Antike Grundlagen der Entstehung moderner Menschenrechte 9783495817001, 9783495489666


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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
I. Einleitung
1. Reflexionen über den Diskurs zur Geschichte der Menschenrechte
2. Methodische Überlegungen
2.1. Die Pluralität der Diskurse
2.2. Die Geschichte der Menschenrechte unter Einbeziehung der Geschichtlichkeit des modernen Subjekts
2.3. Die politische Dimension der Menschenrechte
II. Anfänge des Rechtsdenkens bei den Griechen
1. »Universalität« im Denken Heraklits
1.1. Λόγος und φύσις
1.2. Νόμος und δίκη bei Hesiod
1.3. Δίκη im Verhältnis zu ἔρις/πόλεμος
2. Der Mensch als Maß aller Dinge
3. »Natürliche Gleichheit« bei Antiphon, Alkidamas, Hippias und Lykophron
III. Politische Freiheit und politische Rechte
1. Die Verfassung der Polis
2. Exkurs: Das Politische und die Menschenrechte
2.1. Grundlagen der arendtschen politischen Phänomenologie
2.2. Die Kluft zwischen dem antiken und dem modernen Freiheits- und Gleichheitsverständnis
3. Das Theater als Schule der φιλανθρωπία und des »Griechenrechts«
IV. Δκαιοσύνη bei Platon und Aristoteles
1. Der Anfang des Naturrechtsdenkens bei Platon
1.1. Ideenlehre
1.2. Tugendlehre
1.3. Gesetzesrecht
1.4. Naturrecht
2. Aristoteles – die Natur ist das Ziel
2.1. Seinslehre
2.2. Verfassungslehre und Ethik
2.3. Das Naturrecht als politisches Recht
2.4. Der »Sklave von Natur« und die »Barbaren von Natur« im Verhältnis zum Naturrecht
V. Universelles Naturrecht in der hellenistischen und römischen Philosophie sowie in der römischen Jurisgenese
1. Epikur – Selbstsorge und »individuelles« Naturrecht
2. Die stoische Naturrechtslehre und Ethik
2.1. Die Gestaltprinzipien des Seienden
2.2. »Er handelt also freiwillig unter Zwang.« – Freiheit und Determination im stoischen Denken
2.3. Weltgesetz und Naturrecht
2.4. humanitas als Maßstab ethischen Handelns
2.5. Ciceros Auffassung von der dignitas humana
3. Vom ius civile zum ius gentium als das »allen Menschen zukommende Recht«
VI. Antike Grundlagen und moderne Menschenrechte – Differenzen und Kontinuitäten
1. Naturrecht und Herrschaft des Gesetzes: Spuren einzelner Menschenrechte
2. Antike Philosophie als Lebensform im Verhältnis zum Politischen
Schlusswort
Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Antike Quellen
Literatur
Personenregister
Sachregister
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Antike Grundlagen der Entstehung moderner Menschenrechte
 9783495817001, 9783495489666

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Oliver Bruns

Antike Grundlagen der Entstehung moderner Menschenrechte

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495817001

.

B

Oliver Bruns Antike Grundlagen der Entstehung moderner Menschenrechte

ALBER PHILOSOPHIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Diese Arbeit wurde 2016 von der Fakultät für Human- und Gesellschaftswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg als Dissertation angenommen.

https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Oliver Bruns

Antike Grundlagen der Entstehung moderner Menschenrechte

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Oliver Bruns Classical Foundations of the Emergence of Modern Human Rights Modern human rights proclaimed at the end of the eighteenth century are based on a specific image of humanity that has developed through a process of subjectivisation that begins in Greek antiquity. The present study argues that the respective advances in human rights history – in the field of juridical, moral-philosophical and political thinking – cannot be adequately correlated and understood without a reflection on this process.

The Author: Oliver Bruns studied political science and history, between the years of 2002 and 2015 he worked at the Hannah Arendt Center of the Carl von Ossietzky University in Oldenburg and lectured at the Universities of Oldenburg, Bremen and Osnabrück.

https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Oliver Bruns Antike Grundlagen der Entstehung moderner Menschenrechte Die modernen, Ende des 18. Jahrhunderts verkündeten Menschenrechte haben ein spezifisches Menschenbild zur Voraussetzung, das sich in einem Prozess der Subjektivierung, der in der griechischen Antike beginnt, herausgebildet hat. Die vorliegende Studie geht der These nach, dass die jeweiligen Fortschritte in der Menschenrechtsgeschichte – auf dem Gebiet des juridischen, des moralphilosophischen und des politischen Denkens – ohne eine Reflexion auf diesen Prozess nicht adäquat miteinander in Beziehung gesetzt und verstanden werden können.

Der Autor: Oliver Bruns studierte Politikwissenschaft und Geschichte, war von 2002 bis 2015 am Hannah Arendt-Zentrum der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg tätig und Lehrbeauftragter an den Universitäten in Oldenburg, Bremen und Osnabrück.

https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48966-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81700-1

https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Vorwort

Die vorliegende Abhandlung wurde 2016 von der Fakultät für Human- und Gesellschaftswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg als Dissertation angenommen. Mein Dank gilt all jenen, die die Thesen mit mir diskutiert und mich bei der Ausarbeitung durch Ratschläge unterstützt haben. Zunächst möchte ich ganz herzlich den beiden Gutachtern des Projekts, Prof. Dr. Johann Kreuzer und Prof. Dr. em. Antonia Grunenberg, danken, die mich immer wieder dabei ermutigt haben, den eingeschlagenen Weg weiterzuverfolgen. Den Teilnehmern des Doktorandenkolloquiums bei Prof. Dr. Johann Kreuzer, in dem ich alle Kapitel vorstellen durfte, danke ich für rege Diskussionen und viele weiterführende Hinweise. Ganz besonders möchte ich schließlich Ole Sören Schulz, Christine Harckensee-Roth und Anna Hollendung danken, die den Text nicht nur mehrfach akribisch durchgesehen haben, sondern von Anfang an in vielen Gesprächen mit mir die Themen erörtert haben. Gewidmet ist dieses Buch meinen Eltern Bernhild und Gustav Bruns.

7 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Inhalt

I. 1. 2.

II. 1.

2. 3.

III. 1. 2.

3.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexionen über den Diskurs zur Geschichte der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Die Pluralität der Diskurse . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Geschichte der Menschenrechte unter Einbeziehung der Geschichtlichkeit des modernen Subjekts . 2.3. Die politische Dimension der Menschenrechte . . .

13

Anfänge des Rechtsdenkens bei den Griechen . . . »Universalität« im Denken Heraklits . . . . . . 1.1. Λόγος und φύσις . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Νόμος und δίκη bei Hesiod . . . . . . . . . 1.3. Δίκη im Verhältnis zu ἔρις/πόλεμος . . . . Der Mensch als Maß aller Dinge . . . . . . . . . »Natürliche Gleichheit« bei Antiphon, Alkidamas, Hippias und Lykophron . . . . . . . . . . . . .

73 73 74 82 87 98

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

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22 50 50 55 65

. . . . 109

Politische Freiheit und politische Rechte . . . . . . . . . Die Verfassung der Polis . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Das Politische und die Menschenrechte . . . . . 2.1. Grundlagen der arendtschen politischen Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Kluft zwischen dem antiken und dem modernen Freiheits- und Gleichheitsverständnis . . . . . . . . Das Theater als Schule der φιλανθρωπία und des »Griechenrechts« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

124 124 144 149 160 179

9 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Inhalt

IV. 1.

2.

V. 1. 2.

3.

Δικαιοσύνη bei Platon und Aristoteles . . . . . . . . Der Anfang des Naturrechtsdenkens bei Platon . . . 1.1. Ideenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Tugendlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aristoteles – die Natur ist das Ziel . . . . . . . . . . 2.1. Seinslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Verfassungslehre und Ethik . . . . . . . . . . . 2.3. Das Naturrecht als politisches Recht . . . . . . 2.4. Der »Sklave von Natur« und die »Barbaren von Natur« im Verhältnis zum Naturrecht . . . . .

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

. . 247

Universelles Naturrecht in der hellenistischen und römischen Philosophie sowie in der römischen Jurisgenese . Epikur – Selbstsorge und »individuelles« Naturrecht . . Die stoische Naturrechtslehre und Ethik . . . . . . . . . 2.1. Die Gestaltprinzipien des Seienden . . . . . . . . . 2.2. »Er handelt also freiwillig unter Zwang.« – Freiheit und Determination im stoischen Denken . . 2.3. Weltgesetz und Naturrecht . . . . . . . . . . . . . 2.4. humanitas als Maßstab ethischen Handelns . . . . 2.5. Ciceros Auffassung von der dignitas humana . . . . Vom ius civile zum ius gentium als das »allen Menschen zukommende Recht« . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VI. Antike Grundlagen und moderne Menschenrechte – Differenzen und Kontinuitäten . . . . . . . . . . . . . . 1. Naturrecht und Herrschaft des Gesetzes: Spuren einzelner Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Antike Philosophie als Lebensform im Verhältnis zum Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

193 193 194 203 207 216 229 232 236 242

271 272 288 291 295 309 322 335 349

369 369 384 413

Inhalt

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

419

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antike Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

420 420 423

Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

449

11 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

I.

Einleitung

Das Nachdenken über eine Geschichte der Menschenrechte konfrontiert uns mit einander widersprechenden philosophischen Grundkategorien, deren Entstehung bis an den Anfang der Philosophie in der abendländischen Tradition zurückreicht. Einerseits haben die Menschenrechte eine Geschichte, weil alles, was durch menschliches Handeln bedingt ist, geschichtlich ist. 1 Als erklärte Rechte sind Menschenrechte »eine Operation der Öffentlichkeit ohne wirkliches Vorbild in der Geschichte, durch welche sich die versammelten Individuen […] selbst öffentlich ihre eigenen Rechte mitteilen«. 2 Sie sind gebunden an die Kontingenz politischer Handlungsprozesse. Wer der Mensch der Menschenrechte ist, wird demnach erst im Akt der Deklaration offenbar, weil der Mensch »weder ein natürliches noch ein immer schon politisches, sondern eben ein erklärendes Wesen ist – eines, das seine eigene ›Natur‹ politisch immer wieder neu und anders bestimmen wird«. 3 Andererseits liegt bereits im Wort von dem Menschen ein Verweis auf etwas Universelles, Ungeschichtliches in seinem Wesen. Die Verfasser der Menschenrechtserklärungen des 18. Jahrhunderts waren darum bemüht, dieses Wesen clare et distincte zu bestimmen. Sie glaubten nicht, originär neue Rechte zu schaffen, sondern durch die Erklärung dem seit der Antike bekannten Naturrecht endlich zur Geltung zu verhelfen. Bloch merkt dazu an: »Zum ersten Mal griff ein Volk auf, was gedacht worden ist, meinte es zu verwirklichen. Das Zum bedingten und bedingenden Charakter des politischen Phänomens vgl. Vollrath, Ernst: »Die Folgen der Menschenrechte«, in: Schwartländer, Johannes (Hg.): Menschenrechte und Demokratie, Kehl am Rhein Straßburg 1981, S. 71 f. 2 Balibar, Etienne: »Was ist eine Politik der Menschenrechte?«, in: ders.: Die Grenzen der Demokratie, Hamburg 1993, S. 202. 3 Raimondi, Francesca: »Einleitung«, in: Menke, Christoph/dies. (Hg.): Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin 2011, S. 101. 1

13 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Einleitung

Wort Mensch war das allgemeine Zeichen, das sozusagen gleichmachte. […] All das war lange vorbereitet: der Satz, daß die Menschen frei und gleich geboren seien, steht ja bereits im römischen Recht; nun sollte er auch in der Wirklichkeit stehen.« 4 Die Verfasser der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen von 1789 erblickten die Ursache des »öffentlichen Unglücks« und der »Verderbtheit der Regierungen« darin, dass die Menschenrechte vergessen worden waren. Laut Robespierre gleicht die bisherige Geschichte der Herrschaft von Königen und Aristokraten daher einem Aufstand gegen »den legitimen Souverän, das Menschengeschlecht, und gegen den obersten Gesetzgeber, die Natur«. 5 Mit der Erklärung sollen alle »Mitglieder der Gesellschaft […] unablässig an ihre Rechte und Pflichten erinnert« 6 werden. Die Rechte seien nicht neuartig, sondern seit jeher bekannt, weil sie im Menschsein gründeten. »[Die Erklärung] sagt nichts Neues, sondern ruft ins Gedächtnis und macht explizit und publik, was implizit immer schon, seit es ›Menschen‹ ›gibt‹, ihr Wesen bestimmt hat.« 7 Auch die Declaration of Independence von 1776 setzt die Selbstverständlichkeit der erklärten Rechte voraus: »We hold these truths to be self-evident […].« 8 Jene Ansprüche, die durch die Rechte geschützt werden sollen, entsprächen offenkundig den elementarsten Bedürfnissen und Interessen eines jeden Menschen, sodass die Selbstevidenz ihrer Wahrheiten nicht zum Vorschein gekommen wäre, wäre dazu erst eine philosophische Begründung nötig gewesen. Nicht die Begründung, sondern die Selbstverständlichkeit, dass sich der Mensch als Person nur in einer vor anderen geschützten Freiheitssphäre entfalten könne, dass der andere ein Mensch »wie du und ich« sei, auf dieselbe Weise empfinde und die gleichen Ansprüche habe, verleihe den Menschenrechten Plausibilität. Das Evidente – das Wort wurde aus dem lateinischen videre für »sehen« und der Vorsilbe ex- gebildet 4 Bloch, Ernst: Naturrecht und menschliche Würde, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1975, S. 79. 5 Vgl. Robespierre, Maximilien: »Entwurf einer Erklärung der Rechte«, in: Menke/ Raimondi (Hg.): Die Revolution der Menschenrechte, S. 79. 6 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, Präambel (Herv. O. B.). 7 Hamacher, Werner: »Vom Recht, Rechte nicht zu gebrauchen. Menschenrechte und Urteilsstruktur«, in: Menke/Raimondi (Hg.): Die Revolution der Menschenrechte, S. 216. 8 Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. Juli 1776, Präambel.

14 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Einleitung

– ist das von sich aus Einleuchtende, Ersichtliche, das womit das Verstehen im Vorhinein, präreflexiv vertraut ist. 9 Die Erklärungen explizieren das Selbstverständliche, sie klären über das Wesen des Menschen auf, indem sie Auskunft darüber geben, wer der Mensch selbst ist. »Erst die Menschenrechte lassen den Menschen im rechten – und das heißt: im unverstellten Licht seiner selbst: im Licht seiner Natur, seiner Ratio und seines Begriffs erscheinen: so zumindest will es der Begriff der Menschenrechte im Zeitalter ihrer Erklärung.« 10 Hamacher weist darauf hin, dass die »Selbst-Deklaration« darauf abzielt, aus der Kontingenz von Politik und Geschichte auszubrechen: Recht ist kategorische Deklaration und kategoriale Thematisierung des Menschen – und darum auch schon ein Urteil und ein Beschluß über den Menschen, Ausschluß von Möglichkeiten, die in der Thematisierung nicht enthalten sind und vom kategorialen Denken nicht wahrgenommen werden können, und, im Prinzip, Abschluß aller weiteren Verhandlungen und Deliberationen, die von »Menschen« geführt oder auch nur gefordert werden könnten. Die Menschenrechtserklärungen erklären den Prozeß um das Wesen des Menschen im Prinzip für beendet. 11

Das Ereignis der Menschenrechtsrevolutionen lässt auch die Vergangenheit in einem anderen Licht erscheinen. Die Geschichte stellt sich dar als Kampf um Freiheits- und Menschenrechte. Sie ist auf unterschiedliche Weise erzählbar, aber sie mündet in Deklarationen, die einen Maßstab für das bieten, was in der Vergangenheit »schon« erreicht oder »noch nicht« gedacht, ausformuliert, beansprucht oder durchgesetzt wurde. Die Ansichten der Aufklärer, Humanisten und der frühen historischen Forschung, dass es Menschenrechte bereits in der Antike gegeben habe und sie trotz der Rückschläge im Verlauf der Geschichte fortschreitend verwirklicht worden seien, sind durch spätere Forschungen stark relativiert worden. Von der grundsätzlichen Betrachtungsweise, die Geschichte nach Maßgabe der neuzeitlichen Selbstauslegung des Menschen zu bewerten, wurde dagegen kaum Abstand genommen. Dem Früheren haftet daher im Vergleich zu modernen Reflexionen auf das Wesen des Menschen stets etwas Unvollständiges an. Wenn die Antike in den Kontext der MenschenrechtsZum Evidenzbegriff in der philosophischen Tradition vgl. Picht, Georg: »Der Begriff der Natur und seine Geschichte«. Eisenbart, Constanze (Hg.): Vorlesungen und Schriften, 4. Aufl., Stuttgart 1998, S. 95–124. 10 Hamacher: »Vom Recht, Rechte nicht zu gebrauchen«, S. 215. 11 Ebd., S. 219 (Herv. O. B.). 9

