Gegenwärtige Vergangenheit: Eine Spurensuche 9783534400966, 9783534400980, 9783534400973, 3534400968

In "Gegenwärtige Vergangenheit" geht Rainer Nickel der Frage nach, inwieweit unser Bewusstsein von Vorstellung

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German Pages 428 Year 2019

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Abkürzungen
Kulturelle Lesefähigkeit durch historische Kommunikation
1. Herausforderungen
1.1 Habe den Mut, deinen Verstand zu gebrauchen
1.2 Nutze den Tag
1.3 Erkenne dich selbst
1.4 Nichts zu sehr. Nichts übertreiben
1.5 Für das Leben lernen?
1.6 Handeln nach dem Rubikon-Prinzip?
1.7 Schuster, bleib bei deinen Leisten
1.8 Fortiter in re, suaviter in modo
1.9 Homo sum
2. Bilderwelten der Mythologie
2.1 Herakles und seine Taten
2.2 Das trojanische Pferd
2.3 Das Parisurteil
2.4 Wozu braucht man einen Ariadnefaden?
2.5 Lebten die Amazonen am Amazonas?
2.6 Kassandra
2.7 Hermes oder Prometheus?
2.8 Das Bett des Prokrustes
2.9 Nemesis
2.10 Die Büchse der Pandora
2.11 Die schöne Helena
2.12 Venus
2.13 Tantalus
3. Wortschatz
3.1 Kynismus und Zynismus
3.2 Was ist ein Symbol?
3.3 Stoische Ruhe
3.4 Waren die Spartaner „lakonisch“?
3.5 Was hat der Ödipuskomplex mit Ödipus zu tun?
3.6 Die Gelegenheit beim Schopf packen
3.7 Antigone: Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da
3.8 Wozu brauchen wir Mitleid?
3.9 Reich wie Krösus
3.10 Authentizität
3.11 Heureka: Das Prinzip der Serendipität
3.12 Über den Ursprung der Philosophie
3.13 Ähnlichkeit, Gleichheit, Übereinstimmung, Identität
3.14 Was ist Natur?
4. Prototypen und Chiffren
4.1 Das Phänomen Sokrates
4.2 Der Mythos von Sisyphus
4.3 Odysseus und seine Abenteuer
4.4 Was ist ein Epikureer?
4.5 Diogenes: Das einfache Leben
5. Metamorphosen
5.1 Europa und der Stier (Metamorphosen 2, 833–875)
5.2 Narcissus und der Narzissmus (Metamorphosen 3, 339–510)
5.3 Ikarus (Metamorphosen 8, 183– 259)
5.4 Philemon und Baucis (Metamorphosen 8, 625– 724)
5.5 Erysichthon – der unstillbare Hunger (Metamorphosen 8, 738– 878)
5.6 Orpheus und Eurydike (Metamorphosen 10, 1– 77 und 11, 1– 66)
5.7 Pygmalion (Metamorphosen 10, 243– 297)
6. Missbrauch und Missverständnis
6.1 Jedem das Seine – Suum cuique
6.2 Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper
6.3 Wanderer, kommst du nach Spa
6.4 „Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben“ – Dulce et decorum est pro patria mori
6.5 Antike und Nationalsozialismus
6.6 In der Klauen der Reklame
6.7 Platonische Liebe
7. Perspektiven
7.1 George Washington und Cincinnatus
7.2 Annäherung an die Demokratie
7.3 Das Vorbild Marc Aurel
7.4 Platons Philosophenkönige – Utopie einer politischen Leistungselite
7.5 Cicero und die Pflicht zur Tugend
7.6 Freiheit und Gemeinsinn (Cicero, De re publica 1, 39– 42)
7.7 Was ist das „gute“ Leben? Was ist Glück?
7.8 Mut zum Unglücklichsein
7.9 Schmerz und Schmerztherapie
8. Grenzen
8.1 Scheiternde Helden
8.2 Die Ästhetik des Verzichts
8.3 Eskapismus – eine Alternative?
8.4 Radikaler Hedonismus?
8.5 Gegen die Todesvergessenheit
8.6 Vom Charme der Unvollkommenheit
8.7 Tun oder Nichtstun?
8.8 Recht auf Unversehrtheit
8.9 Kann der Mensch sich ändern?
8.10 Ist der Mensch das Maß aller Dinge?
8.11 Gibt es den gerechten Krieg?
9. Spielen mit antiken Motiven
9.1 Was ist Schönheit?
9.2 Gibt es Unendlichkeit im Endlichen?
9.3 Empedokles und seine vier Briefmarken von 2011
9.4 Gründe erkennen: Lukrez
9.5 Amt für Mutmaßungen
9.6 Panta rhei
9.7 Lukian und der Star Trek
9.8 Höhlengleichnis und Truman Show
9.9 Vertrauen durch Fides und Fairness
10. Welt durch Sprache
10.1 Ruhm – die große Maschinerie des Weiterlebens
10.2 Verweigerung der Vergänglichkeit
10.3 Schein und Sein, Wort und Tat
10.4 Politisches Vokabular
10.5 Aktiv, Passiv und Medium
10.6 Xenophanes und das Denken des Möglichen und des Unmöglichen
10.7 Besitzen und Gebrauchen
Vorschau auf weitere Themen
Literaturhinweise
Anmerkungen
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Gegenwärtige Vergangenheit: Eine Spurensuche
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Rainer Nickel

Gegenwärtige Vergangenheit

Rainer Nickel

Gegenwärtige Vergangenheit Eine Spurensuche

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

wbg academic ist ein Imprint der wbg © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40096-6 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40098-0 eBook (epub): 978-3-534-40097-3

Inhalt Abkürzungen ......................................................................................... 10  Kulturelle Lesefähigkeit durch historische Kommunikation .......... 11  1.   Herausforderungen ......................................................................... 20  1.1   Habe den Mut, deinen Verstand zu gebrauchen ................ 20  1.2   Nutze den Tag ......................................................................... 22  1.3   Erkenne dich selbst ................................................................. 26  1.4   Nichts zu sehr. Nichts übertreiben ....................................... 33  1.5   Für das Leben lernen?............................................................. 37  1.6   Handeln nach dem Rubikon-Prinzip? ................................. 40  1.7   Schuster, bleib bei deinen Leisten ......................................... 42  1.8   Fortiter in re, suaviter in modo ............................................. 43  1.9   Homo sum ............................................................................... 44  2.   Bilderwelten der Mythologie.......................................................... 53  2.1   Herakles und seine Taten ....................................................... 58  2.2   Das trojanische Pferd.............................................................. 60  2.3   Das Parisurteil ......................................................................... 63  2.4   Wozu braucht man einen Ariadnefaden? ............................ 65  2.5   Lebten die Amazonen am Amazonas? ................................. 66  2.6   Kassandra ................................................................................. 68  2.7   Hermes oder Prometheus?..................................................... 79  2.8   Das Bett des Prokrustes .......................................................... 82  5

2.9   Nemesis .................................................................................... 83  2.10 Die Büchse der Pandora......................................................... 86  2.11 Die schöne Helena .................................................................. 89  2.12 Venus ........................................................................................ 90  2.13 Tantalus .................................................................................... 90  3.   Wortschatz ....................................................................................... 93  3.1   Kynismus und Zynismus ....................................................... 93  3.2   Was ist ein Symbol? ................................................................ 97  3.3   Stoische Ruhe ........................................................................ 100  3.4   Waren die Spartaner „lakonisch“? ..................................... 103  3.5   Was hat der Ödipuskomplex mit Ödipus zu tun? ............ 105  3.6   Die Gelegenheit beim Schopf packen ................................ 107  3.7   Antigone: Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da ............................................................................... 116  3.8   Wozu brauchen wir Mitleid? .............................................. 119  3.9   Reich wie Krösus................................................................... 123  3.10 Authentizität .......................................................................... 126  3.11 Heureka: Das Prinzip der Serendipität .............................. 129  3.12 Über den Ursprung der Philosophie .................................. 131  3.13 Ähnlichkeit, Gleichheit, Übereinstimmung, Identität ................................................................................. 134  3.14 Was ist Natur? ....................................................................... 140  4.   Prototypen und Chiffren .............................................................. 148  4.1   Das Phänomen Sokrates ...................................................... 148  4.2   Der Mythos von Sisyphus .................................................... 151  4.3   Odysseus und seine Abenteuer ........................................... 153  4.4   Was ist ein Epikureer?.......................................................... 155  4.5   Diogenes: Das einfache Leben ............................................ 161  6

5.   Metamorphosen.............................................................................165  5.1   Europa und der Stier (Metamorphosen 2, 833–875).............................................168  5.2   Narcissus und der Narzissmus (Metamorphosen 3, 339–510).............................................169  5.3   Ikarus (Metamorphosen 8, 183–259) .................................176  5.4   Philemon und Baucis (Metamorphosen 8, 625–724).............................................177  5.5   Erysichthon – der unstillbare Hunger (Metamorphosen 8, 738–878).............................................179  5.6   Orpheus und Eurydike (Metamorphosen 10, 1–77 und 11, 1–66) .........................181  5.7   Pygmalion (Metamorphosen 10, 243–297) .......................184  6.   Missbrauch und Missverständnis ................................................187  6.1   Jedem das Seine – Suum cuique ..........................................187  6.2   Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper ................190  6.3   Wanderer, kommst du nach Spa ........................................192  6.4   „Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben“ – Dulce et decorum est pro patria mori .............198  6.5   Antike und Nationalsozialismus .........................................203  6.6   In der Klauen der Reklame ..................................................213  6.7   Platonische Liebe...................................................................215  7.   Perspektiven ...................................................................................218  7.1   George Washington und Cincinnatus ...............................218  7.2   Annäherung an die Demokratie .........................................219  7.3   Das Vorbild Marc Aurel.......................................................223  7.4   Platons Philosophenkönige – Utopie einer politischen Leistungselite ....................................................225 

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7.5   Cicero und die Pflicht zur Tugend ..................................... 227  7.6   Freiheit und Gemeinsinn (Cicero, De re publica 1, 39–42) ......................................... 232  7.7   Was ist das „gute“ Leben? Was ist Glück? ......................... 239  7.8   Mut zum Unglücklichsein ................................................... 246  7.9   Schmerz und Schmerztherapie ........................................... 249  8.   Grenzen .......................................................................................... 261  8.1   Scheiternde Helden .............................................................. 262  8.2   Die Ästhetik des Verzichts .................................................. 267  8.3   Eskapismus – eine Alternative? .......................................... 271  8.4   Radikaler Hedonismus? ....................................................... 274  8.5   Gegen die Todesvergessenheit ............................................ 276  8.6   Vom Charme der Unvollkommenheit .............................. 278  8.7   Tun oder Nichtstun? ............................................................ 282  8.8   Recht auf Unversehrtheit ..................................................... 283  8.9   Kann der Mensch sich ändern? .......................................... 290  8.10 Ist der Mensch das Maß aller Dinge? ................................. 297  8.11 Gibt es den gerechten Krieg? ............................................... 300  9.   Spielen mit antiken Motiven ....................................................... 303  9.1   Was ist Schönheit? ................................................................ 304  9.2   Gibt es Unendlichkeit im Endlichen? ................................ 311  9.3   Empedokles und seine vier Briefmarken von 2011 .......... 314  9.4   Gründe erkennen: Lukrez.................................................... 316  9.5   Amt für Mutmaßungen ....................................................... 319  9.6   Panta rhei ............................................................................... 321  9.7   Lukian und der Star Trek .................................................... 322  9.8   Höhlengleichnis und Truman Show .................................. 339  9.9   Vertrauen durch Fides und Fairness .................................. 341  8

10. Welt durch Sprache ......................................................................346  10.1 Ruhm – die große Maschinerie des Weiterlebens ............347  10.2 Verweigerung der Vergänglichkeit .....................................351  10.3 Schein und Sein, Wort und Tat ...........................................360  10.4 Politisches Vokabular ...........................................................367  10.5 Aktiv, Passiv und Medium ...................................................370  10.6 Xenophanes und das Denken des Möglichen und des Unmöglichen ..........................................................371  10.7 Besitzen und Gebrauchen ....................................................377  Vorschau auf weitere Themen .....................................................396  Literaturhinweise ................................................................................397  Anmerkungen ......................................................................................401

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Abkürzungen →:

Der Pfeil verweist auf verwandte Kapitel innerhalb der vorliegenden Darstellung.

AU:

Der altsprachliche Unterricht. Latein und Griechisch.

D.L.:

Diogenes Laërtius, Leben und Meinungen der Philosophen.

NE:

Aristoteles, Nikomachische Ethik.

Off.:

Cicero, De officiis

Fin.:

Cicero, De finibus bonorum et malorum (Über das höchste Gut und das größte Übel).

S&S:

„Stoa und Stoiker. Griechisch-lateinisch-deutsch herausgegeben von Rainer Nickel, 2 Bände, Düsseldorf 2008.

Tusk.: Cicero, Tuskulanische Gespräche. VS:

Fragmente der Vorsokratiker (Diels / Kranz).

Z.:

Die ZEIT. Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft, Wissen und Kultur.

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Kulturelle Lesefähigkeit durch historische Kommunikation Die antike Vergangenheit bietet eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten für Gegenwartsanalysen: in den Themenkreisen Macht und Recht, Krieg und Frieden, Glück als Ziel des Lebens, Philosophie, Pädagogik, Ethik und Politik, Demokratie als Machtteilhabe oder teilung, Menschenrechte, Sport, Körperkult. Sie kann die moderne Wertediskussion befruchten und Deutungs- und Gestaltungsmuster zur Verfügung stellen, ohne vorbildlich sein zu wollen. Bei der Veranschaulichung ihrer Präsenz geht es nicht um eine herkömmliche Rezeptionsgeschichte, sondern es sollen nur Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart sichtbar gemacht und verfolgt werden. Was wir der Antike verdanken oder auf welche Weise sie in späteren Zeiten gewirkt hat, wird nur am Rande gefragt. Im Vordergrund steht dagegen eine literarisch-kulturelle Archäologie, die zu erschließen versucht, inwieweit unser – im Wesentlichen sprachlich vermitteltes – Bewusstsein von Vorstellungsinhalten geprägt ist, die – latent, unentdeckt, übersehen – in antiken Texten wurzeln. Unsere Suche geht also von der Gegenwart aus und versucht, die Signale aufzunehmen, die auf antike Bewusstseinsinhalte hinweisen. Dass dafür auch antike Texte interpretiert werden müssen, ist eine durchaus erwünschte Nebenwirkung. Aber auch dabei geht es nicht darum, die Relevanz oder den Aktualitätsbezug der Antike nachzuweisen. Es besteht auch nicht etwa die Absicht, „Ursprung und Rezeption geflügelter Worte

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und Sprachbilder“1 zu demonstrieren. Es geht um nichts mehr und nichts weniger als um die „Lesbarkeit“ der Moderne, die sich immer wieder mit Anspielungen auf die Antike und Fragmenten aus der Antike bewusst oder unbewusst schmückt, ohne den tatsächlichen Informationswert dieser verstohlenen Blicke in die antike Welt umfassend zu nutzen. Dass antike Texte eine auch für uns heute relevante Botschaft vermitteln können, hat vor kurzem Martin Walser hervorgehoben (Z., 16.05.2013): „Es darf auch dem Laien auffallen, dass die Werke der griechischen Antike unvergleichlich lebendig geblieben sind. Zweitausend Jahre haben ihnen nichts anhaben können. … Ich habe Ajax [= Aias] von Sophokles in Syrakus im Freilicht-Theater gesehen. Das war ein Stück über uns. Der zutiefst gekränkte Ajax, der souverän taktierende Odysseus, das ist ein Figurenpaar, das heute in jeder Firma vorkommt. Da muss nichts aktualisiert werden, das ist aktuell. Weil es schön geblieben ist! Der Schmerz des Ajax ist immer noch so schön, wie er im 5. Jahrhundert vor Christus war. Aber wundern darf man sich schon, dass das so ist.“ Ein Ansatzpunkt ist die Frage, mit der Martin Walsers Rede überschrieben ist: „Was ist euch Hecuba?“ Dass die Antwort darauf ausbleibt, bringt Walser am Schluss seiner Rede zum Ausdruck: Natürlich nichts, wenn man nicht weiß, wer Hecuba ist. Allerdings reicht es nicht aus, in einem mythologischen Lexikon oder im Internet den Namen Hecuba oder Hekábe nachzuschlagen, um dann zu erfahren: „Gemahlin des Priamos“. Das wäre zu wenig. Hier ist es notwendig, die Hekabe oder die Troerinnen des Euripides zu lesen – die homerische Ilias nicht zu vergessen. Die Antike ist in der Gegenwart auf unterschiedliche Weise präsent: Wir verwenden Bilder, Begriffe, Denkfiguren, Lebensregeln, Sentenzen und Metaphern, ohne ihren Background hinreichend wahrzunehmen.2 Wir berufen uns auf antike Lebensweisheiten, ignorieren aber ihren ursprünglichen Kontext und bemühen uns nicht 12

darum, sie richtig zu verstehen, um Missverständnisse zu vermeiden. Wir zitieren oft unbeabsichtigt oder einseitig, unvollständig oder falsch, indem wir verknüpfen, was nicht zusammengehört, und brechen einzelne Schlagworte aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang heraus, um sie für unterschiedliche Zwecke zu verwenden. Wir berufen uns – oft bedenkenlos – auf eine wenig bekannte Antike, indem wir Floskeln wie „seit der Antike“ oder „schon in der Antike“ verwenden. 3 Diese oberflächliche kulturelle Erinnerung ist Ausdruck einer zunehmenden Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Folglich verzichten wir darauf, das Aufklärungspotential der Vergangenheit zu nutzen. An der Verringerung dieser kulturellen Distanz und Ignoranz mitzuwirken, ist der Zweck der vorliegenden Darstellung, die in Form einer bunten Reihe unterschiedlich ausführlicher Essays versucht, die antiken Subtexte greifbar zu machen. Dabei wird sichtbar, dass die Antike oft Anknüpfungspunkte liefert, die argumentativ genutzt werden – nicht selten zur Rechtfertigung eigener Positionen. Prominente Beispiele liefern viele Gestalten des Mythos und der Geschichte, die athenische Demokratie, Platons Staatsauffassung, Epikur oder die Stoiker. Wenn in den Medien, im kulturellen und politischen Leben unserer Zeit – im Feuilleton, in der öffentlichen Rede oder im politischen Kommentar, in der Werbung – mythologische, philosophische und historische Vorstellungsinhalte der Kommunikation dienen sollen, müssen sie angemessen sein. Passt zum Beispiel eine lateinische Redensart wirklich in einen gegenwärtigen Kontext? Welche Vorkenntnisse benötigt man, um sie zu verstehen? Welche Assoziationen ruft sie hervor? Welche Absichten bringt sie zum Ausdruck? Wer derartige Fragen nicht beantwortet, lässt ein erhebliches Reflexionspotential ungenutzt. Selbstverständlich ist es nicht nur die griechisch-römische Antike, auf die man bis heute mehr oder weniger gedankenlos Bezug nimmt. Zur Erinnerungskultur der Gegenwart gehört auch die Kenntnis an13

derer historischer Quellen, zu denen etwa die Erzählungen der hebräischen Bibel und die Evangelien des Neuen Testaments zu rechnen sind, aber auch die orientalisch-arabische Weltweisheit, die auf vielen Gebieten die europäische Kultur geprägt hat und bis heute wirksam ist, ohne dass es uns immer bewusst ist. Aber die immense Reichweite des Themas „Gegenwärtige Vergangenheit“ und der aussichtslose Wunsch nach Vollständigkeit erfordern eine Eingrenzung. Daher soll nur einigen griechisch-römischen Spuren nachgegangen und gefragt werden, warum man sich nach wie vor in unterschiedlichen Zusammenhängen auf die Antike bezieht. Ein charmantes Beispiel, das dazu anregen kann, der Frage nach dem „Warum“ oder „Wozu“ weiter nachzugehen, verdanken wir der amerikanischen Schauspielerin Marylin Monroe (1926–1962). Sie bedankt sich bei einem deutschen Diplomaten für die Lieferung eines Champagners: „Thank you for your Champagne. It arrived, I drank it and I was gayer.“ Dass hier im Hintergrund Caesars Diktum „Ich kam, ich sah, ich siegte“ mitklingt,4 kann man nicht überhören (→ 3.6: Die Gelegenheit beim Schopf packen). Daher wäre es sinnvoll, den historischen Kontext zu erschließen – in Erinnerung an die ebenso großartige wie unglückliche Marylin Monroe, die wohl kein „Bildungswissen“ demonstrieren oder Exklusivität zum Ausdruck bringen, Distanz zur Gegenwart schaffen oder Autorität durch Traditionsbewusstsein vermitteln, sondern sich einfach nur für ein Geschenk bedanken wollte. Aber welche Rolle spielt das antike Zitat im Allgemeinen? Soll es eine bestimmte Botschaft vermitteln, die der Selbstdarstellung des Sprechers dient? Wird ein antiker Gedanke verwendet, um das moderne Bewusstsein zu beeinflussen? Hat das Zitat nur eine ornamentale Funktion? Aber wie kommt es eigentlich, dass die Antike immer noch Bilder liefert und sogar als „Bilderreservoir“ genutzt wird?5 Braucht die Gegenwart etwa die Antike? Ja, was gäbe man auf, wenn man sie ignorieren würde – die Fähigkeit zu kultureller Tiefe oder 14

sogar ein Stück der Gegenwart selbst? Verzichtete man auf einen „Paradigmenschatz“, wenn man sich nicht mehr an Sisyphus, Herakles, Odysseus … erinnern würde? Wo bliebe die Konfrontation mit „menschlichen Grundsituationen“, wenn die griechische Tragödie in Vergessenheit geriete?6 Die zentrale Frage lautet hier also nicht, was die Antike zur Lösung von Gegenwartsproblemen zu bieten hat, sondern was dem Selbstverständnis der Gegenwart mit dem Verlust ihrer kulturellen Vergangenheit verloren ginge. Eine hypothetische Antwort: Die Gegenwart würde einen Teil ihrer Identität verlieren, ein über die Antike definiertes Zeichensystem und Verständigungsmittel und nicht zuletzt ein gedankliches Potential, auf das man sich berufen und mit dem man sich nach dem Muster „Schon Pythagoras hat vor zweieinhalbtausend Jahren gesagt ...“ verständigen kann. Man würde nicht zuletzt jene Fragen beiseite schieben, die in der Antike aufgeworfen und immer noch nicht beantwortet sind. Denn die Antike ist reich an „noch nicht Lautgewordenem“, an „Unabgegoltenem“.7 Die im Folgenden versuchte essayistische Appräsentation antiker Bewusstseinsinhalte, die in der Gegenwart mehr oder weniger latent wirksam sind, will aber nicht – um es nochmals zu betonen – vorrangig erklären, „woher etwas kommt“ oder was die Gegenwart geprägt hat, sondern was in ihr unentdeckt oder vergessen wirksam ist. Denn man braucht gewiss nicht zu wissen, dass zum Beispiel der häufig benutzte „Stinkefinger“ auf den römischen Dichter Martial verweist, der das Zeigen dieses nicht ganz unbedeutenden Körperteils als ein wenig freundliches Zeichen der Verachtung ausdrücklich ablehnt.8 Wenn man aber an den Athener „Aphrodite-StinkefingerProzess“ gegen das deutsche Wochenmagazin „Focus“ erinnert wird (2011), kommt Martial als „Sachverständiger“ ins Spiel. Auf dem Titelblatt des Focus war übrigens eine berühmte Aphrodite-Statue abgebildet, die mit Hilfe einer Fotomontage den Mittelfinger ihrer rechten Hand ausstreckt und ihren Schambereich mit einer verdreck15

ten griechischen Fahne verhüllt. Der nebenstehende Text lautet: „Betrüger in der Euro-Familie“. Das Problem hat sich zwar mittlerweile weitgehend erledigt, aber der satirische Blick des Focus bleibt im Gedächtnis. Wenn die Ausleuchtung des antiken Hintergrunds nicht der Produktion von Bildungswissen dient, sondern als ein Hinweis auf die Möglichkeiten gesehen, wie man zum besseren Verständnis gegenwärtiger Texte gelangen kann, ist sie dem Palimpsest-Verfahren vergleichbar,9 mit dessen Hilfe ausgelöschte oder ausradierte Texte wieder sichtbar gemacht werden. Durch die Appräsentation der „durchschimmernden Hintergrundtexte“ erscheint die Gegenwart in einem neuen Licht. So kann man das Ziel der vorliegende Darstellung als den Versuch beschreiben, „Bekanntes und Selbstverständliches auf neue Weise sichtbar werden zu lassen“.10 Es geht also nicht um theoretisches Wissen, das man erwirbt, um es irgendwo aufzuheben, sondern um die Fähigkeit, Texte, wie sie einem täglich begegnen können, zu verstehen und unter Umständen auch Konsequenzen zu ziehen, die man ohne Kenntnis des Subtextes nicht ziehen könnte. In der vorliegenden Darstellung sind mehr oder weniger zufällig gefundene Themen der Gegenwart, die auf unterschiedliche Weise, zum Beispiel sprachlich oder bildlich, vermittelt sind und mehr oder weniger explizit einen Bezug zur (antiken) Vergangenheit haben, die Ausgangspunkte für die Suche nach der Vergangenheit in und hinter der Gegenwart. Dabei wird dann vielleicht auch die historisch-kulturelle Vernetzung der Gegenwart mit der Antike sichtbar werden. Dazu ein Beispiel: Der antike Subtext lässt sich schon am Wortschatz ablesen, dessen Inhalte ohne Vernetzung mit ihrem ursprünglichen Kontext vergessen sind oder verschwiegen werden. Einzelwörter oder kleinere Wortgruppen wie „lakonisch“, „epikureisch“, „hedonistisch“ oder „stoisch“, „authentisch“, „heroisch“, „zynisch“, „Sisyphus-Arbeit“, „trojanisches Pferd“, „Ödipuskomplex“ werden bis heute schlagwort16

artig benutzt, Sentenzen und Sprichwörter unabhängig von ihrem ursprünglichen Zusammenhang gebraucht und missbraucht oder mit einer neuen Bedeutung gefüllt. Was bedeutete denn das berüchtigte „Jedem das Seine“ (Suum cuique) etwa bei Cicero? Kann der Satz „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ wirklich der Sinngebung der Schule dienen? Seneca (Briefe an Lucilius 106, 12) sah es nicht so. Er wollte vielmehr die Lebensferne der damaligen Schule verdeutlichen, indem er monierte: „Nicht für das Leben (wie es notwendig wäre), sondern für die Schule lernen wir.“ Ist es nicht auch ein wesentlicher Unterschied, ob man behauptet: „In einem gesunden Körper steckt ein gesunder Verstand“ oder ob man sagt: „Es wäre wünschenswert, dass sich in einem gesunden Körper auch ein gesunder Verstand zeigen würde“? Denn Juvenal (10, 356) behauptete nicht, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper stecke. Er wünscht sich vielmehr, dass es so sein möge. Hier geht es also nicht um Körperkult oder um eine Verherrlichung des Sports (→ 6.2: Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper), sondern um die Empfehlung, den Göttern sein Schicksal anzuvertrauen und sie um einen guten Verstand in einem gesunden Körper zu bitten. Wenn man die Verknüpfung moderner – vorrangig psychologischer oder politischer – Phänomene mit ihren antiken „Prototypen“ auf die Probe stellt, wird deutlich, dass die Vergegenwärtigung antiker Bewusstseinsinhalte nicht nur ein eitles Spiel ist. Ein aktuelles Beispiel ist der Narzissmus, der dem Narcissus der antiken Mythologie seinen Namen verdankt.11 Der Namensgeber des Phänomens war in Wirklichkeit kein Narzisst. Seine Persönlichkeit war durch andere, noch tiefer greifende Leiden gestört. Dieses Beispiel (→ 5.2: Narcissus und der Narzissmus) zeigt wiederum, dass der Versuch, eine Vernetzung mit der Antike sichtbar zu machen, nicht dazu dient, einfach nur Quellen zu identifizieren, sondern Hintergründe der Gegenwart zu erhellen und irreführende Verknüpfungen aufzudecken.

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Ein gelungenes Beispiel für eine wünschenswerte Appräsentation antiker Motive bietet die Glosse, die Heike Faller über „Ungeliebte Tattoos“ im ZEIT-Magazin vom 7. August 2014 veröffentlichte: „Seit Jahren versuchen wir von der Gesellschaftskritik, junge Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass man Tattoos ein Leben lang tragen muss und man sich deshalb darüber im Klaren sein sollte, dass die Erkenntnisse, die man mit 18 über das Leben hatte, einem mit 40 so tiefsinnig vorkommen wie Filly-Pferde.“ Diese Erfahrung habe auch Ann-Katrin Brömmel, damals Marketingstudentin und Freundin von Mario Götze, gemacht. Jetzt wolle sie das Memento mori wieder loswerden, das sie sich mit 18 auf den Rücken habe stechen lassen. Zuerst habe sie übrigens an Carpe diem gedacht, aber das sei ihr nicht originell genug gewesen. Wir hören dabei zu, wie zwei „Experten“ im Tattoo-Studio über die damalige Situation sprechen: Mike will von Tattoo-Ralle wissen, wie es denn zu Memento mori gekommen sei. Ralle: „Ich habe ihr gesagt, dass es quasi Carpe diem in andersrum ist, und das fand sie gut, auch weil ihr Hund gerade gestorben ist. Prost, Mike!“ Mike: „Kopf hoch, Ralle! Carpe diem!“ Die Auseinandersetzung mit einer „Gegenwärtigen Vergangenheit“ dient nicht dem Zweck, Probleme der altphilologischen Forschung zu erörtern und die Forschungsdiskussion zu vertiefen. Es geht nur darum, den Hintergrund einiger Verweise auf die Vergangenheit aufzuhellen, wie sie vor allem in öffentlich zugänglichen Medien, in Tagesund Wochenzeitungen, Interviews, Kino- und Fernsehfilmen, belletristischen Büchern, auf der Theaterbühne, in der Werbung und so weiter begegnen. Wenn man zum Beispiel hört „Schon Aristoteles hat gesagt, dass ...“, dann sollte man den Zusammenhang sehen wollen, in dem der berühmte Philosoph dies angeblich gesagt hat. Denn in der Regel enthält ein derartiger Hinweis keine genaue Stellen- oder Werkangabe, sodass die Nennung des Namens dem Leser oder Hörer keine wirklich verwertbare Information liefert. Das gilt übrigens auch für Zitate, die zwar einen Namen nennen, aber auf eine präzise Stel18

lenangabe verzichten. Was Aristoteles betrifft – auf der griechischen Halbinsel Halkidiki (Chalkidike) gibt es einen Aristoteles-Weg, auf dem man wie einst die Peripatetiker, die Schüler des Philosophen, wandernd philosophieren kann: Ein Blick in die eine oder die andere Schrift des Aristoteles dürfte den Wanderern vielleicht nicht nur über die Beschwerlichkeiten des Weges hinweghelfen, sondern auch den Namensgeber des Weges kennenlernen helfen. Im Folgenden wird versucht, den Lesenden mit etwa neunzig, unterschiedlich umfangreichen Beispielen, die zehn Themenkreisen locker zugeordnet sind, nicht nur Nutzen zu bringen, sondern auch Freude zu machen. Eine Fortsetzung der Beispielsammlung wäre wünschenswert. In einer Vorschau (s. u.) ist eine Reihe weiterer Themen aufgelistet.  

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1. Herausforderungen In diesem Kapitel sind Textbeispiele mit Handlungsanweisungen enthalten, die bis heute beherzigenswert sind. Sie spiegeln eine positive Sicht auf das menschliche Leben und seine Zukunft wider. Sie sind nicht zeitgebunden. Daher kann man ihnen zu keiner Zeit ausweichen, sondern muss ihre Herausforderungen annehmen.

1.1 Habe den Mut, deinen Verstand zu gebrauchen Der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ ist eine unerledigte politisch-gesellschaftliche Aufgabe. Der Mensch muss den „Mut“ haben, seinen Verstand „ohne Leitung eines anderen“ zu gebrauchen. Sapere aude – diesen Imperativ aus einer Epistel des Horaz (1, 2, 40), der einen jugendlichen Freund des Dichters zu einer moralischen Lebensführung ermahnen sollte, hat Immanuel Kant als den Wahlspruch der Aufklärung bezeichnet: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“12 Das ist ein nicht nur heute noch aktuelles, sondern auch zukunftsweisendes Programm, dessen Endzweck der 20

Mensch ist, der fähig und bereit sein soll, gegen die globale Gefährdung der Menschheit und der Menschlichkeit Partei zu ergreifen. Aber „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen … gerne zeitlebens unmündig bleibt; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ Friedrich Schiller thematisiert – in Kants Nachfolge – „den vielbedeutenden Ausdruck“ des Horaz im achten Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen. „Erkühne dich, weise zu sein. Energie des Mutes gehört dazu, die Hindernisse zu bekämpfen, welche sowohl die Trägheit der Natur als die Feigheit des Herzens der Belehrung entgegensetzen. Nicht ohne Bedeutung lässt der alte Mythus die Göttin der Weisheit in voller Rüstung aus Jupiters Haupte steigen.“ Als Allegorie gegen die Unmündigkeit, gegen die Macht der Feigheit und Bequemlichkeit, gegen die „noch so allgemeine Herrschaft der Vorurteile“, für die Freiheit von Vormundschaft, für den „mutigen Willen“ zum Denken und Handeln ist die Göttin Athene gewappnet, den Unmündigen auch zu zwingen, sich seiner Freiheit bedienen zu lernen. Kant war sich dieser Paradoxie bewusst: „Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen.“ Das ist mehr als ein bloßer Appell an die Einsicht. „Nicht genug also, dass alle Aufklärung des Verstandes nur in so ferne Achtung verdient, als sie auf den Charakter zurückfließt; sie geht gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muss geöffnet werden. Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfnis der Zeit, nicht bloß, weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zur Verbesserung der Einsicht erweckt.“ Einsicht und Empfindungsvermögen müssen also nach Schiller in Korrelation zueinander gebracht werden. So gewinnt man nicht nur Einblicke in unser geschichtliches Erbe, sondern auch die 21

„Energie des Muts“, der für das Handeln im Sinne dieses Erbes erforderlich ist. Was bei Horaz wie ein gut gemeinter väterlicher Rat klingt, verlässt bei Kant und Schiller den geschützten Raum der Privatheit und wird zu einem politisch-gesellschaftlichen Schlachtruf: Der „mündige Bürger“ soll den Mut zum eigenen Denken auch öffentlich beweisen, sich seiner Würde bewusst sein und sich von jeglicher Vormundschaft frei machen. Mit dem Sapere aude handelt man nicht nur im Sinne der Aufklärung, sondern gewinnt auch einen ersten Zugang zu einem der bedeutendsten römischen Dichter, der in Homer, dem Sänger des Trojanischen Krieges, eine Quelle der Weisheit sah. Odysseus (→ 4.3: Odysseus und seine Abenteuer) ist für Horaz Beispiel und Vorbild für Tüchtigkeit (virtus) und Weisheit (sapientia).13 Er war tatkräftig und gebrauchte seinen Verstand und ließ sich von den Mächten, die ihn vernichten oder beherrschen wollten, nicht überwältigen. Offensichtlich wollte Horaz mit dem Imperativ Sapere aude sagen: „Gebrauche deinen Verstand wie Odysseus!“ Denn dieser erfüllte auch alle anderen Imperative, die der Dichter an seinen Freund richtete, vorbildlich. Der römische Leser, der Genaueres hätte wissen wollen, wäre jetzt wie der moderne Leser zur Lektüre der homerischen Odyssee aufgefordert gewesen.

1.2 Nutze den Tag Ein Nachtlokal einer deutschen Großstadt trägt den Namen Carpe noctem („Nutze die Nacht“). Horaz hätte sicherlich nichts dagegen gehabt, dass man diesen Satz aus einem seiner berühmtesten Gedichte (Carmen 1, 11) entwendet und zweckentsprechend leicht verändert hat. Carpe noctem ist eine bewusste Anspielung auf das Carpe diem in dem Gedicht, das eine der epikureisch-horazischen Grundüberzeugungen zum Thema hat: Es ist für den Menschen gleichgültig, die 22

Zukunft zu kennen: Wie eine Frucht gelte es den heutigen Tag zu „pflücken“, denn auf die Zukunft könne man sich nicht verlassen. In acht Versen gibt der Dichter sieben Anweisungen: (1) Frage nicht, welches Ende die Götter für mich oder für dich vorgesehen haben, (2) experimentiere nicht mit Glückszahlen, (3) sei vernünftig, (4) kläre den Wein, (6) verzichte darauf, auf die Zukunft zu hoffen, (6) genieße den Tag und (7) vertraue so wenig wie möglich auf den morgigen Tag. Das Wissen um die Zukunft ist dem Menschen verwehrt, es anzustreben ein Frevel. „Inmitten der Wogen im Wintersturm, inmitten der neidisch fliehenden Zeit ist der Genuss des bescheiden bemessenen Augenblicks der beste aller Ratschläge. So ist Horaz’ Carpe diem nicht ... Aufforderung zum Leichtsinn und zur Leichtlebigkeit, zum Leben in den Tag hinein, zur blinden Genusssucht. Es ist vielmehr die Bejahung der tragischen Existenz des Menschen, der seine Beschränkung in ihrer Unüberwindlichkeit kennt und akzeptiert, der aus dieser condition humaine keltert, was er an Freude zu gewinnen vermag: der erlebte Moment, der erfüllte Augenblick, ohne Furcht vor der, ohne Sorge um die Zukunft, in der Bejahung der Beschränkung.“14 Was Horaz hier skizziert, ist eine tief empfundene Melancholie des Glücks (→ 7.7: Was ist das „gute Leben“? Was ist Glück? → 7.8 Mut zum Unglücklichsein. → 8.6: Vom Charme der Unvollkommenheit). Der epikureische Hintergrund des Carpe diem ist nicht zu übersehen: In seinem Brief an Menoikeus (D.L. 10, 126) weist Epikur darauf hin, dass es nicht darauf ankomme, eine möglichst lange, sondern eine möglichst angenehme Zeit zu genießen. Das ist keine Trivialisierung des epikureischen Versuchs, die Endlichkeit des Daseins produktiv zu bewältigen. Denn Horaz fordert mit seinem Carpe diem nicht nur sich selbst und andere dazu auf, die Frage nach dem Zeitpunkt des Endes nicht zu stellen und stattdessen den „Tag zu pflücken“,15 sondern auch in einem echt epikureischen Sinne (wie in seinem Brief an Lollius, Epistulae 1, 2, 40) seinen Verstand zu 23

gebrauchen (sapias), wenn man sich in seinem Leben einzurichten versucht. Der epikureische Imperativ Carpe diem bekommt in dem 1989 in den USA produzierten Spielfilm „Dead Poets Society – Klub der toten Dichter“ eine tragende Funktion:16 „Lebt bewusst! Dazu fordert auch der neue Englischlehrer Mr. Keating an der Welton Academy im Spielfilm ,Dead Poets Society‘ seine Schüler auf,,Gather ye rosebuds while ye may / old time is still a flying / and this same flower that smiles today / tomorrow will be dying.‘ Diesen Ausschnitt aus einem Gedicht von J. Hayward lässt er einen der Schüler in der ersten Unterrichtsstunde vortragen. ‚Pflücke die Rosen, solange sie blühen.‘ Hier begegnet uns wieder dieses schon vertraut gewordene Bild des Pflückens; und so ist es nicht mehr überraschend, wenn Keating den Jungen erklärt, der lateinische Ausdruck für dieses Gefühl sei: ‚carpe diem‘. Carpe diem wird zum Leitgedanken des Filmes, zum Motto für das Leben der Jungen.“17 Der Lehrer Mr. Keating begründet seinen Rat ebenso wie Horaz. Er lässt sie die Fotographien ehemaliger Schüler betrachten. „‚Hope is in their eyes, they believe they are destined for wonderful things, just like you do. Did most of them not wait until it was too late?‘ – ‚Hoffnung strahlt aus ihren Augen. Sie glauben, sie sind bestimmt für großartige Dinge, genauso wie viele von euch das tun. Doch haben die meisten von ihnen nicht gewartet, bis es zu spät war? Das ist genau der Punkt, den Epikur meint, wenn er sagt ‚,über das Aufschieben schwindet unser Leben dahin‘, und den Horaz ausspricht, wenn er den Rat gibt ‚spem longam reseces‘. Die Eltern der Jungen dieser Schule haben für ihre Kinder Karrieren geplant, die Schulzeit soll einzig und allein eine Vorbereitung darauf sein. Die Jungen werden nach tradierten Werten erzogen: tradition, honour, discipline and excellence, d. h. nach Werten, die allgemeiner Natur sind, denen die individuellen Neigungen aufgeopfert werden sollen. Epikurs Satz wäre bestimmt in Mr. Keatings Sinne: ‚Ich dage24

gen rufe die Menschen zu dauernden Freuden auf und nicht zu nutzlosen und sinnlosen Tugenden, deren Früchte man nur voller Unruhe erhoffen kann!‘ Mr. Keating möchte seinen Schülern die Freiheit geben, die sie benötigen, um ihr Leben zu gestalten, um ihre Art des carpe diem zu finden. Sie sollen nicht die Ideen der Eltern oder Lehrer verwirklichen müssen. ‚Nicht die Freiheit zu tun, was immer beliebt. Aber ebenso wenig die Freiheit, einem Dogma zuliebe den Neigungen abzusagen‘... Die Schüler nehmen sich ihre Freiheit, den Tag zu pflücken. Alle gemeinsam, indem sie den Klub der toten Dichter wieder gründen, und jeder auf seine je eigene Weise. Sie werden geleitet von Horazens Carpe diem und Thoreaus ‚I went into the woods because I wanted to live deliberately. For not when I come to die to discover that I have not lived.‘ – ,Ich ging in die Wälder, weil ich bewusst leben wollte. damit ich nicht im Augenblick meines Todes feststellen müsste, dass ich nicht gelebt habe‘, welches zur Eröffnung einer jeden Klubsitzung vorgetragen wird“ (Ursula Tröger, 12 f.). Während Mr. Keating den Appell des römischen Dichters eindrucksvoll an seine Schüler weitergibt, wurde die Marlboro-Werbung „Do not be a maybe“ nach Auffassung des Journalisten Jens Jessen (Z., 17. 10. 2013) trotz ihrer Nähe zum Carpe diem des Horaz „zu Recht verboten“. Jessen übersetzt die Aufforderung mit „sei kein Zauderer, kein Angsthase, kein Lebensvermeider“. Diese an sich positive Botschaft wird im Kontext der Reklame für die MarlboroZigarette problematisch: „Befreie dich von aller Panikmache der Antiraucherkampagnen mit einem entschlossenen Griff zur Zigarette und stürze dich kopfüber ins Leben, das schließlich auch niemals ohne Risiko zu haben ist.“ Sollte es tatsächlich zutreffen, dass das Carpe diem des Horaz den Hintergrund dieser Werbung bildet, dann läge hier ein Missverständnis oder sogar ein Missbrauch vor. Selbstverständlich hatte der römische Autor keine unmündigen Jugendlichen im Visier, um sie zum Rauchen zu verführen, aber doch die ewigen Bedenkenträger, die Man-müsste-eigentlich-Existenzen der 25

modernen „Multioptionsgesellschaft“. Jens Jessen: „Jedem stehen so viele Türen offen, dass niemand sich mehr traut, durch eine zu gehen, weil es ja gerade die falsche sein könnte.“ Dagegen Horaz: „Entscheide dich und geh durch die Tür – auch auf das Risiko hin, dass es die falsche ist.“

1.3 Erkenne dich selbst Nach Platon (Protagoras 343b) ist das „Erkenne dich selbst“ eine der Inschriften am Apollon-Tempel in Delphi.18 Diese sollen von den Sieben Weisen stammen. In seinem Gespräch mit Alkibiades diskutiert Sokrates ausführlich über die Bedeutung des apollinischen Imperativs.19 Zunächst einigt man sich darauf, dass es wichtiger ist, sich um „sich selbst“ zu kümmern statt um „das Seinige“. Nicht auf das, was man hat, kommt es an, sondern auf das, was man ist. Aber nur, wenn wir uns selbst kennen, wissen wir, was wir sind und auf welche Weise wir uns um uns selbst am besten kümmern können (129a). Im Verlauf des Gesprächs wird festgehalten, dass jemand, der etwas Körperliches erkennt, erkennt „was er hat“ und nicht „was er ist“ (131a). Wer sich mit seinem Körper beschäftigt, beschäftigt sich mit dem, was er hat, aber nicht mit dem, was er ist (131b). Selbsterkenntnis besagt also, dass wir erkennen, was der Mensch ist und nicht, was er hat.20 In Platons Sprache geht es um die „Seele“ – und nicht um den Körper oder den sonstigen Besitz. Sokrates spricht in Xenophons Memorabilien (4, 2) mit seinem Schüler Euthydemos, dem Sohn des Diokles, über die wichtigsten Gegenstände des Wissens. Nach einiger Zeit lenkt Sokrates das Gespräch auf die Inschrift „Erkenne dich selbst“ am Apollon-Tempel in Delphi (4, 2, 24–30): „Sag mir, lieber Euthydemos, bist du schon einmal in Delphi gewesen.“ – „Ja, sogar schon zweimal, beim Zeus.“ – „Hast du denn irgendwo am Tempel die Inschrift ,Erkenne dich selbst‘ gese26

hen?“ – „Ja.“ – „Hast du dich nicht für die Inschrift interessiert oder hast du dich damit beschäftigt und versucht zu untersuchen, wer du denn eigentlich bist?“ – „Nein, beim Zeus, das allerdings nicht. Denn das glaubte ich ganz gut zu wissen. Ich wüsste ja wohl kaum etwas anderes, wenn ich mich selbst nicht kennen würde.“ – „Glaubst du denn, jemand würde sich selbst kennen, wenn er nur seinen eigenen Namen wüsste, oder vielmehr erst derjenige, der, wie die Pferdekäufer es machen, die ein Pferd, das sie kennen lernen wollen, nicht eher zu kennen glauben, als bis sie geprüft haben, ob es gehorsam oder ungehorsam, stark oder schwach, schnell oder langsam und was es sonst noch im Blick auf sein Potential als Pferd auszeichnet oder nicht, so auch sich selbst fragt, wie es mit seinem eigenen Potential als Mensch aussieht, und seine Fähigkeiten, das heißt sein Wesen und seinen Charakter, erkannt hat.“ – „So scheint es mir zu sein, dass derjenige der seine Fähigkeiten, das heißt sein Wesen und seinen Charakter, nicht kennt, sich selbst nicht kennt.“ – „Ist es demnach nicht klar, dass Menschen, wenn sie sich selbst kennen, die größten Vorteile haben, und wenn sie ein falsches Bild von sich haben und sich falsch einschätzen, die größten Nachteile? Denn diejenigen, die sich selbst kennen, wissen, was für sie nützlich ist und durchschauen, was sie können und was sie nicht können. Sie tun nämlich, was sie verstehen, und verschaffen sich dadurch, was sie brauchen, und es geht ihnen gut. Indem sie aber auf alles verzichten, wovon sie nichts verstehen, begehen sie keine Fehler und vermeiden, dass es ihnen schlecht geht. Darum können sie auch die anderen Menschen einschätzen, und durch das Potential der anderen verschaffen sie sich Vorteile und vermeiden Nachteile. Diejenigen aber, die sich selbst nicht kennen und sich über ihr eigenes Wesen täuschen, befinden sich den anderen Menschen und den anderen menschlichen Dingen gegenüber in einer ähnlichen Situation. Sie wissen nicht, was sie brauchen, was sie tun und womit sie sich gerade beschäftigen, sondern weil sie alle diese Dinge verfehlen, verlieren sie auch das Gute und setzen sich dem Schlechten aus. Denjenigen, 27

die wissen, was sie tun, gelingt, womit sie sich beschäftigen, sie sind erfolgreich und anerkannt. Diejenigen, die ähnlich geartet sind, haben gern Umgang mit diesen. Die weniger Erfolgreichen wünschen sich deren Rat und Unterstützung. Sie erwarten von diesen, dass alles gut wird, und aus allen diesen Gründen lieben sie diese ganz besonders. Diejenigen aber, die nicht wissen, was sie tun sollen, die schlechte Entscheidungen treffen und denen misslingt, was sie versuchen, haben dadurch nicht nur große Nachteile, sondern geraten deshalb in Schande und werden ausgelacht und leben verachtet und ehrlos. Das siehst du auch an den Staaten: Diejenigen, die ihre Macht nicht richtig einschätzen und mit Stärkeren Krieg führen, werden entweder vernichtet oder versklavt.“ Darauf erwidert Euthydemos: „Du sollst wissen, dass es mir jetzt vollkommen klar ist und ich von der Notwendigkeit der Selbsterkenntnis überzeugt bin. Wo man aber mit der Selbstprüfung anfangen muss, darin schaue ich auf dich, ob du es mir wohl darlegen willst.“ Wenn Platon Sokrates sagen lässt: „Das ungeprüfte Leben ist für einen Menschen nicht lebenswert“ (Apologie 38a), ist die gedankliche Nähe zum apollinischen Imperativ nicht zu überhören. Später zitiert Cicero den Imperativ in lateinischer Übersetzung mit „Nosce te (ipsum)“ (Tusk. 1, 52): Wenn der Gott Apollon sage „Erkenne dich“, dann meine er damit „Erkenne deine Seele“. An einer anderen Stelle (Off. 1, 114) sagt Cicero lapidar: „Jeder erkenne also seine individuelle Begabung und erweise sich als strenger Richter über seine guten und schlechten Eigenschaften,“ um seine ihm angemessene Rolle im Leben zu spielen. Klaus Bartels21 weist mit Recht darauf hin, dass der delphische Weisheitsspruch nicht im Sinne der modernen Psychoanalyse zur Aufdeckung des persönlichen Seelenlebens auffordere, sondern „im Sinne der delphischen Theologie an das allseits eng begrenzte Maß der Menschendinge“ erinnere. Schon Wilhelm Milch hatte in Anlehnung an die Dichter Sophokles und Menander diese Auslegung des Spruches vertreten.22 Er soll den Menschen an seine Sterblichkeit erinnern, um ihn 28

vor Überheblichkeit zu bewahren. Er ist also gegen die „Todesvergessenheit“ gerichtet (→ 8.5 Gegen die Todesvergessenheit). „Apollon, der Gott von Delphi, aber ist der Gott, dessen Gestalt bereits aus der so nur ihm eigenen herben Hoheit der Göttlichkeit den Menschen immer wieder als den Sterblichen auf sich selbst zurückverweist, den Menschen auf seine Sterblichkeit verweist. Aber nicht nur die Gestalt des Gottes, auch jene ‚delphischen Sprüche‘ (delphika parangelmata) sagen es, die teils als Inschriften an dem Tempel von Delphi standen, teils – wie die Sprüche der sogenannten Sieben Weisen – auf Delphi bezogen waren. Allem voran jenes Gnōthi seauton: ‚Erkenne dich!‘ nämlich: erkenne dich, Mensch, als Sterblichen, in deiner Sterblichkeit.“ Das „Erkenne dich selbst“ verweist den Menschen aber nicht nur auf seine Sterblichkeit, sondern gibt ihm auch den Auftrag herauszufinden, was Leben bedeutet. Er soll Interesse an seiner Identität gewinnen.23 Was Sophokles unter dem „Erkenne dich selbst“ versteht, veranschaulicht er eindrucksvoll und zukunftsweisend in seiner AiasTragödie. Als die Göttin Athene Odysseus dazu auffordert, sich am Unglück des Aias zu weiden, weigert er sich: Er habe Mitleid mit seinem Todfeind und erkenne in dessen Schicksal sein eigenes (→ 3.8: Wozu brauchen wir Mitleid?). Er handelt nicht etwa aus Furcht vor göttlicher Strafe wie Kyros in Herodots Erzählung (1, 86) über die Rettung des Krösus (→ 3.9: Reich wie Krösus). Seneca24 richtet später den Blick auf die ausweglose Sterblichkeit des Menschen. Er unterscheidet in seiner Trostschrift nicht zwischen Sein und Haben. „Was du liebst und was du verachtest, wird ein und dieselbe Asche gleichmachen. Das bedeutet jener an der pythischen Orakelstätte angeschriebene Spruch: Erkenne dich. Was ist der Mensch? Ein Gefäß, das durch beliebige Erschütterung und beliebigen Stoß zu zerbrechen ist. ... Was ist der Mensch? Ein schwacher und zerbrechlicher Körper, nackt, von Natur aus ungeschützt, auf fremde Hilfe angewiesen, allen Misshandlungen des Schicksals ausgeliefert.“ 29

Senecas Interpretation des apollinischen Imperativs lässt den platonischen Blick auf das Göttliche im Menschen außer acht. Im Alkibiades I (133c) hatte Platon bereits die rhetorische Frage gestellt: „Können wir etwas nennen, was in Zusammenhang mit der Seele göttlicher wäre als das, was mit dem Wissen und dem Denken zu tun hat? ... Dem Göttlichen also gleicht dieses in ihr, und wer dies im Blick haben und dann alles Göttliche erkennen würde, würde so auch am besten sich selbst erkennen.“ Aber auch wenn man den Menschen nicht als die Summe von „Wissen und Denken“ begreift, bleibt Senecas Standpunkt unanfechtbar. Es ist auch kein Trost, dass der Tod für den Betroffenen selbst bedeutungslos ist. Denn Tote trauern nicht. Der apollinische Aufruf zur Selbsterkenntnis ist von der uralten Frage nach der Identität des Menschen nicht zu trennen. Was entdecke ich, wenn ich mich selbst erkenne? Wodurch bin ich authentisch, worin besteht meine Unverwechselbarkeit?25 Cicero verwendet das griechische Wort „authentisch“ (→ 3.10: Authentizität), um zu bekräftigen, dass eine Nachricht verbürgt, wahr, zutreffend und zuverlässig ist (Ad Atticum 10, 10, 1). Was eine verlässliche Nachricht charakterisiert, wird, sobald es auf den Menschen angewandt wird, zum Problem: Wie finde ich meine Authentizität, meine Übereinstimmung mit mir selbst hinter all den Rollen, die ich zu spielen habe und all den Masken, hinter denen ich mich verstecke?26 Die Suche nach dem unverwechselbaren Selbst zielt auf die Übereinstimmung mit dem eigenen Ich und dem Einklang mit sich selbst, um die Selbstentfremdung zu überwinden. Die Stoiker benutzten den Begriff der Homologie, um ein in sich stimmiges, in sich kohärentes Leben zu definieren (S&S Nr. 525), das in einem vernunftbestimmten Handeln besteht. Die Homologie ist die Selbstverwirklichung des Menschen als eines vernünftigen Wesens (D.L. 7, 89). Das „Leben in Übereinstimmung mit sich selbst“ wurde von einigen Stoikern ausgeweitet auf ein „Leben in Übereinstimmung mit der Natur“ (S&S Nr. 538): Der erste Impuls (hormé) 30

eines Lebewesens ist, so heißt es, die Selbsterhaltung, weil die Natur jedes Lebewesens von Geburt an sich selbst „zum Eigentum und zum Freund macht“, wie Chrysipp im ersten Buch Über die Ziele sagt. Jedem Lebewesen sei die eigene Befindlichkeit und das Bewusstsein dieser Befindlichkeit der „erste Freund“. Denn es wäre nicht wahrscheinlich, dass die Natur dem Lebewesen, nachdem sie es erschaffen hat, die Selbstliebe entzöge. Es bleibt also nur noch zu sagen, dass die Natur das Lebewesen nach seiner Erschaffung sich selbst zum Freund gemacht hat. Denn so wird das Schädliche abgewehrt und nur das zugelassen, was ihm freundlich zugetan ist. Aber die Meinung einiger Leute, dass der erste Impuls der Lebewesen auf die Lust gerichtet ist, erklären sie für falsch. Sie sei allenfalls eine Folgeerscheinung. Die Natur, so sagen sie weiter, hat keinen Unterschied zwischen Pflanzen und anderen Lebewesen gemacht, wenn sie die Pflanzen ohne Impuls und Wahrnehmung wachsen lässt und auch bei uns manches pflanzenartig (= unbewusst) abläuft. Wenn bei den übrigen Lebewesen auch noch der Impuls hinzukommt, mit dem sie sich den ihnen eigenen Aufgaben zuwenden können, dann ist es für sie zwar naturgemäß, sich durch den Impuls leiten zu lassen; weil aber den vernunftbegabten Lebewesen im Sinne einer noch vollkommeneren Fürsorge (der Natur) auch noch die Vernunft gegeben ist, erweist sich für diese das Leben im Sinne der Vernunft zu Recht als ein Leben im Sinne der Natur. Denn die Vernunft kommt noch hinzu, um den Impuls sachverständig zu formen. Deshalb hat als erster Zenon in seiner Schrift Über die Natur des Menschen das „Leben in Übereinstimmung mit der Natur“ als das Ziel genannt, was so viel bedeutet, wie „im Sinne der Tugend zu leben“; denn zu dieser führt uns die Natur hin. Dasselbe haben auch Kleanthes in der Schrift Über die Lust und Poseidonios und Hekaton in ihren Abhandlungen Über die Ziele gesagt. Dann wiederum ist „Leben im Sinne der Tugend“ dasselbe wie „Leben im Sinne der Vertrautheit mit den natürlichen Vorgängen“, wie Chrysipp im ersten 31

Buch Über die Ziele sagt; die Naturen jedes Einzelnen von uns sind nämlich Teile der allumfassenden Natur. Das ist der Grund dafür, dass das Leben in der Nachfolge der Natur das Ziel ist, was sowohl die individuelle als auch die allumfassende Natur meint, wobei wir nichts tun, was das allgemeine Gesetz verbietet, das nichts anderes ist als die alles durchdringende richtige Vernunft und als Zeus, dieser Herr und Lenker aller Dinge. Genau das ist die Tugend des Glücklichen und der gute Fluss des Lebens, wenn alles getan wird im Sinne der Übereinstimmung des in jedem Einzelnen wirkenden Geistes mit dem Willen dessen, der das Universum ordnet. Diogenes sagt darüber hinaus ausdrücklich, das Ziel sei das vernünftige Handeln im Rahmen des Naturgemäßen. Und Archedemos sagt, das Ziel sei das Leben in der Vollendung aller Möglichkeiten sittlichen Handelns. Während Chrysipp unter der Natur, mit der sich unser Leben in Einklang befinden muss, die allgemeine und die individuelle Natur des Menschen versteht, begreift Kleanthes nur die allgemeine Natur als diejenige, der man zu folgen hat, und nicht mehr die Einzelnatur (→ 3.14: Was ist Natur?). Er nennt die Tugend einen Zustand der Übereinstimmung und sagt, man müsse sich nur um ihrer selbst willen für sie entscheiden, nicht aus Angst vor irgendetwas oder aus der Hoffnung auf irgendetwas oder aus irgendwelchen äußerlichen Gründen. Und in ihr liege die Glückseligkeit, da die Seele auf die innere Stimmigkeit (homología) des ganzen Lebens zielt. Da Selbsterkenntnis den authentischen Menschen im Blick hat, der einerseits Teil einer umgreifenden Natur ist und andererseits eine individuelle Natur hat, ist auch die Möglichkeit, „sich in sich selbst zurückzuziehen“ (Marc Aurel 4, 3, 2), ein Weg zur Authentizität (→ 3.9: Reich wie Krösus). Die Erwähnung der stoischen Quellen soll nicht darauf verweisen, dass schon in der Antike über Authentizität diskutiert wurde, sondern dass das Thema mit weiteren Problemen vernetzt ist, die keine einfache Lösung zulassen. Die Frage nach dem Kernbereich des 32

Menschlichen ist wahrscheinlich niemals allgemeingültig zu beantworten, sondern nur als das Resultat einer individuellen Suche zu betrachten – ganz im Sinne des Imperativs recede in te ipse (Seneca, Briefe an Lucilius 7, 8) oder in te ipse secede (Seneca, Briefe an Lucilius 25, 6). Aber nur, wenn das recedere in se ipsum gelingt, ist auch Glück möglich, denn „glücklich ist ein Leben nur dann, wenn es seinem eigenen Wesen entspricht (→ 7.7: Was ist das „gute Leben“? Was ist Glück?). Aber gelingen kann es nur, wenn der Geist gesund ist und seine Gesundheit dauerhaft behält, wenn er stark und zupackend und dann auch auf schönste Weise empfindsam ist und allen Situationen gerecht wird, wenn er auf seinen Leib und auf alles, was mit diesem zu tun hat, achtet, dies aber ohne Angst, und wenn er dann alle anderen Dinge, die das Leben bereichern, im Auge behält, ohne jedoch irgendetwas besonders zu bevorzugen, und die Gaben des Schicksals (fortuna) bewusst zu gebrauchen, ohne sich ihnen zu unterwerfen“ (Seneca, De vita beata 3, 3).27

1.4 Nichts zu sehr. Nichts übertreiben Die bisher zitierten Imperative stimmen darin überein, dass sie ohne ihren ursprünglichen Kontext semantisch hochgradig defizient, das heißt vieldeutig, sind und Leerstellen aufweisen, die der Leser zu füllen aufgefordert ist, um ihnen einen Sinn abgewinnen zu können. Das gilt selbstverständlich auch für die Aufforderung „Nichts zu sehr. Nichts übertreiben.“ Wer das Sapere aude ernstnimmt, wird in einer konkreten Situation eine mutige Entscheidung für den Verstand gegen den Unverstand, für Gründlichkeit gegen Oberflächlichkeit, für Würde gegen Würdelosigkeit, für Offenheit gegen Beschränktheit, für Meinungsvielfalt gegen Beliebigkeit, für begründetes Urteilen gegen Fundamentalismus und Radikalismus, für Gewissenhaftigkeit gegen Oberflächlich33

keit, für Begeisterung gegen Fanatismus, für das Wertvolle gegen das Triviale, für Qualität und hohes Niveau28 gegen das Billige oder leicht zu Habende, für Bescheidenheit und gegen Überheblichkeit, für das Denken und gegen die Macht der Bilder treffen. Das „Nichts zu sehr“ (Ne quid nimis) könnte nun zu bedenken geben, dass auch das Sapere aude der Aufklärung nicht verabsolutiert werden darf, was im übrigen auch schon Kant nicht aus den Augen verlor, als er die (französische) Revolution als negative Konsequenz aus den Grundgedanken der Aufklärung ablehnte. Aufklärung kann eben auch Enttäuschung zur Folge haben. Also muss man den Anfängen wehren und dafür sorgen, dass Aufklärung nicht im Chaos endet. Platon (Protagoras 343a–b) bringt die Aufforderung „Nichts zu sehr“ in eine enge Verbindung zum „Erkenne dich selbst“. Das liegt nahe, weil auch die Aufforderung, nichts zu übertreiben, den Sieben Weisen zugeschrieben wird. Diese „Weisheitsgabe“ des Gottes Apollon zitiert Platon mehrfach. 29 Auch Demokrit verwendet den Spruch,30 um vor Maßlosigkeit, Mangel und Überfluss zu warnen. Denn wenn man das rechte Maß überschreite, werde auch das Angenehmste zum Unangenehmsten (VS 68 B 233). Ohne Zweifel ist das „Maß“ ein Prinzip der Ethik Demokrits.31 Cicero (Fin. 3, 73) erwähnt das „Nichts zu sehr“ als einen der alten philosophischen Grundsätze neben dem „Sich erkennen“, dem „Sich den Umständen anpassen“ und dem „Gott folgen“. Die Bedeutung dieser Regeln könne niemand verstehen, wenn er sie nicht im Zusammenhang mit der „Natur“ sehe. Cicero meint hier den Naturbegriff der Stoiker, bei denen „Natur“ vor allem das Zusammenspiel von „Anpassung an die Umstände“, „Gehorsam gegenüber Gott“, „Selbsterkenntnis“ und „Maß“ ist (→ 3.14: Was ist Natur?). In einem Brief an Lucilius über den Sinn von Vorschriften zitiert auch Seneca die Aufforderung „Nichts im Übermaß“ (94, 43). 32 Die Wahrheit dieses Spruches sei evident; sie benötige keine Begründung. Der ältere Plinius zitiert den Spruch in seiner Naturgeschichte (7, 119) als Beweis für 34

die Weisheit des Spartaners Cheilon. Um ihn zu ehren, brachte man drei seiner weisen Sprüche in goldenen Buchstaben am Apollontempel in Delphi an. Sie lauteten: „Sich selbst erkennen – Nicht zu viel wünschen – Elend begleitet Schulden und Rechtsstreit.“ Heute ist wohl kein Imperativ der antiken Lehre vom richtigen Leben häufiger zu hören als Maß zu halten und nicht zu übertreiben, Extreme zu vermeiden, die rechte Mitte zu suchen und einzuhalten. Maßlosigkeit, die in ihren Auswirkungen auch immer messbar ist, scheint eine spezifisch menschliche Eigenschaft zu sein, die sich in einem grenzenlosen Konsum, in der Ausbeutung und Vernichtung der Natur, in Übertreibung und Überfluss in allen Lebenslagen manifestiert. Wenn es nicht schon immer so gewesen wäre, hätte Horaz nicht so oft vor Maßlosigkeit gewarnt und Mäßigung angemahnt. Im Carmen 2, 10 fordert er einen gewissen Licinius dazu auf, die rechte Mitte zwischen den Extremen einzuhalten. Der Angeredete soll weder zu weit auf die hohe See hinausfahren noch zu nahe an das scheinbar rettende Ufer kommen. Wer die „goldene Mitte“ vorziehe, bleibe verschont von drückendem Elend und Neid erregendem Prunk; er sei nicht nur vor dem Versinken in Schmutz und Bedeutungslosigkeit sicher, er schätze auch nüchtern die Gefahren einer hohen Stellung ein. Wie gefährlich die hohe Stellung ist, veranschaulicht die dritte Strophe: Öfter wird die mächtige Pinie von den Stürmen geschüttelt; hochragende Türme stürzen mit größerer Wucht ein; Blitze treffen die Gipfel der Berge. Ein gut vorbereitetes Herz erhofft im Unglück und fürchtet im Glück den Wechsel des Geschicks (13–15). Jupiter bringt den schrecklichen Winter und entfernt ihn auch wieder. Wenn es uns jetzt schlecht geht, braucht es nicht auch in Zukunft so zu sein. ... In Bedrängnis zeige Mut und Entschlossenheit; aber sei auch vernünftig genug und zieh die Segel ein, wenn allzu günstiger Wind sie aufbläht. Die Ablehnung der Maßlosigkeit umfasst auch die Verweigerung des Überflüssigen (Carmen 1, 38).33 Der epikureische Appell an die Vernunft ist nicht zu überhören. 35

Dass Horaz sich ausgerechnet in der Gattung der Satire mit dem Problem des Maßes auseinandersetzt, ist bemerkenswert, weil die Satire des Lucilius, seines Vorbildes, von aggressiver Ironie geprägt war. In der aus 121 Hexametern bestehenden Satire 1, 1 geht es zunächst um die Unzufriedenheit der Menschen mit ihrem Beruf. Dann predigt der Satiriker gegen die Habgier und die Unrast des Lebens. Etwa in der Mitte des Textes (Vers 62) steht der Wahlspruch des Habgierigen: „Nichts ist genug, weil du so viel wert bist, wie du hast.“ Im folgenden wird aber deutlich, dass alle menschlichen Beziehungen durch die Habsucht zerstört werden, obwohl es doch so leicht wäre, durch Freigebigkeit Sympathie zu wecken und Mitmenschlichkeit zu pflegen. Über das Thema dieser Satire ist viel diskutiert worden. Es spricht manches dafür, dass das Verständnis des Textes von einem Kernsatz am Ende des Mittelteiles zu gewinnen ist (106–107): „Es gibt ein Maß, das in allen Dingen liegt, es gibt doch schließlich feste Grenzen, diesseits und jenseits derer das Rechte keinen Standort finden kann“ (Übersetzung: Michael von Albecht). Offensichtlich ist es der Zweck der Satire, den Leser in einem lockeren epikureisch-therapeutischen Gespräch dazu aufzufordern, dieses „Maß in den Dingen“, das heißt in den unterschiedlichsten Lebenssituationen zu suchen. Die Fähigkeit, „jeden Tag im Angesicht des Todes als Geschenk zu genießen, so dass man zufrieden wie ein satter Gast aus dem Leben scheiden kann, ist gelebter Epikureismus“34 und ein Lebensgefühl, das in der Satire 1, 1 insgesamt zum Ausdruck kommt. Dazu gehören die Einsicht in die natürliche Begrenztheit des menschlichen Daseins, die Zufriedenheit als bewusste Bejahung der jeweiligen Situation, die Ablösung falscher Selbstzufriedenheit durch wahre Zufriedenheit, die sich dessen bewusst ist, dass man das Glück nicht außerhalb seiner selbst suchen darf. Der Leser soll sukzessive unter verschiedenen Aspekten auf das Thema „Maß und Grenze“ gebracht werden. So stellt er selbst die gedankliche Einheit des Textes her. Der Dichtet leitet den 36

Leser auf diese Weise dazu an, seine falschen Auffassungen von Glück und Sozialprestige zu überwinden, und zwar indem er ihn „lachend“ mit dem „Wahren“ konfrontiert. Horaz zeigt dem Leser nebenbei noch eine Schattenseite der augusteischen Politik, indem er den Verlust der Mitmenschlichkeit als Folge des ökonomischen Aufstiegs diagnostiziert. Bei allen diesen Überlegungen zur Weisheit des Spruches „Nichts zu sehr“ hört man aus dem Hintergrund der Bühne die Worte des Dichters Hesiod (Erga 40): „Dummköpfe. Sie wissen es nicht: Die Hälfte ist mehr als das Ganze“ – man muss diese nur richtig gebrauchen.

1.5 Für das Leben lernen?35 „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ (Non scholae, sed vitae discimus). Mit diesen Worten soll schulisches Lernen gerechtfertigt werden. Bei Seneca (Briefe an Lucilius 106, 12) klingt der Satz anders: „Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir“ (Non vitae, sed scholae discimus). Er weist damit auf die Lebensferne der Philosophenschulen hin. Was man dort lerne, habe mit dem Leben nichts mehr zu tun. Die Umkehrung des Satzes wurde bis heute zum Programmspruch der Schule: Der Lernende soll immer daran denken, dass er alles, was er in der Schule lernen muss, für sein Leben lernt und nicht für die Schule. Aber die Frage, was das Leben, für das man lernen soll, eigentlich ist, wird nicht diskutiert. Der rhetorisch wirkungsvolle Gegensatz zwischen Schule und Leben“ schafft keine Klarheit. Dennoch bestimmt er bis heute die bildungspolitische Diskussion und wirkt als Motor einer permanenten Bildungsreform. Die Forderung, die Schule habe auf die Anforderungen des Lebens vorzubereiten, wurde immer wieder erhoben. Massive Vorwürfe etwa gegen den altsprachlichen 37

Unterricht in der Schule stützten sich in der Vergangenheit auf die Behauptung, dass dieser das „Lernziel Leben“ verfehle.36 Die angebliche Lebensferne der humanistischen Bildungsidee ist bisher aber kein Hindernis für ihr Überleben. Denn vielleicht braucht Bildung sogar das „Entrücktsein“ von der Unmittelbarkeit des täglichen Lebens?37 Auch wenn es heißt, der Unterricht in der Schule solle eine „Ausstattung zur Bewältigung von Lebenssituationen“ leisten und diese „Ausstattung“ müsse in entsprechenden Qualifikationen oder Kompetenzen bestehen, die man in bestimmten Unterrichtsfächern erwerben könne,38 hilft dies nicht weiter, solange man nicht weiß, welches Leben gemeint ist. Oder was ist unter „Bewältigung“ zu verstehen? Sollen die Heranwachsenden zur Anpassung an die Lebenssituation oder zu ihrer Veränderung qualifiziert werden? Immerhin ist es schon Josef A. Mayer gelungen,39 den Lebensbegriff und das aus diesem abgeleitete Prinzip der Lebensnähe als ein unbrauchbares Kriterium für die Auswahl von Bildungsinhalten zu erweisen. Aufgrund ihrer Leerformelhaftigkeit seien Wort und Begriff „Leben“ nicht geeignet, Bildungsinhalte zu legitimieren. Dabei sieht Mayer aber nicht, dass die Verfechter des Prinzips der Lebensnähe die durchaus berechtigte Forderung erheben, dass die Schule auch das im täglichen Leben unmittelbar Nützliche berücksichtigen solle (zum Beispiel lesen, schreiben, rechnen). Mayer wehrt sich jedoch mit Recht gegen die Forderung, dass das Sinnhaft-Zweckfreie dem Zweckhaft-Nützlichen geopfert wird. Denn mit der Verdrängung des Sinnhaft-Zweckfreien zugunsten des Zweckhaft-Nützlichen würde dem Einströmen einer ungeheuren Stofffülle in die Schule der Weg gebahnt. Denn wer könnte dann noch entscheiden, welche „lebensnahen“ Inhalte vor dem Schultor zu bleiben hätten, wo doch alle gleichermaßen den Eintritt in die Schule beanspruchen dürften? Das konsequent angewandte Prinzip der Lebensnähe müsste – so Mayer – die Stoffüberfülle potenzieren. Die hereinbrechende Flut angeblich lebensnotwendiger Kompetenzen würde ein Chaos schaffen, dessen 38

man nur durch diktatorische Beschränkung auf die Gegenstände Herr werden könne, die die jeweils Herrschenden für lebensnotwendig erklärten. Das Statement Non vitae, sed scholae discimus steht am Ende eines Briefes (106, 12), in dem Seneca darauf hinweist, dass für richtiges Denken gesunder Menschenverstand und nur wenig Gelehrsamkeit notwendig sei: „Seneca grüßt seinen Freund Lucilius. Ziemlich spät antworte ich auf Deinen Brief, nicht weil ich durch meine Beschäftigungen zu sehr in Anspruch genommen wäre. Hüte Dich davor, diese Entschuldigung gelten zu lassen: Ich habe Zeit, und alle haben Zeit, die es wollen. Niemanden verfolgen seine Tätigkeiten: Sie selbst haben sich in sie verstrickt und glauben, es sei ein Beweis für ein glückliches Leben, ständig beschäftigt zu sein. Was war also der Grund, dass ich Dir nicht sofort antwortete? Der Gegenstand Deiner Frage geriet in den Zusammenhang meiner derzeitigen Arbeitsplanung. Du weißt, dass ich vorhabe, die Ethik umfassend darzustellen und alle damit zusammenhängenden Fragen zu erläutern. Deshalb war ich im Zweifel, ob ich Dich vertrösten sollte oder ob es angebracht sei, bis der richtige Zeitpunkt dafür da ist, Dir außer der Reihe zu berichten: Es schien mir freundlicher zu sein, Dich nicht hinzuhalten, da Du von so weit her kommst. ... Da ich, wie Du es wolltest, nachgegeben habe, will ich jetzt etwas sagen, was ich gewissermaßen mir selbst sagen wollte, bei dem ich sehe, dass Du im Begriff bist, es zu sagen: Mit Steinchen spielen wir. An Überflüssigem nutzt man den Scharfsinn ab. Es macht nicht gut, sondern gelehrt. Klarer ist es, vernünftig zu sein, nein vielmehr: einfacher. Für das richtige Denken braucht man nur wenig Gelehrsamkeit, aber wie wir uns auch sonst im Überflüssigen verlieren, so auch in der Philosophie selbst. Wie in allen Dingen leiden wir auch in der Wissenschaft an Maßlosigkeit: Wir lernen nicht für das Leben, sondern für die Schule. Lass es Dir gut gehen.“ Die Stoiker gaben sich sehr viel Mühe damit, im Sinne eines konsequenten Materialismus die Körperlichkeit der positiven und negati39

ven Affekte plausibel zu machen. Seneca distanziert sich entschieden von dieser Diskussion, weil er sie für irrelevant und völlig überflüssig hält. Das sei eben ein deutliches Zeichen für die Lebensferne philosophischer Erörterungen. Auch in der Gelehrsamkeit sei jede Maßlosigkeit zu vermeiden und Lebensnähe anzustreben. Aber wie unseren sonstigen Besitz vergeuden wir auch unsere geistige Energie für sinnlose Fragen. Wer Senecas Satz von der Lebensferne der Gelehrsamkeit in sein Gegenteil verkehrt hat, ist nicht bekannt. Die heutige positiv gemeinte Version „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ bedeutet aber leider keine Abkehr von überflüssiger Gelehrsamkeit und Stofffülle. Sie soll den Lernenden mit der Behauptung motivieren oder trösten, dass das Lernen auch des Überflüssigen letzten Endes dem Leben diene und die Anstrengung des Lernens sich lohne. Dann – so der Sinn des umgedrehten Seneca-Satzes – lerne man in der Schule nichts Überflüssiges oder Sinnloses. Dennoch bleibt weiterhin die Frage offen, was denn dieses Leben sei. Ob eine nähere Bestimmung des Lebens-Begriffs überhaupt dazu geeignet ist, in der Schule organisiertes Lernen zu begründen, sei dahingestellt. Wenn man sich aber einmal einige Merkmale des Lebens – Selbsterhaltungstrieb, Fortpflanzungsfähigkeit, Fähigkeit zur Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung, Sterblichkeit – bewusst macht und davon ausgeht, dass diese zur Reflexion herausfordern (das ist auch ein Merkmal des Lebens), hätte die Pädagogik wirklich eine ernst zu nehmende Aufgabe.

1.6 Handeln nach dem Rubikon-Prinzip? Alea iacta est oder iacta alea est: „Der Würfel ist gefallen.“ Nach Sueton (Divus Iulius 31) soll Caesar diesen Satz gesagt haben, als er den Fluss Rubico (Rubikon) überschritt. „Als Caesar seine Kohorten 40

am Rubico, dem Grenzfluss zwischen seiner Provinz und dem übrigen Italien, eingeholt hatte, machte er ein Weilchen halt und überlegte noch einmal, welche Folgen sein Handeln haben würde. Dann wandte er sich mit folgenden Worten an die Männer in seiner nächsten Umgebung: ‚Noch können wir zurück. Wenn wir aber diese kleine Brücke erst einmal überschritten haben, dann werden nur noch die Waffen sprechen können.‘ Während er noch zögerte, geschah etwas Seltsames. Plötzlich sah man unmittelbar neben ihm einen Mann, der durch seine ungewöhnliche Größe und sein Aussehen besonders auffiel. Er saß einfach da und spielte Flöte. Als außer den Hirten auch noch sehr viele Soldaten von ihren Posten und dazu noch einige Trompeter herbeigelaufen kamen, um dem Bläser zuzuhören, riss Caesar einem von diesen die Trompete aus der Hand, rannte zum Fluss gab mit gewaltiger Kraft ein Signal und ging durch den Fluss an das andere Ufer. Dann rief er: ‚Los! Wir müssen jetzt dorthin, wohin die göttlichen Zeichen und die Ungerechtigkeit unserer Gegner uns rufen. Der Würfel ist gefallen.‘ Und so überquerte dann das ganze Heer den Fluss.“ Mit dieser Grenzverletzung begannt in der Nacht vom 10. auf den 11. Januar 49 v. Chr. der Bürgerkrieg gegen Pompeius. Nach Plutarch (Caesar 32, 5; Pompeius 60, 4) sprach Caesar den berühmten Satz in griechischer Sprache – allerdings ist die griechische Fassung mit der lateinischen nicht identisch: Der griechische Satz bedeutet etwa: „Der Würfel soll geworfen sein!“ Plutarch hat den Vorgang sehr dramatisch gestaltet, indem er Caesars inneren Kampf um eine folgenschwere Entscheidung besonders hervorhebt. Denn das Überschreiten des Rubikon (Rubico), das heißt der Grenze seiner Provinz (zwischen Gallia Cisalpina und Umbrien),40 bedeutete den totalen Bruch mit der römischen Verfassung und dem Senat. Helmut Fuchs und Andreas Huber haben sich von dieser Anekdote zu einem Buch inspirieren lassen, das Caesars Entscheidung nicht als Verfassungsbruch, sondern als ein Appell für tatkräftiges Handeln 41

gegen alle Bedenken charakterisiert.41 Das Buch soll Menschen dazu anleiten, ihre Entscheidungsschwäche zu überwinden und ihre Entschlusskraft zu stärken. Sie sollen sich dabei Caesar zum Vorbild nehmen. Aber ob Caesar wirklich das geeignete Vorbild für den Durchschnittsmenschen ist, Entschlussunfähigkeit zu überwinden, sei dahingestellt. Denn wie die Rubikon-Legende veranschaulicht, fehlte es Caesar von vornherein nicht an Entschlusskraft und Risikobereitschaft. Er handelte stets rasch und zielbewusst, weil er vom Erfolg seiner – unwiderruflichen – Entscheidungen überzeugt war und auch die Konsequenzen im Blick hatte.

1.7 Schuster, bleib bei deinen Leisten In seinem Porträt des berühmten Malers Apelles (um 320 v. Chr.) erzählt Plinius der Ältere42 folgende Anekdote: Apelles habe gern die Betrachter seiner Bilder beobachtet, um ihre Urteile kennenzulernen. So hörte er einmal, wie ein Schuster an einem gemalten Schuh bemängelte, dass der Maler die Ösen nicht korrekt wiedergegeben habe. Apelles korrigierte den Fehler. Als dann aber der Schuster auch noch bemängelte, dass mit dem Bein über dem Schuh etwas nicht stimme, sagte der Maler ärgerlich zu dem Schuster, er solle nicht über seine Leisten hinaus ein Urteil fällen. Diese Aufforderung wird heute mit dem Sprichwort „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ übersetzt, das darauf aufmerksam machen soll, dass man seine Kompetenzen nicht überschätzen, seine Grenzen nicht übertreten und sich auf das beschränken soll, was man wirklich kann. Horaz hätte sich in seiner Satire 1, 1 auch dieses Sprichworts bedienen können, wo er die Unzufriedenheit vieler Menschen mit dem eigenen Leben thematisiert. Warum sind die Menschen oft so unzufrieden mit ihrem Schicksal und beneiden die anderen? Der römische Dichter empfiehlt ebenso wie der kynisch geprägte Wanderphilosoph Bion den 42

Menschen, die ihnen gestellten Lebensaufgaben ohne Murren zu erfüllen: „Wie der Schauspieler die ihm zugewiesene Rolle gut spielen muss, so muss auch der Mensch die Rollen spielen, die die Schicksalsgöttin ihm auferlegt hat. Darum darf er auch nicht versuchen, die Verhältnisse zu ändern. Er muss sich vielmehr den jeweiligen Umständen anpassen, wie es auch die Seeleute tun.“43 Dennoch war in der Satire des Horaz ein gütiger Gott bereit, die Menschen von ihrer Unzufriedenheit zu befreien und ihnen neue Aufgaben zuzuteilen, und die Vertreter von vier Berufen erhalten die Chance, ihre Berufe zu wechseln. Aber sie lehnen ab und bleiben unzufrieden. Wahrscheinlich spüren sie, dass ihnen die notwendige Entscheidungskraft fehlt. Oder ahnen sie, dass die Entscheidung für eine Möglichkeit bedeutet, andere Möglichkeiten nicht mehr nutzen zu können? Man bleibt lieber unzufrieden statt sich für eine sich bietende Möglichkeit zu entscheiden.

1.8 Fortiter in re, suaviter in modo In einem Interview (Z., 09. 05. 2018) spricht Armin Laschet (MP von NRW) über Integration und Abschiebung: Sein Prinzip sei das Suaviter in modo, fortiter in re. Das gelte in der internationalen Politik genauso wie in der Landespolitik. Ob er die überlieferte Reihenfolge44 der beiden Imperative absichtlich veränderte, sei dahingestellt. Klaus Bartels zitiert den kurzen Textausschnitt in folgender Übersetzung:45 „... dass wir (die Herrschenden) ebenso beharrlich (fortes) seien in der Verfolgung des Ziels wie gewinnend (suaves) in der Art und Weise, es zu erreichen.“ Einen vergleichbaren Ratschlag gab auch schon Aristoteles, indem er den Begriff der Gewöhnung (ethos) gebrauchte, um die Menschen auf den rechten Weg zu bringen. In seiner Politik (2, 1269 b 20–22) liest man den Satz: „Um Gehorsam zu finden, besitzt das Gesetz nämlich keine Machtmittel außer der Möglichkeit, die 43

Menschen daran zu gewöhnen, ihm zu folgen; dieser Prozess brauche aber viel Zeit“46 (→ 8.9: Kann der Mensch sich ändern?).

1.9 Homo sum In einer Buch-Rezension (ZEIT-Literatur Nr. 48 vom November 2015) stellt Susanne Mayer ein Werk der New Yorker Autorin Leslie Jamison über Empathie vor.47 In den Text der Rezension ist eine Fotografie der Autorin eingefügt. An der Innenseite ihres linken Unterarmes hat sie ein Tattoo. Von oben nach unten ist ein Vers des römischen Komödiendichters Terenz zu lesen. Homo sum: humani nil a me alienum puto.48 Offensichtlich will Jamison mit diesem Zitat ihren Appell zur Empathie dauerhaft festhalten und darauf hinweisen, dass menschliche Beziehungen ohne Mitgefühl und Empathie auseinander brechen müssen. Kant hat in seiner Metaphysik der Sitten49 vom „Prinzip der Teilnehmung“ gesprochen. Seine Übersetzung des Terenz-Verses lautet: „Ich bin ein Mensch; alles, was Menschen widerfährt, das trifft auch mich.“ Es ist in der Tat so, dass der Chremes des Terenz „teilnimmt“ am Kummer des Menedemos (75 f.), das heißt, dass er Empathie empfindet. Aber dieser hatte Chremes zuvor gefragt: „Hast du denn überhaupt die Zeit, um dich um Fremdes kümmern zu können, das dich doch eigentlich gar nicht betrifft?“ Darauf antwortet Chremes mit dem zitierten Satz. Er handele menschlich, weil er sich seiner Menschlichkeit bewusst sei. Der zitierte Satz ist die autonome Begründung seiner praktizierten Menschlichkeit. Dass sich der Ausspruch des Chremes im weiteren Verlauf der Komödie gar nicht als Ausdruck echter Menschlichkeit erweist, sondern eher eine von Besserwisserei und Phrasendrescherei getragene Einmischung ohne konkrete Folgen ist, wie E. Lefèvre50 geltend macht, lässt die Rezeptionsgeschichte des berühmten Verses,51 nicht einfach ge44

genstandslos werden. Denn der Vers wurde schon früh seinem ursprünglichen Zusammenhang entwendet und erhielt seinen traditionellen Appellcharakter. Bereits in der Ilias (24, 486–526) findet man ein Zeugnis tief empfundener Empathie. Priamos gelangt mit göttlicher Hilfe in das Zelt des Achill, der seinen Sohn Hektor im Kampf erschlug und seinen toten Körper schändete. Priamos bittet Achill um den Leichnam, um ihn zu bestatten. Er versucht, in Achill Empathie zu wecken, indem er ihn an seinen eigenen Vater erinnert, der ebenso alt ist wie er, Priamos, und auf die Heimkehr seines Sohnes aus Troja wartet. Priamos hat alle seine Söhne im Krieg verloren. Den Leichnam des letzten möchte er nach Hause bringen. „Denk an deinen eigenen Vater und habe Mitleid mit mir.“ Und tatsächlich lässt sich Achill von diesen Worten bewegen und hat Erbarmen mit Priamos: „Was hast du doch alles ertragen müssen in deinem Herzen, du Unglücklicher.“ Vom Verhalten des Odysseus gegenüber Aias, der ihm im Streit um die Waffen des toten Achill unterlag, war oben schon die Rede (→ Kap. 1.3: Erkenne dich selbst). Was war eigentlich der Grund für den Streit? Aias, der Sohn des Telamon, war der tapferste Kämpfer nach Achill. Er empfand es als eine unerträgliche Schmach, dass nicht er, sondern Odysseus mit Hilfe der Athene die Waffen des toten Achill zugesprochen bekam. Sein Schmerz darüber war so groß, dass er wahnsinnig wurde und die Herdentiere der Griechen niedermetzelte, weil er sich einbildete, die Tiere seien die griechischen Führer, die ihm Unrecht getan hatten. Als er wieder bei Sinnen war, schämte er sich so sehr, dass er sich selbst mit dem Schwert tötete, das Hektor ihm nach einem Zweikampf geschenkt hatte. Der Austausch von Geschenken zwischen den erbitterten Gegnern Hektor und Aias, nachdem der Kampf unentschieden geblieben war, ist auch ein berührendes Bild tiefer Menschlichkeit. In der Aias-Tragödie des Sophokles ging es um mehr als um den materiellen Wert, den Tauschwert, von Gegenständen, die keiner der 45

Beteiligten wirklich benötigte. Weder Aias noch Odysseus hätten die Rüstung des toten Achill gebraucht. Um so höher aber war ihr symbolischer Wert (→ 3.2: Was ist ein Symbol?). Das erkannte am Ende auch Odysseus. Er konnte aber nur noch die Ehre eines Toten retten. Doch Sophokles lehrt uns, dass es für Menschlichkeit niemals zu spät ist. Um noch einmal auf Terenz und sein Homo sum zurückzukommen: In seiner Schrift über die Pflichten unterscheidet Cicero „zwei Arten von Ungerechtigkeit: erstens die Ungerechtigkeit derjenigen, die sie begehen, zweitens die Ungerechtigkeit, die darin besteht, anderen nicht zu helfen, wenn ihnen Unrecht angetan wird, selbst wenn man es kann (→ 8.7: Tun oder Nichtstun?). Denn wer jemanden zu Unrecht angreift, weil er entweder von Zorn oder einer anderen Leidenschaft dazu getrieben wurde, tut einem Mitmenschen Gewalt an; wer ihn aber nicht verteidigt und sich dem Unrecht nicht widersetzt, auch wenn er es kann, macht sich genauso schuldig wie einer, der seine Eltern, seine Freunde oder sein Vaterland im Stich lässt. ... Da wir also nach der Darstellung der beiden Erscheinungsformen der Ungerechtigkeit auch die Ursachen für beide hinzugefügt und vorher die Merkmale der Gerechtigkeit festgestellt haben, werden wir auch leicht entscheiden können, was zu jedem Zeitpunkt die Pflicht verlangt, wenn wir uns selbst nicht zu sehr lieben; denn es ist schwierig, sich um fremde Angelegenheiten zu kümmern, obwohl der viel zitierte Chremes des Terenz glaubt, dass ihm nichts Menschliches fremd ist. Aber nur weil wir eher die günstigen oder ungünstigen Ereignisse, die uns selbst betreffen, wahrnehmen und empfinden als diejenigen, die den anderen Menschen zustoßen und die wir sozusagen aus großer Entfernung sehen, urteilen wir über jene auch anders als über uns. Deshalb geben diejenigen einen guten Rat, die verbieten, etwas zu tun, bei dem man im Zweifel ist, ob es angemessen oder unangemessen ist. Denn Angemessenheit (aequitas) ist auf keine weitere Erklärung angewiesen; Zweifel deutet an, dass man an Unrecht denkt.“ 46

Auch Seneca verwendet den Vers des Terenz, um an die menschliche Solidarität zu appellieren: „Es gibt da noch eine zweite Frage, wie man mit Menschen umgehen muss. Was tun wir? Welche Vorschriften geben wir? Dass wir Menschenblut schonen? Wie wenig ist es, dass man demjenigen nicht schadet, dem man nützlich sein muss! Natürlich spricht man ein großes Lob aus, wenn ein Mensch einen Menschen gut behandelt. Werden wir ihm vorschreiben, einem Schiffbrüchigen die Hand zu reichen, einem, der sich verlaufen hat, den Weg zu zeigen, mit einem Hungernden sein Brot zu teilen? Warum soll ich alles nennen, was jemandem zu erweisen oder zu verweigern ist? Weil ich ihm doch ganz kurz dieses Prinzip menschlicher Pflicht vermitteln kann: Alles, was Du siehst, was Göttliches und Menschliches umfasst, besteht nur aus einer einzigen Sache: Wir sind Glieder eines großen Körpers. Die Natur hat uns als Blutsverwandte hervorgebracht, da sie uns aus derselben Materie und für denselben Zweck erzeugte; sie hat uns gegenseitige Liebe eingeflößt und uns zu gemeinschaftsbezogenen Wesen gemacht. Sie hat Recht und Billigkeit geschaffen; nach ihrer Auffassung ist es elender zu schaden als Schaden zu erleiden. Nach ihrem Befehl sollen die Hände zum Helfen da sein. Folgenden Vers soll man im Herzen haben und im Mund führen:,Ich bin ein Mensch, ich glaube, dass mir nichts Menschliches fremd ist.‘ Wir wollen uns zum Wohl der Gemeinschaft daran halten: Für die Gemeinschaft sind wir geschaffen worden. Unsere Gemeinschaft ist einem Gewölbe aus Steinen sehr ähnlich, das zusammenbrechen würde, wenn sich die Steine nicht gegenseitig stützten, und das eben dadurch aufrecht gehalten wird.“ Hier ist im Hintergrund Aristoteles zu hören, der Jahrhunderte vorher den Menschen als ein politisches und zugleich vernünftiges Wesen (Politik 1, 1253a1–10) definierte: „Der Mensch ist seiner Natur nach ein politisches Wesen. ... Unter allen Lebewesen hat nur der Mensch Verstand.“ Platon hatte bereits im Phaidon (82a–b) Menschen erwähnt, die soziale und politische Tugend (demotiké kai politiké areté) 47

bewiesen, eine Tugend, die man auch als Besonnenheit und als Gerechtigkeit bezeichne. Nach ihrem Tod gingen ihre Seelen im Sinne der Seelenwanderungslehre in die ihnen verwandte Tierart ein: Sie würden zu Bienen, Wespen oder Ameisen. Aber erst Aristoteles fand die unsterbliche Formel des Zoon politikón, die die natürliche Verantwortung des Menschen für die Gesellschaft und für sich selbst umreißt und die Keimzelle der Demokratie bis auf den heutigen Tag darstellt. Dass das Menschsein als solches ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Verständnisses für das Leiden und Handeln anderer Menschen erzeugen kann, veranschaulichte schon der Historiker Herodot (1, 86, 6), indem er den persischen König Kyros die Begnadigung seines Gegners Krösus folgendermaßen begründen lässt: Er besann sich und war sich dessen bewusst, dass er selbst auch nur ein Mensch war und einen anderen Menschen, der nicht weniger Glück genossen hatte als er selbst, lebendig verbrennen lassen wollte. Vorausgegangen war der verlorene Krieg des Krösus gegen Kyros: Die Perser erobern Sardes und nehmen Krösus gefangen. Kyros will den besiegten Gegner auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Herodot erzählt, wie Krösus sich auf dem schon brennenden Scheiterhaufen an sein (von Herodot erfundenes) Gespräch mit dem Athener Solon erinnert (→ 7.7: Was ist das „gute Leben“? Was ist Glück?). Dieser hatte Krösus auf die Unberechenbarkeit des menschlichen Schicksals hingewiesen (1, 30–32). Solon habe – so Krösus – nicht nur ihn allein gemeint, sondern die ganze Menschheit in ihrer Gefährdung und Vergänglichkeit und vor allem diejenigen, die meinten, glücklich zu sein. Als Kyros von seinen Dolmetschern hörte, was Krösus gesagt hatte, änderte er seine Absicht und besann sich darauf, dass auch er ein Mensch war und einen anderen Menschen, der ihm einst an Glück nicht nachstand, lebend dem Feuer übergeben wollte. Außerdem fürchtete er die Vergeltung (der Götter) und sagte sich, dass nichts im menschlichen Dasein sicher sei. Darum befahl er, das Feuer so schnell wie möglich zu löschen. 48

Xenophon berichtet in der Kyrupädie (7, 2) ebenfalls über die Vorgänge nach dem Sieg des Kyros über Krösus. Der xenophontische Kyros erwähnt jedoch nicht die drohende Verbrennung des lydischen Königs auf dem Scheiterhaufen. Kyros lässt den besiegten Krösus zu sich führen, der ihn mit folgenden Worten anspricht: „Sei gegrüßt, Herr. Denn das Schicksal gibt dir von jetzt an die Möglichkeit, diesen Titel zu tragen, und verlangt von mir, dich so anzureden.“ Kyros erwidert (7, 2, 9–10): „Auch du sei gegrüßt, Krösus. Denn wir sind doch beide Menschen. Doch Krösus, was würdest du mir raten wollen?“ – „Ich würde mir wünschen, mein Kyros, etwas zu finden, was gut für Dich ist. Denn ich glaube, dass dies auch für mich gut ist.“ Der Geschichte von Krösus und Kyros (Herodot 1, 86) kann man ein Archilochos-Fragment als Motto voranstellen (128 W = 67a D): „Wenn du siegst, darfst du deinen Stolz nicht offen zeigen, wenn du besiegt bist, jammere nicht, zu Hause auf den Boden stürzend. Doch über Erfreuliches freue dich und über Schlimmes sei betrübt, aber nicht zu sehr. Erkenne einfach das Auf und Ab, das die Menschen erfasst.“ Plutarch berichtet übrigens in seiner Solon-Biographie, Kyros habe den Feuertod des Krösus nicht aus Menschlichkeit verhindert, sondern weil er „ungleich weiser war als Krösus“ und darum aus den Worten Solons die richtigen Konsequenzen habe ziehen können. Herodot aber hatte zuvor mehrere Motive genannt, die den Perserkönig zu dieser Verbrennungsaktion hätten veranlassen können: (1) Kyros wollte den wertvollsten Teil seiner Kriegsbeute den Göttern opfern, (2) ein Gelübde erfüllen oder (3) erproben, ob die Götter den gottesfürchtigen Krösus retteten. Trotzdem erklärt er – anders als Bakchylides in seinem Dritten Epinikion – den Abbruch der Aktion nicht mit einem Eingreifen des Zeus, sondern mit einer menschlichen Entscheidung: Für Kyros sind alle Menschen der Unberechenbarkeit des Schicksals ausgeliefert. Die Menschlichkeit, auf die sich Kyros besinnt, hat ihre Ursache im Bewusstsein einer Solidarität, die aus der 49

Einsicht in die permanente Gefährdung des Menschen erwächst. Der ursprüngliche Plan, mit dem Menschenopfer eine religiöse Pflicht zu erfüllen, wird aufgegeben, weil der Sieger im Besiegten plötzlich sich selbst erkennt. Kyros begreift die Botschaft des weisen Solon, der ihn durch den Mund des Lyderkönigs noch rechtzeitig zum Umdenken mahnt. Menschlichkeit aus Selbsterkenntnis: Die Nähe zum delphischen Imperativ ist unverkennbar (→ 1.3: Erkenne dich selbst). Ein Kerngedanke ist die Unberechenbarkeit des Schicksals, die die mitmenschliche Solidarität begründen hilft. An dieser Szene zeigt sich Herodots Geschichtsauffassung, die sein ganzes Werk durchzieht: Weil sich der König auf der Höhe seiner Erfolge für den glücklichsten Menschen hielt, forderte er die Gottheit heraus; denn sie kann es nicht zulassen, dass der Mensch über sein Maß hinauswächst. So sind die folgenden Schicksalsschläge nicht als Strafen für Verfehlungen des Königs anzusehen, sondern als Demonstrationen der göttlichen Macht. Eine vergleichbare Situation beschreibt übrigens Livius 45, 8: Perseus, der letzte König von Makedonien (reg. 179–168) wird im Jahr 168 im 3. Makedonischen Krieg bei Pydna von Aemilius Paullus Macedonicus geschlagen und gefangen genommen. Der König wird dem Konsul vorgeführt; dieser erhebt sich und streckt ihm die Hand entgegen. Er fragt ihn, warum er den Krieg gegen das römische Volk geführt habe. Perseus schweigt. Der Konsul erklärt darauf in griechischer Sprache, der Besiegte könne mit der Milde (clementia) des römischen Volkes rechnen. Auf lateinisch sagt er anschließend zu seinen eigenen Leuten: „Ihr seht hier ein hervorragendes Beispiel für die Unbeständigkeit der menschlichen Dinge. Das sage ich vor allem zu euch, ihr jungen Leute. Deshalb ist es nicht angemessen, wenn es einem gut geht, gegen irgend jemanden überheblich und gewalttätig zu sein und auf das Glück des Augenblicks zu vertrauen, da noch unbestimmt ist, was der Abend bringt.” Aemilius Paullus erweist sich am Ende als ein Mann, den günstige Verhältnisse nicht übermütig 50

werden lassen und widrige Umstände nicht zerbrechen. Schon Polybios (von dem Livius abhängt) hatte diese Szene beschrieben (29, 20): „Aemilius Paullus sagte zu den Mitgliedern seines Kriegsrates, sie sollten im Blick auf den besiegten Perseus weder auf ihre Erfolge übermäßig stolz sein noch über jemanden im Übermut das Äußerste verhängen und überhaupt sich niemals auf das augenblickliche Glück verlassen. Gerade wenn man im Privatleben oder in der Politik besonders erfolgreich sei, solle man an das Gegenteil denken. Denn nur so könne sich ein Mensch im Glück als maßvoll erweisen. Darin unterschieden sich die Unvernünftigen von den Vernünftigen, dass jene durch ihr eigenes Missgeschick belehrt würden, diese durch das der anderen.“ Die Menschlichkeit des Aemilius Paullus gegenüber Perseus erwächst aber auch bei dem griechischen Historiker nicht aus Menschenliebe oder Mitleid mit dem geschlagenen Feind. Sie folgt aus der Einsicht, dass das Unglück des anderen auch das eigene sein kann. Menschlichkeit hat also auch hier keine im eigentliche Sinne moralische Qualität. Sie ist ein Akt der Vernunft (vergleichbar mit dem moralischen Intellektualismus des Sokrates), die die Identifikation mit dem Mitmenschen begründet. Wenn Menschlichkeit in diesem Sinne vernunftgesteuert ist, kann die Schonung des Besiegten auch nicht durch Angst vor Vergeltung, sollte sich das Blatt wenden, bedingt sein. Hier wird zudem nicht einmal eine göttliche Macht ins Spiel gebracht. Maßgebend ist nur die Einsicht in die existentielle Gefährdung des Menschen, mag er nun Sieger oder Besiegter sein. Die Achtung vor der Zerbrechlichkeit, der Fragilität des Menschen ist der Grund für seine Menschlichkeit. Plutarch berichtet in seiner Timoleon-Vita (14) unter einem anderen Aspekt über das Verhalten von Menschen, die mit ansehen müssen, wie dem einst gefürchteten Tyrannen Dionysios II. im korinthischen Exil mitgespielt wurde: „Als Dionysios in Korinth gelandet war, gab es niemanden unter den Griechen, der ihn nicht sehen und ansprechen wollte. Einige strömten vielmehr freudig 51

zusammen, um sich aus Hass an seinem Unglück zu freuen, als ob sie auf dem am Boden Liegenden noch mit den Füßen herumtrampeln wollten; einige aber, die sich die Unberechenbarkeit des Schicksals bewusst machten und Mitleid empfanden, sahen die große Macht der undurchschaubaren göttlichen Fügungen, die in den gefährdeten und stets schutzlos daliegenden menschlichen Verhältnissen wirksam sind.“ Diese Menschen sind vom Unglück des Dionysios betroffen, weil sie sich selbst als mögliche Opfer des Schicksals sehen; es könnte ihnen genauso ergeben wie Dionysios.52 Sie ahnten anscheinend, dass Versöhnung und Friede erst dann möglich ist, wenn man sich in das Leiden des Anderen, auch des Feindes, hineinversetzen kann und will. Eine Anekdote erzählt: Als man einmal Aristoteles den Vorwurf machte, er habe einem unwürdigen Menschen etwas geschenkt, soll er geantwortet haben: „Mein Mitleid galt nicht seinem Verhalten, sondern dem Menschen“ (D.L. 5, 17). Etwas später (5, 21) wiederholt der Autor diese Aussage: Aristoteles habe gesagt, nicht dem Menschen habe er etwas gegeben, sondern der Menschlichkeit, und auf die Frage, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen sollten, habe er geantwortet: „Genauso wie wir es wünschen, dass sie mit uns umgehen sollen.“ Der römische Kaiser Mark Aurel sagt am Anfang des zweiten Buches seiner Selbstbetrachtungen, er könne niemandes Feind oder auf ihn zornig sein. „Denn wir Menschen sind da, um zusammenzuarbeiten wie die Füße, die Hände, die Augenlider oder die Reihen der oberen und unteren Zähne. Gegeneinander zu arbeiten, wäre gegen die Natur. Man arbeitet aber gegeneinander, wenn man ärgerlich ist und sich abwendet.“ Das Tattoo der Leslie Jamison hat also einen tiefen Hintergrund, der gewiss noch weiter ausgeleuchtet werden könnte.  

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2. Bilderwelten der Mythologie Vom Mythos zum Logos – und zurück: Bis in die Gegenwart hinein werden antike Bilderwelten beschworen; sie entstammen unter anderem dem Trojanischen Sagenkreis zum Beispiel mit dem Parisurteil,53 der schönen Helena, Kassandra mit ihren „Kassandrarufen“ und Laokoon (Aeneis 2, 199–267), mit Odysseus und der Odyssee, dem thebanischen Sagenkreis mit Ödipus und Antigone und den mythologischen Erzählungen von den Heldentaten des Herakles.54 Diese Inhalte sind traditionell Elemente eines gehobenen kulturellen Codes und haben in unserem Denken tiefe Spuren hinterlassen (nicht nur in der Rezeptionsgeschichte, wie sie auf der Theaterbühne bis heute wirksam ist). Aber ihre öffentliche Verwendung ist nur dann sinnvoll, wenn sie auch verstanden werden. Schon früh hatte man erkannt, dass wir mit den Bilderwelten der antiken Mythologie unsere eigenen seelischen Zustände und Befindlichkeiten veranschaulichen. Das ist kein moderner Gedanke. Denn bereits Titus Lucretius Carus (um 95–55 v. Chr.) formulierte in seinem philosophischen Lehrgedicht den Satz (→ 9.4: Gründe erkennen: Lukrez): „Sie sind alle in unserem Leben gegenwärtig“ (In vita sunt omnia nobis 3, 979). Er meinte damit die mythologischen Erzählungen, die er als Abbilder unserer seelischen Zustände verstanden wissen wollte, um uns von selbstzerstörerischen Wahnvorstellungen zu befreien. Die mythischen Gestalten und Vorgänge sind für Lukrez also nichts anderes als Allegorien seelischer Vorgänge. Eindrücklich demonstriert er seine Sicht an den Gestalten in der Unterwelt: die Angst des Tantalus vor dem über ihm schwebenden Felsblock ver53

bildlicht die – grundlose – Furcht vor den Göttern und dem unberechenbaren Schicksal. Auch der gewaltige Tityos steckt in uns selbst: Denn wer in Liebesverlangen verstrickt ist, wem andere Begierden und ständige Angst und Sorgen das Herz zerfressen, den zerreißen die Geier des Tityos. Wer sich ständig ohne Erfolg anstrengt, ist Sisyphus vergleichbar. In diesem Sinne ist der Mythos eine „urtümliche Form menschlicher Selbstvergewisserung“. Das unerschöpfliche Potential des Mythos beschrieb Paul Barié 1980, 4: „Im Gegensatz zum religiösen Dogma ist der Mythos produktiv, auf ständige Verwandlung und Neugestaltung angelegt: Er lebt geradezu von der Rezeption und formt sich dabei auf der einen Seite zu ernster Literatur aus, so wie er andererseits zur Burleske werden kann und zur Metapher, zum bloßen Spielzeug, ja zum Warenzeichen verblasst. Immer ist er eine, wenn auch bisweilen zu einem Bild oder einer Anspielung verdichtete Geschichte, mit weitgehend konstantem Erzählkern bei durchaus variablen Randzonen, mit Spielraum für Kombinatorik, Phantastik, Umständlichkeit, Kreativität.“ So lässt sich fortfahren (Barié 1980, 8): „Mythen leben und wuchern infolge ihrer steten Weiterverwendung, und die Entwendung ist nur ein Grenzfall der Anwendung“ − bis zur skrupellosen Vermarktung uralter Symbole. Unter diesem Gesichtspunkt bedeutet „Gegenwärtige Vergangenheit“ also auch die Gegenwärtigkeit einer sowohl produktiven und polyvalenten als auch deformierten und depotenzierten antiken Mythologie, wobei die ursprünglichen Erzählungen bis zur Unkenntlichkeit reduziert erscheinen und ihre ursprüngliche Botschaft nicht mehr erkennen lassen. Das Erkenntnisinteresse einer Aufklärung der Gegenwart durch Vergegenwärtigung des Vergangenen ist auf diese mythologischen Reste, auf diese Schwundstufen der Mythenrezeption gerichtet. Dass diese – vielfach unerkannt – vorhanden sind, legt die Annahme eines kulturanthropologisch beschreibbaren mythischen 54

Grundbedürfnisses nahe, das die totale Profanisierung und Desakralisierung des modernen Weltbildes nicht hinnehmen will.55 Wenn es zutrifft, dass die moderne Welt durch eine zweitausendjährige Mythenrezeption, aber auch durch das Nachwirken der Mythen in den gegenwärtigen Lebensäußerungen mit dem mythischpräfigurativen Zeitalter verbunden ist (so Barié 1980, 19), dann ist die „Gegenwärtige Vergangenheit“ um der Gegenwart willen auch unter diesem Aspekt zu betrachten. Man hat versucht Mythos und Logos voneinander abzugrenzen oder in der griechischen Kulturgeschichte eine Entwicklung vom Mythos zum Logos zu erkennen und diese als „Selbstentfaltung des griechischen Denkens“ zu verstehen.56 Im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. sei das mythologische Denken der Griechen Schritt für Schritt durch das rationale Denken ersetzt worden. Ein Gebiet nach dem anderen sei für eine natürliche Erklärung und Erforschung erobert worden. Man glaubte sogar eine „allmähliche Zersetzung der griechischen Religion“ (Nestle) beobachten zu können. Heute – so wird bisweilen behauptet – stehen wir wiederum mitten in einer gigantischen Umwertung unserer Gefühls- und Denkwelt.57 Die Entwicklung des Menschen zum Vernunftwesen werde zurückgenommen. Der aktuelle Stand der Künste spiegele quer durch alle Gattungen die Umwendung zum Mythos. Die Frage ist jedoch, ob es jemals eine nachweisbare Entwicklung vom Mythos zum Logos gegeben hat und, wenn nicht, ob man dann überhaupt von Umwendung zum Mythos sprechen kann. Für die antike griechische Kultur lässt sich festhalten, dass das Mythos nicht nur in literarischen Zeugnissen begegnet, sondern auch in nicht-literarischen Dokumenten wie zum Beispiel in der Vasenmalerei, der Bildhauerkunst oder der Architektur. Der Mythos scheint dauerhaft repräsentativ für griechische Weltanschauung und Weltdeutung zu sein, weil er kein elitäres Produkt ist wie etwa Geschichtsschreibung oder Staatstheorie, Philosophie und Naturwissenschaft. Er ist vielmehr in unterschiedlichen Erschei55

nungsformen Gemeingut des antiken Menschen unabhängig vom Entwicklungsstand seines Intellekts oder von seiner sozialen Stellung. Der Mythos ist öffentlich, allenthalben zugänglich und sichtbar, im Kultischen gegenwärtig und handgreiflich, dem Kind nicht weniger vertraut als dem Erwachsenen. Für alle ist er ein gewaltiges Reservoir der Lebensorientierung, der Daseinsdeutung, des Trostes und der Besinnung. Es gibt wohl kein Volk, in dessen seelischem Haushalt der Mythos so beherrschend war wie bei den Griechen.58 Sogar der zeitweilige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis „besitzt eine dunkle Leidenschaft für die griechische Mythologie“.59 Für ihn sei die Antike nie zu Ende gegangen: „Die alten Götter sind noch lebendig, unter dem Lack der Moderne toben die alten Schicksalsmächte und sind so gefährlich wie eh und je. ... Das heißt, dass Varoufakis den Kapitalismus als eine mythische Macht empfindet, als einen dämonischen Zwitter. Auf der einen Seite bringt er den Menschen das Feuer und schenkt Reichtum und Fortschritt. Auf der anderen Seite öffnet er die Büchse der Pandora und führt zu ‚unerträglicher Armut‘ und ‚schlimmster Sklaverei‘ (→ 2.10: Die Büchse der Pandora). Doch auch hier, so kann man Varoufakis verstehen, hilft der Mythos weiter. Mit List und Tücke, mit Gabe und Gegengabe, kurz: mithilfe von Umverteilung und Selbstbeschränkung lässt sich die Zerstörungskraft des Kapitalismus bändigen. Wer seinem Sirenengesang nicht erliegen wolle, der müsse sich wie Odysseus an den Mast binden.“ Nach dem Vietnamkrieg – so Varoufakis – begann eine neue Phase des Weltkapitalismus: Das „Zeitalter des Minotaurus“.60 Unabhängig von der Frage, ob Varoufakis mir seiner Analyse Recht hat, vermittelt der Titel des Buches eine Botschaft: Minotaurus ist der Sohn eines Stieres und der Pasiphaë, der Gattin des Minos, des Königs von Kreta. Minotaurus ist ein Ungeheuer, halb Mensch, halb Stier. Minos sperrt Minotaurus in ein Labyrinth, das Dädalus hatte bauen müssen.61 Dem Ungeheuer werden Menschen zum Fraß vorgeworfen. In Attika kommt ein Sohn des Minos ums Leben. Der König unternimmt da56

raufhin einen Rachefeldzug gegen Athen. Nach ihrer Niederlage müssen die Athener alle neun Jahre sieben Jungen und sieben Mädchen nach Kreta schicken, die dem Minotaurus zur Nahrung diesen sollen.62 Erst Theseus, der spätere König von Athen, kann den Minotaurus mit Hilfe von Ariadne töten (→ 2.4: Wozu braucht man einen „Ariadnefaden“?) und Athen von dem grausamen Tribut befreien.63 Varoufakis‘ Antikenmetaphorik – so Assheuer – sei manchmal ziemlich anstrengend, sie habe etwas vom einem großen Abwehrzauber, als könne man nur so die Weltgeschichte begreifen. Für das „Zeitalter des Minotaurus“ sei es bezeichnend, dass Amerika nicht mehr den großzügigen Hegemon spiele, sondern in seinem „Labyrinth“ hocke und Opfergaben fordere, um sein Haushaltsdefizit auszugleichen. ... Der kapitalistische Ikarus sei mit seinen toxischen Papieren hoch aufgestiegen und tief abgestürzt (→ 5.3: Ikarus). Die Finanzkrise von 2008 habe Billionenwerte vernichtet. Zu den Folgen gehöre auch das griechische Schlamassel. Assheuer fragt, warum Varoufakis in dieser Situation Finanzminister wurde. Er hätte wissen müssen, dass „Philosophenkönige“ (→ 7.4: Platons Philosophenkönige – Utopie einer politischen Leistungselite) zu scheitern pflegen. Es mag sein, dass Varoufakis den antiken Mythos beschwor, um ökonomische Vorgänge zu veranschaulichen. Das gelang ihm dadurch, dass er diese in eine Erzählung einbettete, die weniger der Aufklärung dienen als emotionale Reaktionen hervorrufen sollte. Es spricht einiges dafür, dass die Einbettung eines Ereignisses in eine mythische Erzählung Unerklärbares durch Vereinfachung und Veranschaulichung erklärbar macht. Allerdings muss der Mythos fortwährend neu begründet und abgesichert werden, damit die mythische Weltbewältigung akzeptiert wird. Vielleicht ist es der Zweck jeder Propaganda, mythische Erzählungen als allgemein anerkannte Welterklärungsmodelle zu verbreiten. Die im Folgenden geschilderten Szenen aus der Bilderwelt der Mythologie sind kurze Stücke, die den Mythos bei weitem nicht in allen 57

seinen Facetten darstellen, sondern nur einzelne Schlaglichter auf die Figuren werfen. Eine Ausnahme stellt Kassandra dar, auf die etwas ausführlicher eingegangen wird, weil sie mit ihrem metaphorischen Potential und ihrer Lebenskraft bis tief in unsere Gegenwart hineinragt.

