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German Pages 308 Year 1993
Volkswirtschaftliche Schriften Heft 428
Die Evolution moderner ökonomischer Kategorien Entstehung und Wandel zentraler Begriffe der neoklassischen ökonomischen Theorie
Von
Hans A. Frambach
Duncker & Humblot · Berlin
HANS A. FRAMBACH Die Evolution moderner ökonomischer Kategorien
Volkswirtschaftliche Schriften Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J. Broermann t
Heft 428
Die Evolution moderner ökonomischer Kategorien Entstehung und Wandel zentraler Begriffe der neoklassischen ökonomischen Theorie
Von
Hans A. Frambach
Duncker & Humblot - Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Frambach, Hans Α.: Die Evolution moderner ökonomischer Kategorien : Entstehung und Wandel zentraler Begriffe der neoklassischen ökonomischen Theorie / von Hans A. Frambach. Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Volkswirtschaftliche Schriften ; H. 428) Zugl.: Wuppertal, Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-07594-3 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0505-9372 ISBN 3-428-07594-3
"Wirtschaftswissenschaft läßt sich nicht verstehen, wenn das Bewußtsein ihrer Geschichte fehlt J. K. Galbraith
Vorwort Die neoklassische ökonomische Theorie nimmt seit mehr als einem Jahrhundert eine internationale Schlüsselposition in der volkswirtschaftlichen Theoriebildung ein. Entsprechend vielfältig sind die Erscheinungsformen dessen, was sich hinter dem Begriff "Neoklassik" verbirgt. Die damit zwangsläufig einhergehende Unübersichtlichkeit von Begriffen, Modellen, Anwendungszusammenhängen und Aussagen der "Neoklassik" hat zu einer Vielzahl von Problemen in der Ökonomik geführt. Ziel dieser Arbeit ist es, einen Aufklärungsbeitrag zur Entstehung, Entwicklung und Struktur von neoklassischer Theoriebildung zu leisten. Dazu werden anhand von Primärtexten zentrale Begriffe der "Neoklassik" und deren Bedeutungsinhalte im Zeitablauf (Zeitraum von der Entstehung der "Neoklassik" bis hin zur Gegenwart) untersucht. Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 1992 vom Fachbeieich Wirtschaftswissenschaften der Bergischen Universität - GHS Wuppertal als Dissertation angenommenen. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Bernd Biervert für die Betreuung der Arbeit sowie für die Übernahme des Erstgutachtens. Herrn Prof. Dr. Hans-Joachim Niessen danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens und den Herren Prof. Dr. Roland Dillmann, Priv.-Doz. Dr. Johann Heil und Priv.Doz. Dr. Ingo Barens für ihre Mitarbeit in der Prüfungskommision. Für viele Diskussionen, inhaltliche und konzeptionelle Anregungen gilt mein Dank Herrn Dr. Josef Wieland und Herrn Dipl.-Oec. Thomas Lauer, letzterer übernahm auch die mühevolle Arbeit des Korrekturlesens. In ganz besonderer Weise fühle ich mich jedoch Frau Dipl.-Oec. Marianne Gabelin verpflichtet, ohne deren engagierte Übersetzungsarbeit eine Analyse der französischen Primärtexte für mich unmöglich gewesen wäre. Und schließlich darf mein Freund Klaus Brüngel nicht unerwähnt bleiben, der mir in den vielen Phasen des Dissertationsvorhabens bei der textlichen Aufbereitung und zuletzt bei der Erstellung des Typoskriptes mit Rat, Arbeitskraft und "Technik" zur Seite stand; auch ihm sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Meiner Familie, Freunden und vor allem meiner Freundin Mechthild Goeke danke ich für die mir entgegengebrachte Geduld während der letzten Jahre. Remscheid-Lennep, im Juli 1992
Hans A. Frambach
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Zur Rekonstruktion zentraler Kategorien der ökonomischen Theorie 11 Erster
Teil
Genese der neoklassischen ökonomischen Theorie 1. 2.
3.
Fragestellung und Thesen
22
Übersicht des Angebots an Erklärungsansätzen zur Entstehungsfrage der Neoklassik
24
2.1 2.2
24 26
Genese der neoklassischen Ökonomik aus der Entwicklung der Naturwissenschaften
33
3.1 3.2
34
3.3 3.4 4.
6.
Naturwissenschaft und Neoklassik Entstehung der Neoklassik als Folge der Entwicklung der Physik des neunzehnten Jahrhunderts Das kumulative Wissenschaftsprinzip Fazit
38 47 52
Genese der neoklassischen ökonomischen Tlieorie aus der Philosophie des Utilitarismus .53 4; 1 4.2
5.
Kurzer Literaturüberblick Drei beispielhafte Erklärungsansätze
Die Philosophie des Naturrechts als Vorläufer der utilitaristischen Philosophie Utilitarismus und Genese der Neoklassik
53 57
Genese der Neoklassik aus der Philosophie des Positivismus
61
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
61 64 70 75 79
Methodologische Vorbemerkung Der Comtesche Positivismus J. St. Mills empirischer Positivismus Die (Un-) Vermittelbarkeit von Positivismus und Neoklassik Fazit
Die Entstehung der frühen Neoklassik - Eine zusammenfassende Darstellung
Zweiter
81
Teil
Wissenschaftskonzept und ökonomische Kategorien der frühen Neoklassik 7.
Einige Grundprinzipien und Hauptthesen der frühen Neoklassik in der Vorschau
84
8.
Die Wissenschaftsauffassung von L. Walras
87
8
Inhaltsverzeichnis 8.1 8.2
9.
Die Kategorien der reinen ökonomischen Theorie von Walras 9.1 9.2 9.3 9.4
10.
Wissenschaftseinteilung Methodische und epistomologische Konsequenzen für die Politische Ökonomik
Das Wissenschaftskonzept von W. St. Jevons
Die Kategorien in Jevons' ökonomischer Theorie 11.1 11.2 11.3 11.4
12.
13.
14.
97
Die Konstituierung des sozialen Reichtums als Kausalprinzip - Die Kategorien sozialer Reichtum, Knappheit und Nützlichkeit 97 Tauschwert, Markt, Tausch und vollständige Konkurrenz 99 Angebot und Nachfrage als empirische Kategorien - Oder das tautologische Moment in Walras' Ökonomik 101 Nutzen und Theorie des Tausches (Allgemeines Gleichgewicht) 103
10.1 Ziele von Wissenschaft und der Politischen Ökonomik insbesondere 10.2 Logik und Methode 10.3 Das "Ethische" an der Politischen Ökonomik 11.
87 90
Wert und Arbeit: Die Abkehr von der objektivistischen Wertlehre Die Kategorien der subjektivistischen Wertlehre: Konsum und Nutzen Tausch und Maikt Modernität der Vergangenheit
107 107 109 114 115 115 118 120 124
Das Wissenschaftskonzept von C. Menger
125
12.1 Ausgangsproblem, Gegenstand und Wissenschaftseinteilung 12.2 Die theoretische Forschung der Volkswirtschaftslehre
125 128
Mengers ökonomische Kategorien
131
13.1 13.2 13.3 13.4
131 135 137 139
ökonomiebegriff und die Kategorien unter dem Kausalgesetz Wirtschaft zwischen Zwecken und Mitteln Wert Tausch
Der Kategorienapparat der frühen Neoklassik - Eine zusammenfassende Darstellung... 141
Dritter
Teil
Emergenz der neoklassischen ökonomischen Theorie in der Moderne 15.
Fragen und Thesen zur historischen Entwicklung der modernen ökonomischen Kategorien - Eine einleitende Übersicht 145
16.
Die weitere Entwicklung im Wissenschaftsbild - Ältere Wohlfahrtsökonomik und Spieltheorie 148 16.1 Erweiterung des ökonomischen Erkenntnisprogramms auf die Soziologie? 148 16.2 Die "radikale mathematische Methode" 155 16.3 Der allgemeine (mathematische) Ansatz zur Lösung von Interessenkonflikten 158
17.
Kategorien der älteren Wohlfahrtsökonomik und die spätere "Vollendung" von Tausch und Gleichgewicht 166 17.1 17.2 17.3 17.4 17.5
Nutzen Wohlfahrt Tausch und Gleichgewicht in der älteren Wohlfahrtsökonomik Weitere Entwicklung des neoklassischen Tausch- und Gleichgewichtskonzeptes. Die Kategorien Tausch und Gleichgewicht in der Allgemeinen Gleichgewicntstheorie 17.6 Einschränkungen der neoklassischen Kategorien im Gleichgewichtsparadigma....
166 172 179 182 187 190
Inhaltsverzeichnis 18.
19.
"Werturteilsfreiheit" oder die veränderte Perspektive der neueren Wohlfahrtsökonomik und ihrer Kategorien 195 18.1 Das "Neue" an der neueren Wohlfahrtsökonomik 18.2 Die neuere Wohlfahrtsökonomik im engeren Sinne: Die Kompensationsprinzipien 18.3 Die "soziale Wohlfahrtsfunktion" 18.4 Kritik an der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" 18.5 Kategorien in der neueren Wohlfahrtsökonomik 18.6 Kritik an der neueren Wohlfahrtsökonomik oder die Erweiterung des Ansatzes durch Little
195
223
Moderne MikroÖkonomik oder ökonomische Theorie als Theorie von Property Rights und allgemeiner Nutzenmaximierung
229
199 204 207 212
19.1 Begriffsbestimmungen 229 19.2 Entstehung des Property Rights Ansatzes 232 19.3 Die "erweiterte Situationswahmehmung" der neuen MikroÖkonomik: Der Property Rights Ansatz, seine verhaltenstheoretischen Annahmen und seine Stellung in der ökonomischen Theorie 238 20.
Entstehung und Wandel der modernen Kategorien der Neoklassik - Eine zusammenfassende Darstellung 244
Vierter
Teil
Entstehung und Wandel ökonomischer Kategorien der Neoklassik im Gesamtüberblick 21.
Geistige Grundlagen und Hintergründe der Evolution der neoklassischen ökonomischen Theorie 254 21.1 Neoklassik und Naturwissenschaften 21.2 Neoklassik und Philosophie
22.
255 263
Die Entwicklung der ökonomischen Kategorien
270
22.1 Das neoklassische Ziel 22.2 Entwicklung der Kategorien
270 272
Literaturverzeichnis
289
Einleitung Zur Rekonstruktion zentraler Kategorien der ökonomischen Theorie 1) Die Frage. Angesichts der ständig zunehmenden Dimension der großen ökonomischen Probleme und eines gleichzeitig wachsenden ökonomischen Theorieapparates ist der Schluß einer tendenziell zunehmenden Ineffizienz des faktischen Problemlösungspotentials der ökonomischen Theorie logisch zwingend. Dieser Effekt ist von den Wissenschaftlern gewiß nicht intendiert, doch zweifellos auch eine zwangsläufige Folge wachsender "Arbeitsteilungsprozesse" innerhalb der Wirtschaftswissenschaften: Spezialisierung auf relativ kleine Ausschnitte des Betätigungsfeldes; Konkurrenz und der Zwang des Wissenschaftlers, "seinen Platz" in der Ökonomik zu finden und zu behaupten, seinen "Claim abzustecken"; aus der Fülle der {eingliedrigen und ζ. T. high sophisticated zur Verfügung stehenden Analyseinstrumente, das adäquate auszuwählen und vor allem zu beherrschen. All das sind Beispiele, die begründen helfen, warum die ökonomische Theorie sich mehr und mehr in der Diskussion von Detailproblemen verliert. Nun geht es in dieser Arbeit nicht darum, die Tragweite aller ökonomischen Problemlösungsansätze zu überprüfen; dies wäre ein unmöglich durchzuführendes Vorhaben. Mich interessiert, inwieweit das wohl mächtigste und größte aller je dagewesenen ökonomischen Paradigmata, die sog. neoklassische ökonomische Theorie, in ihrem Kern entstanden ist, und wie sie sich entwickelt hat. Ich beschränke mich bei dieser Analyse auf die Entstehung und Entwicklung einiger ausgewählter zentraler ökonomischer Kategorien der Neoklassik, wie bspw. Bedürfnis, Nutzen, Wohlfahrt, Tausch und Gleichgewicht Es geht nicht darum, neoklassische Positionen anhand der Empirie zu falsifizieren oder zu verifizieren, sondern mithilfe der innertheoretischen Entwicklung der Kategorien aufzuzeigen, von welchen Problemstellungen die Neoklassik ausgegangen ist, wie diese - aufgrund "theorietechnischer Schwierigkeiten" - eingeschränkt und angesichts bestimmter empirischer Veränderungen wieder erweitert wurden.
(2) Die Methode. In diesem Abschnitt wird die in dieser Arbeit verwendete Methode, die "Methode der historischen Rekonstruktion zentraler ökonomisc Kategorien" (kurz: die "kategoriale Methode"), vorgestellt. Sie kann als geisteswissenschaftliche (hermeneutische) Methode mit konstruktivistischen Elementen, vor allem aber als sozialwissenschaftliche Methode charakterisiert werden. Hermeneutisch ist die kategoriale Methode deshalb, weil versucht wird, gege-
12
Einleitung
bene historische Zeugnisse, anhand der Originalschriften neoklassischer Ökonomen zu interpretieren: Das Besondere an der Interpretation wird sein, daß zum einen die Erfassung der jeweiligen begrifflich-gesetzlichen Eigenarten der betrachteten Erscheinungen im Vordergrund steht und zum anderen versucht wird, alle Erscheinungen so zu verstehen, wie sie sich in ihrem ursprünglich historischen Kontext zugetragen haben bzw. die Autoren "sich selbst verstanden wissen wollten" ("Wertung ist in sich vollkommen").1 Insbes. im zweiten und dritten Teil dieser Arbeit werde ich weitestgehend streng hermeneutisch verfahren. Darüber hinaus werden Wertungen und Einschätzungen der Erkenntnisse über die Entwicklung der neoklassischen Kategorien vorgenommen, die sich gerade wegen der hermeneutischen Verfahrensweise ergeben haben. Somit läßt sich die kategoriale Methode als vorwiegend hermeneutische Methode mit konstruktivistischem Einschlag - und im Hinblick auf die Zusammenführung der Ergebnisse - mit teilweise analytischen Elementen ausgestattet, zusammenfassend beschreiben.
Die historische Rekonstruktion zentraler ökonomischer Kategorien b sich als Methode gerade deshalb an, weil eine Vielzahl von Mißverständnissen in Ökonomie und Ökonomik unzweideutig auf unterschiedlichen Auffassungen und ζ. T. unzureichenden Kenntnissen über die Grundbegriffe unserer Wissenschaft gründet. Besonders in den modernen Wirtschaftswissenschaften ist es im Rahmen der Bewältigung schwieriger Problemkomplexe eine durchaus gängige Praxis, bestimmte Begriffsinhalte stillschweigend vorauszusetzen. Das Problem besteht darin, daß weite Kreise der Profession sich bewußt oder unbewußt der Mühe entziehen, ihre Begriffe sprachlich einzugrenzen und somit die Voraussetzungen ihres Denkens implizit verschweigen. Dies kann mithilfe zweier Argumente veranschaulicht werden: Den Ökonomen fehlt ein - im Vergleich zu den Naturwissenschaften - exaktes allgemeines sprachliches Werkzeug. Weiterhin ist der Naturwissenschaftler in der Lage, auf historisch akkumuliertem Wissen aufzubauen. Der Ökonom kann dies nicht, da die Untersuchungsobjekte oftmals ihre Erscheinungsform verändern.2 Selbst die Verwendung einer exakten Hilfssprache, wie die der Mathematik, vermag nicht den gewünschten Erfolg zu zeitigen. Zwar können konkrete - und unter Akzeptanz bestimmter mathematischer Axiome -, logische Ergebnisse deduktiv abgeleitet werden, doch weisen diese, aufgrund der abstrakten und idealisierten Annahmenstruktur und Axiomatik, in aller Regel eine mangelhafte Empirieadäquanz auf. Das Problem verstärkt sich umso mehr, je stärker Annahmenstruktur und Axiomatik selbst in Zweifel gezogen sind. Ein anderer Aspekt, der die Bedeutung der historischen Rekonstruktion ökonomischer Kategorien im Hinblick auf eine erweiterte Einsicht in die "Krisenhaftigkeit" von ökonomischer Theorie herausstellt, bezieht sich auf die Anpassungsflexibilität des forschenden Subjekts an das sich verändernde Objekt. Einer 1
Seifert (1971): S. 15.
2
Rothschild (1991): S. 91.
Zur Rekonstruktion zentraler Kategorien der ökonomischen Theorie
13
der wichtigsten Objektbereiche der Wirtschaftswissenschaften ist die Untersuchung des Verhaltens der Individuen in marktlichen und m. E. auch in außermarktlichen Sphären. Geschichte, Erfahrungen, Verhaltensäußerungen usw. dienen hierbei als Analyseinstrumente und der Erfolg der wissenschaftlichen Forschung hängt letztlich davon ab, inwieweit es der Wissenschaft gelingt, ökonomische Phänomene (im weitesten Sinne) zu deuten.3 Dazu muß sich der Forscher notwendigerweise auf die sich ständig bewegende empirische Realität einstellen. Verändern sich nun die ökonomischen Tatbestände, so ändern sich auch die Bedeutungen der sie beschreibenden Begriffe; auch dies muß der Forscher notwendigerweise in sein Kalkül integrieren.4 Voraussetzung ist also, daß der sprachliche Begriffswandel die tatsächlichen Änderungen widerspiegelt (aber auch umgekehrt konstituieren Begriffe die Wirklichkeit).5 Dieser Kategorienwandel muß von allen Wissenschaftlern wahrgenommen werden, um der Gefahr, sich auf das "geistige Abstellgleis" zu begeben, prophylaktisch entgegenzusteuem. D. h., wer den Bedeutungswandel der Kategorien, der sich in den Sozialwissenschaften besonders schnell vollzieht, nicht wahrnimmt, wird innerhalb seines Wissenschaftskonzeptes Schwierigkeiten haben, den laufend variierenden ökonomischen Tatbeständen in angemessener Weise gerecht zu werden. Eine statische Terminologie ist zur Bewältigung dynamischer Phänomene, und um solche handelt es sich in der Ökonomie, ungeeignet;6 aus diesem Grund ist eine dynamische, d. h. historisch-zeitliche Entwicklung ökonomischer Begriffe notwendig. Die Relevanz der hier geschilderten Probleme ist augenscheinlich, sieht man sich die große Zahl der Gruppen und Bereiche an, in die die Wirtschaftswissenschaften gespalten sind. Nur innerhalb dieser Gruppen wird erfolgreich miteinander kommuniziert. Kennzeichnend für diese Spaltung ist ein mit der speziellen Aufgabenstellung spezifisch sich gestaltender Begriffsapparat. Hierdurch wird der Informationsaustausch zwischen den Gruppen erschwert. Nun kann dies nicht die Aufhebung der sich in den Wissenschaften vollziehenden Spezialisierungsprozesse bedeuten, damit etwa alle die "gleiche Sprache sprechen". Es geht vielmehr darum, im Rahmen der wissenschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesse, die grundlegenden Annahmen, Axiome, Begriffsdeutungen usw. explizit zu nennen und nicht zu verschweigen, somit könnten Mißverständnisse, Fehlinterpretationen und die damit verbundenen Konsequenzen weitestgehend vermieden werden. Ganz in diesem Sinne ist es mir ein Anliegen, mit der vorliegenden Arbeit einen Aufklärungsbeitrag zu leisten. 3 Die kritische Prüfung von Theorien kann sich, lt. Popper, beziehen auf: (a) die innere Widerspruchslosigkeit der Theorie, (b) die Untersuchung der logischen Form der Theorie mit dem Ziel festzustellen, ob die Theorie einen empirisch-wissenschaftlichen Charakter aufweist, also z. B. tautologisch ist, (c) die Haltbarkeit der Theorie bezüglich der Tatsachen (Prüfung durch empirische Anwendung der abgeleiteten Folgerungen), (d) andere Theorien, die mit der betrachteten Theorie in Zusammenhang gebracht werden können (Bewertung im Hinblick auf "wissenschaftlichen Fortschritt"); Popper (1966): Vgl. S. 7 f.; siehe u. a. auch: Albert (1964): S. 53 ff. 4
Biervert
5
Dies. (1986): S. 7.
6
Frazer (1947): Vgl. S. viii.
/ Wieland (1987): S. 26 ff.
14
Einleitung
Konkret geht es um die Entstehung und Entwicklung der konstituierenden ökonomischen Kategorien 7 Bedürfnis, Wert, Nutzen, Reichtum, Wohlfahrt und Tausch seit Beginn der frühen neoklassischen ökonomischen Theorie.8 Ich beginne demnach mit der Neoklassik und versuche, den Kategorienwandel bis zur Gegenwart zu rekonstruieren. Dazu wird es teilweise notwendig sein, auch auf andere als die genannten Kategorien einzugehen. Ein Charakteristikum der hier behandelten Kategorien ist ihre formale Homomorphie: sie thematisieren Zustände und deren Veränderungen. Damit zielen die Kategorien auf das, was im Gegenstandsbereich der Wirtschaftsgeschichte mit Strukturen und deren Wandel bezeichnet wird. Es wäre nun verfehlt, würde man den Strukturwandel ausschließlich aus strukturendogenen Argumenten begründen wollen und umgekehrt. Die Kategoriengeschichte weist aber den grossen Vorteil auf, die Interdependenzen zwischen den Kategorien und der Wirklichkeit zu reflektieren. Dabei ist es nicht notwendig, daß Dauer und Wandel von Kategorien der Dauer und dem Wandel der damit bezeichneten Strukturen entsprechen, denn gleichbleibende Begriffe sind kein Beweis für konstante Sachverhalte. Aber genau diese Verschiebung zwischen den Kategorien und ihrer Inhalte gilt es, für den Zeitabschnitt der Entstehung der neoklassischen Ökonomik bis zur modernen Wirtschaftstheorie zu analysieren. Es geht um das Aufzeigen des Wandels von Kategorieninhalten unter gleichbleibenden Begriffen und umgekehrt: um die Thematisierung neu entstandener Begriffe bei unveränderten Sachverhalten. Der letzte Zusammenhang kann auch bescheidener umschrieben werden als Ausdifferenzierung des theoretischen Analyseinstrumentariums bzw. die Herausbildung neuer Begrifflichkeiten ("Unteibegriffe"). Mit einer Kategoriengeschichte ist es demnach generell möglich, die Dauer vergangener Erfahrungen und die Tragfähigkeit vergangener Theorien neu zu interpretieren: Durch den Perspektivenwandel können Verwerfungen sichtbar werden, die zwischen alten Begriffsbedeutungen, welche auf einen entschwindenden Sachverhalt zielen, und neuen Gehalten desselben Begriffs auftauchen.9 Ferner können Bedeutungsübergänge beachtet werden, denen keine Wirklichkeit mehr entspricht, oder Wirklichkeiten scheinen durch Begriffe hindurch, deren Bedeutung unbewußt bleibt. Die Kategoriengeschichte klärt auch die Mehrschichtigkeit von chronologisch aus verschiedenen Zeiten herrührenden Bedeutungen eines Begriffs, verweist somit auf die Gleichzeitigkeit im Ungleichzeitigen, die in einem Begriff enthalten sein kann. Die geschichtliche Tiefenlage eines Begriffs, die nicht identisch ist mit der chronologischen Abfolge seiner Bedeutungen, gewinnt somit einen strukturalen Anspruch, dem jede Form historischer Forschung Rechnung tragen muß.10 Die Begriffsgeschichte geht also von der theo-
1
Wieland (\9Uy.
S.213.
8
Die Umschreibungen "frühe neoklassische (ökonomische) Theorie" oder "frühe Neoklas sik" stehen hier in aller Regel für die Arbeiten von Jevons, Menger und Walras. 9
Koselleck (1989): Vgl. S. 125.
10
Vgl. ebda. S. 125 f.
Zur Rekonstruktion zentraler Kategorien der ökonomischen Theorie
15
retischen Prämisse aus, Dauer und Wandel miteinander vergleichen und gegenseitig abwägen zu können. In diesen abstrakten Ausführungen sind (implizit) zwei Argumente enthalten, dießr eine Kategoriengeschichte sprechen: Einmal sind Kategorien verallgemeinerungsfähig; denn über die Eindimensionalität hinaus, mit der eine Kategorie für ein bestimmtes real- oder theoriegeschichtliches Ereignis steht, beschreiben Kategorien auch den fortschreitenden Wandel dieses Ereignisses. D. h., die historische Rekonstruktion von Kategorien erlaubt glaubwürdige Aussagen über real- oder theoriegeschichtliche Ereignisabläufe. Zum zweiten gewinnen Kategorien, die sich im fortschreitenden Erkenntnisgang als "empirisch erfolgreich" herausgestellt haben, einen strukturellen Anspruch. Dies liefert die Gewähr überhaupt erst dafür, daß eine ehemals "wirkliche Geschichte" als möglich erscheint und dargestellt werden kann.11 Noch ein weiterer Aspekt ist für die historische Rekonstruktion von Kategorien bedeutsam: Jeder Forscher, dem es um die Erkenntnis aus historischen Quellen (den je zeitlich aktuellen Kategorien) geht, bewegt sich auf zwei Ebenen:12 (a) Er untersucht Sachverhalte, die bereits früher sprachlich artikuliert worden sind oder (b) er rekonstruiert Sachverhalte, die früher noch nicht sprachlich artikuliert wurden, die er aber mithilfe von Hypothesen und Methoden aus den Relikten herausschält. Im Fall (a) dienen dem Historiker überkommene Begriffe der Quellensprache als heuristischer Einstieg, die vergangene Wirklichkeit zu erfassen. Im Fall (b) bedient sich der Historiker ex post gebildeter und definierter Begriffe, wissenschaftlicher Kategorien also, die angewendet weiden, ohne im Quellenbefund nachweisbar zu sein. Im Rahmen quellengebundener Begriffe haben wir es demnach mit wissenschaftlichen Erkenntniskategorien zu tun, die zusammenhängen können, aber nicht zusammenhängen müssen.
Bei der Geschichte der ökonomischen Kategorien handelt es sich um d (a) der beiden aufgezeigten Ebenen. Es werden Sachverhalte rekonstrui bereits früher sprachlich artikuliert worden sind. Und gerade darum geht es zuzeigen, wie in der jeweils betrachteten Zeitperiode die jeweiligen Begriffe entstanden sind bzw. wie sie sich entwickelt haben. Dieses bietet die folgenden Vorteile: 1. Die Begiffe werden aus ihrem jeweiligen Zeitverständnis, also aus dem Zweck heraus interpretiert, für den sie ursprünglich konstruiert wurden. Mithin handelt es sich um eine Rekonstruktion des "Ursprungs" der jeweiligen Begriffe innerhalb ihrer Zeitperiode. 2. In dieser Arbeit wird "nur" der Zeitraum der Genese der neoklassischen Theorie bis zur Gegenwart für bestimmte Kategorien betrachtet Der resultierende Vorteil entsteht aus der Sprache. Viele ökonomische Kategorien, die ihren spezifischen Bedeutungsinhalt im Zeitraum der Genese der Neoklassik erlangt 11
Vgl. ebda. S. 126.
12
Vgl. ebda. S. 127.
16
Einleitung
haben, sind in ihrer Begriffsstruktur (Syntax) bis heute nahezu unverändert geblieben. D. h., die Aufgabe besteht "lediglich" darin, die Kategoriengeschichte anhand der Veränderung der begrifflichen Inhalte (Semantik) zu verfolgen und bestimmte sprachliche Ausdifferenzierungen und Verzweigungen herauszupräparieren. 3. Ein weiterer Rechtfertigungsaspekt für den Beginn der Analyse in der Neoklassik bezieht sich auf das Argument, daß die Grundgedanken verschiedener Entwicklungsstadien einer "Gründergeschichte" nachgedacht/rekonstruiert werden können. Hierin wird zugleich das jeweilige System der Theorie in seiner Zeit und als Ausdruck dieser offenbar. Und aus der Veränderung dieser Systematik in der Zeit, in der Geschichte, gibt sich die Entwicklungssystematik zu erkennen.13
Es entsteht allerdings auch ein Nachteil: Dadurch, daß die Bedeutungsinhalte der neoklassischen Kategorien - gemessen an der Veränderung der Bedeutungsinhalte ökonomischer Kategorien in den Zeiträumen "Antike bis klassische Nationalökonomie", "Antike bis Neoklassik" oder "klassische Nationalökonomie bis Neoklassik" - einer nur relativ schwachen Veränderung unterlagen, ist die Darstellung der Variationen nicht offensichtlich. M. a. W.: Um Verschiebungen der Kategorieninhalte in ihrer Breite festzustellen, muß die Untersuchung des Gegenstandes, d. h. die ökonomische Theorie selbst, ζ. T. verhältnismäßig tiefgehend analysiert werden. Mit diesem Sachverhalt ist auf eine Differenz zwischen Rekonstruktion ökonomischer Kategorien im betrachteten Zeitraum und einer allgemeinen Theorie der Begriffsgeschichte verwiesen; die Rekonstruktion ökonomischer Kategorien unterscheidet sich von einer allgemeinen Theorie der Begriffsgeschichte in einem Punkt: Der Begriff ökonomische Kategorie bezieht sich hier auf Kategorien der ökonomischen Theorie und nicht etwa auf ein konkretes historisches Ereignis.
Die Rekonstruktion ökonomischer Theorien bzw. ihre Theorie ist somit eine Metatheorie. Die erkenntnistheoretische Frage zielt immer auf die "Entstehung" und den Wandel von Kategorien innerhalb einer Theorie; der Untersuchungsgegenstand ist die Theorie selbst. Damit reduziert sich die Frage zum Verhältnis von Theorie und Realität auf die Dualität von Metatheorie und (in diesem neoklassischer) Theorie. Dieser Zusammenhang beeinflußt das Erkenntnisziel der vorliegenden Arbeit nicht unwesentlich: Nicht die Realitätsadäquanz ökonomischer Theorie steht unmittelbar im Vordergrund, sondern die theoretische Entwicklung von Kategorien innerhalb der ökonomischen Theorie. Erst in einem zweiten Schritt, nachdem die kategoriale Entwicklung der Begriffe rekonstruiert bzw. aufgezeigt wurde, ist (indirekt) ein Regredieren von der jeweiligen Theorie auf die Realität möglich. Die kategoriale Rekonstruktion zentraler Bereiche der neoklassischen Ökonomik ist eine Fortschreibung einer Geschichte der evolutionären Entwicklung 13
Zu diesem dritten Punkt siehe Rock /Rosenthal (1986): S. 14.
Zur Rekonstruktion zentraler Kategorien der ökonomischen Theorie
17
ökonomischer Kategorien, deren Ausgangspunkt mit der Frage nach dem "ökonomischen" beginnt; dies führt bis in die griechische Antike zurück.14 Den Gegenstand der Theorie ökonomischer Kategorien und Denkformen, seit ihrer Entstehung bis zum System der klassischen Nationalökonomie, bilden die Kategorien als Spiegel des jeweils epochalen realgeschichtlichen Zustands. D. h., das Verhältnis von Begriff und der durch den Begriff beschriebenen Realität ist permanent gegeben. Erst mit der Entstehung der klassischen Nationalökonomie, also der ersten Formulierung eines allgemeinen "ökonomischen Gesamtsystems" bzw. einer allgemeinen "ökonomischen Theorie", sind ökonomische Kategorien konstituierender Bestandteil von Theorie 15 und nicht länger direkt konstituierendes Element von Realität. 16 Eine Rekonstruktion ökonomischer Theorien als Metatheorie enthebt die Analyse demnach vom direkten Realitätsbezug (indirekt bleibt er natürlich gewahrt). Wenn aber eine Begriffsgeschichte im allgemeinen bzw. eine Geschichte ökonomischer Begriffe von der Antike bis zur "Klassik" das Verhältnis zwischen Theorie und Faktizität beschreibt, wie kann eine Geschichte der Begriffe der neoklassischen Ökonomik daran sinnvoll angefügt werden und wie kann die logische Kontinuität gewahrt bleiben? - Eine "traditionelle" Geschichte ökonomischer Kategorien ist gleichzeitig eine Geschichte der Veränderung ökonomischer Denkformen. Das ist die Art und Weise wie in bestimmten Epochen über die Akte und Probleme des Wirtschaftens nachgedacht wird. Ferner umfaßt der Begriff der ökonomischen Denkfonn alle Meinungen und Ideen über die Ökonomie und nicht nur deren Analyse.17
Das Problem, das es zu lösen gilt, stellt sich folgendermaßen: Wie kann aus dem "traditionellen Verhältnis" von Begriff und Realität eine Theorie (die neoklassische Theorie) entstehen oder anders ausgedrückt: Wie kann ich letztlich theoretische Begriffe der neoklassischen Modellsprache überhaupt noch an irgendeinen Ausgangspunkt binden? Diese Überlegungen münden in einer Frage: Wie kann die Emergenz der neoklassischen ökonomischen Kategorien b werden! (3) Erkenntnisse. Neben der Entstehung zentraler Begriffe des neoklassischen Paradigmas wird die Entwicklung der Begriffe als zwangsläufige Antwort auf innertheoretische Problemkonstellationen aufgezeigt. Außerdem wird demonstriert, wie sich die "Geschichte der Begriffe" 1® vor dem Hintergrund der Annahmen, Axiome und Ziele der Theorien abspielt. Des weiteren wird deutlich, inwieweit die neoklassische Theorie, im Rahmen der hier untersuchten Katego14
Wieland (1989): Vgl. S. 3 f. sowie auch Biervert / Wieland (1986): S. 16 ff.
15
Wieland (19*9): S. 23.
1 6
Über den Einfluß einer Theorie auf die Gestaltung von Welt, behalten die ökonomischen Kategorien natürlich einen (indirekten) Einfluß auf die empirische Realität. 11
Wieland (1989): Vgl. S. 21.