15 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Einleitung

geschichte überhaupt einbezogen wird, wird zwar auf »Quellen« oder »Wurzeln« hingewiesen; als Anfang oder Ursprung kennzeichnet die antiken ethischen und naturrechtlichen Vorstellungen aber zugleich etwas, das nicht der modernen Selbstauslegung des Menschen entspricht. Das Fremdartige vergangener Selbst- und Weltbilder erscheint in der Rückschau als Negativum, entweder als etwas Unentdecktes oder etwas, das im Widerspruch zum bereits Erkannten steht. Bei Aristoteles z. B. fehle ein Begriff von der Menschheit und seine legitimierende Analyse der Sklaverei in der Politik widerspreche der Feststellung in der Nikomachischen Ethik, dass der Mensch ein Vernunftwesen ist. Die Beurteilung der geschichtlichen Ursprünge der Menschenrechte schwankt folglich zwischen einer Wertschätzung humanistischer Einsichten, dem Hinweis auf das noch nicht Gesehene und einer Missbilligung der Inhumanität. Das Fremdartige wird als etwas Irrationales oder Inhumanes interpretiert, wodurch der Einblick in antike Formen des Selbst- und Weltverhältnisses verstellt wird. In einer solchen Interpretation werden letztlich Denkmuster des neuzeitlichen Humanismus und der Aufklärung reproduziert, aber deren eigene Geschichtlichkeit ausgeblendet. Die Ansicht, dass die Moderne zu einem »besseren« Menschenbild gelangt sei, die Aporien früherer philosophischer Auseinandersetzungen – z. B. das Problem von Freiheit und Determination – aufgeklärt habe und Inhumanität und Irrationalität zu bestimmen vermag, hält sich deshalb besonders hartnäckig, weil es dabei um den Kern »unserer« Wertvorstellungen – die Menschenwürde und die Menschenrechte – geht. Vielleicht befähigt uns aber der Blick auf das vergessene oder verworfene Wissen dazu, einen Standpunkt jenseits der Wahrheiten, die uns evident erscheinen, zu gewinnen und unser Denken in seiner Geschichtlichkeit zu verstehen, um somit auch das Menschenbild der Menschenrechte als geschichtliches Phänomen begreifen zu können. Damit die Relevanz der antiken Moral- und Rechtsvorstellungen in ihrem geschichtlichen Kontext erläutert werden kann, muss der Rahmen der Darstellung so erweitert werden, dass zumindest ansatzweise die jeweilige Stellung des Menschen zu sich selbst und zur Welt miteinbezogen wird. Nur so können auch die Interdependenzen zwischen Wandlungen in der Selbstbezüglichkeit, der Einteilung der Welt und den Auffassungen vom Guten, von Gerechtigkeit und Recht sichtbar werden. Die Unterscheidung von einem Selbst- und einem Weltverhältnis und auch die Rede von einem Selbst beinhalten 16 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Einleitung

bereits Auslegungen des menschlichen Daseins, sofern ersteres als Gegenüber von Selbst und Welt bzw. einer inneren und einer äußeren Welt verstanden werden kann und mit letzterem gemeint sein kann, dass die Vielfalt von Daseinserfahrungen immer um ein Selbst zentriert ist 12. Die Evidenz solcher Annahmen kann brüchig werden, wenn zurückverfolgt wird, wie sie entstanden sind, welche Erfahrungen ihnen zugrunde liegen und auf welche Fragen mit ihnen geantwortet wurde. Aber auch das Fragen nach dem Wesen des Menschen und die Art und Weise des Fragens unterliegen geschichtlichen Veränderungen. Dies soll in Kapitel II.1. gezeigt werden, indem auf die Begriffe »Wahrheit« (ἀλήθεια) und »Natur« (φύσις) eingegangen wird, die bei Heraklit eine nahezu identische Bedeutung haben, insofern sie die Erscheinungsweise des Seienden im Ganzen bezeichnen. Wahrheit wird dabei noch nicht in der Einschränkung auf die Richtigkeit von Aussagen, und Natur nicht als Bereich der äußeren Natur oder als das Wesen von etwas, z. B. des Menschen, verstanden. Deutlich werden soll, dass sich nur unter der Bedingung eines geänderten Wahrheits- und Naturverständnisses überhaupt ein Horizont für die Frage nach der Natur des Menschen öffnen konnte. In diesem Zusammenhang werden Recht (δίκη) und Gesetz (νόμος) ontologisch interpretiert. Das Recht ist eine im Verhältnis zur Ordnung des Seienden stehende ausgleichende Kraft, die der Hybris entgegenwirkt. Hesiods ältere Vorstellungen von Gesetz und Gerechtigkeit werden im Kontext der heraklitischen Begriffsauslegungen interpretiert. Dass Protagoras weder ein griechischer Aufklärer noch ein Relativist ist, sondern ein Vorbereiter der von den späteren Sophisten vertretenen Antithese von Physis und Nomos, die für die Etablierung des Naturrechtsdenkens von zentraler Bedeutung ist, ist die These von Kapitel II.2. Missverständnisse bezüglich des Homo-mensuraSatzes rühren vor allem daher, dass μέτρον mit »Maß« statt mit Snell hat z. B. gezeigt, dass die Auffassung vom Menschen bei Homer vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Leib und Seele nicht angemessen beschrieben werden kann. Weder die Seele noch der Leib werden als geschlossene Entitäten vorgestellt. Vgl. Snell, Bruno: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, 4., neubearb. Aufl., Göttingen 1975, S. 13– 29. Folglich kann der homerische Mensch auch nicht annehmen, dass der Ursprungort des Tätigseins ein seelisches Vermögen ist. »Nóos und Thymos [sind Seelenorgane, O. B.], die nicht aus sich denken und sich nicht aus sich regen können, denen überhaupt echte eigene Tätigkeit fremd ist«. Ebd., S. 29. Siehe auch Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 1996, S. 219 f.

12

17 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Einleitung

»Weite« oder »Offenheit« übersetzt wird. Der Satz behauptet nicht, dass der Mensch über allen Dingen steht, indem diesen nach subjektiven Maßstäben ihr Sein zu- oder abgesprochen wird, sondern dass das Sein oder Nichtsein der Dinge eine Offenheit für deren Erfahrbarkeit voraussetzt. Das Sein der Dinge steht demnach immer in Relation zum Menschsein. Das Recht unterliegt daher auch nicht der subjektiven Willkür, vielmehr handelt es sich – wie Protagoras im Mythos berichtet – um eine göttliche Gabe, die als vorpositive Bedingung das menschliche Zusammenleben erst ermöglicht. Im nachfolgenden Kapitel wird erläutert, dass die Sophisten bei der Beschreibung der menschlichen Physis eher die leibliche Weltbezüglichkeit im Blick haben und nicht eine Gleichheit der Menschen als Individuen oder Subjekte. Die scheinbar so gehaltarme »Gleichartigkeit« ist dennoch eine bedeutende Wendung im Nachdenken über die Physis. Stand das Wort bei Heraklit noch für die Erscheinungsweise des Seienden im Ganzen, haben die Sophisten es auf den Bereich der Leiblichkeit als Grundzug der menschlichen Existenz eingegrenzt. Die Bedeutung der sophistischen Äußerungen über die Gleichheit lässt sich nur verstehen, wenn berücksichtigt wird, gegen welche Freiheits- und Gleichheitserfahrungen sie eine Alternative bieten sollten. Nachfolgend wird daher das Freiheits- und Gleichheitsverständnis der griechischen Polis anhand einer kurzen Beschreibung der politischen Ordnungen von Sparta und Athen thematisiert. Die Frage nach der Relevanz der Entdeckung des Politischen für die Geschichte der Menschenrechte geht über den Kontext des Kapitels hinaus und wird deshalb in einem Exkurs zum politischen Denken Arendts behandelt. Häufig wird angenommen, dass die Griechen keine Rechte kannten, die allen Menschen zugestanden worden sind, und dass solche Rechtsvorstellungen zunächst im philosophischen Diskurs heranreifen mussten. Dagegen spricht jedoch, dass jenseits der Termini »ungeschriebenes Gesetz« oder »natürliches Gesetz« durchaus rechtliche Verpflichtungen bekannt waren, die gegenüber allen Menschen galten und vorschrieben, was einem Menschen nicht angetan werden durfte – auch, das ist entscheidend, den Sklaven nicht. Besonders relevant sind hier das Asylrecht und das Recht der Gefangenen und Sklaven auf Verschonung ihres Lebens. Durch Sokrates und Platon wird erstmalig die Möglichkeit, nach der Wahrheit und somit auch nach einem Begriff von Natur und Gerechtigkeit zu fragen, eröffnet. Die φύσις wird rational als das Wesen einer Sache interpretiert. Platons Verdienst für die Geschichte des 18 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Einleitung

naturrechtlichen Denkens besteht darin, die Vernunft (νόησις) im Menschen verortet und das gerechte Handeln mit dem inneren Verhältnis der Seele zu sich selbst fest verknüpft zu haben. Ein Naturrecht im Sinne eines vorpositiven Rechts gibt es bei Platon aber nicht, weil auch die Bestimmungen des positiven Rechts der Natur entsprechen müssen, um überhaupt Recht zu sein. Die ungeschriebenen Gesetze unterscheiden sich von den positiven lediglich dadurch, dass die Strafe für ihre Übertretung von selbst erfolgt und nicht gerichtlich verhängt werden muss. Dennoch verweist Platon in der Auseinandersetzung mit dem Prozess gegen Sokrates sehr dezidiert auf zwei Rechte; das Recht auszuwandern und das Recht, die Gesetze zu verbessern, wenn sich dies begründen lässt. Diese Rechte haben einen überpositiven Charakter und sind in Rechtsprinzipien, der Transparenz der Rechtsordnung sowie der Rechtssicherheit, fundiert. In seinem Spätwerk, den Gesetzen, stellt Platon eine Rechtsordnung vor, in der durch ein Mehrebenen-System der bestmögliche Rechtsschutz für den Einzelnen gewährleistet werden soll. Insofern zum Rechtsstaat der Rechtsschutz gehört 13, können die Gesetze auch als erste Theorie des Rechtsstaats gelesen werden. Das Statische der platonischen Ideenlehre versucht Aristoteles in einer Metaphysik der Bewegung 14 zu durchbrechen. Dies betrifft auch den Begriff der φύσις, der nun nicht mehr das unveränderliche Wesen einer Sache – sofern es sich nicht um ein göttliches Wesen handelt – beschreibt, sondern einen Zweck (τέλος), der sich zugunsten höherer Zwecke transzendieren lässt. In Kapitel IV.2. steht die Analyse der Sklaverei in der Politik im Vordergrund, die nach Ansicht vieler Autoren eine mögliche Bedeutung der aristotelischen Philosophie für die Herausbildung der Menschenrechte ausschließt. Dass die Sklaverei in der Antike kaum kritisiert wurde, ist eine Tatsache. Bezüglich der aristotelischen Analyse wird die These vertreten, dass der »Sklave von Natur« nicht aufgrund seiner individuellen Natur – einer Natur, die im aristotelischen Denkhorizont noch gar nicht auftaucht – Sklave ist, sondern seiner Tätigkeit. Mit »Natur« ist in der Formulierung der Zweck der Tätigkeit des Arbeitens gemeint, nämlich die Bereitstellung des zum Überleben Notwendigen (ἀναγκαῖά). Vgl. Giovannini, Adalberto: »Die Rechtsprechung im alten Rom: Rechtsstaat oder magistratische Willkür?«, in: Girardet, Klaus M./Nortmann, Ulrich (Hg.): Menschenrechte und europäische Identität – Die antiken Grundlagen, Stuttgart 2005. 14 Vgl. Bröcker, Walter: Aristoteles, 3., erw. Aufl., Frankfurt a. M. 1964. 13

19 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Einleitung

Wenn Aristoteles z. B. behauptet, dass der Sklave über einen geringeren Anteil an Vernunft verfügt, heißt das nicht, dass Sklaven »von Natur aus« minderwertige Menschen seien, sondern dass die körperlichen Arbeitstätigkeiten kein vernünftiges Denken erfordern. Mit dieser These wird versucht, die vernichtende Kritik gegen Aristoteles abzuschwächen und die Behauptung, dass die Nikomachische Ethik in diesem Punkt der Politik widersprechen würde, zu widerlegen. Die Missverständnisse rühren auch daher, dass Aristoteles die Unterscheidung von Sein und Sollen nicht kennt. Ein bedeutendes Argument gegen die angebliche Entmenschlichung des Sklaven entnehme ich dem Kapitel über die Freundschaft in der Ethik. Dort heißt es, dass eine Freundschaft – also ein Verhältnis, das laut Aristoteles Gewalt und Zwang ausschließt und die Beteiligten gleich sein lässt – mit dem Sklaven möglich ist, insofern er ein Mensch ist. Ermöglicht wird diese Freundschaft durch ein alle Menschen verbindendes Recht (δίκαιον παντὶ ἀνθρώπῳ). »Denn jeder Mensch, kann man sagen, steht im Rechtsverhältnis zu jedem Menschen, der Gesetz und Vertrag mit ihm gemeinsam haben kann, und damit ist auch die Möglichkeit eines Freundschaftsbandes gegeben, insofern der Sklave ein Mensch ist.« 15 Das hier angesprochene Recht entspricht mehr dem, was in der abendländischen Tradition als Naturrecht verstanden wird, als jenes Naturrecht, das Aristoteles im 5. Kapitel der Ethik zwar in der Unterscheidung zum positiven Recht, aber als Teil des politischen Rechts und daher nur partikular gültigen Rechts beschreibt. Das Recht, das die Freundschaft zwischen dem Herrn und dem Sklaven ermöglicht und damit eine Differenz ausgleicht, die nach antiker Auffassung kaum geringer ist als die zwischen Mensch und Tier, wird allein durch die Fähigkeit begründet, Verträge abschließen zu können und nach Gesetzen zu leben. Mit dem Hinweis darauf, dass Aristoteles die grundlegende Rechtsfähigkeit aller Menschen kennt, soll nicht die Tatsache bestritten werden, dass die Haushaltslehre später zur Legitimierung von Unrechtsverhältnissen diente. Diese Funktion konnte sie aber erst erfüllen, als die φύσις nicht mehr im Rahmen einer Zweckordnung, sondern primär als individuelle oder gruppenspezifische Naturanlage gedacht wurde. Auffällig ist, dass Epikur genau von jener Situation ausgeht, die Aristot. eth. Nic. VIII, 13, 1161b. (Sofern nicht anders angegeben, beziehen sich die Aristoteles-Verweise auf die von Bonitz, Rolfes, Seidl und Zekl herausgegebenen Philosophischen Schriften.) Gigon übersetzt δίκαιον mit »Gerechtigkeit«.

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Einleitung

Aristoteles nur in der Freundschaft zwischen Herrn und Sklaven erkennt, also einem Verhältnis, in dem das bloße Menschsein zählt und die Fähigkeit, Verträge einzugehen, eine Rolle spielt, wobei das Natürliche nicht mehr im Zweck des Tätigseins vorgefunden wird, sondern in dem, was dem Einzelnen nach vernünftiger Überlegung als das für ihn Zuträgliche erscheint. Der Mensch erkennt seine Natur, wenn er bedenkt, wie sich die »Lust« bis zur dauerhaften Glückseligkeit steigern und der Schmerz vermeiden lässt. Der φύσις-Begriff wird von Epikur auf die individuellen Empfindungen bezogen. Die Vermögen, das Zuträgliche anzustreben und Schmerzen zu vermeiden, sind angeboren. Das Naturrecht (φύσει δίκαιον) folgt für Epikur aus einem Vertrag, durch den sich die Menschen wechselseitig darauf einigen, gegenseitige Schädigungen zu vermeiden und das individuelle Wohl zu fördern. Epikur geht ebenso wie später Hobbes davon aus, dass es eine vorpolitische Gerechtigkeit nicht gibt. Dass seine Ideen zum Naturrecht auch in neueren Studien zur Geschichte des Naturrechts oder der Menschenrechte trotz ihres bedeutenden Einflusses auf die politische Theorie von Hobbes 16 kaum beachtet werden, ist auf die missverständliche Titulierung seiner Lehre als Hedonismus zurückzuführen. Im Gegensatz zu Epikur waren die Stoiker der Ansicht, dass das Seiende im Ganzen nicht durch Zufall entstanden, sondern durch den λόγος gefügt ist. Dadurch, dass der Mensch Anteil an der Vernunft hat, könne er die Vernünftigkeit der Seinsordnung erkennen und versuchen, ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur und dem Schicksal zu führen. Den Stoikern war bewusst, dass die Determination des Schicksals und die Freiheit des Menschen schwer miteinander zu vereinen sind. Unabhängig davon, ob die stoischen Lösungsansätze für dieses Problem überzeugen können, lässt sich feststellen, dass vor allem die späte Stoa mehr dazu tendiert, von einer nichtdeterminierten, inneren Freiheit auszugehen. Schon die frühe Stoa bemühte sich darum, das Seelenvermögen der Zustimmung (συγκατάθεσις) unabhängig von der Determination zu betrachten. Spätestens bei Epiktet wird in diesem Vermögen der freie Wille erblickt. Die Epikureer und Stoiker legen dar, dass die Möglichkeit der Willenswahl (προαίρεσις) nicht nur den politisch Handelnden offensteht, Vgl. Ludwig, Bernd: Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts. Zu Thomas Hobbes’ philosophischer Entwicklung von ›De Cive‹ zum ›Leviathan‹ im Pariser Exil 1640–1651, Frankfurt a. M. 1998, S. 401 ff.