2.1 Herakles und seine Taten Das delphische Orakel beauftragt Herakles, den Sohn des Zeus und der Alkmene, zwölf Jahre lang Eurystheus, dem König von Mykene, zu dienen und in seinem Auftrag zwölf große Taten zu vollbringen. Als Belohnung soll er nach der Weissagung der Pythia die Unsterblichkeit erlangen. Eine der zwölf Taten war die Reinigung der Ställe des Augias von dem Mist, den seine zahllosen Rinderherden hinterlassen hatten.64 Herakles versprach Augias, dem König von Elis, die Ställe an einem einzigen Tag zu reinigen, wenn er dafür den zehnten Teil der Herden als Belohnung bekomme. Er verschwieg aber, dass er diese Arbeit im Auftrag des Eurystheus zu leisten hatte. Um diesen Auftrag erfüllen zu können, leitete Herakles zwei Flüsse durch die Ställe, die den Unrat fortschwemmten. Aber als Augias erfuhr, dass Herakles diese Arbeit im Auftrag des Eurystheus ausgeführt hatte, verweigerte er ihm die versprochene Belohnung. Der „Augiasstall“ ist heute ein Bild für eine durch Nachlässigkeit entstandene Verschmutzung, Verwahrlosung und Unordnung, die nur mit der Kraft eines Herakles beseitigt werden kann.65 Aber wer war eigentlich Herakles, den die Römer auch Hercules nannten? Wilamowitz66 stellt im Rahmen seiner Abhandlung über den Herakles der Sage die Frage nach der „Grundbedeutung der Gestalt“. Am Anfang sollte Herakles das sittliche Ideal der altdorischen Kultur verkörpern und verkünden. Die Herakles-Sage sei für den dorischen Mann ein Evangelium gewesen, das etwa so zu ihm gesprochen habe:67 „Du 58

bist gut geboren und kannst das Gute, so du nur willst. Auf deiner eigenen Kraft stehst du, kein Gott und kein Mensch nimmt dir ab, was du zu tun hast. Aber deine Kraft genügt zum Siege, wenn du sie gebrauchst. Du willst leben: so wirke. Leben ist Arbeit, unausgesetzte Arbeit, nicht Arbeit für dich, wie der Egoismus sie tut, noch Arbeit für andere, wie der negative Egoismus, die asketische Selbstaufopferung, sie tut, sondern schlechtweg zu leisten jeden Tag, was immer man kann, weil man es kann und weil es zu leisten ist. Du sollst eben tun, wozu du da bist. Und du bist aus göttlichem Samen entsprossen und sollst mitarbeiten, das Reich deines Gottes aufzurichten und zu verteidigen. Wo immer ein böser Feind dieses Reiches sich zeigt, stracks geh auf ihn zu und schlag ihn nieder ohne Zagen; mit welchen Schreckbildern er dich grauen machen, mit welchem Zauber er dich verführen will, packe kräftig zu und halte fest: wenn du dich nicht fürchtest, wird der Sieg dein sein. Eitel Mühe und Arbeit wird dein Leben sein: aber der köstlichste Lohn ist dir gewiss. Du musst nur nicht die breite Heerstraße wandeln, wie die feige Masse, die von der Erde stammt, an der Erde klebt: den schmalen Pfad musst du gehen, so wahr du göttlichen Samens bist, und dann vorwärts, aufwärts. Droben winkt dir die Himmelspforte, und wenn du anpochest, dann bereiten dir die seligen Himmelsherren einen Platz auf ihren Bänken und bieten dir zum Willkommen die Schale, in der der Himmelstrank des ewigen Lebens schäumt. Für die Areté, Manneskraft und Ehre, bist du geboren: sie sollst du erwerben. Feil ist sie nur um das Leben: aber wer diesen Preis einsetzt, hat sich das ewige Leben gewonnen.“ Vor dem Hintergrund dieser Deutung der Herakles-Gestalt ist auch zu verstehen, dass Wilamowitz dem Sophisten Prodikos für seinen „Herakles am Scheideweg“ ein besonderes Lob ausspricht. Diejenigen, die Herakles als Typus für ihre moralischen Sätze gewählt hätten, bewiesen eine besondere Empfindung für den ursprünglichen Gehalt der Sage. „Wenn Prodikos von Keos den Herakles am Scheidewege zwischen Areté und Hedoné selbst erfunden hat, das heißt selbst das 59

alte Motiv … von Paris auf Herakles übertragen, so hat er sich als einen würdigen Sohn der Insel des Simonides erwiesen: er oder genauer der Verkünder seiner Lehre, Xenophon, hat es jedenfalls bewirkt, dass dieses eine Stück den hellenischen wie unseren Knaben den echten Sinn des Herakles, wenn auch etwas farblos und derb moralisierend, vor Augen führte.“68 Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich Prodikos tatsächlich als Vermittler zwischen dem alten Herakles-Glauben und der sokratischen Philosophie. Denn es ist doch der Sokratiker Xenophon, der Sokrates mit dem prodikeischen Herakles argumentieren lässt. Xenophons Sokrates gebraucht diese Erzählung mit voller Zustimmung als façon de parler und fordert zur Identifikation mit Herakles auf. Damit lässt sich Wilamowitz’ Feststellung nur bestätigen, dass der altdorische Herakles-Glaube eine bedeutende Quelle der sokratischen Philosophie war: Denn auch diese bekenne in stolzer Zuversicht, dass der Mensch gut sei, dass er könne, was er wolle, und dass er im Dienste des Allgemeinen sein Leben lang wirken solle, ein Leben, das in seinen Mühen und seiner Arbeit zugleich seinen Lohn habe.

2.2 Das trojanische Pferd Ein Beispiel für die Verwendung des trojanischen Pferds69 findet man in einem anspruchsvollen Zusammenhang:70 „Die radikalen Aufklärer wollten die Denkart ihrer Zeit verändern, und dazu mussten sie mit ihren Ideen eine Öffentlichkeit erreichen und beeinflussen. Ihr wichtigstes Werkzeug dabei war Diderots große Enzyklopädie, ein riesiges, achtundzwanzig Bände umfassendes Trojanisches Pferd aus Druckerschwärze und Papier, das seine heimliche Ladung an subversiven Ideen und Denkanstößen in die Häuser seiner Leser brachte.“ Die zentrale Aussage dieses an sich recht durchsichtigen Textes bleibt verschleiert, wenn der Leser keine Vorstellung davon hat, was 60

denn das Trojanische Pferd ist. Hier wird also die Kenntnis einer Szene aus der antiken Mythologie vorausgesetzt. Hinzu kommt, dass die Assoziationen, die das Trojanische Pferd auslöst, ein wichtiger Bestandteil der Aussage über die Arbeitsweise der ,radikalen Aufklärer‘ ist, zu denen Diderot (05.10.1713– 31.07.1784) gehört.71 Die griechischen Helden, die mit Hilfe des Trojanischen Pferdes in die Stadt Troja eindrangen, um sie zu zerstören, haben sicherlich nicht daran gedacht, dass irgendwann einmal irgendwelche „Trojaner“ – gemeint sind wohl „trojanische Pferde“ – unsere Computer verunsichern könnten. Doch der Trojanische Krieg hat unser historisches Bewusstsein stärker beeinflusst als wir ahnen, ob er nun stattfand oder nicht. Repräsentative Partien aus der Ilias und der nachhomerischen Überlieferung könnten hier Licht ins Dunkel bringen. Am 19. 05. 2011 traf eine Nachricht aus der „Zeitmaschine“ (ZEIT) ein: Ein Ausflug in die Vergangenheit – eine Woche mit Michael Allmaier: „Wie schön muss es sein bei der berittenen Truppe, wenn sie hoch zu Ross in die attischen Siedlungen einfällt: plündern, abfackeln, das volle Programm. … Wenn du heutzutage etwas werden willst, brauchst Du die Sänger auf deiner Seite. Du musst in der Fremde Leuten die Nase abschneiden. Sogar Ställe ausmisten72 funktioniert. Aber zehn Jahre Belagerung erdulden – vergiss es, kein Mensch will das hören. … Die Kraft wächst mit der Beinzahl. Auf der anderen Seite gibt es natürlich die Schlangen. Gar keine Beine, aber eine Mordskraft. Sah man vorhin bei diesem Wirrkopf, der da unten mit seinem Speer randaliert hat.73 Zwei Schlangen haben ihn fertiggemacht und seine Söhne gleich mit. … Geschieht ihm recht, dem Schwätzer. ‚Ich aber weissage euch…‘, so ein Geschwafel. Die Schlangen hätte er weissagen sollen, dann wäre er noch da. Mit der Vorsehung ist es immer so eine Sache. Auch mit dem Pferd jetzt.74 Man steckt halt nicht drin. Schon komisch, dass es vor Tor eins steht wie bestellt und nicht abgeholt. Vielleicht wollen die Götter mir ja bedeuten, dass auch ich ein stolzer Reiter im trojanischen Heer werden 61

kann. Ich übersende es dem König als Geschenk. … Prächtiges Pferd, das muss ich schon sagen, auch wenn es nur eine Figur ist. Das ideale Pferd gewissermaßen, von dem die echten, lebendigen Pferde nur unvollkommene Abbilder sind.75 Ach, was rede ich da. Ich bin übermüdet. Bringt das Ding rein. Meine Ablösung kommt.“ Dieses fingierte und höchst voraussetzungsreiche Selbstgespräch fand in den letzten Tagen des Trojanischen Krieges statt. Das Trojanische Pferd wird sogar in den Rang einer „platonischen Idee“ des Pferdes erhoben. Den „Witz“ dieses Selbstgesprächs versteht man nur, wenn man Homers Ilias gelesen oder wenigstens Wolfgang Petersens Monumentalfilm Troja gesehen hat (2004). Allerdings ist der Film wohl kaum als Literaturverfilmung anzusehen; er kann Homers Ilias nicht ersetzen. Diese kennt das hölzerne Pferd übrigens nicht, aber es ist in Vergils Aeneis anschaulich beschrieben. „Troja ist monumental, blutig und bietet alles, was man von einem Blockbuster erwartet. Aber auch kein bisschen mehr.“76 Im FAZ.NET bemerkt Michael Althen am 25.05.2004 unverhohlen ironisch: Die Vorlage des Hollywoodfilms sei ja schon so alt, dass man sich die üblichen Zimperlichkeiten von Literaturverfilmungen getrost habe schenken können. Andererseits dürfe man erstaunt darüber sein, dass sich ein 200-Millionen-Dollar-Projekt antiker Helden annehme, ohne übrigens die Mitwirkung göttlicher Mächte zu berücksichtigen, die in Homers Ilias die entscheidende Rolle spielten. Die „säkularisierte“ Ilias im Drehbuch des Films stellt in der Tat die Leistungen und Leiden der – männlichen – Helden in den Vordergrund, unter denen der von Brad Pitt verkörperte Achill besonders herausragt. Die Gegenfigur ist der unkriegerische Paris, der auf die schöne Helena fixiert ist und mit allen Mitteln zu vermeiden versucht, sein Leben zu riskieren (→ 2.3: Das Parisurteil. → 2.11: Die schöne Helena). Verglichen mit seinem großen Bruder Hektor ist Paris der Typ des modernen Antihelden, für den der Krieg kein Lebensinhalt ist. Der Film erweckt jedoch den Eindruck, dass die Heldengestalten 62

sich insgeheim wünschen, ein wenig wie Paris zu sein. Das aber lässt ihr Heldenkomplex nicht zu. Sie wirken daher wie Getriebene, und der Achill des Brad Pitt veranschaulicht dieses Dilemma ebenso überzeugend wie der männlich-mannhafte Hektor des Eric Bana.

2.3 Das Parisurteil Wie versteckt mitunter die Anspielung in der Anspielung steckt, zeigt ein kurzer Text von Hermann Kant (Z., 03. 09. 2013). Er befindet sich in einem größeren Beitrag zur Bundestagswahl des Jahres 2013: „Die Qual der Wahl. Welche Partei wählen Sie? Eine Frage, und 48 namhafte Künstler und Intellektuelle antworten“. Darunter auch Hermann Kant: „Fehlte ich am Wahltag, fehlte mir etwas. Es ist ein wenig wie Weihnachten: Einmal im Jahr besinge ich das hochheilige Paar; den Rest sind wir Fremde. Einmal alle vier Jahre könnte ich den Ausschlag geben. So ähnlich geht wohl Lotterie. Wahl sollte ich die Sache in Hinblick auf mich nicht nennen. Denn ich stehe ja nicht mit dem Apfel in der Hand vor drei Schönen. Von einem hochheiligen Paar hier barmherzig zu schweigen.“ Das Parisurteil hat eine lange Vorgeschichte. Als Hekabe, die Frau des Königs Priamos von Troja, ihren zweiten Sohn bekommen sollte, träumte sie, sie werde eine lodernde Fackel gebären, die sich über die ganze Stadt verbreiten und diese verbrennen werde.77 Priamos ließ sich den Traum deuten. Weil das Kind den Untergang Trojas herbeiführen werde, ließ er es aussetzen. Ein Sklave sollte den Jungen zum Ida-Gebirge bringen. Er behielt ihn aber bei sich auf seinem Hof und zog ihn wie seinen eigenen Sohn auf. Dieser bekam zunächst den Namen Paris. Als er zu einem starken jungen Mann herangewachsen war, erhielt er den Namen Alexandros („der die Männer abwehrt“), weil er die Räuber nicht an die Herden herankommen ließ. Als sein leiblicher Vater als Siegespreis für einen Wettkampf einen Stier aus 63

der Herde des Hirten holen ließ, wollte auch Paris um diesen Preis kämpfen. Die adligen Konkurrenten duldeten dies nicht, und Paris musste am Altar des Zeus Zuflucht suchen. Da erkannte ihn seine Schwester Kassandra (→ 2.6: Kassandra). Priamos nahm seinen Sohn, den er einst ausgesetzt hatte, wieder in seine Familie auf. Dass dieser einmal ein großes Unglück über Troja bringen würde, hatte man offensichtlich vergessen. Eris, die Göttin der Zwietracht,78 war als einzige nicht zur Hochzeit von Peleus und Thetis eingeladen worden. Sie erschien aber trotzdem und warf einen goldenen Apfel mit der Aufschrift „der Schönsten“ unter die Gäste. Die drei Göttinnen Hera, Aphrodite und Athene erhoben Anspruch auf den Apfel. Daraufhin wurde Paris zum Schiedsrichter bestimmt. Die drei Frauen versuchten sofort, ihn zu bestechen: Hera versprach, ihn zum Herrn über die Welt zu machen, wenn er ihr den Apfel gebe. Athene gelobte, ihn als Sieger aus jedem Krieg hervorgehen zu lassen. Aphrodite wollte ihm die Liebe Helenas, der schönsten Frau der Welt, verschaffen (→ 9.1: Was ist Schönheit?). Ohne zu zögern überreichte er Aphrodite den Apfel. Helena war allerdings bereits mit Menelaos, dem König von Sparta, verheiratet. Doch Paris fuhr unverzüglich nach Sparta, obwohl seine Schwester Kassandra prophezeite, er werde ein großes Unheil über Troja bringen. Mit Aphrodites Hilfe verliebt sich Helena in Paris und lässt sich widerstandslos nach Troja entführen.79 Als Menelaos von der Entführung seiner Frau Helena erfuhr, forderte er seinen Bruder Agamemnon dazu auf, eine Streitmacht zu sammeln und gegen Troja zu Felde zu ziehen.80 Der zehnjährige Trojanische Krieg hatte begonnen.

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2.4 Wozu braucht man einen Ariadnefaden? „Als Theseus begann, im Alter unter starker Vergesslichkeit zu leiden, besann er sich seines guten alten Wollknäuels aus dem Labyrinth von Kreta, um jederzeit den Weg von seinem Schlafzimmer zur Toilette zu finden.“81 Aber „wegen seiner schon fast unglaublichen Unbeholfenheit hätte Theseus sicher besser daran getan, den Faden der Ariadne nicht mit ins Labyrinth zu nehmen.“82 Man würde die beiden Cartoons samt ihrer Bildunterschriften nicht verstehen, wenn die zugrundeliegende mythische Erzählung unbekannt bliebe: Die Athener waren von Minos, dem König von Kreta, tributpflichtig gemacht worden: Sie mussten alle neun Jahre sieben Mädchen und sieben Jungen nach Kreta bringen, die dem Minotauros zum Fraß vorgeworfen wurden. Das Ungeheuer mit einem Stierkopf auf einem Menschenkörper hauste in einem Labyrinth, aus dem niemand wieder hinauskommen konnte. Theseus meldete sich freiwillig zur Teilnahme an der Fahrt nach Kreta. Ariadne, die Tochter des Königs Minos und Halbschwester des Minotauros, sah Theseus und verliebte sich in ihn.83 Da sie wusste, dass Theseus niemals ohne fremde Hilfe aus dem Labyrinth entkommen würde, gab sie ihm auf den Rat des Dädalus hin ein Fadenknäuel, mit dessen Hilfe er den Irrgarten wieder verlassen konnte.84 Er band ihn am Eingang des Labyrinths fest, wickelte ihn vorsichtig ab, fand und tötete den Minotauros und folgte dem Faden entlang zurück zum Eingang des Labyrinths. Ariadne begleitete Theseus, als er Kreta verließ. Aber unterwegs wurde das Paar getrennt. Nach Homer (Odyssee 11, 321–325) wurde Ariadne von Artemis umgebracht. Nach Apollodor (Epitome 1, 9) erreichte sie mit Theseus die Insel Naxos. Von dort wurde sie von Dionysos entführt. Hygin (Fabulae 43) erzählt, Theseus habe Ariadne schnöde verlassen, weil er befürchtete, er könne sich mit ihr in Athen blamieren. Später heiratete er übrigens Phaidra,85 eine Schwester der Ariadne. 65

2.5 Lebten die Amazonen am Amazonas? In Kleinasien war Artemis Gegenstand eines ganz andersartigen Kults als desjenigen, der ihr in Griechenland gewidmet war. In Ephesos war ihr ein Heiligtum geweiht und ein Tempel errichtet worden, der als eines der sieben Weltwunder galt. Man schrieb seine Gründung den Amazonen zu, einem Volk von Kriegerinnen, die, wie es hieß, an den Ufern des Flusses Thermodon lebten. Die Herkunft des Namens „Amazonen“ ist nicht geklärt: Vielleicht bedeutet er „die Mannlosen“. Die Ableitung des Namens von mazós (Brustwarze) wurde in der Antike für möglich gehalten. Die Amazonen wären danach die „Brustlosen“: Die rechte Brust der Mädchen wurde entfernt oder verstümmelt, damit sie später nicht beim Gebrauch von Pfeil und Bogen behindert wurden. Möglichweise geht der Name auch auf die Sitte zurück, eine Brust entblößt zu tragen. Sie duldeten keine Männer in ihrer Gemeinschaft außer für niedere Arbeiten; nach einigen Überlieferungen verstümmelten sie ihre männlichen Kinder oder töteten sie sogar und erhielten ihre Art durch flüchtige Verbindungen mit Fremden. Ihre Hauptleidenschaft war der Krieg. Man erzählt, dass sie gegen mehrere griechische Helden gekämpft hätten: gegen Bellerophon, Herakles, Theseus und sogar Achill. Sie waren auch unter der Führung ihrer Königin Penthesilea nach Troja gezogen. Penthesilea aber wurde von Achill im Kampf besiegt. Als sie ihm sterbend in die Augen sah, weckte sie in ihm seine tiefe, aber hoffnungslose Liebe. Eine ausführliche Schilderung der Amazonen ist Herodot (4, 110– 117) zu verdanken, der auf diese Weise die Herkunft der Sauromaten (Sarmaten) erklärt, die aus der friedlichen Verbindung der Skythen und der Amazonen hervorgegangen sein sollen. In der Theseus-Sage spielen die Amazonen eine herausragende Rolle. Theseus begleitet Herakles auf einer Expedition gegen die Amazonen. Er entführt die Amazonenkönigin Antiope86 (alias Hippolyte), nimmt sie mit nach Athen und bekommt von ihr seinen Sohn Hippo66

lytos. Daraufhin suchen die Amazonen die Revanche und dringen bis nach Athen vor. Hier werden sie mit Hilfe der Antiope von Theseus, der mit ihr zusammenlebte wie Paris mit der geraubten Helena, vernichtend geschlagen (Plutarch, Theseus 26–28). Die moderne Version einer Amazone betritt 1941 mit Wonder Woman die Bühne der Popkultur. Weil es in der Welt der US-Comics praktisch keine weiblichen Figuren gab, erfand der Psychologe und Comic-Fan William Moulton Marston eine Frau, die so stark wie Superman sein, aber weiblichen Charme haben sollte. Marston schuf eine schwarzhaarige, attraktive Amazone namens Diana (Artemis), die übermenschlich stark war und gut kämpfen konnte. Diese so erfolgreiche Comic-Figur wurde im Laufe der sechziger Jahre stärker in der griechischen Mythologie verankert. Ihre Kräfte und Waffen wurden als Göttergaben gedeutet: Sie war von nun an „so schön wie Aphrodite, so weise wie Athene, stärker als Herkules und schneller als Hermes“. In den neunziger Jahren wurde das antike Element erweitert: Wonder Woman musste mitunter sogar gegen den bösen Kriegsgott Ares und die verschlagene Zauberin Circe (Kirke) antreten. Ein gespanntes Verhältnis hatte Wonder Woman auch zu Herakles. Denn eine seiner zwölf Taten bestand ja darin, den Gürtel der Amazonenkönigin Hippolyte zu holen. Sie kam an Bord seines Schiffes und wollte ihm den Gürtel freiwillig geben. Die Göttin Hera ärgerte sich darüber, dass Herakles ein so leichtes Spiel haben sollte. Sie begab sich zu den Amazonen und behauptete, Herakles wolle ihre Königin entführen. Daraufhin überfielen die Frauen das Schiff. Weil Herakles glaubte, Hippolyte habe ihn hintergangen, tötete er sie. Ein vorläufiger Höhepunkt des Amazonen-Kults ist Angelina Jolie als Lara Croft in dem auf dem gleichnamigen Video-Spiel basierenden Kino-Film Tomb Raider (2001 mit einer Fortsetzung 2003). Der Amazonas wurde „Fluss der Amazonen“ genannt, nachdem eine Gruppe völlig erschöpfter spanischer Eroberer am 24. Juni 1542 von Indianern angegriffen worden war, unter denen sich auch zahlreiche 67

heftig kämpfende Frauen befanden. Der Dominikaner Gaspar de Carvajal schrieb später in sein Tagebuch: „Dann kamen wir in das Reich der Amazonen. Sie kämpften gegen uns an der Spitze ihres Volkes. Sie hatten lange Haare und waren fast nackt. Sie waren mit Pfeil und Bogen bewaffnet, und jede einzelne war so tapfer wie zehn Krieger.“

2.6 Kassandra Würden Sie in der „Pension Klytaimnestra. Zimmer mit Bad“ übernachten? Wer das tut, kann hoffentlich auch dann noch gut schlafen, wenn er erfährt, dass Klytaimnestra einst ihren Mann Agamemnon nach seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg in einem „Zimmer mit Bad“ mit einer Axt erschlug. In seiner Tragödie Agamemnon erzählt Aischylos die ganze Geschichte mit all ihren Konsequenzen. Klytaimnestra erschlägt nicht nur Agamemnon, sondern auch Kassandra, die trojanische Königstochter. Ihre Verhöhnung der toten Kassandra lässt auf den ersten Blick ein Mordmotiv erkennen, das das Opfer selbst schon ausgesprochen hatte: Klytaimnestra werde sie ermorden, einfach weil sie nach Argos gebracht worden sei (Agamemnon 1262–1263). Mit ihrer Schmährede bestätigt Klytaimnestra Kassandras Behauptung. Aber war diese unbestreitbare Kränkung für Klytaimnestra wirklich die treibende Kraft? Ein anderes Motiv scheint für sie von ungleich größerer Bedeutung gewesen zu sein (1412– 1425): Agamemnon hatte die gemeinsame Tochter Iphigenie in Aulis der von ihm beleidigten Göttin Artemis als Menschenopfer dargebracht.87 Aus Rache für ihr getötetes Kind und zu Ehren der göttlichen Mächte Dike, Ate und Erinys schlachtete Klytaimnestra ihren Mann (1432 f.). Kassandra war nur die von Apollon servierte Beilage zum Hauptgericht. Im Agamemnon verdient Kassandras Auftritt zwischen ihrem Eintreffen in Argos, ihrer Ermordung durch Klytaimnestra und dem 68

Triumph der Mörderin nach der Tat (1035–1447) besondere Aufmerksamkeit.88 Denn in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen geht Christa Wolf auf die Voraussetzungen ihrer Erzählung Kassandra ein. Die Verbindungslinie zwischen dem Agamemnon und ihrer Erzählung (1983) zog Christa Wolf selbst, indem sie ihre Kassandra aus ihrer Orestie-Lektüre hervorgehen sah. Dass allerdings auch der Leser der Erzählung die Orestie des Aischylos gelesen haben sollte, ist kaum zu bestreiten. Denn wahrscheinlich versteht man diesen Text anders, wenn man ihn nicht vor dem Hintergrund des aischyleischen Dramas sieht. Der Leser benötigt allerdings einige Informationen, um den notwendigen „Durchblick“ zu haben.89 In ihrer „Ersten Vorlesung: Ein Reisebericht über das zufällige Auftauchen und die allmähliche Verfertigung einer Gestalt“90 schildert die Autorin ihren ersten Kontakt mit Kassandra nach einem verpassten Flug: „Am nächsten Vormittag, in der leeren Wohnung, in die kein Brief sich mehr verirrte, begann ich die Orestie des Aischylos zu lesen. Ich konnte mir noch zusehen, wie ein panisches Entzücken sich in mir ausbreitete, wie es anstieg und seinen Höhepunkt erreichte, als eine Stimme einsetzte: ‚Oh! Oh! Ach! Apollon! Apollon!‘ Kassandra. Ich sah sie gleich. Sie, die Gefangene, nahm mich gefangen, sie, selbst Objekt fremder Zwecke, besetzte mich. ... Der Zauber wirkte sofort. Ich glaubte ihr jedes Wort. ... Dreitausend Jahre – weggeschmolzen. So bewährt sich die Sehergabe, die ihr der Gott verlieh, nur schwand sein Richterspruch, dass ihr niemand glauben werde. Glaubwürdig war sie mir in einem andern Sinn: Mir schien, dass sie als einzige in diesem Stück sich selber kannte. Undistanziert, nach dem Grund der Ergriffenheit nicht fragend, fragte ich auch nicht, was die Absicht des Aischylos mit dieser Figur gewesen sein mochte. ... Kassandra: ‚Apoll! Apollon! Wegführer! Du! Den andern allen gibst du Schutz! Und mich vernichtest du, Apoll, zum zweiten Mal!‘. ... Wie kann diese Sklavin gegen Anstand, Regel und Sitte ausgerechnet dem Apoll mit Klagen nahn? – Flüchtig taucht mir die Frage auf: Ist es vielleicht ein anderer Apoll, 69

den die Troerin von Kleinasien anruft, als der, den die Griechen auf dem Festland verehren? Da schreit sie schon wieder, fügt Unpassendes zu Unpassendem. ... Nun verbieten die patriotischen Greise der unbefugten fremden Frau den Mund: ‚Schweig still! Wir wissen, dass du deine Seherkunst verstehst. Aber wir brauchen keine Prophetie: Hier nicht!‘ Auf wessen Seite steht eigentlich dieser Aischylos? Oder versucht er das Kunststück, einem jeden gerecht zu werden. ...“ Die Fragen, die Christa Wolf in diesem Zusammenhang aufwirft, verlangen eine gründliche Auseinandersetzung mit Aischylos. „Wie ein grobes Netz hängen des Aischylos Zeilen mir vor Augen, durch dessen weite Maschen ich eine Gestalt sich regen sehe, in einer Art, die schwer zu benennen ist. ... Selbstsicherheit, Distanz, Nüchternheit glaube ich, bei innigster Betroffenheit, aus ihrer Stimme herauszuhören. Etwas wie Triumph? Ist sie nun denen überlegen, die sie einst auslachten – ‚Freund und Feind!‘ – und sie Törin, Bettlerin, Lügenzauberweib, wahnwitzig, elend, Hungerleiderin genannt haben (vgl. Ag. 1269 ff.)? Klagt sie die an? Gewiss nicht. Ihr Ton ist nicht rachsüchtig (vgl. 1279–1281). – Ich scheine mehr von ihr zu wissen, als ich beweisen kann. Sie scheint mich schärfer anzusehen, anzugehen, als ich wollen kann. ... Wie, auf welche Weise geschah es ihr, das Zusammenbrechen aller Alternativen? Dass ihr nur dieser eine Weg noch bleibt, den sie sich nicht schleifen lässt, den sie selber geht. ... Und dann ein ‚Irrtum‘ des Aischylos. Nie hätte sie gesagt: Auch drinnen kann ich Agamemnons Los beweinen. – Agamemnon – der letzte in der Reihe der Männer, die ihr Gewalt antaten (der erste war Apoll, der Gott) – ihn beweinen? Da müsste ich sie schlecht kennen.“ Der „Irrtum“ des Aischylos bezieht sich auf Kassandras Worte in den Versen 1313 f.: Warum denkt Kassandra daran, ihr eigenes und Agamemnons Schicksal zu beweinen? Sie hat nicht die Absicht Agamemnon zu beweinen, sondern das Schicksal, in das sie beide untrennbar verstrickt sind – durch die Willkür des Gottes Apollon. Auch hier zeigt sich, dass die Fragen, die sich Christa Wolf bei ihrer 70

Orestie-Lektüre stellt, den Hörer ihrer Vorlesung zu einer Auseinandersetzung mit dem Aischylos-Text zwingen. Es sind gewissermaßen die Leitfragen, die zum tieferen Verständnis nicht nur der Wolfschen Kassandra, sondern vor allem auch des griechischen Textes führen. Etwas später (S. 23) spricht Christa Wolf von einer „Schuld“ der Kassandra; sie zitiert die Verse 1275 f. in der Übersetzung von Johann Gustav Droysen (1884):91 „Nun führt der Seher mich, die Seherin, hierher, dass meine Schuld ich zahle, – her zum Untergang!“ Christa Wolf fragt zu Recht: „Welche Schuld? Was meint der griechische Dichter? Oder was lässt er sich, ohne es eigentlich zu meinen, da durchgehn? Ist nur von jener frühen Schuld die Rede, als sie den, wie man nun sieht, rachsüchtigen Gott betrog? Dem Chor der Greise, die doch nur eines biederen Mitgefühls fähig sind, hat sie es gestanden.“ Darauf zitiert, verkürzt und paraphrasiert die Autorin wieder Droysens Übersetzung (1202–1215). Diese Verse scheinen Kassandras „Schuld“ (1275 f.) zu begründen. Aber in Wirklichkeit ist hier von Schuld keine Rede; hier heißt es nur: „Und nun hat mich der Seher, nachdem er mich als Seherin vernichtet hatte, in dieses todbringende Verhängnis geführt.“ Aber auch wenn es in 1275 f. nicht um Schuld im Sinne eines Schuldeingeständnisses geht, so scheint doch Kassandra in 1202–1215 zuzugeben, dass sie „schuldig“ wurde, weil sie den Gott betrog oder belog: „Ich hatte es versprochen, aber ich habe Loxias belogen, weil ich mein Versprechen nicht gehalten habe“ (1208). Der abgewiesene Gott vernichtet Kassandra zum ersten Mal, indem er ihrer Sehergabe unverzüglich jede Wirkung nimmt: Niemand glaubt ihr mehr. Von Schuld kann jetzt also, unmittelbar vor ihrem Tod, nicht mehr die Rede sein. Kassandras Schuld ist durch den von Apollon verhängten Fluch ihrer Unglaubwürdigkeit längst gesühnt. Alles, was Apollon Kassandra antut, nachdem er sie unglaubwürdig gemacht hatte, zeugt von der Willkür eines ungerechten Gottes. Christa Wolf greift aber den Begriff der Schuld, den sie Droysens Übersetzung verdankt,92 auf und stellt zunächst ganz im Sinne des 71

griechischen Dichters fest, dass Kassandra das gebrochene Versprechen nicht als ihre Schuld habe sehen können. Dann aber gibt sie dem bei Aischylos nicht vorhandenen Begriff eine ganz neue Bedeutung: „Doch eine andere ,Schuld‘ mag ihr zu schaffen machen: dass sie imstande war, sich so weit außerhalb des eigenen Volks zu stellen, dass sie sein unheilvolles Schicksal ,sah‘.“ Schließlich steigt Kassandra von Agamemnons Wagen und geht auf das „Tor des Hades“ zu. „Was sie als letztes sagt, könnte keine griechische Zeitgenossin des Aischylos sagen, die ja nicht einmal im Theater, geschweige denn in irgendeiner öffentlichen Einrichtung, Sitz und Stimme hat; es ist einer Frau unangemessen: O Menschenschicksal, wenn es glücklich ist, könnt man es einem Schatten gleichen; das misslungene –, ein feuchter Schwamm fährt darüber hin und löscht es weg! Und mehr als jenes tut mir solch Verlöschen weh.93 Was will sie denn: unsterblich sein? Als Frau? Woran erinnert sich der Grieche dunkel, wenn er solche Frauen schafft?“ Christa Wolf weiß die Antwort: Aischylos verkünde die Moral des Vaterrechts, ohne sich von der früheren mutterrechtlichen Denkweise deutlich zu distanzieren, daher auch Kassandras und Klytaimnestras Größe. Aischylos, der „männliche Dichter“, relativiere jedoch die Größe der beiden Frauen, indem er sie konfrontiere als sich gegenseitig Hassende, Eifersüchtige, kleinlich Denkende. ... Kassandra – so die Autorin – habe Aischylos aber nicht wirklich interessiert – jedenfalls nicht so wie die Mörder Klytaimnestra und Aigisthos ihn interessiert haben. Das trifft so sicherlich nicht zu. Denn Kassandra ist keine Episodenfigur. „Dazu hat der Dichter sie mit viel zu großer Liebe behandelt“, wie Wilamowitz im Vorwort zu seiner Orestie-Übersetzung (1900) sagt. Für Aischylos ist sie das unschuldige Opfer des durch und durch bösen und ungerechten Gottes Apollon, den sie natürlich auch nicht geliebt hat, wie Christa Wolf meint. Der bisher geknüpfte Faden soll etwas später wieder aufgenommen werden. Soviel aber dürfte deutlich geworden sein: Christa Wolfs 72

Reflexionen über die Kassandra im Agamemnon des Aischylos beschreiben auf beeindruckende Weise, wie die moderne Autorin einen Zugang zu Aischylos fand, indem sie, wie sie selbst sagt, einem „Stichwort“ nachging, das „Kassandra“ hieß: „Die Souveränität über den Stoff habe ich mir selbst erst erarbeiten müssen“ (12). Aischylos verknüpft in Kassandras Person Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Kassandra erläutert die Ursache des in Gegenwart und Zukunft Geschehenden: den über dem Atridenhaus lastenden Fluch.94 Sie sieht die nähere und fernere Zukunft: Agamemnons und ihre eigene Ermordung. Aischylos lässt Kassandra (dem Chor) erklären, wie sie ihre Seherkunst erwarb: Apollon übertrug ihr diese Fähigkeit. 95 In extremer Kürze und rascher Stichomythie drängt Aischylos den Zuhörer zum Kern des Kassandra-Mythos (1202–1215). Die Verhöhnung des toten Feindes dürfte auch im Athen des fünften Jahrhunderts v. Chr. grundsätzlich nicht anstößig gewesen sein. Wie aber Klytaimnestra ihren Hass auf Agamemnon und Kassandra herausschreit, das haben wohl auch die Athener als außergewöhnlich empfunden, zumal die vor ihr liegenden Körper der Erschlagenen keine im Kampf getöteten Gegner, sondern Opfer einer heimtückischen Mordtat waren (1431–1447). Offensichtlich übersieht oder übergeht Christa Wolf diese negative Zeichnung Klytaimnestras durch Aischylos. Bei ihr wird sie fast zu Kassandras „Schwester“: „Durch ein Schulterzucken gab sie mir zu verstehen, dass, was geschah, nicht mir persönlich galt. Nichts hätte zu andern Zeiten uns hindern können, uns Schwester zu nennen, das las ich der Gegnerin vom Gesicht ab, in dem Agamemnon, der Trottel, Liebe und Ergebenheit und Wiedersehensfreude sehen sollte und auch sah ..., und in den Mundwinkeln der Klytaimnestra erschien das gleiche Lächeln wie in den meinen. Nicht grausam. Schmerzlich. Dass das Schicksal uns nicht auf die gleiche Seite gestellt hat.“ (S. 273). Bei Aischylos lässt der Gott Apollon es zu, dass Kassandra, das Opfer, doppelt verhöhnt wird, wie schon im Leben (1256–1276), so jetzt 73

auch im Tod (1440–1447). Um Apollons Niedertracht noch stärker als bisher hervortreten zu lassen, gibt Aischylos Klytaimnestra die Möglichkeit, das Mordopfer zu schmähen. Darin zeigt sich wieder die dramatische Kunst des griechischen Dichters: Er vermittelt seine Absicht indirekt, indem er Auswirkungen und Folgen der göttlichen Willkür zeigt; er hat es nicht nötig, blasphemisch zu werden. Was Klytaimnestra (1440–1447) sagt, fällt auf Apollon zurück: Indem Klytaimnestra ihr Opfer als „Zukost“ oder „kulinarische Beilage“ bezeichnet, spielt sie mehr oder weniger deutlich auf den Atridenfluch an: Sie „frisst“ Kassandra, wie Thyestes einst seine Kinder fraß (vgl. Agamemnon 1577–1611). Wenn Klytaimnestra sagt, Kassandra habe wie ein sterbender Schwan gesungen, so ist dies kein lyrisches Intermezzo, sondern wiederum eine Anspielung auf Apollons tödliche Wirkung, war doch der dem Gott geweihte Schwan mit Sehergabe ausgestattet, der allerdings laut Sokrates in Platons Phaidon (85a–b) nicht aus Traurigkeit singt, sondern weil er das Gute in der Unterwelt voraussieht. Ein Vergleich zwischen Sokrates und Kassandra könnte interessant sein – nicht nur hinsichtlich ihrer Beziehung zu dem „gespaltenen“, „zwiespältigen“ Apollon, sondern auch in Bezug auf die Selbsterkenntnis, das Ziel des „Erkenne dich selbst“ (→ 1.3). Agamemnons Ehebruch mit Kassandra war nicht das entscheidende Motiv der Mordtat. Aber zwischen der Opferung der Iphigenie durch Agamemnon und der Schlachtung der Kassandra durch Klytaimnestra besteht eine deutliche Verbindung: Wie Iphigenie schuldlos war an der Situation der griechischen Flotte in Aulis, so trug Kassandra keine Mitschuld an Agamemnons Tat in Aulis. Aber was das Wichtigste ist – beide Frauen sind Opfer eines grausamen Götterpaares: Die Tötung Kassandras setzt Apollons Groll ein Ende, durch den Tod der Iphigenie wird Entsprechendes bei seiner Schwester Artemis erreicht. Das grausame Doppelopfer der beiden Frauen hat die Götter Apollon und Artemis diskreditiert. Aber Aischylos – so scheint es – hält am Glau74

ben an die Güte göttlicher Macht fest.96 Er sieht diese jedoch in einem Gott verkörpert, den er „Zeus“ nennt (Agamemnon 160–183: Gebet an Zeus) und der dem Ausspruch „durch Leiden lernen“ (177) volle Geltung verleiht und selbst diejenigen, die sich sträuben, zur Vernunft bringt. Diese göttliche Macht bekommt etwas später den Namen „Gerechtigkeit“, die den Leidenden auferlegt zu lernen (249 f.). Der Vorstellung des Aischylos von einem gütigen und gerechten Gott entspricht möglicherweise die Utopie einer besseren Gesellschaft in einer nicht mehr patriarchalisch geprägten Welt, wie sie Christa Wolfs Kassandra am Skamander und am Fuße des Berges Ida mit Anchises und Aeneas vor Augen hat. Selbstverständlich macht ein Vergleich97 Übereinstimmungen und Unterschiede sichtbar. Er kann aber auch dazu beitragen, dass die Botschaften der verglichenen Texte durch die Kontrastierung deutlicher wahrgenommen werden. Im Zusammenhang mit der schon erörterten Frage nach der Funktion der Kassandra-Szene bei Aischylos vermittelt Christa Wolfs Blick auf die Gestalt des Gottes Apollon eine wohl auch für das Verständnis der Aischylos-Tragödie bedeutsame Einsicht: Christa Wolf reflektiert mehrfach Kassandras Beziehung zu Apollon und verweist in diesem Zusammenhang auf die dunklen Seiten dieses Gottes. Sie benutzt die „Griechische Mythologie“ von Robert Ranke-Graves und die dort verzeichneten Quellen: „Dass es Apollon war, der zu mir kam, das sah ich gleich. ... Der Sonnengott mit der Leier, blau wenn auch grausam, die Augen. ... Apollon der Gott der Seher. Der wusste, was ich heiß begehrte: die Sehergabe, die er mir durch eine eigentlich beiläufige, ich wagte nicht zu fühlen: enttäuschende Geste verlieh, nur um sich mir dann als Mann zu nähern, wobei er sich – ich glaubte, allein durch meinen grauenvollen Schrecken – in einen Wolf verwandelte, der von Mäusen umgeben war und der mir wütend in den Mund spuckte, als er mich nicht überwältigen konnte ... Apollon Lykeios. Die Stimme Parthenas der Amme. Der Gott der Wölfe und der Mäuse, von dem 75

sie dunkle Geschichten wusste, die sie mir zuraunte und die ich niemandem weitersagen durfte. Dass dieser zwiespältige Gott der gleiche sei wie unser unanfechtbarer Apoll im Tempel, das hätte ich nie gedacht.“ (S. 241 f.). Apollon, der „Gott der Wölfe und der Mäuse“: Robert RankeGraves (14.2) weist unter anderem darauf hin, dass eine orakelnde Maus eine Komponente der Gottheit des Apollon gewesen sei. Apollon Smintheus (so schon Ilias 1, 39) ist einer seiner frühesten Titel, der soviel bedeutet wie „Mäusetöter“ oder „Rattenfänger“. Mäuse werden ja auch mit Krankheiten in Verbindung gebracht. Aber die weiße Maus in Apollons Tempeln galt als Schutz vor Pest und vor einem plötzlichen Überfall von Mäusen (Ranke-Graves 158. 2). Mäuse spielten auch bei der Gründung von Troja eine Rolle (RankeGraves 158 a): Als die Kreter unter Führung des Skamander in Phrygien ankamen, lagerten sie im Schatten eines hohen Berges, den sie zu Ehren der kretischen Heimat des Zeus „Ida“ nannten. Apollon hatte ihnen geraten, sich dort niederzulassen, wo sie von erdgeborenen Feinden im Schutz der Nacht angegriffen würden. In der Nacht überrannten zahllose Mäuse die Zelte der Kreter und fielen über deren Kriegsausrüstung her. Skamander verstand diese Botschaft und weihte dem Apollon Smintheus einen Tempel, um den herum später die Stadt Sminthion entstand. Auch im Titel Lykeios spiegelt sich die von Christa Wolf hervorgehobene „Zwiespältigkeit“. Denn Lykeios bedeutet ja nicht nur „wölfisch“, sondern auch „lichtbringend“98 Die Verbindung von „wölfisch“ und „lichtbringend“ ist vielleicht auch darauf zurückzuführen, dass das Licht des Vollmondes Wölfe zum Heulen bringt (Ranke-Graves 60. 8). Man vergleiche entsprechende WerwolfPhantasien. Aischylos lässt Kassandra den Gott mit „Lichtgott Apollon“ anrufen – und zwar zu Beginn eines längeren Monologs (1256–1294), in dem sie Apollon als Urheber ihres Unglücks anklagt und die äußeren 76

Zeichen ihrer Seherinnen-Würde von sich wirft. Dass der Beiname hier nicht „Lichtgott“ bedeuten kann, sondern „Wolfsgott“, ergibt sich aus dem zwei Verse später verwendeten Wort „Wolf“: „Ach, ach, was für ein Feuer überfällt mich! Oh, oh, Wolfsgott Apollon, weh mir, weh mir. Die zweibeinige Löwin hier, die mit dem Wolf schläft, während der edle Löwe fort ist, wird mich, die Unglückliche, umbringen. ... Sie rühmt sich, wetzend für den Mann das Schwert, dass sie für meine Herbeiführung (= dafür, dass du, Apollon, mich herbeigeführt hast) mit Mord Rache nehmen werde.“ Es dürfte nicht schwer fallen, weitere Belege für die negativen Seiten des Apollon in der mythologischen Tradition zu finden, die Christa Wolfs Deutung des Gottes bestätigt. Auch für die Ambivalenz seines Wirkens gibt es Belege: Wenn er zum Beispiel als Smintheus dafür verantwortlich ist, Mäuseplagen zu schicken und abzuwehren und sowohl zu heilen als auch zu töten. Wilamowitz hatte bereits im Vorwort zu seiner Übersetzung der Orestie darauf hingewiesen, dass Aischylos den Gott in der Kassandra-Szene nicht etwa als einen guten und gerechten Gott, sondern als einen zerstörerischen Dämon darstellt. Darin liegt auch die entscheidende Funktion dieser Szene: Apollon bestraft Kassandra für ihre Weigerung, ihm gefügig zu sein, nicht nur mit der Qual der Sehergabe, das heißt mit dem „Leiden durch Wissen“. Er liefert sie auch an ihre Mörderin aus, nachdem er sie Agamemnon zugeführt hatte. „Ist das mit der Reinheit Apollons vereinbar? Kann ein Gott gut sein, der so etwas wirkt? Kann mit dem Glauben an solchen Gott die Theodicee bestehen?“99 Dass Götter – und auch Apollon – sich so verhielten, galt zwar als selbstverständlich. Aber Aischylos – so Wilamowitz – konnte und wollte dieses Verhalten des Gottes nicht entschuldigen. „Also muss man sich zu der Anerkennung der offenbaren Wahrheit entschließen, dass Aischylos sich bewusst gegen Apollon wendet, dass er zeigen will, das ist nicht ein gerechter, also nicht ein guter Gott“ (Wilamowitz, 42). Aischylos formuliert zwar keine direkten blasphe77

mischen Anklagen; aber sein Mitgefühl mit Kassandra, deren Schuld nur in dem Bruch eines mehr oder weniger erpressten Versprechens besteht (Agamemnon 1208), ist verknüpft mit dem Widerwillen, den er gegen den Gott empfindet. Verstärkt wird dieser Widerwille noch dadurch, dass Apollon Orest zum Muttermord zwingt, und nach vollzogener Tat bricht dieser unter seinen Gewissensqualen zusammen. „Damit ist Apollon gerichtet. ... Es braucht nicht in lästerlichen Sprüchen formuliert zu werden (wie Euripides diesen Apollon geradezu einen Teufel nennt): wir sehen es genügend in den Seelenqualen des reinen Jünglings vor und nach dem Muttermord, dass der Gott, der solches fordert, kein guter Gott sein kann, dass die Menschheit in ihrer religiösen Entwicklung über die apollinische Stufe hinaus ist.“ (Wilamowitz, 144). „Apollon“ heißt für Kassandra „der Gott, der mich vernichtet“. Sie begründet dies mit den Worten: „Denn du hast mich jetzt zum zweiten Mal vernichtet“ (1082). Wenn Aischylos den Chorführer sagen lässt, „ich aber habe Mitleid mit dir, ich werde keinen Zorn empfinden, geh', du Unglückliche, verlass' diesen Wagen, diesem Zwang nachgebend, trage dein neues Joch“ (1069–1071), dann zeigt er nicht nur seine Sympathie mit Kassandra, sondern auch seine Abscheu gegenüber der Unbarmherzigkeit des ungerechten Gottes. Das Mitleidsmotiv klingt etwas später wieder an (1164–1166), wenn der Chor singt: „Getroffen bin ich (wie) von einem blutigen (Schlangen-)Biss, von deinem schmerzvollen Los, während du leise klagtest; es ist quälend für mich, dies zu hören.“ Der Chor kann nicht begreifen, wie Kassandra in ihr Unglück geriet (1174–1176): „Und welcher bösartige Dämon veranlasst dich, indem er sich mit vollem Gewicht auf dich stürzt, dass du singst von erbärmlichem, todbringendem Leid?“ Dass Apollon der „bösartige Dämon“ (1174 f.) ist, wird etwas später (1203– 1212) erklärt. Apollon selbst ist es ja auch, der Kassandra das Gewand und die anderen Insignien ihres Sehertums nimmt; er sieht mit an, wie sie verhöhnt wird; er führt sie auf den Weg des Todes (1269–1278). 78

Der Chor zeigt noch einmal seine tiefe Betroffenheit (1295–1298): „Ach, du äußerst unglückliche, aber auch äußerst kluge Frau, einen weiten Weg bist du gegangen; aber wenn du so genau dein eigenes Schicksal kennst, warum gehst du wie ein von einem Gott angetriebener Opferstier so mutig zum Altar?“ Wenn der Chor Kassandra mit einem „von einem Gott angetriebenen Opferstier“ vergleicht, dann ist auch dies wieder ein deutlicher Hinweis auf den wölfischen Apollon, den Verursacher des Leides, der allein dafür verantwortlich ist, dass Kassandra in die Tragödie des Atridenhauses hineingezogen wird und zugrunde geht. Christa Wolf ist es gelungen, den Kassandra-Mythos in die Gegenwart zu transferieren, indem sie ihn als eine ernst zu nehmende Metapher feministischer Gewaltkritik interpretierte. Seitdem ist Kassandra nicht mehr die bedauernswerte trojanische Königstochter, sondern eine glaubwürdige Verkünderin realer Verhältnisse und Machtstrukturen. Obwohl die Kassandra des Mythos letzten Endes in die Opferrolle gedrängt wird und scheitert, kann sie doch andere Frauen dazu ermutigen, den Zwang eines modernen „Kassandra-Syndroms“ abzuschütteln, Selbstbewusstsein zu beweisen und nicht in Selbstzweifel zu versinken.

2.7 Hermes oder Prometheus?100 „Der Gott der Zukunft heißt Hermes. Er ist der Gott der Kommunikation, des Internets und der Händler. Prometheus, der alte Gott der Produktion, dankt ab.“101 Hermes ist vergleichbar mit dem biblischen „Engel“ (Angelos = Bote).102 „Prometheus ist der Prototyp des Rebellen und Revolutionärs: ein Götterfeind und Menschenfreund.“103 Er betrog Zeus beim Opfern und stahl den Göttern das Feuer. Sein Opferbetrug bestand darin, dass er Zeus zu überlisten versuchte, indem er einerseits das gute Fleisch in einem Rindermagen versteckte und andererseits die Knochen in eine glänzende Fett-Haut hüllte und 79

dann Zeus aufforderte, sich für eines von beidem zu entscheiden. Selbstverständlich durchschaute Zeus den Betrug, wählte aber trotzdem die Knochen. Seitdem ist es üblich, beim Opfern den Menschen die wertvolleren Teile des Tieres zu überlassen und für die Götter das Übrige zu verbrennen (Hesiod, Theogonie 535–557). In der Theogonie (508–617) dient Prometheus‘ Handeln der Begründung der menschlichen Kultur. Der Rebell wird zum Schutzpatron der Menschen.104 Prometheus wird zusammen mit Tantalus, Ixion und Sisyphus zu ewiger Buße verurteilt. Was haben die Büßer gemeinsam? Die Auflehnung gegen Zeus und seine göttliche Ordnung? Tantalus speist an der Tafel der Götter, bestiehlt diese, plaudert ihre Geheimnisse aus, stellt die Allwissenheit der Götter auf die Probe, indem er seinen Sohn Pelops schlachtet und ihn den Göttern zum Mahl vorsetzt (Undankbarkeit und Hybris). Ixion ermordet seinen Schwiegervater, wird von Zeus entsühnt und zur Göttertafel zugelassen, vergewaltigt Hera, die die Gestalt einer Wolke bekommen hatte (was die Geburt der Kentauren zur Folge hat), rühmt sich seines Triumphes über Hera (Undankbarkeit und Hybris). Aber wofür wird Prometheus bestraft? Er versucht Zeus zu betrügen (Opfer in Mekone), stiehlt das Feuer und bringt es den Menschen zurück und erweist sich als ihr Wohltäter. Jeder kennt Hermes als einen stets von Eile getriebenen, aber zuverlässigen Paketversand. Aber er ist noch mehr: Er hilft Göttern und Menschen in vielerlei Hinsicht, beherrscht das Auslegen und Erklären göttlicher Botschaften und ist bis auf den heutigen Tag der Vater der Hermeneutik. Er begleitet Götter und Menschen auf ihren Reisen und Irrfahrten. So bewahrt er zum Beispiel Odysseus vor den Tücken der Zauberin Kirke. Die Seelen Verstorbener (so auch Eurydike) geleitet er zuverlässig in die Unterwelt (→ 5.6: Orpheus und Eurydike), ist der Patron der Kaufleute und Diebe und zieht unter seinem lateinischen Namen als „Mercurius“ als der schnellste Planet105 seine Bahnen an unserem Sternenhimmel. Philemon und Baucis (→ 5.4) nehmen ihn unerkannt gastfreundlich auf und werden dafür belohnt. Er besitzt 80

einen Zauberstab, mit dem er Menschen einschläfern und wecken kann. Ein glücklicher Fund wird nach ihm „Hermaion“ genannt. Bei Wettkämpfen wirkt er als Glücksbringer. Er ist der Erfinder der Hirtenflöte und anderer Musikinstrumente. Mit Aphrodite ist er der Vater des transsexuellen Hermaphroditos. Er besitzt die Fähigkeit, ein Gefäß so abzuschließen, dass nichts hinein- und herauskommt, sobald es – hermetisch, das heißt mit dem Siegel des Hermes versehen – verschlossen ist, was nicht zuletzt auch bei der Lagerung von Atommüll nicht ganz unwichtig ist. Hermes sucht den zur Strafe für seinen Feuerraub an einen Felsen geschmiedeten Prometheus auf,106 um ihm ein für Zeus gefährliches Geheimnis zu entlocken. Doch Prometheus weigert sich, dieses Geheimnis preiszugeben. Er wolle lieber bis in alle Ewigkeit sein Schicksal erdulden und leiden. Daher muss er sich von dem zornigen Hermes sagen lassen: „Du wärst überhaupt nicht zu ertragen, wenn es dir gut ginge.“ Dieser rätselhafte Satz des Hermes soll wohl bedeuten: Es ist ein Glück, dass du, der du gegen die göttliche Ordnung rebellierst, gefesselt bleibst. Denn wenn du wieder so könntest, wie du wolltest, würdest du alles zerstören. Du würdest ohne Rücksicht auf natürliche Grenzen einen neuen, noch perfekteren Menschen erschaffen wollen. Ob Prometheus dies überhaupt vorhatte oder ob er sich nur mit seinem ihm auferlegten Schicksal zufrieden geben und seine Leiden „in Ruhe“ erdulden wollte, bleibt offen. Aber dass Prometheus wirklich zugunsten des Hermes verschwindet, ist zweifelhaft. Denn es spricht vieles dafür, dass er in Gestalt des modernen Wissenschaftlers zurückgekehrt ist, der wie Prometheus die Schöpfung verbessern will, indem er die Intelligenz zu optimieren oder den Menschen gentechnisch zu verändern versucht.

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2.8 Das Bett des Prokrustes Der athenische Nationalheld Theseus hatte auf dem Weg zu seinem Vater Aigeus einige Abenteuer zu bestehen. So musste er unter anderem verschiedene Unholde besiegen, die sich angewöhnt hatten, als Wegelagerer vorüberkommende Wanderer umzubringen. Sein letztes Abenteuer war die Überwältigung des Riesen Damastes, der den Beinamen Prokrustes, der „Strecker“, trug. Dieser besaß ein großes und ein kleines Bett. Große Wanderer mussten sich auf das kleine Bett legen. Daraufhin sägte er ihnen die Beine ab, um sie für das Bett passend zu machen. Kleine Wanderer mussten sich auf das große Bett legen und wurden lang gezogen und breit geklopft, bis sie in das Bett passten. Theseus tötete Prokrustes, indem er ihn zwang, die Länge seines Bettgestells so auszufüllen, bis alles passte. Theseus bestrafte ähnlich wie Herakles die Unholde auf dieselbe Weise, wie diese ihre Opfer gepeinigt hatten.107 Das Prokrustes-Bett wird später zum Bild für eine willkürliche Form, in die man etwas durch Verlängern oder Verkürzen bringt, bis es passt. Der österreichische Krimiautor Wolf Haas bezeichnet Prokrustes als den „Schutzheiligen der Kriminalschriftsteller“ (in einem Interview Z., 19.03.2015, 17–19). Er begründet dies mit dem Hinweis darauf, dass aus dem Vollen zu schöpfen selten eine Haltung sei, die zu interessanten künstlerischen Arbeiten führe. „Formale Beschränkungen sind wie eine Batterie, die Strom erzeugt. Das kann ein Reimschema sein oder ein Krimi.“ Zuvor hatte Haas „das Beschränkte und Begrenzte“ als Genre-Merkmal des Kriminalromans bezeichnet. Die Beschränktheit des Genres übe einen großen Reiz aus: „Eine Geschichte dort irgendwie so reinzuquetschen, dass sie im Idealfall besser aussieht als ungequetscht.“ Der Vergleich des Krimiautors mit Prokrustes berücksichtigt weder die Grausamkeit des Riesen noch seine ebenso grausame Bestrafung durch Theseus. Aber vielleicht wird der „Schutzheilige“ nicht nur 82

beschworen, um ein Gattungsmerkmal des Kriminalromans zu veranschaulichen, sondern auch um die Lust des Lesers, vor dem Bösen zu erschaudern, als ein weiteres wesentliches Merkmal des Krimis zu markieren.

2.9 Nemesis „Das ist die Nemesis der Heuchelei, dass sie in Wahrheit die Waffen vor den Verhältnissen streckt und so tut, als habe das Tugendideal schon gewonnen.“ Dieser Satz steht in der Titelgeschichte „Porno oder prüde? Zur neuen Doppelmoral“ im Feuilleton der ZEIT. Hier schreibt Jens Jessen über „Die große Heuchelei. Da passt etwas nicht zusammen: Einerseits gibt es mehr Pornographie als je zuvor, andererseits scheint unsere Zeit in mancher Hinsicht überraschend prüde zu sein. Wie verloren ist unsere Sittenmoral? Ein Aufschrei“ (Z., 14. 08. 2014, 33 f.). Jessen versucht, den „tieferen Grund für die heuchlerische Unterstellung tugendhafter Verhältnisse“ zu finden. Es sei − kurz zusammengefasst – die schlichte Tatsache, dass die Verhältnisse so sind, wie sie beschrieben und benannt werden, ohne in Wirklichkeit so zu sein. Das ist die seit eh und je erfahrene und erlittene Diskrepanz zwischen Worten und Taten (→ 10.3: Schein und Sein, Wort und Tat). Dagegen schreitet Nemesis ein, um die Verhältnisse wieder ins Lot zu bringen. Denn auf der anderen Seite gilt die Übereinstimmung zwischen Worten und Taten als Merkmal besonderer Tugend: In der homerischen Ilias (9, 443) wird erwähnt, dass Phoinix von dem Vater des Achill den Auftrag hatte, diesen zu lehren, in Worten und Taten gleichermaßen Tüchtigkeit zu beweisen. Hera wirft Zeus vor, er sei ein Lügner, weil er niemals auf seine Worte auch entsprechende Taten folgen lasse. In den Fabeln des Äsop wird die fehlende Übereinstimmung zwischen Worten und Taten immer wieder be83

dauert. Nur zu oft begegne man Menschen, die das Gute zwar laut verkünden, aber in Wirklichkeit das Böse tun (Nr. 22, vgl. auch Nr. 33 und 158). Epiktet betont mehrfach, dass man in seinem Handeln nicht von seinen Worten abweichen dürfe (Encheiridion 46; 49; 52). Man solle nicht über philosophische Überzeugungen reden, sondern danach handeln. „Denn auch die Schafe bringen ihr Futter nicht zu ihrem Hirten, um ihnen zu zeigen, wie viel sie gefressen haben; sie verdauen vielmehr ihre Nahrung und liefern dann Wolle und Milch.“ Epiktet betont, dass es nicht ausreiche, philosophische Überzeugungen unter das Volk zu bringen. Es komme vielmehr darauf an, Taten zu zeigen, nachdem man die Lehren der Philosophen verarbeitet habe (Encheiridion 46). Die Praxis ist der Theorie überlegen: „Wenn jemand stolz darauf ist, dass er die Schriften des Chrysipp versteht und erklären kann, dann sprich zu Dir selbst: ‚Wenn Chrysipp nicht schwer verständlich geschrieben hätte, dann hätte er nichts, worauf er stolz sein könnte.‘ Was aber will ich? Ich will die Vernunftnatur erkennen und ihr folgen. Ich frage daher, wer sie mir erklärt; und da ich gehört habe, dass Chrysipp es tut, wende ich mich an ihn. Aber ich verstehe seine Schriften nicht. Also suche ich jemanden, der sie mir erklärt. Bis jetzt besteht noch kein Grund, stolz zu sein. Wenn ich aber einen gefunden habe, der sie mir erklärt, dann bleibt nur noch die Aufgabe, die Lehren auch anzuwenden. Nur darauf kann man stolz sein. Wenn ich aber nur die Auslegung bewundere, dann wäre ich höchstens ein Philologe, aber kein Philosoph. Der Unterschied wäre nur, dass ich statt Homer Chrysipp interpretierte. Daher erröte ich noch mehr, sobald jemand zu mir sagt: ‚Lies mir aus Chrysipp vor‘, wenn ich nicht in der Lage bin, die Taten aufzuweisen, die den Worten entsprechen“ (Epiktet, Encheiridion 49). „Der erste und wichtigste Bereich der Philosophie ist die Anwendung ihrer Lehren, wie zum Beispiel nicht zu lügen. Der zweite handelt von den Beweisen: Hier geht es zum Beispiel um die Frage, aus welchem Grund man 84

nicht lügen darf. Der dritte bezieht sich auf die Begründung und Gliederung dieser Beweise; dabei wird zum Beispiel gefragt: Wie kommt es, dass dies ein Beweis ist? Wodurch ist es denn ein Beweis? Was ist eine logische Folgerung? Was ist ein Widerspruch? Was ist wahr? Was ist falsch? Der dritte Bereich ist notwendig wegen des zweiten und der zweite wegen des ersten. Der wichtigste, mit dem man sich vor allem befassen soll, ist der erste. Wir machen es aber genau umgekehrt. Denn wir verbringen unsere Zeit mit dem dritten Bereich, und ihm gilt unser ganzer Eifer. Den ersten aber vernachlässigen wir völlig. Deshalb lügen wir. Wie man aber beweist, dass man nicht lügen darf, ist uns vertraut“ (Epiktet, Encheiridion 52). Mark Aurel (10, 16) will nicht mehr über das Wesen des guten Menschen diskutieren, sondern ein solcher sein, im Brief des Apostels Jakobus 1, 22 heißt es: Seid aber Täter des Wortes und nicht nur Hörer: Dadurch betrügt ihr euch selbst. Zurück zur Heuchelei, die so tut, als habe das allseits verkündete Tugendideal bereits gewonnen. Die Göttin Nemesis, die personifizierte Rache und Vergeltung, ist eine Tochter der Nacht (Hesiod, Theogonie 223) Sie kam zum Leid der Menschen auf die Welt. In Hesiods Erga (199) tritt sie in Begleitung von Aidōs, der Ehrfurcht, auf und wird positiver bewertet. Denn wenn diese beiden Göttinnen die Erde verlassen, lässt sich kein Unheil mehr abwehren. Bei Platon überwacht Nemesis dann auch frevlerische und überhebliche Worte und Taten (Platon, Nomoi 717d) und straft menschliche Hybris. Nemesis bezeichnet eigentlich die göttliche Gewalt, die jedem das zuteilt, was er verdient, vor allem wenn er Unrecht getan hat. Bei Kallimachos (Hymnen 6, 56) notiert Nemesis „ein schlimmes Wort“, um den Sprecher zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn von der Nemesis der Heuchelei gesprochen wird, dann ist dies ein Hinweis darauf, dass die Diskrepanz zwischen Schein und Sein, Wort und Tat nicht folgenlos bleibt. Die Nemesis sorgt dafür, dass die Heuchelei, die vielerlei Erscheinungsformen hat, bestraft 85

wird und dass man die Folgen einer Fehleinschätzung, einer Fehldiagnose, einer unbegründeten Behauptung, einer Lüge, einer Selbsttäuschung, die Annahme einer Schein-Wirklichkeit irgendwann zu spüren bekommt. „Nemesis rächt die Hybris der Menschen:“108 Die Selbstüberschätzung und der Versuch, die von den Göttern gesetzten Grenzen zu überschreiten, wird von Nemesis geahndet. Das erfuhr auch Tantalus, der das Vertrauen der Götter missbrauchte und ihre Geheimnisse an die Menschen verriet und dazu noch mit einer schauerlichen Untat versuchte, ihre Göttlichkeit auf die Probe zu stellen (Hygin 82 f.). Daher wurde er zu den berüchtigten „Tantalusqualen“ verurteilt. In Ovids Narcissus-Erzählung (→ 5.2: Narcissus und der Narzissmus) wird Nemesis beschworen. Sie soll die grausame Lieblosigkeit des Narcissus rächen.

2.10 Die Büchse der Pandora In einer journalistischen Reflexion über die Restaurationsbestrebungen nach dem Wiener Kongress 1815 steht folgender Satz: „Doch die Franzosen hatten mit ihrer Revolution die ‚Büchse der Pandora‘ geöffnet, der Geist der Freiheit ließ sich nicht mehr einsperren. Immer wieder kam es in Europa zu Unruhen und Revolutionsversuchen wie 1830 und 1848.“109 Der Hinweis auf das mythologische Bild110 lässt eine politische Position erkennen, die den „Geist der Freiheit“ lieber wieder einfangen möchte. Denn aus der Büchse der Pandora strömen nur Not, Elend und Krankheit, nicht etwa die Ideale der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Um die durch das Feuer des Prometheus verbesserten Lebensbedingungen der Menschen wieder zu verschlechtern, wies Zeus Hephaistos an, ein Wesen zu erschaffen, das die Menschen in Schwierigkeiten bringen sollte. Hephaistos erschuf daraufhin Pandora („die alles Schenkende“), die erste Frau auf Erden.111 Die Göttin Athene schenkte 86

ihr strahlenden Schmuck. Hermes jedoch verlieh ihr nach dem Willen des Zeus einen bösen Charakter. Er nannte sie deshalb Pandora, weil alle Götter ihr eine Fülle schlechter Eigenschaften „schenkten“. Hermes gab Pandora darauf dem einfältigen Bruder des Prometheus zur Frau. Dieser trug den Namen Epimetheus, was soviel bedeutet wie „der zu spät Nachdenkende“ oder „der erst merkt, dass er etwas falsch gemacht hat, wenn es zu spät ist“. Epimetheus dachte folglich nicht an die Warnung seines Bruders, niemals ein Geschenk von den Göttern anzunehmen, sondern es stets wieder zurückzuschicken, damit kein Unheil geschehe. Als Mitgift brachte Pandora einen Krug mit, der mit allen nur denkbaren Übeln gefüllt war. Als sie den Deckel hob, strömten diese heraus und verbreiteten sich auf der ganzen Welt. So wurden die Wohltaten, die die Menschen durch Prometheus erfahren hatten, durch die Frau des Epimetheus wieder zunichte gemacht. Doch es blieb die Hoffnung (Elpis) im Krug zurück. Sie schaffte es nicht hinausfliegen, weil Pandora den Krug wieder mit dem Deckel verschlossen hatte. Sollen also die Menschen auch noch ohne Hoffnung sein? Vielleicht wird die Hoffnung aber auch im Krug der Pandora verwahrt, damit sie den Menschen bleibt? Warum war überhaupt die Hoffnung mit den Übeln gemeinsam in dem Krug? Gehörte sie als trügerische Illusion zu den Übeln? Ovid hat das Trügerische der Hoffnung kunstvoll beschrieben: Ist diese Göttin auch falsch, so dient sie doch einem guten Zweck.112 Den Namen Pandora verwendet übrigens auch der Selbsthilfeverein für Psychiatrie-Erfahrene e. V.: „Wir wollen die Hoffnung aus der Büchse der Pandora doch noch rauslassen. Wir wollen einen Ort anbieten, wo wir sein dürfen, wie wir sind. Wir wollen unsere Möglichkeiten finden, unser Befinden zu verbessern und andere dabei unterstützen, informieren und beraten. Wir wollen für die Belange und die Akzeptanz seelisch erkrankter Menschen in der Öffentlichkeit eintreten.“

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Thukydides sah in der Verbindung von Hoffnung und Verlangen eine gefährliche Kraft (3, 45, 5): Das Verlangen übernimmt die Führung, die Hoffnung darauf, dass alles gut geht, folgt ihm. Die Verbindung ist stärker als das Wissen um das Risiko, die bedeutendsten Güter zu verlieren. Das Verlangen ist zwar die treibende Kraft, aber ohne die Hoffnung würde es nicht zu einem möglicherweise verhängnisvollen Handeln kommen. Es ist bemerkenswert, dass heute ein Unternehmen, das Schmuck vertreibt, „Pandora“ als Firmennamen verwendet. Galeria Kaufhof gibt eine Erklärung: „Wer ist Pandora? Verführerisch schön und unwiderstehlich hat sie nach dem antiken Mythos durch das Öffnen ihrer Büchse das Ende eines goldenen Zeitalter eingeläutet. Doch gab sie in der Pointe der bekannten Geschichte den Menschen mit der Hoffnung auch ein funkelndes und wunderschönes Geschenk mit auf den Weg. ... Bestellen Sie einfach und günstig online. Die Schmuckwelten von Pandora erwarten Sie im Online-Shop von Galeria Kaufhof! Bestellen Sie einfach und günstig online. Die Schmuckwelten von Pandora erwarten Sie im Online-Shop von Galeria Kaufhof!“ Dass Pandora mit ihrem Namen für Schmuck wirbt, ist durchaus nachvollziehbar. Denn die Göttin Athene hatte Pandora reichlich mit glänzendem Schmuck ausgestattet, der die Attraktivität der Frau erhöhen sollte. Vielleicht kannten die Werbefachleute der Firma Pandora aber auch eine andere Version des Mythos: Schon in der Antike wurde Pandora auch mit positiven Eigenschaften ausgestattet: Sie galt als eine Göttin, die den Menschen wie Demeter alle lebensnotwendigen Dinge schenkte. Sollte dies zutreffe, so würde Hesiods Version von der tückischen Pandora eben nur die Misogynie des Dichters zum Ausdruck bringen.113

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2.11 Die schöne Helena Im 4. Gesang der Odyssee reisen Telemach, der Sohn des Odysseus, und Peisistratos, Nestors Sohn, nach Sparta zu Menelaos und Helena, um etwas über das Schicksal des Odysseus zu erfahren. Sie werden von Menelaos freundlich empfangen. Der König erzählt den beiden jungen Männern von seinem Kummer, den er empfindet, wenn er an die vielen Menschen denkt, die im Kampf um Troja ihr Leben ließen. Am meisten jedoch bedrücke ihn der Gedanke an Odysseus, dessen Schicksal weiterhin ungeklärt sei. Bei diesen Worten bricht Telemachos in Tränen aus, die er jedoch zu verbergen versucht. Da erscheint Helena, die sogleich in Telemachos den Sohn des Odysseus erkennt. Daraufhin lüften Telemachos und Peisistratos ihre Identität. Dann weinen alle, während sie an Odysseus denken, der noch immer nicht heimgekehrt ist. Menelaos rettet die Situation und schlägt vor, am nächsten Morgen über die traurigen Dinge weiterzureden und jetzt erst einmal zu Abend zu essen. Helena gießt in den Wein, von dem sie trinken wollen, sogleich ein Rauschmittel, das den Kummer verscheucht, das Gemüt aufhellt und alles Leid vergessen lässt. Wer dieses Mittel einnimmt, braucht nicht mehr traurig zu sein und kann auch andere schlimme Vorgänge leicht ertragen. Die Droge stammte übrigens aus Ägypten (Odyssee 4, 219–234), wo Helena in der Heilkräuterkunde von Polydamna, der Gattin des Thon, des Beschützers der Nilmündung, unterrichtet worden war. Offensichtlich diente das Mittel nicht nur zur Beruhigung, sondern führte auch zu einer gewissen Gleichgültigkeit und zu einer Aufhellung der Stimmung. Es handelte sich also nicht um ein Anti-Schmerzmittel oder ein Betäubungsmittel, sondern wohl eher um ein Antidepressivum. Als Helena dann den Gästen erzählte, wie Odysseus unerkannt als Bettler verkleidet in Troja auftauchte und wie er sich dann später im Hölzernen Pferd zusammen mit den anderen griechischen Helden in die Stadt ziehen ließ und wie Helena die Griechen nicht dazu bringen 89

konnte, sich selbst zu verraten, gab es keine positiven oder negativen Gefühlsäußerungen der Gäste mehr. Telemachos bat vielmehr darum, sich zur Ruhe legen zu dürfen. Helenas Pharmakon hatte offensichtlich seine Wirkung getan.

2.12 Venus Man sollte sich mit der Vorstellung vertraut machen, dass Venus alias Aphrodite nicht aus dem Schaum des Meeres aufstieg. So erzählte es zwar der Dichter Hesiod in seiner Theogonie (188–206), und Sandro Botticelli hielt es um 1486 in einem berühmten Gemälde fest.114 Doch der amerikanische Pop Art Künstler Mel Ramos115 sah es anders: Venus schälte sich aus einer Banane. Im Jahr 1932 drehte Josef von Sternberg in den USA mit Marlene Dietrich den Film Die blonde Venus. Auf einem Filmplakat wurde die Dietrich als „Venus von Milo“ inszeniert. Die Marmorstatue war im 2. Jahrhundert von einem unbekannten Bildhauer geschaffen worden und befindet sich heute im Louvre in Paris.116 Auch in dem Film (2003) „Die Träumer“ von Bernardo Bertolucci inszenierte sich Eva Green alias Isabelle als Venus von Milo. Die Kenntnis des archäologisch-kunstgeschichtlichen Hintergrunds dürfte die intendierte Erotisierung der Darstellung verstärken.

2.13 Tantalus Wie erwähnt (→ 2.9: Nemesis), hatte Tantalus das Vertrauen der Götter missbraucht und ihre Geheimnisse an die Menschen verraten und dazu noch mit einer grausamen Tat ihre Göttlichkeit auf die Probe zu stellen versucht (Hygin 82 f.). Daher wurde er zu den berüchtigten Tantalusqualen verurteilt. Der römische Dichter Horaz sieht in Tan90

talus den Prototyp des Menschen, den er in seiner Satire (1, 1) beschreibt: „Von dir selbst spricht die Geschichte – nur unter einem anderen Namen.“117 Der Angeredete schläft auf den Säcken ein, die er in seiner Gier nach mehr von überall her herbeigeschafft hat. Aber es genügt ihm nicht, alles zu bekommen; er verlangt darüber hinaus auch noch nach dem Besitz der anderen, die er beneidet; die Habsucht treibt ihn, mehr haben zu wollen als die anderen.118 Tantalus ist anscheinend die allegorische Darstellung des ewig Unzufriedenen und Habgierigen: Er giert von Durst gequält nach dem Wasser, das vor seinen Lippen zurückweicht. Mit dem Namen Tantalus weist Horaz nicht nur auf die Bestrafung hin, sondern löst auch die Erinnerung an einen schauerlichen Mythos aus, der den Charakter des unzufrieden-neidischen Alltagsmenschen auf den ersten Blick nur wenig zu betreffen scheint, ihm aber eine grandios-übertriebene Dimension verleiht. (Das mag für die Satire typisch sein.) Horaz sieht in Tantalus ähnlich wie Odysseus (Odyssee 11, 582–592) den Durstigen, der nicht trinken darf, obwohl es genug zu trinken gibt, und den Hungrigen, der nicht essen darf, obwohl genug zu essen da ist. Die Ursache für diese Bestrafung kommt hier nicht zur Sprache. Auch der Satiriker Lukian lässt Menippos in seinen Totengesprächen (17) den Gequälten nur nach dem Grund für sein Jammern fragen, ohne die Ursache der Bestrafung zu berühren. Er sei doch schon tot und könne gar nicht mehr verhungern oder verdursten. Tantalus hält dagegen, dass seine Strafe eben darin bestehe, unablässig trinken zu wollen, ohne es nötig zu haben. Er sei zwar tot und ohne Körper, aber seine Seele habe Durst, als ob sie noch einen Körper hätte. Nur einmal, als Orpheus in der Unterwelt sang, vergaß Tantalus seinen Durst (Ovid, Metamorphosen 10, 41 f.). Das Wasser hat nicht nur die natürliche Eigenschaft, gar nicht greifbar zu sein, sondern verfügt auch über die magische Kraft, vor dem Zugriff des Tantalus zurückzuweichen. Während die Qual des ewigen Durstes als Strafe für grauenvolle Taten bei den römischen Dichtern und auch bei Lukian in den Hinter91

grund tritt, erzählt der Geschichtenerzähler Hygin (Fabulae 82 f.) mit emotionslos-nüchternen Worten, wofür Tantalus in der Unterwelt leidet. Horaz erwähnt ihn nicht als den Prototypen des Menschen, der für seine Taten büßt, sondern eine verfehlte Lebenseinstellung besitzt, die zu korrigieren ist. Er kritisiert ein sinnloses „Immer-MehrHaben-Wollen“, ein rastloses Erwerben ohne Gebrauchen. „Du weißt gar nicht, wozu das Geld gut ist und welchen Nutzen es bringen kann“ (Satiren 1, 1, 73). Der mit Tantalus verglichene Mensch ist offensichtlich der von einem Mehr-Haben-Wollen Getriebene, nicht der Bestrafte. „Alle diese Leute möchten sich nicht wirklich verändern, weit eher möchten sie sich aus Habsucht allen Mühen und Gefahren unterziehen. Nur die Habsucht treibt sie, andere glücklich zu nennen, sie zu beneiden und möglichst zu übertreffen.“119 Sie würden sogar die Götter übertreffen wollen – wie Tantalus. Bei Horaz geht es nicht um „Schuld und Sühne“, sondern um das sinn- und zwecklose Mehr-Haben-Wollen, von dem der Mensch ebenso gequält wird wie Tantalus von Durst und Hunger. Der maßlos Verlangende kommt ebenso wenig zum Ziel wie dieser. Aber im Gegensatz zu dem alternativlosen Tantalus des Mythos kann der Neidisch-Gierige sein Verhalten ändern, indem er Grenzen respektiert und Maß hält: Denn alles, was wir denken und tun, hat sein Maß und seine Grenze (Horaz, Satire 1, 1, 106).120

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3. Wortschatz Das Wissen um die Herkunft des modernen Wortschatzes ist ein wichtiger Weg zum Verständnis unserer Umgangssprache. Früher nannte man dieses Verfahren „Fremdwörterkunde“. Diese sollte auch aus dem Grunde nicht unberücksichtigt bleiben, weil viele Fremdwörter eine in die Antike zurückweisende Geschichte haben121 und die eigenen Wörter als „fremd“ erkennen lassen. Zwischen der „Atalantamission“ bis zum „Zynismus“ spannt sich dann ein weiter Bogen. Auch hier geht es um Appräsentation einer verborgenen und vergessenen Antike. Im Folgenden werden Wörter thematisiert, die heute mehr oder weniger unbefangen verwendet werden, weil jeder, der sie verwendet, eine bestimmte Vorstellung von ihrer Bedeutung hat. Anhand einiger Beispiele soll sichtbar werden, dass diese Wörter oft viel mehr bedeuten, als man ahnt. Die folgenden Hinweise sollen den Wortschatz bereichern, indem sie den „tieferen Sinn“ dieser an sich so wenig geheimnisvollen und viel verwendeten Wörter und ihre semantische Reichweite bewusst zu machen versuchen.

3.1 Kynismus und Zynismus Der antike Kynismus lebt im Zynismus weiter.122 Aber Kyniker sein sei nicht dasselbe wie ‚zynisch‘ sein, es meine nicht blasphemische Destruktion, lästerlichen Frevelsinn, sich wegwerfende Würdelosigkeit. Als philosophische Richtung leite sich der Kynismus von dem 93

Sokratiker Antisthenes her, der eine historisch im Großen und Ganzen zutreffende, bei Platon jedoch zurückgedrängte Seite der Sokratik repräsentiere. Bei Xenophon sei der kynische Grundzug des Sokrates-Bildes vielleicht am ehesten bewahrt. Diogenes, der Nachfolger des Antisthenes (→ 4.5: Diogenes: Das einfache Leben), und erst recht der an ihn anschließende, weniger aggressive Krates von Theben seien im Grund immer wieder Weltverbesserer, ethische Eiferer, letztlich Optimisten gewesen. Sie hätten eine primitive naturschwärmende Romantik oder einen entwurzelten Kosmopolitismus gepflegt, seien Ehrlichkeitsfanatiker gewesen, die gegen konventionell-verlogene Moralität anrennend sich als Antimoralisten gebärdeten. Sie seien Rigoristen gegen sich und andere und dabei zu aufrichtig gewesen, um sich über das Versagen hinwegzutrügen. Darum hätten sie es vorgezogen, es lieber zu übertreiben, um vor sich selber dem Verdacht fauler Nachgiebigkeit zu entgehen. Die Kyniker seien Eiferer gewesen, die ihren eigenen Eifer beargwöhnten, ihr Humor sei aus Schmerz geboren, ihre Lustigkeit umgestülpte Trauer, ihre – manchmal – vulgäre Sinnlichkeit letzter Verzicht gewesen. So weit Otto Seel 1956. Worin unterscheidet sich nun der Zynismus von diesem Kynismus? Was haben diese Lebensäußerungen gemeinsam? Dem Philosophischen Wörterbuch von Georgi Schischkoff (Stuttgart 1974) ist zu entnehmen: „Zynismus, die ehrfurchtlose, alle Sitten verachtende Lebenshaltung der Kyniker; die bewusste Herabsetzung aller Werte, Überzeugungen und sozialen Prinzipien, die Unfähigkeit, etwas als ehrwürdig, ernst oder heilig zu empfinden; daher die aufdringliche Verächtlichmachung jeder gewohnten sittlichen Ordnung und Gläubigkeit der Mitmenschen. Zu den Wurzeln des Z. gehören das Scheitern am Leben, unüberwindliches Ressentiment und Verzweiflung in anhaltender Ausweglosigkeit. Den Typus des modernen Zynikers beschrieb D. Diderot in seinem, 1805 von Goethe übersetzten, literarischen Werk ‚Rameaus Neffe‘.“ 94

Die Brockhaus Enzyklopädie (1974) hält den Zynismus für „eine Geisteshaltung, die aus radikaler Skepsis oder scheinbarer Überlegenheit die Fragwürdigkeit von Wahrheiten und Werthaltungen ohne Rücksicht auf irgendwelche normativen Aspekte bloßstellt“ (→ 10.6: Xenophanes und das Denken des Möglichen und des Unmöglichen). Das geschehe in verletzender Absicht gegenüber denjenigen, die diese Wahrheiten vertreten. So könne der Zynismus als charakterliche Fehlhaltung im Einzelfall sadistische Züge annehmen, insofern er einseitige Befriedigung aus der Herabsetzung der Gefühle anderer ziehe. Im dtv-Lexikon von 2006 wird Zynismus definiert als „eine Lebensanschauung, die aus vollendeter Skepsis, Lebens- und Menschenverachtung alle Werte herabsetzt.“ In dem großen Zynismus-Artikel des Historischen Wörterbuchs der Philosophie (2004) wird festgehalten, dass die Herleitung des Begriffs aus dem antiken Kynismus nicht nur die negativen Aspekte des Zynismus erkennen lasse. Heinrich Niehues-Pröbsting, auf den sich der Wörterbuch-Artikel unter anderem stützt, sieht in Diogenes von Sinope den „Protokyniker“ und stellt die Frage, ob „der Rückgang auf die Diogenes-Gestalt und den antiken Kynismus Wesentliches zum Verständnis des Zynismus beitragen“ könne oder ob die etymologische Herkunft des modernen Begriffs aus dem der Antike keine wesentliche Bedeutung habe. Wenn dies so wäre, dann müsste die Frage verneint werden, „ob der Rückgang auf die DiogenesGestalt heute noch zum Verständnis des Zynismusbegriffs beitragen könne“ (Niehues-Pröbsting 1979, 14). Aber obwohl Franz Dornseiff den antiken Kynismus von dem modernen Zynismus deutlich trennt,123 spricht doch vieles eher für Niehues-Pröbstings Feststellung (1979, 9): „Die Bezeichnung ‚Kyniker‘ oszilliert in der Antike zwischen Schimpfwort und philosophischem Ehrentitel; daher kann die Wertung kein eindeutiges und entscheidendes Differenzierungsmerkmal zum modernen Zynismusbegriff hergeben.“ 95

„Das zynische Wörterbuch. Ein Alphabet harter Wahrheiten zugemutet von Jörg Drews & Co.“ (Leipzig 2003) enthält zahlreiche Aussagen (Sentenzen, Aussprüche, Aphorismen usw.), die einen Eindruck von einem neuzeitlichen Zynismus vermitteln und veranschaulichen, dass es bemerkenswerte Unterschiede zum antiken Kynismus zu geben scheint. So fällt auf, dass eine zynische Bemerkung nur dann als solche zu verstehen ist, wenn sie auch entsprechende Zynismus-Signale aussendet. Dabei ist es gleichgültig, ob diese in der Bemerkung selbst oder im situativen Kontext zu finden sind. Hier ist der Zynismus mit der Ironie verwandt. Auch diese bedarf deutlicher „Ironiesignale“.124 Antiker Kynismus ist weniger verhüllt; er demonstriert eine bestimmte Lebenseinstellung, die durch die Abweichung vom Üblichen und Gewohnten provoziert oder mitunter gar abstößt. Ein ausgesprochen anschauliches Beispiel bietet Lukian mit dem Kyniker Alkidamas in seinem Symposion. Auch in der unter Lukians Namen überlieferten Schrift mit dem Titel Kynikos steht der Kyniker für zeitlose Zivilisationskritik und singt ein sehr modern anmutendes Preislied auf das einfache Leben (→ 4.5 Diogenes: Das einfache Leben). Der Autor versucht, einen wahren, echten Kyniker darzustellen, der sich deutlich unterscheidet von den Vertretern eines missverstandenen Kynismus, mit dem diese ihre Unverschämtheit und ihren zügellosen Lebenswandel rechtfertigten. Der in dieser Schrift dargestellte Kyniker ist das Gegenbild zu einem gewöhnlichen Kyniker und einem kynischen Scharlatan und das Idealbild eines natürlichen, philosophisch gebildeten Naturmenschen, eines Wegweisers zur Genügsamkeit und zu einer physisch wie psychisch gesunden Lebensweise. Er ist alles andere als ein Zyniker.

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3.2 Was ist ein Symbol? Am 07. 11. 2002 erschien in der ZEIT ein Artikel des amerikanischen Lyrikers C. K. Williams: „Das symbolische Volk der Täter“. Williams stellte fest, die Deutschen hätten über Deutschlands Schuld so viel diskutiert, dass das Wort „Schuld“ beinahe bedeutungslos geworden sei. Das wirkliche Problem der Deutschen bestehe jedoch darin, dass sie wie die Juden eine jener Entitäten seien, die nicht dadurch definiert würden, was sie tatsächlich seien oder tun würden, sondern durch das, wofür sie ständen. Eher als alles andere seien „die Deutschen“ ein Emblem oder ein Symbol. Dann fährt Williams mit einer anschaulichen Beschreibung des Begriffs „Symbol“ fort: „Gewiss ist es unangenehm, wenn man erkennt, dass man ein Symbol ist. Man ist dann die Repräsentation einer Bedeutung eher als die Person, die man zu sein glaubte. Man fühlt sich in das unsichtbare und unerwünschte Gewand einer Identität eingewickelt, die für einen selbst nicht bedeutsam ist, für die anderen aber Vorrang hat. Diese symbolische Persönlichkeit, die außerhalb existiert, aber doch mit jenem Leben verbunden ist, das man lebt, muss sich anfänglich so unwesentlich und trivial anfühlen wie ein beginnender Zahnschmerz. Dergleichen spielt sich allerdings nah am Zentrum der Persönlichkeit ab, dort, wo das Selbstwertgefühl und der Sinn für Werte beheimatet sind.“125 Symbolisches Denken – so Williams – funktioniere nicht wie andere Akte des Bewusstseins. „Symbole kennen keine Begründungen. Sie sind von logischer Erklärung nicht zu fassen. Darin besteht die große Kraft des Symbolischen in Religion und Kunst.“ Es liege eine gewisse Ironie darin, „dass sich die Deutschen symbolisch an ein Volk gebunden fühlen, das selbst seit langer Zeit ein Symbol ist, und zweifellos ermessen viele Deutsche, wie komplex verflochten ihr Schicksal mit dem der Juden ist. Solange die Juden als symbolische Gebilde gekennzeichnet werden, werden die Deutschen jene sein, welche die Juden 97

umgebracht haben. Der Jude als Opfer hat als seinen Widerpart den Deutschen als Täter.“ Dass Symbole keine Begründungen kennen, trifft zweifellos nicht zu. Denn ein schlichtes christliches Symbol wie der Fisch (griechisch: Ichthys als Akronym für Iesus Christos Theou (H)yios Soter hatte eine nachvollziehbare Begründung. Hinzu kommt, dass der Fisch auch noch andere religiöse Inhalte symbolisiert, so ist er z. B ein Symbol für den getauften Christen.126 Williams’ Verwendung des Begriffs „Symbol“ lässt sich dagegen zwanglos auf den griechischen Sprachgebrauch zurückführen und mit diesem bestätigen: In einem griechisch-deutschen Wörterbuch (Passow) findet man unter symbolon folgenden Eintrag: „ein Zeichen, woran od. woraus man etw. erkennt, vermutet, schließt, errät, Kennzeichen, Wahrzeichen, Merkmal … die Kennzeichen und Merkmale, woran lange voneinander getrennte Eheleute sich bei ihrer Vereinigung wieder erkennen … od. wodurch sie sich in der Trennung kenntlich machen.“127 Weiter heißt es bei Passow: „tessera hospitalis, symbolum, d. i. zwei einander ganz ähnliche Stücke, besonders die Hälften eines Ringes oder Würfels, welche zwei Gastfreunde unter sich teilten und auf ihre Kinder vererbten; die Zusammentreffenden hielten ihre beiderseitigen Hälften aneinander und das Zusammenpassen erwies dann die Echtheit der früher geknüpften Gastfreundschaft.“ In Platons Symposion (191d) heißt es in der Rede des Aristophanes (189d–193d): „Jeder von uns ist ein symbolon eines Menschen, da er ja zerschnitten wurde wie die Schollen und aus einem zwei geworden sind. Es sucht also jeder einzelne nach seinem symbolon.“ Hier ist das symbolon also dasjenige, das als die eine Hälfte mit einer anderen ein Ganzes bildet. Eine andere Perspektive eröffnet Aristoteles in seiner sprachwissenschaftlichen Schrift De interpretatione. Gleich zu Beginn stellt er fest, die sprachlichen Äußerungen unserer Stimme seien „Symbole“ für 98

seelische Vorgänge und unsere schriftlichen Äußerungen „Symbole“ für die mündlichen Äußerungen unserer Stimme. Mit „Symbolen“ meint Aristoteles offensichtlich Zeichen, die ihre Bedeutung nicht von Natur aus besitzen, sondern einer Übereinkunft verdanken. „Wie aus Aristoteles, De interpretatione 16 a 9–11 … hervorgeht, dient das Wort symbolon, das ja von Hause aus die genau zur anderen passende und daher als Erkennungszeichen verwendbare eine der beiden Hälften eines Ganzen bedeutet (vgl. Platon, Symp. 191d 3–5) in 16 a 4 … ‚ zur Kennzeichnung der Parallelität von Sprechen und Denken‘.“128 Ein „Symbol“ meint also kein zufälliges „Zusammenfallen“, sondern ein bewusstes „Zusammenwerfen“: (a) Zwei getrennt voneinander vorhandene, aber zusammengehörige Dinge werden verabredungsgemäß „zusammengeworfen“, das heißt ihre Einheit wird wiederhergestellt, weil sie zueinander passen. (b) Zwei getrennt voneinander und ursprünglich nicht zusammengehörige Dinge werden ebenfalls verabredungsgemäß „zusammengeworfen“. Dinge, die nicht zueinander passen, werden passend gemacht. Ein anschauliches Beispiel für die zweite Erscheinungsform eines Symbols findet man übrigens in der Romulus-Biographie des Plutarch. Dort heißt es (14): „Es war das Zeichen (symbolon) für den Zeitpunkt des Überfalls (auf die Sabiner), dass Romulus aufstand, seinen Purpurmantel auszog und dann wieder anzog.“ Hier ist das Symbol ein genau verabredetes Zeichen für den Beginn einer Handlung. Es ist das „Zusammenwerfen“ nicht nur zweier unabhängig voneinander existierender Dinge oder Vorgänge, sondern auch einer Absicht mit ihrer Ausführung, so dass Absicht und Ausführung aufgrund einer zuvor getroffenen Übereinkunft zu einer Einheit werden. In diesem Sinne wird – laut Aristoteles – auch ein Wort erst aufgrund einer zuvor getroffenen Übereinkunft zu einem Zeichen (symbolon) für eine bestimmte Sache (De interpretatione 16 a 28). Durch diesen Symbolcharakter bekommt das Wort eine mitteilbare und verständliche Bedeutung. 99

3.3 Stoische Ruhe Im Lokalteil einer Tageszeitung zeigt ein Bild zehn Enten auf einer vielbefahrenen Auto-Straße.129 Mit „stoischer Ruhe“ überquert die Mutter mit ihrem schon fast erwachsenen Nachwuchs eine Kreuzung. Wahrscheinlich sprach der Journalist von der „stoischen Ruhe“ der Enten, weil sie sich durch den gefährlichen Autoverkehr nicht davon abhalten ließen, ihr Ziel auf der anderen Straßenseite zu erreichen. Dass Enten überhaupt in stoischer Ruhe handeln können, würde ein antiker Stoiker entschieden verneinen, weil er Enten jede Vernunft abspricht. Für ihn sind Tiere „unvernünftige Lebewesen“. Was denn eigentlich „stoisch“ bedeutet, wird dadurch nicht klarer, dass man den Begriff bis auf den heutigen Tag benutzt, um ein bestimmtes Handeln und Verhalten als „beharrlich“, „unerschütterlich“ oder auch „stur“ zu charakterisieren (→ 8.1: Scheiternde Helden). Man kennt nicht nur die „stoische Ruhe“, sondern auch die „stoische Stämmigkeit“, über die etwa auch der ukrainische Boxweltmeister und Protestpolitiker Vitali Klitschko verfügt haben soll,130 und den „Stoizismus der Munterkeit“, die Ijoma Mangold in Herrn Zetts Betrachtungen von Hans Magnus Enzensberger zu spüren meinte.131 Abgesehen von der stoischen Munterkeit enthält Mangolds ZEITArtikel noch weitere Antiquismen: den selbstironischen Sokrates (man beachte die Alliteration), den „linken Miserabilismus“ (ein bemerkenswertes Fremdwort für „das ewige Jammern“), die Paradoxien (Paradoxa Stoicorum), den syntaxfreien Cicero-Satz O tempora, o mores – von dem rätselhaft-mystischen „Nur an dem, was einer nicht sagt, sollte er stets festhalten“ ganz zu schweigen. Schweigen ist Silber, Reden ist Gold? Um diesen Text zu verstehen, muss man wirklich über umfangreiche „Hintergrundkenntnisse“ verfügen. Seit dem zweiten Jahrhundert v. Chr. bekommt die stoische Philosophie – vielleicht unter dem Einfluss des gelehrten Panaitios von Rhodos – einen deutlich spürbaren Einfluss auf die römische Elite. 100

Nicht viel später gewinnt die stoische Ethik vor allem bei den führenden Kräften der römischen Republik eine große politische Bedeutung. Für Cato Uticensis und Brutus, den Caesar-Mörder, war die stoische Ethik Lebensinhalt. Marcus Porcius Cato Uticensis, ein Urenkel des berühmten Feldherrn, Politikers und Schriftstellers Cato Censorius (234–149 v. Chr.), galt als eine Leitfigur stoischen Denkens. In der römischen Kaiserzeit wurde er zur Idealgestalt des stoischen Republikaners stilisiert. Dieses Bild ist vor allem dem Dichter Lucan (39–65 n. Chr.) und seinem Bürgerkriegsepos Pharsalia zu verdanken. Im ersten nachchristlichen Jahrhundert lieferte die Stoa der aristokratischen Opposition gegen die römischen Kaiser die moralischen Grundlagen ihres Handelns. Römische Stoiker – unter ihnen vor allem Helvidius Priscus und Paëtus Thrasea, repräsentierten den Widerstand gegen Nero, und Iunius Rusticus kämpfte später gegen Domitian. Der Historiker Tacitus setzte im ersten nachchristlichen Jahrhundert Paëtus Thrasea, ein Denkmal.132 Capito Cossutianus, der Ankläger, griff Thrasea als einen Anhänger der stoischen „Sekte“ an und sprach von seiner „Halsstarrigkeit“. Thrasea verstand darunter Unbeugsamkeit und lehnte alle Überlegungen zu seiner Rettung ab: Seine Zeit sei um, und er dürfe seine – stoischen – Prinzipien, die er sein ganzes Leben lang beachtet habe, nicht verraten; er wolle vielmehr im Sinne der stoischen Lehre seinem Leben freiwillig ein ruhmvolles Ende bereiten. Ihre „stoische Ruhe“ half den Gegnern der autoritären Herrschaft der römischen Kaiser, ihr gewaltsames Ende in Würde hinzunehmen. Tacitus hatte kurz zuvor in seinen Annalen (15, 60–64) schon Senecas „stoische Ruhe“ unmittelbar vor seinem Tod geschildert. Dass allerdings mancher Zeitgenosse diese Haltung nicht verstehen konnte oder wollte, veranschaulicht ein Epigramm (1, 8) des Dichters Martial (etwa 40–102 n. Chr.), der sich selbst als Verehrer des Kaisers Domitian darstellte: „Wenn du die Lehrsätze des großen Thrasea und 101

des vollkommenen Cato so befolgst,133 dass du unversehrt bleiben willst, dann stürzt du dich nicht mit entblößter Brust in gezückte Schwerter;134 dann handelst du so, Decianus,135 wie ich es mir wünsche: Ich will nicht, dass ein Mann durch leichtfertiges Blutvergießen Ruhm erwirbt; ich will, dass man einen Mann rühmt, den man auch ohne Heldentod rühmen kann.“ Hier geht es um das ungelöste Problem des richtigen Verhaltens gegenüber einem Gewaltherrscher.136 Es gibt aber auch Hinweise darauf, dass schon im ersten Jahrhundert v. Chr. ein neoterischer Dichter wie Catull, zum Beispiel in Carmen 8, eine mehr oder weniger versteckte Kritik an stoischen Vorstellungen übt – besonders an der stoischen Apathie, am Schicksalsglauben und an der Verherrlichung der Vernunft. In seinem Agricola (42, 4) übt Tacitus ähnlich wie Martial Kritik an der von prominenten Stoikern (Seneca und Thrasea) gespielten Opferrolle: „Diejenigen, die Auflehnung zu bewundern pflegen, mögen wissen, dass es auch unter schlechten Herrschern große Männer geben kann und dass Gehorsam und Zurückhaltung, wenn Einsatzbereitschaft und Kraft vorhanden sind, zu dem gleichen Ruhm führen, wie ihn die meisten durch einen trotzigen und auf Wirkung zielenden, aber für die Gesellschaft völlig nutzlosen und sinnlosen Tod errungen haben.“ Ob auch Senecas Neffe, Annaeus Lucanus (39–65 n. Chr.) mit seinem Bürgerkriegsepos Pharsalia trotz seiner Verherrlichung des römischen Erz-Stoikers Marcus Cato Uticensis eine mehr oder weniger versteckte Kritik an der stoischen Lehre übte, ist zu fragen. Der berühmte Satz (Pharsalia 1, 128) Victrix causa deis placuit, sed victa Catoni („Die siegreiche Sache gefiel den Göttern, die besiegte jedoch Cato“) lässt zumindest Zweifel an einer gütigen Vorsehung erkennen, an die viele Stoiker glaubten (→ 8.1: Scheiternde Helden). Catos Tugend – so die Botschaft des Annaeus Lucanus – konnte die Grausamkeit eines ungerechten Schicksals nicht verhindern; sie wurde aber immerhin von einem heroischen Selbstmord gekrönt. 102

Thomas Assheuer beschreibt in einem bemerkenswerten Aufsatz über Helmut Schmidt die Affinität des früheren Bundeskanzlers zur Lehre der Stoa.137 „Mit ihrer strengen Tugendlehre, mit dem Lob von Verantwortung und Gelassenheit waren die Pflichtmenschen der Stoa die idealen Stichwortgeber für den Pflichtmenschen Helmut Schmidt, und ihre Maximen und Reflexionen bildeten gleichsam das Echo seiner inneren Überzeugungen. Vor allem das Lob von Nüchternheit und Souveränität machte Schmidt sich zu eigen, denn Souveränität meinte für die Stoa ein Leben in Unabhängigkeit, in Demut und vor allem: in Furchtlosigkeit. Keine Furcht dürfe man haben in dieser Welt, weder ‚vor den Göttern noch vor den Menschen‘, keine Furcht vor dem ,Irrwahn‘ der Gegenwart und dem ,Barbarengebrabbel‘ der Zeitgenossen. Das klang elitär, und so war es wohl auch gemeint. Und doch war das höchste Ideal der antiken Coolness138 nicht der arrogante Snob, sondern der ,Dienst an der Gemeinschaft‘. So sprach aus der Stoa ein freundlicher, universalistischer Geist, und für ihn hatten alle Menschen gleichermaßen teil an der Vernunft. In Ehren zu leben bedeutet, dieser Vernunft zur Wirksamkeit zu verhelfen.,Vor dem Eintritt ins Greisenalter‘, schrieb Seneca,,war es mein Bestreben, in Ehren zu leben. Nun, da es da ist, in Ehren zu sterben.‘“

3.4 Waren die Spartaner „lakonisch“? Eine Antwort auf die Frage, ob die Spartaner „lakonisch“ waren, setzt voraus, dass man weiß, was „lakonisch“ bedeutet: wortkarg, einsilbig, kurz und prägnant. Der Begriff ist nicht negativ konnotiert, er bezeichnet die Beschränkung auf das Wesentliche einer Aussage oder Meinungsäußerung. In Platons Dialog Protagoras (342a–343c) behauptet Sokrates, auf Kreta und in Sparta sei die Philosophie länger und umfassender als im übrigen Griechenland zu Hause. Die meisten Sophisten kämen aus diesen Gegenden, und die Lakedämonier seien 103

in der Philosophie und der Redekunst am besten ausgebildet. Das könne man erleben, wenn man einmal mit einem Lakedämonier zusammenkomme, sei er auch noch so einfach. Er zeige sich im Gespräch zwar die meiste Zeit recht wortkarg, doch dann werfe er plötzlich und unerwartet eine inhaltsreiche, aber kurze Bemerkung ein wie ein tüchtiger Bogenschütze, sodass sein Gesprächspartner nicht besser dastehe als ein Kind. Genau das führe seit eh und je zu der Einsicht, dass „Lakonisieren“ weit mehr die Liebe zur Weisheit als die Liebe zum Sport bedeute; denn man wisse, dass die Fähigkeit, solche Sätze zu formulieren, nur bei einem hochgebildeten Menschen zu finden sei. Zu diesen gehörten Thales von Milet, Pittakos von Mytilene, Bias von Priene, aber auch der Athener Solon und andere. Alle diese seien Nachahmer, Liebhaber und Schüler der lakedämonischen Bildung gewesen. Jedermann könne an dieser Weisheit teilhaben, die darin bestehe, kurze zum Nachdenken anregende Aussprüche zu formulieren. Sie hätten ihre Weisheit dem Gott Apollon gewidmet und allgemein zugänglich gemacht, indem sie „Erkenne dich selbst“ (→ 1.3) und „Nichts zu sehr“ (→ 1.4) an die Wände seines Tempels geschrieben hätten. Er, Sokrates, habe darauf hingewiesen, weil die philosophische Praxis der Alten (wie der Sieben Weisen) in der lakonischen Knappheit und Kürze der Ausdrucksweise bestand. Der Historiker Herodot erwähnt in seinem Geschichtswerk (7, 226), dass der Lakedämonier Dienekes, als ihm jemand sagte, die Perser würden mit der Masse ihrer Speere und Pfeile die Sonne verdunkeln, unerschrocken erwiderte, dann könne man ja im Schatten gegen sie kämpfen. Den gleichen lakonischen Ausspruch zitiert auch Plutarch in seiner Sammlung von Beispielen für „Lakonische Redenweise“.139 Laut Plutarch soll Leonidas mit seinen Dreihundert ein gewaltiges persisches Heer an den Thermopylen aufzuhalten versucht haben. Als der Perserkönig vor Beginn der Kampfhandlungen Leonidas ein letztes Mal aufforderte, sich zu ergeben und seine Waffen auszuliefern, soll dieser geantwortet haben: „Komm und hol sie dir.“ Daraufhin 104

forderte er seine Männer auf, gut zu frühstücken, da sie ihr Mittagessen im Hades einnehmen würden. Cicero gibt diese Worte in lakonischer Prägnanz wieder (Tusk. 1, 101), wozu die lateinische Sprache besonders gut geeignet ist. Die Spartaner waren also zweifellos „lakonisch“. Denn sie liebten kurze, klare, unerwartete, schlagfertige, geistesgegenwärtige, zum Nachdenken anregende, mitunter auch zynische Formulierungen, die stets ins Schwarze trafen. Die Rede eines Lakedämoniers – so Plutarch in seinem Essay Über die Geschwätzigkeit – habe keine Rinde, sie werde vielmehr durch die vollständige Entfernung des Überflüssigen umso kräftiger und härter gemacht. Die Kürze und Schärfe und die Gewandtheit in allen Antworten sei die Frucht langen Schweigens (511 A–B). Dann zitiert Plutarch noch ein Beispiel aus einem Briefwechsel des Makedonenkönigs Philipp mit den Lakedämoniern: „Wenn ich in Lakonien einrücke, werde ich euch verjagen.“ Darauf die Lakedämonier: „Wenn.“ Plutarch meinte, wenn man die lakonische Sprechweise nachahme, werde man sich jede Art von Geschwätzigkeit abgewöhnen.

3.5 Was hat der Ödipuskomplex mit Ödipus zu tun? Der Duden definiert den Ödipuskomplex als die starke Bindung eines Kindes an den gegengeschlechtlichen Elternteil, meist eines Jungen an seine Mutter. Der Begriff „Ödipuskomplex“ wurde von Siegmund Freud geprägt. Nach Freud durchläuft jedes männliche Kind die so genannte „ödipale Phase“, welche zum ersten Mal im dritten bis fünften Lebensjahr auftritt. In dieser Phase fühlt sich das Kind zu seiner Mutter hingezogen und sieht dabei den Vater als größten Konkurrenten an. Freud entschied sich für diesen Namen, weil er Ödipus als eine Gestalt der griechischen Mythologie kannte – vor allem durch die Ödipus-Tragödie des Sophokles: Als Kind wird Ödipus mit durch105

bohrten Knöcheln ausgesetzt, da er nach einem Orakelspruch seinen Vater töten und seine Mutter heiraten sollte. Er wird aber gerettet. Ein Hirte bringt das Kind zum König von Korinth, wo es aufwächst, ohne seine Herkunft zu kennen. Einige Jahre später begibt sich Ödipus zum Orakel von Delphi, um etwas über seine Herkunft zu erfahren. Es wurde ihm aber nur noch einmal prophezeit, dass er eines Tages seinen Vater töten und seine Mutter heiraten werde. Weil er den König und die Königin von Korinth für seine Eltern hält, verlässt es den Königshof. Unterwegs trifft er mit seinem leiblichen Vater zusammen, es kommt zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf er seinen Vater erschlägt, ohne zu wissen, wer er ist. Kurz darauf hält ihn die Sphinx auf. Das geflügelte Ungeheuer brachte alle Menschen um, die ein bestimmtes Rätsel nicht lösen konnten: Was läuft morgens auf vier, mittags auf zwei und abends auf drei Beinen? Ödipus gibt die richtige Antwort: der Mensch. Daraufhin stürzt sich das Ungeheuer in einen Abgrund. Nach dieser Tat bietet Kreon, der Bruder der verwitweten Königin, Ödipus, dem Retter von Theben, die Hand seiner Schwester und die Königsherrschaft an. Ödipus heiratet unwissentlich seine Mutter, die von ihm vier Kinder bekommt. Als die beiden schließlich die Wahrheit herausfinden, erhängt sich die Mutter, und Ödipus sticht sich die Augen aus. Da er nicht wusste, dass er seinen Vater getötet hat und seine Mutter als Preis für die Vernichtung der Sphinx erhielt, ist er vom freudschen Ödipuskomplex (oder Ödipus-Konflikt) nicht betroffen. Er hatte sich auch keines Normenverstoßes durch Missachtung des Inzestverbots schuldig gemacht. In der Sophokles-Tragödie geht es auch weniger darum, dass Ödipus unschuldig schuldig wird, sondern um die Ausweglosigkeit, in die er unwissentlich geriet und die ihm durch die von ihm selbst gesteuerte hartnäckige Aufklärung der Vorgänge nach und nach immer klarer vor Augen tritt.

