oder vielleicht einfach nicht wahrhaben wollen. Obwohl der Entwurf »seines« Drehbuchs zum Spielfilm »Der Kämpfer« so großen Zuspruch erhalten hatte, wurde Kurella in die weiteren Arbeiten nicht mehr miteinbezogen. Das kam für ihn erst einmal nicht überraschend, begannen doch nun die Proben und Dreharbeiten, für die aufgrund ihrer Erfahrung natürlich vor allem die Regisseure Wangenheim und Ivens verantwortlich waren. Doch selbst in der für ihn vertraglich vorgesehenen Rolle des politisch-künstlerischen Beraters des Projekts wurde Kurella nicht mehr konsultiert. Erst viel zu spät erkannte Alfred Kurella, dass man ihn als übel beleumdeten »Doppelzüngler« aus dem Projekt »entfernen wollte«.136 Als der Film schließlich am 1. Dezember 1936 erstmalig gezeigt wurde, suchte man den Namen Kurella im Vor- und Abspann vergeblich.137 War der unfreiwillige Abschied von den Filmarbeiten ein schleichender Prozess, so traf das Scheitern des zweiten Projekts Alfred Kurella ganz unvermittelt und mit voller Härte. Schon im Frühsommer 136 Vgl. Alfred Kurellas Brief an den Direktor von Meshrabpom-Film, Gen. Samsonow, vom 15. 4. 1936, Auszug abgedruckt in: Agde, Kämpfer, S. 116–17. 137 Vgl. die Ergebnisse der Sonderkommission vom 29. 4. 1936, abgedruckt in: Agde, Kämpfer, S. 17–18. Auch in der hymnischen Besprechung einer Vorabaufführung wird Kurella nicht erwähnt, vgl. Ophüls, »Der Dimitroff-Film«. In gewissem Sinne kann man die Missachtung von Kurellas Beitrag auch als »Glück im Unglück« betrachten; etwa die Hälfte der an dem Film beteiligten Schauspieler und Techniker wurden in der Folge verhaftet, in Lager verschleppt oder ermordet.
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1935 machte ihn der Stellvertretende Leiter der Moskauer Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter (VEGAAR), Erich Wendt, darauf aufmerksam, dass der VEGAAR ein Buchmanuskript über den Leipziger Prozess angeboten worden sei, das nun unter dem Titel »Dimitroff: der Ankläger von Leipzig« erscheinen sollte.138 Als Kurella das Manuskript wenig später einsehen durfte, musste er feststellen, dass es bis auf wenige Änderungen auf den ersten Seiten mit seinem eigenen Prozessbericht identisch war. Identisch nicht nur im Sinne von »wortgleich«, nein: Kurella erkannte die Originalseiten seines Manuskripts, »mit meiner Schreibmaschine geschrieben und mit meinen Handkorrekturen versehen«.139 Dass das Buch nun endlich erscheinen sollte, wäre ganz in Kurellas Sinne gewesen, solange die Leser hinter dem unvermeidlichen Pseudonym den ehemaligen Sekretär Dimitroffs vermuten durften. Doch zu seinem großen Entsetzen hatte er auf dem Manuskript den Namen Lilly Keith als Autorin gelesen. Dieser Name war aber kein Pseudonym, sondern der einer Journalistin und Mitarbeiterin Dimitroffs, die als Deutschlandkorrespondentin der Tageszeitung Iswestija den Leipziger Prozess beobachtet hatte. Ihr würde man die nötige Detailkenntnis – und damit die Autorenschaft – durchaus zutrauen. Kein Leser würde die Schilderung jenes »gewaltigen Kapitels der revolutionären Theorie und Praxis der proletarischen Bewegung« (Dimitroff) auf ihren wahren Autor zurückführen können. Alfred Kurella war angesichts dieses »Diebstahls« mehr als verzweifelt. Er musste erkennen, dass er nach seiner Rüge nun sogar den »Leichenfledderern« schutzlos ausgeliefert war.140 Natürlich bemühte er sich noch, die Sache zu bereinigen, indem er Protestbriefe unter anderem an Béla Kun und sogar an Georgi Dimitroff selbst richtete, doch konnte er nur noch erreichen, dass das Buch zunächst nicht erschien.141 So scheiterte also auch die zweite Hoffnung, sich künstlerisch-literarisch zu rehabilitieren.
138 Vgl. Alfred Kurella an seinen damaligen Nachfolger Bonmarew, 27. 5. 1963, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 2710. 139 Vgl. Alfred Kurella an Béla Kun, 8. 7. 1935, in: AdK Alfred-KurellaArchiv, Band 1627. 140 Vgl. Reinhard Müller, Säuberung, Seite 502. 141 Die Geschichte um das »gestohlene« Manuskript ist vielfach verbürgt. Alfred Kurella machte den Vorfall unter Schriftstellerkollegen bekannt, vgl. Reinhard Müller, Säuberung, S. 502 und 510. Erwin Sinko notierte sie
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Ernüchtert setzte Alfred Kurella nun alles daran, sein Moskauer Exil zu verlassen, um sich so dem unmittelbaren Zugriff der Partei zu entziehen. Die erste Sondierungsmöglichkeit hierzu war eine Begegnung mit seinem alten Mentor Henri Barbusse, der im Frühsommer 1935 die Sowjetunion besuchte. Mit ihm hatte Kurella auch nach seiner Abberufung aus Frankreich weiter zusammengearbeitet. Daraus hervorgegangen war zum Beispiel Barbusse’ hymnische Biografie »Stalin – Eine neue Welt«, für die Kurella offiziell nur das Material zusammengetragen, die er aber tatsächlich in weiten Teilen selbst geschrieben hatte.142 Daneben arbeiteten die beiden an der Herausgabe der »Briefe Lenins an seine Familie« und planten noch weitere gemeinsame Projekte.143 Wie Kurellas damalige Frau sich erinnerte, wurde bei der Begegnung in Moskau die erneute Übersiedlung nach Paris konkret ins Auge gefasst. Bevor der Plan allerdings umgesetzt werden konnte, verabschiedete sich Kurella erst einmal in seinen allsommerlichen Wanderurlaub in den Kaukasus, nur um Ende August 1935 in Sochumi erfahren zu müssen, dass der französische Freund und Hoffnungsträger überraschend in Moskau verstorben sei.144 Paradoxerweise beendete der Tod Barbusse’ nicht Kurellas Hoffnung, nach Paris zu gelangen. Im Gegenteil: Der berühmte französische Autor hatte ihn testamentarisch zum Nachlassverwalter bestimmt; er sollte bislang unveröffentlichte Schriften durchsehen und publizie-
in seinem Tagebuch, vgl. Sinko, Roman eines Romans, S. 185. Siehe auch den Brief Kurellas an Dimitroff, 6. 7. 1935, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1584. Bis in die 1960er Jahre kämpfte Kurella um die Autorenschaft, siehe Korrespondenz mit Keith und mit dem bulgarischen Parteiarchiv, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 2710. 142 Vgl. Barbusse, Stalin. Erwin Sinko schrieb das Werk Kurella sogar in Gänze zu: »das letzte große Werk Henri Barbusses stammt von A bis Z von Kurella; Barbusse hat für 50 Prozent des Honorars kaum mehr als seinen Namen beigesteuert!«; Sinko, Roman eines Romans, S. 185. 143 Vgl. Barbusse, Lettres de Lénine, das folgenden Zusatz im Titel trägt: »avec la collaboration de Alfred Kurella«. In Briefen von Henri Barbusse war zudem von einem – nicht näher erläuterten – (Zeichentrick-)Filmprojekt die Rede, für das er Kurellas Mitarbeit gewinnen wollte, vgl. Barbusse an Kurella, 15. 3. 1935, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1560. 144 Vgl. Aufzeichnungen von Walentina Kurella, in Alfred Kurellas Sammlung biographischer Angaben für seine Memoiren, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1298.
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ren.145 Als eigene Arbeit plante Kurella zudem eine Biografie Henri Barbusse’; für all dies würde man ihm doch die Ausreise sicher ermöglichen. Aber Kurella hatte sich verkalkuliert: Im Laufe der folgenden zwei Jahre wurde jeder einzelne seiner wiederholt gestellten Ausreiseanträge abgelehnt; selbst dann noch, als er sich mit Romain Rolland und Hely Barbusse die Fürsprache sowohl eines berühmten Literaturnobelpreisträgers wie auch der Witwe des Verstorbenen gesichert hatte.146 Es war zum Verzweifeln! Wie stark Kurellas »Fluchtinstinkt« tatsächlich wirkte, lässt sich daran ermessen, dass er einmal sogar das Wagnis einer Notlüge eingegangen war, um Moskau verlassen zu können. So behauptete er im Frühjahr 1936 in einem seiner vielen Anträge, Georgi Dimitroff habe der Reise nach Paris bereits zugestimmt. Doch so leicht ließ sich die Kaderabteilung nicht übertölpeln; auf ihre Nachfrage bestritt das Büro Dimitroffs, je eine solche Zusage gegeben zu haben.147 Alfred Kurella war dazu verdammt, in Moskau zu bleiben. Dort wurde das Leben als vermeintlicher »Doppelzüngler« immer schwieriger. So zum Beispiel als Kurella im September 1935 aus dem Kaukasus nach Moskau zurückkehrte und erfahren musste, dass man sein Zimmer im Komintern-eigenen Hotel Lux anderweitig vermietet hatte.148 Obwohl er diese Situation nach kurzer Zeit klären konnte, war es doch ein deutliches Zeichen, wie wenig sein Name in Parteiund Kominternkreisen noch galt. Und dass ein Rausschmiss aus dem
145 Vgl. Walter, Deutsche Exilliteratur, Band 2, S. 214. 146 Vgl. Ausreiseantrag vom 3. 11. 1936, in: RGASPI 495/205/6339, Bl. 327. Siehe auch Alfred Kurellas umfangreiche Korrespondenz hierüber mit Hely Barbusse, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1559, passim. Zur Intervention von Romain Rolland vgl. Sinko, Roman eines Romans, S. 448. Dass mit dem dort als »X« Bezeichneten Kurella gemeint war, geht aus Sinkos Brief vom 5. 10. 1937 hervor, in dem er Rollands Vorwurf der »imprudence« an Kurella weitergab. Die Hoffnung, nach Paris auszureisen, zerschlug sich endgültig erst im Spätherbst 1937, vgl. Sinko an Kurella, undatiert, aufgrund Reihenfolge der Heftung und inhaltlicher Rückbezüge vermutlich zwischen Oktober und Ende November 1937, beide in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1681. 147 Vgl. Kurellas Antrag vom 16. 3. 1936, die Nachfrage der Kaderabteilung vom 27. 4. 1936 sowie die dort handschriftlich vermerkte Ablehnung, in: RGASPI 495/205/6339, Bl. 363–365. 148 Vgl. Sinko, Roman eines Romans, S. 277. Siehe auch: Walter, Deutsche Exilliteratur, Band 2, S. 214.
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»Lux« eine hohe symbolische Bedeutung gehabt hätte, das war Alfred Kurella wohl bewusst.149 Nach seinem Ausscheiden aus der Komintern hatte man ihn schon einmal kurzzeitig in das gegenüberliegende Hotel »Sojusnaja« umgesiedelt. Hier trafen sich eine Reihe anderer deutscher Genossen, die bereits in Verdacht standen, »Parteifeinde« zu sein, darunter Heinz Neumann, Heinrich Süßkind und auch Kurellas jüngerer Bruder Heinrich, der mit seiner Frau Charlotte StenbockFermor im »Sojusnaja« wohnte.150 Alfred Kurella wollte, ja musste, unbedingt vermeiden, mit anderen »Doppelzünglern«, »Abweichlern« und »Versöhnlern« in Verbindung gebracht zu werden. Dies galt besonders für seinen ebenfalls in Ungnade gefallenen Bruder. In Vernehmungen behaupteten beide übereinstimmend, mit dem jeweils anderen kaum etwas zu tun zu haben, einander sogar kritisch gegenüber zu stehen. Und doch wusste die Kaderabteilung sehr genau, dass die Brüder Kurella auch weiterhin Kontakt hielten.151 149 Hans-Albert Walter hat schon darauf verwiesen, wie Kurella diese Situation später umgedeutet und verarbeitet hatte, vgl. Walter, Deutsche Exilliteratur, Band 2, S. 214, Fußnote 19 (abgedruckt auf Seite 527). Dass er dabei aber nicht nur diese eine, sondern gleich mehrere Ausweisungen thematisierte, hat Walter nicht erwähnt. Der drohende Rausschmiss aus dem »Lux« war ein über Jahre wiederkehrendes Thema für Kurella; mehrfach konnte er diese Demütigung nur durch die Intervention von Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht abwenden, vgl. seine Briefe an Pieck vom 25. 9. 1936 und Ulbricht vom 21. 6. 1939, in: RGASPI 495/205/6339, Bl. 288f. und Bl. 333–335 respektive. 150 Vgl. Aufzeichnungen von Walentina Kurella, in Alfred Kurellas Sammlung biographischer Angaben für seine Memoiren, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1298. 151 Vgl. Alfred Kurellas Distanzierung von seinem Bruder Heinrich während der Vernehmung durch die Untersuchungskommission, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 267–268. Auch Heinrich Kurella behauptete, dass er mit seinem Bruder wenig zu tun habe und dass eine »Mauer« zwischen ihnen stünde, vgl. Heinrich Kurellas Aussage vom 28. 9. 1936, in RGASPI 495/205/6202, Bl. 80. Auch er fürchtete wohl, seine eigenen Schwierigkeiten (die letztendlich zu seiner Verhaftung und Ermordung führen sollten) würden durch eine Nähe zu seinem belasteten Bruder noch verschärft. Dazu, dass die beiden trotzdem den Kontakt zueinander nicht abreißen ließen, vgl. Kaderabteilung an Dimitroff, o. D. (um September 1937), in: RGASPI 495/205/6339, Bl. 298. Ein Indiz dafür, dass dieser Kontakt familiär-freundschaftlich und nicht etwa distanziert war, findet sich in den Erinnerungsnotizen von Walentina Kurella, die Heinrich mit dem russi-
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Unterdessen nutzte Alfred Kurella jede Gelegenheit, um in der Öffentlichkeit die Nähe von einflussreichen und ideologisch unbedenklichen Menschen zu suchen. Welche grotesken (oder aber traurigen) Formen sein Bemühen in dieser Hinsicht annehmen konnte, ist durch eine Episode überliefert, die Kurellas Freund Erwin Sinko in seinem Moskauer Tagebuch festgehalten hat. Während eines Empfangs anlässlich eines Treffens von Romain Rolland und Maxim Gorki im Juli 1935 sei Kurella plötzlich auf Sinko zugestürmt und habe ihn aufgeregt aus dem Raum gezogen. Er solle schnell nach nebenan kommen, dort bereite man gerade die Aufnahme eines Gruppenfotos vor. Und so drängten sich die beiden in die Gruppe sowjetischer Schriftsteller, denn zumindest Kurella wollte unbedingt mit den geachteten Literaten auf einem offiziellen Zeitungsbild abgelichtet sein. In der hintersten Reihe stehend, waren sie beide in der Prawda gerade noch erkennbar und zu Kurellas großer Freude in der Bildunterschrift sogar namentlich genannt.152 Trotz dieser Bemühungen wandten sich Alfred Kurellas Genossen immer deutlicher von ihm ab, worüber er sich auch offiziell beklagte: Der »in der Luft schwebende, nie klar ausgesprochene, aber praktisch immer wirksame Verdacht [mache ihm] […] das Leben und Arbeiten unsäglich schwer«.153 Er wurde nun regelrecht geschnitten. Und dass dies nicht nur in seiner Einbildung so war, zeigt eine Unterhaltung, die sein Freund Erwin Sinko mit einem ungarischen Genossen geführt
schen Diminutiv »Heinika« benennt. Zum Schicksal von Heinrich Kurella und zur Beziehung der beiden Brüder zueinander siehe auch Yvonne Hirdmans Biografie ihrer Mutter Charlotte Stenbock-Fermor, Hirdman, Meine Mutter, die Gräfin, besonders Kapitel 6. Die auf ungenannten »privaten Informationen« beruhende Anschuldigung des Historikers David Pike, Alfred Kurella habe seinen Bruder »denunziert«, lässt sich in den Kaderakten der beiden nicht erhärten, vgl. Pike, Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil, S. 465. 152 Vgl. Sinko, Roman eines Romans, S. 183–184. In seinem Tagebucheintrag beschrieb Sinko die Situation als Groteske – und schämte sich dafür, im Anschluss an die Veröffentlichung mehr als zehn Glückwunschanrufe erhalten zu haben – wie »zu Zeiten Ludwig XIV«. Alfred Kurella dagegen hat den Zeitungsausschnitt aufbewahrt, vgl. AdK Alfred-Kurella-Archiv, Fotosammlung III 35–06–1. 153 Vgl. Alfred Kurella an Wilhelm Pieck, 3. 11. 1936, in: RGASPI 495/ 205/6339, Bl. 328–330, Zitat auf Bl. 330.
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hatte, der Sinko zunächst für sein Erscheinen auf dem Gruppenfoto in der Prawda gratuliert hatte: »Typisch für ihn [der Ungar war ein häßlicher, bissiger und neiderfüllter Streber, so Sinko] ist jedoch die Art, wie er über Kurella spricht, von dem er weiß, daß er mein Freund ist: ›Ein sehr gebildeter Marxist, ein wertvoller Mensch. Solange er Dimitroffs Sekretär war, traf ich mich häufig mit ihm, aber in letzter Zeit hatte er Unglück über Unglück.‹ […] Daß er von Kurella gerade mir gegenüber so sprach, durfte ich als eine Art naive, gönnerhafte Warnung auffassen. Mit [diesen] Worten […] empfahl er mir sein eigenes Verhalten als Vorbild: Er trifft sich nicht mehr mit Kurella.«154 Obwohl nach dem Kominternausschluss keine weiteren konkreten Disziplinarmaßnahmen gegen Kurella verhängt wurden, war allein die zunehmende politische und soziale Isolierung schwer zu ertragen. Denn hier ging es nicht in erster Linie darum, einen persönlichen Bedeutungsverlust zu verarbeiten. Eine solche Degradierung und die darauf folgende Abwendung der Genossen musste – von dem, der nicht völlig blind war – zunehmend als Bedrohung der Freiheit oder gar des Lebens aufgefasst werden.155 Denn auch nach dem VII. Weltkongress der Komintern nahmen die innerparteilichen Ver154 Tagebucheintragung vom 22. 7. 1935, in: Sinko, Roman eines Romans, S. 233–234. Nicht allzu viel später sollte Kurellas zunehmende Isolierung sogar Auswirkungen auf seine Familie haben. Seine damalige Frau Walentina war als Tochter eines großbürgerlichen Pelzhändlers ohnehin auf der Verdächtigtenliste der Kaderabteilung (vgl. Kurellas Vernehmung, in: RGASPI 495/4/335, Bl. 274–277) – die Ehe ging genau zu dieser Zeit in die Brüche. Später sollte die Kaderabteilung seiner Tochter Jo Koch die Zulassung zum Studium verweigern; sie wurde in eine Kugellagerfabrik abkommandiert. Auch Kurellas wiederholte Versuche, für Elisabeth Kühnen (Jo Kochs verarmte und verfolgte Mutter) die Einreise in die Sowjetunion zu ermöglichen, scheiterten. Alles in: RGASPI 495/205/ 6339, Bl. 298–299 und 287–289 respektive. 155 Spätestens nach dem ersten Moskauer Schauprozess 1936 wusste Kurella, dass es auch für ihn immer brenzliger wurde: »Wenn bereits damals [im Frühjahr 1935] die Bezeichnung ›möglicher Dwuruschnik‹ eine schwere Beschuldigung war, so hat sie heute eine furchtbare Bedeutung: Dwuruschnik ist identisch mit der furchtbarsten Sorte von Parteifeinden, ist identisch mit Mörder.« Aus Kurellas Antrag an die IKK vom 16. 9. 1936, in: RGASPI 495/205/6339, Bl. 355.
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dächtigungen und Bestrafungen nicht ab, sondern verschärften sich zusehends. Einzig in beruflicher Hinsicht ergab sich für Kurella ein kleiner Lichtblick. Im Oktober 1935 durfte er im Rahmen eines zeitlich befristeten Auftrags eine Stelle in der Moskauer Bibliothek für Ausländische Literatur antreten. Nach nur wenigen Monaten hatte er das Vertrauen der Bibliotheksdirektion gewonnen, die ihm nicht zuletzt wegen seiner umfangreichen Sprachkenntnisse eine Festanstellung anbot. In späteren Lebensläufen sollte Kurella sich nicht ohne Stolz als Oberbibliothekar oder auch als Leiter der bibliografischen Abteilung dieser altehrwürdigen Bibliothek bezeichnen.156 Doch was auch immer die offizielle Bezeichnung seiner Position gewesen sein mag; eine Leitungsfunktion war es nicht. Stattdessen ging Alfred Kurella einer eher solitären Beschäftigung nach. Er hatte die Aufgabe, die fremdsprachigen Bücherbestände der Bibliothek durchzusehen und dabei jene »trotzkistische« oder anderweitig »abweichende« Literatur auszusondern, die den Lesern von nun an vorenthalten werden musste.157 Er arbeitete also als Zensor. Obwohl diese Tätigkeit natürlich eine Kenntnis der Parteilinie voraussetzte, blieb die Arbeit in der Bibliothek eher im Verborgenen, war also nicht eben geeignet, sich politisch zu rehabilitieren. Wie sehr Kurella den öffentlichkeitswirksamen Beleg seiner ideologischen Unbedenklichkeit aber nötig hatte – oder nötig zu haben glaubte –, lässt sich am Beispiel eines seiner vielen Anträge auf Aufhebung seiner Parteistrafe ermessen. Verzweifelt argumentierte er hier, er habe sich doch im Elternbeirat der Schule seiner Kinder ganz vorbildlich im Sinne der Partei verhalten: »Im Herbst 1935 wurde ich zum Leiter der methodischen Kommission des Elternbeirats der ›Karl-Liebknechtschule‹ gewählt. Diese Arbeit leite ich bis jetzt und war bestrebt, zusammen mit den KPdSU-Genossen auf die Reinigung der politischen Atmosphäre der Schule, die Verbesserung der Leitung, die Stärkung des Parteieinflusses auf Leitung und Pädagogen hinzuarbeiten.«158 156 Vgl. Alfred Kurella an Gen. Stassowa, 9. 12. 1937, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1306, Hefter 17, und den handschriftlichen »Curriculum Vitae«, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1298. 157 Zu seiner Tätigkeit vgl. seinen Antrag auf Untersuchung der Parteivergangenheit vom 18. 9. 1936, in: RGASPI 495/205/6339, Bl. 349–353. 158 RGASPI 495/205/6339, Bl. 350.
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Spätestens in den Elternbeiratssitzungen muss es ihm wohl klar geworden sein: Es half alles nichts! Wollte er nicht ein ähnliches Schicksal erleiden wie andere »Doppelzüngler«, musste Alfred Kurella so bald wie möglich etwas Bedeutendes leisten; etwas, das der kommunistischen Sache dienlich war; etwas, das ihm innerhalb der Partei, unter den Exilanten und vor allem in der Kominternhierarchie wieder Vertrauen und Ansehen sichern würde. Auf dem Feld, das ihm »zugewiesen« worden war – dem der Literatur –, bot sich dafür nur eine Möglichkeit an: Er musste nicht weniger als den großen realistischen und zugleich antifaschistischen Roman vorlegen! Im neuen Jahr 1936 wollte er das Projekt in Angriff nehmen, und es war mehr als ein glücklicher Zufall, dass er dabei auf eine ideologisch abgesicherte Rezeptur zurückgreifen konnte, in der vorgeschrieben war, was in einem solchen Roman verhandelt werden sollte, in welchem Stil er zu verfassen sei und sogar an wen er sich zu richten hatte. In der Januarausgabe der Zeitschrift Internationale Literatur war gerade erst ein programmatischer Artikel mit dem Titel »Aufgaben und Ziele« erschienen, in dem ein gewisser Heinrich Binder – ein Pseudonym – all dies parteioffiziell ausgeführt hatte.159 Die antifaschistische Literatur habe sich im Wesentlichen an zwei Ereignissen zu orientieren. Zunächst an den Resultaten des Internationalen Schriftstellerkongresses, der im Juni 1935 in Paris stattgefunden hatte und der »allen antifaschistischen und antiimperialistischen Schriftstellern die umfassende Orientierung zur Verteidigung der Kultur gegeben« habe.160 Inhaltlich bedürfe es der »größten Vertiefung in die geschichtlichen Tatbestände und der intimsten Bekanntschaft mit allen Verästelungen des wirtschaftlichen, politischen, kulturellen, wissenschaftlichen Lebens« im faschistischen Deutschland. In der Darstellung aber, da habe man vor allem auf die Sprache zu achten: »Der antifaschistische Schriftsteller muß das Ohr der Volksmassen in Deutschland selbst finden. Er kann das nur, wenn er ständig sehr ernst an sich arbeitet, die Vorgänge in Deutschland studiert, alle Mittel ausnutzt, um mit dem Leben dort in Verbindung zu bleiben. […] Heißt es von einem revolutionären Schriftsteller zuviel verlangen, wenn man ihm sagt: du sollst trotz entscheidender Veränderungen
159 Binder, »Aufgaben und Ziele«. 160 Ebenda, S. 51.
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im politischen Leben deines Landes doch – und nun erst recht – Herz und Hirn der freiheitsliebenden Menschen deines Landes durch echte Sprache und überzeugende Schilderung finden?«161 Kaum zwei Monate nach dem Pariser Kongress habe dann der VII. Weltkongress der Komintern die Aufgaben und Ziele der revolutionären Schriftsteller weiter präzisiert: »[D]as Wesentliche bei der Bekämpfung der faschistischen Ideologie besteht nicht darin, daß man wissenschaftliches Material gegen die Rassenlehre, die ›Philosophie‹ der Nationalsozialisten usw. zusammenträgt. Das ist nur ein Teil dieses Kampfes – keineswegs ein unbedeutender, aber nicht der wichtigste. Dieser Kampf kann nur erfolgreich sein, wenn man die soziale Basis des Faschismus mit allen konkreten Verhältnissen und Bedingungen ins Auge faßt. […] Wenn man die faschistische Ideologie erfolgreich bekämpfen will, ist Voraussetzung, daß man die vom VII. Weltkongress ausgearbeitete Taktik vollständig anwendet. Widerlegung der nationalsozialistischen Theoreme an sich – das ist keine sehr schwierige wissenschaftliche Aufgabe. Schwierig aber ganz ungenügend praktiziert ist die Bekämpfung der faschistischen Ideologie innerhalb der faschistischen Massenorganisationen selbst, Auge in Auge mit der Drohung des faschistischen Terrors, im engsten Kontakt mit dem vom Faschismus unmittelbar beeinflußten Massen. Auch hier – und in erster Linie hier – können die antifaschistischen Schriftsteller helfen.«162 Worüber man schreiben solle, darauf habe kein Geringerer als der neue Generalsekretär der Komintern den entscheidenden Hinweis geliefert. Heinrich Binder war wohl so begeistert von Dimitroffs Rede, dass er daraus eine ganze Textseite zitierte; der besagte Hinweis fand sich dort in Dimitroffs Mahnung an die Kongressdelegierten, »die Haltung der Genossen und Arbeiteraktivisten bei Klassenzusammenstößen, Polizeiverhören, in den Gefängnissen und Konzentrationslagern, vor Gericht usw. zu studieren. All dem ist das Positive zu entnehmen, die Vorbilder, die man nachahmen soll, sind aufzuzeigen, und das Falsche, das Unbolschewistische, Spießerische ist zu verwerfen.
161 Ebenda, S. 56 und 69. 162 Ebenda, S. 58.
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Seit dem Leipziger Prozeß haben wir eine ganze Reihe von Fällen, wo unsere Genossen vor bürgerlichen und faschistischen Gerichten aufgetreten sind, und diese Fälle haben gezeigt, daß bei uns zahlreiche Kader heranwachsen, die ausgezeichnet verstehen, was eine bolschewistische Haltung vor Gericht bedeutet.«163 Nun richteten sich diese Ausführungen gar nicht direkt an die Schriftsteller, doch Heinrich Binder erlaubte sich, diese Verbindung durch eine simple rhetorische Frage herzustellen: »Muß nicht jeder revolutionäre Schriftsteller diese Worte Dimitroffs als eine neue, dringliche Mahnung und Wiederholung jener Bitte auffassen, die Dimitroff in seiner Rede im Moskauer Haus der Sowjetschriftsteller an die antifaschistischen Schriftsteller gerichtet hat?«164 Angesichts der von Heinrich Binder zitierten »dringlichen Mahnung« war es kein Wunder, dass Alfred Kurella sofort wusste, was zu tun war, als er zufällig – vermutlich an seinem Arbeitsplatz in der Bibliothek für Ausländische Literatur – auf das Protokoll eines Hexenprozesses aus dem 17. Jahrhundert stieß. Hier war sie, die zündende Idee: ein barbarisches mittelalterliches Gerichtsdokument als Ausgangspunkt für den großen antifaschistischen Roman, der seinem Autor die Rehabilitation sichern sollte.
163 Ebenda, S. 67. 164 Ebenda, S. 68.
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Die »Gronauer Akten« – ein linientreues Echo
Wohl nur wenigen Lesern der 1954er-Ausgabe der »Gronauer Akten« dürfte aufgefallen sein, dass es dem Autor um weit mehr ging als nur darum, die Vorgaben des Sozialistischen Realismus in einer unterhaltsamen und spannenden politischen Erzählung umzusetzen. Mitte der 1930er Jahre wäre das sicher ganz anders gewesen. Zumindest in der Literaturkritik wäre das Urteil über das Erstlingswerk wohl sehr positiv ausgefallen. Ganz besonders enthusiastisch hätte sich dabei besagter Heinrich Binder zeigen müssen, erfüllte Kurellas Roman doch viele, wenn nicht gar alle seiner Vorgaben. Eine positive Reaktion von Binder hätte den Autor der »Gronauer Akten« aber nicht wirklich überrascht, denn dabei hätte es sich schlicht um »Eigenlob« gehandelt: Hinter dem Pseudonym Binder verbarg sich niemand anderes als Kurella selbst!165 Und so lässt sich zum ersten Mal erahnen, wie durchdacht, um nicht zu sagen dreist-genial, Alfred Kurella sein literarisches Rehabilitierungsprojekt geplant hatte. Versteckt hinter einem Pseudonym, das er weder vor noch nach 1936 jemals wieder gebraucht hat, erlaubte sich der in Ungnade gefallene Parteiarbeiter, mal eben die Maßstäbe für den großen antifaschistischen Roman zu definieren, nur um diese dann mit den »Gronauer Akten« ganz genau erfüllen zu können.
165 Vgl. Streller/Riedel, Internationale Literatur Moskau, Erster Halbband, S. 125. Siehe auch: Simone Barck, »Theoretische Bemühungen«, S. 217. An anderer Stelle wird dieser Aufsatz Johannes R. Becher zugeschrieben, vgl. Olbrich, »Kunst und Antifaschistischer Wiederstand«, S. 93, Fußnote 22. Dass aber doch Kurella der Autor war, belegt ein Vergleich mit der unveröffentlichten »internen Verlagsrezension«, die er am 28. 10. 1934 über Hans Günters Manuskript zur »Ideologie des Faschismus« eingereicht hatte; in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 639. Auch Heinrich Binders Aufsatz nimmt eine Kritik von Günters Buch zum Ausgangspunkt für die programmatische Diskussion. Darin finden sich fast alle der von Kurella bereits 1934 erwähnten Kritikpunkte, besonders die methodischen Schwächen wie auch die Unbestimmtheit des Adressaten. Becher hatte das Buch dagegen uneingeschränkt gelobt, vgl. wiederum Barck, »Theoretische Bemühungen«, S. 216.
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Dabei suchte Alfred Kurella gar nicht die Anerkennung der marxistischen Literaturkritik – dieses positive Votum hatte er als Heinrich Binder ja schon längst vorweggenommen. Bei den »Gronauer Akten« handelte es sich eben nicht um ein literarisches, sondern viel eher um ein politisches Projekt. Alfred Kurella wollte sich mit seinem Roman von 1936 ganz direkt an Georgi Dimitroff wenden, von dem er sich die vollständige Rehabilitierung erhoffte. Dabei versuchte er zunächst, die allgemeinen Vorgaben zu erfüllen, die Dimitroff in seiner Rede vom Februar 1935 den antifaschistischen Schriftstellern gemacht hatte. Mit dem tapferen Landarbeiter Hans Moser und dem überlegt (gar überlegen) handelnden Hauslehrer Walter Berger wollte Kurella die geforderten heroischen »Gestalten« schaffen, »denen Millionen nachleben können«, und damit »der Partei, der Arbeiterklasse, der Komintern« jene »in künstlerischer Form sichertreffenden Kampfwaffen« geben, die im Widerstand gegen den Faschismus so nötig gebraucht wurden.166 Diesen Aufforderungen nachzukommen galt jedoch als die Pflicht eines jeden revolutionären Schriftstellers, und mit seinem Roman hätte Kurella für Georgi Dimitroff sicher noch keine bemerkenswerte Ausnahme dargestellt. Schon etwas deutlicher wurde Kurellas Verbeugung vor dem neu gewählten Generalsekretär der Komintern in dem politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmen, in den die Romanhandlung eingebettet war. Als Vorlage hierfür diente die von ihm als Heinrich Binder zitierte Rede Dimitroffs: »Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus«. Wer das Referat kannte, das der Bulgare im August 1935 vor dem VII. Weltkongress der Komintern in Moskau gehalten hatte – und Mitte der 1930er Jahre musste jeder Kommunist diesen Text gelesen haben –, der kam nicht umhin, in den »Gronauer Akten« die direkte literarische Umsetzung zu erkennen. Alfred Kurella war bemüht, das Bild der nationalsozialistischen Herrschaft im ländlichen Deutschland in einer Weise zu zeichnen, dass es sich nahtlos in die neue Faschismuskonzeption Dimitroffs einfügen würde. Hierfür brauchte er nur die relevanten Passagen aus dem Referat Dimitroffs umzusetzen:
166 Vgl. Dimitroff, »Die revolutionäre Literatur«, S. 10.
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»Der Faschismus versprach der ruinierten, verelendeten Bauernschaft die Beseitigung der Schuldknechtschaft, die Abschaffung der Pachtzahlungen und sogar die unentgeltliche Enteignung des grundherrlichen Bodens zugunsten der landlosen und dem Ruin verfallenden Bauern. In Wirklichkeit schafft er eine noch nie dagewesene Versklavung der werktätigen Bauernschaft durch die Trusts und den faschistischen Staatsapparat und steigert die Ausbeutung der Hauptmassen der Bauernschaft durch die Großagrarier, die Banken und die Wucherer aufs äußerste. ›Deutschland wird ein Bauernland oder überhaupt nicht sein‹ – erklärte feierlich Hitler, was aber haben die Bauern in Deutschland unter Hitler bekommen? Das Moratorium, das bereits aufgehoben ist? Oder das Erbhofgesetz, das zur Verdrängung von Millionen Bauernsöhnen und Töchtern aus dem Dorf und zu ihrer Verwandlung in Paupers (Bettler) führt? Die Landarbeiter wurden in halbe Leibeigene verwandelt, die sogar des elementaren Rechtes der Freizügigkeit beraubt sind. Die werktätige Bauernschaft ist der Möglichkeit beraubt, die Produkte ihrer Wirtschaft auf dem Markt zu verkaufen.«167 In dieser kurzen Passage finden sich nahezu alle Motive, die Kurella in seiner Beschreibung des bäuerlichen Lebens unter faschistischer Herrschaft ausgearbeitet hat. Die Verarmung der Landbevölkerung wird mehrfach und in verschiedenen Varianten von dem Sonderermittler Günther Geismar angemerkt – in den Beschreibungen seiner Begegnungen mit einzelnen Bauern und sogar in einer recht offenen Unterhaltung über seinen eigenen Verdienst als Beamter im Vergleich zu den Einkünften der Landwirte. Das von Dimitroff angeprangerte Verbot, »die Produkte ihrer Wirtschaft auf dem Markt zu verkaufen«168, ist der Grund für die heimliche Butterproduktion von Geismars missmutigen Wirtsleuten; und die »Versklavung« und »Ausbeutung« durch »den faschistischen Staatsapparat«, die »Trusts« und die »Großagrarier« spiegelt sich in der wiederholten Bezugnahme auf die drückenden »Ablieferungsgesetze« und wird besonders deutlich in der Unterhaltung zwischen dem Gutsbesitzer Hans von Hadeln und dem Stahlfabrikanten Mönkebach: 167 Dimitroff, »Die Offensive des Faschismus«, S. 97–98. 168 Ein kurioser, wenn nicht gar zynischer Vorwurf, wenn man sich die brutalen Ereignisse um die Zwangskollektivierung in der Sowjetunion vor Augen führt.