1 8
Geschichte bezeichnet Koselleck als transzendentale Kategorie, die die Bedingungen möglicher Geschichte mit den Bedingungen ihrer Erkenntnis zusammenführt [Koselleck (1975): S. 715]. 2 Frambach
18
Einleitung
rien, tatsächlich auf empirische Probleme reagiert hat. Schließlich wird der Nachweis erbracht, daß die Evolution der neoklassischen ökonomischen Kategorien weitgehend darin bestand, "neuen Wein in alte Schläuche zu füllen". Um dem Anspruch einer kategorialen Analyse gerecht zu werden, muß die Entstehung der ökonomischen Kategorien der Neoklassik dargestellt werden dies konstituiert im wesentlichen den Gegenstand der ersten beiden Teile dieser Arbeit Der erste Teil behandelt die Frage nach der Emergenz der frühen neoklassischen Theorie. Insbes. wird der bislang eher unbefriedigend beantwortete Komplex thematisiert, warum die Neoklassik gerade zu Beginn der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts von mehreren, je unabhängig voneinander operierenden Wissenschaftlern generiert wurde. Neben einer Fülle von Erklärungsansätzen, die im Kapitel 2 in einer Übersicht vorgestellt sind,19 wird der gegenwärtige Forschungsstand des Begründungszusammenhangs der "zeitgleichen Entstehung" der Neoklassik um drei Argumente erweitert:
Vor dem Hintergrund der kausal-mechanistischen Sichtweise des Newtonsehen Weltbildes und dem Versuch, die "zeitgleiche Entstehung" über das Aufkommen der energetischen Physik (bzw. Physik als "einheitliches Prinzip") zu begründen, wurde der Weg für eine von mir neu interpretierte Form kumulativen Wissenschaftsverständnisses geebnet Dieses Wissenschaftsverständnis, das sich nicht durch die Aufsummierung konkreter Details auszeichnet, sondern vielmehr als Akkumulation neuer Erkenntnisse über die Struktur und d bau von Theorien charakterisiert werden kann, erlaubt einen möglichen Erklä rungsansatz für die "zeitgleiche Entstehung" der Neoklassik. Die beiden anderen Argumente weiden aus philosophischen Tatbeständen des letzten Jahrhunderts gewonnen. Neben den unbestreitbaren Einflüssen der Philosophie des Naturrechts und Utilitarismus, erweist sich der positivistisch instituierte "Zeitgeist" des neunzehnten Jahrhunderts, der maßgeblich durch die Philosophie Comtes geprägt war, als konstitutives Element für die Herausbildung der frühen neoklassischen Denkform und somit für die "zeitgleiche Entstehung" der Neoklassik. Eine weitere Voraussetzung dafür (das dritte Argument) bildet der empirische Positivismus 7. St. Mills. Mill propagierte die deduktivistische Methode - in völliger Übereinstimmung zum "positivistischen Zeitgeist" - als die sozialwissenschaftliche Methode und die frühen Neoklassiker entwickelten ihre reine ökonomische Theorie, indem sie diesen "Sonderfall" des Positivismus für den ökonomischen Bereich generalisierten und zum "Normalfall" ausweiteten. Mit der Entstehungsbegründung der frühen Neoklassik ist das zentrale Erfordernis für eine Analyse neoklassischer ökonomischer Kategorien erfüllt das geistige, wissenschaftliche und gesellschaftliche Umfeld - der denknotwendige Hintergrund - vor dem sich Kategorien gestalten, ist aufgezeigt.
1 9 Genese der Neoklassik als Wechsel wissenschaftlicher Paradigmata, als "katallaktische Revolution" i. S. Hicks und als Antwort des Bürgertums auf den Marxismus.
Zur Rekonstruktion zentraler Kategorien der ökonomischen Theorie
19
Der zweite Teil der Arbeit setzt sich konkret mit der Entstehung, der Beschreibung und den ersten Ausdifferenzierungstendenzen der ökonomischen Kategorien der frühen Neoklassik auseinander. Die in dieser Untersuchung relevanten Kategorien der Theorien von Jevons, Menger und Walras werden jeweils in eigenen Abschnitten untersucht, denen wiederum Analysen der jeweiligen Wissenschaftskonzepte vorausgehen. Zentrales Merkmal aller drei Wissenschaftskonzepte ist die Wissenschaftseinteilung in - vereinfacht wiedergegeben - reine und angewandte Theorien. Weitere Gemeinsamkeiten sind: (a) Die reine Theorie steht im Mittelpunkt des Forschungsinteresses; (b) die reine Theorie liefert grundlegende Einsichten für die anderen Theoriebereiche; (c) die "reinen Modelle" der Naturwissenschaften üben eine Vorbildfunktion bei der Generierung der reinen Ökonomik aus; (d) die positivistische Abkehr vom Spekulativen und die utilitaristische Stellung des Subjekts spiegeln sich in der gesetzeshaften, mathematischen und mechanistischen Sicht der reinen Theorien. Auf der Basis einer über "subjektive Empfindungszustände" definierten Wertkategorie und der Idee des Prinzips vom abnehmenden Grenznutzen gelingt der neoklassischen reinen Ökonomik die Darstellung eines ersten geschlossenen und in sich widerspruchsfreien Tauschsystems. Kategorien, wie Angebot und Nachfrage, Wert, Tausch, Preis, Bedürfnis, Nutzen und Gleichgewicht, werden neu interpretiert; menschliches Verhalten auf rein zweckrationales reduziert und auf Nutzen- und Profitmaximierung ausgerichtet. Gemäß des Ideals mechanischer Gleichgewichte wird der optimale (End-) Zustand des ökonomischen Systems im (ökonomischen) Gleichgewicht erreicht. Die Annahmen, die dieser Sicht zugrunde liegen, wurden später im Begriff des "vollkommenen Marktes" oder "vollkommener Bedingungen" zusammengefaßt.
An den grundlegenden Problemen, die mit dem "idealisierten Konzept" der Neoklassik einhergehen - Vergleichbarkeits-, Meßbarkeits- und Aggregations Problematik subjektiver Größen -, entfachte sich eine, in unverminderter Intensität bis heute anhaltende, vielschichtige Diskussion. Die gesamte Entwicklung der neoklassischen ökonomischen Kategorien, die sich an die frühe Neoklassik anschloß, kann tendenziell als der anhaltende Versuch interpretiert werden, die "alten Probleme" der frühen Neoklassik in den Griff zu bekommen. Den Nachweis zu dieser These liefert der dritte Teil dieser Arbeit. Es stellt sich heraus, daß der Bedeutungswandel der neoklassischen Theorien sich nicht in Entsprechung zur Emergenz der zentralen Probleme des zwanzigsten Jahrhunderts vollzog, sondern vielmehr einer sich stetig verändernden theoretischen Realität anpaßte.20 Insofern ist es notwendig, den kategorialen Wandel vor dem Hintergrund der Theorieentwicklung zu denken. Von der theoretischen Bewegung, die direkt aus der frühen Neoklassik heraus entstand (die ältere Wohlfahrtsökonomik), werden die beiden polaren RichtunAusnahmen bilden die Beiträge der Neoklassik zur Umweltökonomik. Hansmeyer ζ. B., glaubt an die "Rückkehr der Natur in die ökonomische Theorie" als Folge der Theorie der externen Effekte [Hansmeyer (1990): S. 23]. 2*
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Einleitung
gen untersucht: Auf der einen Seite steht die Erweiterung des ökonomischen Erkenntnisprogramms um eine gesellschaftstheoretische Dimension; auf der anderen Seite steht die strenge Formulierung ökonomischen und gesellschaftlichen Handelns qua der "radikalen mathematischen Methode". Für die Kategoriendiskussion der älteren Wohlfahrtsökonomik ist nicht nur der Übergang vom kardinalen zum ordinalen Nutzenkonzept und die systematische Einführung sozialer Kosten und Nutzen entscheidend, sondern vor allem die Ausrichtung ökonomischer Kategorien am monetär Meßbaren relevant. Durch einen via monetärer Einheiten definierten Wohlfahrtsbegriff schien endlich das neoklassische Konzept hinsichtlich empirisch-realer Probleme einsatzfähig. Neben der älteren Wohlfahrtsökonomik entstanden in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts erste Ansätze eines neuen Zweiges der Mathematik. Die sog. Spieltheorie erweiterte das Erkenntnisprogramm der neoklassischen Theorie (Aufhebung des einseitig individualistischen Standpunktes im Maximierungmodell, Aufhebung der Annahme rein egoistisch motivierter Individuen, allgemeine Betrachtung einer "großen Zahl" konkurrierender Wirtschaftssubjekte) und erhielt auch umgekehrt, vom neoklassischen Tauschmodell, essentielle Anreize zum Ausbau der eigenen Theorie (dies findet seinen besonderen Ausdruck in v. Neumann und Morgensterns "Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten"). Nachdem durch L Robbins' These von der interpersonellen Unvergleichbarkeit der Nutzengrößen die Fundamente der frühen Neoklassik und älteren Wohlfahrtsökonomik angeschlagen waren, versuchte die neuere Wohlfahrtsökonomik, mithilfe ihrer Leitprinzipien, insbes. der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" und den "Kompensationskriterien", die ökonomischen Kategorien (Nutzen, Gleichgewicht, Nachfrage usw.) erneut zu reformulieren. Anlaß dazu gab die Frage, ob Ökonomen überhaupt normative Aussagen über solche Entscheidungen treffen dürfen, die gesellschaftsrelevante Aspekte, d. h. Gerechtigkeits- bzw. Verteilungsfragen tangieren. Das Konzept der neueren Wohlfahrtsökonomik wurde schließlich, aufgrund mangelnder logischer Geschlossenheit und der "Realitätsferne" seiner Annahmen und Aussagen, kritisiert.
Beide Kritikpunkte schienen mit der Herausbildung der modernen MikroÖkonomik überwunden: Logische Konsistenz schien dadurch erreicht, daß man explizit und hauptsächlich nicht mehr auf Kompensationskriterien oder Wohlfahrtsfunktionen zurückgriff und Realitätsnähe war scheinbar dadurch gegeben, daß der ökonomische Gegenstandsbereich nunmehr um die Umweltproblematik und die Behandlung von Institutionen erweitert wurde. Tatsächlich aber handelt es sich bei dieser "Erweiterung" um eine Ausdifferenzierung und Verallgemeinerung des "alten" neoklassischen Nutzenmaximierungsansatzes bzw. seiner K gorien. Die Fiktion des homo oeconomicus wurde durch das "listig opportunistische" und mit unvollständiger Information "genügsamere neue Wirtschaftssubjekt" zwar realistischer, aber gleichzeitig auch in seiner Aussagekraft spezifischer; außerdem wurde jegliche Form menschlichen Handelns dem Nutzenmaximierungsstreben untergeordnet. G. 5. Becker sah hierin die Methode der Ökono-
Zur Rekonstruktion zentraler Kategorien der ökonomischen Theorie
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mik (den ökonomischen approach ), die gleichsam für die Sozialwissenschaften insgesamt charakteristisch ist Zweifellos stellt der, in Betrachtung der hier untersuchten Kategorien, relevante Zweig der modernen MikroÖkonomik die wohl fortgeschrittenste Allgemeinheitsstufe des neoklassischen Paradigmas dar. D. h., einerseits ist ein hohes Niveau an logischer und formaler Geschlossenheit erreicht, andererseits ist das faktische Problemlösungspotential minimiert. Dieser Umstand gewinnt seine Gestalt im Bedeutungswandel der "alten" neoklassischen Kategorien, ausgelöst durch innertheoretische Problemkonstellationen denn durch realgeschichtlichen Handlungsbedarf. Das gleiche Ergebnis trifft für die moderne Tausch- und Gleichgewichtstheorie zu: Die Kategorien Tausch und Gleichgewicht wurden logisch-formal perfektioniert, aber gleichzeitig dem real-ökonomischen Gegenstand entfremdet. Ihre Besonderheit erhält die moderne Tausch- und Gleichgewichtstheorie durch die Reduktion ihrer Kategorien auf reine mathematische Begrifflichkeiten; gesellschaftliche, sozioökonomische und soziokulturelle Faktoren bleiben außen vor. 21 Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt auch H. Riese bei der Überprüfung, inwieweit das Instrumentarium der Neoklassik als gegenwärtige Forschungsanalyse vieler ökonomischer Erscheinungen seinen Forschungsobjekten angemessen ist.22 Der vierte Teil stellt nocheinmal die wichtigsten Argumente der Entstehungshintergründe der Neoklassik zusammen und verbindet diese mit der Grundlegung und dem späteren Wandel der neoklassischen Theorie. Im abschließenden Kapitel 22 werden zur besseren Übersicht die Kategorien in einer "Entwicklungsgeschichte" vergleichend zusammengestellt. Es stellt sich heraus, daß die modernen Ausformungen der neoklassischen Theorien ihre kategoriale Angemessenheit nur in bezug auf theorieimmanente Ansprüche (logische und formale Perfektionierung der Modelle) besitzen. Somit ist ein positives Problemlösungspotential der Neoklassik, selbst mit Blick auf innertheoretische Schwierigkeiten, nur beschränkt vorhanden. Im Rahmen empirisch-faktischer Probleme scheint die neoklassische Ökonomik zu versagen, denn es ist nicht ersichtlich, wo und wie ihre Beiträge und Antworten auf die großen ökonomischen Probleme lösungswirksam werden. Zusammenfassend kann festgestellt werden: Das neoklassische Paradigma wächst - die zentralen ökonomischen Probleme auch!
2 1 Die moderne Tendenz zur Mathematisierung begründet Riese einfach durch die Tatsache, daß in der ökonomischen Praxis die formale Anwendung eines Instrumentariums Vorrang hat vor der sozialökonomischen Relevanz eines Forschungsansatzes. Daher spricht er auch von der "Scholastisierung" einer Theorie [Riese (1975): S. 195]. 2 2
Riese (1975): S. 193.
Erster Teil
Genese der neoklassischen ökonomischen Theorie
1. Fragestellung und Thesen (1) Fragestellung. Zur Begründung der Enstehung der neoklassischen ökonomischen Theorie werden in aller Regel u. a. folgende Argumente angeführt: Die Neoklassik ist entstanden als Folge der Philosophie des Utilitarismus, als Resultat der Entstehung der Differentialrechnung und der mittels ihr vorangetriebenen Untersuchungen über Produktion und Nachfrage bei Cournot und Dupuit, als Ergebnis der Entdeckung des "Grenznutzenprinzips" in Anspielung auf Bernoulli. Diese u. ä. Argumente sind unbestritten und in der Literatur gut aufbereitet Auch reichen sie aus, um den Geneseprozeß des "Instrumentariums", die analytischen Werkzeuge, mit denen die neoklassische Theorie arbeitet, zu erklären. Ohne Zweifel hätte ohne die Bereitstellung des notwendigen Instrumentariums die neoklassische Ökonomik in den uns bekannten Ausprägungsformen niemals entstehen können. Die Entwicklung eines gesamten Theoriegebäudes hängt aber nicht nur von ihrem Instrumentarium, sondern auch von vielen anderen Voraussetzungen ab. So ζ. B. vom geschichtlichen Hintergrund, dem Ausbildungsstand der Wissenschaftler, dem allgemeinen "geistigen Klima", den in der Gesellschaft existierenden Weltbildern, der Art zu denken, dem Vorhandensein wissenschaftlicher Methoden, der Existenz bereits bestehender wissenschaftlicher Erkenntnisse, den institutionellen und materiellen Rahmenbedingungen, dem Charakter und Vorhandensein von Lehr- und Forschungseinrichtungen, den Möglichkeiten des Kommunikationsflusses zwischen den Wissenschaftlern sowie von den allgemeinen sozioökonomischen Bedingungen, wie dem Stand der ökonomischen Entwicklung, dem gesellschaftlichen Wohlstand, der sozialen Struktur usw.
Neben einer unzähligen Fülle von Arbeiten über das Leben, die Werke, Analyseinstrumente, Weiterentwicklungen zentraler Doktrinen und Methoden neoklassischer Autoren, findet man innerhalb der Sozialwissenschaften (und insbes. innerhalb der Ökonomik) nur wenige Versuche, in einem breit angelegten Kontext zu erklären, warum die neoklassische ökonomische Theorie gerade ginn der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts von mehreren, j
1. Fragestellung und Thesen
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hängig voneinander forschenden Wissenschaftlern mit ihren zentralen generiert wurde und warum sie nicht früher; später oder anders als ein res Paradigma" entstand. 1 Natürlich ist es ein unmöglich durchzuführendes Unternehmen, eine vollständige Untersuchung über die aufgezeigten Enstehungsvoraussetzungen der neoklassischen Theorie durchzuführen und wissenschaftliche Solidität ist zweifelsfrei im Rahmen einer abgegrenzten Fragestellung leichter zu erreichen. Es soll hier, trotz der Akzentuierung sozialphilosophischer und "naturwissenschaftlicher" Eiklärungsansätze, der Versuch unternommen werden, ein stückweit in das "Klima" der damaligen Zeit vorzudringen. Vorangestellt ist ein kurzer Überblick einiger bekannter Erklärungsansätze (Kapitel 2), welche die ökonomische Theorie zur Enstehung der "marginalistischen Revolution" bereitstellt.
(2) Die Thesen des ersten Teils. Anschließend beginne ich mit der Erklärung der Genese der Neoklassik als Resultante der Entwicklung in den Naturwissenschaften. In den Abschnitten 3.1 - 3.3 wird die Genese der Neoklassik als kausal-mechanistische Sicht des nNewtonschen Weltbildes" expliziert. Dies läßt jedoch die Frage nach der nahezu zeitgleichen Entstehung dieses Paradigmas durch je unabhängige Theoretiker unbeantwortet. Die Antwort auf diese Frage verspricht ein Ansatz, die "marginalistische Revolution" über das Aufkommen der (energetischen) Physik des neunzehnten Jahrhunderts qua Übernahme von Begriffen, Methoden und Instrumenten zu erklären; dieser, von mir kritisch gewürdigte Ansatz, wird im Gliederungspunkt 3.4 vorgestellt. Aus der Diskussion dieses Abschnitts folgt die Einsicht in eine von mir neu interpretierte Form kumulativen Wissenschaftsverständnisses. Die Entstehung der Neoklassik, als R sultante des Verständnisses von ökonomischer Theorie als kumulativer Wissenschaft vom Standpunkt der frühen Neoklassiker aus zu begründen, abhängig von der Stellung der Physik des letzten Jahrhunderts in der Gesamtentwicklung dieser Wissenschaft, bildet den Gegenstand des Abschnitts 3.5. Im Vordergrund des "utilitaristischen Erklärungsansatzes" (Kapitel 4) steht die Analyse des Einflusses der philosophischen Strömungen von Naturrecht und Utilitarismus auf die Genese der Neoklassik. Eindeutig ist die Entstehung der Neoklassik an die Philosophie des Utilitarismus und an deren Vorgänger, die Naturrechtsphilosophie geknüpft. Der Erklärungsansatz über die Philosophie des Utilitarismus versagt jedoch bei der Frage nach der "zeitgleichen" Entstehung der Neoklassik durch je unabhängige Theoretiker. Es ist daher notwendig, einen weiteren Erklärungsansatz heranzuziehen, der von der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts ausgeht (Kapitel 5).
1 1. Blaugy M (1987): The Genesis of Marginal Utility Theory, vierter Abschnitt aus Chap. 8 (The marginal Revolution) seiner "Theory of Retrospect", pp. 299-303; 2. Howey , R. S. (1960): The Rise of the Marginal Utility School, 1870-89; 3. Hutchison, T. W. (1975): A Review of Economic Doctrines, 1870-1929; 4. Black, R. D. C. / Coats , A. W. / Goodwin , G D. W. (Hrsg.), 1973: The Marginal Revolution in Economics.
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Erster Teil: Genese der Neoklassik
Aus den philosophischen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts wurde die positivistische Philosophie gewählt, da sie entscheidenden Einfluß auf das wissenschaftliche Denken dieser Zeit ausübte und für die Durchsetzung einer positiven, naturwissenschaftlich-gesetzeshaften Wissenschaftsauffassung, welche sich jenseits metaphysischer und spekulativer Einflüsse vollzog, verantwortlich zeichnete. Für die hier thematisierte ökonomische Fragestellung kristallisierten sich der Comtesche und insbes. der empirische Positivismus J. St. Mills als wesentlich heraus. Zwei Argumente bilden das Zentrum innerhalb dieser Diskussion von Positivismus und Entstehung der Neoklassik: (a) Der Einfluß des "positivistischen Zeitgeistes" - "Der Positivismus war der Sieger des 19. Jahrhunderts."2 - Und (b) die "neoklassische Besetzung" des "deduktivistischen Methodenfeldes" innerhalb des Positivismus.
2. Übersicht des Angebots an Erklärungsansätzen zur Entstehungsfrage der Neoklassik Dieser Abschnitt ist ein reiner Überblick über verschiedene Ansätze, welche die Geschichte der ökonomischen Theorie zur Erklärung der Genese der Neoklassik bereithält. Diese Übersicht soll dem Leser verdeutlichen, an genau welchen Fragen die in dieser Arbeit vorgestellten Erklärungsansätze (Kapitel 3 und 4) ansetzen und wo genau ihr Platz zwischen diesen Ansätzen zu verorten ist. Ich beginne mit einer kurzen "Literaturansicht" und stelle im Anschluß daran exemplarisch drei im Argumentationsstil stark voneinander abweichende Ansätze dar, die einen Eindruck darüber vermitteln sollen, innnerhalb welch breit gefächelter Spanne sich die Diskussion um die Entstehung der Neoklassik bewegt. Es handelt sich dabei um (a) den auf erkenntnistheoretischem Niveau gehaltenen Versuch, die Genese der Neoklassik als Wechsel wissenschaftlicher Paradigmata zu begründen; (b) um den "spekulativ" und intuitiv argumentierenden Ansatz der sog. "katallaktischen Revolution" von Hicks und (c) um den Versuch, die Genese des Marginalismus als Antwort des Bürgertums auf den Marxismus zu begreifen. Der letzte Ansatz ist vor allem von der starken emotionalen Abneigung seiner Vertreter gegenüber dem Marxismus geprägt. 2.1 Kurzer Literaturüberblick In diesem Abschnitt werden kurz die Arbeiten vorgestellt, die nachhaltig und maßgeblich die Diskussion um die Entstehung der neoklassischen ökonomischen Theorie beeinflußt haben. Es handelt sich dabei um:
2
V. Kempski (1974): Zit. S. IX.
2. Erklärungsansätze zur Entstehungsfrage der Neoklassik
25
1. Blaug, M. (1987): Im Abschnitt, "The Genesis of Marginal Utility Theory", seiner "Theory of Retrospect" faßt Blaug die Diskussion um die Entstehung der Neoklassik in einem sehr kurzen Überblick nach vier möglichen Entstehungsbegründungen zusammen: (a) Als autonome intellektuelle Entwicklung innerhalb der ökonomischen Disziplin; (b) als Ergebnis damals gegenwärtiger philosophischer Strömungen; (c) als Resultat bestimmter institutioneller Veränderungen in der Ökonomie und (d) als Gegenreaktion auf den Sozialismus, insbes. den Marxismus.3 Die Argumente der beiden ersten Ansätze sind implizit und explizit in den sozialphilosophischen Begründungsversuchen (siehe Kapitel 4 und 5) aufbereitet und werden in diesem Abschnitt nicht weiter ausgeführt. Im dritten Ansatz konstruiert Blaug einen Zusammenhang zwischen der Art der Dominanz religiöser Weltanschauungen in einzelnen Ländern und dem neoklassischen Weltbild. Da diesem Ansatz keine große Bedeutung beizumessen ist, wird er hier fallengelassen. Der vierte Ansatz (d) wird kurz in diesem "Übersichtsteil" unter Berücksichtigung einiger erweiterter Argumente vorgestellt. Im Grundsatz gelangt Blaug zu keiner einheitlichen Erklärung der Genese der Neoklass 2. Howey, R. S. (I960): The Rise of the Marginal Utility School, 1870-89. Howey behandelt mit ziemlicher Ausführlichkeit W. St. Jevons, andere Autoren dafür aber relativ kurz. Das Problem bei Howey, der ζ. T. sehr detailliert bestimmte Fragestellungen anspricht, besteht darin, daß er den Zeitraum von 1870-89, also fast zwanzig Jahre insgesamt, als Entstehungszeitraum der neoklassischen Theorie definiert, mithin nicht nach den Ursachen oder dem Warum der "Entstehung" in den siebziger Jahren fragt. Howey gibt einen ausgezeichneten Überblick über relevante Lebensdaten, wissenschaftliche Kontakte sowie Einführungen über zentrale Aussagen der jeweiligen Autoren. Methodisch verfährt Howey ausschließlich deskriptiv, gliedert nach verschiedenen Gesichtspunkten, wechselt diese jedoch ständig. 3. Verbreitet ist T. Hutchisons "A Review of Economic Doctrines", 18701929, Chap. 1, 8, 12, 16; hier wird ein allgemein verständlicher Zustandsbericht über den "Stand" der ökonomischen Theorie nach 1870gegeben, untergliedert nach Autoren, Ländern und Themengebieten. Das Werk befaßt sich weniger mit der Frage der Entstehung der Neoklassik. 4. Das umfangreichste Werk über die ausschließliche Frage nach der Entstehung der Neoklassik ist ein Beitragsband, herausgegeben von R. D. C. Black, A. W. Coats und C. D. W. Goodwin. Dieser Band besteht aus achtzehn Beiträgen, die im August 1971 auf einer Tagung in der Villa Serbollini, Bellagio, Italien vorgetragen wurden. Die meisten dieser Beiträge wurden 1971 und 72 in "History of Political Economy" (Fall), veröffentlicht. Der erste Beitrag ist Blaug s "Was there a Marginal Revolution?". Blaug vertritt auch hier die Meinung, daß keine zufriedenstellende Erklärung für die gleichzeitige Entdeckung der "Grenznutzentheorie" zur Verfügung steht. Die meisten Beiträge in diesem Band nehmen zur Frage der Genese und Verbreitung der neoklassischen ökono3
Blaug (1987): Vgl. S. 299
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Erster Teil: Genese der Neoklassik
mischen Theorie eine monokausale Position ein. Kriterien sind bspw. einzelne Länder, innerhalb derer entweder auf zentrale Aussagen der jeweiligen Theorien oder auf biographische und/oder bibliographische Kontexte Bezug genommen wird (Aufsätze von Marchi , Black, Jaffé , Tarascio usw.). Andere Beiträge argumentieren ausschließlich nach biographischen und bibliographischen Kriterien (etwa Howeys "The Origins of Marginalism") und wieder andere sind an ganz spezifischen Fragestellungen orientiert (wie R. L Meeks "Marginalism and Marxism"); schließlich besteht der Gegenstand einiger Beiträge in einer allgemeinen Aufbereitung des Marginalismus (Goodwin , Barucci, Stigler usw.). Im Ergebnis kann der Diskussionsstand, den diese Arbeiten repräsentieren, etwa wie folgt zusammengefaßt werden: 1. Es steht keine zufriedenstellende Erklärung für die gleichzeitige Entdekkung der "Grenznutzentheorie" zur Verfügung.4 2. Die "marginalistische Revolution" ist als Prozeß, nicht als Ereignis, als multiple Entdeckung i. S. Mertons 5 (zeitliche Koinzidenz singulärer Ereignisse) und nicht als singuläre Entdeckung zu begreifen. 3. Der Erfolg der Neoklassik gründet sich auf die "Professionalisierung" der Ökonomik im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts.6 In bezug auf die Frage nach der "simultanen Entdeckung" der Neoklassik durch drei je unabhängige Forscher in unterschiedlichen Ländern, stellt Blaug das Problem ihrer Beantwortung für die Geschichte des ökonomischen Denkens heraus: "The only trouble is that none of the standard explanations are convincing. ... In short, the simultaneous discovery of marginal utility may call for an explanation, but none of the available explanations is satisfactory." 7
2.2 Drei beispielhafte Erklärungsansätze
(1) Genese der Neoklassik als Wechsel wissenschaftlicher Paradigmat Rechtfertigung ökonomischer Theorien ergibt sich in aller Regel über den Hinweis auf ihre empirische Überprüfbarkeit sowie die ihrer Annahmen und Sätze. Der Verweis auf den positiven empirischen Charakter der Disziplin vermittelt den Eindruck, daß sich der wissenschaftliche Fortschritt als Kumulierung wissenschaftlicher Kenntnisse, ausgelöst durch ständige Überprüfung und Herauslösung der falsifizierten Thesen, ausdrückt. Diese zunehmende Wissensanreicherung führt zum "Veralten" zeitlich zurückgelegenen Wissens und stellt die Ge-
* Blaug (1973): S. 5. 5
Merton (1961).
^ Blaug (1973): S. 14. 7
Zit. ebda. S. 4 f.
2. Erklärungsansätze zur Entstehungsfrage der Neoklassik
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schichte selbst, vom Standpunkt des jeweils aktuellen Wissens, als Prozeß einer kontinuierlichen Wissensmehrung dar. Diese Sicht von wissenschaftlicher Entwicklung, als kumulativen, stetigen oder linearen Prozeß, bestreitet Kuhn} Vor allem können mithilfe einer linearen Wissensvermehrung keine wissenschaftlichen Revolutionen begründet werden, die zur Erklärung von Wissenschaftsentwicklung notwendig sind. So besagt Kuhns These von der Wissenschaftsentwicklung, daß diese nicht stetig, sondern unstetig (via wissenschaftlicher Revolutionen) verläuft. 9 Eine wissenschaftliche Revolution stellt sich dar, als Übergang von einem wissenschaftlichen Paradigma zu einem anderen, wobei ersteres vollkommen abgelöst wird. Ein wissenschaftliches Paradigma ist die Bezeichnung für die gesamte Konstellation von Meinungen, Werten, Techniken usw., die den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gesellschaft zur Verfügung stehen.10 Es ist maßgeblich an der Herausbildung des Selbstverständnisses einer Wissenschaft beteiligt und definiert als theoretische, methodische und empirische Entität die Grundlagen und die (erfolgreiche) Tradition der Disziplin.11 "A paradigm is what the members of a scientific community share, and, conversely, a scientific community consists of men who share a p a r a d i g m . " 1 2
In diesem Zitat kommt die inhärente Zirkularität des Begriffs Paradigma zum Ausdruck. Die Qualität dieser Aussage hängt zweifelsfrei von den genaueren Umständen des Begriffs scientific community ab. Charakteristika einer scientific community i. S. von Kuhn sind: Parallelen in der Ausbildung und den Zielsetzungen der einzelnen Mitglieder; aus gleicher Literatur werden ähnliche Schlüsse gezogen; jede "community " ist durch einen bestimmten Kanon von Standardliteratur gekennzeichnet und durch die Spezialisierung auf einen bestimmten Gegenstand; "communities " zeichnen sich durch ein hohes Maß an Professionalisierung, eine sichtbare Abgrenzung von anderen "communities " und durch einen funktionierenden Informationsaustausch aus.13 Eine scientific community wird u. a. durch ihre Kommunikationsstruktur definiert Dazu gehören zugängliche Korrespondenz- und Zitatstrukturen, gebräuchliche Lehrbücher und Journals, die Mitgliedschaft in wissenschaftlichen Vereinigungen, Teilnahme an Fachtagungen usw.14
8 Innerhalb eines Paradigmas läßt Kuhn jedoch kumulative Wissensvermehrung zu. Hat sich ein "wissenschafltiches Paradigma" "durchgesetzt", wird es zur "normalen Wissenschaft", die eine "innere Entwicklung" i. d. S., durchmacht, daß die Wissensvermehrung in Form permanenter Anwendung und Weiterentwicklung einer als gültig angenommenen Theorie erfolgt. [Kuhn (1974): S. 1381.
9 Kuhn (1974): S. 140. 10
Ebda. S. 175.
11
Eisner (1986): Vgl. S. 36.
^ Kuhn (1974): Zit. S. 176. 13
Vgl. ebda. S. 177.
14
Vgl. ebda. S. 178.
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Erster Teil: Genese der Neoklassik
Blaug bezweifelt die Existenz einer solchen "Gemeinschaft" für die Entstehungsphase der Neoklassik in hohem Maße.15 Als Beispiel führt er die "informatorische Insularität" englischer Ökonomen an, die bis in das letzte Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts reichte; Jevons starb 1882, ohne jemals von den Arbeiten Mengers erfahren zu haben.16 Weiterhin gelang bspw. die Verallgemeinerung des Marginalkonzeptes in der Ricardianischen Produktionstheorie vom Faktor Arbeit auf alle Produktionsfaktoren erst in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.17 Somit lagen, nach Ansicht Blaugs, etwaige Voraussetzungen für einen Kuhnschen Paradigmenwechsel erst nach den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts vor. Der Versuch, die Entstehung der Neoklassik als Revolution zu Beginn der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts zu erklären, ist zum Scheitern verurteilt: 18 Es handelte sich nicht um eine Revolution, um keinen abrupten Wandel, sondern um eine graduelle Transformation, in der alte ("klassische") Ideen niemals definitiv widerlegt wurden (dies geschah erst Jahrzehnte später).19 Eine ähnliche Meinung vertritt auch Black: "In the longer perspective which we can adopt more than a century later it is evident, as is now accepted, that the 'Marginal Revolution' was a process rather than an event ..." 2 ®
Wesentliche Erfordernisse, welche ein Kuhnsches Paradigma kennzeichnen und die Voraussetzung für eine wissenschaftliche Revolution i. S. von Kuhn bilden, sind für die Genese der neoklassischen Theorie somit nicht erfüllt. Insofern kann die Aussage begründet zurückgewiesen werden, es handele sich bei der Entstehung der neoklassischen Theorie um eine wissenschaftliche Revolution i. S. Kuhns. 21
(2) Die Entstehung der Neoklassik als "katallaktische Revolution". H lehnte den Begriff Marginalismus als Bezeichnung für die neu entstandene Neoklassik ab, da er "am Eigentlichen vorbeiziele; das 'Marginale' {the margin) sei nicht mehr als ein Ausdruck für eine mathematische Maximierungsregel und jeder Ökonom, der etwas maximieren wolle, demzufolge ein 'Marginalist'".22 Die wesentliche Neuerung der frühen neoklassischen Ökonomen besteht für Hicks in der Fundierung der ökonomischen Theorie durch die Tauschkategorie und
Blaug (1973): Vgl. S. 5. 16
Ebda. S. 6.
17
Ebda.
18
Ebda. S. 11.
Aus diesem Grund hält es Blaug für verfehlt, von einer "marginalistischen Revolution" zu sprechen [Blaug (1973): Vgl. S. 10 f.]. 2 0
Black (1990): ZiL S. 17.
2 1
Siehe auch Blaug (1973): S. 11; Stigler (1973): S. 318; Black (1973): S. 100 und Coats (1973): S. 338 f. 2 2
Hicks (1976): Vgl. S. 212.
2. Erklärungsansätze zur Entstehungsfrage der Neoklassik
29
nicht - wie bis dahin - durch die Produktion und Verteilung.23 Um diesem Sachverhalt besser zu genügen, ersetzt Hicks - in Anlehnung an Edgeworths "Mathematical Psychics" (1881) - den Begriff marginalists durch catallactists. Diesen Terminus verwendet Hicks durchgängig; der Begriff MikroÖkonomik sei jedoch eine vertrautere Umschreibung 2 4 Hicks Erklärungsansatz geht davon aus, daß die klassische Nationalökonomie, wie andere mächtige Theoriestränge auch, ihre Aufmerksamkeit einseitig (also auf die Bereiche Produktion und Verteilung) orientierte. So gab es innerhalb der Klassik zwar auch Versuche - wie Hicks sich ausdrückte -, "dem 'Smithschen Denksystem1 die 'Scheuklappen1 abzustreifen", 25 doch war kein Ansatz in Sicht, der diesem Denksystem eine auch nur annähernd vergleichbare Aussagekraft und Logik hätte entgegensetzen können. Dies geschah erst mit den Theorien der "Katallaktiker", namentlich Walras, Jevons und Menger 26 Nach Ansicht von Hicks hat das Hauptargument für den "Sieg des Katallaktismus" weder etwas mit den Kategorien Sozialismus und Kapitalismus, noch mit dem Argument der Reaktion von Theorie auf Änderungen in der realen Welt zu tun. "Die Konstruktion einer 'kraftvollen' ökonomischen Theorie, basierend auf dem Tausch, anstelle von Distribution und Produktion, hat immer eine potentielle Alternative (zum klassischen System, H F.) dargestellt27 und die große Leistung (Revolution) der Katallaktiker bestand darin, diese neue ökonomische Theorie auf den Weg gebracht zu haben".28 Dafür sprechen zwei Gründe: 1. Obwohl die Nutzenkategorie, insbes. das Konzept des Grenznutzens, Probleme hinsichtlich des Verständnisses und der Messung in sich barg, war es "einfacher", den Individuen bestimmte Bedürfhisse und Nutzenfunktionen als gegeben zu unterstellen, anstatt den homogenen Begriff des Reichtums der klassischen Nationalökonomie weiter zu akzeptieren. 2 3 Zwischen den Klassikern und Neoklassikern gibt es für Hicks lediglich die Differenz einer verschiedenen Sichtweisel Die Neoklassiker haben, nach Ansicht Hicks, eine Möglichkeit gefunden, "die Sichtweise des ökonomischen Lebens über eine Tauschtheorie" zu konstituieren, was die "Klassiker" über den Begriff des Sozialproduktes taten [Hicks (1976): Vgl. S. 212]; insofern liegt zwar eine Differenz, jedoch kein Widerspruch zwischen den beiden Sichtweisen vor. 2 4
Hicks (1976): Vgl. S. 215.