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3.6 Die Gelegenheit beim Schopf packen Man tut dies, wenn Kairos, der Gott der günstigen Gelegenheit, des günstigen Augenblicks plötzlich vor einem steht. Man hält ihn fest, indem man ihn sofort an seinem Haarschopf packt, der ihm in die Stirn fällt.140 Wenn man das nicht schafft, ist der Kairos verloren, und man bekommt ihn auch nicht mehr zu fassen; denn sein Hinterkopf ist kahlgeschoren und glatt. Besonders Schnäppchenjäger können ein Lied davon singen. Das „Jetzt oder nie“ des Kairos hat unterschiedliche Erscheinungsformen: Die Liebe auf den ersten Blick, die einmalige berufliche Chance, den Moment der Erleuchtung. Nur, wie erkennt man die göttliche Gelegenheit, die es zu ergreifen gilt, diesen besonderen, den geglückten, den richtigen, den angemessenen, den lebensverändernden Moment? Erkennt man ihn überhaupt? Ist er ein Geschenk oder setzt er Anstrengung voraus? Kann man ihn berechnen? Die „Philosophen der Antike“ – so Christoph Kecklich141 – konnten noch glauben, dass es objektive Momente des Kairos gebe. Heute habe man erkannt, dass auch Selbsterkenntnis und ein Gespür für sich selbst hinzukommen müsse, damit der Mensch die wahrhaft richtige Gelegenheit erkennen könne, das heißt man muss die Disposition für das Erkennen eines Kairos üben und trainieren. Nur wer sich durch Übung oder mentales Training auf die Chancen einstellt, kann sie auch ergreifen. Man muss sich also selbst zum „Meister der richtigen Augenblicke“ ausbilden. Indem man sich übend vorbereitet auf den Moment, der sich nur zeigt, wenn man sich vorbereitet hat. Der Autor dieses verdienstvollen Artikels erwähnt zwar „Philosophen der Antike“ und behauptet, dass diese noch hätten glauben können, es gebe „objektive Momente des Kairos“. Hinweise auf entsprechende Fundstellen enthält die Abhandlung aber nicht. Darum ist es notwendig, die Ansicht, die den „Philosophen der Antike“ unterstellt wird, zu lokalisieren und zu prüfen. 107

Was bedeutet Kairos in antiken Texten?142 Um ein Ergebnis vorweg zu nehmen: Schon in der Antike kannte man sowohl objektive als auch subjektive Momente des Kairos: „Dies ist das Ergebnis der Forschungsarbeit des Herodot aus Halikarnassos, damit die Leistungen der Menschen nicht mit der Zeit verloren gehen und große und bewundernswerte Taten der Griechen und der Nichtgriechen nicht aus dem Gedächtnis gelöscht werden ...“ Das Zeitkonzept, über das Herodot im Proömium seines Werkes Auskunft gibt, schließt die Erwartung ein, dass die Zeit alles Geschehene vertilgt, wenn es nicht konserviert wird. Der „Vater der Geschichtsschreibung“ hat also den Kairos genutzt und ein Werk gegen die alles vernichtende Zeit geschaffen. Thukydides schreibt die Geschichte des Peloponnesischen Krieges, um die Vergangenheit in den Blick zu bekommen und auch der Zukunft zu dienen, sodass er sein Werk selbstbewusst als einen „Besitz für immer“ charakterisieren kann (1, 22). Auch Thukydides ergreift den Kairos und hält fest, was andernfalls mit der Zeit verloren gegangen wäre. In der Tragödie ist von der „alles bezwingenden Zeit“ die Rede (Sophokles, Ödipus auf Kolonos 609): Die Zeit enthüllt, erfüllt, besiegt, vollendet, zerstört. Im Zeitkonzept der Tragödie ist die Katastrophe der Anti-Kairos, in dem sich Zeit zu einem Augenblick größten Unglücks zusammenzieht. Wenn Zeit die Summe aller Tage und Nächte ist, kann sie auch zuverlässig gemessen werden. Dazu ist es gar nicht notwendig zu wissen, dass der regelmäßige Wechsel von Tag und Nacht durch die Bewegung der Erde um die Sonne verursacht wird. Allerdings hat das durch den Tag bedingte Bewusstsein für Zeit auch seine „Schattenseite“: Der Mensch ist ein „Tageswesen“, weil er dem Tag mit seinen Gefahren und Chancen ausgeliefert ist. Denn er ist nur das, was der Tag aus ihm macht: „Genauso ist das Empfinden der Menschen ..., wie der Tag, den Zeus über sie bringt“ (Archilochos 131 West). In 108

einem Jambus des Semonides (1 West) heißt es: Die Menschen haben keinen Durchblick, sondern leben wie das Vieh von einem Tag auf den anderen und wissen nicht, wie Gott schließlich alles vollenden wird (beziehungsweise wie jeder einzelne Tag enden wird). Das lebenslange Ausgeliefertsein an den Tag wird zum ersten Mal bei Hesiod (Erga 694) unterbrochen: Die aufmerksame Wahrnehmung und kluge Nutzung des Kairos, des günstigen Augenblicks, bedeutet den aktiven Zugriff auf die Zeit und unterbricht ihren linearen Ablauf. Für einen Moment bleibt die Zeit stehen. Bei Pindar (Vierte Pythische Ode 286 f.) wird der Kairos zu dem kurzen Augenblick, den es zu nutzen gilt. Pindars großer Verehrer Horaz hat diesen Gedanken mit seinem Imperativ Carpe diem (→ Kap. 1.2) aufgegriffen. Um sich nicht in den philosophischen Dimensionen 143 des Zeitbegriffs zu verlieren, sollte man nur am Rande erwähnen, dass das schlichte Adverb „jetzt“, der „Jetztpunkt“ im „Immer sein der Zeit“ nicht nur ein zentraler Gedanke im Zeitkonzept des Aristoteles ist, sondern auch den Kairos als einen Ausbruch aus dem Fluss der Zeit charakterisiert. Denn das bewusst erlebte „Jetzt“ vermittelt nicht nur zwischen Vergangenheit und Zukunft; es indiziert auch die Gegenwart eines Kairos. Da für Aristoteles Zeit nicht ohne Veränderung sein kann (Physik 10, 218 b 18–11), ist – so können wir folgern – auch der Kairos ein Resultat von Veränderung und zugleich eine Chance für Veränderung. Der Kairos ist der nicht wiederholbare Augenblick, in dem plötzlich bestimmte Umstände und Vorgänge zusammentreffen und sich verbinden können. Das Erkennen und Nutzen dieses flüchtigen Augenblicks ist eine Voraussetzung gelingenden Handelns. Aber niemand wird dazu gezwungen, den Kairos zu beachten. Er ist nur ein Angebot, das man annehmen, eine Gelegenheit, die man ergreifen, eine Chance, die man nutzen, ein Zeitpunkt, auf den man hoffen, ein Vorteil, den man verspielen, eine Möglichkeit, die man verwirklichen kann. Vielleicht ist er auch der Lebenspunkt, in dem „des Glückes 109

Fäden, die Gelegenheiten,... zusammengedrängt den schweren Früchteknoten bilden“.144 Wer aber den Kairos vorübergehen lässt, verfehlt sein Ziel. Dieses Bild ist durchaus wörtlich zu nehmen: Wer das Pferd seines Gegners im Kampf töten will, zielt auf das kairíon; das ist die Stelle des Körpers, wo die Wunde tödlich ist. Der Pfeil des trojanischen Prinzen Paris trifft Nestors Pferd in die Stirn, wo die Mähne beginnt (Ilias 8, 80–85). Der verwundete Menelaos kann dagegen in einer für ihn gefährlichen Situation seinen Bruder Agamemnon beruhigen: „Der spitze Pfeil traf nicht an einer tödlichen Stelle (kairíon, Ilias 4, 185). Ein Speer durchschlägt Schild und Panzer des Odysseus und dringt in den Brustkorb ein, aber nicht kata kairíon, nicht so tief also, dass er eine tödliche Verletzung hervorriefe. Im Agamemnon des Aischylos bittet Kassandra (→ 2.6: Kassandra) die Götter darum, von einem tödlichen Schlag (kairía plegē) getroffen zu werden, um schnell zu sterben (1292). Agamemnon spürt noch, wie er tödlich getroffen (kairíōs utasménos) wurde (1343 f.). Aber Aischylos lässt es nicht nur zu, dass Klytaimnestra ihren Gatten Agamemnon an der richtigen Stelle und auch am richtigen Ort und zur richtigen Zeit erschlägt, sondern dass sie auch die passenden Worte spricht (Agamemnon 1372) – vor und nach der Bluttat, die ihr ja auch nur gelingt, weil sie den Kairos zu nutzen versteht. Hier sind passende Worte nicht etwa wahre oder ehrliche, sondern situationsgerechte Worte: „Vorhin sprach ich viele passende, zweckdienliche Worte (um Agamemnon in die Falle zu locken); jetzt, nachdem ich mein Ziel erreicht habe, scheue ich mich nicht, das Gegenteil zu sagen.“ Dass es passende, zweckdienliche Worte waren, konnte Klytaimnestra allerdings erst erkennen, nachdem sie ihre Tat vollzogen hatte. Mit ihren passenden Worten stellt sich Klytaimnestra in die Tradition der Rhetorik: Im platonischen Phaidros (272a) wird die Fähigkeit, die Gelegenheiten richtig einzuschätzen und herauszufinden, wann man reden und wann man schweigen muss, zu den Grundlagen 110

kunstgerechter Rede gezählt – unabhängig davon, ob man sie nun zu guten oder zu bösen Zwecken verwendet. In diesem Sinne hob schon der Sophist Gorgias die Bedeutung der richtigen Einschätzung des Kairos hervor: Das Notwendige, wenn es notwendig ist, zu sagen oder zu verschweigen, zu tun oder zu lassen, bedeutet Nutzung des Kairos (VS 82 B 6). Für den Gorgias-Schüler Isokrates ist die Fähigkeit, dem Kairos entsprechend zu reden und zu handeln, ein Kerngedanke seiner Philosophie und Rhetorik. Der gesunde Menschenverstand ist für ihn nichts anderes als die richtige Einschätzung des Kairos in unterschiedlichen Lebens- und Redesituationen. Es wäre jedoch nicht im Sinne des Kairos und es würde zu weit führen, wenn man an dieser Stelle noch ausführlicher auf die Rolle des Kairos in der Rhetoriktheorie einginge. Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass der Kairos durch Cicero (= occasio) und Quintilian (= tempus speciale) zu einem Topos der rhetorischen Argumentation erhoben wird.145 Für Cicero ist jedoch die Wahrnehmung „des richtigen Augenblicks“ weit mehr als eine Regel der Rhetorik. In Off. 1, 142 spricht er unter Berufung auf die Stoiker über den richtigen Zeitpunkt des Handelns (de opportunitate temporum): „Sie sagen, der Ort einer Handlung sei der richtige Zeitpunkt; aber die für eine Handlung richtige Zeit, auf griechisch eukairía, heißt auf lateinisch occasio, die gute Gelegenheit.“ Wenn auch das Treffen des Kairos die Voraussetzung für das Gelingen einer Handlung ist, so scheint es doch ausgeschlossen zu sein, den richtigen Augenblick gezielt herbeizuführen. Man kann den Kairos nicht planen, man kann ihn nur nutzen. Das ist wohl auch der Sinn des ersten hippokratischen Aphorismus: „Das Leben ist kurz. Die Kunst ist lang. Der richtige Augenblick rasch vergangen.“ Goethe gibt diesen Worten am Anfang des Lehrbriefes für Wilhelm in Wilhelm Meisters Lehrjahre die folgende Fassung: „Die Kunst ist lang, das Leben kurz, ... die Gelegenheit flüchtig.“ Die „chronologische Asymmetrie“ von Leben und Kunst146 wird durch die Flüchtigkeit der 111

(günstigen) Gelegenheit beziehungsweise des rechten Zeitpunkts in der an sich schon knappen Zeit erheblich verschärft. Mit der Metapher occasio für Kairos wird ebenfalls veranschaulicht, dass wir die passende Gelegenheit nicht planen können, weil sie uns „zu-fällt“ (occidit) und wir sie nur ergreifen, aber nicht schaffen können. Sieht man im Kairos die günstige Gelegenheit, den richtigen Augenblick oder die rechte Zeit, dann zeigt der Begriff nicht nur seine quantitative, sondern auch seine qualitative Bedeutung. So hat schon Platon im Politikos (284e) zwei Arten der Messkunst unterschieden: das Messen von Längen, Breiten und Geschwindigkeiten und das Messen mit dem Maßstab des Maßvollen, des Angemessenen, der passenden Gelegenheit (Kairos), der Pflicht und der Vermeidung des Extremen (→ 1.4: Nichts zu sehr. Nichts übertreiben). Im Philebos (66a) hebt Platon hervor, dass die erste Voraussetzung des guten Lebens das Maß, das Maßvolle und das Passende, das zur rechten Zeit und am richtigen Ort Geschehende ist. Um den Kairos treffen zu können, benötigt man allerdings Vernunft (so Platon, Nomoi 687a). Auch bei Cicero hat der Kairos (occasio) eine qualitative Füllung: Die Gelegenheit ist der Teil der Zeit, der die Möglichkeit bietet, etwas Bestimmtes zu tun oder nicht zu tun (De inventione 1, 40). Während mit Zeit nur ein Zeitraum (spatium) gemeint ist, wird beim Kairos die günstige Gelegenheit, etwas zu tun, hinzugedacht. Kairos und occasio gehören zu den Grundbegriffen, an denen der Mensch sein Handeln zu orientieren versucht: Hesiod (Erga 641 f.) wendet sich an seinen Bruder Perses: „Du aber, mein Perses, denke bei jeder Tätigkeit an die passende Zeit ... und achte auf das richtige Maß; der Kairos, die Passung, ist bei allen Dingen das Beste.“ Hesiods Erga (764–827) sind daher eine Darstellung der richtigen Tage des Zeus, die man nutzen muss, damit das Leben gelingt. Diese frühe Verwendung des Wortes veranschaulicht, was gemeint ist: Kairos ist die (vorübergehende) Gelegenheit, in der alles gut „gelegen“ ist und passend bei einander „liegt“. Hier geht es aber nicht um die Unver112

einbarkeit des Gleichzeitigen oder um die Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren, sondern um die Gleichzeitigkeit des (potentiell) Vereinbaren, das es geistesgegenwärtig und tatkräftig zu vereinbaren gilt. Platon, der sich oft vorphilosophischer Denkmuster bedient, benutzt den Kairos, um eine Bedingung erfolgreichen Handelns zu bezeichnen: Alles gelingt besser, wenn man seinen Fähigkeiten entsprechend und zur rechten Zeit handelt. Lässt man den Kairos ungenutzt, scheitert das Vorhaben (Politeia 2, 370b). Man kann den Kairos aber nur dann am Schopf fassen, wenn man etwas von der Sache versteht, um die es geht. Daraus folgt für Platon: Jeder soll nur das tun, was er wirklich kann, und sich sein Leben lang damit beschäftigen (→ 6.1: Jedem das Seine). Nur so gelingt es ihm, günstige Gelegenheiten nicht zu verpassen (Politeia 2, 374b–c). In diesem Sinne ist auch für Aristoteles der Kairos die richtige Gelegenheit auf unterschiedlichen Fachgebieten: So gründet sich zum Beispiel die Feldherrnkunst auf das Wissen vom Kairos im Krieg, wie die erfolgreiche Medizin auf der Berücksichtigung des Kairos bei der Behandlung des Kranken beruht (NE 1, 6, 1096 a 32). Im Bereich des Handelns – so Aristoteles – gibt es nichts Stabiles: der Handelnde ist stets auf sich selbst gestellt und muss sich nach den Erfordernissen des Augenblicks richten (NE 2, 2, 1104 a 8); das gilt für die Medizin ebenso wie für die Kunst des Steuermannes. Für die Wahl des richtigen Augenblicks ist es aber charakteristisch, dass unvorhersehbare Erfordernisse auf den ersten Blick sinnwidrige Aktionen, wie zum Beispiel der Verzicht auf wertvolle Ladung bei Seesturm, zu sinnvollen, weil rechtzeitig unternommenen Handlungen werden (NE 3, 1, 1110 a 13). Am Beispiel vom Seesturm und der Notwendigkeit einer klugen Ausmittelung situativer Möglichkeiten zeigt sich besonders deutlich, wie gefährlich es sein kann, den Kairos aus Furcht vor dem Risiko zu verfehlen oder zu ignorieren. Es ist jetzt „an der Zeit“, an einen griechischen Text mit einem leidenschaftlichen Appell zur Nutzung des Kairos zu erinnern und die113

sen anschließend mit einem „Drama des verfehlten Kairos“ (Harald Weinrich) in Verbindung zu bringen. Demosthenes stellte das Kairos-Motiv in das Zentrum seiner Ersten olynthischen Rede,147 um die Athener zum Widerstand gegen Philipp II. von Makedonien, den Vater Alexanders d. Großen, zu mobilisieren. Das „Drama des verfehlten Kairos“ ist Schillers 1798 und 1799 in Weimar uraufgeführte Wallenstein-Trilogie. 148 Der Vergleich des Wallenstein mit der Demosthenes-Rede aus dem Jahr 349/348 vor Chr. wird sich unter dem Zwang der „knappen Zeit“ auf den Topos des Kairos beschränken. Die Situation ist trotz aller Unterschiede im Kern identisch: Demosthenes versucht, seine athenischen Mitbürger zum Widerstand gegen Philipp II. zu mobilisieren und die vom Makedonen-König ernsthaft bedrohte Stadt Olynthos zu unterstützen: Es war eine einzigartige Gelegenheit, ein Kairos (Erste Olynthische Rede 2), dem sich tatenlos hinschleppenden Kriegszustand mit Philipp eine aktive Wendung zu geben.149 Demosthenes setzt alles daran, der athenischen Öffentlichkeit zu verdeutlichen, dass sich jetzt die Gelegenheit zu einem entscheidenden Eingreifen in das Geschehen biete. Wenn Athen sich dazu entschließe, die besondere Gunst der Umstände zu nutzen, habe es die vielleicht letzte Chance, den Lauf der Geschichte zu ändern. „Ihr dürft euch also, Männer von Athen, eine solche Gelegenheit, wie sie uns zugefallen ist, nicht entgehen lassen“ (Erste Olynthische Rede 8). Aber auch wenn Demosthenes den Kairos aus einer klarsichtigen machtpolitischen Analyse herleitet, verzichtet er nicht darauf, diesem eine religiöse Begründung zu geben: Der Kairos ist eine besondere Gabe der Tyche, der Schicksalsfügung, der man seine Dankbarkeit beweist, indem man dieses Geschenk annimmt und nutzt. Der Kairos ist hier offensichtlich „eine unmittelbar erlebte religiöse Realität“, die sogar personifiziert und bildlich dargestellt wird. 150 Indem Demosthenes die religiöse Komponente des Kairos so stark hervorhebt, brandmarkt er die Missachtung der mit ihm gegebenen Chance nicht nur als selbstverschuldetes Unglück, 114

sondern auch als religiösen Frevel. Denn wer aus Trägheit oder Gleichgültigkeit den richtigen Augenblick nicht nutzt, verzichtet darauf, die Hand zu ergreifen, die einem die Gottheit entgegenstreckt. Die religiöse Überhöhung des Kairos lässt die politische Pflicht zum Handeln und die Pflichtverletzung durch Unterlassung mit aller Schärfe hervortreten (→ 8.7: Tun oder Nichtstun). Der religiöse Rechtfertigungsgrund für die tatkräftige Nutzung des Kairos wird von Demosthenes mit dem Hinweis auf die machtpolitischen Auswirkungen dieser Nutzung geschickt verknüpft und als Aufforderung zu entschlossenem Handeln definiert. Die von den Olynthiern erbetene und von Demosthenes geforderte Unterstützung kommt zu spät. Philipp II. hatte Olynthos im September 348 eingenommen und dem Erdboden gleichgemacht, ehe die athenischen Truppen an Ort und Stelle waren. Der Kairos wurde also durch Verzögerung aus Mangel an Entschlossenheit und materieller Opferbereitschaft und aus Gleichgültigkeit und Eigennutz verspielt. Als ein Mann, der den Kairos zu nutzen verstand und ausgesprochen entscheidungsfreudig war, wird Caesar in den einschlägigen historischen Quellen beschrieben. So lässt er die kilikischen Seeräuber, die er unmittelbar nach seiner Freilassung gefangen genommen hatte, unverzüglich kreuzigen.151 Caesars Erfolge erklärt Plutarch (Caesar 26) ausdrücklich mit seiner Fähigkeit, „alle Vorteile geschickter als jeder andere und die sich ihm darbietenden Gelegenheiten umfassend zu nutzen“. Sein schnelles und entschlossenes Handeln verschaffte Caesar nicht zuletzt auch den Sieg über Vercingetorix (Plutarch, Caesar 26– 27). Selbst vor der Überschreitung des Rubikon in der Nacht vom 10. bis 11. Januar 49 zögerte er nicht (Plutarch, Caesar 32), bis es zu dem legendären Ausruf kam: „Der Würfel soll geworfen sein!“ Die anschließenden Maßnahmen vollzog Caesar wieder in größter Geschwindigkeit (→ 1.6: Handeln nach dem Rubikon-Prinzip?). Seine Schnelligkeit wird zitierfähig: Nach dem Sieg über Pharnakes (47 v. Chr.) kommentiert er seinen Erfolg mit Veni, vidi, vici (Sueton, 115

Divus Iulius 37, 2). Dass er in militärischen Auseinandersetzungen stets die Gelegenheit und die Gunst des Glücks geschickt zu nutzen verstand, erwähnt wieder Plutarch (Caesar 53). Sueton (Divus Iulius 60, 1) hebt rühmend hervor, dass Caesar seine Schlachten nicht nur nach vorgefasstem Plan, sondern auch auf Grund günstiger Gelegenheiten (ex occasione) begann. Dafür gibt es zahlreiche Belege auch in Caesars eigenen Schriften. Der Vergleich Caesars mit Alexander gehört zum Standardrepertoire der Caesar-Überlieferung.152 Nach Sueton (Divus Iulius 7) sei Caesar beim Anblick einer Alexander-Statue bewusst geworden sein, dass er in einem Alter (von 32 Jahren), in dem Alexander schon die Welt unterworfen habe, noch nichts Denkwürdiges geleistet habe. Unverzüglich forderte er seine Beurlaubung von seinem Amt (er war Quästor in Spanien), um sobald wie möglich Gelegenheiten zu größeren Taten in Rom zu nutzen. Hier wird also die Erinnerung an Alexanders fulminante Karriere für Caesar zum Ansporn, die Gelegenheiten, die Kairoi für große Taten im Zentrum der Macht beim Schopf zu packen.

3.7 Antigone: Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da Commissario Brunetti153 liest abends nach getaner Arbeit in Sophokles’ Antigone. Er kommt in seinem siebenundzwanzigsten Fall nicht so recht weiter und erklärt resignierend, dass wohl nicht einmal Sophokles eine Lösung gefunden hätte. Da ist er auf der richtigen Spur. Denn darin besteht gerade der Unterschied zwischen einem Kriminalroman und einer griechischen Tragödie: Diese liefert im Gegensatz zu jenem selten eine allseits befriedigende Lösung. Brunetti liegt ganz richtig, wenn er meint, die Tragödie stelle nur Fragen. Das sei wie im richtigen Leben und unterscheide sie von einem Roman mit einem Happy End. 116

Das Motto des Brunetti-Romans stammt aus Georg Friedrich Händels Oratorium Esther (2. Akt, 3. Szene): „Das Gesetz verurteilt, die Liebe verschont.“ Ist dieses Zitat eine Anspielung auf Antigones berühmten Ausspruch: „Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da“? Es scheint so, als ob sich Brunetti durch diesen Satz verunsichert fühlt, als sein Fall kurz vor der Aufklärung steht. Denn er schwankt, ob er eine geständige Täterin – es geht um Versicherungsbetrug – der Justiz übergeben soll oder nicht. Er entscheidet sich dafür, seine Pflicht als Polizist zu erfüllen. Er tut also dasselbe wie Kreon in der Tragödie: Er hält sich an das Gesetz und lässt die Täterin nicht einfach laufen, obwohl „menschliche“ Gründe dafür gesprochen hätten. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen Kreon und Brunetti: Der Commissario ist der Vertreter eines Rechtsstaats, in dem Gesetze zu respektieren sind. Kreon ist ein autonomer Herrscher, der seine eigenen Gesetze macht und durchsetzt. Er wäre allerdings gut beraten gewesen, wenn er von vornherein darauf geachtet hätte, dass seine Maßnahmen und Gesetze nicht gegen die „göttlichen“ Gesetze verstießen. Was hat nun Antigone mit der biblischen Esther zu tun? Warum liest Brunetti die Sophokles-Tragödie? Will er mit der Hilfe des antiken Dichters die vielfältigen Tragödien seiner venezianischen Gegenwart besser verstehen? Experimentiert er mit der Frage, wie man Menschen von ihren verhärteten Ansichten abbringt und sie zu einem echten Gespräch miteinander veranlasst, damit es nicht zu einer Katastrophe kommt, wie im Fall „Antigone gegen Kreon“? Antigones Worte in der gleichnamigen Tragödie des Sophokles (Vers 523) sollten im Streit zwischen ihr und Kreon, dem König von Theben, der Deeskalation dienen. Kreon aber bleibt bei seiner Entscheidung, ihren toten Bruder Polyneikes nicht zu bestatten. Denn er will den „Verräter“ anders behandelt wissen als dessen Bruder Eteokles, den „Guten“. Aber Antigone will Polyneikes nicht mit Kreon gemeinsam hassen, sondern beide Brüder mit ihm gemeinsam lieben. Sie weigert sich, einen Unterschied zwi117

schen ihren Brüdern zu machen. Denn dieser Unterschied werde wohl auch in der Unterwelt nicht gelten (Vers 521). Man kann Antigones Verhalten unverständlich finden, und Kreon hätte die Unbedingtheit ihres Handelns respektieren können, aber nur auf das Risiko hin, seine Machtstellung zu gefährden und sich dem Vorwurf auszusetzen, seinen eigenen Gesetzen ungehorsam zu sein. „Antigone ist der unübertreffliche Typus einer fundamentalistischen Diskursverweigerin. Ihre Pflicht, den Bruder zu begraben, gründet in einem unvordenklichen Gesetz der Götter, das zugleich dem Gesetz des Herzens entspricht. ‚Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.‘ Kreon, der König, hat für sein Verbot Gründe der Staatsräson.“154 Trotz allem – so mahnt uns der Dichter – darf das Politische nicht maßlos werden und die Orientierung an dem „Heiligen“ verlieren, das allem Politischen vorausliegt. Der Dichter entscheidet sich für die Menschlichkeit, indem er Antigone aus Ehrfurcht vor den Göttern gegen die staatlichen Gesetze verstoßen lässt, obwohl sie damit ihr Leben verwirkt. Sie ist in ihren Entscheidungen freier als Kreon, der das Gesetz zu achten hat. Antigone hatte Entscheidungsfreiheit. Kreon hatte sie nicht; er musste in seiner Rolle als König den staatlichen Gesetzen Folge leisten. Commissario Brunetti erwähnt Sophokles und die Antigone fast zwanzigmal, ohne anfangs zu wissen, dass er bei der Aufklärung des Falles selbst am Ende in die Situation des Königs von Theben gerät. Oder vielleicht sieht er sich nicht vielmehr noch in Ismenes Rolle, die ihrer Schwester Antigone nicht hatte beistehen können? „Ich habe nicht die Kraft, Gesetze zu brechen, die dem Gemeinwohl dienen sollen“ (S. 118). Der Chor der thebanischen Greise kann die Unlösbarkeit des Konflikts nur noch kommentieren, indem er hilflos und verzweifelt in eine Reflexion über die Widersprüchlichkeit des Menschen und die Ambivalenz seiner Möglichkeiten ausweicht: „Ungeheuer ist vieles auf der Welt, aber nichts ist ungeheurer als der Mensch“ (Sophokles, Antigone 331 f.). 118

Thomas Assheuer (Z., 14. 11. 2013) zitiert diesen Satz übrigens in einem Artikel über Joshua Oppenheimers Dokumentarfilm „The Act of Killing“, in dem indonesische Massenmörder ihre Taten nachstellen. Anscheinend erwähnt man diesen Satz immer dann, wenn man von furchtbaren Taten liest oder hört, die das normale Vorstellungsvermögen übersteigen. Brunetti reflektiert nicht weiter über die Ambivalenz menschlicher Möglichkeiten. Auch seine Frau Paola kann seinen Zweifel nicht zerstreuen: „Denk an Antigone: Wer hat recht? Antigone? Kreon? Ihre Tat hat niemandem geschadet: Aber durfte sie deswegen gegen das Gesetz verstoßen? Sie sagt, sie gehorcht dem göttlichen Gesetz, sie tut, was die Menschlichkeit gebietet, also darf sie das Gesetz brechen? Brunetti erwidert nichts. Weder er noch Sophokles hatte eine Antwort“ (S. 297 f.). Wahrscheinlich war dieses kurze Gespräch mit Paola für seine spätere Entscheidung ausschlaggebend. Er empfindet starkes Mitgefühl mit der Täterin, handelt aber am Ende im Sinne des Gesetzes. In Commissario Brunettis siebenundzwanzigstem Fall bildet zwar Sophokles’ Antigone den Hintergrund, mit dessen Aufhellung die Beweggründe des Kommissars nachvollziehbar sind.155 Andererseits veranlasst der Fall auch dazu, Antigone in einem anderen Licht zu sehen. Brunetti hat dem Leser der Gegenwart die antike Tragödie wieder näher gebracht, indem er ihn auch Mitgefühl für den scheinbar so unmenschlichen Tyrannen Kreon empfinden lässt.

3.8 Wozu brauchen wir Mitleid? Der Stoiker sieht im Freisein von jeglichen Gefühlen, in der Apathie, eine Bedingung für Glück. Der stoische Weise kenne keine Gnade und verzeihe kein Vergehen. Er lasse sich nicht durch Bitten erweichen oder beschwichtigen. Nur der Tor empfinde Mitleid. Gegen diese Verherrlichung der stoischen Apathie erhob der Kirchenvater 119

Laktanz schärfsten Widerspruch. Menschlichkeit sei den stoischen Philosophen fremd. „Denn mit ihren falschen Vorstellungen vom Wesen der Tugend haben sie das Mitleid aus der Seele des Menschen getilgt; und während sie die Fehler heilen wollen, haben sie sie vergrößert. Und obwohl sie meistens dazu stehen, dass man am Zusammenhalt der menschlichen Gemeinschaft festhalten müsse, entfernen sie sich mit der Härte ihres unmenschlichen Tugendbegriffs deutlich von dieser.“ Man kann hier vielleicht sogar von einem Terror der Tugend sprechen.156 Geradezu zynisch klingt es, wenn man Kant mit einem stoischen Unterton sagen hört:157 „Wenn ein anderer leidet und ich mich durch seinen Schmerz, dem ich doch nicht abhelfen kann, auch (vermittels der Einbildungskraft) anstecken lasse, so leiden ihrer zwei; obzwar das Übel eigentlich (in der Natur) nur Einen trifft. Es kann aber unmöglich Pflicht sein, die Übel in der Welt zu vermehren, mithin auch nicht aus Mitleid wohl zu tun; wie dann dieses auch eine beleidigende Art des Wohltuns sein würde, indem es ein Wohlwollen ausdrückt, was sich auf den Unwürdigen bezieht und Barmherzigkeit genannt wird.“ Während bei Homer und den Dichtern der Tragödie das Mitleid als ein wesentliches Merkmal des menschlichen Daseins galt, lehnte auch Sokrates es grundsätzlich ab, seine Richter um Mitleid zu bitten; er wünschte sich lediglich einen fairen Prozess (Platon, Apologie 34c– 35d). In der Politeia (10, 605e–606b) fordert Platon, dass sich die Erziehung nicht mehr auf Homer oder die Tragiker stützen solle, da das Mitleiden, das diese Autoren erweckten, die Jugend vom rechten Weg zur Erkenntnis abbringe. Eine umfangreiche Beschreibung des Phänomens legte Aristoteles in seiner Rhetorik (1385 b 13–1386 b 13) vor. Zunächst gibt er eine Definition: (a) Mitleid ist ein Schmerz über ein schlimmes Ereignis, das jemanden trifft, ohne dass er es verdient hat, und von dem man annehmen kann, dass es auch einem selbst oder einem engen Angehörigen passieren könnte (→ 1.9: Homo sum). 120

(b) Alles, was mit Leid und Schmerz verbunden ist, kann unser Mitleid erwecken. (c) Man empfindet Mitleid mit Menschen, die man kennt oder die einem irgendwie sonst nahestehen. In der NE (2, 1105 b 21–1106 a 21) zählt Aristoteles das Mitleid zu den Affekten. Mitleid ist also keine Tugend. Auch Seneca stellt in seiner Schrift De clementia (2, 4–7) fest, gute Menschen würden Güte und Sanftmut zeigen, Mitleid aber vermeiden. Denn Mitleid sei Zeichen eines beschränkten Geistes. Gefühle aber lasse der Weise nicht entstehen, weil sie ihm den Blick auf die Wirklichkeit trüben würden: „An dieser Stelle ist es angebracht zu fragen, was Mitleid ist. Die meisten loben es wie eine Tugend und nennen den Mitleidigen einen guten Menschen. Und dabei ist Mitleid ein Fehler der Seele. Beides steht im Zusammenhang mit Strenge und Milde, die wir vermeiden müssen. Denn wenn wir Strenge zeigen, verfallen wir leicht in Grausamkeit, wenn wir Milde walten lassen, in Mitleid. Dabei geraten wir zwar in einen weniger gefährlichen Irrtum, aber es bleibt gleichermaßen ein Irrweg, da man von der Wahrheit abweicht. Wie also die Gottesfurcht die Götter verehrt, der Irrglaube sie verletzt, so werden alle guten Männer Milde und Sanftmut zeigen, Mitleid aber vermeiden. Denn es ist ein Fehlverhalten einer schwachen Seele, wenn sie beim Anblick fremden Leids zusammenbricht. Deshalb ist es gerade den Schlechtesten besonders vertraut. Es sind alte, weinerliche Frauen, die sich durch die Tränen der übelsten Typen rühren lassen und den Kerker aufbrechen würden, wenn es möglich wäre. Mitleid hat eben nicht die Ursache, sondern das gegenwärtige Schicksal im Blick. Milde ist mit Vernunft verbunden. Ich weiß, dass die stoische Philosophie bei Leuten mit mangelndem Sachverstand in einem schlechten Ruf steht, weil sie angeblich zu hart sei und Fürsten und Königen keinen guten Rat erteile. Es wird ihr vorgeworfen, dass sie einem Weisen verbiete, Mitleid zu empfinden und zu verzeihen. Wenn man dies für sich betrachtet, ist es abzulehnen. Denn diese Einstellung scheint menschlichen Verfehlungen keine Hoffnung zu 121

lassen, sondern alle Vergehen der Bestrafung zu unterziehen. Wenn das wirklich so ist – welchen Wahrheitsanspruch kann diese Lehre erheben, die verlangt, die Menschlichkeit zu verlernen und den sichersten Schutz vor dem Schicksal, die gegenseitige Hilfe, die Solidarität, verweigert? Doch in Wirklichkeit ist keine Schule gütiger und menschenfreundlicher, keine liebt die Menschen mehr und keine kümmert sich intensiver um das allgemeine Wohl, um ihre Absicht zu verwirklichen, nützlich und hilfreich zu sein und nicht nur für sich allein, sondern für alle zusammen und für jeden Einzelnen zu sorgen. Mitleid ist ein seelischer Schmerz beim Anblick fremden Elends oder Trauer aufgrund fremden Leides, von dem man annimmt, es geschehe unverschuldet. Aber seelischer Schmerz überkommt keinen weisen Mann. Heiter ist seine Seele, und nichts kann geschehen, das sie verdunkelt. Für einen Menschen gibt es keine größere Zierde als innere Größe. Aber Größe und Kummer sind nicht zu vereinbaren. Traurigkeit zerrüttet die Seelen, wirft sie zu Boden, nimmt ihnen die Luft. Das wird dem Weisen nicht einmal in seinem eigenen Unglück passieren. Er wird vielmehr allen Zorn des Schicksals zurückschlagen und vor sich zusammenbrechen lassen. Er wird immer denselben Gesichtsausdruck bewahren, friedlich, unerschütterlich, was er nicht schaffen könnte, wenn er Niedergeschlagenheit zuließe. Füge noch hinzu, dass der Weise Unglücksfälle voraussieht und schnell Rat weiß. Niemals aber kommt ein gut durchdachter Ratschlag aus der Aufregung. Niedergeschlagenheit ist unfähig, die Lage richtig zu durchschauen, Nützliches auszudenken, Gefahren zu vermeiden, Schaden angemessen zu beurteilen. Also hat der Weise auch kein Mitleid, weil dies ohne seelisches Leiden nicht möglich ist. Aber alles andere, was meiner Ansicht nach die Mitleidigen tun sollen, wird er gern und großzügig tun. Er wird dafür sorgen, dass andere Leute keine Tränen mehr vergießen müssen, selbst aber keine vergießen. Er wird dem Schiffbrüchigen die Hand reichen, dem Verbannten Gastfreundschaft gewähren, dem Bedürftigen eine Spende geben, aber keine demüti122

gende, wie sie die Mehrheit der Menschen, die mitleidig erscheinen wollen, den Armen hinwirft und von denen angeekelt ist, denen sie hilft, und Angst davor hat, von ihnen angefasst zu werden. Der Weise wird vielmehr wie ein Mensch einem Menschen aus dem Besitz, der allen gehört, etwas geben. Er wird den Tränen der Mutter den Sohn zurückgeben, ihm seine Ketten abnehmen lassen, ihn aus der Gladiatorenschule holen, und er wird den Leichnam auch eines Schuldigen beerdigen (→ 3.7: Antigone: Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da): Aber er wird dies tun ohne jede Aufregung und ohne sein Gesicht zu verziehen. Also wird der Weise kein Mitleid empfinden, sondern helfen und nützen,158 weil er zur Unterstützung der menschlichen Gemeinschaft und zum öffentlichen Wohl geboren ist, von dem er jedem seinen Teil gibt.“ Das Mitleid, wie Seneca es versteht, ist ein vernunftgesteuertes Mitgefühl, das ein möglicherweise lähmendes Mit-Leiden vermeidet und einen klaren Handlungsimpuls gibt. Aus diesem Mitleid erwächst die Frage nach der angemessenen Hilfe für denjenigen, der die Hilfe braucht. So wird auch vermieden, dass das Mitleid mit einem Opfer unter Umständen in das Bedürfnis nach Rache an dem Täter umschlägt. Seneca appelliert an die Vernunft, damit man nicht von seinen Affekten überwältigt und handlungsunfähig wird oder das Falsche tut. Er rät, die richtige Mitte zwischen Gefühl und Vernunft zu suchen, um zum richtigen Zeitpunkt (→ 3.6: Die Gelegenheit beim Schopf packen) und an der richtigen Stelle zu helfen und wirklich nützlich zu sein.

3.9 Reich wie Krösus Spätestens seit der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. ist der Reichtum des Krösus sprichwörtlich.159 Später räsoniert Ovid in seinen Briefen von Schwarzen Meer (4, 3, 35–37): „Alles Menschliche 123

hängt an einem dünnen Faden, und was mächtig war, bricht plötzlich zusammen. Wer hat noch nichts von der Macht des reichen Krösus gehört?“ Auf die Gefahren und Versuchungen übermäßigem Reichtums weist der kaiserliche Poet Martial hin: „Es ist schwierig, den Charakter nicht der Macht und dem Reichtum auszuliefern und Numa zu sein, wenn man mehr als nur einen Krösus übertroffen hat (11, 5, 4).“ Krösus (Croesus) ist die Personifikation unermesslichen Reichtums. Die Legende brachte den König, der von 560–547 herrschte, in eine enge Verbindung zu dem athenischen Dichter, Politiker und Gesetzgeber Solon (640–560 v. Chr.). Auf seinen ausgedehnten Reisen nach Vollendung seines Gesetzeswerks (594 v. Chr.) soll Solon auch den lydischen König in Sardes aufgesucht haben. Das berichtet Herodot (1, 30–33). Krösus habe den berühmten Athener gefragt, ob er denn auf seinen Reisen den glücklichsten aller Menschen gefunden habe (→ 7.7: Was ist das „gute Leben“? Was ist Glück?). Er wollte, wie Herodot erzählt, von Solon auf diese Weise bestätigt bekommen, dass er selbst der glücklichste Mensch auf Erden sei. Solon aber bezeichnete den Athener Tellos als den glücklichsten Menschen. Seine Begründung lautete: Tellos lebte in einer blühenden Stadt, hatte tüchtige Söhne und Enkelkinder und starb einen herrlichen Heldentod in der Schlacht. Die Athener begruben ihn auf Staatskosten an der Stelle, wo er gefallen war, und ehrten ihn hoch.  Krösus aber gab sich damit nicht zufrieden, sondern wollte wissen, wen er für den Zweitglücklichsten halte. Darauf erzählte Solon die Geschichte von Kleobis und Biton, den Söhnen einer Priesterin aus Argos, die den Wagen ihrer Mutter bei einer feierlichen Prozession zu Ehren der Göttin Hera selbst zogen, weil die Zugtiere nicht rechtzeitig zur Stelle waren. Als die Mutter daraufhin die Göttin darum bat, ihren Söhnen die schönste Belohnung für diese Tat zuteil werden zu lassen, seien diese nach dem Vollzug der Opferhandlungen eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Dieser Vorgang – so kommen124

tiert Herodot – sei der Hinweis darauf gewesen, dass der Tod für den Menschen besser sei als das Leben. Als Krösus nicht locker lässt, erhält er von Solon die Antwort, er sei gewiss ein reicher und mächtiger König. Aber seine Frage nach dem Glück könne er erst beantworten, wenn Krösus sein Leben beendet habe. Diese Meinung findet sich auch bei Ovid (Metamorphosen 3, 135–137): „Aber natürlich muss man immer die letzte Stunde eines Menschen abwarten, und vor seinem Tod und seinem letzten Geleit darf niemand glücklich genannt werden.“ Der König begriff nicht, was Solon damit sagen wollte. Das wurde ihm erst später klar, als er seinen Sohn Atys durch einen Jagdunfall verlor (Herodot 1, 34–45). Nach zwei Jahren der Trauer entschloss er sich, den Perserkönig Kyros anzugreifen und zu vernichten. Er fragte zuvor mehrfach das Orakel, ob er gegen die Perser Krieg führen solle. Schließlich lautete die Antwort (Herodot 1, 53), er werde ein großes Reich zerstören, wenn er gegen die Perser einen Krieg beginne. Selbstverständlich glaubte er, dass er das Perserreich vernichten werde. Dann kommt es zum Krieg. Kyros erobert Sardes nach vierzehntägiger Belagerung. Im Sinne des Orakels hatte Krösus sein eigenes Reich zerstört. (→ 1.3: Erkenne dich selbst) Cicero referiert die Auffassung der Stoiker (Fin. 3, 76), die der aufschiebenden Wirkung von Glück entschieden widersprechen: „Der (stoische) Weise wird zu Recht schön genannt werden, denn die Formen des Geistes sind schöner als die körperlichen Formen. Er wird zu Recht als einziger frei genannt, weil er sich niemandem unterwirft und keine Begierde kennt. Er wird zu recht unbesiegbar genannt, weil seinem Geist keine Fesseln angelegt werden können, auch wenn sein Körper gefesselt wird. Er muss auch kein bestimmtes Lebensalter abwarten, damit erst dann beurteilt wird, ob er glücklich war, wenn sein letzter Tag gekommen ist. Daran hat einer der Sieben Weisen den Krösus gar nicht weise erinnert. Denn wenn er jemals glücklich gewesen wäre, dann hätte er sein glückliches 125

Leben bis zu jenem von Kyros aufgeschichteten Scheiterhaufen fortgesetzt.“ In der deutschen Umgangssprache wird ein reicher, im Luxus lebender Mensch als Krösus bezeichnet; daher stammt auch die Redewendung „Ich bin doch kein Krösus“ oder „Bin ich Krösus?“, mit der man finanzielle Ansprüche abwehren will. Die Solon-Episode und den Krieg gegen die Perser hat man wahrscheinlich vergessen. Dennoch bilden sie das Zentrum der Krösus-Geschichte, die die Gefährdung des materiellen Reichtums veranschaulicht und in dem Hörer vermutlich nicht den Wunsch weckt, „reich wie Krösus“ zu sein.

3.10 Authentizität Im Bürgerkrieg, den Caesar vom Zaun gebrochen hatte (→ 1.6: Handeln nach dem Rubikon-Prinzip?), schreibt Cicero am 3. Mai 49 v. Chr. an seinen Freund Atticus (10, 9 (10), 1), er sei überzeugt davon, dass Caesars Gegner Pompeius mit einer großen Armee nach Gallien marschiert sei; diese Nachricht sei nämlich „authentisch“ (authentikōs) übermittelt worden. Cicero kann dieses griechische Wort verwenden, weil sein Adressat die griechische Sprache vollkommen beherrscht. Das Wort hat seine Bedeutung bis heute nicht wesentlich verändert. Das Adjektiv authentikós kann man wiedergeben mit „zuverlässig, richtig, verbürgt, auf vernünftigen Gründen basierend“. Es bedeutet aber ursprünglich: „Wer mit eigener Hand und voll verantwortlich für seine Tat auf jemanden einsticht, um ihn zu töten“.160 Der Akzent liegt hier offensichtlich auf der Selbstständigkeit der Handlung (vgl. Autokrátor „ein selbstständiger, unabhängiger Herr“). Wenn heute von „authentisch“ oder „Authentizität“ die Rede ist, so meint man im Wesentlichen die Übereinstimmung von Wort und Tat. Nicht authentisch ist jemand, dem man mit Seneca vorhalten kann (De vita beata 18, 1): „Du redest anders, als du in Wirklich126

keit lebst“ (Aliter loqueris, aliter vivis).161 Seneca wehrt sich gegen diesen Vorwurf (18, 1–2): „Das wurde schon Platon vorgeworfen und ebenso auch Epikur und Zenon. Aber alle diese haben nicht gesagt, wie sie selbst lebten, sondern wie sie selbst leben müssten. Ich spreche über die Tugend, nicht über mich, und wenn ich über die Fehler schimpfe, dann schimpfe ich vor allem über meine eigenen. Sobald ich es kann, werde ich leben, wie man leben muss. Eure von einer Menge Gift triefende Boshaftigkeit wird mich nicht von dem Besten abschrecken; und auch der giftige Geifer, den ihr über andere ausgießt und mit dem ihr euch selbst tötet, wird mich nicht daran hindern, damit fortzufahren, das Leben zu preisen – nicht das, was ich selbst führe, sondern was man meines Wissens führen muss, und auch nicht daran, die Tugend zu verehren und ihr in einem gewaltigen Abstand hinterher kriechend zu folgen.“ Eine authentische Persönlichkeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit sich selbst erkennbar übereinstimmt und sich weder hinter einer Maske verbirgt oder einem anderen irgendeine Rolle vorspielt. Wer stets sein wahres Gesicht zeigt, ist authentisch. Er ist im Einklang mit sich selbst und mit dem Kern seiner Persönlichkeit identisch.162 Ein weiterer Aspekt der Authentizität ist dann gegeben, wenn ein Mensch im Sinne der platonischen Gerechtigkeit (Politeia 5, 432b– 434d) handelt: Denn Gerechtigkeit besteht nach Platon darin, dass jeder einzelne das Seine tut oder bekommt (→ 6.1: Jedem das Seine – Suum cuique) und nicht vielerlei Dinge betreibt, das heißt, dass jeder das hat und das tut, was seinem eigenen Wesen entspricht (434a). Gerecht ist demnach, wer mit sich selbst identisch und authentisch ist. Der moderne Mensch ist ebenso wie der antike Stoiker fortwährend auf der Suche nach seinem wahren, seinem eigentlichen Wesen, um mit einer Antwort auch seine Suche nach dem Glück zu kanalisieren, das dadurch erreichbar erscheint, dass man sein authentisches Selbst verwirklicht. Für die Stoiker jedenfalls bestand das Ziel des Lebens, 127

das Telos, in einem „Leben in Übereinstimmung“ und „im Einklang (mit sich selbst)“.163 Das wäre dann auch ein authentisches Leben: „Das übereinstimmende Leben“ ist ein Leben im Sinne des einen und mit sich im Einklang befindlichen Logos, während diejenigen, die im inneren Zweispalt leben, unglücklich sind. Später modifizierten die Stoiker den Begriff und formulierten: „Das Leben in Übereinstimmung mit der Natur.“ Denn sie unterstellten, dass der von Zenon formulierte Begriff eine unvollständige Aussage sei. So fügte denn Kleanthes, sein erster Nachfolger in der Leitung der stoischen Schule, „mit der Natur“ hinzu und gab folgende Definition: „Das Lebensziel ist das mit der Natur übereinstimmende Leben.“ Das wollte Chrysipp noch deutlicher machen und erweiterte die Formel folgendermaßen: „Das Leben aufgrund der Vertrautheit mit den natürlichen Vorgängen“ (S&S Nr. 537). Ohne Zweifel steht die Reflexion über die stoische Authentizität in der Tradition des delphischen Spruchs Erkenne dich selbst, mit dem Apollon den Menschen dazu auffordert, den authentischen Kern seiner Persönlichkeit zu suchen und zu finden. Aber selbst wenn man den Kern seiner Persönlichkeit gefunden haben sollte, lässt sich die Kluft zwischen dem, was man ist, und dem, was man sein will, im täglichen Kampf um Anerkennung nur selten überbrücken. Wir verbergen unser wahres Gesicht, um unsere Rollen zu spielen und den an uns gestellten Ansprüchen gerecht zu werden. Wir weichen lieber aus auf die Authentizität der Sachen und lenken uns auf diese Weise von unserem authentischen Selbst ab: Ein historischer Film gilt als authentisch, wenn er die Ereignisse wahrheitsgetreu wiedergibt. Eine Nachricht gilt als authentisch, wenn sie glaubwürdig ist und von mehreren Zeugen bestätigt werden kann, ein Foto erhebt den Anspruch, authentisch zu sein, wenn es das fotografierte Objekt korrekt wiedergibt.

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3.11 Heureka: Das Prinzip der Serendipität Erstmals hatte der britische Autor Horace Walpole (1717–1797) das Wort „Serendip“ (Serendipity) in einem Brief an seinen Freund Horace Mann benutzt. Er habe es in Anlehnung an ein persisches Märchen mit dem englischen Titel The Three Princes of Serendip geprägt, in dem die drei Prinzen viele unerwartete Entdeckungen machen. Serendip ist eine alte, von arabischen Händlern gebrauchte Bezeichnung für Ceylon, das heutige Sri Lanka.   In der Antike nannte man einen unerwarteten, zufälligen, glücklichen Fund ein Hermaion. Denn man glaubte ihn dem Gott Hermes zu verdanken (→ 2.7: Hermes oder Prometheus?). Von einem derartigen Fund erzählt der römische Architekt und Baumeister Vitruv (1. Jh. n. Chr.) in der Vorrede (9–12) zum neunten Buch seiner Schrift Über die Architektur: Der Tyrann Hieron wollte nach einem ruhmreichen Sieg den unsterblichen Göttern einen goldenen Kranz weihen. Er gab dem Künstler, der diesen herstellen sollte, das Gewicht genau an. Als das Kunstwerk vollendet war, äußerte jemand den Verdacht, dass es nicht aus reinem Gold bestehe. Es habe einen erheblichen Anteil an Silber. Hieron gab dem berühmten Physiker und Mathematiker Archimedes den Auftrag, den Betrug nachzuweisen. „Während er darüber nachdachte, war er gerade auf dem Weg in eine Badestube und, als er dort in die Badewanne stieg, bemerkte er folgendes: Sobald er mit seinem Körper in die volle Wanne eintauchte, floss eine entsprechende Menge an Wasser über den Wannenrand ab. Weil ihm dieser Vorgang einen Weg für die Lösung seiner Aufgabe gezeigt hatte, hielt er sich nicht weiter auf, sondern sprang voller Freude aus der Wanne, lief nackt nach Hause und rief mit lauter Stimme, er habe das gefunden, was er suchte. Dabei schrie er nämlich immer wieder auf Griechisch: ,Ich hab‘s gefunden! Ich hab‘s gefunden!‘ Dann aber soll er im Blick auf diese Entdeckung zwei Klumpen von dem gleichen Gewicht, das auch der Kranz hatte, gemacht haben, 129

einen aus Gold, einen zweiten aus Silber. Danach füllte er ein großes Gefäß bis an den äußersten Rand mit Wasser und tauchte den Silberklumpen hinein. Der Größe des in das Wasser eingetauchten Silberklumpens entsprach die Menge des abfließenden Wassers. Dann nahm er den Klumpen heraus. Darauf goss er, mit einem Messbecher die Menge des abgeflossenen Wassers in das Gefäß nach, sodass das Wasser so, wie es vorher gewesen war, mit dem Rand eine waagerechte Fläche bildete. So fand er heraus, welchem bestimmten Gewicht Silber ein bestimmtes Maß Wasser entsprach. Nachdem er dies festgestellt hatte, tauchte er in der gleichen Weise den Goldklumpen in das volle Gefäß, nahm ihn wieder heraus, fügte in der gleichen Weise das abgemessene Quantum Wasser hinzu und fand, weil der Messbecher eine geringere Menge Wasser anzeigte, um wieviel bei gleich großen Gewicht ein Goldklumpen in seinem Volumen kleiner ist als ein Silberklumpen.“ Archimedes war anscheinend der erste, von dem überliefert ist, dass er seine Entdeckung des spezifischen Gewichts dem Prinzip der Serendipität verdankt. Denn er hatte etwas durch Zufall entdeckt, ohne es gesucht zu haben. Hinzu kam allerdings, dass er seine zufällige Entdeckung in einen vernünftigen Zusammenhang mit bereits Erkanntem brachte. Er verknüpfte seine Badewannenerfahrung mit seinem Auftrag herauszufinden, ob die Krone wirklich vollständig aus Gold bestand. Er zog aus seiner zufälligen Entdeckung die richtigen Schlüsse, wie wir bei Vitruv nachlesen können. Die Kombination aus zielgerichteter Suche, zufälliger Beobachtung und Entdeckung, eingehender Prüfung und intelligenter Schlussfolgerung hat Archimedes beispielhaft vollzogen. So kam es später etwa auch zu der Entdeckung Amerikas und zu wertvollen Erkenntnissen zum Beispiel auf dem Gebiet der Chemie und der Medizin.

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3.12 Über den Ursprung der Philosophie Auf der Homepage des Westdeutschen Rundfunks (WDR 5) findet man die Mitteilung, der Sender habe mit dem „philosophischen Radio“ ein einzigartiges, regelmäßiges Forum für die öffentliche philosophische Diskussion geschaffen, um dem Bedürfnis nach Austausch mit anderen nachdenklichen Menschen zu entsprechen: Immer am Freitagabend von 20.05 bis 21.00 Uhr führten ein Philosoph oder eine Philosophin über ein Thema, ein Buchautor oder eine Autorin über eine interessante und anregende These mit den Hörerinnen und Hörern von WDR 5 ein philosophisches Gespräch. Die Themen der Sendung sind in der Regel Fragen, auf die man möglicherweise keine endgültigen Antworten findet. Dieses Format lässt ein Verständnis von Philosophie erkennen, nach dem das Philosophieren ein dauerndes Fragen und Suchen zu sein scheint. Es findet nicht nur im Selbstgespräch, sondern vornehmlich im Gespräch mit anderen statt. Dabei geht es auch zunächst einmal nicht um die Gegenstände des Fragens, sondern um das Fragen selbst. Zur weiteren Veranschaulichung sei auf den antiken Hintergrund verwiesen: In dem platonischen Dialog Theaitetos sprechen die Teilnehmer unter anderem über die Frage nach dem Ursprung der Philosophie. Zu Beginn des Dialogs rühmt Theodoros die Fähigkeiten seines Schülers Theaitetos. Dieser verfüge nicht nur über eine große mathematische Begabung, sondern auch über alle Eigenschaften eines wahren Philosophen. Doch bereits in der ersten Phase des Gesprächs mit Sokrates muss Theaitetos einräumen, dass er Sokrates’ Fragen nicht mehr folgen könne. „O Gott, Sokrates, wie sehr staune und frage ich mich, um was es in unserem Gespräch eigentlich geht, und manchmal wird mir wirklich schwarz vor den Augen und schwindlig (155c). Darauf Sokrates: Theaitetos werde von seinem Lehrer ganz richtig eingeschätzt. Denn gerade das Staunen sei das Erlebnis, das besonders einem Philosophen zuteil werde, und nichts anderes sei der Ursprung der Philo131

sophie. Mit seinem Staunen gibt Theaitetos zu erkennen, dass er völlig ratlos sei. Diese Hilflosigkeit, die sogar körperliche Reaktionen hervorruft, ist – so Sokrates – von Anfang an typisch für das Philosophieren. Denn für Platon bedeutet Philosophie nicht etwa Weisheit oder Wissen, sondern das Streben danach. Sie ist kein Resultat, sondern ein dynamischer Prozess, der durch ein Habenwollen ausgelöst und in Gang gehalten wird. Ein wirklich Weiser strebe nicht nach Weisheit, er habe sie ja schon. Der Philosoph hingegen sei der Weisheitssucher, der durch sein Staunen auf den Weg zur Weisheit gebracht wird.164 Im platonischen Dialog Lysis (218a) erklärt Sokrates jeden zu einem Philosophen, der noch nicht weise ist. Auch im Symposion (204a) definiert er die Philosophie als ein Streben nach Wissen, das man (noch) nicht habe: Kein Gott philosophiert oder begehrt, weise zu werden; er ist es ja schon, und auch wenn sonst jemand bereits weise ist, philosophiert er nicht mehr. Allerdings philosophiert auch der Unverständige nicht (Symposion 204a): „Denn das ist eben das Schlimme am Unverstand, dass der Unverständige, ohne schön, gut und vernünftig zu sein, doch ganz zufrieden mit sich selbst ist. Wer aber nicht glaubt, dass ihm etwas fehlt, der will auch nichts haben, wovon er annehmen könnte, dass es ihm fehlt.“ Für Platon war das Staunen als Ursprung der Philosophie auch der Anfang eines erotischen Bezugs zwischen dem Staunenden und dem Anlass des Staunens. Der Eros drängt den Staunenden dazu, über das bloße Verlangen hinaus zur Wesenserkenntnis des bestaunten und bewunderten Objekts vorzudringen. Aristoteles greift am Anfang seiner Metaphysik (1, 2, 982 b 12–21) das Staunen des Theaitetos auf und sagt: „Aufgrund des Staunens begannen die Menschen ursprünglich und auch jetzt noch mit dem Philosophieren, indem sie zuerst die nächstliegenden unerklärlichen Erscheinungen bestaunten, dann allmählich fortschritten und auch über größere Dinge in Zweifel gerieten. ... Wer aber zweifelt und 132

staunt, meint ohne Wissen zu sein. ... Daraus ist ersichtlich, dass diejenigen, die zu philosophieren begannen, um der Unwissenheit zu entgehen, das Wissen suchten um der Erkenntnis und nicht um irgendeines Nutzens willen.“ Etwas später fügt Aristoteles hinzu: „Es beginnen alle mit dem Staunen und der Frage, ob sich etwas wirklich so verhält, wie man es zunächst sieht und bestaunt.“ Aristoteles stimmt darin mit Platon überein, dass auch er das Staunen aus einer Aporie hervorgehen lässt. Bei ihm wird außerdem deutlich, dass der erste Philosoph nicht nur der Menschheitsgeschichte, sondern auch der Gegenwart erst mit dem Staunen nachzudenken beginnt (Metaphysik 1, 2, 982 b 12 f.): Der Staunende wird vom Nächstliegenden angeregt, wundert sich und stößt dann auf schwierigere Fragen. Aristoteles verbindet mit der Herleitung der Philosophie aus dem Staunen schließlich noch ihre Zweckfreiheit. Er interpretiert also das Staunen „in einem intellektuellen Sinne als Verwunderung, die den Menschen angesichts einzelner Vorkommnisse ergreift, die er begreifen möchte, aber nicht zu begreifen vermag, und bezieht es schon von vornherein auf Probleme, die der wissenschaftlichen Behandlung zugänglich sind“. 165 Während Aristoteles einerseits das Staunen des Theaitetos zum Merkmal des philosophischen Denkens werden lässt, grenzt er es andererseits auf die Gegenstände ein, die der wissenschaftlichen Erforschung zugänglich sind. Das hat zur Folge, dass sich das Staunen von selbst aufhebt, sobald der wissenschaftliche Prozess nach Beseitigung der Aporie sein Ziel erreicht hat. Das Staunen führt aber immer zu einer Erschütterung des als gültig Anerkannten und scheinbar Selbstverständlichen. Der Staunende wird aus der Bahn des gewohnten Denkens geworfen und verliert seine Gewissheit. So gewinnt er einen neuen Blick, der ihm zwar nicht dabei hilft, neues Wissen zu erwerben, aber doch wenigstens vermeintliches Wissen als solches zu entlarven.

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3.13 Ähnlichkeit, Gleichheit, Übereinstimmung, Identität Es ist wohl möglich, sich darauf zu einigen, dass Ähnlichkeit die Übereinstimmung verschiedener Dinge in qualitativer Hinsicht bezeichnet, während Gleichheit eine quantitative Größe ist; so können zum Beispiel Zahlen gleich (aber nicht ähnlich) sein. Identität kann man also nur zwischen messbaren oder zählbaren Größen annehmen. Daher können auch Menschen allenfalls ähnlich, nicht aber gleich sein, wenn man von nachprüfbaren Daten wie Körpergröße, Gewicht, Lebensalter absieht. Ob das einzelne Individuum sich auf Dauer gleich sein kann und eine bleibende Identität oder ein stabiles Selbst besitzt, ist zu bezweifeln. So vertritt etwa auch der Philosoph Thomas Metzinger die Ansicht,166 dass „das Selbst“ kein Produkt, sondern ein Prozess ist. Man könne eine Identität nicht haben wie ein Fahrrad. Sie sei auch keine Eigenschaft wie eine Augenfarbe, sondern höchstens eine Beziehung, die man zu sich selbst habe. Es sei im Menschen nichts zu finden, was sich durch die Zeit hindurch halte und die Selbigkeit der Person garantiere, ihr Stabilität gebe und als ihr Kern gelten könne. Wenn das Individuum nicht einmal sich selbst gleich sein könne, wie sollte dann Gleichheit zwischen mehreren Individuen möglich sein? Doch – wie gesagt – was man als „gleich“ bezeichnet, muss nicht in jeder Hinsicht „gleich“ sein: Zwei Gegenstände oder Personen können zum Beispiel das selbe Gewicht haben, ohne ansonsten gleich zu sein. So vermochte Sappho (2 D.) zwar einen den Göttern gleichen, aber mit den Göttern keinesfalls identischen Mann zu beschreiben. Ein Mensch kann niemals als gott-gleich, sondern allenfalls als gottähnlich gelten. Indem Platon einen Begriff wie „Verähnlichung mit Gott“ verwendet, um eine besondere Form der Annäherung an Gott zu bezeichnen,167 hebt Sokrates den Prozesscharakter der Ähnlichkeit besonders hervor. Die bereits erreichte Ähnlichkeit mit Gott ist die 134

Vollendung dieses Prozesses.168 Im Theaitetos (176a5–b3) argumentiert er folgendermaßen: Das Böse sei zwar unter den Menschen allgegenwärtig und niemals auszurotten. Allein bei den Göttern gebe es nichts Böses. Darum müsse man versuchen, möglichst schnell von hier aus dorthin zu fliehen. Diese Flucht führe zu einer weitest möglichen „Verähnlichung mit Gott“. Sie bestehe darin, dass man mit Vernunft gerecht und fromm werde. Gott sei stets der Gerechteste, und daher sei ihm niemand ähnlicher als ein gerechter Mensch. Ein messbares, quantifizierbares Resultat hat der Prozess einer „„Verähnlichung mit Gott, soweit es möglich ist“ keineswegs. Denn diese bezeichnet bei Platon höchstens „Angleichung an Gott“ und nicht Gottähnlichkeit“.169 Auch im Phaidros 248a bedeutet die Verähnlichung (oder Annäherung) die Nachfolge Gottes, so weit es einem Menschen überhaupt möglich ist, an Göttlichem teilzuhaben oder es zu übernehmen (Phaidros 253a). Im Timaios (41d) lässt Platon den Schöpfer aller Dinge zu den Göttern unter anderem sagen: „Ansonsten aber schafft und erzeugt ihr Lebewesen, indem ihr Sterbliches mit Unsterblichem „verwebt“ und bietet ihnen Nahrung, lasst sie wachsen und nehmt sie wieder auf, sobald sie vergehen.“ Dieses „Verwobensein“ des Sterblichen mit dem Unsterblichen scheint die Voraussetzung dafür zu sein, dass eine Annäherung des Menschen an Gott gelingen kann. Zugleich macht die Metapher anschaulich, dass eine Verähnlichung bereits ähnliche Elemente voraussetzt. Ein haltbares Gewebe kann nicht entstehen, wenn die Fäden sich nicht qualitativ ähnlich sind. Pindar hatte bereits am Anfang seiner Sechsten Nemeischen Ode für Alkimidas aus Aigina, den Sieger im Ringkampf, von einer Annäherung an die Unsterblichen gesprochen: Menschen und Götter haben eine gemeinsame Herkunft. Wir haben unseren Lebensatem von einer gemeinsamen Mutter. Doch es besteht ein grundsätzlicher Unterschied: Hier das Nichts, dort der Himmel, das ewig sichere Sein. 135

Dennoch kommen wir den Unsterblichen durch hohen Geist oder aufgrund natürlicher Begabung irgendwie nahe. Aber wir wissen nicht, wohin das Schicksal uns führt. Mit seinem Sieg bestätigt der junge Alkimidas, dass er der ruhmreichen Vergangenheit seiner Familie wieder nahe kam. Im Gorgias lässt Sokrates sich von Kallikles (510b) die Weisheit des Sprichwortes bestätigen, dass Freundschaft nur aufgrund von Ähnlichkeit möglich ist. Im Protagoras (337d) vertritt der Sophist Hippias eine ähnliche Auffassung: „Das Ähnliche ist dem Ähnlichen von Natur aus verwandt.“ Im Symposion (195b) wird „das alte Wort“ bestätigt, dass sich das Ähnliche immer dem Ähnlichen annähert, sodass auch der Eros das Alter verlässt und die Nähe zur Jugend sucht. Im Phaidros (240c) ist die Ähnlichkeit eine Voraussetzung für die Liebe, und die Unähnlichkeit kann die Beziehung zwischen Liebenden belasten und zerstören. Im Lysis (213d–215d) erörtert Sokrates die Ähnlichkeit als eine Bedingung von Liebe und Freundschaft. Er beruft sich für diese Behauptung zunächst auf einen Vers aus der Odyssee (17, 218): Es sind Worte über den zerlumpten Odysseus, die der Ziegenhirt Melantheus an den Sauhirten Eumaios richtet: „Ja, ein ganz besonders übler Kerl (= Odysseus) treibt hier gerade sein Unwesen, es bringt ja doch auch immer ein Gott den Ähnlichen mit dem Ähnlichen zusammen.“170 Außerdem beruft sich Sokrates auf „die Schriften der weisesten Männer“, die ebenso erklären, dass das Ähnliche dem Ähnlichen immer lieb sei (Lysis 214b). Er könnte an Empedokles (VS 31 B 22) gedacht haben, wo es heißt, dass das Ähnliche zum Ähnlichen hinstrebe. Auch schon die vier Elemente seien aufgrund ihrer Ähnlichkeit miteinander in Liebe verbunden (→ 9.3: Empedokles und seine vier Briefmarken von 2011). Der Pythagoreer Philolaos sagte (laut Sextus Empiricus, Adversus mathematicos 7, 92), von Natur aus werde das Ähnliche vom Ähnlichen erfasst: „Denn mit Erde sehen wir Erde, mit Wasser Wasser, mit Luft göttliche Luft, aber mit Feuer das ewig brennende Feuer, Liebe mit Liebe und Hass mit schaurigem Hass vermischt.“ 136

Die Überzeugung des Empedokles, dass Gleiches nur durch Gleiches erkannt werden könne, hat Aristoteles (De anima 404 b 8–15) weitergegeben: Denn durch Erde nehmen wir Erde, durch Wasser Wasser, durch Luft göttliche Luft, ferner durch Feuer glänzendes Feuer, durch Liebe Liebe und Streit durch Verderben bringenden Streit wahr. Die Auffassung, dass alles Gegenständliche und Nicht-Gegenständliche durch Gleichartiges in unseren Sinnesorganen aufgenommen wird, ist über Platon (Politeia 6, 508b) und Plotin (Enneades 1, 6, 9) zu Goethe (Zahme Xenien III Nr. 152) gelangt: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt’ es nie erblicken.“ Goethe zitiert hiermit Plotin: „Es ist notwendig, dass sich das Sehende dem Objekt des Sehens anverwandelt, angleicht und es dann erst sieht. Nie hätte das Auge jemals die Sonne gesehen, wäre es nicht selbst sonnenhafter Natur; und ebenso wenig könnte die Seele das Schöne sehen, wenn sie nicht selbst schön wäre. Es soll also zunächst jeder gottähnlich und schön werden, wenn er Gott und das Schöne sehen will.“ Sextus Empiricus (7, 1, 116–118) zitiert dann Demokrit (VS 68 B 164) zur Bestätigung dieser „uralten Meinung“. Er sieht in der Ähnlichkeit der Dinge eine Kraft zur Verbindung und zur Vereinigung, und immer führe Gott den Ähnlichen zu dem Ähnlichen (A 128). „Denn Lebewesen schließen sich mit gleichartigen Lebewesen zusammen, wie Tauben mit Tauben, Kraniche mit Kranichen und ebenfalls die übrigen vernunftlosen Lebewesen. Aber ebenso verhält es sich auch bei den seelenlosen Dingen, wie man es zum Beispiel beim Sieben von Samen oder bei den Kieseln an den Stränden sehen kann; denn da ordnen sich beim Schütteln des Siebs Linsen zu Linsen, Gerstenkörner zu Gerstenkörnern, Weizenkörner zu Weizenkörnern, dort aber werden durch die Brandung die länglichen Kiesel zu den länglichen Kieseln gerollt, die runden zu den runden, als ob die unter diesen Dingen bestehende Ähnlichkeit eine vereinigende Wirkung hätte.“ 137

Aristoteles (NE 8, 1155 a 32–1155 b 6) weist allerdings darauf hin, dass es eine Streitfrage sei, ob das Ähnliche oder das Gegensätzliche freundschaftliche Nähe begründe: „Die einen behaupten, Freundschaft sei eine Art Ähnlichkeit, und die Ähnlichen seien Freunde. Daher heißt es auch, der Ähnliche schließe sich dem Ähnlichen an, so auch die Dohle der Dohle und so weiter. Die anderen aber vertreten das Gegenteil und sagen, solche Leute verhielten sich alle wie die Töpfer zueinander. ... Euripides sagt, die ausgetrocknete Erde liebe den Regen; der heilige Himmel, von Regen voll, verlange danach, sich auf die trockene Erde zu stürzen, und Heraklit (VS 22 B 8) meint, dass das Gegensätzliche, das ‚Entgegengehobelte‘, zusammenpasse und dass aus dem, was nicht zusammenpasse, die schönste Harmonie werde und dass alles durch Streit entstehe“ (vgl. B 80). Um auf den Lysis zurückzukommen: Selbst wenn man behauptet, dass das Ähnliche dem Ähnlichen immer lieb sein müsse, ist diese Aussage einzuschränken. Er gilt nicht für die Schlechten, sondern nur für die Guten. Aber die Guten sind autark; sie schaffen sich keinen gegenseitigen Nutzen und brauchen daher auch gar keine Freunde (215a–b). Erfahrungsgemäß ist zudem das Ähnlichste oft von gegenseitiger Missgunst und von Ablehnung und das Unähnlichste von gegenseitiger Zuneigung erfüllt (215d). „Denn das Entgegengesetzte ist Nahrung für das Entgegengesetzte, und das Ähnliche bringt dem Ähnlichen überhaupt nichts“ (215e–216a). Demnach ist das Entgegensetzte dem Entgegengesetzten am liebsten. Ein wenig später (216d) wird man sich allerdings darauf einigen, dass weder das Ähnliche dem Ähnlichen noch das Entgegengesetzte dem Entgegengesetzten lieb und befreundet sein kann. Die Frage bleibt also offen, ob Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit eine funktionierende Beziehung begründet. Aristoteles vertritt auch in seiner Politik (7, 9, 1328 b 24–1329 a 39) die Auffassung, dass eine Polis aus von einander verschiedenen und unähnlichen Menschen entstehe; ähnliche Menschen brächten keine 138

Stadt zustande.171 Eine autarke Polis benötige für die Erledigung ihrer vielfältigen Aufgaben auch ebenso viele unterschiedliche Fähigkeiten und Begabungen, die auf verschiedenartige Weise zu fördern seien. In einem ganz anderen Zusammenhang ist das Phänomen der Ähnlichkeit wieder bedeutsam. Nachahmung (imitatio) setzt die qualitative Nähe des Nachahmenden zum Nachgeahmten voraus. Nachahmung eines Vorbilds ist nur aufgrund von Ähnlichkeit (similitudo) möglich. Vorbild und Nachbild müssen Gemeinsamkeiten haben, sich ähnlich oder wesensverwandt sein. Cicero (De oratore 2, 89–98) befasst sich in seinen Überlegungen zur rhetorischen Ausbildung unter anderem mit der Nachahmung von Vorbildern. Er betont, dass Nachahmung nur dann erfolgreich sein kann, wenn der Nachahmende über entsprechende Voraussetzungen verfügt und nur das nachahmt, was seinem Talent (natura) entspricht (vgl. auch De oratore 3, 35–36). Es muss also eine qualitative Ähnlichkeit zwischen dem Nachahmenden und dem Nachgeahmten bestehen. Quintilian, der in Cicero sein Vorbild sieht und sich in seiner Institutio oratoria ausführlich mit der Nachahmung auseinandersetzt (10, 2, 1–28), gibt zu bedenken, dass Nachahmung an sich schon allein deshalb nicht genüge, weil es einen trägen Geist verrate, wenn man nur nachahme, was andere erfunden hätten (4). Es sei sogar eine Schande, nur durch Nachahmung etwas erreichen zu wollen (7). Nichts wachse nur durch Nachahmung (8). Außerdem sei es meistens leichter, über das Identische (idem) hinauszugehen und Neues zu schaffen: Denn Ähnlichkeit172 – hier verstanden als Identität – könne nicht einmal die Natur erreichen, so dass auch die Dinge, die auf den ersten Blick sehr ähnlich und fast gleich aussähen, immer noch irgendeinen kleinen Unterschied aufwiesen (10). Die vollständige Nachahmung sei also ausgeschlossen. Das gilt auch für das Verhältnis zwischen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit. In einem bemerkenswerten Abschnitt seiner Schrift De Officiis (2, 51) äußert sich Cicero 139

über die Pflichten eines Anwalts vor Gericht: „Und man muss auch sorgfältig die unumstößliche Regel einhalten, dass man niemals einen Unschuldigen auf Leben und Tod vor Gericht anklagt; das kann nämlich auf keinen Fall geschehen, ohne dass man ein Verbrechen begeht. Denn was ist so unmenschlich wie eine Eloquenz, die man zum Wohl und zum Schutz der Menschen von der Natur verliehen bekam, zum Unheil und zum Verderben anständiger Menschen zu missbrauchen? Doch ebenso, wie man dies unterlassen muss, darf man es nicht für bedenklich halten, jemanden zu verteidigen, der einmal einen Fehler begangen hat, jedenfalls wenn er kein unverbesserlicher und gottverlassener Verbrecher ist. Die Gesellschaft will es so, die Gewohnheit duldet es, und auch die Menschlichkeit (humanitas) bringt es mit sich. Immer ist es die Pflicht eines Richters, in den Prozessen der Wahrheit nachzugehen, und Aufgabe des Verteidigers, manchmal das Wahrscheinliche (veri simile = was der Wahrheit ähnlich ist) zu vertreten, auch wenn es nicht der vollen Wahrheit entspricht; das würde ich nicht zu schreiben wagen, zumal ich über Philosophie schreibe, wenn Panaitios, der bedeutendste und ernsthafteste Stoiker, dies nicht auch so gesehen hätte.“

3.14 Was ist Natur? Die antiken Philosophenschulen stritten oft heftig miteinander und ließen es an gegenseitigen Vorwürfen oder gar Beschimpfungen nicht fehlen, wie es zum Beispiel in den Auseinandersetzungen zwischen Stoikern und Peripatetikern oder Kynikern und Akademikern zum Ausdruck kam. Auch einige der sogenannten Vorsokratiker polemisierten unter anderem gegen Homers und Hesiods Mythologie. Xenophanes von Kolophon lehnte den anthropomorphen Polytheismus dieser Dichter entschieden ab (VS 21 B 11–16). Derselbe griff auch die in Griechenland verbreitete Verherrlichung des Sports an (B 2) 140

(→ 6.2: Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper?). Ein Ziel seines Spottes war auch die pythagoreische Seelenwanderungslehre. Platon wollte Homer aus seinem Staat verbannen. Die Anhänger Epikurs wurden bekämpft und verunglimpft. Die frühen christlichen Autoren griffen ihre „heidnischen“ Vorgänger und Kollegen mitunter scharf an. Heute werden antike Weltbilder und Versuche der Weltdeutung nicht mehr bekämpft. Im Gegenteil – antikes Denken gilt als Anregungspotential. Literatur und Theater arbeiten mit antiken Motiven. In der Philosophie sind Platon und Aristoteles weiterhin als Autoritäten anerkannt. Sokrates hat seine Stellung als Bezugspunkt philosophischen Denkens nicht verloren. Die hellenistischen Philosophenschulen der Epikureer und Stoiker prägen nach wie vor unser Selbstbild. Dennoch gibt es auch heute noch Widerspruch gegen antike Denkmuster und Vorstellungsinhalte, die das antike Verständnis von der Natur betreffen. Die Bedeutung von Physis oder Natura war schon in der Antike fragwürdig und umstritten. Ein äußeres Zeichen dafür sind die zahllosen Publikationen antiker Autoren unter dem Titel Über die Natur. Sie veranschaulichen, dass man immer wieder neu zu verstehen versuchte, was Natur“ ist. Am ehesten konnte man sich wohl darauf einigen, dass Natur etwas ist, das ohne menschliches Zutun entstanden oder gewachsen ist, und auch den Entstehungsprozess selbst bezeichnete. Der antike Natur-Begriff umfasste die „Allnatur“, den Kosmos, die „Natur der Götter“ ebenso wie die „Natur“ des einzelnen Menschen. Dabei wurde immer wieder versucht, die Natur entweder als immateriell oder als materiell zu verstehen. Der frühgriechische Dichter Pindar sieht in der Physis oder der Phyá eines Gegenstands oder eines Menschen die Summe seiner spezifischen Eigenschaften, Kräfte und Möglichkeiten173 unter Berücksichtigung seiner Ursachen und Wirkungen. Aber von naturwissenschaftlicher Forschung ist Pindar weit entfernt. 141

Sokrates sprach der Erforschung der Natur eine Relevanz für das menschliche Leben ab. In den Memorabilien seines Schülers Xenophon (1, 1, 11) heißt es, Sokrates habe nie über die „Natur des Weltalls“ gesprochen und nicht gefragt, wie der Kosmos beschaffen sei und welchen Naturgesetzen die Himmelserscheinungen unterworfen seien. Er erklärte vielmehr diejenigen, die sich mit solchen Fragen beschäftigten, für töricht. Es sei viel wichtiger, sich mit den „menschlichen Dingen“ zu befassen. Cicero (Tusk. 5, 11) greift diesen Gedanken auf und stellt fest, Sokrates habe als erster die Philosophie vom Himmel herunter geholt, in den Städten angesiedelt und dazu veranlasst, sich mit dem Leben und den Verhaltensweisen des Menschen zu beschäftigen. Natürliche Lebensbedingungen oder gar Umweltfragen interessieren Sokrates nicht. Sein Denken konzentriert sich auf die Natur des Menschen. Auch die griechische Tragödie thematisiert die guten und die bösen Eigenschaften, die Physis, des Menschen und die sich aus diesen ergebenden Konflikte. So lässt Sophokles Philoktet in der gleichnamigen Tragödie die Natur des Neoptolemos rühmen, der glücklicherweise nicht den Sohn des Sisyphus (Odysseus) sei, sondern Achill zum Vater habe. In der euripideischen Elektra ist die Rede von der Natur des Menschen, auf die man sich im Gegensatz zu materiellem Besitz verlassen kann (941). Im Orest (126 f.) weist Euripides auf die Ambivalenz der menschlichen Natur hin: Man kann sie gut oder schlecht verwenden. Im Geschichtswerk des Thukydides, das vor dem Hintergrund seiner Polemik gegen Herodot zu sehen ist (1, 22, 4), heißt es: „Nur mit Mühe wurden die Tatsachen ermittelt, weil die Zeugen der einzelnen Vorgänge nicht dasselbe über dasselbe aussagten, sondern wie jeder Einzelne in seiner individuellen Sichtweise von seiner Sympathie oder seinem Erinnerungsvermögen bestimmt wurde. Und diese nüchterne und sachliche Darstellung der Vorgänge wird den Zuhörern vielleicht weniger anziehend erscheinen; wenn aber irgendwelche Leute die 142

Absicht haben, alles klar zu durchschauen, was tatsächlich passiert ist und was der menschlichen Natur gemäß irgendwann einmal wieder so oder ähnlich passieren wird, dann wird es mir genügen, dass sie meine Ausführungen für nützlich halten. Sie stehen ihnen als ein Besitz für immer zur Verfügung und nicht als ein Hörvergnügen für den Augenblick.“ Der Leser soll also die Darstellung als nützlich erkennen, und ihre Nützlichkeit soll auch in der Zukunft wirksam sein, da der menschlichen Natur gemäß mit einer Wiederholung der geschilderten Vorgänge zu rechnen ist. Er soll daher etwas für den späteren Umgang mit ähnlichen Vorkommnissen lernen (vgl. auch 2, 48, 3). Die Identität des Menschen, das Menschliche oder die menschliche Natur, die sich nicht verändert, ist für Thukydides die geschichtsprägende Kraft. Er definiert sie als ein konstantes Verhaltensmuster.174 Das steht im Gegensatz zu Herodots „theonomer“ Geschichtsdeutung. Aus der typisch menschlichen Überzeugung vom „Recht des Stärkeren“ ergibt sich auch der Kriegsgrund: die Rivalität der Großmächte um die Vormachtstellung. Offensichtlich will Thukydides am Beispiel des Peloponnesischen Krieges – wiederum im Gegensatz zu Herodot – nachweisen, dass geschichtliche Abläufe durch die Wirksamkeit der menschlichen Natur und nicht durch höhere Mächte zu erklären seien. Die Frage, welche Rolle Thukydides in diesem Zusammenhang dem Wertbegriff der Macht zuweist, wird dann aktuell, wenn man liest, dass auf dem Schreibtisch des ehemaligen amerikanisches Außenministers und Ex-Generals Colin Powell, der den Irak-Krieg zu rechtfertigen versuchte, obwohl er ihn nicht wollte, ein Thukydides-Zitat lag, das Zurückhaltung bei der Bekundung von Überlegenheit und Macht einfordert: „Wer Gleichstarken nicht nachgibt, Stärkeren vernünftig begegnet, gegenüber Schwächeren maßvoll ist, dürfte am besten fahren.“175 Offensichtlich zielt das Statement des Thukydides darauf, dass die Analyse der realen Machtverhältnisse für politische Entscheidungen unerlässlich ist, während Moral dafür ebenso wenig maßgebend 143

ist wie etwa die Systemfrage. Es scheint (bis heute) nicht wesentlich ins Gewicht zu fallen, ob man mit einer Demokratie oder einer Diktatur paktiert. Kurz vorher hatten die Athener den Meliern unmissverständlich erklärt: „Wir werden euch allerdings nicht mit schönen Worten ... lange und unglaubwürdige Vorträge halten ... und fordern euch auch nicht dazu auf zu glauben, ihr könntet uns dadurch überzeugen, dass ihr als Abkömmlinge der Lakedämonier nicht mit uns in den Krieg eingetreten seid. ... Ihr müsst vielmehr davon ausgehen, nur das Mögliche erreichen zu können. ... Denn ihr wisst so gut wie wir, dass das Gerechte nach menschlicher Erfahrung nur zwischen Gleichstarken Geltung beanspruchen kann und dass die Überlegenen das für sie Mögliche durchsetzen, während die Schwachen es hinnehmen müssen.“176 Ob Collin Powell auch dieses Thukydides-Zitat kannte, das wiederum das spezifisch „Menschliche“ als politisch treibende Kraft charakterisiert, sei dahingestellt. Zumindest scheint es der amerikanischen Außenpolitik nicht zu widersprechen. Cicero verwendet den Naturbegriff im Zusammenhang mit den alten philosophischen Grundsätzen nihil nimis (nichts zu sehr), se noscere (sich erkennen) (→ 1.3: Erkenne dich selbst. → 1.4: Nichts zu sehr. Nichts übertreiben), tempori parere (sich den Umständen anpassen) und sequi deum (Gott folgen) (Fin. 3, 73). Die Bedeutung dieser Regeln – so Cicero – könne niemand verstehen, wenn er sie nicht im Zusammenhang mit der Natur sehe. Cicero meint hier den Naturbegriff der Stoiker, auf den die zitierte Textstelle ein bezeichnendes Licht wirft: Das Leben des Menschen entspricht der Natur, wenn es als ein Zusammenspiel von „Anpassung an die Umstände“, „Gehorsam gegenüber Gott“, „Selbsterkenntnis“ und „Maß“ verwirklicht wird. In Ciceros Schrift De re publica (3, 27 Powell) ist das wahre Gesetz die „richtige Vernunft“, die mit der (menschlichen) Natur übereinstimmt und überall auf der Welt gültig und ewig ist. Sie fordert mit Nachdruck zur Pflichterfüllung auf. Die Stoiker hatten bereits darauf 144

bestanden, Natur und Leben nicht voneinander zu trennen. So haben sie auch das auf dem „glücklichen Leben“ beruhende höchste Gut als ein „Leben in Übereinstimmung mit der Natur“ definiert (→ 7.7: Was ist das „gute Leben“? Was ist Glück?). „Deshalb bezeichnete Zenon in seiner Schrift Über die Natur des Menschen als das höchste Ziel das Leben in Übereinstimmung mit der Natur, was im Sinne der Tugend zu leben bedeutet; denn zu ihr führt uns die Natur hin“ (S&S Nr. 523. → 3.10: Authentizität). Auch wenn die antiken Autoren die Leerformelhaftigkeit der Begriffe Leben und Natur nicht aufheben konnten, indem sie die beiden Begriffe aufeinander bezogen, tasteten sie die positive Konnotation des Naturbegriffs nicht an – im Gegenteil: Den Sophisten diente die Gegenüberstellung von Physis und Nomos zwar einer Relativierung beider Begriffe. Sie unterschieden aber die von den Menschen geschaffenen, vereinbarten, willkürlichen und nicht gewachsenen Gesetze von den nicht vereinbarten, gewachsenen, natürlichen Gesetzen (Antiphon, VS 87 B 44). Es war den Sophisten bewusst, dass von Menschen geschaffene Gesetze und die Natur in Konflikt miteinander geraten konnten. Bemerkenswert bleibt auch Antiphons Hinweis (B 44), dass alle Menschen „von Natur aus“ zwar gleich geschaffen seien und es keine Unterschiede zwischen Hellenen und Barbaren gebe. In Wirklichkeit aber handelten wir nicht danach.“ Erst der römische Dichterphilosoph Lukrez vertritt im 1. Jahrhundert v. Chr. einen modernen Naturbegriff (→ 9.4: Gründe erkennen: Lukrez), der die Bedeutung der Natur für den Menschen bewusst macht. Denn Lukrez veranschaulicht in seinem Werk De rerum natura, dass die wissenschaftliche Erforschung der Natur für den Menschen von elementarer Bedeutung ist, indem sie seiner Aufklärung dient und ihn von unbegründeter Angst befreit. Der Naturbegriff ist bis heute heftig umstritten. „Die Natur: Gibt es sie überhaupt?“177 Die Natur als Ganzes gebe es nur in unserer Fanta145

sie, behauptet Michael Hampe. „Schon seit der stoischen Antike ist immer wieder vom ‚naturgerechten Leben‘ gesprochen worden. Deshalb hoffen Menschen, wenn sie die Orientierung verlieren, weil sich ihre Kultur stark verändert, die ‚Natur‘ könne ihnen wieder eine Richtschnur für ihr Verhalten liefern.“ Die „stoische Antike“ ist von der Überzeugung, dass ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur das höchste Ziel des Menschen sei, nie abgewichen: „Die Stoiker definieren das Ziel auf dreifache Weise: ‚Das vollkommene Gute‘ heißt das Ziel im philosophischen Sinn des Wortes, wie sie ja auch die ‚Übereinstimmung‘ als Ziel bezeichnen. Sie sagen zweitens, dass ‚das Ziel, nach dem man schießt‘, das Ziel ist, wie sie etwa auch das ‚übereinstimmende‘ (stimmige) Leben auf die gegebene Aussage beziehen; in einer dritten Bedeutung nennen sie das Ziel ‚das Höchste von allem, was man sich wünschen kann‘ und worauf alles andere bezogen wird“ (S&S Nr. 525). Bei D.L. (7, 87 f.) ist ferner überliefert: „Dann wiederum ist das Leben in Übereinstimmung mit der Tugend dem Leben in Übereinstimmung mit der Erfahrung der Vorgänge in der Natur gleich, wie Chrysipp im ersten Buch Über die Ziele sagt. Denn unsere Naturen sind Teile der Natur des Ganzen. Darum erweist sich auch das Leben in Übereinstimmung mit der Natur als das Ziel, und zwar das Leben im Einklang mit der eigenen und mit der Natur des Ganzen, wobei man nichts tut, was das gemeinsame Gesetz verbietet, das der richtigen Vernunft (orthòs lógos) entspricht, die alles durchdringt und identisch ist mit Zeus, dem Herrn über die Ordnung aller Dinge. Genau dies aber ist die Tugend des Glücklichen und der gute Fluss des Lebens, wenn alles geschieht im Sinne der Harmonie (symphonía) des Geistes, der in jedem Einzelnen wohnt, mit dem Willen dessen, der das Ganze verwaltet“ (S&S Nr. 606). Wenn man Glück definiert als ein „Leben in Übereinstimmung (mit sich selbst)“, dann ist damit der Begriff der Natur nicht einfach beseitigt; er wird jedoch individualisiert: Der Mensch ist glücklich, wenn er 146

in Übereinstimmung mit seiner individuellen Natur lebt und gewissermaßen mit sich selbst identisch ist.178 Wenn der Begriff Natur keine Orientierung bietet (so Michael Hampe), dann erhebt sich die Frage, ob nicht auch der Begriff des Glücks eine Leerformel ist. Und Leben nicht ebenso? Ist die Spekulation über das Telos überhaupt notwendig? Braucht man ein Telos?

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4. Prototypen und Chiffren Die Antike bietet Prototypen und Chiffren unserer gegenwärtigen Vorstellungswelt wie zum Beispiel „Sokrates“ als Inkarnation der Weisheit, Sisyphus als Verkörperung des Absurden, „Diogenes in der Tonne“ als Sinnbild der Bedürfnislosigkeit und des einfachen Lebens und dann vor allem den „listenreichen Odysseus“, der wie kaum eine andere Figur des griechischen Mythos eindrucksvoll verdeutlicht, „wie sehr die Mythen der Griechen als Folie und Vehikel des Weltverständnisses und der Welterklärung zu den Grundlagen der Kultur gehören“.179 Wenn man auch Epikur und die Epikureer in diese Reihe stellt, dann deshalb, weil dieser vielfach unverstandene Philosoph die Lust zum höchsten Lebensziel erklärte. Bis heute ist er als Vorbild des Schlemmers und Genussmenschen bekannt. Auf einer Beliebtheitsskala bekäme Epikur als Garant des guten Essens und Trinkens sicherlich den ersten Platz – aber unverdient.

4.1 Das Phänomen Sokrates In seiner von Platon literarisch gestalteten Verteidigungsrede vor einem athenischen Gericht beschreibt Sokrates seine philosophische Tätigkeit. Er habe sein Leben lang eine ihm von Gott auferlegte Pflicht erfüllt: nach der Wahrheit zu suchen und sich selbst und andere zu prüfen und infrage zu stellen (Platon, Apologie 28e). Dieser Aufgabe habe er sich auch unter Lebensgefahr nicht entziehen dürfen: „Den Tod zu fürchten, ist wirklich nichts anderes als zu glauben, man 148

sei weise, ohne es zu sein. Denn glauben bedeutet zu wissen, was man nicht weiß. Niemand weiß zwar etwas über den Tod, nicht einmal ob er vielleicht sogar das größte Gut für den Menschen ist. Aber man fürchtet ihn, als ob man genau wüsste, dass er das größte Übel sei“ (29a). Für Sokrates ist Philosophie also keine Privatsache, sondern ein göttlicher Auftrag, den er zum Wohl seiner Mitmenschen ausführt: „Ich gehe herum und überrede die Jüngeren genauso wie die Älteren unter euch, dass ihr euch nicht stärker um euer körperliches und materielles Wohl kümmert – und auch nicht so heftig – als um die möglichst gute Entwicklung eurer Seelen. Dabei weise ich darauf hin, dass moralisches Handeln nicht aus materiellem Besitz entsteht, sondern aus moralischem Handeln materieller Besitz und alle anderen Güter für die Menschen, und zwar für jeden Einzelnen wie für die Gesellschaft“ (30a–b). Etwas später vergleicht sich Sokrates mit einer Stechfliege, die ein zwar tüchtiges, aber etwas träges Pferd aus seiner Müdigkeit aufscheucht. Genauso habe Gott ihn, Sokrates, zu den Menschen geschickt, damit er sie antreibe, sie überzeuge und ihnen ihr falsches Verhalten vorwerfe. Sokrates habe dafür alles andere aufgegeben und schon so viele Jahre lang wie ein Vater oder älterer Bruder jedem Einzelnen zugeredet, Anstand und Moral zu verwirklichen. Die Menschen aber ärgerten sich darüber wie Schlafende, die abrupt geweckt würden und dann erschrocken und noch schlaftrunken um sich schlügen. Wenn sie ihn aber wie eine Stechfliege zerquetscht hätten, könnten sie weiterschlafen, bis Gott einen anderen Quälgeist schicken würde. Wie man sieht, hat Sokrates bei Platon eine klar umrissene gesellschaftliche Rolle, wie sie heute vielleicht von einem engagierten Journalisten gespielt werden könnte, und alle späteren Philosophen waren in diesem Sinne Nachfolger des Sokrates: Sie sahen ihre Aufgabe stets darin, aufzuklären, anzuregen, zu verändern, zu mahnen, aber auch 149

zu helfen, zu heilen und zu trösten: „Im Bemühen um Wissen muss ich leben und deshalb mich selbst und die anderen prüfen und widerlegen“ (28e). Das Bekenntnis zu dieser Lebensaufgabe ist der Kern der Verteidigung des Sokrates vor dem athenischen Gerichtshof. Platon hat das sokratische Wesen voll und ganz in sich aufgesogen. Das kommt darin zum Ausdruck, dass er in fast allen seinen Werken nicht selbst das Wort ergreift, sondern Sokrates sprechen lässt, den er dann auch in seiner Politeia (5, 480a) über den Gegenstand der Philosophie sagen lässt, es sei das Wissen vom wirklich Seienden. Jahrhunderte später zeichnet Cicero (Academica posteriora 1, 15–17) ein für die Römer maßgebendes Sokrates-Bild: „Sokrates scheint mir als erster die Philosophie – und darin stimmen alle völlig überein – von den dunklen und von der Natur selbst verhüllten Fragen, mit denen sich alle Philosophen vor ihm beschäftigt haben, abgebracht und dem täglichen Leben zugeführt zu haben. Darauf hat sie nach den Fähigkeiten und den Fehlern der Menschen und überhaupt nach dem Wesen des Guten und des Schlechten gefragt und auf der anderen Seite die Auffassung vertreten, dass alles, was am Himmel passiert, von unseren Erkenntnismöglichkeiten weit entfernt sei oder doch, selbst wenn man etwas darüber erfahren könne, keine Bedeutung für ein gutes Leben habe. Sokrates hat in allen seinen Gesprächen, die von denen, die ihn hörten, auf unterschiedliche Weise und ausführlich aufgeschrieben wurden, betont, dass er selbst nichts behaupte, aber andere widerlege, ohne selbst Antworten geben zu können. Er sei jedoch den anderen Menschen darin überlegen, dass diese zu wissen glaubten, was sie nicht wüssten. Er selbst dagegen wisse nur, dass er nichts wisse und auch gar nichts wissen könne. Deshalb glaube er auch, er sei von Apollon als der weiseste aller Menschen bezeichnet worden, weil dies überhaupt das einzige wirklich verlässliche Wissen sei, dass man nicht glaube, etwas zu wissen, was man nicht wisse.“ Bis heute – so Florian Goldmann in der Süddeutschen Zeitung (12. / 13. 11. 2016) – haben wir kein historisch gesichertes, authenti150

sches Bild des athenischen Philosophen. Das gilt nicht nur für die literarischen Quellen, sondern auch für das Porträt und die Skulptur. Wenn 1787 der französische Maler Jacques Louis David den „Tod des Sokrates“ darstellt, kam es ihm auch nicht darauf an, ein authentisches Bild des Sokrates zu zeichnen, sondern den Betrachter weiterhin fragen zu lassen, wer denn dieser seltsame Mann war, von dem wir nur wissen, dass wir in Wirklichkeit nichts von ihm wissen.

4.2 Der Mythos von Sisyphus „Die Nacht der Niederlage. Was geschah in dem Moment, als das SPD-Ergebnis feststand und Peer Steinbrück Pläne machte?“ (Z., 17. 10. 2013): „Blieb die Hoffnung, dass das Ergebnis noch auf wenigstens ehrenrettende 28 Prozent kletterte. Klaus Staeck, der selbstverständlich auch bei diesem Abend wie bei so vielen Siegen und noch mehr Niederlagen dabei war, wusste es besser: ‚Im Laufe eines solchen Abends verlieren wir eher. Mal dazugewinnen, das gibt es nicht.‘ Er machte dazu die Miene, die Sisyphus gemacht haben muss, als er sah, wie der herabrollende Stein an Fahrt gewinnt. Die teuflische Tücke der Sache, der Fluch dieses Wahlkampfs waren aber mit dem schlechten Ergebnis noch nicht beendet.“ Sisyphus ist ein Sinnbild für vergebliche Anstrengung. Er ist zwar auch für seine Schlauheit berühmt. Aber für eine nicht weiter bekannte Freveltat muss er auf ewig im Hades büßen: Er wälzt einen riesigen Stein einen Berg hinauf. Sobald er den Gipfel erreicht, rollt der Stein wieder nach unten, und die Arbeit beginnt von vorn.180 Der römische Dichter Lukrez (De rerum natura 3, 995–1002) versteht bereits den Sisyphus-Mythos als eine Metapher, eine bildliche Darstellung spezifisch menschlichen Handelns und Verhaltens im täglichen Leben und hier vor allem in der Politik: „Denn nach politischer Macht zu streben, was ein sinnloses und unerfüllbares Verlan151

gen ist, und dabei ununterbrochen härteste Anstrengungen zu erdulden, das bedeutet, den Felsen mit äußerster Kraft den Berg hinauf zu wälzen, der dennoch immer wieder vom Gipfel hinunter rollt und rasch wieder der flachen Ebene zustrebt“ (998–1002). Lukrez ist davon überzeugt, dass nicht nur Sisyphus, sondern alle mythischen Gestalten, die in der Unterwelt leiden, in uns selbst existieren: In vita sunt omnia nobis (3, 979). Wie es scheint, knüpft Albert Camus (1913–1960) unmittelbar an Lukrez an: „Le Mythe de Sisyphe. Essai sur l’absurde“ (1942), dt. „Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde“ (1959). Das Motto des Essays entnahm Camus der Dritten Pythischen Ode (109 f.) Pindars: „Liebe Seele, trachte nicht nach dem ewigen Leben, sondern schöpfe das Mögliche aus“ (Übersetzung: Brenner / Rasch 1959).181 Man kann auch übersetzen: „Liebe Seele, strebe nicht nach Unsterblichkeit, aber schöpfe alle deine Möglichkeiten tatkräftig aus.“ Daran anschließend sagt Lukrez (3, 971), das Leben sei niemandes Eigentum, aber allen werde es zu nützlichem Gebrauch (usus) gegeben, das heißt man solle etwas daraus machen. Das bedeutet eigentlich nur, dass man, wenn man in der Absurdität des Lebens keinen Sinn finden kann, dem Leben einen Sinn geben muss. Das Rollen des Steines ist das Leben, die Anstrengung des Sisyphus ist der Sinn. „In einer Hommage an Albert Camus, dem einzigen literarischen Vorbild, das im Vermächtnisbuch noch Erwähnung findet, bekennt Grass sich zur Lehre des Absurden. Die hat mit dem landläufigen Adjektiv absurd wenig gemein, sondern befürwortet eine furchtlose Lebenshaltung, die auf jedes noch so gut gemeinte Sinnversprechen verzichtet und Tod und Vergänglichkeit ungetröstet ins Auge sieht. So gilt das letzte Bekenntnis dem Stein des Sisyphus, der ohne Ziel und Lohn immer wieder den Berg hinaufgewälzt werden muss: ,Zwar habe ich ihn nicht liebgewonnen, doch gehört er zu mir und schützt davor, auf den Vielversprecher Hoffnung zu setzen. Ihn darf ich preisen, als sei er anbetungswürdig, darf ihn verhöhnen, ihn mal Strafe, 152

mal Geschenk nennen. Er trennt mich vom Neuadel zynischer Plauderer, denen kein Stein bewegenswert ist. Nicht übermächtig, nein rundlich gibt er sich, ist rollbar, wenn auch mit Mühe. Einladend vom menschlichen Maß spricht er, macht Mut. Ihm zu entfliehen bleibt vergeblich: sein Lockruf holt mich ein‘.“182

4.3 Odysseus und seine Abenteuer Im ZEIT-Magazin vom 20.01.1995 findet sich in der Rubrik „Cartoon“ ein Blatt von Bernd Pfarr. Der Bildtext lautet: „Die schönsten Szenen aus den Sagen des klassischen Altertums: Odysseus hilft dem geblendeten Zyklopen über die Straße“. Das Bild bliebe samt seines Textes unverständlich, wenn die homerische Odyssee unbekannt wäre. Ein ungewöhnlich großer, massiger Mann mit einer Augenklappe mitten auf der Stirn, einem Stock in der linken Hand und einer Blindenbinde am linken Ärmel seiner offenen schwarzen Jacke überquert in großen Schritten einen Zebrastreifen. Im Hintergrund leuchtet eine Straßenlaterne. Ein deutlich kleinerer Mann führt den großen am Arm über die Straße. Mit seinem linken Arm hat er sich bei dem großen Mann untergehakt. Seinen rechten Arm hat er ausgetreckt, um die Autos zum Anhalten aufzufordern. Oberflächlich betrachtet ist die Szene rührend banal. Versucht man jedoch, den literarischen Hintergrund auszuleuchten, bekommt man die Irrfahrten des Odysseus nach dem Ende des Trojanischen Krieges vor Augen. Der hilflose Zyklop verweist auf ein für Odysseus und seine Gefährten äußerst gefährliches Abenteuer, das Homer im neunten Gesang der Odyssee ausführlich erzählt. Homers Zyklop war beileibe ein Verächter jeder göttlichen und menschlichen Ordnung. Er verweigert Odysseus und seinen Gefährten das Gastrecht. Er packt sich zwei Männer, erschlägt sie einfach auf dem Fußboden und frisst sie mit Haut und Haar auf. Am nächsten Tag tut es das Gleiche und 153

frisst noch einmal vier Männer auf. Er erklärt, er wolle sie alle auffressen und „Niemand“ die Gunst erweisen, ihn als letzten zu verzehren. Der listenreiche Odysseus hatte sich dem Zyklopen nicht mit seinem richtigen Namen, sondern mit „Niemand“ vorgestellt. Als der vom Wein der Griechen volltrunkene Unhold eingeschlafen war, bohren Odysseus und seine Männer einen vorher angespitzten und im Feuer zum Glühen gebrachten Pfahl in sein einziges Auge. Denn sie müssen ihn am Leben lassen, weil sie den riesigen Felsbrocken, mit dem der Zyklop den Höhleneingang verschlossen hatte, aus eigener Kraft nicht beiseite schieben können. Als der Zyklop seine Schafe aus der Höhle treiben will, klammern sich die Männer unter den Bäuchen der Schafe fest und entkommen so aus der Höhle. Sie erreichen ihr Schiff – verfolgt von dem vor Schmerz und Wut brüllenden Zyklopen, der die Flucht seiner Gefangenen zu spät bemerkt und nur noch seinen Vater Poseidon anflehen kann, ihn zu rächen. Die Karikatur zeichnet ein ganz anderes Bild. Der hilflose Riese wird von seinem ärgsten Feind sicher über die Straße geführt. Er ahnt natürlich nicht, wer ihn führt. Die beiden sprechen ja auch nicht miteinander. Es wäre nicht denkbar, dass Odysseus sich dem Zyklopen ein zweites Mal vorstellt. Bernd Pfarr zeichnete einen gezähmten und schwer behinderten Unhold, der mit seiner Vergangenheit im Reinen zu sein scheint. Seine Blindheit ist Strafe genug für sein damaliges Verbrechen an Odysseus’ Leuten. Er hat seine Höhle und seine Schafherde wohl endgültig verlassen und lebt jetzt offensichtlich zivilisiert unter Menschen in einer großen Stadt. Beim Überqueren des Zebrastreifens scheint sich der Ahnungslose über Odysseus’ Hilfe zu freuen und zufrieden zu lächeln. Auch Odysseus zeigt keinen Groll mehr gegen ihn, obwohl er doch sechs seiner Leute erschlagen und aufgefressen hatte. Im Jahr 2000 kam der amerikanische Film „O Brother. Where Art Thou? (O Bruder, wo bist du? Eine Mississippi-Odyssee) in die Kinos.183 Im Vorspann ist die homerische Odyssee ausdrücklich als „Inspirationsquelle“ genannt. Die Komödie spielt im US-Staat Mississippi des Jahres 154

1937 und erzählt von drei aneinander geketteten Sträflingen, denen die Flucht aus der Gefangenschaft gelang. Einer von ihnen ist Ulysses (George Cloony), der nach Hause zu seiner Frau Penny (Holly Hunter) will, um dort einen „Freier“ zu vertreiben. Unterwegs lassen sich die Flüchtigen auf der Suche nach einem geheimnisvollen Schatz von drei „Sirenen“ aufhalten, die gerade Wäsche waschen wie Nausikaa auf der Insel der Phäaken und die Männer in Tiere verwandeln können wie die homerische Kirke. Auf ihrer weiteren Flucht begegnen die flüchtigen Sträflinge auch einem einäugigen Bibelverkäufer, der an den Zyklopen Polyphem erinnert. Alles findet schließlich ein gutes Ende. Selbstverständlich erhebt der Film nicht den Anspruch, Homers Odyssee nachzuerzählen, aber er benutzt sie als Fundament, Rahmen und Bezugspunkt. Um die Anspielungen nachvollziehen und die vielleicht vorhandene Botschaft des Filmes wahrnehmen zu können, muss man die Odyssee oder eine andere Erzählung der Irrfahrten des Odysseus gelesen haben. Denn keine Parodie kommt ohne das Original aus.

4.4 Was ist ein Epikureer? Könnte man Epikur, den Philosophen von der griechischen Insel Samos, darum bitten, uns zu sagen, was ein Epikureer ist, was epikureisch heißt und ob eine Antwort auf diese Fragen für uns heute bedeutsam sein könnte, dann würde er – weiter ausholend – etwa Folgendes sagen: Wenn es zutrifft, dass wir von den Problemen, die durch die Ereignisse der letzten Jahrzehnte entstanden, überfordert sind und uns zurückzuziehen versuchen, statt die Probleme zu lösen, dann verzichten wir auf den Gebrauch unserer Vernunft (→ 1.1: Habe den Mut, deinen Verstand zu gebrauchen). Was nützen uns Zahlen, Daten, Statistiken? Davon haben wir genug, wir brauchen jetzt Gedanken. Was mich ebenso beunruhigt, das ist die wachsende Sehnsucht nach dem Spirituellen, die unzählige Menschen in aller Welt 155

befallen hat. Je rationaler die heutige Welt sich gibt, desto mehr wächst offensichtlich das Bedürfnis nach einer Abkehr von der Vernunft: Esoterik, Obskurantismus, Okkultismus und religiöser Fundamentalismus finden immer mehr Anhänger. Keine Heilslehre ist so verschroben, dass sie keine Gläubigen fände, die in freudiger oder angsterfüllter Erwartung zur Rettung ihres Seelenheiles alles zu opfern bereit sind. Ich gebe es zu: Mein „Garten“ in Athen ist in der Tat auch keine Polis, geschweige denn eine Res publica, auch wenn der berühmte Marcus Tullius etwas übertreibt, wenn er mir hedonistischen Eskapismus vorwirft (→ 8.3: Eskapismus – eine Alternative?). Aber er wollte einfach nicht einsehen, dass mein Hedonismus zwei Seiten hat, die ich sehr wohl zu unterscheiden wusste. Der wackere Diogenes Laërtius, der mir in seiner zehnbändigen Philosophiegeschichte einen ganzen Band widmet und dort unter anderem meine Briefe an Herodot mit einem Abriss meiner Physik, an Pythokles über meteorologische und astronomische Fragen und an Menoikeus über meine Ethik überliefert hat, trifft ins Ziel: Es gibt in der Tat zwei Arten von Lust: die „katastematische“, das heißt die „zuständliche“ Lust, und die „kinetische“, die Lust „in Bewegung“. Ich finde mich richtig zitiert, wenn Diogenes Laërtius (10, 136) sagt: „Die Seelenruhe und die Freiheit von Schmerz sind ,zuständliche‘ Lustempfindungen; Freude und Fröhlichkeit bedeuten dagegen Lust in Bewegung und Tätigkeit“. Aber darauf wollte ich gar nicht eingehen, obwohl der mir unterstellte Eskapismus schon etwas mit einem rechten Verständnis von Lust zu tun hat; denn wenn man meinen Lust-Begriff auf die „Lust in Bewegung“ verengt und die „zuständliche Lust“ verleugnet, muss man mich als oberflächlichen Lustapostel, das heißt als Epikureer, diskriminieren. Aber ich habe nie, wie mir von den fundamentalistischen Kirchenvätern unterstellt wurde, ein passives Verständnis von Lust auf der Grundlage einer einseitigen „Lust in Bewegung“ vertreten. Das ist ein grobes Missverständnis, dem vielleicht auch mancher 156

Epikureer erlegen ist. In meinem Brief an Menoikeus (10, 132) schrieb ich vielmehr, dass nicht Ausschweifung und Luxus das lustvolle Leben schaffen, sondern „nüchternes Rechnen des Geistes“, das die Gründe allen Wählens und Meidens erforscht und die Wahnvorstellungen vertreibt, derentwegen größte Aufregung die Seelen ergreift. „Für all dies aber ist der Ursprung und das höchste Gut die praktische Vernunft. Daher ist diese noch wertvoller sogar als die Philosophie, aus der alle übrigen Tugenden hervorgehen, und sie lehrt, dass es nicht möglich ist, lustvoll zu leben, ohne vernünftig, anständig und gerecht zu leben, aber auch nicht vernünftig, anständig und gerecht zu leben, ohne lustvoll zu leben. Denn die Tugenden stehen in natürlicher Verbindung mit dem lustvollen Leben, und das lustvolle Leben ist von den Tugenden nicht zu trennen“ (10, 132). Auch Lukrez, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert seinen römischen Mitbürgern meine Philosophie nahe bringen wollte, indem er sie in Verse kleidete – sagt er doch selbst, er benutze die Versform, um den bitteren Saft der Philosophie schmackhaft zu machen (De rerum natura 1, 921–950) – hat mich richtig verstanden, wenn er etwa die Leidenschaft in der Liebe ablehnt, weil sie den wahren Liebesgenuss, die katastematische Lust, verhindere (4, 1058–1191).184 Die Vernunft – davon bin ich nach wie vor überzeugt – ist das Instrument, mit dem der Mensch über die Lust verfügen kann, ohne sich von ihr überwältigen zu lassen.185 Das brachte schon der kluge Aristipp von Kyrene auf die unübertroffen prägnante, aber ebenso anschauliche Formel: „Ich besitze die Hetäre Laïs, werde aber nicht von ihr besessen.“ Seine Begründung gegenüber denen, die ihm den Umgang mit der Hetäre vorwarfen, lautete: „Die Begierden zu beherrschen und ihnen nicht zu unterliegen, ist besser als der völlige Verzicht auf sie.“ Die Vernunft macht aber nicht nur die Lust verfügbar; sie ist auch das Werkzeug zur Orientierung in einer an sich irrationalen, weil grund- und sinnlosen Welt. Was die Vernunft in dieser Hinsicht leis157

tet, ergibt sich aus weiterem Nachdenken über den Begriff der Lust: Wenn die Lust das höchste Gut und die Unlust das größte Übel ist, dann kann Lust mit dem Freisein von Unlust oder mit Unlustfreiheit gleichgesetzt werden. Lust ist als Unlustfreiheit der Zustand, in dem man weder Begierde noch Schmerz empfindet. Im Brief an Menoikeus (128) steht: „Eine feste und ruhige Betrachtung dieser Dinge weiß jedes Wählen und Meiden auf die Gesundheit des Körpers und die Ruhe der Seele zu beziehen, da dies die Vollendung, das Telos, des glücklichen Lebens ist. Deswegen tun wir nämlich alles, um weder Schmerz noch Furcht zu empfinden.“ Dass der Schmerz auch seine guten Seiten hat, sei hier nicht verschwiegen (→ 7.9: Schmerz und Schmerztherapie). Lukrez, mein unbestreitbar größter und treuester Schüler, hat im Proömium zum 2. Buch De rerum natura (Vers 1–61) ein grandioses Bild des Weisen gezeichnet, dessen Glück einzig und allein auf der Macht der Vernunft beruht, weil er mit der vernunftgesteuerten Betrachtung und Erklärung der Natur den Schrecken und das Dunkel der Seele aufhebt. Genau das ist mein philosophisches Programm. Daher empfinde ich tiefe Freude und „katastematische Lust“, wenn man mir nachsagt,186 mein Programm sei „der Anfang der menschlichen Mündigkeit“, da ich für „das Höchste und Beste“ eingetreten sei, „was es überhaupt gibt: nämlich freies, unangreifbares, nicht störbares Sein als vernunftbegabtes Wesen“. Ja, ich behaupte: Freiheit fängt erst da an, wo sie Freiheit von Illusionen ist; denn Einsicht in die Sinnlosigkeit des Seins ist die Voraussetzung für die Freude am Sein, für die reine Lebensfreude. Es bedrückt mich zwar nicht – so möchte ich fortfahren –, aber es gibt mir doch zu denken, dass der große Marcus Tullius Cicero ein so gebrochenes Verhältnis zu mir und meiner Lehre hat. „Gebrochen“ deshalb, weil er einerseits in einigen seiner öffentlichen Reden einen ganz und gar missverstandenen Epikureismus beschwört, um diesen gegen (In Pisonem) oder auch für (Pro Caelio) den Angeklagten vor 158

Gericht zu verwenden. Andererseits gibt er in einigen seiner Briefe Ad familiares (zum Beispiel im Briefwechsel mit Cassius oder in den Briefen an Paëtus und an Trebatius) zu erkennen, dass er mich wohl doch verstanden hat. Dann aber erklärt er wieder, er habe sich einem vulgären Epikureismus zugewandt, seitdem er seiner Sorge um die Res publica enthoben sei. In den Tuskulanischen Gesprächen, wo er sich im 3. Buch mit meiner und der kyrenäischen Depressionstherapie auseinandersetzt und meine Empfehlungen kategorisch ablehnt und sogar lächerlich macht, versucht er wenigstens andeutungsweise zu begründen, warum er mich ablehnt. Obwohl er einräumt (3, 46), dass ich viele ernste und ausgezeichnete Dinge gesagt habe, kann er sich mit meiner Auffassung, dass die Lust das höchste Gut sei, nicht abfinden. Auch meine Behauptung, die höchste Lust bedeute mir Schmerzlosigkeit und sei weit entfernt von grober Sinnenlust, hält er nicht für akzeptabel. Zudem wirft er mir vor, ich hätte das höchste Gut von der Virtus getrennt, indem ich es als Voluptas definierte. Der Römer ignoriert, dass es unterschiedliche Arten von Lust gibt. Darüber hatten wir schon im Zusammenhang mit der Unterscheidung von „zuständlicher Lust“ und „Lust in Bewegung“ gesprochen. Für ihn hat Lust stets denselben Inhalt: Er kann sie sich nur als körperliche Lust vorstellen, die mit Virtus gewiss nicht in Einklang zu bringen ist. Weil Cicero nicht bereit ist, sein Verständnis von Lust zu überprüfen und ein differenziertes Bild von diesem Begriff zu entwickeln, muss er eine recht pathetische Antwort auf die Frage geben, warum er so eifrig gegen mich polemisiere: „Offensichtlich geht es in unserem Streit um Ehre oder Würde. Für ihn liegt das höchste Gut in der Seele, für mich im Körper, für ihn in der Tugend, für mich in der Lust.“ Ihr fragt zu Recht, meine lieben Freunde, warum der so kluge Marcus Tullius die Vielschichtigkeit meines Lust-Begriffs nicht sehen wollte. Ich hätte eine ganz einfache Erklärung: Cicero war zeitlebens von dem heroischen Impuls zur politischen Verantwortung für die 159

Res publica getrieben. Er hatte wie viele vor und nach ihm einen stark ausgeprägten Heldenkomplex, der ihn nie zur Ruhe kommen ließ. Er war ein Mensch der Öffentlichkeit, ein homo publicus, für den auch ein sich Ausruhen in Würde (otium cum dignitate) nur zweitrangig war. Er war offenbar das Gegenteil von mir. Die Umstände waren eben ganz verschieden: Ich lebte in der zwar griechisch geprägten, aber doch so offenen Welt des Hellenismus; er war ein überzeugter traditionsbewusster Republikaner mit einem stark ausgeprägten römischen Selbstbewusstsein. Er trug politische Verantwortung in einem mächtigen Staat; ich lebte in meinem schönen, großen Garten, einfach nur um zu leben – allerdings nicht allein, sondern im Kreise meiner Freundinnen und Freunde. So war mein Imperativ „Lebe im Verborgenen“187 für Cicero (und andere) auch nach dem Verlust jeder politischen Einflussnahme indiskutabel. Während ich eine „Tugend verbunden mit Lust“ oder eine „Lust verbunden mit Tugend“ für ein ehrenwertes Lebensziel hielt, war für Cicero der Gegensatz zwischen Lust und Tugend von existentieller Bedeutung. Denn in diesem Gegensatz steckten für ihn noch andere gewichtige Antithesen: Muße und Beschäftigung, Rückzug aus der Politik und politisches Engagement, Genießen und sich Aufopfern für eine politische Idee. ... Diese in Ciceros Augen unvereinbaren Gegensätze verstärkten die Polemik. Hinzu kam, dass für Cicero die altrömischen Moralvorstellungen und die Vorbilder der Vorfahren mit dem Hedonismus meiner (vor allem auch römischen) Anhänger unvereinbar waren. Kurz gesagt – Cicero fehlte das wohl wichtigste Merkmal eines echten Epikureers: die Ataraxía, die Gelassenheit.188 Es mag modernistisch klingen, wenn man die Aufgabe, die Epikur der Philosophie zuweist, als „Psychotherapie“ bezeichnet. Aber die Analogie zwischen Medizin und Philosophie wurde schon vor Epikur gesehen. Demokrit soll bereits gesagt haben, Medizin heile die Krankheiten des Körpers, Weisheit befreie die Seele von den Leidenschaften. „Man möchte allerdings gerne wissen, an welche Leidenschaften 160

Demokrit da gedacht hat. Zum einen Teil mögen gewiss die banalen Lüste des Leibes gemeint sein, die durch die Einsicht in die Notwendigkeit vernünftiger und maßvoller Lebensführung überwunden werden können. Wenn aber der Begriff der Weisheit darüber hinaus die besondere philosophische Welterklärung Demokrits umfasst (was anzunehmen ist), dann wird man als Leidenschaften vorzugsweise die Angst vor den Himmelserscheinungen und dem Tode auf der einen, die Jagd nach Ruhm und Reichtum auf der anderen Seite zu verstehen haben; denn Demokrit ist ja der Philosoph, der über die Nichtigkeit des menschlichen Ehrgeizes angesichts der Dimensionen des Kosmos lacht. ... Entscheidend ist, dass mit Demokrit die Philosophie eine neue Aufgabe erhält. Die Erkenntnis der Natur und des Seins ist nicht mehr ihr oberster Zweck; sie wird nur noch Mittel zu dem Zweck, die Gesundheit der Seele herzustellen und zu bewahren.“189 Die epikureische Lust kann kein Objekt haben, wenn man sie als Freiheit von Schmerz versteht. Sie hat aber eine psychische Disposition zur Voraussetzung. Das ist die Ataraxia, die innere Ungestörtheit, die Vermeidung von Unruhe, die Gelassenheit. In seinem Brief an Herodot beschreibt Epikur eingehend die Ursachen für die seelische Unruhe: Irrglaube und Unkenntnis natürlicher Vorgänge. Wenn man sich davon befreit, entsteht die innere Ungestörtheit, die Seelenruhe, die Gelassenheit.