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Einleitung

wie Aristoteles annahm, sondern allen Menschen. Daher kann auch die Beachtung des Naturgesetzes (lex naturalis), aus dessen Bestimmungen sich klare natur- und völkerrechtliche Richtlinien ableiten lassen, allen Menschen abverlangt werden. In Kapitel V.3. wird dargestellt, inwiefern das römische Recht zunächst unbeeinflusst vom philosophischen Diskurs eine Tendenz zur Ausdehnung der Geltungsweite von Rechten aufwies und später auf der Suche nach einer normativen Begründung für die Verleihung des Bürgerrechts an alle Untertanen (constitutio Antoniniana) den Anschluss an die stoischen Naturrechtsvorstellungen herstellte. Abschließend wird der Versuch unternommen, den Prozess der Subjektivierung in der Antike zusammenfassend vor dem Hintergrund eines Verständnisses antiker Philosophie als Lebensform 17 zu betrachten. Deutlich werden soll, dass diese Lebensform als Alternative zum politischen Leben entstand. Durch die Abkehr von der Politik wurde der Philosophie eine politische Grammatik eingeschrieben, die ihr selbst verborgen blieb. Das Verhältnis der zwei Lebensformen steht am Anfang der Geschichte einer politischen Dialektik, der von Politik als Freiheit und von Politik als Herrschaft, deren Dynamik auch die moderne Revolution der Menschenrechte 18 antreibt.

1.

Reflexionen über den Diskurs zur Geschichte der Menschenrechte

Verglichen mit anderen Teilbereichen der Forschungsliteratur zur Geschichte der Grund- und Menschenrechte 19 fällt die Auswahl zur Thematik »griechisch-römische antike Grundlagen« dürftig aus. Zur Bedeutung des Christentums – das in der Forschung häufig einer vermeintlich heidnischen oder säkularen Antike gegenübergestellt wird 17 Vgl. Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991. 18 Zum systematischen Zusammenhang von Revolution und Menschenrechten merken Menke und Raimondi an: »Die Menschenrechte sind […] die Anweisung auf eine Form der Politik, die wesentlich revolutionär ist, weil ihre Praxis in einer beständigen Untergrabung, Verschiebung, Umstürzung der Verhältnisse besteht – eingeschlossen derjenigen, die einmal im eigenen Namen der Menschenrechte errichtet worden sind.« Menke/Raimondi: Die Revolution der Menschenrechte, S. 9. 19 Einen Gesamtüberblick bietet Birtsch, Günter/Trauth, Michael/Meenken, Immo (Hg.): Grundfreiheiten, Menschenrechte 1500–1850. Eine internationale Bibliographie, 5 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1991–1992.

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Reflexionen über den Diskurs zur Geschichte der Menschenrechte

– der spätscholastischen Naturrechtslehren, der englischen Rechtsgeschichte oder der Naturrechtstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts wurden weitaus mehr Schriften verfasst. Dennoch lassen die zahlreichen Studien nicht den Schluss zu, dass die Menschenrechtsgeschichte mittlerweile ausreichend erforscht wäre. 20 Ich werde zunächst anhand einiger Aspekte des Diskurses über die Menschenrechtsgeschichte erläutern, weshalb das Thema »griechisch-römische Antike und Menschenrechte« von der Forschung lange Zeit übergangen wurde und erst seit kurzem mehr Beachtung findet. Die Verweise auf andere Schwerpunktbildungen in der Forschungsliteratur dienen dazu, die Thematik genauer einzugrenzen. Bezüglich der Frage nach antiken Grundlagen ist es durchaus lohnenswert, einen Blick auf die Forschungsbeiträge des ausgehenden 18. 21 und des 19. Jahrhunderts zu werfen, wobei berücksichtigt werden muss, dass die Autoren nicht immer den Begriff »Menschenrechte« verwenden. Häufig wird stattdessen von Naturrechten, natürlichen Rechten, Freiheitsrechten oder Urrechten gesprochen. 22 20 So u. a. Hoffmann, Stefan-Ludwig (Hg.): Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 8; Schmale, Wolfgang: Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit. Ein deutsch-französisches Paradigma, München 1997, S. 19; zum Forschungsdesiderat »antike Ursprünge der Menschenrechte« vgl. Siewert, Peter: »Antike Parallelen zu der UNO-Menschenrechtserklärung von 1948«, in: Girardet/Nortmann (Hg.): Menschenrechte und europäische Identität, S. 135. 21 Schon Maréchal und Condorcet setzen sich mit der Frage auseinander, wie historische Ereignisse, Rechtstexte wie bspw. die Magna Carta oder die Einflüsse philosophischer Lehren im Hinblick auf die Proklamation der Menschenrechte zu bewerten sind. Vgl. Maréchal, Sylvain: Déclaration des droits de l’homme et du citoyen, décrétée par l’Assemblée nationale, Comparée avec les lois des peuples anciens et modernes, et principalement avec les déclarations des États-Unis de l’Amérique, Paris 1791; Condorcet, Marie-Jean-Antoine-Nicolas C. de: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes [1794]. Alff, Wilhelm (Hg.), Frankfurt a. M. 1976, S. 117. 22 Für Herder z. B. bezeichnen Humanität und Menschenwürde im Prinzip dasselbe wie Menschenrechte. Vgl. Herder, Johann Gottfried von: Briefe zur Beförderung der Humanität [1793–1797]. Irmscher, Hans Dietrich (Hg.), Bd. 7, Frankfurt a. M. 1991, Nr. 27, S. 147. Herder bleibt aber doch bei dem Wort Humanität. Zur Popularisierung des Begriffs trugen insbesondere Herders Humanistische Briefe bei, in denen die Rezeption der Antike im Vergleich zu christlichen Inhalten deutlich dominiert. »Geschichtlich« sind die Menschenrechte gemäß den Vorstellungen der Aufklärung nur insofern, als die Menschheit den vorgezeichneten Weg zu ihrer Verwirklichung abschreitet. Vgl. Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit [1784–1791]. Bollacher, Martin (Hg.), Bd. 6, Frankfurt 1989, S. 635. Auf-

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Einleitung

Sofern aber die neuzeitlichen Menschenrechtsproklamationen, die Virginia Bill of Rights von 1776 und die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen, als geschichtliches Ereignis thematisch aufgegriffen werden und Auskunft über die Geschichte der Grund- und Menschenrechte gegeben wird, können die jeweiligen Schriften dem Diskurs zugeordnet werden. Die von Schmale angeführten Literaturbeispiele 23 zeigen, dass einige der gegenwärtig in der Debatte über die Menschenrechtsgeschichte eingenommenen Positionierungen grundsätzlich bereits im 18. und 19. Jahrhundert vertreten worden sind. Das mittelalterliche Recht, die englische Rechtstradition, die Reformation, die amerikanischen Rechteerklärungen sowie die neuzeitliche Naturrechtstheorie erscheinen als wesentliche »Stationen«. Auch die Frage, welche Bedeutung der Antike im Hinblick auf die Menschenrechtsgenese zukommt, wird aufgeworfen und differenziert beantwortet. 24 Während einige Autoren behaupten, dass die Menschenrechte christlichen Ursprungs 25 sind und nur vor dem Hingrund der »Anlagen in der Menschheit« ist das Fortschrittsziel, die Menschenrechte gemäß »eines verborgenen Plans der Natur« zu verwirklichen, vorgegeben. Vgl. Kant, Immanuel: »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« [1784]. Weischedel, Wilhelm (Hg.): Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Werke Bd. 6, Frankfurt a. M. 1964, S. 45 (Achter Satz). 23 Vgl. Schmale: Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit, S. 33–52. 24 Ahrens und Michelet behaupten, dass die Antike Menschenrechte gekannt habe. Vgl. Ahrens, Heinrich: »Menschenrechte«, in: Bluntschli, Johann Caspar/Brater, Karl (Hg.): Deutsches Staatswörterbuch, Bd. 6, Stuttgart Leipzig 1861, S. 601–607; Michelet, Carl Ludwig: Naturrecht oder Rechts-Philosophie als die praktische Philosophie enthaltend Rechts-, Sitten- und Gesellschaftslehre, Bd. 2, Berlin 1866 [Nachdr. Leipzig 1970], S. 341 u. 391 f. Schmidt bietet einen universalgeschichtlichen Überblick zur Denk- und Glaubensfreiheit, deren Ursprünge er bis in die Antike zurückverfolgt. Vgl. Schmidt, Wilhelm Adolf: Geschichte der Denk- und Glaubensfreiheit im ersten Jahrhundert der Kaiserherrschaft und des Christenthums, Berlin 1847. Zur Geschichte des Widerstandsrechts seit der Antike vgl. Murhard, Friedrich: Über Widerstand, Empörung und Zwangsübung der Staatsbürger gegen die bestehende Staatsgewalt, in sittlicher und rechtlicher Beziehung. Allgemeine Revisionen der Lehren und Meinungen, Braunschweig 1832, S. 99 f. Hoffmann konzentriert sich auf die Geschichte einzelner Menschenrechte seit der Antike. Vgl. Hoffmann, Ludwig: Die staatsbürgerlichen Garantien, oder über die wirksamsten Mittel, Throne gegen Empörungen und die Bürger in ihren Rechten zu sichern [1825], 2 Bde., 2., völlig umgearb. Aufl., Leipzig 1831. Nach Krug wurden die »liberalen Ideen von Freiheit und Gleichheit« erstmals in der griechischen Philosophie formuliert. Vgl. Krug, Wilhelm Traugott: Geschichtliche Darstellung des Liberalismus alter und neuer Zeit. Ein historischer Versuch, Leipzig 1823. 25 Vgl. z. B. Weingarten, Hermann: Die Revolutionskirchen Englands. Ein Beitrag zur

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Reflexionen über den Diskurs zur Geschichte der Menschenrechte

tergrund christlicher Wertvorstellungen verstanden werden können, betonen andere deren universalrechtlichen Charakter. Dennoch blieb die Menschenrechtsgeschichte im 19. Jahrhundert ein Randthema in den jeweiligen Forschungsdisziplinen. Der Menschenrechtsbegriff büßte die im Zuge der Revolutionen gewonnene Prominenz relativ schnell wieder ein und wurde von anderen Leitbegriffen der politischen Semantik, bspw. dem der »Rasse«, »Nation«, »Klasse« oder »Zivilisation«, verdrängt. 26 Der Diskurs über die historische Menschenrechtsforschung in Deutschland und Frankreich ist ausführlich von Schmale dargestellt worden. 27 Der Schrift Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 28 des Staatsrechtlers Georg Jellinek von 1895 wird eine zentrale Bedeutung beigemessen. Erst in der Auseinandersetzung mit Jellineks Theorie nahm der Diskurs einen wissenschaftlichen Charakter an. 29 Seine Thesen erregten großes Aufsehen und eröffneten eine Kontroverse, die eine kontinuierliche und systematische, an klaren Fragestellungen orientierte historische Menschenrechtsforschung begründete. Das heißt allerdings nicht, dass nicht auch eine seiner zentralen Behauptungen – jene vom Ursprung der Menschenrechtserklärungen in der Reformation – bereits von anderen vertreten worden war. 30 Es war jedoch nicht diese Behauptung, sondern der Aninneren Geschichte der englischen Kirche und der Reformation, Leipzig 1868, S. 447; Bulmerincq, August von: Das Asylrecht in seiner geschichtlichen Entwickelung beurtheilt vom Standpunkte des Rechts und dessen völkerrechtliche Bedeutung für die Auslieferung flüchtiger Verbrecher. Eine Abhandlung aus dem Gebiete der universellen Rechtsgeschichte und des positiven Völkerrechts, Wiesbaden 1853 [Nachdr. 1970]. 26 Vgl. Hoffmann: Moralpolitik, S. 7–22. 27 Vgl. Schmale: Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit, S. 29–92. 28 Vgl. Jellinek, Georg: »Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« [1895], in: Schnur, Roman (Hg.): Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt 1964. 29 Vgl. Stolleis, Michael: »Georg Jellineks Beitrag zur Entwicklung der Menschenund Bürgerrechte«, in: Paulson, Stanley L./Schulte, Martin (Hg.): Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000, S. 103 ff. 30 Der Rechtshistoriker Gierke sieht in der Reformation einen gescheiterten Versuch, naturrechtliche Prinzipien in positive Satzungen umzuformen. Vgl. Gierke, Otto von: Naturrecht und deutsches Recht. Rede zum Antritt des Rektorats der Universität Breslau, Frankfurt a. M. 1883, S. 22 ff. Weingarten arbeitet heraus, wie sich bereits in England »auf dem Boden der Reformation« jene independentistischen Vorsätze entwickeln, die dann in Amerika in politisch-rechtliche Prinzipien umformuliert worden seien. Vgl. Weingarten: Die Revolutionskirchen Englands, S. 430 ff., S. 447. Blunt-

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Einleitung

spruch, Fortschritte in der Menschenrechtsgeschichte anhand ihrer Realisierung als subjektives, einklagbares Recht zu beschreiben, welcher den Forschungsdiskurs nachhaltig prägte. 31 Weil jedoch das Konzept des subjektiven Rechts der Antike unbekannt gewesen sei, folgte aus dieser Neuausrichtung, dass die Frage nach Ursprüngen oder Grundlagen der Menschenrechte in der griechisch-römischen Antike kaum noch explizit gestellt wurde. Jellineks Theorie kann in zwei Thesen untergliedert werden. Zunächst behauptet er, dass die Vorbilder der französischen Deklaration der Form und des Inhalts nach die Verfassungen der amerikanischen Einzelstaaten, die zwischen 1776 und 1789 verabschiedeten Bills of Rights, gewesen seien: 32 »[D]ie Prinzipien von 1789 sind in Wahrheit die Prinzipien von 1776«. 33 Die im damaligen Diskurs über die Französische Revolution populäre These, dass die Idee einer Erklärung der Rechte auf den contract social Rousseaus zurückgehe, weist Jellinek entschieden mit dem Argument zurück, dass das Naturrecht bei Rousseau nicht dazu diene, der staatlichen Gewalt Grenzen zu setzen. 34 In der Begrenzung der staatlichen Gewalt zugunsten subjektiver Rechte, begründet durch das unveräußerliche und unantastbare Naturrecht des Individuums, sieht Jellinek aber die maßgebliche Errungenschaft der amerikanischen Bills of Rights. Sodann geht er der Frage nach, warum ausgerechnet in den amerikanischen Kolonien das Naturrecht als subjektives Recht Einzug in die einzelstaatlichen Menschli stellt die Frage, weshalb das Recht auf religiöse Bekenntnisfreiheit erst so spät errungen wurde, obwohl »[d]as natürliche Recht und das Christenthum, der römische Rechtssinn und das germanische Freiheitsgefühl […] alle die Bekenntnißfreiheit zu fordern [scheinen]«. Bluntschli, Johann Caspar: Geschichte des Rechts der religiösen Bekenntnißfreiheit. Ein öffentlicher Vortrag, Elberfeld 1867, S. 4. In deutlicher Analogie zu den späteren Thesen Jellineks stellt er fest, dass die Bekenntnisfreiheit erstmalig 1636 auf Betreiben Williams’ in Rhode Island als Grundgesetz verkündet wurde. Vgl. ebd., S. 31 f. Der anonyme Verfasser des Anhangs zu Adelungs Versuch einer Geschichte der Kultur des menschlichen Geschlechts führt die Entdeckung der Menschenrechte ebenfalls auf die Reformation zurück. Vgl. Adelung, Johann Christoph: Versuch einer Geschichte der Kultur des menschlichen Geschlechts [1782], 2. Aufl., Leipzig 1800 [Nachdr. Königstein 1979], S. 5 f. 31 Vgl. Joas, Hans: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, S. 45. 32 Vgl. Jellinek: »Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte«, S. 8 ff. Auf den Seiten 20–26 werden einzelne Artikel der amerikanischen Erklärungen denen der französischen in direktem Vergleich gegenübergestellt. 33 Ebd., S. 67. 34 Vgl. ebd., S. 5–8.