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»Denen [den Bauern] bleibt fast nichts im Hause, wenn sie alles abliefern, was verlangt wird. Und zu den Preisen! Ich kann Ihnen sagen, die Stimmung hier auf den Dörfern ist alles andere als gut, ich möchte beinahe sagen, sie ist gefährlich!«169 Neben der »Ausbeutung« der werktätigen Bauernschaft hat Alfred Kurella sogar noch das von Dimitroff kritisierte »Erbhofgesetz« unterbringen können, als er Günther Geismar von dem einzigen Bauern berichten ließ, der ihm sympathisch war – »bessere Rasse!« Am anderen, am unteren Ende der sozialen Leiter standen dagegen die Landarbeiter, die der Faschismus laut Dimitroff »in halbe Leibeigene verwandelt« habe. In einer kurzen Begegnung lässt Kurella den Hauslehrer Walter Berger genau diese Erkenntnis gewinnen. »[Berger] war aus dem Park heraus auf den Weg gekommen, an dem die Wohnungen der Landarbeiter lagen. Vor einem der elenden Häuser saßen zwei Knechte im Schatten der Hauswand. […]. Er betrachtete die Männer, die sich unterhielten und ihn nicht bemerkten. Sie waren kräftig gebaut, aber außerordentlich mager. Das waren die Menschen, auf deren Kosten die Hadeln und Mönkebach sich mästeten und die die Nazis für sie mit Terror und Lügen stillhielten.« Walter Berger erkundigt sich bei ihnen, ob ihr Arbeitstag beendet sei. »›Feierabend –? Nee!‹ sagte der mit der Pfeife. ›Gleich geht’s wieder ran! Auf die Wiesen!‹ […]. ›Heute, am heiligen Sonntag? […].‹ ›Was dachten Sie denn? Jetzt heißt’s ran, Tag und Nacht. Feierabend!‹ Der Sprecher lachte.« Etwas später sagt dann einer der beiden noch: »Tja, der Freiherr ist unser aller Herr und Meister.«170 Der Hintergrund, vor dem Kurella seine Romanhandlung entfaltete, entsprach also bis auf Kleinste jenem Bild, das auch Dimitroff von den Zuständen auf dem Land gezeichnet hatte. Vielleicht war das aber nur Zufall und die »Gronauer Akten« nicht mehr als die gewissenhafte Reproduktion einer allgemein geteilten Einschätzung. So besonders originell oder differenziert hatte sich der Komintern-Chef hierzu ja gar nicht geäußert. Gleiches galt vielleicht auch für den Einfall, der Mordgeschichte mit dem Hexenprozess noch eine Spiegelhandlung
169 Kurella, Gronauer Akten, S. 142. 170 Ebenda, S. 144–146.
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beizufügen, mit der Kurella Dimitroffs Einschätzung des Faschismus als »mittelalterliche Barbarei und Grausamkeit« illustrieren und unterstreichen wollte. Aber auch diese Auffassung war womöglich nicht die alleinige Dimitroffs. Unmissverständlich wird der Charakter der »Gronauer Akten« als Echo auf Dimitroffs Rede erst in der Geschichtsstunde über Karl den Großen; jener Szene, in der Günther Geismar den Hauslehrer Walter Berger ideologisch konfrontieren will, damit scheitert und dann zu der Überzeugung gelangt, in Berger einen verlässlichen Parteigenossen gefunden zu haben. Vor den in Moskau versammelten Kongressdelegierten hatte Dimitroff im August 1935 mit scharfer Kritik die Geschichtsklitterung der Faschisten aufs Korn genommen: »Die neugebackenen nationalsozialistischen Geschichtsschreiber bemühen sich, die Geschichte Deutschlands so darzustellen, als ob sich, kraft einer ›historischen Gesetzmäßigkeit‹ durch 2000 Jahre wie ein roter Faden eine Entwicklungslinie zöge, die zum Erscheinen eines nationalen ›Retters‹ auf dem historischen Schauplatz, eines ›Messias‹ des deutschen Volkes: des bekannten ›Gefreiten‹ österreichischer Herkunft!«171 Sehr gekonnt hat Kurella diesen Ball in seinem Roman aufgenommen, als er Geismar sagen lässt: »›[…] mir scheint, daß Ihre Darstellung auch nicht der Auffassung der nationalen Geschichtsschreibung entspricht. Sie haben zum Beispiel den Namen Widukind überhaupt nicht genannt –‹ ›Ja, das geschah absichtlich.‹ ›Absichtlich? Darf ich fragen warum?‹ ›Gewiß, weil die Rolle Wittekinds durchaus noch nicht klargestellt ist; und ich glaube nicht, das Recht zu haben, meinem Schüler eine unfertige Meinung vorzutragen, zumal wenn es sich um eine Sache handelt, die nicht von entscheidender […].‹ ›Nicht klargestellt, sagen Sie? Ich besinne mich aber, im vorigen Jahr in Brückeburg auf dem Reichsbauerntag ein Stück gesehen zu haben, in dem die Figuren Karls des Sachsenschlächters und Herzog Widukinds mit aller nur wünschenswerter Klarheit gezeichnet waren. Und diese Aufführung war parteiamtlich.‹ Geismar gab dem letzten Wort eine scharfe Betonung.
171 Dimitroff, »Die Offensive des Faschismus«, S. 150.
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›Ich kenne dieses Lehrstück von Kiß auch. Aber ich darf meinerseits fragen, ob Sie die Aussprache verfolgt haben, die diesem Stück gefolgt ist? Sie lesen doch gewiß die Zeitschriftenliteratur, ich meine die parteiamtliche?‹ Auch Berger betonte dieses Wort. ›Natürlich, ja, das heißt, soweit ich die Zeit dazu habe.‹ Berger war die Änderung im Tonfall Geismars nicht entgangen. Er wußte genug: der andere hatte nichts gelesen. ›Dann dürfte Ihnen auch bekannt sein‹, sagte er langsam und mit sicherem Ton, ›daß die Auffassung von Kiß nicht die allgemeine Billigung gefunden hat. Ich denke natürlich nicht an die katholische Opposition, sondern an die parteiamtlichen Stimmen. Über den Sonderfall Wittekind ist die Aussprache noch nicht abgeschlossen, es gibt noch keine endgültige parteiamtliche Auffassung. Aber über Karl den Großen als Ganzes liegt schon eine feste Meinung vor. Die Darstellung von Rudolph Wahl wird jedenfalls abgelehnt. Es kann als festgestellt gelten, daß Karl der Große nicht als Instrument der römischen Kirche aufzufassen ist, sondern umgekehrt. Jedenfalls überwiegen seine positiven Verdienste der [sic] negativen Seiten seiner Politik. Karl der Große gehört zur Deutschen Geschichte. Aus ihm einen papistischen Gallier zu machen, diese Geschichtsfälschung überlassen wir den – französischen Chauvinisten! Das habe ich darzustellen versucht. Vielleicht ist es mir nicht ganz gelungen. Das können Sie von Ihrer Warte natürlich besser beurteilen.‹ ›Aber nein, gewiß, durchaus. Ich habe Ihnen ja gleich gesagt, ich fand die Stunde außerordentlich interessant.‹ Walter Berger war innerlich vergnügt über seinen schnellen Triumph. Jetzt sollte der andere noch ein bisschen zappeln! ›Wenn es Sie interessiert, kann ich Ihnen gern die betreffenden Hefte zur Verfügung stellen.‹ ›Danke, danke, ich fürchte, ich werde jetzt doch nicht dazu kommen. Aber lesen Sie unsere Zeitschriften regelmäßig?‹ ›Selbstverständlich! Und ich bin der Meinung, daß heutzutage jeder Deutsche, der nationalsozialistisch […].‹ ›Oh Sie sind […]? Aber das wußte ich ja gar nicht?‹ Berger antwortete nicht. Aber Herr Geismar achtete nicht darauf. Er war wie verwandelt.«172 172 Kurella, Gronauer Akten, S. 165–167. Hervorhebungen im Original.
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Wenige Leser, die das frisch gedruckte Buch 1954 in Händen hielten, werden verstanden haben, was hier verhandelt wurde. Zur Zeit der Entstehung des Romans im Jahr 1936 wäre das allerdings niemandem schwergefallen. Denn Alfred Kurella rekurrierte hier auf einen Theaterskandal, der sich nur ein Jahr zuvor in Westfalen ereignet hatte. Bei der Uraufführung von Edmund Kiß’ Tragödie »Wittekind« war es im Januar 1935 am Stadttheater in Hagen/Westfalen zu lautstarken Protesten des Publikums gekommen. Das Theaterstück handelte von dem sächsischen Herzog Widukind (»Wittekind«), der sich mehrfach, aber vergeblich gegen die Herrschaft Karls des Großen aufgelehnt hatte, bis der Kaiser in einem »Blutgericht von Verden« mehrere Tausend sächsische Widerständler hatte enthaupten lassen.173 Im »Mythus des XX. Jahrhundert« hatte Alfred Rosenberg den sächsischen Herzog ganz unumwunden für die nationalsozialistische Bewegung reklamiert: »Widukind kämpfte zwar für sich, aber zugleich für die Freiheit aller nordischen Völker. Er unterlag; aber kein Zweifel darf heute mehr darüber bestehen, daß wir zu den Kräften stehen, die ihn leiteten, und nicht zu denen, welchen Karl der Große zum Siege verhalf.«174 Als 1934 am Ort des Geschehens – in Verden an der Aller – ein »Ehrenhain« für die Opfer des Massakers eingeweiht wurde, wurde der einflussreiche faschistische Ideologe noch deutlicher: Widukind sei »Ahnherr« der Deutschen, auf den »tausend Jahre später Adolf Hitler als unmittelbarer Fortsetzer des Werks« gefolgt sei.175 Genau das hatte Georgi Dimitroff gemeint, als er vor dem Weltkongress die »messianischen« Umschreibungen der faschistischen Historiker verächtlich gemacht hatte. Mit den »Gronauer Akten« gelang es Alfred Kurella, Dimitroffs Kritik an der nationalsozialistischen Geschichtspolitik zu aktualisieren und sogar zuzuspitzen. Der direkte 173 Die Zahl der Getöteten ist bis heute umstritten, wobei allerdings als sicher gilt, dass weit weniger als die vormals gedachten 4500 Sachsen dem Massaker zum Opfer gefallen sind. 174 Rosenberg, Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 176. In späteren Ausgaben (nach 1935) wurde dieser Abschnitt ergänzt durch eine Würdigung Karls des Großen als »rauer Gründer des deutschen Reiches«. 175 Rosenberg, »Widukind für immer das Symbol des heldenhaften Widerstandes«, Rede gehalten am 23. 6. 1934 zur Einweihung des Ehrenhains in Verden an der Aller; zitiert in: Westenfelder, Genese, Problematik und Wirkung, S. 243.
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Bezug zu dem Theaterskandal in Hagen untermauerte nämlich auch Dimitroffs Behauptung, der Faschismus sei zwar »eine grausame, aber keine feste Macht«.176 Was war hier geschehen? Ganz im Sinne Rosenbergs hatte Edmund Kiß versucht, den letzten Makel zu entfernen, der Widukind noch anhaftete. Der sächsische Herzog hatte sich und seine Getreuen nach dem verlorenen Kampf im Jahre 785 eben doch noch christlich taufen lassen, um damit seine vollständige Unterwerfung zu »beglaubigen«. Das extrem anti-kirchliche Theaterstück von Kiß lieferte hierfür nun eine bemerkenswerte Apologie: Der Widerstandsheld habe die demütigende Christianisierung nur zum Schein über sich ergehen lassen, und zwar nur, nachdem der vom Papst gesteuerte Kaiser im Falle einer Weigerung die Vergewaltigung sämtlicher sächsischer Frauen angedroht hatte. Für die Katholiken im Publikum des Hagener Stadttheater hatte Kiß damit den Bogen aber deutlich überspannt. Es war zu Tumulten und sogar Schlägereien mit der SA gekommen. Mit der Geschichtsstunde auf Gut Gronau lieferte Kurella sogar noch mehr als nur eine Aktualisierung der dimitroffschen Kritik; auch in taktischer Hinsicht nahm er direkten Bezug auf die Vorgaben, die der Bulgare dem VII. Weltkongresses gemacht hatte. Der Kommunist Walter Berger kannte offensichtlich Dimitroffs Anweisungen, denn er hatte die Auseinandersetzung mit Geismar ganz bewusst herbeigeführt. Schon vor der zitierten Diskussion war er »sehr gespannt, was Geismar sagen würde. Seine Darstellung des Themas war absichtlich mehr auf den unerwarteten Inspektor als auf den Schüler eingestellt gewesen. Er wollte dem Nazi auf den Zahn fühlen. In seiner Berliner Arbeit hatte er sich zur Regel gemacht, die offizielle Literatur sehr genau zu verfolgen. Die ›Weltanschauung‹ dieser Herren steckte so voller Widersprüche, daß die Genossen, die nach seinen Anweisungen in verschiedenen Kulturorganisationen arbeiteten, die faschistischen Leiter durch Ausspielung der eigenen Argumente oft in Verlegenheit und die Zuhörer zum Nachdenken gebracht hatten. Das war Bergers Anwendung der Taktik des ›trojanischen Pferdes‹ gewesen. Hier wollte er etwas Ähnliches versuchen.«177
176 Dimitroff, »Die Offensive des Faschismus«, S. 106. 177 Kurella, Gronauer Akten, S. 164–165.
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Deutlicher hätte Kurellas Huldigungsadresse an den Kominternchef nicht ausfallen können, hatte dieser im Sommer 1935 doch den Kongressdelegierten erklärt, dass der Faschismus nur durch innere »Zersetzung« zu besiegen sei: »Genossen, ihr erinnert euch der alten Sage von der Einnahme Trojas. Troja hatte sich vor dem angreifenden Heer durch unbezwingbare Mauern geschützt. Und das angreifende Heer, das nicht wenig Verluste erlitten hatte, konnte den Sieg nicht erringen, bis es ihm nicht gelang, mit Hilfe des trojanischen Pferdes in das Innere, in das Herz des Feindes einzudringen.«178 Mit der Diskussion über Widukinds Platz in der nationalsozialistischen »Ahnengalerie« hatte Alfred Kurella seinen Protagonisten Walter Berger hierfür ein ganz außergewöhnliches »trojanisches Pferd« bauen lassen. Denn bei dem Gegensatz »Widukind« oder »Karl der Große« ging es – wie in dem Disput zwischen Geismar und Berger schon angeklungen – um mehr als nur den Hagener Theaterskandal. Dieser »Widerspruch in der faschistischen Weltanschauung« war nicht nur einer, der die katholische Bevölkerung von dem Regime entfremdete; es war auch und vor allem ein tiefer Riss, der durch die oberste Führungsriege der Nationalsozialisten selbst ging. Während Alfred Rosenberg – unterstützt von Heinrich Himmler – schon seit Jahren den sächsischen Widerstand unter Widukind zum völkischen »Mythus« hochstilisiert und dem »Sachsenschlächter« Karl die Rolle des Bösewichts zugedacht hatte und obwohl sogar Joseph Goebbels die Hagener Aufführung ausdrücklich genehmigt hatte, waren andere eher geneigt, dem Kaiser Karl dem Großen den Vorzug zu geben. Auslöser hierfür war vor allem das 1935 erschienene Buch »Karl der Große oder Charlemagne?«, mit dem acht deutsche Historiker nicht nur das Massaker an den sächsischen Widerständlern relativieren, sondern vor allem den Kaiser als »Gesamtpersönlichkeit von germanischdeutscher Art und Abstammung« rehabilitieren wollten.179 Es war Adolf Hitler selbst, der schließlich ein Machtwort sprechen musste, um das geschichtspolitische Durcheinander zu beenden. In seiner Reichsparteitagsrede vom September 1935 würdigte er Karl den Großen als Einiger der germanischen Stämme und beendete faktisch die
178 Dimitroff, »Die Offensive des Faschismus«, S. 128. 179 Vgl. Hampe u.a., Karl der Große oder Charlemagne?
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neu-völkischen Widukindträume Himmlers und Rosenbergs. Es sei falsch, »zu wehklagen über die eigenreligiösen und eigenstaatlichen Opfer, die dieser Weg der deutschen Volkwerdung erforderte. Was in diesen Jahrhunderten fiel, es mußte fallen.«180 Das »karolingisch-trojanische« Pferd war aber nicht das Einzige, mit dem Walter Berger die nationalsozialistische Weltanschauung zersetzen wollte. Ein weiteres Danaergeschenk – diesmal ein »existenzphilosophisches« – konnte man in der Unterhaltung finden, die Berger mit Geismar über den Sinn des Lebens geführt hatte. Hier waren es die Argumente des von den Nationalsozialisten so hoch geschätzten Philosophen Heidegger, die es Berger ermöglichten, Dimitroffs Aufforderung nachzukommen, »in das Herz des Feindes einzudringen« und den Sonderermittler aus der Bahn zu werfen. Ursprünglich hatte Alfred Kurella noch geglaubt, auch in dieser Szene einen expliziten Bezug zu der »trojanischen« Taktik des Kominternchefs herstellen zu müssen, doch die entsprechende Passage am Ende der Unterhaltung war späteren Kürzungen zum Opfer gefallen: »Im ersten Stock verabschiedete sich Geismar und schüttelte dem Lehrer beide Hände. Berger mußte lächeln. Ja oben in seinem Zimmer brach er in Lachen aus: ›Das hat eingeschlagen!‹ Er ging an das Bücherbrett und nahm sich die Odyssee heraus. Auf dem Bett liegend blätterte er eine Weile darin. Dann streckte er den Arm nach dem Schreibtisch aus und zog einen Bleistift herüber. Mit kräftigen Strichen merkte er eine Stelle an. Und auf das weiße Blatt am Ende des Buches schrieb er: 8. Gesang, Vers 292–95.«181 War Alfred Kurella also doch »ein gescheiter Kerl«? Mit den »Gronauer Akten« hatte er nicht nur einen linientreuen Roman (ganz im Sinne seines Alter Egos Heinrich Binder) vorlegen wollen, sondern zudem eine Geschichte konstruiert, die ganz bewusst die öffentlichen 180 Zitiert in Meyer, Deutsche und Engländer, S. 9. 181 Vgl. Manuskriptentwurf der Gronauer Akten, in: AdK Alfred-KurellaArchiv, Band 1087, nummeriertes Blatt 224. Mit der Versangabe der Odyssee hatte Kurella sich allerdings vertan; tatsächlich sind es die Verse 492–495.
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Verlautbarungen seines ehemaligen Vorgesetzten aufnehmen und bestätigen wollte. Von den gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Realitäten des Faschismus im ländlichen Raum, über die »mittelalterliche Barbarei« der konkreten Herrschaftsausübung, die ideologisch gesteuerte Geschichtsrevision, bis hin zur trojanischen List sollte der Roman ein Echo auf die bedeutendste Rede des neuen Generalsekretärs der Komintern liefern. Aber war all dies clever genug, um ihm die Rehabilitierung zu sichern? Keineswegs! Was Alfred Kurella hier unternahm, war nicht besonders einfallsreich, sondern ein weithin gängiges Verfahren. Nicht wenige Exilschriftsteller versuchten, sich in ihren literarischen oder auch theoretischen Arbeiten an den Aussagen führender Politiker zu orientieren – zuvörderst natürlich an den Worten Stalins, aber auch an jenen Dimitroffs. Damit wollten die Autoren ihre Treue zur Partei unterstreichen, verbunden mit der (manches Mal enttäuschten) Hoffnung, dass die Bezugnahme auf die öffentlichen Äußerungen der Parteiführer ihnen Sicherheit gewähren würde. Während Kurella die »Gronauer Akten« verfasste, arbeitete Friedrich Wolf mit gleicher Absicht an einem Theaterstück über die illegale Arbeit kommunistischer Jugendlicher im faschistischen Deutschland: »Das trojanische Pferd«. Wolf ging sogar so weit, dass er die Schlussvariante mit Dimitroff selbst besprechen wollte, um ganz sicher zu gehen, dass er die Parteilinie auch wirklich eingehalten hatte.182 Der Verweis auf das »trojanische Pferd« war nicht die einzige Aussage Dimitroffs, die in dieser Weise rezipiert wurde. Ausgiebig diskutiert wurde zum Beispiel auch Don Quichote – und dies nur, weil Dimitroff in seiner Rede zu den Schriftstellern Cervantes als leuchtendes Vorbild für den politischen Einfluss der Literatur erwähnt hatte: »Der ›Don Quijote‹ war die stärkste Waffe in der Händen der Bourgeoisie, in ihrem Kampf gegen den Feudalismus, gegen die Aristokratie. Das revolutionäre Proletariat braucht wenigstens einen einzigen kleinen Cervantes (Gelächter), der ihm eine ebensolche Waffe im Kampf geben könnte. (Gelächter, Beifall).«183 Diese Anregung aufnehmend, verfasste der bereits als »Versöhnler« gebrandmarkte Karl Schmückle (ein Freund Kurellas) noch 1936 meh-
182 Vgl. Schiller, Der Traum von Hitlers Sturz, S. 669. 183 Dimitroff, »Die revolutionäre Literatur«, S. 10–11.
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rere literaturwissenschaftliche Aufsätze über Don Quichote – ohne Erfolg: Schmückle sollte den Großen Terror nicht überleben.184 Mit den »Gronauer Akten« befand sich Alfred Kurella also in »guter« und »schlechter« Gesellschaft. Fast alle redeten und schrieben den Parteiführern nach dem Mund. Kurella wusste nur allzu gut, dass sein linientreues Echo auf Dimitroffs öffentliche Äußerungen eine notwendige, aber längst keine hinreichende Bedingung für die eigene Rehabilitierung darstellte. Aber er hatte vorgesorgt – die »Gronauer Akten« beinhalteten noch weit mehr.
184 Vgl. Schmückle, »Der aktuelle Don Quichote«. Schmückle wählte ganz explizit das Dimitroff-Zitat als Abschnittsüberschrift in diesem ersten von insgesamt drei Artikeln zu Quichote. Vgl. Reinhard Müller, »Don Quichote im Moskauer Exil«. Karl Schmückle wurde am 30. 11. 1937 verhaftet, am 24. 1. 1938 zum Tode verurteilt und am 14. 3. 1938 erschossen.
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Die »Gronauer Akten« – eine Tschernyschewski-Kopie
Alfred Kurella hatte seinen Roman nämlich nicht nur ideologisch auf Georgi Dimitroff zugeschrieben, sondern er beabsichtigte gleichzeitig in stilistischer Hinsicht den Geschmack des Kominternchefs zu treffen. Er wollte und konnte vielleicht kein »kleiner Cervantes« sein, augenscheinlich versuchte er aber, als »kleiner Tschernyschewski« zu reüssieren. Denn mit den »Gronauer Akten« ahmte Kurella in kaum verhüllter Art und Weise Dimitroffs erklärtes Lieblingsbuch »Was tun?« nach. Wie die »Gronauer Akten« war auch »Was tun?« nicht als »große Dichtung« gedacht, sondern eng an die damals gängigen Formen der Unterhaltungsliteratur angelehnt. Tschernyschewski hatte den Roman sprachlich bewusst einfach gehalten, hatte auf lyrisches Ornament weitgehend verzichtet und stattdessen der Unmittelbarkeit der gesellschaftskritischen Haltung seiner Protagonisten vertraut, die besonders in der direkten Konfrontation mit den althergebrachten Konventionen deutlich wurde. Wenn er es überhaupt auf einen literarischen Effekt angelegt hatte, dann vielleicht darauf, die eingefahrenen Moralvorstellungen mit für diese Zeit ungewöhnlich expliziten Liebesszenen aufzubrechen. All dies lässt sich gleichermaßen über Alfred Kurellas Roman sagen. Auch er hatte für sein antifaschistischen Anliegen mit dem Kriminalroman ein recht junges Genre der Trivialliteratur gewählt, hatte mit (über-)deutlich gezeichneten Charakteren seine politische Botschaft unmissverständlich machen wollen, und auch er hatte recht explizite Darstellungen von Sex und Gewalt eingestreut. Noch in einer anderen – viel bedeutsameren – Hinsicht knüpften die »Gronauer Akten« an Tschernyschewskis »Was tun?« an: Alfred Kurella imitierte den doppelbödigen Erzählstil des revolutionär-demokratischen Russen. Der Roman »Was tun?« funktionierte bekanntlich auf zwei Ebenen. Sicher konnte und sollte jeder die sozialmoralische Sprengkraft der Liebesgeschichte zwischen Wera Pawlowna und Dmitri Lopuchow erkennen, doch für den versierteren Leser hielt der Roman noch viele weitere Informationen bereit. Nicolai Tschernyschewski bediente sich dazu einer Erzählweise, die unzählige ver88
steckte Bezüge zu aktuellen kulturellen und politischen Entwicklungen enthielt. Der Grund für die Verschleierung lag in den Umständen, unter denen er den Roman verfasst hatte. Wegen seiner politischen Überzeugungen verhaftet und in einer Einzelzelle der Peter-undPaul-Festung in Petersburg eingekerkert, versuchte Tschernyschewski mit dem Roman an der unvermeidlichen Zensur vorbei mit seinen Unterstützern zu kommunizieren. Diese später als »äsopisch« bezeichnete Schreibweise – nach dem Begründer der europäischen Fabeldichtung – setzte voraus, dass Autor und Leser, nicht aber der Zensor, über einen geteilten Wissenshorizont verfügten, der es den Adressaten erlaubte, die versteckten Botschaften, politischen Erklärungen und Anweisungen zu verstehen. So verwies Tschernyschewski zum Beispiel wiederholt in codierter Form auf Ludwig Feuerbach als Quelle seiner sozialrevolutionären Überzeugungen185 und ließ einen seiner Helden, den Revolutionsführer Rachmetow, die Werke bedeutender Philosophen und Nationalökonomen beanstanden, die der Autor selbst in der Vergangenheit kritisiert hatte, da sie seiner Meinung nach eine Apologie der bestehenden Machtverhältnisse geliefert hatten.186 Seinen eigenen Kampf gegen die russische Leibeigenschaft setzte Tschernyschewski gleich an mehreren Stellen in Beziehung zum Kampf gegen die Sklaverei in Nordamerika. Er ließ einen Abolitionisten auftreten, erwähnte den Bürgerkrieg in Kansas, lobte die Autorin Harriet Beecher-Stowe und verwies mit der Erwähnung einer amerikanischen Tageszeitung namens »Tribune« auf die New York Daily Tribune, in der unter anderen auch Karl Marx und Friedrich Engels publiziert hatten.187 Aber es blieb nicht bei rein politischen Bezügen. Auch zu Kunst und Literatur äußerte sich Tschernyschewski vielfach, aber verschlüsselt. So kritisierte der Roman »Was tun?« jene russischen Theoretiker und Literaten, die eine von gesellschaftlicher Verantwortung freie Kunst propagierten, ließ französische und russische Revolutionslieder erklingen und erlaubte seiner Protagonistin Wera Pawlowna die emanzipatorischen Gesellschaftsromane George Sands und die kritisch-realistischen Elendsbeschreibungen von Charles Dickens zu loben, die 185 Vgl. Tschernyschewski, Was tun?, auf den Seiten 105, 167, 201 und 346. 186 Vgl. ebenda, S. 336. 187 Vgl. in der Reihenfolge der Erwähnung, ebenda, auf den Seiten 511, 201, 270, 527 und 531.
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besagten Autoren aber dafür zu kritisieren, dass sie selbst ihre Ideen für nicht verwirklichbar hielten.188 Ganz ohne revolutionäre Programmatik demonstrierte Tschernyschewski auch seine umfassende kulturelle Bildung, indem er seine Protagonisten über Klassiker der Weltliteratur – allen voran Shakespeare, aber auch Goethe, Schiller und viele andere mehr – ebenso fachsimpeln ließ wie über erfolgreiche aktuelle Opernaufführungen in Sankt Petersburg.189 Zu guter Letzt ließ Tschernyschewski sogar noch sich selbst auftreten. Nachdem Rachmetow den Ausbruch einer Bauernrevolution innerhalb von drei Jahren vorausgesagt hatte,190 versetzt die Schlussszene des 1863 fertiggestellten Romans die Handlung in die Zukunft, genauer: in das Jahr 1865. Die aus früheren Kapiteln bekannte »Dame in Schwarz« – äsopisch: Tschernyschewskis Ehefrau Olga – ist nun nicht länger in Trauer. Sie trägt ein rosa Kleid sowie einen Hut gleicher Farbe und hält einen Blumenstrauß in der Hand. In der Kutsche neben ihr sitzt ein »etwa dreißigjähriger Mann«, dem sie gesteht: »Zwei Jahre, mein Lieber, habe ich auf diesen Tag gewartet.« Die Revolution hat stattgefunden, Tschernyschewski ist befreit, und gemeinsam mit seiner geliebten Frau ist er auf dem Weg in die »Passage« auf dem Petersburger Newski-Prospekt, um eine politische Rede zu halten. Mit einem solchen »Happy End« konnte Alfred Kurella in seinem antifaschistischen Roman von 1936 natürlich nicht aufwarten. Trotzdem war unübersehbar, dass er die gleiche doppelbödige Erzählweise wählte wie Tschernyschewski. Wie in »Was tun?« wimmelt es auch in den »Gronauer Akten« von äsopischen Anspielungen, die nur einem eingeweihten Leser auffallen sollten. Hinter vielen dieser leicht zu überlesenden Textstellen verstecken sich Referenzen auf reale Begebenheiten, oftmals aktuelle politische oder auch kulturelle Entwicklungen. Während Tschernyschewski zum Beispiel mehrere Referenzen zum zeitgenössischen Operngeschehen eingebaut hatte – so ließ er etwa die damals populäre Sopranistin Angelina Bozio auftreten191 –,
188 Vgl. in der Reihenfolge der Erwähnung, ebenda, auf den Seiten 124, 10, 533 und 93–94. 189 Vgl. unter vielen solcher Verweise, ebenda, auf den Seiten 272, 278, 309 und 440. 190 Vgl. ebenda, S. 341. 191 Vgl. u.a. Wera Pawlownas dritten Traum, in: Tschernyschewski, Was tun?, S. 278ff.
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durfte der Klavier spielende Walter Berger einen auch in Moskau berühmten Pianisten kritisieren: »Nein, Lammond macht das nicht richtig, dachte er wieder. Dieses bohrende Halbmotiv der rechten Hand ist nicht die Hauptsache. Die schweren Schritte, dieses ruhige, sieghafte Motiv des Basses, das die Phrase der ersten Takte wieder aufnimmt und variiert, muß stärker hervortreten. Bei Lammond war das kaum zu hören.«192 Der Leser musste schon selbst kulturell so weit gebildet sein, um hier den schottischen Pianisten und Brahms-Schüler Frederic Lamond zu identifizieren. Fast auf jeder Seite der »Gronauer Akten« fanden sich solche Bezüge zu Literatur, Kunst und Politik, und sie alle folgten dem gleichen Muster. Wie Tschernyschewski setzte auch Alfred Kurella beim Leser nicht nur spezifische Kenntnisse, sondern auch die Bereitschaft voraus, die äsopischen Bezüge entschlüsseln zu wollen. Ein derart williger und gewiefter Leser konnte in vielen vermeintlich nebensächlichen Bemerkungen ganz handfeste Geschichten über das faschistische Deutschland herauslesen. So zum Beispiel als der junge Edgar von Hadeln seinem Lehrer Berger von seiner ersten Alkoholerfahrung erzählte: »Da standen so große Tonkrüge mit Apfelwein auf dem Tisch. Ich wußte nicht, was das ist, und dachte, es wäre Limonade. Die Großen haben nicht auf mich aufgepaßt. Sie zankten sich herum wegen einem Pfarrer mit einem Bart und wegen dem Reichsbischof Maier oder so. Da habe ich fünf Wassergläser hintereinander getrunken. Es schmeckte so gut!«193 Harmlose Jugendsünden? Wie in der Geschichtsstunde fand sich auch hier ein versteckter Hinweis darauf, dass die Gleichschaltung in Deutschland noch nicht vollständig gelungen war. Um diesen Hinweis zu verstehen, musste man allerdings in dem »Reichsbischof Maier oder so« den Reichsbischof Ludwig Müller erkennen und den »Pfarrer mit einem Bart« als Theophil Wurm identifizieren, den Bischof der evangelischen Landeskirche Baden-Württemberg. Nur wer das konnte, verstand Kurellas Hinweis auf die innerkirchliche Opposition gegen die deutschchristliche Gleichschaltung. Mit dem im April 1934 von Theophil Wurm abgehaltenen Ulmer Gottesdienst hatte sich die-
192 Kurella, Gronauer Akten, S. 29. 193 Ebenda, S. 195.
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ser Widerstand als Bekennende Kirche zu formieren begonnen. In weiteren äsopischen Abschnitten widmete sich Kurella unter anderem der Gleichschaltung der Redaktion der Frankfurter Zeitung oder auch der Anbiederung des Bremer Kaffeehändlers und Kunstmäzens Ludwig Roselius an die neuen Machthaber.194 Sehr verschlüsselt nahm er sich sogar die homophoben Dimensionen des sogenannten RöhmPutsches vor. Hierzu ließ er den Sonderermittler Geismar ein Gedicht rezitieren, das in ihm als altgedientem SA-Mann die verdrängte Erinnerung an jene Säuberungswelle wachrief und ihn dazu brachte, ein verzweifeltes »Oh Gerth, Gerth!« in sein Tagebuch zu schreiben.195 Diesen unkommentierten Hinweis konnte wiederum nur verstehen, wer mit dem Namen Daniel Gerth vertraut war. Gerth – ein hochdekorierter deutscher Jagdflieger, ehemaliger Freikorpsführer und SA-Hauptmann – war am 30. Juni 1934 als Mitglied der vermeintlich homosexuellen Verschwörung hingerichtet worden. Dass Alfred Kurella sich einer ähnlich doppeldeutigen Erzählweise wie Nicolai Tschernyschewski bediente, war damals offensichtlich, aber natürlich noch kein Beweis dafür, dass er hier bewusst kopiert hatte.196 Auch die Tatsache, dass sich in den »Gronauer Akten« wie in »Was tun?« zahlreiche Hamlet-Bezüge, Traumsequenzen, GoetheZitate und auch viele Lieder und Gedichte finden, macht diesen Schluss noch nicht zwingend. Und doch gibt es ein kaum zu wiederlegendes Indiz dafür, dass Alfred Kurella beim Verfassen der »Gronauer Akten« Tschernyschewskis »Was tun?« nicht nur im Sinn, sondern vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte. Kurella hatte in der Tat kopiert, und das Ergebnis findet sich im Charakter des Kommunisten Walter Berger. Mit dem eigentlichen Helden seines Romans wollte er ganz offensichtlich einen Wiedergänger von Tschernyschewskis Hauptfigur Dmitri Lopuchow erschaffen. Beide – Lopuchow und Berger – werden als sportliche, attraktive junge Männer vorgestellt.197 Beide arbeiteten als Hauslehrer und un-
194 Vgl. ebenda, S. 140 und S. 199–200. 195 Ebenda, S. 78. 196 Auch andere Autoren schrieben äsopisch, vgl. exemplarisch die exzellente Studie über Gustav Regler von Walter, Von der Freiheit eines kommunistischen Christenmenschen. 197 Zu ihrer Sportlichkeit vgl. Kurella, Gronauer Akten, S. 121, und Tschernyschewski, Was tun?, S. 235.