4.5 Diogenes: Das einfache Leben Die Bildergeschichte Diogenes und die bösen Buben von Korinth, die Wilhelm Busch 1862 veröffentlichte, ist nicht so berühmt wie Max und Moritz. Aber „es liegt auf der Hand, dass Busch eine Bubengeschichte geben wollte und sonst nichts. Die klassische Einkleidung ist eher beiläufig. Aufhänger ist dabei das Fass, das sich, vor allem wenn bewohnt, vorzüglich dazu eignet, in Bewegung gesetzt zu werden. 161

Einzig zu dieser Büberei gibt Diogenes Anlass.“190 Obwohl Wilhelm Busch mit seiner Bildergeschichte weniger belehren als unterhalten will, was ihm zweifellos gelingt, fragt sich der Leser und Betrachter der Bilderfolge, wer denn dieser seltsame Diogenes war. Busch zeichnet einen Menschen, der als passives Opfer eines Bubenstreiches zunächst durch das Spundloch seines Fasses nass gespritzt und dann mit seinem Fass einen Abhang hinuntergerollt wird. Die „bösen Buben“ verhaken sich dabei an zwei Nägeln, die zufällig im Holz stecken. Sie werden von dem Fass überrollt und platt gewalzt. „Diogenes der Weise aber kroch ins Fass und sprach: ‚Jaja! Das kommt von das!‘“ Welches Bild bekommt der Betrachter von diesem Diogenes? Da liegt ein Mensch dösend oder schlafend mit nackten Füßen in einem Fass aus Holz. Die Beine ragen aus dem Fass heraus. Als er durch das Klopfen der beiden Buben gestört wird, schaut er hinaus und spricht: „Ei, ei! Was soll denn das!“ Das ist keine philosophische Frage, sondern Ausdruck des Ärgers. Man sieht den verwahrlost wirkenden bärtigen Kopf eines alten Mannes. Als er nass gespritzt wird, tritt er leicht gebeugt vor das Fass. Darauf legt er sich wieder in das Fass zurück, ohne ein Wort zu sagen. Als die bösen Buben das Fass zum Rollen bringen, schreit er nur: „Halt, halt!“ Bis zum Schluss bleibt der Mann passiv und zeigt keine Regung. Er hat nur den Wunsch, in sein Fass zurück zu kriechen, und kein Interesse daran, sich gegen die Störenfriede zu wehren oder gar seine „Weisheit“ zu beweisen. Dennoch gibt sein „Jaja! Das kommt von das!“ zu denken. Worauf verweist das zweite „das“? Meint es die hyperaktive Bosheit der Jungen und die grundlose Störung eines Penners? Oder die selbstkritisch reflektierte Tatenlosigkeit, die eine Katastrophe zur Folge hat? Oder auch nur die blauen Flecken, die sich der tatenlose Diogenes in seinem rollenden Fass zuzog, das am Ende einfach vor einer Hauswand unversehrt liegen bleibt? Aber worin besteht denn nun die Weisheit des Diogenes? Unter dem Stichwort „Modeopfer“ brachte der „Ethikrat“ der ZEIT vom 162

04. 09. 2003 Diogenes von Sinope ins Spiel: „Mode erschien lange als das schlechthin Andere der Philosophie. Nicht bloß weil bekannte Repräsentanten der Zunft es zumindest in der Vergangenheit vorzogen, sich dem Diktat des Modischen, des ‚Trends‘ zu widersetzen. ‚Tonne statt modisches Einfamilienhaus‘ war zum Beispiel die Devise des Diogenes von Sinope, der allerdings weder verhindern konnte noch verhindern wollte, dass das Leben in der Tonne unter jungen Leuten selbst zur Mode wurde. Die Philosophen meinten, Philosophie (→ 3.12: Über den Ursprung der Philosophie) verstehe sich nur auf das Sein statt auf den Schein (→ 10.3: Schein und Sein, Wort und Tat). Nicht auf das Neue komme es ihr an, sondern auf das Unveränderliche. Auf die Dauer ist zwar mit dem Unveränderlichen allein kein Auskommen, eine modische Ausstaffierung philosophischer Einsichten unumgänglich. … Und zugleich sind wir ebenso notwendig dazu verurteilt, die Existenz von Modemuffeln zu fristen, da wir stets jämmerlich hinter den Ansprüchen zurückbleiben, die die Mode an uns stellt. Denn sobald wir dem gerecht werden, was die Mode heischt, ist sie auch schon vorüber. Sie erneuert sich so unablässig, dass sie uns keine Zeit lässt, uns mit ihr einzurichten. Dem Sich Einrichten ist die Mode überhaupt abhold; sie suggeriert, alles sei in beständigem Wandel und nicht gewiss (→ 9.6: Panta rhei). … Was beweist denn, dass alles in beständigem Wandel begriffen ist …? Was hindert uns, das Tempo der Moden, an die wir uns anpassen oder die wir selbst mitbestimmen für uns selbst zu bestimmen? … Wenn es uns gefällt, unsere Schultern mit dem längst verblichenen Meerschweinchen zu zieren, und wir den Lendenschurz den Schlaghosen vorziehen, warum denn nicht? Wir würden womöglich jene kynische Praxis reanimieren,191 mit der Diogenes die Philosophie lebenstauglich machen wollte.“ Die reiche Literatur über Diogenes beginnt im dritten Jahrhundert nach Chr. mit der umfassenden Darstellung der Geschichte der griechischen Philosophie durch Diogenes Laërtius (6, 20–81).192 Aber schon bei Seneca (Briefe an Lucilius 90) gilt er als ein Vorbild des 163

„einfachen Lebens“, als ein Sinnbild der „Bedürfnislosigkeit“ und des ökonomischen Minimalismus.193 „Die Theoretiker der Ökologie predigen Nachhaltigkeit. Da wir in einer Welt mit zurückgehenden Ressourcen nicht immer weiter unbegrenztes Wachstum anstreben können, müssen wir unsere Rhythmen verlangsamen, unser Leben vereinfachen, unsere Bedürfnisse nach unten korrigieren. ... Um das durchzusetzen, bräuchte es einen aufgeklärten Despoten. Welcher Regierende hätte den Mut, unserer Bevölkerung eine solche Kur aufzuerlegen? Wie könnte er die Massen zur Tugend der Askese bekehren? Milliarden von Chinesen, Indern und Europäern davon überzeugen, dass es besser ist, Seneca zu lesen, als Cheeseburger zu verschlingen?“194 Trotzdem könnte man mit Diogenes eine „Ästhetik des Verzichts“195 begründen. Denn was ist die Tonne anderes als die sinnvolle Wiederverwertung, das Upcycling, eines abgängigen und wahrscheinlich nicht mehr ganz dichten Vorratsbehälters für einen durchaus sinnvollen Zweck? Diogenes reduziert den Verbrauch von Rohstoffen und Energie, indem er einen nicht mehr gebrauchten Gegenstand um- und weiternutzt. Auf diese Weise demonstriert er in aller Öffentlichkeit seinen Appell, ein einfaches oder wenigstes ein einfacheres Leben zu verwirklichen, das nicht nur auf Überflüssiges verzichtet, sondern auch das scheinbar Nutzlose wieder nützlich werden lässt – durch Upcycling eben.

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5. Metamorphosen Die berühmtesten Metamorphosen der Literaturgeschichte sind dem römischen Dichter Ovid zu verdanken. Das wohl zwischen den Jahren 2 und 8 n. Chr. verfasste Werk besteht aus etwa 250 Verwandlungssagen. In den kunstvoll miteinander verklammerten fünfzehn Büchern wird eine durchgehende Handlung in chronologischer Abfolge erzählt: „Der epische Faden des Werkes beginnt mit der Weltentstehung aus dem Chaos, den vier Weltaltern, der Sintflut und der folgenden Neubelebung der Erde (1, 5–451), führt von den Mythen liebender und rächender Gottheiten (1, 452–6, 411) über die Leidenschaften und Leiden griechischer Helden und den troischen Sagenkreis (6, 412–13, 622) zu den verewigten Gründern und Kultstiftern der römischen Vorzeit (13, 623–15, 744) und endet in der dichterisch gesehenen Gegenwart mit der Verwandlung Caesars in einen Stern (15, 745–870).“196 Es handelt sich also um ein in sich geschlossenes „Lied ohne Ende“ (Carmen perpetuum), einen kosmologisch-mythologischen Versroman unter dem Gesichtspunkt der dauernden Verwandlung der Welt. Selbst wenn man davon ausgehen kann, dass das Werk seiner metrischen Form nach ein Epos ist, so enthält es doch auch inhaltliche und stilistische Elemente vieler Gattungen der antiken Literatur: Darunter sind lyrische Partien, Anleihen aus dem Drama, der hellenistischen Geschichtsschreibung (universalhistorischer Ansatz) und der elegischen Dichtung. Hinzu kommen der Jambus, das Epigramm, die Fabel, die Satire, der philosophische Traktat, die rhetorische Kontroversie und die Rede – von der Novelle und dem Märchen ganz zu schweigen. 165

Aufgrund ihrer Gattungsvielfalt lassen sich die Metamorphosen als ein „enzyklopädisches Kollektivgedicht sui generis“197 charakterisieren, das unter anderem folgende Merkmale aufweist, die bei jeder einzelnen Episode zu berücksichtigen sind: (1) Die Bücher sind so verknüpft, dass am Ende eines Buches wie in einem Fortsetzungsroman ein neuer Erzählzusammenhang beginnt oder die Haupthandlung eines Buches erst im Folgenden abgeschlossen wird. (2) Die Erzählungen werden nicht nur durch eine Rahmenerzählung, sondern auch durch thematische Motive miteinander verknüpft (ein derartiges Motiv ist zum Beispiel das Sehen von Verbotenem durch Narcissus und andere in Buch 3). (3) Theben, Athen und Troja mit Rom bilden im ersten, zweiten und letzten Drittel des Werkes genealogische und kulturhistorische Schwerpunkte. (4) Das Werk ist in dreimal fünf Bücher (Pentaden: vgl. Tristien 1, 11, 117) gegliedert. Zwischen den Schlussbüchern der drei Pentaden bestehen auffallende Analogien: „Nur in diesen Büchern ist von den Musen die Rede, nur hier finden sich ungewöhnlich lange, von Sehergestalten vorgetragene Einlagen, die das Buch prägen: der Gesang der Muse (Buch 5), der des Orpheus (Buch 10) und der Vortrag des Pythagoras (Buch 15). Jedes dieser Bücher hat auch einen Epilog, der sich auf ein Künstlerschicksal bezieht“ (M. v. Albrecht 21994, 636). (5) Die Personen stellen sich oft durch direkte Rede dar; sie halten Monologe im Stil der Tragödie. (6) Epische Gleichnisse werden kunstvoll platziert. (7) Der Autor gibt dem Leser / Hörer immer wieder Verständnishilfen, indem er das Grundthema einer Erzählung schon in der Überleitung oder der Einführung nennt und dann wiederholt. (8) Oft wird auf den unheilvollen Ausgang eines Geschehens im Voraus hingewiesen. (9) Tragische Ironie unterstreicht den Kontrast zwischen der Unwissenheit des Handelnden und dem Schicksal, das ihn erwartet. (10) Die Verwandlungsvorgänge werden anschaulich geschildert, so dass der Leser den Vorgang vor sich sieht – trotz seiner Irrationalität, Natur- und Vernunftwidrigkeit. „Hier scheint Ovid das Statische zu überwinden, das 166

vielen antiken Kunstformen eigen ist, und Möglichkeiten vorwegzunehmen, die erst der Film visuell realisieren wird“ (M. v. Albrecht 2 1994, 637). (11) Durch eine klar erkennbare weltanschauliche Botschaft erhält das Werk Kohärenz und Konsequenz: Offensichtlich wollte Ovid veranschaulichen, dass eine besondere Eigenschaft, ein besonderes Verhalten oder eine besondere Leistung in höherem Grad den Wesenskern eines Menschen ausmacht als seine biologische Existenz. Denn nach dem Vollzug der Verwandlung lebt das Wesensbestimmende unverändert weiter und wird in der neuen Existenzform manifest. Das zeigen zum Beispiel die lykischen Bauern, die als Frösche weiter existieren, Daphne in der Gestalt des Lorbeerbaumes oder Philemon und Baucis.198 „Für Ovid war die Metamorphosen-Dichtung keine Sammlung von Curiosa; sein Interesse an ihr war nicht der Spieltrieb des gelehrten Sammlers und nicht der des preziösen Schöngeists. Sondern in ganz bestimmtem Sinne sucht Ovid Antwort auf eine Frage“ (Dörrie 1959, 116). Es ist die Frage, „was hinter allen Erscheinungen Dauer besitzt“. Ovids Antwort lautet: Das Spezifische und Besondere, der Wesenskern, die individuelle Substanz. In der Mehrzahl der Metamorphosen bedeutet der Verlust der menschlichen Gestalt einen Abstieg ins Tierische, ins Pflanzliche oder in die leblose Natur. Eine Ausnahme ist z. B. die Apotheose des Hercules, dessen göttlicher Wesenskern erhalten bleibt, während seine sterbliche Gestalt verbrennt. Eine Sonderstellung nimmt auch die Pygmalion-Metamorphose ein, wo durch einen Schöpfungsakt der Göttin Venus aus einem wohlgeformten Stück Elfenbein eine Frau wird. Auch Narcissus passt nicht in das Schema: Denn er wird nicht verwandelt, sondern vollständig aufgelöst (die Narzisse tritt als ein völlig anderes Wesen an seine Stelle), während Echo ihre körperliche Gestalt verliert, aber in ihrer spezifischen „Substanz“, dem Widerhall, fortexistiert.199 Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich festhalten, dass Ovid mit den Metamorphosen ein Weltprinzip veranschaulicht, das sich auf „Verwandlung statt Vernichtung“ gründet. 167

5.1 Europa und der Stier (Metamorphosen 2, 833–875) Die Abbildung, mit der der Zeitartikel vom 14. 08. 2013 über narzisstische „Wahnsinns-Typen“ (→ 5.2: Narcissus und Narzissmus) beginnt, weckt die ganze Aufmerksamkeit des Lesers: Ein Mann sitzt auf einem steuerbaren Wasserschlitten, der durch die Fluten gezogen wird. Ein nacktes Mädchen sitzt hinter ihm und umklammert ihn. Dabei ist ihr Gesicht dem Betrachter zugewandt. Bildunterschrift: Multimilliardär Richard Branson: Nur eitel – oder narzisstisch“? Die Szenerie löst Assoziationen an die Entführung der phönizischen Prinzessin Europa durch Jupiter = Zeus in Gestalt eines Stieres aus. Dieser Mythos soll den geographischen Begriff „Europa“ erklären. Europa hieß eine der zahlreichen Töchter des Okeanos, des Stroms, der die Erde umfließt. „Da die Sage von Europa und dem Stier in die mykenische Zeit hinauf zu ragen scheint, liegt es nahe, auch den Namen als vorgriechisch zu betrachten.“200 Es handelt sich wohl eher um ein semitisches Wort, das „Untergang der Sonne“ oder „Land im Westen“ bedeutet. Herodot kennt bereits den geographischen Begriff „Europa“ (4, 42 und 45). Trotz der wahrscheinlich vorgriechischen Herkunft des Namens ging man schon in der Antike davon aus, dass der Erdteil Europa nach dem Mädchen Europa benannt wurde: Ein wichtiger Zeuge für diese Verknüpfung ist Horaz, der Europa ein umfangreiches Gedicht widmete (Carmen 3, 27). Der von Zeus in Gestalt eines weißen Stieres über das Meer entführten und auf Kreta abgesetzten Europa nähert sich Venus, um ihr zu eröffnen, dass ihr Entführer Zeus selbst war, und in den letzten beiden Versen (75 f.) verkündet sie Europa: „Die halbe Welt wird deinen Namen tragen,“ und in Carmen 3, 3, 47 des Horaz wird Europa ausdrücklich als Erdteil bezeichnet. Ovid (Festkalender 5, 603–620) erzählt die Entführung der phönizischen Prinzessin aus Sidon sehr anschaulich und erwähnt, dass nach ihr ein Drittel der Welt benannt sei. Nebenbei erinnert Ovid (Meta168

morphosen 8, 120) daran, dass Europa durch Jupiter – wieder in seiner „richtigen“ Gestalt – die Mutter des kretischen Königs Minos wurde. Dass sich Jupiter in Europa verliebt hatte, erwähnt Ovid (Metamorphosen 2, 833–875): Der Gott nimmt die Gestalt eines Stieres an, um sich ihr zu nähern. Sie bewundert die Schönheit des Stieres und steckt ihm Blumen ins Maul, klopft seinen Hals und bekränzt seine Hörner. Dann wird sie mutiger und steigt auf seinen Rücken. Daraufhin stürmt er mit ihr ins Meer und trägt sie von der Küste Phönikiens bis nach Kreta. Europas Ritt auf dem Rücken des Stieres hat zahlreiche Künstler aller Zeiten zu entsprechenden Werken motiviert. Darunter befinden sich auch viele Karikaturen. Auf der griechischen Zwei-Euro-Münze ist die Entführung Europas durch den Stier abgebildet. Der Stier stürmt hier von links nach rechts, das heißt von Westen nach Osten und nicht wie im Mythos von Osten nach Westen. Dennoch bleibt das Europa-Stier-Motiv das am meisten zitierte antike Motiv. Aber wer denkt dabei schon, dass Europa ein „Import“ aus Asien ist?

5.2 Narcissus und der Narzissmus (Metamorphosen 3, 339–510)201 Gestalten der antiken Mythologie liefern Bezeichnungen für abnormes oder auffälliges Verhalten. Für diesen Vorgang der MythenEntwendung ist der Narcissus der Metamorphosen ein bemerkenswertes Beispiel, sodass die Frage berechtigt erscheint, was der unglückliche Narcissus mit dem Narzissten der modernen Psychologie gemeinsam hat und worin er sich von diesem unterscheidet. Der „Narzissmus“ ist heute in aller Munde. Es wird behauptet, dass gerade besonders prominente und erfolgreiche Menschen unter einer „ernsthaften narzisstischen Störung“ leiden (→ 5.1: Europa und der 169

Stier). 202 Der auf diese Weise Leidende habe ein geringes Selbstwertgefühl und lehne sich selbst ab, versuche dies jedoch durch übertriebenes Selbstbewusstsein nach außen zu kaschieren. Narzissten überschätzten dabei deutlich ihre Fähigkeiten, seien aber der Meinung, dass ihre Mitmenschen sie genauso sähen, wie sie sich selbst sähen. Um ihr Ansehen zu steigern, bauten sie nicht selten Lügenkonstrukte auf. Bei Misserfolgen fühlten sie sich erniedrigt und wertlos und könnten mit Kritik schwer umgehen.203 Was erzählt nun der römische Dichter Ovid in seinen Metamorphosen (3, 339–510) über den in der antiken Mythologie nur wenig bekannten Narcissus, der nur sich selbst lieben und begehren konnte? Hier stellt sich sofort die Frage, ob und – wenn ja – inwieweit der moderne Narzissmus als eine Krankheit unserer Zeit wirklich den Narcissus des antiken Mythos benötigt, um verstanden zu werden. Es scheint so zu sein, dass dieser in der aktuellen Verwendung des Begriffs „Narzissmus“ eine deutlich geringere Rolle spielt als etwa in Sigmund Freuds Abhandlung „Zur Einführung des Narzißmus“ (Ges. Werke. Bd. 10, Frankfurt 1914). Dennoch kann der antike Mythos zur weiteren Klärung des bisher noch nicht eindeutig bestimmten Phänomens hilfreich sein: Der römische Dichter stellt Narcissus als den Sohn der Nymphe Liriope und des Flussgottes Cephisus vor. Der Seher Tiresias prophezeit ihm ein langes Leben, „wenn er sich nicht erkennt“ (3, 348). Er warnt davor, dass er sein eigenes Spiegelbild sieht. Denn er weiß, dass Narcissus – anders als der Narzisst – im Spiegel nicht sich selbst, sondern eine andere Person bewundert. Als er herangewachsen ist, begehren ihn viele Jünglinge und Mädchen, weil er so schön ist. „Aber in der zarten, zerbrechlichen Schönheit steckte ein so gefühlloser Hochmut“ (354), dass er sich allen verweigert. Warum es so ist, sagt der Dichter nicht. Auch die Nymphe Echo verliebt sich in Narcissus. Es ist ihr aber unmöglich, mit einer anderen Person ein sinnvolles Gespräch zu führen. Sie kann als Echo immer nur die letzten Worte eines anderen wiederholen. Als sie Nar170

cissus zu umarmen versucht, stößt er sie von sich: „Ich will sterben, bevor du Macht über mich bekommst“ (391). Sie kann nur die letzten Wörter wiederholen, die durch das Echo verkürzt werden und in dieser Verkürzung Narcissus ’ schroffe Ablehnung in ihr Gegenteil verkehren: „Habe (doch) Macht über mich“ (392). Sie verzehrt sich vor Kummer, und am Ende bleibt nur ihre Stimme. Ein anderer Mensch, der von Narcissus abgewiesen wird, verflucht ihn: Wenn er einmal liebe, solle es ihm genauso ergehen. Der Fluch wird erhört (→ 2.9: Nemesis): Als Narcissus einmal aus einer Quelle trinken will, sieht ihm sein Spiegelbild entgegen. Noch während er trinkt, verliebt er sich in dieses, ohne zunächst zu erkennen, dass es sein eigenes ist. Da er das Bild nicht umarmen kann, legt er sich schließlich neben die Quelle und stirbt, und es bleibt nur eine Narzisse204 zurück. Die Prophezeiung des blinden Sehers Tiresias, der tiefer blickt als ein Sehender, ist in Erfüllung gegangen: Narcissus hätte ein langes Leben haben können, wenn er nicht in seinem Spiegelbild eine andere Person erkannt hätte, in die er sich verliebt. Narcissus ist also nicht an unerfüllbarer Selbstliebe, sondern an einer fatalen Selbsttäuschung zugrunde gegangen, weil er das Bild für einen anderen Menschen gehalten hatte. Er begreift zu spät, dass er selbst zugleich Subjekt und Objekt seiner Liebe ist. Das Verstörende dieses Vorgangs versucht der Reiseschriftsteller Pausanias aufzuheben. Er erwähnt in seiner im 2. Jahrhundert n. Chr. entstandenen Beschreibung von Griechenland (9, 31, 7–9) die Quelle des Narcissus bei Thespiai in Böotien, meint aber, dass das Verhalten des jungen Mannes unglaubwürdig sei. Es sei ausgeschlossen, dass ein Mensch in dem Alter, in dem er schon von Liebe ergriffen werden konnte, einen wirklichen Menschen von seinem Spiegelbild nicht hätte unterscheiden können. Pausanias entscheidet sich für eine rationalisierte Version des Mythos: Narcissus hatte eine Zwillingsschwester, in die er sich unsterblich verliebte. Als das Mädchen dann starb, habe er dieses in seinem Spiegelbild wiedererkannt. 171

Ovid stellt nicht die Frage nach der Glaubwürdigkeit des NarcissusMythos. Er klärt auch nicht die Gründe für das Verhalten des Narcissus. Für ihn scheinen sie in Narcissus selbst zu liegen. Er nennt ihn ahnungslos (425), und seine Gefühle seien auf eine Wahnvorstellung (431 und 447) zurückzuführen. Er gehe an sich selbst zugrunde (440). Der moderne Psychologe hätte wahrscheinlich das „Krankheitsbild“, das in Narcissus’ Unfähigkeit zur Kommunikation bestand, auf das traumatische Erlebnis seiner Mutter zurückgeführt, die ihren Sohn doch aufgrund einer Vergewaltigung durch den Flussgott Cephisus bekam (3, 343 f.). An diese Herkunft des Narcissus erinnert der Dichter, indem er ihn etwas später (351) ausdrücklich als „Sohn des Cephisus“ (Cephisius) bezeichnet. In der Echo-Episode (3, 356–401), die zwischen dem Kurzporträt des jungen Mannes (3, 339–355) und der Schilderung seines Endes (3, 402–510) erzählt wird, hören wir nicht nur, dass auch Echo sich wie viele andere in Narcissus verliebt hat. Sondern dass sie es sogar schafft, ihm trotz ihrer sprachlichen Einschränkung eine Liebeserklärung zu machen, wird aber von Narcissus schroff zurückgewiesen (379–401). Echo war einst von der Göttin Juno dafür bestraft worden, dass sie mit ihrer Schwatzhaftigkeit verhinderte, den Gott Jupiter bei einem Seitensprung zu erwischen. Juno hatte übrigens auch schon Tiresias mit Blindheit bestraft, weil er ein ihr nicht genehmes Urteil über die weibliche Liebesfähigkeit abgegeben hatte. Aber Jupiter hatte ihm dafür die Sehergabe verliehen. Während Narcissus in der Echo-Szene zum ersten Mal von der Einbildung getäuscht wird, einen anderen Menschen zu hören, obwohl er nur das Echo seiner eigenen Stimme hört, glaubt er, auf der spiegelnden Wasserfläche die Gestalt eines anderen Menschen zu sehen. In einer kurzen Apostrophe (432–436) hält ihm der Dichter vor, er sehe den Schatten eines Spiegelbildes, das keine eigene Existenz habe (434 f.).

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Die Warnung des Tiresias („... wenn er sich nicht erkennt“) ist keine Anspielung auf die apollinische Aufforderung zur Selbsterkenntnis (→ 1.3: Erkenne dich selbst), vor der sich Narcissus hüten sollte. In dem Moment (so die Weissagung), wo Narcissus erkennt, dass es sein eigenes Spiegelbild ist, das er im Wasser sieht und in das er sich verliebt hat, ist sein Leben zu Ende. Denn solange er sein Spiegelbild nicht als sein eigenes erkennt, kann er noch Hoffnung haben. „Er liebt eine Hoffnung, das heißt ein Wesen ohne Körper, von dem er sich etwas erhofft“ (417). „Du versprichst mir mit deinen liebevollen Blicken, dass ich hoffen darf (457), und du antwortest mir sogar – aber ich verstehe dich nicht.“ Da wird ihm schlagartig klar, dass er selbst es ist, den er im Spiegelbild sieht. „Der da bin ich: Ich habe es erkannt, und mein Bild täuscht mich nicht mehr“ (463). Aber mit der Erkenntnis, dass er in sein Spiegelbild verliebt ist, wird ihm auch die Hoffnung auf ein glückliches Ende genommen (→ 2.10: Die Büchse der Pandora). Er hat verstanden, dass das Subjekt und das Objekt seiner Begierde identisch sind: „Ich verbrenne in Liebe zu mir selbst; ich fache die Flammen an und erleide sie. Was soll ich tun? Soll ich mich anflehen lassen oder soll ich anflehen? Was werde ich dann erflehen? Was ich begehre, besitze ich bereits. Der Besitz hat mich ohnmächtig gemacht“ (464–466). Nur die totale Hoffnungslosigkeit ist ihm geblieben. Er wünscht sich, seinen Körper verlassen zu können. Dann äußert er den für einen Liebenden „unerhörten Wunsch“ (468): „Ach wäre doch, was wir lieben, von uns getrennt!“ (468). Mit dem „dualen“ Plural bekennt sich Narcissus zu der Illusion einer unmöglichen gegenseitigen Liebe. Mit seinen letzten Worten beschwört er wider besseres Wissen noch einmal die eingebildete Zweierbeziehung: „Ich hätte mir gewünscht, dass mein Geliebter mich überleben würde! Jetzt werden wir beide, zwei Herzen in einer Seele vereint, sterben.“ Noch am Ende spielt er für sich allein die Rolle eines Liebespaares – nur mit einer einzigen Seele.205

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Obwohl er seine Selbsttäuschung erkannt hat, löst er sich in seinem Wahn nicht von seinem Bild (474). Als er sich diesem wieder zuwendet, zerfließt es unter seinen Tränen. Er will es noch einmal sehen: „Wohin fliehst Du? Bleib doch und verlass mich nicht! Lass mich wenigstens ansehen, was nicht zu berühren ist, und nähre meine unselige Leidenschaft!“ Obwohl er die Sinnlosigkeit seines Wunsches längt erkannt hat, bleibt er sich selbst treu. Er beginnt die konventionelle Totenklage, reißt sich die Kleider vom Leib und schlägt sich auf die Brust. Er sieht noch ein letztes Mal seinen entstellten Körper im Spiegelbild der Quelle, kann aber den Anblick nicht mehr ertragen. Sein Körper, den Echo einst geliebt hatte, ist zerstört. Echo hat Mitleid mit Narcissus. Sooft er in sein „Wehe mir“ ausbricht, wiederholt sie seine Worte. Zuletzt ruft er seinem Spiegelbild zu: „Ach du hoffnungslos geliebter Knabe!“ Echo wiederholt diesen Ausruf vollständig und ebenso ein letztes „Vale“ (500 f.). Es waren auch ihre Worte. Der Tod ist nicht das Ende. Im Hades betrachtet er im Wasser des Unterweltsflusses Styx sein Spiegelbild (505). Eine Verwandlung hat nicht stattgefunden. Narcissus wird ewig derselbe bleiben und leiden – wie Tantalus, Ixion oder Sisyphus. Die Trauernden finden dort, wo sein toter Körper lag, nur eine gelbe Narzisse. „Die Unterweltsblume ist an die Stelle des in die Unterwelt Entrückten getreten“ (Dörrie 1967, 72). Der Narcissus der Metamorphosen ist kein Narzisst im heutigen (psychoanalytischen oder gesellschaftspolitischen) Sinn des Wortes. Er ist nicht von einer unstillbaren egoistischen oder egozentrischen Selbstliebe erfüllt. Die narzisstische Aggressivität, wie sie unter anderem im modernen Cybermobbing, aber auch schon in manchem Catullgedicht zum Ausdruck kommt, lässt der Narcissus des Ovid nicht erkennen. Das Spiegelbild, das er liebt, ist für ihn die andere Person, nach der er vielleicht immer nur gesucht hat und an der er zugrunde geht, weil es sie gar nicht gibt. 174

Narcissus besitzt keinen Selfiestick und ist auch nicht von der massenhaften Selfiemanie besessen, die das selbstverliebte Fotografieren und Filmen groteske Züge annehmen lässt. Man hat festgestellt, dass Menschen, die häufig Selbstporträts ins Netz stellen, häufiger als andere an narzisstischen Persönlichkeitsstörungen leiden, wobei offen bleibt, ob die Selfies Ursache oder Folge der Störung sind.206 Platon hat wohl als erster die positive Verknüpfung von Spiegel und Selbsterkenntnis hergestellt. Im Alkibiades I (127d–133c) lässt er Sokrates festhalten, dass Selbsterkenntnis im Sinne des apollinischen Imperativs notwendig und möglich ist. Denn nur wenn man sich selbst erkenne, könne man sich auch wirklich um sich selbst und nicht um etwas Äußerliches kümmern. Wenn jemand zum Beispiel unser Auge wie einen Menschen aufforderte, sich selbst anzusehen, dann würde er einen Spiegel zu Hilfe nehmen. Er würde dann auch die Pupille, mit der er selbst sieht, sehen. Wenn also ein Auge sich selbst sehen will, dann muss es das Auge (im Spiegel) ansehen, und hier besonders die Stelle, worin die Sehkraft steckt (133b). Dementsprechend muss auch die Seele, wenn sie sich selbst erkennen will, vor allem die Stelle ansehen, wo sich das Wesen der Seele befindet: das ist die „Weisheit“. Es gibt aber nichts Göttlicheres in der Seele als das „Wissen“ und das „Denken“. Wer darauf schaut und alles Göttliche erkennt, dürfte auch sich selbst am besten erkennen (133c). Der Spiegel ist ein Mittel, mit dem man auf sich selbst aufmerksam gemacht wird und sich selbst in seiner körperlichen Existenz sehen kann. Die Suche nach dem Wesen der Seele, des spezifischen Seins des Menschen, erfolgt ebenfalls über einen Spiegel: Wenn die Seele sich selbst erkennen will, muss sie in die Seele sehen und die Stelle finden, wo das Wesen der Seele fassbar ist, oder in etwas anderes, das diesem ähnlich ist (133b). Was für das Auge der Spiegel ist, ist für die Seele die Reflexion auf sich selbst, auf ihr eigenes Wesen.

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5.3 Ikarus (Metamorphosen 8, 183–259) Guiseppe Verdis 200. Geburtstag (geb. am 8. oder 9. Oktober 1813) lässt Christine Lemke-Matwey in dem Gefangenenchor der Oper Nabucco „etwas Ikarushaftes“ finden: „Es fragt sich nur, ob es einen mehr nach oben oder mehr nach unten zieht. ‚Flieg’, Gedanke auf goldenen Flügeln‘ – dieser Vers hat bei allem Utopischen auch etwas Ikarushaftes.“ 207 Es bleibt zunächst rätselhaft, was Lemke-Matwey damit sagen will. Ist damit gemeint, dass der Chor der gefangenen Hebräer befürchtet, dass ihre Hoffnung auf Freiheit abstürzen kann und niemals Wirklichkeit wird? Mit Ikarus verbindet man nicht nur den Gedanken des Fliegens, sondern auch die Gefahr des Absturzes. Denn der Ikarus des Mythos erhebt sich in höchste Höhen, um jäh abzustürzen.208 So erzählt es Ovid in seinen Metamorphosen (8, 183– 259).209 Dieses Bild entsteht aber erst aus der Verbindung mit Ikarus' Vater Dädalus, der als Beherrscher der Technik, als Prototyp des Kulturschöpfers und als der beinahe schon skrupellose homo faber gilt. Zu Beginn seiner Erzählung charakterisiert Ovid das Vorhaben des Dädalus, auf dem Luftweg das Reich des Minos (Kreta) zu verlassen, mit den Worten: „Er richtet seinen Sinn auf unerhörte Künste und verändert die Natur“ (→ 3.14: Was ist Natur?). Etwas später spricht der Dichter von „verderblichen“ Künsten, und als sein Sohn Ikarus ins Meer stürzt, verflucht er seine Kunst, die ihn befähigte, einen gefährlichen, funktionsfähigen Flugapparat zu bauen: Der Absturz des Ikarus war aber nur darauf zurückzuführen, dass dieser sich nicht an die Regeln hielt, die Dädalus ihm zuvor erklärt hatte. Die Ambivalenz der Technik ist auf die negative Seite hin ausgeschlagen, weil Ikarus in seinem kindlichen Übermut die Ermahnungen des Vaters nicht ernstnahm. Das Va, pensiero, sull‘ ali dorate des Gefangenenchores ist demnach in Wirklichkeit alles andere als „ikarushaft“. Der Gedanke

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des Chores hat zwar „goldene“ Flügel, aber vom Risiko des Absturzes ist nicht die Rede. Wenn sich jedoch ein Reiseunternehmen den Namen „Ikarus“ gibt, bekommt man ein ungutes Gefühl. Hier könnte die Kenntnis des antiken Hintergrunds die Freude am Reisen durch die Luft etwas dämpfen.

5.4 Philemon und Baucis (Metamorphosen 8, 625–724) Die Erzählung bietet ein Beispiel für die Allmacht der Götter. Sie veranschaulicht aber auch gelebte Gastfreundschaft. Schließlich spiegelt sie das Prinzip der Metamorphosen, indem sie die Verwandlung und nicht die Vernichtung als Problemlösungsstrategie thematisiert: Gute Menschen werden hier in wesensverwandte Bäume verwandelt. Darüber hinaus verweist die Erzählung auf ein bis heute aktuelles Thema: auf das Verhältnis zu Fremden. Jupiter und Mercurius klopfen unerkannt und in Menschengestalt an „tausend“ Haustüren an und bitten um einen Platz für die Nacht. Niemand öffnet den Fremden. Nur bei Philemon und Baucis, den Bewohnern einer einfachen Hütte, finden sie Einlass. Warum werden die Haustüren verriegelt, als die Fremden um Einlass bitten? Warum nehmen die beiden Alten die beiden Fremden in ihre ärmliche Hütte auf? Dem gegenwärtigen Sprachgebrauch folgend kann man das Verhalten der Mehrheit auf ihre Xenophobie zurückführen, während Philemon und Baucis keine Angst vor den Fremden haben. Sie sehen in ihnen nur die Menschen; dass diese in Wahrheit Götter sind, ahnen sie nicht einmal. Das Ehepaar lebt bescheiden, aber glücklich in ihrer armseligen Hütte. Als die Fremden eingetreten sind, bereiten die Alten ihre Bewirtung vor. Bemerkenswert ist, dass sie sich dabei nicht völlig ver-

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ausgaben. So schneidet Baucis nur ein kleines Stück von dem geräucherten Schinken ab. Das einfache Mahl wird den Gästen mit freundlicher Miene vorgesetzt. Dann sehen die Alten, dass sich der WeinKrug ständig von selbst wieder füllt. Da merken sie, dass ihre Gäste keine „normalen Menschen“ sind. Sie bitten um Verzeihung für das bescheidene Mahl und versuchen noch die einzige Gans zu fangen und zu schlachten. Das gelingt aber nicht, und die Götter lassen es nicht zu, dass ihre Gastgeber die Gans schlachten. Sie wollen Philemon und Baucis für ihre Gastfreundschaft belohnen und lassen sie zusehen, wie das Land um sie herum im Wasser versinkt, während sich ihre Hütte in einen Tempel verwandelt. Sie dürfen sich etwas wünschen: Als Priester wollen sie den Göttern im Tempel dienen und wünschen sich, gemeinsam zu sterben, wenn ihre Zeit gekommen ist: In ihrer letzten Stunde werden sie in zwei dicht nebeneinander stehende Bäume, in eine Eiche und eine Linde, verwandelt. Es ist seltsam, dass das Paar, das in seiner armseligen Hütte glücklich und zufrieden lebte und über sein kleines Reich herrschte, den Wunsch hatte, Tempeldienst zu leisten. Ist das die angemessene Belohnung für die Gastfreundschaft? Dass das in Liebe vereinte Paar am Ende gemeinsam sterben und danach für immer zusammen bleiben will, leuchtet unmittelbar ein. Was sind aber die großen Themen, die über das geschilderte Geschehen hinausweisen? Die beschriebenen Ereignisse sollen die große Macht der Götter veranschaulichen. Die Demonstrationsobjekte sind Philemon und Baucis und ihre Nachbarn. Die bereits erwähnte Angst vor den Fremden, nicht der Mangel an materiellen Möglichkeiten hindert die Nachbarn daran, gastfreundlich zu sein. Vielleicht kommen auch noch schlechte Erfahrungen mit Bettlern, Obdachlosen und Kriminellen hinzu. Warum die beiden alten Leute so ganz anders handeln, sagt der Dichter nicht. Sie haben keine Angst vor den Fremden und sind einfach hilfsbereit, ohne jedoch ihre eigenen Ressourcen völlig auszuschöpfen. 178

Ein moralischer Appell – habt keine Angst vor Fremden, sondern seid gastfreundlich wie Philemon und Baucis – ist nicht zu vernehmen. Über die geschilderte Szenerie hinaus ist keine Rede von Belohnung und Bestrafung. Weil Ovid kurz darauf die ErysichthonGeschichte erzählt (→ 5.5: Erysichthon – der unstillbare Hunger), liegt es nahe anzunehmen, dass er umso heftiger dazu ermahnt, die Allmacht der Götter und alles, was den Göttern heilig ist, zu achten. Dazu gehört traditionell die Achtung des Gastrechts.

5.5 Erysichthon – der unstillbare Hunger (Metamorphosen 8, 738–878) Kallimachos erzählt in seinem Hymnus auf Demeter, dass Erysichthon einen heiligen Hain der Ceres abholzte, obwohl ihn die Göttin in Menschengestalt davor gewarnt hatte. Dafür wurde er mit unstillbarem Hunger bestraft, mit dem er seinen eigenen und den gesamten Besitz seiner Eltern und Verwandten – und schließlich sich selbst verzehrte. Ovid setzt die Erzählung des Kallimachos folgendermaßen fort: Erysichthon ernährte seinen Leib, indem er ihn auffraß. Zuvor hatte Ceres (Demeter) eine Bergnymphe aufgefordert, Fames, dem unstillbaren Hunger, zu befehlen, in den Leib des Gotteslästerers einzudringen. In Ovids Erzählung fällte Erysichthon nur einen einzigen, aber besonders großen und alle anderen überragenden heiligen Baum: eine uralte Eiche. Mit dem Baum tötete er auch die in ihm lebende Nymphe, die dem Frevler sterbend eine harte Strafe voraussagte. Während bei Kallimachos die gefällten Bäume als Bauholz dienen sollten, gibt Ovid keinen Grund oder Zweck der Freveltat an. Ovids Erysichthon hatte nicht das geringste Verwertungsinteresse an dem gefällten Baum. Wollte er nur seine Verachtung für göttliches Walten öffentlich demonstrieren, zumal der Baum mit allerlei Bändern, Kränzen 179

und Gedächtnistafeln behängt war? „Mag die Eiche auch von der Göttin geliebt werden oder selbst eine Göttin sein, gleich wird ihr belaubter Wipfel die Erde berühren“, heißt es bei Ovid, der dann den gewaltsamen Tod des Baumes eindringlich beschreibt. Welche Botschaft wollte Ovid mit der Schilderung der ErysichthonEpidode vermitteln? Wollte er sie als „Allegorie der menschliche Unersättlichkeit“210 verstanden wissen? Dann wäre der Focus die Strafe, nicht die Freveltat. Denn Erysichthon fällte den Baum nicht aufgrund seiner Unersättlichkeit. Dass er größenwahnsinnig war, dürfte zutreffen. Er hatte weder Achtung vor den Göttern und seinen Mitmenschen noch vor dem Leben. Als einer seiner Diener sich weigert, die Axt gegen den Baum zu erheben, erschlägt ihn Erysichthon, ohne zu zögern – „als Lohn für seine Frömmigkeit“. Er hat auch kein Mitleid mit der Baumnymphe, die mit dem sterbenden Baum ihr Leben verliert. In welchem Verhältnis stehen Schuld und Strafe zueinander? Erysichthon hatte die Eiche nicht aus Habgier gefällt. Er wollte das Holz nicht etwa günstig verkaufen. Seine Schuld bestand darin, dass er die göttliche Macht der Ceres herausfordern und auf die Probe stellen wollte. Aber seine Hybris verhinderte es, an die Folgen zu denken. Denn wer etwas Heiliges zerstört, zerstört sich selbst. Vielleicht hat der Dichter doch eine Verbindung zwischen der Vernichtung des Baumes und Erysichthons Strafe sichtbar gemacht: Ceres kann nicht selbst zu Fames gehen, dem verderblichen Hunger, mit dem der Frevler bestraft werden soll. Denn das Schicksal lässt es nicht zu, dass Ceres, die Göttin der Ernährung, mit Fames, dem Hunger, zusammentrifft (8, 785 f.). Wo Ceres ist, gibt es keinen Hunger, und wo Fames ist, kann Ceres nicht sein. Unter diesem Aspekt erweist sich die Geschichte doch noch als unüberhörbare Mahnung: Wenn man Ceres antastet, indem man ihre Schützlinge gedankenlos vernichtet, zerstört man seine Lebensgrundlage, weil man am Ende Hunger und Durst nicht mehr stillen kann.211 Dass jede Gier sich am 180

Ende selbst frisst, ist nicht Ovids zentrale Botschaft. Man darf sie aber durchaus als Warnung mithören. Erysichthon wollte den Baum nicht besitzen, um ihn für einen bestimmten Zweck zu nutzen. Er wollte ihm mit seiner Axt das Leben nehmen, um Ceres und alle, die an sie glauben, zu kränken und zu beleidigen. Dass die Untat auch ein Anschlag auf das Leben im Allgemeinen ist, verschweigt Ovid nicht. Denn überall, wo Leben ist, wirken Nymphen, die aber trotz ihrer Göttlichkeit nicht unsterblich sind. Erysichthon hat viele Nymphen getötet, weil der große Baum, als er stürzte, andere Bäume mit sich riss. Das Thema der Erysichthon-Erzählung dürfte also nicht nur Skrupellosigkeit, sondern auch Gedanken- und Verantwortungslosigkeit sein, die mit der Unersättlichkeit geahndet wird. Es ist zwar nicht anzunehmen, dass der antike Dichter die neuzeitliche Sorge teilte, dass der Mensch durch seine Unersättlichkeit seine Lebensgrundlage vernichtet. Aber Erysichthon eignet sich mit seinem unstillbaren Hunger durchaus dazu, eine Allegorie der Selbstzerstörung zu sein.

5.6 Orpheus und Eurydike (Metamorphosen 10, 1–77 und 11, 1–66) Der Orpheus-Mythos gehört zu den am intensivsten rezipierten Erzählungen, die aus der Antike über die Renaissance bis in die Gegenwart getragen wurden. Das Märchen von dem göttlichen Sänger Orpheus und seiner große Liebe zu Eurydike hat zu allen Zeiten nicht nur die Dichter, sondern auch die Bildhauer, Maler und Komponisten inspiriert: Orpheus, der Sohn des Gottes Apollon und der Muse Kalliope, bezauberte mit seinem Gesang sogar wilde Tiere und schlug gefühllose Felsen in seinen Bann. Seine musikalische Kunst war „zum Stein Erweichen“. Er stieg in die Unterwelt hinab, um Hades, den 181

Gott der Unterwelt zu bitten, seiner Gattin Eurydike, die am Hochzeitstag durch den Biss einer Schlange starb, ihr Leben zurückzugeben. Mit Hilfe seines Gesanges besänftigte er den Höllenhund Cerberus. Sogar die Verdammten der Unterwelt hörten dem Sänger mit Rührung zu und ließen ihre üblichen Tätigkeiten für einen Augenblick ruhen. Hades war vom Gesang des Orpheus so beeindruckt, dass er dem Wunsch des Sängers nachkam – doch nur unter einer Bedingung: Er darf sich auf dem Weg nach oben nicht nach Eurydike umsehen. Aber er konnte diese Bedingung nicht erfüllen, und Eurydike versank ein zweites Mal in der Unterwelt. Diese knappe Darstellung des Handlungsverlaufes berücksichtigt nicht die Merkmale der epischen Erzählung, wie sie bei gründlicher Lektüre der rund 500 Verse in den Metamorphosen des Dichters Ovid zu erkennen sind. Das Hauptthema der Rede des Orpheus, der Tod als Naturgewalt, tritt in den Hintergrund. Die rhetorisch sehr geschickte Bemerkung des Orpheus zum Grund seines Erscheinens in der Unterwelt, er sei nicht gekommen, um Heldentaten zu vollbringen, fällt unter den Tisch, sodass auch die gedanklichen Assoziationen, die sie auslösen konnte, übergangen wurden (zum Beispiel die Erinnerung an die Überwältigung des Cerberus durch Herakles). Auch das eigentliche Motiv wird verschwiegen: der Sieg der Liebe über den Tod, ebenso die Reflexion über die Bedeutung der Liebe sogar für das Herrscherpaar der Unterwelt – Hades hatte Persephone entführt. Überhaupt bleibt die Intertextualität der epischen Erzählung im Hintergrund. Obwohl in der Kurzfassung der Erzählung die Wirkung des Gesanges nicht verschwiegen wurde, blieben wesentliche Einzelheiten unberücksichtigt. Nur ein Beispiel: Sisyphus sitzt auf seinem Felsen, den er sonst ununterbrochen nach oben zu wuchten hat (→ 4.2: Der Mythos von Sisyphus). Der orphische Gesang setzt für einen Moment die Übermacht des Absurden außer Kraft. Ovid lässt dieses Bild besonders stark hervortreten, indem er Sisyphus direkt anredet: „Und Sisyphus, du saßest auf deinem Stein.“ Sogar die 182

Eumeniden, die unerbittlichen Rachegöttinnen, weinten zum ersten Mal vor Rührung, als sie Orpheus singen hörten. Eurydike befand sich „unter den neuangekommenen Schatten“, konnte aber wegen des Schlangenbisses, der ihren Tod verursacht hatte, noch nicht richtig gehen und daher auch Orpheus nicht schnell genug folgen, sodass er sich aus Ungeduld oder aus Sorge umdrehte. Ovid selbst äußert diese Vermutung: Orpheus fürchtete, Eurydike ein zweites Mal zu verlieren. Doch er dreht sich um, da kann Eurydike nur noch ihre Arme nach ihm ausstrecken und versuchen, sich an ihm festzuhalten. Aber es ist sinnlos. Sie versinkt und ruft ihm ein letztes „Lebewohl“ zu. Er wäre vor Entsetzen fast zu einem Stein erstarrt und blieb wie erstarrt sieben Tage am Ufer des Totenflusses sitzen, ohne Nahrung zu sich zu nehmen. Drei Jahre später lehrt er die Thraker die Knabenliebe. Den Grund für die Ablehnung der Liebe zu Frauen lässt Ovid offen. Aber das wird Orpheus zum Verhängnis. Frauen erschlagen und zerreißen ihn. Sein Schatten steigt in die Unterwelt, wo er Eurydike wiederfindet. Ovid schildert den Tod des Orpheus ausführlich: Der erste Stein, den die vor Wut rasenden Frauen auf Orpheus werfen, erreicht sein Ziel nicht, weil er noch im Flug vom Gesang des Orpheus aufgehalten wird und gleichsam um Verzeihung bittend vor seinen Füßen liegen bleibt. Schließlich übertönt das Geheul der wütenden Frauen das Lied des Orpheus. Die Rasenden vernichten zunächst das „Publikum“ des Künstlers. Darauf erschlagen sie ihn selbst. Die Natur zeigt ihre tiefe Trauer: Die Bäume verlieren ihre Blätter, und die Flüsse weinen so sehr, dass ihre Tränen sie über ihre Ufer treten lassen. Was ist die Verwandlung in der Verwandlungssage? Sie besteht offenbar darin, dass Orpheus nach seinem endgültigen Eintritt in die Unterwelt nicht mehr singt. Er sucht, findet und umarmt Eurydike. Sie gehen miteinander „im Gleichschritt“ (coniunctis passibus) oder hintereinander durch die Unterwelt. Orpheus hat sein Ziel erreicht: 183

die endgültige Vereinigung mit Eurydike. Er ist nur noch Liebender und hat keinen Grund mehr zu singen. Denn das Motiv seines Gesanges war die Überwindung der Trennung von der Geliebten. Der göttliche Musiker hat sich zum ewigen Spaziergänger gewandelt. In der endgültigen, unauflösbaren Vereinigung mit Eurydike vollendet Orpheus sein Wesen. Orpheus und Pygmalion (→ 5.7: Pygmalion) stimmen übrigens darin überein, dass sie mit der Macht ihrer Kunst ihre Frauen zum Leben erwecken. Beide Künstler verwandeln die Realität, indem sie mit Hilfe göttlicher Mächte Lebloses lebendig werden lassen. Damit werden Orpheus und Pygmalion zu Allegorien der Kunst, die das Unmögliche möglich macht. Der Unterschied zwischen beiden besteht allerdings darin, dass Pygmalion seinem Kunstwerk Dauer verleiht, während die Kunst des Orpheus nur eine vorübergehende Wirkung hat. Das entspricht dem Wesen der beiden Künste: Die Werke der Bildhauerei überdauern die Vergänglichkeit, die Kunst des Orpheus verklingt.

5.7 Pygmalion (Metamorphosen 10, 243–297) George Bernhard Shaws Komödie Pygmalion wurde 1913 in deutscher Übersetzung uraufgeführt. Das Stück erzählt die Geschichte des Professors Henry Higgins, eines Sprachwissenschaftlers, der behauptet, er könne die Blumenverkäuferin Eliza Doolittle zu einer Herzogin machen, indem er ihr die Sprache der feinen Londoner Gesellschaft beibringe. Er schließt eine Wette ab und gewinnt. Eliza ist für Higgins in Shaws Pygmalion allerdings nur ein Objekt, an dem er seine wissenschaftlichen Fähigkeiten demonstriert. Ihre Gefühle nimmt er nicht wahr. Er liebt nur seine spracherzieherische Leistung, nicht jedoch Eliza selbst. Er schickt sie schließlich fort – in der Überzeu184

gung, ihr für ihr weiteres Leben die besten Voraussetzungen vermittelt zu haben. Anders verläuft die Handlung in dem auf der literarischen Vorlage von Shaws Pygmalion basierenden Musical My Fair Lady.212 Aus dem sprachwissenschaftlichen Experiment entwickelt sich eine Liebesbeziehung zwischen Eliza und Higgins. Ovids Pygmalion und der Higgins des Musicals stimmen darin überein, dass beide ihr Kunstwerk lieben. Im Unterschied dazu liebt Shaws Higgins nur sein Können und nicht Eliza, sein „Produkt“. Ovids Pygmalion liebt sein „Produkt“ so sehr, dass sich das Kunstwerk schließlich mit Venus’ Hilfe in ein Wesen aus Fleisch und Blut verwandelt. In Ovids Erzählung ist die Herstellung einer weiblichen Skulptur zwar die Reaktion auf die Abscheu des Bildhauers vor den „Fehlern des weiblichen Charakters“. Aber zwischen diesem negativen Gefühl und seiner künstlerischen Arbeit besteht bei Pygmalion kein kausaler Zusammenhang. Denn der Dichter sagt nicht: „Weil er diese Abscheu empfand, schuf er sich eine vollkommene Frau.“ Der Künstler erschafft sich mit seiner Elfenbein-Figur keine Ersatzfrau, sondern produziert mehr oder weniger zufällig ein Bildnis von blendender Schönheit. Dadurch wandelt er sich von einem misogynen Junggesellen in einen Mann, der sich in ein von ihm selbst geschaffenes Abbild eines schönen weiblichen Körpers so leidenschaftlich verliebt, dass er die Liebesgöttin um Hilfe bittet: Er wünscht sich eine Frau, die seiner Elfenbein-Figur ähnlich ist. Die Gottheit erhört ihn, schenkt ihm aber kein Abbild der Figur, sondern verwandelt diese selbst in ein lebendes Wesen. Es handelt sich bei Ovid also um eine doppelte Verwandlung: Ein Kunstwerk wird zu einem lebenden Wesen, und ein misogyner Junggeselle zu einem liebenden Ehemann (und Vater). Weil Pygmalion nicht die Absicht hatte, aufgrund seiner schlechten Erfahrungen mit den vorhandenen Menschen einen neuen Menschen zu schaffen und etwas Unvollkommenes zu vervollkommnen, unterscheidet er sich deutlich von Prometheus, der mit der von Jupiter / 185

Zeus geschaffenen Welt unzufrieden ist und sie zu ändern versucht (→ 2.7: Hermes oder Prometheus?). Er ist auch kein antiker Frankenstein und kein früher Vertreter der Bio- oder Gentechnik. Er hat nicht die Absicht, den neuen Menschen etwa in Gestalt eines (weiblichen) Homunculus zu schaffen. Er kompensiert lediglich seinen – privaten – Frust durch künstlerische Arbeit, die zu einem ultimativen Kunstwerk führt. Pygmalion hätte auch einen ganz anderen Weg gehen können; er hätte ein Misanthrop werden können, der sich aus der Welt zurückzieht und mit niemandem mehr etwas zu tun haben will. Ovid zeichnet aber einen Menschen, der nicht resigniert und in lähmendem Selbstmitleid verharrt, sondern über eine starke Resilienz (→ 7.7: Was ist das „gute Leben“? Was ist Glück?) verfügt,213 die den Künstler durch seine Kunst Schönheit erschaffen lässt. Auch wenn in ihm eine tiefe Sehnsucht nach einem lebenden Abbild des Kunstwerkes entsteht, erkennt Pygmalion seine Grenzen und wünscht sich nur, dass die Gottheit ihm eine Frau schenke, die seinem Kunstwerk ähnlich ist.

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6. Missbrauch und Missverständnis Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass die Antike eine außerordentlich produktiv-kreative Rezeptionsgeschichte erfuhr, die in der Kunst, der Literatur oder der Philosophie der Neuzeit bemerkenswerte Werke aufzuweisen hat. Dennoch darf man nicht übersehen, dass die Antike zu allen Zeiten auch bewusst missbraucht oder missverstanden wurde. Daran waren Fachleute und Laien gleichermaßen beteiligt. Die Skala reicht von der Platonischen Liebe, der Verherrlichung des Heldentodes, der Rechtfertigung unvorstellbarer Verbrechen, der Fokussierung auf menschenfeindliche Ideologien und einen hypertrophen Körperkult bis zur Verwendung von Bruchstücken aus der Welt der Antike für die moderne Reklame. Die antike Literaturgeschichte ist weiterhin ein ergiebiger Steinbruch.

6.1 Jedem das Seine – Suum cuique Ein verstörendes Beispiel für den Missbrauch antiken Erfahrungswissens ist die Maxime Suum cuique oder Jedem das Seine. Bei Cicero ist es ein hoch angesehenes Rechtsprinzip, jedem das Seine zukommen zu lassen (De legibus 1, 19). Für ihn liegt der Sinn dieser Aufgabe bereits im griechischen Wort für „Gesetz“ (nómos), das von dem griechische Verb némein (zuteilen) herzuleiten sei. Nach Cicero bedeutet also „Gesetz“, jedem das zuzuteilen, was ihm zusteht oder was er verdient. Vielleicht besagt auch der Name der Rachegöttin Nemesis, dass sie die „Zuteilende“ ist, die jedem das zuteilt, was er verdient (→ 2.9: 187

Nemesis). In seinem Buch Über die Pflichten (Off. 1, 15) lässt Cicero die Moral unter anderem darin bestehen, dass jeder das bekommt, was er verdient: „Alles, was moralisch ist, erwächst aus einer der folgenden Möglichkeiten: Es hat zu tun (a) mit der Erkenntnis der Wahrheit und der Geschicklichkeit im täglichen Leben, (b) mit dem Einsatz für die menschliche Gemeinschaft, der Bereitschaft, jedem Einzelnen das zuzuteilen, was ihm zukommt, und der zuverlässigen Erfüllung von Vereinbarungen, (c) mit der Größe und der Stärke einer innerlich unabhängigen und unbesiegbaren Seele oder (d) mit der Ordnung und dem Maß bei allem, was geschieht und was man tut, womit Zurückhaltung und Selbstbeherrschung verbunden sind.“ In De re publica 3, 11 (Powell) hatte Cicero bereits darauf hingewiesen, es sei Aufgabe eines anständigen Mannes, jedem Einzelnen das zukommen zu lassen, was er verdiene. Schon Platon hatte Gerechtigkeit als die Situation definiert, in der jeder das Seine tut und auch bekommt.214 Die Eindeutigkeit dieser Formel beruht für Platon darauf, dass er die Gerechtigkeit nicht als isoliertes Phänomen begriff, sondern nur im System mehrerer Tugenden: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit. Was immer diese Tugenden im Einzelnen bedeuten – sie sind nur im Zusammenhang miteinander wirksam.215 In Platons Dialog Alkibiades I hatte Sokrates die Frage gestellt (127b): „Werden denn nicht die Städte in diesem Sinne gut verwaltet, wenn jeder einzelne das Seine tun?“216 Auch hier liegt der Akzent auf dem „Tun“ und nicht auf dem „Bekommen / Erhalten“: Die staatliche Gemeinschaft funktioniert gut, wenn jeder tut, was er kann und versteht, und nicht nur wenn er bekommt, was er verdient. Die Tragweite dieser Aussage zeigt sich vor allem dann, wenn man sich fragt, welche Bedeutung sie für das Verständnis von Freiheit hat. Ist der Mensch „frei“, wenn er nach dieser Maxime lebt? Nach Platon ist der Mensch „zwar zur Freiheit geboren, auf sie hin angelegt, aber er ist nicht von sich aus und immer schon frei und souverän. ... Frei188

heit ist eine Aufgabe, der der Staat sich stellen und die er durch Formen der Erziehung erst verwirklichen muss.“ In einem modernen Staatsverständnis würden Freiheit und Individualität vieler souveräner Subjekte als ein quasi naturgegebenes Faktum, in einem platonischen Staatsverständnis dagegen als Aufgabe des Einzelnen wie der Gemeinschaft vorausgesetzt. Vor diesem Hintergrund ist auch das platonische Gerechtigkeitsprinzip, das jedem das ihm Gemäße zuzuteilen fordert, zu verstehen. „Das, was der Staat von seinen Bürgern verlangen muss und wozu er ihnen dienen muss, ist, dass sie sich selbst, ihre je eigenen Anlagen, optimal verwirklichen; der Nutzen für den Staat ergibt sich daraus als konsequente Folge.“ 217 Seitdem man das Suum cuique als Formel der Gerechtigkeit von den anderen Tugenden isoliert und in deutscher Übersetzung am Lagertor des Konzentrationslagers Buchenwald angebracht hat, ist es nicht mehr unbefangen zu gebrauchen. Ein wertvoller Rechtsgrundsatz der Antike ist vielleicht für immer vernichtet. Der unerträgliche Zynismus des Wortes ist aber nur dann wirklich spürbar, wenn man den ursprünglich antiken Kontext kennt.218 In einer bemerkenswerten Glosse zum Thema „Über die Sehnsucht nach moralischer Überlegenheit“ greift Harald Martenstein (ZEITMagazin, 19.03.2015) in einer Replik auf eine Leserzuschrift den Appell „Jedem das Seine“ auf: „Sie schreiben, ich sei ein Faschist und sollte, statt publizieren zu dürfen, den Hof kehren. Ich glaube, Ihnen ist gar nicht bewusst gewesen, dass Sie in Ihrem antifaschistischen Überschwang genau die Methoden empfehlen, die faschistische Systeme im Umgang mit ihren Kritikern anzuwenden pflegen. Jeder dort, wo er hingehört. Die Nazis drückten die gleiche Idee so aus: ‚Jedem das Seine‘. Keine Sorge, Harald, das ist keine Retourkutsche. Sie sind kein Nazi. Sie sind ein Gutmensch.“

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6.2 Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper Unter das Stichwort „Missbrauchte Antike“ fällt auch die von ihrem Ursprung abgetrennte Sentenz Mens sana in corpore sano. Bei Juvenal, dem römischen Satiriker des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts geht es nicht um die Feststellung, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper steckt oder eine gute physische Verfassung automatisch mit einem gesunden Geist verknüpft ist, sondern dass man die Götter darum bitten sollte, dass es so sei (Satiren 10, 356).219 In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der griechische Arzt Galenos aus Pergamon, der im 2. Jahrhundert nach Chr. als kaiserlicher Leibarzt in Rom praktizierte, in einer Werbeschrift für das Studium der Medizin220 seine Leser davon überzeugen will, dass die Ausbildung des Körpers mit dem Ziel, Leistungssport zu betreiben, widernatürlich und gesundheitsschädigend sei. Galen polemisiert gegen eine Athletik, die nur dem Zweck dient, den zu physischer Kraftentfaltung fähigen Berufssportler zu produzieren. Den Wert der Leibesübungen sieht Galenos dagegen ausschließlich unter medizinisch-diätetischen Aspekten. Diejenige Leibesübung sei die beste, die die Gesundheit des Körpers, die Harmonie der Glieder und die seelische Tüchtigkeit vermittle. Entscheidendes Kriterium sei das richtige Maß (→ 1.4: Nichts zu sehr. Nichts übertreiben). In der gedankenreichen Vorrede zum neunten Band seiner Kaiser Augustus gewidmeten Schrift De architectura setzt sich auch der römische Architekt Vitruv mit dem Thema Sport auseinander. Berühmte Sportler, die in Olympia Siege errungen hätten, würden über Gebühr gefeiert und mit Auszeichnungen und Privilegien geehrt. Im Blick darauf frage er sich, warum die gleichen Auszeichnungen oder vielleicht sogar noch größere nicht auch die Schriftsteller erhalten müssten, die der gesamten Menschheit für alle Ewigkeit unbegrenzten Nutzen erwiesen. Die Sportler – so Vitruv – stählen ihren eigenen Körper, die Schriftsteller stärken dagegen nicht nur ihren eigenen 190

Geist, sondern bereichern auch das Denken aller Menschen. Denn sie stellen den Menschen in ihren Büchern Lehren zur Verfügung, die zum Kenntniserwerb und zur Schärfung des Geistes dienen. Vitruv veranschaulicht diese Wirkung geistiger Leistungen an zahlreichen Beispielen. Alle vier Jahre finden seit mehr als hundert Jahren die modernen Olympischen Spiele statt. Athen war 1896 der Austragungsort der ersten Spiele. Pierre de Coubertin, ihr Begründer, stilisierte die olympischen Athleten des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu Priestern einer neuen „Athletenreligion“. Ein entscheidender Anstoß für Coubertins „Neo-Olympismus“ war aber sein Entsetzen über den körperlichen, seelischen und moralischen Zustand der französischen Jugend in der Zeit nach der Niederlage im deutsch-französischen Krieg 1870/71. Der Sport war für ihn ein Mittel zur Verbesserung dieser Situation. Offensichtlich erweist sich der Sport wie die Religion seit der Antike als ein sinnvermittelndes Handlungssystem: Beide verfügen über hochritualisierte Handlungselemente und schaffen Auszeiten aus der Alltagshektik (→ 8.3: Eskapismus – eine Alternative?). Im Göttinger Tageblatt konnte man zum 100-jährigen Jubiläum der Spiele am 27. Juli 1996 in der Rubrik „Andacht zum Wochenende“ lesen: „Jesus gibt Start- und Laufhilfen.“ Prälat Heinz Voges, Dechant des Dekanates Göttingen (1990–1998), reflektiert anlässlich der „Atlantischen“ Spiele (Atlanta 1996) über Berührungspunkte zwischen Sport und Religion, die beide – wie Voges meint – der Entfaltung der ganzen menschlichen Persönlichkeit dienen. Kirche und Sport seien Schulen der Geschwisterlichkeit. Zur Erinnerung: Schon Coubertin hatte den Sport zum Sozialisationsmittel erklärt. Für den Christen – so Voges – ist der Sport aber auch Sinnbild einer höheren Wirklichkeit. So erklärte der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an die Christen in Korinth anlässlich der Isthmischen Spiele das Laufen auf der Rennbahn zum Sinnbild für den Wettkampf um einen unvergänglichen Siegeskranz (1. Kor. 9, 24–26). 191

Allerdings provozierte die enge Verwandtschaft zwischen Religion und Sport, die schon und gerade in der Antike unstrittig gegeben war, den Philosophen Xenophanes von Kolophon (→ 10.6: Xenophanes und das Denken des Möglichen und des Unmöglichen) bereits um 500 vor Chr. zu einer scharfen Polemik in beide Richtungen: einerseits polemisiert er gegen Homers und Hesiods pluralistisches Götterbild, weil er von der grundsätzlich andersartigen Qualität des Göttlichen im Vergleich mit dem Menschlichen überzeugt ist (besonders VS 21 B 15 und B 16 ); andererseits lehnt er den Körperkult und die Verherrlichung der Athleten ab, weil er von dem höheren Wert der „nützlichen Geisteskraft“ überzeugt ist (B 2). Für ihn ist der Wert einer Leistung an ihrer Bedeutung für das öffentliche Wohl und für die innere Ordnung des Gemeinwesens ablesbar. Wenn der Jubel über den Sieg eines Landsmannes in Olympia verklungen sei, stehe es deshalb nicht besser um die Polis als vorher. Den hohen Anspruch, den Xenophanes aus seiner Überzeugung vom höheren Wert der „nützlichen Geisteskraft“ gegenüber der Körperkraft der Athleten ableitet, erhebt später auch Sokrates (→ 4.1: Das Phänomen Sokrates) in der platonischen Apologie (36d–e), befördert er damit aber auch sein eigenes Todesurteil: Denn mit seinem Anspruch auf die Speisung auf Staatskosten im Prytaneion rührt er an das Allerheiligste. Nachdem er schon die Jugend „verdorben“ und neue Götter eingeführt hatte, wie es in der Anklageschrift heißt, stellt er sich nun noch über die Sieger bei den Olympischen Spielen.  

6.3 Wanderer, kommst du nach Spa ... Zu den berühmtesten antiken Texten, die traditionell missverstanden oder missbraucht wurden, gehört das Thermopylen-Epigramm: „Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl.“ Diese lapidare und 192

angemessen lakonische Inschrift (→ 3.4: Waren die Spartaner „lakonisch“?) habe, wie Ernle Bradford feststellte,221 noch für Generationen alle Griechen daran erinnert, was sie den Männern – und dem Gesetz von Sparta verdankten. Seine Botschaft sei sogar bis in unsere weit entfernte Welt und Zeit getragen worden. Darauf zitiert Bradford William Golding, der in seinem Essay „The hot gates“ (1965) die Botschaft des Thermopylen-Epigramms feierte: „Es ist nicht nur so, dass der menschliche Geist direkt und jenseits aller Argumente auf eine Geschichte von Opfer und Mut reagiert, wie ein Weinglas beim Klang der Geige vibrieren muss. Ein zweiter Grund ist es, dass diese Männer vor langer Zeit und weit von uns entfernt an der richtigen Entwicklungslinie gestanden haben. Ein kleines Stück des Kampfes, den Leonidas geführt hat, verbirgt sich hinter der Tatsache, dass ich gehen kann, wohin ich will, und schreiben kann, was ist will. Er hat zu unserer Freiheit beigetragen.“ Ob auch der humanistisch gebildete Gymnasiast in der Kurzgeschichte „Wanderer, kommst du nach Spa ...“, die Heinrich Böll 1950 veröffentlicht hatte, die Botschaft des „Wanderers“ so verstand, als er auf dem Operationstisch liegend seine eigene Handschrift an der Wandtafel des Zeichensaales seines ehemaligen Gymnasiums zu sehen glaubte, wissen wir nicht. Der Anblick, der sich dem Leser bietet, ist keine Tafel aus Bronze und kein Stein aus Marmor, in den die Kunde einer Ruhmestat für ewige Zeiten eingemeißelt ist. Der Wanderer sieht einen Menschen mit abgerissenen Gliedmaßen, einen zerfetzten, blutigen Körper und darüber den berühmten Spruch – „nur ein bisschen verstümmelt“, aber geschrieben mit weißer Kreide auf schmieriger Schultafel. Was sich dem Blick des fiktiven Wanderers bietet, ist ein Fragment, das sich an der Tafel leicht ergänzen ließe. Darunter aber liegt noch ein zweites, ein menschliches Fragment ohne Sinn und Trost und ohne Hoffnung, jemals wieder ein heiles Ganzes zu sein. Bölls Erzählung ist geprägt von unerträglichen, schreienden Gegensätzen: Die Beschwörung des ruhmvollen Heldentods und die 193

Qualen des Verwundeten, das humanistische Gymnasium als „Totenhaus“ und Notlazarett, das Kunstwerk des Dorn-Ausziehers und der Militärarzt, der griechische Hoplit und die Bahre des Verwundeten, die Büsten von Caesar, Cicero und Marc Aurel und das schmutzige Gesicht des Feuerwehrmanns, der Parthenonfries und die abgerissenen Gestalten der erschöpften Krankenträger, die klassizistische Decke des Zeichensaals und das Geschützfeuer der schweren Artillerie usw. Lauter „gute, alte generationenlang bewährte Schulrequisiten“ einschließlich „Kriegerdenkmal mit dem großen goldenen Eisernen Kreuz obendrauf und dem steinernen Lorbeerkranz“ waren an den Augen des Verwundeten vorbeigeglitten, als er über Fluren und Treppen in den Zeichensaal getragen wurde, und ließen ihn erkennen, dass er sich in seinem humanistischen Gymnasium befand. „Dann dachte ich daran, wieviel Namen auf dem Kriegerdenkmal stehen würden, wenn sie es wieder einweihten, mit einem noch größeren goldenen Eisernen Kreuz darauf und einem noch größeren steinernen Lorbeerkranz, und plötzlich wusste ich es: Wenn ich wirklich in meiner alten Schule war, würde mein Name auch darauf stehen, eingehauen in Stein, und im Schulkalender würde hinter meinem Namen stehen – ,zog von der Schule ins Feld und fiel für ...‘ Aber ich wusste noch nicht wofür und wusste noch nicht, ob ich in meiner alten Schule war.“ Die Frage nach dem „Wofür“ bleibt offen. Oder hätte etwa das Epigramm eine Antwort geben können? Böll lässt den Leser selbst entscheiden, ob das Epigramm nicht aufgrund seiner ungeprüften Requisitenrolle eine ungewollte Wirksamkeit entfaltete: Der Gedanke an den heroischen Tod, an das heldenmütige Opfer für das Vaterland, an den bedingungslosen Gehorsam als sittliche Pflicht lag, von den Umständen begünstigt, nahe. Nicht ohne Grund erwähnt Böll das Kriegerdenkmal in der Schule, das die vom Thermopylen-Epigramm ausgelösten heroischen Phantasien (→ 6.4: Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben – Dulce et decorum est pro patria mori) nur noch beflügeln konnte. Die For194

derung nach bedingungslosem Gehorsam wurde von diesem Epigramm gleichsam humanistisch gerechtfertigt. Wenn es darum gehen soll, den historischen Hintergrund aufzuhellen, ist man verwiesen auf Herodot. In seiner Darstellung der Schlacht bei den Thermopylen ist der griechische Originaltext des Epigramms enthalten (7, 201–233). Die deutsche Fassung des ursprünglich griechischen Textes ist Friedrich Schiller zu verdanken, der die beiden Zeilen in seine Elegie „Der Spaziergang“ (1795) eingearbeitet hat. Schillers lateinische Vorlage findet sich in Ciceros Tuskulanischen Gesprächen (1, 102). In Schillers Elegie stehen die beiden Verse fast genau in der Mitte (96–97). Sie bilden mit den Versen, die sie umgeben, den Höhepunkt des Traumes, der den Spaziergänger „schaudernd ergriff mit des Lebens furchtbarem Bilde“ (187). Das „Vaterland“ und „der Ahnen Gesetze“ (97), für die das Herz schlägt und glüht, verlangen Opfer. Die Penaten wollen verteidigt werden. Weil (nicht: obwohl) „näher gerückt ist der Mensch an den Menschen“, mussten die Männer ihre Kinder und Frauen verlassen, die nur noch dem Heereszug nachblicken konnten, „bis ihn die Ferne verschlang“. Die Mütter flehten um Ruhm und Sieg und um die Rückkehr der Krieger. Aber die Götter gaben ihnen nur einen Teil des Erflehten: Ehre und Sieg wurden gewährt, nicht aber die Rückkehr der Männer selbst: „Der Ruhm nur kehrte zurücke“ (95). Der „rührende Stein“ vermittelt der Toten Tatenruhm an die Menschen in der Heimat. Das Blut der Gefallenen ist der kraftvolle Dünger für eine stürmische Entwicklung der Überlebenden (99–100). Fünf Jahre vor der 1795 in den „Horen“ erschienenen Elegie hatte sich Schiller mit der spartanischen Verfassung auseinandergesetzt. In Anlehnung an Plutarchs Lykurg-Biographie hält Schiller fest, dass die Spartaner nur einen einzigen Bezugspunkt ihres Denkens und Handeln kannten: das Wohl des Staates, dem alle privaten Interessen unterzuordnen waren: „Nur im Schoße des Staats fand er Beschäftigung, Ergötzung, Ehre, Belohnung: alle seine Triebe und 195

Leidenschaften waren nach diesem Mittelpunkt hingeleitet. Der Staat hatte also die ganze Energie, die Kraft aller seiner einzelnen Bürger; und an dem Gemeingeiste, der alle zusammen entflammte, musste sich der Nationalgeist jedes einzelnen Bürgers entzünden. Daher ist es kein Wunder, dass die spartanische Vaterlandstugend einen Grad von Stärke erreichte, der uns unglaublich erscheinen muss. Daher kam es, dass bei dem Bürger dieser Republik gar kein Zweifel stattfinden konnte, wenn es darauf ankam, zwischen Selbsterhaltung und Rettung des Vaterlandes eine Wahl zu treffen. Daher ist es begreiflich, wie sich der spartanische König Leonidas mit seinen 300 Helden die Grabschrift verdienen konnte, die schönste ihrer Art und das erhabenste Denkmal politischer Tugend:,Erzähle, Wanderer, wenn du nach Sparta kommst, dass wir, seinen Gesetzen gehorsam, hier gefallen sind‘.“ Aber dann fährt Schiller fort: „Diese bewunderungswürdige Verfassung ist im höchsten Grade verwerflich, und nichts Traurigeres könnte der Menschheit begegnen, als wenn alle Staaten nach diesem Muster wären gegründet worden.“ Im Hinblick auf ihren Zweck sei Lykurgs Gesetzgebung zwar ein „Meisterstück der Staats- und Menschenkunde“. Aber halte man den Zweck, den Lykurg im Auge hatte, gegen den Zweck der Menschheit, so müsse eine tiefe Missbilligung an die Stelle der Bewunderung treten. „Alles darf dem Besten des Staates zum Opfer gebracht werden, nur dasjenige nicht, dem der Staat selbst nur als ein Mittel dient. Der Staat selbst ist niemals Zweck, er ist nur wichtig als eine Bedingung, unter welcher der Zweck der Menschheit erfüllt werden kann, und dieser Zweck der Menschheit ist kein anderer als Ausbildung aller Kräfte des Menschen, Fortschreitung. Hindert eine Staatsverfassung, dass alle Kräfte, die im Menschen liegen, sich entwickeln, hindert sie die Fortschreitung des Geistes, so ist sie verwerflich und schädlich, sie mag übrigens noch so durchdacht und in ihrer Art noch so vollkommen sein.“ Lykurg habe seinen Staat auf den „Ruin der Sittlichkeit“ gegründet. Dadurch dass 196

im spartanischen Gesetzbuch gepredigt wurde, Menschen als Mittel und nicht als Zwecke zu betrachten, seien „die Grundfesten des Naturrechts und der Sittlichkeit gesetzmäßig eingerissen“. Vor dem Hintergrund dieser entschiedenen Ablehnung des spartanischen Staatsgedankens, der in seiner konsequenten Verwirklichung „ein Attentat gegen die Menschheit“, das heißt gegen das Wesen des Menschen, sei, muss sich das Verhalten des Leonidas und der 300 Spartiaten bei den Thermopylen als zutiefst fragwürdig erweisen. Über die ethische Qualität des Ausharrens an den Thermopylen ist aufgrund der Unsicherheit hinsichtlich der tatsächlichen Beweggründe kein abschließendes Urteil möglich. Die im Epigramm propagierte Begründung („wie das Gesetz es befahl“) unterstellt allerdings ein Handeln, das zumindest der Aristoteles der Nikomachischen Ethik (3, 9–12) nicht als „tapfer“ definieren würde: „Denn offensichtlich setzen sich die Bürger einer Polis den Gefahren aus wegen der gesetzlich festgelegten Strafen, wegen der Schande und der Ehre“ (1116 a 18–19). Diese Tapferkeit aus Furcht vor Strafe ist für Aristoteles keine Leistung einer vollendeten sittlichen Persönlichkeit, weil sie nicht aus freier Entscheidung bewiesen, sondern durch das Gesetz erzwungen wurde. Bemerkenswert ist auch, dass Aristoteles das von Herodot (7, 223) geschilderte Verhalten der Perser an den Thermopylen, die von ihren Anführern in die Schlacht gepeitscht wurden, derselben Spielart von Tapferkeit zuordnet (1116 a 36). Im Krieg der Perser gegen die Griechen war die Vernichtung der Spartaner an den Thermopylen eine strategisch bedeutungslose Episode. Hätte die spartanische Devise „Sieg oder Tod“ die griechische Strategie während der persischen Invasion bestimmt, so hätte das katastrophale Folgen für ganz Griechenland gehabt (vgl. Herodot 7, 139). Ein starres Festhalten am Gesetz hätte gerade nicht zu einer erfolgreichen Abwehr der Invasoren geführt, sondern dem Großkönig den Weg nach Europa geebnet. Eine Heroifizierung des Leonidas und seiner 300 Spartiaten war also nur unter der Bedingung möglich, dass 197

das Epigramm aus seinem historischen Kontext herausgelöst wurde, um einer textunabhängigen Verherrlichung des bedingungslosen Gehorsams und des Opfertodes für das Vaterland den Weg zu bereiten.

6.4 „Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben“ – Dulce et decorum est pro patria mori Am 11. Januar 1991 erschien – unmittelbar vor dem Beginn des Irakkrieges – unter der Überschrift Dulce et decorum est in der ZEIT eine Glosse von Susanne Mayer. Sie zitiert das Kriegsgedicht eines jungen Engländers, Wilfred Owen, der 25-jährig am 4. November 1918 fiel. Das Gedicht schließt mit dem Satz: „Mein Freund, du würdest nicht mit solcher Inbrunst / den Kindern, brennend nach tollkühnem Ruhm, / die alte Lüge sagen: Dulce et decorum est pro patria mori – wenn Du erlebt hättest, was ich erlebt und in meinem Gedicht beschrieben habe.“222 Jörg Lau (Z., 07. 02. 2002) reflektiert über den „Todeskult“ des Islamismus, muss aber einräumen, dass schon Theodor Körner (1791) vom „Opfertod als dem einzigen Glück“ sprach. Die sogenannte Römerode223 des Horaz ist berühmt und berüchtigt wegen ihres 13. Verses: Dulce et decorum est pro patria mori. Wenn man das Gedicht im Allgemeinen und den Vers 13 im Besonderen richtig verstehen wolle, dann – so argumentiert Dieter Lohmann 1989 – müsse man Vers 13 als Tyrtaios-Zitat und vor allem als Bezugnahme auf Pindars Worte (fr. 110) verstehen: Der Spartaner Tyrtaios (fr. 6) schrieb: „Schön nämlich ist es, als tapferer Mann für sein Vaterland kämpfend in vorderster Front zu fallen und zu sterben.“ Pindar (fr. 110 Snell) scheint darauf mit folgenden Worten zu reagieren: Süß aber ist der Krieg nur für diejenigen, die ihn nicht kennen; wer ihn aber kennt, der fürchtet sich vor ihm, wenn er kommt, im Herzen übermäßig. Lohmann will beweisen, dass das aus zwei scharf voneinander abzugrenzenden Teilen bestehende Gedicht des Horaz (Teil 1: 1.–4. Strophe 198

= Vers 1–16; Teil 2: 5.–8. Strophe = Vers 17–32) im ersten Teil die heroischen Phantasien eines unreifen puer darstelle, der sich in seiner Unerfahrenheit den Tod für das Vaterland ruhig als „süß“ ausmalen dürfe; im zweiten Teil hingegen werde die wahre virtus dem Verhalten des unreifen Knaben gegenübergestellt. Eine wichtige Voraussetzung für diese Interpretation ist der thematische Zusammenhang des zweiten Teiles der Ode 3, 2 mit der Ode 3, 1: „Während in III 1 auf die Distanzierung von Macht, Reichtum und der Hybris menschlichen Bauens mit all den beklemmenden Begleitumständen die Unabhängigkeit (Autarkie) des einfachen Lebens folgte, werden nun in c. III 2, 17 ff. die noch ausstehenden Aspekte individueller Freiheit und Unerschütterlichkeit (Ataraxie) des epikureischen Weisen aufgezählt, wie sie bei Epikur und Lukrez immer wieder genannt werden: 1. Die Unberührbarkeit von äußerer Anerkennung und Gunst der Menge (17–20). 2. Die Überwindung der Todesfurcht (21–24). 3. Das Bekenntnis zu Stille und Distanzierung vom unruhigen, ständig von der göttlichen Strafe bedrohten Leben des Verbrechers (25–32) (→ 4.4: Was ist ein Epikureer? → 9.4: Gründe erkennen: Lukrez). Während also in der ersten Ode der Gedanke von der epikureischen Autarkie überwiegt, steht in der zweiten das Thema der Ataraxie im Mittelpunkt, ein Gedanke, der dann in den zwei Anfangsstrophen der dritten Ode mit dem Idealbild des unerschütterlichen, gerechten und standhaften Mannes seine Abrundung findet“ (Lohmann 1989, 14). Wülfing 2001, 388 weist ergänzend darauf hin, dass die Gedankenfolge in den ersten beiden Oden des dritten Buches dem epikureischen Prinzip von Hairesis („Wählen“) und Phyge („Verwerfen“) entspreche: „Verworfen“ werde lastender Reichtum; „gewählt“ werde die „goldene Mitte“ des überschaubaren Wohlstandes. „Verworfen“ werde ein knabenhaftes, unerfahrenes Heldentum, „gewählt“ werde die Besonnenheit und Gelassenheit reifer Männlichkeit.

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Diese Deutung bestätigen auch die beiden letzten Strophen des Carmen 4, 9: „Nicht den, der viel besitzt, könntest du wohl wirklich glücklich nennen; mit höherem Recht beansprucht den Namen des Glücklichen derjenige, der mit Weisheit (sapienter) die Gaben der Götter zu nutzen und die harte Armut zu dulden versteht und mehr als den Tod die Schande fürchtet; jener Mann fürchtet sich nicht, für seine lieben Freunde und für sein Vaterland zu sterben.“ Das ist die Haltung eines reifen Mannes, der fest auf der Grundlage altrömischer Gesittung steht und aus der Überzeugung vom Wert der Einfachheit zu höchster Hingabe an das Vaterland bereit ist. Mit diesen Versen (Carmen 4, 9, 45–52) wird bestätigt, dass wahres Heldentum nicht den Heldentod sucht, sondern in der furchtlosen und unpathetischen Bereitschaft besteht, das Letzte, wenn es nötig ist, für Freunde und Vaterland hinzugeben. Dass sogar der epikureische Weise (D.L. 10, 121) unter Umständen bereit ist, für einen Freund in den Tod zu gehen, bestätigt dieses Verständnis der Horaz-Strophen: Sein Leben für andere hingeben zu wollen, setzt ein Höchstmaß an Weisheit und Reife voraus. So ist das Carmen 3, 2 „kein patriotisches Preislied auf altrömische Zucht und Tugend ..., sondern ein Hohes Lied auf die Grundideale des Epikureismus: persönliche Freiheit, Unabhängigkeit, Unerschütterlichkeit“. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Gedicht „eines der bemerkenswertesten Zeugnisse der Weltliteratur gegen Militarismus und kriegerisches Pathos“ (Lohmann, 22f.). Diese Interpretation setzt nicht nur die Annahme voraus, dass Horaz insgesamt mit Epikur und dem Epikureismus sympathisiert, was mit den bisherigen Hinweisen ohne weiteres zu belegen ist, sondern verlangt auch, dass der Konjunktiv in den Strophen 1–3 (condiscat, vexet, agat, suspiret) nicht als Coniunctivus optativus oder iussivus, sondern als Coniunctivus concessivus verstanden wird. Denn dann beginnt das Carmen 3, 2 nicht mehr mit den Worten: „In Enge freudig Armut ertragen gestählt in hartem Kriegsdienst, das soll der Kna200

be erlernen, und die wilden Parther soll er bedrängen zu Pferde, gefürchtet ob seiner Lanze ...“ (Übersetzung: B. Kytzler 1992). In Lohmann Version lautet der Text stattdessen so: „Die Armut freilich, die uns unfrei macht, mit Lust ertragen – das mag ein Knabe, abgehärtet durch die kriegerischen Reiterspiele, mit seinen Kameraden lernen! Mag er die wilden Parther als Reiter in der Rennbahn plagen, furchterregend mit der Lanze ...“ Gestützt wird Lohmann Deutung des Konjunktivs als Coniunctivus concessivus und die darauf aufbauende Interpretation auch durch ein literarisches Vorbild des Horaz: Schon Sappho (Fr. 27a Diehl) verwendet die folgende Wertepriamel: „Die einen mögen ein Reiterheer, die anderen ein Fußvolk oder eine Ansammlung von Schiffen für das Schönste auf Erden halten224 – ich aber das, was man liebt“ (→ 9.1: Was ist Schönheit?). Und Horaz selbst benutzt die rhetorische Figur der Reihung von Beispielen für bestimmte Werte, auf die im letzten Glied eine Schlusspointe folgt, mit der alle bisher aufgezählten Werte in den Schatten gestellt werden: „Rings um Wagen und Rosse Staub in Olympia / aufzuwirbeln erfreut manche; wenn hart ums Ziel / rollt das glühende Rad, stellt sie der ehrende Zweig der Palme der Welt Herrschern, den Göttern, gleich ... (Carmen 1, 1, 3–28)“, und dann sagt Horaz nach all diesen Beispielen für Möglichkeiten beglückender Lebensgestaltung, was für ihn selbst das Wichtigste ist: „Mich eint Efeu, der Schmuck kundiger Dichterstirn, mit den Himmlischen, mich sondert der kühle Hain ... ab vom Volke“ (Übersetzung: Hans Färber). Wenn man mit Lohmann das Carmen 3, 2 als ein Beispiel für die Verweigerung unreifer Todes- und Opferphantasien und für ihre Bewältigung durch Besinnung auf wahre Männlichkeit versteht,225 braucht man auch keinen Widerspruch zwischen dem scheinbaren Heroismus des Carmen 3, 1 und dem Carmen 2, 7 zu sehen, wo der Dichter gegenüber einem spät heimkehrenden Freund sein ganz und gar unheroisches Verhalten in der Schlacht bei Philippi erwähnt: „Mit dir habe ich Philippi und die eilige Flucht erlebt, als ich meinen 201

Schild, ohne Ruhm zu ernten, zurückließ, als mein Mannesmut zerbrach und unsere bedrohlichen Krieger den Boden schändlich mit dem Kinn berührten.“226 Vermutlich ist also die Deutung der vier Konjunktive in den ersten drei Strophen des Carmen 3, 2 nicht so problematisch, wie es auf den ersten Blick erscheint. Störend bleibt jedoch die Tatsache, dass an der entscheidenden Stelle in der 4. Strophe ein konstatierender Indikativ steht: „Süß und ehrenvoll ist es ...“ Warum steht hier der Indikativ statt eines fünften Coniunctivus concessivus? Warum können wir also nicht lesen: „Süß und ehrenvoll mag es sein ...“? Wahrscheinlich wurde bisher zu wenig berücksichtigt, dass Horaz nicht nur auf die homerische Mauerschau in der Ilias anspielt (2. und 3. Strophe), sondern dass das dulce et decorum einem Vers in der Aeneis vergleichbar ist: Dort ruft Aeneas in aussichtsloser Lage angesichts der brennenden Stadt aus: „Schön erscheint es mir zu sterben in Waffen“ (Aeneis 2, 317). Wahrscheinlich kannte Horaz diesen Vers und seinen Kontext. Hätte Aeneas in seiner Verzweiflung den Tod im Kampf gesucht, so hätte dies katastrophale Folgen gehabt. Der Dichter lässt den Helden sagen: „Von Sinnen greife ich zu den Waffen; doch es gibt keinen vernünftigen Grund mehr zu kämpfen, aber ich habe das brennende Verlangen, die Männer zum Kampf zu sammeln und zusammen mit ihnen die Burg zu stürmen; ein rasender Zorn überwältigt mich: Schön erscheint es mir jetzt zu sterben in Waffen ...“ (Aeneis 2, 314–317). Warum sollte Horaz mit seinem dulce et decorum nicht außer auf Pindar und Tyrtaios auch auf diese Verse Vergils angespielt haben, um die Irrationalität des Satzes in Carmen 3, 2, 13 bewusst zu machen? Durch den Hinweis auf die trojanische Katastrophe verlöre der Satz seinen imperativen Charakter: In auswegloser Lage sein Leben zu opfern, ist nicht akzeptabel, geschweige denn „süß und ehrenvoll“. Die großen Helden der römischen Vergangenheit haben ihr Leben zwar furchtlos eingesetzt, nicht aber bewusst geopfert. 202

Vor kurzem erschien ein Aufsatz zur Rezeptionsgeschichte des Carmen 3, 2. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Instrumentalisierung des Horaz-Gedichts vor dem Ersten Weltkrieg:227 „Mit Beginn des Ersten Weltkriegs empfinden viele Altphilologen angesichts einer nicht abreißenden Kritik an humanistischen Bildungskonzepten die Notwendigkeit, aber vielleicht mehr noch den inneren Drang, den völkisch-nationalen Nutzen des altsprachlichen Unterrichts und seinen Beitrag zur Kriegsbereitschaft der Jugend nach außen hin und in ihren Didaktik zu unterstreichen“ (130). Die Beispiele für die Verwendung des Dulce et decorum est pro patria mori (Carmen 3, 2, 13) zeigen, dass der Vers dekontextualisiert ist und keinen Referenzcharakter hat, sondern zu einem geflügelten Wort geworden ist. Die Vernachlässigung des Textzusammenhangs hat diesen Vers (nicht das Gedicht als ganzes) zu einem verlogenen Propagandamittel werden lassen. Die positive Konnotation des Adjektivs dulcis (süß) ist gewiss mit mori (sterben) nicht vereinbar. Wer hier einen ernsthaften Zusammenhang konstruiert, verkennt die bittere Ironie, die Horaz mit dem berühmten Vers zum Ausdruck bringt. Horaz hatte ja selbst einst in der Schlacht bei Philippi seinen Schild weggeworfen, um sein Leben zu retten (Carmen 2, 7, 9).228

6.5 Antike und Nationalsozialismus „Wir wollen erfahren, wie Altphilologen, Althistoriker und Archäologen die Zeugnisse der griechischen und römischen Kultur missbrauchten, um der nationalsozialistischen Barbarei den Schein der historischen und moralischen Legitimität zu verleihen.“ Ob man diesem in der Einladung zur Tagung „Die Antike im Nationalsozialismus“ (12.–14. November 1999 in der Benediktinerabtei St. Stephan, Augsburg) ausgesprochenen Wunsch, jemals gerecht werden kann, sei dahingestellt. Denn aus den allgemein zugänglichen Zeugnissen 203

und Dokumenten ist nicht ohne weiteres zu entnehmen, dass Altphilologen, Althistoriker und Archäologen ihre wissenschaftlichen Gegenstände zu dem angegebenen Zweck bewusst missbraucht haben. Man kann allenfalls behaupten, dass es Altphilologen gab, die sich in den Dienst der „Barbaren“ gestellt haben, um ihre wissenschaftlichen Gegenstände vor der „Barbarei“ in Sicherheit zu bringen. Man kann nur darzustellen versuchen, wie sich Altphilologen, die am Gymnasium und an der Universität für die Erhaltung des humanistischen Gymnasiums und des altsprachlichen Unterricht eintraten, durch Anpassung und Anbiederung zu legitimieren suchten und die Lingua Tertii Imperii229 für diesen Zweck benutzten. Man kann wohl nicht davon ausgehen, dass der nationalsozialistische Staat, der die Vereinheitlichung des Schulwesens zum Ziel hatte, das humanistische Gymnasium auf Dauer erhalten wollte. Vereinheitlichung des Bildungswesens geht bis auf den heutigen Tag auf Kosten des humanistischen Gymnasiums. „Die Zukunft des humanistischen Gymnasiums und des altsprachlichen Unterrichts überhaupt war nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im Januar 1933 durchaus ungewiss.“230 Die nationalsozialistische Schulpolitik bedeutete jedoch keine grundlegend neue oder unerwartete Bedrohung des humanistischen Gymnasiums. Denn spätestens seit der sogenannten Dezemberkonferenz von 1890, auf der Kaiser Wilhelm II. dem humanistischen Gymnasium vorwarf, es fehle ihm „vor allem an der nationalen Basis“, war diese Gymnasialform massiven Angriffen im Namen des Nationalismus ausgesetzt.231 Der Kaiser hatte verlangt: „Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen; wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer. Wir müssen von der Basis abgehen, die Jahrhunderte lang bestand, von der alten klösterlichen Erziehung des Mittelalters, wo das Lateinische maßgebend war und ein bisschen Griechisch dazu. Das ist nicht mehr maßgebend.“ 204

Die Polemik gegen das humanistische Gymnasium in der Zeit vor und nach 1933 richtete sich aber nicht nur gegen mangelnde Nationalerziehung; auch allgemeine Rückständigkeit, Welt- und Lebensfremdheit – so hieß es – entzogen dieser allenfalls noch geduldeten Nebenform der Höheren Schule die Daseinsberechtigung vor allem im neuen, nationalsozialistischen Deutschland.232 Heute würde man statt Rückständigkeit, Welt- und Lebensfremdheit Ignoranz gegenüber dem technologischen Fortschritt, der Digitalisierung, der Globalisierung und so weiter sagen. Die Altphilologen an den Gymnasien hatten sich damals mit der Frage auseinanderzusetzen, wie sie ihre Arbeit in ihren Fächern und ihrem Unterricht „in den Dienst der deutschen Revolution“ stellen konnten, wenn sie nicht der „Vereinheitlichung“ des Schulwesens zum Opfer fallen wollten. Im Frühjahr 1937 fand auf der Insel Reichenau (Bodensee) eine altsprachliche Arbeitstagung statt.233 In seinem Einleitungsreferat erinnerte Friedrich Eichhorn daran, „dass dem altsprachlichen Unterricht nach dem nationalsozialistischen Umbruch zunächst die Daseinsberechtigung im neuen Deutschland von breiten Kreisen abgesprochen wurde.“ Das sei nicht schwer zu begreifen „bei einer Generation, die es wie die unsere so ganz mit der Meisterung der gegenwärtigen Lage des eigenen Volkes zu tun hat und der infolgedessen die Quellen, aus denen der altsprachliche Unterricht seine Bildungs- und Erziehungswerte schöpft, nur zu leicht als zeitlich und räumlich zu fernliegend erscheinen.“ Diese Ablehnung sei darauf zurückzuführen, dass die Altsprachler so unbegreiflich hartnäckig daran festhielten, das von ihnen verfochtene Bildungsideal als „humanistisch“ zu bezeichnen, und es den Gegnern altsprachlicher Bildung dadurch selbst ermöglichten, „das altsprachliche Bildungsideal in die verdächtige Nachbarschaft des neuhumanistischen zu bringen, das seine starke Durchdringung mit teils individualistisch-liberalistischen, teils menschheitlich-weltbürgerlichen Anschauungen nicht verleugnen kann“ (Eichhorn 1937, 1). 205

Eichhorn forderte daher seine Fachkollegen dazu auf, die Unterrichtsgegenstände unverzüglich nationalsozialistisch auszurichten und zu durchdringen, indem sie die Antike als „eine Schöpfung artverwandten nordischen Menschentums“ erscheinen ließen. Die Arbeit müsse von der Erkenntnis getragen sein, dass die Auffassung, die man bislang vom griechischen und römischen Altertum gehabt habe, für den Aufbau einer deutschen Nationalbildung schlechterdings nicht fruchtbar gemacht werden könne. Notwendig sei die Einsicht, dass man die Denkmäler des griechischen und römischen Altertums aus dem Blickwinkel der nationalsozialistischen Weltanschauung heraus gleichsam neu lesen und verstehen lernen müsse. Diese wenigen Andeutungen genügen, um zu verdeutlichen, dass das humanistische Gymnasium und der altsprachliche Unterricht ohne Zweifel unter einem erheblichen Rechtfertigungszwang standen. Auf diesen versuchte man mit einer entsprechenden Rechtfertigungsrhetorik zu reagieren. Wie diese benutzt wurde, veranschaulichen zeitgenössische Publikationen (vor allem Zeitschriftenaufsätze und Monographien). Bei der Lektüre dieser Arbeiten ist jedoch ein Vorbehalt zu machen: Sie spiegeln mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht die Unterrichtswirklichkeit wider, deren Rekonstruktion auf andere Quellen zurückgreifen muss, wie auf die in den Schularchiven aufbewahrten Schulakten, die Jahresberichte der Direktoren, die Klassenbücher, die Konferenzprotokolle und – ebenfalls mit Vorbehalt – die Erinnerungen zeitgenössischer Lehrer und Schüler (vgl. Albrecht 1986). Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass die alten Sprachen in den Traditionsgymnasien trotz massiver Stundenkürzungen den unterrichtlichen Schwerpunkt bildeten: „Ureigene Vorstellungen vom Unterricht der alten Sprachen wurden nicht aufgegeben, notfalls auch verteidigt“ (Albrecht 1986, 233). Die Untersuchung der Unterrichtswirklichkeit lässt erkennen, dass weiterhin ein konservativer altsprachlicher Unterricht im Sinne überkommener humanistischer 206

Bildungsvorstellungen praktiziert wurde, ohne dass Lehrer und Schüler mit nationalsozialistisch geprägten Bildungs- und Erziehungsvorstellungen nachhaltig in Konflikt gerieten. Das scheinbar Unvereinbare konnte gleichzeitig nebeneinander bestehen. Man ließ die nationalsozialistische Ritualisierung des Schullebens über sich ergehen, indem man – professionell und routiniert – zum Beispiel „die nationalpolitischen Feiertage in würdiger Form beging“,234 passte sich der vorgegebenen Sprachregelung an, machte aber im großen und ganzen so weiter wie bisher. Im Gegensatz zu dieser „Normalität“ standen jedoch Eingriffe in das Personal der Schule. So hat zum Beispiel das „Staatliche Gymnasium zu Göttingen“ am Ende des Schuljahres 1933/34 eine – wie es im Jahresbericht heißt – „einschneidende Veränderung“ zu verkraften: „Nach Abnahme der Reifeprüfung am 22./24. Februar (1934) erbat Studiendirektor Dr. Lisco seine Beurlaubung; er wurde Opfer der Bestimmungen des § 5 des Beamtengesetzes.“ Knapp zwei Jahre später, am 6. Januar 1936, sieht sich der neue Direktor des Gymnasiums genötigt, diese Notiz aus dem Bericht über das Schuljahr 1933/34 zu korrigieren und den vorgesetzten Dienstbehörden mit Datum vom 6. Januar 1936 folgende „Berichtigung“ mitzuteilen: „Statt ,er wurde ... Beamtengesetzes‘ muss es heißen: Er (Dr. Lisco) wurde aufgrund des § 5 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 als Nichtarier in das Amt eines Studienrats versetzt und trat danach in den Ruhestand.“ Eduard Lisco starb übrigens 1941 mit 62 Jahren. Im Jahresbericht 1940/ 41 des Staatlichen Gymnasiums ist zu lesen, dass „der Direktor (Dr. Walter John, Altphilologe wie auch Dr. Lisco) am Grab des Verstorbenen den Kranz der Schule“ niederlegte. Dieses Zeichen der Verbundenheit mit einem offiziell Geächteten über alle Anpassungszwänge hinweg235 veranschaulicht auch hier, wie in der Realität des Alltags manches anscheinend Unvereinbare nebeneinander existieren konnte. 207

Auffallend, aber verständlich ist, dass im Jahresbericht 1938/39 darüber berichtet wird, dass die Schule am 9. November 1938 vor Beginn des Unterrichts auf dem Schulhof zur Flaggenhissung antrat, bei welcher der Direktor von der „verpflichtenden Bedeutung dieses Gedenktages“ sprach (wir wissen nicht, worin er die „verpflichtende Bedeutung“ sah); das Pogrom in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 mit massiven Ausschreitungen gegen jüdische Kultstätten, Friedhöfe, Wohn- und Geschäftshäuser – immerhin wurden fast alle Synagogen und mehr als 7.000 Geschäfte zerstört und mehr als 30.000 Juden verhaftet – hinterließ im Jahresbericht jedoch keine Spur, obwohl auch Göttingen nicht verschont blieb. Hier erhebt sich natürlich die Frage, warum diese Vorgänge unerwähnt blieben, während doch viele andere die Schule nicht unmittelbar betreffende Ereignisse erwähnt wurden. Es hätte zum Beispiel folgende Notiz im Jahresbericht erscheinen können: „Am 7. 11. 1938 erschoss Herschel Grynszpan in Paris den deutschen Botschaftssekretär E. von Rath. Dieses Attentat führte auch in Göttingen zu ,spontanen Kundgebungen‘, an denen sich Schüler dieser Anstalt beteiligten / nicht beteiligten.“ Dieser fiktive Eintrag wäre umrahmt gewesen von folgenden Mitteilungen: „Nach der Eingliederung des Sudentenlandes in das Großdeutsche Reich hörte die Schule im Gemeinschaftsempfang am 1. Oktober aus Berlin den umjubelten Empfang des Führers nach seiner Rückkehr aus dem befreiten deutschen Gebiet.“ Nach dem Hinweis auf den 9. November folgt dann aber nur der Satz: „Die Feier der Machtübernahme 1933 beging die Schule am 30. Januar 1939 im Rahmen der für alle Schulen angeordneten Reichsfeier.“ Wenn man die Rolle und Bedeutung des altsprachlichen Unterrichts in der NS-Zeit beschreiben will, sollte man bedenken, dass „die alten Sprachen für das Ganze der NS-Ideologie kein großes Gewicht hatten und dass die im eigentlichen Sinne humanistisch Gebildeten – diejenigen also, die Latein und Griechisch gelernt hat208

ten – nur eine kleine Minderheit ausmachten“.236 Andere Unterrichtsfächer wie Deutsch, Geschichte, Biologie und Sport hatten im Schulwesen insgesamt ein ungleich größeres Gewicht und waren daher für die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankengutes erheblich wichtiger und bedeutsamer. Vor allem Deutsch und Geschichte konnten als „Gesinnungsfächer“ eine tiefere und wirksamere nationalsozialistische Mentalitätsbildung vermitteln. Gerade unter diesem Aspekt leuchtet es ein, dass der altsprachliche Unterricht geduldet wurde, weil man damit rechnete, dass sich das Problem von selbst erledigte. Es besteht kein Zweifel daran, dass das „Modernitäts- und Effektivitätsdefizit“ auch und gerade im „Dritten Reich“ (und nicht erst heute) zur restlosen Abschaffung des altsprachlichen Unterrichts geführt hätte.237 In den Zukunftsvisionen der NS-Ideologie war für das humanistische Gymnasium ebenso wenig Raum wie in der Reform- und Innovationshysterie unserer Gegenwart,238 und ob heute wie damals die Anpassung die richtige Überlebensstrategie ist, sollte zumindest in Frage gestellt werden. Denn „der Legitimationsdruck, das Bestreben, gesellschaftlich erwünscht und präsent zu bleiben, hat die Anpassung an das nationalsozialistische Schulsystem entscheidend gefördert, gleichzeitig aber eine Argumentationsstruktur begründet, die nicht unbedenklich ist: Sinn und Notwendigkeit des altsprachlichen Unterrichts beweisen sich danach darin, dass dieser Unterricht die zentralen Forderungen der Gesellschaft ,eigentlich‘ am besten erfüllt.“ 239 Der Begriff „Argumentationsstruktur“ soll zum Ausdruck bringen, dass es heute nicht anders ist als damals. Unabhängig von der Frage, welche Bedeutung der altsprachliche Unterricht im nationalsozialistischen Bildungswesen tatsächlich hatte und in welchem Umfang er zur Stabilisierung und Fortentwicklung des Nationalsozialismus beitrug oder beitragen musste, um zu überleben, lässt sich nicht verleugnen, dass die einschlägigen Publikationen über das Selbstverständnis des altsprachlichen Unterrichts im Dritten Reich die aktive Bereitschaft zur Anpassung belegen. Viele der damals 209

publizierten Schriften und Aufsätze sind Zeugnisse einer unverhohlenen Anpassungs- und Anbiederungsliteratur. Man kann nicht erkennen, dass die Autoren dieser Texte „gutgläubige Idealisten“ waren, die sich verführen und missbrauchen ließen.240 Die Anpassung wurde uneingeschränkt, hemmungslos, skrupellos und ganz bewusst vollzogen. Ein Kernsatz lautet: „Wir sehen mit Staunen, dass ... alle griechische Erziehung (paideia) wesenhaft politische Erziehung war, dass alle Wissenschaft und Kunst ebenso wie die anderen Lebensbetätigungen in der Polis und im Dienst ihrer übergreifenden Gemeinschaft ihren Lebenssinn (telos) hatten. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich ein neuer Humanismus. Für dessen pädagogische Ausrichtung ... ist die Erkenntnis entscheidend, dass für einen Platon Erziehung und Staat nicht weniger eng zusammengehören als für Adolf Hitler und die nationalsozialistische Weltanschauung, die freilich der blutmäßigen, rassischen Grundlage des Staates ganz andere Bedeutung beimisst als es in der Antike je der Fall war. Die so gesehene Antike rückt aus entfernter Idealität in die unmittelbare Gegenwart und wird von neuem, wie es in jeder wirklichen Renaissance der Fall war, zu einer revolutionären Kraft, die zugleich am Neubau unseres Volkes mithelfen kann. Unser Humanismus ist ein nationaler, ein politischer Humanismus“ (aus der Festschrift zur 350-Jahr-Feier des Staatlichen Gymnasiums zu Göttingen, 32). Es ist nicht mehr zu klären, ob die Bemühungen, aus einem humanistischen ein nationalsozialistisches Gymnasium zu machen, „ehrlichen Herzens oder in der Absicht ..., Schlimmeres zu verhüten“,241 unternommen wurden. Was wäre übrigens das „Schlimmere“ gewesen, das man hätte verhüten wollen? Dann heißt es aber 1952 in der Zeitschrift „Gymnasium“:242 „Wir haben es zwölf Jahre abgelehnt, den Rassen- und Führergedanken als Mittelpunkt der griechischen Lektüre aufgedrängt zu bekommen.“ Schon 1949 konnte man in derselben Zeitschrift lesen,243 dass das altsprachliche Gymnasium ein „starkes Bollwerk gegen die national210

sozialistische Ideologie“ gewesen und „in den verflossenen Jahren des Niedergangs seinem Wesen treu geblieben“ sei. Man behauptet sogar,244 die deutschen Altphilologen hätten nach 1945 ein gutes Recht, eine Wiedergutmachung, eine Einsetzung des humanistischen Gymnasiums in seinen alten Stand zu erwarten. Man kann nur vermuten, worauf sich diese Äußerungen stützen: 1. Die Wirklichkeit des altsprachlichen Unterrichts in der NS-Zeit entsprach möglicherweise nicht den Aussagen der Anpassungs- und Anbiederungsliteratur. 2. Die nationalistische und später nationalsozialistische Polemik gegen das humanistische Gymnasium, das aufgrund seiner Exklusivität die völkische Einheit störte oder gar unmöglich machte, wie der Pädagoge Fritz Blättner 1937 behauptete,245 wurde als „Verfolgung“ erlebt oder interpretiert. Ebenso wenig, wie man die Altphilologen der NS-Zeit pauschal als „Verfolgte“ einstufen kann, kann man sie undifferenziert als Wegbereiter oder gar Vollstrecker des Nationalsozialismus diffamieren. Derselbe Fritz Blättner, der 1937 das humanistische Gymnasium als Störfaktor des völkischen Einheit sah, behauptet 1960 von demselben Gymnasium, 246 es habe mit seinem „weltlosen enthusiastischen Bildungsdenken“ zur „Barbarei des Nationalsozialismus und in die Katastrophe“ geführt. Es sei der humanistischen Erziehung zwar gelungen, „die Liebe zur Idee, zum Absoluten zu erwecken, aber es gelang ihr nicht, sie ins Leben zu lenken. ... Die Gebildeten hegten ihr Ideengärtchen abseits vom Leben,... ja man konnte beobachten, dass die Unbedingtheit der Hingabe, die man an den Ideen eingeübt hatte, auf die Macht, auf die Realpolitik und die Notwendigkeiten übertragen wurde. So entstanden die Machtvergötzung, der Führerkult und ähnliche Krankheiten.“ Blättners Sicht der Dinge ist 1960 offensichtlich von Theodor Litts Analyse des humanistischen Bildungsideals beeinflusst.247 Litt sieht in der angeblichen Exklusivität, in der Abschirmung des humanistischen Bildungsideals gegenüber der realen Welt der Politik und der Arbeit, 211

eine wesentliche Ursache für ein weitgehendes Desinteresse der Gebildeten an der historischen Realität, was nicht zuletzt die reibungslose, ungehinderte Machtergreifung der nationalsozialistischen Bewegung ermöglichte. Ob die Isolation gegenüber der Umwelt, die Neigung zu innerer Emigration tatsächlich der klassisch-humanistischen Bildungsidee Humboldt’scher Prägung entspricht, ist hier nicht zu untersuchen. Aber ähnlich argumentiert der Curriculum-Theoretiker Saul B. Robinsohn, der zwischen der humanistischen Bildung und dem Nationalsozialismus eine enge Verbindung sieht. 248 Robinsohn glaubt feststellen zu müssen, dass der im altsprachlichen Unterricht übliche Umgang mit der Antike „den an ihm Gebildeten vor den Anforderungen der modernen Welt versagen lässt“. Er beruft sich für diese Behauptung auf eine von der Zeitschrift „Wort und Wahrheit“ (19, 1–2, 1964) durchgeführte Enquête über die „Rolle des griechischlateinischen Geisteserbes in der Bildungsgesellschaft von morgen.“ Das „Enthüllende“ dieser Enquête zeige sich darin, dass die befragten Personen sich nicht nur einem unbegründeten Kulturpessimismus ausgeliefert hätten, sondern auch unreflektiert auf dem Modellcharakter der klassischen Welt beständen. Nachdem engagierte Vertreter des altsprachlichen Unterrichts 249 diese Vorwürfe zurückgewiesen hatten, reagierte Robinsohn im Vorwort zur dritten Auflage seines Buches mit einer noch schwerer zu beweisenden Behauptung: Es scheine ihm bemerkenswert, dass sein Argument vom Versagen der klassisch-humanistischen Bildung nicht verstanden oder vielleicht ignoriert worden sei: „Es ging um das Versagen auch der ,humanistisch‘ Gebildeten vor der nationalsozialistischen Barbarei“ (Robinsohn 1971, S. XIX). Robinsohn behauptete also nicht, dass lediglich die beruflich als Altphilologen an Schule und Universität Tätigen versagt hätten, sondern – was vielleicht noch schwerer wiegt – alle, die jemals ein humanistisches Gymnasium absolviert hatten, das heißt ein bedeutender Teil der damaligen Führungsschicht. Robinsohn meinte offensicht212

lich, dass das humanistische Gymnasium seine Absolventen nicht mit den Kompetenzen ausgestattet habe, die erforderlich gewesen wären, um die „nationalsozialistische Barbarei“ zu verhindern.250 Aber ob eine Bildungsidee, eine Schulform oder gar ein Unterrichtsfach überhaupt derartige Kompetenzen vermitteln kann, das ist eine sehr schwierige Frage. Robinsohns Bemerkung schließt die Gewissheit ein, dass die Schule diese Möglichkeit habe. Aber wie ist es möglich, dass die angebliche Weltfremdheit, durch die die humanistische Bildung den Nationalsozialisten suspekt war, diesen zur Machtergreifung und Machterhaltung verholfen haben soll? Ein zweifellos paradoxes Erklärungsmuster.

6.6 In der Klauen der Reklame Dass man antike Vorstellungsinhalte auch unbeabsichtigt kontraproduktiv verwenden kann, zeigt nicht nur die Werbung für ein Hotelzimmer: „Pension Klytaimnestra. Zimmer mit Bad“ (→ 2.6: Kassandra). Wenn ein Reisebüro den Namen „Ikarus“ trägt, erinnert man sich offensichtlich nicht mehr an den tragischen Tod des DädalusSohnes, der mit seinem Fluggerät ins Meer stürzt (→ 5.3: Ikarus). Auch der Name „Sisyphus“ ist als Sinnbild für vergebliche Anstrengung kein brauchbarer Patron einer Baugesellschaft, weil er nicht unbedingt das Vertrauen des Bauherrn weckt (→ 4.2: Der Mythos von Sisyphus). Eine Kneipe mit dem Namen „Tantalus“ kann man nur betreten, wenn man den mythischen Hintergrund ignoriert. Tantalus ist ein Liebling der Götter. Dann missbraucht er ihr Vertrauen und verrät göttliche Geheimnisse. Um die Klugheit der Götter auf die Probe zu stellen, schlachtet Tantalus seinen Sohn Pelops und setzt ihn den Göttern zum Mahl vor. Die Götter durchschauen diesen furchtbaren Betrug. Sie machen Pelops wieder lebendig und verurteilen Tantalus zu ewigen Qualen in der Unterwelt: Er steht bis zum Kinn 213

im Wasser. Immer wenn er Durst hat und trinken will, geht das Wasser zurück. Über seinem Kopf hängen Zweige mit Früchten. Wenn er sie pflücken will, treibt der Wind sie fort.251 Ob der mythische Vogel „Phoenix“ der passende Name für ein Fahrrad ist, sei dahingestellt. Vielleicht soll hiermit die Dauerhaftigkeit des Fahrzeugs unterstrichen werden. Denn Phoenix ist unsterblich: Alle fünfhundert Jahre verbrennt er sich selbst und steigt dann wiederbelebt aus der Asche. Man wird zögern in den Wohnwagen „Carthago“ (Karthago) einzusteigen, wenn man weiß, dass die Römer die Stadt im Jahr 146 v. Chr. dem Erdboden gleichgemacht haben, um endgültig die alleinige Führungsmacht im Mittelmeerraum zu sein. Mit „Carthago“ ist man auf der Seite der Verlierer Man kauft preiswerten Schmuck bei „Pandora“ (→ 2.10: Die Büchse der Pandora), wenn man nicht die ganze Geschichte kennt. Brunello Cucinelli wirbt für exklusive Designermode mit einem Xenophanes-Fragment (VS 21 B 27), wo es heißt: „Aus der Erde stammt alles“, übersieht aber geflissentlich die Fortsetzung: „In die Erde geht am Ende alles wieder zurück“ (→ 10.6: Xenophanes und das Denken des Möglichen und des Unmöglichen). Eine „Traumstation“ wirbt für Betten und Matratzen mit Heraklits Slogan „Alles fließt“ (→ 9.6: Panta rhei). Dann kommt man zur Sache: „Jeder Fluss braucht ein Bett. Traumstation macht Betten für Menschen“. Dem ist nicht zu widersprechen. Heraklit ist als der „dunkle Philosoph“ bekannt. Vielleicht verspricht er damit auch einen ungestörten Schlaf. Man kann es auf einem „Matratzentestplatz“ überprüfen. „Was haben Herkules und AuE gemeinsam?“ Die Frage ist nicht zu beantworten, wenn man weder Herkules (→ 2.1: Herakles und seine Taten) noch AuE (für „Automation und Engineering“) kennt. Der Werbetexter hilft weiter: „Beide sind in Kassel zu Hause. ... Bei uns brauchen Sie keine Herkulesaufgaben (zu) lösen und wir versprechen Ihnen auch keine goldenen Äpfel (→ 9.4: Gründe erkennen: Lukrez), 214

sondern Perspektiven für Ihre berufliche Zukunft.“ Für den guten Durchblick wäre dann „Apollo-Optik“ hilfreich. Aber wer ist Apollo? (→ 1.3: Erkenne dich selbst. → 2.6: Kassandra).