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Reflexionen über den Diskurs zur Geschichte der Menschenrechte

schenrechtserklärungen fand. Dass dies primär unter dem Einfluss der früheren englischen Rechtsgarantien geschehen sei, schließt er aus, da es sich hier nur um korporative Rechte gehandelt habe, die außerdem als erbliche Rechte und Freiheiten des englischen Volkes, als birthrights, verstanden worden seien. 35 Auch die Rezeption der Naturrechtstheorien in den amerikanischen Kolonien kann nach Ansicht Jellineks nicht der wesentliche Grund für die Implementierung von Menschenrechten gewesen sein, da es die Naturrechtstheorie schon seit der Antike gebe und sie an der Unterscheidung zum positiven Recht nie Anstoß genommen habe. 36 Den tieferen Grund sieht er schließlich in der Durchsetzung der Religionsfreiheit durch die puritanisch-independentistischen Bewegungen in den amerikanischen Kolonien. Die Religionsfreiheit sei das erste Recht gewesen, welches nicht Gegenstand der Gesetzgebung sein durfte. 37 Ursprünglich sei diese aber in Deutschland infolge der nachreformatorischen Kriege errungen worden. Jellinek kommt daher zu dem Schluss: »Was man bisher für ein Werk der Revolution gehalten hat, ist in Wahrheit eine Frucht der Reformation und ihrer Kämpfe.« 38 In diesem Sinne sieht er auch in den Freiheitsrechten und justiziellen Menschenrechten das Ergebnis eines Ringens um die Religionsfreiheit. Die provokative Theorie Jellineks, der zufolge der Ursprung der Menschenrechte die Reformation in Deutschland sei und die französische Rechteerklärung die amerikanischen Bills of Rights zum Vorbild habe, fand auch im europäischen Ausland vielfach Beachtung. Während sie einerseits von einer großen Anzahl von Forschern bestätigt wurde 39, stimmten ihr andere nur teilweise zu oder widerspraVgl. ebd., S. 31–37. Vgl. ebd., S. 27–38. 37 Vgl. ebd., S. 39 ff. 38 Ebd., S. 53 f. 39 Vgl. u. a. Klövekorn, Fritz: Die Entstehung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, Berlin 1911 [Nachdr. Vaduz 1965]; Zweig, Egon: Die Lehre vom Pouvoir Constituant, Tübingen 1909, S. 241 f.; Troeltsch, Ernst: »Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt« [1906], in: Rendtorff, Trutz/Pautler, Stefan (Hg.): Ernst Troeltsch. Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), KGA Bd. 8, Berlin New York 2001, S. 263 ff. Troeltsch bezeichnet Jellineks Schrift als »wirkliche erleuchtende Entdeckung«, ergänzt aber, dass »[d]er Vater der Menschenrechte […] nicht der eigentliche kirchliche Protestantismus [ist], sondern das von ihm gehaßte und in die Neue Welt vertriebene Sektentum und der Spiritualismus«. Ebd., S. 266 f.; Scherger, George Lawrence: The Evolution of modern Liberty, London Bombay 1904, S. 163–203; Walch, Emile: La 35 36

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Einleitung

chen in allen Punkten. 40 Die Vermutung liegt nahe, dass die Debatte stark von nationalem Eigendünkel geprägt gewesen sein könnte, was aber größtenteils nicht der Fall war. 41 Französische Forscher unterstützten Jellineks Thesen und umgekehrt schlossen sich deutsche Forscher der seitens des Politikwissenschaftlers und Soziologen Emile Boutmy, Begründer und erster Direktor der École libre des Sciences Politiques, vorgetragenen Kritik 42 an. Gegen einen vermeintlichen Nationalismus Jellineks spricht auch, dass er die Behauptung von Gierkes, nach der »die uralte und unausrottbare germanische Freiheitsidee« die »letzte Quelle« der Menschenrechte sei, zurückweist. 43 Dennoch ist es kein Zufall, dass Jellineks Thesen gerade auf französischer Seite Kritik hervorriefen. Sein Ansatz, die Geschichte der Menschenrechte hinsichtlich ihrer verfassungsmäßigen Verankerung als subjektives Recht zu betrachten, wurde nicht zuletzt deshalb vielfach missverstanden, weil sich darin eine spezifisch deutsche Lesart von Menschenrechten äußert. Menschenrechte sind demnach nationale, positivierte Grundrechte des Bürgers, wohingegen der Begriff »Droits de l’Homme« nach französischem Verständnis den universellen und vorpositiven Charakter der Menschenrechte betont. 44 Auf déclaration des droits de l’homme et du citoyen et l’assemblée constituante: travaux préparatoires, Paris 1903. 40 Dass Amerika im Hinblick auf die Form einer Rechteerklärung als Vorbild gedient habe, die Rechte inhaltlich aber auch auf andere Ursprünge verweisen, behaupten bspw. Wahl, Adalbert: Vorgeschichte der französischen Revolution: Ein Versuch, Bd. 1, Tübingen 1905, S. 134; Gierke, Otto von: Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, Breslau 1880 [Nachdr. Aalen 1981], S. 346, 347 Anm. 52, 381 f. (Zusätze von 1902 und 1913); Alengry, Franck: La déclaration des droits de l’homme et du citoyen. Conférence, textes et documents historiques etc., Paris 1901, S. 17. Eindeutig gegen Jellineks Theorie positionieren sich z. B. Marcaggi, Vincent: Les origines de la déclaration des droits de l’homme de 1789, Paris 1904; Schmidt, Richard: Allgemeine Staatslehre. Die Entstehung der modernen Staatenwelt, Bd. 2, Leipzig 1903, S. 662, 799 u. 804; Robinson, James Harvey: »The French Declaration of the Rights of Man, of 1789«, in: Political Science Quarterly Review 14 (1899), S. 653 ff. 41 Vgl. Schmale: Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit, S. 52 ff. 42 Vgl. Boutmy, Emile: »Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Georg Jellinek« [1902], in: Schnur (Hg.): Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 86. 43 Vgl. Stolleis: »Georg Jellineks Beitrag zur Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte«, S. 109. 44 Vgl. Schmale: Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit, S. 30.

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Reflexionen über den Diskurs zur Geschichte der Menschenrechte

dieses Problem weist Jellinek in seiner Antwort an Boutmy selbst hin. 45 Jellineks Hauptverdienst besteht darin, die Menschenrechtsgeschichte ausgehend von der Frage der Positivierung von Rechten als einklagbare Grundrechte zu begreifen. Die These, dass die Menschenrechtsidee ihren Ursprung in der Reformation habe, wurde dagegen von vielen Theoretikern relativiert. 46 Trotz aller Missverständnisse hat Jellineks Abhandlung letztlich dazu beigetragen, dass in der Debatte über die Menschenrechtsgeschichte deutlicher zwischen einer verfassungsgeschichtlichen und einer geistesgeschichtlichen Perspektive unterschieden wird. Die Schrift blieb noch für Jahrzehnte Dreh- und Angelpunkt der Kontroverse über die Entstehungszusammenhänge der Menschenrechtserklärungen in Nordamerika und Frankreich. Was die grundsätzlichen Differenzen zwischen der moralisch-rechtlichen und der grundrechtlichen Lesart betrifft, konstatiert Hoffmann, dass diese seit der Kontroverse zwischen Jellinek und Boutmy nicht behoben werden konnten. 47 Die Verknüpfung der Menschenrechtsgeschichte mit der Geschichte des modernen Verfassungsstaates im deutschen Diskurs geht mit einer allgemeinen Skepsis gegenüber moralischen Rechten einher, welche häufig als bloßes Wunschdenken abgetan werden. Laut Habermas z. B. wird das Konzept der Menschenrechte in der moralischen Lesart dem politischen Souverän »gleichsam paternalistisch übergestülpt«. 48 »Deshalb muß das Verständnis der Menschenrechte vom metaphysischen Ballast der Annahme eines vor aller Vergesellschaftung gegebenen Individuums, das mit angeborenen Rechten

Vgl. Jellinek, Georg: »Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Antwort an Emile Boutmy« [1902], in: Schnur (Hg.): Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 114. 46 Vgl. Joas: Die Sakralität der Person, S. 48 ff. Trotz einiger Korrekturen an den Thesen Jellineks, kommt Joas, Wolfgang Vögele zitierend, zu dem Schluss: »Jellinek wäre also insofern zu korrigieren, als die amerikanische Menschenrechtserklärung nicht nur, aber auch religiöse Wurzeln hat. Wenngleich aus der Religionsfreiheit damit nicht die übrigen Menschenrechte gleichsam organisch hervorgehen, trifft es doch zu, daß diese im Amerika des späten achtzehnten Jahrhunderts ›als die ›erste Freiheit‹ verstanden [wurde], als das bedeutendste und wichtigste der Freiheitsrechte, das die Grundlage der gesamten übrigen Verfassung bildet‹.« Ebd., S. 52 f. 47 Vgl. Hoffmann: Moralpolitik, S. 11. 48 Vgl. Habermas, Jürgen: »Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie«, in: ders.: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1997, S. 301. 45

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Einleitung

gleichsam auf die Welt kommt, befreit werden.« 49 Tugendhat behauptet, dass es Menschenrechte nur als juridische Grundrechte gebe. »[E]s kann nur einen metaphorischen Sinn haben, zu sagen, es gebe Naturrechte, […] die Menschenrechte können wie alle Rechte nur verliehene Rechte sein, und daß es sie gibt, hat den Sinn, daß sie zu verleihen Teil einer legitimen staatlichen Ordnung ist«. 50 Dass in Deutschland keine Monographie erschienen ist, die im Titel einen Zusammenhang von Menschenrechten und Antike andeutet, ist eine Folge des länderspezifischen Diskurses. Stellungnahmen zu »antiken Wurzeln« oder »Quellen« für die Herausbildung der Menschenrechte beziehen sich zumeist auf die geistesgeschichtliche Tradition und spielen nur am Rande eine Rolle. Ein Grund dafür, dass das Thema »antike Grundlagen der Menschenrechte« auch nach 1945 kaum behandelt wurde, war, dass eine Revision des Verhältnisses der christlichen Kirchen zu den Menschenrechten 51 unter anderem durch Studien untermauert werden sollte, die den christlichen Beitrag zur Menschenrechtsgeschichte herausarbeiten. Viele Autoren meinten offenbar, dass dies nur gelingen könne, wenn sie die christlichen Inhalte polemisch gegen vermeintlich säkulare griechisch-römische Grundlagen und Elemente der Tradition – bspw. die englische Rechtstradition und die neuzeitliche Naturrechtstheorie – abgrenzen. Sie konnten damit an Theorieansätze bei Hegel, Troeltsch und Löwith anschließen. Hegel hat die »Idee der Freiheit« einseitig der christlichen Tradition zugeschrieben und einen griechischen oder römischen Ursprung ausdrücklich zurückgewiesen. 52 Im Rekurs auf Jellinek erklärt Troeltsch, dass der Begriff der Habermas, Jürgen: »Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte«, in: Brunkhorst, Hauke/Köhler, Wolfgang R./Lutz-Bachmann, Matthias (Hg.): Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt a. M. 1999, S. 223. Zur Erläuterung und Kritik der habermasschen Position, dass das moderne Recht der Moral nicht untergeordnet, sondern »komplementär« sei vgl. Wildt, Andreas: »Menschenrechte und moralische Rechte«, in: Gosepath, Stefan/Lohmann, Georg (Hg.): Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt a. M. 1998, S. 126–129. 50 Tugendhat, Ernst: »Die Kontroverse um die Menschenrechte«, in: Gosepath/Lohmann (Hg.): Philosophie der Menschenrechte, S. 48. 51 Vgl. Uertz, Rudolf: Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789–1965), Paderborn u. a. 2005; Heckel, Martin: Die Menschenrechte im Spiegel der reformatorischen Theologie, Heidelberg 1987. 52 »Ganze Weltteile, Afrika und der Orient, haben diese Idee [die Idee der Freiheit] nie gehabt und haben sie noch nicht; die Griechen und Römer, Plato und Aristoteles, auch 49

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Reflexionen über den Diskurs zur Geschichte der Menschenrechte

Menschenrechte zu denen gehöre, die »auf dem Boden des religiösen Lebens ursprünglich erwachsen sind«. 53 Auch Löwith führt die Menschenrechte unter Ausschluss der Antike auf christliche Ideen zurück. 54 Nach 1945 verlangt Ritter, dass der Glaube an die Menschenrechte mit der christlichen Sozialethik begründet werden solle – allerdings ohne den Einfluss der stoisch-naturrechtlichen Tradition zu negieren. 55 Kipp meint dagegen, dass ausschließlich das Christentum die weltanschauliche Grundlage für die Menschenrechte gedie Stoiker haben sie nicht gehabt; sie wussten im Gegenteil nur, daß der Mensch durch Geburt (als atheniensischer, spartanischer usf. Bürger) oder Charakterstärke, Bildung, durch Philosophie (der Weise ist auch als Sklave und in Ketten frei) wirklich frei sei. Diese Idee ist durch das Christentum in die Welt gekommen, nach welchem das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat, indem es Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes, dazu bestimmt ist, zu Gott als Geist sein absolutes Verhältnis, diesen Geist in sich wohnen zu haben, d. i. daß der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist.« Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830]. Nicolin, Friedhelm/Pöggeler, Otto (Hg.), Hamburg 1991, § 482, S. 388. Schild und Kasper knüpfen daran unmittelbar an. Vgl. Schild, Wolfgang: »Systematische Überlegungen zur Fundierung und Konkretisierung der Menschenrechte«, in: Schwartländer, Johannes (Hg.): Menschenrechte. Aspekte ihrer Begründung und Verwirklichung, Tübingen 1978, S. 37; Kasper, Walter: »Vernunft und Geschichte«, in: Schwartländer (Hg.): Menschenrechte, S. 232. Zum Verhältnis der hegelschen Rechtslehre zu den Menschenrechten vgl. Barišić, Pavo: »Freiheit und Menschenrechte bei Hegel«, in: Hegel Jahrbuch XX, 2 (2000), S. 139–148. 53 Troeltsch, Ernst: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912, S. 760. 54 »Das Vorbild dieser Festlegung der Menschenrechte auf Freiheit und Gleichheit ist – wie G. Jellinek nachwies – die christliche Idee, daß alle Menschen als Geschöpfe Gottes gleich geboren sind und daß niemand als ein Ebenbild Gottes über seinesgleichen ein Vorrecht hat. Die Französische Revolution ist eine entfernte Folge der Reformation und ihres Kampfes um die Freiheit des Glaubens. Die Civitas Dei auf Erden wird zum Gesellschaftsvertrag, das Christentum zur Humanitätsreligion, die christliche Kreatur zum natürlichen Menschen, die Freiheit eines jeden Christenmenschen zur bürgerlichen Freiheit im Staat und das religiöse Gewissen zur ›libre communication des pensées et des opinions‹. Infolge dieser christlichen Herkunft ist schon der erste Grundsatz (›Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits‹) gänzlich unvereinbar mit der heidnischen Staatslehre, welche voraussetzt, daß es ›von Natur aus‹ Freie und Sklaven gibt.« Löwith, Karl: »Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts« [1939]. Stichweh, Klaus/Launay, Marc B. de (Hg.): Karl Löwith. Sämtliche Schriften, Bd. 4, Stuttgart 1988, S. 304 f. 55 Vgl. Ritter, Gerhard: »Ursprung und Wesen der Menschenrechte« [1949], in: Schnur (Hg.): Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 205 ff.; Ritter, Gerhard: »Die Menschenrechte und das Christentum«, in: Zeitwende 21 (1949/1950), S. 1–12.