2 5
Unter "Scheuklappenverhalten" verstand Hicks den Umstand, daß sich der Wissenschaftler auf bestimmte Probleme konzentrieren muß, wenn konkrete Entscheidungen anstehen. Die als Werkzeug der ökonomischen Analyse eingesetzten Theorien stellen Scheuklappen i. d. S. dar oder anders ausgedrückt: Es handelt sich bei diesen Theorien um Lichtstrahlen, die einen ganz bestimmten Teil des Zieles ausleuchten, den Rest jedoch im Dunkel lassen [Hicks (1976): Vgl. S. 208]. Das Problem besteht darin, den "Scheinwerfer" auf die "wesentliche" Stelle des Zieles zu richten bzw. darin, vorherzusagen, welches die "wesentliche" Stelle ist. Die Veränderung der "Scheinwerferstellung", also die Veränderung des ökonomischen Gegenstandsbereichs, bildet das Zentrum ökonomischer Revolutionen, so auch der "marginalistischen Revolution". 2 6 Hicks (1976): Vgl. S. 214. Hicks nennt den Namen Jevons nicht explizit, da Jevons' Theorie, im Vergleich zu denen von Menger und Walras, nicht vollständig sei, "ansonsten aber eine dritte Alternative dargestellt hätte". Dies bringt Hicks in einer Fußnote zum Ausdruck [Hicks (1976): Siehe S. 214, Fn. 13]. 2 7
Hicks (1976): Vgl. S. 214.
2 8
Vgl. ebda.
30
Erster Teil: Genese der Neoklassik
2. Es war einfacher, das ökonomische System als ein System abhängiger interagierender Märkte (Walras) zu denken und eine bestimmte Anordnung von Mitteln und Zwecken herauszustellen, statt die Fiktion des Sozialproduktes weiter aufrechtzuerhalten. In diesem Zusammenhang weist Hicks in Anlehnung an Schumpeters "Geschichte der ökonomischen Analyse" auf die Gefahr hin, theoretische Alternativen zu vernachlässigen, da durch die Rezipierung des eleganten marginalistischen Denkmusters sehr leicht der Bück für die Alternativen versperrt werden kann.29 Hicks behauptet nicht, daß Theorien dann einem Wandel unterliegen, wenn sie die Realität nicht hinreichend abbilden, sondern er geht tatsächlich (allerdings implizit) von der Ablösung einer Theorie bzw. Denkform erst dann aus, wenn eine andere Theorie bzw. Denkform zur Verfügung steht, von der sich die Ökonomen "bessere" Eigenschaften erhoffen. Die klassische Nationalökonomie wurde von der Neoklassik nicht etwa deshalb abgelöst, weil erstere nicht in der Lage war, die Realität adäquat zu beschreiben, sondern weil sie in bestimmten Bereichen (Erklärung ökonomischer Kategorien über die zentrale Kategorie des Tausches) grobe Lücken aufwies bzw. keinen Erklärungsansatz leistete. Dieses Begründungsdefizit "reifte" solange, bis ein Theoriekonzept entwickelt wurde, das von seiner "Potenz"30 eine echte Alternative zum klassischen Denksystem liefern konnte: Die Theorien von Jevons, Menger und Walras Die Anziehungskraft der "Katallaktiker" sieht Hicks in ihrer "intellektuellen Qualität" und weniger in der Betonung ihres individualistischen Standpunktes. "Die ersten Katallaktiker* waren Mathematiker, sie dachten mathematisch und die in ihren Theorien verwendete Mathematik hat bewiesen, welches enorme Entwicklung spotential in ihr steckt." 32
Zur Bewertung des Hicksschen Ansatzes ist folgendes zu sagen: Der Ansatz bleibt in weiten Teilen spekulativ und die Begründung der Neoklassik auf den Ablösungsprozeß von der klassischen Lehre beschränkt. Andere Faktoren finden keine Berücksichtigung. Der Ansatz kann nur wenig überzeugen, da Hicks das Argument der "Realitätsadäquanz" nicht weiter als über den Hinweis auf die unterschiedlichen Schwerpunkte der Tausch- bzw. Produktions- und Distributionssphäre in Neoklassik bzw. klassischer Ökonomik ausweitet.
(3) Genese des Marginalismus als Antwort des Bürgertums auf den Ma mus. Die Genese des Marginalismus als Reaktion auf die Entstehung "allgemeiner sozialistischer Tendenzen" zu begründen, ist ein Erklärungsversuch, der insbes. von Hicks und L v. Mises vertreten wurde. Als grundlegend gelten hier v. Mises' "Untersuchungen über den Sozialismus", vorgetragen in: "Die Gemeinwirtschaft". Dieses Werk wird als eine geschlossene und umfassende Kritik 2 9
Vgl. ebda. Fn. 14.
3 0
Aussagekraft des Denksystems.
31
Hicks (1976): Vgl. S. 214. Z i t ebda, (eigene Übersetzung).
2. Erklärungsansätze zur Entstehungsfrage der Neoklassik
31
am Sozialismus und speziell am Marxismus aufgefaßt. Ferner stellt das bekannte, nahezu einhundert Seiten umfassende, siebte Kapitel33 der "Geschichte und Kritik der Kapitalzins-Theorien"34 von E. v. Böhm-Bawerk, eine vernichtende Kritik der Manschen Wert- und Zinstheorie dar. Hicks geht hierbei von folgender Voraussetzung aus: Politische Ökonomik trägt in einem gewissen Grad immer sowohl "sozialistische" als auch "individualistische" Züge, ein Umstand, der historisch dann rekonstruiert werden kann, wenn "politische" Mittel und Zwecke methodisch getrennt voneinander aufgefaßt werden.35 Die klassischen Ökonomen waren i. S. der von ihnen aufgestellten wissenschaftlichen Ziele und Zwecke (die Erklärung und Mehrung von sozialem Reichtum) "Sozialisten", doch sie waren "Individualisten" in bezug auf die Praxis, denn sie erachteten individualistische Prinzipien als Mittel auf dem Weg der Erreichung ihrer sozialen Zwecke.36 Unabhängig von der Untersuchung des jeweiligen Gegenstands - die Wohlfahrt der Gesellschaft oder die individuelle Freiheit -, versucht der "Klassiker" sowohl als "Sozialist" wie auch als "Individualist", dasselbe Ziel zu erreichen und auf die invisible hand zu vertrauen. Hicks' Position kann in etwa folgendermaßen wiedergegeben werden: Mit schwindendem Vertrauen in das Funktionieren dieses "Funktionalismus",37 begann - so Hicks - die "Austreibung der individualistischen Position",38 begleitet von einer Trennung vormals "verbündeter Forschungszweige". Im Bestreben, ihre Position abzugrenzen, mußten die "verbliebenen Individualisten" ihre Ablehnung gegenüber den rein sozialen Zwecken zum Ausdruck bringen.39 Die sozialistische Position fiel zugunsten einer individualistischen, weil sie nicht in der Lage war, die Kategorie des Tausches adäquat abzubilden. Dies führte v. Mises auf den Marxschen Widerspruch zurück, einerseits die klassische Nationalökonomie widerlegen zu wollen, obwohl er andererseits die wesentlichen Elemente seiner eigenen Theorien der klassischen ökonomischen Theorie entnommen hatte.40 Eine ähnliche Stimmungfindet sich auch bei v. Böhm-Bawerk y der die Marxsche Arbeitswertlehre (als Grundlage der Tauschtheorie) "ein theoretisches Kunststück von verblüffender Naivität" nannte, "ausserdem sei die Antwort der Marxisten auf das Wertproblem eine Tautologie".41 Ähnlich äußerte sich auch F. v. Wieser; er bezeichnete die "sozialistische Werttheorie" als Lehre, "an der so ziemlich alles falsch sei".42 3 3
"Die Ausbeutungstheorie".
3 4
Erster Bd. von "Kapital und Kapitalzins", 1884.
35
Hicks (1976): S. 213.
3 6
Ebda.
3 7
Als die "sozialen Ökonomen" zu "sozialistischen Ökonomen" wurden.
38
Hicks (1976): Vgl. S. 213.
3 9
Ebda.
4 0
v. Mises (1932): S. 327.
41
v. Böhm-Bawerk (1921): S. 388 und S. 397 f.
4 2
v. Wieser (1968): S. 66.
32
Erster Teil: Genese der Neoklassik
Den Vorwurf v. Mises', daß Marx das kritisierte, was er selbst als Grundlage benutzte, teilte auch Schumpeter 43 v. Mises warf dem Marxismus vor, "er sei unfähig, der modernen subjektivistischen Nationalökonomie auch nur ein Wort halbwegs vernünftiger Kritik entgegenzusetzen und suche sie einfach damit abzutun, indem er sie als bürgerliche Ökonomie* an den Pranger stelle".44 In diesem Zusammenhang muß W. Hofmann genannt werden. Er schreibt den eigentlichen Grund der Entstehung der Neoklassik "jenem verborgen wirkenden gesellschaftlichen Bedürfnis zu, das schon vor der Entstehung der neoklassischen Theorie zur Ablehnung der klassischen Arbeitswertlehre und ihrer sozialkritischen Folgerungen geführt habe".45 Der "Theorie des objektiven Werts" sollte bewußt eine neue Theorie entgegengesetzt werden. Als Begründung verweist Hofmann auf Jevons' Kritik an Ricardos Wertlehre sowie auf v. Böhm-Bawerks und v. Wiesers polemische Kritik an der "sozialistischen Wertlehre".46 Leider läßt Hofinan den Versuch vermissen, aufzuzeigen, was unter "jenem verborgenen wirkenden gesellschaftlichen Bedürfnis ..." zu verstehen ist und in welcher für die Gesellschaft relevanten Erscheinungsform es wirksam wird. Da Hofmann seine Kritik auf "Neoklassiker der zweiten Generation" stützt, steht die Argumentation in keiner kausalen Verbindung zum Problem der Genese der neoklassischen ökonomischen Theorie. Die Genese der Neoklassik als Reaktion des Bürgertums auf den Marxismus zu begründen, ist grundsätzlich fragwürdig, insofern gezeigt werden kann, daß zur Zeit der Entstehung des "harten neoklassischen Theoriekerns" die Theorien von Marx den neoklassischen Autoren (Jevons, Menger, Walras) nicht einmal bekannt waren. In ihren Werken finden sich keine Hinweise, die einen anderen Schluß zulassen. Die wesentlichen Grundzüge der Grenznutzen- und Grenzproduktivitätstheorie finden sich schon in der 1863 von Jevons veröffentlichten "Notice", die bereits 1862 abgefaßt wurde.47 Marshall begann mit dem Entwurf seiner Theorie 1867, und bereits 1872 waren die Umrisse seines Systems in der Rezension der Jevonsschen "Theory" deutlich herausgestellt.48 Auch sind weder bei Walras noch bei Menger Stellungnahmen bezüglich des Marxismus zu finden. Kein Wunder, erschien der erste Band des "Kapitals" erst 1876, die englische Übersetzung erfolgte 1877, also zu einem Zeitpunkt, in dem die neoklassiche ökonomische Theorie bereits einen festen Platz innerhalb des europäischen Theoriebebäudes eingenommen hatte. Aufgrund dieser Argumente kommt Blaug zu einer eindeutigen Ablehnung der These von der Genese des Marginalismus als Antwort des Bürgertums auf den Marxismus.49
4 3
Schumpeter (1914): S. 81 ff.
4 4
v. Mises (1932): Vgl. S. 328.
4 5
Hofmann (1971): Vgl. S. 119.
4 6
Siehe ebda.
4 7
Blaug (1987): Vgl. S. 302.
4 8
Vgl. ebda.
4 9
Vgl. ebda.
3. Genese der Neoklassik aus der Entwicklung der Naturwissenschaften
33
Somit ist die These, der Marginalismus sei als Gegenreaktion auf den lismus und insbes. die Marxsche Theorie entstanden, eindeutig widerleg tigt werden kann allerdings der Umstand, daß neoklassiche Ökonomen der "zweiten Generation", besonders v. Mises und v. Böhm-Bawerk, ihre Kritik am Sozialismus bzw. Marxismus zum Anlaß genommen haben, die Relevanz neoklassischer Positionen zu unterstreichen und fortzuentwickeln. Zulässig ist also folgende Auffassung: Die Entstehung der neoklassischen ökonomischen Theorie ist zwar nicht als Gegenreaktion auf den Sozialismus entstanden, dieser hat jedoch Einfluß auf die spätere Entwicklung bestimmter neoklassischer Theoriezweige genommen.
3. Genese der neoklassischen Ökonomik aus der Entwicklung der Naturwissenschaften Entgegen der gerade vorgetragenen Position Blaugs, die gleichzeitig in etwa den derzeitigen Forschungsstand zur Frage der Genese der Neoklassik widerspiegelt, wird im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt werden, daß - jenseits der Standarderklärungen - sehr wohl überzeugende Argumente für eine fast gleichzeitige Entdeckung der Neoklassik zu Beginn der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts existieren: Daß jenseits der verschiedenen detaillierten und speziell ausgerichteten Wissenschaftszweige der einzelnen Länder, ein bestimmtes "Allgemeinwissen" im relevanten Entstehungszeitraum vorhanden war, über welches jeder europäische Akademiker verfügen konnte; ich meine damit: 1. Allgemeine Mathematisierungstendenzen. 2. "Naturwissenschaftliche Standards" der Galilei-Descartes-Newton tion.
Tradi-
3. Grundlagen der positivistischen Philosophie, insbes. des empirischen Positivismus J. St. Mills sowie Grundgedanken der utilitaristischen Philosophie (dieser Punkt ist Gegenstand der Abschnitte 4 und 5). Ich versuche nichts anderes, als die Diskussion um die Genese der Neoklassik mit einigen neuen Argumenten zu bereichern und anzuregen. In dieser Arbeit wird nicht die These vertreten, die Neoklassik habe sich aus einem der spezialisierten Zweige (englische/österreichische/Lausanner Schule) heraus entwickelt. Sie entstand vielmehr aus einem "Wissen", welches zentraler Bestandteil einer universellen (interdisziplinären) akademischen "Allgemeinbildung" schen Gelehrten in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war. Es wird nicht versucht, eine vollständige Identität der Begriffe "Gesetz des abnehmenden Grenznutzen", Nachfrage, Angebot, Preismechanismus zwischen den einzelnenfrühen Neoklassikern nachzuweisen - dies wäre ein verfehltes Vorhaben; es geht vielmehr darum aufzuzeigen, daß die Möglichkeit zur Grundlegung 3 Frambach
der
34
Erster Teil: Genese der Neoklassik
eines neu fundierten Nachfragebegriffs, einer Nutzenkategorie usw. vorhanden war und schließlich auch eingetreten ist. Die Tatsache bspw., daß Walras, Jevons und Menger nahezu identische Tauschgleichungen unabhängig voneinander entwickelt hatten, wird hier eher als Zufall bewertet. Schließlich waren Jevons, Walras und Menger diejenigen Theoretiker, welche einer bestimmten Sichtweise von ökonomischer Theorie zum "Durchbruch" verhalfen, indem sie bestimmte, bereits gedachte Tatbestände, in eine ökonomische Theorie integrierten. 3.1 Naturwissenschaft
und Neoklassik
Mit Newtons "Philosophiae Naturalis Principia Mathematica" (1687) werden in den Naturwissenschaften erstmals wissenschaftlich empirische Betrachtungen (insbes. die Astronomie) und theoretische Analyse (rationale Mechanik) zusammengeführt. Die Formulierung des Gravitationsgesetzes bildet dabei das Zentrum. Die Entdeckung der Gravitationskonstanten gilt als das erste "umfassende Weltgesetz".50 Aufgrund der Newtonschen Synthese von Mechanik und Astronomie erreichte die "Mechanisierung des Sehens von Welt", also die Vorstellung ihres gesetzeshaften Funktionierens, einen Höhepunkt. Die Entwicklung der Newtonschen Theorie und das damit verbundene Programm mechanistischer Erklärung sollten in den folgenden zweihundert Jahren das Bild der klassischen Physik entscheidend prägen.51 Die Physik des achtzehnten Jahrhunderts stellte aber bereits eine deutliche Abkehr von den mathematischen und mechanischen Annahmen der "Newtonschen Naturphilosophie" dar, und die Physik unwägbarer Flüssigkeiten, aktiver Substanzen und anormaler Formen standen sogar im Widerspruch zur Newtonschen "Naturtheorie".52 Es ist somit falsch, die Physik des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts als Newtonsche Mechanik oder Naturtheorie zu interpretieren. Von genau aber dieser mechanistischen Betrachtungsweise gingen die frühen neoklassischen Ökonomen (Gossen, Jevons, Walras und Menger) aus, als sie die Strukturen ihrer Theorien entfalteten. So behauptet Thoben, daß die mechanistische Betrachtungsweise des ökonomischen Systems des neunzehnten Jahrhunderts analog zum Newtonschen Modell der klassischen Mechanik konstruiert wurde.53 Und auch Georgescu-Roegen argumentiert in diese Richtung, wenn er im Zusammenhang mit dem Verlust des mechanistischen Weltbildes in den Naturwissenschaften und der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts davon spricht, daß alleine die "Mechaniker des Egoismus und des Nutzens" das alte Dogma beibehielten und darüber hinaus die Entwicklung der folgenden ökonomischen Theo-
5 0
Kanitscheider
5 1
Harmann (1985): S. 10.
(1981): S. 36.
5 2
Ebda. S. 11.
5 3
Thoben (1982): S. 292.
3. Genese der Neoklassik aus der Entwicklung der Naturwissenschaften
35
rie entscheidend bestimmten.54 Diese These soll nun im Rahmen dieses Abschnitts 3.1 konkreter umrissen werden. Eine eingehendere Analyse und der Beweis der These werden im vierten Teil dieser Arbeit vorgenommen, nachdem die notwendigen Fakten im zweiten Teil herauspräpariert wurden. Die klassische Mechanik setzt sich zusammen aus den Einzeldisziplinen Statik, Dynamik und Kinematik. Ihr Erkenntnisziel liegt in der Erforschung und Untersuchung der Kräfte und Wirkungen starrer und deformierbarer Körper, dazu werden Gleichgewichte und Bewegungen betrachtet. Die klassische Mechanik kennt nur statische Gleichgewichte55 und ausschließlich solche Bewegungen, bei denen gleichzeitig die Bewegungsprozesse vollständig reversibel und qualitativ festgeschrieben sind; anders ausgedrückt: die mechanistische Sichtweise wird von all denen vertreten, die sich selbst als Beobachter in einem unabhängigen (autonomen) Universum befinden und alle Ereignisse und Objekte nach uniformem Ablauf in Zeit und Raum betrachten.56 Das beobachtete Subjekt wird als "befreit" vom beobachteten Objekt gedeutet, wobei das Subjekt das Objekt über logische Begründungen erklären kann. Die erfahrbare objektive Realität ist der Gegenstand der natürlichen Gesetze, welche selbst für den Menschen erst durch menschliche Begründungsarbeit erkennbar sind und auf den Begriff gebracht werden. Die Idee der natürlichen Gesetze war die direkte Verbindung von Subjekt und Objekt, die durch das wissenschaftliche Verständnis "vereinheitlicht" wurden.57 Das Ziel dieser Denkart bestand in der Vorhersage zukünftiger Ereignisse und der Ableitung deterministischer Lösungen in allen Bereichen der Realität. Wären alle Variablen, alle Ursache-Wirkungs-Mechanismen bekannt, so könnten alle Ereignisse verstanden und vorhergesagt werden. In der Möglichkeit der mathematischen Formalisierung quantifizierbarer ökonomischer Phänomene, der Durchführung verläßlicher Prognoseverfahren und der Erringung vergleichsweise großer Erfolge, wie sie die Naturwissenschaften aufzuweisen hatten, bestand, nach Ansicht Thobens, die Hoffnung der frühen Neoklassiker.58 A. Lowe, einer der bekanntesten Vertreter der These von der Ableitung mechanistischer, d. h. neoklassischer Ökonomik aus der klassischen Mechanik, stellt die Verbindung zur Ökonomik her: Beginnend bei der Ausgangshypothese, daß der Zustand eines jeden Ganzen oder Aggregates aus dem berechenbaren Verhalten seiner Teile abgeleitet werden kann, eine These, die sowohl der klassischen Mechanik als auch der neoklassischen Ökonomik unterliegt, gelangt Lowe zu drei Fundamentalannahmen einer "universellen mechanistischen Theorie":59 5 4
Georgescu-Roegen (1976): S. 2.
Die Statik ist die Lehre der Gleichgewichte bei ruhender Materie, daher auch der Begriff vom statischen Gleichgewicht; statisches Gleichgewicht beinhaltet in diesem Fall eine Redundanz. 5 6
3'
Margenau (1950): Vgl. S. 38 f.
5 7
Weisskopf (1979): S. 870.
5 8
Thoben (1982): S. 293.
5 9
Lowe (1951): Vgl. S. 404.
36
Erster Teil: Genese der Neoklassik
1. Alle qualitativen Strukturen können als Aggregate elementarer homogener Mengen gedeutet werden. 2. Diese Mengen verhalten sich "selbstregulierend" (als ob sie wohldefinierten Kräften unterlägen; gemeint sind vor allem Schub und Anziehungskräfte). 3. Folglich werden die Bewegungen der Teile berechenbar und können als allgemeine Gesetze ausgedrückt werden, die es ermöglichen, den Zustand der Aggregation zu ermitteln. Das Newtonsche Paradigma wurde in der neoklassischen und teilweise auch in der klassischen ökonomischen Theorie eingesetzt, in dem es ökonomische Ereignisse qua der klassischen Physik und Mechanik entnommenen Mustern interpretierte. Diese Muster reichen von der Analogie zum planetaren System bis hin zur Funktionsweise eines Uhrwerks, als ein geschlossenes, autonomes System, geregelt durch endogene und interdependente Faktoren einer hochgradig selektiven Natur. Diese Systeme regulieren sich selbst und bewegen sich auf einen determinierten, vorhersagbaren Gleichgewichtspunkt zu. Unterschiedliche Ökonomen haben die vermeintliche Analogie von Naturwissenschaft und Ökonomik mittels verschiedener Beispiele belegt. Bspw. verglich D. Hume die Uniformität von Gleichgewichtspreisen mit dem Niveauausgleich von Wasser in verschiedenen Säulen.60 Jevons verglich sein Tauschgesetz mit der Theorie der Hebelwirkungen aus der Mechanik,61 Edgeworth erhoffte sich methodologische Vorteile aus der Betrachtung des Menschen als "Lustmaschine" und führte dazu Vergleiche aus der Elektrizität, der Mechanik sowie der Thermodynamik an. 62 Menger verglich das ökonomische System mit untereinander verbundenen Seen bei unterschiedlichen Wasserständen.63 Andere Ökonomen stellten die Gesellschaft in Zusammenhang zu einer Ton- oder Knetmasse, in der Weise, daß ein "Druck" auf eine bestimmte Stelle die Masse in alle Richtungen verändert.64 Die Analogie Ökonomik/Mechanik führte zu einer Übertragung mechanischer Begriffe in die Ökonomie, ζ. B.: Gleichgewicht, Stabilität, Elastizität, Expansion, Kontraktion, Fluß, Kraft, Druck, Verteilung, Niveau, Bewegung usw.65 So entspricht der Begriff des Teilchens aus der Mechanik dem des Individuums in der Ökonomie, der Raum entspricht einer Ware, die physikalische Kraft dem Grenznutzen, die physikalische Arbeit dem Grenzleid und die Energie dem Grenznutzen. Entsprechungenfinden sich bei den Dimensionen:66 Arbeit oder Energie ergibt sich in der Mechanik als Produkt von Kraft und Weg, in der
6 0
Hume (1898): S. 333.
6 1
Jevons (1970): S. 144 ff.
6 2
Edgeworth
6 3
Menger (1968): S. 172.
6 4
Fisher (1965): S. 24.
(1967): S. 4-15, insbes. S. 15.
6 5
Ebda.
6 6
Vgl. ebda. S. 85.
3. Genese der Neoklassik aus der Entwicklung der Naturwissenschaften
37
Ökonomik ist Arbeit bzw. Nutzen definiert als entsprechende Grenzgröße multipliziert mit der Anzahl der Güter (Gütermenge). Der Begriff des Gleichgewichts mag exemplarisch zum Verständnis dieser Vergleiche beitragen:67 Für jedes betrachtete Individuum sei ein Vektor auf einer Achse angenommen, der den Grenznutzen in Abhängigkeit von der Menge eines bestimmten Gutes in eine angezeigte Richtung beschreibt. Der Grenznutzen aus dem Konsum der Menge des Gutes χ wird also durch einen positiven Vektor entlang der x-Achse wiedergegeben; das Grenzleid der Produktion von χ bzw. das Grenzleid, verursacht durch die Ausgabe eines bestimmten Geldbetrages für χ, ist ein Vektor gleichen Betrages doch in die entgegengesetzte Richtung verlaufend (negativer Vektor). Marginale Nutzen und Disnutzen sind demnach betragsgemäß gleich aber mit unterschiedlichen Vorzeichen ausgewiesen. Diese Beschreibung eines Gleichgewichtes entspricht genau dem Gleichgewicht eines Teilchens in der Mechanik, nämlich der Bedingung, daß die Teilkräfte entlang der lotrechten Achsen betragsgleich und diametral entgegengesetzt verlaufen. Darüber hinaus können die Grenznutzen sämtlicher Güter kombiniert werden; daraus folgt ein Vektor, dessen Richtung vorgibt, wie ein Individuum seinen Nutzen maximal steigern kann. Entsprechend wird ein Vektor des Disnutzens gebildet. Im Gleichgewicht sind beide Vektoren wiederum betragsgleich, doch unterschiedlich im Vorzeichen. Diese Beschreibung stimmt vollständig mit den Gesetzen über das Zusammenwirken von Kräften überein. Mittels dieser Transplantierung "mechanischer Gesetze" in ökonomische Zusammenhänge wird als bloße Folge der reinen Anwendung des mathematischen Kalküls im Gleichgewicht ein Maximum erzielt. So, wie sich im mechanischen Gleichgewicht die Kräfte ausgleichen und ein Energiemaximum erreicht wird, ist im ökonomischen Bereich der Nutzen maximiert. Auf der Grundlage der hier aufgezeigten Denkmuster wurden in der klassischen und neoklassischen Ökonomik Gleichgewichtsmodelle konstruiert. Diese Modelle gingen einher mit der Fiktion der Annahmen von vollständiger Informiertheit, vollständiger Rationalität, perfekter Prognosen und der Eliminierung irreversibler Zeit. Ferner wird das Paradigma der klassischen Mechanik, so wie es in der Ökonomik Anwendungfindet, mit dem Glauben an Wohlfahrt und Gerechtigkeit eines frei funktionsfähigen ökonomischen Systems verknüpft. 68 So behauptet Knight , die statische Ökonomik sei die Erscheinungsform des Gleichgewichtsbegriffs einschließlich der wirkenden Gleichgewichtskräfte, bei der sich die Ökonomen analog der "alten Newtonschen Mechanik" verhalten und sich nicht an "moderneren Theorien" orientieren.69
6 7 6 8
Vgl. ebda. Weisskopf (1979): S. 871 sowie Knight (1956): S. 179. Knight (1956): S. 180.
38
Erster Teil: Genese der Neoklassik
3.2 Entstehung der Neoklassik als Folge der Entwicklung der Physik des neunzehnten Jahrhunderts
(1) Physik als einheitliche Wissenschaft. Im neunzehnten Jahrhundert durch läuft die Physik eine Phase großer konzeptueller Entwicklungen.70 Diese Entwicklung steht im Zusammenhang mit der zunehmenden Dominanz der Quantifizierung und Suche nach mathematischen Gesetzen in den Wissenschaften des späten achtzehnten Jahrhunderts. Sie ist ferner verbunden mit dem Auftreten der Physik als "einheitlicher Wissenschaft". Die Entwicklung der großen physikalischen Konzepte basiert in dieser Zeitphase auch auf dem Programm der mechanistischen Erklärung sowie der Entwicklung der Quanten- und Relativitätstheorie des aufkommenden zwanzigsten Jahrhunderts.71 Der Begriff der Physik trat in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Oberbegriff für die verschiedenen Wissenschaftszweige Mechanik, Akustik, Wärmelehre, Elektrizität und Magnetismus auf. Diese Disziplinen werden auch durch den Begriff der klassischen Physik (Physik vor 1900), im Gegensatz zur modernen Physik, erfaßt. Das zentrale Thema der Entwicklung der Physik des neunzehnten Jahrhunderts ist der Weg, den theoretische Innovationen (Konzepte des physikalischen Feldes, Licht- und Elektromagnetismus, Thermodynamik) gemäß der mechanistischen Sicht von Natur beschritten, wobei die elementare Tatsache der Bewegung die Grundlage der Erklärung aller physikalischen Phänomene war. 72 Während die mechanischen Phänomene der Physik des achtzehnten Jahrhunderts in erster Linie mathematischen Lösungsansätzen zugeführt wurden, setzten Versuche ein, Wärme und Elektrizität allgemein über die Annahme unwägbarer Wärme- und Elektrizitätsflüsse zu erklären. Es handelte sich dabei um spekulative und qualitative Theorien, die ihrem Charakter entsprechend weit von den exakten und quantitativen Konzepten der Physik des achtzehnten Jahrhunderts entfernt waren, obgleich Versuche des mathematischen "handlings " unternommen wurden, Versuche, welche die konzeptuelle Einheit der Physik initiierten. Die Entstehung der Physik als "einheitliches Prinzip" wurde durch vier herausragende Entwicklungen begünstigt.73 1. P. S. de Laplace und seine Nachfolger formulierten eine mathematische Theorie interpartikulärer Kräfte für die Anwendung mechanischer, thermischer und optischer Phänomene. Diese Theorie wurde zwar von neuen Erkenntnissen in der Dekade von 1815-1825 verdrängt, doch hatte die Laplacesche Betonung der Mathematisierung und Formalisierung einer einheitlichen physikalischen 7 0 Das Auftreten der energetischen Physik und Thermodynamik, die Theorie des Lichts und des Elektromagnetismus sowie das Konzept des physikalischen Feldes, die Molekularphysik, die statistische Thermodynamik und die neuen Programme mechanistischer Erklärungsansätze. 7 1
Harmann (1985): Vgl. S. ix.
7 2
Ebda. S. 2
7 3
Vgl. ebda. S. 2 f.
3. Genese der Neoklassik aus der Entwicklung der Naturwissenschaften
39
Weltbetrachtung einen entscheidenden Einfluß auf die folgenden physikalischen Theorien. 2. Die Veröffentlichung einer mathematischen Theorie der Wärme von 7. B. 7. Fourier im Jahre 1822 deutete der Wärmetheorie einen Platz im Gebäude der mathematischen Analyse, welches bis dato lediglich auf mechanische Probleme Anwendung fand. Angesichts der Überbrückung dieser, als konzeptionelle Dichotomie zu bezeichnenden Divergenz mathematischer und physikalischer Darstellung, war Fouriers Werk entscheidend für die Entwicklung der Physik als umfassende Disziplin. Durch Fouriers mathematischen Vergleich der Theorien der Wärme und Elektrostatik entwickelte W. Thomson in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts die mathematischen und physikalischen Analogien zwischen einerseits, den Gesetzen der Wärme und Elektrizität und andererseits, der Mechanik der Teilchen und den flüssigen und elastischen Stoffen. 3. A. 7. Fresnels Wellentheorie des Lichts löste die Newtonsche Korpuskularhypothese ab. Dieser Theorie entstammen eine große Zahl neuer physikalischer und mathematischer Theorien, die versuchten, eine kohärente mechanistische Theorie der Optik zu generieren.74 Die mechanistische Theorie der Optik war ausschlaggebend für ein Paradigma des Programms mechanistischer Erklärung. Fresnels Wellentheorie wurde später von Faraday und Maxwell in die Theorie des allgemeinen Elektromagnetismus eingeschlossen. Und es war H. Hertz, der 1887 die für die elektromagnetische Lichttheorie entscheidenden Experimente durchgeführt hatte, die Anlaß waren, den monokausalen Erklärungsansatz des Lichts über eine Wellentheorie aufzugeben.75 4. Die Formulierung des Gesetzes über die Erhaltung der Energie in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts ist der letzte hier anzuführende Punkt zur Begründung der Physik als "einheitliche Wissenschaft" und stellt gleichzeitig die für uns besonders relevanten Zusammenhänge heraus. Das Energieerhaltungsgesetz ist für die Physik deshalb von so großer Bedeutung, weil es die Phänomene der Wärme, des Lichts, der Elektrizität und des Magnetismus in das Gerüst mechanistischer Prinzipien einfügte. So waren die Experimente von H. C. Oersteed (1820) und von M. Faraday (1831) grundlegend für die Bestimmung des Verhältnisses von elektrischen und magnetischen Kräften, wobei die Begründung der Doktrin der Einheit und Konvertibilität von natürlichen Kräften im Vordergrund stand, eine Idee, die umformuliert zum Prinzip der Erhaltung der Energie führte. 7. P. Joules Experimente bewiesen die Äquivalenz der Energie von Wärme und mechanischer Arbeit und in seinem Essay von 1847 erklärte H v. Helmholtz den Zusammenhang von Mechanik, Wärme, Licht, Elektrizität und Magnetismus durch die Behandlung dieser Phänomene als lediglich distinkte Erscheinungen von Energie.
7 4
Kanitscheider
7 5
Ebda.
(1981): S. 144.