6.7 Platonische Liebe Die Brockhaus Enzyklopädie252 gibt folgende Auskunft: „platonische Liebe, eine nichtsinnliche, idealisierte Liebesbeziehung; in strengerem, philosoph. Sinn die Liebe (Eros) in der metaphys. Deutung, die Platon ihr im Dialog Symposion gegeben hat.“ Es ist vielleicht eine gute Lösung, wenn man die platonische Liebe exklusiv in ihrer Funktion in Platons Dialog beschreibt. Auf diese Weise wird die Möglichkeit von Missverständnissen reduziert. Aber was ist Liebe in einem „philosophischen Sinn“? Was ist die „metaphysische Deutung“, die ihr Platon im Symposion gegeben hat? Das dtv-Lexikon (2006) bietet eine ähnliche Definition: „platonische Liebe, ungenaue Bez. für vergeistigte, unkörperl. Liebe; eigentlich der philosoph. Aufstieg (Eros) von der Erscheinung der Idee zur Idee selbst, wie ihn Platon im Symposion beschrieben hat.“ Die Rätselhaftigkeit des Phänomens wird dadurch kaum geringer. In einer Programmzeitschrift wird ein Spielfilm aus dem Jahr 2011 mit folgendem Text angekündigt: „Liebesdrama. Emma (Anna Hathaway) und Dexter (Jim Sturgess) begegnen sich zum ersten Mal am 15. Juli und werden sofort beste platonische Freunde. In den kommenden zwei Jahrzehnten sehen sie sich jeweils an ,ihrem‘ Tag wieder. ...“ Emma und Dexter leben nicht miteinander, haben wechselnde Partner, fühlen sich aber, obwohl sie sehr verschieden sind, zueinander hingezogen und sprechen miteinander über ihr Leben, das sie nicht miteinander teilen. Erst nach 16 Jahren entschließen sie sich zu heiraten. Das Glück ist aber nur von kurzer Dauer: Emma stirbt durch einen Verkehrsunfall. 215

Was ist das „Platonische“ an dieser „platonischen Liebe“? Liebt man platonisch, wenn die erotische Anziehung „zielgehemmt“ (Freud) bleibt und das Begehren frustriert wird? Wer sich auf Platon beruft, um seine eigene Beziehung zu charakterisieren, sollte es sich gefallen lassen, dass man ihn / sie mit Platons eigenen Worten zum Thema konfrontiert: In der Aristophanes-Rede des platonischen Symposions (189a–193d) treibt der platonische Eros die Menschen an, ihre andere Hälfte zu suchen. Denn ursprünglich bildeten die Menschen eine Ganzheit, und die Götter zerschnitten sie dann in zwei Hälften, um ihren Übermut zu dämpfen. Platonische Liebe ist demnach die Macht, die die Menschen dazu treibt, nach ihrer jeweils anderen Hälfte zu suchen, um die ursprüngliche Einheit wiederherzustellen (→ 3.2: Was ist ein Symbol? → 8.6: Vom Charme der Unvollkommenheit). In der Politeia (3, 403a–c) stellt Sokrates am Ende eines längeren Gesprächs über die musische Erziehung der Wächter eine rhetorische Frage: Kennst du etwa eine größere und heftigere Triebkraft als die sexuelle Lust? – Nein, und auch keine wahnsinnigere. – Die „richtige Liebe“ (orthos erōs) dagegen bestehe darin, einen ehrbaren und guten Menschen mit gesundem Denken und einem Blick für das Schöne zu lieben. Diese Liebe habe mit unkontrollierter Sinnlichkeit nichts zu tun. Der Liebende solle mit dem Geliebten um des Schönen willen so umgehen wie mit einem Sohn, damit niemals der Verdacht aufkomme, dass die Beziehung noch auf etwa anderes ziele. Sonst ziehe er sich den Vorwurf zu, ungebildet und geschmacklos zu sein. Im platonischen Idealstaat ist die platonische Liebe also nicht nur als die Negation sinnlich-sexueller Betätigung definiert. Es handelt sich vielmehr um eine anspruchsvolle Beziehung zwischen einem jüngeren und einem älteren Partner auf einem hohen moralischintellektuellen Niveau mit einer stark ästhetischen Komponente. In Xenophons Symposion (8, 12–30) versucht Sokrates zu erklären, dass „seelische Liebe“ viel wertvoller sei als „körperliche Liebe“, vor allem weil sie stabiler und weniger gefährdet sei. Mit dem Genuss des 216

Körpers sei stets eine gewisse Sättigung verbunden. Auch der allmähliche Verlust der körperlichen Schönheit spiele bei seelischer Liebe keine Rolle. Diese diene nicht der körperlichen Befriedigung, sondern sei von einem pädagogischen Impuls getragen. Die heutige Verwendung des Begriffs „platonische Liebe“ betont zwar die Abwesenheit des sinnlich-sexuellen Aspekts, ignoriert aber die ethisch-ästhetisch-pädagogischen Voraussetzungen der Beziehung. Was bleibt dann noch?

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7. Perspektiven Perspektiven sind Blicke in die Zukunft. Die folgenden Beispiele wollen dazu ermuntern, diese Blicke zu wagen und sie zu intensivieren, sie weiterzudenken und sich an ihnen für die eigene „Meinungsbildung“ zu orientieren – selbstverständlich nicht in Konkurrenz zu den auf dem Markt befindlichen Lebensratgebern. Die Beispiele sollen nur nachdenklich machen und Aussichten auf die Zukunft eröffnen. Der Mensch kann seine Perspektiven auch wechseln. Für die Lösung von Problemen ist Perspektivenvielfalt gewiss sinnvoll und produktiv.

7.1 George Washington und Cincinnatus Am 14. Dezember 1799 stirbt George Washington, der erste Präsident der USA. Er gilt als der „Vater der Vereinigten Staaten“ und ist 1775 Oberbefehlshaber der Armee. Das siegreiche Ende des Unabhängigkeitskrieges von 1783 ist seine Leistung. Er erzielt den Friedensschluss mit England und die Anerkennung der Unabhängigkeit. Am 23. 12. 1783 gibt der General sein Amt an den Kongress zurück, wird aber später erneut zum Oberbefehlshaber ernannt. Mit dieser Geste erinnert er an den Römer Cincinnatus (Livius 3, 26–29), der sich in die ländliche Stille zurückgezogen hatte und dann wieder nach Rom zurückberufen wurde, um im Jahr 458 v. Chr. als römischer Diktator mit unbeschränkter Machtbefugnis gegen die Volsker und Sabiner den hart bedrängten Konsul Minucius zu unterstützen. Nach einem glänzenden Sieg kehrt er mit reicher Beute nach Rom zurück, 218

legt sein Amt nach gut zwei Wochen nieder und geht einfach nach Hause, um seine Arbeit als Bauer wieder aufzunehmen. Washington hatte sich bereits aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, wurde aber angesichts der Gefahr eines wieder aufflammenden Krieges mit England 1797 noch einmal zum Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte ernannt. Was spricht dagegen, dass Washingtons Denken und Handeln, sein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl und seine unbedingte Treue zum Staat von Livius’ Darstellung des Römers Cincinnatus geprägt war? Es ist auch kein Zufall, dass die Stadt Losantiville (Ohio) im Jahr 1790 zu Ehren Washington, des amerikanischen Cincinnatus, in Cincinnati (Stadt des Cincinnatus) umbenannt wurde. Beeindruckend sind Washingtons große Leistungen für die Vereinigten Staaten. Aber noch beeindruckender ist die Tatsache, dass er wie der römische Feldherr seine Macht nicht für persönliche Zwecke ausnutzte. Er trat freiwillig zurück, nachdem er seine Aufgaben erfüllt hatte, und stand für neue Aufgaben zur Verfügung, als man ihn wieder brauchte.

7.2 Annäherung an die Demokratie Dass das antike Griechenland die Wiege unserer modernen Demokratie sei, wird vielfach behauptet. Wo aber wird dies bezeugt? Während sich Leonidas mit seinen 300 Spartiaten auf die Schlacht bei den Thermopylen vorbereitet (→ 6.3: Wanderer, kommst du nach Spa ...), will der Perserkönig Xerxes, wie Herodot berichtet (7, 101–102) von Demaratos, dem einstigen spartanischen König, der wegen seiner Perserfreundlichkeit abgesetzt worden war und am persischen Hof Asyl gefunden hatte, wissen, was die Spartaner zu ihrem in seinen Augen völlig sinnlosen Verhalten veranlasse. Die Männer seien gekommen, so Demaratos, um mit den Persern um das Pass zu kämpfen. „Wenn du diese und die übrigen Spartaner besiegst, dann bleibt 219

kein anderes Volk mehr auf Erden, das dir Widerstand leisten kann. Jetzt nämlich greifst du das bedeutendste und stärkste Königreich in Griechenland an.“ Der persische König reagiert darauf mit Unverständnis; in seinen Augen ist die Standhaftigkeit der Spartaner nur ein Zeichen von Dummheit und Unverschämtheit. Während Herodots Darstellung der Vorgänge an den Thermopylen keine klare Aussage über das Motiv des Leonidas enthält, liefert das von ihm 7, 228 zitierte Epigramm zu Ehren der Gefallenen eine eindeutige Erklärung: Fremder, melde den Lakedämoniern, dass wir hier liegen, weil wir ihren Befehlen gehorchten. Durch diese Konzentration auf ein einziges Motiv erhält das Geschehen eine allgemeine, den Einzelfall übersteigende Bedeutung. Das Ereignis wird zum Exempel für vorbildliches Verhalten. Denn es wird nicht nur gesagt, was an den Thermopylen geschah, sondern auch was in Zukunft zu geschehen hat, wenn sich vergleichbare Situationen ergeben sollten. Die Thermopylen-Kämpfer wollten dem großen König veranschaulichen, dass die Perser zwar eine gewaltige Masse bildeten, aber nur wenige wirkliche Männer aufzubieten hatten. In einem früheren Gespräch mit Demaratos (Herodot 7, 101–104) fragte Xerxes, ob denn die Griechen den Mut aufbrächten, den Persern Widerstand zu leisten, und ob sie dafür stark genug seien. Seine Antwort lautete: Ja, sie werden kämpfen und sich nicht unterwerfen. In Griechenland habe immer schon Armut geherrscht, das habe aber die Menschen dazu gezwungen, sich immer wieder anzustrengen, um ihre Leistungsfähigkeit zu stärken. Die Überwindung des Mangels führte zu Höchstleistungen (vgl. Hesiod, Erga 289), die durch Vernunft, praktische Lebensklugheit und ein strenges Pflichtgefühl gegenüber der Gemeinschaft erarbeitet wurden. Indem die Griechen  ihre intellektuellen Fähigkeiten immer wieder tatkräftig bewiesen, wehrten sie Armut und Knechtschaft erfolgreich ab.253 Die Spartaner um Leonidas würden also gegen die Despotie und für die Freiheit kämpfen, und Xerxes solle nicht nach ihrer Anzahl fragen (102, 3): 220

Nur das Gesetz stehe über ihnen, das sie mehr fürchteten als die Perser ihren König. Sie handelten, wie das Gesetz es befehle. Es gebiete ihnen aber stets, auch vor einer Übermacht von Gegnern niemals aus der Schlacht zu fliehen, sondern auf ihren Posten standzuhalten, zu siegen oder zu sterben. Während Demaratos die moralische Stärke, den Gehorsam gegenüber dem Gesetz und den Widerstand gegenüber der Alleinherrschaft betont, geht Thukydides auf dem Weg zur Demokratie noch einen Schritt weiter. In seiner Rede zu Ehren der Gefallenen (2, 37–41) lässt er Perikles feststellen, die athenische Verfassung heiße Demokratie, weil sie nicht in den Händen weniger, sondern bei der Mehrheit liege und alle Einzelnen vor dem Gesetz gleich seien. Die Isonomie, die Gleichheit vor dem Gesetz, sei das wichtigste Merkmal der athenischen Demokratie. Daher erwachse öffentliche Anerkennung auch nicht aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht, sondern beruhe auf eigener Leistung. Niemand werde daran gehindert, aufgrund fehlender Mittel oder wegen seiner einfachen Herkunft etwas Positives für die Gesellschaft zu leisten. In Freiheit wirkten alle Bürger am Gemeinwohl mit und nähmen im täglichen Leben aufeinander Rücksicht. „Wir Athener vertrauen im Gegensatz zu unseren Feinden weniger auf äußere Vorkehrungen und Täuschungsmanöver als auf den uns eigentümlichen Mut zum Handeln. Während sich die Spartaner im Rahmen ihrer Erziehung von Kindheit an durch strenge Übung an Tapferkeit gewöhnen, leben wir ohne Zwang und Zügel und wagen es trotzdem, die gleichen Gefahren auf uns zu nehmen. ... Doch wenn wir uns lieber mit leichtem, unbeschwertem Sinn als mit mühseliger Anstrengung und weniger mit gesetzlich vorgeschriebenem Mut als mit natürlicher Tapferkeit in Gefahr begeben, dann hat das für uns den Vorteil, dass wir uns nicht schon in der Erwartung eines kommenden Unheils abquälen, ihm aber mit nicht geringerer Entschlossenheit entgegentreten als diejenigen, die sich ständig damit abplagen.“ 221

Perikles setzte seine Rede mit folgenden Worten fort (2, 40): „Wir lieben das Schöne, ohne Verschwendung zu üben, und wir wollen die geistige Auseinandersetzung, ohne unsere Kraft zum Handeln zu verlieren. Materielle Mittel setzen wir ein, wenn es angebracht ist, etwas zu tun, und nicht um damit zu protzen. Mittellosigkeit einzugestehen, ist für niemanden eine Schande, aber nichts dagegen zu tun, das ist wirklich schändlich. Wir können private und öffentliche Interessen in Einklang mit einander bringen. Auch wenn wir uns mit anderen Dingen beschäftigen, vernachlässigen wir nicht unsere öffentlichen Aufgaben. … Wir treffen entweder politische Entscheidungen selbst oder denken sachlich darüber nach. Wir glauben nicht, dass das Reden für das Handeln schädlich ist, sondern dass es viel mehr Schaden bringt, wenn man sich nicht vorher informiert, bevor man handelt.“ Man darf aber angesichts dieses rühmlichen Selbstbildes nicht übersehen, dass Platon an der athenischen Demokratie heftige Kritik übte. Er fasst die Eigenschaften der Demokratie folgendermaßen zusammen (Politeia 8, 557b–558c): Die Menschen seien frei, und die Polis sei von politischer Freiheit und von Redefreiheit (Parrhesia) erfüllt. Jedermann habe in ihr die Möglichkeit zu machen, was er wolle und was ihm gefalle. Aber niemand sei gezwungen, in einem solchen Staat Verantwortung zu übernehmen. Es herrsche allgemeine Beliebigkeit. Diese Verfassung gewähre Gleichheit Gleichen wie Ungleichen (558c). Für die Menschen in der Demokratie sei die Umwertung der Werte typisch (508d–561a): Scham heiße Dummheit, Besonnenheit sei Feigheit, Ordnung sei armselige Beschränktheit und so weiter. Man wird in diesem Bild der athenischen Demokratie wohl kaum das Vorbild der modernen Demokratie sehen wollen. Aber Platons negative Demokratiemerkmale können uns auch heute noch beunruhigen – vor allem wenn man fragt, wie es in der modernen Demokratie mit der Bereitschaft bestellt ist, Verantwortung zu übernehmen.

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7.3 Das Vorbild Marc Aurel Wenn man heute die Frage stellt, wie man sein authentisches Selbst findet, das frei von Masken und Rollen ist (→ 3.10: Authentizität), dann schließt man sich am besten dem römischen Kaiser Marc Aurel an, der im zweiten Jahrhundert n. Chr. „Wege zu sich selbst“ beschrieben hat. In seinen Selbstbetrachtungen (4, 3) fordert er sich in lakonischer Kürze dazu auf (→ 3.4: Waren die Spartaner lakonisch?), sich in sich selbst zurückzuziehen. Er verlangt von sich selbst die fortwährende Reflexion im Sinne des apollinischen Imperativs Erkenne dich selbst (→ 1.3: Erkenne dich selbst). Der römische Kaiser versucht immer wieder, Gewissheit über seine Stellung als Mensch in der Welt zu gewinnen. Seine Aphorismen sind Dokumente eines zähen und mitunter leidenschaftlichen Suchens nach dem Sinn seiner Existenz. Es ist erstaunlich, dass ein Mensch, der fast 20 Jahre lang der mächtigste Mann der Welt war, das römische Reich mit Tatkraft und Erfolg gegen einen gefährlichen äußeren Feind verteidigte, eine lebensbedrohliche Verschwörung überstand, sein hohes Amt mit glücklicher Hand verwaltete und von hohem Pflichtbewusstsein erfüllt war, sein eigenes Menschsein so geringschätzte. Oder ist dies vielleicht gerade ein Zeichen von Größe? Seine Einschätzung der individuellen Existenz als annähernd bedeutungslos in Relation zu Sein und Zeit lieferte Marc Aurel den Maßstab. Wenn man von Sokrates sagte, er habe die Philosophie vom Himmel auf die Erde geholt und sie gezwungen, nach dem Leben, den Sitten und dem Wesen des Guten und des Bösen zu forschen, um ihre Bedeutung für den Menschen zu beweisen, dann kann man von Marc Aurel behaupten: Er hat nun auch noch den Menschen auf das ihm zukommende Maß im Verhältnis zum Ganzen reduziert. Aus der Einsicht in die minimale Bedeutung des Menschen erwachsen entsprechende Verhaltensregeln für den Umgang mit dem Ge223

schehen in der Welt. Und hier verfügt Marc Aurel über den Schlüsselbegriff des „richtigen Gebrauchs“ (→ 10.7: Besitzen und Gebrauchen). Nur derjenige, der die Welt, die Menschen und das von der Vorsehung Bestimmte „richtig gebraucht“, ist in der Lage, sein Leben den Bedingungen seiner minimalen Existenz entsprechend zu führen und dieser den Sinn zu geben, der ihr zukommt. Eine Grundregel dieses „richtigen Gebrauchs“ lautet, dass wir uns nicht von den Vorgängen und Ereignissen berühren lassen dürfen, auf die wir keinen Einfluss haben, die nicht in unserer Macht stehen und für die wir keine Verantwortung übernehmen können. Allein die Vorstellungen, die wir uns von den Vorgängen bilden, und die Entscheidung darüber, ob und gegebenenfalls wie wir sie in unser Bewusstsein aufnehmen wollen, sind unserem Einfluss zugänglich und damit auch moralisch von Bedeutung. Marc Aurel kannte mit Sicherheit Platons Forderung (Politeia 5, 473c–e), dass die Herrscher philosophieren oder die Philosophen herrschen müssten, damit es den Staaten gut gehe. Aber ob der römische Kaiser von sich selbst glaubte, diese Forderung erfüllt zu haben, ist unwahrscheinlich (→ 7.4: Platons Philosophenkönige – Utopie einer politischen Leistungselite). In einem Gespräch254 mit Giovanni di Lorenzo über Marc Aurel sagte der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt unter anderem, die stetige Ermahnung, seine Pflicht zu erfüllen, kombiniert mit der Ermahnung zur inneren Gelassenheit habe ihn an dem römischen Kaiser fasziniert. Schmidt stellte aber auch fest, dass es in der konkreten Situation nicht immer leicht sei, richtig zu handeln.

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7.4 Platons Philosophenkönige – Utopie einer politischen Leistungselite Platons Schrift über den Staat, die Politeia, gehört zu den berühmtesten Gedankenexperimenten der europäischen Geistesgeschichte. Die Enttäuschung über die Mängel der athenischen Demokratie – sie war nicht zuletzt auch verantwortlich für den Tod des Sokrates – ließ ihn nicht resignieren (→ 7.2: Annäherung an die Demokratie). Er schuf vielmehr einen durch und durch anti-demokratischen Gegenentwurf, indem er einen völlig neuen Staat konstruierte, der sich nur „in einigen Kleinigkeiten“ vom bisherigen Staat unterschied – aber darunter befand sich eine ausgesprochen wichtige Kleinigkeit: „Wenn nicht entweder die Philosophen die Herrschaft in den Staaten übernehmen oder die zur Zeit so genannten Herrscher und Machthaber sachgerecht und gründlich Philosophie betreiben und politische Macht und Philosophie zusammenfallen und nicht beide getrennte Wege zu demselben Ziel hin einschlagen müssen, lassen sich die Missstände in den Staaten nicht beseitigen“ (Politeia 5, 473c–e). Die Erfüllung dieser Bedingung schien Platon der einzige Ausweg aus einer trostlosen politischen Situation gewesen zu sein. Er errichtete mit seinem Staat ein Gedankengebäude des auf den ersten Blick Unmöglichen. Die Hoffnung auf die Verwirklichung des „Noch-Nicht“,255 ohne die eine unerträgliche Gegenwart kaum auszuhalten ist, dürfte auch Platon dazu veranlasst haben, seinen zwar denkbaren, aber „noch nicht“ möglichen Staat zu entwerfen. Platons Hoffnung, dass die Herrschaft der Philosophen oder der philosophisch Gebildeten politisches Handeln verbessern würde, erwies sich als eine Illusion. Denn Platon reiste im vierten Jahrhundert v. Chr. dreimal an den Hof der Tyrannen in Syrakus. Er wollte dazu beitragen, die Verhältnisse durch Philosophie zu heilen oder wenigstens zu verbessern. Das vielversprechende Projekt scheiterte.

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Schloemann setzt sich in der Süddeutschen Zeitung (19. / 20.8.2017) mit der Tatsache auseinander, dass Herrscher wie Kim Jong-un und Baschar al-Assad (und noch einige mehr) westliche Elite-Bildungsanstalten besuchten, also eine philosophische Bildung erwarben, aber letztlich nicht davon abzubringen waren, das zu werden, was sie sind. Denn in ihrer Heimat traten sie das Erbe ihrer brutalen Väter an. Und dann erinnert Schloemann an die „europäische Urszene, wie sich Alleinherrscher von Bildung unbelehrbar zeigen“, und er meint damit Platons Vorstellung von den Philosophenkönigen und sein Scheitern am Tyrannenhof in Syrakus. Die Wirkung von Bildung ist in der politischen Wirklichkeit offensichtlich nur selten nachweisbar. Philosophen sind in Platons Ideal-Staat Menschen, die fähig und in der Lage sind, im Sinne des platonischen Gerechtigkeitsprinzips (→ 6.1: Jedem das Seine) den wahren vom scheinbaren Vorteil für den Einzelnen und die Gesellschaft zu unterscheiden und zu verwirklichen. Der philosophisch denkende Herrscher muss die Frage positiv beantworten können, ob jemand einen wahren oder nur einen eingebildeten Vorteil erstrebe, und dafür sorgen, dass jeder nach dem strebt, was ihm wirklich zuträglich ist. Der ideale Staat garantiert, dass „der größte Egoismus zugleich der beste Dienst für das Ganze ist“256 und der Eigennutz auch das öffentliche Wohl garantiert. In der Koalition von Macht und Geist kann dies Wirklichkeit werden. Aber wie gesagt – das ist nur ein Gedankenexperiment, das zweifellos die Frage weiterhin offen hält, ob nicht auch die moderne demokratische Gesellschaft eine gründlich ausgebildete, verantwortungsbewusste politische Leistungselite braucht, die im Sinne Platons die wahren und nicht die scheinbaren Interessen aller Bürger erkennt und durchsetzt.

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7.5 Cicero und die Pflicht zur Tugend Ein römischer Politiker wie Cicero ist davon überzeugt, dass es nicht ausreicht, die Fähigkeit zu höchster Leistung wie irgendein Können einfach nur zu haben, ohne sie durch die Tat zu beweisen (De re publica 1, 2). Diese Fähigkeit bestehe ganz in ihrer uneingeschränkten Verwirklichung, und in ihrer höchsten Form zeige sie sich in der Übernahme politischer und sozialer Verantwortung. Kurz zuvor hatte Cicero eine ihm offensichtlich sehr wichtige Begründung für die Verwirklichung der Tugend gegeben: „Die unausweichliche Pflicht zu höchster Leistung (necessitas virtutis) und der uns von der Natur eingepflanzte Wille, für das allgemeine Wohl einzutreten, sind so stark, dass diese Kraft alle Verlockungen der Lust und eines ungestörten Lebens verdrängt.“ Wenn Cicero hier von einem natürlichen Drang zu höchster Leistung spricht, setzt er voraus, dass alle Menschen eine natürliche Motivation zur Tugendhaftigkeit, ein intrinsisches Motiv zur Tugend, haben, obwohl er grundsätzlich auch andere (extrinsische) Begründungen für tugendgemäßes Handeln anerkennt: Verlangen nach öffentlicher Anerkennung oder Hoffnung auf Unsterblichkeit (→ 10.1: Ruhm – die große Maschinerie des Weiterlebens). Selbst das in der antiken Ethik allgemein anerkannte Streben nach Glück lässt Cicero als Motiv für die Verwirklichung von Tugend gelten. Im Zusammenhang mit der Frage nach dem höchsten Gut beruft sich Cicero (Fin. 2, 19) direkt auf Aristoteles, der die Anwendung und die Verwirklichung der Tugend mit dem Glück eines vollkommenen Lebens verband. Dass das Glück nicht einfach in einem Besitzen, sondern in einem Anwenden, und nicht in einem Haben, sondern einem Tätig sein im Sinne der Tugend bestehe, hatte Aristoteles zum Beispiel in der NE (1098 b 30–1099 a 7) gefordert (→ 10.7: Besitzen und Gebrauchen). Wenn Cicero jedoch von der „unausweichlichen“ Pflicht zur Tugend spricht, dann meint er den (psychologischen) Grund und nicht den Zweck der Tugend: Der Mensch ist „von Natur 227

aus“ auf tugendhaftes Handeln angelegt und hat den „natürlichen“ Wunsch, für das Gemeinwohl einzutreten. Die lebenspraktische Erfahrung vom Vorrang des Gebrauchens gegenüber dem Besitzen oder des Handelns gegenüber dem Können braucht Cicero in diesem Zusammenhang nicht weiter zu begründen, weil sein Verständnis von Tugend mit den traditionellen römischen Wertvorstellungen übereinstimmt, an die er ohne weitere Diskussion anknüpfen kann. Denn im Rahmen des Begriffspaares „Haben und Gebrauchen“ lässt sich mit dem „Gebrauchen“ das Tätigkeitsprofil des idealen römischen Staatsbürgers und Politikers beschreiben, während das „Haben“ die Existenz des zwar sprachgewandten, aber nicht handlungsorientierten (griechischen) Philosophen charakterisiert. Mit dieser Gegenüberstellung erhält der Begriff der Tugend ein noch schärferes Profil: Tugend ist die auf „natürlicher“ Verpflichtung beruhende Tätigkeit des politisch aktiven Bürgers, der die Sitten und die Gesetze respektiert und die römischen Wertvorstellungen in praktisches Handeln umsetzt. Denn „für den aller Spekulation abgeneigten Römer existieren Tugenden nicht an sich, sondern nur in dem Augenblick, in dem man sie übt. ... Für den Römer liegt das Eigentliche in der Realisation“ (M. v. Albrecht 21994, 21). Und die höchste Form der Verwirklichung der Tugend ist für Cicero die Lenkung des Staates. Das bestätigt auch der Anfang des dritten Buches seiner Schrift De re publica, wo er die „Verbindung von politischer Theorie und innerer Ordnung der Bevölkerung“ auf eine ebenso unglaubliche wie göttliche Tugend zurückführt und hinzufügt, dass nichts vorzüglicher sein könne als die Verbindung von praktischer Bewältigung großer Herausforderungen mit ihrer geistigen Durchdringung. Die Denkfigur einer Wertsteigerung von Besitz durch Anwendung benutzt Cicero, um auch das Verhältnis zwischen (griechischer) Theorie und (römischer) Praxis zu veranschaulichen. Die Gegenüberstellung theoretischer Philosophie und ihrer Anwendung durch praktische Politik soll dem Leser die Einsicht vermitteln, dass der Politik 228

der Vorrang gebührt, weil diese seit jeher ungleich produktiver und nützlicher gewesen sei als die philosophische Weisheit ohne einen Praxisbezug. Diese Bewertung wird dadurch verstärkt, dass die philosophische Theorie nicht einmal als Voraussetzung für die praktische Politik anzusehen ist. Ein römischer Politiker benötigt keine Unterstützung durch einen (griechischen) Philosophen. An einer anderen Stelle seiner Staatsschrift (1, 33) erklärt Cicero, die Tätigkeit für den Staat sei der Zweck des Menschen, indem er Laelius sagen lässt, es sei die hervorragendste Aufgabe der Weisheit, der größte Beweis und die höchste Aufgabe der Tugend, dem Staat nützlich zu sein. Jede theoretische Erörterung bleibt für Cicero verbunden mit der Frage nach ihrer Umsetzbarkeit in politisches Handeln. Denn erst die Praxis legitimiert die Theorie. Entsprechendes gilt für die römischen Wertbegriffe, die Cicero in seinen Werken immer wieder ins Gespräch bringt: Sie bezeichnen keine Tugenden der Innerlichkeit, sondern bewähren sich als Höchstformen verantwortungsbewussten öffentlichen Handelns. Noch in seinem Spätwerk De Officiis (1, 19) hebt Cicero den Tätigkeitsaspekt der Tugend besonders hervor. Obwohl er für sich selbst keine Möglichkeit mehr zu praktischem Handeln in der Politik sieht, als er diesen Satz niederschreibt, vertritt er auch hier noch die Auffassung, dass es pflichtwidrig sei, wenn man sich im Eifer für wissenschaftliche Forschung und Philosophie vom Handeln abbringen lasse. In der Schrift Vom höchsten Gut und vom größten Übel heißt es programmatisch (Fin. 5, 58–60), wir Menschen seien zum Tätig sein geboren. Allerdings gebe es unterschiedlich zu bewertende Tätigkeiten. Dazu gehörten neben wissenschaftlicher Arbeit die politische Theorie und Praxis, ferner Klugheit, Besonnenheit, Tapferkeit und Gerechtigkeit sowie die übrigen Tugenden und die mit diesen übereinstimmenden Tätigkeiten, die insgesamt als „Anständigkeit“ (honestum) zu bezeichnen seien. Stets sei alles Anständige Ziel sowohl der Erkenntnis als auch der Praxis. Der Mensch sei zwar von Natur 229

aus zur Tugend veranlagt, aber es liege dann bei ihm selbst, die vorhandene Veranlagung zu nutzen, und dazu sei nicht nur die Bereitschaft, sondern auch ein entsprechendes Handeln erforderlich. Schließlich sei noch auf eine Stelle in dem Werk Über die Gesetze hingewiesen (De legibus 1, 59–62), wo Cicero das Wesen der Philosophie ausführlich beschreibt: Der wahre Philosoph ist der Staatsmann und Politiker. Denn „wenn er merkt, dass er für die Gemeinschaft der Bürger auf der Welt ist, wird er die Überzeugung vertreten, dass er sich nicht nur jener feinsinnigen, ins Detail gehenden Erörterungen, sondern auch einer weiter ausgreifenden zusammenhängenden Rede bedienen müsse, um mit ihr die Menschen zu lenken, die Gesetze zu stärken, die Verbrecher zu züchtigen, die Rechtschaffenen zu schützen, die berühmten Männer zu preisen, seinen Mitbürgern die zum Heil und zum Ruhm führenden Vorschriften auf überzeugende Weise zu erteilen, um so zur Anständigkeit zu ermahnen, von Schandtaten abzuhalten, die Bedrängten trösten zu können und die Taten und Beschlüsse der Tüchtigen und der Weisen für alle Zukunft in der Erinnerung zu bewahren. Cicero versucht durchgehend, den Gegensatz zwischen den Zielen und Methoden der politisch Agierenden und den traditionellen römischen Wertvorstellungen herauszustellen. An diesen misst er das Verhalten der handelnden Personen. Darin stimmen die Philippischen Reden gegen Antonius mit dem wahrscheinlich kurz nach den ersten beiden Philippischen Reden abgeschlossenen Werk De Officiis überein, mit dem Cicero auch die Absicht verfolgte, auf die Gefahren eines hemmungslosen, egoistischen und skrupellosen Machtstrebens aufmerksam zu machen und an eindrucksvollen Beispielen zu erläutern. In seiner nur fragmentarisch erhaltenen Schrift De gloria – verfasst 44 v. Chr. kurz vor De Officiis – setzt sich Cicero „mit dem Ruhm als der mächtigsten Triebfeder des politischen Wettbewerbs innerhalb der aristokratischen Gesellschaft Roms auseinander (→ 10.1: Ruhm – die große Maschinerie des Weiterlebens). Gerade das Beispiel Caesars 230

hatte die Gefahren gezeigt, die dem kollektiven Senatsregiment drohten, wenn sich persönliches Geltungsstreben unter Berufung auf Ruhm, Rang und Ehre absolut setzte und in Konflikt mit den Normen der Gemeinschaftsbindung des politischen Handelns geriet. Auf diesen Normen bestand Cicero, und er legte dar, dass das Streben nach Ruhm und Ehre nur dann legitim sei, wenn der Vorrang der Gemeinschaftswerte, insbesondere der Gerechtigkeit, berücksichtigt werde.“257 Seine Abrechnung mit Caesar überträgt Cicero in den Philippischen Reden auf Antonius, die zweifellos ebenso wie De Officiis eine Besinnung auf die moralischen Grundlagen der Res publica auslösen sollten. In seiner Ersten Philippischen Rede (1, 33) benutzt Cicero die „begründete Anerkennung“ wie in De Officiis als politisch-moralischen Schlüsselbegriff, um seiner Sorge Ausdruck zu verleihen, dass Antonius wie schon Caesar, aus Unkenntnis des richtigen Weges zur Anerkennung lieber gefürchtet als geliebt werden wolle. Wenn er das wirklich glaube, habe er keine Ahnung von dem Weg, der zu echter Anerkennung führe: „Als Mitbürger geschätzt zu sein, sich um den Staat verdient zu machen, Lohn, Verehrung und Liebe zu erwerben, das ist anerkennenswert; doch Furcht und Hass um sich zu verbreiten, ist widerwärtig und abscheulich und ein Zeichen von Schwäche und Unsicherheit.“ Dass Ciceros Pflichtenlehre zu den gedanklichen Voraussetzungen der „Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten“ (1997) gehört,258 ist kaum zu bezweifeln. Bestimmte Formulierungen könnten direkt von Cicero stammen: zum Beispiel Artikel 5: „Jede Person hat die Pflicht, Leben zu achten. Niemand hat das Recht, eine andere menschliche Person zu verletzen ...“259 oder Artikel 10: „Alle Menschen haben die Pflicht, ihre Fähigkeiten durch Fleiß und Anstrengung zu entwickeln ...“ oder Artikel 12: „Der Mensch hat die Pflicht, wahrhaftig zu reden und zu handeln.“ Auch wenn diese Pflichten den Menschen nicht zu ihrer Erfüllung zwingen – darin unterscheiden sie sich von Gesetzen, so können sie 231

ihn doch dazu drängen, entsprechend zu handeln. Die Menschen müssen es lernen, ihre Pflichten zu erkennen; sie müssen durch Erziehung dazu gebracht werden, sie in ihr Bewusstsein aufzunehmen. Auch Helmut Schmidt sprach in seiner Stellungnahme zu der „Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten“ von der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer „Erziehung zum Bewusstsein ethischer und zu persönlicher Verantwortung“. Er hätte sich auch auf Aristoteles berufen können, der am Anfang des 8. Buches seiner Politik (1337 a 14) erklärt hatte, dass die Menschen auf ihre jeweilige Verfassung hin erzogen werden müssen.

7.6 Freiheit und Gemeinsinn (Cicero, De re publica 1, 39–42) „Es ist also, sagte Africanus, das Gemeinwesen eine Sache des Volkes, das Volk aber nicht jede beliebige Verbindung von Menschen, die auf eine nicht näher bestimmbare Weise zu Stande kam, sondern eine aus einer Vielzahl von Menschen bestehende Verbindung, die sich auf der Grundlage eines allgemein anerkannten gleichen Rechts und des gemeinsamen Nutzens gebildet hat. Der erste Anlass für ihre Vereinigung ist aber weniger die Erfahrung der Schwäche als vielmehr eine Art natürliches Bedürfnis der Menschen nach Gesellschaft; denn der Mensch ist von Natur aus kein Einzelgänger; er ist vielmehr so veranlagt, dass er nicht einmal dann, wenn er alles im Überfluss besitzt, in Einsamkeit sein Leben verbringen will, sondern nach Gemeinschaft und Gesellschaft strebt. ... Nachdem sich diese Verbindungen aus eben diesem Anlass, über den ich gesprochen habe, gebildet hatten, entschieden sie sich zuerst für einen Wohnsitz auf einem bestimmten Gebiet, wo sie leben konnten; und als sie diesen unter Ausnutzung seiner natürlichen Lage und mit Hilfe menschlicher Arbeitskraft gesichert hatten, nannten sie eine derartige Siedlung eine ,Burg‘ oder 232

auch eine ,Stadt‘, sobald diese mit Heiligtümern und öffentlichen Plätzen ausgeschmückt worden war. Jedes Volk also, das aus einer solchen Verbindung einer Vielzahl von Menschen besteht, wie ich sie dargestellt habe, jede Bürgergemeinde, die eine Verfassung des Volkes darstellt, jedes Gemeinwesen, das, wie ich sagte, eine Sache des Volkes ist, muss durch eine kompetente Führung gelenkt werden, damit sie Bestand hat. Diese kompetente Führung muss sich erstens immer auf den Anlass beziehen, dem die Bürgergemeinde ihre Entstehung verdankt. Zweitens muss sie entweder einer einzigen Person oder einigen Ausgewählten übertragen werden oder von einer Vielzahl und von allen übernommen werden.“ Karl Büchner260 paraphrasiert diesen Text folgendermaßen: „Res publica, das Gemeinwesen, ist res populi, Sache des Volkes. ... Dieses ganz römische Wort res wird nicht weiter definiert. Es sind die Belange, also die Dinge, die sich auf das Volk beziehen. Dazu gehört sicher der Besitz, aber ebenso der sittliche Zustand. Res publica aber ist schon in der Wortbildung bezogen auf eine andere res, die unabtrennbar damit verbunden ist: die res privata: alle Belange, die den einzelnen angehen, soweit der Staat etwas übrig lässt. Dabei wird der privatus als ein beraubtes, unvollkommenes Wesen angesehen, während im griechischen Worte idiótes doch mehr das Eigene, Selbstständige gesehen wird. Das bedeutet freilich nicht, dass die Sphäre des Privaten in Wirklichkeit einen geringen Umfang in Rom gehabt habe. Das Gegenteil ist der Fall, weil der Staat selbst ihre Berechtigung anerkannte und die stolzen Persönlichkeiten sich in ihrem Bereich fest behaupteten. Ein Volk aber, so wird der andere, für den Römer weniger selbstverständliche Teil definiert, ist nicht jede Versammlung von Menschen, sondern ... eine Versammlung, eine Menge, die sich in der Anerkennung des Rechts und der Gemeinschaft des Nutzens vereinigt hat. Die Zweckursache dieser Vereinigung ist nicht die Schwäche, sondern eine Wesenseigenschaft des Menschen, der nur in Gemeinschaft leben kann. Wäre es nicht so, gäbe es keine Gerechtig233

keit, keine übrigen Tugenden, keinen Staat. ... Sinn des Staates ist nach ihm (Cicero) seiner Ursache entsprechend in erster Linie Verwirklichung des Rechtes, in zweiter Linie der gemeinsame Nutzen (symphéron), den die Schwächetheorie letztlich als den einzigen Sinn gelten lässt. Eine so bestimmte Gemeinschaft aber, wie man sie auch immer nennen mag, bedarf einer geistigen Lenkung, des consilium, damit sie dauert. Damit wendet sich der Gedanke vom Sinn des Staates zum Leben des Staates. Diese Trennung wird sich als äußerst wichtig und fruchtbar erweisen. ... Von größter Tragweite ist es auch, dass hier das, was den Staat dauernd macht, in den römischen Lebensbegriff consilium gefasst wird. Es ist dies die Herrscherweisheit, die sich jeweils in Entschluss, Plan und Rat offenbart; die Lösung, die das Scheitern in kritischer Situation verhindert, also zugleich – schon das Verb regere zeigt es – etwas Willentliches ist. Fasst man den Leben erhaltenden geistigen Staatswillen als consilium, so ist man dem Problem des Machtstaates und des historischen Staates gewachsen. Bei Horaz wird diesem consilium in der vierten Römer-Ode ein Denkmal gesetzt. Das consilium muss entweder einem oder mehreren übertragen werden, oder das Volk muss es selbst in die Hand nehmen.“ Büchner hebt die hervorragende Bedeutung, die Cicero dem consilium für die kontinuierliche Verwirklichung der Staatsidee einräumt, mit Recht besonders stark hervor. Angesichts der von Cicero getroffenen Unterscheidung zwischen dem „Sinn“ und dem „Leben“ des Staates darf man allerdings auch nicht übersehen, dass Cicero die kompetente Führung nicht von dem Anlass des Staates getrennt sehen will; das praktische „Leben“ muss immer auf seinen ursprünglichen „Sinn“ bezogen bleiben. Das consilium des oder der jeweils Verantwortlichen darf also die Ursache des Zusammenschlusses der Menschen niemals aus den Augen verlieren. Der aus dem Anlass seiner Gründung herzuleitende Zweck des Staates ist für jedes verantwortungsbewusste politische Planen und Handeln maßgebend. 234

Dass Cicero auf dieser Forderung nach der permanenten Vergegenwärtigung des Anlasses insistiert, ist damit zu erklären, dass er die Kluft oder den Widerspruch zwischen der Zweckursache des Staates und dem wirklichen Leben, das heißt der Realpolitik, für schädlich hält.261 Nur die Übereinstimmung zwischen Staatszweck und Realpolitik dient der Stabilität. Eine Divergenz zwischen der politischen Idee und ihrer vielfältigen historischen und soziokulturellen Manifestationen erweist sich dagegen als hochgradig destabilisierend. Cicero weist zwar die in der Antike verbreitete Auffassung nicht zurück, dass sich Menschen zu staatlichen Gemeinschaften zusammenschließen, weil sie für sich allein zu schwach sind. Er hält das Motiv der Schwäche jedoch für nachrangig. Die stärkere Kraft ist das Grundbedürfnis nach Geselligkeit.262 In dieser Hinsicht kann Cicero auf Aristoteles (Politik 1, 1253 a 2–3) zurückgreifen, der den Menschen als „ein von Natur aus staatenbildendes Wesen“ definiert hatte (→ 1.9: Homo sum), das einen natürlichen Trieb zur Gemeinschaft hat, deren Wesen die Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit ist. Die zentrale Bedeutung von Recht und Gerechtigkeit für die Polis haben später auch die Stoiker hervorgehoben: „Die Polis, so sagen sie, sei eine von einem Gesetz regierte Vielzahl von Menschen, die auf demselben Territorium zusammenleben“ (S&S Nr. 692). Indem Cicero beide Theorien der Staatenbildung (Schwäche und natürlichen Geselligkeitstrieb) – wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung – gelten lässt, verstärkt er die Bedeutung des für alle Mitglieder der Gemeinschaft verbindlichen Rechts. Cicero distanziert sich auch nicht von der sophistischen Lehrmeinung, dass das Recht den Schwachen zu überleben hilft und ihrem Schutz dient. Aber er zieht daraus nicht dieselben Konsequenzen wie Kallikles, hatte dieser doch im platonischen Gorgias (483 b) erklärt, es seien die Schwachen und die Volksmenge, die die Gesetze gäben; nur für sich und ihren Nutzen vereinbarten sie Gesetze. Sie lobten die Kontrolle ihrer Bedürfnisse und die Gerechtigkeit eben nur aufgrund ihrer eigenen 235

Unmännlichkeit (492b).263 Während Kallikles die Schwächetheorie beschwört, um Recht und Ordnung als widernatürlich zu verunglimpfen, bedient sich Cicero dieser Theorie, um die humanisierende und zugleich Kultur schaffende Bedeutung des Rechts hervorzuheben: Recht und Gerechtigkeit dienen zwar dem Schutz der Schwächeren; sie garantieren aber auch den gemeinsamen Nutzen aller Menschen, der Schwachen wie der Starken, gerade dadurch, dass sie den natürlichen Trieb nach Geselligkeit in geregelte Bahnen lenken und vor allem den für das Zusammenleben so notwendigen Gemeinsinn erzeugen, der ja doch auf Dauer nur dann bestehen kann, wenn auch die Realpolitik zur Partizipation ermuntert, indem sie das Vertrauen vermittelt, dass es im Gemeinwesen fair und gerecht zugehe. Dabei sollte Partizipation nicht verwechselt werden mit Selbstaufgabe. Auch Cicero denkt nicht daran, die Gemeinschaft über die Individualität triumphieren zu lassen. Für ihn gilt vielmehr ein ausgeglichenes „Sowohl-als-auch“: In Off. 1, 22 erinnert er an Platons Auffassung (Neunter Brief 358a) über das Recht der menschlichen Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen: „Aber weil wir Menschen, wie Platon zutreffend schrieb, nicht für uns allein (non nobis solum) geboren sind, sondern das Vaterland (patria) einen Teil unserer Existenz für sich beansprucht, einen weiteren Teil die Freunde, und weil alles, was auf Erden entsteht, wie die Stoiker meinen, zum Nutzen der Menschen hervorgebracht wird, die Menschen aber um der Menschen willen geschaffen wurden, damit sie selbst für einander nützlich sein können, sind wir verpflichtet, hierin der Führung der Natur zu folgen, das allgemeine Wohl (communes utilitates) in den Mittelpunkt zu stellen und durch gegenseitige Dienstleistung, durch Geben und Entgegennehmen, mit Hilfe unseres Könnens, unseres Einsatzes, unserer Fähigkeiten die Gemeinschaft der Menschen untereinander zu festigen.“ Cicero fordert hier nicht zur Selbstaufgabe oder zum Selbstopfer zugunsten des Vaterlandes auf. Er appelliert aber an die Verpflichtung zur Übernahme sozialer Verantwortung durch mög236

lichst viele Einzelne – je nach dem, wie leistungsfähig sie sind (→ 6.1: Jedem das Seine – Suum cuique). Ciceros Betonung der fundamentalen Funktion des Rechts für die staatliche Gemeinschaft gewinnt heute neue Aktualität angesichts der schleichenden (neoliberalen) Zurückdrängung des Staates und des Rechts zugunsten schrankenloser Freiheit unter dem Banner einer Globalisierung, die sich als Gegenbewegung gegen Ciceros Modell der Staatenbildung interpretieren lässt: „Wenn Papst Johannes Paul warnt, dass ,die Menschheit mit neuen Formen der Sklaverei konfrontiert wird, die subtiler als in der Vergangenheit sind, und für viel zu viele Menschen Freiheit ein bedeutungsloses Wort ist‘, wird er kaum verstanden. In deutschen Wahlkämpfen tauchen Parolen auf wie: ,Wir wollen frei einkaufen können.‘ Sie zeigen, wie das zentrale Anliegen der Philosophie der Aufklärung, die menschliche Freiheit, zur Konsumfreiheit uminterpretiert wurde. Der neoliberale Chor singt das Lied der Freiheit und meint die Freiheit der Stärkeren. Vergessen ist Rousseaus wichtige Erkenntnis ,Entre le faible et le fort c'est la liberté, qui opprime, et c'est la loi, qui libère‘ – zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit. Weil sie nicht verstanden haben, dass die Schwachen das Gesetz brauchen, um frei zu sein, fordern die Neoliberalen Mobilität, Flexibilisierung und Deregulierung. ... Überhaupt ist die Deregulierung der Sprengsatz der bürgerlichen Zivilgesellschaft. ... Die Neoliberalen haben sich das Zurückdrängen des Staates und des Rechts auf ihre Fahnen geschrieben. Sie sind die neuen Staatsfeinde. Was sie anrichten, merken sie nicht“.264 Die Lektüre des Cicero-Textes und der zitierten Platon- und Aristoteles-Stellen kann zwar vor Augen führen, dass die Funktion des Rechts für eine staatliche Gemeinschaft und eine Zivilgesellschaft (civitas) „schon in der Antike“ erkannt wurde. Beschränkte man sich aber auf diese Feststellung, dann hätte die kulturelle Erinnerung, das heißt die Erinnerung an einen gemeinsamen (europäischen) Traditi237

onsvorrat, ihren eigentlichen Zweck verfehlt. Wenn aber die Erinnerung an ein wichtiges Detail antiker Staatstheorie den Blick für gegenwärtige Probleme schärft und möglicherweise auf einen Handlungsbedarf verweist, dann lohnt es, die antiken Texte wieder zu lesen. Wenn im konkreten Fall erreicht wird, dass man auf diese Weise für denkbare Folgen einer marktliberalen Globalisierung sensibilisiert wird, die durch den Verlust von Staat und Recht auf Kosten der Schwachen vorangetrieben wird, ist die Lektüre sinnvoll. Mehr noch als Ciceros Staatsschrift dürfte allerdings das Profil des Sophisten Kallikles in Platons Gorgias (481b–506c) zur Stellungnahme herausfordern; denn wie kein anderer ist Kallikles der Archetyp des neoliberalen Chorsängers, der das Lied der Freiheit singt, aber nur die Freiheit der Stärkeren meint. Im Zuge der Globalisierung und Deregulierung drohen rechtsfreie Räume zu entstehen, die die Dominanz der Märkte gegenüber der Politik verfestigen helfen und durch den Verlust staatlicher Regulierung die Ausbeutung der Schwachen zugunsten der ökonomisch Starken weiter ausufern lassen. Lafontaines Rückgriff auf Rousseau lässt sich auf Ciceros Theorie des Staates hin verlängern. Ciceros Plädoyer für Staat und Recht verstärkt die Grundregel verantwortungsbewusster Politik, dass alles politische Handeln immer nur dann ethisch vertretbar ist, wenn es an der Zweckursache (causa) des Staates gemessen und in diesem Sinne verwirklicht wird. Die Einbeziehung der aristotelischen Definition des Menschen als eines „von Natur aus politischen Menschen“ sollte erkennen lassen, dass hiermit die Verantwortung des Einzelnen für die politische Gemeinschaft verknüpft ist. Der Vergleich des von Oskar Lafontaine beschworenen neoliberalen Kämpfers für die hemmungslose Globalisierung mit dem Kallikles des platonischen Gorgias lässt erkennen, welche Konsequenzen sich aus der Entscheidung für oder wider Kallikles und für oder wider die Globalisierung ergeben können.

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7.7 Was ist das „gute“ Leben? Was ist Glück? „Kann die Philosophie dabei helfen, leben und sterben zu lernen? Kann sie die Lebenskunst befördern?“ Ludger Lütkehaus stellt fest: Der Überdruss an einer praxisfernen Philosophie, an bloßer Theorie überhaupt, die Allergie gegen die präskriptiven Ethiken des Sollens, das Bedürfnis nach Orientierung, der Wunsch nach Lebenshilfe und Lebensnähe habe dazu geführt, einen engeren Anschluss an bestimmte Strömungen der antiken Philosophie zu suchen, „die zumal bei den Stoikern und Epikureern große Beispiele einer gelassenen Lebensführung gegeben haben“.265 Die Frage nach dem „guten Leben“ wurde in der Antike immer wieder gestellt und scheint heute in den Vordergrund des öffentlichen Interesses getreten zu sein.266 Daher möchte der amerikanische Philosoph Michael Sandel die Debatte darüber führen, was ein gutes Leben sein kann oder was ein Wert im Unterschied zu einem Preis ist (→ 1.9: Homo sum). Sandels antikes Vorbild ist „Sokrates mit seinem fortgesetzten Fragen, das Methode, Theorie und Antwort in einem ist. ... Sandel will das, was die übergroße Mehrheit für eine Tatsache hält, wieder in eine Frage verwandeln“ (Elisabeth von Thadden). Übung und Gewöhnung sind zwei der menschlichen Eigenheiten, die Sandel besonders interessieren.267 Er hält es mit Aristoteles’ Überzeugung, dass man jede Tugend einüben müsse, wie man auch Muskeln trainiere (→ 10.7: Besitzen und Gebrauchen): Gerecht also wird man nur durch das Gerecht-Sein und marktkritisch nur durch ein marktkritisches Verhalten. Im Juni 2013 erschien das Heft „ZEIT-Philosophie“, das der zentralen sokratischen Frage gewidmet ist: „Was ist das gute Leben?“ Darin befindet sich auch die Wiedergabe eines Gesprächs zwischen Elisabeth von Thadden und Michael Sandel über das Thema „Gute Fragen sind einfach“. Sandel stellt fest: „Philosophen sollten sich nicht als 239

Menschen verstehen, die Fragen beantworten, sondern als solche, die Fragen stellen. Sokrates hat Fragen gestellt. Bei ihm kann man in die Lehre gehen. … Die Frage, was Gerechtigkeit sei, ist vielleicht die wichtigste, die zurzeit gestellt wird.“ Der Hintergrund dieser Überlegungen würde durch eine Lektüre der Dialoge Platons erhellt. Das gilt auch für das Problem der Gerechtigkeit. Einen Einstieg ermöglicht die platonische Apologie des Sokrates. Auf die Frage, ob es in der Geschichte einen „alten Denker“ gebe, den wir in der Gegenwart besonders brauchten, nennt Sandel an erster Stelle Aristoteles (vor Hegel): „… weil seine Philosophie hilft, unser heutiges Verständnis von Demokratie zu korrigieren. Antike als Korrektiv! Er sah die aktive Teilhabe und Teilnahme am Gemeinwesen als Teil der Entwicklung von bürgerlichen Tugenden, also als Teil der Charakterbildung.“ Auf die Frage, was Glück sei, antwortet Sandel ganz in Aristoteles’ Sinne: „Glück ist eher eine Tätigkeit, eine Art zu leben. Als ein Bewusstseinszustand. … Das gute Leben entfaltet zumindest einige der höheren menschlichen Fähigkeiten, und zwar indem man es gemeinsam mit Freunden und geliebten Menschen lebt.“ Am Schluss des Gesprächs wird Sandel die Frage gestellt, ob der Kapitalismus unser Schicksal sei. „Wer die guten Dinge des Lebens käuflich macht, fügt ihnen Schaden zu.“ Eine Demokratie könne ihre Bürger nicht darauf reduzieren, Marktteilnehmer zu sein. Bürger wollten nicht durch finanzielle Anreize belohnt werden, wenn es um genuin politische Fragen gehe. Darauf Elisabeth von Thadden: „Das hätte Aristoteles interessant gefunden.“ Diese Bemerkung veranschaulicht einmal mehr, was das Projekt „Gegenwärtige Vergangenheit“ leisten will: Hintergründe ausleuchten. Denn den Sinn dieses Satzes kann nur nachvollziehen, wer die Anspielung versteht. Für Aristoteles ist der Mensch (→ 1.9: Homo sum) eben kein bloßer Marktteilnehmer (Produzent / Konsument), sondern – wie gesagt – ein von Natur aus politisches Wesen, ein Zoon politikón (Politik 1, 2, 1253 a 2–3). 240

Der einleitende Beitrag der ZEIT-Philosophie zu dem Thema, was das gute Leben ist, befasst sich mit der Frage: „Was ist Gerechtigkeit?“ Am Anfang der Debatte beruft sich die Autorin des Beitrags auf Platon − allerdings ohne genaue Angabe der Fundstellen: „Gerechtigkeit bedeutet, jedem das zu geben, was ihm gebührt.“ Diese Definition stimmt fast wörtlich mit Ciceros Version (Cicero, De re publica 3, 11 Powell) überein: tribuere id cuique, quod sit quoque dignum (→ 6.1: Jedem das Seine – Suum cuique). Platon erläutert die Gerechtigkeit im vierten Buch seiner Politeia folgendermaßen: Sie bestehe darin, dass jeder das Seine tue, das heißt, dass er das tue, wozu er von Natur aus am besten geeignet sei, und sich nicht in vielerlei einmische. Platon gibt (im Gegensatz zu Cicero) dem Handeln ein deutlich größeres Gewicht als dem Geben (Politeia 4, 432b–434d). Nur an einer Stelle (433e–434a) betont Platon den Doppelaspekt der Gerechtigkeit: Sie besteht darin, dass jeder das ihm Gehörende hat und das Seinige tut. Dann kommt noch einmal Cicero ins Spiel: Den Hintergrund zu dem Satz „Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit“ bildet wiederum ein Cicero-Text (Off. 3, 21): Es sei gegen die Natur (contra naturam), einem anderen Menschen etwas wegzunehmen und auf Kosten eines anderen seinen eigenen Vorteil zu vergrößern, und zwar sei dies mehr gegen die Natur als der Tod, die Armut, der Schmerz und das übrige, was dem Körper oder den äußeren Dingen zustoßen kann. Denn ein solches Verhalten zerstöre jede menschliche Gemeinschaft (→ 8.8: Recht auf Unversehrtheit). Wenn wir nämlich so eingestellt wären, dass jeder um seines Vorteils willen einen Mitmenschen beraube oder verletze, dann zerreiße er zwangsläufig die Gemeinschaft der Menschheit, die in höchstem Maß naturgemäß sei (nochmals dasselbe 3, 26).268 In demselben Heft wird auch der Frage nachgegangen, was ein freier Mensch ist. Der Autor spielt den Begriff der Freiheit an vier verschiedenen Typen durch. Darunter befindet sich auch der Tyrann, 241

eine spezifisch antike Figur, über die zum Beispiel Xenophon eine psychologische Abhandlung in Dialogform schrieb: Hieron oder über die Tyrannis.269 Im ersten Teil des Dialogs versucht der Tyrann Hieron seinem Gesprächspartner, dem Dichter Simonides, zu erklären, dass das Leben eines Tyrannen weit unglücklicher sei als das Leben eines Privatmannes. Er legt an zahlreichen Lebenssituationen, in denen ein Tyrann sich befindet, dar, wie unglücklich das Leben eines Tyrannen sei. Er schwebe nicht nur ständig in Lebensgefahr, sondern werde auch ununterbrochen belogen und betrogen. Er lebe in Einsamkeit und Angst und erfahre sein Leben als eine Perversion menschlicher Existenz. Bei der Frage „Was ist Glück?“ kann der Autor an Aristoteles nicht vorbeigehen: „Will man einen moralisierenden Paternalismus vermeiden und zugleich verallgemeinerbare Aussagen über menschliches Glück zulassen, dann lohnt ein Blick auf das berühmte ErgonArgument, das der griechische Philosoph Aristoteles vor 2300 Jahren formuliert hat: Ebenso wie der Schuster eine bestimmte Funktion habe und sie gut auszuüben strebe, habe auch der Mensch eine Funktion oder Bestimmung, die er gut zu erfüllen suche. Ein glückliches Leben wäre demnach dasjenige, in dem die ihm innewohnende Bestimmung verwirklich wird.“ Nach Aristoteles (NE 10, 6–7, 1176 a 1–19) ist das glückliche Leben offensichtlich ein leistungsorientiertes Leben. Es ist mit ernsthafter Anstrengung verbunden und kein Spiel. Wenn aber das Glück ein leistungsorientiertes Tätig sein ist, dann dürfte es ein Tätig sein im Sinne höchster Leistungsfähigkeit sein. Diese aber kann nur in der Betätigung der wertvollsten Kraft bestehen. Die Betätigung dieser Kraft im Sinne der ihr eigentümlichen Leistungsfähigkeit dürfte das vollkommene Glück sein. Glück ist also spätestens seit Aristoteles keine bloße Befindlichkeit. Es hängt entscheidend davon ab, ob es gelingt, dem Leben einen Sinn zu geben – und zwar durch sinnvolles Handeln. „Sinn ist die Erfah242

rung, etwas zu tun, das für sich gut ist; etwas zu tun, das nicht bloß für mich, sondern um eines anderen willen gut ist, dessen Bedürftigkeit gleich viel zählt. Von dieser Gleichheit mit anderen verletzbaren Wesen hängt das eigene Lebensglück auch ab. … Ohne die Offenheit für die Wirklichkeit der anderen aber ist das Glück schlicht ärmer“ (Tilo Wesche, ZEIT-Philosophie, 14). Der soziale Bezug ist in den maßgebenden Glückskonzepten enthalten. Cicero stellt in De Officiis (3, 23–24) die soziale Verantwortung des Menschen ausführlich dar: „Aber es ist nicht nur durch die Natur, das heißt durch das Menschenrecht, sondern auch durch die Gesetze der Völker, auf denen in den einzelnen Staaten das Gemeinwesen beruht, auf dieselbe Weise bestimmt, dass es nicht erlaubt ist, um des eigenen Vorteils willen einem anderen zu schaden. Denn das haben die Gesetze im Auge, das wollen sie, dass die Verbindung der Bürger unangetastet bleibt; sie halten diejenigen, die diese Verbindung auseinanderreißen, mit der Todesstrafe, dem Exil, der Haft und dem Strafgeld in Schranken. Aber schon die natürliche Vernunft als solche, die das göttliche und das menschliche Gesetz ist, erreicht dies noch viel mehr. Wer ihr gehorchen will – alle aber werden gehorchen, die im Sinne der Natur leben wollen, wird sich niemals dazu herablassen, fremden Besitz zu begehren und das, was er einem anderen weggenommen hat, sich selbst anzueignen.“ Was bedeutet also nun das aristotelische „Ergon-Argument“? Das Ergon ist einerseits die Tätigkeit, die jemand ausübt, und andererseits das Werk, das durch die Tätigkeit vollendet wird. Das Ergon ist der Zweck der Tätigkeit. Das spezifische Ziel des Menschen ist das Glück, die Eudaimonia. Aber für Aristoteles sind Tätigkeit und Werk, Tätigkeit und Ziel nicht verschieden voneinander. In der Tätigkeit liegt das Ziel oder das Werk, und diese wiederum ist Tätigkeit. Aristoteles (Metaphysik 9, 8, 1050 a 21–b 1): „Denn das Werk ist das Ziel oder der Zweck, die Tätigkeit aber ist das Werk. … Auch wenn manchmal der Zweck schon die Tätigkeit selbst ist (wie zum Beispiel im Falle der 243

Sehkraft das Sehen, wo kein anderes Werk entsteht, das vom Sehen verschieden ist) und manchmal ein Werk entsteht (wie zum Beispiel im Falle der Baukunst außer dem Bauen das Bauwerk), so ist dennoch schon die Tätigkeit als solche nicht weniger ein Ziel und zwar ein Ziel in höherem Maße als die bloße Möglichkeit (Dynamis) zur Tätigkeit. Denn das Bauen steckt in dem, was gebaut wird, das heißt, es wird und ist zusammen mit dem Bauwerk vorhanden. Bei allem, wo etwas anderes neben dem bloßen Gebrauchen ist und entsteht, verwirklicht sich die Tätigkeit (Energeia) in dem, was hergestellt wird (wie zum Beispiel das Bauen im fertigen Gebäude, das Weben im fertigen Gewebe und auch sonst die Bewegung in dem Bewegten. Wo es aber außerhalb der Tätigkeit kein anderes Werk gibt, dort ist die Tätigkeit als solche das Ziel (wie zum Beispiel das Sehen durch den Sehenden, das Denken durch den Denkenden, das Leben durch die Seele; und dasselbe gilt auch für das Glück, die Eudaimonia; denn sie ist ein ganz bestimmtes Leben.“ Die Frage nach dem Wesen der Eudaimonia beschäftigt Aristoteles besonders am Anfang der NE. Denn das Glück, das man allgemein als Verbindung von gutem Leben und gutem Handeln verstehe (1, 2, 1095 a 18–20), gelte als das höchste Gut des Menschen. Es sei demnach auch das Ziel der Staatskunst. Aristoteles beschreibt darauf die unterschiedlichen Vorstellungen, die die Menschen vom Wesen des Glücks haben, und setzt sich ausführlich mit verschiedenen Ansichten über das höchste Gut auseinander. An einer Stelle, wo er sich mit der Meinung anderer beschäftigt, die ihr Glück im Leben für den Staat zu finden glauben und in der Arete den höchsten Wert sehen, macht er geltend, dass man die Arete zwar besitzen, aber dabei schlafen und untätig sein könne (1, 3, 1095 b 32–33). Dieses Argument ist in seiner Tragweite nicht zu unterschätzen. Denn einerseits sind Verhaltensformen wie Schlafen und Besitzen ohne Gebrauchen bereits im Protreptikos typisch für das weniger wertvolle Leben, andererseits greift Aristoteles diesen Gesichtspunkt später wieder auf, um davon seine eigenen Anschauungen über das Wesen 244

der Eudaimonia abzuheben. Der Begriff der Eudaimonia, sagt Aristoteles, ist nur fassbar, wenn man sich über die dem Menschen eigentümliche Leistung (Ergon) im Klaren ist. Diese definiert er als ein Tätig sein der Seele gemäß dem rationalen Prinzip oder wenigstens nicht ohne dieses (1, 6, 1098 a 7–8). Die Leistung der Seele im Sinne der Arete ist darüber hinaus für den vollkommenen Menschen maßgebend (a 16–17). Die Arete rückt somit in Verbindung mit dem Energeia-Begriff in das Zentrum der Fragestellung. Sie ist hier bereits keineswegs mehr Gegenstand des Habens oder Besitzens (1, 3, 1095 b 32–33), sondern ein Tätig sein.270 Eudaimonia beruht demnach nicht auf einem Haben, sondern auf eben dieser Tätigkeit. Denn es ist ein wesentlicher Unterschied, ob man das höchste Gut in einem Besitzen oder in einem Gebrauchen, beziehungsweise in einem Haben oder einem Tätig sein sieht (1, 9, 1098 b 32–33). Es liegt nahe anzunehmen, dass sich Aristoteles hier wie schon 1095 b 32–33 gegen einen Eudaimonia-Begriff wendet, der nur das Besitzen von Arete, nicht aber das Gebrauchen berücksichtigt.271 Aristoteles verfährt hier also ähnlich wie schon im Protreptikos, als er mit der Gegenüberstellung von Besitzen und Gebrauchen die beiden entgegengesetzten Lebensauffassungen erläuterte. Wenn Aristoteles an späteren Stellen den EnergeiaBegriff verwendet, um damit die Eudaimonia zu charakterisieren, kann er voraussetzen, dass eine dem „Gebrauchen“ analoge Energeia nicht mehr missverstanden wird.272 Trotzdem erinnert er gegen Ende der NE (9, 9, 1169 b 28–1170 b 19) im Rahmen der Freundschaftslehre an die Gegenüberstellung von Besitzen und Gebrauchen, um den Energeia-Charakter der Eudaimonia nochmals zu unterstreichen: Am Anfang der NE hieß es, das Glück sei ein Tätig sein. Das Tätig sein aber ist ein Prozess und nicht einfach vorhanden wie ein Besitz (1169 b 30).273 An einer späteren Stelle (NE 10, 6, 1176 a 30–b 6) sieht sich Aristoteles noch einmal vor die Aufgabe gestellt, das Wesen des Glücks „im Umriss“ darzustellen, nachdem es sich als Endziel des Menschen er245

wiesen hatte (1097 b 20–21; 1098 a 24–25). Er greift dazu auf früher Gesagtes zurück: Das Glück ist kein „Haben“ und keine Befindlichkeit. Denn sonst könnte es nicht nur dem im Sinne der Arete Tätigen, sondern auch dem Schlafenden gehören, der wie eine Pflanze lebt oder im größten Unglück steckt. Glück ist vielmehr als ein Tätig sein zu definieren. Die Antithese Schlafen-Wachsein, die ja bereits im Protreptikos an exponierter Stelle gestanden hatte, wird von Aristoteles immer wieder herangezogen, um diese beiden Möglichkeiten der Mensch-Welt-Beziehung zu kennzeichnen. Da Schlafen und Wachsein die Verhaltensweisen des Menschen sind, bei denen Besitz und Gebrauch von Fähigkeiten am deutlichsten auseinanderfallen, werden sie von Aristoteles zur Unterscheidung der beiden Aspekte des Wissens, des Wahrnehmens und des Lebens und schließlich auch der Begriffe Dynamis und Energeia, soweit sie ethische Bedeutung haben, oft gemeinsam mit dem Begriffspaar „Besitzen und Gebrauchen“ verwendet, um größte Anschaulichkeit zu vermitteln.

7.8 Mut zum Unglücklichsein „Während die übertrieben intensiven Formen der Glückssuche leicht ins Unglück führen, kann der seines Sinnes sichere Mensch das gewiss nicht ausbleibende Unglück besser in seinen Lebenslauf integrieren. ... Was es aber zu verstehen gilt, ist erstens, wie sehr der forcierte Glaube ans Dauerglück ... die Leute darauf trimmt, bei jedem schweren Unglück hilflos umzukippen. Zweitens sollte man verstehen, dass das Unglück einen Sinn hat, nämlich Besinnung zu ermöglichen: ‚Erheblich früher als die Glücklichen bemerken die Unglücklichen eine Gefahr, eine Fehlentwicklung, ein Unrecht.‘ Deshalb versucht der Autor, zum Unglücklich-Sein auch zu ermutigen.“274 Wilhelm Schmid selbst spricht vom „Glück des Unglücklichseins“,275 das sich in der Melancholie manifestiere. Darin scheint ein Glücklichsein 246

möglich zu sein, ohne dass das Unglücklichsein ausgeschlossen wird. Epiktet und Marc Aurel waren glückliche Melancholiker, weil ihnen die Hinfälligkeit und ständige Gefährdung des Daseins bewusst war. Die antiken Melancholiker waren glücklich, weil sie wussten und akzeptierten, dass sie alles, was ihnen lieb und teuer war, auf einen Schlag verlieren konnten. Sie waren aber nicht von permanenter Verlustangst geprägt, weil sie den Verlust als Teil ihrer Existenz bejahten. „Verlange nicht, dass alles, was geschieht, so geschieht, wie du es willst, sondern wünsche dir, dass alles so geschieht, wie es geschieht, und du wirst glücklich sein“ (Epiktet, Encheiridion 8). Auch der Imperativ Carpe diem (→ 1.2: Nutze den Tag) fordert dazu auf, im melancholischen Bewusstsein einer existentiellen Gefährdung glücklich zu sein. In seiner Schrift Hermotimos oder Von den philosophischen Schulen schildert Lukian das folgende Gespräch über die Realitätsferne stoischer Lebensziele und die Fragwürdigkeit des Strebens nach Glück. Es sei aber besonders traurig – so Lykinos, der Gesprächspartner des Stoikers Hermotimos –, wenn man nach einem langen Leben einsehen müsse, dass man in der Hoffnung auf Unerreichbares eigentlich gar nicht gelebt habe. Darauf Lykinos: „Du dürftest aber nur auf ganz wenige Menschen stoßen, die den Mut haben einzugestehen, dass sie sich geirrt haben, und andere davon abzubringen, Ähnliches zu versuchen. Wenn du aber einen solchen Menschen triffst, dann nenne ihn einen Freund der Wahrheit, einen Tüchtigen und Gerechten und, meinetwegen auch einen Philosophen. Ich jedenfalls würde ihm diesen Namen nicht missgönnen. Die anderen aber wissen die Wahrheit nicht, obwohl sie glauben, sie zu wissen, oder wenn sie sie wissen, verschweigen sie sie aus Feigheit und Scham und aus Geltungsbedürfnis. Doch jetzt wollen wir in Athenes Namen alles, was ich gesagt habe, nicht mehr berücksichtigen und beiseite lassen. ... Wir sind davon ausgegangen, dass diese stoische Philosophie und keine andere die richtige sei. Jetzt wollen wir sehen, ob sie erreichbar und wirklichkeitsgerecht ist oder ob sich diejenigen, die nach ihr streben, vergeb247

lich abmühen. Ich höre, dass sie wunderbare Versprechungen macht und in Aussicht stellt, wie glücklich alle sein werden, die ihr höchstes Ziel erreicht haben; denn sie allein werden alle wahren Güter bekommen und besitzen. Du dürftest die sich anschließende Frage besser beantworten können als ich, wenn du jemals unter allen Stoikern einen so vollkommenen Stoiker getroffen hast, der keinen Schmerz fühlt, nie von Lust verführt wird, nie zornig ist, der stärker ist als Neid und Hass, der den Reichtum verachtet und vollkommen glücklich ist. Das muss doch der Maßstab und die Messlatte für das tugendhafte Leben sein. Denn wer auch nur das winzigste Stück davon entfernt bleibt, ist unvollkommen, selbst wenn er alles sonst besitzen würde. Wenn er aber noch nicht so weit ist, dann ist er auch noch nicht glücklich (→ 8.6: Vom Charme der Unvollkommenheit).“ Darauf erwidert Hermotimos, dass er einen so vollkommenen Stoiker ich noch nie gesehen habe. Verwundert fragt Lykinos, mit welchem Ziel Hermotimos denn dann Philosophie betreibe, wenn er sehe, dass weder sein Lehrer noch dessen Vorgänger wirklich weise und darum glücklich gewesen seien. Es reiche doch nicht aus, wenn man nur in die Nähe des Glückes gelange, da dies sinnlos sei. Denn wer sich noch auf der Schwelle direkt vor der Tür befinde, stehe ebenso draußen wie jemand, der noch weit entfernt sei. Sie dürften sich nur dadurch unterscheiden, dass derjenige, der näher am Ziel sei, mehr darunter leide, wenn er aus der Nähe sehe, was er nicht erreiche. „Um dann dichter an das Glück heranzukommen (das werde ich dir zugeben), strengst du dich bis zur Erschöpfung so sehr an, und ein so großer Teil deines Lebens ist an dir vorüber gezogen, weil du dich durch Nachlässigkeit, Ermattung und Schlaflosigkeit hast herunterziehen lassen. Und du wirst es, wie du sagst, mindestens noch weitere zwanzig Jahre so machen, um dann als Achtzigjähriger (wenn es überhaupt eine Garantie dafür gibt, dass du so lange lebst) trotz allem unter denen zu sein, die noch nicht glücklich sind.“

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Lykinos räumt ein, dass er gar nicht sehe, was für ein Gut das Glück eigentlich sei, so dass es sich lohne, dafür so große Anstrengungen auf sich zu nehmen. „Wie lange wirst du das Glück noch genießen können, du alter Mann, der du einem Leben der Lust schon lange entwachsen bist und mit einem Fuß schon im Grab stehst, wie man sagt? Es sei denn, du bereitest dich schon auf ein anderes Leben vor, edler Freund, als ob du, sobald du dort angekommen bist, besser leben würdest, wenn du wüsstest, wie man dort zu leben hätte. Du wärest dann mit jemandem vergleichbar, der vor lauter Vorbereitung auf ein besonders gutes Essen nicht merkt, dass er schon verhungert ist. Aber du hast doch auch noch nicht bedacht, nehme ich an, dass die Tugend in einem Handeln besteht, zum Beispiel in einem gerechten, weisen und tapferen Handeln. Ihr aber (wenn ich ‚ihr‘ sage, dann meine ich eure führenden Philosophen) geht darauf nicht ein und beschäftigt euch nur damit, eure elenden Begriffe, eure Syllogismen und Spitzfindigkeiten zu suchen und zu formulieren.“

7.9 Schmerz und Schmerztherapie Schmerz scheint ein Übel zu sein. Aber nicht jeder, der Schmerz empfindet, leidet darunter. Masochisten genießen den Schmerz. Wer extremen Sport treibt oder sich tätowieren lässt, nimmt den Schmerz freiwillig auf sich – von religiös begründeten Schmerzerlebnissen ganz abgesehen. Verringerung oder gar Vermeidung von Schmerz wird heute mit „Schmerzmitteln“, sogenannten Analgetika, aber auch mit Hilfe chirurgischer Eingriffe angestrebt und oft auch erreicht. In der Antike schlug man im Umgang mit dem Schmerz mitunter auch einen anderen Weg ein: Es ging nicht nur darum, Schmerz zu beseitigen, sondern ihn anzuerkennen und zu beherrschen, indem man ihn als einen notwendigen Schritt zu einem positiven Ziel hin zu verstehen lernte. 249

Die Konzentration auf dieses Ziel und die begründete Aussicht auf Erfolg konnte den Schmerz vielleicht erträglich machen. Der Tragiker Aischylos hatte Leid und Schmerz sogar als „Lernhilfe“ instrumentalisiert: Sein Verständnis von der Güte göttlicher Macht,276 die er „Zeus“ nennt (Agamemnon 160–183: Gebet an Zeus) kommt in dem Ausspruch „durch Leiden lernen“ (Agamemnon 77) zum Ausdruck. Leid bringt die Menschen zur Vernunft (181). Die göttliche Macht der Gerechtigkeit gibt dem Leid Sinn, indem sie dem Leidenden auferlegt zu lernen (249 f.). Ein solches Schmerzkonzept kommt vor allem dann zum Tragen, wenn der Schmerz nur bedingt mit Medikamenten oder anderen Schmerzmitteln zu beseitigen ist. Umso notwendiger ist eine mentale Schmerztherapie, wie sie von den hellenistischen Philosophenschulen und vor allem von dem römischen Epikureer Lukrez betrieben wird, der in seinem Werk Über die Natur der Dinge das Konzept einer rationalen Schmerzbewältigung entwickelt: Er sieht in der Befreiung von der Angst (vor dem Schmerz) die wichtigste Voraussetzung für das Ertragen von Schmerz (→ 9.4: Gründe erkennen: Lukrez). Epikur, der prominenteste Vertreter dieser mentalen Schmerztherapie, entwickelt eine bis heute aktuelle Theorie von Lust und Schmerz. Diese beruht auf drei Grundsätzen: (1) Lust und Schmerz sind zwei entgegengesetzte Möglichkeiten der Selbstempfindung eines Lebewesens. Entweder empfindet dieses Lust oder Schmerz oder eine Mischung aus beidem. Einen neutralen Zustand gibt es nicht. (2) Die Empfindung von Lust und Schmerz zeigt dem Lebewesen an, was seiner Natur entspricht und was ihr fremd ist. (3) Alle Lebewesen lassen sich von Lust und Schmerz bestimmen. Daraus folgt, dass man die Lust als Ursprung und Ziel des glücklichen Lebens bezeichnen kann. Epikur unterscheidet zwischen sinnlicher und geistig-seelischer Lust (Katechismus 18), von denen diese als katastematische Lust oder voluptas stabilis auf Dauer empfunden wird, während jene als kinetische oder voluptas in motu vorübergehenden Lustgewinn bedeutet 250

(→ 4.4: Was ist ein Epikureer?). Entsprechendes gilt dann auch für den Schmerz. Allerdings werden die beiden Erscheinungsformen der Lust nicht hinsichtlich ihres Wertes unterschieden. Es handelt sich eher um komplementäre Vorgänge, die – wie oben bereits angedeutet – durch „das nüchterne Rechnen der Vernunft“ kontrolliert werden (D.L. 10, 131–132). Selbstverständlich kann Epikur aufgrund seiner atomistischmaterialistischen Anthropologie keine immaterielle Lust und daher auch keinen immateriellen Schmerz annehmen. Auch die Seele besteht ja aus feinsten Atomen. Allerdings ist die Geist-Seele nicht an die Präsenz der Gegenstände oder Vorgänge gebunden; sie kann sich durch Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges, durch Mögliches und Wirkliches zugleich affizieren lassen, während der Körper nur akuten Schmerz und akute Lust empfindet (vgl. D.L. 10, 137). Aufgrund dessen ist es nach Epikur auch möglich, körperlichen Schmerz zu vernachlässigen beziehungsweise zu ignorieren und trotz des Schmerzes Lust zu empfinden. Der denkende Mensch kann sich auch im Falle lang andauernder Schmerzen immer noch größere Schmerzen vorstellen. „Also“, sagt Epikur bei Cicero (Tusk. 2, 44), „hat ein lange dauernder Schmerz mehr Freude als Verdruss.“ Warum eigentlich hat Epikur die Hedone, die Lust, zum Ursprung und Ziel eines glücklichen Lebens erklärt? Denn auf dem ersten Blick ist doch das Streben nach Lust oder Lustgewinn nicht vereinbar mit individueller Freiheit und Selbständigkeit, in denen Epikur die notwendigen Bedingungen eines glücklichen Lebens sah. So hielten denn auch die Gegner des Lustprinzips etwa in der platonischen Akademie das Streben nach Lust für unvereinbar mit der menschlichen Freiheit; denn die Lust bringe den Menschen in Abhängigkeit von den Zwängen der Natur. Außerdem sei Lust nichts Beständiges und wirklich Erreichbares, weil sie immer mit Schmerz verknüpft sei. Es genügt sicher nicht, Epikurs Hedonismus als Ausdruck der Opposition gegen die Lustfeindlichkeit anderer philosophischer Schulen 251

zu erklären. Diese Erklärung vertrüge sich nicht mit der therapeutischen Zweckbestimmung epikureischen Philosophierens. Eher könnte man annehmen, Epikur habe im Sinne seines katastematischdianoetischen Lustbegriffs ein Vergnügen daran gehabt, die Argumente der Anti-Hedonisten zu widerlegen und zu demonstrieren, dass das Streben nach Lust durchaus mit dem Streben nach Unabhängigkeit und Freiheit vereinbar sei. Lustgewinn ohne spürbaren Zwang ist aber nur durch den „nüchternen Verstand“ möglich. Für Epikur ist die Lust aber zunächst einmal etwas Natürliches. Indem er von der Erfahrung ausgeht, dass alle Lebewesen von Geburt an Lustgewinn anstreben und Schmerz ablehnen, und zwar von Natur aus und nicht vernunftgesteuert (D.L. 10, 137). Die Evidenz des natürlichen Strebens nach Lust lässt sich durch die schlichte Tatsache bestätigen, dass Säuglinge und Kleinkinder (aber auch Erwachsene) das Süße dem Bitteren vorziehen. Offensichtlich ist „süß“ der „Sicherheitsgeschmack“ der Evolution. Was süß ist, ist nicht giftig, bitter kann giftig sein. Mit der Entscheidung für das Süße entscheidet sich der Mensch also für sein Überleben. Indem er sich in diesem Sinne an die Natur anpasst, begibt er sich allerdings in ihre Abhängigkeit, die jedoch nicht endgültig oder unausweichlich ist. Denn der denkende Mensch hat grundsätzlich die Freiheit zum Leben oder zum NichtLeben (vgl. den Brief an Menoikeus = D.L. 10, 126–127). In der sogenannten Spruchsammlung, dem Gnomologium Vaticanum (Nr. 9), sagt Epikur unmissverständlich: „Ein Übel ist der Zwang, aber es besteht kein Zwang, unter Zwang zu leben.“ Hinzu kommt, dass die natürlichen Bedürfnisse sehr leicht zu befriedigen sind, so dass die tatsächliche Abhängigkeit von naturbedingtem Zwang extrem gering ist. Im Brief an Menoikeus (130) schreibt Epikur: „Auch die Genügsamkeit (Unabhängigkeit von äußeren Dingen) halten wir für ein großes Gut, nicht um uns in jedem Falle mit Wenigem zu begnügen, sondern um, wenn wir das Viele nicht haben, mit dem Wenigen auszukommen, weil wir überzeugt davon sind, dass diejenigen den Über252

fluss am meisten genießen, die ihn am wenigsten brauchen, und dass alles Naturgemäße leicht, das Sinnlose aber schwer zu beschaffen ist.“ Das Streben nach Lust ist also nicht endlos und unbegrenzt, wenn es vernunftgesteuert ist. Wenn es aber endlos und unbegrenzt erscheint, dann beruht dies auf einer Wahnvorstellung, nicht auf vernünftiger Überlegung (vgl. Epikurs Katechismus 30). Epikur hält den Anti-Hedonisten entgegen, dass sie eine undifferenzierte Vorstellung von den menschlichen Bedürfnissen hätten. Stattdessen müsse man sorgfältig unterscheiden (vgl. Katechismus 29) zwischen (a) natürlichen und notwendigen, (b) natürlichen und nicht-notwendigen und (c) nicht-natürlichen und nicht-notwendigen Bedürfnissen. Nur die natürlichen und notwendigen Bedürfnisse muss man befriedigen, um Schmerz zu vermeiden. Wie die Grenzenlosigkeit der Lust, so ist auch die Grenzenlosigkeit des Schmerzes eine Wahnvorstellung. Dem Therapeuten Epikur kommt es nicht auf völlige Schmerzlosigkeit an, sondern ihm ist das rechte Verhältnis zwischen Lust und Schmerz, die richtige Mischung von Lust und Schmerz wichtig. Wenn die philosophische Therapie zu dem richtigen Mischungsverhältnis zwischen Lust und Schmerz führt, ist die Voraussetzung für die katastematische Lust gegeben, das heißt für jenes Vergnügen, mit dem ein gesunder Leib und ein harmonisch verfasstes Gemüt sein Leben empfindet. Dieser Zustand wird charakterisiert als Apoponía und Ataraxía, als Freisein von der Not leiblicher Schmerzen und leiblichen Begehrens (nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren) und als Freisein von seelischer Bedrängnis und seelischer Verwirrung. Wenn Epikur die Lust negativ bestimmt als ein Freisein von Schmerz und Angst, dann will er damit sagen, dass schon das „Seinselber“ ohne alles andere und das „Sein-dürfen“ Lust bedeuten. „Es nicht mit Pseudolüsten, die für den Moment da sind, anfüllen, sondern die Alypía auskosten als das, was schon an sich wertvoll ist, das Leben-an-sich als Wert empfinden ..., das ist epikureisches Lebensge253

fühl“. Der kategorische Imperativ des Epikureismus „Meide die Unlust“ hat diesen Sinn: „Zerstöre nicht durch falsche Lust den einzigen Besitz, den du hast, der aber auch das Höchste und Beste ist, was es überhaupt gibt: nämlich freies, unangreifbares, unzerstörbares Sein als vernunftbegabtes Wesen“ (Hoffmann 1960, 113). Was Epikur mit seinem Verständnis von Hedone gegen den radikaleinseitigen und ebenso naturwidrigen Anti-Hedonismus vertritt, das ist der Inhalt des schlichten Imperativs „Nichts zu sehr“ (→ 1.4: Nichts zu sehr. Nichts übertreiben), den Platon im Protagoras (343a–b) den Sieben Weisen als gemeinsamen Wahlspruch zuschrieb277 und der zum Beispiel auch in zahlreichen Demokrit-Fragmenten belegt ist.278 Immer geht es hier um das richtige Verhältnis zwischen Übermaß und Mangel, auf dem auch Demokrits Ideal des „Sich-wohlBefindens, der Euthymía, beruht. Epikurs Nähe zu Demokrit ist hier wieder signifikant. Denn was ist die epikureische katastematische Lust anderes als die demokritische Euthymía? Selbst die rigorosen Stoiker haben den Schmerz als ein Merkmal des Menschseins nicht verleugnet. Aber sie haben ihm keine moralische Relevanz zugebilligt. Daher ist der Schmerz auch kein wirkliches Übel. Diese Einstellung geht zum Beispiel aus einer Notiz Ciceros (Tusk. 2, 61) hervor. Pompeius habe bei seiner Rückkehr aus Syrien (62 v. Chr.) einen Vortrag des Poseidonios hören wollen; aber obwohl er erfahren hatte, dass Poseidonios schwer krank war, da er heftig an Gicht litt, wollte er den hochberühmten Philosophen besuchen: Als er ihn gesehen, begrüßt, mit ehrenden Worten angeredet und sein Bedauern darüber ausgesprochen hatte, dass er ihn nicht hören könne, erwiderte Poseidonios: „Doch, das kannst du, und ich werde es nicht zulassen, dass körperlicher Schmerz dazu führt, dass ein so bedeutender Mann umsonst zu mir gekommen ist.“ Und dann – so erzählte Pompeius – habe Poseidonios im Bett liegend mit würdevollen und gedankenreichen Worten über genau diese These gesprochen, dass nur das Moralische ein Gut sei, und als ihn der Schmerz wie bren254

nende Fackeln marterte, habe er mehrfach gesagt: „Nichts richtest du aus, Schmerz. Obwohl du unerträglich bist, werde ich niemals zugeben, dass du etwas Böses bist.“ Diese beeindruckende, an sich selbst vollzogene Schmerztherapie des leidenden Stoikers Poseidonios, den auch Cicero übrigens noch persönlich kannte und als seinen Lehrer verehrte, verleugnet also den Schmerz nicht. Im Zustand der Schmerzlosigkeit befindet sich nur der wirklich Weise, der dann aber zugleich auch in jeder Hinsicht empfindungslos ist. Er kennt keinen Zorn, keinen Neid, keine Eifersucht, dann aber auch kein Mitleid (vgl. Cicero, Tusk. 3, 18–21). Der stoische Weise würde auch den Schmerz des Achill über seine verlorene Ehre nicht akzeptieren. In Ciceros Übersetzung klagt der homerische Held (Ilias 9, 646 f.): „Mein Herz tief in mir schwillt an in traurigem Zorn, wenn ich daran denke, dass ich meine Ehre und Anerkennung völlig verloren habe.“ Bei Homer heißt es übrigens „… dass mich Agamemnon vor allen Argeiern erniedrigt hat.“ Cicero lässt Achill über den nicht hinnehmbaren Verlust von Anerkennung und Lob (decus und laus) klagen. Diese zentralen römische Werte haben eine wichtige schmerztherapeutische Funktion: Im Streben nach Anerkennung muss man Schmerz ertragen können und wollen (vgl. Tusk. 2, 28). Das öffentliche Ertragen von Schmerz um der öffentlichen Anerkennung willen vermindert die Schmerzempfindung. Schmerz und Angst werden durch die soziale Akzeptanz der schmerzund angstbesetzten Leistung gemildert. Das gilt heute zum Beispiel auch für den oft sehr schmerzhaften Leistungssport (einschließlich Fußball). Der Prototyp des römischen Helden, der grausame Schmerzen erträgt, um Ruhm und Ehre zu gewinnen, ist Mucius Scaevola, wie Livius (2, 12–13) ihn schildert (→ 8.1: Scheiternde Helden. → 9.9: Vertrauen durch Fides und Fairness). Ganz in diesem Sinne weist Cicero darauf hin, dass die Frage, ob der Schmerz ein Übel ist, nicht dasselbe Gewicht hat wie die Bemühung darum, den Schmerz zu ertragen. Man müsse die Seele so stär255

ken, dass sie den Schmerz ertragen könne (Tusk. 2, 28). Schmerz ist nicht fort zu diskutieren, aber er ist als moralisch irrelevant zu ertragen, so gut es geht (29). Das gilt für körperlichen (dolor) ebenso wie für seelischen Schmerz (tristitia). Beide Formen des Schmerzes hatte schon Epikur unterschieden, indem er Lust (Hedone) definierte als Freiheit von seelischem und körperlichem Schmerz mit Hilfe der nüchternen Vernunft (Brief an Menoikeus 131 f.). Wenn Epikur empfiehlt, dass man kleinere Schmerzen für eine spätere größere Lust in Kauf nehmen solle, dann steht er römischem Denken durchaus näher, als Cicero es zugeben wollte. Wenn man schließlich davon ausgehen kann, dass das Ertragen von Schmerz in der sozialen Gruppe oder in der Öffentlichkeit leichter fällt als der einsame Schmerz etwa eines Aias (Sophokles, Aias 321), dann versteht man vielleicht auch, dass Epikur in Athen seinen Garten (Kepos) gründete. Denn damit schuf er auch die Möglichkeit einer wirkungsvollen Schmerztherapie in der sozialen Gruppe. Es scheint der tiefere Sinn des epikureischen Gartens gewesen zu sein, durch das Leben in der Gemeinschaft nicht nur Schmerz zu lindern, sondern auch die Angst davor zu verringern. Denn: „Geteiltes Leid ist halbes Leid.“ Epikur schrieb aber auch an Menoikeus (D.L. 10, 124–127), dass der denkende Mensch grundsätzlich die Freiheit zum Leben oder zum Nicht-Leben habe. Hier geht es also nicht mehr um Schmerztherapie, sondern um die radikale Beendigung von Schmerzen durch Selbstauslöschung. Im Gnomologium Vaticanum sagt Epikur unmissverständlich: „Ein Übel ist der Zwang, aber es besteht kein Zwang, unter Zwang zu leben“ (Nr. 9). Daher sollten wir uns auch mit dem Gedanken vertraut machen, dass der Tod keine Bedeutung für uns habe. „Aber die Menschen fliehen manchmal vor dem Tod, weil sie ihn für das größte Übel halten; manchmal verlangen sie auch nach ihm, weil er alle Übel des Lebens beendet. Der Weise aber weist weder das Leben zurück noch fürchtet er sich davor, nicht zu leben. Denn ihm ist 256

weder das Leben eine Last, noch glaubt er, es sei ein Übel, nicht zu leben.“ In krassem Gegensatz dazu steht der Selbstmord mit „Kollateralschaden“ oder der „erweiterte Suizid“, wie zum Beispiel das Selbstmordattentat oder der Pilotenselbstmord. Hier wird von einer „Monstrosität der Tat“ und von einem „apokalyptischen Narzissmus“ (→ 5.2: Narcissus und der Narzissmus) gesprochen, der dann vorzuliegen scheint, wenn der Pilot nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das Leben vieler Mitmenschen zerstören will. Im Rahmen der Euthanasie-Debatte wird unter anderem die These vertreten, dass man, wenn man Euthanasie erlaube, über kurz oder lang den Selbstmord pflegebedürftiger Menschen zur Pflicht mache. Der „Suizid auf Verlangen“ könnte auf diesem Wege sogar zu einem rechtlich fundierten Tatbestand werden. Robert Spaemann erinnert sich:279 Vor etwa 60 Jahren habe er auf die rasant wachsenden Möglichkeiten medizinischer Lebensverlängerung hingewiesen und davor gewarnt, von ihnen uneingeschränkt Gebrauch zu machen. Die voraussehbare Folge werde der Ruf nach Euthanasie sein: „Aus der Straffreiheit des Selbstmords leitet man das Recht ab, dem Kranken beim Suizid behilflich zu sein. Das ist ein Trugschluss: Der Suizid ist in unserer Rechtsordnung nicht erlaubt. … Es gibt allerdings die Möglichkeit der Straffreiheit für verbotene Handlungen. … Falls der Suizidversuch der Gesellschaft Kosten verursacht, muss der Suizidant diese allerdings übernehmen. … Dass der Selbstmord moralisch geächtet bleibt, ist für die menschliche Gemeinschaft von größter Wichtigkeit. Denn wenn er eine sozial akzeptierte und institutionell ausgestattete Möglichkeit ist, wird es unvermeidlich sein, zu verhindern, dass daraus die Pflicht wird, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, um den anderen nicht weiter zur Last zu fallen. Schon die Stoiker haben diesen Schluss gezogen.“ Diogenes Laërtius (7, 130) gibt die folgende stoische Lehrmeinung wieder: „Aus gutem Grund, so heißt es, wird der Weise sich selbst 257

umbringen, wenn es für sein Vaterland und seine Freunde richtig ist und auch wenn er unter zu großen Schmerzen und körperlicher Verstümmelung oder unheilbaren Krankheiten leidet.“ In Fin. 3, 60 referiert auch Cicero die stoische Auffassung vom Selbstmord: der Weise habe zwar die Pflicht, am Leben zu bleiben. Er habe aber dann die Pflicht zum Selbstmord, wenn in seinem Leben das Naturwidrige das Naturgemäße überwiege. Darauf wiederholt Cicero diesen Gedanken (61): Oft habe der Weise, obwohl er sehr glücklich sei, die Pflicht, aus dem Leben zu gehen, wenn er dies im richtigen Augenblick tun könne. Deshalb schreibe die Philosophie vor, dass sich der Weise von ihr trenne, sobald es angebracht sei (→ 3.6: Die Gelegenheit beim Schopf packen). Wenn aber die moralische und intellektuelle Kraft nicht ausreicht, den freiwilligen Tod rational zu begründen, dann ist es die Pflicht der Durchschnittsmenschen, auch wenn sie in einer elenden Lage sind, am Leben zu bleiben, solange sie in höherem Umfang über naturgemäße Güter verfügen. Und da der Durchschnittsmensch gleichermaßen unglücklich ist, ob er nun sein Leben aufgibt oder ob er am Leben bleibt, … muss er am Leben bleiben.“ Ob man den Selbstmord rechtfertigen will oder nicht – auf jeden Fall muss man sich klar machen, dass man sich auf diese Weise zwar von unerträglichen Schmerzen befreit, aber letztlich dem Tod nur die Drecksarbeit abnimmt. Im Zusammenhang mit der Frage „Was ist Glück?“ (ZEITPhilosophie, Juni 2013) berührte der Autor Tilo Wesche auch das Thema „Sinn“. Sinn sei kein Wert, der dem Leben selbst innewohne. Es werde vielmehr dem Leben verliehen. Dass Lebenssinn durch Tätigkeiten gestiftet werde, führten Menschen vor, denen es gelinge, nach schweren Leiderfahrungen wieder aufzustehen und ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben. Das sei ein Vorgang, den die moderne Psychologie als Resilienz bezeichne, die auch Plutarch zu meinen scheint, wenn er die Frage stellt, ob die Erinnerung an frühere Freuden ein Mittel gegen den Schmerz sein kann (Man kann mit Epikur 258

kein angenehmes Leben haben 18, 1099 D–F): „Selbst wenn die Epikureer behaupten, die Erinnerung an schöne Erfahrungen aus der Vergangenheit habe die größte Bedeutung für ein lustvolles Leben, so dürfte doch nicht einmal ein einziger von uns Epikur glauben, dass jemand, der mit heftigsten Schmerzen und Qualen im Sterben liegt, mit der Erinnerung an früher genossene Freuden Trost fände. ... Die Erinnerung an eigene Leistungen kann dagegen niemand, auch wenn er es wollte, aus seinem Bewusstsein verbannen. Denn wann oder wie wäre es möglich gewesen, dass Alexander Arbela280 vergessen hätte, Pelopidas den Leontiades oder Themistokles Salamis? Die Athener feiern noch heute die Schlacht bei Marathon, die Thebaner ihren Sieg bei Leuktra..., und es ist keiner unter uns, der sich über das, was er bei diesen Feierlichkeiten aß und trank, so sehr freute wie über die Taten jener Helden. Man kann daraus schließen, wie groß die Fröhlichkeit, die Freude und das Entzücken waren, die in den Herzen der Menschen selbst lebten, die diese Taten vollbrachten: Die Erinnerung daran hat auch nach 500 Jahren und mehr nicht aufgehört, immer wieder Freude zu wecken.“ Dass die Erinnerung an große Taten der Vergangenheit die Resilienz verstärken kann, leuchtet ein. Aber die Erinnerung ist wohl nur eine Möglichkeit unter anderen. Daher nahm der Stoiker Kleanthes den antisthenischen Begriff der „sokratischen Kraft“ (D.L. 6, 11) besonders ernst und bezeichnete die Tugend als die Spannkraft (Tonos), die die Seele befähige, ihre Aufgaben zu erfüllen.281 Die Tugend sei nicht auf viele Worte und Lehren angewiesen; sie erwachse nicht aus einem Wissen, sondern aus Spannkraft (Tonos) und Anstrengung (Ponos). Die seelische Elastizität führe zur Überwindung aller Schwierigkeiten. Für Kleanthes ist die Spannkraft wie ein Schlag des Feuers, und wenn sie in der Seele hinreichend vorhanden ist, um die ihr zufallenden Aufgaben zu erfüllen, heißt sie Stärke und Kraft. Dann fügt er wörtlich hinzu: „Diese Stärke und Kraft bedeuten Beharrlichkeit, wenn sie in den Situationen, denen man offensichtlich nicht ausweichen darf, vorhanden ist, Tapferkeit, 259

wenn sie in den Situationen bewiesen wird, die man aushalten muss, Gerechtigkeit, wenn sie mit dem, was man zu tun schuldig ist, zu tun hat, Besonnenheit, wenn es um die Entscheidung zwischen Zustimmung und Ablehnung geht“ (S&S Nr. 285). Die moderne Resilienz ist von dem kynisch-stoischen Tonos nicht weit entfernt, der die Fähigkeit beinhaltet, bedrängende Ereignisse und Situationen durch Besinnung auf vorhandene Kompetenzen zu bewältigen und gestärkt zu überwinden. Auch der mit der Resilienz vergleichbare Tonos ist dazu geeignet, besondere Belastungen auszuhalten, neue Kräfte zu wecken und widerstandsfähig zu machen. Später war sich Cicero (De re publica 3, 31) dieser Resilienz bewusst, als er über Höchstleistungen und ihre Belohnungen sprach: „Wenn jedoch die undankbare breite Masse, viele Neider oder mächtige Feinde der Virtus ihre Belohnung vorenthalten, dann freut sie sich wenigsten über vielfachen Trost und richtet sich vor allem an ihrem eigenen Glanz auf.“

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8. Grenzen Das erste Beispiel dieses Themenkreises ist „scheiternden“ Helden gewidmet. Daher dürfte es dem wachsenden Bedürfnis nach „neuen Helden“ – etwa in Gestalt moderner Autokraten – nicht entsprechen und auch nicht die Wiederbelebung des Heroismus fördern. Denn scheiternde Helden verlieren alles, nur nicht ihre Würde. Die Überschrift „Grenzen“ soll andeuten, dass es in den folgenden Beispielen um Grenzüberschreitungen geht – sehr oft vom Normalen zum Außergewöhnlichen oder Unerwarteten. Die Grenzen sollen aber auch veranschaulichen, dass Entscheidungen oft endgültige Überschreitungen markieren oder auch Beschränkungen signalisieren, die es aufzuheben gilt. Das Beispiel, das vom Charme der Unvollkommenheit handelt, bezeugt eine Möglichkeit des mitmenschlichen Umgangs, der die Grenze zwischen menschenfreundlicher Normalität und kalter Perfektion niederreißt. Denn der Zwang zu unrealistischer Perfektion zerstört den Menschen. Wer den Fehler nicht liebt, liebt auch den Menschen nicht. Das mit dem Nichtstun in vielen Situationen die Grenze zum Unrecht überschritten wird, dürfte nicht auf den ersten Blick erkennbar sein, ist aber kaum zu bestreiten. Das Menschenrecht auf Unversehrtheit wird heute wahrscheinlich noch häufiger und grausamer verletzt als in der Antike. Auch hiermit wird eine Grenze markiert, aber eine, die nicht überschritten werden darf. Ob sich der Mensch ändern kann, ist bis heute eine ebenso brisante wie ungelöste Frage. Wenn es gelingt, hat eine Grenze überwunden. Wer das vielfach missverstandene sophistische Statement, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, ernst nimmt, überschreitet die Grenze von 261

der subjektiven Beliebigkeit zur Verantwortung für die Dinge, deren Maß er ist. Der „gerechte Krieg“ ist ein Widerspruch in sich selbst, eine contradictio in adiecto. Er kann nicht gerecht sein, weil er moralische Grenzen niederreißt.

8.1 Scheiternde Helden „Der Sieg gefiel den Göttern, aber die Niederlage Cato“. Diese Worte des Dichters Lucan (Pharsalia 1, 128) verleihen dem Verlierer Würde (→ 3.3: Stoische Ruhe). In einem bemerkenswerten Aufsatz charakterisiert Jens Jessen den Büchner-Preisträger Martin Mosebach als einen „sanften Reaktionär“, der „Sympathie für die Verlierer der Geschichte“ wecke. 282 Jessen zitiert den Lucan-Vers. „Auf dieser Anekdote beruht die beste Definition, die für den Reaktionär gegeben worden ist. Sie stammt von dem kolumbianischen Philosophen Gómes Dávila, den Mosebach nicht zufällig bewundert. Das Wesen des Reaktionärs, sagt Gómes Dávila, sei Sympathie für die verlorene Sache. Das könne man eins zu eins auf Mosebach übertragen. Er sei natürlich kein Konservativer; denn er sehe, so weit sein Auge reiche, in dieser Gesellschaft nichts, was sich zu konservieren lohnen würde. Er sehe aber überall und überscharf das Verlorene. Da das Verlorene aber nun einmal verloren und Mosebach kein Putschist sei, der das Verlorene zurückbomben möchte, bleibe ihm nur die literarische Sympathie für den Verlust. Lange vor Cato gab es große Verlierer. Das berühmteste Beispiel ist Sokrates (→ 4.1: Das Phänomen Sokrates). Hans-Joachim Neubauer schrieb in seinem Aufsatz „Wer nicht siegt, gewinnt. Niederlagen. Was verbindet John McCain, Charly Chaplin und Sokrates? Sie sind faire Verlierer. Deutsche Politiker tun sich schwer damit.“283 Nur wenige beherrschten die Kunst des anständigen Verlierens. Einer von ihnen stehe am Anfang der abendländischen Philosophie. Platon habe 262

überliefert, wie Sokrates mit seinem Leben abgeschlossen habe: „Jedoch, es ist Zeit, dass wir gehen, ich, um zu sterben, und ihr, um zu leben.“ Seine Worte über das Sein nach dem Tode am Ende der platonischen Apologie (41a-c) lassen keinen Gedanken an ein bedauernswertes Scheitern aufkommen – im Gegenteil: „Wenn jemand in den Hades kommt, wird er von den hiesigen Richtern befreit sein und auf die wirklichen Richter treffen ... Minos, Rhadamanthys, Aiakos, und Triptolemos usw. … oder er würde auch mit Orpheus, Musaios, Hesiod und Homer zusammen sein. Was würde wohl jemand von euch dafür geben? Ich will jedenfalls gern oftmals sterben, wenn dies wirklich wahr ist. Denn ich hätte dort ein herrliches Leben, träfe ich doch mit Palamedes und Aias, dem Sohn des Telamon, zusammen, oder wenn sonst noch jemand von den Alten einem ungerechten Urteil zum Opfer gefallen ist. Dann könnte ich mein Schicksal mit deren Schicksal vergleichen; das wäre, wie ich glaube, nicht unerfreulich. Das Größte aber ist es, die dortigen Menschen genauso zu prüfen und auszuforschen wie die hiesigen Leute, wenn jemand weise ist oder es glaubt, ohne es zu sein. Wieviel würde man dafür geben, ihr Richter, diese Menschen zu prüfen: den Mann, der sein großes Heer nach Troja geführt hat, oder Odysseus oder Sisyphus – und man könnte noch zahllose andere Männer und Frauen aufzählen –, mit denen zu reden, zusammen zu sein und sie zu prüfen ein unbeschreibliches Glück wäre.“ Nach dem Urteilsspruch wendet er sich erneut an seine Richter: „Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft hingeht, das ist allen verborgen außer Gott.“ Seneca wird später zu einem römischen Sokrates (Tacitus, Annalen 15, 62 f.). Auch er ist ein Beispiel für ein Scheitern in Würde. Thukydides widerlegt das gängige Muster, demzufolge „Historiker nur solche Männer rühmen, die Bleibendes geleistet haben, nicht aber Gescheiterte mit guten Absichten“,284 indem er den athenische Feldherrn Nikias rühmt, obwohl er an der gescheiterten sizilischen Expedition mitverantwortlich war. 263

Xenophon erinnert in seiner Anabasis an den persischen Prinzen Kyros, dessen Versuch, seinen Bruder vom Thron zu stürzen, in der Schlacht bei Kunaxa scheiterte.285 Die Anabasis zeichnet insgesamt ein Panorama des Scheiterns: Nicht nur Kyros scheiterte, sondern auch Xenophon selbst: Sein Versuch, nach dem persischen Abenteuer in Athen wieder Fuß zu fassen, misslingt. Er muss jahrzehntelang in der Verbannung leben. Man hat Cornelius Nepos immer wieder einen unhistorischen Umgang mit der Geschichte vorgeworfen. Aber seine Porträts der ausländischen Feldherrn (De viris illustribus) bieten Geschichten von gescheiterten Helden. So stellt er zum Beispiel den Thebaner Epaminondas seinen Lesern nicht einfach nur als ein Vorbild, sondern als eine Metapher des Heldenhaften dar. Dabei ist es unerheblich, ob der Held am Ende scheitert: Denn er bleibt auch dann immer ein Held. Das Werk des Cornelius Nepos will keine kritische Geschichtsschreibung sein, sondern dem Leben dienen. Der Autor benutzt Gestalten und Ereignisse der Geschichte, um sie für seine Absichten gleichsam umzuschreiben. Dadurch gewinnt die von ihm geschilderte Vergangenheit ihren Nutzen für die Gegenwart. Die historischen Persönlichkeiten werden zu Exempla, die auf die Gegenwart hin geschildert sind. Nepos bedient sich der Gestalten der (nichtrömischen) Vergangenheit, um sie als Anschauungsmetaphern zu verwenden, die gegenwärtiges Denken beeinflussen sollen. In diesem Sinne dient die Historie dem Leben. So werden die Porträts den Erwartungen, die Friedrich Nietzsche (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874) an den Umgang mit der Geschichte stellt, vollauf gerecht: „Gewiss, wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm auf unsere derben und anmutlosen Bedürfnisse und Nöte herabsehen. Das heißt, wir brauchen sie zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat, oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der 264

feigen und schlechten Tat. Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen. ... Erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen.“ Die Nähe zum Hollywood-Kino ist signifikant.286 Durch die Möglichkeit, historische Fakten, für seine Bedürfnisse umzuschreiben, wird die Darstellung geschichtlicher Ereignisse nützlich. Denn der unhistorische Umgang mit dem Historischen bietet einen Fundus von metaphorischen Möglichkeiten, Auswege aus Aporien der Gegenwart zu finden. In Ridley Scotts Gladiator wird an den Helden Marc Aurel (→ 7.3: Das Vorbild Marc Aurel) und Maximus eine Entlastungsgeschichte entfaltet, mit der wir unseren Mangel an Helden und Heldenhaftem in unserer Alltagswelt kompensieren können. Die Helden Hollywoods sind Metaphern des Heldenhaften, nach dem man sich zu jeder Zeit zu sehnen scheint. Ein Prototyp des scheiternden Helden ist der große Künstler Orpheus. „Im langsamen Satz von Beethovens viertem Klavierkonzert, Andante con moto, kann man den Urkünstler Orpheus hören, wie er die finsteren Mächte der Unterwelt besänftigt. So hat sich zumindest Robert Schumann, der Romantiker, die 72 Takte vorgestellt.“ Das schreibt Claus Spahn am 1. März 2001 in einem ZEIT-Artikel über Claudio Abbado, den damaligen Leiter der Berliner Philharmoniker. Wer Orpheus war, erfährt man am besten durch Ovids Metamorphosen (10, 1–77 und 11, 1–66). Er scheiterte bei dem Versuch, seine tote Eurydike wieder ins Leben zurückbringen, obwohl ihm die Unterweltsgötter dazu die Chance gegeben hatten. Am Ende kommen die Liebenden jedoch wieder zusammen: Orpheus findet nach seinem eigenen grausamen Tod Eurydike in der Unterwelt. „Er umschlingt sie mit sehnenden Armen. Hier gehen sie bald im Gleichschritt spazieren. Bald geht sie voran, und er folgt ihr, bald geht er voran. Und jetzt kann sich Orpheus gefahrlos nach seiner Eurydike umblicken“ (→ 5.6: Orpheus und Eurydike). 265

Auch Ödipus ist auf schreckliche Weise gescheitert, weil er die Weissagung, die er sich in Delphi geholt hatte, falsch deutete (→ 3.5: Was hat der Ödipuskomplex mit Ödipus zu tun?), und Krösus wurde Opfer einer Fehldeutung des Orakels, sodass er beinahe in der Katastrophe sein Ende gefunden hätte (→ 1.9: Homo sum. → 3.9: Reich wie Krösus). Der augusteische Historiker Livius kennt den Helden, der mit seinem Scheitern die Größe Roms bezeugt: Der schon erwähnte Mucius Scaevola (Livius 2, 12, 1–13, 5) versuchte, König Porsenna zu töten, um Rom von der Belagerung durch die Etrusker im Jahr 508 v. Chr. zu befreien, verwechselte aber den König mit seinem Schreiber. Er wurde verhaftet und dem König vorgeführt. Diesem sagte er: „Ich bin ein römischer Bürger (Romanus sum civis) und als Feind wollte ich einen Feind töten. Ich habe nicht weniger Mut zu sterben als zu töten. Das ist römisch: tapfer zu handeln und tapfer zu leiden. Doch ich bin nicht der einzige, der dich umbringen will. Hinter mir steht eine lange Reihe von Männern, die nach derselben Ehre streben.“ Daraufhin soll er gefoltert werden, um die Namen seiner Mitverschwörer preiszugeben. Plötzlich hält er seine rechte Hand in ein brennendes Feuer und schrie Porsenna ins Gesicht: „Sieh nur her, damit du verstehst, wie wenig körperlicher Schmerz bei jemandem ausrichtet, der großen Ruhm vor Augen hat“ (→ 7.9: Schmerz und Schmerztherapie). So demonstrierte er, dass die Folter ihm nichts hätte anhaben können. Porsenna war tief beeindruckt und ließ ihn frei, und am Ende erreichte Scaevola durch seine Tat, dass die Etrusker aus Furcht vor der Verschwörung gegen ihren König abzogen. Daraufhin wird er später der „Linkshänder“ (Scaevola) genannt und bekommt zum Dank vom römischen Senat ein Stück Land geschenkt.