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schaffen habe. Dies sei in der Antike nicht möglich gewesen, weil es für den Einzelnen kein transzendentes Ziel gegeben habe, das unabhängig von der Zugehörigkeit zur Polisgemeinschaft gedacht worden sei. Die frühe christliche Kirche sei dann jedoch auf den »unheilvollen Weg« der Staatsgebundenheit »mitgerissen« worden. Zur Staatsreligion geworden, habe sie die Intoleranz vom heidnischen Imperium übernommen. Die Überzeugung, dass die Ursache der Sklaverei die Sünde sei, hätten die Kirchenväter »[u]nter dem nachwirkenden Einfluß der Stoa« angenommen. 56 Ohne sich mit der Antike zu befassen, geht Scholler der Geschichte des Rechts auf Gewissensfreiheit nach, das sich aus dem Kollektivrecht der mittelalterlichen Kirche gegenüber dem Staat entwickelt habe. 57 Moulin ist der Ansicht, dass ein so tiefgreifendes geschichtliches Ereignis wie die Proklamation der Menschenrechte nicht das Ergebnis von Innovationen im Naturrecht oder der politischen Dynamik der Revolutionen sein kann. Die Menschenrechte hätten stattdessen eine lange Tradition im Christentum. 58 Gegen einen Einfluss der griechischen Philosophie und Dichtung sowie des Isonomiegedankens spreche, dass sich eine Rezeption der einschlägigen Textstellen in der Neuzeit kaum nachweisen lasse. In den mittelVgl. Kipp, Heinrich: »Die Menschenrechte in Geschichte und Philosophie«, in: Wimmer, August (Hg.): Die Menschenrechte in christlicher Sicht, Freiburg 1953, S. 24 ff. 57 »So findet sich also im christlichen Mittelalter Gewissensfreiheit in der Form eines korporativen Rechtes der Ecclesia gegenüber dem Staate. Dem einzelnen Staatsbürger fließen aus diesem Kollektivrecht, aus der libertas ecclesiae, Rechtsreflexe zu, die ihm bezüglich des Glaubens der Kirche dem Staat gegenüber völlige Glaubensfreiheit sichern. Die Glaubensfreiheit findet sich also schon lange vor den amerikanischen Menschenrechten als Kollektivrecht der Kirche vor.« Scholler, Heinrich J.: Die Freiheit des Gewissens, Berlin 1958, S. 27. Die Behauptung, dass die Virginia Bill of Rights als erste Verfassung Menschenrechte enthalten habe, ist für Scholler eine fable convenue. Das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit sei schon mit der Gründungscharta Rhode Islands und Providence’ 1663 verfassungsrechtlich verankert worden. Ebenso wie Jellinek misst Scholler der Gewissensfreiheit eine herausragende Bedeutung bei der Entstehung der Menschenrechte bei. Borowski weist Schollers These bezüglich der Gewissensfreiheit sowohl in rechtshistorischer als auch systematischer Hinsicht zurück. Seiner Ansicht nach stehen mehrere Rechte und Freiheiten gleichzeitig am Anfang der Menschenrechtsentwicklung. Vgl. Borowski, Martin: Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, Tübingen 2006, S. 66. 58 Vgl. Moulin, Léo: »Christliche Quellen der Erklärung der Menschenrechte«, in: Böckenförde, Ernst-Wolfgang/Spaemann, Robert: Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, Stuttgart 1987, S. 17. 56

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alterlichen »Verfassungen« der christlichen Orden seien dagegen schon die meisten demokratischen Grundrechte formuliert worden. Vielfach wird auch behauptet, dass der Dekalog implizit schon Menschenrechte enthalten habe 59, sodass die Frage nach anderen antiken Grundlagen von vornherein überflüssig erscheint. Putz legt ausführlich dar, welche Menschenrechte in das Alte und Neue Testament sowie die Lehre Thomas von Aquins hineininterpretiert werden können. Die Geschichte der Deklarationen wird von ihr in einem kurzen Abschnitt abgehandelt, ohne dass auch nur ansatzweise klar würde, in welchem Zusammenhang »Menschenrechte in den biblischen Schriften« mit der Rechtsentwicklung stehen. Sinnvoller argumentiert z. B. Otto, der die These vertritt, dass im Deuteronomium erstmalig die Idee einer Begrenzung der Herrschaftsgewalt zugunsten von Grundwerten zum Ausdruck gebracht worden sei. 60 Der Frage folgend, inwiefern die modernen Menschenrechte durch das Christentum beerbt wurden, ordnet Hilpert die Ge- und Verbote des Deka59 Vgl. z. B. Putz, Gertraud: Christentum und Menschenrechte, Innsbruck Wien 1991, S. 25 ff.; Braulik, Georg: »Das Deuteronomium und die Menschenrechte«, in: Theologische Quartalschrift 166 (1986), S. 8–24; Ginters, Rudolf: Werte und Normen. Einführung in die philosophische und theologische Ethik, Göttingen Düsseldorf 1982, S. 120–122. Eine Klärung des Verhältnisses von Dekalog und Menschenrechten verlangt, dass zunächst darüber reflektiert wird, in welcher Beziehung Pflichten und Rechte zueinander stehen. Bobbio erläutert dazu, dass Normen vor der Neuzeit ausschließlich vom Standpunkt der Gemeinschaft her betrachtet wurden: »Den Codices von Verhaltensmaßregeln kam die Funktion zu, vor allem den Bestand der Gruppe zu sichern, nicht so sehr den des einzelnen Individuums. In seinem Ursprung ist das Gebot ›Du sollst nicht töten‹ weniger eine Vorschrift zum Schutz des einzelnen als vielmehr ein Mittel, das einen der wesentlichsten Gründe für innere Zerwürfnisse der Gruppe ausschalten sollte. Der beste Beweis dafür ist die Tatsache, daß diese Vorschrift, die mit Recht als einer der Eckpfeiler der Moral angesehen wird, immer nur innerhalb einer Gemeinschaft gilt, nicht aber zwischen Gruppen.« Bobbio, Norberto: Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar?, Berlin 1998/1999, S. 48. Bobbio unterstreicht damit, dass Pflichten keinesfalls stets Rechte implizieren. 60 Den Gehorsamsforderungen der assyrischen Könige als Repräsentanten eines Königsgottes hätten die judäischen Gelehrten laut Otto die direkt auf Jahwe bezogene Loyalitätsforderung entgegengestellt und somit einen Bereich für Gewissensentscheidungen eröffnet, der politischen Entscheidungsmöglichkeiten Grenzen setzt. »Die Einschränkung der Loyalitätsforderung des Staates durch eine Forderung absoluter Loyalität der Gottheit war eine notwendige Voraussetzung des modernen Gedankens der Grenze politischer Macht an den unveräußerlichen Menschenrechten des Individuums.« Otto, Eckart: »›Menschenrechte‹ im Alten Orient und im Alten Testament«, in: Höver, Gerhard (Hg.): Religion und Menschenrechte. Genese und Geltung, BadenBaden 2001, S. 29.

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logs einzelnen Artikeln der Allgemeinen Erklärung tabellarisch zu. 61 Hilpert betont, dass es sich dabei um inhaltliche Entsprechungen handelt, der Dekalog aber keine subjektiven Rechte beinhalte und die Geltungsweite auf das israelische Volk begrenzt sei. In einer Zwischenbilanz äußert er die Vermutung, dass die Entdeckung der Menschenrechte in der abendländischen Tradition vermutlich der Synthese von Christentum, antiker Philosophie und römischem Recht zu verdanken sei. Stein stellt die These auf, dass der dem Würdeschutz verpflichtete freiheitliche Verfassungsstaat ein religiös geprägtes Menschenbild und Weltverhältnis zur Voraussetzung habe. 62 Freiheit, Gleichheit und die unverfügbare Menschenwürde, aber auch die für die Genese des Verfassungsstaats zentrale Trennung von »Herrschaft und Heil«, seien in den biblischen Erzählungen fundiert. Stein schließt nicht aus, dass die Menschenrechte jenseits des Christentums auch andere Ursprünge haben, aber in der historischen Darstellung wird doch ersichtlich, dass sie den Gehalten der biblischen Erzählungen für die Menschenrechtsgenese durchweg einen höheren Stellenwert beimisst als bspw. der griechisch-römischen Philosophie. Seit Ende der 1940er Jahre wird im Anschluss an die früheren Forschungen von Gierkes intensiver nach den Ursprüngen der Menschenrechtskonzeption in den Naturrechtslehren der spanischen Spätscholastik gefragt. 63 Erst die Entdeckung fremder Kontinente und Völker habe die europäischen Denker dazu veranlasst, über natürliche Rechte des Menschen nachzudenken, die nicht lediglich für Christen gelten, sondern über die religiösen und politischen Grenzen Europas hinaus politisch-zivile Rechte garantieren. Dass die spanische Spätscholastik auch stark von griechischen und römischen Naturrechtslehren beeinflusst wurde, wird zwar angemerkt, zumeist

Vgl. Hilpert, Konrad: »Die Menschenrechte – ein christliches Erbe?«, in: Girardet/ Nortmann (Hg.): Menschenrechte und europäische Identität, S. 156. 62 Vgl. Stein, Tine: Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Frankfurt a. M. New York 2007. 63 Vgl. Reibstein, Ernst: Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca. Freiburger Recht- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 5, Karlsruhe 1955; Reibstein, Ernst: Die Anfänge des neueren Natur- und Völkerrechts. Studien zu den »Controversiae Illustres« des Fernandus Vasquius (1599), Bern 1949; Truyol Serra, Antonio: Die Grundsätze des Staats- und Völkerrechts bei Francisco de Vitoria, Zürich 1947; Höffner, Joseph: Christentum und Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 1947; Gierke: Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. 61

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aber nicht ausführlicher erläutert. 64 Starck ist dagegen der Ansicht, dass die Menschenrechte ausschließlich in der jüdisch-christlichen Tradition verwurzelt seien. 65 Die Freiheit des Menschen und seine Personalität ergäben sich aus der Gottesebenbildlichkeit. Weil es vor allem auf die Verknüpfung des Personbegriffs mit der Vorstellung vom subjektiven Recht ankomme, sei es nicht nötig, hinter das 12. Jahrhundert zurückzugehen. Tierney 66 paraphrasierend schreibt Starck: »Im Gegensatz zu den Stoikern und Cicero hätten die Kanonisten mit ius naturale nicht eine objektive Ordnung in Verbindung gebracht, die das ganze Universum durchdringe, sondern Macht, Fähigkeit und freien Willen, eben subjektive Rechte.« 67 Der »biblischtheologische Keim der Freiheitskonzeption« erkläre auch, weshalb andere Kulturen keine entsprechenden Lehren von der Begrenzung staatlicher Gewalt hervorgebracht haben. Die einseitigen Präferierungen entweder jüdisch-christlicher Denkrichtungen und Traditionen oder säkular-humanistischer StröZu den Quellen, aus denen die Scholasten schöpften, rechnet Specht das Alte Testament, Aristoteles, die Stoa, Cicero, das Neue Testament, Augustinus, den Corpus iuris civilis und Isidor von Sevilla. Vgl. Specht, Rainer: »Spanisches Naturrecht – Klassik und Gegenwart«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 41 (1987), S. 169. 65 Vgl. Starck, Christian: »Menschenrechte – aus den Büchern in die Verfassungen«, in: Nolte, Georg/Schreiber, Hans-Ludwig (Hg.): Der Mensch und seine Rechte. Grundlagen und Brennpunkte der Menschenrechte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Göttingen 2004. Laut Starck interpretiert Suárez das Recht im subjektiven Sinne und setzt dem Zugriff der Staatsgewalt damit Grenzen. De Vitoria habe bereits die »Vorform eines Menschenrechtskatalogs« formuliert. Vgl. ebd., S. 20. 66 Vgl. Tierney, Brian: »Origins of Natural Law Rights Language: Texts and Contexts, 1150–1250«, History of Political Thought X, 4 (1989), S. 615, 626 ff. Zu Tierneys Thesen sollte dieser weiterführende Hinweis von Kammasch und Schwarz beachtet werden: »Von […] Tierney ist […] die These vertreten worden, daß die frühen scholastischen Theorien natürlicher Rechte […] von den Dekretisten des 12. und 13. Jh. beeinflußt seien, die bei der Glossierung des Decretum Gratiani den Begriff des subjektiven Rechts erstmals konzipiert hätten. Tierney legt das Gewicht dabei vor allem auf die Dekretisten. Ließe sich indes nachweisen, wofür es Hinweise gibt, daß der gleiche Vorgang sich auch bei der Kommentierung des Corpus iuris civilis durch die Legisten vollzog, so wäre darin ein Beleg für einen, wenn auch äußerst vermittelten, Beitrag von Ant[ike]-Rezeption zur Ausbildung der M[enschenrechte] zu sehen.« Kammasch, Tim/Schwarz, Stefan: »Menschenrechte«, in: Landfester, Manfred (Hg.), in Verbindung mit Hubert Cancik und Helmuth Schneider: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 15, I, Stuttgart Weimar 2001, S. 387. 67 Starck: »Menschenrechte – aus den Büchern in die Verfassungen«, S. 21. 64

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mungen in den Forschungen zur Menschenrechtsgeschichte sind fragwürdig. »Die« antike Staatsphilosophie war keineswegs »heidnisch«, wie Löwith behauptet. 68 Dies wird insbesondere in der Darstellung des stoischen Denkens in Kapitel V.2. deutlich werden. Mit der auf Hegel zurückgehenden These, dass die Idee der individuellen Freiheit ausschließlich christlichen Ursprungs sei, wird der stoische Beitrag zur Entwicklung eines Begriffs von der freien Person 69 und zur Bewusstseinsgeschichte 70 unterschätzt. Der Antagonismus zwischen den Traditionen ist in vielerlei Hinsicht konstruiert und mit zahlreichen Vorurteilen behaftet, die teilweise aber auf reale politische Phänomene, z. B. die Christenverfolgungen im römischen Reich oder den Konflikt zwischen den Revolutionären und dem Klerus im Verlauf der Französischen Revolution zurückgeführt werden können. Der zuletzt genannte Konflikt hat zur Entstehung eines Geschichtsbildes beigetragen, in dem die Aufklärung als säkulare, antireligiöse Epoche wahrgenommen wird. Joas weist darauf hin, dass schon Tocqueville erkannte, dass nicht der christliche Glaube, sondern »die enge Verbindung von Thron und Altar«, also die Kirche als politische Institution, von den Revolutionären bekämpft wurde. 71 Neuere Forschungen ergeben, »daß in den meisten europäischen Ländern die Aufklärung besser als religiöse Reformbewegung denn als Versuch zur Überwindung oder Beseitigung von Religion aufzufassen ist«. 72 In Ein säkulares Zeitalter vertritt Taylor die These, dass ein entscheidender Impuls zum Individualismus der Aufklärung aus dem im Hochmittelalter einsetzenden Bedürfnis nach einer Intensivierung individueller Glaubenserfahrungen und einer Reform hinsichtlich der Differenzierung von Laien- und Klerikerkultur hervorgegangen ist. 73 Auch Taylor betont, dass die »Entzauberung der Welt« nicht zwangsläufig mit einem Verlust von Religiosität einhergeht. Bezüglich der Auseinandersetzungen zwischen dem monotheistischen Universalismus der Kirche und antiken Religionen im 4. JahrVgl. Löwith: »Von Hegel zu Nietzsche«, S. 304 f. Vgl. Forschner, Maximilian: »Der Begriff der Person in der Stoa«, in: Sturma, Dieter (Hg.): Person. Philosophiegeschichte – Theoretische Philosophie – Praktische Philosophie, Paderborn 2001, S. 37–57; Sturma, Dieter: »Person und Menschenrechte«, in: ders. (Hg.): Person, S. 339 f. 70 Vgl. Taylor: Quellen des Selbst, S. 253 f. 71 Vgl. Joas: Die Sakralität der Person, S. 28. 72 Ebd., S. 33. 73 Vgl. Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009, S. 112 f. 68 69

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hundert – ein Beispiel dafür ist der Streit um den Victoriaaltar 74 – scheint es so, als lasse sich die Divergenz zwischen den Traditionen auch im literarisch-philosophischen Diskurs der Spätantike konstatieren. Die Abgrenzungen vom antiken Polytheismus und vom Pantheismus der Stoiker dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Apologeten und Kirchenväter viel früher von der griechisch-römischen Philosophie beeinflusst wurden und sie in der Theologie heimisch machten. 75 Ein Zentrum der Zusammenführung von Philosophie und Judentum sowie Christentum war Alexandria. Schon im 3. Jahrhundert v. d. Z. wurde hier an der Übersetzung der Hebräischen Bibel ins Griechische, der Septuaginta, gearbeitet. Philon lehrte hier, der den Anspruch hatte, die jüdische Theologie mit dem mittleren Platonismus und der mittleren Stoa zu verbinden. 76 Im 2. Jahrhundert n. d. Z. bemühte sich Clemens darum, vor allem platonische und stoische Ideen in die christliche Theologie aufzunehmen. 77 Bei seinem Schüler Origines sind Bibelexegese und griechische Philosophie untrennbar miteinander verknüpft. »Origines ist vere Platonicus und vere Christianus.« 78 Umgekehrt sah der Platoniker Numenius in Platon einen »attischen Moses«. 79 Und Tertullian, einer der schärfsten Kritiker der »heidnischen Philosophie«, folgt der Stoa dennoch in wesentlichen Punkten, z. B. bezüglich der »materialistischen« Auffassung von der Körperlichkeit aller Substanzen, auch Gott und der Seele. 80 Die Auseinandersetzung mit dem Pla-