40
Erster Teil: Genese der Neoklassik
R. Clausius stellte 1850 fest, daß Carnots "Theorie der Wärmemaschine" mit der Jouleschen Behauptung (wenn Arbeit durch Wärme erzeugt wird, so wird eine bestimmte Wärmemenge proportional zur Erzeugungsarbeit verbraucht) konsistent ist. Joules Prinzip und Clausius' Umformulierung der Carnotsehen Theorie bildeten schließlich die Grundlage der beiden Hauptsätze der Thermodynamik.76 Helmholtz formulierte das Gesetz der Erhaltung der Energie als mathematisches und mechanistisches Theorem, er betonte dabei die vereinheitlichende Rolle des Energiekonzeptes als Ausdruck der mechanistischen Sichtweise von Natur. Das Gesetz über die Erhaltung der Energie (0.
11. Die Kategorien in Jevons' ökonomischer Theorie
119
ges Ereignis ist mit vollkommener Sicherheit vorhersagbar. Soll jedoch die Zukunft in das Kalkül einbezogen werden, so sieht Jevons die einzige Möglichkeit darin, die quantitative Erfassung eines jeden Gefühls auf die Eintrittswahrscheinlichkeit des Ereignisses zu reduzieren, welches das Gefühl auslöst. Um die "zukünftige GeiiMsmenge" zu berechnen, wird diese Wahrscheinlichkeit mit der gegenwärtigen Gefühlsmenge multipliziert.145
(2) Nutzen. In der o. g. Auffassung über den Endzweck der ökonomischen Rationalität und die ökonomische Problemstellung spiegelt sich Jevons' Definition des Gutes als jegliches Objekt, Substanz, Aktion und Dienstleistung, v denen jedes Freude erzeugen und Leid abwenden kann. 146 Diese Fähigkeit ei Gegenstandes oder einer Handlung Freude zu stiften, verleiht den Gut-Charakter. Die abstrakte Qualität, das "Endprodukt" dieser Fähigkeit, ist der Nutzen. Damit ist Nutzen mit Freude gleichgesetzt, mit der Ausnahme jedoch, daß das, was Freude erzeugen und Leid abwenden kann, nicht unbedingt Nutzen stiften muß. Jevons rezipiert die Definition der Nutzenbegriffe von Say 141 und Bentham 148· Der Nutzenkategorie wird in bezug auf die Stellung zur Theorie des Konsums - wie gleich gezeigt wird - keine inhärente Qualität beigemessen, der Nutzen beschreibt den Umstand der Dinge, der aus ihrem Verhältnis zu den menschlichen Erfordernissen besteht.149 Es wäre daher falsch, die Jevonssche Nutzenkategorie auf einer "Ding/Ding-Ebene" zu behandeln. Der "Umstand der Dinge" ist Ausdruck für die Freude und das Leid und der Nutzen ist das "Verhältnis" verschiedener Menschen zu ganz bestimmten Freuden und Schmerzen. In dem Maße, in dem Jevons die Maximierung von Freude als finalen Zweck des menschlichen Handelns bzw. Wollens darstellt, unterliegen auch die Gegenstände, Aktionen etc. keinerlei geistigen und moralischen Restriktionen. Dies wird auf den Nutzenbegriff übertragen, indem explizit ausgeführt wird, daß die Bedeutung des Nutzenbegriffs nicht durch jedwede moralische Betrachtungen einzuschränken sei. 150 Hier wird Jevons' Stellung zum Verhältnis von Ökonomik und Ethik erneut deutlich: Ethik gehört nicht in die ökonomische Theorie! Alles, was sich der Mensch wünscht, sei es moralisch oder unmoralisch, muß für diesen Menschen - so unterstellt es Jevons - Nutzen stiften. Diese verengte inhaltliche Führung der Nutzenkategorie tritt in dieser Form erstmalig in der ökonomischen Theoriebildung auf und genau an dieser Stelle
1 4 5 Zur Ermittlung von Wahrscheinlichkeiten siehe Jevons (1924): Book I I I ("Methods of Measurement"), pp. 270-398. 1 4 6
Siehe dazu die beiden folgenden Fußnoten.
1 4 7
"... la faculté qu' ont les choses de ponvoir servir à l'homme, de quelque manière que ce soit'.", in: Jevons (1970): Zit. S. 101; Jevons macht hier keine genaue Quellenangabe. 148 "By utility is meant that property in any object, whereby it tends to produce benefit, advantage, pleasure, good or happiness, or to prevent the happening of mischief, pain, evil, or unhappiness to the party whose interest is considered." [Jevons (1970): Zit. S. 102]. 1 4 9
Jevons (1970): S. 105 f.
1 5 0
Vgl. ebda. S. 101.
120
Zweiter Teil: Wissenschaftskonzept und Kategorien der frühen Neoklassik
ist der eigentliche Bruch mit der klassischen Nationalökonomie hin zur Neoklassik getan! Erstaunen lösen die bei Jevons relativ vage gehaltenen Ausführungen über die konkreten Bedürfhisse der Menschen aus. Es gibt keine eigentliche Theorie der Bedürfnisse, nur die Gesetzmäßigkeiten des Konsums und des Nutzens sind von Interesse. Die Nützlichkeit von Gütern, Aktionen usw. wird nicht ausdrücklich an den menschlichen Bedürfhissen verankert, sondern als Freude bzw. Vermeidung von Schmerz, der von diesen Gegenständen und Aktionen ausgeht, definiert. Diese Ungenauigkeit im ersten Glied der Jevonsschen Argumentationskette steht im Gegesatz zur Genauigkeit der Darstellung seiner "Gesetze über das menschliche Wollen" bzw. dem "Gesetz der Veränderung des Nutzens". Im Vergleich zu Gossen wendet Jevons dabei eine weitaus elaboriertere formale Sprache an. Als ein "Gesetz des Nutzens" entdeckte Jevons eine sinkende Nutzenzunahme bei steigender Konsummenge eines Gutes.151 Der Gesamt- oder absolute Nutzen - von Jevons schon formal als Integral des Nutzengrades erkannt nahm natürlich zu. Es handelt sich hierbei um nichts anderes als das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen, das v. Wieser später als "erstes Gossensches Gesetz" bezeichnete.152 Um die "Gesetze des Nutzens" entwickeln zu können, geht Jevons von zwei wesentlichen Annahmen aus: 1. Arbeit ist ausschließlich an Konsumzwecken orientiert (der Mensch arbeitet nur aus einem Grund: er will sich ein bestimmtes Konsumniveau leisten können). 2. Konsumentensouveränität (jeder Produzent ist letztlich von den Nachfragestrukturen - Geschmack, Wünsche etc. - der Konsumenten abhängig und muß sich daher am Konsum orientieren). 11.3 Tausch und Markt (1) Tauschbedingungen. Im methodologischen Abschnitt wurde Jevons' Kardinalziel der Entwicklung einer "zufriedenstellenden" Theorie des Tausches aus den "Gesetzen" über Angebot und Nachfrage herausgestellt. Folgerichtig, auf seiner Theorie des Nutzens aufbauend, unterwirft Jevons die Institution des Tausches dem Ziel der Nutzenmaximierung. Tausch und Handel, bei Jevons quasi synonym verwendet, begreift er als ökonomische Methoden zur Maximierung des Nutzens. Die Nutzenkategorie selbst erfährt innerhalb der Theorie des Tausches eine weitere Einengung. Nutzen kann hier nur durch Güter, Handlungen usw. entstehen, die tauschfähig sind; ferner entsteht Nutzen aus Gütern, die in "ausreichenden Mengen" und zum "richtigen Zeitpunkt" in den Besitz einer Per-
15 1
Jevons meinte hier den Durchschnittsnutzen.
15 2
Stavenhagen (1957): S. 209.
11. Die Kategorien in Jevons' ökonomischer Theorie
121
son gelangen, die diese Güter benötigt. Getauscht werden nur Güter, deren Mengeneinheiten entbehrt werden können, gegen andere Güter, die sich nicht im eigenen Besitz befinden, aber einen höheren Nutzen als das eigene Gut stiften. 153 Der Tausch der Produktionsfaktoren Arbeit und Boden ist hier eingeschlossen. Bevor wir mit der Theorie des Tausches fortfahren, muß die Kategorie des Marktes erklärt werden. Ein Markt besteht bei Jevons aus einer gewissen Anzahl beliebiger Personen und Gegenstände, wobei die Personen in engen Geschäftsbeziehungen zueinander stehen und Warentransaktionen unternehmen.154 Das wesentliche Merkmal des Marktes ist der öffentliche Tausch. 155 Märkte müssen nicht unbedingt als Lokalitäten definiert werden; so können Märkte durch Telegrafenleitungen entstehen oder sich innerhalb bestimmter Handelszweige herausbilden. Eine wichtige Rolle beim nicht-lokalen Markt spielt der Informationsaustausch, was insbes. für den Geldmarkt wichtig ist, da Geld überall geliehen und verliehen werden kann. Unter einem Markt versteht Jevons dann mehrere Güter, von denen die Bestände und vor allem die Tauschabsichten ihrer Besitzer allen Wirtschaftssubjekten bekannt sind. Ebenso wichtig ist es, daß zwischen beliebigen Paaren (Tauschpartnern) vollständige Kenntnis über die Tauschverhältnisse (-relationen) vorliegt. Herausgestellt seien einmal explizit die einzelnen (Rahmen-) Bedingungen, unter denen in der Jevonsschen Tauschtheorie der Tausch vollzogen werden sollte: 1. Vollständige Informiertheit: Unbekannte Vorräte sowie Personen, denen eines der Tauschverhältnisse nicht bekannt ist, werden vom Markt ausgeschlossen. Ferner kann das Verschweigen von Informationen nur Spekulanten Vorteile bringen und zu Preisschwankungen führen. Dadurch würde die Wohlfahrt von Millionen eingeschränkt. Hieraus ergibt sich der zweite Punkt, die 2. Beachtung ökonomischer Interessen der Gesellschaft als solcher. 3. Methodologischer Individualismus: Jedes Individuum muß im Tausch nur seinen privaten Interessen und Erfordernissen folgen und seinen größten Vorteil suchen. 4. Freie Konkurrenz bildet den institutionellen
Rahmen des Tausches.
5. Ausschluß strategischen Verhaltens: Jevons spricht vom Ausschluß kon spirativen Verhaltens (ζ. B. das Zurückhalten bestimmter Waren zum Zweck der Erzeugung künstlicher Knappheiten, um hohe Preise realisieren zu können). Im krassen Widerspruch stehen besonders die Bedingungen drei und fünf. Wenn ein Individuum seine subjektiven Ziele verfolgt, so kann dies gerade stra15 3
Jevons (1970): Vgl. S. 126 ff.
1 5 4
Ebda. S. 132.
1 5 5
Ebda.
122
Zweiter Teil: Wissenschaftskonzept und Kategorien der frühen Neoklassik
tegisches Verhalten beinhalten. Dieser modellinhärente Widerspruch wurde von Jevons nicht entdeckt Weiterhin ist der Wohlfahrtsbegriff (welfare) nicht spezifiziert. Jevons gestand aber ein, daß die getroffenen Annahmen in der Realität nicht annähernd vorzufinden sind. 156 Der Fall der imperfekten Konkurrenz wurde von Jevons noch nicht in Betracht gezogen.157 Soweit wäre der Rahmen einer Tauschtheorie abgesteckt. Jevons wollte jedoch eine Analyse in Form der "mathematischen Methode" vornehmen; dazu waren noch einige zusätzliche Annahmen notwendig, deren wichtigste hier genannt sind:158 6. Homogenität der Güter: Nur Güter die absolut identisch sind, können auch exakt in demselben Verhältnis getauscht werden. Eine marginale Qualitätsverschiebung würde eine Änderung bei den geäußerten Präferenzen auslösen. Die Annahme der Homogenität erklärt auch den Umstand, daß im gleichen offenen Markt in jedem Moment niemals zwei gleiche Artikel einen unterschiedlichen Preis aufweisen können (seif evident principle ).
7. Ausschluß von Zeit/unendlich schnelle Preisanpassung: Das Gesetz de differenz besagt, daß ein Käufer zwei identischen Gütern absolut indifferent gegenübersteht. Wird der Tauschakt an einem Gut realisiert, so wird in der nächsten Sekunde eine Änderung des Tauschverhältnisses stattfinden (der Preis des verkauften Gutes wird steigen, da es kanpper geworden ist). 8. Statik: Jevons untersuchte das Verhältnis von Statik und Dynamik. In der Realität finden dynamische Prozesse statt und eine perfekte Beschreibung dieser Prozesse kann nur dynamisch erfolgen. Trotzdem gelangte Jevons zu der Einsicht, daß man sich nicht mit schwierigen (dynamischen) Problemen auseinandersetzen sollte, wenn das einfache (statische) Problem kaum lösbar ist. Für die statische Betrachtungsweise spricht das Argument, daß Warenbesitzer nur dann (die "optimalen" Mengen) tauschen, wenn sie sich im Gleichgewicht befinden.
9. Trading Body: Jevons' methodisches Ziel war die Anwendung der "mathematischen Methode" in Form der "Analyse der 'letzten aggregierten Einheit"', also der "marginalen Analyse". Er war sich dabei der Sinnlosigkeit voll bewußt, den Wirtschaftssubjekten marginales Verhalten bezüglich ihrer geäußerten Mengen und damit auch vollständige Teilbarkeit aller Güter zu unterstellen. Um das Problem des marginalen Verhaltens und der damit verbundenen vollständigen Teilbarkeit in bezug auf die empirische Relevanz zu lösen, bediente sich Jevons des Konstrukts des sog. trading bodys. Der trading body kann im Extremfall aus einer Person bestehen; i. d. R. handelt es sich aber um sämtliche in einer Volkswirtschaft existierenden Hersteller eines bestimmten Gutes (ζ. B. alle englischen Farmer, die Weizen produzieren). Treten nun internationale VerschieAls Ausnahmebeispiel nennt Jevons die Aktienbörse, bei der tatsächlich ein den Bedingungen genügender Tausch stattfindet. 15 7
Stigler (1957): Vgl. dazu S. 245.
1 5 8
Auf "technische" Details wird verzichtet.
11. Die Kategorien in Jevons' ökonomischer Theorie
123
bungen im Preisgefüge auf, so läßt sich feststellen, inwieweit die Mengen in den einzelnen Ländern reagieren. Dies ist parallel auf einzelne Landstriche, Städte usw. übertragbar. Der trading body ist demnach eine Zusammenfassung bestimmter Käufer oder Verkäufer und gleichzeitig eine Abstraktion vom Verhalten des einzelnen Wirtschaftssubjektes. Die "Verhaltensgesetze" sind die gleichen. Der trading body wird bei Jevons "personifiziert", indem er menschliches Handeln idealisiert wiedergibt; der trading body ist nahe verwand dem idealisierten Individuum der modernen MikroÖkonomik. Edgeworth hatte am Konzept des trading body s harte Kritik geübt 159 Er war der Meinung, daß eine abstrakte Zahl bestimmter Wirtschaftssubjekte - ein trading body - als ein Objekt betrachtet werden müßte, welches kein menschliches Verhalten an den Tag legen kann oder anders ausgedrückt: die Gesetze des Marktes, die für den einzelnen gelten, müssen für den trading body keine Gültigkeit in Anspruch nehmen. In diesem Zusammenhang kritisierte Edgeworth auch die Übertragbarkeit der Tauschgleichungen einer Zwei-Personen-Ökonomie in eine allgemeine (n-Personen-) Ökonomie. Auch Walras kritisierte Jevons' Konzept des trading body s, da es sich hierbei um ein von der Realität abgehobenes Konstrukt handelt, welches bezüglich der Realität nur eine fiktive Bedeutung hat. 160 Durch die Verwendung von Preisen, die ja durchaus das Stetigkeitserfordernis erfüllen, glaubte Walras, das Problem des trading bodys gelöst zu haben. (2) Gleichgewicht. Nehmen wir an es gibt zwei trading bodys: A und B. Der eine (A) verfügt ζ. B. nur über Korn und der andere (B) nur über Fleisch. Durch Tausch könnten beide trading bodys ihren Nutzen erhöhen. Wie müssen A und Β tauschen, damit die Nutzen beider möglichst groß werden? Die Antwort muß beide Verhältnisse, die von Fleisch zu Korn sowie die der jeweiligen Nutzengrade, betreffen. Sei das Tauschverhältnis zehn Pfund Korn für ein Pfund Fleisch. Der trading body , der das Korn besitzt, wird einen Tausch begrüßen, da ein Pfund Korn nur ein Zehntel des Wertes eines Pfundes Fleisch besitzt. Würde der Fleischbesitzer gerne Korn haben, so wird ein Tausch beginnen und solange fortgesetzt, bis jede Partei den Nutzen erzielt hat, der für sie möglich ist. Ein Tausch über diesen Punkt hinaus hätte wiederum Nutzeneinbußen zur Folge. Im nutzenmaximalen Punkt besteht keine Veranlaßung mehr zu weiterem Tausch; hier ist das Gleichgewicht erreicht. 161 Im Gleichgewicht sind deshalb die realisierbaren Nutzenmaxima erreicht, weil ein infinitesimaler Tausch weder einen Nutzengewinn noch einen Nutzenverlust einbringen würde. 162 M. a. W.: Wenn die Waren zu dem entstandenen Verhältnis getauscht werden, so werden ihre Grenznutzen für beide Parteien gleich sein. Auf die graphische und algebraische Herleitung sei hier verzichtet Es soll nur noch soviel gesagt werden, daß Jevons' Gleichungssystem hinrei15 9
Edgeworth
16 0
Walras (1977): S. 206.
161
Jevons (1970): S. 140.
1 6 2
Ebda.
(1967): S. 31, S. 109 und S. 151 f.
124
Zweiter Teil: Wissenschaftskonzept und Kategorien der frühen Neoklassik
chend für die Lösung der (Mengen-) Variablen ist. Jevons 1 Theorie des Tausches führt im Ergebnis also zu dem, was gemeinhin als "zweites Gossensches Gesetz" bekannt ist. 163
Sofern die Funktionen des Nutzens bekannt (bestimmt) sind, können Nutzen in reine Mengengrößen umgewandelt werden. Die Theorie des Tausches ist dann mit den "Gesetzen" von Angebot und Nachfrage konsistent. Jevons' Gleichungen stellen die "Gesetze" von Angebot und Nachfrage dar, die nichts anderes als die Ergebnisse dessen sind, was er als "wahre" Theorie des Tausches bezeichnet. Das Problem liegt in der Bestimmung der Nutzenfunktionen; sie sind nicht bekannt. 11.4 Modernität der Vergangenheit Jevons hatte bereits erkannt, daß die Durchführung einer jeglichen Transaktion Kosten verursacht. Besonders Beförderungs- und Transportkosten stellte er als diejenigen Kostenarten heraus, die oftmals über die Realisierung eines Tauschaktes entscheiden. Zusätzlich entstehen auch Lasten in Form von Gebühren, Beiträgen, Zöllen etc., die für Außenhandelsgeschäfte von großer Bedeutung sind. Diese Kosten verändern das Tauschverhältnis. Jevons bezog diese Kosten in sein Gleichungssystem als proportionalen Faktor der Warenmengen mit ein. Die Kosten werden in Mengeneinheiten transformiert, was bei Akzeptanz eines Geldsystems nicht schwierig ist. Problematisch erscheint allerdings die Messung der Kosten als proportionalen Faktor. Als fortgeschritten läßt sich auch Jevons' Konstruktion der negativen Werte bezeichnen. Mit negativen Werten umschreibt er in etwa das, was heutzutage unter dem Begriff externe Effekte zusammengefaßt wird. Bspw. führt er an, daß Haushaltsmüll Kosten für das Abfahren und Deponieren desselben verursacht; die Erdmassen, welche beim Abbau von Kohle anfallen, gesondert gelagert werden müssen oder Regenfälle bis zu einem gewissen Grade für den Pflanzenwuchs und organisches Leben schlechthin, essentiell sind, ab einer bestimmten Menge (Überschwemmungen) aber Leben vernichten können. Derartige Betrachtungen behandelt Jevons theoretisch, indem er Disnutzen zuordnet, d. h., ab einer bestimmten Menge die Nutzen mit einem negativen Vorzeichen versieht. Wenn die genannten Bedingungen für ein Zustandekommen von Tausch in der Jevonsschen Theorie als unrealistisch erkannt wurden und Externalitäten die Tauschergebnisse verzerren, welche Berechtigung hätte dann die theoretische Arbeit eines Ökonomen? Die Antwort, die Jevons gibt, ist verblüffend. Damit die Ökonomen frei von derartigen Schwierigkeiten arbeiten können, modellhaft also ihre Gedanken zu 1 6 3
Zur Tauschgleichung siehe Abschnitt 3.2 im ersten Teil dieser Arbeit.
12. Das Wissenschaftskonzept von C. Menger
125
Ende denken können, ist die Unterscheidung von Theorie und Anwendung der Theorie von größter Wichtigkeit. Erstere setzt immer eine Vereinfachung der Wirklichkeit und das Erkennen struktureller Merkmale (wie ζ. B. die Gesetze von Angebot und Nachfrage) voraus (kumulatives Wissenschaftsprinzip h Jevons bekannte sich zu dieser "reinen" Theorie. Neben der Bestimmung des Wertes ist diese strikte methodologische Differenzierung von "reiner" Theorie und deren Anwendung ein weiteres wesentliches Unterscheidungsmerkmal von klassischer und neoklassischer Ökonomik.
12. Das Wissenschaftskonzept von C. Menger 164 72.7 Ausgangsproblem, Gegenstand und Wissenschaftseinteilung (1) Ausgangsproblem. Menger sah das grundlegende wissenschaftstheoretische Problem seiner Zeit in der Unkenntnis der Wirtschaftswissenschaftler bezüglich der Ziele ihrer eigenen Forschung.165 Diese Sicht Mengers ist darauf zurückzuführen, daß weite Bereiche der damaligen Wirtschaftswissenschaften, zumindest was den deutschsprachigen Raum anging, empirische Verfahren und induktives Schließen als die dem Wissenschaftsgegenstand angemessensten Methoden erachteten. Entsprechend weit verbreitet waren die hierauf aufbauenden Forschungsrichtungen. Für Menger stellte sich dies jedoch als ungerechtfertigte und einseitige Herausstellung einzelner Methoden unter Vernachlässigung der Diskussion um wissenschaftliche Ziele dar. Seiner Meinung nach müssen die Methoden der Wissenschaft generell den Zielen untergeordnet werden und unterschiedliche Zielsetzungen erfordern unterschiedliche Methoden. D. h., es kann nicht die Methode der Politischen Ökonomik geben.166 Sind die Ziele einer Wissenschaft unbekannt, so hält Menger die Methodenforschung für wenig erfolgversprechend; dies gilt umso mehr, wenn die Forschung (a) von falschen methodischen Grundsätzen geleitet wird und (b) diese den Wissenschaftsbetrieb dominieren und alle anderen Richtungen grundsätzlich negieren.167 Menger Carl Menger (1840-1921) war gelernter und promovierter Jurist Er arbeitete nach seinem Studium zunächst als Redakteur bei verschiedenen österreichischen Zeitungen, u. a. auch in der Presseabteilung des österreichischen Ministerialpräsidiums. Zu seiner Tätigkeit als Redakteur gehörte die systematische Analyse von Marktsituationen und Veröffentlichung ihrer Ergebnisse. Beim Studium der Marktberichte stellte Menger starke Differenzen zwischen traditionellen Preistheorien und vielen von Praktikern aufgestellten Thesen über das Zustandekommen von Preisen fest. Diese Diskrepanz führte Menger auf den damals gegenwärtigen Stand der Wirtschaftswissenschaften zurück, genauer: auf den schlechten Kenntnisstand über die empirischen Grundlagen der Volkswirtschaftslehre [v. Wieser (1923): S. 89]. Auf alle Fälle gewann Menger aus diesen Umständen Anregungen für ein intensives Studium der Preisbestimmungsproblematik. 1 6 5
Menger (1969): S. V.
1 6 6
Vgl. ebda. S. VI.
1 6 7
Vgl. ebda. S. X K .
126
Zweiter Teil: Wissenschaftskonzept und Kategorien der frühen Neoklassik
spielt hier direkt auf die "deutsche Nationalökonomie" (die Historische Schule) an. Zu (a): G. Schmoller, der Hauptvertreter der (jüngeren) Historischen Schule, glaubte, mittels Beobachtung und genauer Beschreibungen zu strengen und exakten Gesetzmäßigkeiten zu gelangen. Er ging ferner davon aus, daß von einer einmal beobachteten Folge eines Ereignisablaufs, qua "Denkgesetz", auf eine Wiederholung geschlossen werden könne.168 Mithilfe einer Hypothese allerdings, sei - so Schmoller - nur die Aufstellung hypothetischer Sätze möglich, deren "exakte und strenge Wissenschaftlichkeit" purer Schein seien.169 Gegen diese Vorstellung und gegen die einseitige Betonung der Geschichtswissenschaft, Statistik und die Verwendung der induktiven Methode wandte sich Menger} 10 In Anspielung auf die Historische Schule schreibt er: " W i e fremde Eroberer haben die Historiker den Boden unserer Wissenschaft betreten, um uns ihre Sprache und ihre Gewohnheiten - ihre Terminologie und ihre M e thode - aufzudrängen, jede ihrer Eigenart nicht entsprechenden Richtung der Forschung unduldsam zu b e k ä m p f e n " . 1 7 1
Zu (b): G. Schmoller war zu seiner Zeit einer der einflußreichsten deutschen Hochschullehrer. Er erklärte die Lehre Mengers von vornherein für ungeeignet und machte seinen Einfluß geltend, daß kein Anhänger der Mengerschen Position eine Hochschullehrerposition an einer deutschen Universität einnehmen konnte.172 Dies führte Deutschlands ökonomische Theorie, nach Schumpeter s Ansicht, für viele Jahrzehnte in die Rückständigkeit.173 Die Haltung Schmollers gegenüber der österreichischen Lehre kommt sehr deutlich im folgenden Zitat zum Ausdruck.174 Schmoller betont darin, daß nur die Historische Schule den Umschwung (er meint damit die Ablösung der klassischen Lehre) bewältigen könne: "Nicht die Fortsetzung dieser der geistigen Schwindsucht verfallenen Richtung (die Lehre Mengers; H. F . ) konnte helfen, sondern ein Umschwung, der zunächst die Dinge von ganz anderer Seite zu fassen s u c h t e " . 1 7 5
16 8
Schmoller (1883): Vgl. S. 242.
1 6 9
Vgl. ebda. S. 243.
17 0
Sax (1884): S. 32.
17 1
Menger (1966): Zit. S. V.
1 7 2
v. Hayek (1934): S. X X I I .
17 3
Schumpeter (1916/17): S. 3.
1 7 4 Zur gleichen Zeit als die theoretische Nationalökonomie in Deutschland von der Vertretern der "jüngeren Historischen Schule" unter Führung von Gustav Schmoller von den Hochschulen "verbannt" wurde und der die klassische Tradition immer bewahrende "Volkswirtschaftliche Kongreß" durch den neugegründeten "Verein für Socialpolitik" abgelöst wurde, formierte sich um Menger die sogenannte "österreichische Schule". Neben Menger gehören zu den frühen Mitgliedern Emil Sax, Johann v. Komorzynski und schließlich Mengers Schüler Friedrich v. Wieser, Eugen v. Böhm-Bawerk, Robert Meyer, H. v. Schullern-Schrattenhofen, Richard Reisch, Richard Schüller u. a. 17 5
Schmoller (1883): Z i t S. 242.
12. Das Wissenschaftskonzept von C. Menger
127
(2) Realitätsbegriff, Untersuchungsgegenstand und Wissenschaftsein Menger unterteilt die empirische Realität (Welt der Erscheinungen) in zwei Kategorien; Unterscheidungsmerkmal ist die Betrachtungsweise:17" 1. Untersuchung des Individuellen (Betrachtung der konkreten Phänomene in ihrer Stellung in Raum und Zeit und in ihren Beziehungen zueinander). 2. Untersuchung des Generellen (Wiederkehrende Erscheinungsformen des "Wechsels" konkreter Phänomene). Die Untersuchung des (bzw. das Erkenntnisstreben nach dem) Individuellen sieht Menger mit Bezug auf das praktische Leben als offensichtlich an; die Erkenntnissuche nach allgemeinen Zusammenhängen wird dagegen als indirekter Prozeß begriffen, da zuerst einmal erkannt sein muß, daß sich bestimmte Erscheinungsformen mit einer mehr oder weniger großen Genauigkeit immer wiederholen. Diesen Erscheinungsformen ordnet Menger den Begriff Typen zu; 1 7 7 die Regelmäßigkeit solcher Typen nennt er "typische Relationen" oder "Gesetze der Erscheinungen".178 Für den Bereich der Volkswirtschaftslehre (Politische Ökonomik)179 unterscheidet Menger gemäß der obigen Klassifikation drei Wissenschaftstypen:
180
1. Die historischen Wissenschaften (Geschichte und Statistik). 2. Die theoretische Nationalökonomie (realistisch-empirische und exakte Richtung). 3. Die praktischen Wissenschaften oder die sog. "Kunstlehren" (Volkswirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft). Aufgabe der historischen Wissenschaften ist (a) die Erforschung der Quellen der Wirtschaftsgeschichte und die Aufarbeitung des historisch gegebenen Datenmaterials, (b) die Kritik dieser Quellen und (c) die Darstellung der Emergenz der "ökonomischen Kollektivphänomene" aus dem gewonnen historischen Material.181 Die theoretische Nationalökonomie soll das generelle Wesen und die generellen Zusammenhänge (die Gesetze) der volkswirtschaftlichen Erscheinungen untersuchen.182 Den praktischen Wissenschaften wird die Aufgabe zugedacht, die Grundsätze des zweckmäßigen Handelns zu erforschen und aufzustellen. 183 Obwohl Menger in einem Entwurf einer Gliederung für ein vierbändiges Werk
17 6
Menger (1969): S. 3.
177
Ebda. S. 4.
1 7 8
Ebda. S. 12.
1 7 9
Ebda. S. 10.
1 8 0 Ebda. S. 8. Ausführlich in: Menger (1889), in: Ders. (1970): S. 189 ff. und in: Ders. (1969): S. 252 (im Anhang IV). 181
Menger (1969): S. 8, Fn. 6.
1 8 2
Ebda. S. 9.
1 8 3
Ebda.
128
Zweiter Teil: Wissenschaftskonzept und Kategorien der frühen Neoklassik
zur Nationalökonomie einen Teil für technische Fragen der Produktion, des Handels und sozialer Reformvorschläge, kurz, einen "praktischen Teil" vorgesehen hatte, wurde dieser Plan nie verwirklicht. Es gibt keine "praktische Volkswirtschaftslehre" von Menger. m 12.2 Die theoretische Forschung der Volkswirtschaftslehre
(1) Systematische Ordnung und das Problem. Die Akzentuierung der Relevanz der theoretischen Forschung ist Mengers primäres Anliegen und die strenge Kritik am historischen Erkennen empirischer Phänomene (als vordringlichstes methodisches Verfahren) ist aufgrund der zu Mengers Lebzeiten allzu starken Gegenwärtigkeit dieser Richtung verständlich. Die Fairness, die Menger in seinen "Untersuchungen" dennoch der historischen Richtung entgegenbringt, drückt sich in dem Bemühen aus, alle Ansätze, den historischen wie auch den theoretischen Ansatz, unbefangen darzustellen.185 Betrachten wir die theoretische Forschung genauer. Theoretische Forschung kann in zwei Richtungen betrieben werden: als sog. "realistisch-empirische Forschung" oder als "exakte Forschung". Beide Theorien unterscheiden sich hinsichtlich der Natur ihrer "formalen Wahrheiten", sind aber nicht widersprüchlich. 186 Der Zweck beider Richtungen hegt in dem Verständnis einer über die unmittelbare Erfahrung hinausgehenden Erkenntnis der realen Welt. Erscheinungen werden durch Theorien eikannt, indem sich der Betrachter konkrete Beispiele als Formen allgemeiner Regelmäßigkeiten bewußt werden läßt. 187 Die theoretische Forschung sieht sich dabei grundsätzlich mit zwei Problemen konfrontiert: 188 1. Darstellung der Gesetze in ihrer "vollen empirischen Wirklichkeit" äquivalent dazu: die Ordnung der "Gesamtheit aller realen Erscheinungen in bestimmten Erscheinungsformen und die Ermitüung der Regelmäßigkeiten in der Koexistenz und Aufeinanderfolge auf empirischem Weg".189
oder
2. Die Feststellung der typischen Relationen, der Gesetze der Erscheinungen. (2) Die realistisch-empirische Richtung theoretischer Forschung. Das ben der Ökonomen, die empirische Erscheinungswelt möglichst vollständig zu erfassen, hat - nach Ansicht Mengers -, die "realistisch-empirische Richtung der theoretischen Forschung" überhaupt erst auf den Plan gerufen. Methoden der realistisch-empirischen Forschung sind die statistische, die historisch-philoso-
1 8 4
Boos (1986): S. 145.
18 5
Sax (1884): S. 32.
18 6
Menger (1887): S. 26, Fn. 4 oder in: Ders. (1970): S. 126, Fn. 4.
18 7
Ders. (1969): S. 33.
1 8 8
Ebda. S. 34 f.
1 8 9
Vgl. ebda. S. 34.
12. Das Wissenschaftskonzept von C. Menger
129
phische und die anatomistisch-physiologische Methode.190 Die realistisch-empirische Richtung ist nicht in der Lage, die beiden o. g. Probleme angemessen zu lösen. Eine Einteilung in "strenge Typen" (Wiederholungen ohne Ausnahmen) kann auf empirischem Weg niemals erreicht werden, denn selbst im Fall des logischen Minimalerfordemisses (bei zwei konkreten Phänomenen) ist keine vollständige Übereinstimmung gegeben.191 Ebenso versagt die realistisch-empirische Methode bei dem zweiten Problem, denn strenge (exakte) Gesetze der Erscheinungen können niemals - und wären die Ergebnisse exakter Forschung auch sehr genau - ein exaktes Abbild der Wirklichkeit liefern. Lediglich zu zwei wissenschaftlichen Erkenntnisformen kann die realistisch-empirische Richtung beitragen:192 1. Der Ermittlung von Realtypen; das sind Grundformen realer Erscheinungen, die grundsätzlich Ausnahmen zulassen, das gilt auch für die Entwicklung von Phänomenen. 2. Der Ermittlung empirischer Gesetze; hierbei handelt es sich um theoretische Erkenntnisse, welche die faktischen (Ausnahmen einschließenden) "Regelmäßigkeiten in der Aufeinanderfolge und der Koexistenz der realen Phänomene" bewußt machen. Daß die realistisch-empirische Richtung der theoretischen Forschung die Möglichkeit zur strengen (exakten) theoretischen Erkenntnisgewinnung ausschließt, stellt Menger für alle Bereiche der Erfahrungswelt fest, dies gilt insbes. für die ethischen und naturwissenschaftlichen Bereiche.193
(3) Die exakte Richtung der theoretischen Forschung. Ziel der zweiten Ri tung der theoretischen Forschung, der exakten Forschung, ist die Aufstellung von strengen (exakten) Gesetzen der Erscheinungen, also Gesetzen, die für alle lebensweltlichen Bereiche und ohne Ausnahmen gelten.194 Die einzige Erkenntnisregel für die Erforschung theoretischer "Wahrheiten", welche über Denkgesetze und nicht über die Empirie erreichbar sind, lautet: "... was immer auch nur in einem Falle beobachtet wurde, unter genau den nämlichen thatsächlichen Bedingungen stets wieder zur Erscheinung gelangen müsse
1 9 0
Ebda. Anhang IV, insbes. S. 254 f.