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8.2 Die Ästhetik des Verzichts Am Anfang des ersten Epistelbuches (1, 1, 13–19) fordert der Dichter Horaz Maecenas auf, nicht nach seinem Lehrer oder seiner geistigen Heimat zu fragen. Er fühle sich nämlich keinem Meister verpflichtet. Wind und Wetter trieben ihn wie einen Wanderer in alle Himmelsrichtungen. Mit den Worten „Ich versuche, mir die Dinge, nicht mich den Dingen unterzuordnen“, bekennt Horaz, dass er nach einer dem Philosophen Aristipp (etwa 435–350 v. Chr.) zugeschriebenen Einstellung zu leben versuche, die man als innere Distanz gegenüber der Welt bezeichnen kann. In diesem Sinne versteht sich der Dichter als Wanderer, als Gast, als Fremder oder Reisender. Horaz schätzte Aristipp. Dieser war wohl der einzige Philosoph, für den der Dichter eine echte Sympathie empfand. So lobte er denn auch Aristipps Lebenseinstellung (Epistel 1, 17), die vor allem darin bestand, aus den jeweils gegebenen Umständen das Beste zu machen. In der Epistel 2, 2, 145–216 knüpfte Horaz im Rahmen einer Erörterung über die Habsucht an Aristipps Überlegungen an. Die in diesem Zusammenhang beschriebene Lebensauffassung entsprach voll und ganz Aristipps Gedanken, auf die sich Horaz in Epistel 1, 1 mehr oder weniger pauschal bezog. Nun ist nicht zu übersehen, dass der Aristipp des Horaz dem Aristipp auffallend ähnlich ist, den Xenophon (Memorabilien 2, 1) in einem Gespräch mit Sokrates porträtierte. Bei Xenophon hatte Aristipp von sich behauptet, er lasse sich in keine Polis einschließen, sondern sei überall ein Fremder, ein Xenos (2, 1, 13). Die äußeren Bedingungen für die Annahme, dass Horaz’ Aristipp-Bild von Xenophons Memorabilien geprägt ist, sind gegeben, und man kann zumindest nicht ausschließen, dass die Sympathie, die Horaz für Aristipp und seine Lebenseinstellung fand, aus seiner Lektüre der Memorabilien erwuchs. Das kann bedeuten, dass das Gespräch zwischen Sokrates und Aristipp den gedanklichen Hintergrund für Horaz’ Selbstverständnis als heimatloser Wanderer bildet. 267

Das Gespräch lässt etwa folgendes erkennen: (1) Sokrates stellt fest, dass von einem Politiker Selbstbeherrschung gefordert werden muss. Aristipp bestätigt dies. (2) Sokrates fragt Aristipp, ob er lieber selbst herrschen oder beherrscht werden wolle. Aristipp erwidert, es liege ihm nichts am Herrschen; das sei ihm zu unbequem. (3) Sokrates untersucht die Frage, wer bequemer und angenehmer lebe: die Herrschenden oder die Beherrschten. Er stellt fest, dass das Leben eines Beherrschten weniger erstrebenswert sei als das Leben eines Herrschenden. (4) Aristipp entgegnet, er wolle weder herrschen noch beherrscht werden. Um dies zu erreichen, wolle er sich an keinen Staat binden. Er ziehe es vor, als heimatloser Xenos zu leben. (5) Sokrates schildert die Nachteile und Gefahren der Xenos-Existenz. (6) Aristipp greift auf Sokrates’ Meinung zurück, dass es angenehmer sei zu herrschen als beherrscht zu werden. Beides sei mit Anstrengung verbunden, nur mit dem Unterschied, dass jenes ein freiwilliges, dieses ein unfreiwilliges Ertragen von Mühe sei. (7) Sokrates weist dem freiwilligen Ertragen von Anstrengung einen höheren Wert zu. Begründung: Wer freiwillig hungert, kann jeder Zeit damit aufhören. Wer sich freiwillig anstrengt, tut dies zu einem bestimmten Zweck. Er hat daher auch Freude daran. Demnach ist das freiwillige Ertragen von Mühe ein Weg zu wahrer Freude. (8) Sokrates nennt einige Beispiele für Mühen, die man gern auf sich nimmt. (9) Mühelose Tätigkeiten sind aus diätetisch-medizinischen Gründen abzulehnen. Mühevolle Tätigkeiten bewirken das Vollbringen schöner Werke und nützen der Gesundheit. (10) Sokrates referiert zur weiteren Veranschaulichung der These, dass die mit Anstrengung verbundene Arete die einzige Quelle wahrer Freude ist, die Prodikos-Fabel von Herakles am Scheideweg. Er will seinen Zuhörern veranschaulichen, unter welchen Bedingungen ein Höchstmaß an wahrer Freude zu verwirklichen ist. Die Antwort ist schließlich ganz einfach: In der freudigen, lustvollen Anstrengung, das heißt in der scheinbar paradoxen Koexistenz von Anstrengung und Lust. 268

Xenophon erklärt an verschiedenen Stellen seines Werkes, wie er sich diese Koexistenz vorstellt: Es sind zum Beispiel körperliche Anstrengungen und Entbehrungen auf der Jagd, die selbst die einfachsten Nahrungsmittel in köstliche Speisen verwandeln. Der freiwillige Verzicht auf regelmäßige Mahlzeiten ist eine Übung in Selbstbeherrschung, die den Genuss der noch verbleibenden Mahlzeiten erhöht. In der Kyrupädie lässt Xenophon den jungen Kyros vor Beginn des Feldzugs gegen Assyrien (1, 5, 7–14) eine Rede halten, in der die Beziehung zwischen Arete, Selbstbeherrschung, Freude und Anstrengung in genau demselben Sinne dargelegt werden wie in der Herakles-Erzählung der Memorabilien: „Meiner Ansicht nach wäre kein Mensch auf die Dauer tüchtig, wenn er nicht aufgrund seiner Tüchtigkeit Vorteile gegenüber dem Untüchtigen hätte. Wer sich gegenwärtige Freuden versagt und sich anstrengt, tut dies nicht, um auf jede Lust für immer zu verzichten. Er handelt vielmehr so, um sich mit seiner Enthaltsamkeit und Anstrengung vielfältige Freuden für die Zukunft zu verschaffen“ (1, 5, 9). Darauf veranschaulicht Kyros die Relation zwischen der entsagungsvollen Anstrengung und dem lustvollen Erreichen des angestrebten Zieles an den Beispielen des Redners, des Soldaten, des Bauern und des Sportlers, deren anstrengende Tätigkeiten sich nur dann als sinnvoll erweisen, wenn sie einen Lustgewinn versprechen. Über die diätetisch-medizinische Begründung der Relation zwischen Anstrengung und Lustgewinn sagt Kyros in der Kyrupädie (5, 2, 17): Die Perser hätten sich in ihren Ernährungsgewohnheiten als vernünftig und maßvoll erwiesen. Übermäßiges und nicht in einem richtigen Verhältnis zur körperlichen Anstrengung stehendes Essen und Trinken sei ihnen schweinisch und tierisch vorgekommen (→ 1.4: Nichts zu sehr. Nichts übertreiben). Auch über Lykurg berichtet Xenophon im Staat der Lakedämonier (5, 8), der Spartaner habe gewusst, dass die Menschen nur bei entsprechender Anstrengung ein gesundes Aussehen und Kraft bekämen. Wer zu viel esse und sich nicht anstrenge, werde dick, hässlich und kraftlos. Dann sei er auch unfähig, Lust zu empfinden. 269

In welchem Verhältnis steht nun Xenophons Auffassung über die Relation zwischen Anstrengung und Lustgewinn zu seinem Bild von Aristipp und dessen Plädoyer für eine apolitische Xenos-Existenz? Der Ausgangspunkt des Gesprächs in den Memorabilien 2, 1 lässt keine Polemik gegen Aristipp erkennen. Es geht Sokrates nicht um die angebliche Zügellosigkeit des Aristipp. Er tritt nur entschieden dafür ein, Aristipps Verständnis von Lust an Anstrengung und Verzicht zu binden, um so ein Abgleiten in die Zügellosigkeit zu verhindern. Xenophon verstärkt Aristipps Position, indem er das von diesem aufgeworfene und auch ihn selbst bedrängende Problem der apolitischen Xenos-Existenz mit seiner individual-ethischen und diätetisch-medizinisch begründeten Relation zwischen Anstrengung und Lust auffängt. Denn eine apolitische Xenos-Existenz ist nur unter der Bedingung erträglich, dass man nach dem Vorbild des Herakles (→ 2.1: Herakles und seine Taten) durch Selbstbeherrschung und Verzicht zum Ertragen von Anstrengung und dadurch auch zu wahrer Lust fähig ist. Das dürfte der gedankliche Hintergrund für Horaz’ Bekenntnis zu Aristipp und seiner Lebenseinstellung gewesen sein. Der Dichter bezieht sich also auf einen ihm von Xenophon vermittelten Aristipp, der die Lust beherrscht und in Freiheit genießt, ohne sich ihr hinzugeben. Denn als ihm jemand sein Verhältnis mit der Hetäre Laïs vorhielt (D.L. 2, 75), soll er erwidert haben: „Ja, ich habe Laïs, sie aber nicht mich; denn es ist das Beste, die Lust zu beherrschen und sich ihr nicht willenlos auszuliefern; man muss nur vernünftig mit ihr umgehen.“ Wie sehr er Aristipps Spuren folgt, demonstriert Horaz nicht zuletzt an dem einfachen Bauern Ofellus (Satire 2, 2), der als unabhängiger Weiser eine Xenos-Existenz lebt und in Anstrengung und Verzicht eine Quelle der Lust sieht, die er eben auch durch harte körperliche Arbeit gewinnt.

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8.3 Eskapismus – eine Alternative? „Ich hatte mir vorgenommen, vor meinem 40. Lebensjahr als Eremit in den Wäldern zu leben. Ich zog für sechs Monate in eine sibirische Hütte am Ufer des Baikalsees. ... Das nächste Dorf 120 Kilometer entfernt, keine Nachbarn, keine Zugangsstraßen, gelegentlich ein Besuch. Im Winter Temperaturen um die minus 30 Grad, im Sommer Bären an den Ufern. Kurz, das Paradies. ... In dieser Wildnis schuf ich mir ein schlichtes und schönes Leben, ich machte die Erfahrung eines aus einfachen Handlungen bestehenden Daseins. ... Ich erlebte den Winter und den Frühling, das Glück, die Verzweiflung und am Ende den Frieden.“287 Sylvain Tesson hatte sich für seinen sechsmonatigen Aufenthalt in den sibirischen Wäldern eine ausführliche Lektüreliste zusammengestellt. Darunter waren auch eine Sammlung von Stoiker-Fragmenten aus der Bibliothèque de la Pléiade und Lukrez, Über die Natur der Dinge (→ 9.4: Gründe erkennen: Lukrez). Im Rahmen seiner Tagebuchaufzeichnungen reflektiert der Autor über die Stellung des Einsiedlers in der Gesellschaft: „Die Gesellschaft mag Einsiedler nicht. Sie verzeiht ihnen nicht, dass sie fliehen. Sie missbilligt die Achtlosigkeit des Einzelgängers, der den anderen ins Gesicht sagt: ,Macht ohne mich weiter.‘ Sich zurückziehen bedeutet, sich von seinesgleichen zu verabschieden. Ein Einsiedler leugnet die Bestimmung der Zivilisation, er stellt die lebendige Kritik an ihr dar. Er beschmutzt den Gesellschaftsvertrag. Wie soll man diesen Menschen akzeptieren, der die Grenze überschreitet und sich an den Wind klammert.“288 Es ist hier nicht möglich, Tessons Tagebuch mit gegenwärtigen Erscheinungsformen des Eskapismus gründlich zu vergleichen: Innere Emigration, Flucht aus der realen Welt und vor der Wirklichkeit, Misanthropie, Flucht in die Krankheit, Flucht in die Sucht, Flucht in die Scheinwelt der Medien (auch der Bücher), Flucht in den Urlaub und so weiter. Ein klassisches Beispiel für antiken Eskapismus bieten 271

Lukians Wahre Geschichten, mit denen der Autor das existentielle Bedürfnis, vorübergehend aus dem Alltag auszubrechen, beschreibt (→ 9.7: Lukian und der Star Trek). Die Frage „Eskapismus – eine Alternative?“ dürfte also rhetorisch sein. Denn Eskapismus ist und war stets eine Alternative. Die Frage ist nur, ob man den Eskapismus als nur partielle oder als totale Alternative zu realisieren versucht. Horaz (Episteln 1, 11, 27 und Carmina 3, 1, 37–40) und Seneca (Briefe an Lucilius 28, 1) haben die Frage negativ beantwortet: Wer die Meere durcheile, wechsle das Klima, nicht aber seine seelische Verfassung. Seneca greift diese Feststellung auf und sagt: Du musst deine seelische Einstellung ändern, nicht das Klima. Plutarch lehnt den totalen Eskapismus grundsätzlich ab. In einer kleinen Schrift über den epikureischen Imperativ „Lebe im Verborgenen!“ setzte er sich mit der Frage auseinander, ob die Aufforderung zu einem Leben im Verborgenen sinnvoll sei.289 Plutarchs Ablehnung eines „Lebens im Verborgenen“ beruht auf seiner Überzeugung von der großen Bedeutung der Öffentlichkeit für die Entfaltung der sittlichen Persönlichkeit. Das Licht des Tages ist die unabdingbare Voraussetzung für jede positive menschliche Leistung. Das Leben im Verborgenen ist dagegen ein Leben in der Finsternis. Verborgenheit ist also lebensfeindlich. Plutarch versucht nicht nur, Epikur zu widerlegen, sondern entwickelt auch seine eigene Auffassung von der Bedeutung des Lichts, welches er mit dem Leben gleichsetzt: Werden und Geborenwerden markieren nicht nur den Schritt in das Sein, sondern auch den Übergang aus der Dunkelheit in das Licht, das alles, was ist, sichtbar macht. Man sollte nicht annehmen, dass Plutarch mit der kleinen Schrift eine philosophische Auseinandersetzung vorlegt. Vielmehr polemisiert er gegen Epikurs Weltanschauung, die er als lebensfeindlich, verantwortungslos, asozial, menschenunwürdig und nicht zuletzt als widersprüchlich ablehnt. Aber unabhängig vor der Frage, ob Plutarchs 272

Polemik gegen Epikur (→ 4.4: Was ist ein Epikureer?) gerechtfertigt ist, muss man davon ausgehen, dass der wenigstens vorübergehende Rückzug aus der Alltagwelt in der Antike häufig diskutiert wurde. Die Möglichkeit, „sich in sich selbst zurückzuziehen“, wie sie etwa Seneca (Briefe an Lucilius 7, 8 und 26, 6) und Marc Aurel (4, 3, 1–3) reflektierten, wurde sogar als ein Weg zu einer authentischen Persönlichkeit gesehen (→ 1.3: Erkenne dich selbst. → 3.10: Authentizität). „Die Menschen suchen sich Orte, an die sie sich zurückziehen können, auf dem Lande, an der See und im Gebirge. Und auch du hast es dir zur Gewohnheit gemacht, dich danach von ganzem Herzen zu sehnen. Doch das ist wirklich in jeder Hinsicht albern, da es dir doch möglich ist, dich in dich selbst zurückzuziehen, wann immer du es willst. Denn es gibt keinen ruhigeren und sorgenfreieren Ort, an den sich ein Mensch zurückziehen kann, als die eigene Seele. ... Schaff dir also immer wieder diese Möglichkeit des Rückzugs und erhol dich. Es sollen aber kurze und elementare Grundsätze sein, die dir in dem Moment, wo sie dir eingefallen sind, ausreichen, jeden Schmerz aufzuheben und dich vom Ärger über jene Dinge freizuhalten, denen du dich anschließend wieder zuwenden musst“ (Marc Aurel 4, 3, 1–3). Diese Strategie einer Lebensbewältigung standen und stehen jedermann zur Verfügung – nicht nur einem römischen Kaiser (→ 7.3: Das Vorbild Marc Aurel). Viele andere Möglichkeiten, mit denen man heute aus dem Alltag aussteigen kann, gab es in der Antike nicht. Man denke nur an die digital gesteuerten Ablenkungsstrategien. Inwieweit die bereits in der Antike bekannte Misanthropie eine Ursache, ein Begleitumstand oder eine Folge der Eskapismus war, muss hier offen bleiben. Der prominente Misanthrop Timon von Athen beschäftigte viele Menschen jahrhundertelang. Er war unter anderem Gegenstand einer Deklamation des Libanios, der den Misanthropen vor einem athenischen Gericht auftreten und die Todesstrafe für sich selbst beantragen lässt. Auch wenn dieser Antrag wahrscheinlich abgewiesen wurde, so kann man ihn doch wie jeden gewöhnlichen 273

Selbstmord als eine radikale Form des „versuchten“ Eskapismus interpretieren (→ 7.9: Schmerz und Schmerztherapie). Es ist gewiss sinnvoll, zwischen einem zeitlich begrenzten und einem endgültigen Eskapismus zu unterscheiden. Die Entscheidung für ein Leben in der Einsamkeit, wie Sylvain Tesson es beschrieben hat, dürfte sich ganz wesentlich von der oft religiös motivierten Suche nach Stille und Ungestörtheit unterscheiden. Philosophischer Eskapismus liegt gewiss im Streben nach Ungestörtheit (Ataraxía), nach Gelassenheit, vor, wie sie Epikur und die Epikureer anstrebten. Cicero wiederum beklagt den politischen Eskapismus der Menschen, die sich mit einem Einsatz für den Staat ihre Hände nicht schmutzig machen wollten, und Platons Eskapismus aus den Zwängen der athenischen Demokratie verwirklicht sich in seinem Entwurf eines Idealstaats (→ 7.4: Platons Philosophenkönige – Utopie einer politischen Leistungselite).

8.4 Radikaler Hedonismus? Erich Fromm290 sieht in dem Sokrates-Schüler Aristipp den ersten radikalen Hedonisten, „der lehrte, dass das Ziel des Lebens der Genuss eines Optimums an körperlichen Freuden sei und dass Glück die Summe des genossenen Vergnügens sei“. Aristipp sei nicht nur der erste, sondern auch der einzige radikale Hedonist gewesen, für den die Existenz eines Verlangens die Basis für das Recht auf seine Befriedigung und damit für die Verwirklichung des Lebenszieles, der Lust, sei (→ 8.2: Die Ästhetik des Verzichts). Epikur könne kaum als Vertreter dieser Art von Hedonismus, wie Aristipp sie vertreten habe, angesehen werden. Denn laut Epikur sei das Vergnügen als eine Befriedigung von Begierden nicht das Ziel des Lebens, weil auf eine solche Lust zwangsläufig Unlust folge, und dann sei der Mensch von seinem eigentlichen Ziel, der Abwesenheit von Schmerz, weit ent274

fernt. Mit diesem Argument lassen sich im Übrigen alle Kritiker Epikurs leicht zurückweisen (→ 4.4: Was ist ein Epikureer?) Wie man sieht, hat Aristipp in der Frage der Lust für Epikur eine Entlastungsfunktion. Das bestätigt auch der Satiriker Lukian, der ihn auf dem Markt der Philosophen-Schulen so vorstellt: „Aristipp ist grundsätzlich zu einem Leben in einer Gemeinschaft bereit. Er ist fähig, mit anderen zusammen zu feiern, und immer in der Lage, im Dienst eines liebestollen Herrn und in Begleitung einer Tänzerin herumzuziehen. Auch sonst ist er ein Experte für höchsten Genuss, ein äußerst erfahrener Koch und überhaupt ein Fachmann für extremes Luxusleben. Er erhielt seine Ausbildung in Athen, diente dann am Tyrannenhof in Sizilien und wurde dort sehr berühmt. Seine Überzeugung gipfelt jedoch darin, dass er alle Welt zwar verachtet, aber jeden Gegenstand für seine Zwecke zu nutzen versteht und in ein Lustobjekt verwandelt.“ Was wissen wir über diesen Lustapostel? Aristipp stammt aus Kyrene in Nordafrika und ist wie Platon und der Kyniker Antisthenes ein Schüler des Sokrates; seinetwegen zieht er nach Athen. Dann ist er zeitweilig Gast am Hof des jüngeren Dionysios in Syrakus: Der König zeigt ihm einmal drei besonders hübsche Mädchen und bietet ihm an, sich eines von diesen auszusuchen. Daraufhin nimmt Aristipp alle drei und bemerkt dazu unter Anspielung auf das Urteil des Paris (→ 2.3: Das Parisurteil), das die Entführung der schönen Helena mithilfe der Liebesgöttin Aphrodite verursachte und die Katastrophe des Trojanischen Krieges auslöste: „Es brachte schon Paris kein Glück, dass er sich für nur eine Einzige entschied“ (D.L. 2, 67). Aber der biedere Berichterstatter beruhigt uns mit der Bemerkung, Aristipp sei zwar mit den drei Schönen abgezogen, weil er das Risiko zugunsten einer Entscheidung für eine der drei Frauen vermeiden wollte. Draußen habe er jedoch alle drei wieder fortgeschickt. Der Philosoph hatte auch kein krampfhaftes Verhältnis zum Geld: Er konnte sich leicht von ihm trennen, wenn die Umstände es erfor275

derten: Mitten in der Libyschen Wüste ließ er einmal seine Sklaven das Geld, das sie bei sich hatten, wegwerfen, damit sie etwas schneller vorankämen (Horaz, Satiren 2, 3, 100–102), vermutlich um eine Wasserstelle zu erreichen. Ähnliches berichtete Bion, der Borysthenite (D.L. 2, 77), in einer seiner Diatriben: Als sich einmal Aristipps Diener mit einem schweren Geldsack abmühte, forderte er ihn auf, alles auszuschütten, was zu viel sei, und nur so viel mitzunehmen, wie er könne. Dabei ist allerdings zu fragen, ob diese Aufforderung nicht bedeuten soll: Befreie dich von allem Überflüssigen. In dieser Hinsicht stimmen Aristipp und der Kyniker Antisthenes überein, und beide werden trotz ihrer Gegensätzlichkeit als Leitbilder des Kynismus angesehen (→ 3.1: Kynismus und Zynismus). Aristipp wurde neben Antisthenes tatsächlich zum Lieblingsphilosophen jener Kyniker, die zwar körperliche Abhärtung und Enthaltsamkeit zu Prinzipien ihrer Lebensweise erklärten, aber doch nicht übertrieben rigoros verwirklichten, sondern sich den jeweiligen Umständen anzupassen wussten.

8.5 Gegen die Todesvergessenheit Heute weigert man sich, Krankheit, Sterben und Tod als eine unausweichliche Konsequenz des Lebens zu akzeptieren. Die Verdrängung der Hinfälligkeit des Menschen, die „Todesvergessenheit“, lässt keinen Platz mehr für die Einübung des Sterbens, das in der Antike ein zentrales Thema der Philosophie war (→ 1.3: Erkenne dich selbst). Selbst das Memento mori,291 das ein junger Sklave den römischen Feldherren bei ihren Triumphzügen ins Ohr flüstern musste, will man heute nicht mehr verstehen. Ein Plädoyer für die „Einübung in den Tod“, findet man dagegen im platonischen Phaidon, dem Dialog, den Sokrates unmittelbar vor der Vollstreckung seines Todesurteils mit seinen Freunden führt: Für 276

einen Mann, der wirklich philosophisch gelebt habe, gebe es keinen Grund sich zu fürchten, wenn es ans Sterben gehe. Er müsse vielmehr guter Hoffnung sein, dass er nur Gutes erfahren werde, wenn er gestorben sei. Denn alle, die sich intensiv mit der Philosophie befassten, hätten doch sowieso nichts anderes vor, als zu sterben und tot zu sein (63e–64a). Diejenigen, die richtig philosophierten, dächten gründlich über das Sterben nach, und tot zu sein, sei für sie keineswegs furchtbar. Daher sei es die wichtigste Aufgabe der Philosophen, sich auf die Lösung und Trennung der Seele vom Körper vorzubereiten (67d). Auch die epikureische Empfehlung, den Tod rational zu bewältigen und zu überwinden, zielt nicht darauf, den Tod zu negieren, sondern die Lebensgier (cupido vitae) zu beherrschen: Es sei doch ausgeschlossen, dem Tod zu entgehen. Selbst wenn man das Leben zu verlängern versuche, werde man das Nichtsein nach dem Tod nicht verkürzen können. An Menoikeus (124 f.) schreibt Epikur: „Gewöhne dich daran zu glauben, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat. Denn alles, was gut, und alles, was schlecht ist, ist Sache der Wahrnehmung. Der Verlust der Wahrnehmung aber ist der Tod. Daher macht die richtige Erkenntnis, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat, die Vergänglichkeit des Lebens zu einer Quelle der Lust, indem sie uns keine unbegrenzte Zeit in Aussicht stellt und das Verlangen nach Unsterblichkeit aufhebt. Denn nichts ist im Leben für denjenigen schrecklich, der wirklich begriffen hat, dass nichts Schreckliches darin liegt, nicht zu sein. … Das schauerlichste aller Übel, der Tod, hat also keine Bedeutung für uns; denn solange wir da sind, ist der Tod nicht da, wenn der Tod aber da ist, dann sind wir nicht mehr da.“ In enger Anlehnung an Epikur formuliert Lukrez (3, 830), der römische Epikureer: „Der Tod hat also keine Bedeutung für uns (Nil igitur mors est ad nos).“ Der Stoiker Seneca (Briefe an Lucilius 26, 8) zitiert später Epikur: „Denk über den Tod nach. … Es ist eine großartige Aufgabe, das Sterben gründlich zu lernen.“ Wer dazu auffordere, über den Tod 277

nachzudenken, verlange, dass man über die Freiheit nachdenke. Wer zu sterben gelernt habe, habe verlernt, sich zu unterwerfen. Nach Diogenes Laërtius (7, 102) stufen die Stoiker den Tod als ein Adiáphoron ein, das heißt als ein Phänomen, das weder gut noch schlecht sei und daher keine ethische Relevanz habe.

8.6 Vom Charme der Unvollkommenheit Wer die Unvollkommenheit lobt, entwirft ein Gegenbild zur modernen Vergöttlichung der Perfektion, zum Tugendterror, zur Scheinheiligkeit des Gutmenschentums, zu extremen Lebensformen und Glückserwartungen, zum Verlangen nach ewiger Gesundheit, Schönheit und Jugend, zu einem hypertrophen Narzissmus, zur Gier nach Abwechslung, zu krankhafter Rechthaberei, zur Zivilisationskrankheit des Neids, zur Verherrlichung des Sports (→ 6.2: Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper?). Wer nur das Vollkommene gelten lässt und für maßgebend hält, läuft Gefahr, in eine egozentrische Misanthropie und eine damit verbundene selbstzerstörerische Verweigerung natürlicher Begrenztheit zu stürzen. Dazu stellen sich folgende Fragen. Ist das Unvollkommene ein Merkmal der Individualität? Welches (zwanghafte?) Verhältnis besteht zwischen dem Normdruck des Vollkommenen (→ 9.1: Was ist Schönheit?) und dem Unvollkommenen oder zwischen dem Tugendideal der Areté und dem Unvollkommenen? Warum ist die Welt der Dinge im Verhältnis zur Welt der Ideen minderwertig und unvollkommen (Phaidros 249b–c)? Im platonischen Symposion (189a–193d) beschreibt Aristophanes den Eros als den menschenfreundlichsten unter den Göttern. Denn er sei ein Helfer der Menschen und ein Arzt, durch dessen Tätigkeit dem menschlichen Geschlecht höchstes Glück zuteil werden könne. Denn ursprünglich hatte der Mensch die Gestalt einer Kugel mit vier Ar278

men, vier Beinen, zwei Gesichtern an demselben Kopf, vier Ohren und so weiter. Er hatte große Kraft und wollte den Himmel stürmen. Daraufhin entschloss sich Zeus, die starken Kugelmenschen in zwei Hälften zu zerschneiden, um sie zu schwächen. Sie sollten auf zwei Beinen stehen und aufrecht gehen. Dann befahl er Apollon, den beiden Hälften das Gesicht und den halben Hals zur Schnittfläche hin herumzudrehen, damit der Mensch seine eigene „Zerschnittenheit“ (Tmesis) und seine Unvollkommenheit ständig vor Augen habe und sich in Zukunft anständiger und gottesfürchtiger benehme (190c). Als nun die ursprüngliche Gestalt in zwei Hälften zerschnitten war, sehnte sich jede Hälfte nach ihrem Gegenstück. Die beiden unvollkommenen Hälften umarmten und umschlangen sich in der Hoffnung, wieder eine Einheit zu bilden. Weil dies aussichtslos war, sie sich aber nicht wieder voneinander trennen wollten, starben viele von ihnen. Da erbarmte sich Zeus und verlegte ihre Geschlechtsteile nach vorn, damit durch die Umarmung von Mann und Frau Kinder entstünden. Der Eros hatte also die Absicht, die ursprünglich ganzheitliche Natur des Menschen wiederherzustellen, indem er versuchte, wieder aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen (191d). Seitdem sucht jeder unvollkommene Mensch – von Eros angetrieben – unentwegt sein Gegenstück (sein symbolon) (→ 3.2: Was ist ein Symbol?), um wieder vollkommen zu sein. Denn jeder Mensch ist immer nur die unvollkommene Hälfte eines anderen, der sich nach Wiederherstellung der Ganzheit sehnt, um seine Unvollkommenheit zu überwinden. Solange man dieses Ziel nicht erreicht, braucht man den Mut, unvollkommen zu sein. Mut zur Unvollkommenheit bedeutet aber nicht nur, dass der Unvollkommene selbst seine eigene Unvollkommenheit akzeptiert, sondern dass auch ein anderer ihn in seiner Unvollkommenheit respektiert, weil er selbst auch unvollkommen ist. Es ist also nicht nur die Sache des Unvollkommenen, seine eigene Unvollkommenheit mutig zu bejahen, sondern auch die Unvollkommenheit 279

des anderen zu akzeptieren. „Ein offensichtlich unvollkommener Mensch, der zu seiner Unvollkommenheit steht, ist anziehend, weil er erkennen lässt, dass er sich selbst so liebt, wie er ist trotz Unvollkommenheit und sich damit annimmt, so wie er ist. Das spüren die anderen Menschen und sie fühlen sich wohl in seiner Nähe, weil sie wissen, dass dieser Mensch auch ihre eigene Unvollkommenheit akzeptieren und sie wegen ihr nicht verurteilen wird. Güte, Nachsicht und bedingungslose Liebe ist wohl das, was dort die Rolle spielt. Somit schafft Unvollkommenheit Nähe, finde ich. Perfektion schafft für mich immer Distanz und Unerreichbarkeit und damit alles andere als Anziehung. Außerdem ist Unvollkommenheit ja ein Charakteristikum von Natürlichkeit. Und die ist authentisch, im Gegensatz zur Perfektion.“292 Derjenige, der das Unvollkommene im Bewusstsein seiner eigenen Unvollkommenheit akzeptiert, ist – wie gesagt – mutig. Er braucht zudem Mut, wenn er die Unvollkommenheit eines anderen und vor allem auch einer geliebten Person vor den angeblich so vollkommenen Mitmenschen rechtfertigen und verteidigen will. Plinius (Briefe 7, 26) schreibt an seinen Freund Maximus: „Kürzlich hat mich das Unwohlsein eines meiner Freunde auf den Gedanken gebracht, dass es uns eigentlich nie besser geht, als wenn wir krank sind“293 und unsere Krankheit nicht als Zustand der Machtlosigkeit beklagen, sondern als Möglichkeit, einen neuen Blick auf die Welt zu werfen. Marc Aurel (3, 2) empfiehlt (→ 7.3: Das Vorbild Marc Aurel), den Charme des Unvollkommenen in den Begleitumständen natürlicher Vorgänge zu entdecken. Denn sie hätten etwas Reizvolles und Anziehendes an sich: „Wenn zum Beispiel ein Brot gebacken wird, platzen einige Stellen auf, und diese Risse, die gewissermaßen im Widerspruch zum Zweck des Brotbackens stehen, fallen irgendwie ins Auge und regen auf besondere Weise den Appetit an. Auch die Feigen platzen auf, wenn sie reif sind. Und bei den voll reifen Oliven erhält die Frucht eine eigentümliche Schönheit (→ 9.1: Was ist Schönheit?), 280

wenn die Fäulnis unmittelbar bevorsteht. Die sich nach unten neigenden Ähren, die runzlige Stirn des Löwen, der Schaum, der aus dem Maul des Ebers fließt, und vieles andere, das für sich allein betrachtet alles andere als schön ist, trägt dennoch zur Schönheit bei und hat seinen eigenen Reiz, weil es die natürlichen Erscheinungen begleitet. Wenn also jemand ein Gefühl und ein tieferes Verständnis für das Geschehen im Weltganzen hat, dann wird ihm deutlich werden, dass fast alles auch durch derartige Begleitumstände eine auf seine Weise angenehme und erfreuliche Wirkung hat.“ Für Platon sind nur die Ideen vollkommen, während die sinnlich wahrnehmbaren Dinge ihre unvollkommenen Abbilder sind. Aber gerade der Abstand von den Ideen macht den Reiz der Dinge und den Umgang mit ihnen so menschlich und angenehm. Das Akzeptieren des Unvollkommenen an sich selbst und an anderen macht das Leben überhaupt erträglich und verhindert ein Versinken in Welt- und Menschenhass. So fragt denn auch Plinius seinen Briefpartner Geminus (8, 22),294 ob er Leute kenne, die selbst Sklaven ihrer eigenen Begierden seien, sich aber so sehr über die Fehler der anderen aufregten, als ob sie sie darum beneideten, und die am schlimmsten bestraften, die sie am meisten nachahmten. „Ich halte auf jeden Fall den für den besten und tadellosesten Menschen, der seinen Mitmenschen so verzeiht, als ob er selbst jeden Tag etwas falsch machen könnte, und sich selbst so davor hütet, Fehler zu begehen, als ob er niemandem etwas verzeihen würde.“ Plinius schließt sich dem Leitspruch des Stoikers Thrasea Paëtus an: „Wer die Fehler der Menschen hasst, hasst die Menschen.“ Der Charme der Unvollkommenheit wird einem nicht zuletzt auch dann bewusst, wenn man versucht zu erfahren, was Glück ist. Wenn Solon zu Krösus sagt (→ 3.9: Reich wie Krösus), man könne erst dann beurteilen, ob ein Mensch glücklich gewesen sei, nachdem er sein Leben vollendet habe, dann nahm er auch sich selbst niemals als vollkommen glücklich wahr. Dennoch könnte er sich im Bewusstsein der 281

Unvollkommenheit seines eigenen Glücks glücklich fühlen, wenn er diese in heiterer Resignation und Melancholie annähme und bejahte (→ 7.7: Was ist das „gute Leben“? Was ist Glück?).

8.7 Tun oder Nichtstun? „Gerechtigkeit bedeutet zu tun, was notwendig ist, Ungerechtigkeit nicht zu tun, was notwendig ist, sondern sich davon abzuwenden“ (Demokrit, VS 68 B 256). Noch knapper formuliert Marc Aurel diesen Gedanken: „Es tut oft derjenige Unrecht, der nichts tut, nicht nur derjenige, der etwas tut.“ Tun und Nichtstun sind zwei Formen des Handelns.295 Aristoteles berührt diese beiden Formen des Handelns im Rahmen seiner Überlegungen zur Willensfreiheit (NE 3, 7, 1137 b 6–14). „Denn wenn das Handeln unserer Entscheidung unterliegt, dann auch das Unterlassen. ... Wenn also das Handeln als etwas Schönes bei uns liegt, dann liegt auch das Unterlassen als etwas Unschönes bei uns. Wenn es also bei uns liegt, das Schöne oder das Unschöne zu tun oder auch nicht zu tun, dann besteht darin die Möglichkeit gut und schlecht zu sein. Wie wir handeln, liegt also ganz bei uns.“ Es wurden schon die beiden Arten von Ungerechtigkeit erwähnt (→ 1.9: Homo sum), die Cicero unterscheidet (Off. 1, 23–29). Man kann auch Unrecht tun, wenn man nichts tut. Für die unterlassene Hilfeleistung und das Nichterfüllen von Pflichten gebe es gewöhnlich mehrere Gründe: Entweder wolle man Konflikte, Anstrengungen oder Aufwand vermeiden, oder man werde durch Nachlässigkeit, Trägheit, Unfähigkeit oder durch besondere Ablenkungen und Beschäftigungen davon abgehalten zu verhindern, dass diejenigen, die man schützen müsste, im Stich gelassen werden. Deshalb müsse man sich fragen, ob es nicht unzureichend sei, was Platon über die Philosophen gesagt habe, dass sie schon gerecht seien, wenn sie sich mit 282

der Erforschung des Wahren beschäftigten und alles, was die meisten Menschen so heftig begehrten und um das sie gewöhnlich in heftigen Streit miteinander gerieten, verachteten und für wertlos hielten. Denn sie erreichten nur das eine Ziel, dass sie niemandem Schaden zufügten, weil sie ihm kein Unrecht antäten; aber sie verfielen dem anderen Unrecht: Denn weil sie durch ihren philosophischen Eifer abgelenkt seien, ließen sie diejenigen im Stich, die sie schützen müssten. Deshalb glaube Platon auch, dass sie sich nur gezwungenermaßen in die Politik begäben. Es gebe aber auch solche, die entweder in ihrem Bemühen, ihr Vermögen zu erhalten oder aus einem allgemeinen Menschenhass heraus sagten, sie kümmerten sich ausschließlich um ihre eigenen Angelegenheiten, und dadurch niemandem Unrecht zu tun schienen. Sie seien zwar frei von der einen Erscheinungsform der Ungerechtigkeit, stürzten sich aber in die andere; denn sie ließen die Lebensgemeinschaft im Stich, weil sie für diese keinen Einsatz zeigten, keine Anstrengung und keine ihrer Fähigkeiten aufwenden würden. Das Unterlassen ist heute nicht mehr nur ein moralisches, sondern auch ein juristisches Thema von strafrechtlicher Relevanz. Stichworte: Unterlassene Hilfeleistung, wenn man nicht hilft, obwohl man die Möglichkeit dazu hätte, oder passive Sterbehilfe, wenn man die lebensverlängernde Behandlung eines Sterbenden unterlässt. 

8.8 Recht auf Unversehrtheit Die Behauptung, dass die Entdeckung der Menschenrechte, wenn nicht der sophistischen Aufklärung des fünften vorchristlichen Jahrhunderts, so doch wenigstens der Philosophie des Hellenismus und hier insbesondere der stoischen Schule zu verdanken sei, lässt sich wohl kaum widerlegen. So heißt es etwa in dem von Hans-Hermann Hartwich herausgegebenen Handbuch „Politik im 20. Jahrhundert“ 283

(Braunschweig 1984, 43): „Der Gedanke, dass der einzelne Mensch unantastbare Rechte habe, gehört zu den ältesten Leitbildern politischen Handelns. ... Die Idee der Menschenrechte wurde zum ersten Male von den Philosophen der griechisch-römischen Stoa ... entwickelt. Für die stoischen Philosophen ist die ganze Welt, die Natur ebenso wie die Menschen und ihre Schöpfungen, von einer göttlichen Macht durchdrungen. Diese Macht ist die Vernunft.“ Wenn der Mensch ein vernunftgemäßes Leben führe, befinde er sich nicht nur mit seinem eigenen Wesen, sondern auch mit Gott und der Natur in Übereinstimmung (→ 7.7: Was ist das „gute Leben“? Was ist Glück?). Da in jedem Menschen die universelle Vernunft lebendig sei, besitze jeder eine unantastbare Würde und den Anspruch auf Achtung. Es gebe eine Gemeinschaft aller rationalen Wesen, denen bestimmte höchste Rechtsnormen gemeinsam seien, wie sie heute in den unveräußerlichen Menschenrechten zum Ausdruck kämen. Wenn auch nicht bezweifelt werden kann, dass die stoische Reflexion über die Würde des Menschen zu den Quellen der modernen Menschenrechtsidee und unseres Grundgesetzes gehört, so sind doch auch markante Unterschiede nicht zu übersehen. Der ausgesprochen egoistisch-individualistische Charakter der modernen Menschenrechte ist mit dem Sozial- und Pflichtgedanken der antiken Stoa nicht vereinbar. Zwischen der stoischen Pflichtenlehre und dem neuzeitlichen System prinzipieller Rechtsansprüche des Individuums liegen Welten. Die stoischen Philosophen haben natürliche Rechte des Menschen aus der Verwandtschaft aller Menschen miteinander abgeleitet und diese zugleich an entsprechende Pflichten gebunden (→ 7.5: Cicero und die Pflicht zur Tugend). Aber der Einzelne hatte diese Rechte und Pflichten nicht als Individuum, sondern als Teil eines Organismus, der in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Vernunftgesetz zum Wohle aller seiner Glieder funktionieren sollte. Die Grundrechte, das heißt die Artikel 1–19 des Grundgesetzes von 1949, haben zweifellos eine andere Zielsetzung, indem sie eine Grenze 284

zwischen der Freiheitssphäre des Einzelnen und der Zuständigkeit des Staates ziehen. Sie sollen die Freiheitsrechte des Individuums gegen staatliche Gewalt und Willkür schützen. Die Formulierung „Jeder hat das Recht ...“ ist Ausdruck eines emanzipatorischen Individualismus, wie er dem stoischen Menschenbild fremd ist, aber dem rationalistisch-aufklärerischen entspricht, das sich seit dem 17. Jahrhundert zu artikulieren beginnt und vor gut 200 Jahren revolutionäre Praxis wurde. Ähnlich wie die französische Menschenrechtserklärung von 1789 hatte das Grundgesetz von 1949 eine politische Intention: 1789 die entschiedene Abkehr von einem korrupten politischen System mit seinen inhumanen Folgen und 1949 die Wiedergewinnung der Würde jedes einzelnen Menschen nach der moralischen Katastrophe der Hitlerzeit als Ziel staatlicher Ordnung. Die Grundrechte sollten den Freiheitsraum wiederherstellen, der dem Einzelnen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen konnte. Ein gravierender Unterschied zum stoischen Menschenbild ist auch in der Tatsache zu sehen, dass die Grundrechte ausschließlich Rechte, aber keine Pflichten gegenüber anderen Individuen beinhalten. Es ist nicht die Rede von „Menschenpflichten“ (→ 7.5: Cicero und die Pflicht zur Tugend). Die Grundrechte sind keine Inhalte eines Sittengesetzes. Sie sind nur für die staatlichen Institutionen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung bindend. Der Einzelne hat den Anspruch darauf, dass ihn staatliche Gewalten in der Wahrnehmung seiner Grundrechte nicht behindern. Wer als Einzelner die Grundrechte eines anderen unter einem strafrechtlichen Aspekt verletzt, hat mit staatlichen Sanktionen zu rechnen. Unter diesem Gesichtspunkt haben die Grundrechte keine moralische Qualität, da sie es nicht der freien Entscheidung des Einzelnen überlassen, sie zu achten oder sie zu verletzen. Ebenso wenig sind die Grundrechte als sittliche Gebote zu verstehen. Sie treffen keine Aussagen über das Telos des Menschen, beschreiben allerdings Bedingungen und Voraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins. Die Würde des 285

Menschen wird zwar mit einem Katalog verschiedener Rechte näher bestimmt. Dass Menschenwürde aber auch das Resultat eines näher zu beschreibenden Handelns sein könnte, liegt nicht im Horizont des Grundrechtekatalogs. Auch unter diesem Gesichtspunkt stehen die Grundrechte von 1949 in einem deutlichen Gegensatz zu antiken Auffassungen von Menschenwürde, wie sie etwa in der platonischen, aristotelischen oder stoischen Ethik artikuliert sind. Denn dort erreicht der Mensch sein Telos durch ein tugendgemäßes Handeln und die Erfüllung von Pflichten entsprechend der Vernunftnatur des Menschen. Auch wenn nach stoischer Auffassung kein Mensch ein Sklave ist (S&S Nr. 678) oder wenn Cicero (De legibus 1, 29–32) die altstoische Lehrmeinung von der Gleichheit aller Menschen vertritt, so wurden doch daraus keine Rechte mit praktischen Auswirkungen abgeleitet. Obwohl der Mensch als das Maß aller Dinge galt (→ 8.10: Ist der Mensch das Maß aller Dinge?), blieben viele Menschen ihrer Freiheit beraubt, wurden als Ware gehandelt, erniedrigt und ausgebeutet. Die Diskriminierung der Sklaven war und blieb ein wesentliches Element der antiken Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Selbst aus der Einsicht in die Tatsache, dass die Sklaverei eine unmenschliche, menschenunwürdige Institution war, zog niemand den Schluss, zu ihrer Abschaffung aufzurufen. Die Stoiker unterliefen das Problem, indem sie die rechtliche Stellung der Sklaven ignorierten und nur diejenigen als Sklaven betrachteten, die sich selbst aufgrund ihres Fehlverhalten zu Sklaven erniedrigten, und alle anderen zu freien Menschen erklärten, die sich ihre innere Unabhängigkeit von ihren materiellen Lebensbedingungen bewahrten. Wer nominell Sklave war, konnte in Wahrheit ein freier Mensch sein. Wer nominell frei war, konnte in diesem Sinne der niedrigste Sklave (seiner Begierden) sein. Folglich gab es selbst für die stoischen Kritiker der Sklaverei keinen Handlungsbedarf, der sich im Kampf für allgemeine Menschenrechte hätte verwirklichen können. Wahrscheinlich kann man auch davon ausge286

hen, dass der Umgang mit den Sklaven normalerweise nur von einer individuell realisierten Menschlichkeit bestimmt war. Das veranschaulicht nicht zuletzt die Praxis der Freilassung, die im römischen Recht geregelt war. Trotz vieler Zweifel an dem antik-stoischen Ursprung unserer neuzeitlichen Grund- und Menschenrechte ist die Auseinandersetzung mit einem antiken Text sinnvoll, der schon aufgrund seiner Begrifflichkeit auf einen so exponierten Text unserer Tage wie den Grundrechtekatalog verweist und daher die vergleichende Betrachtung geradezu erzwingt. Ciceros Schrift Über die Pflichten liegt eine anthropologische These zugrunde: Der Mensch ist mit dem natürlichen Bedürfnis nach Gemeinschaft ausgestattet, der er aufgrund seiner Existenzbedingungen auch verpflichtet ist. Sein Handeln ist daher sowohl vom Prinzip der Solidarität als auch von Selbstinteresse bestimmt. Sein Problem besteht darin, Solidarität und Selbstinteresse in Übereinstimmung zu bringen, um seiner Natur gemäß zu handeln (→ 3.14: Was ist Natur?). Sein eigener Nutzen muss mit dem Nutzen aller anderen Menschen kongruieren, um sein Handeln als seiner Natur gemäß und als sittlich akzeptabel zu qualifizieren. Das Sittliche (honestum = was honos, allgemeine Anerkennung verleiht) ist dem Einzelnen nützlich, wenn es dem allgemeinen Nutzen dient, der den Nutzen des Einzelnen impliziert. Mit anderen Worten: In dieser Schrift geht es um die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten des richtigen Handelns in der menschlichen Gemeinschaft. Da sich dieser Frage ein denkender Mensch zu keiner Zeit entziehen kann, ist Ciceros Angebot möglicher Antworten zu jeder Zeit bedeutsam. Wenn Cicero in Off. 1 den Standpunkt vertritt, der Natur des Menschen seien die Pflichten, die sich auf die Gemeinschaft (communitas) bezögen, eher angemessen als diejenigen, die sich aus der theoretischen Erkenntnis ableiteten, und wenn er behauptet, dass die theoretische Erkenntnis zwar wichtig, aber doch unvollkommen 287

sei, wenn darauf kein Handeln folge, dann erzwingt diese Aussage nicht nur eine Stellungnahme, sondern auch eine gründliche Prüfung des eigenen Standorts. Als Glieder einer Informationsgesellschaft verfügen wir über ein permanent expandierendes Wissen, aber je mehr wir wissen, desto spürbarer wird unsere Unfähigkeit zum Handeln. In dieser Situation kann eine Darstellung des rechten Handelns, wie sie Cicero getroffen hat, auch heute noch Impulse geben für den Versuch, das Junktim von Informationsüberflutung und Handlungsunfähigkeit zu lösen. Im 3. Buch De officiis setzt sich Cicero mit der Frage auseinander, ob Sittlichkeit und Nützlichkeit divergieren können. Um diese Frage zu beantworten, braucht man ein Entscheidungsmuster, mit dessen Hilfe Klarheit zu schaffen ist. Cicero gebraucht hier den aus dem römischen Recht stammenden Begriff der formula (3, 19): „Deshalb muss, damit wir ohne irgendeinen Irrtum entscheiden können, ein Entscheidungsmuster, ein Maßstab, ein Kriterium, herangezogen werden. Das wird Klarheit schaffen, wenn einmal das Nützliche (utile) mit dem Sittlichen (honestum) nicht im Einklang zu stehen scheint.“ Dieses Kriterium werde mit der Argumentation der Stoiker übereinstimmen (3, 20). Denn dem stoischen Kriterium für das honestum und das utile liege das Begriffspaar „naturgemäß und widernatürlich“ zugrunde. Wenn etwas widernatürlich sei, dann sei es „schändlich und schädlich“. Wenn es naturgemäß sei, dann sei es „sittlich und nützlich“. So ist es nach Cicero widernatürlich, einem anderen Menschen etwas wegzunehmen und auf Kosten eines anderen seinen eigenen Vorteil zu vergrößern, und zwar sei dieses Verhalten in einem höheren Maße widernatürlich als der Tod, die Armut oder der Schmerz. Denn ein naturwidriges Verhalten zerstöre jede menschliche Gemeinschaft. Wenn wir es nämlich hinnähmen, dass jeder um seines eigenen Vorteils willen einen Mitmenschen beraube oder verletze, dann zerreiße er zwangsläufig die menschliche Gemeinschaft. 288

Dennoch darf der Mensch auch sein Eigeninteresse verfolgen, solange er nicht das Interesse eines Mitmenschen verletzt. Das Verbot, durch Beraubung anderer sein Eigeninteresse zu verabsolutieren, wird für Cicero nicht nur durch die Natur, das heißt das Menschenrecht, begründet, sondern auch durch die positiven Gesetze, auf denen in den einzelnen Staaten das Gemeinwesen beruht. Darauf hebt Cicero nochmals hervor, dass „die Vernunft, die das göttliche und menschliche Gesetz ist“ (3, 23), die Schädigung eines Mitmenschen verbietet: Niemals werde es zulassen, dass man Fremdes begehre und das, was man einem anderen wegnehme, sich selbst aneigne. Im Folgenden hebt Cicero nochmals die Widernatürlichkeit der Verletzung eines anderen um des eigenen Vorteils willen hervor. Es müsse für alle Menschen der Grundsatz gelten, dass der Nutzen jedes Einzelnen und der Gesamtheit aller Menschen identisch sei. Wenn jeder Einzelne nur seinen eigenen Nutzen durchsetze, dann löse sich die Gemeinschaft als ganze auf (3, 26). Mit Nachdruck betont Cicero (3, 28), dass das Verbot, anderen Schaden zuzufügen, und das Gebot, anderen zu helfen, für jeden und jedem Menschen gegenüber gelte, „weil er ein Mensch“ ist. (→ 8.7: Tun oder Nichtstun?) Was dem Einzelnen schadet, schadet der gesamten Menschheit. Was dem Einzelnen nützt, nützt allen. Daher dürfen auch das Gemeinwohl und das Wohl des Einzelnen nicht konkurrieren, sondern müssen kongruieren. Zwischen dem Gemeinwohl und dem Wohl des Einzelnen könne es keine Diskrepanz geben, solange der Nutzen aller das Handeln aller bestimme. Ebenso wenig habe das Gemeinwohl einen Vorrang vor dem Wohl des Einzelnen, weil dieses jenem implizit sei. In 3, 26 sagt Cicero ausdrücklich, dass der Nutzen jedes Einzelnen mit dem der Gesamtheit übereinstimme. Die Menschheit ist als Solidargemeinschaft auf die Kongruenz von Gemeinwohl und Eigennutz angewiesen. Die menschliche Solidargemeinschaft umfasst auch alle zukünftig lebenden Menschen. Man kann also nur dann moralisch verantwortlich handeln, wenn man dem Nutzen nicht nur der gegenwärtigen, 289

sondern auch der zukünftigen Menschheit dient (Off. 3, 31). Es ist überflüssig, darauf hinzuweisen, dass unsere gegenwärtige Verantwortungslosigkeit etwa gegenüber Klima und Ressourcen einem krassen Gegensatz zu dieser Forderung steht. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der Grundrechtekatalog des Grundgesetzes betont egoistisch-individualistisch akzentuiert ist, um den Schutz des Individuums vor der staatlichen Gewalt zu gewährleisten. Bei Cicero hingegen korreliert der natürliche Egoismus des Individuums mit seiner Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft, die ihrerseits den Egoismus des Einzelnen auffängt und mit dem Egoismus des Mitmenschen in Einklang bringt. Die freie Entfaltung des Einzelnen darf die freie Entfaltung eines anderen Menschen nicht behindern. Diese „goldene Regel“ entspricht dem Grundgesetzartikel, der jedem das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit garantiert, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt. Der Egoismus des einen hat also sein Korrektiv im Egoismus des anderen. Die Parallele zu Cicero (3, 21) ist evident. Allerdings spricht er nicht vom Recht eines Einzelnen, sondern geht von der Erfahrung aus, dass der Mensch dazu neigt, seinen Vorteil zum Nachteil seiner Mitmenschen zu mehren, und bezeichnet dieses Verhalten als unsittlich. Cicero räumt dem Menschen nicht das Recht auf freie Entfaltung ein, sondern verurteilt seinen skrupellosen gemeinschaftsfeindlichen Egoismus auf fremde Kosten. Er sieht nicht die Notwendigkeit, den Einzelnen vor staatlicher Willkür, sondern vor der Gefahr seiner eigenen sittlichen Entwurzelung zu schützen, die ihrerseits eine Gefahr für die menschliche Gemeinschaft als ganze ist.

8.9 Kann der Mensch sich ändern? Sokrates’ Freund Chairephon – so Platon – habe eines Tages aus einer Laune heraus das Orakel von Delphi gefragt, ob jemand weiser sei als 290

Sokrates. Die Antwort lautete, niemand sei weiser als Sokrates. Diese Aussage habe ihn verwirrt, wie er selbst in seiner Verteidigungsrede vor dem athenischen Gericht erklärte. Denn er sei sich dessen bewusst, dass er keineswegs weise sei. Er habe aber viele Gespräche mit Leuten geführt, die als weise galten. Bei einem Staatmann zum Beispiel, den alle für weise hielten, stellte sich heraus, dass er sich selbst und den anderen zwar weise vorkam, es in Wirklichkeit aber gar nicht war. Durch diese und ähnliche Gespräche habe er sich verhasst gemacht. Bemerkenswert war aber, dass Sokrates’ Gesprächspartner glaubten, etwas zu wissen, ohne tatsächlich etwas zu wissen. Da sei ihm klar geworden, dass er ein klein wenig weiser sei, obwohl er zwar genau so wenig wisse wie diese Leute, sich aber auch nicht einbilde, etwas zu wissen. Diese Einsicht ist die Voraussetzung dafür, dass man die Chance hat, sich zu ändern. Das ist ebenfalls möglich, wenn man den delphischen Imperativ „Erkenne dich selbst“ ernst nimmt (→ 1.3: Erkenne dich selbst). Denn wer sich selbst erkennt, verändert sein Selbstverständnis, weil er sich seiner Begrenztheit und Verletzlichkeit bewusst wird und versucht, sein Leben zu korrigieren. Platon hätte auch sein Höhlengleichnis nicht erfunden, wenn er nicht an die Fähigkeit des Menschen geglaubt hätte, zu lernen und sich zu verändern. (→ 9.8: Höhlengleichnis und Truman Show). Weil Platon die Veränderungsfähigkeit des Menschen sieht, beschreibt er die Erziehung in seinem Staat als eine „Umlenkung des Bewusstseins aus der Finsternis in die Helligkeit“ (Periagogé). Der Mensch ist fähig, das Richtige zu sehen; er sieht nur in die falsche Richtung. Folglich muss sein Blick in die richtige Richtung gelenkt werden (Politeia 7, 518b–519b). Die Veränderungsfähigkeit des Menschen lässt sich auch noch unter einem anderen Aspekt beschreiben: Zenon, der „Vater“ der Stoa, war von der Möglichkeit des moralischen Fortschritts, des „Vorwärtsruderns“, der Prokopé, überzeugt und hielt es daher für notwendig, die „Vorwärtsrudernden“ pädagogisch zu unterstützen. Aber diese optimistische Konzeption ist dann erheblich gefährdet, wenn man die 291

von Cicero für Chrysipp und seine Nachfolger bezeugte Auffassung vertritt (Cicero, Fin. 4, 21), dass die Unvernunft aller Menschen, die Ungerechtigkeit und andere Fehler einander ähnlich oder gar gleich seien. Denn selbst diejenigen, die durch ihre Naturanlage und ihre Bildung einen großen Vorsprung in Richtung Tugend errungen hätten, befänden sich immer noch in einem elenden Zustand, wenn sie diese nicht schon vollständig erreicht hätten, und zwischen ihrem und dem Leben der größten Verbrecher bestehe grundsätzlich kein Unterschied. Da es einem Durchschnittsmenschen nur selten gelingt, ein Weiser zu werden, muss er seine Rolle unverändert weiterspielen. Auch wenn sich im Laufe der Zeit sein Fehlverhalten verringert und seine Chancen, weise zu werden, vergrößern, bleibt er von der Weisheit getrennt. Cicero veranschaulicht die stoische Lehrmeinung von der Gleichheit oder Gleichwertigkeit aller Verfehlungen an einem Beispiel (Fin. 3, 48): „Wie nämlich diejenigen, die im Wasser untergegangen sind, genau so wenig atmen können, ob sie sich auch nur ein kleines Stück unter der Wasseroberfläche befinden und unverzüglich auftauchen können, oder ob sie schon in die Tiefe gesunken sind, und wie ein junger Hund, der schon dicht davor steht, sehen zu können, nicht besser sieht als einer, der gerade erst geboren wurde, so verharrt selbst derjenige, der schon eine erhebliche Wegstrecke in Richtung Tugend zurückgelegt hat, um nichts weniger im Elend als derjenige, der noch keinen Schritt in dieses Richtung gegangen ist.“ Cicero verwendet noch ein weiteres Beispiel (Fin. 4, 76), um die Fragwürdigkeit dieses rigiden stoischen Dogmas zu verdeutlichen: Ein Steuermann – so die Stoiker – begehe zwar denselben Fehler, ob er nun ein Schiff mit Spreu oder ein Schiff mit Gold kentern lasse; ebenso handle auch derjenige, der seinen Vater schlage, genauso ungerecht wie derjenige, der einen Sklaven ohne Grund auspeitsche. Hier wird darauf hingewiesen, dass die genannten Fehlhandlungen nur darin gleich sind, dass sie Fehlhandlungen sind, nicht aber dass 292

alle Fehlhandlungen gleich sind. Das entspricht auch Senecas Auffassung, der in De clementia 1, 6, 3 die These von der Gleichheit aller Verfehlungen ablehnt. Denn es habe zwar mit der Kunst des Steuermannes nichts zu tun, um was für eine Schiffsladung es sich handele. Ob das Schiff also Gold oder Spreu transportiere, sei für seine gute oder schlechte Führung bedeutungslos. Aber worin ein Vater und ein armseliger Sklave sich unterschieden, das könne und müsse man berücksichtigen. In welchem Zusammenhang ein Fehler gemacht werde, habe im Blick auf die Führung eines Schiffes keine, im Blick auf die Erfüllung einer Pflicht aber eine große Bedeutung. Denn wenn ein Schiff beim Navigieren durch Fahrlässigkeit zum Kentern gebracht werde, so sei die Verfehlung beim Verlust von Gold größer als beim Verlust von Spreu. Denn bei allen Fähigkeiten wollten wir doch, dass auch noch die Verantwortung für ihre Auswirkungen auf die Mitmenschen hinzukomme, der man gerecht werden müsse, wenn man einen bestimmten Beruf ausübe. Demnach seien in dieser Hinsicht nicht alle Verfehlungen gleich. Für den Römer Cicero versteht es sich also von selbst, dass bei der Verletzung moralischer Gebote oder beim Verlust materieller Werte ein gradueller Unterschied bestehen kann. Die Stoiker aber übten weiter Druck aus und gäben in nichts nach. Da jede Verfehlung auf Schwäche und Haltlosigkeit beruhe, diese Fehler aber bei allen Nicht-Weisen gleich groß seien, müssten auch die Verfehlungen gleich sein (Fin. 4, 77). Selbstverständlich kann Cicero der Aussage nicht zustimmen, dass alle Fehler gleich groß seien. Wäre dies der Fall, dann gäbe es keinerlei Veränderung (zum Guten). Außerdem bliebe der Unterschied zwischen den Dingen (oder Menschen) unberücksichtigt, auf die sich die Verfehlungen auswirkten. Es sei also nicht zu bestreiten, dass die Größe oder die Geringfügigkeit der Verfehlungen auch von der Größe oder Geringfügigkeit der Dinge abhänge, an denen sie begangen würden. Dieser Feststellung hätten wohl auch die Stoiker nicht widersprechen können; allerdings haben sie auch nie behauptet, dass alle Fehlhandlungen substanziell (einschließlich ihrer Folgen und Aus293

wirkungen) gleich seien, sondern dass sie nur darin gleich seien, dass sie eben Fehlhandlungen seien. Wie ist es dann aber zu erklären, dass die Stoiker ihre oben erwähnte Überzeugung vertreten, Tugend und Laster seien absolute Größen, die keine Steigerung oder Minderung zuließen, sodass es ausgeschlossen sei, dass der Mensch sich ändere? Die Antwort ist für die Stoiker einfach: Wenn Wahres nicht wahrer sein kann als ein anderes Wahres, dann kann auch Falsches nicht falscher sein als ein anderes Falsches. So ist auch keine Lüge größer oder kleiner als eine andere Lüge und kein Fehler größer oder kleiner als ein anderer. Cicero spiegelt diese Auffassung in seinen Paradoxa Stoicorum (20–22), und in seiner Rede Pro Murena (61) macht er seinen Prozessgegner Cato als Anhänger der Stoa lächerlich, indem er auf die stoische Position hinweist, die seine Zuhörer offensichtlich als abwegig ablehnen: „Es gab nämlich einmal einen hochbegabten Mann: Zenon. Die Anhänger seiner klugen Einfälle heißen Stoiker. Seine Grundsätze und Vorschriften sind folgende: Ein Weiser lasse sich niemals von Nachsicht bewegen, niemals verzeihe er jemandem ein Vergehen. Er habe auch kein Mitleid, das nur der Tor und der Leichtsinnige hätten. Es sei nicht die Art eines Mannes, sich durch Bitten erweichen und beschwichtigen zu lassen. Allein die Weisen seien schön anzusehen, auch wenn sie noch so verwachsen seien, reich, auch wenn sie wirklich arm seien, Könige, auch wenn sie in Sklaverei lebten. Doch wir, die wir keine Weisen sind – das behaupten die Stoiker, sind Flüchtlinge, Verbannte, Feinde und schließlich sogar Wahnsinnige. Jedes kleine Vergehen sei ein ruchloses Verbrechen. Wer ohne Notwendigkeit den Hahn auf dem Misthaufen töte, begehe kein geringeres Verbrechen als einer, der seinen Vater umbringe“ (S&S Nr. 646). Weil diese Sicht der Dinge jeden differenzierenden Blick auf moralisches Handeln unmöglich macht, kann es für die Stoiker auch keine Veränderung zum Guten hin geben. Auch Plutarch stellt später in seiner Schrift Über den Fortschritt in der Tugend (75 A–86 A) fest, dass die stoische Gleichsetzung aller 294

Verfehlungen die Möglichkeit des moralischen Fortschritts grundsätzlich ausschließe. Gleich am Anfang der genannten Schrift (76 A) weist er auf gravierende Probleme dieses stoischen Dogmas hin: Es sei abwegig, alle Menschen mit Ausnahme des vollkommenen Weisen als fehlerhaft einzustufen und geringen Verfehlungen dasselbe Gewicht zu geben wie den Untaten des schlimmsten Verbrechers. Es versteht sich von selbst, dass diese stoische Doktrin, die dem gesunden Menschenverstand widerspricht, auch mit dem Bildungsoptimismus zum Beispiel des Christen Clemens von Alexandria am Anfang des dritten Jahrhunderts nicht zu vereinbaren ist. Denn Clemens bestätigt Ciceros Auffassung: „Nicht von Natur aus, sondern durch Lernen werden tüchtige Menschen tüchtig, wie Ärzte und Schiffsführer. … Dass aber die einen so, die anderen so von Natur aus zur Tugend veranlagt sind, beweisen bestimmte Taten, die diejenigen, die von Natur aus so veranlagt sind, für andere Menschen leisten. Sie lassen aber nicht im geringsten erkennen, dass tugendhafte Vollkommenheit nur bei den von Natur aus besser Veranlagten vorhanden sein kann. Denn auch die zur Tugend schlechter Veranlagten schaffen es in der Regel, sittliche Persönlichkeiten zu werden, wenn sie eine entsprechende Erziehung genossen haben. Es kann sogar Folgendes eintreten: Die gut Veranlagten werden schlecht, wenn sie ihre Veranlagung vernachlässigen. Gott hat uns als von Natur aus gemeinschaftsliebende und gerechte Wesen erschaffen, sodass man auch nicht sagen kann, dass das Gerechte nur durch Vereinbarung in Erscheinung tritt. Man muss vielmehr annehmen, dass das Gute der Schöpfung durch das (von Menschen geschaffene) Gesetz wieder auflebt und sich die Seele, wenn sie durch Lernen gebildet ist, stets für das Schönste und Beste entscheiden will (S&S Nr. 599).“ Clemens von Alexandria könnte in dieser Hinsicht auch schon von Aristoteles beeinflusst worden sein: Ein Mensch werde anständig und tüchtig, wenn er drei Dinge habe und pflege: natürliche Veranlagung, Gewöhnung und Verstand. Die Gewöhnung (ethos) hielt Aristoteles für besonders 295

wichtig, weil sie viel Zeit benötigt, um sich nachhaltig auf die Veränderung des Menschen auszuwirken (Politik 7, 1332 a 35–36). In der stoischen Schule gibt es auch andere Stimmen: Wenn die Tugend lehrbar ist, kann es auch moralischen Fortschritt geben. Diogenes Laërtius (7, 91) beruft sich in dieser Frage auf stoische Autoritäten: Hier wird tatsächlich eine Veränderung im „Reich der Unvernunft“ für möglich gehalten und die „mittleren“ Handlungen als das Betätigungsfeld bestimmt, auf dem sie sich ereignet. Die „mittleren“ Handlungen sind, wie der Name schon sagt, zwischen den vollkommenen „Tugendhandlungen“ und den schlechten, moralisch verwerflichen Handlungen angesiedelt. Wenn es auch keine guten Handlungen im Sinne der vollkommenen Tugend sind, so sind sie doch wertvoll und für das tägliche Leben im Reich der Unvernunft von größter Bedeutung. Auf ihnen beruht die Moral des Menschen im Alltag. Die seltsam anmutende stoische Lehrmeinung, dass die schnelle und überraschende Veränderung des Minderwertigsten zum Tugendhaftesten sozusagen über Nacht erfolgen kann und dass der Betroffene selbst nichts davon merkt, hält Plutarch für abwegig. Er kann das überraschende Überspringen der Grenze zwischen Minderwertigkeit und Tugendhaftigkeit nicht nachvollziehen. Dass der Weise dabei „sich selbst verborgen“ bleibt, ist für ihn unvereinbar mit dem langwierigen Prozess des sittlichen Fortschritts. Aber der Stoiker könnte systemimmanent folgendermaßen argumentieren: Der Weise darf gar nicht merken, dass er plötzlich weise geworden ist, weil er darüber Freude empfände und das heißt einen Affekt zulassen würde, der seine Weisheit wieder aufheben würde. Freude darf er nur empfinden, solange er sich auf dem Weg zur Weisheit befindet. Nur im Reich der Unvernunft darf er sich über jeden Fortschritt in der Minimierung seiner Unvernunft freuen; im Reich der Weisheit gibt es den Affekt der Freude nicht. Das ist zwar Gedankenspielerei, zeigt aber, dass die Stoiker in der Frage nach der Veränderbarkeit des Menschen keine konsensfähige Einsicht gewannen. Es ist bis heute offen, 296

ob sich der Mensch unter anderem aufgrund seiner genetischen Fesseln ändern kann. Dennoch gibt es bis heute Befürworter und Gegner des Veränderungsoptimismus oder des Veränderungspessimismus. Die Diskussion bleibt bis heute ergebnisoffen, vielleicht weil die Frage der Veränderbarkeit des Menschen zu den Kernfragen unseres Selbstverständnisses gehört. Würde sich Thukydides an dieser Diskussion beteiligen, so bestünde er vermutlich darauf, dass sich der menschliche Charakter niemals ändert, und er hätte eine Vielzahl von Beispielen zur Hand (→ 8.11: Gibt es den gerechten Krieg?).

8.10 Ist der Mensch das Maß aller Dinge? Ein eindeutiges Bekenntnis zum Anthropozentrismus legten schon die Sophisten ab, indem sie den Menschen mit dem Homo-MensuraSatz des Protagoras zum Fokus des Weltgeschehens erklärten (VS 80 B 1): „Der Mensch ist das Maß aller Dinge (chrēmata), der seienden, wie / dass sie sind, der nicht-seienden, dass sie nicht sind.“ Dieter Lau 2000 weist mit Recht darauf hin,296 dass das Substantiv (chrēma) durch seine Verwandtschaft mit dem Verb chrēsthai („gebrauchen“) und dem Adjektiv chrēsimos („brauchbar“) nicht einfach „Ding“ bedeutet. Vielmehr ist es ein Ding, das der Mensch „in Gebrauch nimmt“. Es handelt sich bei den „Dingen“ des HomoMensura-Satzes also um die Dinge der Welt in Relation zu dem Menschen, der sie gebraucht. „Dadurch, dass der Mensch den Dingen der Welt gegenübertritt, sie wahrnimmt, erfasst, näherhin im Gebrauch über sie verfügt, formt er sie zu seiner, das heißt zu der auf ihn bezogenen Welt um. Er wird zum Maßstab, zur Instanz über sie. … Dieses anthropozentrische Weltbild begriff den Menschen … als das Lebewesen, das die ihm vorliegende reale Welt in seinem Sinne zu einer ‚Welt’ für sich umprägt, indem es von ihr … Gebrauch macht. … Mit dem Gedanken des Gebrauchs als der Kategorie, die das Verhältnis 297

des Menschen zu den Dingen der Welt festlegt und den Status des Menschen als der seine Welt bemessenden Instanz bestimmt, hat Protagoras eine zentrale, später von Aristoteles, Xenophon, insbesondere aber von der Stoa und dem frühen Christentum ausgeformte und bereicherte und in der Folgezeit weitergereichte Denkfigur des Anthropozentrismus eingeführt“ (Lau 2000, 34 f.). Eine frühe Interpretation des sophistischen Homo-Mensura-Satzes findet man in einem Gespräch zwischen Sokrates und Theaitetos (Theaitetos 151e–152c). Sokrates meint, sein Gesprächspartner habe keine schlechte Aussage über das Wissen getroffen, sondern dieselbe, die auch Protagoras vertreten habe, indem er behauptete, das Maß aller Dinge sei der Mensch, der seienden, dass / wie sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind. Sokrates fragt Theaitetos, ob er glaube, dass Protagoras damit meine, „dass alles so ist, wie es mir erscheint, und so auch dir, wie es dir erscheint“. Denn „dürfte nicht manchmal, obwohl derselbe Wind bläst, der eine von uns frieren, der andere nicht? Und der eine nur ein wenig, der andere sehr? Werden wir dann sagen, dass der Wind an und für sich kalt oder nicht kalt ist? Oder werden wir Protagoras vertrauen, dass der Wind für den Frierenden kalt ist, für den nicht Frierenden aber nicht?“ Erscheinung und Wahrnehmung seien also im Falle des Warmen und aller anderen Zustände dieser Art so, wie der Wahrnehmende sie wahrnehme. Denn wie jeder es wahrnehme, so scheine es auch jedem Einzelnen zu sein. Etwas später (Theaitetos 165e–167d) setzt Sokrates seine Interpretation des Homo-Mensura-Satzes fort, indem er unter anderem Beispiele für die Dinge gibt, für die der Mensch das Maß ist: Es sind sinnliche Empfindungen und sittliche Werte. Der Sophist Protagoras meint also offensichtlich keine konkreten (materiellen) Dinge, sondern die Prädikate, die man den Dingen aufgrund von Vorstellungen und Empfindungen zuschreibt. Der Mensch ist kein Maß oder Maßstab für die Dinge als solche, sondern nur für die Einschätzung und Bewertung dieser Dinge. Der Satz des Protago298

ras besagt also nicht, dass der Mensch über die Existenz oder Nichtexistenz der Dinge entscheidet („dass sie sind“). Aber er ist in der Lage, ein Urteil über ihre sinnlichen Qualitäten zu fällen („wie sie sind“). Der Akzent liegt auf dem Messen und Bewerten der Dinge, nicht auf einem Urteil über ihr Sein oder Nichtsein. Denn wenn man die Dinge wahrnimmt, existieren sie auch; aber ihre Bewertung ist Sache des wahrnehmenden Menschen. Wenn Protagoras den Menschen zum Maßstab erklärt, dann meint er nicht den Menschen als Gattungswesen und auch nicht den bindungslosen Einzelmenschen, sondern den Menschen als Glied einer durch einen spezifischen Nomos (Gesetz, Sitte, Brauch) geprägten Gesellschaft. Der Satz des Protagoras, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, konnte auch dazu dienen, moralisches Handeln zu bewerten. Das bedeutete zwar die entschiedene Abkehr von metaphysisch-religiösen Gründen für moralisches Handeln,297 war aber keine Aufforderung zu einem schrankenlosen Subjektivismus. Die sophistische Leugnung allgemeingültiger sittlicher Normen impliziert vielmehr die Aufforderung zu einer aufgeklärt-rationalen Begründung des Handelns. Die Vernunft soll die alleinige Berufungsinstanz sein. Es ist demnach nicht angemessen, von einer Relativierung der Moral durch den Satz des Protagoras zu sprechen. Die Feststellung, dass „der Mensch das Maß der Dinge“ ist, schließt die Möglichkeit ein, die Einschätzung und Beurteilung der Dinge zu verändern, sobald man die entsprechenden Fähigkeiten gewinnt oder vermittelt bekommt. Aber dann ändern sich nicht die Dinge oder die Tatsachen an sich, sondern die Fähigkeit, die Dinge subjektiv wahrzunehmen. So erreicht es der Arzt mit Hilfe der Medizin, die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen zu beeinflussen, und der Sophist kann dies mit Hilfe vernünftiger Worte. Das bedeutet zugleich, dass jeder einzelne für sein Handeln auch dann verantwortlich bleibt, wenn man das Maßgebende mit Hilfe der Vernunft kollektiv ausgehandelt und vereinbart hat. Der HomoMensura-Satz thematisiert also die andauernde Verantwortung des 299

einzelnen für die Wahrnehmung und Beurteilung der Vorgänge oder Gegebenheiten, mit denen er so umgehen soll, dass sie ihm und anderen nützlich sind. Wenn der Mensch das Maß ist, dann ist seine Bereitschaft, für sein Handeln die Verantwortung zu übernehmen, auch ein zeitloser Wertbegriff.

8.11 Gibt es den gerechten Krieg? In dem Fernsehfilm-Dreiteiler (März 2013) Unsere Mütter, unsere Väter sagt einer der Akteure, der Soldat Friedhelm, den folgenden Satz: „Der Krieg wird bei uns allen nur das Schlechteste zu Tage bringen.“ Der Film ist ein Exemplum nicht nur für diesen Satz, sondern auch für die Feststellung des Thukydides (3, 82), dass der Krieg der „gewalttätige Lehrmeister“ ist, der die zerstörerischen Elemente des „Menschlichen“ freisetzt. Thukydides vertritt hiermit die Auffassung, dass der Mensch im Krieg „in ein anderes Kräftefeld mit anderen Gesetzen“ eintritt, „wo er auch anders handeln muss“.298 Das „Menschliche“, das sich nicht verändert, ist für Thukydides die geschichtsprägende Kraft (→ 8.9: Kann der Mensch sich ändern?). Er definiert es als ein konstantes Verhaltensmuster,299 das im Gegensatz zu Herodots „theonomer“ Geschichtsdeutung steht. Aus der „typisch menschlichen“ Überzeugung vom „Recht des Stärkeren“ ergibt sich auch der Kriegsgrund für den Peloponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta: die Rivalität der Großmächte. Offensichtlich will Thukydides am Beispiel dieses Krieges – wiederum im Gegensatz zu Herodot – nachweisen, dass geschichtliche Abläufe durch die Wirksamkeit des „Menschlichen“ und nicht durch „höhere Mächte“ zu erklären seien. Aber Thukydides will auch das Leid bewusst machen, das der Krieg immer wieder über die Menschen bringt. Ein erschütterndes Beispiel ist der Melierdialog (5, 84–116), der die Verhandlungen zwischen 300

Athen und der um Neutralität bemühten Insel Melos und den totalen Machtanspruch der athenischen Polis drastisch veranschaulicht.300 Offensichtlich ist die Unveränderlichkeit des menschlichen Wesens, „das Menschliche“, gerade in der Dimension der Unmenschlichkeit das eigentliche Thema des Thukydides, das er an konkreten geschichtlichen Ereignissen als ein zeitunabhängiges, dauerhaftes Merkmal allen Geschehens veranschaulicht. So zeigt sich der Nutzen des Geschichtswerkes in der rückhaltlosen und zynischen Entlarvung des menschlichen Charakters. Wenn man Thukydides ernst nimmt, konnte er den Krieg, der die negativen Eigenschaften des Menschen freisetzt, niemals für gerecht halten. Hinzu kommt noch, dass es keine Nachrichten aus einem Krieg gibt, die als wahr gelten dürften. Bei seinen eigenen Recherchen über den Verlauf des Krieges musste er immer wieder erfahren, dass die Zeugen der Ereignisse niemals dasselbe über dasselbe sagen, sondern wie es ihren Sympathien für die eine oder die andere Seite und der Leistungsfähigkeit ihres Gedächtnisses entspricht (1, 22, 3). Wie kann dann ein Krieg als „gerecht“ bezeichnet werden? Das Theaterstück Letzter Gast (Uraufführung 28.01.1996 in den Münchner Kammerspielen) von Herbert Achternbusch spielt während des Peloponnesischen Krieges, und Thukydides ist der letzte Gast, der am Ende des Stückes eine Rede gegen die Todesstrafe hält. Im Programmheft erklärt Achternbusch, er habe diese Rede „wortwörtlich“ übernommen. Sieht man genauer hin, so wird man im Werk des Thukydides zwar keine entsprechende Rede des Autors selbst finden, aber immerhin lässt er den ansonsten unbekannten Politiker Diodotos seine Argumente gegen die Todesstrafe darlegen (3, 42–48, bes. 45–46). Dieser appelliert an seine Zuhörer, dass man, statt auf die abschreckende Wirkung der Todesstrafe zu setzen, doch lieber ein Unrecht hinnehmen solle, statt diejenigen zu vernichten, die zu schonen für die Stadt Athen nützlicher sei. Für jemanden, der die Kategorie „nützlich oder nutzlos“ benutzt, um Grausamkeit zu 301

akzeptieren oder abzulehnen, ist die Frage nach der Gerechtigkeit des Krieges bedeutungslos. Und wie kann schließlich ein „gewalttätiger Lehrmeister“ überhaupt gerecht sein?

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9. Spielen mit antiken Motiven Spielen kann sehr ernsthaft sein. Man sollte es jedenfalls ernstnehmen. Es ist eine Möglichkeit, dem Leben Sinn zu geben. Die antiken Motive, von denen in diesem Kapitel die Rede sein soll, sind Spielereien mit ernsthaftem Hintergrund. Wir strengen uns an, schön zu sein, fragen uns aber nicht, was schön sein eigentlich bedeutet. Wir setzen uns einem Normdruck aus, als ob wir die platonische Idee der Schönheit vom Himmel auf die Erde holen wollten. Wenn die Deutsche Post das Weltmodell des Empedokles und seine vier Elemente mit vier Briefmarken für jede und jeden sichtbar illustriert, fragt man sich unwillkürlich nach dem philosophischen Hintergrund. Nur schade, dass die Verwendung von Briefmarken so stark zurückgegangen ist. Wenn man jeden Morgen vom Berliner Tagesspiegel mit dem Weltgedicht des großen römischen Philosophen Lukrez – wenigstens mittelbar – konfrontiert wird, möchten manche vielleicht sogar ein paar Verse des Dichters lesen oder hören und auch Vergil, seinen großen Verehrer, kennen lernen. Die Truman Show zeigt ein verstörendes, menschenfeindliches Spiel. Aber sie ist immerhin nur ein Spiel wie auch Lukians Star Trek; dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, wie notwendig es ist, die Anspielungen und Hintergründe der phantastischen Erzählung zu klären. Dass alles fließt oder im Fluss ist, mag zutreffen. Aber ist diese Feststellung wirklich ein werbewirksamer Eyecatcher, und wer denkt schon dabei an den „dunklen“ Philosophen Heraklit aus Ephesus? Dass man niemals in denselben Fluss steigen kann, ist eine unserer europäischen Grundwahrheiten. Und dann auf ein Wort: Neigen wir nicht alle dazu, mit Vertrauen und Fairness zu spielen?

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9.1 Was ist Schönheit? Der ZEIT vom 12. Februar 2015 war ein Magazin beigelegt, das sich als „ein Heft über Schönheit“ vorstellte. Da war unter anderem zu lesen, dass Schönheit ungerecht sei, weil sie die Gesellschaft in Bevorzugte und Benachteiligte spalte. Hier geht es vor allem um weibliche Schönheit, die am Beispiel des Topmodels Amber Valetta anschaulich durchdekliniert wird. Dass Schönheit auch Aggressionen hervorrufen kann, veranschaulicht das Märchen von Schneewittchen, das beinahe sein Leben verloren hätte, weil der magische Spiegel das Mädchen zur Schönsten im ganzen Land erklärte und damit den Neid und die Eifersucht seiner Stiefmutter hervorrief. Schönheit ist vielleicht ein aktuelles, aber gewiss kein neues und beileibe kein erledigtes oder abgegoltenes Thema. Die Frage nach den Normen und Maßstäben, an denen Schönheit zu messen ist, wird seit Jahrtausenden erörtert. Zahllose Kunstwerke legen Zeugnis davon ab, dass ein Bedürfnis nach Schönheit besteht und dass immer wieder versucht wird, sie sinnlich wahrnehmbar abzubilden. Aber kann man Schönheit überhaupt messen? Besteht etwa ein gesellschaftlicher Konsens darüber, wer oder was schön ist? Jedermann weiß, dass die Schönheit kein stabiles Phänomen ist. Aber man will sich nicht damit abfinden, dass Schönheit ihre Zeit hat und vergänglich ist. Die antike Mythologie lässt schöne Menschen sogar leiden und unglücklich sterben. Der schöne Jüngling Narcissus geht an seiner eigenen Schönheit zugrunde (→ 5.2: Narcissus und der Narzissmus). Man wüsste zu gern, welcher Maßstab zu dem verhängnisvollen Urteil führte, mit dem der Trojaner Paris die Göttin Aphrodite zur Schönsten erklärte und dafür mit der schönen Helena belohnt wurde (→ 2.11: Die schöne Helena). Dadurch wurde schließlich der Trojanische Krieg ausgelöst. Euripides lässt daher Helena in seiner gleichnamigen Tragödie den Fluch der Schönheit beklagen. 301 Bringe die

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Schönheit auch anderen Frauen Glück, sie, Helena, sei durch ihre Schönheit vernichtet worden und mit ihr ganz Troja. Viel später tritt uns die schöne Hetäre Phryne vor Augen. Sie soll dem berühmten Bildhauer Praxiteles für seine Aphrodite von Knidos und dem Maler Apelles für seine Aphrodite Anadyomene Modell gestanden haben. Aber dann wurde sie in Athen wegen Gottlosigkeit vor Gericht gestellt, weil sie behauptet hatte, sie sei nicht weniger schön als die Göttin Aphrodite. Sie wurde von ihrem Geliebten, dem Redner Hypereides, mit Erfolg verteidigt. Er plädierte unter anderem mit dem Argument, eine Frau, die so schön sei wie Phryne, könne nur unschuldig sein. Und dabei soll er Phryne zur Demonstration das Kleid herunter gerissen haben,302 und das Gericht war überzeugt, ohne dass geklärt worden wäre, nach welchem Maßstab die Richter die Schönheit der Hetäre beurteilten. Macht Schönheit etwa sprachlos? Das hätte Sokrates energisch bestritten. Im platonischen Gorgias führt er aus (474c–476e), dass echte Schönheit wahre Lust und wirklichen Nutzen schafft, und nur was Lust und Nutzen erzeugt, ist schön. Das ist für ihn das Kriterium. Schönheit muss also als Lust versprechend und nützlich wahrgenommen werden. Sokrates macht dies mit folgender Feststellung besonders deutlich (475a): „Wenn von zwei schönen Dingen das eine schöner ist, dann überragt es das andere entweder durch eines von diesen beiden, das heißt durch Lust oder Nutzen, oder durch beides, durch Lust und Nutzen eben.“ Im platonischen Phaidros (249d–253c) wird Schönheit durch Wiedererinnerung (anámnesis) an die Idee des Schönen erkannt, die die Seele in ihrer vorkörperlichen Existenz gesehen hat. Schönheit ist also eine Idee; alles was an dieser Idee teilhat oder worin ein Abglanz dieser Idee zu erkennen ist, ist schön. Im Phaidon (100c–d) erklärt Sokrates: „Wenn mir jemand sagt, etwas sei darum schön, weil es ein schönes Äußeres habe, dann nehme ich das so hin und halte mich ganz einfach daran, dass nichts anderes etwas so schön macht wie die Anwesenheit des Schönen an sich oder die Teilhabe an diesem.“ 305

Demnach ist ein Mensch schön, weil das Schöne an sich, die Idee des Schönen, auf irgendeine Weise in ihm vorhanden ist. Wenn man aber das Schöne sucht, dann will man nicht wissen, aus welchen materiellen Bestandteilen es besteht, sondern was das ist, das als besonders schön wahrgenommen wird: Hier geht es also um das Wesen, das Eigentliche, das sich nicht aus dem Sichtbaren ableiten lässt und als sinnlich wahrnehmbar beschreiben lässt. Man will nicht wissen, welche psychologischen oder physiologischen (materiellen) Vorgänge beim Anblick des Schönen ablaufen. Man möchte vielmehr begreifen, worin die Schönheit eines schönen Menschen besteht, was das Ewige, das Unvergängliche, das Gültige, das Eigentliche des Schönen im Gegensatz zum sinnlich Wahrnehmbaren ist – und das ist eben die Idee des Schönen. Unter diesem Gesichtspunkt wird die sinnlich wahrnehmbare Schönheit nicht abgewertet, sondern im Gegenteil: Sie wird enorm aufgewertet. Denn wenn man annimmt, dass die Schönheit an sich in dem sinnlich wahrnehmbaren Schönen anwesend ist und aus diesem hervorstrahlt, geht man ja davon aus, dass dieses am Glanz der Idee der Schönheit teilhat, und wenn man davon überzeugt ist, dass die schöne Erscheinung einen Abglanz der Idee des Schönen erkennen lässt, gesteht man ihr keinen geringeren, sondern einen höheren Wert zu. Im platonischen Symposion erreicht man den Anblick des Schönen an sich nach langem und mühevollem Umgang mit dem sinnlich wahrnehmbaren Schönen. Nur die intensive sinnliche Erfahrung führt zur Schau der übersinnlichen Idee des Schönen. Die treibende Kraft ist der Eros, den der platonische Sokrates als das Verlangen nach dem Schönen und nach einer Zeugung im Schönen definiert. „Wer nämlich diese Sache richtig anfangen will, muss schon als junger Mensch beginnen, auf schöne Menschen zuzugehen, und wenn er es richtig machen will, einen einzigen Menschen lieben und dabei schöne Gedanken haben und hervorrufen. Später wird er erkennen, dass das Schöne, das an der Idee der Schönheit teilhat, bei allen Men306

schen gleich ist und dass es eine große Dummheit wäre, wenn er sich nur zu einem äußerlich schönen Menschen hingezogen fühlte, statt die Schönheit aller Menschen für ein und dieselbe zu halten. Wenn er dies erkannt hat, wird er zu einem Liebhaber aller schönen Menschen, der dann den heftigen Drang nach einem einzigen Menschen für weniger bedeutend hält. Darauf wird er schließlich die seelische Schönheit für herrlicher halten als die körperliche“ (210a–b). Diotima, die geheimnisvolle unbekannte Frau aus Mantineia, auf die sich Sokrates beruft, beschreibt den weiteren Aufstieg zum Schönen: Er beginnt mit der Liebe zu einem einzelnen Menschen und erreicht sein Ziel, wenn er die absolute, ewige und immer mit sich selbst identische Schönheit sieht, an der alles andere teilhat, was schön ist, und dem es seine Schönheit verdankt. Erst dann ist das Leben lebenswert. Diotima erklärt Sokrates, dass dies ganz plötzlich geschieht (210e): „Wer nämlich auf dieser Stufe der Liebe zur Schönheit gelangt, während er schrittweise und richtig manches Schöne betrachtet, wird ganz plötzlich das Ziel seiner Liebeskunst erreichen und ein wunderbares wesenhaft Schönes erblicken – eben das Ziel, lieber Sokrates, dem alle früheren Anstrengungen galten.“ Schönheit entsteht bei Platon übrigens auch durch schöne geometrische Figuren (Philebos 51b). „Denn richtiges Maß (metriótēs) und Ausgewogenheit (Symmetrie) erweisen sich doch wohl überall als Schönheit und Tugend“ (64e). Wenn noch Wahrheit hinzukommt, dann besteht das Gute in der Verbindung von Schönheit, Symmetrie und Wahrheit (65a) (→ 1.4: Nichts zu sehr. Nichts übertreiben). Hier spricht vieles dafür, dass Schönheit für Platon weniger eine ästhetische als eine ethisch-ontologische Kategorie war.303 Einen ganz anderen Begriff von Schönheit vertritt Xenophon, der Schüler des Sokrates: Je besser ein Gegenstand oder Vermögen im Gebrauch seinen Zweck erfüllt, desto wertvoller, nützlicher und zugleich schöner ist er. Schön ist alles, was brauchbar und nützlich ist.304 Darum ist selbst ein Abfalltonne wertvoll und schön, wenn sie zweckmäßig ist 307

(Memorabilien 3, 8). Wenn für Xenophon also die Schönheit einer Sache in ihrer Brauchbarkeit besteht, dann ist sie kein von ihrem Nutzen unabhängiges, rein ästhetisches Phänomen. Der ökonomisch denkende Athener stellt damit seinen Sokrates als Vertreter eines konsequenten Utilitarismus dar (→ 10.7: Besitzen und Gebrauchen). Auch in Xenophons Symposion setzt Sokrates das Schöne mit dem Brauchbaren und Nützlichen gleich (5, 4). Er will damit sagen, dass sogar er, der scheinbar Hässliche, schöner ist als der schöne Kritobulos. Denn er gebraucht seine Glieder und Organe geschickter als dieser. In den Memorabilien (3, 19, 9–15) steht die Euchrestie („die gute Brauchbarkeit“) im Mittelpunkt des Gesprächs, das Sokrates mit dem Panzerschmied Pistias führt: Wenn der Panzer seinem Besitzer passt, erfüllt er das Kriterium der Euchrestie. Daher sollte man sich auch keinen bunten oder vergoldeten Panzer kaufen. Er wäre nur dann wirklich schön, wenn er im Kampf seinen Zweck erfüllte. Dass weiterhin Klärungsbedarf herrscht, zeigt eine Notiz des älteren Plinius (Naturalis historia 34, 55): „Polyklet verfertigte eine Statue, welche die Künstler als Kanon (Maßstab, Muster, Modell) bezeichnen; und aus diesem Kanon leiten sie die Grundregeln der Kunst wie aus einer Art Gesetz ab. Ihm allein unter den Menschen wird zuerkannt, die Kunst als solche an einem Kunstwerk demonstriert zu haben.“ Spätere Künstler leiteten aus Polyklets Kanon die Kriterien der Schönheit ab (unter anderem die noch heute für Schönheitswettbewerbe maßgebende Proportionalität des weiblichen Körpers). So orientieren sich diejenigen, die aktiv oder passiv an Schönheitswettbewerben teilnehmen, an einem Kanon, wie ihn Polyklet geschaffen hat. Die äußere Schönheit, die sich etwa auch an den Proportionen des 90:60:90-Ideals der weiblichen Figur ablesen lässt, ist aber bei der Wahl der „Miss World“ durch „innere Werte“ zu ergänzen, für die man sich etwa auf Aristoteles berufen kann. Denn dieser benutzte den Begriff des Kanons auch für die Bestimmung des richtigen und guten Handelns. Dieser Kanon der inneren Werte und der äußeren Form 308

bleibt für die Miss World aber nur für ein Jahr gültig. Der Faktor der zeitlichen Dauer kann bei der Bestimmung von Schönheit aus naheliegenden Gründen auch keine Rolle spielen. Der Kanon müsste andernfalls permanent korrigiert werden. Dass Schönheit mit Moral verbunden ist (was schön ist, ist auch gut und umgekehrt), hat zuletzt Ronald Dworkin vertreten:305 Für ihn ist die Schönheit des Kosmos die ästhetische Realisierung des Guten. Daraus ergibt sich für den Menschen die moralische Verpflichtung, in Übereinstimmung mit der Schönheit des Kosmos ein gutes Leben zu führen. Wenn Schönheit die ästhetische Realisierung des Guten ist, dürfte die Fähigkeit, das Schöne zu sehen, eine Quelle der Moral sein. Das männliche Schönheitsideal wurde übrigens von Leonardo da Vinci in Anlehnung an den Homo bene figuratus des römischen Architekten Vitruv (84–27 v. Chr.) geprägt (De architectura 3, 1). In die italienische Ein-Euro-Münze ist die Idealfigur eingeprägt, die Leonardo etwa 1492 gezeichnet hatte. Im platonischen Hippias I, der von dem Schönen handelt, bietet Sokrates (298a) zunächst die folgende Definition an: „Das Schöne ist das Angenehme, das wir mit Augen und Ohren wahrnehmen.“ Er nimmt kurz darauf diesen Definitionsversuch zurück: „Aber ich habe nicht danach gefragt, was den meisten Menschen schön zu sein scheint, sondern was es (objektiv) ist“ (299b). Denn nicht deshalb ist – so Sokrates – das Angenehme schön, weil es mit den Augen wahrgenommen wird; ebenso wäre das Angenehme, das mit den Ohren wahrgenommen wird, nicht deshalb schön, weil es mit den Ohren wahrgenommen wird, sondern weil es schön ist, wird es als angenehm wahrgenommen. Was aber ist das Schöne, das wir als angenehm wahrnehmen und durch das alle schönen Dinge schön sind? Der aporetische Dialog gibt keine Antwort. Alle Definitionsversuche lassen die Frage offen. Was schön ist, bleibt auch hier im Dunkeln. Obwohl die Orientierung an einer Idee des Schönen bis heute maßgebend zu sein scheint, sei an ein frühes Zeugnis dafür erinnert, dass 309

man das Schöne nicht immer als ein objektiv beschreibbares und intersubjektiv vermittelbares Phänomen wahrgenommen hat. Ein Bekenntnis zur subjektiven Wahrnehmung des Schönen und der Schönheit ist Sapphos Wertepriamel: „Die einen mögen ein Reiterheer, die anderen ein Fußvolk oder eine Ansammlung von Schiffen für das Schönste auf Erden halten – ich aber das, was man liebt.“306 Diese Priamel stellt den fremden Auffassungen die eigene mit besonderem Nachdruck entgegen und markiert Subjektivität. Sappho beruft sich allerdings auch auf ein mythisches Paradigma: Helena, die alle Menschen an Schönheit übertraf, ihren Ehemann und ihre Heimat für ihre Liebe verließ (→ 2.11: Die schöne Helena). Sappho sehnt sich nach dem Mädchen Anaktoria: „Ihren leichten Schritt und das helle Leuchten in ihrem Gesicht möchte ich lieber sehen als die Wagen der Lyder und die Kämpfer mit ihren Waffen.“ In den sophistischen Dissoi Logoi (VS 90, 2) wird der subjektivrelative Begriff des Schönen an vielen Beispielen veranschaulicht: Was passend und angemessen ist, ist schön; was situationsgerecht ist und zum richtigen Zeitpunkt geschieht (→ 3.6: Die Gelegenheit bei Schopf packen. → 10.7: Besitzen und Gebrauchen), ist schön; was nicht passt, ist hässlich. Aber was für die einen schön ist, kann für die anderen hässlich sein und umgekehrt. Das bedeutet also, dass dasselbe schön und hässlich sein kann.307 Die Nähe zu Sappho ist spürbar. Stimmt es also doch, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt? Dieser Satz wird zwar mitunter Thukydides zugeschrieben, aber ohne dass man erfährt, wo genau der berühmte Historiker dies gesagt haben soll. Das Fehlen des Kontextes bietet Raum für Spekulation. Soll der Satz besagen, dass es keinen objektiven Maßstab für Schönheit gibt und dass es dem Betrachter überlassen ist, Schönheit subjektiv zu sehen oder zu hören? Soll vielleicht auch darauf hingewiesen werden, dass man es lernen kann oder gar muss, Schönheit zu sehen oder zu hören? Aber auch dann wird man nicht abstrakt behaupten, sondern nur konkret beschreiben können, was man als schön zu sehen gelernt hat. So wird 310

es einem auch nicht entgehen, dass zum Beispiel eine schöne Gestalt, die einem Maler oder Bildhauer zu verdanken ist, eine Komposition aus einer Mehrzahl schöner Details besteht: Sokrates spricht mit dem Maler Parrhasios: „Wenn ihr nun wirklich schöne Gestalten darstellen wollt, dann bringt ihr, da es nicht leicht ist, einen Menschen zu finden, an dem alles tadellos ist, von vielen Menschen zusammen, was an jedem am schönsten ist, und so erreicht ihr es, dass die Körper in jeder Hinsicht schön erscheinen“ (Xenophon, Memorabilien 3, 10, 1–5). Heute erreicht man dies durch Fotomontage und Bildbearbeitung am Computer. Man darf aber nicht übersehen, dass durch diese konstruierte Schönheit ein starker Normdruck erzeugt wird, obwohl man weiß, dass es sich nur um eine synthetische, künstlich produzierte oder durch chirurgische Maßnahmen geschaffene Schönheit handelt. Dennoch versucht man, durch drastische Eingriffe in die körperliche Erscheinung sein eigenes Aussehen „normgerecht“ zu korrigieren. Alle möglichen Details des Körpers, die man man als hässlich wahrnimmt, weil sie dem normalen Maß nicht zu entsprechen scheinen, versucht man durch chirurgische Korrekturmaßnahmen verändern zu lassen. Aber ob man seine körperdysmorphe Störung, seine Dysmorphophobie durch eine Schönheitsoperation wirklich bewältigen kann? Denn es ist fraglich, ob der Schönheitschirurg wirklich im Blick auf die Idee des Schönen sein Handwerk ausübt.

9.2 Gibt es Unendlichkeit im Endlichen? In einem Interview (Z., 29.12.2005) mit John Barrow über die „Unendlichkeit“ beruft sich der Kosmologe mehrfach auf die Antike: „Traditionell unterscheidet man zwei Sorten von Unendlichkeit: die Unendlichkeit im sehr Kleinen und die im sehr Großen. Seit Aristoteles kennt man zudem den Unterschied zwischen der potenziellen und der aktualen Unendlichkeit. Mit der potenziellen konnte Aris311

toteles sehr gut leben. Bei der gibt es eine lange Folge, die niemals aufhört. Etwa die positiven Zahlen 1, 2, 3, 4, 5 und so weiter. ‚Für immer‘ sagen wir und wissen, dass wir immer 1 addieren können und nie zu einem Ende kommen.“308 Das griechische Wort für Unendlichkeit ist Apeiron. Es geht auf den Vorsokratiker Anaximander zurück, der mit diesem Wort die Grenzenlosigkeit des Anfangs bezeichnete.309 Barrow erwähnt auch das Paradoxon des Zenon.310 Die Frage, ob man in endlicher Zeit unendlich viele Dinge tun könne, gehe auf diesen Vorsokratiker zurück: „Wenn Sie durch Ihr Büro gehen, müssen Sie erst das halbe Zimmer durchqueren und dann die Hälfte der restlichen Hälfte und so weiter – eine unendliche Zahl.“ So könne man tatsächlich in endlicher Zeit unendlich viele Dinge tun. In seiner Abhandlung Über die Natur befasst sich Zenon von Elea (VS 29 A 28) laut Aristoteles (Physik 6, 9) mit verschiedenen Problemen der Bewegung, die hier an drei Beispielen vorgestellt werden: Wenn man eine Strecke im Stadion halbiert, kann auch die Hälfte dieser halbierten Strecke wieder halbiert werden und so weiter. Wenn nun ein Läufer sein Ziel erreichen will, muss er zunächst die Hälfte der Strecke durchlaufen, dann muss er die Hälfte der Hälfte durchlaufen und so weiter. Da aber die Strecke auf diese Weise unendlich teilbar ist, ist sie in einer endlichen Zeit nicht zu durchlaufen. Aber diese Behauptung widerspricht zweifellos jeder Erfahrung. Jedermann weiß, dass ein Läufer sein Ziel in einer endlichen Zeit erreicht. Das zeigt, dass die unendliche Teilbarkeit der Strecke für die tatsächliche Bewegung bedeutungslos ist, weil die Rennstrecke nur theoretisch oder potenziell aus unendlich vielen Teilstrecken besteht und nicht wirklich in unendlich viele Teilstrecken zerfällt. Das Problem entsteht, wenn man nicht zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit unterscheidet. Die Unerreichbarkeit des Zieles ist nur dann (theoretisch) gegeben, wenn man eine potenziell unendliche Teilbarkeit zugrunde legt, die aber für die Wirklichkeit der Bewegung bedeutungslos ist. 312

Dasselbe gilt für den paradoxen Fall, dass Achill, der schnellste Läufer der Welt, nicht einmal dann eine Schildkröte überholen kann, wenn diese einen Vorsprung von zehn Metern bekommt, obwohl Achill zehnmal schneller ist als die Schildkröte. Denn der Verfolger muss – theoretisch – den Startpunkt des Verfolgten erreichen, bevor er überholen kann. Die Verfolgte ist dann aber bereits ein kleines Stück vorangekommen. Während Achill auch diese Strecke durchmisst, ist die Schildkröte wiederum ein kleines Stück weiter und so weiter. Immer wird die Schildkröte eine kleine, aber zunehmend kleinere Strecke an Vorsprung behalten. Diese Paradoxie beruht ebenfalls auf dem Spiel mit einer Möglichkeit, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Es geht aber auch hier nicht um einen Gegensatz oder Widerspruch, sondern um zwei verschiedene Sichtweisen, die nicht miteinander vereinbar sind. Der Schluss, dass Achill das langsame Tier nicht einholen kann, ist nur ein plausibles Gedankenspiel – vergleichbar übrigens mit den Gedankenspielen des Xenophanes (→ 10.6: Xenophanes und das Denken des Möglichen und des Unmöglichen). Zenon wollte damit nichts beweisen, sondern nur veranschaulichen, dass bestimmte Annahmen (wenn ... dann), zu paradoxen Schlüssen führen, wenn man sie konsequent durchspielt. Das Paradoxon vom ruhenden Pfeil soll zeigen, dass der fliegende Pfeil nur dann als unbewegt anzusehen ist, wenn man eine bestimmte Annahme gelten lässt: Der fliegende Pfeil befindet sich in jedem Augenblick seines Fluges an einem bestimmten Punkt seiner Flugbahn. Wenn er sich dort befindet, dann ruht er unbewegt an dieser Stelle. Aristoteles (Physik 6, 9, 239 b 5–9) wies bereits darauf hin, dass diese Annahme ein bestimmtes Verständnis von Zeit voraussetzt, dass nämlich die Zeit eine Summe von unendlich vielen Zeitpunkten ist, die ein unendliches Nacheinander bilden. Der Pfeil ruht in jedem einzelnen Punkt, sodass man nicht sagen kann, er fliege in dem Augenblick, wo er sich an diesem Punkt befindet. Dasselbe gilt für die Beschreibung einer Strecke als Aneinanderreihung unendlich vieler 313

Punkte. An jedem dieser Punkte ruht das sich bewegende Objekt, das sich nur fortbewegt, wenn es gewissermaßen von Punkt zu Punkt weiterspringt. Zenon hat dadurch allerdings auch bewusst gemacht, dass etwas gedanklich Mögliches und in sich Plausibles mit der praktischen Erfahrung unvereinbar ist: Achill wird die Schildkröte in wenigen Schriften überholen, auch wenn dies theoretisch nicht möglich erscheint. Als John Barrow gefragt wird, wie er zu einem „unendlich langen Leben“ stehe, antwortet er: „Das kommt darauf an, was man unter ‚Leben‘ versteht. Denken Sie an die Geschichte von dem Menschen, der die Götter um ewiges Leben bat, aber vergaß, auch um ewige Jugend zu bitten!“ Hiermit spielt Barrow offensichtliche auf den Mythos von Eos, der Göttin der Morgenröte, an: Eos erbittet für ihren Geliebten Unsterblichkeit. Zeus erfüllt ihre Bitte. Aber sie vergaß, für ihn auch ewige Jugend zu erbitten. „Tithonos wurde jeden Tag älter und grauer, sein Antlitz wurde runzelig und seine Stimme keifend. Als Eos müde ward, ihn zu pflegen, sperrte sie ihn in ihr Schlafgemach ein, wo er sich in eine Zikade verwandelte.“311

9.3 Empedokles und seine vier Briefmarken von 2011 Nach Empedokles besteht der Kosmos aus den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde: „Zuerst höre von den vier Wurzelstoffen (Elementen) aller Dinge: von dem schimmernden Zeus (= das Feuer), der Leben spendenden Here (= die Erde), von Aidoneus / Hades (das Unsichtbare = die Luft) und von Nestis (= das Wasser), die durch ihre Tränen die irdischen Quellen strömen lässt“ (VS 31 B 6). Durch die beiden einander entgegengesetzten Grundkräfte „Liebe“ und „Hass“, die Empedokles in mythischen Bildern beschreibt, werden Verbindung und Trennung der Elemente, das heißt Entstehen und Vergehen, verursacht. Der Vorgang des Verbindens und Tren314

nens hat also keine in den Elementen selbst liegende Bewegungsursache. Er wird durch die beiden äußeren Kräfte ausgelöst: „Ein Doppeltes werde ich dir verkünden: Bald ergibt sich nämlich ein einziges Sein aus einer Mehrzahl von Bestandteilen; bald trennt es sich auch wieder, um aus Einem in mehrere Bestandteile zu zerfallen. Entstehung und Untergang der sterblichen Dinge haben jeweils zwei Seiten: Denn die Verbindung aller Elemente ist Erzeugung und Vernichtung zugleich. Untergang ist Ausdehnung und zugleich Auflösung, wenn sich die Elemente trennen. Und dieser ständige Wechsel hört nie auf; bald vereinigt sich alles zu Einem durch Liebe, bald trennen sich die einzelnen Dinge im Streit des Hasses. Wie nun so das Eine aus einer Vielzahl und wiederum eine Vielzahl aus dem Zerfall des Einen zu entstehen pflegt, so findet Entstehung statt, und ihr Leben bleibt nicht unverändert. Aber trotz dieses ständigen Wechsels bleiben die Elemente als solche während ihres Kreislaufes stets erhalten“ (VS 31 B 17). Die Liebe lässt aus Vielem Eines und der Hass (Streit) aus Einem Vieles werden. Unter dem Einfluss der beiden Grundkräfte zieht sich die als Kugel gedachte Welt abwechselnd zu einem winzigen Punkt, dem Einen, der maximal verdichteten Weltmaterie, zusammen und dehnt sich dann wieder zu umfassender Größe und Vielfalt aus. Der Kosmos entsteht und vergeht in den Phasen der Ausdehnung und Zusammenziehung, in denen sich die materiellen Teilchen der vier Elemente miteinander verflechten und voneinander trennen. Entstehung und Zerstörung gehören zusammen: Entstehung des einen ist Zerstörung des anderen und Zerstörung des einen ist Entstehung des anderen. Entstehung wird nur durch Zerstörung möglich, Zerstörung hat wiederum Entstehung zur Folge. An diesem Weltmodell soll der Hörer oder Leser des Lehrgedichts sehen, dass auch der Mensch sein Werden und Vergehen diesem Prozess verdankt und nichts weiter ist als ein „Spezialfall des Universums“ (Heinz Munding), der nur für einen kurzen Augenblick im großen Geschehen des Werdens und Vergehens existiert. Aber es 315

gibt – so erklärt es Empedokles seinem Schüler – kein Entstehen aus dem Nichts und kein Vergehen in das Nichts (B 8): „Etwas anderes will ich dir aber noch sagen: Geburt gibt es bei keinem von allen sterblichen Wesen und auch kein Ende im alles vernichtenden Tod, sondern es gibt nur Mischung und Trennung des Gemischten; das wird bei den Menschen Geburt und Tod genannt.“ Die Deutsche Post hat 2011 vier Briefmarken zu 0,55 € den vier Elementen gewidmet: „Seit Menschengedenken bestimmen die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft das Leben der Menschen. Als unverzichtbare Grundlagen des Lebens sind sie in ihren unkontrollierbaren Extremformen als Naturgewalten zugleich aber auch bedrohlich: Das Feuer wärmt und spendet Helligkeit, zerstört aber durch Brand; das Wasser löscht den Durst und ist Lebensraum vieler Tiere und Pflanzen, ist aber durch Flut und Überschwemmungen auch bedrohlich; die Erde lässt Pflanzen wachsen, ist bei Erdbeben aber unerbittlich; die Luft brauchen wir zum Atmen, doch bei Sturm entwickelt der Wind seine zerstörerische Kraft. Bereits früh versuchten Menschen, die Erscheinungen unserer Welt zu begreifen und zu erklären. In der Philosophie des antiken Griechenland entwickelten mehrere Denker die Theorie, dass alles Sein auf den vier Elementen beruht. So beschrieb der Philosoph Empedokles schon im 5. Jh. vor Christus, dass die vier Elemente ewig existierende und unveränderliche Grundsubstanzen seien, die durch Mischung die Vielfalt der Stoffe bildeten. Die Naturwissenschaften haben neue Grundlagen für unser heutiges Denken geschaffen, aber dennoch sind die vier Elemente weiterhin Teil unserer Vorstellungswelt.“312

9.4 Gründe erkennen: Lukrez Der Berliner „Tagesspiegel“, eine auch überregional wichtige Tageszeitung, erscheint jeden Tag unter dem Motto Rerum cognoscere 316

causas. Diese Worte, die man als einen Appell an eine vernünftige Erklärung und Lösung von Problemen verstehen kann, stammen aus den Georgica (2, 490–492) des kaiserzeitlichen Dichters Vergil (70–19 v. Chr.), der hiermit auf das naturphilosophische Werk (De rerum natura) des Lukrez (etwa 95–55 v. Chr.) verweist: „Glücklich ist der Mann, dem es gelang, den Ursprung aller Dinge313 rational zu erfassen, und alle Ängste, das unbarmherzige Schicksal und das Toben des gierigen Acheron überwunden hat.“ Wäre es für Leser und Abonnenten des Tagesspiegels nicht wichtig, etwas über diesen Dichter und sein – erstaunlich aktuelles – Werk zu erfahren, von dem sein Dichterkollege Ovid sagte (Amores 1, 23–24): „Die Lieder des erhabenen Lukrez werden erst dann untergehen, wenn die Welt untergeht“?314 Dennoch waren diese Lieder Jahrhunderte lang vergessen. Es war Poggio Bracciolini, der das Werk 1417 in einer Klosterbibliothek – vielleicht in der Benediktinerabtei Fulda – wiederentdeckte. Heute würde man sagen: Das Werk schlug ein wie eine Bombe, weil es das Weltbild des 15. Jahrhundert zu zerstören drohte: Den göttlichen Mächten wurde jeder Einfluss auf die Welt abgesprochen, die zudem kein Werk eines Schöpfers, sondern die Zusammenballung unzähliger Atome ist. Obwohl Lukrez nicht den Gott des Christentums in Frage stellen konnte, sondern nur an die antik-heidnische Götterwelt dachte, wurde das neu entdeckte Buch sehr schnell verboten, aber vielfach kopiert und gedruckt. Der Römer Lukrez war zwar kein Zeitgenosse Epikurs (→ 4.4: Was ist ein Epikureer?), verfolgte aber als sein treuester Anhänger das Ziel, die Menschheit von Furcht und Angst zu befreien. Das Unheimliche und Erschreckende in der Natur und in der Welt der Götter lässt sich auf nachvollziehbare Ursachen zurückführen. Auch furchterregende Jenseitsvorstellungen sind gegenstandslos, weil sich alle Lebewesen mit dem Tod in ihre Atome auflösen, die sich zu neuen Formen miteinander verknüpfen, ohne dass ein höheres Wesen dies beeinflusst. Es geschieht alles durch Zufall und nicht durch die Vorsehung eines Gottes. 317

Stephen Greenblatt charakterisiert das Werk De rerum natura im Vorwort seines Lukrez-Buches zutreffend als „eine tiefe, therapeutische Meditation über die Todesfurcht“.315 Man möchte hinzufügen:... aber auch der Lebensfreude, wie Epikur sie verstand. Denn „der Tod geht uns nichts an“ (3, 830). Der neue Blick auf die Welt wird auf das Schönste im fünften Buch veranschaulicht, wo Lukrez im Rahmen seiner Beschreibung der vier Jahreszeiten (737–747) vier Verse dem Frühling widmete, die auch Sandro Botticelli zu seinem Gemälde Primavera angeregt haben dürften. „Auf Botticellis Primavera (um 1482)... versammeln sich die antiken Götter in einem üppig grünen Gehölz, alle bewusst eingebunden in die komplexe rhythmische Choreographie der sich erneuernden natürlichen Fruchtbarkeit, wie sie Lukrez’ Gedicht beschwört: Frühling kommt und Venus, und ihnen voraus sind Venus’ geflügelter Bote und Mutter Flora, auf den Fersen folgt ihnen Zephyr, und sie bereiten der Göttin den Weg, verbreiten mit den Blumen herrliche Farben und Wohlgerüche.“316 Hier gelingt es Botticelli, auf engstem Raum zu illustrieren, dass Lukrez die göttlichen Mächte keinesfalls aus dem Weltgeschehen verdrängen wollte. Sie blieben Teil seines naturwissenschaftlichen Konzepts, aber sie sollten nicht mehr Quelle der Angst sein. Botticellis Gemälde wurde im 17. und 18. Jahrhundert „Garten der Hesperiden“ genannt. Denn an den Bäumen hängen goldene Äpfel, die Hera gehören und ursprünglich von einem Drachen und den Hesperiden, den Töchtern des Atlas, bewacht wurden. Der Drache ist verschwunden. Herakles hatte ihn getötet, als er oder Atlas in seinem Auftrag die Äpfel stahl, um sie Eurystheus zu bringen (→ 2.1: Herakles und seine Taten). Aber Athene brachte sie sofort wieder in den Garten zurück, sodass – oder vielleicht damit (?) – Botticelli sie malen konnte. Ob der Maler in den tanzenden Mädchen die drei Hesperiden sah, wissen wir nicht. Gewöhnlich werden sie mit den drei Grazien identifiziert. Links im Bild sorgt der junge Gott Merkur (Hermes) 318

dafür, dass sich die Wolken nicht auf den Garten senken. Rechts weht Zephyrus, der Frühlingswind. Er begehrte die Nymphe Chloris und verfolgte sie. Ovids Festkalender war die Vorlage (Fasti 5, 183–208): Er lässt hier Chloris selbst sprechen und erzählt, dass sie, während sie spricht, Frühlingsblumen aus ihrem Mund hervorströmen lässt. Wir erfahren, dass Zephyrus sie gewaltsam zur Frau nimmt. „Aber er machte die Gewalt, die er mir antat, wieder gut, indem er mich heiratete.“ Er, der Frühlingswind, verwandelte die bleiche Chloris in die bunte Flora. Botticelli malte Chloris und Flora nebeneinander, um den Vorgang der Verwandlung sichtbar zu machen. Als Flora schreitet sie sanft lächelnd über die bunte Wiese.317 Wie bei Epikur sind die Götter bei Lukrez frei von Zorn, Wut und Grausamkeit. Ihre Gegenwart war eine nicht versiegende Quelle der Lebensfreude. Darauf sollte bereits das Proömium des ersten Buches De rerum natura mit seinem Preislied auf Venus und Epikur einstimmen, der die Götter nicht für tot erklärte, sondern eine Religion der Menschenwürde begründete. Botticellis Gemälde feierte Venus nicht anders als Lukrez in seinem scheinbar so „gottlosen“ Werk De rerum natura.

9.5 Amt für Mutmaßungen „Wer Mutmaßungen über den Kosmos anstellt ..., ist nichts anderes als ein Verrückter.“ So lautet das Motto, das die 1968 in Massachusetts geborene Jenny Offill ihrem Roman Amt für Mutmaßungen vorausschickt.318 Die Autorin nennt ausdrücklich Sokrates (→ 4.1: Das Phänomen Sokrates) als Gewährsmann für diesen Satz, und in der Tat sagt Xenophon in seine Memorabilien (1, 1, 11) über Sokrates: „Er unterhielt sich auch nicht über die Natur des Weltalls und fragte nicht, wie der von den Sophisten sogenannte Kosmos seiner Natur nach beschaffen sei ..., sondern erklärte diejenigen, die sich über solche Dinge Gedanken machten, für töricht.“ Dagegen habe er – so 319

Xenophon – seine Gesprächspartner gefragt, ob sie denn schon genug über die menschlichen Dinge wüssten und daher die Zeit hätten, sich mit der Natur und den Himmelserscheinungen zu beschäftigten. Er selbst habe sich immer nur über die menschlichen Angelegenheiten unterhalten und gefragt, was fromm oder gottlos, schön oder hässlich, gerecht oder ungerecht sei und was Besonnenheit und Torheit, Tapferkeit und Feigheit, was ein Staat und ein Staatsmann oder was herrschen oder beherrscht zu werden bedeuteten, weil man unbedingt darüber Bescheid wissen müsse (1, 1, 16). „Ich verbrachte meine Nachmittage in einem Park in der Stadt und tat so, als läse ich Horaz. ... ,Man wechselt durch die Fahrt übers Meer nur das Klima und nicht seine Seele‘.“ Das Zitat stammt aus den Episteln des Horaz (1, 11, 27). Den gleichen Gedanken äußert Horaz auch in den Carmina 3, 1, 36–40, und später findet man ihn bei Seneca, Briefe an Lucilius 28, 1 (→ 8.3: Eskapismus – eine Alternative?). Später spricht die Autorin von einem „Gedankenexperiment, das wir den Stoikern verdanken. Wann man alles leid ist, was man besitzt, muss man sich nur vorstellen, man hätte alles verloren“ (S. 64). Das hätte auch Marc Aurel sagen können (→ Kap. 7.3: Das Vorbild Marc Aurel). Dass man in der Antike gern Gedankenexperimente durchführte, veranschaulicht bereits Xenophanes (→ Kap. 10.6: Xenophanes und das Denken des Möglichen und des Unmöglichen). Der Roman besteht aus einer Folge zahlreicher Aphorismen, die bisweilen in lakonischer Kürze formuliert sind (→ 3.4: Waren die Spartaner lakonisch?). Streckenweise liest sich das Buch wie eine Fragmentsammlung, in der die einzelnen Stücke zum Verweilen auffordern. Jedes Stück spiegelt eine eigene Welt. Sind es vielleicht Tagebuchaufzeichnungen? Warum erwähnt Offill (S. 93) Thales’ Behauptung, die Erde sei eine Scheibe, die im Wasser schwimme, oder Anaxagoras’ Vermutung, der Mond sei eine bewohnte Erde? Und dann wiederum zitiert sie mehrere Verse aus Ovids Ars amatoria 320

(2, 409–414), die dazu raten, einen Fehltritt beharrlich abzustreiten, nachdem sie schon vorher (S. 21) einen Rat Hesiods erwähnt hatte (Erga 699–702): „Wähle unter den Mädchen aus der Nähe, und erwäge jede Einzelheit, damit du nicht zum Gespött der Nachbarschaft wirst.“ (Bei Offill heißt es allerdings: „... damit deine Braut nicht zum Gespött der Nachbarschaft wird.“) Nichts sei besser für einen Mann als eine gute Ehefrau, und kein Schrecken komme einer schlechten gleich. Was haben die Zitate aus der antiken Literatur miteinander zu tun? Rechtfertigen sie das Motto des Romans, dass es unerheblich sei, was sich am Himmel tue, solange man die Dinge auf Erden nicht in Ordnung bringe? Es grenzt an Sarkasmus, wenn Offill (S. 91) mitten in einer Reflexion über menschliches Glück erwähnt, im Jahre 134 v. Chr. habe der berühmte Geograph und Astronom Hipparchos aus Nikaia einen neuen Stern entdeckt. „Bis zu diesem Augenblick hatte er felsenfest an die Unveränderlichkeit des Sternenhimmels geglaubt.“ Diese Entdeckung ist für den antiken Astronomen kein Zeichen dafür, dass sich alles ständig verändert; er will in Zukunft nur sorgfältig überprüfen, ob neue Sterne hinzukommen oder andere verschwinden. Er begreift nicht, was Sokrates hatte sagen wollen, trug aber dazu bei, dass sich das heliozentrische Weltbild des Aristarch von Samos erst in der Neuzeit durchsetzte.