Vgl. Klein, Richard: Der Streit um den Victoriaaltar. Die dritte Relatio des Symmachus und die Briefe 17, 18 und 57 des Mailänder Bischofs Ambrosius, Darmstadt 1972. 75 Siehe auch Brown, Peter: Macht und Rhetorik in der Spätantike. Der Weg zu einem »christlichen Imperium«, München 1995. 76 Mit weiteren Literaturverweisen vgl. Reckermann, Alfons: Den Anfang denken. Die Philosophie der Antike in Texten und Darstellung, Bd. 3: Vom Hellenismus zum Christentum, Hamburg 2011, S. 363, Anm. 322. 77 Vgl. Niehues-Pröbsting, Heinrich: Die antike Philosophie. Schrift, Schule, Lebensform, Frankfurt a. M. 2004, S. 233–249; Pohlenz, Max: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, 7. Aufl., Göttingen 1992, S. 415–429. 78 Fürst, Alfons: Von Origines und Hieronymus zu Augustinus. Studien zur antiken Theologiegeschichte, Berlin 2011, S. 17. 79 Vgl. Patočka, Jan: Andere Wege in die Moderne. Studien zur europäischen Ideengeschichte von der Renaissance bis zur Romantik. Hagedorn, Ludger (Hg.), Würzburg 2006, S. 138, Anm. 16. 80 Vgl. Pohlenz: Die Stoa, S. 438 f. 74

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tonismus 81 und stoischen Lehren ist bei Laktanz 82, Victorinus 83, Ambrosius 84 und Augustinus 85 konstitutiv für die Entfaltung des eigenen philosophischen Denkens. 86 Auf die vielfältigen Formen der Vermittlung und Synthese von griechisch-römischer Philosophie und jüdisch-christlichen Denkrichtungen kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Die Hinweise sollten verdeutlichen, dass die Projektion einer Trennlinie zwischen »säkularem« Humanismus auf der einen und christlicher Religion auf der anderen Seite philosophiegeschichtlich problematisch ist. Die Idee der Gottesebenbildlichkeit wurde durch das Christentum popularisiert und die der freien Person wesentlich durch die Personbegriffe Augustinus’ und Boethius’ vorbereitet 87. Das spätantike und frühchristliche Denken entwickelte damit Ideen weiter, die der Stoa bekannt waren – bereits im Zeushymnus des Kleanthes ist die Rede vom Menschen als Abbild (μίμημα) Gottes, spätestens von Cicero wurde der Personbegriff philosophisch ausgearbeitet. In gesamtgeschichtlichen Darstellungen wird zumeist ein ausgewogeneres Verhältnis von antiken und christlichen Grundlagen der Menschenrechtsgeschichte vermittelt. Oestreich schätzt die Bedeutung der Antike ähnlich ein wie Ritter: »Das stoische wie das

Vgl. Beierwaltes, Werner: Platonismus im Christentum, 2., korr. Aufl., Frankfurt a. M. 2001. 82 Vgl. Pohlenz: Die Stoa, S. 443–445. 83 Vgl. Victorinus, Marius: Christlicher Platonismus. Die theologischen Schriften des Marius Victorinus. Hadot, Pierre/Brenke, Ursula (Übers.), Zürich Stuttgart 1967, S. 13 ff. Das Frühchristentum nahm nicht nur die Lehrinhalte früheren antiken Denkens auf, es entwickelte auch die dazugehörigen geistigen Übungen weiter. Vgl. Hadot: Philosophie als Lebensform, S. 48–65. 84 Vgl. Wiltshire, Susan Ford: Greece, Rome, and the Bill of Rights, Norman London 1992, S. 32 f.; Pohlenz: Die Stoa, S. 445–448. 85 Vgl. Kreuzer, Johann: Augustinus zur Einführung, 2., erg. Aufl., Hamburg 2013, S. 13–38. 86 Zur Bedeutung des stoischen Naturgesetzes für christliche Naturgesetztheorien vgl. Forschner, Maximilian: Über das Handeln im Einklang mit der Natur. Grundlagen ethischer Verständigung, Darmstadt 1998, S. 5–30. 87 Vgl. Lutz-Bachmann, Matthias: »Der Mensch als Person. Überlegungen zur Geschichte des Begriffs der ›moralischen Person‹ und der Rechtsperson«, in: Klein, Eckart/Menke, Christoph (Hg.): Der Mensch als Person und Rechtsperson. Grundlage der Freiheit, Berlin 2011, S. 110–112; Kreuzer, Johann: »Der Begriff der Person in der Philosophie des Mittelalters«, in: Sturma (Hg.): Person; Kobusch, Theo: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Freiburg Basel Wien 1993, S. 25 ff. 81

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christliche Naturrecht sind die stärksten geistigen Antriebe bei der Ausbildung der Menschen- und Bürgerrechte.« 88 Punt widmet der Antike in seiner Darstellung der »Entwicklungsgeschichte der Menschenrechtsidee« nur eine Seite. An der stoischen Lehre kritisiert er, dass sie sich auf »den Bereich der privaten Ethik« beschränkt und keine »sozial wirksame Dimension« entwickelt habe, durch die die Sklaverei in Frage gestellt worden sei. 89 Hier wird der falsche Eindruck erweckt, als sei Letzteres mit der Verbreitung des Christentums geschehen. Wie die neuere Forschung nachgewiesen hat, förderte die frühe Kirche die Sklaverei allerdings und wurde sogar zur größten Besitzerin von Sklaven. 90 Die Behauptung, dass sich die stoische Ethik nur auf den privaten Bereich bezogen habe, kann schon mit der Erwähnung einiger Buchtitel Ciceros, der von der Stoa stark beeinflusst wurde, oder mit einem Hinweis auf die Person Marc Aurels – des Stoikers auf dem Kaiserthron – zurückgewiesen werden. Die Kritik ist aber vor allem deshalb verfehlt, weil die Einbeziehung des privaten Lebens in den Möglichkeitshorizont der Führung eines guten Lebens und damit in die Sphäre der moralischen Verantwortlichkeit eine wesentliche Errungenschaft stoischen und epikureischen Denkens darstellt. 91 Kühnhardt behauptet zum Verhältnis von Antike und Menschenrechten, dass »[d]ie abendländische Antike […] zur Ausbildung des Menschenrechtsgedankens durch ihre Naturrechtsvorstellungen bei[trug], ohne den Menschenrechtsbegriff selbst zu kennen«. 92 Unter den antiken Naturrechtsvorstellungen hebt er insbesondere jene Oestreich, Gerhard: Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß [1966], 2., durchges. u. erg. Aufl., Berlin 1978, S. 14. 89 Vgl. Punt, Jozef: Die Idee der Menschenrechte. Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre Rezeption durch die moderne katholische Sozialverkündigung, Paderborn München Wien Zürich 1987, S. 18. 90 Vgl. Herrmann-Otto, Elisabeth (Hg.): Antike Sklaverei, Darmstadt 2013, S. 18 ff.; Klein, Richard: »Zum Verhältnis von Herren und Sklaven in der Spätantike«, in: ebd., S. 241, 244. 91 Diese Neubewertung des Privaten scheint eine Vorstufe jener Innovation in der »moralischen Ontologie« zu sein, die Taylor im Hinblick auf die christliche Lebensführung als »Bejahung des gewöhnlichen Lebens« bezeichnet. Vgl. Taylor: Quellen des Selbst, S. 33 f. 92 Kühnhardt, Ludger: Die Universalität der Menschenrechte, 2., überarb. u. erw. Aufl., Bonn 1991, S. 40. Die Behauptung, dass der Antike der Menschenrechtsbegriff unbekannt gewesen sei, bezieht sich wohl auf das moderne Verständnis von Menschenrechten als subjektives Recht. Der Begriff »Menschenrecht«, ius hominum bzw. humanum war der Antike bekannt. 88

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der späten Stoa und des frühen Christentums hervor, die schon zur Idee der Gleichheit aller Menschen gelangt seien. Brieskorn betont bezüglich der Auffassungen von Freiheit und Gleichheit sowie der jeweiligen philosophisch-anthropologischen Grundannahmen stärker die Gegensätze zwischen Antike und Mittelalter einerseits und der Neuzeit, in der die Menschenrechtsbewegung aufkommt, andererseits. Dennoch werden auch die historischen Beispiele der Antike als ein Ringen darum betrachtet, »immer noch etwas mehr an Freiheit und Gleichheit zu erlangen und zu befestigen« 93, womit unterstellt wird, dass schon in der Antike für individuelle Freiheiten gegenüber der politischen Gemeinschaft gekämpft worden sei. Einen globalgeschichtlichen Entwurf der Menschenrechtsgeschichte hat Ishay vorgelegt. 94 Beginnend mit »early ethical contributions to human rights« widmet die Autorin der Aufklärung, dem Industriezeitalter, den Weltkriegen, der Globalisierung sowie den veränderten Bedingungen des Menschenrechtsschutzes im 21. Jahrhundert jeweils ein Kapitel. Ishay sieht eine Reihe von Verbindungen zwischen den antiken Werten der großen Weltkulturen und modernen Menschenrechten. 95 Im 15. und 16. Jahrhundert hätten Indien, China, das Christentum und der Islam gleichermaßen das Potential zur Formulierung universeller Rechte besessen. 96 Spätestens an dieser Stelle zeigt sich, dass Ishay sich zu wenig mit der Frage auseinandersetzt, welche Bedeutung der Verrechtlichung ethischer Vorstellungen und der Entdeckung subjektiver Rechte innerhalb der europäischen Tradition 97 zukommt. 93 Vgl. Brieskorn, Norbert: Menschenrechte – Eine historisch-philosophische Grundlegung, Stuttgart Berlin Köln 1997, S. 24. 94 Vgl. Ishay, Micheline R.: The History of Human Rights. From Ancient Times to the Globalization Era [2004], 2. Ed., Berkeley Los Angeles London 2008. 95 Einige Beispiele: »Thus, the concepts of progressive punishment and justice were professed by Hammurabi’s Code of ancient Babylon; the Hindu and Buddhist religions offered the earliest defenses of the ecosystem; Confucianism promoted mass education; the ancient Greeks and Romans endorsed natural laws and the capacity of every individual to reason; Christianity and Islam each encouraged human solidarity, just as both considered the problem of moral conduct in wartime.« Ebd., S. 7. Siehe auch Lauren, Paul Gordon: The Evolution of International Human Rights. Visions Seen, 3. Ed., Philadelphia 2011, Kap. 1. 96 Vgl. ebd. (Ishay), S. 64. 97 Vgl. bspw. Kriele, Martin: Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 2. Aufl., Opladen 1981 [Hamburg, 1975].

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Explizit wird das Thema »antike Grundlagen der Menschenrechte« in einigen Aufsätzen und zwei englischsprachigen Monographien behandelt. Picht behauptet, dass die Konzeption der Menschenrechte in der stoischen Philosophie metaphysisch vorbereitet worden sei. 98 Die Stoiker interpretierten das Wesen des Menschen vom Logos her, welcher im Sinne der Stoa aber nicht als Vernunft des Menschen zu verstehen sei, sondern als »begründende Einheit«, die der Welt ihr Gesetz gibt – als göttlicher Logos. Der Mensch habe das Vermögen, »sich mit dem göttlichen Logos zu vereinigen und das Gesetz des Kosmos zu erkennen«. 99 Dieses Vermögen sei allen Menschen gemeinsam. Die These, dass schon die Römer zu einem vernunftbegründeten »Recht aller Menschen« gelangt seien, stützt Picht mit einem Verweis auf den Anfang von Gaius’ Institutiones. Das ius gentium bei Gaius sei als commune omnium hominum ius, als allgemeines Menschenrecht, zu verstehen im Unterschied zum ius civile. In der abendländischen Geistesgeschichte sei fortan zwischen einem universalen Recht und den partikularen Rechten einzelner Völker unterschieden worden. Die Wiederentdeckung der stoisch-anthropologischen Grundlagen dieser Unterscheidung habe zum Durchbruch der Menschenrechtslehre in der Neuzeit geführt. [D]ie Neuzeit hat keine Neubegründung der Lehre von den Menschenrechten unternommen, sondern kehrt zu der vorchristlichen Basis der stoischen Philosophie zurück. […] Vom 16. bis 18. Jahrhundert hat sich […] eine Stoa-Rezeption vollzogen, die geschichtlich ebenso bedeutsam ist wie die Aristoteles-Rezeption des 13. Jahrhunderts. Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß auch die Menschenrechtslehre sich der überlieferten stoischen Formeln bedient; stoische Philosophie liefert das »pattern« für die Verteidigung von alten Freiheitsrechten, die auf ganz anderem Boden erwachsen waren. 100

Mit den »alten Freiheitsrechten« sind die in der Magna Carta von 1215, der Habeas Corpus-Akte von 1679 und der Bill of Rights von 1688 verbrieften Rechte gemeint. Dem Anspruch auf universelle Geltung sei erst die französische Deklaration gerecht geworden, mit ihr seien die »Grundrechte […] aus dem Rahmen der englischen Verfas-

Vgl. Picht, Georg: »Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund der Lehre von den Menschenrechten«, in: ders.: Hier und Jetzt. Philosophieren nach Auschwitz, Stuttgart 1980. 99 Ebd., S. 118. 100 Ebd., S. 119. 98

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sung herausgelöst, verabsolutiert und in das alte stoische Schema des Gaius übertragen« 101 worden. In mehreren Veröffentlichungen weist auch Cancik auf die stoischen Grundlagen der neuzeitlichen Menschenrechtsproklamationen hin. 102 Er widerspricht der These vom christlichen Ursprung der Menschenrechtsidee. 103 Zur Legitimierung der Menschenrechtsproklamationen hätten sich die Revolutionäre kaum auf das Christentum bezogen. Anhand einiger Beispiele – Zenon, Cicero, Seneca, Plutarch, Gaius und Ulpian werden zitiert – stellt Cancik das römische Naturrechtsverständnis umrissartig dar und deutet auf dessen Rezeption in der Naturrechtslehre und im vorrevolutionären Frankreich hin. 104 In Greece, Rome, and the Bill of Rights, eine der wenigen Monographien zur Thematik, behauptet Wiltshire: »Almost all of the provisions of the Bill of Rights reflect civic practices first developed by the Greeks and Romans.« 105 Durch die Bill of Rights von 1791 seien die Prinzipien des Naturrechts, welche bis zu den griechischen Ursprüngen zurückverfolgt werden könnten, mit dem Prinzip des rule of law, das römischen Ursprungs sei, zu einem Kompromiss verknüpft worden. 106 Die christliche Tradition habe keinen wesentlichen Ebd., S. 123. Die Beiträge sind 2011 gesammelt erschienen in: Cancik, Hubert: Europa – Antike – Humanismus. Humanistische Versuche und Vorarbeiten. Cancik-Lindemaier, Hildegard (Hg.), Bielefeld 2011. 103 Vgl. Cancik, Hubert: »Gleichheit und Freiheit. Die antiken Grundlagen der Menschenrechte«, in: Kehrer, Günter (Hg.): »Vor Gott sind alle gleich«. Soziale Gleichheit, soziale Ungleichheit und die Religionen, Düsseldorf 1983, S. 191 ff. 104 An anderer Stelle werden Kontinuitäten und Differenzen zwischen römischer Antike und Neuzeit anhand der Begriffe Menschenwürde, Menschenrecht, Person, Religionsfreiheit und Toleranz herausgearbeitet. Cancik kommt zu dem Schluss, dass diese Begriffe in der Antike eher selten gebraucht wurden und in keinem kohärenten Begriffsfeld stehen, aber dennoch im Zusammenhang mit der Tradierung der stoischen Anthropologie, Ethik und Staatslehre insgesamt in der Nachantike wirkmächtig geworden sind. Vgl. Cancik, Hubert: »Die frühesten antiken Texte zu den Begriffen ›Menschenrecht‹, ›Religionsfreiheit‹, ›Toleranz‹«, in: Girardet/Nortmann (Hg.): Menschenrechte und europäische Identität. Auf die Beutung der antiken philosophischen Tradition für die Herausbildung des Würdegrundsatzes hatte Cancik zuvor schon hingewiesen. Vgl. Cancik, Hubert: »›Die Würde des Menschen ist unantastbar‹. Religions- und philosophiegeschichtliche Bemerkungen zu Art. I, Satz 1 GG«, in: Funke, Hermann (Hg.): Utopie und Tradition. Platons Lehre vom Staat in der Moderne, Würzburg 1987. 105 Wiltshire: Greece, Rome, and the Bill of Rights, S. 4. 106 Vgl. ebd., S. 184 ff. 101 102

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Reflexionen über den Diskurs zur Geschichte der Menschenrechte