191
Ebda. S. 35.
1 9 2
Ebda. S. 36.
1 9 3
Ebda. S. 37.
1 9 4 Exakte Gesetze und Naturgesetze werden bei M enger begrifflich getrennt; so gibt es bspw. Naturwissenschaften, welche keine exakten Wissenschaften sind (Physiologie, Meteorologie usw.) und umgekehrt gibt es exakte Wissenschaften, die keine Naturwissenschaften sind (z. B. die reine Nationalökonomie). Daher ist es auch falsch, generell von der naturwissenschaftlichen Methode in den Sozialwissenschaften und insbes. in der theoretischen Nationalökonomie zu sprechen. Denn die Methode der theoretischen Nationalökonomie kann entweder empirisch oder exakt, niemals aber "naturwissenschaftlich" sein [Menger (1969): Vgl. S. 38 f., Fn. 18]. 195
Menger (1969): Zit. S. 40.
9 Frambach
130
Zweiter Teil: Wissenschaftskonzept und Kategorien der frühen Neoklassik
Die Methode, die Menger zur Aufstellung exakter Gesetze heranzieht, beschreibt er als "Ergriindung der einfachsten Elemente alles Realen".196 In der Hervorhebung der exakten Richtung theoretischer Forschung erkennt Hutchison die anti-nominalistische oder methodologisch-essentialistische Konzeption der Mengerschen ökonomischen Theorie197 (damit greift Hutchison auf das Poppersche Klassifikationsschema von Nominalismus/Essentialismus zurück). 198 Der Begriff des exakten Gesetzes ist dabei unfalsifizieibar, da Ausnahmen oder selbst ein anderes, als in den Bahnen der exakten Gesetze ablaufendes Denken, nicht zugelassen ist. 199 Auf diese Weise wird auch das zweite Problem der theoretischen Forschung (Determinierung der ausnahmelosen Gesetze) gelöst. Aufgrund der Unmöglichkeit der gesetzmäßigen Erfassung der vollen empirischen Wirklichkeit, befaßt sich die exakte Forschung nicht mit der Frage des Ablaufs realer Phänomene, sondern mit den eher "unempirischen" Elementen der realen Welt: nämlich der Untersuchung des Wesentlichen, des Einfachsten. "Hypothetische Isolierung" der wirtschafüichen Erscheinungen oder auch "Isolierungs-Methode" nennt Dietzel dieses Verfahren zur Aufstellung von Sätzen, aus denen deduziert werden kann. 200 Je nachdem, von welchem Standpunkt ein Phänomen betrachtet wird, können sich allerdings verschiedene Gesetze ergeben, die jeweils nur eine Seite der empirischen Wirklichkeit "abstrakt" beschreiben; so bilden sich unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen der theoretischen Forschung. Als "hervorragendes" Beispiel der exakten Forschungsweise führt Menger seltsamerweise die Forschung auf dem "Gebiet der ethischen Erscheinungen" an. 201
(4) Voraussetzungen der theoretischen Nationalökonomie. Das Dogma v Eigennutz besagt, daß Menschen im Hinblick auf ihre wirtschaftliche Tätigkeit, ausschließlich von ihren individuellen Interessen geleitet werden. Die Vertreter der Historischen Schule anerkennen, neben dem Eigennutz als vielleicht hauptsächlicher Triebfeder menschlichen Wirtschaftens, die Motive Gemeinsinn, Nächstenliebe, Sitte usf. Nach Ansicht Mengers werfen sie den Ökonomen vor, die nicht auf diese Motive zurückgreifen, unempirisch und unwahr zu verfahren und mit von Zeit und Raum losgelösten Gesetzen zu operieren. 202 Menger polemisiert gegen die Historische Schule, "sie habe noch ein weiteres wichtiges Moment (bei der Aufreihung der Handlungsmotive; H. F.) unbe1 9 6 Ebda. S. 41. Auf der S. 45 bezeichnet Menger die Aufgabe der exakten Richtung der theoretischen Forschung als "Vermittlung der Gesetze, der elementarsten Faktoren der menschlichen Wirtschaft". 197
Hutchison (1973): S. 17.
19 8
Popper (1980): S. 59.
1 9 9
Hutchison (1973): S. 19.
2 0 0
Dietzel (1985): S. 109.
2 0 1
Menger (1969): S. 42.
2 0 2
Schmoller (1875): S. 42 (Über einige Grundfragen, Jena); hier entnommen aus Menger (1969): Vgl. S. 73.
13. Mengers ökonomische Kategorien
131
rücksichigt gelassen: den Irrtum". 203 Natürlich - so sieht Menger ein - ist menschliches Handeln von den von Schmoller aufgezählten Modven beeinflußt, und alleine die Berücksichtigung der menschlichen Irrtumsfähigkeit in der reinen theoretischen Nationalökonomie ist ausreichend, um die Gültigkeit des reinen Egoismusprinzips ad absurdum zu führen; dies würde durch die Inbezugnahme der anderen Motive noch verstärkt. Jetzt nennt Menger explizit die Voraussetzungen der strengen Gesetzmässigkeit wirtschaftlicher Erscheinungen und damit die Voraussetzungen der theoretischen Nationalökonomie: 204 1. Das "Dogma vom stets gleichbleibenden Eigennutz". 2. Das "Dogma von der Unfehlbarkeit und Allwissenheit der Menschen in wirtschaftlichen Dingen". Das Dogma vom Eigennutz und der "vollkommenen Informiertheit und Rationalität" gilt ausschließlich für den Bereich der exakten Richtung der theoretischen Nationalökonomie, denn hier geht es darum, die "Erscheinungen auf Äusserungen der ursprünglichsten und allgemeinsten Kräfte und Triebe der Menschennatur zurückzuführen und darauf zu untersuchen, zu welchen Gestaltungen das freie und durch andere Faktoren (insbes. auch durch Irrtum, durch Unkenntnis der Sachlage und durch äußeren Zwang) unbeeinflußte Spiel jeder einzelnen Grundtendenz der Menschennatur führt". 205 Hieraus könnten, nach Ansicht Mengers, eine Reihe von Sozialtheorien entstehen.
13. Mengers ökonomische Kategorien 13.1 ökonomiebegriff
und die Kategorien unter dem Kausalgesetz
(1) ökonomiebegriff. Wirtschaft ist die vorsorgliche Tätigkeit des Menschen, den Güterbedarf zu sichern.206Die Aufgabe der exakten theoretischen Forschung sah Menger in der Erforschung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten der elementarsten Faktoren der menschlichen Wirtschaft. Den Zusammenhang von Gesetzesund Ökonomiebegriff führt er nun näher aus, indem Ausgangspunkt (Ursache) und Endziel (Zweck) des menschlichen Wirtschaftens betrachtet werden. Der Ausgangspunkt und das Endziel des menschlichen Wirtschaftens sind, aus Sicht Mengers, beide "streng determiniert".207 Der Ausgangspunkt der menschlichen Wirtschaft entspringt aus den, den Individuen unmittelbar zur Verfügung ste2 0 3
Menger (1968): Vgl. S. 72 f.
2 0 4
Vgl. ebda. S. 74.
2 0 5
Vgl. ebda. S. 77.
2 0 6
Menger (1968): S. 44 und Anhang I (Über das Wesen der Volkswirtschaft), S. 232-237.
2 0 7
Menger (1968): S. 262 (Anhang VI, "Dass der Ausgangspunkt und der Zielpunkt aller menschlichen Wirtschaft streng determiniert seien"). 9*
132
Zweiter Teil: Wissenschaftskonzept und Kategorien der frühen Neoklassik
henden Gütern. Der Endpunkt jeglichen Wirtschaftens liegt in der Deckung des unmittelbaren Güterbedarfs und der Sicherstellung der Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse. Die Aufgabe der exakten Theorie kann jetzt als Beantwortung der Frage aufgefaßt werden, wie der Weg vom determinierten Ausgangs- zum festgelegten Zielpunkt möglichst zweckmäßig (wirtschaftlich) erreicht werden kann. Der praktischen Ökonomik, die der "Leitposition" der exakten Theorie folgt, ist der Ausgangspunkt durch die bestehenden sozioökonomischen Bedingungen vorgegeben, die wirtschaftspolitischen Ziele werden durch gesellschaftliche Entscheidungen bestimmt.208 Indem grundsätzlich Ausgangs- und Zielpunkte fixiert sind und exakte Theorie sich in Form der Aufstellung rationaler Gesetze der "Wirtschaftlichkeit" nur auf den "Zwischenbereich" bezieht, ohne dabei Werturteile abzugeben, vor allem aber die Ziele "unangetastet" läßt, sieht Menger für die exakte Theorie Wertfreiheit als gegeben an. 209 Mengers Theorie ist allerdings selbst nicht frei von normativen Aussagen. So unterliegt bspw. seiner Unterscheidung von "wahren" und "eingebildeten" Güter 210 ein Werturteil, denn Menger vermag kein wissenschafüich akzeptables Kriterium für die Unterscheidung zu liefern. Ζ. B. lehnt er Kultgegenstände heidnischer Völker als "eingebildet" ab.
(2) Bedürfnisbefriedigung, Gut und Ware. Nach Menger stehen alle Dinge ter dem "Gesetz von Ursache und Wirkung", also dem Kausalgesetz.211 Die Existenz des Kausalgesetzes wird schon alleine mit dem Hinweis auf den permanenten Übergangszustand begründet, in dem sich alle Individuen und Phänomene ständig befinden. Ein solcher Zustandswechsel ist selbst auch immer auf eine Ursache zurückzuführen. Die Ursache-Wirkungsbeziehung vollzieht sich in nur einer Richtung. Die Wirkung einer menschlichen Handlung muß immer auf die Verbesserung des individuellen Zustands gerichtet sein, einen Zustand, den Menger Bedürfnisbefriedigung nennt. Die Ursache eines Zustandswechsels oder anders formuliert, die Frage nach dem Warum menschlichen Handelns, liegt immer darin begründet, daß äußere Umstände des menschlichen Organismus oder Geistes dem Individuum seinen "unbefriedigten Zustand" anzeigen und ihn zur Veränderung (Verbesserung) bewegen. Die Dinge, welche kausal zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse eingesetzt werden,212 nennt Menger Nützlich2 0 8
Boos (1986): S. 147.
2 0 9
Ebda. Die Position, Werturteile aus der Wissenschaft auszugrenzen und entsprechend, theoretische und praktische Wissenschaften voneinander zu trennen, vertrat später bekanntermaßen M. Weber [Siehe bspw. Weber (1973)]. Für die ökonomische Theorie vertrat hingegen G. Myrdal die Auffassung der Untrennbarkeit von Zwecken und Mitteln, die Unmöglichkeit der Trennung "normativer" Ziele und "wertfreier" Mittel [Bspw. Myrdal (1973)]. 2 1 0
Siehe die Ausführungen über die Kategorie Gut.
21 1
Menger (1968): Vgl. S. 1; siehe dazu auch Abschnitt 3.3 im ersten Teil dieser Arbeit.
2 1 2 Bedürfnisse entspringen den menschlichen Trieben, die Triebe wurzeln in der Natur des Menschen. Demzufolge ist die Befriedigung der Bedürfnisse das natürliche Anliegen eines Menschen. Die mangelhafte Befriedigung der Bedürfnisse hat die Verkümmerung, und in einem höheren Stadium, die Vernichtung der menschlichen Natur zur Folge. Demnach ist die Sorge/Vorsorge um die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse gleichbedeutend mit der Sorge um das
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133
keiten, unabhängig davon, ob das Individuum die Dinge bewußt oder unbewußt verwendet Ist dem Subjekt der Kausalzusammenhang bewußt und kann das Individuum darüber hinaus die entsprechenden Dinge selbst zur Bedürfnisbefriedigung einsetzen, so heißen diese Dinge Güter 213 Damit ein Ding ein Gut wird oder "Güterqualität" erlangt, sind vier Voraussetzungen erforderlich: 214 1. Ein menschliches Bedürfnis. 2. Solche Eigenschaften des Dings, welche es dazu befähigt, in ursächlichen Zusammenhang mit der Bedürfnisbefriedigung gesetzt zu werden. 3. Die Erkenntnis dieses Kausalzusammenhangs durch die Wirtschaftssubjekte. 4. Die Verfügungsgewalt über die Dinge in der Weise, daß sie zur Befriedigung eines konkreten Bedürfnisses auch tatsächlich eingesetzt werden können. Sobald nur eine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt ist, wird ein Ding nicht zum Gut, d. h., kann ein Ding keine "Güterqualität" besitzen. Die "Güterqualität" ist somit keine Eigenschaft eines Dings, sondern besteht nur im Verhältnis Mensch/Ding, also in einer Subjekt-Objekt-Relation. Die Subjekt-Objekt-Relation führt bei Menger auch zum "wissenschaftlichen Charakter" des Warenbegriffs: 215 Der Warencharakter ist, wie die Güterqualität, nichts dem Gut anhaftendes (keine Eigenschaft), sondern stellt die Beziehung zu einer bestimmten Person dar, die über die Ware verfügt. 216 Unter dem Begriff "Ware" versteht Menger die von den Produzenten oder Händlern zum Tausch bereitgehaltenen Produkte. Im allgemeinen umfaßt der Warenbegriff alle beweglichen Sachgüter, die nicht Geld sind. Ein Gut verliert seinen Warencharakter, wenn der Eigentümer des Gutes die Absicht seines Tausches (Verkaufs) aufgibt bzw. das Gut an den Endverbraucher gelangt, der es konsumiert und nicht mehr tauschen will. 217 Betrachtet man ein Gut, welches im Endzweck immer auf irgendeinen Konsumzweck gerichtet ist, so ist der Warencharakter demnach immer eine temporäre Eigenschaft von Gütern in Beziehung zum handelnden Subjekt.218 Eine Besonderheit stellen solche Dinge dar, die mit der menschlichen Bedürfnisbefriedigung tatsächlich in keinerlei kausalem Zusammenhang stehen (demnach auch keine eigene Leben und die individuelle Wohlfahrt. Wohlfahrt ist hier keineswegs als gesellschaftlicher Terminus zu interpretieren; bei Menger handelt es sich bei der Wohlfahrt um das Wohlbefinden des einzelnen. 2 1 3
Menger (1968): S. 2.
2 1 4
Vgl. ebda. S. 3
2 1 5
Vgl. ebda. S. 231.
2 1 6
Dies ist die sog. "populäre Version" des Warenbegriffs [Menger (1968): S. 228 f.],
2 1 7
Das Schnitzel hört sofort auf Ware zu sein, sobald der Metzger es für seinen eigenen Konsum bestimmt. Gemünzte Metalle verlieren ihren Warencharakter, wenn ihr Besitzer sie nicht tauschen, sondern in Schmuck usw. verarbeiten will oder sie als Sammlerstücke aufbewahrt. 2 1 8
Menger (1968): Vgl. S. 231.
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Güter sind), von den Individuen aber trotzdem als Güter aufgefaßt werden ("eingebildete Güter"). 219 Dies ist dann der Fall, wenn 1. Dingen irrational Wirkungen zugeschrieben werden, die sie objektiv nicht besitzen (Menger nennt u. a. "Schönheitsmittel", Amulette, Wünschelruten, Liebestränke usw.) oder wenn 2. menschliche Bedürfnisse vorausgesetzt werden, die nicht wirklich vorhanden sind (ζ. B. Medikamente für nicht bestehende Krankheiten, Gerätschaften und Bildsäulen heidnischer Völker für den Götzendienst, Folterwerkzeuge usw.).
Neben den "wahren" und "eingebildeten" Gütern (letztere sind natürlich keine wirklichen Güter) unterscheidet Menger sog. "Verhältnisse". Dabei handelt es sich um Firmen, Kundschaft, Monopole, Vertragsrechte, Patente, Freundschaft, Liebe, kirchliche Gemeinschaften usw. Menger führt für diese "Verhältnisse" den Begriff der "nützlichen menschlichen Handlungen" (bzw. "Unterlassunge ein. Die Quantität der Güter nun, welche ein Mensch zur Befriedigung seiner Bedürfhisse benötigt, definiert Menger als den Bedarf. 220 (3) Güter und Kausalgesetz. Wie wir bereits feststellten, ging es Menger nicht um die Untersuchung von Einzelerscheinungen, sondern um das Aufzeigen von Kausalzusammenhängen bzw. deren Gesetze. Um dies auf die Güterwelt übertragen zu können, ist es notwendig, die Güter in eine "Reihenfolge" zu bringen. Diese "Reihenfolge" beginnt mit den sog. "Gütern erster Ordnung" und setzt sich beliebig fort. Zu den "Gütern erster Ordnung" zählt Menger Lebensmittel, die direkt konsumiert werden können. Somit können als "Güter erster Ordnung" solche bezeichnet werden, die unmittelbar menschliche Bedürfnisse befriedigen können. "Güter zweiter Ordnung" erfüllen diese Eigenschaft nicht, sie können menschliche Bedürfnisse nur mittelbar befriedigen, d. h., in Verbindung mit komplementären Gütern. Mehl oder Salz ζ. B. sind solche "Güter zweiter Ordnung", denn sie werden durch den Prozeß des Mischens und Backens zum Brot und somit zu einem "Gut erster Ordnung". In diesem Beispiel wäre Getreide ein "Gut dritter" und der Getreideacker ein "Gut vierter Ordnung". Die "Güter η-ter Ordnung" zählen somit auch zu den Gütern, haben Güterqualität, obwohl sie nicht in direkter Weise ursächlich der Befriedigung menschlicher Bedürfhisse dienen. Der unmittelbare Kausalzusammenhang eines Dings zur menschlichen Bedürfnisbefriedigung ist damit auch eine unmittelbare Voraussetzung für die Güterqualität des Dings insofern, als daß mit abnehmender ursächlicher Beziehung zur Bedürfnisbefriedigung die Ordnung der Güter numerisch ansteigt.221 Die Güterqualität eines Dings als solche ist aber immer im Hinblick
2 1 9 Die Zahl der "eingebildeten" Güter geht zugunsten der Zahl der "wahren" Güter zurück, "je höher die Kultur eines Volkes ist und je stärker die Menschen das Wesen der Dinge und das ihrer eigenen Natur erforschen" [Menger (1968): Vgl. S. 4], 2 2 0
Menger (1968): S. 32 und S. 34, Fn. •).
2 2 1
Ebda. S. 8.
13. Mengers ökonomische Kategorien
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auf die Fähigkeit der Hervorbringung eines "Gutes erster Ordnung" in Verbindung mit anderen Gütern, die der menschlichen Verfügung unterworfen sind, zu denken. Zusammenfassend kann gesagt werden: Die Existenz unbefriedigter Bedürfnisse ist Voraussetzung jeglicher Güterqualität Gleichzeitig verlieren Dinge sofort ihre Güterqualität, wenn die Bedürfnisse, zu deren Befriedigung sie bisher dienten, verschwunden ist; dabei spielt es keine Rolle, ob die Güter in unmittelbar oder mittelbar ursächlichem Zusammenhang zur Bedürfnisbefriedigung gesetzt werden können oder ob ihre Güterqualität in einem mehr oder weniger vermittelten Kausalnexus zur Bedürfnisbefriedigung steht.222 13.2 Wirtschaft
zwischen Zwecken und Mitteln
Folgende Beziehungen zwischen Bedarf und verfügbarer Menge lassen sich nun logisch herleiten: 1. Der Bedarf ist größer als die verfügbare Quantität (Fall der ökonomischen Güter). 2. Der Bedarf ist geringer als die verfügbare Quantität (Fall der nicht-ökonomischen Güter). 3. Der Bedarf und die verfügbare Quantität sind identisch. Der Fall 1, der Fall der ökonomischen Güter, handelt vom Phänomen der Knappheit. Der Knappheitsbegriff selbst wird von Menger nie erwähnt, obwohl seine gesamte Analyse auf der Idee der Knappheit beruht.223 Für das Individuum in Mengers reiner Ökonomik ergeben sich hieraus vier Schlußfolgerungen: 224 1. Das Individuum wird bestrebt sein, jede Teilquantität der Gütermengen, die ihm zur Verfügung steht, zu erhalten. 2. Jedes Individuum wird bestrebt sein, die nützlichen Eigenschaften dieser Teilquantitäten zu "conservieren". 3. Die Individuen müssen eine Wahl zwischen ihren wichtigsten Bedürfnissen treffen, die sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Gütern befriedigen wollen. 4. Das Individuum wird bestrebt sein, mit jeder Mengeneinheit (Teilquantität) die Güter so einzusetzen, daß aus einer möglichst geringen Einheit ein großer Erfolg bzw. ein bestimmter Erfolg mit einer möglichst kleinen Einheit 2 Beispiel: Die Chinarinde würde durch den Wegfall der Krankheiten, zu deren Heilung sie dient, aufhören ein Gut zu sein, da das einzige Bedürfnis, zu dessen Befriedigung sie im kausalen Zusammenhang steht, nicht länger vorhanden wäre. 2 2 3
v. Hayek (1934): S. X I V .
2 2 4
Menger (1968): Vgl. S. 53.
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erzielt wird. Das "ökonomische Prinzip" umschreibt Menger als das "Zuführen von verfügbaren Quantitäten an Genuß- und Produktionsmitteln zur Bedürfnisbefriedigung in zweckmäßiger Weise".225 Wirtschaft kann jetzt definiert werden als die, gemäß des "ökonomischen Prinzips", zweckgerichtete Tätigkeit des Menschen. Der alleinige Zweck ist die Bedürfnisbefriedigung. Das gilt allerdings nur im Fall 1, dem Fall der Knappheit Die Knappheit ist somit die Voraussetzung dafür, daß Menschen wirtschaften. Auf genau diese Ausführungen, den Knappheitsbegriff Mengers, 226 greift L. Robbins in seiner berühmten Definition von Politischer Ökonomik zurück: "Economics is the science which studies human behaviour as a relationship between ends and scarce means which have alternative uses" 2 2 7
Robbins veranschaulicht diese Definition anhand folgender vier Punkte: 1. Die Wirtschaftssubjekte wollen beides: Einkommen erzielen und Freizeit. 2. Die Individuen verfügen, von ihrem subjektiven Standpunkt aus betrachtet, weder über ein genügend hohes Einkommen noch über ein ausreichendes Maß an Freizeit, um ihre Bedürfnisse vollständig zu befriedigen. 3. Die Wirtschaftssubjekte können ihre Zeit entweder in mehr Freizeit oder in mehr Arbeitszeit (um das Einkommen zu erhöhen) einsetzen. 4. Der Bedarf an Geld und Freizeit ist für die Wirtschaftssubjekte jeweils ungleich. Daraus zieht Robbins den Schluß: Die Wirtschaftssubjekte müssen wählen, d. h., sie müssen wirtschaften. Die Begriffe der Knappheit und des Wirtschaftens sind somit untrennbar miteinander verbunden. Dies führt auch dazu, daß alle Güter, die dem Tatbestand der Knappheit unterliegen, den Namen ökonomische oder wirtschaftliche Güter tragen. Wirtschaftliche Güter sind von nicht-wirtschafüichen Gütern zu trennen, da bei letzteren die Wirtschaftssubjekte keinem praktischen Zwang zu wirtschaftlicher Tätigkeit unterworfen sind - es gibt keine Knappheit. Anders ausgedrückt, die vorhandenen Gütermengen decken mehr als den bestehenden Bedarf (Fall 2). Bei den nicht-ökonomischen Gütern liegt keine Notwendigkeit vor, sie im Verfügungsbestand zu erhalten, ihre nützlichen Eigenschaften zu "conservieren" oder eine Wahl unter dem Gesichtspunkt nutzenmaximierenden oder kostenminimierenden Verhaltens zu treffen. Ein ökonomisches Gut kann sich in ein nicht-wirtschaftliches Gut transformieren et v. v., wenn Zeit oder Raum sich verändern. Während ζ. B. in quellenreichen Gebieten große Mengen an gutem Trinkwasser, in Urwäldern rohe 2 2 5
Vgl. ebda.
2 2 6
Robbins (1952): S. 16, Fn. 1.
2 2 7
Zit. ebda. S. 16.
13. Mengers ökonomische Kategorien
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Baumstämme usw. im "Überfluß" vorhanden sind, die Güter mithin keinen ökonomischen Charakter aufweisen, können sie an anderen Orten oder am selben Ort zu einem späteren Zeitpunkt knapp werden und somit den Charakter eines wirtschaftlichen Gutes gewinnen. Diese Möglichkeit der Transformierung des Gutcharakters liegt nicht in den Eigenschaften des Gutes selbst begründet, sondern immer im Verhältnis von Bedarf und verfügbarer Menge aus subjektiver Perspektive.228 Allgemein ausgedrückt, hat ein Wechsel von ökonomische in nicht-ökonomische Güter entweder ein Steigen der Bedürfnisse oder aber ein Sinken der Gütermenge zur Prämisse. 13.3 Wert Neben der Wirtschaft, also dem "zweckmäßigen" Umgehen mit den verfügbaren Mitteln, entsteht eine weitere Erscheinung aus der Knappheit: gemeint ist der Wert bzw. der Güterwert. Der allgemeine Güterweit ist die Bedeutung, die ein Gut aufgrund seiner Fähigkeit zur Bedürfnisbefriedigung für ein bestimmtes Individuum einnimmt. Der Wert ist ein Urteil der wirtschaftenden Menschen über die Bedeutung der in ihrer Verfügung befindlichen Güter zur Aufrechterhaltung ihres Lebens und ihrer Wohlfahrt und ist deshalb außerhalb des menschlichen Bewußtseins nicht vorhanden. Er steht somit in denkbar enger Beziehung zum Nützlichkeitsaspekt (denn unter Nützlichkeit verstand Menger die Tauglichkeit eines Dings, der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu dienen, wobei die erkannte Nützlichkeit als allgemeine Voraussetzung der Güterqualität galt). 229 Die wesentliche Voraussetzung für die Bildung des Güterwertes ist die Verfügungsgewalt. Ohne sie ist die Erscheinung des Wertes undenkbar, allerdings nicht davon abhängig, ob die Sicherstellung des Bedarfs direkt oder indirekt (d. h. über den Tausch) erfolgt. Bspw. kann ein Pelzjäger ein Fell dazu benutzen, sich vor der Witterung zu schützen ( Pi = 1. S sei nun die Menge der mithilfe des numéraires "normalisierten Preise": - S = {p=(pi,p2>—»Pi) e R]lpi > 0, für i = Ι,.,.,Ι; pj = 1}. Die Menge der Preise S kann nun gleichgesetzt werden mit R 1 _ 1 + +' der Menge der (1-1) strikt positiven Preise. - Die individuelle Nachfrage beschreibt den Zusammenhang von Mengen, Preisen und Einkommen; ihre Darstellung ist über den Preis- und Einkommensraum S X R definiert, dessen Wert im Güterraum R1 abgebildet ist. Sei fj die Nachfragefunktion des Konsumenten i, mit i = 1,2,...,m. Die Abbildung fj(p,Wj) des Paares (p,Wj) durch die Funktion f· beschreibt das Konsumbündel, welches von Konsument i bei gegebenem Preisvektor ρ e S und dem Einkommen W] e R nachgefragt wird (der Fall w, < 0 ist ausgeschlossen).
- Walras-Gesetz: Es handelt sich dabei um die einzige Eigenschaft, welche an die Nachfragefunktion gestellt wird: ρζ(ρ^) = Wj, für jeden Preisvektor ρ e S und jedes Einkommen Wj e R. Dies sagt nichts anderes aus, als daß der Wert der Nachfrage gleich ist dem vorhandenen Einkommen (diese Eigenschaft wird häufig als Axiom unterstellt). Damit kann eine reine Tauschökonomie formal durch das Tripel Güter/individuelle Nachfrage/Anfangsausstattungen beschrieben werden. (2) Definition von Gleichgewicht. Die Rolle des Marktes ist es, Gütertäusche zwischen Wirtschaftssubjekten bei gegebenen Preisen durchzuführen. Betrachten wir den Konsumenten i, der, in den Markt eintretend, mit dem Güterbündel Ωί e R 1 ausgestattet ist. Er beobachtet den Vektor der gegebenen Preise ρ e S. Mit dieser Information und (unendlich) schneller Berechnung kann er
17. Ältere Wohlfahrtsökonomik und Entwicklung von Tausch und Gleichgewicht
189
den Wert seiner Anfangsausstattung feststellen, welche dem inneren Produkt w i = ρΩ| entspricht. Somit kennt das Individuum alle diejenigen Parameter, welche seine eigene Nachfrage bestimmen. Die Nachfrage kann demzufolge aufgefaßt werden als ^(ρ,ρΩ;). Die Gesamtnachfrage entspricht demgemäß Σ f^, pity i Damit die individuellen Nachfragen befriedigt werden können reicht es aus, die Gesamtnachfrage nach jedem Gut als kleiner oder gleich dem Gesamtangebot für dieses Gut zu unterstellen, also I f i ( p , p ^ ) < m
i
i
Definition: Der Preisvektor ρ e S heißt Gleichgewichtspreisvektor einer reinen Tauschökonomie, definiert durch das Tripel (Ι,ζ,Ω), wenn die obige Ungleichheit erfüllt ist. (3) Beweis. Wir beginnen mit dem Beweis eines sehr einfachen Ergebnisses, nämlich, daß im Gleichgewicht nicht nur die Nachfrage aller Individuen befriedigt ist, sondern auch die gesamten Ressourcen vollständig eingesetzt sind, also kein Überschqßangebot bei irgendeinem Gut existiert. Diese Eigenschaft wird durch folgendes Theorem ausgedrückt: Theorem: Der Preisvektor ρ e S ist ein Gleichgewichtspreisvektor nomie (Ι,ί-,Ω) dann und nur dann, wenn die folgende Gleichung erfüllt ist: Σ ξ φ , ρ Ω ^ Σ Ω ;
i
i
Mit dieser Gleichung ist eine Vektorgleichheit aufgezeigt; sie beschreibt die klassische Idee, daß für jedes Gut Gleichheit zwischen Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht besteht. Beweis: Wir multiplizieren die beiden Seiten der obigen Ungleichung mit dem Preis Pj des Gutes j. Dies führt zu 1 Ungleichungen, welche wir Seite für Seite aufsummieren. Nehmen wir nun an, daß eine dieser 1 Ungleichungen strikt ist, dann führt dieser Umstand zur folgenden strikten Ungleichung: Σ pj (Σ Oj(p,pßi) < Σ pj (Σ ßi i ) j i j i Umformuliert läßt sich schreiben: Σ ρ ^ ρ , ρ Ω ^ Σ ρ η
i
i
der Öko-
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Ehritter Teil: Emergenz der Neoklassik in der Moderne
Wendet man das Walras-Gesetz auf die linke Seite dieser Ungleichung an, so führt dies zu folgender Ungleichung: Σ ρΩ| < Σ ρΩ|, dies ist offensichtlich ein Widerspruch. i i
Q. E. D.
17.6 Einschränkungen der neoklassischen Kategorien im Gleichgewichtsparadigma (1) Allgemeine Einschränkungen des Gleichgewichtsparadigmas. klassische Gleichgewichtstheorie ist ein in sich schlüssiges und widerspruchsfreies Konstrukt, das zu logisch strengen und gültigen Aussagen kommt. Diese Aussagen sollen zum denknotwendigen Verständnis komplexer ökonomischer Phänomene und somit zur Erklärung eines Teilbereichs gesellschaftlicher Problemfelder beitragen. Die Gleichgewichtstheorie in ihrer mathematischen Form stellt somit einen Ansatz zur Erklärung sozialwissenschaftlicher Phänomene dar, sie argumentiert dabei aber mono-kausal. Sozialwissenschaftliche, gesellschaftliche oder ökonomische Phänomene können jedoch niemals mithilfe nur einer Struktur abgebildet werden, vielmehr ist die Betrachtung verschiedener Muster des historischen Verhaltens notwendig. Der Versuch der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie (wie auch der jeder anderen mono-kausal argumentierenden Theorie), allgemeingültige ökonomische Gesetze zu formulieren, ist somit von vornherein zum Scheitern verurteilt 189 Dieser Kritik unterliegt der Standpunkt, daß die Ökonomie kein "geschlossenes System" ist 1 9 0 und somit auch nicht i. d. S. konstitutiv sein kann, wie es die Erklärung von Naturphänomenen für die klassische Mechanik war. Der Vorstellung von ökonomischer Theorie als exakter, positiver Wissenschaft, wie wir es bei den fühen Neoklassikern kennenlernten, wird hier also eine klare Absage erteilt. Die modernen Kategorien von Tausch und Gleichgewicht stellen sich somit als eine Fiktion dar, verstanden als ein System idealer Normen, in bezug auf welche man verschiedene politische Handlungen und ihre Konsequenzen diskutieren und beurteilen kann.191 Die Allgemeine Gleichgewichtstheorie erscheint in diesem Zusammenhang als "Idealzustand", an dem die tatsächliche Volkswirtschaft "gemessen" werden kann. Ein anderes Problem impliziert die mathematische Form der modernen Tausch- und Gleichgewichtskategorien: In vielen Fällen ist es nicht mehr möglich, die mathematisch notwendigen Annahmen eines Modells ökonomisch angemessen zu interpretieren (der Leser prüfe dazu selbst einige der Annahmen, die im Absatz (2) dieses Gliederungspunktes aufgelistet sind). Somit besteht die m
Belli1984):
Vgl. S. 98.
1 9 0
Ebda.
191
Vgl. ebda. S. 102.