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terrichteten den jeweils jüngsten Spross einer Familie, deren Wertvorstellungen sie nicht unbedingt teilten.198 Deshalb mussten beide sich bedeckt halten und ihre wahren Ansichten hinter einem Schleier äsopischer Anspielungen verstecken. Für beide war die Tätigkeit als Hauslehrer nur vorgeschoben, tatsächlich verstanden sie sich als »Propagandisten« der kommenden Revolution.199 Beide waren äußerst intelligent, ausgesprochen belesen und mit musischem Talent gesegnet, was sie bei geselligem Klavierspiel unter Beweis stellen konnten. Beide waren offenkundig bürgerlicher Herkunft; bei Lopuchow wurden die Familienverhältnisse explizit benannt, bei Berger nur angedeutet, als er sich an seine Kindheit erinnerte, in der er die Schulferien auf dem Landgut eines Onkels nahe Königsberg verbracht hatte.200 Trotz ihrer Zugehörigkeit zu den privilegierten Klassen kämpften sie aber beide für die Befreiung der Unterdrückten und waren hierfür sogar bereit, alle sozialen Bindungen aufzugeben und sogar spurlos zu verschwinden. Ganz im Sinne von Lenins Schrift »Was tun?« verkörperten Berger und Lopuchow also den Typus des Berufsrevolutionärs, der – obwohl selbst nicht der ausgebeuteten Klasse angehörend – sein ganzes Leben in den Dienst der revolutionären Sache stellt. Und dies nicht etwa aus Mitgefühl, sondern als logische Konsequenz einer wissenschaftlichen Erkenntnis, einer materialistischen Theorie. Echte sozialistische Helden also, die – als wären die positiven Übereinstimmungen noch nicht genug – sogar noch die einzige Schwäche teilen durften, die ihnen zugeschrieben wurde: Sowohl Dmitri Lopuchow als auch Walter Berger hatten ein Lungenleiden!201 Wie nahe Alfred Kurella beim Verfassen der »Gronauer Akten« am Text von »Was tun?« gearbeitet hat, lässt sich am deutlichsten anhand einer eher belanglosen Szene belegen, in deren Mittelpunkt ein geselliger Zeitvertreib steht.202 Nachdem der Sonderermittler Günther
198 Vgl. Kurella, Gronauer Akten, passim, und Tschernyschewski, Was tun?, S. 73. 199 Vgl. Kurella, Gronauer Akten, S. 31, und Tschernyschewski, Was tun?, S. 117ff. 200 Vgl. Kurella, Gronauer Akten, S. 31, und Tschernyschewski, Was tun?, S. 240f. 201 Vgl. Kurella, Gronauer Akten, S. 31, und Tschernyschewski, Was tun?, S. 235ff. 202 Vgl. Kurella, Gronauer Akten S. 93 und S. 96.
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Geismar in das Gutshaus derer von Hadeln eingezogen war, freute sich die Dame des Hauses darüber, dass nun ein weiterer Mitspieler für das abendliche Kartenspiel zur Verfügung stand. Statt der üblichen Skatrunde mit ihrem Sohn Hans und dem Hauslehrer Walter Berger könnte man ja nun endlich einmal Bridge spielen. Doch der Hauslehrer musste passen. Er hatte nur mit großer Mühe Skat erlernt – Bridge konnte er nicht. Die Szene auf Gut Gronau korrespondiert mit einer ähnlichen Begebenheit im Elternhaus von Wera Pawlowna, als während einer Abendgesellschaft auch ein Kartenspiel angesetzt wurde.203 Im Gegensatz zu Walter Berger war der Hauslehrer Dmitri Lopuchow mit den Regeln vertraut und spielte mit. Doch natürlich konnten die Russen sich nicht mit Bridge vergnügen – dieses Spiel wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt. Stattdessen spielen sie eine Partie Whist – ein Vorläufer des Bridge-Spiels. In einem frühen Manuskriptentwurf der »Gronauer Akten«, der heute noch im Archiv der Akademie der Künste einsehbar ist, wollte auch Freifrau von Hadeln unbedingt Whist spielen und nicht etwa Bridge.204 Erst beim Redigieren der letzten Fassung hatte Alfred Kurella den Übertragungsfehler wohl erkannt: Im Deutschland der 1930er Jahre spielte niemand mehr Whist, nachdem es im frühen 20. Jahrhundert fast vollständig von Bridge abgelöst worden war. Auch die Kopie wollte also mit Bedacht angefertigt sein. Mit den »Gronauer Akten« hatte Alfred Kurella also versucht, Tschernyschewskis »Was tun?« nachzuahmen. Lässt sich daraus nun aber schließen, dass er Georgi Dimitroff hatte gefallen wollen? Dass er das Lieblingsbuch des Kominternchefs nur deshalb zum Vorbild für seinen eigenen Roman genommen hatte, um diesen zu erfreuen? Nicht unbedingt. Denn es könnte ebenso gut sein, dass Alfred Kurella im Zuge der Beschäftigung mit den theoretischen Arbeiten Tschernyschewskis eine ganz eigene Begeisterung für dessen Romanwerk entwickelt hatte. Aber selbst wenn dem so war, gibt es zahlreiche andere Hinweise darauf, dass der Autor der »Gronauer Akten« es vor allem darauf abgesehen hatte, seinem ehemaligen Vorgesetzten zu schmeicheln. Ganz tief verbeugte sich Kurella vor Georgi Dimitroff in der
203 Vgl. Tschernyschewski, Was tun?, S. 85. 204 Vgl. Kurella, Gronauer Akten, Manuskriptentwurf, S. 96, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1090/1.
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Person des Landarbeiters Hans Moser. Als dieser nach schweren Misshandlungen schließlich zugab, Kommunist zu sein, tat er das in vorbildlicher (oder besser: einem Vorbild folgender) Art und Weise. Günther Geismar berichtet davon in seinem Tagebuch: »Er hielt sich kaum aufrecht, aber er war irgendwie verwandelt. Ich wiederholte die Frage, ob er Kommunist sei. ›Ja‹, sagte er. Er konnte kaum reden, aber er schrie beinah. ›Ja, es waren Flugblätter drin. Ja, ich bin Kommunist. Aber das ist eben der Beweis, daß ich unschuldig bin. Ihr wollt mich zum Mörder machen. Ich bin kein Mörder. Das überlasse ich euch! Der wahre Mörder […].‹ Jetzt ging der [anwesende SS-Mann] Piesteritz hoch. ›Wie, du Schwein, du willst wohl hier den Dimitroff machen, was?‹ Er wollte Moser wieder schlagen. Aber der wich nicht zurück. Im Gegenteil, er trat auf Piesteritz zu, er sah furchtbar aus mit dem Blut, das ihm aus der Nase floß. Ich dachte, er würde wieder schreien. Aber er sagte ganz langsam: ›Du wagst es, diesen Namen in den Mund zu nehmen?‹ Jetzt trat Piesteritz einen Schritt zurück. Moser sprach schneller und lauter: ›Der kommt dir auf die Zunge?‹ Und dann hob er die Hände mit der Kette, als wollte er sie zerreißen oder uns damit totschlagen. Er schrie: ›Der wird euch noch einmal allen im Halse steckenbleiben, dieser Name […].‹«205 Diese Szene kann man als doppelte Ehrerbietung an Georgi Dimitroff, den Helden von Leipzig, verstehen. Nicht nur dem SS-Mann Piesteritz war es aufgefallen; auch jeder Leser in den 1930er Jahren hätte es sofort verstanden: Kurella ließ Moser genau jene Argumente wiederholen, die Dimitroff im Reichstagsbrandprozess zu seiner Verteidigung vorgebracht hatte. Auch hier handelte es sich um eine offensichtliche »Fabrikation der Anklage«, auch hier war das stolze Bekenntnis zum Kommunismus nicht etwa ein Schuldeingeständnis, sondern im Gegenteil ein Beweis der Unschuld, auch hier sollte der Beschuldigte zum Mörder/Brandstifter »gemacht« werden, obwohl die »wahren Mörder/Brandstifter« unter den Anklägern selbst zu suchen wa-
205 Kurella, Gronauer Akten, S. 222.
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ren.206 Die zweite Form der Huldigung lag darin, dass mit dieser Szene den Heldentaten des Bulgaren weitreichende Strahlkraft beschieden wurde – wie schon in Kurellas Spiegelhandlung zum Prozessgeschehen im Spielfilm »Der Kämpfer«. Allein die Namensnennung Dimitroffs ließ Hans Moser neuen, gar übermenschlichen Mut schöpfen und verwandelte ihn in einen Helden, der seinen Peinigern unerschrocken gegenübertreten konnte. Die von Tschernyschewski entlehnte äsopische Erzählweise erlaubte es Alfred Kurella, die Parallelisierung der Schicksale der Angeklagten von Leipzig und Gut Gronau noch weiter zu treiben. Genau wie Georgi Dimitroff weigerte sich auch Hans Moser, die Vernehmungsprotokolle zu unterzeichnen.207 Und wie der Bulgare drei Jahre zuvor, protestierte auch der niedersächsische Landarbeiter gegen die in seiner Abwesenheit vorgenommene Hausdurchsuchung.208 Am deutlichsten war jedoch die zweifache Erwähnung der Kette, mit der Hans Moser an den Händen gefesselt war. In der Untersuchungshaft in Leipzig hatte Georgi Dimitroff fast fünf Monate darunter leiden müssen, Tag und Nacht an den Händen gefesselt zu sein.209 Kurella baute noch einen weiteren verschlüsselten Verweis auf den Leipziger Prozess ein; diesmal allerdings nicht an die Figur Hans Mosers geknüpft. Stattdessen ließ Kurella den Sonderermittler Geismar 206 Dass Kurella diese Übereinstimmungen ganz bewusst eingefügt hat, wird aus seinen frühen Notizen zu den Gronauer Akten deutlich, wo von einer »sichtbaren Fabrikation der Anklage« die Rede war, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1085. Genau diese Formulierung findet sich auch in den von Kurella zusammengestellten Aufzeichnungen Dimitroffs, vgl. Dimitroff, Briefe und Aufzeichnungen, S. 91. Hans Mosers abgebrochener Halbsatz »die wahren Mörder …« korrespondiert hingegen mit dem Titel des von Willi Münzenberg zum Reichstagsbrandprozess initiierten Braunbuchs II, vgl. o.A., Dimitroff contra Göring. 207 Vgl. Kurella, Gronauer Akten, S. 115, und Dimitroff, Briefe und Aufzeichnungen, S. 15. 208 Vgl. Kurella, Gronauer Akten, S. 114, und Dimitroff, Briefe und Aufzeichnungen, S. 18. 209 Vgl. Kurella, Gronauer Akten, S. 193 und 202, und Dimitroff, Briefe und Aufzeichnungen, S. 59–61. Schon in der Besprechung des Szenariums zum Spielfilm »Kämpfer« hatte Maxim Gorki kritisiert, dass sich »die Hände in Fesseln zu oft wiederholen«, vgl. Protokollarische Aufzeichnungen über Kurellas Treffen mit Gorki, Wangenheim, Ivens u.a., am 9. 4. 1935, in: Agde, Kämpfer, S. 22.
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einen nicht im Buch abgedruckten Brief seiner Frau beantworten, in dem diese wohl den neuesten Tratsch aus der Hauptstadt weitergegeben hatte. Geismar schrieb zurück: »Sei mir nicht böse, wenn ich Dir das sage, aber für Dich und für uns ist es ein Glück, daß dieser junge Dröscher nach S. geht. Ich habe Dein Interesse für ihn nie ganz verstanden. Er ist doch im Grunde ein Abenteurer und dabei ein ziemlich skrupelloser Don Juan.«210 Der Leser wird im Unklaren darüber gelassen, um wen es hier geht; im ganzen Roman taucht der Name Dröscher nur dieses eine Mal auf. Was die meisten für eine bedeutungslose Anspielung auf einen Seitensprung der Gattin halten mussten, war aber dazu gedacht, bei Georgi Dimitroff ganz andere Assoziationen auszulösen. Dr. Ernst Dröscher war einer der drei Hauptbelastungszeugen, die die faschistischen Ankläger gegen den Bulgaren aufgeboten hatten. Der Mitarbeiter der Presseabteilung der NSDAP-Fraktion hatte nicht nur behauptet, Dimitroff gemeinsam mit einem Mitangeklagten im Reichstag gesehen zu haben, sondern auch, dass ihm das Gesicht des Angeklagten acht Jahre zuvor schon einmal aufgefallen sei: Auf einem Fahndungsplakat, mit dem Dimitroff für den Bombenanschlag auf die Kathedrale von Sofia verantwortlich gemacht worden war.211 Diesen Dröscher nun als »skrupellosen Don Juan« zu bezeichnen, war nicht etwa ein Verweis auf amouröse Abenteuer, sondern auf die Methode des spanischen Edelmanns, fremde Identitäten anzunehmen. Einer der Glanzpunkte in Dimitroffs Verteidigung war nämlich die Demaskierung des besagten Zeugen Dröscher. Dessen Aussage war schon vor Prozessbeginn fast wortgleich in einem Leitartikel des faschistischen Kampfblatts Der Stürmer erschienen, inklusive der Bezugnahme auf das besagte Fahndungsplakat. Gezeichnet war der Artikel mit dem Namen des Feuilletonchefs Job Zimmermann. Vor Gericht hatte Dimitroff nun verlangt, dass neben Dröscher auch Zimmermann geladen werden sollte, denn er wollte beweisen, dass es sich bei den beiden um ein und dieselbe Person handelte. Dimitroffs Antrag wurde abgelehnt, doch damit verstärkte sich nur der Eindruck, dass der Belastungszeuge 210 Kurella, Gronauer Akten, S. 177. 211 Hier handelte es sich wohl um eine Namensverwechslung. Für den Bombenanschlag in Sofia war laut Auskunft der bulgarischen Regierung ein gewisser Stefan Dimitroff verantwortlich.
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Dröscher von der Anklage »gekauft« worden war.212 Einmal mehr verneigte sich Alfred Kurella also vor dem Helden von Leipzig. Auch in die schon erwähnte Szene der Geschichtsstunde hatte Kurella ursprünglich eine Lobrede auf Georgi Dimitroff einflechten wollen. Dass Walter Berger hier ausgerechnet Karl den Großen durchgenommen hatte, lag nämlich nicht nur an dessen Bedeutung für die faschistische Geschichtspolitik, sondern hatte wiederum einen direkten Bezug zum Leipziger Prozess. In einer weiteren frühen Fassung des Buchmanuskripts leitete der Hauslehrer die Unterrichtsstunde mit einigen Worten zur Vorgeschichte des karolingischen Reichs ein: »Die Völkerwanderung war noch nicht abgeschlossen. Eine neue Welle drang von Osten vor, die slawische, mit den Wilzen und Sorben und Avaren an der Spitze. Ein Jahrhundert später machten auch die Slawen, vor allem die südöstlichen Stämme, eine schnell aufsteigende Kulturentwicklung durch. Das war, als sie von Byzanz aus zum Christentum bekehrt wurden, eine eigene Schrift bekamen und so das Erbe der antiken Kulturwelt antraten. Später waren diese Völker, vor allem die Bulgaren – Berger gab diesem Wort eine besondere Betonung – dank ihrer sprachlichen und kulturellen Einheit sogar manchmal den Deutschen überlegen, bei denen sich damals wieder einmal heftige innere Kämpfe abspielten.«213 In dieser Einleitung Bergers steckte nichts anderes als jene berühmte Passage aus Georgi Dimitroffs Schlussplädoyer vor dem Leipziger Gericht, mit der er sich gegen die Beleidigung des bulgarischen Volks verwahrt hatte: »In der Zeit, als der ›deutsche‹ Kaiser Karl V. zu sagen pflegte, daß er nur mit seinen Pferden deutsch spricht, als die deutschen Adligen und die deutsche Intelligenz nur Latein schrieben und sich der deutschen Sprache schämten, haben im ›barbarischen Bulgarien‹ die Apostel Cyrill und Methodius die altbulgarische Schrift geschaffen und verbreitet. Das bulgarische Volk hat mit allen Kräften und hartnäckig gegen das fremde Joch gekämpft. Ich habe keinen Anlaß, mich dessen zu schämen, daß ich Bulgare bin, und bin stolz darauf, ein Sohn der bulgarischen Arbeiterklasse zu sein.«214 212 Vgl. Dimitroff, Reichstagsbrandprozess, S. 88–92. 213 Kurella, Gronauer Akten, Manuskriptentwurf, Nummeriertes Blatt 162, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1087. 214 o.A., Dimitroff contra Göring, S, 317.
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Bei der Überarbeitung des Manuskripts hatte Alfred Kurella die fragliche Passage dann aber doch gestrichen. Sogar ihm selbst war diese offene Lobhudelei wohl zu peinlich. Aber auch ohne die kulturgeschichtliche Würdigung des bulgarischen Volkes lässt sich nunmehr erkennen, dass die »Gronauer Akten« weit mehr darstellten als nur ein dem Sozialistischen Realismus verpflichteter Kriminalroman. Bei genauerer Lesart hatte Alfred Kurella Mitte der 1930er Jahre nicht nur ein linientreues Pamphlet verfasst, mit dem die Faschismuskonzeption des VII. Weltkongresses literarisch unterfüttert und zahlreiche politische Verlautbarungen des neuen Generalsekretärs der Komintern aufgenommen und bestätigt werden sollten. Die »Gronauer Akten« imitierten zudem den äsopischen Erzählstil von Georgi Dimitroffs Lieblingsroman »Was tun?« und ließen dessen Hauptfigur Dmitri Lopuchow als Walter Berger auferstehen. Zu guter Letzt hatte Alfred Kurella noch einige direkte und verschleierte Verweise auf den Reichstagsbrandprozess eingebaut, die dem Helden von Leipzig ganz persönlich schmeicheln sollten. Der Roman war also in allen seinen Einzelheiten auf Georgi Dimitroff zugeschrieben; so sehr, dass man fast glauben könnte, Al-
Kurella, ca. 1931 Lesezeichen des Verlags »Universum Bücherei«, Privatbesitz
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fred Kurella habe beim Schreiben nur diesen einen Leser im Sinn gehabt. Aber sollte der in Ungnade gefallene Autor wirklich gehofft haben, seine mit großem Aufwand betriebene, letztlich aber doch etwas plumpe Anbiederung würde den Kominternchef dazu bewegen, umstandslos für die ersehnte Rehabilitierung zu sorgen? War der erfahrene Parteifunktionär wirklich so naiv? Wenn ja, dann scheint es allerdings, als habe Kurella einen dummen Fehler begangen. Denn von Georgi Dimitroff wusste man nicht nur, dass er Tschernyschewski schätzte, sondern auch, mit welcher Figur in »Was tun?« er sich am meisten identifizierte: »Mein besonderer Liebling war Rachmetow. Ich hatte mir vorgenommen, standhaft, ausdauernd, furchtlos und selbstlos zu sein, meinen Willen und Charakter im Kampf gegen alle Schwierigkeiten und Entbehrungen zu stählen und mein Leben in den Dienst der großen Sache der Arbeiterklasse zu stellen, mit einem Wort: genau so zu werden, wie ich mir diesen makellosen Helden von Tschernyschewski vorgestellt hatte.«215 Sollte Alfred Kurella tatsächlich die Absicht gehabt haben, sich bei Georgi Dimitroff mit einer aktualisierten Version von »Was tun?« anzubiedern, dann hatte er dafür mit Dmitri Lopuchow ganz offensichtlich den falschen Helden gewählt. Hatte er vielleicht nichts von Dimitroffs Vorliebe für Rachmetow gewusst? Sehr unwahrscheinlich. Oder hatte Kurella etwa doch mit Absicht den jungen Hauslehrer Lopuchow als Vorbild für Walter Berger gewählt und bewusst auf eine Kopie des erfahrenen Revolutionsführers Rachmetow verzichtet? Wenn das zutrifft, dann stellt sich die Frage, was – oder besser: wen – sein Leser Dimitroff in dieser Charakterübertragung erkennen sollte? Sich selbst sicher nicht, denn der Bulgare sah sich ja offensichtlich als Rachmetow. Wen aber dann? Eine erste Ahnung konnte der Leser mit der Beschreibung der äußeren Erscheinung von Walter Berger bekommen, die hier im Vergleich zu den Zügen des Freiherrn Hans von Hadeln recht positiv ausfiel: »Wenn man die beiden jungen Männer so nebeneinander stehen sah, hätte man sie fast für Brüder halten können. Sie waren annähernd von gleicher Größe. Die Gesichter hatten den gleichen ovalen
215 So Dimitroff im Vorwort einer russischen Neuauflage des Buches aus dem Jahre 1935, zitiert in: Brunnbauer, Die sozialistische Lebensweise, S. 72.
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Schnitt und die etwas zu starken Backenknochen zu beiden Seiten der scharfgeschnittenen Nase mit dem leichten Höcker verrieten den slawischen Einschlag, der das eigentlich typische deutsche Gesicht ausmacht. Einen Unterschied bildete nur der Mund. Der junge Freiherr hatte aufgeworfene starke Lippen, die in ständiger Bewegung zu sein schienen, und einen zynischen Zug um die Mundwinkel. Bei Walter Berger sah man eigentlich keine Lippen; er pflegte im Scherz zu sagen, er sei ohne Mund geboren und sein Vater habe mit einem Rasiermesser einen Schnitt in die glatte Haut unter der Nase ziehen müssen. Es war wirklich nur ein feiner, leichtgeschwungener Strich zu sehen. Die kleinen Einschnitte, die er an den Mundwinkeln hatte, verliehen dem Gesicht einen skeptischen Zug. Aber auch in der Haltung waren die beiden Männer verschieden. Ihre gleich schlanken und breitschultrigen Gestalten zeigten eine verschiedene Ausbildung an, bei dem Freiherrn spürte man den Kasernenhof: Brust raus, Bauch rein, stillgestanden!, während man dem Hauslehrer den Skiläufer, Schwimmer und Springer ansah.«216 In den Zügen Walter Bergers aber auch in seiner sportlichen Erscheinung sollten zeitgenössische Leser und vor allem Georgi Dimitroff ohne große Mühe eine reale Person erkennen. Die Beschreibung von Walter Berger traf nämlich ganz offensichtlich auf Alfred Kurella selbst zu! Walter Berger repräsentierte nicht nur Lopuchow, sondern auch den Autor der »Gronauer Akten«. Der Positivheld des Romans war kein Doppel- sondern ein Dreifachcharakter, mithin eine transitive Äquivalenzrelation der formalen Logik: Wenn A=B und B=C, dann ist auch A=C. Alfred Kurella war Walter Berger; Walter Berger war Dmitri Lopuchow; also war Alfred Kurella auch Dmitri Lopuchow! Und gerade weil Georgi Dimitroff sich gerne als Rachmetow sehen wollte, lag genau darin die Botschaft, die Kurella seinem ehemaligen Vorgesetzten senden wollte: Sie, Genosse Dimitroff, sind der große, mutige Revolutionsführer Rachmetow – ich hingegen bin der noch suchende, aber willige und vor allem loyale Berufsrevolutionär Lopuchow. Würde die Botschaft ankommen?
216 Kurella, Gronauer Akten, S. 28.
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Die »Gronauer Akten« – eine Selbstdarstellung
Wer in den »Gronauer Akten« die recht unverhohlene Tschernyschewski-Kopie erkannt hatte, den dürfte es nicht überrascht haben, dass Alfred Kurella sich auch die literarische Selbstdarstellung von seinem russischen Vorbild abgeschaut hatte – und das sogar in doppelter Hinsicht. Nicht nur, dass Tschernyschewski in der Schlussszene seines Romans die eigene Befreiung in Szene gesetzt hatte, auch in der von Kurella übersetzten theoretischen Arbeit »Ästhetik und Leben« hatte er die Möglichkeit der Charakterübertragung von einem Autor auf seinen Protagonisten behandelt. Dies sei ein gängiges Verfahren der »Typenbildung« in der Literatur: »Wenn ein Dichter seinen Charakter ›schafft‹, schwebt seiner Phantasie gewöhnlich die Gestalt einer wirklichen Person vor; sie ›reproduziert‹ er zuweilen bewußt, zuweilen unbewußt in einer typischen Person. Zum Beweis erinnern wir an zahllose Werke, in denen die Hauptperson ein mehr oder weniger getreues Portrait des Autors selbst ist (zum Beispiel Faust, Don Carlos und Marquis Posa, die Helden Byrons, die Helden und Heldinnen von George Sand, Lenski, Onegin, Petschorin).«217 Wenn sich jemand aber selbst in den Mittelpunkt einer Erzählung rückt und, wie Alfred Kurella, dabei sogar noch die Heldenrolle annehmen will – würde man einem solchen Autor nicht maßlose Selbstgefälligkeit vorwerfen? Es wäre sicher nicht übertrieben, Kurellas »Selbstbeschreibung« als Walter Berger als »eitel« zu bezeichnen; gänzlich eingebildet war sie trotzdem nicht. Denn auch seine Zeitgenossen – vor allem wohl die Zeitgenossinnen – hätten ihn ähnlich beschrieben. Noch Jahre später erinnerte sich zum Beispiel Ruth von Mayenburg bewundernd an einen »Schwimmer« aus den frühen 1930er Jahren: 217 Tschernyschewski, »Ästhetik und Leben«, (5. Teil), S. 62. Mit seiner Forderung nach dem »Studium des Typischen« hatte Kurella in seiner Antrittsrede am Leipziger Literaturinstitut wohl auch diesen Hinweis Tschernyschewskis aufgenommen.
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»Außer bei Tee und Sakuski war der Kreis um die Pohls218 auch bei Badeausflügen in die Umgebung von Moskau zu finden, an denen wir, erste schamhafte Anwandlungen überwindend, ebenso in voller Nacktheit teilgenommen haben wie die übrigen. (Ein Anblick höchster Sittenverderbnis für die Russen, die erstaunlich prüde sind.) Selbst der gewaltige Froschbauch von Béla Kun glänzte bei solcher Gelegenheit an den Ufern der Iskra und der in der deutschen Jugendbewegung zu ›kräftig-schönem Wuchse‹ aufgeschossene Körper des Schriftstellers Alfred Kurella. Ein kommunistischer Siegfried, dem man leicht das Stottern nachsah, weil er noch nicht dem engstirnigen Kulturfunktionär der DDR von heute glich, sondern sich mit nacktem Freimut zu heiklen Problemen des Sozialismus äußerte, sobald der deutsche Kominternmann Fritz Heckert (Friede seiner Asche an der Kremlmauer! Ansonsten ein unangenehmer, anmaßender Patron) weghörte und nur Aug und Ohr für seine Gattin hatte, die neckische Schleiertänze zum Besten gab.«219 Trotz alledem: Konnte Kurella sich wirklich sicher sein, dass der Leser in der Romanfigur Walter Berger den Autor wiedererkennen würde? Hatten nicht die meisten Romanwerke des Sozialistischen Realismus ihren »kommunistischen Siegfried«, der gut aussehend, mannhaft und edel für die Befreiung des Proletariats kämpfen durfte? Reichte es aus, dem Hauslehrer ganz einfach das eigene Profil und die eigenen Lippen zu leihen, um in dessen Rolle zu schlüpfen? Das war sicher nicht für jeden Leser offenkundig, sehr wohl aber für all diejenigen, die Einblick in Alfred Kurellas Kaderakte nehmen konnten. Und das nicht nur, weil man dort zwei Fotografien finden konnte, auf denen die Übereinstimmung der Gesichtszüge überdeutlich wurde.220 Auch andere Einträge in der Kaderakte legten unmissverständlich nahe, dass es sich bei Berger-Lopuchow-Kurella um ein und dieselbe Person handeln musste.
218 Gemeint ist hier der österreichische Gesandte Otto Pohl, der, nachdem er Ende der 1920er Jahre von seinem Posten in der Botschaft abberufen worden war, in der Sowjetunion geblieben war, um für die Moskauer Rundschau zu arbeiten. 219 Mayenburg, Blaues Blut und rote Fahnen, S. 134. Interessant ist hier der Verweis auf die bereits vor dem Kominternausschluss vorhandene Konfliktstellung zwischen Fritz Heckert und Alfred Kurella. 220 Vgl. Kurellas Kaderakte, in: RGASPI 495/205/6339, Bl. 191 und Bl. 368.
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Zum Beispiel hatte Alfred Kurella – genau wie Lopuchow und Berger – früher einmal als Hauslehrer gearbeitet.221 Zunächst in Rüssen bei Leipzig, später dann in der Gartenstadt Hellerau bei Dresden hatte er zwischen 1917 und 1918 die Kinder einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie unterrichtet. Wie seine beiden Alter Egos hatte auch er diese Tätigkeit als Tarnung angenommen, um sich unauffällig als Propagandist betätigen zu können – damals eher noch als sozialistischer Pazifist denn als kommunistischer Revolutionär. Viel später sollte er sich noch einmal daran erinnern: »Ich selber nahm eine Stelle als Hauslehrer bei den Kindern einer fortschrittlichen Leipziger Dame an, die die radikale Zeitschrift ›Die Aktion‹ las und für die russische Revolution schwärmte. Von dieser Position aus konnte ich meine Agitation fortsetzen.«222 Unter Polizeibeobachtung stehend, hatte der 23-jährige Alfred Kurella morgens Geschichte, Deutsch und Mathematik unterrichtet, nachmittags verbotene pazifistische Literatur kopiert und an Gleichgesinnte verschickt, nur um abends dann – unter dem falschen Namen Viktor Röbig – im Atelier von Conrad Felixmüller oder im literarischen Salon von Grete Fantl voller Inbrunst Texte aus den Spartakusbriefen zu deklamieren.223 Vor seiner Arbeitgeberin Agnes Pudor, der besagten »fortschrittlichen Dame«, hatte er sich wohl nicht ganz so verstellen müssen wie Berger im Gutshaus derer von Hadeln oder Lopuchow bei der Mutter von Wera Pawlowna. Doch auch in dieser Familie war Vorsicht geboten. In Hellerau wohnte auch der Schwager
221 Vgl. Kurellas handschriftlichen Lebenslauf vom 27. 10. 1934 in seiner Kaderakte, in: RGASPI 495/205/6339, Bl. 385–391. 222 Kurella, Unterwegs zu Lenin, S. 21. 223 Zum Tagesablauf des jungen Hauslehrers vgl. Alfred Kurellas Brief an Gustav Wyneken vom 16. und 17. April 1918, in: Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein (nachfolgend AdJb) NL 683, Nachlass Wyneken. Zu Kurellas anderen Aktivitäten in Hellerau siehe ferner Sarfert, »›Sturm und Gärung«, S. 29, und Almai, Expressionismus in Dresden, S. 127–128. Vgl. auch die Kopie seiner Polizeiakte, in: AdK AlfredKurella-Archiv, Band 1307, besonders den Polizeibericht vom 2. 4. 1918. Erich Mielke hatte ihm diese nach dem Zweiten Weltkrieg zum Geburtstag geschenkt, vgl. Scherner, »›Junger Etrusker erteilt Unterricht‹«, S. 661. Die Tatsache aber, dass Kurella unter Polizeibeobachtung stand, war ihm schon vor Mielkes Geburtstagsgeschenk bekannt, vgl. seinen Lebenslauf vom 27. 10. 1934 in: RGASPI 495/205/6339 Bl. 385–391.
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von Agnes Pudor, der völkische Antisemit (und Urvater der Freikörperkultur) Heinrich Pudor, der dort mit Bruno Tanzmann den »Hakenkreuzverlag« betrieb.224 Die Kaderakte gibt weiterhin Auskunft darüber, dass Alfred Kurella in seinem unermüdlichen Einsatz für die proletarische Revolution die eigene Gesundheit vernachlässigt hatte. Als Folge hatte er 1928 ganze vier Monate im Kreml-Krankenhaus verbringen müssen.225 Der Klinikaufenthalt war mehr als überfällig gewesen. Schon Jahre vorher hatte man ihm ansehen können, worunter er litt. So notierte ein Bericht der italienischen Geheimpolizei am 29. Februar 1924: »Alfred Kurella (aus Berlin), Mitglied der Jugendinternationale, weilt gegenwärtig in Italien als Vertreter Moskaus bei der italienischen Jugendorganisation. Er ist groß, sehr mager, blond, ein wenig tuberkulosekrank aussehend, mit Ansätzen zum Stottern, zirka fünfundzwanzig Jahre alt.«226 Viele seiner Weggefährten wussten, dass Kurella die gesamten 1920er Jahre hindurch mit einer Lungenerkrankung zu kämpfen gehabt hatte – genau wie Walter Berger und Dmitri Lopuchow!227 Neben den aktenkundigen Übereinstimmungen hatte der lungenkranke, revolutionäre Hauslehrer Kurella in seinem Roman für all diejenigen, die ihn persönlich kannten, noch weitere äsopische Spuren gelegt. Darunter waren scheinbar nebensächliche Details, die auf die wahre Identität von Walter Berger verweisen sollten. Zum Beispiel, dass Berger im Weinkeller des Freiherrn die durchaus vorhandene Flasche Bordeaux stehen gelassen und stattdessen einen »Walporzheimer von einem älteren Jahrgang« ausgesucht hatte.228 Als dann am Tisch die Weinauswahl kommentiert wurde, durfte sogar der junge Edgar einmal einen seltenen Triumph feiern. Er brillierte mit seinen – vom Hauslehrer erworbenen – geografischen Kenntnissen und belehrte den älteren Bruder, dass das Anbaugebiet nicht am Rhein, sondern an
224 Vgl. Sarfert, Hellerau, S. 91–93. 225 Vgl. Kurellas Antrag auf Überprüfung der Parteivergangenheit vom 22. 2. 1935, in: RGASPI 495/205/6339, Bl. 371–374. 226 Petersen, »Silones Geheimnisse«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. 7. 2000. 227 Schon Ende 1920 gab es einen Tuberkulose-Verdacht, vgl. AdK AlfredKurella-Archiv, Band 1298. 228 Kurella, Gronauer Akten, S. 88.