Beitrag zur Entwicklung der Menschenrechtsidee geleistet. Wiltshire erklärt, dass sie im ersten Teil den ideengeschichtlichen Vorläufern der Bill of Rights nachforscht und im zweiten Teil komparativ Antike und Neuzeit bezüglich der einzelnen Amendments einander gegenüberstellen möchte. Vor allem der Vergleich im zweiten Teil wirft Probleme auf. Wiltshire führt zwar zahlreiche Beispiele aus der antiken politischen und rechtlichen Praxis an, die als Erfahrungshintergrund für die Formulierung der Bill of Rights wertvoll gewesen sein könnten, zeigt aber kaum, ob und inwiefern die founding fathers sich an diesen Beispielen tatsächlich orientiert haben. Hier fehlen die entsprechenden Belegstellen aus der amerikanischen Literatur. Tönnies vertritt die Ansicht, dass sich der Universalismus der Menschenrechte aus drei antiken Quellen speise: der Stoa, dem ius gentium und dem Christentum. 107 Ethische Universalien hätten in den engen Verhältnissen der Polis nicht entstehen können. Die Wende zum rationalen Naturrecht bzw. Universalismus, der das entscheidende Merkmal der Menschenrechtskonzeption sei, habe erst in der späten Stoa bei Seneca, Epiktet und Marc Aurel unter den Bedingungen eines Weltreichs erfolgen können – »hier werden die Menschenrechte entdeckt«. 108 Im Anschluss an die Lebens- und Denkweise der Kyniker habe aber schon die frühe Stoa »den Durchbruch in eine Abstraktion [bewirkt]: das vom Status losgelöste Individuum und seine Würde«. 109 Im Hinblick auf das ius gentium behauptet Tönnies, dass es auf der »Souveränität des unqualifizierten Individuums« beruhe und den Einzelnen mit einer subjektiven Rechtsmacht ausgestattet habe. Das ius gentium sei daher auch das gegenüber dem ius civile rechtsgeschichtlich bedeutendere Recht geworden. An den Individualismus der Stoa und die Praxis der Nichtachtung von Statusgebundenheiten habe das Christentum mit der Idee der allen Menschen gemeinsamen Gottesebenbildlichkeit anknüpfen können. Tönnies’ Argumentation wirft Zweifel auf. Die schematische Unterscheidung von statusgebundenem und unqualifiziertem Individuum wird den römischen Rechtsverhältnissen zu sehr aufgepresst. Die Behauptung, dass dem Einzelnen mit dem ius gentium bereits 107 Vgl. Tönnies, Sibylle: Der westliche Universalismus. Die Denkwelt der Menschenrechte, 3., überarb. Aufl., Wiesbaden [1995] 2001, S. 64–91. Siehe auch Tönnies, Sibylle: Die Idee der Menschenrechte. Ein abendländisches Exportgut, Wiesbaden 2011, S. 21–60. 108 Tönnies: Der westliche Universalismus, S. 67. 109 Ebd., S. 70.

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Einleitung

subjektive Rechtsansprüche zugestanden worden seien – eine Errungenschaft, die eher auf das mittelalterliche Recht zurückgeführt wird – wird von Tönnies nicht begründet. Ihre These, dass die Kyniker mit ihrer Kritik an äußerlichen Statusgebundenheiten sogleich den Gedanken einer abstrakten, allen Individuen zustehenden Würde verbunden hätten, ist nicht überzeugend. Etwas aus dem Rahmen fällt Human Rights in Ancient Rome von Bauman. Menschenrechte seien nicht erst in der Neuzeit, sondern bereits im römischen Reich verwirklicht worden. Bauman spricht von »Roman human rights« bzw. humanitas und versteht darunter sämtliche Rechtsansprüche, philosophische Lehren sowie politisch-ethische Vermeidungsstrategien von Gewalt, die »praktisch« menschenrechtlichen Ansprüchen gleichkommen. Die Situation, in der sich das expandierende römische Reich befand, sei vergleichbar mit der gegenwärtigen Herausbildung einer globalen Gesellschaftsordnung. »If Roman human rights should be seen as the ultimate source of the modern institution, how do the two compare in the matter of practical enforcement? Our answer is that Rome anticipated the modern idea of creating a world environment in which solutions become possible. The Roman empire was the first global village.« 110 Einen konkreten Nachweis für den angeblichen Einfluss der »römischen Menschenrechte« auf die neuzeitlichen erbringt Bauman allerdings nicht. Wichtige Beiträge zur Diskussion über die Bedeutung der Antike für die Entstehung der Menschenrechte enthält der Sammelband Menschenrechte und europäische Identität. Die antiken Grundlagen, herausgegeben von Girardet und Nortmann. Auf den Aufsatz von Cancik wurde oben hingewiesen. Horn wirft die Frage auf, ob es Menschenrechte bei Aristoteles gibt. 111 Chiusi vermutet, dass nur im Hinblick auf die Regelungen des ius gentiums, welches Fremden, also Nichtsubjekten des römischen Rechts, die Teilhabe am römischen Recht ermöglicht, Parallelisierungen zum modernen Menschenrechtsverständnis sinnvoll sind. 112 Siewert ordnet dagegen jedem einzelnen Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eine

Bauman, Richard: Human Rights in ancient Rome, London New York 2000, S. 6. Vgl. Horn, Christoph: »Menschenrechte bei Aristoteles?«, in: Girardet/Nortmann (Hg.): Menschenrechte und europäische Identität. 112 Vgl. Chiusi, Tiziana: »Das Bild des Fremden in Rom«, in: Girardet/Nortmann (Hg.): Menschenrechte und europäische Identität, S. 69. 110 111

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Reflexionen über den Diskurs zur Geschichte der Menschenrechte

entsprechende Quelle aus der Antike zu. Dem Artikel 18 über die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit entspreche bspw. eine Textpassage Tertullians, in der die freie Wahl der Religion konkret als Menschenrecht bezeichnet wird. Siewert meint, dass die TertullianStelle belege, dass die Antike Menschenrechte gekannt habe. 113 Girardet untersucht, inwieweit dass Paradigma der Tyrannentötung in der Antike verbreitet war und die spätere Konzeption eines Rechts auf Widerstand beeinflusste. 114 Darüber hinaus werden in dem Sammelband Themen besprochen, die für eine Diskussion über antike Grundlagen zur Herausbildung der Menschenrechte weiterführend sind. Giovannini diskutiert bspw. die Frage, ob der Magistrat bezüglich der Christenverfolgungen in der Kaiserzeit willkürlich oder nach rechtsstaatlichen Prinzipien handelte. 115 Deininger beurteilt die bisherigen Ansätze zur Erforschung des Verhältnisses von Antike und moderner Menschenrechtskonzeption eher skeptisch. Er vermutet, dass es sich bei scheinbar menschenrechtsähnlichen Normen um ad-hoc-Formulierungen handelt. Außerdem werde die Abschaffung der Sklaverei nirgendwo ernsthaft thematisiert. Eine weitaus größere Bedeutung könne dagegen den antiken Bürgerrechten beigemessen werden. Trotz ihrer begrenzten Geltungsweite »kann der besondere Rechtsstatus des antiken Bürgers als die vielleicht wichtigste ›Errungenschaft‹ vor der Entstehung der Menschenrechte der Neuzeit gelten«. 116 Die bspw. von Constant vorgetragene Kritik, dass die antiken Freiheiten keine individuellen, sondern kollektive gewesen seien, weist Deininger anhand einiger Beispiele aus den Prozessreden Ciceros, in denen dieser gegen die Nichtachtung des römischen Bürgerrechtsstatus’ protestiert, zurück.

113 Vgl. Siewert: »Antike Parallelen zu der UNO-Menschenrechtsdeklaration von 1948«, S. 136 Anm. 4. 114 Vgl. Girardet, Klaus M.: »Vis contra vim. Notwehr – Widerstand – ›Tyrannenmord‹. Zu Geschichte, Aktualität und Grenzen der Geltung eines antiken Paradigmas«, in: ders./Nortmann (Hg.): Menschenrechte und europäische Identität. 115 Vgl. Giovannini: »Die Rechtsprechung im alten Rom: Rechtsstaat oder magistratische Willkür?«. 116 Deininger, Jürgen: »Eine historische Vorstufe der Menschenrechte: Die Rechte des freien Bürgers in der Antike«, in: Schmidt, Burghart (Hg.): Menschenrechte und Menschenbilder von der Antike bis zur Gegenwart, Hamburg 2006, S. 64. Zu den Bürgerrechten zählt Deininger die Berechtigung zur Teilnahme am politischen Leben, die Möglichkeit privaten Eigentumserwerbs sowie den Schutz der öffentlichen und privaten Rechte des Einzelnen durch die Bürgergemeinschaft.

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Dass damit keine subjektiven Rechte verankert werden, wird von Deininger nicht bestritten. 117 Laut Neschke-Hentschke sind die Menschenrechte keineswegs eine Erfindung der Neuzeit, sondern »ein Erbe antiker und christlicher Rechtsphilosophie«, das in dem Moment politisch relevant geworden sei, als es darum ging, die Schutzrechte des Einzelnen gegenüber Vereinnahmungstendenzen des absolutistischen Staats zu sichern. 118 Das heiße aber nicht, dass die Geschichte der Menschenrechte als Ideengeschichte aufzufassen sei, da mit der Idee von Anfang an der Anspruch verbunden worden sei, diese in der politischen Wirklichkeit umzusetzen. Der griechischen Gerechtigkeitsphilosophie ist laut Neschke-Hentschke der Gedanke einer natürlichen Gerechtigkeit zu verdanken, an dem die positiven Gesetze auszurichten sind. Cicero habe die Idee der distributiven Gerechtigkeit zum Inbegriff seiner Gerechtigkeitsphilosophie gemacht und auf die lateinische Formel suum cuique, »jedem das Seine«, gebracht, welche durch Ulpian dann zu »jedem sein ihm zukommendes Recht« (suum cuique ius) erweitert worden sei. 119 Das römische Recht sei nicht nur objektives Recht gewesen, sondern habe auch ein subjektives Rechtsverständnis enthalten, das ius in rem. 120 Die Vorrangstellung des ius Vgl. ebd., S. 70 f. Vgl. Neschke-Hentschke, Ada: »Tradition und Identität Europas. Die Menschenrechte und der Rechtsstaat als Frucht des antiken und christlichen Denkens«, in: Gander, Hans-Helmuth (Hg.): Menschenrechte. Philosophische und juristische Positionen, Freiburg München 2009, S. 29. 119 Vgl. ebd., S. 21 f. 120 Mit dem Verweis auf das ius in rem als subjektives Recht positioniert sich Neschke-Hentschke wie auch Deininger (vgl. Anm. 116) innerhalb der Debatte über die Entstehung subjektiver Rechte auf Seiten derer, die von einer zu starken Fokussierung auf den Begriff ius absehen und stattdessen die tatsächlichen rechtlichen Handlungsspielräume des Einzelnen in den Vordergrund rücken. Mit einem Verweis auf Arbeiten von Gewirth und Donahue merkt Straumann dazu an: »Von einem solchen Gesichtspunkt aus betrachtet kann den Römern mit grösserer Plausibilität ein subjektiver Rechtsbegriff zugeschrieben werden – die Begriffe actio und interdictum müssten bloss mit dem Begriff ›Recht‹ übersetzt werden, eine Übersetzung, die sich ohnehin kaum vermeiden lässt«. Straumann, Benjamin: Hugo Grotius und die Antike. Römisches Recht und römische Ethik im frühneuzeitlichen Naturrecht, BadenBaden 2007, S. 62. Siehe insbesondere Donahue, Charles: »Ius in the subjective Sense in Roman Law. Reflections on Villey and Tierney«, in: Maffei, Domenico/Birocchi, Italo/ Caravale, Mario/Conte, Emanuele/Petronio, Ugo (Hg.): A Ennio Cortese, Bd. 1, Rom 2001. Vgl. auch Coing, Helmut: »Zur Geschichte des Begriffs ›subjektives Recht‹«, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zu Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und Zivilrecht. 1947–1975, Bd. 1. Simon, Dieter (Hg.), Frankfurt a. M. 1982. 117 118

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Reflexionen über den Diskurs zur Geschichte der Menschenrechte

naturale vor dem positiven Recht habe jedoch erst auf der Grundlage des göttlichen Rechts behauptet werden können. Zwischen dem 12. und 17. Jahrhundert sei das rechtsphilosophische Erbe der Antike dann weiter als subjektives Recht ausgearbeitet worden. Die Menschenrechte sind als subjektive und natürliche Rechte entstanden. Zeit und Ort ist das Europa zwischen dem 12. und 17. Jahrhundert, das das Erbe der griechischen Gerechtigkeitsphilosophie und des römischen Gedankens eines subjektiven Rechts – eines ius in rem – aufgenommen und mit der christlichen Botschaft verschmolzen hat. Die Deutung des objektiven und subjektiven Naturrechts als göttliches Recht verlieh dem Naturrecht, im Unterschied zu seiner Rolle in Rom, eine ganz ausgezeichnete normative Kraft. 121

In der Übersicht wird deutlich, dass die Forschungsliteratur zur Frage nach antiken Ursprüngen der Menschenrechte vor allem zwei Schwächen aufweist. Zum einen wird kaum diskutiert, in welchem philosophischen aber auch zeitgeschichtlichen Kontext die jeweiligen ethischen und rechtlichen Normen stehen, denen eine Bedeutung für die Menschenrechtsgeschichte zugesprochen wird. Nicht selten lassen sich vermeintliche Belege für eine Kritik an der Sklaverei oder für die Gleichheitsidee mit Zitaten widerlegen, die demselben Text oder Autor entstammen. Zum anderen bleibt häufig unklar, wie die antiken Ursprünge das spätere Ringen um eine Formulierung natürlicher Rechte bzw. von Menschenrechten beeinflussten. Die angeführten Beispiele aus der Sekundärliteratur zur frühen Debatte über die Geschichte der Menschenrechte und zu den beiden Forschungsschwerpunkten »Christentum und Menschenrechte« sowie »griechisch-römische antike Grundlagen« zeigen, dass Anfänge und Entwicklungslinien der Menschenrechtsgeschichte in sehr unterschiedlichen Epochen, Ereignissen oder Ideen gesehen werden. Diesen Perspektiven können weitere hinzugefügt werden. Auf Studien zum Einfluss der englischen Rechtediskussionen 122, der NaturrechtsNeschke-Hentschke: »Tradition und Identität Europas«, S. 25. Vgl. z. B. Helmholz, Richard H.: »Natural Law and Human Rights in English Law: From Bracton to Blackstone«, in: Ave Maria Law Review 3, 1 (2005), S. 1–22; Stourzh, Gerald: »Die Begründung der Menschenrechte im englischen und amerikanischen Verfassungsdenken des 17. und 18. Jahrhunderts«, in: Böckenförde/Spaemann (Hg.): Menschenrechte und Menschenwürde; Stourzh, Gerald: »Grundrechte zwischen Common Law und Verfassung. Zur Entwicklung in England und den nordamerikanischen Kolonien im 17. Jahrhundert«, in: Birtsch, Günther (Hg.): Grundund Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Ge121 122

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Einleitung

theorie 123 oder politischer Legitimationsstrategien 124 auf die Menschenrechtserklärungen kann hier nicht näher eingegangen werden. Originell sind einige Beiträge der neueren Forschung. Hunt behauptet z. B., dass für die Herausbildung der Menschenrechte im 18. Jahrhundert die Emergenz einer neuen Gefühlsordnung, in der vor allem das Mitleiden eine bedeutende Rolle gespielt habe, maßgebend war. »Philosophical ideas, legal traditions, and revolutionary politics had to have this kind of inner emotional reference point for human rights to be truly ›self-evident‹.« 125 Das neue empathische Bewusstsein sei unter anderem durch die Romanliteratur seit den 1740er Jahren gefördert worden. Laut Blickle kam das moderne Freiheitsverständnis erstmalig in den Zwölf Artikeln zu Wort, die während des Bauernaufstandes in schichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution vom 1848, Göttingen 1981; Kriele: Einführung in die Staatslehre; Bohatec, Josef: England und die Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte. Drei nachgelassene Aufsätze. Weber, Otto (Hg.), Graz Köln 1956. 123 Trotz der vielen Arbeiten, die im Anschluss an Boutmy nachzuweisen versuchten, dass die Menschenrechtserklärungen in der Naturrechtstheorie des 18. Jahrhunderts ihre geistige Grundlage haben, blieben historisch-kritische Auseinandersetzungen mit der Thematik sowohl in Frankreich als auch in Deutschland bis in die 1970er Jahre aus. Die frühere Debatte hatte sich größtenteils darauf beschränkt, komparativ die Ähnlichkeit naturrechtlicher und menschenrechtlicher Normen herauszustellen oder einseitig den »Einfluss« bestimmter Theoretiker nachzuweisen, wobei die näheren politisch-sozialen Entstehungsbedingungen weitgehend unbeachtet blieben. Aus der Analyse dieser schlussfolgert Sandweg, dass der universalistische Charakter der französischen Erklärung »eine logische Konsequenz aufgeklärter Gesellschaftstheorie« sei. Vgl. Sandweg, Jürgen: Rationales Naturrecht als revolutionäre Praxis. Untersuchungen zur »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« von 1789, Berlin 1972, S. 300. Zu den Ursprüngen und der Bedeutung des Naturrechts für neuzeitliche Menschenrechte vgl. auch Tierney, Brian: The Idea of Natural Rights: Studies on Natural Rights, Natural Law and Church Law, 1150–1625, Atlanta 1997; Tuck, Richard: Natural Rights Theories: Their Origin and Development, Cambridge u. a. 1979; Grimm, Dieter: »Europäisches Naturrecht und Amerikanische Revolution. Die Verwandlung politischer Philosophie in politische Techne«, in: Ius commune 3 (1970), S. 120–151. 124 Vgl. bspw. die Beiträge von Lefort, Balibar, Arendt, Habermas und Rancière in Menke/Raimondi (Hg.): Die Revolution der Menschenrechte. Gauchet wendet sich den verfassungsgebenden Diskussionen zu, die er als Ausdruck des Ringens um eine neue Legitimationsgrundlage für die Gesellschaft und den Staat versteht. Die Menschenrechte waren demnach die »Hauptwaffe« in einer »symbolischen Schlacht«, in der es darum ging, dem »unvergleichlichen, symbolischen Imperium« des Königs etwas entgegenzusetzen. Vgl. Gauchet, Marcel: Die Erklärung der Menschenrechte. Die Debatte um die bürgerlichen Freiheiten 1789, Hamburg 1991, S. 16. 125 Hunt, Lynn: Inventing Human Rights. A History, New York London 2007, S. 27.