Die n
17. Ältere Wohlfahrtsökonomik und Entwicklung von Tausch und Gleichgewicht
191
Gefahr der Verselbständigung der mathematischen Form. Dieses Argument begründet die Gefahr, daß die zunehmende ökonometrische Forschung den ökonomischen Inhalt sowie die konkrete Realität aus dem Blickwinkel verdrängen könnte bzw. daß solche ökonomischen Probleme, die noch nicht oder prinzipiell nicht geeignet sind, der mathematischen Analyse zugeführt zu werden, systematisch weithin ausgeblendet werden.192 Andere Argumente gegen die Allgemeine Gleichgewichtstheorie stützen sich darauf, daß nur unzureichend die Handlungsmöglichkeiten der Wirtschaftssubjekte in Betracht gezogen werden, die in der Bildung von Koalitionen bestehen.193 Nimmt man derlei Erwägungen ernst, so schrumpft die Menge der Wirtschaften, auf die die Gleichgewichtstheorie zutreffen könnte.194 Weitere Kritikpunkte an der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie beziehen sich - neben dem zentralen Punkt der Restriktivität ihrer Annahmen - auf die Ausblendung von Macht und Geld als gewichtige ökonomische Einflußgrößensowie die unzureichende Berücksichtigung von Zeit (Zukunft bspw. wird nur i. S. der Verlegung in die Gegenwart, d. h. qua Diskontierung, berücksichtigt; Aktionen werden in ihrer Betrachtung auf nur einen Zeitpunkt reduziert, in der Wirtschaft aber wird jeden Tag getauscht).195 (2) Die Restriktivität des neoklassischen Gleichgewichtsparadigmas seiner Annahmen. In diesem Abschnitt werden konkret die Annahmen betrachtet, die implizit und explizit zur Erreichung eines allgemeinen Gleichgewichts in einem einfachen idealisierten Modell (Beispiel der reinen Tauschökonomie) getroffen sind. Es geht darum zu zeigen, auf welchen Voraussetzungen selbst ein einfachstes Modell eines allgemeinen Gleichgewichtes fußt. Weiterhin soll gezeigt werden, welches detaillierte Fachwissen für formale Komplexität erforderlich ist, um die Gleichgewichtstheorie in einem "tieferen Verständnis" zu durchdringen, also den Level einer intuitiven Hermeneutik bezüglich der Aussagen des Modells zu überschreiten. Natürlich treffen einige Annahmen nicht für spezielle oder weiterführende Modelle zu bzw. können (d. h. einzelne Annahmen können), je nach Modell, aufgehoben, aufgeweicht, abgeändert oder erhärtet werden. Auch ist trotz dieser kritischen (doch nüchternen) Aufireihung der Annahmen - nicht die Absicht verfolgt, die Anwendungsbreite der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie zu schmälern; ζ. B. der Einsatz der Gleichgewichtstheorie zur theoretischen Behandlung von Kapitalmärkten, des Unsicherheitsproblems, des Welthandels usf. Die nun folgenden Annahmen werden in dieser ausführlichen Form in der Literatur nicht aufgezeigt; i. d. R. werden Annahmen über die Struktur der Präferenzen, Nutzenfunktionen und Budgetrestriktionen getroffen, die anderen Annah192
Debreu (1986): S. 1268 f.
1 9 3
Erweiterungen dazu bietet die "Theory of the core" an.
1 9 4
Hahn (1984): S. 163 f.
1 9 5
Ebda. S. 165 f.
192
ritter Teil: Emergenz der Neoklassik in der Moderne
men sind (so sei es im positiven Sinn unterstellt) immer implizit vorausgesetzt. Nur vor dem Hintergund der folgenden Annahmen ist auch die wirkliche ökonomische Bedeutung der sog. "normativen Implikationen" der Gleichgewichtstheorie einzuschätzen (Pareto- Effizienz gilt dort als normative Vorgabe), nämlich die faktische Bewertung der beiden "Hauptsätze der Wohlfahrtsökonomik" bzw. "Optimalitätstheoreme".196 Die Annahmen: 1. Es existiert kein Geld (keine Kapitalmärkte, keine Börsen etc.). 2. Reine Tauschökonomie (keine Produktion). 3. Existenz von Privateigentum. 4. Anfangsausstattungen sind exogen gegeben (ggfs. "historisch übernommen"). 5. Anfangsausstattungen befinden sich in Privateigentum. 6. Kein Staat. 7. Keine Markmacht bestimmter Tauschpartner. 8. Es liegen bestimmte Ausgangsdaten hinsichtlich der Güterpreise vor. 9. Güterpreise sind relative Preise. 10. Nur relative Preise sind von Bedeutung. 11. Anfangsbestände sind mit Ressourcen identisch. 12. Waren, Dienstleistungen werden in dem Begriff der Ware zusammengefaßt und als "gehandeltes Gut" bezeichnet. 13. Aufgrund der relativen Preise ist die Wahl eines numéraire- Gutes notwendig. 14. "Austauschbarkeit" von Güterbündeln (Güterbündel sind nur dann tauschbar, wenn sie über einen "gleichen Wert" verfügen). 15. Werte sind definiert als Produkt von Preis und Menge. 16. Die Einkommen der Individuen entsprechen der (zu gegebenen Preisen) bewerteten Anfangsausstattung. 17. Vollständige Information. 18. Ausschluß von Zeit (unendlich schnelle Anpassungsvorgänge).
1 9 6 1. Hauptsatz: Walras-(Markt-) Gleichgewichte sind stets pareto-effizient; 2. Hauptsatz: Eine pareto-effiziente Allokation läßt sich als Walras-(Maikt-) Gleichgewicht erzeugen.
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193
19. Zulassung verschiedener Standorte, Güterqualitäten und Verfügbarkeit der Güter zu verschiedenen Zeitpunkten ist möglich; dies erfordert jedoch weitere Annahmen. 20. Transaktionskosten sind Null. 21. Ausschluß externer Effekte. 22. Wirtschaftssubjekte verhalten sich rational. 23. Wirtschaftssubjekte haben das Ziel, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. 24. Die Bedürfnisbefriedigung orientiert sich an der Maximierung der Bedürfnisse (Maximierung einer Nutzenfunktion). 25. Wirtschaftsubjekte verhalten sich in diesem Sinn rational (zweckrational). 26. Wirtschaftssubjekte treten gleichzeitig als Nachfrager und Anbieter auf. 27. Angebot und Nachfrage unterscheiden sich (je nach Modell) durch das Vorzeichen. 28. Wirtschaftssubjekte werden als "einheitliches Entscheidungskriterium" aufgefaßt (Subjekt/Familie/Haushalt/Staat). 29. Wirtschaftssubjekte akzeptieren die am Markt herrschenden Preise. 30. Käufer treten auf den Markt, mit der Absicht zu kaufen. 31. Verkäufer treten auf den Markt, um zu verkaufen. 32. Jedes Wirtschaftssubjekt verfügt über eine Nutzenfunktion. 33. Die Nutzenfunktion stellt den Grad an Bedürfnisbefriedigung aus dem Warenkonsum dar (Abhängigkeit vom Güterbündel des Konsumenten). 34. Ordinalität des Nutzenkonzeptes ist ausreichend. 35. Die Nutzenfunktion wächst monoton mit der Gütermenge. 36. Die Nutzenfunktion ist quasikonkav (Bessermenge ist konvex). 37. Die Nutzenfunktion ist stetig. 38. Die Nutzenfunktion ist zweimal differenzierbar. 39. Die Nutzenfunktion ist für alle Individuen hinsichtlich ihrer Eigenschaften identisch. 40. Bedürfnisse spiegeln sich in Präferenzen bezüglich der Entscheidungen über die Wahl der Zusammensetzungen der Güterbündel. 41. Die Präferenzen liegen in einer bestimmten Ordnung vor. 42. Vollständigkeit der Präferenzen. 13 Frambach
194
ritter Teil: Emergenz der Neoklassik in der Moderne
43. Reflexivität der Präferenzen. 44. Transitivität der Präferenzen. 45. Es existiert eine Konsummenge, die alle zugelassenen Konsumaktivitäten beschreibt. 46. Es existiert eine Budgetmenge (Teilmenge der Konsummenge), die angibt, welche Konsumaktivitäten zu gegebenen Preisen realisierbar sind. 47. Die Konsummenge ist nach unten beschränkt. 48. Die Konsummenge ist abgeschlossen. (47. und 48. entspricht der Kompaktheit der Konsummenge). 49. Die Konsummenge ist konvex (dies beinhaltet auch die unendliche Teilbarkeit der Güter). 50. Die Nullaktivität (Nicht-Konsum) ist zugelassen. 51. Die Budgetmenge ist nach unten und oben beschränkt. 52. "Free disposal " (Güter können auch kostenlos veräußert werden). Aus diesen Annahmen folgt die Existenz einer Nachfragefunktion für jeden Konsumenten nach seinem Güterbündel; gleichzeitig ist ein individuelles Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage (bei Nutzenmaximierung) angezeigt. Aufgrund der Krümmungseigenschaften der Indifferenzkurven und der Budgetgerade folgen zwei weitere Eigenschaften der Nachfrage; diese Eigenschaften werden oftmals auch als explizite Annahmen gesetzt: - Nullhomogenität der Nachfrage. - Nachfragefunktion ist zweimal stetig differenzieibar. Zur Ermittlung allgemeiner Tauschgleichgewichte ist es erforderlich, die Nachfragekurven aller Individuen zusammenzuführen. Für die Existenz und Eindeutigkeit des allgemeinen Konkurrenz- (Tausch-) Gleichgewichtes sind zwei weitere Annahmen notwendig: 53. Gültigkeit des Walras-Gesetzes. 54. Bruttosubstituierbarkeit. Daraus folgt: Es existiert ein eindeutiges allgemeines Konkurrenz- (Tausch-) Gleichgewicht; ζ. B. ist globale Stabilität dann gesichert, wenn zusätzlich zur Bruttosubstituierbaikeit 55. eine negative Diagonaldominanz der Jacobi-Matrix der Überschußnachfragefunktion gewährleistet ist. Für die Integration der Produktion (also ein allgemeines Wettbewerbsgleichgewicht i. S. einer Privateigentumswirtschaft) kommen noch zusätzlich die An-
18. "Werturteilsfreiheit " und neuere Wohlfahrtsökonomik
195
nahmen über die Produktionsmenge und Produktionsfunktion hinzu (ζ. B. Produktions- oder Technologiemenge ist abgeschlossen und konvex - beliebige Teilbarkeit der Güter und abnehmende Skalenerträge -, Nullaktivität ist zugelassen, Menge ist nach oben beschränkt, "free disposal " der Produktion, Reversibilität ist ausgeschlossen, für Produktionsfunktion gilt: Partielle Ableitungen sind positiv, Produktionsfunktion ist konvex). Die ökonomischen Kategorien Tausch und Gleichgewicht sind in mathematische Kategorien gewandelt, deren logische Geschlossenheit und Konsistenz ein perfektes Niveau erreicht haben. Der formale Weg, den Walras eingeleitet hatte, wurde von Debreu zu Ende geführt. Natürlich geht mit der zunehmenden Formalisierung der Vorwurf einher, die ökonomische Theorie habe sich, um der Kritik zu entgehen, gegen empirisch begründete Einwände "immunisiert". Andererseits aber können an der Neoklassik keine Aussagen kritisiert werden, die sie weder machte noch zu machen beabsichtigt; gemeint ist die nur sehr eingeschränkte Selbstbindung bzw. Erklärungsanspruch der Gleichgewichtstheorie an konkrete empirische Problemlösungen. Allerdings schließt sich daran sofort die Frage, woraus sich ökonomische Theorie letzüich rechtfertigt, wenn nicht aus der Lösung faktischer Probleme? Den frühen Neoklassikern ging es im Endziel darum, reales ökonomisches Handeln besser verstehen, strukturierter beschreiben und genauer vorhersagen zu können. Der Realisierung dieses Anspruchs ist die moderne Gleichgewichtstheorie, meiner Einschätzung nach und in Relation zum betriebenen Aufwand, in nur sehr bedingtem Maß gerecht geworden.
18. "Werturteilsfreiheit" oder die veränderte Perspektive der neueren Wohlfahrtsökonomik und ihrer Kategorien Im Anschluß an die "Vollendung" der Kategorien Tausch und Gleichgewicht, so wie sie im neoklassischen Paradigma auftreten, geht es jetzt darum, die Kategorien Bedürfnis, Gut, Nachfrage, Nutzen, und Wohlfahrt weiter fortzuschreiben. Wie setzen in diesem Kapitel 18 bei der neueren Wohlfahrstökonomik an und beenden die Untersuchung in der modernen MikroÖkonomik (Kapitel 19). 18.1 Das "Neue" an der neueren Wohlfahrtsökonomik Nachdem L Robbins die Problematik interpersoneller Nutzenvergleiche aufgezeigt hatte197 und der Versuch einer "Präzisierung" der Benthamschen Doktrin ^ Robbins' "Essay" (1932) wird allgemein als Ausgangspunkt der Diskussionen angesehen, welche die "New Welfare Economics" auslösten [Streeten (1963): S. 201]. 1
196
ritter Teil: Emergenz der Neoklassik in der Moderne
der Wohlfahrt als Summe individueller Nutzen seitens A. C. Pigou in seinen Fundamenten angeschlagen war, entstand eine Bewegung, die versuchte, den utilitaristischen Wohlfahrtsbegriff in eine andere Richtung zu wenden. Im Rückgriff auf Pareto und Barone, wurde allgemein die Unabhängigkeit der individuellen Nutzen sowie der Ausschluß externer S y stem Wirkungen betont. Auf dieser Grundlage trafen die Vertreter der neueren Wohlfahrtsökonomik eine Aufteilung der Bedingungen einer optimalen Wohlfahrt gemäß den Leiüinien von Effizienz und Gleichheit. Diese Unterteilung war bereits Pareto bekannt und wurde später u. a. von Oscar Lange weiter ausgearbeitet.198
Sowohl Bentham als auch Pigou verwandten zur Aufstellung ihrer Theorien die Sprache introspektiver Psychologie, d. h., Begriffe wie Glück, Wohlfahrt und Nutzen wurden als subjektive Empfindungskomplexe verschiedener Individuen aufgefaßt. Das Problem ergab sich aus der Definition, Messung, Aggregation und interpersonellen Vergleichbarkeit dieser Begriffe. Während die Grundkategorie Nutzen im Diktum "ein Gut stiftet einen höheren Nutzen als ein anderes" als höhere Befriedigungsintensität des ersten Gutes gegenüber dem zweiten benutzt wurde, ging man in der neueren Wohlfahrtsökonomik dazu über, eine Entscheidung für ein Gut als Wahl des Individuums zu werten, unabhä gig von der Kontemplation etwaiger handlungsauslösender Bedürfnisse. Die Nutzenmessung stellte sich nunmehr als reine Zuordnung von Zahlen auf Wahlobjekte dar. Diese Zahlen ordinale Werte, die lediglich über die Anordnung von Gütern als Wahlobjekte in einer Reihenfolge Auskunft geben. Damit ist gleichzeitig eines der bedeutendsten Probleme der neueren Wohlfahrtsökonomie angesprochen, die Aggregation individueller Nutzengrößen zur Wohlfahrt, denn ordinal meßbaie Zahlen, die lediglich einen "Nummerierungscharakter" i. S. einer Reihenfolge aufweisen, können nicht sinnvoll summiert werden. Hilfreich ist letztlich auch nicht die Möglichkeit der monotonen Transformation einer empirisch gewonnenen Nutzenskala für die theoretische Analyse, da das eigentliche Problem der Aggregation der Zahlen unverändert bleibt. Zur Überwindung dieses Dilemmas bedienten sich die Ökonomen der folgenden Überlegung. Sind die mithilfe von Ordinalskalen gemessenen individuellen Nutzenweite heterogen und inkommensurabel, so gilt in bezug auf die Gesamtwohlfahrt stets, daß die Erhöhung mindestens eines der Elemente der Skala zu einer Wohlfahrtserhöhung führt, wenn keines der anderen Elemente einen kleineren Wert annimmt. Läge gleichzeitig eine Erhöhung und Senkung verschiedener Elemente vor, so wäre eine eindeutige Aussage hinsichtlich der Wirkung auf die Wohlfahrt unmöglich. M. a. W.: Eine Erhöhung der gesellschaftlichen Wohlfahrt liegt dann vor, wenn der Nutzen (Skalenwert) mindestens eines Individuums gestiegen ist, ohne daß sich der Nutzen eines anderen verringert hat. Diese strukturelle Analogie zum Leitgedanken der paretianischen Wohlfahrtsökonomik hat, neben der Anwendung der von Edgeworth übernommenen 19 8
Lange (1942): S. 215 ff.
18. "Werturteilsfreiheit " und neuere Wohlfahrtsökonomik
197
Indifferenzkurvenanalyse, dazu geführt, die Wohlfahrtsökonomik Paretos als Vorläufer der New Welfare Economics generell anzuerkennen, ein Faktum welches durch L Robbins' Kritik an den Nutzenvergleichen initiiert wurde. 199
Einen vergleichbaren Übergang von kardinaler zu ordinaler Skalierung finden wir auch bei den Indifferenzkurvenkonzepten. Wir wissen bereits seit Pareto , daß einem Güterbündel, welches sich auf einer höheren Indifferenzkurve befindet als ein anderes, eine höhere Bedürfnisbefriedigungsintensität zugeschrieben wird; zwei Güterbündel einer Indifferenzkurve leisten eine gleiche Befriedigung. Pareto legte dabei eine ordinale Nutzenskala zugrunde, stellte jedoch nicht auf reine Wahlentscheidungen ab. Paretos Position ist bei der Nutzenmessung demnach zwischen der von reinen Bedürfhisbefriedigungskonzepten und reinen Wahlentscheidungskonzepten zu verorten. Genauer: Individuelle Nutzenerlebnisse wurden als im Verhalten der Individuen existente, namentlich als Wahlentscheidungen immanente Ausdrucksformen betrachtet. Aus der T daß ein Individuum ein Güterbündel wählt, das auf einer höheren Indifferenzkurve liegt, kann geschlossen werden, daß dieses Bündel einen höheren Nutzen stiftet als das andere. Damit bleibt die Nutzenempfindung das Motiv der Wahlentscheidung.
Die Entwicklung der New Welfare Economics rückte von der Berücksich gung der Befriedigungsintensitäten ab und betrachtete reine Wahlentschei dungenl D. h.: Eine Güterkombination auf einer höheren Indifferenzkurve wird der auf einer niederen Indifferenzkurve als Ergebnis einer reinen Wahlentscheidung (!) - und nicht als Ausdruck einer Nutzenempfindung - vorgezogen; nicht mehr wird ausgesagt. Methodologische Grundlage für die Lösung des Problems der interpersonellen Vergleichbarkeit und somit auch für die Einführung ordinaler Konzepte und Wahlentscheidungen war die Trennung von Tausch- und Produktionssphäre einerseits und Distributionssphäre andererseits. Der Tausch- und Produktionsbereich bildete, ohne Aussagen über die Verteilung vorzunehmen, den Erkenntnisgegenstand der positiven Wirtschaftstheorie; der Distributionsbereich entsprach der normativen Theorie (siehe dazu die Gliederungspunkte 18.2 und 18.3).
Die Werturteilsimmanenz interpersoneller Nutzenvergleiche - eine allgemein akzeptierte Feststellung - impliziert gleichzeitig die Normativität der Wohlfahrtsökonomik. Hieraus folgt die für die Entwicklung der neueren Wohlfahrtsökonomik entscheidende Frage: Dürfen die Ökonomen in ihrer Eigenschaft al Wissenschaftler bei Problemstellungen der Wohlfahrtsökonomie tätig In der Beantwortung dieser Frage sieht P. Streeten die Entstehung zweier Richtungen der neueren Wohlfahrtsökonomik: die neuere Wohlfahrtsökonomik L e. 5., oder auch "Kompensationsprinzip" genannt, und die "soziale Wohlfahrtsfunktion". 200 1 9 9
Siehe auch Boulding (1952): S. 2.
2 0 0
Streeten (1962): Vgl. S. 202.
198
ritter Teil: Emergenz der Neoklassik in der Moderne
Die Aufspaltung der "New Welfare Economics" in die neuere Wohlfahrtsökonomik i. e. S. und die "soziale Wohlfahrtfunktion" vertritt auch T. Scitovsky. 20i Er beschreibt diese Teilung als zwei unabhängig voneinander ins Leben gerufene Richtungen der neueren Wohlfahrtsökonomik, denen die Grundfrage nach der Stellung der Ökonomen in der Gesellschaft gemein sei. 202 Scitovsky geht von Harrod aus, nach dem die Wohlfahrtsökonomik als einziger Zweig der ökonomischen Theorie nur eine handlungsanleitende und -beratende Funktion ausüben dürfe; 203 und nur aufgrund eben dieser Funktion könne die ökonomische Theorie ihre Stellung in der Gesellschaft rechtfertigen 2 0 4 Die neuere Wohlfahrtsökonomik i. e. S., vertreten durch Hicks y Hotelling, Kaldor und Scitovsky, glaubt, durch die Trennung von Effizienz- und Verteilungsfragen und ihre Zuweisung auf je unterschiedliche ökonomische Theoriebereiche, in der folglich isolierten Tausch- und Produktionssphäre einen Bereich angesprochen zu haben, in dem Ökonomen "unbeschwert", jenseits der Belastung von Werturteilen arbeiten können. Dem lag der Trugschluß zugrunde, daß, solange Änderungen in ökonomischen Institutionen die Effizienz eines ökonomischen Systems und die Verteilung der Wohlfahrt gleichzeitig beeinflussen, zwangsläufig auch alle ökonomischen Veränderungen über Standards der Effizienz und Gleichheit entschieden werden sollten. Die neuere Wohlfahrtsökonomik i. e. S. behielt diese Doktrin bei und arbeitete sie weiter aus: Die Abgabe politischer Empfehlungen seitens der Ökonomen sollte einzig und allein auf Basis von Effizienzbetrachtungen begründet werden! Samuelson und Little kritisierten diese Bestrebungen, daraufkomme ich noch ausführlich zu sprechen. Demgegenüber stehen die Vertreter der "sozialen Wohlfahrtsfunktion", Bergson, Samuelson und Tintner, die die normative Fundierung positiver Theorie nicht bestreiten und dafür plädieren, ethische Urteile von außerhalb der Wirtschaftswissenschaften heranzuziehen. Die aufgeführte Zweiteilung der neueren Wohlfahrtsökonomik ist nicht nur deshalb problematisch, weil die Frage der Berechtigung des Tätigwerdens von Ökonomen in bestimmten Bereichen nicht auf eine Differenz von Ethik und Ökonomik ausreichend umrissen ist (implizite Unterstellung: Ethik und Ökonomik sind grundsätzlich widersprüchlich und unvereinbar), sondern vor allem deswegen, weil die entscheidende Entwicklung im Bereich der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" erst durch Arrows "Social Choice and Individual Values", von 1951, zum Durchbruch gelangte bzw. eine vollständige Aufstellung der Kriterien für eine nur ordinale Wohlfahrtsfunktion gelang.
20 1
Scitovsky
2 0 2
Ebda. S. 307.
2 0 3
Harrod (1938): S. 397.
2 0 4
Ebda.
(1951): S. 307.
18. "Werturteilsfreiheit " und neuere Wohlfahrtsökonomik
199
182 Die neuere Wohlfahrtsökonomik im engeren Sinne: Die Kompensationsprinzipien
(1) Das Kriterium von Hotelling und seine Kritik. //. Hotel ling stellte seinem Aufsatz "The General Welfare in Relation to the Problems of Taxation and of Railway and Utility Rates" die Frage, ob es nicht besser wäre, den Bau und die Unterhaltung von Brücken, Tunneln und anderer öffentlicher Anlagen über eine allgemeine Besteuerung zu bestreiten, statt Gebühren und Beiträge direkt von den Benutzern zu fordern. 205 Als Entscheidungskriterium wiederholte Hotelling Paretos Definition einer effizienten ökonomischen Organisation, entsprechend derer keiner bessergestellt werden kann, ohne einen anderen schlechter zu stellen. Jede Veränderung der Politik oder der Institutionen, welche die Effizienz steigern würde, muß daher die Schlechtergestellten de facto mindestens kompensieren, damit das Pareto- Kriterium eriillt ist. Hotelling war bewußt, daß solche Anpassungen tatsächlich nicht stattfinden würden, daß allgemeine Wohlstandssteigerungen immer zu Lasten einiger getragen werden. Auch wußte Hotelling um die Problematik der Gerechtigkeitsfrage, die selbst dann auf den Plan tritt, wenn ein hoher Vorteil zu Lasten eines nur geringen Opfers erkauft wird. 206
Trotz dieser Einwände glaubte Hotelling an die Rechtfertigung von beratung durch Ökonomen auf alleiniger Basis des Effizienzkriteriums. These bezog er nur auf den untersuchten Gegenstand, also die Besteuerungs- und Beitragserhebungsproblematik bei der Eisenbahn. Hotelling hatte die Vorstellung von "ökonomischer Politik" als Aufeinanderfolge der Durchführung kleiner Schritte und kleiner Veränderungen; jede dieser Veränderungen stellt jedoch immer einen Schritt in Richtung Effizienzverbesserung dar, so ist am Ende des Prozesses ein "System vollkommener Effizienz" erreicht, wobei innerhalb eines jeden Schrittes zufällige Umverteilungseffekte erzielt werden. Hotelling ging d von aus, daß sich die Umverteilungsaspekte mehr oder weniger ausgleichen würden und am Ende des Prozesses eine Effizienz Verbesserung, eine Besserstellung einiger ohne die Schlechterstellung auch nur eines einzigen erreicht wäre. J. R. Hicks stellte die Gültigkeit dieses Arguments hinsichtlich der Verallgemeinerungsfähigkeit auf die Abgabe genereller politischer Entscheidungen in Frage. 207 Würde nämlich eine Gesellschaft nur solche Veränderungen in der Organisationsstruktur ihrer Produktion durchführen, welche sich ausschließlich auf Effizienzverbesserungen richteten,so wäre a priori die Möglichkeit des Erfolgs anderer "Strategien" ausgeschlossen. Gemeint sind solche Strategien, die aufgrund der Dominanz des Effizienzzieles nicht zum Zuge gekommen wären. 208 Außerdem erachtet Hicks die tatsächliche Besserstellung eines jeden Individu2 0 5
Hotelling (1938): S. 242 u. S. 252.
2 0 6
Ebda. S. 258.
2 0 7
Hicks (1940-41): S. 111.
2 0 8
Vgl. ebda.
200
ritter Teil: Emergenz der Neoklassik in der Moderne
ums für eher unwahrscheinlich. Trotz der allgemeinen Kritik am o. g. "Kompensationskriterium" behält Hicks - wie auch Hotelling - prinzipiell die Aussage bei: Politische Entscheidungsprozesse können seitens der Ökonomen nur auf alleiniger Basis des Effizienzkriteriums getroffen werden. Dies läßt sich aus den von Hicks für die Wohlfahrtstheorie geforderten Aufgaben ableiten:209 1. Die primäre Aufgabe der Wohlfahrtsökonomik besteht im formalen Aufbereiten der Optimalitätsbedingungen effizienter Zustände (entsprechend den Gleichgewichtsbedingungen in der positiven Ökonomik). 2. Die zweite Aufgabe besteht in der Untersuchung der von Optima abweichenden Zustände, wobei dem Konzept der Konsumentenrente eine wichtige Rolle zugeordnet ist. Hicks definiert einen effizienten Zustand als einen solchen, der nicht mehr verbessert werden kann; es gibt somit keinen anderen Zustand, in dem Individuen bessergestellt werden können, d. h., etwaige Verlierer kompensiert oder "Nettogewinne" erzielt werden könnten. Diese Auffassung wurde insbes. von Little kritisiert. Kern seines Arguments bezog sich auf die äußerst problematische Vergleichbarkeit verschiedener Zustände nach einer Umverteilung, auf den Vergleich von "Gewinnen" und "Verlusten".210 Little spricht von der Unmöglichkeit, reale Zustände zu verändern, ohne dabei andere Menschen zu verletzen; eine Kompensation kann nur sehr grob erfolgen, da die Verhaltenspläne der Individuen unzureichend bekannt sind.211
(2) "Kaldor-Kriterium " und Kritik. Kaldor glaubte, wie Hicks, jedoch aus deren Gründen, daß die Ökonomen alle diejenigen politischen Maßnahmen empfehlen sollten, die die Effizienz des ökonomischen Systems auch dann verbessern, wenn damit einige Individuen schlechtergestellt und keine Kompensationen geleistet würden.212 Ausgangspunkt war die Unhaltbarkeit der Pigouschen Versuche zur Messung der sozialen Wohlfahrt aufgrund der Unmöglichkeit der Durchführung interpersoneller Nutzenvergleiche. Das Bestrebenrichtetesich dahingehend, Aussagen über die Veränderungen der Wohlfahrt zu machen, ohne dabei auf die Aggregation und Vergleichbarkeit individueller Nutzen abzustellen. Bei diesem Vorhaben griff man auf Paretos Effizienzkriterium zurück. Hierbei ergab sich als Problem die geringe Übereinstimmung mit faktischen Gegebenheiten. Kaldor setzte an diesem Punkt ein und versuchte mithilfe von Kompensationen, das paretianische Effizienzkriterium handhabbar zu machen: Eine Wohlfahrtssteigerung dann vor, wenn es dem Begünstigten einer wirtschaftspolitischen 2 0 9
Ebda. S. 112.
2 1 0
Utile (1950): S. 113.
2 1 1 2 1 2
Ebda. Kaldor (1939): S. 550.
liegt Maß
18. "Werturteilsfreiheit " und neuere Wohlfahrtsökonomik
201
möglich ist, die Verlierer voll zu entschädigen und dabei einen "Nettog zu realisieren. Entscheidend ist der Begriff der "Möglichkeit"; eine Kompensation muß nicht aus erzielten Gewinnen erfolgen. Besteht die Möglichkeit einer derartigen Kompensation, so ist dies für Kaldor ein objektives Kriterium für die wirtschaftspolitische Maßnahme als wohlfahrtserhöhende Änderung.213 Die Empfehlung dieser Maßnahme durch Ökonomen ist somit für Kaldor eindeutig ("sie steht auf sicherem Grund");214 Kriterium ist einzig und alleine die Möglichkeit zur Kompensationsleistung, unabhängig von ihrer tatsächlichen Durchführung. "Here the economist is on sure ground; the scientific status of his prescriptions is unquestionable, provided that the basic postulate of economics, that each individual prefers more than less, a greater statisfaction to a lesser one, is granted." 215
Kaldor trennt offenkundig jede wirtschaftspolitische relevante Entscheidung in zwei Bestandteile: (a) Die ökonomische Entscheidung, die Maßnahme durchzuführen oder nicht und (b) die politische Entscheidung über die Entschädigung der Benachteiligten. Der erste Bestandteil wird über das Effizienzkriterium festgelegt und ist Aufgabe der Ökonomen; für den zweiten Bestandteil, den Umgang mit der Distributionsebene, sind andere als ökonomische Instanzen zuständig. Scitovsky interpretiert Kaldor in diesem Zusammenhang als jemanden, der die Vorstellung von einer Gesellschaft hat, in der die politischen Repräsentanten sich des Problems der Verteilung vollkommen bewußt sind und die volle Verantwortung für die Beibehaltung einer bestimmten ("gleichen") Einkommensverteilung übernehmen.216 Damit kann der Ökonom den Distributionssektor unbeachtet lassen, insofern es eine Entscheidung und die Verantwortung anbetrifft. Hicks argumentierte ähnlich wie Kaldor, da er eine inhaltlich gleichlautende Beschreibung effizienter Zustände im Zusammenhang mit der Kompensation anführte. 217 Kritik am Kaidorschen Kompensationsprinzip übten insbes. Samuelson und Little . Samuelson hält das Kompensationsprinzip deshalb für undurchführbar, weil es die Anwendung des Konzeptes der Konsumentenrente, welches selbst nur schwierig einsetzbar ist, voraussetzt.218 Weiterhin können Fälle gezeigt werden, in denen aus mehreren Zuständen sich jeweils, entsprechend dem gewählten Ausgangspunkt, eine andere Situation als effizient herausstellen kann (vgl. dazu die Ableitung des Kompensationsprinzips durch Scitovsky). 219 Ferner vernachlässigt das Prinzip ausdrücklich den Verteilungssektor in der vermeintlichen Eikenntnis der Freiheit von Normativität. Hicks sprach von einem "perfekten objektiven Test" [Hicks (1940-41): S. 108]. 2 1 4
Kaldor (1939): S. 551.
2 1 5
Zit. ebda.
2 1 6
Scitovsky
2 1 7
Hicks (1939): S. 711.
2 1 8
Samuelson (1947): S. 195 ff.
2 1 9
Scitovsky
(1951): Vgl. S. 309.
(1941): S. 88.
202
ritter Teil: Emergenz der Neoklassik in der Moderne
Kaldor, wie auch Hicks, geben eine Beschreibung eines "wünschenswerten" (effizienten) Zustands und drücken diesen als Empfehlung für den Politiker aus; sie geben damit gleichsam eine Werturteil ab, denn sie schreiben vor, was der Politiker tun soli Das Kompensationsprinzip erhält somit den Charakter einer Zielvorgabe, die moralischer oder ethischer Kritik ausgesetzt ist und sich nicht durch eine theoretische Aufteilung in Produktions-, Tausch- und Distributionsebene rechtfertigen läßt. 220 Sämtliche Elemente, die zu einer Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes führen (Steigerung der allgemeinen physischen Produktivitäten; Steigerung des realen Gesamteinkommens; Steigerung des gesamten Reichtums),^21 werden von Kaldor mit Blick auf die Möglichkeit des Kompensationsprinzips angeführt 222 Die Bestandteile einer potentiellen Wohlfahrtserhöhung spezifiziert Kaldor nicht; dies gab Little den Anlaß zu einer detaillierten Kritik. 223 Vor allem handelt es sich beim Kompensationsprinzip nicht um eine Methode, die es ermöglicht, einen optimalen Zustand auszuwählen, sondern um eine Zieldeskription. Das Kriterium des Kompensationsprinzips, sei es der Reichtum, die Wohlfahrt, die Effizienz oder das Realeinkommen, enthält offensichtlich ein implizites Werturteil. Handlungen, die aufgrund eines solchen Prinzips durchgeführt werden, sind moralistisch oder zumindest aus expliziten ethischen Prämissen deduziert.224
(3) Das "Scitovsky-Kriterium" und seine Kritik. Auf den Lösungsvorschla von Little werden wir im folgenden noch zu sprechen kommen. Zunächst sei das Scitovsky-Kriterium als Erweiterung des Kaldor- (Hicksschen) Kompensati onsprinzips verdeutlicht. In "A Note on Welfare Propositions in Economics" wies Scitovsky, für bestimmte Situationen der Kaidorschen Definition von Wohlfahrtserhöhung, absurde Ergebnisse nach.225 Es kann gezeigt werden, daß ausgehend von einem Zustand A, der durch eine politische Maßnahme in einen Zustand Β gewandelt wird, diese "Transformation" ebenso "sinnvoll" sein kann wie die Umkehrung von Β nach A. Um diesen Widerspruch zu heilen, gibt Scitovsky folgende Definition von der Steigerung der gesellschafüichen Wohlfahrt: Eine Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt ist dann erreicht, wenn aufgrund einer wirtschaftspolitischen Maßnahme eine Wohlfahrtserhöhung i. S. Kaldors vorliegt und außerdem die Umkehrung der Zustände keine Verbesserung i. S. Kaldors darstellt.226 Auch das Scitovsky-Kriterium unterzieht Little einer ähnlichen Kritik wie das Kaldor-Hicks-Kiiimum. Aussagen und Empfehlungen über Wohlfahrtsveränderungen einer Gesellschaft abzugeben, ist von vornherein ein widerspriichli-
2 2 0
Utile (1950): S. 93.
22 1
Kaldor (1939): S. 550.
2 2 2
Ebda.
2 2 3
Utile (1950): S. 89 ff.; siehe auch Baumol (1946-47): S. 44 ff.
2 2 4
Utile (1950): S. 96.
2 2 5
Scitovsky
2 2 6
Ders. (1942-43): S. 91 f.
(1941-42): S. 84 ff., insbes. S. 88.