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der Ahr lag.229 Darin steckte ein Verweis auf den Ort, in dem der Autor der »Gronauer Akten« aufgewachsen war; Kurella selbst war gewissermaßen ein »Walporzheimer älteren Jahrgangs«. Sein Vater Hans Kurella – ein bedeutender Psychiater und Experte für Elektrotherapie – war als leitender (dirigierender) Arzt an Dr. von Ehrenwall’s Kuranstalt für Gemüts- und Nervenkranke zu Ahrweiler tätig gewesen. Die Kuranstalt lag – und liegt nach wie vor – direkt am Fluss in der Walporzheimer Straße. Von den Fenstern der Klinikvillen konnte man die Weinberge von Walporzheim sehen; die Kuranstalt selbst warb um zahlungskräftige Patienten »mit ihrer guten Küche und den berühmten Ahrweinen, noch zu einer Zeit, als mehr und mehr Psychiater den Antialkoholismus predigten.«230 Einen weiteren Hinweis auf die Identität Berger-Kurella hatte der Autor der »Gronauer Akten« in dem Besuch des Stahlfabrikanten auf Gut Gronau versteckt. Noch bevor Walter Berger den Gast gesehen hatte, wusste er schon, um wen es sich handelte: »Mönkebach? Ach so, das war das Elektrostahlwerk in Endenich bei Bonn, später während des Krieges starke Interessen in Siegen und schließlich, unter der Ära Vögler, öfters im Langnam-Verein genannt. Es ist doch gut, wenn man die Bilanzen und Aufsichtsratsberichte aufmerksam liest und ein gutes Gedächtnis hat.«231 Als der Hauslehrer kurze Zeit später im Garten das Gespräch zwischen Mönkebach und dem Freiherrn belauschte, durfte er sich erneut auf sein »gutes Gedächtnis« verlassen: »Ja, das war der Mönkebach; die köllsche Redeweise war unverkennbar.«232 Wie aber konnte der Berliner Kommunist die Stimme des rheinischen Industriellen kennen? Wohl kaum aus Bilanzen und Aufsichtsratsberichten! Hier war nicht Bergers, sondern Kurellas »gutes Gedächtnis« am Werk, denn einmal mehr spielte die Jugend des Autors eine bedeutende Rolle. Doch im Gegensatz zur wohltuenden Reminiszenz an die malerischen Weinberghänge der Ahr, handelte es sich hier um eine eher unangenehme Erinnerung. Nachdem Hans Kurella sich 1907 mit 229 Ebenda, S. 93. 230 Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 78. Hier auch erwähnt: Hans Kurella. 231 Kurella, Gronauer Akten, S. 139. 232 Ebenda, S. 141.
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dem Besitzer der Ahrweiler Kuranstalt überworfen hatte und dann mit einem eigenen Sanatoriumprojekt grandios gescheitert war, war die vormals großbürgerliche Familie unversehens mittellos und überschuldet. Um überhaupt über die Runden zu kommen, sah sich der berühmte Psychiater von 1911 an gezwungen, alljährlich in den Sommermonaten als »Badearzt« im niederschlesischen Kurort Kudowa anzuheuern. Zwei Jahre später zog die Familie Kurella dann nach Dresden.233 Sohn Alfred musste derweil in Bonn bleiben, denn er hatte noch das Gymnasium abzuschließen.234 So kam es, dass Alfred Kurella bei Freunden und Bekannten unterkommen musste – einmal bei der Familie eines Wandervogelkameraden in der Koblenzer Straße 102 in Bad Godesberg235, ein anderes Mal bei Nachbarn in einer prachtvollen Villa in der Lindenstraße 37 in Bonn-Dottendorf.236 Auf dem Stadtplan würde man heute die Lindenstraße vergeblich suchen – sie wurde 1978 umbenannt in Mönkemöllerstraße, nach dem Besitzer des ortsansässigen Elektrostahlwerkes, der sich im Jahre 1904 in der Nummer 37 ein großes Palais hatte bauen lassen. Die Stimme des wohlhabenden Hausherrn war dem verarmten Übernachtungsgast wohl auch 1936 noch gut im Ohr; genau diesen hatte Kurella nämlich gemeint.237
233 Vgl. Kreuter, Deutschsprachige Neurologen und Psychiater, Band 2, S. 808. 234 Die Folgen dieser Trennung von seinen Eltern verarbeitete Kurella affirmativ-positiv, vgl. Kurella, »Über die Trennung«. 235 In einer Zuschrift an die Zeitschrift Wandervogel hatte Kurella im August 1913 als Adresse Koblenzer Straße 102 angegeben, vgl. Wandervogel. Monatsschrift für Deutsches Jugendwandern, 8. Jg. (1913), Heft 8, S. 250. Dort wohnte der Mathematikprofessor Franz London, Vater der später als theoretische Physiker berühmt gewordenen Fritz und Heinz London, vgl. seinen Eintrag im Verzeichnis der Mitglieder der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, abgedruckt im Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Leipzig 1912, S. 30. Dass die beiden Söhne Mitglieder des Wandervogels waren, lässt sich daraus schließen, dass Franz London im Frühjahr 1911 dem EuFRat (Eltern- und Freundesrat) der Bonner Wandervögel beigetreten war – zur selben Zeit, als dies auch Alfred Kurellas Mutter getan hatte, vgl. hierzu Wandervogel. Rheinisches Fahrtenblatt, 3. Jg. (1911), Nummer 4, S. 6. 236 Vgl. eine weitere Zuschrift Kurellas in: Wandervogel. Monatsschrift für Deutsches Jugendwandern, 8. Jg. (1913), Heft 7, S. 229. 237 In seinen frühen Notizen zu den Gronauer Akten hatte Kurella den Stahlfabrikanten noch »Mönckmöller« genannt, vgl. AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1085. Es lässt sich nicht zweifelsfrei ermitteln, wie der Kontakt
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Nun kann man sicher einwenden, dass viele Autoren eigens erinnerte Details in ihre Romanwerke einbauen, um so eine erfahrungsgesättigte, dichte Beschreibung der Umstände liefern zu können. Auch ließe sich behaupten, dass dies umso mehr für einen Exilschriftsteller gelten muss, dem die Möglichkeit einer Vor-Ort-Recherche verwehrt ist. Wenn es sich aber um treffgenaue Angaben zur Familie des Protagonisten handelt, dann darf man wohl doch vermuten, dass hier der Versuch gemacht wurde, eine Identifizierung der literarischen Figur zu ermöglichen: »Walter Berger dachte an Palmburg, das Gut des Onkels bei Königsberg, zurück, wo er vor dem Kriege oft seine Schulferien verbracht hatte. Der Park hinter dem Haus war ganz ähnlich gewesen wie der Park hier. Die Wiesen, in die er überging, führten zum Pregel hinunter. Dort hatte er oft stundenlang im Gras gelegen und zugeschaut, wie langsam große weiße Segel über die Wiesen zogen; das Wasser und die Schiffe waren vom hohen Grase verdeckt. Vom Lorenstrang her, der zu den Kiesgruben führte, wehte heißer Kamillenduft herüber […].«238 Auch in dieser Passage hatte Kurella als sozialistischer Realist nicht auf seine literarische Eingebung vertraut, sondern versucht, Erlebtes möglichst genau wiederzugeben: Nihil est in effige, quod non prius fuerit in sensu. Das lässt sich unschwer mit einem Blick auf die Landkarte verifizieren: Palmburg ist identisch mit dem westlich von Kaliningrad liegenden Ort Pribreshnoje, der vor allem für die halb zerstörte Pregelbrücke berühmt ist. Wer die geografischen Koordinaten 54.69541, 20.60603 bei Google Maps eingibt und das Satellitenbild betrachtet, der kann noch heute den Lorenstrang und die Kiesgruben erkennen; nur den heißen Kamillenduft muss man sich dazu denken. Dass Walter Berger eine so treffende Beschreibung von Gut Palmburg liefern konnte, war natürlich alles andere als Zufall. Auch hier mani-
zu Friedrich Carl Mönkemöller zustande gekommen war. Wahrscheinlich ist jedoch, dass ein Kollege von Hans Kurella, der ebenfalls aus Bonn stammende Psychiater Otto Mönkemöller, mit dem Stahlfabrikanten verwandt gewesen war und die Nachbarn miteinander bekannt gemacht hatte. In den Bonner Jahren hatte Familie Kurella in der Lindenstraße 11 gewohnt, vgl. handschriftliche Antworten zu einem Fragebogen, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1298. 238 Kurella, Gronauer Akten, S. 31.
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festierten sich nicht Bergers, sondern Alfred Kurellas Kindheitserinnerungen, was eine Aufzeichnung seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Anna belegt: »Als wir [Anna meint damit ihre Zwillingsschwester und sich selbst] 6 Jahre alt waren, also 1903, wurden wir einige Monate aufs Land nach Ostpreußen geschickt, wo der Großonkel Alexander, der die Gouvernante meiner Mutter Frl. von Schimansky geheiratet hatte, ein Rittergut hatte. Dort hatten wir natürlich eine herrliche Zeit. Ein Gut von 600 Morgen, durch das der Pregel floß, ein alter Park, viel Viehzeug, Wagenfahrten, […].«239 Natürlich verfügte der damalige Leser der »Gronauer Akten« nicht über heutige technische Hilfsmittel, musste also dem Autor schon ziemlich nahe gestanden haben, um diesen äsopischen Verweis entschlüsseln zu können. Und doch war die Palmburg-Passage wohl ausreichend, um Kurella mit Berger in Verbindung zu bringen: zumindest denjenigen, die Einblick in Kurellas Kaderakte hatten, war bekannt, dass dessen Mutter, die Schriftstellerin und Übersetzerin Marie Kurella, adliger Herkunft war.240 Sollte der Leser – vor allem Georgi Dimitroff – nach all diesen Hinweisen immer noch unsicher gewesen sein, wer sich hinter Walter Berger verbarg, so musste er spätestens dann auf Kurella kommen, als der Hauslehrer über seine frühere Parteitätigkeit nachdachte. Walter Berger hatte »sein ganzes Leben« schon für die Befreiung der Unterdrückten gekämpft.241 Dabei waren ihm in seiner Berliner Zeit zuletzt einige Genossen unterstellt gewesen, »die nach seinen Anweisungen in verschiedenen Kulturorganisationen« gearbeitet hatten.242 An anderer Stelle präzisierte Berger noch den Zeitraum: »Drei Jahre war es ihm gelungen, in der Hauptstadt seinen Pflichten nachzukommen, die seine Gesinnung ihm auferlegte, ohne bei den zahlreichen Verhaftungen in Mitleid gezogen zu werden.«243 Genau drei Jahre hatte aber nicht nur
239 Anna Kurella, »Meine Vorfahren«, handschriftliches Manuskript, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1299, S. 9. Ihr Bruder Alfred war demnach 8 Jahre alt. 240 Vgl. Kurellas handschriftlichen Lebenslauf vom 27. 10. 1934 in seiner Kaderakte, in: RGASPI 495/205/6339, Bl. 385–391. 241 Kurella, Gronauer Akten, S. 144. 242 Ebenda, S. 164. 243 Ebenda, S. 31.
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Walter Berger, sondern auch Alfred Kurella in Berlin als »Propagandist« unter Intellektuellen gearbeitet und dabei als Agitprop-Leiter des Bundes der Freunde der Sowjetunion und als Kursleiter der MASCH andere Genossen angeleitet. Und genau an diesem Ort und in dieser Funktion hatte er eng mit Georgi Dimitroff, dem damaligen »Leiter des Westeuropäischen Büros der Komintern«, zusammengearbeitet.244 Trotz all dieser Hinweise war Alfred Kurella wohl zunächst nicht sicher gewesen, ob man ihn auch wirklich in Walter Berger erkennen würde. Zudem war er bemüht, die politische Vergangenheit des Hauslehrers möglichst positiv zu zeichnen. Aus beiden Gründen hatte er ursprünglich an dieser Stelle noch weitere Details anfügen wollen. In einem der frühen Manuskriptentwürfe wurde die Parteitätigkeit Bergers noch etwas ausführlicher dokumentiert: »Man hatte seinem Wunsch, ihn zu keiner höheren Funktion heranzuziehen, sondern ihn bei seiner Lieblingsarbeit, der Organisation der Opposition unter den Intellektuellen, zu lassen, erfüllt. In aller Stille leistete er auf diesem Gebiet Hervorragendes und der Parteiapparat zog aus seiner Tätigkeit großen Nutzen.« Das dick aufgetragene »Eigenlob« findet sich nicht in Kurellas Kaderakte, war also wohl eher Ausdruck dichterischer Freiheit. Dass aber nicht nur Berger, sondern auch Alfred Kurella in Berlin »auf persönliche Bitte keine zentrale Funktion« zugewiesen bekommen hatte – das stand wortwörtlich im jüngstem Lebenslauf des Autors.245 Und der war noch nicht fertig mit seiner kuriosen Mischung aus Identifizierungshilfe und Selbstbeweihräucherung: »Niemand vermutete hinter dem fleißigen Bibliothekar, der pünktlich und eifrig alle Anweisungen zur Reinigung der Bücherbestände und Propagierung der neuen deutschen amtlich empfohlenen Literatur durchführte, den hochgebildeten Kommunisten und erstklassigen Propagandisten des Marxismus.«246
244 Vgl. Kurellas »Kurze Selbstbiographie«, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv 1296, und Kurella, »Ein großer Lehrer«, S. 659. 245 Vgl. Kurellas handschriftlichen Lebenslauf vom 27. 10. 1934 in seiner Kaderakte, in: RGASPI 495/205/6339, Bl. 385–391: »Oktober 1929 auf Wunsch nach Deutschland zurück. Auf persönliche Bitte keine zentrale Funktion (im Einverständnis mit Sekretariat Leo Flieg).« 246 AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1090/1, Handschriftlicher Einschub, nummerierte Seite 18, Hervorhebung im Original.
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In der Überarbeitung des Manuskripts hatte Alfred Kurella die ganze Passage dann doch gestrichen. Vielleicht wegen des selbstgefälligen Tons; möglicherweise aber auch, weil er erkannt hatte, dass seine gegenwärtige Tätigkeit in der Moskauer Bibliothek für Ausländische Literatur, wo er die Bücherbestände von trotzkistischer Literatur zu »reinigen« hatte, dann doch kein angemessenes Identifizierungsmerkmal abgeben würde – zu deutlich wäre dadurch die Ähnlichkeit der stalinistischen mit der faschistischen Zensur hervorgetreten. Also musste es ohne diese Details funktionieren: Georgi Dimitroff, der Kurella persönlich gut kannte, würde in Walter Berger sicher auch so seinen ehemaligen Sekretär erblicken. Auch die Lobpreisung der politischen Arbeit von Walter Berger hatte Kurella damit streichen müssen – doch die war ohnehin überflüssig. Dass der Hauslehrer ein »hochgebildeter Kommunist und erstklassiger Propagandist« war, ergab sich bereits aus seinem besonnenen Verhalten auf Gut Gronau. Außerdem hatte Kurella mit einem einfachen literarischen Mittel dafür gesorgt, dass Walter Berger seinen großen Eindruck auf den Leser nicht verfehlen konnte: Mit der Figur des Sonderermittlers Günther Geismar hatte er seinem Positivhelden eine negative Spiegelung beigegeben, in der die Persönlichkeit, Kenntnisse und Fähigkeiten des Hauslehrers ihre je gegenteilige Entsprechung hatten. Die positiven Seiten Walter Bergers – die wenig überraschend genau jenen Kurellas glichen – gewannen dadurch an Kontur und Überzeugungskraft. Das fing schon mit Günther Geismars äußerer Erscheinung an: Alfred Kurella hatte den Berliner Sonderermittler als kleinen, dicken, schwächlichen Mann eingeführt, der mit dem Altern haderte und vor dem Spiegel seinen Haarausfall mit den Worten »die Locke wird dahingerafft« ernüchtert zur Kenntnis nehmen musste.247 Dieser Ausspruch wäre noch deutlicher in Bezug auf den körperlichen Verfall des Sonderermittlers geworden, hätte Kurella den bekannten Reim des Volksdichters Wilhelm Busch vollständig zitiert: »Der Mensch wird schließlich mangelhaft, die Locke wird dahingerafft.« Dass dieser »mangelhafte Mensch« als Gegenspieler des schlanken, sportlichen
247 Ebenda, S. 37. Zur Einführung als kleiner, schwächlicher Mann vgl. ebenda, S. 85.
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und gut aussehenden Hauslehrers aufgeboten wurde, zeigte schon die Vorrangstellung des Kommunisten. In den »Gronauer Akten« wurde die Überlegenheit von Berger über Geismar wieder und wieder betont – nicht nur in körperlicher Hinsicht, sondern etwa auch in Bezug auf das musische Talent und die schöngeistigen Kenntnisse der beiden Protagonisten. Am Klavier beherrschte Walter Berger nicht nur virtuos Kompositionen von Bach; wenn es sein musste, spielte er auch Brahms, viel lieber jedoch Chopin. Was auch immer er auswählte, er erreichte dabei ein interpretatorisches Niveau, das den anerkannt größten Pianisten – wie Frederic Lamond – in nichts nachstand. Auch Günther Geismar wagte es einmal, sich am Klavierspiel zu versuchen, nachdem er seine Angebetete Lore Moser den Choral »O Haupt voll Blut und Wunden« hatte singen hören. Blass und leicht verzweifelt, »machte er am Flügel halt, setzte sich auf den Klavierstuhl und klappte den Deckel auf. Seine Hände irrten unsicher über die Tasten. Er bemühte sich, den Choral in der ersten Fassung aus der Matthäuspassion zu spielen. ›Es will nicht gehen‹, sagte er nach einer Weile halb vor sich hin. ›Man verlernt so viel […].‹ Er blieb mit den Händen auf den Knien sitzen und blickte auf die Tasten. Dann schlug er wieder an. Die Töne kamen hart und hölzern heraus. Er versuchte zu dem was er spielte, die Melodie mitzusingen. Es sollte offenbar die Arie aus der Matthäuspassion werden: ›Erbarme dich […].‹ Das Spiel und die Stimme hatten etwas Klägliches. Er ließ bald wieder von den Tasten ab. ›Spielen Sie nicht auch?‹ fragte er zu Berger hinüber. Berger nickte und setzte sich auf den Stuhl, den der andere freigab. Er nahm die gleiche Melodie auf. Die ersten Töne kamen leise und klagend. Aber dann wurde das Spiel immer stärker. Die zuerst flehende Melodie bekam etwas Triumphierendes. Wieder holte er besonders den Baß heraus. Er schloß mit einem unerwarteten DurAkkord, den er, mit offenem Pedal, ausklingen ließ. Dabei sah er den Berliner an, der, auf den Flügel gestützt, wie verloren zuhörte. ›Wie Sie das spielen!‹ sagte der Kleine schließlich, und in seiner Stimme klang aufrichtige Bewunderung.«248
248 Kurella, Gronauer Akten, S. 168–169.
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Selbst wenn die beiden Protagonisten nicht wie hier in ein und derselben Szene auf- und gegeneinander antraten, wurde der Leser wiederholt dazu angeregt, einen Vergleich zwischen ihnen anzustellen. So etwa als Günther Geismar in einem Brief an seine Frau den Wohnraum des Gutshauses beschreiben wollte, dafür aber nur abfällige Worte finden konnte: »Ich saß auf einem schrecklich unbequemen Stuhl in einer Art von Salon, der mit einem erstaunlichen Mangel an Gefühl für Stileinheit ausgestattet ist. Die Sonne fiel durch die offenstehenden hohen Fensterflügel aus dem Garten herein und beleuchtete den Fußboden und eine Wand. Das Nebeneinander eines ziemlich grellen Perserteppichs und einer nachgedunkelten Städteansicht von Venedig war unerträglich.«249 Dass nicht der Raum, sondern Geismars Beschreibung desselben einen »erstaunlichen Mangel« an Stilgefühl offenbarte, machte der Vergleich zu Walter Bergers Einschätzung der Inneneinrichtung deutlich. Und diese war dem Leser wohl bekannt, denn nur drei Seiten zuvor hatte der Hauslehrer eben diesen Salon mit großer Sachkenntnis und geschmacklicher Abgewogenheit gewürdigt: »Die bunt zusammengewürfelten Möbel, der flache schwarze Wandschrank mit den gotischen Schnitzereien, die hochlehnigen Renaissancestühle, der feingemusterte, fast den ganzen Boden bedeckende Teppich, der zeitlose schwere Eichentisch mit der kaukasischen Decke, das alles vertrug sich ganz gut in diesem Dämmerlicht. Der Raum war weitläufig genug, so daß auch die große Kopie eines Canaletto, der Ruysdael-Stich, die Zurbaran-Reproduktion und die getönten Gipsabgüsse des Adam und der Eva von Conrad Meit, die auf dem Kaminsims standen, einander nicht störten.«250 In Analogie zum Abgleich der physischen Erscheinung wurde also auch Günther Geismars Bezug zu Musik und Kunst ganz auf das Niveau einer unwissenden, bestenfalls dilettierenden Möchtegernkennerschaft geschrumpft, um die musische Begabung und den künstlerischen Sachverstand des Hauslehrers und damit auch die des Autors selbst hervorzuheben. In einem weiteren Feld – dem der Literatur und
249 Ebenda, S. 33. 250 Ebenda, S. 30.
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Philosophie – erlaubte sich Kurella eine ganz andere Gegenüberstellung der beiden Hauptfiguren. Dabei gaben nicht etwa Niveauunterschiede oder Sachkenntnis den Ausschlag, vielmehr wurden ganze Geisteshaltungen verhandelt, oder besser: zwei als »Antipoden anzusehende Intellektuellentypen« gegeneinander in Stellung gebracht.251 Im Gegensatz zu Musik und Kunst hatte Günther Geismar auf dem Gebiet der Literatur und Philosophie nämlich durchaus etwas vorzuweisen: Er war offensichtlich sehr belesen, konnte Gedichte von Georg Heym, Friedrich Hölderlin, Joseph von Eichendorff oder auch Verse aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre und Shakespeares Hamlet frei zitieren, seiner Vorliebe für Autoren wie Stefan George, Wilhelm Heinrich Riehl und Adalbert Stifter mit großen Worten Ausdruck verleihen oder auch Walter Bergers Ausführungen zu Martin Heideggers Sein und Zeit mit einiger Begeisterung folgen.252 Doch in genau dieser Melange zeigte sich Geismars schwärmerischer Irrationalismus, sein romantischer, bisweilen sogar dunkel-mystischer Zugang zur Welt. Und das stand in einem starken Kontrast zur rational-wissenschaftlichen Denkweise des Hauslehrers, dessen bevorzugte Lektüre Hegels »Philosophische Propädeutik« oder auch Clausewitz’ »Vom Kriege« war und der auf subtile Art und Weise seinen Schüler Edgar an dialektisches Denken heranführen wollte.253 Nirgends zeigten sich die charakterlichen Gegensätze der beiden Hauptfiguren aber deutlicher als in ihrem Verhalten am Ende des Romans. Beide mussten die Flucht von Gut Gronau antreten; Günther Geismar, weil er andernfalls den Gutsherren und dessen SS-Schergen zu fürchten hatte; Walter Berger, weil seine Enttarnung als kommunistischer Untergrundkämpfer unausweichlich war. In heller Panik hatte der Sonderermittler sich aus dem Staub gemacht; Walter Berger dagegen reagierte einmal mehr ruhig und überlegt. Er besaß nicht nur die Geistesgegenwart, Geismars Unterlagen an sich zu nehmen, sondern
251 Vgl. Krämer, Faschisten im Exilroman, S. 180. In dieser Dissertation findet sich die bislang wohl einzige »literaturwissenschaftliche« Würdigung der Gronauer Akten (S. 175–188), in der allerdings weder die äsopischen, an Tschernyschewski erinnernden, Textbestandteile noch die Selbstdarstellung Kurellas registriert werden. 252 In der genannten Reihenfolge, vgl. Kurella, Gronauer Akten, S. 38, S. 66, S. 118, S. 120, S. 103, S. 71–72, S. 97, S. 91 und S. 216–220. 253 In der genannten Reihenfolge, vgl. ebenda, S. 43, S. 108–109 und S. 149.
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besann sich bei seiner anschließenden Flucht auch auf einen alten Wildwest-Trick: »Walter Berger stand auf und lief dem Wäldchen zu. Er nahm den Weg nach dem Gebirge. Alte Erinnerungen aus Indianerromanen fielen ihm ein. Sie hatten Hunde auf dem Dorf. Er zog sich die Schuhe aus und folgte dem Lauf des Baches, der zwischen dichten Erlengebüschen vom Bergabhang herunterkam.«254 Bei aller Überlegenheit auf musischem, künstlerischem und literarischem Gebiet war Walter Berger – alias Alfred Kurella – im dramatischen Abgang dann doch vor allem eines: der mutige und aufrechte Held eines sozialistischen Abenteuerromans, ein kommunistischer Siegfried, ein sozialistischer Old Shatterhand.255 Genau dieser Umstand wirft jedoch eine entscheidende Frage nach den Erfolgschancen von Alfred Kurellas Rehabilitierungsprojekt auf. Ja, er hatte mit seinem als Heinrich Binder verfassten Artikel »theoretisch« den Weg für die »Gronauer Akten« bereitet, hatte einen linientreuen Roman im Sinne der neuen Faschismuskonzeption verfasst, hatte dabei die einschlägigen Äußerungen Georgi Dimitroffs aufgenommen und dem Helden von Leipzig äsopisch geschmeichelt. Zudem hatte er mit Tschernyschewskis »Was tun?« das Lieblingsbuch des Kominternchefs kopiert, sich selbst als Dreifachcharakter BergerLopuchow-Kurella heldenhaft in Szene gesetzt und mithilfe der negativen Spiegelung in Geismar die eigene kulturelle und intellektuelle Überlegenheit effektvoll unterstrichen. All dies war sicher nicht auf den ersten, für Eingeweihte aber auf den zweiten Blick erkennbar. Aber war die Mischung aus Schmeichelei und rundum positiver Selbstdarstellung nun geeignet, die Rehabilitierung zu befördern? Oder wiederholte er mit den »Gronauer Akten« nicht eben jenen Fehler, der zu seinem Ausschluss aus der Komintern geführt hatte? Demonstrierte er damit nicht erneut seine Überheblichkeit und Arroganz, die er schon vor der Untersuchungskommission an den Tag gelegt hatte? Mit anderen Worten: Wo blieb eigentlich die notwendige »bolschewistische Selbstkritik«? 254 Ebenda, S. 232. 255 Wiewohl Kurella Letzteres natürlich vehement abgelehnt hätte: »Karl May kam gar nicht erst ins Haus, weil wir [Kurella und seine Geschwister] schon durch Cooper eines Besseren belehrt waren«, in: Kurella, »Vertraute Freunde«, S. 10.
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Wie schon gezeigt, hatte sich Alfred Kurella zur Hervorhebung des Heldencharakters Walter Berger eines einfachen literarischen Mittels bedient und den Sonderermittler Günther Geismar als negative Spiegelung eingeführt – ihn in seinen Eigenschaften und Fähigkeiten gleichsam als Gegenfigur des Hauslehrers entworfen. Aber erschöpfte sich die literarische Funktion des Negativcharakters in der Aufwertung des Helden Walter Berger – alias Alfred Kurella? Das scheint offensichtlich, ja fast aufdringlich in all jenen Passagen des Romans der Fall gewesen zu sein, in denen ein Niveauunterschied zwischen den beiden Protagonisten dokumentiert werden sollte: in den Verweisen auf die körperliche Verfassung des Hauslehrers, auf seine attraktivere Erscheinung wie auch seine offensichtliche Überlegenheit beim Klavierspiel oder auch in Sachen Kunstverstand. Doch schon bei den literarischen Vorlieben, die in Geismar den romantisch-schwärmerischen, dunkel-mystischen Nährboden für seine faschistische Gesinnung bereitet hatten, war längst nicht mehr eindeutig, was genau negativ gespiegelt werden sollte. Walter Berger ließ gar keine entgegenstehenden literarischen Präferenzen erkennen – Hegel und Clausewitz taugten einfach nicht als Antipoden zu Riehl, Stifter und George. Gleiches galt für viele andere Charakterzüge Günther Geismars, für die in der Figur Walter Bergers schlichtweg der Bezugspunkt fehlte. Gewiss gewann der Hauslehrer aus den wiederholten Vergleichen mit Geismars Unzulänglichkeiten; in anderen Belangen schien der Sonderermittler dann aber doch von eigenständiger Wesensart zu sein. Oder vielleicht doch nicht? Fungierte der Nationalsozialist womöglich auch hier als Spiegelbild, nur dass dem Leser das Original nicht direkt vor Augen stand? Da es sich bei Walter Berger um einen Doppel- oder gar Dreifachcharakter handelte, könnte Günther Geismar doch mehr als nur einen Hauslehrer gespiegelt haben. Und in der Tat lässt sich bei genauerer Betrachtung des Sonderermittlers ganz deutlich zeigen, dass auch diese Figur so angelegt war, dass eingeweihte Leser wieder einmal den Autor der »Gronauer Akten« erahnen sollten: Nicht nur Walter Berger, sondern auch Günther Geismar repräsentierte auf seine ganz eigene Weise Alfred Kurella. Dabei war der Sonderermittler sicher nicht mit dem Moskauer Berufsrevolutionär von 1936 gleichzusetzen; in dem Nazi manifestierte sich stattdessen ein ganz spezifischer Teil der bürgerlichen Vergangenheit des kommunistischen Autors. Von genau diesen Erfahrungen – 116
diesen »Tiefen der verfaulenden bürgerlichen Gesellschaft«256 – wollte Alfred Kurella sich nun lossagen. Dass er den Bruch mit der eigenen Vergangenheit ausgerechnet mit der Spiegelung in einer faschistischen Romanfigur vollziehen wollte, war sicher enorm risikoreich, aber keineswegs unlogisch: Ein Spiegelbild bietet bekanntermaßen ein längenund winkelgetreues Abbild des Originals; aus der Sicht des Betrachters ist jedoch die »Händigkeit« vertauscht: Links erscheint rechts, rechts erscheint links! Genau auf diese Weise übte Alfred Kurella »Selbstkritik«. In der konkreten Ausgestaltung der Figur des Sonderermittlers Günther Geismar nahm sie eine Form an, zu deren Beschreibung nunmehr allein pathologische Begriffe angemessen erscheinen.
256 So schrieb Alfred Kurella, damals noch bewundernd, über den späteren »Renegaten« André Gide, der in seiner »Bekehrung« zum Kommunismus aus diesen »nietzscheanisch-individualistischen« Tiefen erst habe emporsteigen müssen, vgl. Kurella, »Begegnung mit André Gide«, in: DZZ, 18. 6. 1936.
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Die »Gronauer Akten« – eine Persönlichkeitsspaltung
Alfred Kurella hatte seinen Negativhelden, den Faschisten Günther Geismar, mit einer Reihe von Gedanken, Vorlieben und Erinnerungen ausgestattet, die erkennbar seine eigenen waren, oder besser: eigene, die aber als abgelegt betrachtet werden sollten. Im Modus der bolschewistischen Selbstkritik wollte Kurella diese »Verfehlungen« also durchaus zugeben, sich nun aber – mal mehr, mal weniger elegant – davon distanzieren. Das fing schon mit den bereits erwähnten literarischen Vorlieben des Sonderermittlers an. So etwa bei Geismars Begeisterung darüber, dass der Hauslehrer Walter Berger ihm einen Band von Wilhelm Heinrich Riehl auf den Nachttisch gelegt hatte.257 Vor dem Ersten Weltkrieg war Alfred Kurella ein ebenso begeisterter Leser dieses Gegenspielers von Karl Marx gewesen, der mit seiner Mischung aus Volkskunde und schwärmerischer Landschaftsbeschreibung als Vorläufer der faschistischen Blut- und Bodenideologie gelten darf. Als Jugendlicher hatte Kurella sogar einmal mit dem Gedanken gespielt, eine ganze Serie von Landschaftsmonografien Riehl’scher Prägung herauszugeben – in deutlicher Anlehnung an dessen »erwanderte« »Naturgeschichte des deutschen Volkes«.258 Ebenso sehr schätzte Alfred Kurella auch Adalbert Stifter, dessen Erzähltalent Günther Geismar als »echte deutsche Kultur, untrennbar mit unserem nordischen Leben verbunden« gepriesen hatte. Noch fünf Jahre nach den »Gronauer Akten« – als die Familie aus Moskau
257 Vgl. Kurella, Gronauer Akten, S. 97. 258 Zum Plan der Herausgabe von Landschaftsmonografien vgl. Kurella, »Landschaftsmonographien«. Die Inspiration durch W. H. Riehl wurde deutlich in der geplanten Anlage der Hefte als Verbindung von »Volkscharakter« und »Landschaftscharakter«; eine Mischung, die sich auch findet in: Riehl, Naturgeschichte des Volkes, besonders in Band 1: Land und Leute, und Band 3: Wanderungen. Wie populär Riehls Wanderbuch in der Jugendbewegung noch immer war, zeigt der Wiederabdruck eines Kapitels im Wandervogel, vgl. Riehl, »Die Holledau«.
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evakuiert wurde – hatte Kurellas (dritte) Ehefrau alle Vorsichtsmaßnahmen ignoriert und vor der Abreise aus der umfangreichen Bibliothek ihres Mannes zwei seiner Lieblingsbücher eingepackt: Eines davon war der in den »Gronauer Akten« erwähnte Bildungsroman »Nachsommer« von Adalbert Stifter.259 Überhaupt war das »nordische« in der Vergangenheit ganz nach Kurellas Geschmack gewesen. So war er schon 1919 in der elitären Kunstzeitschrift Genius-Zeitschrift für werdende und alte Kunst mit einer Übersetzung des Ossian-Gedichts »Der Zug nach Innisthona« hervorgetreten.260 Als er nur wenig später unter dem Titel »Fingal in Lochlin« eine Neuübertragung von drei weiteren Gesängen des als »Homer des Nordens« gepriesenen (aber tatsächlich gänzlich erfundenen) gälischen Barden vorlegte, da war er bereits in der kommunistischen Bewegung aktiv. Doch sein Buch war keineswegs an eine wissensdurstige proletarische Leserschaft gerichtet. Ganz im Gegenteil: Die Ausgabe war ein bibliophiles Liebhaberstück. Dem aufwendig gestalteten Band waren 12 unveröffentlichte Zeichnungen von Philipp Otto Runge beigelegt; 100 der insgesamt 500 nummerierten Exemplare wurden gar »auf schwerem Zandersbütten, handgebunden in Ganzpergament« angeboten.261 Der Preis lässt sich leider nicht mehr ermitteln, doch bleibt anzunehmen, dass er das Monatsbudget einer durchschnittlichen deutschen Arbeiterfamilie gesprengt hätte. Wiewohl entlarvend, blieb Kurellas Eingeständnis eigener ideologischer Schwächen und Fehler in Fragen der Kunst und Literatur so doch eher im Verborgenen; kaum erkennbar für jemanden, der nicht eingehend mit dem Leben und dem Schaffen des Autors der »Gronauer Akten« vertraut war. Richtig ernst wurde es bei der verschlüsselten 259 Vgl. Elfriede Cohn-Vossen an Alfred Kurella, 4. 7. 1941, abgedruckt in: Kurella/Cohn-Vossen, Der Traum von Ps’chu, S. 28. Das andere war ein nicht näher bezeichneter Balzac, siehe auch: Kurella, Gronauer Akten, S. 91 und 103. 260 Vgl. Kurella, »Der Zug nach Innisthona«. 261 Vgl. Kurella, Fingal in Lochlin. Ungereimtheiten bestehen bezüglich des Datums dieser Veröffentlichung: Während auf der ersten Seite 1920 angegeben ist, ist das Nachwort mit »November 1921« gezeichnet. Wenn man Kurellas Anmerkungen zu beiden Ossian-Veröffentlichungen ernst nimmt, scheint er tatsächlich noch an die Authentizität des Textes geglaubt zu haben. Zu James MacPhersons Fälschung vgl. Wolf Gerhard Schmidt, »Homer des Nordens«.