9.6 Panta rhei Klaus Bartels wies einmal auf ein Schiff hin, das seit einiger Zeit unter dem Namen Panta rhei auf dem Zürichsee verkehrt.319 Der kurze Satz „Alles fließt“ wird Heraklit, dem „dunklen“ Philosophen aus Ephesos, zugeschrieben. Schon Platon (Kratylos 402a) sagte, Heraklit habe behauptet, alles weiche und nichts bleibe, und indem er alles Seiende mit einem strömenden Fluss vergleiche, sage er, man könne nicht zweimal in denselben Fluss steigen (Heraklit, VS 22 B 91). 321

Aristoteles greift diesen Gedanken auf (De caelo 3, 1, 298 b 29–33): „Bestimmte Leute behaupten, alles sei ununterbrochen im Werden und im Fluss, und nichts sei dauerhaft. ... Das wollen anscheinend auch viele andere zum Ausdruck bringen, besonders aber Heraklit aus Ephesos.“ In seiner Metaphysik stellt Aristoteles fest (1, 6, 987 a 33 f.) alles Wahrnehmbare sei unablässig im Fluss. Die Kurzfassung dieses Gedankens lautet „Alles fließt“ und findet sich übrigens zum ersten Mal in dem Kommentar des Neuplatonikers Simplikios (ca. 490–560 n. Chr.) zur aristotelischen Physik (8, 8, 265 a 2 ff.). Aristoteles selbst distanziert sich von den Naturwissenschaftlern, die behaupten, alles befinde sich unablässig in Veränderung und im Fluss. Später formuliert Ovid (Metamorphosen 15, 177 f.): „Nichts auf der ganzen Welt ist beständig: Alles fließt (cuncta fluunt).“ Das ist auch der Grundgedanke des römischen Dichters in seinen Metamorphosen (15, 165): „Alles ändert sich dauernd. Nichts geht zugrunde.“ Die Welt in ihrem unaufhörlichen Wandel zu sehen, kann ebenso eine pessimistisch-verneinende wie eine optimistisch-bejahende Lebenseinstellung zum Ausdruck bringen. Dass sich alles wandelt, kann gleichermaßen tröstlich sein, wie zur Verzweiflung bringen. Aber die stets aufeinander angewiesenen und dadurch sich gegenseitig in Spannung haltenden Gegensätze gehören zu Heraklits realistischem Bild von der Welt. Wenn der Logos Gesetzmäßigkeit und Ordnung in der Welt bedeutet, ist sein Gegensatz Gesetz- und Ordnungslosigkeit. Was spricht dagegen, alles Weltgeschehen als harmonisches, aber spannungsreiches Miteinander von Ordnung und Ordnungslosigkeit zu verstehen?

9.7 Lukian und der Star Trek Mit dem Interesse an einem Wissen „um das dauernde Wesen des Menschen“ (Thukydides) kann man Texte jeder historischen Epoche 322

miteinander in Beziehung setzen, auch wenn diese nicht durch einen erkennbaren Rezeptionsakt miteinander verknüpft sind. Danach lassen sich Lukians Wahre Geschichten aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert mit der „Wahrheit“ des in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen Star-Trek-Epos, der Erzählung vom Raumschiff Enterprise vergleichen, weil beide Texte thematisch sehr eng verwandt sind und eine identische „Wahrheit“ vermitteln, ohne in einem erkennbaren Rezeptionsverhältnis zueinander zu stehen. Der Vergleich wird veranschaulichen, dass beiden Texten stabile Handlungs- und Deutungsmuster, Metaphern und Konzepte zugrunde liegen, die unabhängig von ihrer historischen Umgebung in einem „kulturellen Gedächtnis“320 aufgehoben und maßgebend sind für die individuelle und die kollektive Wahrnehmung der Welt und von Generation zu Generation unverändert weitergereicht werden – ganz im Sinne William Faulkners (A Requiem for a nun, 1951): „The past is never dead. It’s not even past.“ Offensichtlich erwirbt der Mensch mit fortschreitender Enkulturation einen Vorrat an Mustern des Spezifisch-Menschlichen, der es ihm ermöglicht, sich sogar mit Menschen im Kontext von Science fiction und Fantasy zu identifizieren, wenn diese eine authentische Wahrheit verkörpern (→ 3.10: Authentizität). Der Vergleich der Wahren Geschichten des Lukian mit dem StarTrek-Epos kann dazu beitragen, den Blick für die Archetypen des Denkens und Deutens zu schärfen. Die Fähigkeit, die Instrumentalisierung allgemein-menschlicher Deutungsmuster, Motive und Konzepte in jeweils aktuellen Kontexten zu identifizieren, ist eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung einer kulturellen (Deutungs-) Kompetenz, die sich nicht mit oberflächlichen Andeutungen und Anspielungen zufrieden gibt, sondern diesen auf den Grund zu gehen versucht. Die Schöpfer des Star-Trek-Epos bedienten sich bestimmter „Konventionen, die vom Zuschauer akzeptiert wurden, und deshalb konnte man dramatische Geschichten erzählen, die von den Leuten an323

genommen wurden, weil sie nicht in den Straßen spielten, in denen sie lebten, sondern ein wenig in die Zukunft projiziert wurden. Auf der gleichen Ebene waren auch unsere Charaktere und deren Konflikte, obwohl es sich um Weltraumfiktionen handelte, in Wirklichkeit menschliche Konflikte.“321 Im Raumschiff Enterprise geht es demnach nicht um die Antizipation einer fiktiven Zukunft (hier: des 23. Jahrhunderts), sondern um spezifisch menschliches Handeln und Verhalten in ungewöhnlichen, zugleich aber auch nachvollziehbaren Situationen. Es ist nicht zu erkennen, dass sich die dargestellten Menschen trotz ihrer großen zeitlichen Distanz von den Menschen der Gegenwart unterscheiden, wenn man einmal von ihrem enormen technischen Fortschritt und der erstaunlichen Ausweitung ihrer technischen Intelligenz absieht. Den Blick auf eine Fortentwicklung auch der moralischen Intelligenz eröffnen allenfalls außerirdische oder künstliche Wesen, die zwar menschenähnlich sind, aber in begrenzten Bereichen übermenschliche Fähigkeiten besitzen, wie zum Beispiel der Vulkanier Spock oder der Roboter Data: Mr. Spock ist zur Hälfte Außerirdischer, ganz dem logischen Denken unterworfen und im wesentlichen ohne Gefühle. Er erscheint als ein Prototyp künstlicher Intelligenz und kommt dem Idealbild des stoischen Weisen nahe. Data ist ein Android mit enormen physischen und intellektuellen Fähigkeiten und Kräften. Diese Wesen, die sich äußerlich von den Menschen ihrer Umgebung fast nicht unterscheiden – Mr. Spock sieht trotz seiner vulkanischen Ohren wie ein Mensch aus –, haben eine utopische Funktion: Sie zeigen ihren menschlichen Partnern neue und partiell wirksamere Handlungsmuster und Strategien der Konfliktlösung. Indem diese „Übermenschen“ wenigstens zu partieller Identifikation einladen, befriedigen sie das Bedürfnis des Zuschauers nach einer Ausweitung existentieller menschlicher Möglichkeiten; eine ähnliche Funktion hat die prinzipiell auf Verstehen und Verständigung zielende Begegnung mit außerirdischen Lebensformen. Hier erweist sich das Utopische als konstruktiv, indem es eine gesell324

schaftskritische Tendenz erkennen lässt. Die Star-Trek-Autoren sahen sich unter diesem Aspekt „in der großen Tradition von Jonathan Swift und Gullivers Reisen“; sie waren davon überzeugt, „ein Niveau an Gesellschaftskritik zu erzielen, das seiner Zeit weit voraus war – und alles nur, weil die Serie die Verzierungen des Phantastischen als Hintergrund benutzte. Star Trek-Geschichten wurden zu moralischen Appellen.“322 Das Bekenntnis zu Jonathan Swifts Travels into Several Remote Nations of the World. By Lemuel Gulliver, First a Surgeon, and Then a Captain of Several Ships (zwischen 1719 und 1726 in Irland entstanden) ist durchaus von Bedeutung, da Gullivers Reisen eine rezeptionsgeschichtliche Brücke zwischen Lukians Wahren Geschichten und Star Trek darstellen dürften. Dass die Akteure und Aktionen im Raumschiff Enterprise nicht nur das Allgemein-Menschliche repräsentieren, sondern sich auch an literarischen oder historischen Gestalten orientieren, gehört zur StarTrek-Konzeption. Aber auch an diesen ist nur das Typische oder Paradigmatische interessant: So sieht Gene Roddenberry, der Schöpfer des Star Trek, im Kapitän des Raumschiffes die populäre Hauptfigur der Romantrilogie Captain Hornblower von Cecil Scott Forester (1937–1939): „Eine lebhafte, komplexe Persönlichkeit, er ist in der Lage, Aktionen durchzuführen und Entscheidungen zu treffen, die ans Heroische grenzen können. ... So wie bei ähnlichen Männern der Vergangenheit (Drake, Cook, Bougainville und Scott) ist seine größte Schwäche die, dass er es bevorzugt zu handeln; die Versuchung, die größten Risiken auf sich zu nehmen“.323 Der Schauspieler William Shatner identifizierte sich als Captain James T. Kirk aber nicht nur mit Horatio Hornblower, sondern sogar mit Alexander dem Großen: „Alexander war die Verkörperung des griechischen Helden. Er war der Athlet und der Intellektuelle seiner Zeit ... ein großer Krieger und ein großer Denker ... Ich entdeckte etwas von Kirk in Alexander.“324 Die Akzeptanz von Science fiction und Fantasy beruht auf der überzeugenden Präsenz des spezifisch Menschlichen. Die Glaubwürdigkeit 325

der Akteure weckt die Bereitschaft des Lesers oder Betrachters, auch das Unwirkliche zu akzeptieren. Die suspension of disbelief – das zentrale Problem von Science fiction und Fantasy – ist letztlich nur aufgrund des paradigmatischen Charakters der Handlungsträger möglich. Das bleibt auch den Darstellern stets bewusst: William Shatner, ein sichtlich älter gewordener Captain Kirk im Film Star Trek II – The Wrath of Khan, muss feststellen: „An einem bestimmten Punkt im Leben eines jeden Menschen ... ist das Leben nicht länger unendlich. ... Ich glaube, es ist ein sehr gutes dramatisches Element, das sich für Star Trek eignet. Man muss diese Elemente benutzen, die alle menschlichen Wesen gleichermaßen betreffen.“325 Wo ist nun der antike Hintergrund? Welche Rolle spielt der Satiriker Lukian im Star Trek? Vieles spricht für die Annahme, dass er seine Wahren Geschichten im zweiten Jahrhundert nach Chr. verfasste, um die Werke der Reiseliteratur und die unglaublichen Geschichten zu parodieren, die über das Wunderbare und das Abwegige erzählt wurden. Diese phantastische Literatur, die vorgibt, Wirklichkeit darzustellen, entstand als eine besondere literarische Gattung in der früh-alexandrinischen Zeit und lebte viele Jahrhunderte lang fort. Aber wichtige Elemente dieser Gattung finden sich schon in der homerischen Odyssee. Die Entstehung dieser Literatur dürfte mit dem Verlust des traditionellen Mythos korrespondieren. Und solange ausgedehnte Reisen seltener stattfanden, war es den Schriftstellern möglich, Schilderungen phantastischer Land- und Seereisen zu veröffentlichen und sie als Tatsachenberichte auszugeben, ohne wirklich fürchten zu müssen, der Lüge überführt zu werden. Lukians Wahre Geschichten stützen sich auf Erzählungen anderer Schriftsteller, geben aber nicht vor, über eine wirkliche Reise zu berichten. Die geschilderten Absonderlichkeiten sind so auffällig und als solche so deutlich erkennbar, dass sie von jedermann als reine Erfindungen verstanden werden können. Das gilt ebenso für moderne Science-Fiction-Literatur und ihre multimediale Darstellung im Film. 326

Dementsprechend setzt Lukian die herkömmliche Reiseliteratur nicht fort, sondern bedient sich der komischen Nachahmung oder Übertreibung einer traditionellen literarischen Form. Die Parodie erreicht ihren Zweck jedoch nicht, wenn der Leser ihre Vorlage nicht kennt. Im Falle der Wahren Geschichten „sind wir unglücklicherweise nicht in der Lage, das Bouquet des guten Weines zu genießen, weil so viele von den Werken verloren sind, die Lukian parodiert“.326 Dennoch ermöglichen uns die spärlichen Reste seiner Vorlagen, wenigstens in einigen Punkten den literarischen Hintergrund zu erkennen. Es gibt jedoch auch Grund zu der Annahme, dass der Autor die Möglichkeit des Lesers, die Vorlagen seiner Parodie zu identifizieren, nicht für besonders wichtig hielt. Allerdings sagt Lukian selbst (1, 2): „Nicht nur die Seltsamkeit des Gegenstandes, meine geistreiche Absicht oder die Tatsache, dass ich Lügen jeder Art mit Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit vorbringe, wird meine Leser begeistern, sondern weil jede Einzelheit meiner Erzählung eine mehr oder weniger komische Parodie auf bestimmte Dichter, Schriftsteller und Philosophen der Vergangenheit ist, die vieles Seltsame und Fabelhafte geschrieben haben. Ich würde sie namentlich zitieren, wenn du sie nicht selbst aufgrund deiner Lektüre wiedererkennen könntest.“ Die intensive Beschäftigung mit Reiseliteratur, phantastischer Literatur und Philosophie ist nur ein Weg unter anderen, die Vorlagen, auf die sich Lukians Parodie richtet, herauszufinden und die Wahren Geschichten besser zu verstehen. Wer weder in der Lage noch bereit ist, die literarischen Objekte der Parodie zu finden, kann den Text ebenfalls lesen und an der Ungewöhnlichkeit seines Gegenstandes, wie Lukian sagt, an seiner geistreichen Absicht und an seinen Lügen jeder Art, die der Autor mit Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit erzählt, seine Freude haben. Aber auch derjenige, der die parodierten Vorlagen finden will, braucht nicht daran zu verzweifeln, dass er alle literarischen Quellen 327

Lukians vielleicht nie mehr entdecken kann. Denn der Autor nimmt ihn bei der Hand, indem er selbst einige Vorgänger namentlich erwähnt (1, 3). Einer von ihnen ist Ktesias, der vieles über Indien und seine Eigentümlichkeiten aufschrieb, was er selbst niemals sah oder von einem anderen als glaubwürdig erzählt bekam. Auch Jambulos schrieb vieles Seltsame über die Länder im großen Meer: Er konstruierte ein Lügengebäude, wie jeder erkennen konnte, aber er schrieb eine Geschichte, die man gern liest. Offensichtlich wird der Leser durch die Anspielung auf Ktesias’ Geschichte über Indien indirekt auf alte indische und orientalische Märchen verwiesen, die die griechische Reiseliteratur und die Paradoxographie lange Zeit beeinflusst haben. Aber die Hauptquelle für Lukians Erzählungen war laut Photius (Cod. 166, 111 b) die Geschichte des Antonius Diogenes (um 100 n. Chr.) mit dem Titel Die unglaublichen Dinge jenseits von Thule. Photius’ Kurzfassung dieser phantastischen Geschichte in 24 Büchern lässt uns vermuten, dass Lukian diesen Roman an mindestens zwei Stellen parodiert: In 1, 9–21, wo er seine Abenteuer auf dem Mond ausmalt, und in 2, 29–31, wo er die „Insel der Übeltäter“ beschreibt. Die Schriften des Ktesias, des Jambulos und des Antonius Diogenes sind weitgehend verloren. Aber während Lukian diese Autoren erwähnt und zitiert, zählt er einige wichtige Merkmale der phantastischen Reiseliteratur auf: (1) Die Autoren schrieben über Gegenstände, die sie niemals selbst gesehen oder von anderen sonst als glaubwürdig erzählt bekommen haben. (2) Die Autoren schrieben über seltsame Dinge. (3) Die Leser sind so stark am Abwegigen interessiert, dass sogar glatte Lügen bei ihnen keinen Anstoß erregen. (4) Hinter den griechischen Texten steht eine alte orientalische Erzähltradition. Lukian erwähnt aber noch „viele andere“, die über ihre imaginären Reisen zur See und zu Lande schrieben, wobei sie über gewaltige Tiere, grausame Menschen und fremdartige Lebensformen erzählten. Ihr Führer und Lehrer auf diesem Gebiet der Aufschneiderei war Homers 328

Odysseus, der Alkinoos, dem König der Phäaken, und seinem Hof von der Knechtschaft der Winde und von einäugigen, kannibalischen und wilden Männern erzählte; er sprach auch von Tieren mit vielen Köpfen und Verwandlungen seiner Gefährten mit Hilfe von Drogen. Und dann tut Lukian so, als ob er sich aufrege über den Unfug, den Odysseus den naiven Phäaken auftischte. (5) Die Erzählgattung der Paradoxographie kommt zum ersten Mal in der Odyssee vor. (6) Die Gegenstände der Geschichten sind nicht nur die ungewöhnlichen, fremdartigen und exotischen, aber wenigstens wahren und möglichen Dinge, sondern auch die unmöglichen, offensichtlich falschen, unnatürlichen, abartigen und frei erfundenen Produkte der menschlichen Phantasie und Einbildung. (7) Der Autor hebt hervor, dass die Verfasser dieser Geschichten auf die Leichtgläubigkeit oder Dummheit ihres Publikums bauen. Lukian hatte an diesen Autoren nicht besonders viel auszusetzen, weil er sah, wie er ohne Bitterkeit sagt, dass diese Art des Lügens die verbreitete Praxis sogar bei den Männern war, die sich zur Philosophie bekennen. Vielleicht ist dies ein Seitenhieb gegen Platons Politeia (10, 614a–616b): Denn hier erzählt Platon die Nekyia, die wunderbare Geschichte von dem toten Mann mit dem Namen Er, der nach seiner Rückkehr in das Leben beschrieb, was er gesehen hatte, während er tot war. Lukian wundert sich aber doch, dass die Philosophen glaubten, sie könnten Unwahres schreiben und würden nicht dabei ertappt. Hier erwähnt er allerdings nicht, dass Platon und die anderen Philosophen den traditionellen oder selbsterfundenen Mythos verwenden, um ihre philosophischen Ideen zu veranschaulichen; sie gebrauchen den Mythos als façon de parler. Und dasselbe tut Lukian, der die phantastischen und paradoxographischen Geschichten der Reiseliteratur als ein Medium verwendet, mit dem er seine eigene Botschaft verkündet, wie später noch deutlich wird. In der Einführung zu seiner Geschichte (1, 1–4) erläutert Lukian seine Absicht (1, 4): „Daher kam auch ich aus eitler Ruhmsucht auf 329

den Gedanken, etwas der Nachwelt zu hinterlassen, um nicht als einziger auf die Privilegien der poetischen Freiheit verzichten zu müssen, und weil ich nichts Wahres zu erzählen hatte, da ich ja auch keine erwähnenswerten Abenteuer erlebt hatte, verlegte ich mich auf das Lügen. Aber mein Lügen ist viel ehrenvoller als ihres, denn obwohl ich in nichts sonst die Wahrheit sage, werde ich wenigstens in der Hinsicht die Wahrheit sagen, dass ich ein Lügner bin.“ So distanziert sich Lukian ebenso von den Lügen der paradoxographischen Literatur, wie er einen neuen paradoxographischen Text verfasst. Anders als seine Vorgänger betont er, dass er über Dinge schreibe, die er weder jemals gesehen, noch selbst erlebt, noch von anderen erfahren habe, über Dinge, die in der Tat überhaupt nicht existieren und ihrem Wesen nach nicht existieren können: „Darum sollten meine Leser diesen Dingen keinesfalls Glauben schenken“ (1, 4). Es spricht einiges dafür, dass der Autor, indem er den Leser auffordert, nicht an diese Dinge zu glauben, und behauptet, dennoch die Wahrheit zu sagen, obwohl er lüge, auf eine andere verborgene Absicht hindeutet: (1) Er erzählt uns, dass er seine Reise bei den Säulen des Herakles beginnt und bei günstigem Wind Kurs hält auf den Ozean im Westen. „Beweggrund und Absicht meiner Reise lagen in meiner geistigen Beweglichkeit und meiner Abenteuerlust“, wie er sagt, „und in meinem Verlangen herauszufinden, wo der Ozean endete und welche Menschen es waren, die auf der anderen Seite lebten.“ (2) Am achtzigsten Tag sahen die Seeleute eine hoch aufragende, bewaldete Insel, wo sie anlegten und an Land gingen. Der Erzähler begab sich mit zwanzig Mann in das Landesinnere, um einen Überblick über die Insel zu bekommen. Die Männer fanden eine Säule aus Bronze, auf der eine griechische Inschrift angebracht war: „Bis zu dieser Stelle kamen Herakles und Dionysos.“ Darauf stießen die Reisenden auf einen Fluss mit Wein, den Beweis dafür, dass Dionysos hier war. Sie gingen flussaufwärts weiter, fanden aber keine Quelle, sondern eine Reihe von Weinstöcken voller Trauben. An der Wurzel jedes Weinstockes sprudelte 330

eine Quelle klaren Weines hervor, und diese Quellen ließen den Fluss entstehen (1, 6–7). Dann fanden sie etwas Seltsames in den Weinstöcken: Der obere Teil jedes Weinstockes war eine Frau, vollkommen von der Hüfte aufwärts. „Sie waren wie unsere Bilder von Daphne, die sich gerade in einen Baum verwandelt, als Apollo sich anschickt, sie zu berühren“ (1, 8). Die Frauen küssten sogar die Männer auf den Mund, und jeder, der einen Kuss bekam, wurde sofort betrunken. Einige Weinstock-Frauen wünschten, dass die Männer sie in den Arm nahmen, und zwei der Gefährten des Autors riskierten es, die attraktiven Frauen zu umarmen, aber sie konnten sich nicht wieder von ihnen lösen (1, 8). (3) Die Reisenden verließen die Insel, ein Wirbelwind hob das Boot in die Luft und ließ es nicht wieder auf die See hinab. Sieben Tage und sieben Nächte segelten sie durch die Luft. Am achten Tag erreichten sie ein großes Land im Luftraum, das einer Insel glich, strahlend hell, rund und erleuchtet von einem großen Licht. Dieses Land war der Mond. Der König des Mondes war Endymion, Selenes früherer Geliebter, der gerade einen Krieg gegen Phaëton, den Sohn des Helios und damaligen Herrscher über die Sonnenbewohner, vorbereitete. Lukian beschreibt die Streitkräfte der Kriegsgegner in allen Einzelheiten (1, 8–18). Der Feind schlug die Truppen des Endymion in die Flucht, und der Autor, der an der Schlacht teilnahm, wurde zusammen mit zwei seiner Gefährten gefangen genommen. Sie wurden zur Sonne gebracht. Am Ende schlossen die Sonnenbewohner Frieden mit den Mondbewohnern. Die Gefangenen wurden zurückgegeben. Als sie den Mond wieder erreichten, wurden sie von Endymion persönlich empfangen. Er bat den Autor, bei ihm zu bleiben. Aber Lukian war nicht zu überreden. Der König ließ die Griechen ziehen, nachdem er sie sieben Tage bewirtet hatte (1, 19–21). Ausführlich erzählt der Autor die fremdartigen und wunderbaren Dinge, die er beobachtet hatte, während er auf dem Mond lebte. Unter anderem gab es dort menschliche Wesen, die ihre Bäuche als Taschen benutzten, in die sie mancherlei packten, was 331

sie gerade brauchten. Sie konnten ihre Bäuche öffnen und schließen, und ihre Augen waren herausnehmbar, und immer wenn sie Lust dazu hatten, nahmen sie sie heraus und steckten sie wieder hinein, um zu sehen (1, 22–26). (4) Die griechischen Reisenden verließen den Mond und auf ihrem Weg durch den Weltraum kamen sie an vielen Ländern vorbei. Auf dem Morgenstern landeten sie und versorgten sich mit Wasser. Hier und auch an anderen Stellen kontrastiert die schlichte Beschreibung täglicher Verrichtungen, mit denen die Reisenden beschäftigt waren (wie mit der Wasserversorgung), deutlich mit der Darstellung des Fremdartigen und Wunderbaren. Aber diese Verknüpfung zwischen der Realität des täglichen Lebens und dem Produkt der Phantasie ist eine charakteristische Eigenschaft der Reiseliteratur im Allgemeinen und der Wahren Geschichten Lukians im Besonderen. Indem der Autor Authentizität und Fiktion, Wahrheit und Lüge kombiniert, fordert er den Leser heraus, nach der Wahrheit in der Lüge und der Lüge in der Wahrheit zu suchen. (5) Später setzten die Reisenden wieder Segel und fuhren weiter. Dann sahen sie die Stadt Wolkenkuckucksheim, die Hauptstadt des Vogellandes aus der Aristophanes-Komödie Die Vögel. Einige Tage später wurden sie wieder auf dem Meer abgesetzt (1, 27–29). (6) Allerdings erweist sich eine Wendung zum Besseren oft als Vorbereitung auf ein größeres Unglück, wie Lukian sagt, und tatsächlich sahen sie plötzlich zahlreiche Seeungeheuer. Das allergrößte unter ihnen war ein Wal, der die Männer, das Schiff und alles sonst verschluckte. Als sie sich im Inneren des Wals befanden, war es zuerst dunkel, aber als der Wal sein Maul öffnete, sahen sie eine geräumige Höhle, groß genug, um eine ganze Stadt aufzunehmen. Als sie am nächsten Tag ihre Situation erkannten, wollten sie sich alles ansehen und genau wissen, welche Möglichkeiten sie hatten, dem Ungeheuer zu entkommen. Die Erzählung von dem Wal kann aber wohl nicht als eine Parodie der Abenteuer des biblischen Jonas gelesen werden, weil es viele andere Versionen derselben Geschichte in der Antike gab. Sie waren im Ori332

ent beliebt, und das vorliegende Beispiel zeigt wiederum, dass Lukian nicht nur von griechischen Texten, sondern auch von Erzählungen abhängig ist, die ihren Ursprung im Orient hatten. (7) Als sie einige Tage gesegelt waren, kam ein heftiger Nordwind auf, der große Kälte brachte. Das Meer fror vollständig zu, so dass sie das Boot verlassen und über das Eis laufen konnten. Aber bald wurde es wieder warm, das Eis schmolz, sie setzten ihre Reise fort und gelangten zu einer Insel, die ein großer fester Käse war (2, 3). (8) Darauf erreichten sie die Insel der Seligen (2, 6), wo Rhadamanthys herrschte. Seine Aufgabe war es, über die herausragenden Gestalten des Mythos und der Geschichte zu richten. Lukian und seinen Gefährten wurde es erlaubt, die verschiedenen Prozesse und Fälle zu beobachten und später die Bewohner der Insel zu sehen. Es war auch gestattet, eine bestimmte Zeit lang auf der Insel zu bleiben und am Leben der Heroen teilzuhaben. Rhadamanthys forderte sie selbstverständlich auf, die Gründe dafür zu nennen, warum sie als noch Lebende auf die Insel der Seligen gekommen seien. Als sie ihm die ganze Geschichte erzählt hatten, fällte der Richter den Spruch, dass sie für ihre Wissbegierde, Neugier und Reiselust nach ihrem Tod zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Nicht nur an der Landschaft auf der Insel der Seligen, die Lukian genauso beschreibt wie andere Erzähler das Schlaraffenland, sondern auch an den Bewohnern hatten die Reisenden ihre Freude. Der Autor erwähnt viele berühmte Männer, die er auf der Insel sah (2, 17–21): Darunter befand sich Sokrates; und weil sich Rhadamanthys über ihn ärgerte, wollte er ihn von der Insel verbannen, falls er an seinem Unfug festhalten, seine Ironie nicht aufgeben und einfach nur glücklich sein wolle (2, 17). Platon war nicht anwesend: Es hieß, er lebe in seinem idealen Staat mit der Verfassung und den Gesetzen, die er selbst schrieb. Es wäre reizvoll, die Philosophen aufzuzählen, die auf der Insel der Seligen weilten (2, 17–18). Die knappen und treffenden Mitteilungen Lukians über die Männer und ihre unterschiedlichen Leh333

ren sind sehr informativ. Außer Sokrates und Platon erwähnt Lukian Aristipp und Epikur, Aesop und Diogenes. Über die Stoiker sagt er: „Keiner von ihnen war da – es hieß, sie seien noch damit beschäftigt, den steilen Berg der Tugend hinaufzusteigen“ (2, 18). Die skeptischen Akademiker „wollten kommen, hielten sich aber noch zurück und diskutierten miteinander, denn sie konnten noch nicht die Frage abschließend beantworten, ob eine derartige Insel (wie die Insel der Seligen) überhaupt existierte“. Selbstverständlich setzt Lukian das Wissen des Lesers über die von ihm erwähnten Philosophen voraus. Der Leser sollte zum Beispiel Platons sokratische Dialoge und seine philosophischen Werke Politeia und Nomoi kennen und Informationen über die Lehren der bedeutendsten Philosophenschulen haben. In diesem Zusammenhang könnte sich der Leser auch fragen, ob Lukian für eine bestimmte Philosophenschule oder einen bestimmten Philosophen besondere Sympathie empfand. Er kann nicht übersehen, dass Lukian, von dem es heißt, er habe keine eigene philosophische Position, offensichtlich mit Epikur und seinen Lehren sympathisierte. Das gilt zumindest für die spätere Zeit des Autors. In seiner Schrift Alexander oder der falsche Prophet, (bes. 61) charakterisiert er Epikur wie folgt: Er war ein wirklich heiliger und seinem Wesen nach göttlicher Mann, der als einziger das Wahre und Gute wirklich erkannt und den Menschen nahegebracht hat und dadurch sich selbst als Befreier all derer erwies, die Umgang mit ihm hatten. Im Ikaromenippos, wo Selene die Philosophen verspottet, lässt Lukian Epikur und die Epikureer unerwähnt, und indem Zeus den Epikureern ihre Frechheit vorwirft, macht er ihnen in Wirklichkeit ein Kompliment. Das entspricht den Bemerkungen über Aristipp und Epikur in den Wahren Geschichten: Sie „genossen unter den Heroen die größte Sympathie, weil sie angenehme, liebenswürdige und lustige Burschen waren“ (2, 18). Während seines Aufenthaltes auf der Insel der Seligen nahm Lukian die Möglichkeit wahr, auch Homer zu besuchen, um ihn über alle 334

homerischen Probleme zu befragen, die die alexandrinischen Grammatiker zu lösen versuchten (2, 20): Warum begann er die Ilias mit dem Zorn des Achill? Hat er die Odyssee früher als die Ilias geschrieben? Zur gleichen Zeit traf Pythagoras von Samos ein, der sieben Verwandlungen überstanden, in sieben Körpern gelebt hatte und jetzt seine Seelenwanderung beendete (2, 21). Auch Empedokles erschien, er war völlig verbrannt, und sein Körper war vollständig gekocht infolge seines Sprungs in den Krater des Ätna (vgl. Ikaromenippos 13), aber er wurde nicht aufgenommen. Bevor Lukian diesen Platz verließ, ging er zu Rhadamanthys (2, 27). Der mythische Richter erzählte ihm, was noch geschehen würde, und zeigte ihm seinen Weg. Er sagte, Lukian werde seine Heimat trotz vieler Irrfahrten und Gefahren wiedersehen. Aber den Zeitpunkt der Heimkehr nannte Rhadamanthys nicht. (9) Während Lukian Reisevorbereitungen traf, kam Odysseus zu ihm – ohne Penelopes Wissen – und gab ihm einen Brief, den er nach Ogygia mitnehmen sollte, um ihn Kalypso zu geben (2, 29). Darauf erreichten die Reisenden den schaurigen Ort der Strafen und sahen viele Menschen, die ihre Strafen erhielten (2, 30–32). Die schlimmste Bestrafung erhielten diejenigen, die etwas Unwahres geschrieben hatten, unter denen sich die oben erwähnten Schriftsteller Ktesias und Herodot befanden. Lukian konnte nicht umhin zu sagen, er habe niemals bewusst eine Lüge erzählt. (10) Nach kurzer Zeit kamen die Männer zur Insel der Träume. Lukian beschreibt diesen Ort wie gewöhnlich in allen Einzelheiten (2, 32–35). (11) Als sie die Insel Ogygia erreichten, öffnete Lukian, neugierig wie er war, den Brief des Odysseus an Kalypso (2, 35). Er fand die Höhle, die so aussah, wie Homer sie beschrieben hatte (Odyssee 5, 55–74). Kalypso nahm den Brief und las ihn. Zuerst weinte sie lange. Dann fragte sie nach Odysseus, Penelope und anderen (2, 36). Am nächsten Tag stachen die Männer wieder in See. (12) Nach vielen Irrfahrten, Gefahren und Kämpfen mit Ungeheuern und 335

Wilden (2, 44) kamen sie zu einer kleinen Insel. Sie war von schönen, jungen Frauen bewohnt, die Griechisch sprachen; sie hießen die Männer willkommen, umarmten und bewirteten sie. Jede einzelne Frau nahm einen Mann mit nach Hause. Aber nach kurzer Zeit sah Lukian, dass die Beine seiner Gastgeberin keine Frauenbeine waren, sondern die Beine eines Esels. Lukian zog sein Schwert, fesselte die Frau und wollte alles über ihr sonderbares Aussehen wissen. Sie erzählte, dass sie Seefrauen (2, 46) seien, „Eselsbeinfrauen“ hießen und alle Fremden verspeisten, von denen sie besucht würden. „Nachdem wir sie betrunken gemacht haben“, sagte sie, „gehen wir mit ihnen ins Bett und fallen über sie her, während sie schlafen“ (2, 46). Als Lukian seinen Kameraden alles erzählt hatte, wurde seine Gastgeberin plötzlich zu Wasser und verschwand. „Dennoch stieß ich mein Schwert in das Wasser, um mich zu vergewissern, und das Wasser verwandelte sich in Blut“ (2, 46). (13) Darauf gingen die Griechen zurück aufs Schiff und segelten fort. Als es hell wurde, sahen sie Land und nahmen an, es handele sich um die Welt, die ihrer eigenen gegenüberlag (2, 47). Aber als sie darüber diskutierten, was sie tun sollten, wurde das Boot von einem heftigen Sturm getroffen und zerstört, und sie hatten große Schwierigkeiten, ans Ufer zu schwimmen. Aber sie hatten das Ende des Ozeans erreicht. Es war ja das Motiv und der Zweck der Reise (vgl. 1, 5) herauszufinden, wo der Ozean endete und welche Menschen auf der anderen Seite der Welt lebten. Indem Lukian am Schluss der Wahren Geschichten verspricht, in den folgenden Büchern zu erzählen, was in der anderen Welt passiert ist, fordert er den Leser dazu auf, die Geschichten mit Hilfe seiner Vorstellungskraft fortzusetzen und sich ein eigenes Bild von den folgenden Ereignissen zu machen. Kommen wir auf die Frage zurück, welche Absicht Lukian mit seinem Werk verfolgte: Wir können feststellen, dass es ihm Vergnügen bereitete, Wahre Geschichten zu erzählen, die aus einer Menge Lügen bestanden, obwohl er mehrfach behauptete, er habe niemals etwas 336

Falsches erzählt (zum Beispiel: 2, 31). Dieser offenkundige Widerspruch wird dann aufgehoben, wenn man die Wahren Geschichten nicht als einen Haufen von Lügen ansieht, sondern als Dokumentation einer Wahrheit. Unter dem Vorwand, Werke der Paradoxographie und Schriften der Reiseliteratur zu parodieren, entwickelt Lukian eine Theorie des menschlichen Verhaltens. Die wahren Vorbilder für seine Parodie sind die alten phantastischen Geschichten nicht als solche, sondern vor allem als Ausdrucksformen des menschlichen Verlangens, der Realität eines langweiligen Alltagslebens zu entkommen (→ 8.3: Eskapismus – eine Alternative?). Unter diesem Aspekt ist der homerische Odysseus für Lukian die literarische Verkörperung dieser Abenteuerlust (vgl. 1, 5). Das ist der Grund für die Anspielungen auf die Odyssee überall in den Wahren Geschichten. Das Epos bildet ihren Hintergrund. Odysseus ist als das Vorbild des Autors allgegenwärtig. Der Erzähler stimmt mit Odysseus hinsichtlich seiner Einstellung gegenüber neuen und ungewöhnlichen oder überraschenden und gefährlichen Situationen überein. Der Erzähler ist wie Odysseus stets Herr der Lage. Wenn er in Schwierigkeiten gerät, aktiviert er seine intellektuellen Fähigkeiten, um den Schwierigkeiten zu entkommen. Als sich die Reisenden etwa im Inneren des Wals befanden, war der Erzähler nicht verzweifelt, sondern bereit, alles zu untersuchen und die Situation aufzuklären (1, 32). Nachdem er auf den alten Mann und seinen Sohn gestoßen war, sagte der Erzähler: „Auch wir sind Menschen, Neuankömmlinge, die gestern verschlungen wurden mitsamt ihrem Schiff und wir haben uns jetzt auf die Beine gemacht in der Absicht, herauszufinden, wie die Dinge stehen.“ (1, 33). Diese Haltung entspricht den Worten am Anfang der Erzählung (1, 5), wo Lukian über seine intellektuelle Aktivität, seine Neugier, Abenteuerlust und Absicht spricht, die Welt zu entdecken. Der Autor und seine Gefährten ergriffen die Initiative, immer wenn sie in größte Schwierigkeiten und Gefahren gerieten. Sie lehnten es ab, ein Leben im Luxus zu führen (1, 39), und als sie das bequeme, aber beschränkte 337

Leben im Wal nicht länger aushalten konnten und den Aufenthalt nicht mehr hinnehmen wollten, suchten und fanden sie einen Weg zu entkommen (2, 1). Sie töteten das Ungeheuer, indem sie den Wald in seinem Bauch in Brand setzten. Odysseus und seine Gefährten befreiten sich ebenfalls mit Hilfe von Feuer aus der Höhle des Zyklopen Polyphem (→ 4.3: Odysseus und seine Abenteuer). Obwohl Lukian und seine Reisebegleiter für die Freuden des Lebens empfänglich sind, sind sie stets vorsichtig und misstrauisch, wie bei den sogenannten Eselsbeinfrauen (2, 46). Aber Lukians Reisende kehren nicht in ihre Heimat zurück. Nach dem Schiffbruch kündigt der Autor einen neuen Anfang in der anderen Welt an. In dieser Hinsicht unterscheidet sich er sich grundsätzlich vom homerischen Odysseus, der seine Heimat trotz vieler Irrfahrten und Gefahren erreichte. Obwohl das Motiv seiner Unternehmungen ebenfalls in seiner Ruhelosigkeit (2, 10) und Abenteuerlust (1, 5) besteht, will Odysseus zu Penelope zurückkehren. Sein Brief an Kalypso (2, 29 und 35–36) ist der sentimentale Versuch, in der Vergangenheit zu schwelgen. Der Erzähler der Wahren Geschichten leidet nicht an Heimweh. Es bedrückt ihn nur (2, 27), dass er die Insel der Seligen vorzeitig verlassen muss: Er beginnt zu weinen, weil er das Glück aufgeben und seine Irrfahrten fortsetzen muss. Deshalb trösten ihn die Heroen auf der Insel der Seligen, indem sie sagen, er werde zu ihnen zurückkommen, und sie zeigen ihm sogar seinen späteren Stuhl und sein Sofa (2, 27). Statt in seine Heimat zurückkehren zu wollen, wünscht sich der Erzähler also, auf die Insel der Seligen zurückzukehren. Das ist bemerkenswert, kann aber damit erklärt werden, dass Lukian sein Leben lang ein Wanderer zwischen verschiedenen Welten war.327 So verfasste Lukian eine Parodie nicht nur auf einige antike Abenteuergeschichten, sondern auch auf das menschliche Bedürfnis, immer wieder der Monotonie des Alltags zu entkommen – entweder tatsächlich oder auf dem Weg der Illusion; denn wer nicht in der Lage ist, tatsächlich zu entkommen, flüchtet in die künstliche oder synthe338

tische Realität der phantastischen Geschichten. Der große Erfolg der Star-Trek-Serie ist gewiss auch auf die Befriedigung dieses Bedürfnisses zurückzuführen: Die Geschichte findet im Weltraum statt, und die Protagonisten an Bord des Raumschiffes Enterprise erkunden fremde Welten und suchen nach neuen Lebensformen. Sie begeben sich dorthin, wo zuvor noch nie ein Mensch gewesen ist. Genauso wie der homerische Odysseus oder Lukians Held der Wahren Geschichten ist der Kapitän der Enterprise ein Paradigma dieser Form menschlicher Selbstverwirklichung. Die tatsächliche Wahrheit der Wahren Geschichten beschränkt sich wohl kaum auf die Erzählung phantastischer Abenteuer; sie besteht in der lebendigen Veranschaulichung einer spezifisch menschlichen Eigenschaft, aus der die treibenden Kräfte für den Aufbruch zu neuen Welten erwachsen.

9.8 Höhlengleichnis und Truman Show Im platonischen Höhlengleichnis (Politeia 7, 514a–517a) ist von Menschen die Rede, die von Kindheit an in einer Höhle festgehalten werden. Sie können sich nicht bewegen, weil sie an Hals und Schenkeln gefesselt sind. Von einem Feuer bekommen sie Licht. An einer Wand der Höhle sehen sie die Schatten verschiedener Gegenstände, nicht die Gegenstände selbst, die hinter ihnen hergetragen werden. Die Gefesselten haben nicht das Bedürfnis die ihnen bekannte und vertraute Welt zu verlassen und wehren sich gegen ihre Befreiung. Wird dennoch ein Gefangener dazu gebracht, die Gegenstände selbst und nicht mehr nur ihre Schatten zu sehen, so ist er vom Licht des Feuers geblendet und muss gezwungen werden, weiter nach oben zu steigen und auch noch das Licht der Sonne zu erblicken, an das er sich erst allmählich gewöhnt. Man fühlt sich unwillkürlich an die Situation im Kino erinnert. Man hat eine Lichtquelle im Rücken, mit der bewegte Bilder auf eine 339

weiße Wand projiziert werden. Man erlebt die Welt dieser Bilder wie die wirkliche Welt und wacht erst dann aus dieser Illusion der Schatten wieder auf, wenn der Film zu Ende ist. Der Unterschied zwischen dem Kinosaal und Platons Höhle besteht aber darin, dass Platons bewegte Schattenbilder bedeutungslos sind und keine Affekte hervorrufen. Im Kinofilm werden dagegen Geschichten erzählt, die dem Zuschauer ein scheinbares Leben zeigen, in das er einbezogen wird und an dem er teilzunehmen glaubt. Er leidet und freut sich mit den Figuren dieses scheinbaren Lebens. In dem Spielfilm (1998) The Truman Show stellt Jim Carrey einen gewissen Truman Burbank dar. Er ist, ohne es zu wissen, der Hauptdarsteller einer Fernsehserie, die das Leben eines Menschen von Geburt an dokumentiert. Per Liveübertragung im Fernsehen wird der Öffentlichkeit dieses Leben lückenlos präsentiert. Truman lebt ein scheinbar normales Leben in einem riesigen Fernsehstudio. Er wird ununterbrochen von fünftausend Kameras gefilmt. Alle Menschen in Trumans Umgebung sind Schauspieler. Nach knapp 30 Jahren wird Truman misstrauisch, als ihm ein Scheinwerfer aus der Höhe des Studios vor die Füße fällt. Nach weiteren Zwischenfällen versucht Truman, aus seiner künstlichen Welt, die er allmählich als solche erkennt, auszubrechen. Es gelingt ihm am Ende, obwohl ihn der Regisseur der Fernsehserie davor gewarnt hatte, seine zwar künstliche, aber abgeschirmte und beschützte Welt unter der Kuppel gegen die raue Wirklichkeit des echten Lebens einzutauschen. Diese Welt wird wie im platonischen Höhlengleichnis von einer künstlichen Lichtquelle beleuchtet. Durch ungeplante Vorgänge misstrauisch geworden versucht er anders als die Höhlenbewohner, aus seiner künstlichen Welt auszubrechen. Er kann auch mit Hilfe eines Segelboots entkommen. Platons Höhlenbewohner verlassen dagegen ihre Höhle nur unter Zwang und werden von der Helligkeit des Sonnenlichts geblendet. Aber nach der Gewöhnung an das Licht der wirklichen Welt wollen sie nicht mehr in die Höhle zurück. Was 340

Truman und die Höhlenbewohner in der wirklichen Welt erleben, wird nicht erzählt. Die Unterscheidung einer künstlichen und einer wirklichen Welt ist auch ein Thema der Matrix. In diesem Science-Fiction-Film (1999) ist die „reale“ Welt eine „Scheinwelt“, in der Sinneswahrnehmungen und Gefühle das Leben bestimmen. Die „wahre“ Welt ist dagegen die Welt der Maschinen und des „Geistes“ (mind) und der absoluten, unveränderlichen Wahrheit. Die „reale“ Welt wurde konstruiert, damit die Maschinen die Menschen beherrschen und kontrollieren können. Dass das dualistische Weltbild der Matrix von Platons Ideenlehre und dem Höhlengleichnis inspiriert wurde, ist nicht auszuschließen.328 Es wäre jedoch zu bedenken, ob nicht auch noch andere dualistische Konzepte der antiken Philosophie zu den Voraussetzungen der Matrix gehören. Die künstliche Intelligenz der Maschinen, die die wahre Welt repräsentiert und die sinnlich wahrnehmbare reale Welt beherrscht, erinnert an die Unterscheidung „apathischer Weisen“ und „sinnlich gesteuerter Toren“ in der Philosophie der Stoa. Vor diesem Hintergrund erscheint das Konzept des stoischen Weisen geradezu als die Antizipation künstlicher Intelligenz.

9.9 Vertrauen durch Fides und Fairness In Off. 3, 85–87 veranschaulicht Cicero an dem römischen Konsul Fabricius, dass Handlungen, die besonders nützlich zu sein scheinen, in Wirklichkeit gar nicht nützlich sind, weil sie erfüllt sind von Schimpf und Schande. Denn nichts kann nützlich sein, was nicht ehrenhaft ist. Das sei zwar schon oft anderswo, dann aber vor allem im Krieg gegen Pyrrhus von Fabricius, dem zweimaligen Konsul, und vom römischen Senat so eingeschätzt worden. Denn als König Pyrrhus ohne Grund einen Krieg mit dem römischen Volk begonnen hatte und man mit einem edlen und mächtigen König um die Herr341

schaft kämpfte, sei ein Überläufer in das Lager des Fabricius gelangt und habe ihm versprochen, er werde, wenn er ihm eine Belohnung in Aussicht stelle, genauso heimlich, wie er gekommen sei, in das Lager des Pyrrhus zurückkehren und ihn mit Gift umbringen. Aber Fabricius sorgte dafür, dass dieser Mann zu Pyrrhus zurückgebracht wurde. Er sei vom Senat für seine Handlungsweise gelobt worden. „Wenn wir nun den Vorgang im Blick auf den (vordergründigen) Nutzen und die öffentliche Meinung darüber beurteilen, dann hätte ein einziger Überläufer jenen gewaltigen Krieg beendet und einen ernsthaften Gegner des Reiches beseitigt; aber es hätte eine große Schmach und Schande bedeutet, den Gegner, mit dem ein Streit um Ruhm ausgefochten wurde, nicht mit Tapferkeit, sondern mit einer verbrecherischen Tat überwältigt zu haben. War es also nützlicher sowohl für Fabricius, der in dieser Stadt dasselbe Ansehen genoss wie Aristeides in Athen, als auch für unseren Senat, der niemals Nutzen von Würde und Anstand trennte, mit Waffen oder mit Gift gegen den Feind zu kämpfen? Wenn man um des Ruhmes willen Macht erringen will, darf man dem Verbrechen, das mit Ruhm und Ansehen unvereinbar ist, keinen Raum geben. Wenn man aber die Macht als solche mit allen Mitteln erstrebt, dann wird sie in Verbindung mit Schande nicht nützlich sein.“ Fabricius – so kommentiert Seneca später das Verhalten des Römers – wies das Gold des Königs Pyrrhus zurück. Er hielt es für wertvoller, die Schätze eines Königs verschmähen zu können als die Königswürde selbst anzustreben.329 Er wollte sich weder vom Gold besiegen lassen noch mit Hilfe von Gift siegen. Weder die Versprechungen des Königs noch die Versprechungen gegen den König hatten ihn von seiner Haltung abbringen können. Es war für ihn ein Gebot der Fairness (fides) auch gegenüber dem Gegner, „ehrlich“ zu siegen. „Man hätte den Untergang nicht einmal eines mächtigen Feindes … gebilligt, wenn er auf verbrecherische Weise zustande gekommen wäre“ (Cicero, Off. 1, 40). 342

In der Pyrrhus-Biographie des Plutarch lesen wir, dass Fabricius beauftragt worden war, mit Pyrrhus über die Freilassung von Kriegsgefangenen zu verhandeln. Der König war offensichtlich von Fabricius sehr angetan und wollte ihm ein Geldgeschenk machen, das dieser aber zurückwies. Darauf schlug er ihm vor, nach dem Friedensschluss mit den Römern ein hohes Amt an seinem Hof zu übernehmen. Aber auch darauf ging Fabricius nicht ein. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb vertraute ihm der König die römischen Kriegsgefangenen unter der Bedingung an, diese zurückzuschicken, wenn die Friedensverhandlungen mit dem römischen Senat scheiterten. Die Gefangenen kehrten tatsächlich zurück. Plutarch erzählt auch noch eine andere Version des misslungenen Giftattentats auf Pyrrhus: Der Leibarzt des Pyrrhus bot dem römischen Konsul an, den feindlichen König gegen eine angemessene Belohnung mit Gift aus dem Weg zu räumen. Aber Fabricius war von dem Mordplan so abgestoßen, dass er einen Brief an den Kriegsgegner schrieb: „Die römischen Konsuln C. Fabricius und Q. Aemilius (des Jahre 278 v. Chr.) grüßen König Pyrrhus. Du hast anscheinend weder bei der Wahl deiner Freunde noch deiner Feinde Glück. Wenn du unseren Brief gelesen hast, wirst du erkennen, dass du zwar mit ehrlichen und anständigen Männern Krieg führst, aber heimtückischen Kreaturen Vertrauen schenkst. Das teilen wir dir nicht aus Gefälligkeit und Freundschaft mit, sondern damit wir nicht durch deinen Tod in ein schlechtes Licht geraten und es nicht heißt, dass wir den Krieg mit Hinterlist beendet hätten, weil wir es mit Tapferkeit nicht geschafft hätten“ (Pyrrhus 21). Pyrrhus bedankt sich für den Brief mit der bedingungslosen Entlassung aller römischen Gefangenen. Gellius (3, 8, 8) überliefert ebenfalls den Brief der römischen Konsuln C. Fabricius Luscinus und Q. Aemilius an Pyrrhus: „Wir sind sehr bestürzt über deine ständigen Untaten und wollen mit dir Krieg führen. Aber in Rücksicht auf allgemeingültige Verhaltensregeln und 343

aus Fairness scheint es uns angebracht zu sein, deine persönliche Sicherheit nicht gefährden zu sollen, damit wir dich auf dem Schlachtfeld besiegen können. Zu uns ist dein Freund Nikias gekommen. Er verlangte eine Belohnung dafür, dich heimlich umzubringen. Wir antworteten ihm, dass wir dies ablehnten und dass er auch keinen Lohn für eine solche Schandtat erwarten könne. Und zugleich schien es uns richtig zu sein, dich zu informieren, damit die Menschen nicht glaubten, es sei mit unserer Absicht geschehen, wenn es geschehen wäre. Und außerdem wollen wir nicht mit Hilfe von Bestechung, Geld oder Hinterlist Krieg führen. Sei auf der Hut. Sonst wirst du am Boden liegen.“ Warum lehnte Fabricius das Angebot des Überläufers ab? Laut Cicero handelte Fabricius richtig, weil er die Trennung von Nutzen einerseits und Anstand und Würde andererseits nicht akzeptieren wollte. Mit der Warnung des Pyrrhus vor dem Giftmörder ging Fabricius ein sehr großes Risiko ein, das zum Untergang Roms hätte führen können. Hätte er das Angebot des Überläufers angenommen, hätte das die Niederlage eines gefährlichen Gegners besiegelt und den Römern weitere Verluste erspart, aber Schimpf und Schande eingebracht. Offensichtlich waren Fabricius und der römische Senat nicht der Ansicht, dass der Zweck die Mittel heilige. Das Beispiel des Fabricius erzwingt in jeder Entscheidungssituation eine Antwort auf die Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt. Dass Gellius in seinem Bericht die fides ins Gespräch bringt, veranlasst zu der Frage nach der Bedeutung dieses römischen Wertbegriffs in dem vorliegenden Fall. Wenn man fides mit dem modernen Begriff der „Fairness“ oder des „Fair play“ wiedergibt und darunter ehrliches, anständiges, gerechtes, regelkonformes Verhalten gegenüber einem Gegner oder Konkurrenten versteht, dürfte dies der Haltung des römischen Konsuls entsprechen. Obwohl es kein deutsches Wort für Fair play gibt, sind wir wieder in der Gegenwart angekommen. Denn ohne Fairness geht gar nichts. 344

Hier sei noch einmal an C. Mucius Scaevola erinnert (→ 7.9: Schmerz und Schmerztherapie. → 8.1: Scheiternde Helden). Er ist eine authentische Persönlichkeit, weil bei ihm Anspruch und Wirklichkeit, Reden und Handeln, kongruent sind. Er bekennt sich zur römischen Republik, die keinen Alleinherrscher duldet. Er beweist seine unbedingte Loyalität gegenüber dem jungen Staat. Er bekennt sich zu seiner Tat. Er nimmt die Konsequenzen auf sich. Er bleibt auch nach der misslungenen Tat der Täter. Er demonstriert die virtus des Kollektivs. Er ist authentisch, weil er nicht nur proklamiert, was römisch heißt, sondern auch danach handelt. Man kann sich auf ihn verlassen. Die immer wieder beschworenen Heldentaten der römischen Tradition begründeten ein Werte-Kontinuum ohne Zeit und Raum. Das altrömische Ideal des vir bonus wirkte nicht durch seine reale Existenz, sondern stellte den Menschen in eine zeitunabhängige Tradition und gab ihm dadurch Hoffnung und Kraft. Das bezeugt nicht zuletzt der griechische Historiker Polybios (6, 54): Auf diese Weise werde in Rom vor allem die Jugend angespornt, für das Vaterland alles zu ertragen, um den Ruhm zu gewinnen, der einem verdienten Mann folge (→ 10.1: Ruhm – die große Maschinerie des Weiterlebens). Zurzeit ist zu beobachten, dass das Gespräch über Werte und Wertbewusstsein mit neuer Intensität geführt wird. Dabei scheint es weniger um die Frage ihrer Herkunft als um ihre Vermittlung zu gehen. Die Römer hielten die Erinnerung an herausragende Ereignisse und besondere Leistungen für die bewährteste Methode der Wertevermittlung, wie es zum Beispiel Cicero und Livius gezeigt haben. Die allgemein anerkannten mores maiorum lieferten die historischen oder auch fiktiven Vorbilder, ohne die es nicht möglich erschien, ein Wertbewusstsein zu vermitteln. Es spricht vieles dafür, dass auch moderne demokratische Gesellschaften stabile Traditionen, Vorbilder und Helden brauchen. 

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10. Welt durch Sprache Dass Sprache das Mittel ist, sich gegen die Vergänglichkeit zur Wehr zu setzen, veranschaulichen antike Autoren wie Thukydides, Vergil, Horaz und Ovid – um nur einige zu nennen – auf überzeugende Weise. Ein schlichter Ablativus absolutus des Horaz (me dicente) markiert in unübertrefflicher Prägnanz, dass dies auch gelingt. Sprache bewahrt aber die Welt nicht nur vor der Vergänglichkeit, sondern erschafft auch neue Welten. Niemand wusste das besser als die antiken Autoren, die vielfach darüber zu reflektieren pflegten. Aber auch das kreative Sprechen bedient sich bestimmter Sprach- oder Denkfiguren. Das Begriffspaar Besitzen und Gebrauchen ist ein Beispiel für eine solche Denkfigur, die auch komplizierte Sachverhalte zur Sprache bringt und anschaulich macht. Ruhm könnte ohne Sprache keine Maschinerie des Weiterlebens sein. Der Dauerkonflikt zwischen Schein und Sein, Wort und Tat wäre ohne Sprache nicht vorstellbar. Das Gefühl für den Unterschied zwischen Aktiv, Medium und Passiv ist kein theoretisches Problem der Sprachwissenschaft. Hier geht es um die ernst zu nehmende Tatsache, dass man die Sprache mitunter dazu benutzt, Verantwortlichkeit zu verleugnen. Das Passiv nährt diese Verlogenheit. Denn es ist das ideale sprachliche Mittel, Täter nicht in Erscheinung treten zu lassen. Selbstverständlich kann man mit Xenophanes auch Welten schaffen, indem man im Sinne des Wenn-Dann-Schemas und des alternativen Denkens das Mögliche und das Unmögliche wirklich werden lässt. Ein wunderbares Spiel: Stellt euch einmal vor, was wäre, wenn ...

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10.1 Ruhm – die große Maschinerie des Weiterlebens Das lateinische Wort fama – von dem Verb fari = sprechen – hat eine doppelte Bedeutung: Jemanden oder etwas gut reden oder rühmen (positiv) und über jemanden oder etwas schlecht reden (negativ). Unter beiden Aspekten erweist sich die Sprache als produktiv. Vergil scheint in seiner Schilderung der Dido-Tragödie beide Aspekte vor Augen zu haben. Denn Dido wird durch die Macht der Rede sowohl vernichtet als auch berühmt gemacht (bis heute). Bei Vergil ist der Tag der Vereinigung von Dido und Aeneas die Ursache vieler Leiden. „Denn Dido kümmert sich weder um ihr Ansehen noch um das Gerede (fama)“ (4, 169–171). Es ist ihr gleichgültig, wie die Affäre mit Aeneas „aussieht“ oder wie man darüber „redet“. Hiermit ist Didos trauriges Ende angesichts der unkontrollierbaren Macht der fama vorgezeichnet. In der ZEIT vom 01. 01.2003 findet man eine Glosse von Wolfgang Schmidbauer unter dem Titel „Gerüchteopfer“. Der Autor verweist ausdrücklich auf Vergils Aeneis: „Fama – die allegorische Gestalt des Gerüchts – eilt unverzüglich durch die großen Städte Afrikas. Kein anderes Übel ist schneller als sie.“ Vergil zeichnet sie als „schreckliches Monster“. Selbstverständlich berücksichtigt auch Hans-Joachim Neubauer in seiner „Geschichte des Gerüchts“330 Vergils Darstellung und dazu noch Ovids Bericht in den Metamorphosen (12, 39–63), wo Fama allerdings nicht als allegorische Gestalt gezeichnet wird, sondern durch ein Haus mit unzähligen Ein- und Ausgängen und zahllosen Fenstern, die Tag und Nacht offenstehen, versinnbildlicht wird. Kein lauter Lärm dringt aus diesem Haus, nur ununterbrochenes Stimmengewirr, Gezischel und Gemurmel. In diesem Haus wohnen „Leichtgläubigkeit“, „Wahnvorstellungen“, „grundlose Freude“, „verwirrende Befürchtungen“, „überraschender Aufruhr“ und „Getuschel ohne eindeutige Ursache“. Nach Ovids Fama schuf der Schweizer Komponist Beat Furrer ein Hörtheaterstück für die Donaueschinger Musiktage, vorgestellt von Thomas Meyer (Z., 29. 09. 347

2005): „Fama, die alles Leid der Welt aufnimmt, ist bei Furrer ein Hörraum. ‚Jede Stimme dringt an das lauschende Ohr.‘ Und so erscheint sie nun aufs Neue, diesmal als das Hörtheater Fama für ein Klanggebäude.“ In der populärwissenschaftlichen Zeitschrift „Psychologie heute“ (5 / 1989) erschien ein Artikel über die „Macht des Gerüchts“. Dort heißt es: „Gerüchte sind keine Produkte des Zufalls, sondern vielmehr Versuche, sich ungeklärte Situationen verständlich zu machen. Sie sind persönliche Hypothesen darüber, wie die Welt funktioniert“ (20). Über die Ursachen von Gerüchten heißt es dort: „Nicht nur real vorhandene, angstmachende Situationen können Gerüchte hervorbringen, sondern auch die individuelle Ängstlichkeit eines Menschen spielt eine Rolle. ... Nicht nur der Grad der Ängstlichkeit beeinflusst die Weiterverbreitung eines Gerüchtes, sondern auch der Glauben daran“ (22). Hinzu kämen eine allgemeine Atmosphäre von Unsicherheit und der Mangel an hinreichenden Informationen über den Gegenstand des Gerüchtes. Man trüge Gerüchte leichter weiter, wenn man sie nicht für besonders wichtig hielte. „Diese Art Gerüchte sind Tratsch, belangloses Gerede, das nur dem eigenen Vergnügen oder der emotionalen Befreiung dient. Da ihr Gerede für sie ohne Bedeutung ist, machen sich diese Menschen auch keine Gedanken darüber, was sie mit diesen Nachrichten bei anderen an Ärger und Leid auslösen können“ (24). Soweit die negative Seite der fama. Es gibt aber auch die bona fama, den Ruhm, die Ehre, die öffentliche Anerkennung, die innerhalb der römischen Gesellschaft eine zentrale Rolle spielt. Im Gegensatz zu Epikur besteht Cicero in Übereinstimmung mit der Stoa darauf, dass es etwas sittlich Gutes gebe, das um seiner selbst willen und ohne weitere Vorteile erstrebenswert sei. „Wir begreifen die sittliche Würde als etwas, das unter Verzicht auf jeden Nutzen ohne irgendwelche Belohnungen und Gewinne als solches mit Recht gelobt wird“ (Fin. 2, 45). Mit dem „gelobt werden“ bekommt dieses Verständnis von „sittlicher Würde“ (honestum) seine spezifisch römische Pointe. Denn das 348

honestum verliert in dem Moment seine Zweckfreiheit, wo es zum Objekt der Anerkennung wird. Auch wenn sich in der römischen Geschichte genug Beispiele dafür finden lassen, dass Menschen sittlich gut handelten, ohne an einen Vorteil zu denken (Fin. 2, 41–54), wird ihnen doch wenigstens nachträglich Anerkennung zuteil. Aus einem Gespräch zwischen Durs Grünbein, Sibylle Lewitscharoff und der ZEIT (24. 10. 2013): Sie sind beide preisgekrönt – verändert der Ruhm das Schreiben? Lewitscharoff: Haben wir nicht alle gerne das Krönchen auf dem Haupt? Grünbein: Ruhm ist keine Kategorie, über die ich lange nachsinne, als Buchtitel ist er schon sehr gewagt. Umstrittenheit würde ich vorziehen. Es ist gut, wenn die Kritiker bellen. Lewitscharoff: Die Idee vom Ruhm ist schon reizvoll, sofern er sich nach dem Grabe entwickelt – vorher ist er ja auch ganz schön, aber uninteressant. Spannend wird’s doch erst, ob er sich über mehrere Generationen hält. In der Antike war Ruhm die große Maschinerie des Weiterlebens. Grünbein: … Ruhm wird schnell mit Erfolg, Auflagenhöhe, Quote gleichgesetzt. Wirkung ist jedoch viel interessanter, sie ist erst nach vielen Jahren erkennbar. Für die Kunst ist Wirkung das große Geheimnis. Lewitscharoff: Die Vorstellung, kein Nachleben zu haben …, ist für mich entsetzlich. Grünbein: Du bist ja die einzige Autorin im Augenblick, die in ihren Büchern beharrlich den Gedanken vom Nachleben umkreist. Obwohl Cicero (De re publica 1, 1) von einer necessitas virtutis, von einer unausweichlichen Verpflichtung, von einem natürlichen Drang zu höchster Leistung spricht (→ 7.5: Cicero und die Pflicht zur Tugend) und davon ausgeht, dass alle Menschen eine natürliche Motivation zur virtus (ein intrinsisches Leistungsmotiv) haben, übersieht er nicht, dass es auch andere (extrinsische) Begründungen für die virtus gibt: Verlangen nach Ruhm und Anerkennung oder Hoffnung auf Unsterblichkeit (zum Beispiel: Tusk. 1, 32 f.). Ciceros Schlüsseltext (De re publica 3, 3 Powell) zum Thema „Ruhm und Anerkennung“ lautet: „In den Bürgerschaften, in denen die Besten nach Ruhm und 349

Anerkennung streben, vermeiden sie Schmach und Schande; sie werden aber nicht so sehr durch Furcht und gesetzlich festgelegte Strafe abgeschreckt wie durch eine natürliche Scheu (verecundia). ... Diese hat der Staatenlenker durch eine entsprechende Meinungsbildung verstärkt und durch Grundsätze und Vorschriften vervollkommnet, sodass die Furcht vor gesellschaftlicher Ausgrenzung (pudor) die Bürger von falschem Tun nicht weniger abhielt als die Furcht vor Strafe.“ In seiner Fünften Philippischen Rede (49–51) vom 1. Januar 43 grenzt Cicero Octavian, den künftigen Augustus, von seinem Vater deutlich ab: Er sei ganz anders als dieser. Auf ihn stütze sich alle Hoffnung auf Freiheit. Cicero rühmt den außerordentlichen Weitblick des jungen Mannes. Die römische Republik setze ihm die Maßstäbe seines Handelns; sie sei für ihn Prüfstein aller seiner Pläne und Handlungen. Daher habe er sich dem Staat zur Verfügung gestellt, um ihn zu festigen, nicht um ihn zu zerstören. Nichts sei dem jungen Caesar wertvoller als die res publica, nichts wichtiger als das Ansehen des Senats, nichts mehr erwünscht als das Urteil rechtschaffener Männer, nichts lieber als wahrer Ruhm (vera gloria). Wer Geschmack an wahrem Ruhm gefunden und gespürt habe, wie der Senat, die römischen Ritter und das ganze römische Volk ihn, den Bürger, schätzten und für einen Wohltäter des Staates hielten, in dessen Augen komme nichts diesem Ruhm gleich. Man werde von diesem Mann noch Größeres und Besseres erwarten können (5, 49). Octavian werde von allen positiven Kräften der römischen Republik rückhaltlos akzeptiert und anders als sein Vater Caesar von allen Rechtschaffenen geschätzt; auf ihn setze das gesamte römische Volk seine Hoffnung auf Freiheit.331 In seinem Streben nach dem „wahren, gefestigten und bleibendem Ruhm“ (5, 50) entspricht dieser Octavian – ganz im Gegensatz zu Antonius – exakt dem Idealbild, das Cicero auch in seiner Ende 44 abgeschlossenen philosophischen Schrift Off. (2, 43) zeichnet: Schon Sokrates (Xenophon, Memorabilien 2, 6, 39) habe sehr schön gesagt, 350

dass dies der nächste und gewissermaßen kürzeste Weg zu öffentlicher Anerkennung sei, wenn jemand alles daran setze, das zu sein, wofür er gehalten werden möchte. Wenn also manche Leute meinten, sie könnten durch Vortäuschung falscher Tatsachen und durch sinnlose Verstellung und nicht nur durch eine heuchlerische Sprache, sondern auch durch einen entsprechenden Gesichtsausdruck Anerkennung auf Dauer erringen, irrten sie heftig. Begründete Anerkennung treibe Wurzeln und breite sich auch aus, alles Erheuchelte falle schnell ab wie Blüten, und was vorgetäuscht sei, könne nicht von langer Dauer sein. Wer also begründete Anerkennung und wahren Ruhm erringen wolle, möge die Pflichten der Gerechtigkeit erfüllen. Welche das sind, stellte Cicero in Off. 1, 20–14 dar. Den Gedanken des Fortlebens durch Leistung, Anerkennung und wahren Ruhm hegten nicht nur politische Persönlichkeiten, sondern auch Künstler wie Ovid (Metamorphosen 15, 871–879 und Horaz (Carmen 3, 30, 1). Mit ihrer Behauptung, in der Antike sei „Ruhm die große Maschinerie des Weiterlebens“ gewesen, meinte Lewitscharoff nicht zuletzt die großen Dichter Vergil, Horaz und Ovid. In seinen Briefen vom Schwarzen Meer (4, 2, 36) notiert Ovid: Lobe man die Tugend, dann wachse sie, da doch der Ruhm ein gewaltiger Stachel sei. In den Tristien (5, 1, 76) benutzt er ein ähnliches Bild: Den Geist pflege der Ruhm anzuspornen.

10.2 Verweigerung der Vergänglichkeit Die Hoffnung auf die postletale Fortexistenz des Menschen als Gattung und als Individuum ist Ausdruck der Bejahung des Daseins und der Verweigerung der Vergänglichkeit. Wer dagegen die Welt für nichtig erklärt, merkt nicht, dass er sich selbst endgültig vernichtet. Wer das Leben für sinnvoll und wertvoll hält, widersetzt sich der Vergänglichkeit oder ignoriert sie.332 351

Wenn Herakles in der Unterwelt den früh verstorbenen Meleagros trifft und tief erschüttert von dessen Schicksal erfährt, macht er sich Gedanken über die Unsicherheit des menschlichen Glücks. Der Tod des Meleagros ist zwar eine Tatsache. Aber Herakles würde sich mit der Vergänglichkeit nicht abfinden, wenn er sich damit trösten könnte, den Verstorbenen in seiner Erinnerung zu bewahren. Bakchylides legt ihm zudem noch Worte in den Mund, mit denen er nicht nur die Vergänglichkeit hinnimmt, sondern auch überwältigt von seiner Trauer die Sinnlosigkeit des Daseins beklagt: Es sei das Beste für die Menschen, gar nicht geboren zu werden und nicht das Licht der Sonne zu sehen. Dann bliebe ihm viel Unheil erspart (Siegeslieder 5, 160– 162). Diese zutiefst pessimistische Weltsicht hat eine radikale Entwertung des Lebens zur Folge. Das aber steht zweifellos im Widerspruch zu der Tendenz eines Siegeslieds, in dem die überragenden Leistungen eines Menschen gepriesen und unsterblich gemacht werden. Auch Theognis (425–428) bringt eine das Dasein verneinende Einstellung zum Ausdruck, wenn er sagt: „Für Erdenbewohner ist es das Allerbeste, nicht geboren zu sein und das Licht der hellen Sonne nicht gesehen zu haben. Wenn man aber nun einmal geboren ist, möglichst schnell die Tore des Hades zu durchschreiten und da zu liegen bedeckt mit viel Erde.“ Diese Einstellung steht in einem krassen Widerspruch zu seiner in seinen Elegien allenthalben gepriesenen Adelsethik. Sophokles lässt im Ödipus auf Kolonos, 401 v. Chr. postum aufgeführt, den Chor angesichts der Tragödie des Ödipus und seiner ganzen Familie folgendes sagen: „Nicht geboren zu sein, ist das Vernünftigste. Wenn man aber auf die Welt gekommen ist, dann ist es das Zweitbeste, möglichst schnell wieder dorthin zu gehen, woher man gekommen ist.“ Diese Reflexion des Chores entspricht nicht der Überzeugung des Dichters, der sich in seinen beiden ÖdipusTragödien nicht von dem übermenschlichen Unglück des Leidenden distanziert, sondern es als göttliches Fügung hinnimmt und ihm dadurch einen Sinn gibt. 352

Die Dichter scheinen geglaubt zu haben, dass die Menschen zum Leiden geboren seien und besser nicht das Licht der Welt erblickt hätten. Diese Einstellung steht in einem krassen Gegensatz zu der sonst von vielen Dichtern geäußerten Verweigerung der Vergänglichkeit und dem Wunsch, mit ihren Werken unsterblich zu werden. So ist zum Beispiel Horaz davon überzeugt, dass das dichterische Werk unvergänglich ist (Carmina 3, 30). Der Mensch ist sterblich, sein Werk aber nicht. Der Dichter hat keine Wertgegenstände zur Verfügung, um sie seinem reichen Freund Censorinus schenken zu können. Aber da dieser Lieder liebt, schenkt er ihm ein solches und beschreibt zugleich den Wert des Geschenks (Carmen 4, 8, 1–12): Die Macht des Liedes ist groß, denn es verewigt den Ruhm nachhaltiger als Statuen und öffentliche Inschriften (→ 10.1: Ruhm – die große Maschinerie des Weiterlebens). Die Muse lässt den verdienten Mann nicht sterben, sie schenkt ihm Unsterblichkeit. „Wenn die Blätter schwiegen von deinen guten Taten, könntest du keinen Lohn ernten“ (20–22). „Was wäre Romulus, der Sohn der Ilia und des Mars, wenn das neidische Verschweigen seine Verdienste in Dunkelheit hüllte?... Die Muse duldet es nicht, dass ein des Ruhmes würdiger Mann stirbt, die Muse schenkt ihm den Himmel“ (28 f.). Horaz glaubt an die verewigende Kraft der Poesie (Syndikus 1990, 372); er ist von der Dauerhaftigkeit des Geistigen überzeugt. Ohne den Dichter gäbe es sogar die Götter nicht; er allein verleiht den Heroen den Charakter der Göttlichkeit. In Robert B. Brandoms Sprachtheorie schlägt dieses Verständnis der schöpferischen und verewigenden Funktion der Sprache wieder durch: Die Welt wird durch unsere sprachlichen Begriffe strukturiert; mit diesen Begriffen erzeugen wir die Wirklichkeit, in der wir uns verständigen.333 So spricht Horaz in den Versen 25–26 selbstbewusst von der Leistung, dem Wohlwollen und der Sprache der mächtigen Dichter, die die Helfer der Menschheit vor dem Vergessen bewahrt haben. Der Gedanke, dass lyrische Dichtung Naturereignissen und menschlichen Leistungen Unsterblichkeit verleiht, fehlt in den ersten 353

drei Oden-Büchern des Horaz fast vollständig. Nur in Carmen 3, 13 hält der Dichter es nicht für anmaßend zu prophezeien, dass die Quelle Bandusia „in seinen Liedern ewig fortleben und so in die Gesellschaft der von den alten griechischen Dichtern gerühmten Quellen aufgenommen werde. ... Doch eine ähnliche Voraussage über einen Mitmenschen zu machen – dazu konnte er sich noch nicht entschließen. ... Erst als ihm mehrere Jahre nach dem Erscheinen der drei Odenbücher eine Aufgabe gestellt wurde,... nämlich den Hymnus für das große Nationalfest zu schreiben,... erst jetzt fühlte er sich in der Nachfolge dieser alten Dichter zu dem Versprechen an seine Freunde berechtigt, dass sie durch seine Lieder Unsterblichkeit erlangen würden.“334 Das Carmen 3, 13 gilt der Quelle, die auf dem Landgut des Horaz im Sabinerland sprudelte und die er nach dem Bandusiaquell im heimatlichen Apulien benannte. „Durch die hymnische Aufzählung aller segensreichen Wirkungen der Bandusia kommt nach und nach die ganze Umwelt ins Bild (Pflanzen, Tiere, Menschen, auch Farben und Töne, Sinneseindrücke jeder Art, die zur ‚Atmosphäre’ beitragen). So wird der Reiz anschaulich, den das belebende Wasser auf den Dichter ausübt.“335 Die „Verweigerung der Vergänglichkeit“ als Motiv des poetischen Schaffens wird in der vierten und letzten Strophe des Gedichts wiederum realisiert: „Auch du wirst zu den berühmten Quellen gehören, weil ich erzähle (me dicente) von der Eiche, die auf gewölbten Felsen steht, von wo deine geschwätzigen Quellnymphen hinabspringen“ (3, 13–16). Der schlichte Ablativus absolutus me dicente demonstriert das unerschütterliche Selbstbewusstsein eines von seiner Leistung überzeugten Dichters. Vergil, den Horaz im Übrigen als „die andere Hälfte meiner Seele“ (Carmen 1, 3, 8) bezeichnet, bringt einen vergleichbaren Kunstanspruch auf höchster Ebene zum Ausdruck: Im 9. Buch der Aeneis rühmt er (9, 446–449) den Heldentod des Freundespaares 354

Nisus und Euryalus: „Glückliches Freundespaar! Wenn meine Gesänge etwas vermögen, wird kein Tag euch je aus dem Gedächtnis der Nachwelt tilgen, solange das Haus des Aeneas den unverrückbaren Fels des Capitols bewohnt und solange Jupiter, der Vater Roms, herrschen wird“ (Übersetzung: Volker Ebersbach). Dass Horaz mit seiner „Verweigerung der Vergänglichkeit“ ein Motiv aus den Freundschaftsbriefen des Epikur aufgreift, legt eine vergleichbare Stelle bei Seneca nahe. Er schreibt unter Berufung auf Epikur (Briefe an Lucilius 21, 2–5): „Deine literarische Beschäftigung wird dich berühmt und adlig machen. Das Beispiel Epikurs will ich dir vortragen: Als er dem Idomeneus, der damals Diener der königlichen Macht war und wichtige Aufgaben hatte, schrieb und ihn aus einem glanzvollen Leben zu einem verlässlichen und dauerhaften Ruhm zurückrief, sagte er: ‚Wenn du vom Ruhm beeindruckt wirst, werden dich bekannter meine Briefe machen als all das, was du für wichtig hältst.‘ Hat er etwa gelogen? Wer kennte Idomeneus, wenn nicht Epikur ihn in seinen Briefen verewigt hätte? ... Den Namen des Atticus lassen nicht vergehen Ciceros Briefe. ... Was Epikur seinem Freunde nicht versprechen konnte, das verspreche ich dir, Lucilius: ich habe bei der Nachwelt Einfluss, ich kann Namen zusammen mit mir Bestand haben lassen“ (Übersetzung: Manfred Rosenbach). Während Epikur, Vergil, Horaz und Seneca ihre literarischen Texte als Mittel zur Bewahrung der Erinnerung oder auch zur Erhöhung befreundeter oder bedeutender Menschen und Naturerscheinungen (Horaz) verstehen, geht Martin Walser in seinem Aufsatz „Sprache, sonst nichts“336 noch einen Schritt weiter: Sprechen, Schreiben, Dichten seien Möglichkeiten dem an sich Sinnlosen Sinn zu vermitteln, Unsichtbares sichtbar zu machen oder Ungeschaffenes zu erschaffen. Horaz wollte ebenso wenig wie Pindar neue Welten hervorbringen oder erfinden. Er wollte nur, dass das Ungewöhnliche und Außerordentliche nicht vergessen wird. Nicht mehr und nicht weniger wollte auch Homer, der seiner Kunst die Mittel verdankte, die Erinnerung 355

an das Erwähnenswerte „für immer“ zu bewahren. Dazu gehört auch die Fähigkeit, das Wirkliche und das Unwirkliche, Ausgedachte, Erfundene, Phantastische und Unglaubliche miteinander zu verweben. Die Muse ist die Instanz, die die Dauerhaftigkeit dieses Gewebes gewährleistet. Mit dem Musenanruf wünscht der Dichter, dass das Gewebe nicht nur hält, sondern auch das Herz erfreut und den Blick weitet. In seinem oben erwähnten ZEIT-Artikel stellte Martin Walser unter anderem folgende Frage: „Warum entspricht uns die Welt nicht?“ Seine Antwort lautet: „Weil sie von selbst keinen Sinn hat. Wir sind so, dass wir etwas, was keinen Sinn hat, nicht ertragen. Also geben wir dem, was keinen Sinn hat, einen Sinn. Schon die Sinnlosigkeit zu erforschen, macht Sinn. Entspricht uns. Schreiben heißt, einer Welt zu entsprechen, die uns nicht entspricht. Schreibend antworten wir auf einen Mangel. Uns fällt ein, was uns fehlt.“ Anscheinend will Martin Walser dem Leser vermitteln, dass er mit seinem Schreiben Sinn schafft. Was aber ist dieser Sinn? „Davon, dass etwas ,Sinn macht‘, ist immer dann die Rede, wenn Zusammenhänge erkennbar werden“ (Schmid 2007, 45 f.). So lasse sich sagen: „Sinn, das ist Zusammenhang, Sinnlosigkeit demzufolge Zusammenhanglosigkeit.“ Dichtung bewahrt nicht nur Erinnerung und verweigert Vergänglichkeit, sie produziert auch Wirklichkeit, indem sie einen Zusammenhang schafft, den man ohne den Dichter nicht bemerkt hätte. Was Dichtung benennt und erzählt, muss nicht „wahr“ sein. Aber der Hörer bleibt aufgefordert, für sich eine Wahrheit in der Geschichte aufzuspüren. Der Appell des Dichters an die Muse ist zugleich ein Appell an den Hörer, seine Wahrheit in der Dichtung zu suchen. Das monostichische Carmen 4, 8 ist nicht wie das Carmen 4, 3 einer einzelnen Muse gewidmet. Es ist eine Art Musen-Programm oder Musen-Konzept. Die Musen, die Horaz als „Pierides aus Kalabrien“ bezeichnet, verleihen höchsten Ruhm. Die Muse lässt den des Ruhmes würdigen Mann nicht sterben (4, 3, 28). Das beansprucht Horaz 356

auch für sich selbst (Carmen 3, 30, 6 f.). Wenn die Dichter schwiegen (4, 8, 20–34), würde auch Censorinus nicht für seine Leistungen belohnt. Die Muse trägt den verdienten Mann in den Himmel und verleiht ihm den „Charakter der Göttlichkeit“.337 Die Anrufung und auch nur die Erwähnung der Muse soll nicht nur großartige Taten, sondern auch den Dichter, der diese Taten besingt, erhöhen. Die Muse sorgt dafür, dass die Taten auf Dauer im Gedächtnis bleiben. Sie macht die Helden ebenso unsterblich wie den Dichter. In seinem Carmen 4, 8 begründet Horaz den Wert seines Geschenks für Censorinus mit dem Hinweis, dass die Muse einem verdienten Mann die Unsterblichkeit schenke. Sie schaffe die Welt, die sie besinge, für alle Zukunft, und ohne den Dichter gäbe es nicht einmal die Götter.338 Selbst Romulus wäre vergessen, wenn man seine Taten mit Schweigen übergangen hätte, und Aeacus (Aiakos), den Sohn des Zeus und der Aegina, den Stammvater des Peleus und seines Sohnes Achill, retteten doch nur die Macht, die Zuneigung und die Sprachgewalt kraftvoller Dichter aus den Fluten der Styx und versetzten ihn auf die Inseln der Seligen (Carmen 4, 8, 26 f.). Unabhängig von der Frage, ob Horaz dieses Herausstreichen der eigenen Dichtkunst wirklich ernst gemeint hat, dürfte der Dichter die Wirkung des Wortes nicht überschätzt haben: Ohne Worte keine Taten. Erst die Worte setzen die Taten ins rechte Licht. In Vergessenheit geriete, wofür es keine Worte gäbe: Wenn die Blätter schwiegen, erhielte man keine Anerkennung für seine guten Taten. Dem Dichter war aber auch bewusst, dass Worte Taten nicht nur zur Sprache bringen, sondern auch verschweigen können, weil nicht existiert, wovon nicht geredet wird. Mit dem Begriff des „neidvollen Verschweigens“ (23 f.) gibt der Dichter zu erkennen, dass das bewusste Verschweigen auch ein Motiv haben kann: Eifersucht, Neid, Hass. Horaz setzt seine sprachliche Kunst den Musen gleich: Wenn er „Muse“ sagt, meint er seine eigene Poesie. Das ist ganz besonders deutlich in den Versen 28 f. des Carmen 4, 8. Schon bei Homer meint 357

die Muse die dichterische Kraft, auf die sich der Rhapsode beruft und die er beschwört. Die ursprüngliche Bedeutung ihres Namens ist allein aus ihrer Funktion zu erschließen. In der Ilias (2, 594–600) werden bereits mehrere Musen als Töchter des Zeus erwähnt: Sie besiegten in einem Sängerwettstreit den Thraker Thamyris, der sich damit gebrüstet hatte, den Musen überlegen zu sein. Dafür ließen sie ihn zur Strafe für seine Unverschämtheit erblinden und nahmen ihm seine Sangeskunst. In der Odyssee (8, 62 f.) ist es die Muse, die den Sänger Demodokos über alles liebte und ihm Gutes und Schlechtes zugleich schenkte: Sie nahm ihm sein Augenlicht und schenkte ihm „süßen Gesang“. Etwas später erfahren wir (Odyssee 8, 479–481), dass bei allen Menschen die Sänger hoch geachtet sind, weil die Muse sie lehrt und liebt. In der zweiten Nekyia (Odyssee 24) ist dann von neun Musen die Rede, die mit schöner Stimme Trauerlieder singen, um den toten Helden Achill zu ehren (60 f.). Hesiod eröffnet seine Theogonie mit dem Entschluss, mit den Musen vom Helikon sein Lied zu beginnen. Denn diese haben auch ihn einst singen gelehrt und ihm die Sangeskunst eingehaucht, damit er sagen konnte, was war und was sein werde. Die Musen beauftragten ihn, von der Herkunft der seligen Götter zu singen und auch sie selbst nicht zu vergessen. Einige Verse später erweitert der Dichter selbst die Perspektive: Die Musen singen zur Freude des gesamten Olymps von dem, was ist, was sein wird und was war (38). Die Musen, die dem Hirten am Helikon erscheinen, stellen sich ihm mit folgenden Worten vor (Theogonie 27 f.): „Wir verstehen uns darauf, vieles Erfundene zu erzählen, das dem Wirklichen ähnlich ist. Wir verstehen uns aber auch darauf, wenn wir es wollen, Wahres zu verkünden.“ Diese Selbstvorstellung der Musen spiegelt die Begrenztheit der menschlichen Fähigkeit, zwischen dem, was war, was ist und was sein wird, mit Gewissheit unterscheiden zu können. Die Musen stehen für eine Sprachkunst, die die Verwobenheit des Erfundenen mit dem Tatsächlichen als Wirklichkeit erscheinen lässt. 358

Hesiod erwähnt dann auch noch, dass Mnemosyne von Zeus neun Töchter bekam, die das Herz ihres Vaters mit ihrem herrlichen Gesang erfreuten. Die Theogonie ist also gewissermaßen die CoverVersion eines Liedes, mit dem die Musen die Götter im Olymp unterhielten. Aber gewarnt durch das Schicksal des Thamyris hat Hesiod nicht die Absicht, in einen Wettstreit mit den Musen einzutreten und diese sogar zu überbieten. Er singt nur nach, was die Musen gesungen haben. Er bietet die von den Musen autorisierte Neufassung eines göttlichen Originals. Nicht nur Thamyris konnte Hesiod vor Stolz und Eitelkeit warnen, sondern auch die Piëriden, die neun Töchter des Piëros, die es wagten, die Musen zu einem Sängerwettstreit herauszufordern, und deshalb in Elstern verwandelt wurden (Ovid, Metamorphosen 5, 294– 678). Auch die Sirenen, die gefiederten Wesen mit ihren Mädchengesichtern, die die Seefahrer mit ihren verführerischen Liedern verzauberten, ließen sich auf Veranlassung der Göttin Hera auf einen Sängerwettstreit mit den Musen ein.339 Denn sie waren nach Apollodor (1, 3, 1–4. Epitome 7, 18) die hoch musikalischen Töchter des Flussgottes Acheloos und der Muse Melpomene. Aber sie unterlagen den Musen, die ihnen daraufhin die Flugfedern ausrupften. Die Musen können nicht verlieren. Sie sind nicht nur unbesiegbar, sondern auch unsterblich. Auch Pindar benutzte den Topos der Unsterblichkeit: Das Preisen der Taten überdauert diese. Die weisen Töchter der Musen, die Lieder, rufen Freude hervor. Das ist die beste Entschädigung für alle Anstrengungen, die man für eine große Leistung ertragen hat. Nicht einmal ein warmes Bad – so Pindar – tue den Gliedern so gut wie der rühmende Gesang. Und dauerhafter als die Taten selbst ist die Rede davon, die die Zunge mit Hilfe der Chariten aus der Tiefe des Herzens herauf holt (Vierte Nemeische Ode, 1. Strophe). In der 2. Strophe der Sechsten Nemeischen Ode für Alkimidas aus Aigina, einen Sieger im Ringkampf, spricht Pindar die folgende Bitte 359

aus: „Auf dieses Haus (des Siegers) lenke, Muse, der Worte sanften Fahrtwind, der Ruhm und Ehre bringt. Denn auch wenn die Männer bald dahingehen werden, der Gesang und das Reden über ihre edlen Taten bewahrt für alle Zukunft die Erinnerung an sie.“ Die Muse bietet also Gewähr dafür, dass die großen Leistungen durch die Werke des Dichters nicht in Vergessenheit geraten. Der Dichter und die Täter der Taten selbst haben nur eine begrenzte irdische Existenz. Der Ruhm der Taten aber ist durch die von der Muse vermittelte Kunst des Dichters ewig.

10.3 Schein und Sein, Wort und Tat Ágnes Heller behauptet: „Politiker dürfen nicht lügen“.340 Sie stellt fest: Die Frage nach der Wahrheit in der Politik sei noch nicht alt. Wenn man einmal die beiden letzten Jahrhunderte der Römischen Republik ausklammere, dann gebe es ‚Politik‘ nur in der Moderne.“ Was die Autorin damit meint, bleibt genauso unklar wie die Bemerkung eines deutschen Politikers über die „spätrömische Dekadenz“.341 Hier wären sorgfältige „Spurensuche und Rekontextualisierung“ erforderlich. Man müsste sich ein Bild von der „Römischen Republik“ dieser Zeit zu machen versuchen, die ja ganz wesentlich von blutigen Machtkämpfen und Revolutionen geprägt war.342 Kaum verständlich ist auch folgende Aussage: „Anders als in der Moderne gibt es in vormodernen, homogenen Gesellschaften immer auch eine einheitliche Welt der Werte. Alle Wahrheiten erscheinen als geoffenbarte beziehungsweise naturwüchsig gegebene Wahrheiten, die man nie prüft oder nie prüfen darf, sehen wir einmal von der altgriechischen Philosophie ab, die der ‚bloßen Meinung‘ ein philosophisch wahres Wissen gegenübersetzte.“ In der Tat reflektierte bereits der Vorsokratiker Parmenides (VS 28) den Gegensatz zwischen Schein und Sein. Weil nur die Grundfiguren des Denkens wirklich sind, erscheint die 360

sinnlich wahrgenommene Welt als ein großer Irrtum. Aber Parmenides hat die wahrnehmbare Welt nicht für nichtig erklärt, um sie – und mit ihr auch sich selbst – zu vernichten. Er wollte nur bewusst machen, dass sie nicht so ist, wie sie zu sein scheint. Es ging ihm auch nicht darum, subjektive Einschätzungen und Sichtweisen gegenüber einer objektiven Wahrheit abzuwerten. Er wollte aber darauf aufmerksam machen, dass intersubjektive Kommunikation nur gelingen kann, wenn man die universalen und immer seienden Gesetzmäßigkeiten und Strukturen des Denkens erfasst und respektiert. Auch Sokrates und Platon befassten sich kontinuierlich mit dem Gegensatz zwischen Schein und Sein (Sophistes 237b–241b. 266b–267c). Im Blick auf die mangelhafte Kongruenz zwischen Schein und Sein, Wort und Tat schreibt der Kolumnist Harald Martenstein:343 „Ich muss Leute aufs Korn nehmen, die mächtig sind und den Ton angeben. Ich nehme mir die Menschen vor, die sich wehren können, nicht die ohnmächtigen, nicht die verwirrten kleinen Leute – pathetisch gesprochen. Und dann wehren die sich natürlich auch. Wobei ich ein Naturgesetz entdeckt zu haben glaube: Je stärker ein Mensch in abstrakter Hinsicht für Respekt und Sensibilität eintritt, desto weniger ist derselbe Mensch im Umgang mit einem Gegenüber zu Sensibilität und Respekt aufgelegt. Die Streiter für abstrakte Menschlichkeit sind im Konkreten häufig nicht sehr menschenfreundlich.“ Das ist ein Dilemma seit Menschengedenken. So zeigt sich der Gegensatz zwischen Sein und Schein eben auch als eine fehlende oder mangelhafte Übereinstimmung zwischen Wort und Tat. Schon in der Ilias 9, 443 hatte Phoinix, der Erzieher des jungen Achill, sein Bildungsziel formuliert: Achill sollte ein Sprecher kluger Worte und ein Täter großer Taten werden. Das „Gegenstück“ wird im zweiten Buch der Ilias (2, 202) getadelt: Odysseus versucht, die Griechen, die den Kampf um Troja abbrechen wollen, zum Bleiben zu veranlassen. Wenn er zufällig auf jemanden traf, fuhr er ihn an: „Du bist feige und kraftlos, man konnte weder im Kampf auf dich zählen noch im Rat.“ Das ist ein 361

passendes Beispiel dafür, dass die beiden Stellen ohne eine Rekontextualisierung zwar verständlich sind, aber nach einer Klärung des literarisch reflektierten gesellschaftlichen Hintergrunds verlangen, wenn man sie wirklich ernst nehmen will. Die Verbindung von Wort und Tat war also schon in der homerischen Welt ein Tugendideal. Der Held muss nicht nur mitreißend reden, sondern auch tüchtige Taten vollbringen können. „So sind in den homerischen Epen ‚Worte‘ und ‚Taten‘ die einander ergänzenden gleichwertigen Äußerungsformen menschlichen Tuns.“344 In der Verbindung von Wort und Tat werden die menschlichen Möglichkeiten in ihrer Ganzheit erfasst. Cicero greift später (De oratore 3, 57) das Wort des Phoinix (Ilias 9, 443) wieder auf, um die Einheit des richtigen Handelns und des vernünftigen Redens zu verlangen. In der Odyssee (2, 272) wird Odysseus von Athene als ein Mann charakterisiert, der alles, was er sagte und tat, mit Erfolg zu Ende brachte. Die Übereinstimmung von Worten und Taten bedeutet zugleich, dass auch Eigenschaften und Fähigkeiten verwirklicht oder angewandt werden müssen, wenn sie als vorhanden anerkannt werden sollen. Es genügt nicht, von ihnen nur zu reden, man muss sie auch wirksam werden lassen (→ 10.7: Besitzen und Gebrauchen).345 Pindar (Erste Nemeische Ode 27–30) preist Chromios aus Syrakus, den Sieger im Wagenrennen mit folgender Anrede: „Stärke zeigt sich nämlich durch die Tat, Vernunft durch kluge Gedanken bei denen, die dazu veranlagt sind, die Zukunft vorauszusehen. Sohn des Hagesidamos, es entspricht deiner Art, sowohl dieses als auch jenes zu verwirklichen.“ Auch hier wird die Verbindung und Übereinstimmung von Worten und Taten als ein Ideal gepriesen. Die große Bedeutung, die der Übereinstimmung von Wort und Tat, von Denken und Handeln bei Homer eingeräumt wurde, spricht auch aus Heras Vorwurf gegenüber ihrem Gatten Zeus (Ilias 19, 107): „Du bist ein Lügner, denn nie tust du wirklich, was du sagst.“ Zeus wird also der Forderung nach einer Einheit von Wort und Tat keinesfalls gerecht. 362

In den Fabeln des Äsop wird festgestellt, dass manche Menschen zwar laut verkünden, was gut ist, aber in Wirklichkeit Böses tun (Fabel Nr. 22). Die Diskrepanz zwischen Wort und Tat gilt dann als besonders unmoralisch, wenn sie von Scheinheiligkeit begleitet ist (→ 3.10: Authentizität). Bei Äsop (Nr. 33) findet sich auch die Geschichte von dem Angeber, der behauptet hatte, auf Rhodos so weit gesprungen zu sein, wie es noch nie ein Olympiasieger geschafft habe. Daraufhin wird er aufgefordert, diese Leistung zu wiederholen. Da muss er klein beigeben. Ein Beispiel für ein drastisches Erziehungsmittel bietet Äsop mit der Fabel vom Wolf und der alten Frau (Nr. 158). Die Geschichte zielt auf Menschen, die nicht in Übereinstimmung mit ihren Worten handeln, wie es im Epimythion heißt: Ein hungriger Wolf hörte, wie eine Frau einem weinenden Kind drohte, sie würde es dem Wolf vorwerfen, wenn es nicht zu weinen aufhöre. Der Wolf wartete, weil er annahm, sie meine es ernst. Dann aber geschah nichts, und der Wolf zog mit folgenden Worten ab: „Auf diesem Bauernhof reden die Menschen anders als sie in Wirklichkeit handeln.“ Eine besondere Variante der Diskrepanz zwischen Schein und Sein bietet das Urteil des Thukydides über die politische Situation am Anfang des Peloponnesischen Krieges: Perikles genoss aufgrund seiner politischen Fähigkeiten auch in schwierigen Situationen das Vertrauen der athenischen Bevölkerung. Der Historiker (2, 65, 9) fasst seine Analyse mit dem knappen Satz zusammen: Athen schien dem Wort nach eine Volksherrschaft zu sein. In Wirklichkeit aber herrschte Perikles, der erste Mann des Staates.346 Cicero setzt sich am Anfang seiner Schrift über die Pflichten (Off. 1, 18 f.) mit dem Verhältnis zwischen Theorie und Praxis auseinander: Bei dem Streben nach Erkenntnis und Wissen müssten zwei Fehler vermieden werden: „Erstens dürfen wir nichts Unverstandenes als verstanden hinnehmen und ihm nicht bedenkenlos zustimmen; wer diesen Fehler vermeiden will – was aber alle wollen müssen –, 363

wird sich beim Nachdenken darüber Zeit nehmen und sorgfältig sein. Der zweite Fehler besteht darin, dass manche Leute viel zu großen Eifer aufwenden und zu viel Mühe mit dunklen und schwierigen Fragen verbringen, die dazu noch überflüssig sind. Wenn man diese Fehler vermeidet, wird alle Mühe und jeder Einsatz, den man für beachtenswerte und wissenswerte Dinge beweist, mit Recht gelobt, wie wir selbst es von C. Sulpicius in der Astronomie, von Sextus Pompeius in der Geometrie, von vielen in der Philosophie, von noch mehr Leuten in der Rechtswissenschaft gehört haben, in Wissenschaften also, die sich mit dem Aufspüren des Wahren befassen. Wenn man sich aber durch das Streben danach davon abbringen lässt, im praktischen Leben tätig zu sein, steht das im Gegensatz zur Pflichterfüllung. Denn der ganze Wert der Tugend besteht im Tätig sein.“ Einen vergleichbaren Standpunkt hatte Cicero bereits in De re publica 1, 1 f. vertreten, als er über die Verpflichtung zu höchster Leistung und den uns von der Natur eingepflanzte Willen sprach, für das allgemeine Wohl einzutreten, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen und diese Aufgaben durch die Tat, nicht durch das Wort zu erfüllen (→ 7.5: Cicero und die Pflicht zur Tugend). In Fin. 2, 96 versucht Cicero mehrfach nachzuweisen, dass Epikurs tatsächliches Handeln und Verhalten mit seinen Worten nicht übereinstimmen. Cicero betont die Diskrepanz zwischen der Behauptung, dass Freude und Schmerz stets körperlich empfunden werden, und Epikurs Hinweis darauf, dass seine extremen körperlichen Schmerzen am Ende seines Lebens durch die seelische Freude kompensiert worden seien, die er aus der Erinnerung an seine wissenschaftlichen Erkenntnisse gewonnen habe. Aber gerade dadurch habe er sich selbst widersprochen. Seine eigene Strategie einer Schmerzbewältigung stehe im Gegensatz zu seiner These von der rein körperlich empfundenen Lust (→ 7.9: Schmerz und Schmerztherapie). Cicero hat große Achtung vor Epikurs Haltung. Sein Sterben verdiene keinen geringeren Respekt als der heroische Tod des Thebaners 364

Epaminondas oder des Leonidas (→ 6.3: Wanderer kommst du nach Spa ...). Seine Thesen würden durch seinen redlichen Charakter und seinen Lebenswandel widerlegt: Seine Fürsorge für die Kinder, seine liebevolle Erinnerung an Freunde, die Verwirklichung höchsten Pflichtgefühls bis zum letzten Atemzug zeigten, dass dieser Mann eine angeborene, zweckfreie Anständigkeit besessen habe, die nicht durch die Aussicht auf Lustgewinn hervorgerufen oder durch die Erwartung bestimmter Belohnungen ausgelöst sei (Fin. 2, 99). Epikurs Pflichtbewusstsein angesichts seines nahen Todes ist für Cicero ein schlagender Beweis dafür, dass sittliches Handeln um seiner selbst willen erstrebenswert ist. Aber dieses Handeln steht im Widerspruch nicht nur zu Epikurs Lust-Lehre, sondern auch zu seiner Behauptung, dass uns der Tod nichts mehr angehe. Epikur hätte doch keine so sorgfältigen Anordnungen getroffen, wenn mit dem Tod alles zu Ende sei. Ciceros Gedanken zu den Widersprüchen zwischen Epikurs Leben und Lehre sind vor allem deshalb bemerkenswert, weil hier nicht bedauert wird, dass das Leben der Lehre widerspricht, sondern dass festgestellt wird, dass Epikurs moralische Größe im tatsächlichen Leben die Substanz seiner Lehre überragt (→ 4.4: Was ist ein Epikureer?). Seneca (De vita beata 18, 1) bringt den oft zu beklagenden Widerspruch zwischen Reden und Handeln auf die schlichte Formel: „Du redest anders, als du in Wirklichkeit lebst“. Er selbst wehrt sich energisch gegen diesen Vorwurf. Das ist ein wesentlicher Inhalt seiner Schrift Über das glückliche Leben. Auch im 108. Brief an Lucilius reflektiert er über den Gegensatz zwischen Reden und Handeln und die Notwendigkeit, Worte in Taten zu verwandeln. So solle auch das Hören oder Lesen philosophischer Texte dem Zweck eines glücklichen Lebens dienen, „und nicht um altertümlichen und erfundenen Wörtern und unpassenden Metaphern und Redefiguren nachzujagen“. Aus den Texten solle man wertvolle Aussagen gewinnen, die sich ohne weiteres in die Tat umsetzen ließen. „Wir wollen uns diese so 365

einprägen, dass die Worte, die sie bisher waren, zu Taten werden (108, 35).“ Niemand aber mache sich seiner Meinung nach um alle Menschen weniger verdient als diejenigen, die die Philosophie genauso wie irgendeine käufliche Kunstfertigkeit gelernt hätten und die anders lebten als sie zu leben vorschrieben. Denn sie würden sich selbst als Beispiele einer nutzlosen Wissenschaft empfehlen und seien jedem Fehler verfallen, gegen den sie vorgingen. „Ein solcher Mensch kann mir als Lehrer genauso wenig nützen wie ein Steuermann, der in einem Sturm seekrank wird. Man muss in der reißenden Flut das Steuerruder festhalten, man muss mit dem Meer selbst ringen und dem Sturm die Segel entreißen: Was kann mir ein Schiffsführer nützen, der vor dem Donner erzittert und sich ständig übergibt? Wie viel gewaltiger ist der Sturm, glaubst Du, der Dein Leben erschüttert und nicht nur irgendein Schiffchen? Man darf nicht reden, sondern muss steuern. Alles, was die Leute sagen, womit sie vor großer Zuhörerschaft prahlen, sind fremde Gedanken. ... Wie sie beweisen können, dass es ihre Gedanken sind, werde ich zeigen: Sie sollen tun, was sie gesagt haben.“ Dass Wollen und Ausführen oft auseinander fallen, bedauert nicht zuletzt Paulus (Römer 7, 18 f.): „Denn das Gute, das ich will, tue ich nicht; aber das Böse, das ich nicht will, tue ich.“ An die Philipper (2, 13) schreibt er dann jedoch, dass Gott den Menschen beides vermittle: zu wollen und zu vollenden, was er wolle. An Jacobus schreibt Paulus (1, 22): „Handelt aber dem Wort gemäß und hört es euch nicht nur an: Denn sonst betrügt ihr euch selbst.“ Wer nicht heimlich Wein trinkt und öffentlich Wasser predigt,347 bei dem stimmen Wort und Tat, Reden und Handeln überein.

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10.4 Politisches Vokabular In seinem monumentalen Werk über die „Römische Revolution“, in dem er die „Machtkämpfe im antiken Rom“ lebendig werden lässt, befasst sich Ronald Syme mit den „Politischen Schlagworten“ der römischen Republik (156–167). Im Rahmen einer sehr anschaulichen Schilderung einer allgemein verbreiteten Verleumdungs-, Schmäh- und Beleidigungskultur in der Politik und im Gerichtswesen – „Freiheit der Rede war ein wesentlicher Teil der republikanischen Tugend der libertas“ – geht Syme genauer auf die politische Rhetorik ein, wie sie vor allem in Ciceros Reden fassbar ist und von Historikern wie Sallust und Tacitus reflektiert wird. Nach Sallust sind die politischen Debatten von einer hemmungslosen Machtgier geprägt (Sallust, Catilina 38, 3). Nach dem Untergang Karthagos „benutzten einige wenige ehrgeizige Männer die achtbaren Namen des Senats und des Volkes als Maske für ihre persönliche Herrschaft“ (Syme 161). Zu diesem Zweck wurde das politische Vokabular massiv manipuliert. Der Konsul Lepidus beklagt in einer Rede an das römische Volk, dass die positive Entwicklung unter Sulla der Verschleierung von Verbrechen diente. Wenn diese aber einmal aufhöre, werde Sulla so verachtet, wie er gefürchtet wurde, und dies nicht zuletzt unter dem Schein von Eintracht und Frieden, mit Parolen also, mit denen er seine Schandtaten und seinen Verrat am Vaterland zudeckte (Historien 1, 24). Der Volkstribun Macer ermahnte das Volk, nicht die Bezeichnungen der Dinge aus Feigheit zu verändern und Ruhe statt Unterdrückung zu sagen (Historien 5, 13). Sallust vertrat die Meinung, dass die führenden Politiker nicht wegen ihrer Verdienste um den Staat, sondern nach der Größe ihres Reichtums und dem Umfang ihrer Verbrechen in ‚gute‘ oder ‚schlechte Bürger‘ eingeteilt wurden. Denn alle waren gleichermaßen korrumpiert und verteidigten die gegenwärtigen Verhältnisse und ihre eigenen Interessen. Sallust ist offensichtlich der Auffassung, dass

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die politische Heuchelei zwar auch schon in Zeiten des Friedens und des Wohlstands einen besonders guten Nährboden hatte, aber in Zeiten innerer Unruhen und äußerer Bedrohung eine tödliche Wirkung entfalten kann. Dann entstehe eine Situation, in der – wie bereits Thukydides (3, 82, 3) feststellte – die üblichen Bezeichnungen für die Dinge umgedreht wurden. Tacitus lässt den Britannier Calgacus in seiner Anklagerede gegen die römische Politik die vielgerühmte römische pax Romana als eine große Lüge entlarven: Die Römer – so heißt es im Agricola (30, 6) – tun nichts anderes als plündern, abschlachten und rauben. Und das bezeichnen sie dann mit falschen Vokabeln als Herrschaft, und wenn sie das Land entvölkern, nennen sie das Frieden.348 Die Sieger haben die Deutungshoheit, sodass sie selbst verbrecherische Handlungen als gute Taten darstellen können und dies auch tun. Sie nennen sich „Freunde und Gäste“ und begehen unter diesem Deckmantel die schlimmsten Schandtaten. Hinzu kommt eine perfide Propaganda: die Fehler ihrer Feinde stellen sie als ruhmvolle Erfolge des römischen Heeres dar (Agricola 32, 1). Die Verwendung „falscher Vokabeln“ ist anscheinend ein genuin imperialistisches Instrument. Im Zusammenhang mit seiner Beschreibung des Bürgerkriegs in Korkyra schildert Thukydides (3, 82) den totalen Verlust der Menschlichkeit, „wie es eben geschieht und immer geschehen wird, solange die menschliche Natur dieselbe bleibt, aber zunehmend heftiger und in anderen Erscheinungsformen, wie die jeweils sich ändernden Umstände es mit sich bringen. Denn im Frieden und unter glücklichen Bedingungen verfügen die Völker und die einzelnen Menschen über eine bessere Gedankenwelt, weil sie nicht in unausweichlich schwierige Situationen geraten (→ 8.11: Gibt es den gerechten Krieg?) und die Leidenschaften der Menschen und ihre Sprache den gegebenen Umständen anpassen“ (3, 82, 2–3). Die Auseinandersetzungen führten unter anderem dazu, dass die Beteiligten die übliche Bezeichnung von Sachverhalten und Vorgän368

gen nach Belieben vertauschten. Denn verantwortungsloses Losstürmen galt als Tapferkeit, die auf den Nebenmann Rücksicht nimmt, bedächtiges Zögern als Feigheit, die sich hinter einem ehrenwerten Vorwand versteckt, Anständigkeit wurde als Deckmantel für Unmännlichkeit, allgegenwärtige Klugheit als Tatenlosigkeit in jeder Hinsicht. Unbesonnene, törichte Eile galt als typisch männlich, vorsichtiges Beraten wurde als schönes Wort für fehlende Entscheidungskraft interpretiert. Wer sich ereiferte, galt als zuverlässig, wer widersprach als verdächtig. Wer erfolgreich intrigierte, galt als klug, und wer eine Intrige durchschaute, galt als überlegen.“ Thukydides schließt seine Pathologie des menschlichen Handelns und Verhaltens, mit dem zuerst die Korkyrer in ihrer Stadt gegeneinander wüteten, mit der lapidaren Bemerkung (3, 82, 7), der Mensch wolle im allgemeinen lieber als verbrecherisch, aber klug statt als anständig, aber dumm angesehen werden. Für dieses schäme er sich, mit jenem brüste er sich. Die Ursache aber von all dem sei das Streben nach Macht, das von Habgier und Ehrgeiz angetrieben sei.349 Bei Tacitus geht es aber nicht nur um eine grundsätzliche Abrechnung mit dem römischen Imperialismus, wie sie auch schon bei Sallust begegnet ist, der bei den Römern eine „bodenlose Gier nach Macht und Reichtum“ feststellte (Brief des Mithridates in den Historien). Sallust charakterisiert sie an derselben Stelle zudem als „Ausplünderer der Völker“, die von Anfang an ausschließlich von Raub gelebt haben. Tacitus spricht von „Räubern der ganzen Welt“ (Agricola 30, 5). Aber es geht Tacitus wie schon Sallust vor allem um den Missbrauch der Deutungshoheit bei der Interpretation verbrecherischen Handelns. Die „falschen Begriffe“ bilden den Kern der Vorwürfe gegen die Römer. Hier wird nicht nur die fehlende Übereinstimmung zwischen Worten und Taten, sondern vor allem auch die Beschönigung von Taten durch ihre willkürliche Umdeutung beklagt.