18. "Werturteilsfreiheit " und neuere Wohlfahrtsökonomik
203
ches Unternehmen. Wenn a priori interpersonelle Vergleichbarkeit ausgeschlossen ist, dann kann nicht gesagt werden, ob ein Zustand besser ist als der andere, solange eine Person besser und keiner tatsächlich schlechter gestellt ist. 227 Ferner stellt sich das Problem der ethischen Rechtfertigung; es wäre bspw. möglich, die gesamte Wohlfahrt zugunsten einiger relativ Reicher und zu Lasten relativ Ärmerer zu erhöhen, ohne Kompensationen zu leisten. "Without norms, normative statements are impossible." 228
Vor allem aber ist das Scitovsky-KiittTium nur gültig unter der Annahme nicht ausgeführter Kompensationen und der Nicht-Berücksichtigung von Einkommensverteilung.229 "Equity is a matter of ethics and has nothing to do with economics." 230
(4) "Kriterium" nach Little . Little versuchte nun seinerseits, einen Ansatz zur Lösung des Problems der Wohlfahrtserhöhung zu generieren, der die angeführten Probleme berücksichtigt, d. h., ihnen zumindest nicht kontrafaktisch gegenübersteht. Little forderte ein Kriterium, welches unter gegebenen Umständen die beste wirtschaftliche Maßnahme in folgender Weise angeben kann:231 Eine ökonomische Änderung ist dann wünschenswert, wenn sie keine negativen Einkommenseffekte auslöst und die potentiell Geschädigten die potentiellen Gewinner nicht zur Ablehnung der Maßnahme verlocken können. Sind diese Bedingungen gegeben, so wird das Littlesche Kompensationskriterium wie folgt definiert: "A change is economically desirable if it results in a not unfavorable redistribution of welfare, and if a policy of redistributing money by lump-sum transfers could not make everyone as well off as they would be if the change were made." 2 3 2
Ob eine ökonomische Veränderung "gut" oder "schlecht" ist hängt vom Werturteil über die Einkommensverteilung ab. Es ist eine Frage der subjektiven Meinung, ob eine bestimmte Maßnahme wünschenswert ist oder nicht. 233 Lediglich zwei Annahmen sind für das L/tf fe-Kriterium vorauszusetzen: (a) Die gesellschaftliche Wohlfahrt steht in funktionaler Abhängigkeit (steigend) zur individuellen Wohlfahrt; (b) jedes Individuum ist bessergestellt, wenn es sich in einer selbst gewählten Situation befindet 234 Der Unterschied zu den anderen Kompensationskriterien besteht bei Little darin, Werturteile ausdrücklich zuzulassen. 2 2 7
Boulding (1952): S. 13
2 2 8
Samuelson (1952): S. 35.
2 2 9
Utile (1950): S. 100.
2 3 0
Scitovsky
23 1
Utile (1950): Vgl. S. 105.
2 3 2
Zit. ebda. S. 116.
(1942-43): Zit. S. 91.
2 3 3
Ebda.
2 3 4
Ebda. S. 117.
204
ritter Teil: Emergenz der Neoklassik in der Moderne
Diese Erkenntnisse gehen mit der Konstruktion der Verhaltenslinien einher, deren praktische Anwendbarkeit Little selbst in Frage stellt.235 Akzeptiert man jedoch die beiden angegebenen Prämissen, so bleibt für Little auch sein formales Konzept der Verhaltenslinien gültig.236 Zusammenfassend kann gesagt werden: Eine Wohlfahrtserhöhung i. S. v. Little liegt dann vor, wenn eine Maßnahme durchgeführt wird, die wünschenswerte Verteilungswirkungen hat und eine Verbesserung i. S. Scitovsky s darstellt. Dieser Ansatz krankt jedoch an der mangelnden Kenntnis einer derartigen "wünschenswerten Verteilung".
(5) Allgemeine Einschätzung der Kompensationsprinzipien. Der bisher an führte Zweig der neueren Wohlfahrtsökonomik ("Kompensationsprinzipien") ist mehr oder weniger daran gescheitert, daß das Verteilungsproblem nicht in die Überlegungen einbezogen wurde, i. d. R. sogar explizit ausgeschlossen war. Damit ist man über die grundlegende Idee des paretianischen Effizienz- bzw. Optimumbegriffs nicht wesentlich hinausgekommen. Die Leistung dieses Zweigs der neueren Wohlfahrtsökonomik besteht darin, den Begriff des Gemeinwohls der empirischen Analyse näher gebracht zu haben und den alten Introspektionismus, trotz Beibehaltung der individualistischen Position des Utilitarismus, überwunden zu haben.23 ' 18.3 Die "soziale Wohlfahrtsfunktion"
(1) Begriff und Gültigkeit. Das Konzept der "sozialen Wohlfahrtsfunktion geht, im Gegensatz zur neueren Wohlfahrtsökonomik i. e. 5., nicht davon aus, die Tausch- und Produktionssphäre von normativen Voraussetzungen zu isolieren, sondern stellt bewußt auf den Zusammenhang von Effizienz- und Distributionsaspekten ab. Der Weg, den die "soziale Wohlfahrtsfunktion" zur Rettung der Wohlfahrtökonomik anstrebte, war der Vorschlag, ethische Urteile, und damit auch Urteile über die Verteilung, von Bereichen außerhalb der Wirtschaftswissenschaften heranzuziehen. Dies war die Antwort Samuelsons auf die von L. Robbins geforderte Trennung in Effizienz- und Distributionsebene.238
Bei der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" handelt es sich um den Gedanken eine Funktion, welche die Wohlfahrt eines jeden Individuums beinhaltet; hierbei hängt die gesamte Wohlfahrt ab von 1. dem individuellen Wohlbefinden der Gesellschaftsmitglieder und 2. von der Verteilung des "Gesamteinkommens" oder "-Vermögens" einer Gesellschaft auf die einzelnen Individuen. 2 3 5
Ebda. S. 118.
236 vgl. dazu die Ausführungen über Verhaltenslinien im Abschnitt 19.5. 2 3 7
Bohnen (1964): Vgl. S. 97.
2 3 8
Samuelson (1947): S. 219 f.
18. "Werturteilsfreiheit " und neuere Wohlfahrtsökonomik
205
Der Begriff "soziale Wohlfahrtsfunktion" geht auf A. Bergson zurück, 239 der allgemein eine Funktion darstellen wollte, die Veränderungen der gesellschafüichen Wohlfahrt in Abhängigkeit von bestimmten ökonomischen Größen zeigt Dieser Gedanke wurde später von Samuelson und Tintner weiterentwickelt. Ausgangspunkt bei Bergson war die Untersuchung der Ableitung der Marginalbedingungen eines Wohlfahrtsoptimums, wie sie etwa bei Pareto und Barone 240 sowie A. P. Lerner 241 vorzufinden ist. Die "soziale Wohlfahrtsfunktion" ist als eine Funktion definiert, welche die Wohlfahrt einer Gesellschaft in Abhängigkeit setzt zu den konsumierten Mengen der Individuen, den Produktionsfaktoren, den verschiedenen Arbeitsleistungen, der erzielten Produktion usw. in einer bestimmten Periode. Im Argumententerm der Wohlfahrtsfunktion finden sich somit beliebig viele unabhängige Variablen. 242 Die "soziale Wohlfahrtsfunktion" ist sehr allgemein formuliert, denn externe ökonomische Effekte werden genauso vom Kalkül umschlossen, wie die Abhängigkeit der Befriedigung einer Person vom Nutzen anderer Personen. Die "Allgemeingültigkeit" der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" vom Bergson Typ erfährt allerdings nicht nur eine Einschränkung durch die Tatsache, daß die einzelnen Argumente der Funktion nicht gemessen und schon gar nicht in ihrer Beziehung untereinander festgestellt werden können, sondern auch in den a priori getroffenen Annahmen: Bergson geht von konstanten Produktionsfaktoren aus, mit Ausnahme des Faktors Arbeit; von unendlich teilbaren Gütern und von einer Welt, in der nur zwei Güterarten existieren. Die Produktionsfaktoren Boden und Kapital werden immer mithilfe des jeweils anderen Faktors in Verbindung mit Arbeit in einem einstufigen Produktionsprozeß erstellt.243 (2) Der Inhalt. Samuelson war derjenige, welcher den "ethischen Aspekt" in der ökonomischen Theorie betonte. Untersuchen wir deshalb, wie dieser Aspekt bei Samuelson in die Theorie eingreift. Als Ausgangspunkt der Diskussion wählt Samuelson eine "allgemeine Funktion aller ökonomischen Größen eines Systems", von denen angenommen wird, daß sie "irgendeine Form beliebigen ethischen Glaubens" widerspiegeln.244 Bspw., die subjektive ökonomische Größe eines mildtätigen Tyrannen; eines reinen Egoisten; deijenigen, die einen guten Willen haben; eines Menschenfeindes; des Staates; einer Rasse; von Gott usw. Jede mögliche Meinung ist erlaubt. 245 Das einzige, was gegeben sein 2 3 9
Bergson (1972): S. 9; Hier taucht der Begriff "Economic Welfare Function" erstmalig
auf. 2 4 0
Barone (1935).
2 4 1
Lerner (1934).
2 4 2
Bergson (1972): S. 8 f.
2 4 3
Ebda. S. 7 f.
2 4 4
Samuelson (1947): Vgl. S. 221.
2 4 5 Zit. ebda, (eigene Übersetzung): "... we take as a starting point for our discussion a function of all the economic magnitudes of a system which is supposed to characterize some ethical belief - that of benevolent despot, or a complete egoist, or 'all men of good will', a misanthrope, the state, race, or group mind, God, etc!"
206
ritter Teil: Emergenz der Neoklassik in der Moderne
muß, ist, daß dieser "Glaube" eine unzweideutige Aussage über einen Konfigurationenvergleich ökonomischer Systeme i. S. v. "besser", "schlechter" oder "indifferent" zuläßt und daß dieses Verhältnis darüber hinaus transitiv ist 2 4 6 Die daraus entwickelte Funktion muß lediglich ordinal definiert sein und kann selbst auf beliebige Arten kardinaler Indices oder Indikatoren verzichten. Nutzt man nur einen aus einer unendlichen Fülle möglicher Indikatoren oder kardinaler Indices, so kann die Funktion geschrieben werden als W = W(Z1,Z2,...), wobei Ζ alle möglichen Variablen einschließlich derer mit nicht-ökonomischem Charakter repräsentiert. Zwischen den einzelnen Elementen aus Ζ gibt es eine Anzahl "technischer" Restriktionen, welche die Möglichkeit der behebigen unabhängigen Variation der einzelnen Z-Elemente einschränken. Der Inhalt der technischen Restriktionen kann nach dem gewünschten "Abstraktionsniveau" oder je nach vorliegendem "Werturteil" des jeweiligen Forschers bestimmt werden.^47 So wird ein Utopist etwa sämtliche institutionellen Beschränkungen, unabhängig ihrer empirischen Relevanz vernachlässigen. Für jedes Individuum i existiert demnach eine "Beschränkungsfunktion" der Form 248 g^Z1,Z2,...) = 0 (hier in ihrer impliziten Schreibweise). Mit diesen "Banalitäten", so Samuelson, sei der Punkt erreicht, wo man mit der Beschreibung des Gegenstandes enden könnte, würden es nicht einige Individuen für wichtig erachten, die Form von W zu spezifizieren und sich über die Beschaffenheit der Variablen und Nebenbedingungen Gedanken machen.249 Samuelson nimmt zu diesen "Problemen" in Form von acht Punkten Stellung. Gerechtfertigt wird darin allerdings nur die "technische Form" des Maximierungsmodells unter Nebenbedingungen. Eine inhaltliche Stellungnahme sucht der Leser vergebens, d. h., die Beantwortung ζ. B. der Frage, wie die ökonomische Größe des mildtätigen Despoten auf den Begriff, genauer: "auf die Variable", gebracht werden kann, bleibt offen. Die Beantwortung dieser Frage gelingt nicht einmal ansatzweise für rein ökonomische Größen. Trotz allem: In der "Mathematical Analysis"250 werden die Tausch- und Produktionsbedingungen für ein Wohlfahrtsoptimum gegeben, auf deren Aufzählung ich hier verzichte.251 Eine Würdigung der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" findet sich im anschließenden Abschnitt 2 4 6
Samuelson (1947): Vgl. S. 221.
2 4 7
Vgl. ebda.
2 4 8
Ebda. S. 222, siehe auch Tintner (1946): S. 69 ff.
2 4 9
Samuelson (1947): Vgl. S. 222.
2 5 0
Ebda. S. 229-249.
2 5 1
Diese Bedingungen sind in jedem fortgeschrittenen mikroökonomischen Lehrbuch sowie in der Standardliteratur zur Preis- und Allokationstheorie nachzulesen.
18. "Werturteilsfreiheit " und neuere Wohlfahrtsökonomik
18.4 Kritik
207
an der "sozialen Wohlfahrtsfunktion"
(1) Kritik an der Einlösung des Anspruchs der Integration ethischer mente. Dem Anspruch der Einbeziehung ethischer Elemente in die Wohlfahrtsökonomik konnte Samuelson leider auf einem nur sehr allgemeinen Erkenntnisniveau gerecht werden, indem er Moralität als unbestimmte Ausdrücke (Variablen) zur Bestimmung der sozialen Wohlfahrt zuließ. Im Prinzip wird lediglich eine "catch-all" Variable definiert, welche als Ausdruck für alle außerökonomischen (und auch innerökonomischen) Größen steht. Es gibt keinen Versuch, anders als über nicht-spezifizierte Variablen, Ethik in die Wohlfahrtsökonomik zu integrieren.
Im Gegensatz zum "Kompensationsprinzip" werden beim Konzept der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" Werturteile bewußt zugelassen. Unabhängig von der Frage der Messung der Variablen und der Bestimmung einer solchen Wohlfahrtsfunktion sieht sich der Forscher (der "Konstrukteur" einer "sozialen Wohlfahrtsfunktion") dem gesamten Spektrum existierender Werturteile ausgesetzt, welches keine Auskünfte darüber zuläßt, was moralisch gewünscht oder nicht gewünscht ist. Spräche sich bspw. die Mehrheit der Individuen in einer Gesellschaft dafür aus, Selbstjustiz zu üben, so wäre bei gleicher Gewichtung der Stimmen, Mord und Totschlag ein gesellschafüich optimaler Zustand. Um diesem Zustand vorzubeugen, müßte, entsprechend eines "höheren moralischen Urteils", den potentiell Betroffenen oder den "Weisen dieser Gesellschaft" eine solche Gewichtung ihrer Stimmen zuteil werden, daß ein Zustand, wie der oben beschriebene, abgewehrt (überstimmt) werden könnte. Die Antwort der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" würde hier lauten: "Nehme die Rechtfertigung für die G wichtung (das 'höhere moralische Urteil') aus anderen als ökonomischen Bereichen". Das Problem besteht darin, daß niemand bestimmen kann, eingeschlossen die Theologen oder Philosophen, ob die Stimme des einen um ein Vielfaches (um welches Vielfache?) größer ist als die eines anderen.252
Die Antwort der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" auf die Frage nach der Festle gung nicht-egoistischer Rahmenbedingungen, der Hinweis auf nicht-ökonomische Bereiche, ist demnach ein schlichtes Ausweichen der Behandlung (und der Lösung) der ethischen Frage. Abgesehen davon gelingt es nicht einmal für den "reinen ökonomischen Bereich", ein "funktionsfähiges Design" des Konzeptes der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" zu realisieren. Der Ansatz der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" kann daher als gescheitert betrachtet werden. (2) Kritik an der Bestimmung der "sozialen Wohlfahrtsfunktion". sieht bei der Bestimmung der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" das Problem der Festlegung ihrer Steigung und das ihrer exakten Spezifizierung in Abhängigkeit von der Wohlfahrt der einzelnen Individuen.253 2 5 2 Die Frage könnte konkret lauten: Hat die Wählerstimme eines Pfarrers das 23-fache Gewicht der Stimme einer Putzfrau? 2 5 3
Scitovsky
(1951): S. 312.
S
208
ritter Teil: Emergenz der Neoklassik in der Moderne
Neben der aufgezeigten problematischen Aussage, daß eine "soziale Wohlfahrtsfunktion" den Ökonomen aus der Pflicht zu entlassen scheint, Werturteile abzugeben, stellt sich nun im Rahmen der Gestaltung einer "sozialen Wohlfahrtsfunktion" die Festlegung der Steigung als schwerwiegender Kritikpunkt heraus; denn die Fesüegung der Steigung setzt die Determinierung der relativen Gewichte der individuellen Präferenzen voraus, was gleichbedeutend ist mit der Frage, welche Gewichte jedem einzelnen Individuum zugesprochen werden sollten: Dem einen mehr und dem anderen weniger (?), oder entsprechend der Annahme des klassischen Utilitarismus (der Gleichheit aller Individuen), eine absolute Gleichverteilung in den Entscheidungsgewichtungen? Auch dieser Umstand führt in das Dilemma des oben aufgeführten Beispiels: Ethisch nicht intendierte Effekte können gesellschaftlich gewollt sein; daran schließt sich die an, wer bestimmen soll, was moralisch gut oder schlecht ist. Wie groß auch immer die Hilfestellungen aus anderen als ökonomischen Bereichen sein mögen, bei der Bestimmung der Steigung der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" käme der Ökonom nicht umhin, seine eigenen Werturteile einzubringen.254
(3) Kritik am formal-logischen Aufbau der "sozialen Wohlfahrtsfunkti Das "Arrow-Paradoxon". Arrows Kritik setzt am Konzept der Bergsonschen Formulierung der Integration von Werturteilen als theorieimmanentem Element, also der Generierung der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" an. 255 An die Stelle des utilitaristischen Glücksbegriffs tritt eine Konzeption individueller Präferenzrangfolgen, welche die wertende Einschätzung der Wirtschaftssubjekte gegenüber einer Anzahl möglicher Alternativen widerspiegelt. Ein Individuum bringt die ihm zur Auswahl stehenden Möglichkeiten in eine Reihenfolge (Rangskala). Diese Rangskala ist Ausdruck beobachtbarer Wahlentscheidungen oder getätigter Meinungsäußerungen und tritt somit in eine methodologische Differenz zum rein behavioristischen Nutzenkonzept der New Welfare Economics 256 Statt der Aufsummierung individueller Nutzengrößen zu einer "Wohlfahrtsgröße" unternimmt Arrow den Versuch der "Amalgamierung", der Zusammenfassung der individuellen Präferenzordnungen zu einer kollektiven oder sozialen Präferenzordnung oder kollektiven Nutzenskala.257 Weiterhin tritt an die Stelle der Maximierung individueller Zustände oder der Maximierung der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" der neueren Wohlfahrtstheoretiker die Aufstellung der sozialen Präferenzordnung in der Weise, daß die Interessen eines jeden Gesellschaftsmitgliedes bestmöglich berücksichtigt werden: Diejenige Alternative, welche in der sozialen Präferenzordnung an erster Stelle steht, ist die für die Gesellschaft "beste Alternative".
Die "soziale Wohlfahrtsfunktion" ist bei Arrow definiert als der Proz die Regel, welche für jede individuelle Rangskala alternativer soziale 2 5 4
Ebda.
2 5 5
Arrow (1973): S. 22.
2 5 6
Vgl. ebda. S. 22 ff.
2 5 7
Ebda.
18. "Werturteilsfreiheit " und neuere Wohlfahrtsökonomik
209
stände 258 eine entsprechende soziale Rangskala für alternative stände aufstellt 259
soziale
Voraussetzung für diese Definition der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" ist die Vergleichbarkeit der einzelnen Alternativen aus der Menge aller möglichen sowie die Vollständigkeit oder Konsistenz, die Transitivität und die Reflexivität dieser Alternativen in einer Präferenzordnung. 260 Arrows Definition der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" ist eine logische Verallgemeinerung jeder Art von ordinalen Wohlfahrtsfunktionen", indem es sich um beobachtbare "Wahlkriterien" handelt, an die bestimmte Minimalforderungen (-bedingungen) geknüpft sind. Diese (insgesamt fünf) Bedingungen sind hier aufgeführt: 1. Eine "soziale Wohlfahrtsfunktion" muß für jede denkbare Konfiguration individueller Präferenzordnungen jeweils eine transitive Rangskala der Alternativen für die Gesellschaft festsetzen. Prämisse ist, daß die Zahl der Alternativen mindestens drei und die der Gesellschaftsmitglieder mindestens drei beträgt.261 2. Steigt eine Alternative in der Wertschätzung aller Gesellschaftsmitglieder, so steigt diese Alternative auch in der sozialen Präferenzordnung; zumindest darf sie nicht eine niedrigere Stufe einnehmen ("Pareto- Regel").262 3. Unabhängigkeit irrelevanter Alternativen: Nehmen wir an, daß eine bestehende Konfiguration individueller Präferenzrangskalen durch exogen hinzutretende Alternativen verändert wird, die Reihenfolge der individuellen Präferenzbeziehungen zwischen den ursprünglichen Alternativen jedoch unberührt bleibt. Ist dies so, dann sollen die hinzutretenden Alternativen auch nichts an der sozialen Rangordnung der ursprünglichen Alternativen ändern. D. h., für die ursprüngliche gesellschaftliche Präferenzordnung sind die hinzukommenden Alternativen unter den genannten Voraussetzungen als irrelevant zu betrachten.263 4. Der Fall, daß eine soziale Präferenzordnung den Individuen eine Rangfolge der Alternativen "aufzwingt", welche diese nicht wünschen, d. h., welche den 2 5 8
Eine Rangskala für jedes Individuum.
2 5 9
Arrow (1973): Vgl. S. 23.
2 6 0
Ebda. S. 13 ff.
2 6 1
Vgl. ebda. S. 24; Zit. ebda.: "Condition 1: Among all the alternatives there is a set S of three alternatives such that, for any set of individual orderings Ti,...,T n of the alternatives in S, there is an admissible set of individual orderings R},...,R n of all alternatives such that, for each individual i, χ Rj y if and only if χ T, y for χ and y in S." 2 6 2 Arrow (1973): Vgl. S. 26; Zit. ebda.: "Condition 2: Let Ri,...,R n and R'i,...,R' n be two sets of individual ordering relations, R and R' the corresponding social orderings, and Ρ and P' the corresponding social preference relations. Suppose that for each i the two individual ordering relations are connected in the following ways: for x' and y' distinct from a given alternative x, x* R'j y' if and only if x' R'j y; for all y\ χ Rj y' implies χ R'j y'; for all y', x Pj y' implies χ P'j y'. Then, if χ Ρ y, χ Ρ'y." 2 6 3 Arrow (1973): Vgl. S. 27; Zit. ebda.: "Condition 3: Let Rj,...,R n and R ' i , . . . , ^ be two sets of individual orderings and let C(S) and C(S) be the corresponding social choice function. If, for all individuals i and all χ and y in a given environment S, χ Rj y if and only if χ R'j y, then C(S) and C(S) are the same (independence of irrelevant alternatives)."
14 Frambach
210
ritter Teil: Emergenz der Neoklassik in der Moderne
individuellen Präferenzordnungen zuwiderlaufen, ist ausgeschlossen. Wählen alle Individuen χ vor ν, so kann sich keine soziale Präferenzordnung herausbilden, die y vor χ setzt.264 5. Es ist keine "soziale Wohlfahrtsfunktion" zugelassen, die festsetzt, daß die Präferenzrangfolge der Gesellschaft der eines bestimmten Individuums entspricht und sich gegen andere individuelle Präferenzordnungen durchsetzt. M. a. W.: Es gibt keine einzelne Person, die darüber entscheidet, welches der "beste Zustand" einer Gesellschaft ist (keine Diktatur).265 Die Kritik an der Aussagekraft einer "sozialen Wohlfahrtsfunktion" leitete Arrow genau aus diesen fünf Bedingungen ab, und er führte damit alle denkbaren Konstruktionsweisen "sozialer Wohlfahrtsfunktionen", welche diesen fünf Minimalerfordernissen genügen wollen und auf ordinaler Basis aufgebaut sind, ad absurdum.
Konkret zeigte Arrow, daß eine Wahl, die zwischen mehr als zwei Alte ven ausgetragen wird, nicht die Konstruktion einer "sozialen Wohlfahr tion" erlaubt, die die Interessen der Individuen (individuelle Präferenze sentiert und gleichzeitig zu einer konsistenten und nicht-diktatorischen Präferenzrangfolge der möglichen Alternativen föhrt. Dies ist die Aussage des "Allgemeinen (Un-) Möglichkeitstheorems". Wenn also die Möglichkeit interpersoneller Nutzenvergleiche ausgeschlossen ist, so ist die einzige zufiriedenstellende Methode, welche den Schluß von individuellen Nutzen auf soziale Präferenzen erlauben könnte, aufgezwungen bzw. diktatorisch. Um diese bekannte fundamentale Aussage der Wirtschaftstheorie weiter zu verdeutlichen, sei als Beweis ein vereinfachendes Beispiel angeführt: Betrachte eine Gesellschaft von drei Individuen I, II, III, die zwischen drei Konzepten von Sozialpolitiken (Alternativen x, y, z) wählen können. I präferiert Alternative χ vor y und y vor ζ und damit auch χ vor ζ; II präferiert y vor ζ und ζ vor χ und damit auch y vor x; III präferiert ζ vor χ, χ vor y und entsprechend ζ vor y; im Überbück:
2 6 4 Arrow (1973): Vgl. S. 28 ; Zit. ebda, und S. 29: "Definition: A social welfare function will be said to be imposen if, for some pair of distinct alternatives χ and y, x R y for any set of individual orderings where R is social ordering corresponding for R^,...,R Q ... Condition 4: The social welfare function is not to be imposed." 2 6 5 Arrow (1973): Vgl. S. 29; Zit. ebda, und S. 30: "Definition: A social welfare function is said to be dictatorial if there exists an individual i such that, for all χ and y, x Pj y implies χ P y regardless of the orderings Rj,...,R n of all individuals other than i, where Ρ is the social preference relation corresponding to R},...,R n ... Condition 5: The social welfare function is nor to be dictatorial (nondictatorship)." 2 6 6 Arrow (1973): Vgl. S. 59; Zit. ebda.: "(General Possibility Theorem): If there are at least three alternatives which the members of the society are free to order in any way, then every social welfare function satisfying Conditions 2 and 3 and yielding a social ordering satisfying Axioms I and I I [Konsistenz und Transitivität; H. F.] must be either imposed or dictatorial."
266
18. "Werturteilsfreiheit " und neuere Wohlfahrtsökonomik
iL
ΠΙ
χ
y
ζ
y
ζ
χ
ζ
χ
y
I
211
Sind alle Personen mit gleichen Rechten (Gewichten) ausgestattet, so kann ein Versuch zur Konstruktion der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" auf Basis der "Mehrheitsregel" angestrengt werden. Ziehen zwei der drei Personen χ der Alternative y vor (dies ist bei I und III der Fall), so existiert eine soziale Präferenz χ vor y. Unter denselben Voraussetzungen existiert auch eine soziale Präferenz von y gegenüber ζ (Person I und Person II). Hieraus folgt, daß auch die Alternative χ der Alternative ζ vorgezogen werden muß (Transitivitätsaxiom), jedoch ziehen zwei Personen (Personen II und III) die Alternative ζ der Alternative χ vor, dies entspricht einer sozialen Präferenz von ζ gegenüber x. Die "Mehrheitsreger führt in diesem Beispiel also zum Widerspruch der sozialen Präferenzfunktion, somit ist gleichsam deren Allgemeingültigkeit widerlegt. Als Ergebnis ist die bekannte Tatsache festzuhalten, daß demokratische Entscheidungsprozesse ("Mehrheitsregeln") nicht immer funktionieren.
Die Funktionsfähigkeit des Konzeptes der "sozialen Wohlfahrtsfunktio nunmehr an ihrem inneren Widerspruch gescheitert. Weiterführende Ansätz auf diesem Gebiet stammen u. a. von Ζλ Black sowie von L. A. Goodman und //. Markowitz. So zeigte Duncan Black, daß die politischen Präferenzen einer Gruppe, ausgedrückt ζ. B. über die Wahl eines Kanditaten, durchaus sinnvoll die Präferenzen der einzelnen Mitglieder der Gruppe angeben können; Voraussetzung ist dabei die Einordnung der Wahlmöglichkeiten in einer eindimensionalen Skala (ζ. B. Einordnung in ein politisches Spektrum von "rechts" bis "links"). Black zeigte, daß das "Arrow-Paradoxon" bei einer auf diese Weise konstruierten "sozialen Wohlfahrtsfunktion" nicht eintritt. 267 Goodman und Markowitz unternahmen einen "Ausbruchsversuch" aus den sozialen Entscheidungsproblemen, indem sie auf die Bedingung der Unabhängigkeit der irrelevanten Alternativen verzichteten, dadurch jedoch gleichzeitig gezwungen waren, das ordinale Präferenzskalenkonzept aufzugeben. So entwickelten sie einen Ansatz, der wieder auf die kardinale Verwendung individueller Präferenzskalen abstellte.268
1
26 7
Black (1948a): S. 23 ff. und Ders. (1948b): S. 245 ff.
2 6 8
Goodman/Markowitz
(1952): S. 257 ff.
212
ritter Teil: Emergenz der Neoklassik in der Moderne
18.5 Kategorien in der neueren Wohlfahrtsökonomik In diesem Abschnitt werden diejenigen Kategorien vorgestellt, die die neuere Wohlfahrtsökonomik auf den Weg gebracht hatte, bzw. die sich von denen vorangegangener Theoriekonzepte unterscheiden. Dies anbetrifft in erster Linie die Kategorien der Nachfrage, des Nutzens und der Wohlfahrt. Zur Weiterentwicklung dieser Kategorien führte die neuere Wohlfahrtsökonomik Begriffe ein, wie die Grenzrate der Substitution, das Prinzip seiner Abnahme, Einkommens- und Substitutionseffekte, superiore und inferiore Güter sowie die kompensierte Variation. Um einen besseren Überblick der z. T. sehr komplexen und komplizierten Sachverhalte abzugeben, beschränke ich mich im wesentlichen auf die Behandlung der Arbeiten von Hicks, die allerdings als durchaus repräsentativ für den Kategorienapparat der neueren Wohlfahrtsökonomik angesehen werden dürfen (von zentraler Bedeutung ist dabei die Ableitung des Gesetzes der abnehmenden Nachfrage der neueren Wohlfahrtsökonomik, die sog. Hickssche Nachfrage. 269) Als theorieimmanente Kritik daran, wird der Ansatz von Little angefügt (Abschnitt 18.6). Da es im Rahmen der hier verwendeten Methode der Rekonstruktion ökonomischer Kategorien aber erforderlich ist, die Kategorien aus ihrem Entstehungszusammenhang heraus zu entwickeln, ist es unumgänglich, über einige wenige Seiten die etwas umständlichen graphischen Konzepte der Einkommens-Konsum- und Preis-Konsumkurven und später die der Grenz- und Verhaltenslinien kurz vorzustellen. Dabei wird jedoch deuüich, in welche "Trickkiste" die Ökonomen greifen mußten, um bestimmte logische Defizite, die z. B. bei der Ableitung des Nachfragekonzeptes auftauchten, einer Erklärung zuzuführen. Das "konstruierende Element" neoklassischer Theoriebildung kommt hier sehr stark zum Ausdruck.
(1) Neue Begriffe der neueren Wohlfahrtsökonomik. In der frühen Neok sik, wie auch bei Marshall, sind "gegebene Bedürfnisse" in einer Nutzenfunktion manifestiert, die Intensität des Wünschens gilt annahmegemäß als vorhanden. Diese Annahme ist bei Edgeworth und Pareto nicht notwendig, denn "gegebene Wünsche" werden (hinreichend) als existente Präferenzskala (Präferenzordnung) unterstellt. Dazu wird lediglich die Annahme benötigt, daß eine Präferenzordnung für verschiedene Güter beim Individuum vorhanden ist. Die Annahme steht natürlich jeder Kritik offen, und es wird - so Hicks - ein theoretischer Weg offenbart, den man beschreiten kann oder nicht.270 Wann aber kann eine so schlüssige Nachfragetheorie wie die von Marshall jenseits der Annahme Präferenzskala aufgebaut werden? Zur Konstruktion einer Nachfragetheorie wäre es notwendig, jegliches Konzept auszusondern, welches von quantitativen Nutzengrößen abhängt. Als einziger möglicher Weg zur Aufstellung einer solchen 2 6 9 Die Ausführungen stehen nicht im Widerspruch zur Definition von Hicksscher Nachfrage als optimaler Allokationsvektor des Ausgabenminimierungsproblems unter Nebenbedingungen. 2 7 0
Hicks (1968): S. 18.
18. "Werturteilsfreiheit " und neuere Wohlfahrtsökonomik
213
Nachfragetheorie bleibt somit nur - so Hicks - das Ordinalkonzept. Den Grundstein dafür hatte Pareto gelegt.271 Methodisch folgt Hicks nun A. Marshall indem er systematisch dessen Konzepte substituiert, die quantitative Nutzengrößen implizieren bzw. voraussetzen. 272 Der Begriff des Grenznutzens wird zuerst überprüft. Wenn der Begriff des Gesamtnutzens selbst willkürlich ist, so muß dies für den Grenznutzen zwangsläufig gelten. Hicks schlägt vor, das häufig in Anspruch genommene Verhältnis zweier Grenznutzen (Optimalitätsbedingung) durch die Steigung einer gegebenen Indifferenzkurve zu ersetzen, welche ja unabhängig von der Willkür quantitativer Nutzengrößen (Gesamtnutzen) ist. Um die Gefahr ungewollter Assoziationen zu vermeiden, wird das Verhältnis zweier Grenznutzen bzw. die Steigung der Indifferenzkurve durch den Begriff "Grenzrate der Substitution" (marginal rate of substitution) ersetzt.273 Hicks betont explizit die Unabhängigkeit dieser Definition von einem quantitativen Nutzenmaß, eine Behauptung, die wir bereits in früheren Abschnitten grundsätzlich in Frage gestellt hatten.
Als zweites wird das Prinzip des abnehmenden Grenznutzens ausgetauscht.274 Die Argumentation ist vergleichsweise ähnlich der Kritik am Grenznutzen. Geht man davon aus, daß der Grenznutzen keinen konkreten Inhalt hat, so muß das gleiche für das Prinzip des abnehmenden Grenznutzens gelten. Dieses Prinzip substituiert Hicks durch das "Prinzip der abnehmenden Grenzrate der Subs tution" (principle of diminishing marginal rate of substitution)? 15 In 2 7 1 Ebda. Pareto hatte, in den Augen von Hicks, die große Gelegenheit vertan, sein Nutzenkonzept weiter auszubauen, da er es versäumte, seine Theorie im Licht späterer Erkenntnisse zu reformulieren [Hicks (1968): S. 18]. Aber genau diesen "Ausbau" des ordinalen Konzeptes hatten bereits E. E. Slutzky, in dem berühmten Aufsatz "Sulla teoria del bilancio del consumatore" von 1915, sowie in modifizierter Form R. G. D. Allen und J. R. Hicks , in dem Artikel "A Reconsideration of the Theory of Value", 1934, vollzogen. Außerdem bildete diese Theorie das Novum in Hicks' "Value and Capital", 1939. Slutzkys Intention bestand in der Aufstellung einer Konsumtheorie, die nicht auf psychologische und philosophische Kriterien zurückgreift, so wie es aus seiner Sicht selbst bei Konzepten von u. a. Gossen und Jevons noch der Fall gewesen war. "Wenn die Wissenschaft der Ökonomie auf einer soliden Basis stehen soll, so muß sie vollständig unabhängig sein von psychologischen Annahmen und philosophischen Hypothesen." [Slutzkyi1952): Zit. S. 27; eigene Übersetzung]. 2 7 2
Siehe auch Allen / Hicks (1934): S. 55 f.