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Selbstkritik erst mit Günther Geismars Begeisterung für das lyrische Werk von Stefan George. Kurz nach seiner Ankunft in der Provinz hatte der Sonderermittler seine Frau darum gebeten, ihm den Gedichtband »Teppich des Lebens« nachzusenden. In Stefan George, jenem »unerreichten Meister zuchtvoller deutscher Sprache«, sah Geismar einen »Propheten« und »Seher«, der »in ganz hohem Sinne« das Dritte Reich vorausgeahnt habe. Seit nun »der Führer in seiner ganzen Gestalt erschienen« sei, meinte Geismar langsam zu begreifen, dass dieser »hohe Sinn« kein übertragender, kein symbolischer, sondern ein ganz unmittelbarer, ja vielleicht – so spekulierte er – sogar ein ursächlicher gewesen sein könnte. Stefan George dürfe man deshalb nicht »romantisch« verstehen; stattdessen müsse man ihn »politisch« lesen: »In meinem leben rannen schlimme tage Und manche töne hallten rauh und schrill Nun hält ein guter geist die rechte wage Nun tu ich alles, was der engel will.« Ohne besondere Behutsamkeit seiner eigenen Frau gegenüber, machte sich Günther Geismar nun daran, dieses und andere Gedichtfragmente »politisch« zu interpretieren: »Der Engel: das ist, wie alles bei George, symbolisch zu verstehen. Und als Symbol ist es vieldeutig. Ich werde nie die Zeit vergessen, wo der Engel für mich nur eine Gestalt hatte, Liebste: die Deine! Du, die Du aus einer anderen, stärkeren Welt stammst, warst für mich der rettende Engel. Und das bleibst Du. Unverlierbar. Aber Du selbst wirst begreifen, daß es für Dich keine Herabsetzung bedeutet, wenn ich sage: heute steht der Engel meines Lebens, unseres Lebens, in einer erhabenen Gestalt vor mir. Um unser Volk aus der Nacht seines furchtbaren Schicksals zu führen, hat Gott uns einen Großen gesandt. Er ist es, den George seherisch vorausgeahnt, ja, wenn Du willst, ins Leben zu rufen geholfen hat. Riß ich nicht in dieses leben Einen stern aus seiner bahn?«262 Diese direkte Verbindung von Dichtung zu Politik war nicht die einzige Gelegenheit, bei der Günther Geismar seiner George-Begeisterung freien Lauf ließ. Ebenso prophetisch interpretierte Geismar auch das Gedicht »Die Täter«, in dem er einen Vorgriff auf die – von ihm als
262 Kurella, Gronauer Akten, S. 71–72.
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unfassbar tragisch, aber wohl notwendig betrachtete – Säuberungswelle nach dem so genannten »Röhm-Putsch« zu erkennen glaubte.263 Schließlich schien der »Seher« aus Bingen sogar Geismars eigene Verzweiflung vorausgeahnt zu haben, als dieser sich mit Selbstmordgedanken quälte, nachdem er mit dem Hauslehrer Berger über Heidegger gesprochen hatte. In einem schließlich doch nicht abgeschickten Brief an seine Frau wählte der Sonderermittler mit George einen pathetischen, lyrischen Abschied, der nach seiner Auffassung die »letzte Wahrheit«, nicht weniger als den »Sinn des Lebens« enthalte: »So werden wir sitzen im dunkeln […] Bis ein ruf weit hinab uns verstößt Uns so klein vor dem tod so entblößt! All dies stürmt reißt und schlägt blitzt und brennt Eh für uns spät am nacht-firmament Sich vereint schimmernd still licht-kleinod: Glanz und ruhm rausch und qual traum und tod.« Geismar beschloss den Brief mit einer neutestamentarischen Überhöhung: »Nimm es! Lies es! Das bin ich. – Wenn ich nicht mehr bin.«264 Wie die anderen literarischen Vorlieben Geismars – Riehl, Stifter, aber gleichermaßen auch Hölderlin und Eichendorff – gehörte Stefan George zu jenen Autoren, die von den Nationalsozialisten zum kulturellen Kanon ihrer »Bewegung« gerechnet wurden. Bei George war das jedoch insofern bedeutungsvoller, als dieser zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme noch lebte und von offizieller Seite durchaus ernsthafte Versuche der Vereinnahmung des Lyrikers gemacht worden waren. So ist Günther Geismars Würdigung des »Meisters zuchtvoller deutscher Sprache«, des »großen Sehers« und »Propheten« denn auch nichts anderes als ein Echo auf das berühmte Telegramm, das Stefan George zu seinem 65. Geburtstag erhalten hatte: »Dem Dichter und Seher, dem Meister des Wortes, dem guten Deutschen zum 65. Geburtstag ergebenste Grüße und herzliche Glückwünsche. Joseph Goebbels.«265 Ganz unumwunden hat Alfred Kurella seinen Romancharakter also in 263 Vgl. ebenda, S. 77–78. 264 Ebenda, S. 228 265 Zitiert in: Leschnitzer, »George – Gundolf – Goebbels«, S. 115.
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die nationalsozialistische George-Rezeption eingebunden – Günther Geismar: George-Verehrer und Faschist! Doch wenn der Sonderermittler den »Dichterfürsten« als Quelle »letzter Wahrheiten« preisen durfte, dann konnte der Leser darin auch ein Echo eines ganz anderen Rufers erkennen: »Er [der expressionistische Künstler, M.S.] gibt vom Wesen der Welt, zu dem er in sich gekommen ist und das in eigener Form aus ihm quillt. Er schafft die neue Bildwelt der Gemeinschaft, in deren Sprache die Einzelnen über die letzten Dinge sich verständigen können. […] Ob es heute einen Künstler gibt – den Menschen, der Welt in sich gesogen, Wesen erworben hat und der nun Letztes uns zu sagen weiß? – Stefan George. – Aber wer kann ihn heute lesen von denen, die ihr Auge und Hirn an Literatur und Klatsch gewöhnt haben und nicht mehr Forderung und Offenbarung aus Worten hören können und wollen?«266 Lange vor Goebbels und Geismar hatte so kein anderer als Alfred Kurella selbst seiner Verehrung für den Meister Ausdruck verliehen. Der im Septemberheft 1918 der Freideutschen Jugend erschienene Aufsatz »Ungeschriebene Bücher«, dem diese Zeilen entnommen sind, sollte aber nicht der einzige Ausdruck von Kurellas GeorgeBegeisterung bleiben. Den wohl bekanntesten (und auflagenstärksten) seiner Artikel aus jener Zeit – erschienen im sexualreformerischen Sammelband »Geschlechterfrage der Jugend« – beschloss der junge Kurella mit zwei Zeilen aus seinem Lieblingsgedicht von Stefan George: »Ich war noch arm als ich noch wahrt und wehrte Seitdem ich mich ganz gab hab ich mich ganz«267 Dass dies viel mehr war als jugendliche Schwärmerei, bestätigte Kurella mehr als 50 Jahre später, als er kurz vor seinem Tod der Zeitschrift Sinn und Form ein Interview gab. Darin nannte er Stefan George erneut einen »großen Meister der Sprache«, zitierte abermals die Schlusszeilen seines Lieblingsgedichts und bezeichnete diese sogar als 266 Kurella, »Ungeschriebene Bücher«, S. 349–350. 267 Kurella, »Körperseele« (3), S. 28. In leicht veränderten Fassungen hat Kurella diesen Aufsatz nicht weniger als viermal veröffentlicht, vgl.Kurella, »Körperseele«, (1–4).
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seine eigene »Lebensmaxime und -erfahrung«.268 Ob Kurella sein Idol je getroffen hat, lässt sich nicht belegen, doch zumindest kannte er Mitglieder des George-Kreises,269 bezeichnete dessen (und Hölderlins) Lyrik als »formativen« Einfluss auf sein eigenes Sprachgefühl270 und bemühte sich zeitlebens, mit selbst verfassten Gedichten und nachgedichteten Sonetten die georgeanische Tonlage zu treffen.271 Wem – unter den Lesern der »Gronauer Akten« – das lyrische Werk von Stefan George vertraut war, der durfte bemerkt haben, dass nicht nur der Romancharakter, sondern der Autor selbst ein George-Adept war. Denn diesem war ein Fehler unterlaufen, der offenbarte, dass er »seinen« George auswendig zitieren konnte und nicht nachschlagen musste. Insgesamt ließ Kurella den Sonderermittler Geismar sieben Gedichtfragmente lesen, nachdem er sich den »Teppich des Lebens« hatte schicken lassen. In der Reihenfolge des Erscheinens waren das: »In meinem leben rannen schlimme tage«, »Über wunder sann ich nach«, »Verweilst du in den traurigsten bezirken«, »Der Teppich«, »Die Fremde«, »Der Täter« und schließlich »Traum und Tod«. All diese Gedichte hätte Geismar tatsächlich im »Teppich des Lebens« nachschlagen können – alle, bis auf eines: »Über Wunder sann ich nach« findet sich nicht in diesem Band, sondern erst in der später erschienenen Sammlung »Der Stern des Bundes«, eine Ausgabe, die Kurella als eines der für ihn wichtigsten Bücher überhaupt bezeichnete und die auch sein als Lebensmaxime gewähltes Lieblingsgedicht enthielt.272 Alfred Kurella: George-Verehrer und Kommunist! Auch wenn es im Nachhinein fahrlässig erscheinen mag; Alfred Kurella hatte seine literarische Vorliebe nie verheimlicht; auch nicht vor seinen kommunistischen Weggefährten. Im Gegenteil: Alle wussten, wie sehr der Parteifunktionär den Dichter George bewunderte. Selbst in seiner offiziellen Funktion als Repräsentant des Bundes Proleta268 Dietzel, »Gespräch mit Alfred Kurella«, S. 231. 269 Vgl. Kurella/Cohn-Vossen, Der Traum von Ps’chu, S. 554: »Ich saß bei dem alten Weisen Karl von Wolfskehl, aus dem Stefan-George-Kreis.« 270 Vgl. Kurella/Cohn-Vossen, Der Traum von Ps’chu, S. 337. Hier findet sich eine Referenz zur stilistischen »Schule Hölderlin-George: meine Formation«. 271 Vgl. Erwin Sinko an Alfred Kurella, 15. Mai 1938, in: AdK Alfred-KurellaArchiv, Band 1681. Sinko meint, in den von Kurella gesandten Gedichten »Georgeische Reminiszenzen« ausmachen zu können. 272 Vgl. Kurella, »Wiedersehn in Deutschland«, S. 76.
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risch Revolutionärer Schriftsteller hatte Kurella daraus keinen Hehl gemacht. Natürlich musste er im Zuge der offiziellen Politik der 1930er Jahre die genuine Arbeiterliteratur qualitativ an die erste Stelle setzen, doch der Maßstab, den er dabei anlegen wollte, verriet einmal mehr seine »Formation«: »Und so kann ein holpriger Gassenhauer, der im Munde von Tausenden zum Kampflied gegen Reaktion und Faschismus wird, ein in jeder Hinsicht größeres Kunstwerk sein als ein formvollendetes Sonett von Stefan George.«273 Im Jahr 1936 dachte Kurella wohl, einen Schritt weiter gehen zu müssen und sich nun öffentlich und endgültig von der elitären und dunkelmystischen Geisteshaltung der Georgeaner loszusagen. Grund genug dafür hatte er, nachdem in der Zeitschrift Internationale Literatur bereits zwei Jahre zuvor ein vernichtendes Urteil über Stefan George gefällt worden war. Unter dem Titel »George – Gundolf – Goebbels« hatte dort Franz Leschnitzer das Werk des Dichters als »eine Hauptquelle der faschistischen Ideologie« ausgemacht, die nur vor dem Hintergrund des Verfalls der bürgerlichen Klasse zu verstehen sei: »Daß zumal der Priester-, Seher- und Heroen-Kult Georges und der Georgeaner kein isoliert zu betrachtendes ›Kulturaristokratentum‹, sondern eine geschichtsnotwendige Vorstufe des nationalsozialistischen ›Führer‹-Kultes war, muß jedem einleuchten, der die sozialen Wurzeln dieses Kults aufspürt. Die Bourgeoisie, deren kollektives Selbstbewußtsein durch die Krise des Kapitalismus von Tag zu Tag heftiger ramponiert wird, sucht sich an einem ›überragenden‹ Mann aufzurichten, in dessen individuellem Selbstbewußtsein sich ihr Klassenbewußtsein verkörpert und dessen kritiklos anzubetende Autorität für sie ein ruhender Pol in der sozialen Erscheinungen Flucht ist.«274 Mit der Zuschreibung der Stefan-George-Verehrung auf den Negativcharakter Geismar versuchte Kurella nicht nur, Franz Leschnitzers Urteil über diese »geschichtsnotwendige Vorstufe« zu bestätigen, sondern auch das eigene bourgeoise »Kulturaristokratentum« abzustreifen, das in seiner selbstreflexiv arroganten Eloge von 1918 so überdeutlich geworden war: »Wer kann ihn heute lesen von denen, die ihr
273 Kurella, »Die Reserven der proletarisch-revolutionären Literatur«, S. 347. 274 Leschnitzer, »George-Gundolf-Goebbels«, S. 115 und S. 123–124.
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Auge und Hirn an Literatur und Klatsch gewöhnt haben und nicht mehr Forderung und Offenbarung aus Worten hören können und wollen?« »Außer mir selbst, kaum ein anderer«, hatte Kurella damals wohl sagen wollen – 18 Jahre später wusste er, dass er dieselbe rhetorische Frage anders zu beantworten hatte: Nur ein moralisch degenerierter, kleinbürgerlicher Faschist konnte von diesem Dichter schwärmen. Für den unbedarften Leser von 1954 dürfte Kurellas Abwälzung eigener fragwürdiger Literaturvorlieben auf den Sonderermittler Geismar eine kuriose Kleinigkeit darstellen; doch in dem sich verschärfenden stalinistischen Terror der 1930er Jahre bedeutete dies viel mehr als nur das Eingeständnis von Jugendsünden. Es ging hier um nicht weniger als um den Nachweis, dass auch der Spross einer großbürgerlichen Familie in der Lage war, seine Herkunft abzustreifen, die eigene kulturelle Prägung als »Fehler« einzugestehen und damit das Klassenbewusstsein der Bourgeoisie zu erkennen und abzulehnen. Kurzum: nachzuweisen, dass auch aus ihm ein aufrechter Kommunist werden konnte. Um dies so deutlich wie möglich zu machen, hielt es Alfred Kurella wohl für nötig, weit zurück in die Vergangenheit zu blicken – viel weiter zurück als nur bis zu seinem »Kulturaristokratentum« von 1918. Die in den »Gronauer Akten« verhandelte Übereinstimmung der Biografien von Günther Geismar und Alfred Kurella reichte bis in die Vorkriegszeit, bis in die Kindheit und Jugend der beiden. Die offensichtlichste Wesensverwandtschaft der beiden lag nämlich in ihrem Engagement in der bürgerlichen Jugendbewegung und insbesondere in der von beiden als prägend empfundenen Wandervogelzeit. So hatte etwa der tiefe Eindruck, den die Landschaft um Gut Gronau auf Günther Geismar machte, recht wenig mit der von ihm wiedergekäuten faschistischen Blut- und Bodenideologie zu tun – diese systemkonforme Interpretation hatte er seinen Empfindungen nur nachträglich überstülpen wollen. Tatsächlich lagen die Wurzeln seiner romantischen Verklärung viel tiefer; in ganz persönlichen Kindheits- und Jugenderinnerungen.275 Hier regte sich der individuell noch immer positiv bewertete Restbestand jener umfassenden, aber doch gescheiterten Sinnsuche, die eine ganze Generation jugendbewegter klein- und
275 Vgl. Kurella, Gronauer Akten, S. 19–23.
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großstädtischer Bürgersöhne (und später auch -töchter) in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg unternommen hatte.276 In der ländlichen Idylle des Weserlandes wurde der alte Wandervogel Günther Geismar plötzlich von der »Sehnsucht nach der verlorenen Jugend« übermannt. Und wieder war das keineswegs zufällig, sondern hatte einen guten, mithin einen geografisch bestimmbaren Grund: »Schließlich – und das war für den Ausgang der Erlebnisse, denen er [Geismar] entgegenging, vielleicht das Entscheidende – kam er hier in keine zufällige Gegend. Schon bald hinter Kreiensen war ihm aufgegangen, woran er beim Klang der Namen Federsen und Gronau gedacht hatte: In diesen Bergen, die die Weser in ihrem Oberlauf im Osten begleiten, war er schon einmal gewesen. An sie knüpfte sich eine seiner stärksten Jugenderinnerungen, die erste große Ferienwanderung als Wandervogel im Jahre 1911. Das war genau 25 Jahre her, ein Vierteljahrhundert. Als diese Zahl ihm einfiel und ihn daran erinnerte, daß er bereits die Vierzig überschritten hatte, stieg zugleich die Sehnsucht nach der verlorenen Jugend in ihm auf. Die Jugend aber hieß für ihn Romantik, Naturschwärmerei, Freundschaft, Traum von einem Leben in Schönheit und Würde. Ja, er war auch noch ein zweites Mal in dieser Gegend gewesen, im Jahre 1913, als er an dem großen Fest der ›Freideutschen Jugend‹ auf dem Hohen Meißner, dem Bergzug bei Kassel teilgenommen hatte. Der romantische Idealismus der ersten Jahre hatte sich damals bei ihm zu der Lehre von einer ›Lebensreform‹ verdichtet.«277 In der frühen Manuskriptversion hatte Geismar die Erinnerung an den Freideutschen Jugendtag auf dem Meißner noch weiter ausschmücken dürfen: »Im weiten Kreis gelagerte Gruppen von Jungen und Mädchen in ziemlich phantastischer Kleidung, viele mit Gitarren und Geigen. Primaner und junge Studenten. Die meisten aus den verschiede-
276 Nach wie vor den besten Überblick liefert Laqueur, Die deutsche Jugendbewegung. Eine eher spezialisierte Würdigung der völkischen Spätphase der Jugendbewegung mit zahlreichen Verweisen auf das Wirken Alfred Kurellas findet sich in: Jakob Müller, Die Jugendbewegung. Der »linke« Flügel der Jugendbewegung wird eingehend beleuchtet in: Preuß, Verlorene Söhne des Bürgertums. (Das Titelbild zeigt u.a. den jungen Kurella in einer Gruppe von Freideutschen.) 277 Kurella, Gronauer Akten, S. 17.
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nen Strömungen des Wandervogel. In der Mitte des großen Kreises stand immer jemand und sprach. Was geredet wurde, darauf kann ich mich wirklich nicht besinnen. Es war oft vom Krieg und vom Vaterland die Rede. Aber es kam uns, die wir als junge Leute dabei waren, auch wenig auf die Reden an. Die Hauptsache war wohl jenes, gewiß recht unbestimmte Gefühl von Zusammengehörigkeit und Naturverbundenheit: idealistische deutsche Jugend.«278 An jenem denkwürdigen Oktoberwochenende 1913 waren mehrere Tausend junge Menschen von der Burgruine Hanstein aus auf den Meißner gewandert, um dort gemeinsam ihrer Entschlossenheit Ausdruck zu verleihen, ihr Leben »nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit« zu gestalten. Unter den vielen Wandervögeln, die sich hier »mit phantastischer Kleidung« und »Gitarren und Geigen« eingefunden hatten, war auch ein Bonner Abiturient in rotem Samtanzug und Kniebundhosen, mit Laute im Gepäck und einem Kranz aus Vogelbeeren im langen blonden Haar.279 Und dieser Abiturient hatte zufällig ganz ähnliche Interessen wie Günter Geismar – wieder einmal war es kein anderer als Kurella selbst. In den »Gronauer Akten« erlaubte sich Alfred Kurella, gemeinsam mit seinem Romancharakter Günther Geismar auf eine Zeit zurückzublicken, als dieser »auf Wanderungen Volkslieder gesammelt, alte Grabsteine, Hausinschriften und Marterln entziffert, in Stadtbibliotheken verstaubte Lautentabulaturen ausgegraben und kopiert und sich im Nachmalen mittelhochdeutscher Handschriften und Zierbuchstaben geübt« hatte.280 Genau das hatte aber nicht nur der Sonderermittler, sondern auch Kurella mit Begeisterung getan. Der Bonner Gymnasiast war es, der mit seinen Einreichungen sowohl regionale wie nationale Zeichenwettbewerbe des Wandervogels gewonnen hatte.281 Und es war Kurella, der im Jahre 1912 seine Volksliedsamm-
278 Früher Manuskriptentwurf, eingelegtes handschriftliches Blatt vor nummerierter Seite 59, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1087. 279 Vgl. Hermann Müller, »Gusto Gräser«. Hier findet sich auch eine Fotografie von Alfred Kurella auf dem Freideutschen Jugendtag. 280 Kurella, Gronauer Akten, S. 83. 281 So etwa im Januar 1911, vgl. Rheinisches Fahrtenblatt für alle Wandervögel, 3. Jg., Heft 1, Januar 1911, S. 25. In den beiden folgenden Num-
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Alfred Kurella.
Freideutscher Jugendtag auf dem Hohen Meißner (1913) AdJb, Burg Ludwigstein, F 3 Nr. 357
lung – teils sogar mit Tanzanweisungen – als »Bonner Liederblatt« veröffentlicht hatte.282 Und nicht Geismar, sondern wiederum Kurella hatte kurz nach dem Freideutschen Jugendtag eine weitere Sammlung – musikalisch deutlich anspruchsvollerer – Notensätze in einem ersten Wandervogel Lautenbuch zusammengefasst.283 Doch nicht nur die Liebe zu Kunst und Musik verband den Autor mit seinem Protagonisten. Als »alter Wandervogel und Altertumsfreund« hatte Günther Geismar auch seine Begeisterung für histori-
mern des Fahrtenblattes wurde Kurellas Zeichnung »Rast am Waldrand« abgedruckt (respektive auf den Seiten 24 und 25). Den ersten nationalen Preis für »Zeichnungen laubloser Bäume« gewann Kurella im Juni desselben Jahres, vgl. Wandervogel. Monatsschrift für deutsches Jugendwandern, 6. Jg. (Juni 1911), Heft 6, S. 149. 282 Vgl. Kurella/Borchers (Hg.), Bonner Liederblatt. Die Herausgeber notierten: »Was wir auf den Höfen und Dörfern unsres Landes und was wir auf den großen Fahrten hörten, das steht hier.« 283 Vgl. Kurella (Hg.), Wandervogel Lautenbuch.
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sches Schrifttum kaum zügeln können, als der Stadtpfarrer ihn gefragt hatte, ob er sich für das Kirchenarchiv interessiere. »Und ob ich mich dafür interessiere!«, hatte er erwidert. Ins Gespräch gekommen waren die beiden, nachdem Geismar den Pfarrer mit einem »dicken Folianten unter dem Arm« getroffen hatte, den dieser ins Archiv zurückbringen wollte: »Es war ein altes Medizinbuch aus dem 17. Jahrhundert. Schon der lange Titel war köstlich. Der Verfasser erklärte in ihm, daß er mit seinem Werk gegen die ›Hümpfer und Stümpfler‹ auftreten wolle, ›so sie sich auf den Märkten breit machen‹, und dann kamen die tollsten Rezepte: Über die Verwendung von Läusen und anderen noch weniger schönen Dinge als Heilmittel.«284 Auch diese Begeisterung teilte Alfred Kurella. So weit sogar, dass er eben dieses Werk auch schon entdeckt hatte. Dafür hatte er jedoch kein Kirchenarchiv aufsuchen müssen, sondern einfach in der Bibliothek seines Vaters nachgeschaut. Denn bei dem besagten Medizinbuch mit dem »köstlichen langen Titel« handelte es sich wohl um eine satirische Schrift aus der Feder eines seiner berühmten Vorfahren: Ernst Gottfried Kurella – Arzt und Erfinder des als »Kurella-Pulver« bekannten Magenheilmittels – hatte 1750 mit der »Entdeckung der Maximen, ohne Zeitverlust und Mühe ein berühmter und reicher Arzt zu werden«, die »niederträchtige Marktschreierei«, die »Stümper der Arzeneigelahrtheit« aufs Korn nehmen wollen.285 Neben den musikalischen und archivarischen Interessen verdeutlichen andere frühe Schriften Alfred Kurellas, dass er auch Günther Geismars jugendbewegte Naturschwärmerei geteilt hatte. Genau wie der Sonderermittler mit großer Inbrunst das Weserbergland beschreiben durfte, so hatte Kurella schon 1913 das Rheinland gepriesen.286 Mehr noch: Wie Günther Geismar es in seinen Erinnerungen angedeutet hatte, war auch Alfred Kurellas romantischer Idealismus der Vorkriegsjahre nicht unverändert geblieben. Auch bei ihm hatten sich die vielen verschiedenen Interessen und Strömungen später zu einer »Lehre von einer ›Lebensreform‹ verdichtet«. Dabei hatte Kurella nichts – aber auch gar nichts – ausgelassen: Von der Beschäftigung mit 284 Kurella, Gronauer Akten, S. 44–45. 285 Kurella (Ernst Gottfried), Entdeckung der Maximen, Vorrede, S. 3 und 4. 286 Vgl. Geismars Landschaftsschilderung in: Kurella, Gronauer Akten, S. 14–15, mit Kurella, »Das Rheinland«.
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buddhistischen Grundschriften, über die Beteiligung an einer ökologischen Landkommune, in der auch die sexuelle Befreiung eine wichtige Rolle spielte, bis hin zu Atemübungen, Ausdruckstanz und dem »Kult einer besonderen Ernährung mit dem Titel Mazdaznan. Dazu gehörten in der Ofenröhre gebackene rote Rüben und so etwas – also die verrücktesten Sachen.«287 Trotz all dieser verblüffenden Gemeinsamkeiten war die Verbindung zwischen dem Autor und seinem Romancharakter wohl zunächst nicht viel mehr als eine Übereinstimmung in Generation und Milieu – Wandervögel, Meißnerfahrer und Lebensreformer hatte es unter den Bürgersöhnen ihrer Altersgruppe bekanntlich viele gegeben. An der eher losen Verbindung zur Romanfigur änderte auch der Umstand nichts, dass sich Alfred Kurellas – genau wie Geismars – Begeisterung für das Wandern im Erwachsenenalter nicht vollständig gelegt hatte. Regelmäßig unternahm der Moskauer Exilant noch Mitte der 1930er Jahre mehrwöchige Fußmärsche; wenn auch nicht im Weser-
287 Dietzel, »Gespräch mit Alfred Kurella«, S. 231. Zum Buddhismus, vgl. das von Alfred Kurella herausgegebene Asien-Sonderheft, Freideutsche Jugend, 4. Jg. (Oktober 1918), Heft 10, und später – sogar noch nach seinem Eintritt in die Kommunistische Partei – seine Übersetzung des »Tat twam asi« in: Kurella, »Von dem, was wahrhaft ist«. Zur Geschichte der Landkommune und Kurellas Beitrag, vgl. Linse, Die Kommune, passim. Siehe auch die dialogisch verfasste »theoretische« Grundschrift von Koch, »Der Weg zum Bolschewismus«. Die darin das Für und Wider der Siedlungsidee diskutierenden »Alf« und »Hein« wurden von Linse (S. 100; Letzteren fälschlicherweise »Hain« nennend) als Kurella und Koch identifiziert; tatsächlich handelt es sich wohl um Alfred Kurella und seinen Bruder Heinrich Kurella, so jedenfalls laut einer handschriftlichen Notiz von Hans Koch in seinem Nachlass, in: AdJb, Nachlass Hans Koch, N 76. Der Nachlass Koch ist noch nicht archivarisch erschlossen, die Notiz findet sich im schmalen Ordner, markiert N Koch, Notizen zu Nachlass vom 12. 3. 1984. Zur Siedlungsidee siehe ferner: Kurella, »Der Einzelne und die Gesellschaft«, S. 15–22. Zur »sexuellen Befreiung« im Allgemeinen und zum vorehelichen Geschlechtsverkehr im Besonderen siehe Kurella, »Körperseele« (1–4). Vgl. aber auch die nachträgliche Kritik einer der davon betroffenen jungen Frauen, die den »freien Sex«, den »Banausen wie Kurella« propagierten, als eine »grausame neue Moral« und extreme Überforderung empfunden hatte, vgl. Brief von Maria Hertwig an Hans Koch vom 7. 12. 1979, in: AdJb, Nachlass Hans Koch, N 76. Der Brief findet sich im Ordner Maria H. ab 1976.
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bergland, so doch durch den von ihm geliebten Kaukasus. Mit den Kindern von Friedrich Wolf – den später als Spionagechef und Filmemacher berühmt gewordenen Markus und Konrad – saß er dann am Lagerfeuer vor seinem Zelt, um nach dem »Abkochen« noch alte Weisen wie etwa »Des Geyers schwarzer Haufen« anzustimmen.288 Genauso wenig war es für eine eventuelle Identität von Geismar und Kurella von Belang, dass der Berufsrevolutionär bis Anfang des Jahrzehnts noch mit den Überbleibseln der bündiAlfred Kurella (um 1917) schen Jugendbewegung Kontakt AdJb, Burg Ludwigstein, P1 Nr. 67 gehalten hatte, so etwa mit tusk – alias Eberhard Koebel –, dem legendären Führer der d.j. 1.11. In deren »Rotgrauer Garnison«, einer Wohngemeinschaft in der Ritterstraße in Berlin-Kreuzberg, hatte Kurella noch im Juni 1932 einen Vortrag über seine eigene Entwicklung vom Wandervogel zum KPD-Funktionär gehalten, um die Freischar für die kommunistische Sache zu gewinnen.289 Und selbst die Tatsache, dass in den Jahren danach aus dem Zimmer 109 des berühmt-berüchtigten Moskauer »Hotel Lux« noch gelegentlich Lautenklänge zu hören waren, belegte noch nicht abschließend die Identität von Geismar und Kurella, sondern zeigte nur, dass sein Bewohner an alten Wandervogelgewohnheiten festgehalten hatte.290
288 Vgl. die Einleitung von Konrad Wolf zu Kurella, Wofür haben wir gekämpft?, S. 5; Kurella, »Der Fall von Pskhu«, und die Aufzeichnungen von Walentina Kurella, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1298. 289 Vgl. Gerstner, Sachlich, kritisch und optimistisch, S. 52. 290 Vgl. Foto von Alfred Kurella mit Laute aus dem Jahr 1934; in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Fotosammlung, III 34–00–0. Vgl. ferner seine Bestellung von Gitarrensaiten bei seinem Freund Erwin Sinko in Paris; in: Brief von Erwin Sinko an Alfred Kurella vom 30. 5. 1937, in: AdK AlfredKurella-Archiv, Band 1681.
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Und doch war Günther Geismar für Alfred Kurella mehr als nur ein Zeitgenosse, der zufällig eine ähnliche Sozialisation durchlaufen hatte. Wieder konnte man in den »Gronauer Akten« äsopische Hinweise finden, die auf eine nähere Verwandtschaft der beiden hindeuteten. Zentral hierfür war in mehr als einem Zusammenhang der Ort der Handlung: der Kreis Holzminden und besonders das Weserbergland. Dabei war Geismars spontane Assoziation mit dem Freideutschen Jugendtag in ganz wörtlichem Sinne etwas »weit hergeholt« gewesen (der Hohe Meißner liegt nicht am Oberlauf der Weser, sondern mehr als 90 Kilometer südlich an der Werra).291 Doch die andere, die »stärkste Jugenderinnerung«, die Geismar sofort mit der Gegend verbunden hatte, die war »naheliegend«: Es war jene »erste große Ferienwanderung als Wandervogel im Jahre 1911«, die ihn damals »hinauf auf den Hils, den Hils entlang zum Ith hinüber und dann durch den ›Saupark‹ in den Deister« geführt hatte.292 Diese Wanderung wurde ihm vor allem dadurch gegenwärtig, dass er in dem Bauernhof, den er für seine Rast aufgesucht hatte, jenes Haus wiedererkannte, in dem er 25 Jahre zuvor übernachtet hatte. Genau hier hatte Geismar damals gemeinsam mit den Wandervogelkameraden und den Bauernsöhnen und -töchtern zusammengesessen, Gitarre gespielt und gesungen.293 In der nun schon mehrfach herangezogenen frühen Manuskriptversion erinnerte sich der Sonderermittler sogar noch daran, was genau sie gesungen hatten: »[…] damals war unter der Linde in der Mitte des Dorfes der Platz für die abendlichen Zusammenkünfte der Jugend. Dort saßen wir bis spät in die Nacht hinein und sangen mit den Burschen und Mädchen. Wir kannten alle Lieder, die sie hier sangen, und brachten ihnen ein neues Lied bei, die ›Schönauer Linde‹, das wir zu Pfingsten im Westerwald aufgeschrieben hatten. Ja, das war ein Stück Deutschland, ein Stück deutscher Jugend, spontane Volksgemeinschaft.«294 Es waren diese Erinnerungen, die den erdachten Wandervogel Günther Geismar nun ganz nahe an den real existierenden Alfred Kurella heranrücken sollten. Die besagte Ferienfahrt war keine Fiktion, 291 Was auch Geismars Plan einer Wanderung dorthin etwas unrealistisch erscheinen lässt. 292 Kurella, Gronauer Akten, S. 19–20. 293 Ebenda, S. 25 und S. 132. 294 AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1087. Eingeschobene handschriftliche Seiten vor nummerierter Seite 13.
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sondern hatte tatsächlich stattgefunden. Am 4. August 1911 waren die Wandervögel der Ortsgruppe Bonn von Kassel aus in nördlicher Richtung aufgebrochen.295 In den großen Ferien hatten sich die jungen Wanderer vier Wochen Zeit genommen, um über den Solling nach Kloster Corvey, durch das Wesertal nach Hameln, über das Steinhuder Meer und das Wesergebirge wieder gen Süden in den Teutoburger Wald und schließlich über das Ebbegebirge nach Dillenburg zu ziehen. Auf der Teilstrecke von Corvey nach Hameln waren Alfred Kurella und seine Freunde dabei an den Höhenzügen Hils und Ith vorbeigekommen; zwischen Hameln und dem Steinhuder Meer hatte sie der Weg anschließend »durch den ›Saupark‹ in den Deister« geführt.296 Dass dem jungen Kurella – wie schon seinem Alter Ego Geismar – während des geselligen Beisammenseins mit der Dorfjugend die »Lieder, die sie hier sangen«, vertraut gewesen waren, sollte niemanden überraschen. Sein musikalisches Repertoire war immens. Nicht nur der »Zupfgeigenhansel« war ihm, wie wohl den meisten Wandervögeln, geläufig; er selbst konnte mit seinem »Bonner Liederblatt« nicht weniger als 22 Fahrtenlieder hinzufügen und noch einmal 43 im späteren »Wandervogel Lautenbuch«. Und doch waren es insgesamt nicht 65, sondern »nur« 64 Notensätze, die der Lautenspieler zusammengetragen hatte. Denn einem einzigen Lied wurde die Ehre zuteil, sowohl im »Liederblatt« als auch im »Lautenbuch« abgedruckt zu werden. Das war wohl Alfred Kurellas Lieblingslied: »Die Schönauer Linde«297 – ein Stück Deutschland, ein Stück deutscher Jugend, spontane Volksgemeinschaft. Man mag nun einwenden, dass nur die allerengsten Jugendfreunde Alfred Kurellas in der genau datierten und lokalisierten Ferienfahrt, oder auch in der Schönauer Linde, einen Verweis auf die nahe Verwandtschaft des Autors mit seinem Romancharakter hätten erkennen können. Dass Alfred Kurella aber Mitglied der deutschen Jugend-
295 Vgl. die Ankündigung der Ferienfahrt in: Gaublatt der rheinischen Wandervögel, hrsg. vom Kreis Mittelrhein (VIII) des Alt-Wandervogels im Juli 1911, S. 12. Die Wegstrecke betrug rund 450 km. 296 Zur Teilnahme Kurellas an genau dieser Wanderung vgl. den Eintrag zu 1911 in einer undatierten, handschriftlichen Chronologie in: AdK AlfredKurella-Archiv, Band 1298: »Sommer: Weser, Ith, Hils«. 297 Vgl. Kurella/Borchers (Hg.), Bonner Liederblatt, S. 17–18, und Kurella, Wandervogel Lautenbuch, S. 71.