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10.5 Aktiv, Passiv und Medium Es ist für die Interpretation von Texten von Belang, den Unterschied zwischen Aktiv, Medium und Passiv wahrzunehmen: „Das Passiv ist eine spätere, künstliche, gleichsam entmenschlichte Form des Verbs. … Im Journalismus bietet das Passiv ein doppeltes Ärgernis: inhaltlich und politisch, weil es ein Mittel ist, die handelnden Personen zu verschweigen (‚Produktionskapazitäten werden stillgelegt‘ – von wem bitteschön?“350 Mit der sprachlichen Form des Passivs verschweigt der Mensch Verantwortlichkeit. Das Passiv bedeutet Abwälzung auf fremde Autorschaft. Mit der Verwendung des Passivs kann man leicht die Rolle eines Opfers übernehmen und eine mögliche Mittäterschaft verleugnen. „Ich wurde am Strand bestohlen?“ Warum hat die Person ihre Wertsachen nicht gesichert oder besser noch zu Hause gelassen? Man sollte also bei vermeintlichen Passivformen stets prüfen, ob sie nicht eher Formen des Mediums sind, die den Leser oder Hörer auf die Mitbeteiligung des Betroffenen hinweisen, weil sie einen Vorgang als eine „Mischung“ aus Freiheit und Fremdbestimmung definieren. Denn genau diese „Mischung“ bringt das Medium, das zwischen Aktiv und Passiv „vermittelt“, zum Ausdruck.351 Wenn jemand überzeugt wird, dann handelt es sich zwar formal um ein Passiv, aber wer überzeugt wird, lässt sich überzeugen und muss dabei aktiv tätig sein, so dass von einem passiven Vorgang gar nicht die Rede sein kann.352 Dass die Diathese des Verbs ein wertvoller Ansatzpunkt für die Interpretation ist, zeigen auch folgende Überlegungen: Das Medium verdeutlicht im Vergleich zum Passiv, dass der „Leidende“ an dem Verlauf der ihn betreffenden Handlung nicht völlig unschuldig ist. So beruht etwa auch das Tragische eines Geschehens gerade nicht auf dem Passiv, sondern auf dem Medium, das Mitschuld oder Mitverantwortung zum Ausdruck bringt. Tragische Helden sind in der griechischen Tragödie keine wehrlosen Opfer göttlichen oder schick370

salhaften Wirkens – das wäre nicht tragisch; sie haben sich selbst dem Geschehen ausgeliefert (→ 3.7: Antigone: Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da). Durch die mediale Sichtweise wird Verantwortung markiert. Der Betroffene ist Opfer und Täter zugleich – und sei es nur aufgrund seiner bloßen, aber taten- und gedankenlosen Anwesenheit. Es gibt keine Abwesenheit von Aktivität in der Passivität und keine Rezeptivität ohne Spontaneität. Ein Vorbehaltsverhältnis gegenüber dem Passiv impliziert zugleich die Anerkennung von Schuldfähigkeit und Verantwortung und die Ablehnung von Determination durch ein Schicksal oder durch genetische und neuronale Prozesse.353

10.6 Xenophanes und das Denken des Möglichen und des Unmöglichen Wie man Gott nicht erkennen kann, so ist auch ein wirkliches Erkennen grundsätzlich unmöglich: „Das Genaue sah kein Mensch und es wird auch niemanden geben, der etwas weiß über die Götter und über alle anderen Dinge, von denen ich spreche. Denn auch wenn es ihm in höchstem Maße gelänge, mit Worten Vollkommenes auszudrücken, weiß er es doch selbst nicht wirklich. Es gibt überhaupt nur Vermutungen“ (Xenophanes, VS 21 B 34). Vermutungen, die „dem Wirklichen nahe zu kommen scheinen“ (B 35), können plausibel sein, sind aber unbewiesen. Sie werden zwar nicht ohne Grund, aber ohne Gewissheit angestellt. Xenophanes ist der Philosoph des Misstrauens gegenüber der Welt und gegenüber den eigenen Vermutungen und Annahmen. In diesen Zusammenhang gehören auch das gedankliche Experiment und das Denken in Alternativen: Aus der sprachlichen Form des irrealen Bedingungssatzes entwickelt Xenophanes neue Möglichkeiten der Argumentation: „Wenn Ochsen oder Löwen Hände hätten oder mit ihren Händen malen und Werke schaffen könnten wie die Menschen, dann würden 371

Pferde pferdeähnliche, Ochsen aber ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper abbilden, wie sie jeder Einzelne selbst besäße“ (B 15). Auch die sinnliche Wahrnehmung ist nicht absolut vorhanden und objektiv messbar, sondern von bestimmten Bedingungen abhängig: „Wenn ein Gott nicht den gelben Honig geschaffen hätte, dann würde man sagen, Feigen seien viel süßer (als wir es jetzt empfinden)“ (B 38). Diese scheinbar so banalen Sätze haben eine exemplarische Bedeutung. Sie veranschaulichen die Bedingtheit menschlicher Meinungen, Anschauungen und Empfindungen: Denn jede Erfahrung steht im Zusammenhang mit bereits gemachten Erfahrungen und wird dadurch relativiert. Aber abgesehen davon ist ein Nachdenken über das Mögliche (wenn ... dann) ein kreativer philosophischer Ansatz (→ 7.4: Platons Philosophenkönige – Utopie einer politischen Leistungselite). Denn „sicherlich haben die Götter den Sterblichen nicht von vornherein alles gezeigt, vielmehr finden sie erst mit der Zeit das Bessere, wenn sie danach suchen“ (VS 21 B 18).354 Xenophanes regt mit seinen Gedankenspielen in der sprachlichen Form des Konditionalsatzes zur Bildung von Hypothesen an, die einen neuen Sachverhalt und seine möglichen Konsequenzen bewusst machen und zugleich etwas bereits Gedachtes – wie zum Beispiel ein Vorurteil – fragwürdig werden lassen. Daher versteht auch Karl R. Popper Xenophanes als den Begründer einer skeptischen Denkhaltung, die Wissen als Vermutungswissen begreift und Gewissheit ausschließt. Zwei treffende Beschreibungen der skeptischen Denkhaltung aus dem ersten vorchristlichen und dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert seien hier zitiert: (1) Cicero charakterisiert die akademische Skepsis in seinem Lucullus (7–9): „Da wir aber gewohnt sind, gegen alle zu argumentieren, die etwas zu wissen glauben, können wir uns nicht darüber beschweren, dass andere uns widersprechen. Allerdings ist unsere Situation 372

recht einfach: Denn wir wollen die Wahrheit ohne irgendeinen Streit finden und suchen sie mit besonderer Sorgfalt und größtem Eifer. Denn auch wenn alle Erkenntnis von vielen Schwierigkeiten verstellt ist und die Dinge selbst von einer so großen Dunkelheit verhüllt und unsere Urteile so beschränkt sind, dass sogar die ältesten und gelehrtesten Männer daran verzweifelten, finden zu können, was sie finden wollten, haben sie es trotzdem nicht aufgegeben, und auch wir werden uns nicht erschöpfen lassen und die Lust verlieren, weiter zu forschen. Meine Überlegungen haben keinen anderen Zweck, als durch Reden und Zuhören und durch das Abwägen des Für und Wider etwas hervorzulocken und gewissermaßen auszudrücken, was entweder wahr ist oder der Wahrheit möglichst nahe kommt. Zwischen uns und denen, die etwas zu wissen glauben, besteht nur der Unterschied, dass jene nicht an der Richtigkeit ihrer Position zweifeln, während wir vieles höchstens für plausibel (probabile) halten, was wir zwar leicht nachvollziehen, aber wohl kaum beweisen können. Doch gerade dadurch sind wir viel freier und unabhängiger, dass wir keine Vorurteile haben und uns nicht gezwungen sehen, alles Mögliche zu verteidigen, was uns von außen vorgegeben und gewissermaßen befohlen wird. Denn die anderen Menschen sind erstens schon festgelegt, bevor sie überhaupt urteilen konnten, was das Beste ist; zweitens urteilen sie in einem sehr unreifen Alter oder in Anlehnung an einen bestimmten Freund oder eingenommen von einer einzigen Rede, die irgendein Mensch gerade über unverstandene Fragen gehalten hat; und zu welcher Disziplin sie der Sturm gewissermaßen hingetrieben hat, an diese klammern sie sich wie an einen Felsen. Denn wenn sie sagen, sie hätten vollstes Vertrauen zu dem Menschen, den sie für weise hielten, würde ich dies akzeptieren, falls sie dies in ihrer fehlenden Bildung und in ihrer Unkenntnis hätten beurteilen können (denn, wenn man beurteilen will, wer weise ist, muss man auf jeden Fall selbst weise sein). Aber sie haben es so getan, wie sie es konnten. Einige allerdings, die ein wenig besser Bescheid wussten, haben erst 373

geurteilt, nachdem sie sich alles angehört und auch die Ansichten der übrigen zur Kenntnis genommen hatten, oder sich der Autorität einer bestimmten Person unterworfen, nachdem sie die Sache einmal gehört hatten. Die meisten Menschen wollen dagegen aus unerfindlichen Gründen lieber im Irrtum verharren und die Meinung, die sie einmal lieb gewonnen haben, verbissen verteidigen, als ganz unvoreingenommen herauszufinden versuchen, was der Kritik am besten standhält.“ Ciceros Ausführungen über den antiken Skeptizismus bilden den erhellenden Hintergrund des Aufsatzes „Der Intellektuelle und der Andere“, den Ortega y Gasset 1940 veröffentlichte. Auch Cicero sprach von dem „Anderen“, der die Welt nicht mit den Augen eines Skeptikers sehen will. Ortega notiert, der Andere lebe im Gegensatz zum skeptischen Intellektuellen in einer Welt, deren Dinge ein für alle Mal so sind, wie sie zu sein scheinen. Sein Leben werde immer daraus bestehen, die Dinge zu handhaben, zu gebrauchen und so gut wie möglich zu seinem Vorteil zu nutzen. Dem Anderen sei der skeptische Intellektuelle ein Störer und zudem ein Schmarotzer, weil er ahne, dass das ständige Hinterfragen und Auseinanderlegen seiner Umwelt kaum als ernsthafte Arbeit aufgefasst werden könne. (2) Im elften Buch seines essayistisch angelegten Sammelwerkes Attische Nächte (11, 5) beschreibt Gellius die Pyrrhonischen Philosophen, die man auch als Skeptiker bezeichnet. Das bedeutet etwa dasselbe wie „Untersuchende und Aufspürende“: „Sie treffen nämlich keine Entscheidungen und legen sich auf nichts fest, sondern sind ständig dabei zu fragen und zu überlegen, was in aller Welt das ist, wofür sie sich zu entscheiden und worüber sie eine richtige Aussage zu treffen in der Lage sind. Außerdem sind sie der Ansicht, sie könnten überhaupt nichts klar sehen und deutlich hören. Sie bildeten sich nur ein, dass sie etwas sähen und hörten. Sie zögerten und hielten sich mit ihrem Urteil über die Vorgänge zurück, die die Dinge in ihnen hervorriefen. Da die Kennzeichen des Wahren und des Falschen bei 374

allen Dingen miteinander vermischt seien, erklären die Skeptiker, dass Verlässlichkeit und Wahrheit nicht greifbar erscheinen. Folglich müsse jeder Mensch, der sein Urteil nicht überstürzt oder voreilig fälle, immer wieder dasselbe sagen, was schon Pyrrhon von Elis, der Begründer dieser philosophischen Lehre, gesagt haben soll: ‚Diese Angelegenheit verhält sich so oder anders oder auch völlig anders als vermutet.‘ Denn sie bestreiten, dass man Beweise für irgendetwas und seine tatsächlichen Eigenschaften erkennen und erfassen könne. Sie versuchen, diese Feststellung auf vielfältige Weise zu vermitteln und darzustellen.“ Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen – die antike Skepsis ist kein aktiver Zweifel mit dem Ziel einer Ablehnung oder eines Widerspruchs, sondern lediglich die passive Zurückhaltung im Urteil und das Eingeständnis, etwas nicht zu wissen. Hier sei nur an ein Beispiel für den skeptizistischen Denkstil in der Moderne erinnert: Albert Camus hat seinen existenzialistischen Skeptizismus im Mythos von Sisyphos als einen Versuch über das Absurde vorgetragen, das sich aus der „Gegenüberstellung des Menschen, der fragt, und der Welt, die vernunftwidrig schweigt,“ ergibt. „Von wem oder wovon kann ich tatsächlich behaupten: Das kenne ich. Das Herz in mir kann ich fühlen, und ich schließe daraus, dass es existiert. Die Welt kann ich berühren, und auch daraus schließe ich, dass sie existiert. Damit aber hört mein ganzes Wissen auf; alles andere ist Konstruktion.“ 355 Der antike Skeptizismus bringt eine Konstante der condicio humana zur Geltung: die existenzielle Ungewissheit, der Pyrrhon von Elis nach dem Motto „Das eine trifft nicht mehr zu als das andere“ in seinem Leben und Denken zu entsprechen versuchte, um zu erklären, dass nicht die Dinge selbst, sondern die Vorstellungen von den Dingen die menschlichen Triebkräfte in Gang setzen. Mit der Erörterung einer Frage „nach beiden Seiten hin“ (Cicero, Lucullus 7 und Fin. 2, 2) versuchte Cicero, das „Wahrscheinliche“ zu veranschaulichen. Dieses Verfahren hatte auch schon Sokrates prakti375

ziert, indem er seine Gesprächspartner dazu brachte, eine Meinung zu äußern, mit der er sich dann auseinandersetzte. Schon Arkesilaos von Pitane, der 268–241 v. Chr. die platonische Akademie leitete, hatte die Überzeugung des Sokrates übernommen: Die Wahrheit ist nicht erreichbar; man muss sich mit der Wahrscheinlichkeit als Richtschnur des Handelns begnügen. Dieses Prinzip der skeptischen Zurückhaltung ist dann im zweiten vorchristlichen Jahrhundert für den Akademiker Karneades aus Kyrene die Grundlage seiner Argumentationskunst: Wenn jemand eine bestimmte Behauptung aufstellt, dann entwickelt Karneades den entgegengesetzten Standpunkt, ohne diesen unbedingt selbst zu vertreten; entscheidend sind nur die Gegenargumente, deren Widerlegung dann auch zur Bestätigung der ursprünglichen Behauptung führen kann. Cicero vermutete (Lucullus 78), Karneades sei wohl grundsätzlich weniger dazu bereit gewesen, etwas zu billigen oder anzuerkennen als ausgiebig darüber zu diskutieren. Laut Sextus Empiricus (Adversus mathematicos 7, 159–165. 401–425) und Cicero (Lucullus 64–90) bestreitet Karneades die Zuverlässigkeit der sinnlichen Wahrnehmung und die stoische Lehre von dem „begreifenden Sinneseindruck“, der auf die Bestätigung durch die Vernunft angewiesen ist. Das stoische Wahrheitskriterium der Evidenz, der unmittelbaren Gewissheit, lehnt Karneades als unzureichend ab; er verwirft die Existenz eines Wahrheitskriteriums und fordert daher die Zurückhaltung des Urteils. Karneades verdanken wir also eine Kultur des intellektuellen Misstrauens, das auch die eigene Person mit einschließt. Denn Objektivität (objektive Wahrheit) sei schon deshalb fraglich, weil alle unsere Wahrnehmungen mit subjektiven Elementen vermischt seien, sodass man Irrtümer nie ausschließen könne. Viele Unfälle scheinen ihre Ursache darin zu haben, dass man zum Beispiel im Straßenverkehr Entfernungen und Geschwindigkeiten falsch einschätzt oder die Auswirkungen spontaner Entscheidungen nicht angemessen beurteilen kann. Mit einem „defensiven Fahrverhalten“ versucht man, die Folgen von Fehleinschätzungen zu verringern. 376

Sextus Empiricus bewahrte in seiner Schrift Adversus mathematicos wichtige Lehrinhalte des Akademikers Karneades, wie die Unterscheidung der drei Stufen einer relativen Gewissheit, um überhaupt Entscheidungen treffen zu können (Adversus mathematicos 7, 176–189): (1) die glaubhafte (plausible), (2) die glaubhafte und unwidersprochene, (3) die glaubhafte, unwidersprochene und gründlich geprüfte Vorstellung. Mit dieser skeptischen Zurückhaltung gegenüber einer Welt, die nicht ein für alle Mal so ist, wie sie zu sein scheint, ist Handeln möglich, bleibt aber riskant. Man braucht für das tägliche Leben glücklicherweise keine dogmatische Bestimmung der Wahrheit, keine letzte Wahrheit; es genügt eine plausibel begründete Wahrscheinlichkeit.

10.7 Besitzen und Gebrauchen In der ZEIT vom 27.10.2016 erklärte Philipp Welte, der Vorstand des Burda-Verlags: „Ich versuche Marken- und Produktwelten so zu inszenieren, dass Menschen daran Freude haben.“ Unterbliebe diese Inszenierung, würden sich die Menschen wahrscheinlich nicht freuen. Das ist eine der vielen Möglichkeiten des Gebrauchens heute: Gebrauchen durch Inszenieren. Selbstverständlich hat man auch schon früher über den Begriff des Gebrauchens nachgedacht. Ein erstes Beispiel: In der Metaphysik (9, 6–9) befasst sich Aristoteles mit dem Verhältnis von Dynamis und Energeia, Potentialität und Aktualität, Potenz und Akt, Können und Tun, Möglichkeit und Wirklichkeit: „Was diese Begriffe bedeuten, wird durch Induktion (Epagogé) klar. Daher braucht man nicht für jeden Begriff eine Definition zu suchen, sondern es genügt, analoge Begriffspaare heranzuziehen und zu vergleichen, wie das Bauen im Verhältnis zum Bauenkönnen, das Wachsein im Verhältnis zum Schlafen, das Sehen im Verhältnis zum Nichtsehen, wenn man die Augen geschlossen hat, aber sehen kann, das Schnitzwerk im Verhältnis zum Holz, das bearbeitete im Verhält377

nis zum unbearbeiteten Material. Im Rahmen dieser Unterscheidung soll der eine Teil die Wirklichkeit, der andere die Möglichkeit veranschaulichen. Das heißt aber nicht, dass sich die Begriffspaare in jeder Hinsicht gleichen, sondern nur dass sie sich entsprechen. Wie dieses zu diesem sich verhält, so verhält sich jenes zu jenem. Einiges verhält sich so zueinander wie eine tatsächliche Bewegung zur bloßen Möglichkeit, einiges wie eine bestimmte Existenzform zu einem unbestimmten Stoff“ (1048 a 35–1048 b 9). Aristoteles fragt nach dem Wesen des Glücks (Eudaimonia), das er als „ein Tätig sein der Seele in ihrer Höchstform“ bezeichnet (NE 1, 6, 1098 a 16–17). Auch um sein Verständnis von Glück zu veranschaulichen, bedient er sich einer Analogie: Glück beruhe nicht auf einem Haben oder Besitzen, sondern auf einem Tätig sein, das dem Gebrauchen aller positiven Möglichkeiten des Menschen entspricht (→ 7.7: Was ist das „gute Leben“? Was ist Glück?). Auch das höchste Gut besteht nicht in einem Besitzen oder Haben, sondern in einem Gebrauchen und in einem Tätig sein. Denn das Haben als solches ist nicht wertvoll. Was man einfach nur besitzt und nicht gebraucht, hat keinen Wert. Das von Aristoteles als Analogon benutzte Begriffspaar Besitzen und Gebrauchen stellt keinen komplizierten Sachverhalt dar. Es beschreibt Erfahrungen und Erkenntnisse des täglichen Lebens und besagt, dass jeder Besitz nur bei sachgerechtem Gebrauch nützlich und sinnvoll ist. Das Begriffspaar stand schon lange vor Aristoteles zur Veranschaulichung vielfältiger Inhalte zur Verfügung. Auch heute noch verwendet man es, um das Verhältnis des Menschen zur Welt – oft stark vereinfachend – zu beschreiben. Es ist auch nicht zu übersehen, dass das Begriffspaar unser modernes anthropozentrisches Denkens geprägt hat. Bisweilen heißt es, wir lebten im Weltzeitalter des „Anthropozän“. Eine Schlüsselrolle komme in diesem Zusammenhang dem Begriff des rechten Gebrauchs zu, den man als einen Kernbegriff des Anthropozentrismus identifizieren könne. Denn er bezeichne einen 378

Zugriff auf die Welt, der ihren Gebrauch als Unterwerfung unter die absolute Macht und die Interessen des Gebrauchenden definiert. Die empirische Glücksforschung unterscheidet heute mehr denn je Besitzen und Gebrauchen, um dem Glücksbegriff näher zu kommen: Glück bestehe viel weniger in einem Haben als in einem Handeln. Zufriedenheit hänge viel stärker von Aktivitäten als von Dingen ab.356 Sollte dies zutreffen, dann hätte Aristoteles mit seiner Feststellung am Anfang der Nikomachischen Ethik weiterhin Recht. Einige Beispiele mögen darauf hinweisen, dass heute die Gedankenfigur in vielen Lebensbereichen das Bewusstsein für ein vernünftiges und verantwortungsvolles Gebrauchen beliebiger Ressourcen schärft: Ein Fitnessprogramm dient dazu, körperliche Fähigkeiten zu erhalten und zu steigern. Denn Muskeln, die man nicht gebraucht, atrophieren. Das weiß schon die antike Medizin. Künstlerische und intellektuelle Fähigkeiten sind auf Anwendung und Übung angewiesen, um nicht verloren zu gehen – nach der Devise: use it or loose it. Viele Fähigkeiten sind nur zu erwerben, indem man sie ausübt (learning by doing): Schwimmen lernt man nur durch Schwimmen. Und je intensiver man diese Fähigkeiten anwendet, desto besser beherrscht man sie. Wer über die Chancen nachdenkt, die das vernünftige Gebrauchen von Besitz und Eigentum bietet, sollte schließlich nicht übersehen, dass es auch ein Gebrauchen ohne eigenen Besitz gibt. So sind zum Beispiel Besitzlose mehr oder weniger darauf angewiesen, fremdes Eigentum zu gebrauchen. Dann dient das Gebrauchen nicht etwa der Erhaltung, Aktualisierung oder Wertsteigerung von Besitz durch einen – rechtmäßigen – Besitzer. Fremder Besitz wird nicht gebraucht, sondern verbraucht. Er dient der bloßen Lebenserhaltung auf niedrigstem Niveau. Dieses Gebrauchen, ohne etwas zu besitzen, wurde schon in mittelalterlichen Bettelorden zum Programm erhoben. Dahinter steht die Auffassung, dass dem Menschen nicht einmal sein eigenes Leben gehört, sondern er darf es nur gebrauchen. Giorgio 379

Agamben machte vor kurzem darauf aufmerksam.357 Ein Vers des Lukrez (3, 971) ist für Agamben das Motto seiner Abhandlung: „Das Leben erhält niemand zum Eigentum, alle bekommen es nur zum Gebrauch.“ Man soll sich auf seine Grenzen besinnen, aber auch auf die sinnvolle Nutzung des Lebens. Das Nachdenken über vernünftigen Gebrauch macht aber auch den Missbrauch, den falschen, sinnlosen, schlechten, schädlichen und zerstörerischen Gebrauch bewusst. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt das Begriffspaar eine moralische Dimension, die schon in den antiken Quellen ausführlich diskutiert wurde. Hier liegt die Erfahrung zugrunde, dass Tugenden und positive Eigenschaften ohne Anwendung und Realisierung durch die Tat nicht nachweisbar existieren. Moralisches Handeln braucht ebenso wie die körperliche Funktionsfähigkeit die Anwendung. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es (→ 7.5: Cicero und die Pflicht zur Tugend). Wenn man Möglichkeit und Wirklichkeit (Dynamis und Energeia, Potenz und Akt) in Analogie zum Besitzen und Gebrauchen sieht, dann lassen sich unschwer die Grenzen der Vergleichbarkeit erkennen: Möglichkeit ist nur dann gegeben, wenn sie Wirklichkeit wird. Sie kann erst dann – gewissermaßen im Rückblick – als Möglichkeit anerkannt werden, wenn sie Wirklichkeit geworden ist. Obwohl das Holz im Schuppen bereit liegt, kann es erst dann als Brennholz gelten, wenn es wirklich brennt, oder ein Samenkorn beweist sein mögliches Sein erst mit der Wirklichkeit der Pflanze. Der Sophist Prodikos hatte erklärt, dass Reichtum für die Guten, das heißt für diejenigen, die ihn zu gebrauchen verstehen, gut ist. Für ihn wird die Qualität des Reichtums mit dem Gebrauchen erkennbar und wirksam. Reichtum ist demnach für Prodikos eine relative Größe und kein absolutes Gut oder Übel. Er ist potenziell beides. Wer ihn richtig oder gut gebraucht, aktualisiert das Gute, das wie das Schlechte im Reichtum potentiell vorhanden ist. Dabei sind Wissen und Unwissenheit die Voraussetzungen für die eine oder die andere Mög380

lichkeit der Aktualisierung. Die Dinge werden durch den richtigen Gebrauch nicht gut oder durch den falschen nicht schlecht, sondern lassen nur ihre guten oder schlechten Möglichkeiten durch ihren Gebrauch in Erscheinung treten. Alle Dinge, die man gebraucht, sind Gebrauchsgüter (chrémata, Ps.Platon, Eryxias 401c–e). Aber selbst Gold und Silber sind keine Gebrauchsgüter, wenn man sie nicht gebraucht. Aber auch wenn sie nur von mittelbarem Nutzen für das Leben sind, können sie als chrémata gelten (402b–e). Ebenso sind Fähigkeiten, mit denen man seinen Lebensunterhalt verdient, chrémata. Wer derartige Fähigkeiten besitzt und gebraucht, ist daher stets reicher als derjenige, der sie zwar besitzt, aber nicht gebraucht. Ein Beispiel veranschaulicht dies: Ein Pferd ist nur für denjenigen ein brauchbarer Besitz, der es reiten kann. Die Abhängigkeit des Wertes einer Sache von der Fähigkeit zum richtigen Gebrauch wird daran sichtbar, dass man dem Besitzer eines Pferdes, der noch nicht reiten kann, zu einem brauchbaren Besitz verhelfen kann, indem man ihn das Reiten lehrt. Sachgerechter Gebrauch wird daran erkennbar, dass ein Gegenstand durch diesen Gebrauch seinen Zweck, sein Telos, erfüllt. Hier geht es also nicht um Aufhebung von Ambivalenz durch richtigen Gebrauch, sondern vor allem um Zweckerfüllung, durch die die wirtschaftliche Produktivität des jeweiligen Gegenstands maximal in Erscheinung tritt. Wirtschaftlich erforderliche Zweckerfüllung und maximale Produktivität ist Ausdruck eines teleologischen Weltverständnisses. Alle Dinge haben ihren Zweck und Nutzen, der durch den richtigen Gebrauch realisiert wird. Xenophons Begriff der Euchrestía ist ein anschauliches Bild für die Bedeutung unseres Begriffspaares als Ausdrucksform eines teleologischen Verständnisses menschlichen Handelns (Memorabilien 3, 8, 6). Je besser ein Gegenstand im Gebrauch seinen Zweck erfüllt, desto wertvoller, nützlicher und schöner ist er. Darum ist selbst ein Abfalleimer wertvoll und schön, wenn er nur zweckmäßig ist. 381

Auffallend ist an dieser Argumentation, dass die Brauchbarkeit des Gegenstandes das entscheidende Kriterium auch für seine Schönheit ist. Hier ist Schönheit kein vom Nutzen unabhängiges, kein ausschließlich ästhetisches Phänomen. Der ökonomisch denkende Xenophon stellt seinen Sokrates hier ebenso wie im Oikonomikos als Vertreter eines konsequenten Utilitarismus dar. Auch im Symposion nimmt der xenophontische Sokrates diese Position ein, wenn er das Schöne dem Brauchbaren und Nützlichen gleichsetzt (→ 9.1: Was ist Schönheit?). In den Memorabilien (4, 6, 9) heißt es auch, eine Sache sei nur für denjenigen gut und schön, der ihre Brauchbarkeit nachzuweisen vermag. Auch hier sind Schönheit und gute Qualität nur in Relation zur Brauchbarkeit zu sehen. Das Brauchbare ist schön in Bezug auf den Zweck, für den es brauchbar ist. Das gilt auch für Haltungen und Fähigkeiten: Tapferkeit ist eine schöne und brauchbare Tugend, wenn sie dazu befähigt, dass man sich in Gefahren richtig verhält. Tapfer sind demnach diejenigen, die in der Lage sind, mit bedrohlichen und gefährlichen Umständen fertig zu werden. Doch diese Fähigkeit hängt von einem Wissen ab (4, 6, 10–11). Tapferkeit ist also letztlich ein Wissen, das eine Haltung und Tätigkeit zur Folge hat, die den „richtigen Gebrauch“ der Gefahren einschließt. Mit der Bearbeitung einer äsopischen Fabel (253 Hausrath) führte der Sophist Antiphon den Typus des Geizigen in die Weltliteratur ein, der in Molières Komödie L’Avare seine vollkommenste Darstellung gefunden haben dürfte. Der Geizige ist bei Antiphon ein Mann, der seinen Reichtum nicht richtig zu gebrauchen weiß. Denn er zieht es vor, sein überflüssiges Geld an einem geheimen Ort zu verstecken, statt es gegen Zinsen auszuleihen. Nach einiger Zeit muss er feststellen, dass das Geld gestohlen wurde, und bereut sein Verhalten. Ein ehemaliger Bittsteller tröstet ihn mit den Worten: „Als das Geld noch dein Eigentum war, hast du es nicht gebraucht, daher glaube auch jetzt nicht, du habest es verloren!“ Der Bestohlene solle sich vielmehr einreden, das Geld sei noch vorhanden, und einen Stein an die Stelle 382

legen, wo es sich befunden habe. Denn der Wert einer Sache, die man weder gebraucht noch gebrauchen werde, sei nicht vorhanden, und ihr Verlust schädige niemanden. Antiphons Forderung nach einem Gebrauchen des Besitzes, der dem Gemeinschaftsleben förderlich ist, beruht auf einer ganz bestimmten Einstellung zum menschlichen Leben. Wie man seinen Besitz gebrauchen soll, so soll man auch sein Leben insgesamt „gebrauchen“. Denn es ist kurz. Darum soll man es sinnvoll verbringen und seine Zeit nutzen. „Der kostbarste Stoff für den Verbrauch ist die Lebenszeit“ (VS 87 B 77). Antiphon fordert also zum „nützlichen Gebrauch“ des rasch verrinnenden Lebens auf, weil er davon überzeugt ist, dass der rechte Gebrauch des Gegebenen die bestmögliche Bewältigung der menschlichen Existenz bedeutet (→ 7.7: Was ist das „gute Leben“? Was ist Glück?). Auch das Böse und Verwerfliche kann ein Gegenstand des Gebrauchs sein, wenn man es beherrscht und sich nicht von ihm hinreißen lässt. Für Platon sind Arete, Wissen und Vernunft als Voraussetzungen für den richtigen Gebrauch keine Instanzen, die sich an höheren Normen orientieren, sondern am Zweck des jeweiligen Gebrauchsgegenstandes. Je größer Arete, Wissen und Vernunft des Gebrauchenden sind, desto besser wird ein solcher Zweck im Gebrauch erfüllt. Arete ist hier also eine ganz spezielle Fähigkeit, die auf Erfahrung und Umgang mit der jeweiligen Sache beruht. Die Fähigkeiten, die nichts weiter miteinander gemeinsam haben als das Ziel, Nutzen durch zweckgerichteten Gebrauch zu erzeugen, sind ihrer Anzahl nach den Gebrauchsgegenständen gleich. Die Norm des Richtigen ist dabei der Zweck des jeweiligen Gebrauchsgegenstandes. Aber Platon sucht darüber hinaus ein Wissen oder eine Arete, die alle speziellen Fähigkeiten umgreift und dadurch für Nutzen und gute Qualität der Dinge allein verantwortlich ist. Im Menon stellt er die Arete hypothetisch als ein derartiges Wissen dar. Doch anscheinend wird schon mit dem 383

Postulat der Lehrbarkeit die alles umgreifende Allgemeinheit der Arete infrage gestellt. Denn Lehrbarkeit assoziiert allzu leicht eine handwerksmäßige oder artifizielle Perfektion, die wiederum nur sachorientiert sein kann. Darum bleibt für Platon auch im Menon die Gleichung „Arete ist Wissen vom richtigen Gebrauch“ fragwürdig und eben nur eine Hypothese. Die Gleichsetzung von Wissen und Kompetenz, die sich als die Bedingung des richtigen, das heißt des sachgerechten Gebrauchs darstellt, beruht auf der Ansicht, dass die Fähigkeiten des tüchtigen Fachmanns für die Lebensführung im Allgemeinen vorbildlich sein könnten. Das sagt zum Beispiel Kephalos in Platons Politeia, indem er die Verwirklichung der Gerechtigkeit durch den richtigen Gebrauch von Geld für möglich hält, ohne zu berücksichtigen, dass auch der richtige Gebrauch von Geld ein Fachwissen voraussetzt, das den jeweils intendierten Zweck des Gebrauchs gewährleisten kann. Für diejenigen, die dieselbe Ansicht wie Kephalos haben, ist es eine Selbstverständlichkeit, dass der Mensch dann Arete beweist, wenn er wie der Fachmann, der sein Material, sein Werkzeug, sein Können richtig, zweckgerichtet und darum nützlich gebraucht, auch sein tägliches Leben mit allen Problemen und Schwierigkeiten „richtig gebraucht“. Dass Platon diese Analogie als zu eng ablehnt, zeigen die Stellen, wo er die Unzulänglichkeit des Begriffspaares Besitzen und Gebrauchen deutlich macht. Dennoch erkennt er den Wert des Begriffspaares für den Logos Protreptikos durchaus an. Denn im Euthydemos greift Sokrates die traditionellen Gesichtspunkte des Protreptikos auf (Wissen vom richtigen Gebrauch zwecks Aufhebung von Ambivalenz), um überhaupt erst einmal seinen Gesprächspartner von der Notwendigkeit eines Wissens zu überzeugen. Doch damit ist die Funktion des Begriffspaares erschöpft. Zur begrifflichen Klärung des von Platon intendierten Wissens vermag es nichts mehr beizutragen. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass Platon das Begriffspaar in einem anderen Zusammenhang noch einmal heranzieht, um damit 384

bestimmte, für ihn grundlegende philosophische Aussagen zu veranschaulichen: Im Euthydemos (288e–290c) waren Wissen vom Herstellen und Wissen vom Gebrauchen unterschieden worden. Die Verbindung beider sollte die Aufgabe eines höchsten Wissens sein. Die Unterordnung des Herstellens unter das Gebrauchen wurde in diesem Zusammenhang ebenfalls betont. Im zehnten Buch der Politeia versucht Platon nun anhand dieser Gesichtspunkte die herstellenden und die mimetischen Künste gegenüber den gebrauchenden abzuwerten. Mimesis ist zunächst Nachahmung eines Eidos, einer abstrakten Gestalt (Politeia 10, 595c–598d). Der Tischler orientiert sich beim Bau des Tisches an der abstrakten Form des Tisches. Der Maler hingegen, der diesen Tisch malt, ist noch einen Schritt weiter vom Eidos des Tisches entfernt. Das bedeutet, dass drei Erscheinungsformen eines Tisches zu unterscheiden sind: 1. die Idee des Tisches, die alle Eigenschaften des Tisches umfasst, 2. der vom Tischler hergestellte Tisch und 3. das vom Maler angefertigte Bild des Tisches. Der Maler ist demnach der Nachahmer des Produktes, das der Tischler bereits durch Nachahmung des Eidos hergestellt hat. Denselben Rang wie der Maler hat auch der Dichter (Politeia 10, 598d– 601c). Um die Drittrangigkeit der Dichtkunst noch deutlicher zu machen, unterscheidet Platon diesem Beispiel entsprechend drei Kunstkategorien: 1. eine gebrauchende Kunst, die sich an der Idee des Gebrauchsgegenstands orientiert und ein Höchstmaß an Kenntnissen über den Gegenstand hat, 2. eine herstellende Kunst, die die Idee selbst nicht kennt, sondern nur unter Anleitung des Gebrauchenden den Gebrauchsgegenstand herstellt und 3. eine nachahmende Kunst, die den Gegenstand zum Beispiel abmalt (Politeia 10, 598a–d). Nur im Gebrauch wird die Brauchbarkeit des Gegenstands aktualisiert (601d), und diese Aktualisierung ist ohne maximales Wissen und umfassende Kenntnis des Gegenstands nicht denkbar (602a). 385

Weil der Gebrauchende als Wissender über die Idee seines Gebrauchsgegenstands verfügt, muss sich der Hersteller des Gegenstands den Anweisungen des kenntnisreicheren Gebrauchenden widerspruchslos unterordnen. Das wurde schon durch ein anderes Beispiel verdeutlicht: Die Qualität des Zaumzeugs für ein Pferd vermag weder der Maler noch der Hersteller, sondern allein derjenige zu beurteilen, der es zu gebrauchen versteht (601c). Denn die gebrauchende Kunst kennt und verwirklicht das Telos jedes Gebrauchsgegenstands und jeder Tätigkeit (601d), und nur wer den Gebrauch beherrscht, verfügt über echte Sachkunde. Wer einen Gegenstand herstellt, hat nur eine richtige Vorstellung, und der Nachahmende schließlich, der Maler oder Dichter, hat weder Sachkenntnis noch eine richtige Vorstellung etwa in der Frage des Schönen oder Hässlichen (602b). Das heißt, dass der Nachahmende nichts weiß, was der Rede wert ist. Die Nachahmung ist eine Art Spiel ohne jede Ernsthaftigkeit. Damit sind die Dichter, insofern sie Nachahmende sind, endgültig aus dem platonischen Staat verbannt. Hier, im 10. Buch der Politeia, dient unser Begriffspaar also eindeutig polemischen Zwecken. Platon benutzt das Begriffspaar, um die nachahmende (mimetische) Kunst abzuwerten und zu verwerfen. Indem er den richtigen Gebrauch einer Sache im Gegensatz zur Nachahmung auf ein Höchstmaß an Wissen und Vernunft gründet und dem Gebrauchen in der Rangfolge der Tätigkeiten die höchste Stufe einräumt, entzieht er dem Nachahmen jede ernsthafte Bedeutung. Schon Cicero ließ keinen Zweifel daran, dass die Vernunft, die den Gebrauch einer Sache, einer Fähigkeit, einer Erkenntnis steuert, auch missbraucht werden kann. Menschliche Vernunft bewirke nicht nur Gutes, sondern könne auch an den schlimmsten Verbrechen beteiligt sein (De natura deorum 3, 65–78). Offensichtlich hat Gott dem Menschen nur die instrumentelle Vernunft verliehen, ihm aber ihren guten oder schlechten Gebrauch selbst überlassen. Paradoxerweise 386

befördere die Vernunft als die vierte Kardinaltugend nicht etwa nur die drei übrigen Tugenden, sondern auch das Gegenteil dieser Tugenden.358 Auch der skeptische Akademiker Cotta dämpft den Optimismus des rechten Gebrauchs erheblich, wenn er (De natura deorum 3, 78) abschließend auf den resignierenden Stoiker Ariston von Chios verweist: „Wenn es nun zutrifft, was Ariston von Chios zu sagen pflegte, dass die Philosophen ihren Hörern schadeten, die die redlich gemeinten Worte schlecht interpretierten (es könnten nämlich aus der Schule des Aristipp maßlose Schlemmer und aus Zenons Schule verhärmte Menschen hervorgehen) – wenn jedenfalls solche Hörer als Bösewichter die Schule verlassen würden, die die Vorlesung der Philosophen falsch interpretierten, wäre es für die Philosophen besser zu schweigen als ihren Hörern Schaden zuzufügen (→ 7.4: Platons Philosophenkönige – Utopie einer politischen Leistungselite). Das treffe auch zu, wenn die Menschen die Vernunft, die ihnen in guter Absicht von den Göttern geschenkt wurde, zu betrügerischen oder verbrecherischen Zwecken benutzten. In diesem Falle wäre es besser gewesen, sie dem Menschengeschlecht nicht zu geben. Ein Arzt, der ein starkes Medikament verschreibt, von dem er weiß, dass es bei Missbrauch zum Tode führt, macht sich schuldig. Dasselbe muss man auch der stoischen Vorsehung (providentia) vorwerfen, weil sie die Vernunft Menschen gegeben hat, von denen sie wissen musste, dass sie sie falsch und zu allen möglichen Verbrechen gebrauchen würden (perverse et inprobe uti). Darauf, dass selbst die Erfindung der Schrift ambivalent ist, weil durch ihren (rechten) Gebrauch ihr Nutzen oder durch ihren Missbrauch ihre Schädlichkeit erkennbar wird, hatte Platon bereits (Phaidros 274 e) hingewiesen. Unter diesem Aspekt ist eine „aufklärende Tradition“, deren Kenntnis zu unserem heutigen Selbstverständnis und zu unserem Verständnis der Welt, in der wir leben, beitragen kann, besonders aktuell, weil sie auf die bis heute unerledigten Gefahren einer instrumentellen und zugleich amoralischen Vernunft aufmerksam macht, ohne jedoch 387

eine Lösung anzubieten. Ohne behaupten zu wollen, dass man auch die antike Vergangenheit unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen „missbrauchen“ will, sollte man diese Möglichkeit im Auge behalten. Jedes Wissen kann schließlich missbraucht werden (→ 6.5: Antike und Nationalsozialismus). Vielleicht vermittelt uns hier die moderne Intelligenzforschung neue Einsichten. So hat zum Beispiel der Psychologe Howard Gardner nicht nur verschiedene Intelligenzen unterschieden,359 sondern auch darauf hingewiesen, dass keine Intelligenz an sich moralisch oder unmoralisch sei. Gardner unterscheidet zwar nicht zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, Potentialität und Aktualität, aber zwischen Können und Moral. Was allein zähle, sei der „moralische“ Gebrauch der Intelligenzen zur Bewältigung von gesellschaftlich hoch bewerteten Aufgaben. Das hatte schon Aristoteles so gesehen: Denn für ihn (NE 5, 3, 1129 b 25–35) ist die Gerechtigkeit eine vollkommene Tugend, die es aber nicht „einfach so“, sondern nur in Hinsicht auf andere Menschen, das heißt als Sozialkompetenz gibt. Vollkommen sei eine Arete erst dann, wenn derjenige, der sie besitzt sie auch mit sozialer Verantwortung anwendet. Die „Aktualität“ der von Aristoteles und Cicero (zum Beispiel in De re publica 1, 1–3) repräsentierten „aufklärenden Tradition“ ist evident. Wenn man nun ein perfektes, vernunftgesteuertes Gebrauchen als ein effizientes, aber moralisch verantwortungsbewusstes Herrschen interpretierte, würden die Stoiker gewiss zustimmen, weil die vernünftige Nutzung der Dinge auch das Eigentumsrecht an diesen legitimiert. So können sie mit dem richtigen Gebrauch der Welt auch das Eigentumsrecht des Menschen an der ganzen Welt und seine „Herrenrolle“ in dieser begründen.360 Mit seiner gottgegebenen Vernunft und der „Fähigkeit zur kognitiven und ästhetischen Erfassung der kosmischen Gesetzmäßigkeiten“ ist der Mensch nicht nur zum „Gebrauchen“ befähigt, sondern zugleich zum „Herrschen“ berechtigt. Herrschen und Gebrauchen gehören zusammen. 388

Da auch die Tiere – nach stoischer Auffassung – nur dazu da sind, dem Nutzen des Menschen zu dienen, unterliegen sie seiner uneingeschränkten Verfügungsgewalt. Die Stoiker lehren dazu noch, dass wir aufgrund der Ungleichheit kein Rechtsverhältnis zu den anderen Lebewesen haben, wie Chrysipp im ersten Buch Über die Gerechtigkeit und Poseidonios im ersten Buch Über die Pflicht sagen. Cicero nimmt den Gedanken (Fin. 3, 67) auf: „Aber wie die Stoiker glauben, dass es rechtlich begründete Verbindungen und Verpflichtungen von Mensch zu Mensch gibt, so glauben sie auch, dass es kein Rechtsverhältnis zwischen Mensch und Tier gibt. Sehr schön hat es Chrysipp ausgedrückt: Alle übrigen Dinge seien um der Menschen und der Götter willen entstanden, diese selbst aber um ihrer Gemeinschaft und Verbindung willen, so dass die Menschen die Tiere zu ihrem Nutzen gebrauchen können, ohne Unrecht zu tun.“ Daher gilt laut Sextus Empiricus die Auffassung der Pythagoreer als falsch, dass zwischen uns und den unvernünftigen Lebewesen eine Gemeinschaft bestehe (Adversus mathematicos 9, 130–131): „Denn auch wenn es möglich ist, dass uns und jene ein (göttlicher) Geist durchdringt, heißt dies noch nicht, dass zwischen uns und den unvernünftigen Lebewesen ein Rechtsverhältnis besteht. Sieh doch, auch die Steine und die Pflanzen durchdringt ein Geist, sodass wir mit ihnen insofern eine Einheit bilden, aber wir haben kein Rechtsverhältnis zu den Pflanzen und Steinen und begehen auch kein Unrecht, wenn wir solche Körper zerschneiden und zersägen. Was meinen nun die Stoiker damit, wenn sie sagen, dass die Menschen ein Rechtsverhältnis und eine Verbindung miteinander und mit den Göttern haben? Dies ist nicht deshalb der Fall, weil der Geist alles durchdringt und für uns dadurch ein Rechtsverhältnis mit den vernunftlosen Lebewesen begründet würde, sondern weil wir eine Vernunft haben, die uns und die Götter umspannt und verbindet, woran aber die vernunftlosen Lebewesen keinen Anteil haben und folglich auch kein Rechtsverhältnis zu uns haben können.“ 389

Auch wenn die stoische Philosophie den Menschen zum Zweck der Welt erklärt, lehnt sie die Überzeugung des Aristoteles nicht kategorisch ab, dass auch alle anderen Lebewesen einen Selbstzweck haben. Denn Chrysipp räumt durchaus ein, dass der Zweck des Menschen über den Gebrauch des für ihn Geschaffenen hinausgeht. Nach stoischer Auffassung (laut Cicero, De natura deorum 2, 37) ist der Mensch auch dazu geboren, die von Gott geschaffene Welt zu betrachten und nachzuahmen: „Eine kluge Bemerkung des Chrysipp: Wie für den Schild die Hülle und die Scheide für das Schwert so ist abgesehen von der Welt als solcher alles Übrige für etwas anderes geschaffen worden; wie die Früchte und Erträge, die die Erde hervorbringt, für die Tiere, die Tiere aber für die Menschen, wie das Pferd zum Reiten, der Stier um Pflügen, der Hund zum Jagen und Wachen. Der Mensch selbst aber ist entstanden, um die Welt zu betrachten und nachzuahmen.“ Hiermit ist das „humanegoistische Denken“ (Lau 2000, 62), soweit es die auf dem Gebrauch beruhende Herrschaft betrifft, bereits von den Stoikern selbst deutlich eingeschränkt. Die Welt zu betrachten und nachzuahmen (contemplari et imitari) bedeutet eben nicht, sie ausschließlich nur zu gebrauchen und zu beherrschen. In der späteren anti-stoischen Polemik wird die These vom Gebrauchen als Machtausübung zum Beispiel von dem Akademiker Karneades (Frg. 8 b Mette) geradezu auf den Kopf gestellt: Bestimmte Tiere (wie das Krokodil, der Hai) brächten dem Menschen keinen Nutzen. Es sei vielmehr umgekehrt: Laut Karneades machten diese Tiere vom Menschen „Gebrauch“, indem sie ihn umbrächten und verzehrten. Der skeptische Philosoph übertrage hier mit Witz – so Lau – den Terminus chrēsthai, der bei den Stoikern die Verfügungsgewalt über die Tiere bezeichne, auf das Verhalten bestimmter Tiere gegenüber dem in dieser Situation machtlosen Menschen. In Anlehnung an die Stoa vertritt Laktanz, der christliche Lehrer des Kaisers Konstantin, wieder die Auffassung, Gott müsse die Welt 390

„zu irgendeinem Gebrauch“ geschaffen haben: Die Stoiker hätten recht, wenn sie behaupteten, die Welt sei um der Menschen willen da, weil sie all die Güter nutzten, die die Welt in sich berge (Laktanz, Epitome 63, 7). Er habe also alles wegen des Menschen geschaffen, weil alles dem Gebrauch des Menschen zur Verfügung stehe (Epitome 64, 3). Demnach schließt Laktanz aus dem Gebrauch, den der Mensch von der Welt und ihren Gütern macht, dass diese auch um des Menschen willen geschaffen worden sei. In seiner Schrift De ira erklärt Laktanz, Gott habe darüber hinaus allein dem Menschen Weisheit eingehaucht, damit er alles seiner Herrschaft und seinem Befehl unterordne und alle Vorteile der Welt nutzen könne (13, 13). Laktanz hatte schon kurz vorher eine Reihe unterschiedlicher Beispiele für nützlichen Gebrauch aufgezählt: Der Mensch gebraucht das Feuer zur Heizen und zum Beleuchten, zum Kochen und zum Schmieden von Eisen. Er gebraucht die Quellen zum Trinken und zum Baden und die Flüsse, um die Felder zu bewässern und Grenzen festzulegen und vieles andere mehr. Und schließlich sind auch die vernunftlosen Tiere zum Gebrauch des Menschen geschaffen worden (De ira 13, 8). Den Denkfehler, der diesem stoisch-frühchristlichen Anthropozentrismus zugrunde liegt, bringt Lau (2000, 83 f.) auf den Punkt: Die tatsächlichen Verhältnisse, die der Mensch als Kulturwesen herbeigeführt habe, würden von ihm in kühnem Rückschluss als Beweis dafür genommen, dass er selbst der eigentliche Zweck des gesamten Weltgetriebes sei. Dabei sei die Verfahrensweise dieser Selbstlegitimation zirkulär; denn die Theorie werde durch die Analyse der obwaltenden Verhältnisse gewonnen und diene ihrerseits wiederum dazu, diese zu bestätigen, wobei Gott als die höchste Autorität in Anspruch genommen werde. Obwohl es ohne Zweifel zutrifft, dass der für das anthropozentrische Denken grundlegende Begriff des Gebrauchs die Herrschaft des Menschen über die Welt impliziert, so gibt es doch auch einen Gebrauch, der nicht als Herrschaft realisiert wird. Denn wenn Aristote391

les im Protreptikos (bes. B 79–83) den Gebrauch von Wissen und Weisheit als Höchstform menschlicher Tätigkeit versteht und in der NE (1, 9, 1098 b 31–33) hervorhebt, dass es ein wesentlicher Unterschied sei, ob man das höchste Gut als ein Besitzen oder ein Gebrauchen, beziehungsweise als ein Haben oder ein Tätig sein begreift, dann ist dieses „Gebrauchen“ nicht einem „Herrschen“ gleichzusetzen. Hier bezeichnet es vielmehr die Anwendung einer Qualifikation oder die Verwirklichung einer Möglichkeit. Dieses Gebrauchen ist die Entfaltung einer Möglichkeit zur Wirklichkeit, einer Dynamis zur Energeia. So ist auch das „Gebrauchen der Tugend“ nichts anderes als die Verwirklichung der Tugend. Eine ganz neue Nuance erhält der Begriff des richtigen Gebrauchs im Übrigen bei Boethius (Consolatio Philosophiae 4 pr. 6, 193–195): Für die göttliche Macht ist das Böse auch gut, wenn sie es angemessen und sachverständig verwendet und so als ein Gutes wirken lässt. Gott erweist sich durch kompetentes Gebrauchen sogar des Bösen als der Allmächtige. Der Begriff des Gebrauchs ist hier also ein vorzügliches theologisches Instrument, mit dem nicht nur die Herrschaft Gottes, sondern auch die Existenz des Bösen in der Welt gerechtfertigt wird. 361 Boethius löst mithilfe des kompetenten Gebrauchs ein Grundproblem der Theodizee. Bei Epiktet362 hatte der „rechte Gebrauch“ über seine ethische Bedeutung hinaus eine psychologische Dimension: Der rechte Gebrauch, das heißt die richtige Einordnung der Vorstellungen, der bewussten Wahrnehmungen oder der mit Bewusstsein aufgenommenen „Wahrnehmungsbilder“, ist die Bedingung für ein gelingendes Leben. Der rechte Gebrauch der Vorstellungen mithilfe des Logos gibt dem Menschen die „Autonomie gegenüber der Außenwelt“.363„Der Mensch ist ein sterbliches Wesen, das seine Vorstellungen vernünftig zu gebrauchen imstande ist“ (Epiktet bei Arrian, Dissertationes 3, 1, 25), das heißt, dass er Macht über seine Vorstellungen hat. „Von allem, was existiert, hat Gott einen Teil in unsere Ver392

fügungsgewalt gegeben, den anderen Teil nicht. In unserer Macht steht das Schönste und Wichtigste, wodurch Gott selbst glücklich ist: der Gebrauch unserer Eindrücke und Vorstellungen. Denn wenn diese Möglichkeit richtig genutzt wird, bedeutet dies Freiheit, Glück, Heiterkeit, Würde, aber auch Recht, Gesetz, Selbstbeherrschung und Tüchtigkeit in jeder Form (→ 7.7: Was ist das „gute Leben“? Was ist Glück?). Alles andere hat Gott nicht in unsere Macht gegeben“ (Epiktet, Frg. 4 Schenkl). Innerhalb dieser Grenzen ist Gebrauchen auch hier ein „herrscherlicher Akt“. Die Antworten auf die folgenden, zum Teil rhetorischen Fragen enthalten die Regeln für den Gebrauch der Welt: „Wie soll ich die (von außen) an mich herantretenden Vorstellungen gebrauchen: in Übereinstimmung mit der Natur oder im Widerspruch zu ihr? Wie soll ich auf sie reagieren? Wie es notwendig ist oder wie es nicht notwendig ist? Soll ich den Dingen sagen, die ich nicht beeinflussen kann, dass sie keine Bedeutung für mich haben?“ (Epiktet bei Arrian, Dissertationes 3, 16, 15). Der von Epiktet empfohlene Umgang mit der Welt ist zwar minimalistisch, bleibt aber immer „herrscherlich“, auch wenn er sich auf das Beherrschbare beschränkt. Die Macht, auf der diese Herrschaft beruht, wird folglich nicht zu einem Zweck gebraucht, der außerhalb des Mächtigen selbst liegt. Denn andernfalls könnte sie der Mächtige nicht mehr kontrollieren, weil er sich auf ein von ihm selbst nicht mehr beherrschbares Gebiet begeben würde und der Zweck des Gebrauchens nicht mehr in der Reichweite des Gebrauchenden läge. Das bedeutet aber keinen – wie etwa im Neuen Testament geforderten – totalen Machtverzicht. 364 Epiktet fordert lediglich eine entschieden anthropozentrische Beschränkung des Menschen auf die engen Grenzen seiner Macht.365 Eine besondere Erscheinungsform des anthropozentrischteleologischen Zugriffs auf die Welt durch rechten Gebrauch ist der usus iustus, den Christian Gnilka als einen Grundbegriff der christlichen Kirchenschriftsteller im Umgang mit der antiken Kultur umfas393

send beschrieben hat.366 In Anlehnung an Paul Hacker weist er darauf hin,367 dass die Kirchenväter die einfachen Begriffe „Gebrauchen“ und „Gebrauch“ benutzten, wenn sie ihren Umgang mit vorchristlichen Geistesgütern rechtfertigen wollten. Er macht es nachvollziehbar, dass der Begriff des Gebrauchs (Chrēsis) bei den Vätern nicht zufällig auftaucht, sondern die theologische Basis frühchristlichen Denkens bildet und infolgedessen bei der Behandlung patristischer Texte ein „wertvolles hermeneutisches Instrument“ ist. Gnilka übersetzt den Begriff Chrēsis bewusst mit „Nutzung“, um zu veranschaulichen, dass es das Recht und die Pflicht der Kirchenväter war, „das Wahre (Gute, Schöne), das in den nichtchristlichen Bildungsgütern enthalten ist, ‚zu benutzen’, ‚richtig zu benutzen’.“ Es sollte dabei aber nicht der Eindruck entstehen, dass die Väter, „aus Heidnischem Christliches machen, sondern bereits bestehende Wahrheiten dorthin stellen wollten, wohin sie gehören und wo jene Wahrheiten reiner erstrahlen als an ihrem früheren Platz“ (Gnilka 1997, 142). Schon Ciceros Rezeption der griechischen Literatur lässt sich übrigens als ein „Gebrauchen“ seiner Vorgänger verstehen: Denn – wie er selbst sagt – „gebraucht“ er römische und griechische Autoren (Tusk. 2, 26–28). Er verwendet zum Beispiel an dieser Stelle Zitate aus dem verlorenen Prometheus Lyomenos des Aischylos, um einerseits zu veranschaulichen, dass der Schmerz ein Übel ist, und andererseits dazu aufzufordern, die Seele zu stärken, damit sie den Schmerz erträgt. Der „Gebrauch“ der Verse, die Cicero – übrigens in einer eigenen Übersetzung aus dem Griechischen – vorträgt, dient hier also einem weiterführenden protreptischen Zweck: Die Aufforderung zum richtigen Gebrauch in einer spezifischen Lebenssituation setzt den Gebrauch (das heißt hier die Rezeption) des Textes voraus. Der Gebrauch literarischer Aussagen „für das Leben“ entspricht der Nutzung der antiken „Schätze“ durch die christlichen Autoren. Gnilka widerspricht daher auch der Auffassung, der Begriff des richtigen Gebrauchs sei zunächst nur auf die Literatur bezogen gewesen und 394

erst im Anschluss daran auf das Verhältnis Antike-Christentum oder Griechen-Römer übertragen worden. Der Begriff des richtigen Gebrauchs war in der Tat nie ein Terminus der antiken Literaturtheorie, sondern wurde in den unterschiedlichsten Bereichen des täglichen Lebens verwendet und allenfalls „von der Philosophie aufgegriffen, spekulativ begründet und vertieft,... dann aber zusammen mit der anhaltenden Welle der Popularisierung hellenistischer Philosopheme wieder in den breiten Strom allgemeiner Lebenserfahrung“ eingeleitet (Gnilka 1984, 38).

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Vorschau auf weitere Themen Asterix – was steckt dahinter? Astronomie und Mythologie Botanik und binäre Nomenklatur Dionysos und Christus Erfundene Vergangenheit Genie und Wahnsinn Griechen, Römer und Barbaren Herakles und Christus Homer und die epische Breite Imperium und Völkerwanderung Klassisch – Was ist das eigentlich? Kunst des Klagens und Tröstens Muttermörder Ozean des Vergessens Phönix aus der Asche Prognose mit Methode Quo vadis? Allegorie eines Imperiums Stasis / discordia / dissensio. Stoische Weisheit und künstliche Intelligenz Sympathie des Kosmos (Poseidonios) Thymos – eine seelische Kraft Tiernamen – lateinisch Zufall und Schicksal

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Literaturhinweise Albrecht, Heike u. a.: Lernen und (Über-)Leben am Staatlichen Gymnasium Göttingen (1933–1945), in: Max-Planck-Gymnasium. Festschrift zum Jubiläum des ältesten Göttinger Gymnasiums 1586–1986, Göttingen 1986, 227–239. Albrecht, Michael von: Geschichte der römischen Literatur, München u. a. 21994. Barié, Paul: Mythos, in: AU 2 / 1980 (Themenheft). Bartels, Klaus: Streiflichter aus der Antike, Zürich 1981. Bartels, Klaus: Sokrates im Supermarkt. Neue Streiflichter aus der Antike, Zürich 21987. Bartels, Klaus: Veni, vidi, vici. Geflügelte Worte aus dem Griechischen und Lateinischen, München 1992. Bartels, Klaus: Geflügelte Worte aus der Antike. Woher sie kommen und was sie bedeuten, Darmstadt 2013. Blom, Philipp: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, München 22013.  Caspar, Helmut: Mit dem Ariadnefaden um die Litfaßsäule. Wie Namen zu Begriffen wurden, Berlin 2004. Dörrie, Heinrich: Wandlung und Dauer. Ovids Metamorphosen und Poseidonios’ Lehre von der Substanz, in: AU 2 / 1959, 95–116.

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Schön, Wolf (Hg.): Die schöne Mutter der Kultur. Unsere Grundlagen in der antiken Welt, Stuttgart 1996. Seel, Otto: Hinweis auf Lukian. Der veristisch-kynische Aspekt des Humanismus, in: AU 10 / 1956, 5–39. Steenblock, Volker: Sokrates & Co. Ein Treffen mit den Denkern der Antike, Darmstadt 2005. Syme, Ronald: Die römische Revolution. Machtkämpfe im antiken Rom (The Roman Revolution, Oxford 1939, Stuttgart 2003. Syndikus, Hans Peter: Die Lyrik des Horaz. Eine Interpretation der Oden, 2 Bde., Darmstadt 21989 / 1990. Taplin, Oliver: Feuer vom Olymp. Die moderne Welt und die Kultur der Griechen, Reinbek bei Hamburg 1991. Wagner, Gerhard: Was tun, sprach Zeus. Redewendungen aus der Antike, Darmstadt 2013. Walther, Lutz: Antike Mythen und ihre Rezeption. Ein Lexikon, Leipzig 22004. Weeber, Karl-Wilhelm: Musen am Telefon. Warum wir alle wie die alten Griechen sprechen, ohne es zu wissen, Darmstadt 2008. Wolff, Friedrich / Wittstock, Otto: Latein und Griechisch im deutschen Wortschatz. Lehn- und Fremdwörter, Wiesbaden 1999. Wülfing, Peter: Dulce et decorum est pro patria mori. Die Geschichte einer Interpretation von Bertolt Brecht bis heute. In: P. W.: Vorträge und Schriften, Trier 2001, 382–393. 

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Das ist die Absicht des Buches von Christoph Müller: Ikarus fliegt. Ursprung und Rezeption geflügelter Worte, Mainz 22003. Vgl. Karl-Wilhelm Weeber: Musen am Telefon. Warum wir alle wie die alten Griechen sprechen, ohne es zu wissen, Darmstadt 2008. So z. B. Julian Nida-Rümelin: Die Kultur der Freiheit, in: Z.-Philosophie, Juni 2013, 32: „Leider herrscht in der öffentlichen Debatte die Tendenz vor, Multireligiosität und Multikulturalität als neue Herausforderungen zu sehen. Das ist grundfalsch. Diese Herausforderung hat es nämlich in den europäischen wie den außereuropäischen Zivilisationen seit der Antike schon immer gegeben. Schon in der griechischen Klassik sind die Stadtgesellschaften durch Immigration und Emigration, durch internationalen Handel, ja sogar durch ethnische Vielfalt geprägt. Das Imperium Romanum entwickelt … ausgeklügelte Strategien, mit Multireligiosität und Multikulturalität so umzugehen, dass der zivile Friede gesichert ist.“ Darin erinnert Adam Soboczynski im Z.-Magazin „Leben“, April 2008. Eine kleine sympathische Sammlung derartiger Bilder bietet Helmut Caspar: Mit dem Ariadnefaden um die Litfaßsäule. Wie Namen zu Begriffen wurden, Berlin 2004, bes. in dem Kapitel „Antike Mythologie und Geschichte“, 16-41. Käthe Hamburger: Von Sophokles zu Sartre. Griechische Dramenfiguren antik und modern, Stuttgart 51974, bes. 23 f.: Die Dramenfiguren sind „ewige Figuren, die ewig eben deshalb sind, weil sie zu Zeichen für menschliche Grundsituationen wurden. … Die Identität der Figuren in den Veränderungen der Problematik ist nur ein Zeichen für die Unveränderlichkeit der Grundsituationen, die durch die Tragiker gegründet worden sind.“ Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Bd. 1, Frankfurt 1959, 160.

 

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Martial 6, 70, 5: ostendit digitum, sed inpudīcum; Vgl. 2, 28, 2: digitum porrigito medium. Im „Georges“, dem lateinisch-deutschen Wörterbuch (81918) findet man unter pudīcus folgenden Hinweis: „digitus impudīcus, der Mittelfinger (als dem männlichen Glied ähnlich).“ Albrecht Schöne: Können wir noch lesen? Z., 18. 08.1995. Wolfram Eilenberger: Philosophie für alle, die noch etwas vorhaben, Berlin 2005, 9. Die bekannteste Quelle findet man wohl in Ovids Metamorphosen (3, 339-510). Vgl. für den modernen „Narzissmus“ Sigmund Freuds Abhandlung „Zur Einführung des Narzißmus“ (Gesammelte Werke. Bd. 10, Frankfurt 1914). Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, Königsberg 1784. Der Dichter beruft sich auf die Verwandtschaft zwischen dem Verb sapere und dem Substantiv sapientia. Bernhard Kytzler: Horaz. Eine Einführung, Stuttgart 1996, 98. Vgl. Ernst Hoffmann: Epikurs Lebensfreude, in: Platonismus und christliche Philosophie, Zürich / Stuttgart 1960, bes. 122. Die folgende Interpretation ist Ursula Tröger zu verdanken: Carpe diem! Betrachtungen zu einem Lebensmotto. in: MDAV Nordrhein-Westfalen 4 / 1997, 10-13. Vgl. Don’t dream it. Do it. Auch Alkibiades I 124b: Nur wenn man dem Imperativ folge, werde man „berühmt“ werden bei den Griechen und den Nichtgriechen. Alkibiades I, bes. 128d-131c. Dazu auch Erich Fromm: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, Stuttgart 1976, passim. Klaus Bartels: Veni, vidi, vici. Geflügelte Worte aus dem Griechischen und Lateinischen, München 1992. Ders.: Geflügelte Worte aus der Antike. Woher sie kommen und was sie bedeuten, Darmstadt 2013. AU 1 / 1964, 37-49. Wolfgang Schadewaldt: Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee. Vortrag gehalten anlässlich der Entgegennahme des Reuchlin-Preises der Stadt Pforzheim am 16. November 1963, Pfullingen 1965, 16 f.

 

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Ad Marciam de consolatione 11, 2-3. Zur Frage „Wie definiere ich mich? Worin zeigt sich mein wahres Ich? Was ist der Mensch?” vgl. Seneca, Briefe an Lucilius 76. Ulrich Schnabel, in: Z., 14. 08. 2014, 27 f.: „Mein wahres Gesicht. Heute ist das Echte, Authentische gefragt. Doch was ist das? Und wie findet man es?“ Elisabeth von Thadden in: Z., 14. 08. 2014, 29: „Bin das wirklich ich? Seit 250 Jahren ist die Knochenarbeit im Dienst am einzigartigen Ich das Großprojekt des modernen Menschen“. Vgl. auch De vita beata 4, 3 und 8. 2. Vgl. Jürgen Oelkers: Wo bleibt das humanistische Bildungsideal? In: Bundesverband deutscher Banken (Hg.): Deutsche Fragen. Symposion des Bundesverbandes deutscher Banken und der Technischen Universität Dresden. Welche Bildung für morgen? Berlin 2000, 51-60, bes. 56 f. Charmides 165a; Menexenos 247e; Philebos 45d. VS 68 B 70, 102, 191, 211, 223, 233. Wilhelm Capelle: Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968, 444-446. Vgl. auch Hans Joachim Mette: Meden agan, in: Kleine Schriften, Frankfurt 1988, 1-38. W. Nicolai: Zuviel des Guten ist ungesund, in: Gymnasium 101, 1994, 312-332. Seit längerer Zeit spielt das „Nichts zu sehr!“ auch in der neueren Ratgeberliteratur eine große Rolle: Catharina Aanderuch: Weniger ist mehr. Zurück zum einfachen Leben, Hamburg 1998. Reimer Gronemeyer: Die neue Lust an der Askese, Berlin 1998. Harald Schenk: Vom einfachen Leben. Glückssuche zwischen Überfluss und Askese, München 1997. Zu Carmen 1, 38: Michael von Albrecht: Römische Poesie. Texte und Interpretationen, Heidelberg 1977, 252-255; zu Epode 2: Eduard Fraenkel: Horaz, Darmstadt 1963, 72-74. Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur, München 2 1994, 580. Dazu auch Marianne Gronemeyer: Simple Wahrheiten und warum ihnen nicht zu trauen ist, Darmstadt 2006, 103-114. Es handelt sich bei diesem Text um einen Vortrag, den Gronemeyer zwei Jahre nach dem Massaker am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt gehalten hat.

 

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Vgl. z. B. R. Affemann: Lernziel Leben. Der Mensch als Maß der Schule, Stuttgart 1976. H.-J. Heydorn: Zur Aktualität der klassischen Bildung, in: H.-J. Heydorn / K. Ringshausen (Hg.): Jenseits von Resignation und Illusion. Beiträge anlässlich des 450jährigen Bestehens des Lessing-Gymnasiums, der alten Frankfurter Lateinschule von 1520, Frankfurt 1971, 180-193. Saul B. Robinsohn: Bildungsreform als Revision des Curriculum, Neuwied / Berlin 41972, 45. J. A. Mayer: Die Maikäfer in den Lehrplänen oder das Prinzip der Lebensnähe, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 1980, 88-105. Der Rubikon mündet nördlich von Rimini in die Adria. Das Rubikon-Prinzip. Ein Selbstmanagement-Programm für mehr Handlungskompetenz und Entscheidungsstärke, München 2003. Naturalis historia 35, 85. Bion bei Teles, p. 3-5. Der jesuitische Ordensgeneral Claudio Acquaviva (1543-1615) soll den Satz in der Form Fortiter in re, suaviter in modo zum ersten Mal formuliert haben (Industriae ad curandos animae morbos 2, 4). Vgl. Reclams Lateinisches Zitaten-Lexikon, Stuttgart 32000. Veni, vidi, vici, München 1992, 81 f. Übersetzung: Schütrumpf in seinem Politik-Kommentar (1991) zu dieser Stelle. Vgl. auch Politik 3, 1287 b 5-8 und NE 10, 10, 1179 b 20-21. Lesli Jamison: Die Empathie-Tests. Über Einfühlung und das Leiden anderer. Essays aus dem Englischen von Kirsten Rieselmann, Berlin 2015. – Ob sich die Welt durch Empathie „retten“ lässt, bleibt offen. Ein Weg dorthin scheint möglich zu sein, wenn man sich das Leiden seines besiegten Feindes vorstellen kann; dann würde auch Versöhnung und Friede gelingen. Terenz, Heautontimorumenos 1, 1, 25. Ed. Weischedel, 189. Terenz’ und Menanders Heautontimorumenos, München 1994. Humanistische Bildung 1 / 1986, 39-49. Zum Thema „Sensibilität für die Situation des Anderen“: Themenheft AU 4 / 2006: „Humanitas und Humanität“.

 

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Hygin 92 über das Parisurteil. Reclams Lexikon der antiken Mythologie, s. v. Paris. Die Taten des Herakles sind anschaulich von Frank Brommer: Herakles. Die zwölf Taten des Helden in antiker Kunst und Literatur, Darmstadt 4 1979, beschrieben. Sehr erhellend: Barié 1980, bes. 5-25. Wilhelm Nestle: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens (1940), Stuttgart 21975. Fritz J. Raddatz: Die Aufklärung entlässt ihre Kinder. Vernunft, Geschichte, Fortschritt werden verabschiedet: Mythos ist der neue Wert, in: Z., 29. 06. 1984, 9 f. Richard Harder: Die Eigenart der Griechen, Freiburg 1962, 124. Thomas Assheuer: Helena stürzt. Yanis Varoufakis ist neuer griechischer Finanzminister und liebt die antike Mythologie. Was sagt das über sein Denken? Z., 12. 02. 2015, 38. Der globale Minotauros. Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft, München 2012. Apollodor 3, 7-11 (ed. Kai Brodersen). Apollodor 3, 213. Apollodor, Epitome 1, 7-9. Plutarch, Theseus 17-19. Hygin, Fabulae 37-43. Apollodor, Bibliothek 2, 88-91. Die Redewendung wurde schon in der Antike in übertragener Bedeutung gebraucht: Lukian, Alexandros 1. Lukian will in dieser Schrift die religiösen Betrügereien und Scharlatanerien eines Alexander von Abonoteichos entlarven und vergleicht sein Vorhaben mit der Reinigung des AugiasStalles durch Herakles. Er werde dies aber nur teilweise erledigen. Denn den ganzen Mist könne er nicht fortschaffen. – Bei Seneca, Apolcolocyntosis 7, vergleicht sich Claudius mit Hercules: Er habe als Richter mit mehr Mist zu tun gehabt als Hercules: „Wärest Du in meine Lage gekommen, … dann hättest du lieber die Kloaken des Augias gereinigt. Ich, Claudius, habe viel mehr Mist hinausgeschafft …“ Laut Lutz Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Freiburg 1973, s. v. Augiasstall, sei die Redensart in Deutschland erst seit dem 19. Jh. belegt. Euripides, Herakles, Berlin 21895. Wilamowitz, Euripides, Herakles. Bd. 2, 41.

 

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Wilamowitz, a. a. O. 101. Zu diesem Thema gehören z. B. auch das „Danaergeschenk“, „Kassandra“ und „Laokoon“ (Quelle: Vergil, Aeneis 2. Buch). Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, München 22013, 15. Zu Diderots 300. Geburtstag erschien ein Artikel von Matthias Greffrath in der Z., 02. 10. 2013: „Natur ohne Tod“. Die Encyclopédie, das „Trojanische Pferd“, wird hier als „das Meisterstück der Aufklärung“ bezeichnet. Herakles, Augiasstall. Laokoon bei Vergil, Aeneis 2, 40-56; 195-227. Vergil, Aeneis 2, 13-66. Eine knappe Skizzierung der Ideenlehre: Platon, Phaidros 249 b-d. Peter Körte, FAZ, 9. 5. 2004. So berichtet es Apollodor, Bibliotheke 3, 148 ff.). Auch Hygin, Fabulae 92, schildert das Parisurteil, seine Ursachen und Folgen. Eris wird in der Ilias 4, 439-445 und 11, 3-14 als Furcht und Schrecken verbreitende und Streit hervorrufende Gottheit erwähnt. Apollodor, Epitome 3, 1-5. Apollodor, Epitome 3, 6. Bildunterschrift zu einem Cartoon von Bernd Pfarr in einem Z.-Magazin des Jahres 1998. Bildunterschrift eines Cartoons von Bernd Pfarr in einem Z.-Magazin der neunziger Jahre. Christoph Siemes schrieb in der Z. vom 15. Juli 2004 einen Nachruf auf den mit 45 Jahren verstorbenen Künstler. Apollodor, Bibliotheke, Epitome 1, 7-9. Hygin, Fabulae 43. Die unglückliche Liebe der Phaidra zu ihrem Stiefsohn Hippolytos wird von Karl Kerényi: Die Heroen der Griechen, Darmstadt 1959, 262-265, knapp und treffend nacherzählt. Antiope: Pausanias 1, 2, 1. Antiope habe sich in Theseus verliebt. Der Chor hatte diese Tat gleich zu Anfang der Tragödie (40-257) ausführlich dargestellt (bes. 223-257). Der Agamemnon ist ein Stück aus der im Jahre 458 v. Chr. in Athen aufgeführten Orestie.

 

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In diesem Sinne hilfreich ist der Band 318 der Reihe „Mentor. Lektüre. Durchblick“ zu Christa Wolfs Kassandra von Ulrike E. Beitler, München 1996. In: Christa Wolf: Werke. Bd. 7, München 2000. Uns zugänglich in der von Walter Nestle durchgesehenen und eingeleiteten Ausgabe der Tragödien und Fragmente, Stuttgart (Kröner) 1957. Auch andere Übersetzungen sprechen in 1275 f. von Kassandras „Schuld“. Oskar Werner: „Und nun: der Seher, einfordernd der Seherin Schuld, mich führt’ er fort auf solch todbringenden Schicksals Weg.“ Ernst Buschor: „Nun treibt der Seher seine Schulden ein und führt die Seherin den Todespfad.“ Wilamowitz: „Jetzt fordert sich der Seher seine Gabe heim und hat zu diesem Todeslos mich hergeführt.“ Vgl. dagegen Ludwig Wolde: „Heut' überlässt der Seher mich, die er voreinst selber zur Seherin gemacht hat, solchem Todeslos.“ Übersetzung frei nach Droysen. Es handelt sich um die Verse 1327-1329. In Christa Wolfs Erzählung steht der selbst verschuldete Untergang Trojas im Mittelpunkt. Bei Christa Wolf wollte Kassandra Seherin werden. Dazu auch Manfred Joachim Lossau: Aischylos, Hildesheim 1998, bes. 119-139. Siehe Peter Wülfing: Der Kassandra-Mythos und Christa Wolfs Erzählung, in: Anregung 39, 1993, 4-17. Zu den Namen und Beinamen des Gottes: Reclams Lexikon der antiken Mythologie, 67 f. U. von Wilamowitz-Moellendorff: Griechische Tragödien. Bd. 2, Berlin 1900, 42. Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Stuttgart 31970, s. v. Prometheus. Lutz Walther: Antike Mythen und ihre Rezeption. Ein Lexikon, Leipzig 22004, s. v. Prometheus. Peter Sloterdijk: Sphären. 3 Bde., Frankfurt (Suhrkamp) 1998-2004. Dazu Rudolf Reiser: Götter und Kaiser. Antike Vorbilder Jesu, München 1995, 47 f. Walther 22004, 216.

 

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Mythos Prometheus. Texte von Hesiod bis René Char. Hg. von Wolfgang Storch u. a., Leipzig 1995. Cicero, De natura deorum 2, 53. Die wichtigste Quelle ist die Aischylos-Tragödie Der gefesselte Prometheus. Vgl. Diodor 4, 59, 5. Plutarch, Theseus 11. – Pausanias 1, 38, 5 erwähnt, dass Theseus seine Tat am Ufer des Kephisos in der Nähe von Eleusis beging. Vgl. auch Hygin 37 f. Helmut Caspar: Mit dem Ariadnefaden um die Litfaßsäule. Wie Namen zu Begriffen wurden, Berlin 2004, 19-20. Waldeckische Landeszeitung, Beilage Nr. 11: 1815 – Schicksalsjahr eines Kontinents. Dora und Erwin Panofsky: Die Büchse der Pandora. Bedeutungswandel eines mythischen Symbols, Frankfurt / New York 1992. Richard Kannicht: Pandora, in: Heinz Hoffmann (Hg.): Antike Mythen in der europäischen Tradition, Tübingen 1999, 127-151. Almut Barbara Renger / Immanuel Musäus: Pandora. Texte von Hesiod bis Sloterdijk, Leipzig 2002. Nach Hesiod, Theogonie 570-612 und Erga 47-105. Ovid, Ars amatoria 1, 445 f. Vgl. Jack Holland: Misogynie. Die Geschichte des Frauenhasses. Aus dem Englischen von Waltraud Götting, Frankfurt a. M. 2007. Vgl. die Venus von Sandro Botticelli, Geburt der Venus (um 1486), dazu Angelo Walther: Die Mythen der Antike in der bildenden Kunst, Düsseldorf 2003, 80. Quellen in Reclams Lexikon der antiken Mythologie, s. v. Aphrodite. Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen Bd. 1, 68-81. Herbert Read (Hg.): DuMont’s Künstlerlexikon: Von der Antike bis zur Gegenwart der Popkünstler. DuMont Buchverlag, Köln 1997, 531: Venus-Repliken (Parodien) Miss Snickers und Miss Banane. – Siehe auch Kurt Roeske: Venus und Aphrodite. Von Homers lockender Hera bis zu Petrons verführter Witwe, Würzburg 2008. Ein Gipsabdruck befindet sich im Archäologischen Institut der GeorgAugust-Universität Göttingen. Dass der Satz „Von dir selbst spricht die Geschichte – nur unter einem anderen Namen“ auch in anderen Zusammenhängen zitierbar ist, liegt

 

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auf der Hand. Beispiel: Horaz, Episteln 1, 18, 83 f.: „Merkst du denn nicht, dass auch dir bald Gefahren drohen? Denn es geht auch um dich, wenn die Wand des Nachbarn brennt.“ Dazu auch Eduard Fraenkel: Horaz (engl. 1957), Darmstadt 1963, 108116. Fraenkel 1963, 109. Dazu auch Heinrich G. Reichert: Urban und human. Unvergängliche lateinische Spruchweisheit, München 1965, 303-306. Literaturempfehlung: Kleines Fremdwörterbuch. Mit einem Verzeichnis gebräuchlicher Abkürzungen bearbeitet von Michael Müller, (Reclam Wissen) Stuttgart 1996. Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. 2 Bde., Frankfurt 1983, darin bes. 526-548. Die griechischen Wörter im Deutschen, Berlin 1950, 75. Harald Weinrich: Linguistik der Lüge, München 72006, 62-69. Vgl. Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 41997. Gerd Heinz-Mohr: Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst, Düsseldorf / Köln 61981, 107-109. Xenophon, Kyrupädie 6, 1, 46. Hermann Weidemann: Aristoteles. Peri Hermeneias, Berlin 1994, 139. Waldeckische Landeszeitung vom 13. 06. 2015, 15. Foto Lutz Benseler. Z., 12. 12. 2013. Nina Pauer: Schlagkraft und Panzer. Wie Vitali Klitschko in Kiew zur Protestikone wird. Z., 19. 09.2013. Ijoma Mangold: Selbstironischer Sokrates. Stoisch munter: ‚Herrn Zetts Betrachtungen‘ von Hans Magnus Enzensberger. Annalen 16, 21-35. Zu Thrasea auch Otto Seel: Quintilian oder Die Kunst des Redens und Schweigens, Stuttgart 1977, 28 f. Zu Cato Uticensis als Stoiker: G. Maurach: Geschichte der römischen Philosophie. Eine Einführung, Darmstadt 1989, 50–53. Cato starb durch Selbstmord 46 v. Chr., Thrasea 66 n. Chr. durch befohlenen Selbstmord (Tacitus, Annalen 16, 35, 2). Decianus war ein stoischer Freund des Dichters Martial. Vgl. M. Vielberg: Pflichten, Werte, Ideale. Eine Untersuchung zu den Wertvorstellungen des Tacitus, Stuttgart 1987. Z., 12. 11. 2015.

 

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https://wiki.yoga-vidya.de/coolness Apophthegmata Lakonika 208 B-236 E. Kairos mit Schopf an dem ansonsten kahlen Schädel: Phaedrus 5, 8; Anthologia Graeca 16, 275; Disticha Catonis 2, 26. Jetzt oder nie! Z., 27. 12. 2012. Rainer Nickel: Kairos in der Zeit, in: AU 5 / 2005, 50-55. Dazu das Historische Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Darmstadt 2004, s. v. Zeit. Schiller, Wallenstein (Die Piccolomini 2, 6). Vgl. auch Wallensteins Tod 1, 7: „Der Augenblick ist da ...“ Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, München 2 1973, Bd. 1, 211-213. Harald Weinrich: Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens, München 2004, 109. Werner Jaeger: Demosthenes. Der Staatsmann und sein Werden (1939), Berlin ²1963, 125-148. Weinrich 2004, 107-114. Jaeger 21963, 127. AU 3 / 2003, 40. Vgl. auch Pausanias 5, 14, 9: Kairos ist der jüngste Sohn des Zeus. Plutarch, Caesar 2; Sueton, Divus Iulius 4. Über das Piratenabenteuer: Velleius Paterculus 2, 41, 3. Zu Caesars „unglaublicher Schnelligkeit“, mit der er den Kairos zu nutzen verstand, s. auch 2, 51, 2. Luciano Canfora: Caesar. Der demokratische Diktator. Eine Biographie, München 2001, 31 f. Donna Leon: Heimliche Versuchung. Commissario Brunettis siebenundzwanzigster Fall, Zürich 2018. Robert Spaemann: Das Wort sie sollen lassen stahn. Versuch über den Fundamentalismus, in: Z., 22. 12. 1989. Außer Sophokles werden auch Aischylos mit der Orestie und Euripides mit der Medea, ferner Cicero und Aristoteles (S. 157) erwähnt. Ferner verwendet Brunetti rhetorische Kategorien wie das Argumentum ad absurdum und die Reductio ad absurdum. Es wäre also noch mehr Hintergrund aufzuhellen. Der Leser des siebenundzwanzigsten Falles wird also

 

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weniger mit einer spannenden Handlung unterhalten als mit Einblicken in die Gedankenwelt des Commissario – und seiner ausgesprochen klugen und sympathischen Frau – zum Nachdenken angeregt. So Harald Martenstein: Der Terror der Tugend, in: Z., 6. 6. 2012; Martin Seel: Wie gut sollen wir sein? Z., Nr. 24, 54. AA 6, 344 f. Cicero, Tusk. 4, 56: „Aber warum möchtest du lieber Mitleid haben, statt zu helfen, wenn du kannst?“ Theokrit 8, 53; 10, 32. So Franz Passow, Handwörterbuch. Dazu J.-W. Beck: Aliter loqueris, aliter vivis. Senecas philosophischer Anspruch und seine biographische Realität, Göttingen 2010. Mit diesen Worten ist der Vorwurf der Scheinheiligkeit verbunden; Thomas Druyen: Krieg der Scheinheiligkeit. Plädoyer für einen gesunden Menschenverstand, Düsseldorf 2012. Auch Reimer Gronemeyer: Die neue Lust an der Askese, Berlin 1998, zitierte den Seneca-Satz. Dazu Elisabeth von Thadden: Bin das wirklich ich? Z, 14. 8. 2014, 29. Rainer Nickel: Antike Kritik an der Stoa, Berlin 2014, 184 f. Im platonischen Protagoras (329c) wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass das Staunen das Motiv des philosophischen Fragens ist. Georg Misch: Der Weg in die Philosophie. Eine philosophische Fibel, München 21950, 88. Z., 16. 08. 2007. Dieter Lau: Der Mensch als Mittelpunkt der Welt. Zu den geistesgeschichtlichen Grundlagen des anthropozentrischen Denkens, Aachen 2000, 44. Dazu auch schon ausführlich Claudio Moreschini, in: Clemens Zintzen (Hg.): Der Mittelplatonismus, Darmstadt 1981, bes. 228. Darüber verfügt auch Alkibiades im Timon 27 des Libanios. H. Merki: Homoiosis theo. Von der platonischen Angleichung an Gott zur Gottähnlichkeit bei Gregor von Nyssa, Freiburg (Schweiz) 1952. C. W. Müller: Gleiches zu Gleichem. Ein Prinzip frühgriechischen Denkens, Wiesbaden 1965. Gronemeyer 2006, 107.

 

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Ähnlichkeit (similitudo) scheint erreichbar zu sein, Identität nur annähernd. So bei Pindar, Erste Nemeische Ode 25 f. Achte Pythische Ode 44 f. Thukydides 1, 76, 2; 3, 45, 7; 3, 82, 2; 3, 84, 2; 4, 61, 5; 5, 105, 2. Aus dem Melierdialog 5, 111, 4. Thukydides 5, 89. Z.-Philosophie, im Juni 2013, 22. Dazu Maximilian Forschner: Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant, Darmstadt 21994, bes. 45-50. Mythos Odysseus. Texte von Homer bis Günter Kunert. Hg. von Bernhard Zimmermann, Leipzig 2004, 181. Homer, Odyssee 11, 593-600. Hygin, Fabulae 60 f. „Jage nicht unsterblichem Leben nach / Du, liebe Seele, und schöpfe das Mögliche im / Handeln aus! (Übersetzung: A. Graf Schenk von Stauffenberg). Iris Radisch (Z.-Literatur, im Oktober 2015) in ihrer Rezension des letzten Buches von Günter Grass: Vonne Endlichkeit, Göttingen 2015. Drehbuch: Ethan und Joel Coen. Klaus Zacher: Über die leidenschaftliche Liebe. Lukrez 4, 1058-1191 in Verbindung mit modernen Zweittexten, in: AU 3 / 1986, 4-21. Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike. Bd. 3, München 1985, 110-117. Vgl. Ernst Hoffmann: Epikurs Lebensfreude (1948). In: Platonismus und christliche Philosophie, Zürich / Stuttgart 1960, 108-122. Fragment 551 Us. Plutarch, Ist die Aufforderung zu einem Leben im Verborgenen sinnvoll, 1128 B-1130 A. Unter diesem Aspekt war vielleicht der römische Dichter Horaz ein echter Epikureer. Dazu Otto Seel: Horazens sabinisches Glück. Bemerkungen zu Horaz, sat. 2, 6. In: Verschlüsselte Gegenwart, Stuttgart 1976, 13-93. Wilhelm Schmid: Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden, Berlin (Insel) 2014, setzt die Gelassenheit der epikureischen Ataraxia, dem Freisein von innerer Unruhe, gleich. Olof Gigon: Epikur. Von der Überwindung der Furcht, Zürich / Stuttgart 3 1983, 12. Für die Instrumentalisierung der philosophischen Vernunft zu

 

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therapeutischen Zwecken gibt es zahlreiche Belege auch in der sokratischen Literatur. Hans Ries: Wilhelm Buschs „Diogenes und die bösen Buben von Korinth“ und sein Verhältnis zur Antike, in: Max Kunze (Hg.): Antike(n) – auf die Schippe genommen. Bilder und Motive aus der Alten Welt in der Karikatur, Mainz 1998, 65-76, zit. 68. Literatur: Georg Luck: Die Weisheit der Hunde. Texte der antiken Kyniker, Darmstadt 2002. Carl Wilhelm Weber: Diogenes. Die Botschaft aus der Tonne, München 1987. Michel Onfray: Der Philosoph als Hund. Vom Ursprung des subversiven Denkens bei den Kynikern, Frankfurt / New York 1991. Heinrich Niehues-Pröbsting: Diogenes von Sinope – der Philosoph als Außenseiter und der Außenseiter der Philosophie, in: Markus Knapp / Theo Kobusch (Hg.): Querdenker. Visionäre und Außenseiter in Philosophie und Theologie, Darmstadt 2005, 24-35. Bernhard Lang: Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, München 2010. Dazu Rainer Nickel: Diogenes oder Dädalus? Zum Wertbegriff eines einfachen Lebens, in: Akademie für Lehrerfortbildung Dillingen (Hg.): Ethikunterricht – Materialien, Dillingen 1992,76-94. Sylvain Tesson: In den Wäldern Sibiriens. Tagebuch aus der Einsamkeit, München 2014 (Paris 42011), 45. Harald Welzer, in: mobil 01. 2014. Raimund Sennoner: Die römische Literatur, München 1981, 99. Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur, München ²1994, 635. Zum Ganzen: Michael von Albrecht: Ovid. Eine Einführung, Stuttgart 2003. Heinrich Dörrie: Wandlung und Dauer. Ovids Metamorphosen und Poseidonios’ Lehre von der Substanz, in: AU 2 / 1959, 95-116; Peter Mommsen: Philosophische Propädeutik an den ,Metamorphosen‘ des Ovid, in: AU 1 / 1985, 27-41. H. Gärtner: Der ,Drachenkampf' des Cadmus. Zu Ovid, Met. 3, 50-98, in: Anregung 35, 1989, 299-313. Diese Formulierung kann sich auf einen Vers aus dem PythagorasEpyllion in den Metamorphosen 15, 60-478, stützen: „Alles wandelt sich, nichts geht unter“ (165).

 

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Hjalmar Frisk: Griechisches etymologisches Wörterbuch. Bd. 1, Heidelberg 1960, 593. Dazu besonders Heinrich Dörie: Echo und Narcissus (Ovid, Met. III 341510). Psychologische Fiktion in Spiel und Ernst, in: AU 1 / 1967, 54-75. Vgl. den Artikel „Wahnsinnstypen“, Z., 14. 08. 2013. Z., 14. 08. 2013, S. 20. Vgl. auch Hans-Joachim Maaz: Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm, München (dtv) 2014. Die Selbstliebe des Narzissten hängt von der Bestätigung durch andere ab. Der Narzisst will bewundert werden. Er ist also auch kränkbar. „Ein Narzisst muss sich spiegeln in seinen Mitmenschen, um sich zu spüren, und kann es nicht fassen, wenn jemand etwas anderes denkt und fühlt als er selbst“ (Elisabeth Raether in einem Essay über den Hass, Z., 13. 08. 2015). Plinius, Naturgeschichte 21, 127 f., weist darauf hin, dass die Narzisse eine Heilpflanze sei und ihren Namen von griechisch Narke, Betäubung, habe, nicht aber von dem „Knaben des Mythos“. Dörrie 1967, 73. WLZ, 1. August 2015: „Mein schönes neues Ich.“ Z., 02. 10. 2013. Lisa Marie Meckbach schrieb mir am 12. 08. 2018, sie habe im Zusammenhang mit dem Ikarus-Mythos ein Lied von Nicole (1981) im Ohr gehabt: Die Zeile "Flieg' nicht so hoch, mein kleiner Freund" ist eine deutliche Anspielung auf Ikarus und seinen Absturz. Rainer Nickel: Vergleichendes Interpretieren, in: AU 4+5 / 1993, 37-53. Rudolf Henneböhl: Adpositis queritur ieiunia mensis. Erysichthon als Beispiel existienzieller Darstellung bei Ovid, in: AU 4+5 / 2013, 52-58. Benedikt Erenz, der ein auf der Erysichthon-Erzählung basierendes Gedicht von Pierre de Ronsard Gegen die Holzfäller im Wald von Gâtine (1573) gedankenreich interpretierte, war der Ansicht, dass das Gedicht vor allem die Habgier beklage (Z., 26. 04. 1996). Musik von Frederick Loewe und Liedtexte von Alan J. Lerner (1956). Pygmalion verfügt über alle Merkmale einer resilienten Persönlichkeit. Nur einige Hinweise auf Literatur: Christina Berndt: Resilienz: Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft. Was uns stark macht gegen Stress, Depressionen und Burn-out, München 22015. Denis Mourlane:

 

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Resilienz: Die unentdeckte Fähigkeit der wirklich Erfolgreichen, Göttingen 42013. Albert Wunsch: Mit mehr Selbst zum stabilen ICH! – Resilienz als Basis der Persönlichkeitsbildung, Heidelberg 2013. Politeia 4, 433a und 4, 433e. Im Charmides 161b hilft die Formel dabei, nicht die Gerechtigkeit, sondern die Besonnenheit (Sophrosyne) zu definieren. Politeia 4, 427d-428a. Vgl. Friedländer, Platon 3, 87-93. Zur Diskussion um die Formulierung „das Seine tun“: Charmides 161b162a. Politeia 4, 441c-444a. So Arbogast Schmitt: Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, Stuttgart / Weimar 22008, 382 f. Zum Ganzen die „Kurzdokumentation zur Formel ‚Jedem das Seine‘“ von Matthias Heyl, Forschungs- und Arbeitsstelle „Erziehung nach / über Auschwitz“, o. J. In diesem Text werden auch die aniken Hintergrundinformationen gegeben. Christoph Drösser, Z., 6. 8. 2007. Claudii Galeni Protrepticus ad medicinam. Griechisch und deutsch herausgegeben und übersetzt von Walther John, Göttingen (Hubert) 1936. Ernle Bradford: Leonidas. Held der Thermopylen, München 1984, 157. Zu Wilfred Owen siehe auch Stefan Freund: Der Schulautor Horaz und der Erste Weltkrieg. Überlegungen zur Rezeptionsgeschichte der zweiten Römerode, in: Forum Classicum 2 / 2014, 127-135. Die ersten sechs Gedichte des 3. Buches werden seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland als „Römeroden“ bezeichnet: In ihnen werden die zentralen „Römertugenden“ thematisiert: continentia (1), virtus und fides (2), iustitia (3), humanitas (4), amor patriae (5), pietas und castitas (6). – Zu Carmen 3, 2 vgl. nicht nur Lohmann 1989, sondern auch Peter Wülfing: Dulce et decorum est pro patria mori. Die Geschichte einer Interpretation von Bertolt Brecht bis heute. In: P. W.: Vorträge und Schriften, Trier 2001, 382-393. Sappho, Fragment 27a Diehl, verwendet hier den Superlativ von kalós („schön“). Die Dichterin führt als Zeugin für diese Auffassung Helena an, die um ihrer Liebe willen ihren Ehemann verließ und damit den Trojanischen Krieg auslöste.

 

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Dazu Rainer Nickel: Horaz – für eine Kultur der Verweigerung, in: Athlon. Festschrift für Hans-Joachim Glücklich. Herausgegeben vom Landesverband Rheinland-Pfalz im Deutschen Altphilologenverband, Speyer 2005, 33-54. Zur Interpretation von Carmen 2, 7: Hans Peter Syndicus: Die Lyrik des Horaz. Eine Interpretation der Oden. Bd. 1, Darmstadt 21989, 381-387. Hier finden sich auch Hinweise auf weitere Stellen für das Motiv des fortgeworfenen Schildes in der Literatur. Stefan Freund: Der Schulautor Horaz und der Erste Weltkrieg. Überlegungen zur Rezeptionsgeschichte der zweiten Römerode, in: Forum Classicum 2 / 2014, 127-135. Reminiszenz an Archilochos fr. 5 W. Victor Klemperer: Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen „LTI“, Darmstadt ³1966. A. Fritsch: Die altsprachlichen Fächer im nationalsozialistischen Schulsystem, in: R. Dithmar (Hg.): Schule und Unterricht im Dritten Reich, Neuwied 1989, 135-162. M. Landfester: Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der humanistischen Bildung in Deutschland, Darmstadt 1988, bes. 149 f. U. Preuße: Humanismus und Gesellschaft. Zur Geschichte des altsprachlichen Unterrichts in Deutschland von 1890 bis 1933, Frankfurt 1988. K. Friel (Hg.): Die deutsche Revolution im altsprachlichen Unterricht. Vorträge, Berichte und Ergebnisse der altsprachlichen Arbeitstagung der Fachschaft II im NSLB in Gera 1935, Frankfurt 1936, S. III-V. F. Eichhorn: Das Reichssachgebiet „Alte Sprachen“ im NSLB und der altsprachliche Unterricht, in: Ziele und Wege des altsprachlichen Unterrichts im Dritten Reich. Vorträge und Berichte der Tagung der altsprachlichen Arbeitsgemeinschaft im NS-Lehrerbund Gau WürttembergHohenzollern auf der Reichenau (Bodensee). Sonderheft „Aus Unterricht und Forschung“, Stuttgart 1937, 1-13. Mit beeindruckender Nüchternheit berichtet der Direktor in der Rubrik VI. „Aus dem Leben der Schule“ im Jahresbericht 1938/39 über die (scheinbare) „Normalität“ des Schullebens.

 

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W. Natonek: Das Gymnasium zu Göttingen in den letzten Friedensjahren des Kaiserreiches bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, in: MaxPlanck-Gymnasium. Festschrift zum Jubiläum , 57-91. M. Fuhrmann: Die humanistische Bildungstradition im Dritten Reich, in: Humanistische Bildung 8, 1984, 139-161, zit. 157. Die Vorträge und Grußworte, die während eines Festaktes anläßlich der 350-Jahr-Feier des Staatlichen Gymnasiums zu Göttingen gehalten bzw. gesprochen wurden (veröffentlicht vom Verein ehemaliger Göttinger Gymnasiasten und Realgymnasiasten), stimmen darin überein, dass sie die Existenzberechtigung des humanistischen Gymnasiums auch im nationalsozialistischen Staat unter Berufung auf wesentliche Inhalte der NSIdeologie zu beteuern suchen. Die Auslassungen haben einen betont apologetischen Charakter. Vgl. bes. die Rede des Direktors Walter John, die er am 28. Mai 1936 in der Aula der Universität hielt. Vgl. auch Otto Wecker: Von der Vergangenheit in die Zukunft, in: Staatliches Gymnasium zu Göttingen: Festschrift zur 350-Jahr-Feier 28. 4. 1586 - 28. 4. 1936. Aufsätze zur Geschichte der Schule, Göttingen 1936, 7-38. Ulrich Greiner, Z., 9. 9. 1999, 7. R. Thurow: Zeitbezug – Aktualisierung – Transfer. Anmerkungen zur Rezeptions- und Legitimationsproblematik im altsprachlichen Unterricht nach der Erfahrung des Nationalsozialismus, in: AU 3 / 1982, 57-79. Das meint N. Wilsing: Die Praxis des Lateinunterrichts. Bd. 2, Stuttgart ²1964, 2. K. Hansen: Die Lage des altsprachlichen Unterrichts, in: AU 3 / 1960, 5-17. H. Färber, in: Gymnasium 59, 1952, 225. J. Schneble, in: Gymnasium 56, 1949, 18. J. Kroymann, in: Mitteilungsblatt des Landesverbandes Berlin im Deutschen Altphilologenverband, 13. 3. 1967. F. Blättner: Der Humanismus im deutschen Bildungswesen, 1937. F. Blättner: Das Gymnasium Aufgaben der höheren Schule in Geschichte und Gegenwart, Heidelberg 1960, 21 und 371. Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, Bonn 61959. Dieselbe Auffassung vertritt auch der marxistische Pädagoge H.-J. Gamm: Das Elend der spätbürgerlichen Pädagogik, München 1972, bes. 39-52.

 

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Bildungsreform als Revision des Curriculum, Neuwied ³1971. O. Schönberger: Anmerkungen zu einem Buch von Saul B. Robinsohn, in: Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes 3 / 1968, 2-7. Der in Nürnberg als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilte und hingerichtete Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel war Schüler des Staatlichen Gymnasiums zu Göttingen. Im Jahresbericht über die Schuljahre 1942/45 berichtet der Direktor (S. 38): „Im Januar 1943 stiftete Generalfeldmarschall Keitel durch Vermittlung des Wehrbezirkskommandos Göttingen seiner früheren Schule sein Bild mit seiner Unterschrift. Es wurde im Treppenflur des ersten Stockwerkes aufgehängt.“ Homer, Odyssee 11, 582-592. Hygin, Fabulae 81 f. Bd. 14, Wiesbaden 141972. Hans Krimm: Das Gespräch Xerxes-Demarat im Rahmen des Geschichtswerkes Herodots (VII 101-104), in: AU 3 / 1967, 40-55, bes. 48. Das Gespräch ist im ZEIT-Magazin vom 31. 12. 2012 nachzulesen. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1959. Schmitt 22008, 384. Schon Immanuel Kant (Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, ed. Weischedel, Bd. 2, 849) hatte darauf aufmerksam gemacht, dass Eigennutz gemeinnützig sein kann. Klaus Bringmann: Cicero, Darmstadt 2010, 258 f. Veröffentlicht in Z., 03. 10. 1997. Cicero, Off. 3, 21-32. Dazu Rainer Nickel: Das Recht auf Leben und Unversehrtheit in Ciceros Schrift De Officiis (3, 21-32), in: Peter Neukam (Hg.): Die Antike als Begleiterin, München 1990, 55-72. Karl Büchner: Marcus Tullius Cicero. Vom Gemeinwesen. Lateinisch und deutsch, Zürich 21960, 20-22. Vgl. auch Rezzo Schlauch, der in einer Auseinandersetzung mit dem Afghanistan-Problem dazu rät, bei der Diskussion über die weltpolitischen Fragen von heute, die Ursprünge unserer Demokratie nicht auszublenden (Z., 22. 11. 2001: „Vier Lehren für Afghanistan. 1914, 1945, 1973 und 1989: Ein Blick zurück zeigt, was alles falsch laufen kann“). Vgl. auch Ciceros entsprechende Hinweise in Fin. 3, 65 und De legibus 1, 28. Eine ähnliche Theorie über die Entstehung der Gerechtigkeit vertritt Glaukon in Platons Politeia 2, 358e-360a.

 

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Oskar Lafontaine: Strategien gegen die „Ich-AG“. Die Globalisierung ist ein Sprengsatz für die Zivilgesellschaft. Ihre Kritiker retten die Demokratie, Z., 11. 10. 2001, 20. Ludger Lütkehaus (Z., 24. 1. 2008) berichtet über neue Bücher zu dieser Frage. Beispiel: Elisabeth von Thadden: Was ist ein gutes Leben? Geld ist nicht alles: Der Philosoph Michael Sandel will mit seinem neuen Buch dem Kapitalismus moralische Grenzen setzen. Eine Begegnung in Harvard, Z., 25. 10. 2012. Michael Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes. Aus dem Amerikanischen von Helmut Reuter, Berlin 2012. Rainer Nickel: Das Recht auf Leben und Unversehrtheit in Ciceros Schrift Off. (3, 21-32), in: Peter Neukam (Hg.): Die Antike als Begleiterin, München 1990, 55-72. Rainer Nickel: Xenophons Hieron. Ein Beitrag zur politischen Bildungsarbeit im griechischen Lektüreunterricht, in: AU 3 / 1972, 5-13. Dazu auch Franz Dirlmeier: Nikomachische Ethik, Berlin ²1960, 277 f. Dieser Eudämonie-Begriff wird z. B. von den Akademikern Speusipp und Xenokrates vertreten. Vgl. NE 1, 10, 1099 b 26; 1, 11, 1100 b 10 und 32. Der Begriff des Gebrauchs wird hier nicht mehr ausdrücklich genannt. – Zum Begriff der Analogie: Harald Höffding: Der Begriff der Analogie, (Leipzig 1924) Darmstadt 1967. In NE 9, 9, 1170 a 17-19 erwähnt Aristoteles die Dynamis-EnergeiaBeziehung, um die Überlegenheit der Energeia zu betonen; vgl. Metaphysik 9, 9, 1051 a 29-33. Franz Schuh: Mut zum Unglück, Z., 18. 10. 2012, zu Wilhelm Schmid: Unglücklich sein. Eine Ermutigung, Berlin 2012. Wilhelm Schmid: Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist, Frankfurt / Leipzig 2007. Dazu auch Manfred Joachim Lossau: Aischylos, Hildesheim 1998, bes. 119-139.

 

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Dazu auch H. J. Mette: Mēdén ágan, in: Kleine Schriften, Frankfurt 1988, 11-38; W. Nicolai: Zuviel des Guten ist ungesund, in: Gymnasium 101, 1994, 312-332. Demokrit VS 68 B 70, 102, 191, 209, 210, 211, 223, 233 usw. Spaemann, Z., 12. 02. 2015, 40. Arbela war eine Stadt in Mesopotamien, in deren Nähe Alexander 331 v. Chr. den persischen König Dareios besiegte. Zum stoischen Begriff des Tónos vgl. S&S Nr. 276-277, 794-796, 798, 1128. Z., 25. 10. 2007. Rheinischer Merkur, 13. 11. 2008, 17. Robin L. Fox: Die Klassische Welt. Eine Weltgeschichte von Homer bis Hadrian, Stuttgart 32010, 184. Dazu Ivo Bruns: Das literarische Porträt der Griechen, Berlin 1896, 142144. Elisabeth Bronfen stellte einen Bezug her zwischen Nietzsches Aphorismus und dem Hollywood-Kino (Z., 24. 08. 2000). Sylvain Tesson: In den Wäldern Sibiriens. Tagebuch aus der Einsamkeit. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer, München 42010, 11. Tesson, 56. Übersetzung der Schrift in: Rainer Nickel: Plutarch. ‚So nicht Epikur!‘ Drei Schriften gegen Epikur aus den ‚Moralia‘, Berlin 2011, 149-158. Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, Stuttgart 1976, 13. Dazu auch Klaus Bartels, Veni, vidi, vici. Geflügelte Worte aus dem Griechischen und Lateinischen, München 1992, 102. Tertullian, Apologeticum 33, 4. Ich danke Susanne Krieg für diese Hinweise vom 13. Juli 2018. Gero von Randow stellt in seinem ZEIT-Artikel „Wir GenesungsGläubigen“ (23. 03 2016) unter Berufung auf Plinius, Briefe 7, 26 die Frage: „Kann ich meiner Krankheitserfahrung einen Sinn verleihen – lehrt sie mich etwas?“ Zu diesem Brief: Marianne Thommel: Werteerziehung für Lästermäuler, in: AU 4 / 2015, 46-51.

 

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Corinne Michaela Flick (Hg.): Tun oder Nichtstun – zwei Formen des Handelns, Göttingen 2015. Dieter Lau: Der Mensch als Mittelpunkt der Welt: Zu den geistesgeschichtlichen Grundlagen des anthropozentrischen Denkens, Essen 2000. Die Sophisten wollten eine „Moralbegründung ohne Metaphysik“: So der Titel eines Aufsatzes von Norbert Hoerster, in: Aufklärung und Kritik. Sonderheft 7 / 2003, 22-32. Dazu auch Norbert Hoerster: Wie lässt sich Moral begründen? München 2014. Herwig Görgemanns: Macht und Moral. Thukydides und die Psychologie der Macht, in: Humanistische Bildung 1 / 1977, 64-93, zit. 75. Vgl. auch Harald Welzer: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt 2005. Thukydides 1, 72, 2. 3, 82, 2. 4, 61, 5. 5, 105, 2. Bruno Bleckmann: Der peloponnesische Krieg, München 2007. Görgemanns 1977, 64-93. Vgl. auch Werner Jaeger: Paideia 1, 496-513: Thukydides gebe mit dem Melierdialog eine unverhüllte Darstellung der reinen Machträson. Euripides, Helena 261. 304 f. 27 Vgl. das Gemälde von J. L. Gérôme Phryne vor den Richtern (1801). Ernesto Grassi: Die Theorie des Schönen in der Antike, Köln 1962, bes. „Die ontologische Bedeutung des Schönen“ (38-89). Xenophon, Memorabilien 4, 6, 8-11. Dazu auch Grassi 1962, 131-134. Ronald Dworkin: Religion ohne Gott. Aus dem Englischen von Eva Engels, Berlin 2014. Sappho, Fragment 16 Voigt (= 27a Diehl) in: Andreas Bagordo: Sappho. Gedichte, Düsseldorf 2009. Übersetzung bei Heinrich Gomperz: Sophistik und Rhetorik (1912), Darmstadt 1965. Die einschlägigen Aristoteles-Stellen findet man in dem Artikel „Unendlichkeit“ im Hist. Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11, Darmstadt 2001. Zum Unterschied zwischen aktualer und potenzieller Unendlichkeit: Hist. Wb. d. Philos. Bd. 2, Darmstadt 1972, s. v. „Endlich / Unendlich“ Rainer Nickel: Heureka. Lukians Markt der Philosophen, Darmstadt / Mainz 2012, 152-155.

 

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Dazu auch Heureka 165-167. Ranke-Graves, s. v. Eos. Dort auch die Belegstellen: Homerischer Hymnos an Aphrodite 218-238 Aus: postfrisch. Das Philatelie-Journal 2, 2011, 18. Die lateinische Wortfolge rerum cognoscere causas wird von J. und M. Götte mit „das Wesen der Welt (zu) ergründen“ übersetzt (TusculumAusgabe). Der lateinische Wortlaut stellt aber die „Gründe der Dinge erkennen“ in den Vordergrund. Nach Vergil besteht die besondere Leistung des Lukrez darin, dass es ihm gelang, „Gründe / Begründungen“ für die Vorgänge in der Welt zu erkennen. – R. A. Schröder, Berlin / Frankfurt 1952, übersetzt mit „der Welt Ursachen zu kennen“. Heinrich Naumann, München 1970, bietet an: „das Wesen des Alls zu ergründen.“ In dem bemerkenswerten Buch von Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie die Renaissance begann, München 42012, steht der durch Poggio wiederentdeckte Lukrez als Wegbereiter der Renaissance im Mittelpunkt. – Über die Wirkung des Lukrez im Christentum: Michael von Albrecht, Gesch. d. röm. Lit., Bd. 1, 247-255. Lektüreempfehlung: Lukrez 3, 8301094 unter dem Motto „Nil igitur mors est ad nos.“ Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, München 22013, 202: „Mit seiner intellektuellen Klarheit und seinem Pathos war Lukrez der direkteste Vorläufer der radikalen Aufklärung. … Die Aufklärer waren sich bewusst, wie sehr sie in seiner Schuld standen.“ Die Wende. Wie die Renaissance begann, München 2012, 11. Greenblatt 2012, 17 f. Im Kunstmagazin art 6, 1980, 86-91 findet man eine ausführliche Bildbeschreibung. Vgl. auch Horst Bredekamp: Botticelli, Primavera. Florenz als Garten der Venus, Frankfurt 1988. Jenny Offill: Amt für Mutmaßungen. Roman. Aus dem Englischen von Melanie Walz, München 2014. Forum Classicum 2 / 2015, 144 f. H. Beck / M. Meier / U. Walter: Darth Vader trifft Tacitus. Star Wars und die römische Revolution: Archetypen des Politischen und das kulturelle Gedächtnis der Gegenwart, in: Mitteilungen des Deuschten Altphilologenverbandes (Hessen) 1 / 2, 2000, 10-15.

 

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Edward Gross / Mark A. Altman: Captain's Logbuch, Königswinter 1994, 17. J. M. Dillard: Star Trek. Wo bisher noch niemand gewesen ist, München ³1995, 58 (mit Beispielen für Appelle gegen Rassismus, Fremdenhass, Intoleranz, Drogenmissbrauch). J. M. Dillard: Star Trek. Wo bisher noch niemand gewesen ist, München ³1995, 25. Vgl. auch 177 zur utopischen Funktion der Star-Trek-Serien, die darauf zielen, „einer besseren Zukunft den Weg zu bereiten“. J. M. Dillard (s. vorige Anm.), 25. Zitiert nach J. M. Dillard, 91. A. M. Harmon: Lucian. Bd. 1, London / Cambridge (Mass.) 1913, 247. W. Fauth: Utopische Inseln in den Wahren Geschichten des Lukian, in: Gymnasium 86, 1979, 39-58. J. Hall: Lucian’s Satire, New York 1981. R. Helm: Lucian und Menipp, Leipzig / Berlin 1906. R. Helm: Lukianos, in: RE 13, 1927, 1725-1777. C. P. Jones: Culture and Society in Lucian, Cambridge (Mass.) 1986. J. R. Morgan: Lucian’s True Histories and the Wonders Beyond Thule of Antonius Diogenes, in: Classical Quarterly 35, 1985, 475-490. R. Nickel: Lucian's True Story: Impressions of a fancy voyage, in: Euphrosyne N. S. 27, 1999, 249-257. K. Reyl: Antonius Diogenes. Untersuchungen zu den Romanfragmenten der „Wunder jenseits von Thule“ und zu den „Wahren Geschichten“ Lukians, Bamberg 1969. C. Robinson: Lucian and His Influence in Europe, London 1979. E. Rohde: Der griechische Roman und seine Vorläufer, Leipzig ³1914, 203-209. E. Schmalzriedt, in: Kindlers Neues Literaturlexikon, Bd. 10, 680-701. O. Seel: Hinweis auf Lukian. Der veristisch-kynische Aspekt des Humanismus, in: AU 10, 1956, 5-39. P. Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. 1, Frankfurt 1983, 319-330. A. Stengel: De Luciani Veris Historiis, Berlin 1911. The Cambridge History of Classical Literature 1, 1985, 673-697. Benedikt Simons: Seneca, Platon und die Matrix, in: AU 4+5 / 2012, 6473. Auch in einem Wikipedia-Artikel zum Thema „Matrix“ heißt es, der Film lasse „Elemente und Anleihen bei der Erkenntnistheorie (siehe z. B. Platons Höhlengleichnis)“ erkennen. Ob man allerdings über die „Matrix“ einen besseren Zugang zu Platons Ideenlehre gewinnt als etwa über Senecas Brief an Lucilius 58, sei dahingestellt.

 

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Das Fabricius-Exemplum wird von Cicero auch Off. 3, 86 f. verwendet. Es begegnet später auch bei Gellius 3, 8, 1-8. Fama. Eine Geschichte des Gerüchts, Berlin 1998. Dazu auch Bringmann 2010, 270 f. Dazu Samuel Scheffler: Der Tod und das Leben danach, Berlin 2015 (vgl. die Rezension des Buches von Michael Hampe in der Z., 16. 07. 2015, 43). Vgl. R. B. Brandom: Der Mensch, das normative Wesen. Über die Grundlagen unseres Sprechens. Eine Einführung, Z., 12. 07. 2001. – Auch mit dem Carmen 4, 9 bezeugt Horaz sein stolzes Selbstbewusstsein als Dichter, dem die großen Helden der Vergangenheit ihr ewiges Leben verdanken und der durch sein Werk selbst unsterblich ist. Eduard Fraenkel: Horaz, Darmstadt 1963, 495-496. Egon Römisch: Horaz, in: H. Krefeld (Hg.): Interpretationen lateinischer Schulautoren. Frankfurt 1970, 153-175, zit. 164. Z., 30. September 1999. Syndikus, Horaz, Bd. 2, 373. Auch in Carmen 4, 9 wird die Macht des Dichters thematisiert (s. bes. 4, 9, 25-28). Ranke-Graves, Mythologie, 170q. ZEIT-Philosophie, 2013, 31. Guido Westerwelle: „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein“ (Quelle: SZ 17. 05. 2010). Stellvertretend für eine Fülle von Publikationen zur römischen Geschichte im letzten vorchristlichen Jahrhundert: Ronald Syme: Die römische Revolution. Machtkämpfe im antiken Rom, Stuttgart 2003 (The Roman Revolution, Oxford 1939). ZEIT-Magazin Nr. 25, 18. 06. 2015, 30. Felix Heinimann: Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts, Basel 1945 / Darmstadt 1965, 42-58. Dazu Werner Jaeger: Paideia I, Berlin 41959, 30. Dazu Walter Marg: Der Charakter in der Sprache der frühgriechischen Dichtung (Semonides – Homer – Pindar), Würzburg 1938 / Darmstadt 1967, 54

 

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Thukydides verwendet das Begriffspaar „dem Wort nach“ und „in Wirklichkeit“ auch 3, 70, 1 im Sinne von „angeblich“ und „tatsächlich / wirklich“. Vgl. auch 8, 89, 2. Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen, 1844, Caput I. Zu Tacitus, Agricola 30-32: Albert Klinz: Attischer und römischer Imperialismus, in: AU 3 / 1960, 37-47. Wichtig: Carl Becker: Wertbegriffe im antiken Rom. Ihre Geltung und ihr Absinken zum Schlagwort, München 1967. Zur Pathologie Albert Klinz: Das Bild des Menschen bei Thukydides und Sallust, in: AU 3 / 1957, 51-64: „Eine Umwertung aller Werte führt zu einer Begriffsverwirrung, ja zu einer bewussten Begriffsverfälschung, die das Gemeinschaftsleben von Grund aus erschüttert“ (55). Wolf Schneider: Deutsch für Kenner. Die neue Stilkunde, München / Zürich 2006, 71. Dass das Genus verbi ein Anhaltspunkt nicht nur der Texterschließung, sondern auch der Interpretation ist, zeigten die Überlegungen von Magnus Frisch im AU 1 / 2009, 22-33. Dazu grundlegend Martin Seel: Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, Frankfurt 2014. Rainer Nickel: Philosophische Akzente im griechischen Grammatikunterricht, in: AU 1 / 2009, 49-53. Eric R. Dodds: Der Fortschrittsgedanke in der Antike, Zürich / München 1977, 7-35, bes. 10 f. zu Xenophanes. Paris 1942, dt. Düsseldorf 1956. Zitiert nach der rde-Ausgabe, 29 und 21). Uwe Jan Heuser in der ZEIT-Serie zur Frage „Was ist die Alternative zum Kapitalismus?“, 01. 12. 2011. Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform, Frankfurt 2012. Olof Gigon: Cicero. Vom Wesen der Götter, Zürich 1996, 571-574. Howard Gardner: Intelligenzen. Die Vielfalt des menschlichen Geistes, 2002. So besonders prägnant Lau 2000, 60. Bei Heraklit (VS 22 B 102) findet man eine entgegengesetzte Form der Theodizee: Für Gott sei alles schön, gut und gerecht. Die Menschen aber hätten das eine als ungerecht, das andere als gerecht aufgefasst.

 

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Kein antiker Philosoph habe den Begriff des rechten Gebrauchs so in den Mittelpunkt seiner Lehre gerückt wie Epiktet, meint Gnilka 1984, 37. Das dürfte zutreffen, wenn man berücksichtigt, dass nach Epiktet die Wahrnehmung der Welt das Produkt einer autonomen vernunftbestimmten chrēsis tōn phantasiōn (Dissertationes 3, 1, 25) ist. Sehr anschaulich wird dieser Gedanke von Gellius, Noctes Atticae 19, 1 dargestellt. M. Pohlenz, Stoa I, Göttingen 71992, 329. Matthäus, 5, 38 f.: „Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Auge gegen Auge, Zahn gegen Zahn (3. Buch Mose 21, 24). Ich aber sage euch, dass ihr dem Üblen keinen Widerstand leisten sollt.“ Vgl. zur Unterscheidung von Machtverzicht und Machtbeschränkung auch Welte ²1965. Hier wird eine vermittelnde Position eingenommen: „Gefordert ist,... dass inmitten des klaren Ja zum gerechten Gebrauch der Macht und damit zur Verantwortung der Macht diese Macht ausgeübt werde im Geiste und in der Bereitschaft, alles Gott anheim zu stellen, und wenn die Stunde und der Ruf es erfordern, zu leiden und sich zu opfern“ (55). Die Paulinische Regel, zu „haben als hätte man nichts“ steht nicht in einem grundlegenden Gegensatz zu der antiken Bewertung der Beziehung zwischen ktesis und chresis (vgl. den 1. Brief des Paulus an die Korinther 7, 29). Denn wenn man davon ausgeht, dass der Geist der „neuen“ Ordnung der weiterhin bestehenden „alten“ Ordnung immanent ist, dann können Besitz und Gebrauch der Macht nicht verboten sein. Gnilka 1980, 34-76.; ders. 1984; vgl. auch Gnilka 1997, 138-180. P. Hacker: „Topos“ und Chresis: Kleine Schriften, hg. von L. Schmidthausen, Wiesbaden 1978, 338-359; Ders: Theological Foundations of Evangelization, St. Augustin 1980 = Veröffentlichungen des Instituts für Missionswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, hg. von J. Dörmann. Heft 15.

 

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