2 7 3
Hicks (1968): S. 20. Die Grenzrate der Substitution von X für Y ist definiert als die Menge von Y, welche gerade den Konsumenten für den Verlust einer marginalen Einheit von X entschädigt (kompensiert). Entsprechen die Grenzraten der Substitution beliebiger zweier Güter dem Verhältnis ihrer Preise, so liegt i. ü. ein Marktgleichgewicht vor. Im Zuge der Charakterisierung der Grenzraten definiert Hicks Substitutions- und Komplementärgüter, und zwar unabhängig von quantitativen Nutzenmaßen [Hicks (1968): S. 44]. Hicks' Definitionen stimmen für den Fall der Negierung von Einkommenseffekten (Konstanz des Grenznutzens des Geldes) mit der Edgeworth-Pareto Definition überein. Betrachte zwei Güter (X, Y) und Geld, Definition: [Hicks (1968): Vgl. S. 44] - Wenn X gegen Geld substituiert wird und die Grenzrate von Y gegen Geld abnimmt, so ist Y ein Substitut für X. - Wenn X gegen Geld substituiert wird und die Grenzrate der Substitution von Y gegen Geld ansteigt, so spricht man vom komplementären Verhalten zwischen X und Y. 2 7 4
Allen/Hicks
2 7 5
Hicks (1968): S. 20.
(1934): S. 57.
214
ritter Teil: Emergenz der Neoklassik in der Moderne
Reconsideration of the Theory of Value" wird von einer zunehmenden Rate gesprochen,276 oder genauer: von der "Regel der zum Ursprung konvex verlaufenden Indifferenzkurve". Darüber hinaus ist es möglich, analog zu der von Robinson und Lerner definierten "Substitutionselastizität", die "Geschwindigkeit" der Zunahme der Rate zu messen.277 Die Rechtfertigung des Prinzips der abnehmenden Grenzrate der Substitution ergibt sich in Analogie zu den Argumenten, mit denen Marshall das Prinzip des abnehmenden Grenznutzens begründete: Würde die Grenzrate der Substitution nicht abnehmen, so wäre kein stabiles Gleichgewicht erreichbar (auch dann, wenn die Optimalitätsbedingung erfüllt wäre). 278 Ziel ist es, mithilfe des Prinzips der abnehmenden Grenzrate der Substitution Marktgesetze zu deduzieren, und zwar solche Gesetze, welche die Konsumentenreaktionen bei der Veränderung von "Marktbedingungen" beschreiben. Wenn sich die "Marktbedingungen" verändern, so bewegt sich der Konsument von einem Gleichgewicht zum anderen, und sowohl für die Gleichgewichtspunkte als auch für den Prozeß zwischen den Gleichgewichten muß das Gesetz von der abnehmenden Grenzrate der Substitution279 Gültigkeit besitzen; dies ist die zentrale Annahme. Um also eine eindeutiges und stabiles Gleichgewicht zu erhalten, ist die Annahme der Konvexität der Indifferenzkurven zum Ursprung entscheidend. 2 7 6
Allen/Hicks
(1934): S. 57.
2 7 7
Siehe dazu ebda. S. 58 f. Es finden sich hier Verweise auf Robinson (1938): S. 256 und Lerner (1933): S. 68-70. 2 7 8 Folgendes Diagramm einer nicht-konvexen Indifferenzkurve macht diesen Umstand sofort deutlich.
Abbildung 3: Nicht-konvexe Indifferenzkurve I n Q : G R S Y t x = pY/px Die Grenzrate steigt aber links von Q (Indifferenzkurve ist in diesem Bereich konkav zum Ursprung), d. h., eine weitere Verschiebung der Indifferenzkurve nach rechts würde ein höheres Nutzenniveau generieren. Damit ist Q kein Maximum und damit kein Gleichgewicht. 2 7 9
Konvexität der Indifferenzkurven.
18. "Werturteilsfreiheit " und neuere Wohlfahrtsökonomik
215
Interessant ist hierbei, wie Hicks dieses "Gesetz" selbst einschätzt. Der "reinen Ökonomik", so Hicks, gelinge es in beachtlicher Weise, "Kaninchen aus dem Hut zu zaubern"; offensichtlich a priori Bedingungen aufzustellen, die auf die Realität verweisen sollen. Faszinierend ist dabei, wie die "Kaninchen aus dem Hut kommen". Hicks nennt zwei Wege: (a) Über die Annahmen zu Beginn eines jeden ökonomischen Argumentes und (b) über die Annahmen, die bestimmte Eigenschaften (hier ζ. B. Nicht-Konvexitäten) ausschließen.
Auf Grundlage der von Hicks neu definierten Begriffe wurde eine Theorie als Zweig der neueren Wohlfahrtsökonomik entwickelt, die als "Theorie des sozialen Optimums" bezeichnet wird und, neben Hicks, auf Α. P. Lerner 280 zurückzuführen ist. Die Bedingungen ßr ein "soziales Wohlfahrtsoptimum" finden sich auch bei 0. Lange281 undA/. W. Reder 2 8 2 Ein "soziales Wohlfahrtsoptimum" wird definiert als eine Situation, in der ein Individuum (als Mitglied einer Gesellschaft) keinen stärker bevorzugten Zustand erreichen kann, ohne dabei andere schlechter zu stellen.283 Sämüiche (sieben) Bedingungen für ein "soziales Wohlfahrtsoptimum" 284 faßt Boulding in zwei umfassenden zusammen:285 1. Immer dort, wo die Transformation einer Variablen in eine andere technisch durchführbar ist, ist die Grenzrate der Substitution gleich der Grenzrate der technischen Substitution. 2. Die (jeweils identischen) Substitutionsraten müssen sich entsprechen.
Die Bedingungen eines "gesellschaftlichen Optimums" lassen sich vollständig aus dem Modell der vollkommenen Konkurrenz ableiten. Aus diesem Grund werden auch marktwirtschaftliche und sozialpolitische Maßnahmen aus d Kreis eher quantitativ orientierter Wirtschaftstheoretiker stark befürwortet. Gelänge es, die vollkommene Konkurrenz zu verwirklichen, so träte mithin als "positive Externalität" ein "soziales Wohlfahrtsoptimum" ein; dies stimmt mit der Intention der paretianischen ökonomischen und soziologischen Theorie überein. So wirklichkeitsfremd das Modell der vollständigen Konkurrenz ist, so realitätsfern ist folglich mindestens auch das wohlfahrtstheoretische Konstrukt eines
2 8 0
Urner (1934): S. 157 ff.
2 8 1
Lange (1942).
2 8 2
Reder (1963): Chap. II.
2 8 3
Boulding (1952): S. 12.
2 8 4 Die sieben Marginalbedingungen eines Wohlfahrtsoptimums finden sich bei Reder (1963): S. 21-36, insbes. S. 35 f. 2 8 5 Reder (1963): Vgl. S. 23. In der modernen MikroÖkonomik werden diese Annahmen i. d. R. wiedergegeben als: (a) Gleichheit der Grenzraten der Substitution zwischen zwei Gütern für alle Individuen, die diese Güter konsumieren; (b) Gleichheit der Grenzraten der Transformation zwischen zwei Produktionsfaktoren für alle Firmen, welche diese Güter zur Produktion beliebiger Erzeugnisse einsetzen; (c) Gleichheit der Grenzrate der Substitution und Transformation zwischen jeweils zwei beliebigen Gütern für alle Individuen.
216
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"gesellschaftlichen Optimums". Ein zweiter wesentlicher Kritikpunkt bezieht sich auf die Tatsache, daß mittels der aufgestellten Bedingungen keine Verteilungsaussagen getroffen sind ("Wohlfahrtsoptimum" bezieht sich inhaltlich lediglich auf Effizienz). D. h. ein "Wohlfahrtsoptimum" im oben definierten Sinn kann eine vollkommen ungleiche Einkommensverteilung als wünschenswert beinhalten. Versuche, Verteilungsaspekte mit Effizienzgesichtspunkten zu verbinden wurden von Little durchgeführt und vor allem im Konzept der "sozialen Wohlfahrtsfunktion" entwickelt. Zum Erfolg dieser Versuche wurde im Abschnitt 18.4 Stellung genommen. (2) Kategorie der Nachfrage - Hickssche Erklärung des Gesetzes der menden Nachfrage. Marshall leitet die Nachfragekurve über das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens ab: 286 Ausgehend von der Annahme der Konstanz des Grenznutzen des Geldes ist für das Optimum die Konstanz des Verhältnisses von Grenznutzen eines Gutes zu seinem Preis erforderlich (U x /p x = const.). Fällt der Preis, so muß - damit sich das optimale Verhältnis nicht verändert der Grenznutzen sinken. Ein niedrigerer Grenznutzen wird jedoch bei einer höheren Nachfrage realisiert. D. h.: Ein Rückgang des Preises des Gutes X führt zu einer Steigerung der Nachfrage nach diesem Gut. Was meint nun die "Konstanz des Grenznutzen des Geldes" in der Hicksschen Terminologie? - Es wird angenommen, daß Veränderungen bei den Ausgaben der Konsumenten (bzw. Veränderungen beim Einkommen) keine Wirkung in bezug auf die Grenzrate der Substitution von Geld und einem beliebigen Gut (GRSY X ) zeitigen. Darum führt eine Zunahme des Einkommens, bei Konstanz des Preises von X, zu keiner Veränderung der Nachfrage nach Gut X. M. a. W.: Die Nachfrage nach X ist unabhängig vom Einkommen (Konstanz des Grenznutzen des Geldes, U y ). Das Gesetz der abnehmenden Nachfrage bei Hicks kann in drei Schritten erklärt werden:
1. Nachfrageverhalten bei Einkommensvariationen, c.-p.: Hicks will ein lende Nachfragekurve ableiten, die nicht von der Konstanz des Grenznutzen des Geldes ausgeht!287 (Betrachte dazu das folgende Schaubild). In einer Zwei-GüterWelt (X,Y) werden die Preise als gegeben betrachtet, jedoch die Einkommen verändert. Das Einkommen beträgt OL (in Einheiten von X) bzw. OM (in Einheiten von Y); das Gleichgewicht ist in Ρ erreicht. Die Steigerung der ML-Gerade ergibt sich durch p x /p y . Steigt das Einkommen, bei Konstanz der Preise, so erfolgt eine Parallelverschiebung auf ΜΤΛ Aufgrund dieser Einkommenserhöhung kann ein neues Gleichgewicht (P) bei einem höheren Nutzenniveau realisiert werden.
2 8 6 Das Argument der Konstanz des Grenznutzens bei der Marshallschen Nachfragekurve vertrat später vor allem M. Friedman [Friedman (1949): S. 463 ff.J. 2 8 7
Hicks (1968): S. 27.
18. "Werturteilsfreiheit " und neuere Wohlfahrtsökonomik
217
Abbildung 4: Einkommens-Konsum-Kurve
Durch eine permanente Änderung der Einkommen und sich daraus verändernder Gleichgewichte, ergibt sich die von Hicks eingeführte "Einkommens-Konsum-Kurve" ( income-consumption curve )288 als geometrischer Ort sämtlicher Gleichgewichte. Die Einkommens-Konsum-Kurve sagt aus, in welcher Weise sich der Konsum (die optimale Allokation) ändert, wenn das Einkommen bei konstanten Preisen variiert. Eine solche Kurve kann für beliebige gegebene Preisverhältnisse neu ermittelt werden. 289 Die Einkommens-Konsum-Kurve verläuft nach rechts steigend und schneidet, bei strenger Konvexität der Indifferenzkurven, diese höchstens einmal; dies gilt für den "Normalfall". Für den Fall bspw. X als inferiores Gut stellt sich ein Kurvenverlauf von links oben nach rechts unten ein.
2. Nachfrageverhalten bei Preisvariationen, c.-pr. Betrachten wir nun ein Preisvariation (ζ. B. von Gut X), jetzt sind das Einkommen und der Preis von Y fixiert. (Vgl. dazu das nun folgende Schaubild). Eine Preissenkung von X drückt sich in einer Drehung der ML-Kurve auf ML" aus; eine Preiserhöhung
2 8 8 2 8 9
Ebda.
In "A Reconsideration ..." sprach Hicks bei dieser Kurve von einer "Ausgabenkurve" (expenditure curve); Allen /Hicks (1934): S. 61 f.
218
ritter Teil: Emergenz der Neoklassik in der Moderne
hat die umgekehrte Wirkung. Die resultierenden Gleichgewichte werden durch die "Preis-Konsum-Kurve" (price-consumption curve) widergespiegelt. Die "Preis-Konsum-Kurve" gibt an, in welcher Weise sich der Konsum (optimale Allokation) verändert, wenn der Preis des Gutes X variiert, c. p.
Abbildung 5: Preis-Konsum-Kurve
3. Totalbetrachtung von Einkommens- und Preisänderung (die Ableitu Nachfrage): Beide betrachteten Fälle (Einkommensvariation, c. p. und Preisveränderung, c. p.) weiden jetzt zusammengefaßt
Ausgangspunkt ist P. Der Preis des Gutes X fällt, dadurch wird ein Gleichgewicht bei Q erzeugt. Äquivalent dazu kann die Preissenkung als Erhöhung des effektiven Einkommens aufgefaßt werden (man erhöht das Einkommen so, daß die Preissenkung von Gut X kompensiert ist), so wird Ρ' erreicht. Die Bewegungen von P'nach P" entlang der "Einkommens-Konsum-Kurve" und Ρ nach Q entlang der "Preis-Konsum-Kurve" entsprechen sich demnach. Die Reaktion einer Preissenkung ist folglich das Resultat zweier Effekte: Es ist die Leistung von Hicks, Nachfrageveränderungen durch das Zusammenwirken der bei fekte, der Einkommens- und Substitutionseffekte, zu beschreiben? 90 2 9 0 Ursprünglich jedoch bei Slutzky im Jahre 1915, siehe hierzu Slutzky (1956): S. 37 ff., insbes. S. 42.
18. "Werturteilsfreiheit " und neuere Wohlfahrtsökonomik
219
Abbildung 6: Totalbetrachtung von Einkommens- und Preisänderung
Durch eine Preissenkung wird der Konsument bessergestellt, indem die Preissenkung als Erhöhung des Realeinkommens ausgedrückt wird (Einkommenseffekt). 29''Zum anderen bedeutet die Senkung des Preises eine Veränderung der relativen Preise und demgemäß, unabhängig von der Änderung des Realeinkommens, eine Tendenz zur Substitution von Gütern durch das Gut, dessen Preis gefallen ist, denn die anderen Güter sind relativ zum betrachteten Gut teurer geworden. 292 Der Gesamteffekt (total effect on demand) 293 ergibt sich au Summe beider Tendenzen 294 Hicks betrachtet nun die relative Bedeutung des jeweiligen Effektes. Und zwar hängt die "Besserstellung" aus einer Preissenkung eines Gutes davon ab, wieviel der Konsument ursprünglich (d. h. vor der Preissenkung) von diesem gekauft hat: War die Menge in Relation zu seinem Einkommen groß, so wird er durch die Preissenkung eine hohe "Besserstellung" erfahren, hierbei ist der Ein-
29 1
Hicks (1968): S. 31 f.
2 9 2
Ebda.
2 9 3
Ebda. S. 32.
2 9 4 Slutzky (1956): S. 43. Hier weist Slutzky darauf hin, daß diese Art der Untersuchung niemals empirisch durchgeführt wurde und somit keine Möglichkeit der Verifizierung besteht.
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ritter Teil: Emergenz der Neoklassik in der Moderne
kommenseffekt entscheidend; war die Menge in Relation zum Einkommen vergleichsweise gering, so wird auch die "Besserstellung" aufgrund der Preissenkung ein eher geringes Ausmaß annehmen, und der Einkommenseffekt wird zunehmend durch den Substitutionseffekt ersetzt295 - und genau dieser Punkt liefert die Begründung für die Marshallsche Annahme der Konstanz des Grenznutzens des Geldes. Gemäß des Prinzips der abnehmenden Grenzrate der Substitution tritt der Substitutionseffekt immer ein (in der modernen MikroÖkonomik spricht man von der Unumkehrbaikeit des Vorzeichens des Substitutionseffektes bzw. davon, daß der Substitutionseffekt in seiner Richtung immer eindeutig ist). D. h., eine steigende Nachfrage geht immer mit einer Preissenkung einher. Jedoch ist der Einkommenseffekt nicht eindeutig in seiner Wirkung: Er kann in dieselbe Richtung wie der Substitutionseffekt wirken, bei inferioren Gütern aber die gegenteilige Wirkung zeitigen. Demnach ist folgende Systematik bei einer Preissenkung erkennbar 1. Es handelt sich um ein superiores Gut 296 und Substitutions- und Einkommenseffekt wirken in dieselbe Richtung: Daraus folgt die Steigerung der (Gesamt·) Nachfrage nach diesem Gut. 2. Es handelt sich um ein inferiores Gut 297 und Substitutions- und Einkommenseffekt wirken in die entgegengesetzte Richtung: (a) Substitutions- ist größer als Einkommenseffekt, daraus folgt steigende (Gesamt-) Nachfrage. (b) Substitutions- ist kleiner als Einkommenseffekt, daraus folgt sinkende (Gesamt-) Nachfrage (sog. "Giffen-Paradoxon"; das Paradoxon wurde nicht, wie oft angenommen, von Sir Robert Giffen formuliert, sondern von Marshall). 29* Marshall betrachtete ausschließlich den Fall, in dem der Einkommenseffekt eine geringe Wirkung aufwies, d. h. den Konsum eines Gutes, dessen Preis einen nur geringen Anteil am Einkommen hatte. Genauer: Marshall vernachlässigte den Einkommenseffekt vollständig, dies ergibt sich automatisch durch die Annahme der Konstanz des Grenznutzens des Geldes. Marshall negierte somit den Einfluß von Realeinkommensänderungen (ausgelöst durch Preisvariationen) auf die Nachfrage. Hicks konstatiert jedoch, daß dies eine durchaus berechtigte Simplifizierung darstellt, die zur Verständlichkeit und Verbreitung der Marshallsehen Theorie im hohen Maß beitrug.299 Als Endergebnis kann festgehalten werden: Das Gesetz der in seinem Preis monoton fallenden Gesamtnachfrage eines Gutes (Gesetz der abnehmenden Nachfrage) gilt auch ohne die Annahme der Konstanz des Grenznutzens des Gel2 9 5
Hicks (1968): Vgl. S. 38.
2 9 6
Realeinkommen steigt, Nachfrage steigt.
2 9 7
Realeinkommen steigt, Nachfrage sinkt.
2 9 8
Stigler (1963): S. 63 f.
2 9 9
Hicks (1968): S. 32.
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des (Hickssche Nachfrage), im Gegensatz zur Marshallschen Nachfrage. Dies gilt für alle Fälle, in denen es sich nicht um inferiore Güter handelt und für solche Fälle inferiorer Güter, in denen der Einkommenseffekt geringer ist als der Substitutionseffekt, d. h., der Anteil der Ausgaben für das entsprechende Gut am Gesamteinkommen relativ gering ist.
(3) Das Konzept der Konsumentenrente bei Hicks oder die "Entdeckun kompensierten Variation. A. Marshall kommt das große Verdienst zu, das Konzept der Konsumentenrente in der ökonomischen Theorie in einem weiten Kontext verbreitet zu haben; es tauchte aber in seiner allgemeinen graphischen Form (so wie es auch die folgende Abbildung 7 wiedergibt) bereits bei Jules Dupuit im Jahre 1844 auf (der Begriff "Konsumentenrente" findet sich bei Dupuit selbst noch nicht).
Abbildung 7: Konsumentenrente bei Marshall
Schon Dupuit kritisierte, daß nicht nur die Fläche p'x' (siehe Abbildung 7) alleine die aus dem Konsum des Gutes resultierenden Nutzen bzw. Kosten beschreibt, sondern der Nutzen höher ist. Denn zusätzlich muß die Fläche oberhalb p'x' ("the utility remaining to the consumer ...") 300 mitberücksichtigt werden. 3 0 0
Dupuit (1969): Vgl. S. 280 f.
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Die Konsumentenrente unter der Annahme der Konstanz des Grenznutzens des Geldes (Fall der Marshallschen Nachfrage) wird nun in einem Indifferenzkurvendiagramm (Abbildung 8) dargestellt.301
Wenn das Einkommen des Konsumenten OM beträgt und der Preis für die Menge X durch die Steigung der Kurve ML angezeigt wird (sie tangiert die Indifferenzkurve im Punkt P), so ist ON die nachgefragte Menge des Gutes X und MS der dafür gezahlte Geldbetrag.302 Ρ liegt jedoch auf einer höheren Indifferenzkurve als der Punkt M; die entscheidende Frage lautet* Wie kann dieser Nut zengewinn von Ρ gegenüber M in Geldeinheiten ausgedrückt werden? Wie Dupuit, so nimmt auch Marshall die Differenz von Zahlungswilligkeit (ausgedrückt durch den Betrag MS) und tatsächlichem Preis (ausgedrückt durch den Geldbetrag MT) als Ausdruck für die Konsumentenrente303 (entspricht hier der Strecke ST), 3 0 4 so daß der Konsument beim Kauf einer Menge ON zum 30 1
Hicks (1968): S. 38 f.
3 0 2
Das Einkommen wird jetzt von der Ausgabenseite betrachtet: "Um eine geringe Menge zu kaufen, muß nur wenig Geld ausgeben werden"; die Ordinate wird also von oben gelesen. 3 0 3
Marshall (1922): S. 124.
3 0 4
Die Punkte M und R liegen auf einer Kurve.
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Betrag MT nicht schlechter gestellt wäre als im Fall, nichts von X zu konsumieren und den Gesamtbetrag in Höhe von OM einzubehalten. ST ist die echte Darstellung der Konsumentenrente, und zwar unabhängig von jedweder Annahme über den Grenznutzen des Geldes; ST entspricht aber nicht exakt der Marshallschen Konsumentenrente im Preis-Mengen-Diagramm, sofern der Grenznutzen des Geldes nicht konstant ist (auf den Beweis sei hier verzichtet). D. h„ "Hickssche" und "Marshallsche Konsumentenrente" sind identisch, wenn der Grenznutzen des Geldes konstant ist. Die in Geldeinkommen ausgedrückte (Hickssche) "Konsumentenrente", also der "Gewinn", den der Konsument bei einem Rückgang des tatsächlichen Preises erhält, nennt Hicks "kompensierte Variation des Einkommens" (compensating variation come)?05 Sie ist ein dargestellter "Verlust", der den "Gewinn" einer Preissenkung widerspiegelt und den Konsumenten nicht besserstellt als vorher. 306 18.6 Kritik an der neueren Wohlfahrtsökonomik die Erweiterung des Ansatzes durch Little
oder
Kritik an der Wohlfahrtstheorie, die am individuellen Wahlverhalten ansetzte, übte /. M. D. Little. In bezug auf die Indifferenzkurve stellte er die Frage nach der Bedeutung indifferenten Wahlverhaltens.307 Little sah folgende Probleme: 305
Hicks (1968): S. 40.
Der Begriff "kompensierte Variation" findet sich erstmals in dem Aufsatz von Slutzky von 1915; aUerdings ist die Rede von einer compensated variation of price [Slutzky (1956): S. 42]. 3 0 7 Ausgangspunkt von Littles Kritik am Indifferenzkurvenkonzept ist die Widersprüchlichkeit der Kategorie "Besserstellung" mithilfe des Index-Nummem-Konzeptes der Höhe von Indifferenzkurven. Während nach dem Kriterium der Indifferenzkurven der Zustand A dem Zustand Β vorgezogen würde, kann dies mithilfe des Index-Nummem-Konzeptes nicht bestätigt werden.
Das Index-Nummern-Konzept sagt aus, daß in Situation A mindestens der Zustand Β erreicht werden kann (Σρα^α - Σρα^β)» * m Zustand Β aber nicht der Zustand A erreicht werden kann
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Wie lange benötigt ein Individuum, aus mehreren Alternativen zwei als indifferent geltende auszuwählen? - und, wird eine Alternative der anderen vorgezogen, so steht dies im logischen Widerspruch zum Phänomen der Indifferenz. 308 Little zog die Existenz einer Indifferenzkurve, basierend auf reinen Wahlentscheidungen, grundsätzlich in Zweifel, d. h., er stellte die Problematik heraus, Indifferenz als eindeutigen Verhaltensbegriff zu definieren. Gleichzeitig reformulierte Little das alte Konzept der Indifferenz(kurven), um es für die neuere Wohlfahrtsökonomik aus seiner Sicht nutzbar zu machen. Dies spiegelt wiederum den Kern eines Versuchs, eine Theorie des Konsumentenverhaltens zu entwikkeln, die einzig und allein auf dem tatsächlichen Wahlverhalten der Individuen, unabhängig von der Betrachtung ihrer Bedürfnisse, aufbaute. 309 Im Bestreben, eine Theorie des Konsumentenverhaltens zu entwickeln, die als einzige Annahme streng konsistentes Konsumverhalten unterstellte, arbeitete Little sein Konzept der Verhaltenslinien, die "Reformulation of Consumer's Behaviour", ans.310 Little griff dabei auf die von P. A. Samuelson konstruierten Indifferenzkurven i. S. v. "Grenzlinien" zurück.311 Eine "Grenzlinie" ähnelt dem Verlauf nach einer Indifferenzkurve, enthält allerdings keine Punkte, auf denen das Individuum zwischen zwei Gütermengen indifferent ist. Die Kurve steckt vielmehr einen Bereich ab, innerhalb dem das Individuum sich verhalten kann (daher auch der Begriff behaviour lines) 312 Diese Verhaltens- oder Grenzlinien stufen bestimmte Klassen von Gütermengenkombinationen nach der Kategorie "wird lieber gewählt als ..." in eine Rangfolge ein. 313 Dem Konzept der Verhaltenslinien liegen drei Definitionen und drei Axiome zugrunde:314 Definitionen: 1. Ein Güterbündel ist "größer als" ein anderes, wenn mehr von dem einen als von dem anderen existiert und "kleiner als" im umgekehrten Fall. 2. Ein Konsument "wählt" ein Bündel A vor Β dann, wenn er A kauft und Β hätte kaufen können, d. h., wenn gilt: Σρ α 9α - ΣΡ α X
ο Abbildung 10: Verhaltenslinien
Aufgrund des ersten Axioms wird immer ein Punkt auf der MN Kurve ausgewählt werden. Annahmegemäß sei dies für ein Individuum der Punkt A. Demnach ist A das Güterbündel, welches allen anderen Bündeln gegenüber präferiert wurde. Dies stimmt mit der Definition 2 überein, d. h., mit der Wahl des Punktes A hat das Individuum gezeigt, daß es A gegenüber allen anderen möglichen Kombinationen, die unterhalb oder auf der MN-Geraden liegen, vorzieht. Dies 15 Frambach
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entspricht der Hauptaussage der "Revealed Preference Theory". 315 Hier geht es vor allem um die Frage nach dem Verhältnis der Beobachtung ökonomischen Verhaltens und der Bildung von Verhaltenslinien sowie um die Aussage von "Indifferenz" auf einer Verhaltenslinie.316 Es werden nun solche Preis- und Einkommensveränderungen unterstellt, die ein Erreichen des Punktes A erlauben. Dies drückt sich graphisch in einer Drehung der MN-Kurve im Punkt A aus. Auf der neuen Kurve wird der Punkt Β vom Individuum ausgewählt. Für beliebige Preis- und Einkommensänderungen, die alle zur Bedingung haben, mindestens den Punkt A zu gewährleisten, ergeben sich eine entsprechende Anzahl von Budgetgeraden, auf welchen das Individuum immer einen Punkt auswählt. Zu beachten ist, daß sich außer den Budgetgeraden noch keine Kurven im Diagramm befinden. Erst jetzt werden sämtliche Punkte A,B,...,L,M miteinander verbunden. Die entstehende Kurve verläuft im Drehpunkt A tangential zur MN-Kurve, denn dieser Punkt stellt das Minimalerfordemis des Individuums dar. In allen anderen Punkten schneidet die Kurve die jeweiligen Budgetgeraden. Die resultierende Kurve heißt offer curve? 11 Entsprechend des ersten Axioms wird der Punkt L allen anderen Punkten gegenüber vorgezogen, und der Punkt Β wird gegenüber allen Punkten präferiert, Samuelson Samuelsons "Revealed Preference Theory " stellt den Versuch dar, die Theorie des Konsumentenverhaltens von der Nutzenkategorie abzulösen, indem die Theorie auf operationale Summenvergleiche bestimmter Werte beschränkt wird. Ziehen die Konsumenten ein Mehr dem Weniger vor, wählen sie nur ein bestimmtes Güterbündel in jeder Budgetphase und orientieren sie sich ausschließlich am erfolgreichen Wahlverhalten, so werden sie weniger von einem Gut nachfragen, wenn der Preis desselben steigt bzw. umgekehrt, bei steigendem Einkommen. Dieses allgemeine Gesetz der Nachfrage oder das "fundamentale Theorem der Konsumtheorie", wie es Samuelson ausdrückt, beinhaltet alles über die beobachtbaren Implikationen der "Indifferenz-Theorie" und bietet den zusätzlichen Vorteil der Ableitung der individuellen Präferenzen aus dem "offengelegten Verhalten" der Individuen. Weiterhin ist der Einkommenseffekt in der "Revealed Preference Theory" generell meßbar, denn der Einkommenseffekt ist nichts anderes als die betragsgemäße Gleichheit von Einkommensänderung und Preisänderung, die erforderlich ist, um den Wert der ursprünglich gekauften Güterbündel wiederherzustellen. Die "Revealed Preference Theory" ist genauso leicht bzw. schwierig zu widerlegen, wie die Indifferenzkurvenanalyse: Solange keine Informationen über die Einkommenselastizität der Nachfrage vorliegen, kann auch keine Vorhersage über das "Fundamentaltheorem" gemacht werden, entsprechend dem sich die nachgefragte Menge invers zum Preis verhält. H. S. Houthakker hat gezeigt, daß der Versuch der Axiomatisierung der "Revealed Preference Theory " die Annahmen und Schlüsse dieser Theorie so stark angleicht, daß die "Wahrheit" des einen ausreicht, um die "Wahrheit" des anderen zu beweisen und umgekehrt [Houthakker (1961): S. 705 ff.]. Dies hängt mit dem allgemeinen Umstand zusammen, daß die logische Unterscheidung zwischen Annahmen und Implikationen umso geringer wird, je stärker man sich dem Vollständigkeitsgrad der Axiomatisierung einer Theorie nähert. Da der Begriff der "rationalen Wahl" der Nutzentheorie in die Begriffe "Präferenz eines Mehr gegenüber einem Weniger", "Konsistenz" und "Transitivität" der "Revealed Preference Theory" übersetzt wird, sind die Nutzentheorie und die "Revealed Preference Theory" vom logischen Status äquivalent. Damit istSamuelsons ursprüngliche Forderung, einen "neuen" Ansatz zur Erklärung des Konsumente η Verhaltens geleistet zu haben, widerlegt [Blaug (1980): Vgl. S. 167]. Die Prognosekraft der "Revealed Preference Theory " ist in bezug auf das Nachfrageverhalten nicht besser als die älteren Theorien; die "Revealed Preference Theory" ist - wie auch die anderen Theorien -, aufgrund ihrer unbeschränkten allgemeinen Aussagen empirisch genausowenig nicht-falsifizierbar. 3 1 6 Die operationale Bedeutungslosigkeit dieser Aussage stelltSamuelson im Hinblick auf die eingangs von Little aufgeworfenen Probleme heraus [Samuelson (1948): S. 244 f.]. 3 1 7
Utile (1949): S. 93 und Ders. (1950): S. 34.
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die sich zwischen A und Β auf der offer curve befinden. Für eine große Anzahl von Preis-Einkommenssituationen, welche die Budgetgeraden zwischen A und Ζ widerspiegeln, ist die offer curve stetig und tangential im Punkt A. Betrachtet man den Punkt L, so läßt sich durch Rotation der Budgetgeraden durch diesen Punkt eine erneute offer curve aufstellen, welche in L die ursprüngliche offer curve schneidet und sich tangential zur dortigen " Ausgangsbudgetgeraden" verhält. Durch die neue offer curve wird der Bereich der Kombinationen erweitert, die dem Punkt A vorgezogen werden (schraffierte Fläche): Dies folgt aus dem Umstand, daß jeder beliebige Punkt Ρ dieser Fläche dem Punkt L vorgezogen wird (und dieser wird natürlich A gegenüber vorgezogen).318
Nun kann in jedem Punkt zwischen L und A auf der ursprünglichen offer curve in gleicher Weise wie in L eine neue offer curve konstruiert werden. Die Grenze der sich so ergebenden "neuen" Möglichkeiten (Flächen), die dem Punkt A vorgezogen werden, heißt "obere Verhaltenlinie von A" (upper behaviour line of A)}19 Man betrachte jetzt den Punkt Q auf der MN-Kurve. Der Punkt Β wurde ursprünglich vor allen anderen Punkten, so auch dem Punkt Q, ausgewählt. Die MN-Kurve wird nunmehr so im Punkt Q gedreht, daß D derjenige Punkt ist, welcher jeder anderen Güterkombination R auf dieser neuen Budgetünie vorgezogen wird. Entsprechend der vorangegangenen "Methode" kann durch "Verschiebung" des Punktes Q auf der MN-Kurve eine jeweilige Fülle von offer curves erzeugt werden. Auch hier wird eine Grenze erreicht, die sich ebenfalls als stetige und konvex zum Ursprung verlaufende Kurve darstellt: Die "untere Verhaltenslinie von A" (lower behaviour line of A)}20
Little zeigt nun, daß aus Gründen der Widerspruchsfreiheit die untere und obere Verhaltenslinie zusammenfallen. Er nennt diese Kurve die " Verhaltenslinie von B" (behaviour line of B)}2X Die Verhaltenslinie ist demnach Kurve, mit der die Grenze aufgezeigt wird, an der bestimmte Güterbünd gegebenen Güterbündel (in diesem Fall Bündel A) gegenüber vorgezogen ausgewählt werden. Damit stellt sich die Frage nach der Aussagefähigkeit von Verhaltenslinien. Die Konstruktion eines Indifferenzkurvenfeldes voraus:
setzte folgende Annahmen
1. Ein Individuum piaziert seine Güterbündel in Kategorien "A wird Β gegenüber vorgezogen" bzw. "nicht vorgezogen" bzw. "ist indifferent". 2. Das "größere" Bündel wird einem kleineren gegenüber vorgezogen.
318 3 1 9
£ p p q p £ l p p q L u n d IPL