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Bonner Liederblatt/Wandervogel Lautenbuch und Auszüge: Die Schönauer Linde (1911/1913)
bewegung gewesen war und als begeisterter Wandervogel am Freideutschen Jugendtag teilgenommen hatte, diese Tatsache war auch unter den Moskauer Exilanten weithin bekannt.298 Und es war für Kurella nicht möglich, diesen Teil seiner bürgerlichen Vergangenheit nachträglich zu korrigieren – langjährige, prägende Erfahrungen ließen sich nicht so leicht als »Fehler« zugeben und ablegen, wie es noch bei den literarischen Vorlieben möglich gewesen war. Um eine so wesentliche Phase in der adoleszenten Persönlichkeitsentwicklung mit 298 Vgl. etwa Rudolf Leonhards Bezugnahme auf die Freideutsche Jugend in seinem Beitrag zur Expressionismusdebatte, in: Leonhard, »Eine Epoche«, und Walter Victors Antwort darauf, in: Victor, »Freideutsch«, in der er auch Kurellas Beteiligung erwähnt. Alfred Kurella antwortet seinerseits auf beide mit Kurella, »Freie Deutsche Jugend«.
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der Hinwendung zum Kommunismus in Einklang zu bringen, wollte Alfred Kurella hier ein anderes Manöver ausprobieren. Nachdem er die eigenen Jugenderlebnisse seiner nationalsozialistischen Romanfigur zugeschrieben hatte, musste er sich natürlich von dessen weiterem Lebensweg distanzieren. Diese Spaltung erfolgte wiederum in Form einer Erinnerung Geismars, in der er sich mit einer von ihm selbst gestellten rhetorischen Frage quälte: Wie konnte es sein, dass die vor dem Krieg und besonders auf dem Meißner so geeint aufgetretene Jugend sich später in so unterschiedlichen politischen Lagern wiedergefunden hatte: »Es gibt da viele dunkle Punkte. Eines verstehe ich vor allem nicht recht: Es waren doch schon damals zwei deutlich voneinander getrennte Lager vorhanden. Die einen sammelten sich um die Losung der ›inneren Wahrhaftigkeit und eigenen Verantwortung‹, die anderen vertraten das Führerprinzip; das waren die Anhänger Wynekens. Nach ihrem damaligen Standpunkt beurteilt, müßte man die erste Gruppe, die übrigens die große Mehrheit darstellte, den Liberalen zurechnen, während die Anderen Anhänger des Autoritätsund Eliteprinzips waren. Aber sonderbar: die damaligen ›Liberalen‹ sind heute fast alle aktiv in unserer Bewegung, wie zum Beispiel ich, oder sind anständige Mitläufer wie Glatzel und Jöde. Von den damaligen ›Autoritären‹ dagegen ist die Mehrzahl früher oder später zur Kommune gegangen!«299 Alfred Kurella wäre wohl gern noch deutlicher geworden; in der frühen Manuskriptversion war nicht die Rede davon, dass die »Mehrzahl«, sondern dass vielmehr die »Bedeutendsten« der damaligen »Autoritären« »zur Kommune gegangen« seien.300 Und einer der »bedeutendsten« Anhänger des Reformpädagogen Gustav Wyneken war zweifelsohne Alfred Kurella selbst. Günther Geismar rechnete sich dagegen der ersten, der »liberalen« Gruppe zu, was Kurella an anderer Stelle des Romans bereits deutlich gemacht hatte, als er die »Karriere« des Sonderermittlers resümiert hatte: »[…] gerade vom Wandervogel her, wo [Geismar] zur Gruppe Frank Glatzels gehört hatte, war er im Gefolge seines ›Führers‹ nach dem Kriege zuerst zu den ›Völkischen‹ und dann zu Hitler
299 Kurella, Gronauer Akten, S. 67–68. 300 Vgl. AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1085.
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gekommen, und eben wegen dieser Vergangenheit hatte man ihn, der eigentlich – wieder wie Frank Glatzel – Jurist war, 1933 auf den Posten im Innenministerium gesetzt, den er jetzt innehatte.«301 Die Absetzbewegung des Autors von seiner Romanfigur hätte deutlicher nicht ausfallen können. Denn ebenso geradlinig, wie hier Geismars Lebensweg vom Wandervogel über die Völkischen zu den Faschisten nachgezeichnet wurde, so hatte Kurella auch die eigene – entgegengesetzt verlaufende – Entwicklung beschrieben. In dem eigenhändig verfassten Lebenslauf von 1934, der in seiner Kaderakte abgelegt war, hieß es hierzu stichpunktartig: »Ab 1910 aktiv in der bürgerlichen Jugendbewegung […], ab 1912 auf dem ›linken‹ Flügel. Während des Krieges mit Bittel einer der Organisatoren des ›sozialistischen‹ Flügels der ›Freideutschen Jugend‹ […], Herbst 1916 Eintritt in die illegale F[reie] S[ozialistische] J[ugend] Berlin […], 1917–18 Teilnahme an illegalem Literaturvertrieb Berlin, Leipzig, Dresden. Ab Frühjahr 1918 unter Polizeiaufsicht. August 1918 Verfahren wegen Hochverrat eingeleitet. Illegal bis Oktober 1918. November 1918 nach München. Organisator und Leiter der F[reien] S[ozialistischen] J[ugend] München. Dezember 1918 Eintritt neugegründete K.P. München […] Sektion Schwabing.«302 Auf den ersten Blick erscheint Alfred Kurellas (Selbst-)Distanzierung von seiner Romanfigur also eine simple, eindimensionale Angelegenheit gewesen zu sein. Im Kern stand die Behauptung, dass in der Jugendbewegung im Allgemeinen und im Wandervogel im Besonderen ein »linker, sozialistischer« mit einem »rechten, völkischen« Flügel um den richtigen Weg zu jugendlicher Wahrhaftigkeit gerungen hatte. Was auch immer die jungen Wandervögel Kurella und Geismar in den Vorkriegsjahren verbunden haben sollte – die Liebe zum Wandern, zur Musik, zur Natur –, es wurde durch die politische Entwicklung der Jugendbewegung in einen Antagonismus verwandelt. So kam es, dass sich Alfred Kurella mit dem Ausbruch der Novemberrevolution ganz der kommunistischen Sache verschreiben sollte, während sein Alter Ego Geismar ins nationalsozialistische Lager abdriftete.
301 Kurella, Gronauer Akten, S. 17–18. 302 Vgl. Kurellas handschriftlichen Lebenslauf vom 27. 10. 1934 in seiner Kaderakte RGASPI 495/205/6339, Bl. 386.
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Mit Geismars Grübelei über die unterschiedlichen auf dem Hohen Meißner vertretenen Strömungen wollte Alfred Kurella aber wenigstens eines »selbstkritisch« einräumen: dass er einstmals einer der »bedeutendsten« Wandervögel gewesen war. Auch später in seinem Leben wurde er nicht müde, genau darauf hinzuweisen: »Ich gehörte vor dem Krieg zu dem führenden Kreis des rheinischen Wandervogels, stand mit den führenden Kreisen fast aller anderen Gebiete in Verbindung, nahm an zahllosen Tagungen und Zusammenkünften teil, habe fast alle Teile Deutschlands ›durchtippelt‹ und zahllose Ortsgruppen der verschiedenen Bünde kennengelernt«, betonte er noch einmal im Jahr 1938.303 Weitere 35 Jahre später erneut: »Ich war in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, wie man so sagt, ›großer Hahn‹ im alten Wandervogel.«304 Doch wie oft der kommunistische Berufsrevolutionär dieses Eingeständnis auch wiederholte; es wurde dadurch nicht wahrer. Alfred Kurella war »vor dem Krieg« im »alten« Wandervogel überhaupt kein »großer Hahn« gewesen. Zwar hatte man ihn 1911 in das »engere Thing«, also in das Führungsgremium seiner Ortsgruppe, gewählt, doch zu viel mehr als einem begeisterten lokalen Mitglied machte ihn das nicht.305 Weder war er in der Gauleitung des rheinischen Wandervogels, noch gar in der Bundesleitung aktiv. Auch seine ersten publizistischen Gehversuche wiesen ihn nicht als Führungspersönlichkeit aus – ganz im Gegenteil: Die wenigen Aufsätze, die er in Wynekens »Anfang« oder in der Monatsschrift Wandervogel veröffentlicht hatte, waren gänzlich unpolitisch.306 Warum aber sollte Alfred Kurella seine Bedeutung in der bürgerlichen Jugendbewegung übertreiben wollen? Sich mit etwas brüsten, das er doch vielleicht besser heruntergespielt hätte, wenn seine Hinwendung zum Kommunismus überzeugend wirken sollte? Bei genauerer Betrachtung erweist sich die Übertreibung seiner Rolle im Wandervogel aber als eine geschickte chronologische Begradigung des eigenen Lebensweges. Denn hier hatte er etwas zu verheimlichen. Natürlich war er ein »großer Hahn« in der Jugendbewegung gewesen, 303 Kurella, »Freie Deutsche Jugend«, S. 104. 304 Kurella, »Mein Beruf«, S. 9. 305 Vgl. die Wahlergebnisse in: Wandervogel – Rheinisches Fahrtenblatt, 3. Jg. (Ostermond [April] 1911), Heft 4, S. 6. 306 Vgl. Kurella, »Jungen und Mädels«, Kurella, »Über die Trennung«, sowie die bereits erwähnte Landschaftsbeschreibung Kurella, »Das Rheinland«.
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doch das war nicht etwa vor dem Krieg, sondern zum Ende des Krieges. Zwischen 1917 und 1918 – also genau in den Jahren, die in Kurellas autobiografischen Angaben immer als die Phase seiner Hinwendung zum Kommunismus beschrieben wird –, genau da hatte er mit großem Ernst und Einsatz ein ganz anderes politisches Ziel verfolgt! Weit entfernt davon, sich den proletarischen Massen anschließen zu wollen,307 versuchte Alfred Kurella gemeinsam mit einigen Freunden den Geist des alten Wandervogels wiederzubeleben, die Freideutsche Jugend zu vereinen und damit die bürgerliche Jugendbewegung zu neuer Stärke zu führen. In der Tat hatte die Bewegung ein solches Engagement bitter nötig. Der mit dem Ersten Freideutschen Jugendtag deklarierte Zusammenhalt der vielen verschiedenen Organisationen der Jugendbewegung – vom Wandervogel, über die Akademische Freischar, den Alt-Wandervogel bis hin zur Freien Schulgemeinde Wickersdorf und diversen »Abstinenzler«-Gruppen308 – hatte sich schon nach kurzer Zeit als brüchig erwiesen. Nach nur einem halben Jahr musste der »Hauptausschuss der Freideutschen Jugend« unter der Leitung von Knud Ahlborn und Bruno Lemke eine ganze Reihe von Austritten und Ausschlüssen vermelden: so auch die der Wickersdörfer unter Gustav Wyneken und der abstinenten Lebensreformer von Hermann Poperts Vortrupp. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die Einberufung der jungen Erwachsenen sowie der anschließende enorme Verlust an Menschenleben unter den sogenannten »Feldwandervögeln« sollten die Ju-
307 Im Januar- und sogar noch im Juliheft 1918 der Freideutschen Jugend bespricht Kurella Bücher über die proletarische Jugendbewegung, versucht Gemeinsamkeiten mit der bürgerlichen Jugendbewegung auszuloten, kommt aber in beiden Fällen zu dem Ergebnis, dass die beiden Bewegungen je für sich autonom bleiben müssten. Unfreiwillig komisch liest sich heute sein Urteil, eines der Bücher sei wegen des parteipolitischen Jargons kaum verständlich. Vgl. Freideutsche Jugend, 4. Jg. (Januar 1918), Heft 1, S. 45 und (Juli 1918), Heft 7, S. 270–271. 308 Zur Meißner-Tagung hatten folgende Organisationen aufgerufen: die Deutsche Akademische Freischar, Deutscher Bund abstinenter Studenten, Deutscher Vortruppbund, Wandervogel e. V., Jungwandervogel, Bund deutscher Wanderer, Germania – Bund abstinenter Schüler, Freie Schulgemeinde Wickersdorf, Landschulheim am Solling, Akademische Vereinigungen Marburg und Jena, Serakreis-Jena, Burschenschaft Vandalia-Jena.
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Freideutsche Jugend beim Bundestag in Tübingen (1918) AdJb, Burg Ludwigstein F4 Nr. 46
gendbewegung weiter dezimieren. Gegen Kriegsende existierten neben dem Hauptausschuss zwar noch zahllose andere Organisationen, doch von einer geeinten Bewegung konnte keine Rede mehr sein. Stattdessen hatten sich die jeweiligen »Führer« der zersplitterten Vereinigungen und Bünde scheinbar heillos zerstritten. Im Herbst 1917 kam es dann zu einem Treffen von Knud Ahlborn und Gustav Wyneken, den wohl prominentesten unter den zerstrittenen Führungspersönlichkeiten der Bewegung. Den Rahmen für diese Begegnung bildete die sogenannte Erste Freideutsche Woche, die zwischen dem 25. September und 1. Oktober 1917 im Landschulheim am Solling stattfand – also ausgerechnet am Ort der Handlung der »Gronauer Akten« im Kreis Holzminden.309 Dass die Aussprache zwischen den beiden rivalisierenden Jugendführern überhaupt zustande gekommen war, daran hatte Alfred Kurella einen nicht unerheblichen Anteil. Schon Monate vor der Ersten Freideutschen Woche hatte er gemeinsam mit Freunden in öffentlichen Stellungnahmen für die Wiederaufnahme Gustav Wynekens plädiert und sich dabei vehement für eine
309 Vgl. die euphorische Besprechung der Ergebnisse in: Kurella, »Die Neueste Entwicklung«, S. 739–740.
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umfassende Reform des Freideutschen Verbandes eingesetzt, die nicht nur auf die Wiederannäherung der Wickersdorfer Schulgemeinde und auf einen erstarkten Wandervogel, sondern ganz umfassend auf eine neue, geeinte Jugendbewegung abzielte.310 Die Aussprache zwischen Ahlborn und Wyneken brachte schließlich den erhofften Durchbruch. Ein »Verfassungsausschuss« wurde einberufen, der eine neue Grundlage für eine »Dachorganisation« der geeinten Jugendbewegung entwerfen sollte. Das Gremium beschäftigte sich in den Wintermonaten 1917–1918 allerdings nicht nur mit satzungsmäßigen Fragen, sondern auch damit, den völkischen Flügel, der zahlenmäßig nur gering am Solling vertreten gewesen war, für einen Neuanfang zu gewinnen.311 Mit Erfolg: Am 28. März 1918 wurde der Verfassungsentwurf auf dem Freideutschen Führertag in Nürnberg angenommen, die Auflösung des alten Freideutschen Verbandes beschlossen und die Neugründung als Freideutsche Jugend in die Wege geleitet. Da es sich um eine »Dachorganisation« handelte, mussten allerdings noch die einzelnen Bünde und Vereinigungen ihren Beitritt beschließen. Der Erste, der dies in die Wege leitete, war der Wandervogel e.V., der sich unmittelbar im Anschluss an die Nürnberger Versammlung in Würzburg zu einem Bundestag zusammenfand. Der Vorschlag, sich der neuen Freideutschen Jugend anzuschließen, wurde von Alfred Kurella selbst eingebracht. Doch er war nicht allein; aus politischen Gründen wollte man auch hier die wiedergefundene Einigkeit demonstrieren, sodass der entsprechende Beschlussantrag gemeinsam von einem Vertreter des »linken« und des »rechten« Flügels des Wandervogel e.V. vorgelegt werden sollte. An der Seite Alfred Kurellas stand in Würzburg kein anderer als der in den »Gronauer Akten« gleich mehrfach erwähnte Führer der Völkischen, der Führer von Günther Geismar: Frank Glatzel.312 310 Zu Kurellas Kampagne vgl. Kurella u.a., »Kameraden!«; Kurella u.a., »Zweiter Rundbrief«; und Kurella, »Aufruf an die Jugend«. Kopien hiervon finden sich in: Nachlass Wyneken AdJb N35/1720. Siehe auch: Kurella, »Für Wyneken«, und den von Kurella mitunterzeichneten, maschinenschriftlichen »Aufruf an die Wandervögel« vom September 1917, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv 1307. 311 Vgl. Ahlborn, »Die Führeraussprache«, woraus hervorgeht, dass Kurella die Einsetzung des Verfassungsausschusses mit anderen zusammen vorgeschlagen hatte und dann auch als Mitglied benannt wurde. 312 Vgl. Paul-Hasselblatt, »Bericht«.
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Nur wenige Monate bevor Alfred Kurella »sein ganzes Leben dem Kommunismus« verschreiben sollte, war er also bemüht gewesen, eine Verständigung mit dem rechten Flügel der bürgerlichen Jugendbewegung herbeizuführen und eine neue Einheit zu schmieden.313 Dabei hatten sich seine Aktivitäten nicht auf technische Verfassungsfragen beschränkt; in Würzburg war es nämlich »zu einem näheren Kennenlernen und zu freundschaftlicher Verbindung zwischen führenden völkischen und mehr ›links‹ orientierten Geistern« gekommen.314 Wie viel ihm diese neu gewonnene Freundschaft bedeutete, lässt sich daran ermessen, dass Kurella nun auch bereit war, weltanschauliche Gräben zuzuschütten. Hierzu verfasste er im Frühsommer 1918 einen bemerkenswerten »Offenen Brief an den neugewählten Führerrat« der geeinten Freideutschen Jugend. Unter dem Titel »Deutsche Volksgemeinschaft« versuchte er, die Gemeinsamkeiten beider Strömungen herauszuarbeiten. Die Differenz läge schließlich nur in der je andersartigen Betonung des Begriffs; während die »Völkischen« das »Deutschtum« der Volksgemeinschaft zur Hauptforderung erheben wollten, sei der »sozialistische« Flügel zunächst der Schaffung einer »Gemeinschaft« verpflichtet. Diese unterschiedlichen Betonungen begründeten jedoch keine unüberbrückbare Differenz; einig sei man sich doch darin, innerhalb des Wandervogels eine widerspruchsfreie, menschliche Gemeinschaft leben zu wollen, die dann auf das gesamte deutsche Volk ausstrahlen würde: »Wir können nicht Menschen zu Deutschen, sondern wollen Deutsche zu Menschen machen.«315 Ein bestimmter Leser dieser Zeilen fühlte sich besonders angesprochen und konnte seine Begeisterung für Kurellas Intervention kaum zügeln: »Ich bin ihm für diese Tat von Herzen dankbar. Sein Aufsatz spricht vieles aus, was auch ich auf der Zunge hatte. Alfred Kurella war schneller mit der Feder. Wir stimmen ihm mit Freuden zu: Das Wandervogelvolk ersehnt die ideale Menschengemeinschaft: die 313 In einem späteren Aufsatz beschreibt Kurella diese Geschichte als Versuch des »sozialistischen radikalen Flügels«, die Bewegung zu übernehmen. Sein Engagement für eine Aussöhnung mit den Völkischen unterschlägt er dabei, vgl. Kurella, »Freie Deutsche Jugend«, S. 101. 314 Kurella, »Freideutsche Entwicklung«, S. 157–158. 315 Kurella, »Deutsche Volksgemeinschaft«, S. 176.
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Volksgemeinschaft. Das Wandervogelvolk ist der erste Ausdruck, das erste schöne Bild einer solchen Gemeinschaft. Was uns eine Zeitlang zu trennen schien, war in der Tat das Anschlußsuchen nach Außen, das nach verschiedenen Richtungen geschah. Seit Nürnberg, wo die Freideutsche Jugend sich zusammenfand, noch mehr nach diesem schönen Bekenntnis sollte uns das Bewußtsein der Gemeinschaft nicht mehr verloren gehen. Wir sind im tiefen Wesen eins. Wir wollen das nicht vergessen, auch wenn die Zukunft – in der Wirklichkeit – den einen nach rechts und den anderen nach links führt. Hie Schwärmerei – hie Wirklichkeitsidealismus – hie Sozialismus – hie Volkstum! Im letzten Grunde ist’s Eines das wir suchen: die Wahrheit, was uns treibt: Idealismus, was wir erstreben: die ideale Menschengemeinschaft – wir sagen: Die Volksgemeinschaft. Frank Glatzel«316 Die wiedergefundene »Einheit« zwischen »links« und »rechts«, zwischen Kurella und Glatzel, währte allerdings nur kurz – und zerfiel wenig später mit dem Zusammenbruch der deutschen Armeen an der Westfront, dem Verlust des Krieges und dem politischen Umsturz. Die Novemberrevolution in Bayern und die Ausrufung der Republik in Berlin führten nun zur Politisierung auch jener bürgerlichen Jugendlichen, die vormals so stolz auf ihre Unabhängigkeit gewesen waren. Wie viele andere Führer der Jugendbewegung sollte nicht nur Alfred Kurella, sondern auch Frank Glatzel sich nun parteipolitisch binden wollen; ihre Wege trennten sich also wieder. Während Kurella der Kommunistischen Partei beitrat, rief Glatzel seine Unterstützer dazu auf, die Deutschnationale Volkspartei zu wählen. Damit hatten sie beide einen Tabubruch begangen: Die Freideutsche Jugend zerfiel; eine »freie«, nur der »inneren Verantwortung« verpflichtete Jugendbewegung konnte es danach nicht mehr geben.317
316 Glatzel, »Der Jungdeutsche Bund«, S. 423. 317 Zur Politisierung von Kurella und Glatzel und zum Niedergang der Bewegung, vgl. Laqueur, Die deutsche Jugendbewegung, S. 113–148; die einzige Ausnahme in Form einer parteiunabhängigen Jugendgruppierung war die kurzlebige »Entschiedene Jugend«, der auch Alfred Kurellas Bruder Heinrich angehörte, vgl. hierzu Linse, Die entschiedene Jugend.
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Der Autor und Kommunist Alfred Kurella und sein Romancharakter, der Sonderermittler und Faschist Günther Geismar, hatten also nicht nur die gleichen Bücher gelesen, die gleichen Lautensätze geübt, die gleichen Archivalien gefunden, denselben Dichter verehrt und auf der gemeinsamen Wanderung dasselbe Lied gesungen; beide hatten sich auch um die Einheit der bürgerlichen Jugendbewegung gesorgt und sich nach deren Zerfall mit der Frage gequält, was »in der Wirklichkeit – den einen nach rechts und den anderen nach links« geführt hatte; warum also der eine Faschist geworden, der andere aber »zur Kommune« gegangen war. Für seinen Teil hatte Günther Geismar die Frage ganz unzweideutig beantwortet: seinen Sozialismus hatte er im Schützengraben gefunden.318 Es war das Gemeinschaftserlebnis des Krieges, das in der nationalsozialistischen »Bewegung« ganz allgemein, besonders aber in den »prächtigen Jungs der SA« weiterlebte. So dachte Geismar, obwohl die eine konkrete persönliche Erinnerung an den Krieg, die er hatte, doch eher qualvoll-beklemmend nachwirkte. Nicht zufällig waren es die im Hexenprotokoll geschilderten Folterungen, die diese Erinnerung wachriefen: »[…] als vor Sommepy die ersten Engländer eingesetzt wurden. Sie hatten viele neue Artillerie mitgebracht und wir waren ein so dichtes Feuer noch nicht gewöhnt. Als sie dann zum Sturm ansetzten und die Beschießung unserer Gräben einstellten, empfanden wir diese Stille besonders stark. Dazu kam dann das Gekreische ihrer Pfeifen und Dudelsäcke. Damals gaben wir dem Ort den Namen Hexenkessel. Es schien uns, als sollten wir niemals wieder herauskommen. So würgt mich auch jetzt irgend etwas im Halse. Wie werde ich hier herauskommen?«319 Dabei blieb unklar, an welches der vielen Weltkriegsgefechte in diesem Abschnitt der Westfront er sich erinnerte. Besonders verwirrend war der Hinweis auf Engländer mit Pfeifen und Dudelsäcken. Nicht etwa, weil es sich wohl nur um Schotten hätte handeln können, sondern weil britische Truppen zu keinem Zeitpunkt an den dortigen Kampfhandlungen beteiligt gewesen waren. Eines traf jedoch zu: Unter deutschen Soldaten wurde die Gegend zwischen Sommepy und der nahe ge-
318 Vgl. Kurella, Gronauer Akten, S. 47. 319 Ebenda, S. 188.
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Feldpostkarte Somme-Py (1915); Privatbesitz
legenen Ortschaft Tahure tatsächlich als »Hexenkessel« bezeichnet; spätestens nach der Winterschlacht in der Champagne im Februar und März 1915.320 Das Besondere an diesem groß angelegten Durchbruchsversuch der Franzosen war der massive Einsatz der Artillerie – wohl das erste »Trommelfeuer« des Krieges –, wie ein Schweizer Kriegsbeobachter mit der ihm eigenen Neutralität feststellte: »Das interessanteste Moment ist dabei die ungeheure artilleristische Vorbereitung, welche die Franzosen ihren Angriffen angedeihen ließen. Würde es auch zu weit führen, das im Einzelnen zu belegen, so sei auf Grund der beiderseitigen Meldungen als sichere Kalkulation festgestellt, daß die Franzosen durch die Massenartillerie die deutsche Linie derart methodisch Tag und Nacht abstreuen ließen, daß man bei der Berechnung zu dem unerhörten Ergebnis von mehr als 16 Schuß auf den laufenden Meter kommt. Die Verteidiger sind also in ihren eingeebneten Gräben buchstäblich mit Eisen bedeckt worden. Wir gehen vielleicht nicht zu weit, wenn wir darin für die Angreifer wie für die Verteidiger eine Rekordleistung erblicken,
320 Vgl. Baer, Der Völkerkrieg, Band 10, S. 108, der den »Hexenkessel« von Tahure erwähnt.
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wie sie noch nicht dagewesen ist: Daß in dieser Hölle der deutsche Verteidiger bis zuletzt ausharrte und den Durchbruch verhinderte, wenn auch wohl das Vorgelände und die erste Bodenwelle vor Perthes preisgegeben werden mußte, zeugt von dem unbegrenzten Opfermut der deutschen Infanterie.«321 Die deutsche Heeresleitung äußerte sich weniger neutral in ihrem Bericht vom 10. März 1915. Dort wusste man, wem man dafür zu danken hatte, dass der französische Durchbruchsversuch gescheitert war: »In Tag und Nacht ununterbrochenen Kämpfen hat der Gegner seit dem 16. Februar nacheinander mehr als sechs voll aufgefüllte Armeekorps und ungeheure Massen schwerer Artilleriemunition eigener und amerikanischer Fertigung, oft mehr als 100000 Schuß in 24 Stunden, gegen die von zwei schwachen rheinischen Divisionen verteidigte Front von acht Kilometer Breite geworfen. Unerschütterlich haben die Rheinländer und die zu ihrer Unterstützung herangezogenen Bataillone der Garde und anderer Verbände dem Ansturm sechsfacher Überlegenheit nicht nur standgehalten, sondern sind ihm oft genug mit kräftigen Vorstößen zuvorgekommen.«322 Bei den belobigten Rheinländern handelte es sich um die 15. und die 16. Infanterie-Division, die ihre Stellungen an der Straße zwischen Sommepy und Tahure trotz großer Verluste gehalten hatten. Einen Truppenteil der 16. Infanterie-Division bildete das Königlich-Preußische 2. Rheinische Feldartillerie Regiment Nr. 23 aus Koblenz.323 Und an einem der Geschütze der 6. Batterie dieses Regiments war ein junger Telefonist mit dem Rang eines Vizewachtmeisters postiert. Gemeinsam mit seinem Leutnant musste er dabei zusehen, wie »sechs Regimenter sich verbluteten«. Obwohl der Krieg nur wenige Monate alt war, hatte der 19-jährige Kriegsfreiwillige bereits eine fatalistische Gelassenheit entwickelt. »Wenn es sein sollte«, wollte er lieber
321 So ein Bericht der Berner Tageszeitung Bund, zitiert in: Baer, Der Völkerkrieg, Band 5, S. 23. 322 Abgedruckt in: Baer, Der Völkerkrieg, Band 5, S. 9. 323 Vgl. Taischik, Das Königlich Preußische 2. Rheinische Feldartillerie-Regiment Nr. 23, S. 57–62. Zur genauen Gefechtsposition des Regiments bei Sommepy/Tahure, vgl. o. A., »Kämpfe in der Champagne«, Übersichtskarte, Skizze 3.
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»lustig trällernd […] einen verwischt bekommen, als mit ängstlichem Gesicht […]. Immer ruhig und lustig – bis zu dem letzten Tag, wo sie [ihm] den Leutnant an der Seite wegschossen, gerade als [sie] auch abgelöst werden sollten. Da war das Kreuz für [ihn] und eins erster Klasse, das man den Eltern [seines] Leutnants schickte, ein schwacher Trost.«324 Nicht nur Günther Geismar, auch der junge Vizewachtmeister und Telefonist Alfred Kurella hatte den »Hexenkessel« vor Sommepy erlebt – und überlebt! Neben all den anderen Erfahrungen und Vorlieben teilten die beiden also auch noch dieselbe Kriegserinnerung. Das Erlebnis an sich konnte demnach keine Auskunft darüber geben, warum der eine Faschist, der andere Kommunist geworden war – es kam vielmehr auf die lebensgeschichtliche Deutung an. Und genau hierzu lieferte Günther Geismar eine wortreiche Erklärung: »Ich habe wieder einmal gefühlt, was unser Sozialismus bedeutet. Er ist doch untrennbar verbunden mit dem Kriegserlebnis. […] Mir fiel wieder einmal das ein, was der junge Landmann über dies Kriegserlebnis geschrieben hat. Besinnst Du Dich noch auf ihn? Wir lernten ihn auf einer Gesellschaft bei v. R. kennen. Er war lange Zeit Sekretär bei Herrn von Borsig. Den Aufsatz, an den ich denke, hat er allerdings in einem ganz anderen Zusammenhang geschrieben. Das war damals, als er von seiner Dienstreise nach Rußland zurückkam. Du weißt ja, wie sich zu jener Zeit gewisse Herren von
324 Frontbrief von Alfred Kurella an die Akademische Freischar, 30. 6. 1915, in: AdJb A 2–101-/39. Auf den tragischen Tod des Leutnants am Tag der Ablösung wurde sogar in der offiziellen Regimentsgeschichte hingewiesen, vgl. Taischik, Das Königlich Preußische 2. Rheinische Feldartillerie-Regiment Nr. 23, S. 61. Dass der Hexenkessel von Sommepy und besonders der Tod »seines« Leutnants für Kurella ein einschneidendes Kriegserlebnis darstellten, wird an seiner Begeisterung für die Kampfhandlungen und seiner Wertschätzung des Leutnants deutlich, die er noch unmittelbar vor der Schlacht einer Freundin mitgeteilt hatte, vgl. Kurella an Erika Nöldeke-Christaller, aus Tahure, 14. 1. 1915, und vom »Vorgeschobenen Geschütz«, 7. 2. 1915. Beide im Teilnachlass Helene Christaller, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Bestandssignatur A:Christaller HS.2007.0016. Siehe auch das Foto von Alfred Kurella in der Uniform des Feldartillerie-Regiments 23, erkennbar an den Schulterklappen, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv Fotosammlung I, Mappe 2, 14–00–3.
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der Reichswehr und leider auch einige von unseren Industriellen für Russland zu begeistern versuchten. Landmann ist dem nicht zum Opfer gefallen und es ist ihm gelungen, unser Urerlebnis geradezu klassisch zu formulieren. Ich besinne mich beinah wörtlich auf das, was er geschrieben hat. Das Kriegserlebnis bestand darin, daß mit einem Male alles einen Sinn hatte. Bis dahin hatten wir uns vergeblich Mühe gegeben, in unserem Leben einen Sinn zu finden, und da das nicht ging, weil wir keine leidenschaftliche Neigung zu einer bestimmten Sache hatten, unserem Leben einen Sinn zu geben, von der Vernunft her. Das ging, aber es blieb ein Sinn von der Vernunft her, nicht ein Sinn vom Leben her. Alles war Krampf, nichts paßte zueinander. Landmann verglich das Erlebnis, das diesem Zustand ein Ende machte, mit dem Erlebnis der Liebe, der großen Liebe, die über einen Menschen kommt: auf einmal ist alles verwandelt, alles sammelt sich zu einer einzigen Harmonie und es wird klar und still im Menschen. Nichts bedarf mehr der Rechtfertigung, alles ist, wie es ist, und es ist gut so. Man könnte nicht sagen, was sich geändert hat: man weiß nur, dass mit einem Mal alles einen Sinn hat! Wir waren 1914 erlöst und befreit, weil wir uns endlich kein Lebensziel mehr zu konstruieren, keine Lebensaufgabe mehr der Vernunft abzuquälen brauchten, weil wir nicht mehr nach der Rechtfertigung unserer Taten zu fragen brauchten. Aufgabe, Ziel und Sinn – sie waren einfach da und alles, was zu tun war und was wir taten, war selbstverständlich und bedurfte keiner Rechtfertigung mehr. Wir erlebten damals: es gibt nicht einen Zustand der Freiheit oder Unfreiheit, sondern nur freie oder unfreie Menschen. Alles was wir taten, war eigentlich vorgeschrieben: wir mußten einrücken, wir mußten exerzieren, wir mußten ins Feld, mußten schießen und uns erschießen lassen – alles auf Befehl, und trotzdem waren wir nie so frei wie damals. Denn wir hatten alles, was uns befohlen wurde, längst vorher in unseren freien Willen aufgenommen! Wir erlebten auch eine völlige Änderung der gesellschaftlichen Rangordnung. Es gab, wenigstens im Heere, keine Privatleute mehr. Jedem war vom Staat eine Position zugeteilt und sie entschied über den Rang. Alles andere, auch der Besitz, war gleichgültig geworden. Das Geld als Wertmesser der Persönlichkeit war verschwunden. Damals ging uns auf, daß ein Volk oder wenigstens ein 147
wesentlicher Teil des Volkes zur Entfaltung von Höchstleistungen nicht unbedingt eines materiellen Antriebes bedarf.«325 Diese ganze Passage der »Gronauer Akten« war ein Zitat, und Alfred Kurella versuchte erst gar nicht, das zu verschleiern. Denn mit der Erwähnung des »jungen Landmann« – des »Sekretärs« von Herrn von Borsig – nannte er ganz bewusst den wahren Autor der Zeilen, auf die sich Geismar »beinahe wörtlich« besinnen konnte. Es handelte sich um Heinz Landmann, und der war in Deutschland kein Unbekannter. Nicht etwa weil er Arbeitsdirektor der Borsig-Werke war; berühmt geworden war er vielmehr wegen seiner sportlichen Erfolge: 1924 hatte Heinz Landmann den Titel des Deutschen Tennismeisters errungen. Vor der nationalsozialistischen Machtübernahme hatte der Tennisspieler tatsächlich einen politischen Aufsatz verfasst, worin er aus eigener Erfahrung und mit genau diesen Worten die Bedeutung des Kriegserlebnisses für die bürgerliche Jugend beschrieben hatte. Erschienen war der Beitrag im Jahr 1930 in der konservativen Zeitschrift Europäische Revue. Und Geismar hatte völlig recht, als er meinte, Landmann habe den Aufsatz »in einem ganz anderen Zusammenhang geschrieben« und dass dies wohl mit einer »Dienstreise nach Rußland« zusammenhinge. Denn es ging Heinz Landmann gerade nicht um die Frage, wie das Kriegserlebnis die Hinwendung zum Faschismus begründen könnte. Ganz im Gegenteil: Der Titel des Aufsatzes lautete: »Der Sohn des Bürgers und der Kommunismus«.326 Darin beschrieb Landmann die innere Zerrissenheit seiner Generation, die der Bürgersöhne, die bei Ausbruch des Krieges 18 bis 25 Jahre alt gewesen waren: »Diese Generation hat die Grundlagen ihrer seelischen und geistigen Bildung durch die bürgerliche Vorkriegskultur empfangen, hat aber Krieg, Revolution und alles, was nachher geschah in einem Zustand der Unfertigkeit, also noch gestaltbar und formbar, erlebt. Die Situation dieser Gruppe ist besonders problematisch: denn diese Menschen sind einerseits fest in der bürgerlichen Vorkriegskultur verhaftet und verwurzelt, und sie haben auf der anderen Seite mit völlig offenen Augen und Sinnen allem Neuen und Umstürzenden gegenübergestanden.«
325 Kurella, Gronauer Akten, S. 47–49, Hervorhebungen im Original. 326 Vgl. Landmann, »Der Sohn des Bürgers«, S. 207–208.
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Dergestalt »zwischen zwei Stühlen« sitzend, habe der Bürgersohn den Krieg als »die Erfüllung seines Lebens und des ganzen Weltgeschehens mit einem Sinn« erlebt. Und genau aus diesem Grund verstünde der Bürgersohn auch die Anziehungskraft des russischen Kommunismus, denn dieser vermöge es gleichermaßen, »dem Leben eines ganzen Volkes oder wenigstens dem Leben sehr wesentlicher Schichten dieses Volkes ein weit über das Persönliche hinausgehendes Ziel zu geben, eine gewissermaßen jenseitige Bedeutung und damit einen wirklichen Sinn«. Das sei »wie eine Heiligung des Lebens der von dieser Idee erfaßten Menschen«. Und dennoch: Der Bürgersohn könne den Kommunismus zwar verstehen, selbst dazuzugehören sei ihm aber verwehrt. Denn er erkenne die »im letzten Grunde religiöse Wurzel des Kommunismus«: »Scheinbar ist die Erlösungssehnsucht der Kommunisten völlig auf das diesseits gerichtet und von durchaus materieller Art. Denn die Verhältnisse dieser Welt sollen grundlegend umgeändert werden, und von dieser Veränderung wird die Erlösung der Menschheit erwartet. In Wirklichkeit ist sie aber ebenso jenseitig wie die Erlösungssehnsucht der Christen war. Denn das Ziel, das erstrebt wird, reicht ja weit über den einzelnen und sein Leben hinaus. Nie wird der gläubige Kommunist in dieser Welt noch das gelobte Land betreten oder das Reich der Gerechtigkeit schauen, alles ist Zukunftshoffnung und Zukunftsziel, und darum, vom Einzelnen her betrachtet, durchaus jenseitig. […] Indem ich all dies ausspreche, habe ich zugleich gesagt, daß der Sohn des Bürgers wahrscheinlich nie zu dieser Glaubensgemeinschaft gehören kann: Der, der eine Religion als Religion, einen Glauben als Glauben, ein Dogma als Dogma erkennt, schließt sich damit selbst aus dieser Religions- und Glaubensgemeinschaft aus. Denn für die Anhänger einer Religion ist seine Religion ja nicht eine Religion, sondern sie ist die Quintessenz der unumstößlichen Lebenstatsachen; für den Gläubigen ist sein Glaube ja kein Glaube, sondern die Erkenntnis eben dieser Tatsachen, von der nur sehr viele wegen ihrer unzureichenden Verfassung ausgeschlossen sind; und für den Dogmengläubigen sind die Dogmen ja keine Dogmen, sondern nur die endgültige Formulierung jener endgültigen und letzten Erkenntnisse. In dem Augenblick, in dem der Bürgersohn das religiöse Element im Kommunismus erkennt, den Glauben der Kommunisten als Glauben, das Dogma der Kommunisten als 149
Dogma, sind für ihn auch schon die Kräftequellen versiegt, die dem gläubigen Kommunisten so reichlich fließen. Durch die Erkenntnis, daß der Kommunismus Religion und Glaube ist, scheidet der Sohn des Bürgers gewissermaßen zwangsläufig aus dem Kraftfeld dieser Religion aus.«327 Kein Wunder, dass der Aufsatz des Tennismeisters den gleichaltrigen Bürgersohn und Kommunisten Alfred Kurella herausgefordert hatte. Wie hätte man besser seine eigene Geschichte, die ihn prägenden Vorkriegserfahrungen, die Entwurzelung durch den Krieg und die anschließende Suche nach »letzten Wahrheiten« beschreiben wollen. Auch Kurella hatte »mit völlig offenen Augen und Sinnen allem Neuen und Umstürzenden gegenübergestanden«, bevor die kommunistische Idee ihn »erfaßt« und sein Leben »geheiligt« hatte. Doch das war eine Geschichte, die er so nie erzählen durfte. Seine Wandlung zum Berufsrevolutionär durfte keinesfalls als »Erleuchtung« oder »Bekehrung« gedeutet werden – sondern immer nur als »Erkenntnis«: Der Kommunismus war Wissenschaft, nicht Religion; der historische Materialismus nicht Dogma oder jenseitige Hoffnung, sondern die »endgültige Formulierung« »letzter Erkenntnisse«. Um zu zeigen, dass aus dem »Sohn des Bürgers« durchaus ein aufrechter Kommunist werden konnte, musste Alfred Kurella also Heinz Landmann mithilfe einer Umdeutung widerlegen: Wer im Erlebnis des Krieges die »Erfüllung seines Lebens und des ganzen Weltgeschehens mit einem Sinn« gespürt hatte, der würde sich auch danach den Glauben an eine Religion bewahren wollen, die ihm diesen Sinn – der nicht der Vernunft entsprungen war – als Dogma auferlegen konnte. Günther Geismar war das Beispiel hierfür: Nicht der Kommunismus, der Faschismus war die Religion des Bürgersohns. Nur wer – wie Walter Berger, alias Alfred Kurella – den Sinn des Lebens aus der rationalen, wissenschaftlichen Erkenntnis, aus der marxistischen Lehre vom Klassenkampf, gewonnen hatte, nur der würde als Bürgersohn den dunkel-mystischen Wirrungen seiner absteigenden und dabei zerfallenden bürgerlichen Klasse entrinnen können. Die »Gronauer Akten« waren also gleichermaßen Selbstkritik wie Selbstbehauptung. Beides gleichzeitig war allerdings nur zum Preis
327 Vgl. Landmann, »Sohn des Bürgers«, S. 212–213, Hervorhebungen im Original.
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einer Persönlichkeitsspaltung zu haben. Alfred Kurella war durchaus bereit, Fehler zuzugeben, doch die darin offenbarten Restbestände seiner bürgerlichen Herkunft wollte er allesamt Günther Geismar zuschreiben, jenem überwundenen Teil seiner Persönlichkeit. Übrig bleiben sollte nur der Berufsrevolutionär Walter Berger, der sich gleichsam vergangenheitslos der kommunistischen Sache hingeben wollte. In der Umkehrung von Heinz Landmanns »Sohn des Bürgers« lag die Selbstbehauptung des Autors der »Gronauer Akten«: Schaut Günther Geismar an; das hätte aus mir werden können! Schaut Walter Berger an; das ist aus mir geworden!
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Willi, Lilly und das »N … pabo … Na … Bock … rec …«
Mit den »Gronauer Akten« hatte Alfred Kurella kurz vor seinem Amtsantritt in Leipzig also viel mehr als nur einen sozialistisch-realistischen Abenteuerroman veröffentlicht. Niemand konnte 1954 ahnen, dass es sich eigentlich um ein äsopisches Meisterwerk handelte, mit dem der Autor sich 1936 in verschlüsselter Form an einen einzigen Leser gewandt hatte, von dem er sich die Rehabilitierung erhoffte. Ihm wollte er seine Herkunft und Gegenwart vor Augen führen; ihn sollte die Persönlichkeitsspaltung als Loyalitätsbeweis überzeugen. Der ganze Aufwand hatte aber einen Haken: Warum sollte ausgerechnet Georgi Dimitroff – der vielbeschäftigte und einflussreiche Chef der Komintern – den Roman seines in Ungnade gefallenen ExSekretärs überhaupt lesen wollen? Nach Dimitroffs eigener Aussage war das doch eher unwahrscheinlich: »Ich lese viel wenn ich nur kann. Ich muß sagen, meine Geduld reicht nicht immer aus, um unsere revolutionäre Literatur zu lesen (Gelächter). Ich kann es nicht und verstehe es nicht, ich bin kein Spezialist (Lachen).«328 Und da war noch eine zweite Unwägbarkeit: Selbst wenn Dimitroff das Buch lesen und sich durch die Lektüre politisch bestätigt, ja gar persönlich geschmeichelt fühlen würde; und selbst wenn ihm darüber hinaus noch die Tschernyschewski-Parallelen aufgefallen wären, er in Walter Berger den leninschen Berufsrevolutionär Alfred Kurella und in Günther Geismar dessen personifizierte Selbstkritik erkannt hätte – warum sollte er dann nicht einfach denken: »Großartig: Kurella macht sich gut als Schriftsteller! Der soll mal so weitermachen!« Mit anderen Worten: Warum sollte er Kurella rehabilitieren und wieder in die Arbeit der Komintern aufnehmen, wenn aus ihm doch so ein parteilich wie persönlich nützlicher Schriftsteller geworden war? Dass Dimitroff das Buch überhaupt würde lesen wollen – dafür hatte Alfred Kurella gesorgt. Sowohl im Klappentext als auch in der Einleitung wird der äußere Anlass der ganzen Geschichte, der Mord
328 Dimitroff, »Die revolutionäre Literatur«, S. 11.
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an dem SA-Mann, als »Fall Keith« bezeichnet. Ein ungewöhnlicher Nachname schottischen Ursprungs, der in der niedersächsischen Provinz wahrlich nicht häufig vorkam! Wer sich die Mühe machte, ein paar Seiten weiter zu lesen, konnte schnell auch noch den vollen Namen des Ermordeten erfahren: Er hieß »Willi Keith«. Kurellas Namenswahl war natürlich nicht zufällig und dabei alles andere als subtil. Bei dem letzten direkten Kontakt, den der Romanautor mit dem Genossen Dimitroff gehabt hatte, war es um den »Diebstahl« seines Manuskripts über den Reichstagsbrandprozess gegangen. Und dieses Buch wäre doch beinahe unter dem Namen »Lilly Keith« erschienen, dem jener Journalistin, die über den Leipziger Prozess berichtet hatte und nun als Mitarbeiterin in Dimitroffs Büro arbeitete. Wenn den Generalsekretär der Komintern irgendetwas in Verbindung mit dem Namen Alfred Kurella stutzig und gleichzeitig neugierig machen würde, dann war das der Mord an Willi/Lilly Keith. Ihn auf diese Weise zu ködern reichte aber nicht. Dimitroff sollte ja auch noch erkennen, dass Alfred Kurella mit diesem Buch seine Rehabilitierung einforderte. In der Tat hatte Kurella in den »Gronauer Akten« genau darauf gepocht – nachdrücklich sogar, aber nicht so offensichtlich wie mit dem Lockvogel Willi/Lilly Keith. Stattdessen war die Forderung in einem kleinen, aber vertrackten Rätsel versteckt, das Dimitroff zu lösen hatte: Zurückgezogen in seinem Zimmer, war der umfassend gebildete Walter Berger – alias Dmitri Lopuchow; alias Alfred Kurella – gerade in einen Klassiker der Militärstrategie vertieft: »Hinterlassene Schriften des Generals Carl von Clausewitz über Krieg und Kriegsführung. Zweiter Band«. Da wurde er von seinem Schüler Edgar von Hadeln beim Lesen überrascht – eine brenzlige Situation, denn damit wäre um ein Haar die kommunistische Gesinnung des Hauslehrers aufgeflogen. Nicht, dass die Lektüre Clausewitz’ im Faschismus verpönt gewesen wäre – ganz im Gegenteil. Doch auch unter den Kommunisten hatte der preußische General seine aufmerksamen Leser gefunden. In der Stadtbibliothek Bern hatte Lenin 1915 die Schriften Clausewitz’ studiert und ganze Abschnitte in deutscher Sprache in eines der berühmten blauen Notizhefte übertragen, die später als sein »philosophischer Nachlass« bekannt wurden. Den exzerpierten Passagen hatte Lenin eigene kurze Bemerkungen in kyrillischer Schrift hinzugefügt. Genau das brachte nun den Hauslehrer in Bedrängnis, denn Walter Berger hatte ebenfalls in kyrillischer Schrift die Randnotizen Lenins in sein eigenes Clause153
witz-Exemplar rückübertragen. Und das war nun dem jungen Freiherrn in die Hände gefallen: »Er [Edgar] schlug die ersten Seiten auf. ›Haben Sie das geschrieben?‹ fragte er, auf einige Notizen am Rande des Textes deutend. ›Ja natürlich, ich denke, du kennst doch meine Handschrift. Ich lese immer mit Anmerkungen – meine eigenen Bücher jedenfalls.‹ Edgar machte große Augen. ›Aber was ist denn das? Das ist doch gar kein deutsch …?‹ Er versuchte zu buchstabieren, so daß ihm die kleine Verzögerung in der Antwort des Lehrers nicht auffiel: ›N… pabo … Na … Bock … rec‹ ›… Nein, deutsch nicht, das ist griechisch.‹ ›Griechisch? Wie schade, daß wir das nicht lernen. Das muß aber fein sein: lesen können, was der olle Leonidas selber geschrieben hat! Was Sie nicht alles können, Herr Berger! Aber was schreibt denn der General? Darf ich lesen?‹ Edgar las mit lauter Stimme: ›Der Krieg ist mehr für den Verteidiger als für den Eroberer da, denn der Einbruch hat erst die Verteidigung herbeigeführt und mit ihr erst den Krieg. Der Eroberer ist immer friedliebend (wie Bonaparte auch stets behauptet hat), er zöge ganz gern ruhig in unsern Staat ein; damit er dies aber nicht könne, müssen wir den Krieg wollen und also auch vorbereiten.‹«329 In dieser, für den weiteren Handlungsverlauf völlig unbedeutenden Szene hatte Alfred Kurella seine Forderung nach Rehabilitierung versteckt. Das Rätsel, das er seinem ehemaligen Mentor Georgi Dimitroff damit aufgab, lautete: Welche kyrillische Randbemerkung Lenins versuchte Walter Bergers Schüler Edgar vergebens zu buchstabieren? Aber warum sollte Georgi Dimitroff dieser wohl kryptischsten aller Passagen der »Gronauer Akten« überhaupt auf den Grund gehen wollen? Hatte Alfred Kurella nicht doch etwas übertrieben mit der Verschlüsselung seiner Botschaft? Dimitroff durfte die Szene nicht einfach überfliegen, sondern sollte erkennen, dass darin ein Rätsel versteckt war. Seine Neugier musste geweckt werden, damit er sich die Mühe machen würde, »N… pabo … Na … Bock … rec« zu entschlüsseln.
329 Kurella, Gronauer Akten, S. 108.
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Alfred Kurella hatte jedoch keinen Zweifel, dass seine Botschaft ankommen und verstanden werden würde; auch dafür hatte er gesorgt. Schon der Umstand, dass Berger-Lopuchow-Kurella die Schriften Carl von Clausewitz’ las, war dazu angetan, den Generalsekretär der Komintern neugierig zu machen. Er selbst hatte sich erst kürzlich mit den strategischen Überlegungen des Preußengenerals befasst. In der Untersuchungshaft in Leipzig hatte sich Dimitroff als eines der wenigen Bücher, die ihm erlaubt waren, den Clausewitz bestellt.330 Ein anderer, vielleicht sogar gewichtigerer Grund, warum Dimitroff gerade diese Passage einer genauen Prüfung unterziehen würde, lag darin, dass es sich um die einzige Textstelle der »Gronauer Akten« handelte, in der mit Lenin ein »Klassiker des Marxismus« zitiert wurde. Bei solchen Gelegenheiten war eine ideologische Prüfung unerlässlich: Hatte der Autor Lenin korrekt zitiert und seine Randbemerkung in einen ideologisch unbedenklichen Zusammenhang gestellt? Aber der weitaus größte Anreiz für Dimitroff, das »N… pabo … Na … Bock … rec« als Rätsel zu erkennen und lösen zu wollen, lag wieder einmal in der bewussten Anspielung auf Tschernyschewskis »Was tun?« Bei Edgars vergeblichem Versuch, die kyrillischen Buchstaben als lateinische zu entziffern, handelte es sich nämlich um die Nachbildung einer der amüsantesten Szenen in Dimitroffs Lieblingsbuch. In der Frühphase der Liebesbeziehung bringt Dmitri Lopuchow seiner Freundin Wera Pawlowna zwei Bücher zum Lesen mit. Das weckt den Verdacht von Weras Mutter Marja. Gemeinsam mit einem Freund der Familie versucht sie herauszufinden, ob es sich dabei um anständige Lektüre handelt, wie es sich für ihre Tochter geziemt. Doch es fällt den beiden schwer, die Buchtitel zu verstehen, da es sich bei den Werken um ein französisches und ein deutsches handelt – Sprachen, die sie beide nicht wirklich beherrschen: »›Bitte, Michail Iwanytsch, sehen Sie sich einmal diese Bücher an. Den Titel des französischen kann ich mir einigermaßen erklären: ›Destinée‹, wahrscheinlich also ein Lehrbuch guter Manieren; aber von dem deutschen verstehe ich gar nichts.‹ ›Nein, Marja Alexewna, das ist kein Lehrbuch. Destinée heißt Schicksal.‹
330 Vgl. den Eintrag vom 8. 12. 1933 in: Dimitroff, Tagebücher, S. 69.
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›Was für ein Schicksal? Ist es ein Roman, der so heißt, oder ein Schicksalsbuch, ein Traumbuch?‹ ›Das wollen wir gleich sehen, Marja Alexewna.‹ Michail Iwanytsch blätterte in dem Buche. ›Hier ist viel von Serien die Rede, Marja Alexewna, anscheinend ein wissenschaftliches Buch.‹ ›Von Serien? Hm! Wohl wie man Geld umsetzt?‹ ›So ist es, Marja Alexewna.‹ ›Nun, und das deutsche?‹ Michail Iwanytsch las mit einiger Schwierigkeit: ›Über die Religion von Ludwig – Ludwig dem Vierzehnten, Marja Alexewna, ein Werk Ludwigs des Vierzehnten. Das war ein französischer König, Marja Alexewna, der Vater desjenigen, an dessen Stelle der jetzige Napoleon regiert.‹ ›Also ein religiöses Buch?‹ ›Ja, Marja Alexewna, ein religiöses Buch.‹ ›Das freut mich, Michail Iwanytsch. Ich halte zwar Dmitri Sergejitsch für einen ganz soliden jungen Mann, aber man darf heutzutage keinem Menschen trauen.‹ ›Ich glaube auch nicht, daß er etwas Schlimmes im Schilde führt, Marja Alexewna; doch bin ich Ihnen jedenfalls dankbar für Ihre Wachsamkeit.‹«331 Der »Wachsamkeit« der Zensoren war es entgangen, dass Nicolai Tschernyschewski in dem amüsanten Verwechslungsspiel zwei für ihn wichtige philosophische Werke »eingeschmuggelt« hatte. Seinen Lesern war es dagegen bekannt, dass es sich bei dem französischen Buch um Victor Considerants utopisch-sozialistisches »Destinée sociale« und bei dem deutschen um Ludwig Feuerbachs moralphilosophische »Vorlesungen über das Wesen der Religion« handelte. Als Tschernyschewski-Bewunderer würde Georgi Dimitroff also sofort erkennen, dass Alfred Kurellas Spiel mit Edgars Sprachverwirrung auch einen tieferen Sinn haben musste; dass auch mit »N… pabo … Na … Bock … rec« etwas Wichtiges »eingeschmuggelt« werden sollte. Aber was? Die von Edgar vorgelesene Passage über den »friedliebenden Eroberer« sollte es erleichtern, die relevante Stelle zu finden. Doch diese Worte stehen gar nicht auf »den ersten Seiten« der Abhandlungen Clausewitz’, die Edgar aufgeschlagen hatte. Stattdessen findet sich das
331 Tschernyschewski, Was tun?, S. 105.
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Zitat im 5. Kapitel des 6. Buches (des zweiten Teils), das die Überschrift »Charakter der strategischen Verteidigung« trägt. Nun hatte Lenin diese Stelle in der Tat angestrichen, exzerpiert und mit einer Randbemerkung versehen. Aber die konnte Edgar nicht gemeint haben, denn dort stand: ha-ha! ostroumno! Was so viel heißt wie: Ha – Ha! Geistreich! Geistreich war aber auch Alfred Kurella. Natürlich hatte er das Clausewitz-Zitat nicht aus den »Hinterlassenen Schriften« abgeschrieben, sondern direkt den Exzerpten Lenins entnommen. Diese waren nur wenige Jahre zuvor in einer zweisprachigen russisch-deutschen Version in der Zeitschrift Leninskij Sbornik erschienen.332 Bei Clausewitz nachzuschauen wäre ja ohnehin zwecklos gewesen, denn dort konnte man Lenins Randbemerkungen natürlich nicht finden. Also musste es die gerade erschienene deutsch-russische Version sein, die Dimitroff konsultieren würde, um das Rätsel zu lösen. Und dort hätte er auf derselben Seite, auf der Lenins belustigtes ha-ha! ostroumno! steht, auch folgende Randbemerkung finden können: Pravo na voskresenie – unschwer erkennbar als Edgars »N… pabo … Na … Bock … rec«.333 »Pravo na voskresenie«: mit Lenin forderte Alfred Kurella nicht weniger als sein »Recht auf Wiederauferstehung!« Die exzerpierte Clausewitz-Passage, auf die sich Lenins Randbemerkung bezieht, war dann auch eine treffliche Beschreibung von Kurellas eigenem Schicksal: »[…] der Bedrängte wird […] sein ganzes und letztes Vertrauen in die moralische Überlegenheit setzen, welche die Verzweiflung jedem Mutigen gibt, er wird die höchste Kühnheit als die höchste Weisheit betrachten, allenfalls noch kecker List die Hand reichen und, wenn kein Erfolg ihm werden soll, in einem ehrenvollen Untergang das Recht zu künftiger Auferstehung finden.«334
332 Vgl. Lenin, »Vypiski i zameˇcanija na knigu Klauzevitsa«, S. 387–452. 333 Kurella hatte hier an alles gedacht; selbst die »p« – »r« Verwechslung war nicht zufällig, sondern lässt sich dadurch erklären, dass in Schreibschrift der Kreis des »p« nicht geschlossen, sondern als Haken an den nächsten Buchstaben anschließt und somit leicht mit einem deutschen Schreibschrift »r« zu verwechseln ist – Dimitroff konnte sowohl Russisch als auch Deutsch. 334 Clausewitz, Hinterlassene Werke, S. 10
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Konnte man Kurellas Verhalten vor der Untersuchungskommission besser zusammenfassen? In der Vernehmung hatte er mit dem ganzen und letzten Vertrauen in die moralische Überlegenheit die Gegner Dimitroffs angegriffen, hatte selbst höchste Kühnheit und kecke List gezeigt, als er den Vernehmungsleiter an seine sektiererischen Fehler erinnerte. Dann war er aber doch ehrenvoll – weil Dimitroff nicht beschädigend – untergegangen und meinte nun, sich dadurch das Recht auf Wiederauferstehung gesichert zu haben. ha-ha! ostroumno! Geistreicher hätte Alfred Kurella seine Rehabilitierung kaum einfordern können! Und doch war die ganze Mühe am Ende umsonst. Der eine Leser, für den Alfred Kurella die »Gronauer Akten« verfasst hatte, sollte das Buch nie in Händen halten, geschweige denn die darin enthaltene Forderung nach Wiederauferstehung vernehmen. Denn der Roman blieb zunächst unveröffentlicht. Alfred Kurella hatte sein Manuskript mehreren Verlagen angeboten, ohne Erfolg!335 Was vielleicht auch nicht überraschend ist: Denn welcher moskautreue Verlag sollte nach 1936 noch einen Roman verlegen wollen, in dem von Folterungen, fabrizierten Beweisen, erpressten Geständnissen und Todesurteilen die Rede war? Wer würde das wagen, nachdem der »Prozeß gegen das trotzkistische-sinowjewistische terroristische Zentrum« vom August 1936 vor der Weltöffentlichkeit als »Hexenprozeß von Moskau« angeprangert worden war.336 Als die »Gronauer Akten« 1954 schließlich doch noch erscheinen konnten, war Georgi Dimitroff bereits tot – Alfred Kurella jedoch wieder in Amt und Würden. Doch es war niemand mehr da, der sein äsopisches Meisterwerk entschlüsseln konnte.
335 Vgl. Alfred Kurella an Jean Cassou im Dezember 1936, in: AdK AlfredKurella-Archiv, Band 2503, und an Renaud de Jouvenel, 18. 11. 1937, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1619. Kurella versuchte sogar, eine schwedische Übersetzung zu organisieren, vgl. Alfred Kurella an unbekannten »Freund« (russ.), 10. 12. 1936, abgefangen von der Kaderabteilung, in: RGASPI 495/205/6339, Bl. 324–325. 336 Der Erste Sekretär der Sozialistischen Arbeiterinternationale (der Nachfolgeorganisation der II. Internationale) hatte noch im Herbst 1936 ein so betiteltes Pamphlet verfasst, das in mehreren Sprachen erschienen war und die Verhandlung als Schauprozess entlarvt. Das Pamphlet war imUntertitel explizit an Georgi Dimitroff gerichtet! Vgl. Adler, The Witchcraft Trial; zeitgleich erschienen als Adler, Der Moskauer Hexenprozeß.
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Wie man wird, was man ist
Was ist geschehn daß ich mich kaum noch kenne Kein andrer bin und mehr doch als ich war? […] Ich war noch arm als ich noch wahrt und wehrte Seitdem ich ganz mich gab hab ich mich ganz. Stefan George (Alfred Kurellas »Lebensmaxime und Lebenserfahrung«)337
Eigentlich sollte es hier doch um mehr gehen als nur um ein ungeschriebenes Buch. Vielleicht ließe sich aus den »Gronauer Akten« tatsächlich der erste Band von Alfred Kurellas nie verfasster Autobiografie rekonstruieren; wie er sich selbst sehen wollte und – viel wichtiger – wie andere ihn sehen sollten. Aber wären damit auch die beiden eingangs gestellten Fragen beantwortet? Warum hat Kurella seinen letzten Parteiauftrag nicht erfüllen können? Und wie wurde er zu dem Dogmatiker, der er letztlich war? Von Anfang an waren diese Fragen nicht zufällig gestellt. Kurella selbst hat mit ihnen gerungen, was sich nirgends deutlicher ausdrückt als in seiner georgeanischen »Lebensmaxime«. Das darin formulierte Problem der Selbst(er)kenntnis lag nicht etwa an mangelndem Erinnerungsvermögen, sondern war ungleich vertrackter als das. Es war ja nicht so, dass Alfred Kurella keine Erfahrung mit autobiografischem Schreiben hatte. Ganz im Gegenteil. Allein für die Kaderabteilung der Komintern hatte er im Laufe seines Parteilebens nicht weniger als zehn ausführliche Lebensbeschreibungen verfasst – jede anders als die vorangegangenen.338 Hinzu kamen die vielen
337 Kurella zitierte ganz bewusst nur die beiden ersten und letzten Zeilen des Gedichts. Dadurch wollte er es – wie Günther Geismar – nicht als Liebeslyrik, sondern als politisches Vermächtnis verstanden wissen. Vgl. Dietzel, »Gespräch mit Alfred Kurella«, S. 231. 338 Vgl. Kurellas Komintern-Kaderakte, in: RGASPI 495/205/6339, passim. Die genannte Anzahl bezieht sich nur auf ausformulierte Selbstbeschreibungen, beinhaltet also nicht die vielen tabellarischen Lebensläufe. Viele
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Veröffentlichungen, die ganz offensichtlich autobiografische Züge trugen – angefangen mit frühen Beiträgen zur »Geschlechterfrage der Jugend«, in denen er die Geburt seiner unehelichen Tochter verarbeitete; über die »Geschichte der Kommunistischen Jugendinternationale«, mit der er seine »ultralinke« Verirrung der 1920er Jahre entschuldigen wollte; ferner die Kritik an Bertolt Brechts Theaterstück »Die Maßnahme«, mit der er seinen revolutionären Übermut der frühen 1930er Jahre zu erklären suchte; bis hin zu den Beiträgen zur Geschichte der Jugendbewegung und zur Expressionismusdebatte, die zusammen genommen als Wiederholung des gescheiterten Rehabilitierungsprojekts »Gronauer Akten« verstanden werden können. Die schier endlose Abfolge von Selbstkritik und Selbstbehauptung fand ihren traurigen Tiefpunkt in dem Propagandabuch »Ich lebe in Moskau«, mit dem Alfred Kurella die Terrorerfahrung im Exil schönfärben und sogar die Hinrichtung seines eigenen Bruders rechtfertigen wollte.339 Die »Gronauer Akten« waren also keine Ausnahme. Gewiss: Mit der Abwälzung der eigenen Vergangenheit auf einen fiktiven Faschisten hatte die Selbstkritik hier die denkbar radikalste Form angenommen; und doch war der Roman weder das erste noch das letzte Mal, dass Kurella seine Biografie neu und anders klarlegen wollte. Am Ende hatte er unzählige Versionen seines Lebens verfasst, die einfach nicht weitere autobiografische Abhandlungen finden sich in AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1296. 339 Vgl. Kurella, »Körperseele« (1–4); Kurella, Gründung und Aufbau; und Kurella, »Ein Versuch mit nicht ganz tauglichen Mitteln«. Vgl. hierzu Schaad, »Eine Rehabilitierungs-Maßnahme«. Siehe ferner: Kurella, »Freie Deutsche Jugend«; Ziegler (d.i. Alfred Kurella), »Nun ist dieses Erbe zuende«, und Ziegler (d.i. Alfred Kurella), »Schlußwort«. Siehe zudem Kurella, Ich lebe in Moskau. Auch in seinem späteren Roman, Kurella, Kleiner Stein, ist der Protagonist erneut ein Wiedergänger des Autors. Wie nachhaltig Kurellas Bedürfnis der »Reinigung« seiner Parteivergangenheit bleiben sollte, zeigte sich zuletzt noch in seinem Erinnerungsbüchlein, Kurella, Unterwegs zu Lenin, in dem er seine erste Reise nach Moskau schilderte. Die Instruktionen dafür habe er von Hans Pfeiffer erhalten – das einzige Detail, dem sein damaliger Reisebegleiter Ludwig Kröber-Keneth später widersprach. Der Auftrag sei ihnen von Paul Levi erteilt worden. Mit dem 1921 in Ungnade gefallenen Parteiführer wollte Kurella wohl auch 1967 nicht assoziiert werden. Vgl. Scherner, »Die Fronten gingen durcheinander …«, S. 662–690.
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mehr zueinanderpassen wollten. So kam es, dass es bei aller Anstrengung auch dem Vielschreiber nicht gelingen sollte, seinen letzten Parteiauftrag zu erfüllen. Alfred Kurella konnte keine Autobiografie schreiben, weil er ja immer schon daran geschrieben hatte – »Was ist geschehn dass ich mich kaum noch kenne.« Auch wenn die vielen widersprüchlichen Selbstbeschreibungen am Ende nicht miteinander in Einklang zu bringen waren, so gab es doch eine Botschaft, die all diese Geschichten verbinden sollte: die vom Widerruf eigener Positionen und von der bedingungslosen Unterwerfung unter die Parteilinie. In Zeiten höchster Not – im Moskau der 1930er Jahre – wollte Alfred Kurella genau dies seinen »Parteifreunden« mitteilen: »Ich gebe die Abhängigkeit und die Gewalt eines großen Gedankens für mich gern zu, ja ich bin stolz darauf, mir seit 1918 diese Abhängigkeit von der Gewalt des Bolschewismus erkämpft zu haben.«340 Bis ins hohe Alter bewahrte sich Kurella die »erkämpfte Abhängigkeit«, denn sie war die einzige Konstante in seinem Leben – »Seitdem ich ganz mich gab hab ich mich ganz.« Als 72-Jähriger formulierte er die Konsequenzen dieser Einsicht noch einmal in Form eines Glaubensbekenntnisses. Schon ganz früh – im Jahre 1919 – habe ihn ein Genosse des Kommunistischen Jugendverbandes Komsomol gelehrt, was es wirklich heißt, sich »ganz zu geben«, sich dem »großen Gedanken« zu unterwerfen. Der junge Genosse habe ihm klargemacht, dass es nicht genug sei, die Beschlüsse der Partei zu akzeptieren. Nein, auch wenn man vorher eine andere Meinung vertreten hatte, müsse man danach aktiv für die Parteilinie eintreten und diese »mit den richtigen Argumenten, die ja gesiegt hatten«, verteidigen. Das habe einen großen erzieherischen Wert, denn dabei würde man genau die Gegenargumente entkräften müssen, die vormals die eigenen gewesen seien.
340 Alfred Kurella an Kurt Hiller, 31. 5. 1935, in: AdK Alfred-Kurella-Archiv, Band 1611. Auch abgedruckt in: Hiller, Rote Ritter, S. 63. Hiller hatte Kurella und 32 andere »revolutionäre Sozialisten aus allen Lagern« angeschrieben (darunter Heinrich und Klaus Mann, Willi Münzenberg, August Thalheimer und Otto Bauer), um eine Diskussion über eine breite antifaschistische Front anzustoßen. Kurella hatte abgelehnt und, um nicht noch weiter in Verruf zu geraten, »den Inhalt des Projekts [seinen] Parteifreunden mitgeteilt«.
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So erkenne man das »Moment der Zufälligkeit in diesen Gedanken der Andersdenkenden«, und dadurch würde einem klar vor Augen geführt, daß auch in einem selbst noch »Überreste einer Weltanschauung« gesteckt hatten, die man »schon überwunden zu haben glaubte«. Alfred Kurella hatte verstanden: »Damit war die Parteidisziplin auf eine ganz neue Ebene gestellt. Hier ging es nicht nur, wie es im ersten Augenblick erschienen war, um ein ›Kapitulieren vor der Mehrheit‹, um ein passives ›Sich-beugen‹. Es ging vielmehr um einen Akt der Selbsterziehung, um die Anerkennung der größeren Wahrheit. Und diese Anerkennung kann kein passiver Akt sein. Sie kann nur gewonnen werden durch das aktive Eintreten für die anerkannten Gedanken, durch ihre allseitige Begründung mit Argumenten, die der Entscheidung zugrunde lagen. Auch wenn man diese Argumente anfangs noch nicht selber gedacht hat.«341 Zum dogmatischen Stalinisten wurde Kurella also genau wie in und mit den »Gronauer Akten« vollzogen: durch einen vom Terror erzwungenen Akt der Selbsterziehung; durch die Verneinung eigener Erfahrung und Urteilskraft; durch eine bedingungslose Unterwerfung, erträglich gemacht nur durch eine vollendete Selbstimmunisierung, mit der die Gültigkeit der Parteilinie sogar im Widerspruch Bestätigung findet. Wie unfassbar pervers die Auswirkungen dieser stalinistischen Weltund Eigensicht auf die Psyche des Einzelnen sein können, kann man vielleicht erahnen, wenn man sich vergegenwärtigt, wem Alfred Kurella am Ende seines Lebens für diese Einsicht danken wollte. Wer war der junge Genosse, der ihm den richtigen Weg gewiesen hatte? Wer hatte ihn gelehrt, die Parteilinie über alles zu stellen? Wem hat er diese Worte in den Mund gelegt? Es war ein alter Freund. Einer, mit dem die ganze Geschichte begonnen hatte. Einer, der dem Stalinismus zum Opfer gefallen war. Es war Lazar Schatzkin.
341 Kurella, Unterwegs zu Lenin, S. 122.
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Kurzbiografien der handelnden Personen 1934–1936342
Alichanow, Gework (1897–1938); Leiter der Kaderabteilung der Komintern 1917 in die Kommunistische Partei eingetreten. Ab 1919 zunächst Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei in Georgien, ab 1920 in gleicher Position in Armenien. Zwischen 1921 und 1928 Leiter der Organisationsabteilungen bzw. Agitationsabteilungen in Moskau und Leningrad. Ab 1930 Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei in Aserbaidschan. Von 1931 bis 1937 Leiter der Kaderabteilung des Exekutivkomitees der Komintern. Am 26. Mai 1937 wurde A. verhaftet und am 13. Februar 1938 erschossen. Binder, Heinrich (d.i. Kurella, Alfred) Bork, Otto (d.i. Unger, Otto) Dimitroff, Georgi (1882–1949); Generalsekretär der Komintern Seit 1902 Mitglied der Bulgarischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die sich 1919 in Bulgarische Kommunistische Partei umbenannte. Ab 1906 Gewerkschaftsführer und Sekretär des Zentralrates der revolutionären Gewerkschaften Bulgariens. Von 1913 bis 1923 Abgeordneter im bulgarischen Parlament. Im Auftrag Moskaus organisierte D. den bulgarischen Septemberaufstand von 1923, der blutig niedergeschlagen wurde. D. musste mit seinen Anhängern ins Ausland fliehen und wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Ab 1923 politischer Instrukteur der Komintern für die Balkanstaaten in Wien; ab 1929 Leiter des illegalen Westeuropäischen Büros der Komintern in Berlin. Dort wurde er am 9. Mai 1933 verhaftet und der Beteiligung am Reichstagsbrand angeklagt. Im anschließenden Prozess vor dem Volksgerichtshof in Leipzig erwies sich D. als brillanter Rhetoriker, dem es mehrfach gelang, Hermann Göring in die Rolle des Angeklagten zu drängen. Im Dezember 1933 freigesprochen; im Februar 1934 nach Moskau ausgeflogen,
342 Die biografischen Daten wurden unter Zuhilfenahme folgender Publikationen zusammengestellt: Herbst/Weber, Deutsche Kommunisten; Lazitch/Drachkovitch, Biographical Dictionary; Meschkat/Buckmiller (Hg.), Biographisches Handbuch; Reinhard Müller, Die Säuberung; und Müller-Enbergs u.a. (Hg.), Wer war wer. Die nach den Lebensdaten genannten Positions- oder Berufsbezeichnungen beziehen sich auf das Jahr 1935.
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wo er als der Held von Leipzig gefeiert wurde. Ab 1934 war D. zunächst Mitglied des politischen Sekretariats des Exekutivkomitees; dann von 1935 bis 1943 Generalsekretär der Komintern. Nach Auflösung der Komintern war D. stellvertretender Leiter der Abteilung Internationale Information beim Zentralkomitee der KPdSU. Nach seiner Rückkehr nach Bulgarien 1946 stand D. als Generalsekretär der bulgarischen Kommunistischen Partei vor und war bis zu seinem Tod 1949 bulgarischer Ministerpräsident. Globig, Fritz (1892–1970); Leiter der Abteilung Presse und Propaganda der Internationalen Arbeiterhilfe Teilnehmer der Gründungskonferenz der Spartakusgruppe im Jahr 1916. Auf dem Gründungsparteitag der KPD als Jugenddelegierter in die Programmkommission gewählt. 1919 als Delegierter auf dem ersten Weltkongress der Kommunistischen Jugendinternationale. Von 1919 bis 1921 Sekretär und Referent in der KPD-Zentrale in Berlin. Ab 1923 Abgeordneter und von 1924 bis 1926 Fraktionsvorsitzender der KPD in der Bremer Bürgerschaft. 1930 Übersiedlung nach Moskau, dort tätig als Leiter der Abteilung Presse und Propaganda der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH). 1935 Parteiausschluss, der später in eine strenge Rüge umgewandelt wurde. Im November 1937 wurde G. verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Nach Aufenthalten in verschiedenen Arbeitslagern musste er ab 1948 als Bergarbeiter in Kasachstan arbeiten. 1955 Rückkehr in die DDR, dort politischer Mitarbeiter der SED-Bezirksleitung Leipzig. Mitautor der achtbändigen »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung«. Globig, Martha (1901–1991); wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Kommunistischen Akademie Mitbegründerin der Freien Sozialistischen Jugend, später Kommunistische Jugend Deutschlands. Von 1922 bis 1924 Angestellte der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin, von 1928 bis 1931 Angestellte im Zentralkomitee der KPD. Von 1931 bis 1933 war G. Mitarbeiterin der geheimen Komintern-Abteilung für internationale Verbindungen (OMS) in Moskau; danach bis 1935 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Kommunistischen Akademie. Verhaftet im November 1937 wurde G. im Dezember d. J. wegen »konterrevolutionärer Tätigkeit« zu 10 Jahren Freiheitsentzug verurteilt, die sie in einem Arbeitslager in Karaganda verbringen musste. Auch danach durfte sie Karaganda nicht verlassen und musste in einer Schuhfabrik arbeiten. 1956 Rehabilitierung und Rückkehr nach Deutschland. Heckert, Fritz (1884–1936); Vertreter der KPD im Exekutivkomitee der Komintern 1902 Eintritt in die Gewerkschaft und die SPD. Zwischen 1908 und 1911 arbeitete H. in der Schweiz, wo er Lenin kennenlernte. 1916 Mitbegründer der Chemnitzer Spartakusgruppe; 1918 Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates in Chemnitz. 1918 Delegierter auf dem Gründungsparteitag der KPD;
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seit 1924 mit kurzen Unterbrechungen Mitglied des Zentralkomitees der KPD. Von 1924 bis 1933 Reichstagsabgeordneter der KPD; ab 1932 Vertreter der KPD im Exekutivkomitee der Komintern. H. starb im April 1936 an einem Schlaganfall. Heilmann, Fritz (1892–1963); Leiter der Informationsabteilung der Internationalen Arbeiterhilfe Ab 1908 Mitglied der sozialistischen Jugend; 1910 Eintritt in die SPD; später Mitglied des Spartakusbundes. 1915 inhaftiert wegen Verbreitung eines Liebknecht-Flugblatts. Nach seiner Zeit als Soldat war H. Delegierter auf dem Gründungsparteitag der KPD. 1919/1920 Generalsekretär der Freien Sozialistischen Jugend und bis 1921 Vertreter der Jugend in der Parteizentrale der KPD. Zwischen 1921 und 1929 Chefredakteur diverser kommunistischer Tageszeitungen. Von 1929 bis 1933 Abgeordneter im Thüringer Landtag, ab 1930 Vorsitzender der dortigen KPD-Fraktion. 1933 Emigration in die Sowjetunion. Dort zunächst Referent im Mitteleuropäischen Büro des Exekutivkomitees der IAH, später Leiter der dortigen Informationsabteilung. Ab 1938 Verlagsredakteur des VEGAAR; ab 1942 Mitarbeiter der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee. Ab 1943 war H. Mitarbeiter am Institut 99, Redakteur des Senders Freies Deutschland und Instrukteur des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD). 1945 Rückkehr nach Deutschland. Dort Chefredakteur des Thüringer Volksblattes und später stellvertretender Chefredakteur der kulturpolitischen Wochenzeitung Sonntag. Huber, Stach (d.i. Stanislaw Huberman) Huberman, Stanislaw (1897–1936); stellvertretender Leiter der mitteleuropäischen Sektion des Exekutivbüros der Roten Gewerkschaftsinternationale Bruder des berühmten polnischen Violinisten Bronislaw Huberman. Seit 1918 sowohl in der Kommunistischen Partei Polens als auch Deutschlands aktiv. Ab 1919 als Vertreter der polnischen Kommunisten im westeuropäischen Büro des Exekutivkomitees der Komintern. Rückkehr nach Polen im Jahre 1926. Ab 1932 wieder in Moskau. Arbeitete für die Rote Gewerkschaftsinternationale, zunächst als Leiter der Balkan-, dann als stellvertretender Leiter der mitteleuropäischen Sektion des Exekutivbüros. 1935 entlassen. Ab 1936 stellvertretender Direktor eines Eisenbahnausbesserungswerks in Welikije Luki. Im November 1936 wurde H. nach Moskau beordert, vermutlich um dort verhaftet zu werden. Er verunglückte tödlich, als auf dem Weg dorthin das Flugzeug abstürzte. Keith, Lilly (1889–1981); Journalistin und Mitarbeiterin im Sekretariat von Georgi Dimitroff
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Kirow, Sergej Mironowitsch (1886–1934); Erster Sekretär der Leningrader Parteiorganisation 1905 Teilnahme an der Russischen Revolution; danach mehrfach aus politischen Gründen inhaftiert. Organisator der Roten Armee. Ab 1921 Sekretär der Parteiorganisation in Aserbaidschan. Ab 1923 Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU. K. war einer der Gründer der Transkaukasischen Sowjetischen Föderativen Sowjetrepublik, die drei Länder (Georgien, Armenien, Aserbaidschan) umfasste und Teil der Sowjetunion wurde, und spielte als Stalins Verbündeter eine führende Rolle in den innerparteilichen Kämpfen gegen die Anhänger Grigori Sinowjews. Im Februar 1926 wurde K. zum Ersten Sekretär der Leningrader Parteiorganisation und des Nord-West-Büros des Zentralkomitees der KPdSU ernannt. Gleichzeitig wurde er zum Kandidaten des Politbüros gewählt. Ab 1930 Mitglied des Politbüros. Am 1. Dezember 1934 wurde K. von Leonid Nikolajew in Leningrad erschossen. Die Hintergründe des Attentats bleiben bis heute ungeklärt. Knorin, Wilhelm (1890–1939); Leiter des Mitteleuropäischen Sekretariats der Komintern Von 1918 bis 1922 Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Weißrusslands. Danach im Parteiapparat der KPdSU. Ab 1927 Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU. Von 1927 bis 1928 auf Weisung Stalins erneut nach Weißrussland entsandt, um die dortigen Anhänger Trotzkis und Sinowjews zu bekämpfen. Ab 1929 Mitglied der Internationalen Kontrollkommission und Sekretär der Komintern, zuständig für die mitteleuropäischen Länder. Ab 1931 im Präsidium des Exekutivkomitees der Komintern und Mitglied des Politischen Sekretariats. Im Zuge des VII. Weltkongresses in Ungnade gefallen und vom Sekretärsposten abberufen. Im Juni 1936 verhaftet und 1939 erschossen. Kun, Béla (1886–1939); Vertreter der KP Ungarns im Exekutivkomitee der Komintern 1919 Anführer der ungarischen Revolution; danach Volksbeauftragter für Außenbeziehungen der kurzlebigen Räterepublik Ungarn. Flucht nach Wien, dort Verhaftung und spätere Auslieferung in die Sowjetunion. Von 1920 bis 1928 als verdeckter Kominternemissär in verschiedenen europäischen Ländern tätig, unter anderem beteiligt an den Märzkämpfen 1921 in Mitteldeutschland. Ab 1921 auch im Kominternapparat tätig; zunächst als Leiter der Abteilung Agitation und Propaganda, ab 1929 als Leiter des Balkanreferats. Zuletzt Vertreter der Kommunistischen Partei Ungarns im Exekutivkomitee der Komintern. Nach dem VII. Weltkongress in Ungnade gefallen und aller Funktionen enthoben. Im Juni 1936 verhaftet und 1939 erschossen. Kurella, Alfred (1895–1975); Schriftsteller 1918 Mitbegründer der Münchner Ortsgruppe der Freien Sozialistischen Jugend. Ab 1919 Mitglied der KPD. Im Frühjahr 1919 unternahm K. seine erste
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Reise nach Moskau, wo er Lenin kennenlernte. Teilnahme am Gründungskongress der Kommunistischen Jugendinternationale (KJI) als 2. Vertreter des russischen Komsomol. Von 1919 bis 1921 Kandidat des Exekutivkomitees der KJI in Berlin. Ab 1921 Mitglied des Exekutivkomitees der KJI in Moskau. 1924 Eintritt in die KPdSU. Von 1924 bis 1926 Direktor der Parteischule der KP Frankreichs in Bobigny. Ab 1926 stellvertretender Leiter der Abteilung Agitation und Propaganda der Komintern, 1928 und 1929 Leiter der Abteilung für bildende Kunst im Volkskommissariat für Bildungswesen in Moskau. 1929 Rückkehr nach Deutschland als Propagandist. 1932 im Auftrag der Komintern Chefredakteur der in Paris erscheinenden Zeitschrift Le Front Mondial. Dort auch als Sekretär des Weltkomitees gegen Faschismus und Krieg für Henri Barbusse tätig. 1934 Abberufung nach Moskau. Von März 1934 bis Februar 1935 persönlicher Sekretär von Georgi Dimitroff. 1935 erhielt K. eine »strenge Rüge« wegen »parteischädlicher Zusammenkünfte« und wurde aus dem Komintern-Apparat entfernt. Seine wiederholten Bemühungen um Rehabilitierung und Wiederaufnahme in die Komintern waren erfolglos. 1935 bis 1937 Bibliothekar in der Bibliothek für ausländische Literatur. Ab 1941 Oberredakteur in der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee, ab 1943 stellvertretender Chefredakteur der NKFD-Zeitung Freies Deutschland. Nach 1945 arbeitete K. als Publizist und Übersetzer im Kaukasus, ab 1949 in Moskau. 1954 Rückkehr in die DDR; 1955 bis 1957 Direktor des Literaturinstituts Johannes R. Becher in Leipzig, ab 1957 Leiter der Kulturkommission des Politbüros der SED. Von 1958 an Mitglied im Zentralkomitee der SED und Kandidat des Politbüros. 1963 schied K. aus der aktiven Politik aus. Von 1964 bis 1974 Vizepräsident der Ostberliner Akademie der Künste. Kurella, Heinrich (1905–1937); Journalist und Mitarbeiter der Presseabteilung der Komintern Jüngerer Bruder von Alfred Kurella. Ab 1924 Mitglied der Kommunistischen Jugend Deutschlands. Arbeitete zunächst als Redakteur der Roten Fahne. Ab 1928 Mitglied der KPD. Ab 1930 verantwortlicher Redakteur der KominternZeitschrift Inprekorr. 1930 vom Reichsgericht wegen »Hochverrats« zu Festungshaft verurteilt. Dort gehörte K. zu jenen kommunistischen Gefangenen, die den ebenfalls inhaftierten Reichswehrleutnant Richard Scheringer dazu brachten, die NSDAP zu verlassen und öffentlich seinen Übertritt zur KPD zu bekunden. 1931 Mitarbeit an der Zeitschrift Aufbruch. 1933 Emigration in die Schweiz, dort Redakteur der Komintern-Zeitschrift Rundschau für Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung. Ab 1934 in der Sowjetunion. Mitarbeiter der Presseabteilung der Komintern. Als Freund von Heinz Neumann wurde K. im Juli 1937 verhaftet und wegen »Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation« zum Tode verurteilt. Am 28. Oktober 1937 erschossen.
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Leschnitzer, Franz (1905–1967); Redaktionsreferent der deutschen Ausgabe der Zeitschrift Internationale Literatur in Moskau Publizist und Lyriker, ab 1924 Mitarbeiter bei diversen kommunistischen Zeitungen. Von 1925 bis 1928 Mitarbeiter der Weltbühne. Gründungsmitglied der Gruppe Revolutionärer Pazifisten; Mitglied der KPD seit 1931; 1933 Emigration in die Sowjetunion; dort bis 1941 Redaktionsreferent der deutschen Ausgabe der Zeitschrift Internationale Literatur. 1942 Parteiausschluss; danach als Lehrer und Übersetzer in Taschkent und Moskau tätig. 1959 Rückkehr in die DDR. Mayenburg, Ruth von (1907–1993); Mitarbeiterin der Presseabteilung der Komintern 1934 aktive Teilnahme als Sozialdemokratin an den Februarkämpfen in Wien, anschließend Flucht über Prag nach Moskau. 1934 Eintritt in die illegale KPÖ, danach als Journalistin im Pressebüro der Komintern tätig. Im Weltkrieg Mitarbeiterin der Propagandaabteilung der Roten Armee, von 1944 bis 1945 am Institut 99 als Bevollmächtigte für die Propagandaarbeit unter österreichischen Kriegsgefangenen. 1945 Rückkehr nach Wien; dort als Generalsekretärin der Österreichisch-Sowjetischen Gesellschaft und als Dramaturgin bei der Wien-Film tätig. 1966 Austritt aus der KPÖ. Danach vorwiegend publizistisch tätig. Misiano, Francesco (1884–1936); Mitglied des Exekutivkomitees der Internationalen Arbeiterhilfe 1921 Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens und Mitglied in deren Zentralkomitee. 1921 kurzzeitig Abgeordneter des italienischen Parlaments, im gleichen Jahr verhaftet. Emigration nach Deutschland und später in die Sowjetunion. Dort zunächst im Exekutivkomitee der Roten Gewerkschaftsinternationale, später im Exekutivkomitee der Internationalen Arbeiterhilfe tätig. 1935 in Ungnade gefallen und seines Amtes enthoben. 1936 nach kurzer Krankheit verstorben. Münzenberg, Willi (1889–1940); Verleger und Mitglied des Zentralkomitees der KPD 1912 Mitglied des Zentralvorstands der sozialistischen Jugendorganisation in der Schweiz; von 1914 bis 1918 Leiter des Internationalen Jugendsekretariats in Bern, wo er Wladimir I. Lenin kennenlernt. 1917 nach einer Demonstration verhaftet und zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. 1918 ging er nach Berlin, nachdem er als »mißliebiger Ausländer« und »Anhänger der Oktoberrevolution« des Landes verwiesen worden war. In Berlin wird M. Mitglied des Spartakusbundes; ab 1919 Mitglied der KPD. Ab November 1919 Erster Vorsitzender der Kommunistischen Jugendinternationale. Von 1924 bis 1933 Mitglied des Zentralkomitees der KPD und Reichstagsabgeordneter. In diesen Jahren baut M. erfolgreich ein kommunistisches Medienimperium aus Verlagen, Zeitschriften und Filmproduktionsunternehmen auf. 1933
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Emigration nach Paris; dort Gründung des Verlags »Éditions du Carrefour«. 1938 nach Kritik an Stalins Repressionspolitik aus dem Zentralkomitee der KPD ausgeschlossen und aller Funktionen enthoben. 1939 Parteiausschluss. 1940 Flucht vor den anrückenden deutschen Truppen nach Südfrankreich. Im Oktober d. J. wird M. erhängt in einem Wald bei Saint-Marcellin aufgefunden. Die Umstände seines Todes bleiben ungeklärt. Neumann, Heinz (1902–1937); Mitarbeiter in der Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter (VEGAAR) Ab 1920 Mitglied der KPD. Ab 1922 hauptamtlicher Parteifunktionär, zunächst Redakteur der Roten Fahne. Aktiv an den Vorbereitungen des Oktoberaufstands von 1923 beteiligt, danach verhaftet, aus dem Gefängnis entflohen und nach Wien übergesiedelt. Dort erneut verhaftet und abgeschoben. Emigration nach Moskau. Ab 1925 Vertreter der KPD bei der Komintern. Ende 1927 im Auftrag Stalins nach China; gemeinsam mit Besso Lominadse Organisator des blutigen Kantoner Aufstands. 1928 Rückkehr nach Deutschland. Neben Ernst Thälmann und Hermann Remmele wird N. dort zu einem wichtigen Parteiführer und führenden Theoretiker. Ab 1929 Mitglied des Zentralkomitees und Kandidat des Politbüros. Ab 1930 Reichstagsabgeordneter und Chefredakteur der Roten Fahne. 1931 Differenzen mit Thälmann und Stalin über die Einschätzung der Gefahr einer nationalsozialistischen Machtübernahme. In der anschließenden fraktionellen Auseinandersetzung unterlag N. und wurde 1932 seiner Parteifunktionen enthoben, verlor sein Reichstagsmandat und musste später schriftlich Selbstkritik üben. 1933 zunächst nach Spanien entsandt, später in die Schweiz geflüchtet. Im Dezember 1934 von der Schweizer Fremdenpolizei festgenommen; nach einem halben Jahr Haft in die Sowjetunion abgeschoben. Dort als Mitarbeiter in der VEGAAR tätig. Im April 1937 verhaftet; im November 1937 zum Tode verurteilt und erschossen. Piatnitzki, Ossip (1882–1938); Leiter des Sekretariats für Organisation und Finanzen der Komintern 1919 Vorsitzender der Vereinigten Eisenbahnergewerkschaft der Sowjetunion. Von 1920 bis 1921 Sekretär der Moskauer Parteiorganisation. Mitglied im Exekutivkomitee der Komintern ab 1921. Bis 1926 Leiter der geheimen Abteilung für internationale Verbindungen (OMS); danach Leiter des Sekretariats für Organisation und Finanzen der Komintern. Im Zuge des VII. Weltkongresses in Ungnade gefallen, im Juli 1937 verhaftet, im Oktober 1938 erschossen. Polano, Luigi (1897–1984); Mitarbeiter im Sekretariat der Internationale der Seeleute und Hafenarbeiter Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens. 1919 Teilnahme am Gründungskongress der Kommunistischen Jugendinternationale. Mitglied des Exekutivkomitees der KJI von 1919 bis 1921. Ab 1921 Jugendvertreter im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Italiens. Von 1925 bis 1930 Par-
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teiinstrukteur am Interklub der Seeleute und Hafenarbeiter in Odessa; danach bis 1938 Mitarbeiter im Sekretariat der Internationale der Seeleute und Hafenarbeiter in Noworossijsk und Batumi. Von 1938 bis 1941 stellvertretender Direktor eines Invalidenhauses für Spanienkämpfer in Moskau. Danach Arbeiten für den italienischsprachigen Rundfunk in Moskau. 1945 Rückkehr nach Italien. Dort von 1948 bis 1968 Abgeordneter im Parlament. Richter, Max (d. i. Schubert, Hermann) Röbig, Victor (d. i. Kurella, Alfred) Schatzkin, Lazar Abramowitsch (1902–1937); Dozent für Wirtschaftsfragen in Taschkent Ab 1917 Mitglied der KPdSU und Mitglied des Zentralkomitees des kommunistischen Jugendverbandes Komsomol. Von 1919 bis 1922 erster Sekretär des Komsomol. 1919 Delegierter und Leiter des Gründungskongresses der Kommunistischen Jugendinternationale in Berlin. Ab 1920 Vertreter der KJI im Exekutivkomitee der Komintern. Von 1927 bis 1931 Mitglied der Zentralen Kontrollkommission der KPdSU. 1931 wegen Beteiligung an der von Bessarion Lominadse angeführten Opposition in Ungnade gefallen und aller politischen Ämter enthoben. Danach als Gewerkschaftsfunktionär und Dozent für Wirtschaftsfragen in Taschkent. 1935 verhaftet, 1937 zum Tode verurteilt, wenig später hat Sch. sich der Urteilsvollstreckung durch Selbstmord entzogen. Schmückle, Karl (1898–1938); Journalist und Mitarbeiter der deutschen Ausgabe der Zeitschrift Internationale Literatur 1918 Mitglied des Spartakusbundes, ab 1919 Mitglied der KPD. Ab 1923 Redakteur bei verschiedenen KPD-Zeitungen, dann Angestellter der Zentrale der KPD. Von 1925 bis 1931 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Marx-EngelsInstitut in Moskau; ab 1926 Mitglied der KPdSU. Von 1931 bis 1934 Redakteur der Deutschen Zentral-Zeitung; ab 1934 Mitarbeiter der deutschen Ausgabe der Zeitschrift Internationale Literatur. Im Oktober 1936 wegen »politischer Schwankungen und Verbindung zu trotzkistischen Volksfeinden« aus der KPdSU ausgeschlossen. Im November 1937 verhaftet, wurde Sch. am 14. März 1938 erschossen. Schubert, Hermann (1886–1938); Vertreter der KPD im Exekutivkomitee der Komintern Ab 1907 Mitglied der SPD; 1920 Übertritt zur KPD. Ab 1922 Gewerkschaftssekretär in Suhl. Maßgeblich an der Vorbereitung des Oktoberaufstandes von 1923 beteiligt. Im Mai 1924 in den Reichstag gewählt; im Juli 1924 Mandatsniederlegung und Wechsel in den Preußischen Landtag, dem er bis 1933 angehörte. Partei- und Gewerkschaftssekretär im Bezirk Hamburg-Wasserkante und ab 1932 Mitglied des Politbüros der KPD. 1933 zunächst illegale Unter-
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grundarbeit, dann im Herbst 1933 Emigration nach Paris. Im Dezember 1934 mit der Exilführung der KPD nach Moskau übergesiedelt. Dort als Vertreter des linken Flügels der KPD zunehmend in Opposition zur Parteiführung. Bis August 1935 blieb Sch. Vertreter der KPD beim Exekutivkomitee der Komintern. Nach dem VII. Weltkongress 1935 aus dem Zentralkomitee der KPD ausgeschieden; danach Leiter der Propagandaabteilung der Internationalen Roten Hilfe. Im Mai 1937 verhaftet, am 22. März 1938 zum Tode verurteilt und erschossen. Schwab, Sepp (1897–1977); Referent im mitteleuropäischen Sekretariat des Exekutivkomitees der Komintern; Mitglied der Zentralen Kontrollkommission der KPD 1918 in die KPD eingetreten. Nach Niederschlagung der Bayerischen Räterepublik zu vier Jahren Festungshaft verurteilt. Ab 1924 Leiter der illegalen bayerischen KPD und Chefredakteur der Neuen Zeitung. Ab 1930 im mitteleuropäischen Ländersekretariat des Exekutivkomitees der Komintern. Von 1938 bis 1945 Redakteur der deutschsprachigen Sendungen von Radio Moskau; 1945 Rückkehr nach Deutschland. Von 1946 bis 1949 war Sch. stellvertretender Chefredakteur des Neuen Deutschland, später Generaldirektor der DEFA und von 1953 bis 1956 Botschafter der DDR in Ungarn. Von 1956 bis 1963 war Sch. Stellvertretender Minister für Auswärtige Angelegenheiten der DDR. Ervin Sˇinko (1898–1967); ungarischer Schriftsteller Mitglied der Kommunistischen Partei Ungarns; 1919 Teilnahme an der ungarischen Räterevolution. Nach deren Ende emigrierte S. zunächst nach Wien, später dann nach Zagreb. Von 1934 bis 1937 als Gast der Gesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland in Moskau. 1937 Rückkehr nach Zagreb. Im Zweiten Weltkrieg Teilnahme am Partisanenkampf unter dem Decknamen Franjo Spitzer. Nach Kriegsende Professor für Ungarische Literatur an der Universität Novi Sad. Stenbock-Fermor, Charlotte (1906–1966); Schreibkraft in der Verlagsabteilung der Komintern (Redizdat) 1932 Eintritt in die KPD. Frau von Heinrich Kurella, mit dem sie 1933 gemeinsam als Schreibkraft bei der Rundschau-Nachrichtenagentur (RUNA) in Zürich arbeitete. 1934 Emigration über Prag nach Moskau. Dort als Schreibkraft in der Verlagsabteilung der Komintern tätig. Nach Heinrich Kurellas Verhaftung 1937 gelang ihr die Flucht aus der Sowjetunion, die über viele Stationen schließlich nach Schweden führte.
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Süßkind, Heinrich (1895–1937); Sekretär der Béla-Kun-Kommission (Komitee zum Kampf gegen Krieg und Faschismus) 1918 Eintritt in die Freie Sozialistische Jugend. Ab 1919 Mitglied der KPD, zunächst politischer Redakteur der Roten Fahne, dann Chefredakteur der Sozialistischen Republik in Köln. Ab 1921 Chefredakteur der Roten Fahne. 1922 nach politischen Zusammenstößen in Berlin festgenommen und aus Deutschland ausgewiesen. Arbeit für die Komintern in Riga und Moskau. 1923 Rückkehr nach Deutschland. 1927 als Kandidat in das Zentralkomitee der KPD gewählt und erneut Chefredakteur der Roten Fahne. 1928 als Mitglied der als Versöhnler bezeichneten KPD-internen Opposition von allen Funktionen enthoben. 1933 Emigration nach Prag und später nach Moskau. Dort tätig als Sekretär der Béla-Kun-Kommission (Komitee zum Kampf gegen Krieg und Faschismus). 1935 Parteiausschluss für ein Jahr. Im Juni 1936 Wiederaufnahme in die KPD; im August 1936 verhaftet, am 3. Oktober 1937 zum Tode verurteilt und erschossen. Tschemodanow, Wassilij Tarasovic (1903–1939); Erster Sekretär des Komsomol und politischer Sekretär des Exekutivkomitees der Kommunistischen Jugendinternationale. 1924 in die Kommunistische Partei eingetreten. Ab 1924 in städtischen und bezirklichen Agitationsabteilungen des Komsomol tätig. Ab 1931 politischer Sekretär der Kommunistischen Jugendinternationale und Mitglied des Exekutivkomitees der Komintern und der Zentralen Kontrollkommission der KPdSU. Am 15. September 1937 verhaftet und 1939 erschossen. Unger, Otto (1893–1938); Mitarbeiter der Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter (VEGAAR) 1917 Anhänger des Spartakusbundes; ab 1920 Geschäftsführer des Verlags Junge Garde, des Organs der kommunistischen Jugend. Seit Dezember 1920 Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Jugend Deutschlands. Im April 1921 in das Exekutivkomitee der Kommunistischen Jugendinternationale gewählt, gleichzeitig Vertreter der KJI bei der Komintern. 1925 Mitarbeiter der Komintern. 1926 Rückkehr nach Deutschland, dort Parteifunktionär in Hamburg und Berlin. Im April 1933 verhaftet, misshandelt und in ein KZ eingeliefert. Im Oktober 1933 entlassen, emigrierte U. in die Sowjetunion. Dort wurde er im November 1937 verhaftet und später erschossen. Vujovi˙c, Voja (1897–1936); arbeitslos Mitbegründer der Kommunistischen Jugendinternationale. Ab 1921 Mitglied in deren Exekutivkomitee. Ab 1924 Erster Sekretär der KJI und als Jugendvertreter im Exekutivkomitee der Komintern. 1927 wegen seiner Unterstützung Trotzkis von der KJI-Arbeit entbunden und aus dem Exekutivkomitee der Komintern entfernt. 1927 aus der KPdSU ausgeschlossen, verhaftet und nach Archangelsk und später Saratow verbannt. 1930 wieder in die Partei aufgenommen. 1933 erneut verbannt nach Taschkent. Im Januar 1935 verhaftet
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und im März d.J. zu 5 Jahren Arbeitslager verurteilt. Im Oktober 1936 zum Tode verurteilt und erschossen. Auch zwei seiner Brüder, Gregor und Radomir Vujovi˚c wurden hingerichtet. Wangenheim, Gustav von (1895–1975); Schauspieler und Regisseur bei Meshrabpom-Film 1913 Schauspielschüler bei Max Reinhardt; Von 1915 bis 1919 Schauspieler am Burgtheater Wien, am Deutschen Theater Berlin, am Hoftheater in Darmstadt und an der Berliner Volksbühne. Ab 1921 auch als Filmschauspieler erfolgreich. Während der Novemberrevolution 1918 war W. Mitglied des Rates Geistiger Arbeiter; 1918 Eintritt in die USPD; ab 1922 Mitglied der KPD. Von 1928 bis 1933 Texter und Regisseur der Agitproptruppen Rote Blusen und Truppe 1931. 1933 emigrierte W. zunächst nach Paris, dann nach Moskau. Dort als künstlerischer Leiter der Theatergruppe Kolonne Links und als Regisseur bei Meshrabpom-Film in Moskau tätig. 1943 Mitglied des NKFD und Redakteur des Senders Freies Deutschland. 1945 Rückkehr nach Deutschland. Von 1945 bis 1947 Intendant des Deutschen Theaters in Berlin; danach als freischaffender Regisseur und Schriftsteller tätig. Ab 1970 Mitglied der Sektion Darstellende Künste der Akademie der Künste. Wendt, Erich (1902–1965); Herstellungsleiter und stellvertretender Leiter der Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter (VEGAAR) Ab 1919 Mitglied der Freien Sozialistischen Jugend; ab 1922 Mitglied der KPD. Von 1923 bis 1924 Mitarbeiter am Verlag der Jugendinternationale in Wien; ab 1925 Redakteur im Verlag der Jugendinternationale in Berlin. Ab 1926 Mitglied des Zentralkomitees des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands. Von 1928 bis 1931 Herstellungsleiter des Verlages der Jugendinternationale in Berlin. 1931 wegen eines drohenden Gerichtsverfahrens nach Moskau emigriert; dort bis 1936 Herstellungsleiter und stellvertretender Leiter der VEGAAR. 1936 verhaftet und aus der Partei ausgeschlossen. Von 1936 bis 1938 in Untersuchungshaft des NKWD in Saratow. 1939 Wiederaufnahme in die KPD. Von 1938 bis 1941 als Deutschlehrer und Übersetzer in Engels an der Wolga. Von 1942 bis 1947 Übersetzer in der deutschen Redaktion von Radio Moskau. 1947 Rückkehr nach Deutschland. Von 1947 bis 1954 Leiter des Aufbau-Verlags in Berlin. Von 1950 bis 1958 Abgeordneter der Volkskammer; von 1953 bis 1957 Leiter der Leninabteilung des Instituts für Marxismus-Leninismus. Von 1957 bis 1965 als stellvertretender Minister für Kultur verantwortlich für Literatur und Buchwesen. Winter, Edouard (d. i. Heilmann, Fritz) Wolf, Friedrich (1888 – 1953); Arzt und Schriftsteller 1913 Promotion über Multiple Sklerose im Kindesalter; anschließend als Assistenzarzt, Schiffsarzt und Lazarettarzt tätig. 1918 Mitglied des Arbeiterund Soldatenrates in Dresden. 1919 dramatisches Debüt mit dem expressio-
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nistischen Theaterstück »Das bist du«; ab 1921 Landarzt und Dramatiker; größte Bühnenerfolge: »Cyankali« (1924) und »Professor Mamlock« (1934). 1923 militärischer Führer im Ruhrkampf; von 1927 bis 1933 Arzt für Homöopathie und Naturheilkunde in Stuttgart. 1928 Eintritt in die KPD. Ab 1933 im Exil; vorwiegend in der Sowjetunion. 1943 Mitbegründer des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD); Agitationseinsätze im Kriegsgefangenenlager Jelabuga. 1945 Rückkehr nach Deutschland; 1946 Mitbegründer der DEFA. Von 1949 bis 1951 erster DDR-Botschafter in Polen.
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Zum Autor
Martin Schaad ist Stellvertretender Direktor des Einstein Forums in Potsdam. Er studierte Geschichte, Volkswirtschaft und Philosophie an der University of Stirling in Schottland und promovierte in Neuerer Geschichte am St Antony’s College, Oxford. Seinen MBA absolvierte er an der Heriot-Watt University, Edinburgh. Neben diversen Aufsätze zu zeitgeschichtlichen Themen ist er Autor der Mono grafien »Bullying Bonn: Anglo-German Diplomacy on European Integration, 1955–61«, Basingstoke 2000, und »›Dann geh doch rüber‹. Über die Mauer in den Osten«, Berlin 2009.
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