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Reflexionen über den Diskurs zur Geschichte der Menschenrechte

Deutschland 1525 formuliert worden waren. 126 Der Aufstand sei die Folge einer zunehmenden Einschränkung von Freiheiten gewesen, die der dritte Stand im Rahmen der »Eigenschaft« – einer milderen Form der Leibeigenschaft – genossen habe. Die Leibeigenschaft im frühneuzeitlichen Staat begreift Blickle dementsprechend nicht als Sklaverei, sondern als ein Vertragsverhältnis, das die reale Grundlage für die spätere Vertragstheorie abgegeben habe. 127 Freiheit, Eigentum und Bürgerrechte als Menschenrechte seien im Anschluss an die Aufhebung der Feudalherrschaft in mehreren europäischen Ländern etwa zur gleichen Zeit errungen worden. Blickle setzt Menschenrechte mit Grundrechten gleich. Methodisch und inhaltlich innovativ ist auch Joas’ Erzählung der Menschenrechtsgeschichte als Prozess der Sakralisierung der Person. Joas bemängelt an der bisherigen Debatte über die Menschenrechtsgeschichte, dass diese sich lediglich auf das Entweder-Oder von religiös-christlicher oder säkular-humanistischer Genese und Geltung konzentriert habe. 128 Der Begriff der Sakralisierung habe folglich keine ausschließlich religiöse Bedeutung. Die charakteristischen Qualitäten der Sakralität, »subjektive Evidenz und affektive Intensität«, seien auch auf säkulare Gehalte übertragbar. 129 Der Prozess der Sakralisierung der Person als »Glaube an die irreduzible Würde jedes Menschen« wird von Joas genealogisch anhand einiger Entwicklungslinien und Fallbeispiele seit dem 18. Jahrhundert erörtert. Im Folgenden werden umrissartig drei methodische Überlegungen vorgestellt, anhand derer deutlich werden soll, dass die Frage nach antiken Grundlagen für die Entstehung moderner Menschenrechte nicht nur durch eine ideengeschichtliche oder rechtshistorische Darstellung beantwortet werden kann. Vielmehr fordert sie dazu auf, über die jeweiligen moralphilosophischen Standpunkte und rechtlichen Bestimmungen hinaus nach den Veränderungen im Selbstund Weltverhältnis des Menschen zu fragen – gerade weil die Neuerungen auf dem Gebiet der Moral oder des Rechts nur in diesem gründen können. Ich spreche von »methodischen Überlegungen«, weil im Folgenden nicht so sehr zu einer systematischen Behandlung

126 Vgl. Blickle, Peter: Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, München 2003, S. 91. 127 Vgl. ebd., S. 306 ff. 128 Vgl. Joas: Die Sakralität der Person, S. 16 ff. 129 Vgl. ebd., S. 94 f.

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des Themas angeleitet, sondern auf die mit der Wahl methodischer Rahmen verbundenen Probleme hingewiesen wird. Die Zugangsweise zu den antiken Grundlagen soll so gestaltet werden, dass sie nicht von vornherein an Voraussetzungen gebunden ist, die implizit mit der modernen Menschenrechtsidee mitgedacht werden.

2.

Methodische Überlegungen

2.1. Die Pluralität der Diskurse Allein die Vielfalt der Forschungsansätze zur Geschichte der Menschenrechte lässt eine erste methodische Orientierung naheliegend erscheinen. Offenbar ist es eine Illusion anzunehmen, dass die Menschenrechte monokausal das Produkt einer Tradition, einer Idee oder eines politischen Ereignisses sind. Menschenrechte wurden zwar erstmalig in der Virginia Bill of Rights von 1776 als einklagbare Rechte in einem umfassenden Katalog verankert, aber dieses revolutionäre Ereignis erhellt rückblickend nicht nur eine Tradition des Naturrechtsdenkens oder von Verfassungsdiskussionen, sondern eine komplexe Pluralität politischer, religiöser, moralphilosophischer und juridischer Diskurse. Eine »Stunde Null« der Formulierung und Realisierung gibt es nicht. 130 Eine solche Behauptung würde außerdem auch voraussetzen, dass der Gehalt der Menschenrechte, ein für alle Mal zu erfassen wäre. Wenn dagegen davon ausgegangen wird, dass das Konzept der Menschenrechte stets offen war und ist für neue Interpretationen – andere, bspw. nicht-metaphysische Begründungen 131, Ausdehnungen der Geltungsweite oder Erweiterungen um zu130 Vgl. Bielefeldt, Heiner: Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos, Darmstadt 1998, S. 80 f. 131 Vgl. z. B. Lévinas, Emmanuel: Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische. Delhom, Pascal/Hirsch, Alfred (Hg.), Zürich Berlin 2007, S. 97–123. Was hier als Metaphysikkritik bezeichnet wird, ist im Denken Lévinas’ eine Kritik der Ontologie. Am Begriff der Metaphysik hält Lévinas fest. Vgl. Lévinas, Emmanuel: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München Wien 1995, S. 11–23. Taureck fasst Lévinas’ Forderung nach einer neuen Begründung für die Menschenrechte so zusammen: »Die Tradition der Menschenrechte begeht […] den Fehler, von der Freiheit der Person auszugehen. Meine Freiheit stellt dabei aber immer schon die Negation der Freiheit aller anderen dar. Gerechtigkeit könne daher nur in dem Kompromiss wechselseitiger Freiheitsbeschränkung bestehen. Gerechtigkeit benötige jedoch eine andere Autorität als die von Willensansprüchen und

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Methodische Überlegungen

sätzliche Rechte – ist die Vorstellung einer Stunde Null der Rechtsrealisierung eine Fiktion. Die vormodernen Auseinandersetzungen über Rechtskataloge, einzelne universelle Normen, die Menschenwürde, den Schutz von Minderheiten und Verfolgten oder die Begrenzung von Herrschaft bilden ebenso wie die politischen Prozesse, in denen Freiheitsforderungen artikuliert und Erfahrungen freien politischen Handelns gesammelt werden konnten, keine einheitliche und bruchlos fortschreitende Geschichte. Die Standarderzählung, nach der Menschenrechte in einer ersten »Etappe« im Sinne universeller, angeborener Rechte in der Naturrechtstheorie des 17. und 18. Jahrhunderts ausgearbeitet und dann in einer zweiten »Etappe« als Bürgerrechte in der amerikanischen und Französischen Revolution »umgesetzt« wurden, weist, wie Menke und Pollmann betonen, Mängel auf. 132 Dies belegen auf unterschiedliche Weise die oben erwähnten Studien von Gauchet, Schmale, Blickle, Hunt oder Joas. Im Horizont dieser Erzählung werden die antiken Grundlagen und die vormoderne Menschenrechtsgeschichte nicht selten auf eine Fortschrittsgeschichte des Naturrechts verkürzt. 133 Die Menschenrechtsgeschichte kann so zwar bis zur ihren »antiken Wurzeln« zurückverfolgt werden, zugleich werden aber jene politisch-rechtlichen Diskurse ausgeblendet, die überhaupt erst eine Öffentlichkeit für die jeweils gewandelten und umstrittenen Perspektiven auf die Natur des Menschen und die damit verbundene Zurechnung des Bürgerstatus zuließen. Im Hinblick auf antike oder mittelalterliche Diskurse ist die Rede von »Wurzeln«, »Quellen«, Willensgegensätzen. Der Grund der Menschenrechte ist meine Nicht-Indifferenz gegenüber dem Anderen. An die Stelle einer von meiner Freiheit ausgehenden Begründung der Menschenrechte rücken die Menschenrechte als ›Rechte des anderen Menschen und als Verpflichtung für mich‹.« Taureck, Bernhard H. F.: Emmanuel Lévinas zur Einführung, 4. Aufl., Hamburg 2006, S. 84. Zur Erläuterung der lévinasschen Thesen vgl. Loidolt, Sophie: Anspruch und Rechtfertigung. Eine Theorie des rechtlichen Denkens im Anschluss an die Phänomenologie Edmund Husserls, Dordrecht 2009, 247–261. 132 Vgl. Menke, Christoph/Pollmann, Arnd: Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, Hamburg 2007, 12 ff. 133 Welzel behauptet z. B.: »Gerade die Geschichte des Naturrechts bietet ein bemerkenswertes Beispiel für die Einheit des geschichtlichen Geistes, wenn er an einer sachlichen Aufgabe orientiert ist. Sie bildet […] eine innerlich zusammenhängende Gedankenfolge, bei der jede spätere Generation die von der früheren geschaffene Problemlage als sachliche Aufgabe übernimmt und weiterführt.« Welzel, Hans: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göttingen 1990, S. 8.

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Einleitung

»Meilensteinen« oder »Stationen« der Menschenrechte missverständlich, weil die gemeinten moralischen Normen und Rechtsvorstellungen im historischen Kontext zumeist nicht als Menschenrechtsforderungen artikuliert wurden. 134 Eine unkritische Einordnung dieser Auffassungen in die Menschenrechtsgeschichte läuft daher Gefahr, moderne Inhalte in die früheren Vorstellungen und Geschehnisse hineinzuprojizieren und dem geschichtlichen Verlauf einen teleologischen Charakter zu unterstellen. Die Magna Carta Libertatum von 1215 z. B., die in vielen Kurzdarstellungen den Beginn der Menschenrechtsgeschichte markiert, garantierte nur dem englischen Adel Schutzrechte und Privilegien gegenüber dem König und lässt in keiner Weise die Forderung nach einer fortschreitenden »Fundamentalisierung« im Sinne eines unveränderbaren, dem Zugriff des Gesetzgebers entzogenen Rechts 135, geschweige denn nach einer Ausdehnung auf alle Engländer oder alle Menschen erkennen. Erst im späteren englischen Rechtsdiskurs erlangt die Carta den Status eines Gründungsdokuments der »Rechte eines Engländers«. 136 Die rückblickende Verknüpfung von Ideen und Ereignissen zu Diskursen, die als Geschichten der Menschenrechte erzählt werden können, muss demnach immer wieder kritisch die eigenen begrifflichen Voraussetzungen überprüfen. Letztlich kann aus keiner der vorausgehenden Diskurse das politische Ereignis der Rechteproklamation kausal »erklärt« werden. Dass dies auch durch eine eng an den Rechtstexten ausgerichtete Darstellung nicht möglich ist, hängt nicht nur mit der Kontingenz politischen Handelns zusammen 137, sondern darüber hinaus mit Antinomien, die in den Menschenrechten selbst angelegt sind. Die Menschenrechte haben eine moralische, eine juridische und eine politische Dimension. 138 Jede dieser Dimensionen folgt einer gewissen Eigengesetzlichkeit, die im Lichte der anderen nur unzureichend erörtert werden kann. Die Antinomien zwischen den drei Dimensionen der Menschenrechte gehen auf implizite Vgl. Bielefeldt: Philosophie der Menschenrechte, S. 121. Vgl. Stourzh: »Die Begründung der Menschenrechte im englischen und amerikanischen Verfassungsdenken des 17. und 18. Jahrhunderts«, S. 78. 136 Siehe Kyriazis-Gouvelis, Demetrios L.: Magna Carta. Palladium der Freiheiten oder Feudales Stabilimentum, Berlin 1984. 137 Vgl. Menke/Raimondi (Hg.): Die Revolution der Menschenrechte, S. 9. 138 Vgl. Lohmann, Georg: »Zur moralischen, juridischen und politischen Dimension der Menschenrechte«, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Recht und Moral, Hamburg 2010, S. 135–150. 134 135

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Methodische Überlegungen

Grundunterscheidungen zurück, z. B. der von Sein und Sollen, Theorie und Praxis oder Möglichkeit und Wirklichkeit, und können daher nur in Auseinandersetzung mit diesen Kategorien aufgehellt werden. Auf die Mehrdimensionalität der Menschenrechte gehe ich im Folgenden und in Kapitel III.2. genauer ein. Die Erläuterung der politischen Dimension steht im Vordergrund, weil deren Bedeutung für antike Grundlagen der Menschenrechte in der Forschung bislang kaum thematisiert wurde. Was folgt methodisch aus der konstatierten Pluralität der Diskurse? Wenn bereits bei jenen Theorien und politisch-rechtlichen Geschehnissen, die den revolutionären Rechteerklärungen chronologisch näher stehen, eine Pluralität möglicher Einflüsse sichtbar wird, dann sollte die Suche nach antiken Grundlagen nicht von vornherein ausschließlich auf eine vermeintliche »Quelle«, die »geistesgeschichtliche« Tradition oder die rechtsgeschichtliche Entwicklung ausgerichtet werden. Nicht nur die Zehn Gebote, das Naturrechtsdenken oder das römische Recht boten in der Neuzeit mögliche Anknüpfungspunkte. Offensichtlich lassen sich je nach methodisch-begrifflicher Präsumtion andere Grundlagen und Ursprünge in der Antike ausfindig machen. Die Wahl der Präsumtionen – nicht die auf dieser Grundlage erfolgenden Forschungen – weist eine gewisse Willkür auf, die sich aus den verschiedenen Definitionen des Menschenrechtsbegriffs, aus Festlegungen auf unabdingbare Merkmale des Menschenrechtsdenkens ergibt. Häufig wird dabei entweder der moralischen oder der juridischen Dimension ein Vorrang eingeräumt. Moralisch gesehen werden Menschenrechte vorpositiv als wechselseitige Verpflichtungen zwischen zur Selbstbestimmung befähigten Personen begründet. 139 Aus der Wechselseitigkeit der Verpflichtungen folgt, dass die Personen einer moralischen Gemeinschaft das »Recht« haben, von den anderen zu verlangen, dass sie das tun oder unterlassen, worauf sich die Verpflichtung bezieht. Aus der Logik der Wechselseitigkeit ergibt sich aber nicht zwingend, dass eine Person als Träger von Rechten anerkannt werden muss. Während die Geltung moralischer Normen in der Vergangenheit unter Berufung auf höhere Autoritäten, bspw. Gott, die Natur oder die Vernunft, begründet wurde, wird sie nunmehr auf den freien Willen zurückgeführt 140, Vgl. ebd., S. 137 ff. Vgl. ebd., S. 140; siehe auch Hamacher: »Vom Recht, Rechte nicht zu gebrauchen«, S. 228 f. 139 140

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wobei die Menschenrechtserklärungen als konkreter Ausdruck dieses Willens betrachtet werden. Die Einhaltung moralischer Rechte kann jedem abverlangt werden, der zur moralischen Gemeinschaft gehört, aber sie können nicht eingeklagt werden. Daher steht zur Diskussion, ob die Verwendung des Rechtsbegriffs im Falle moralischer Rechte überhaupt sinnvoll ist. 141 Die Beachtung der Menschenrechte als Grundrechte wird vom Staat und anderen politischen Institutionen garantiert. Juridisch gelten Menschenrechte nur partikular, in den Grenzen einer politischen Ordnung, die die Einklagbarkeit als positives Recht gewährt. Über die Paradoxie von Universalität und Partikularität der Menschenrechte ist viel diskutiert worden. 142 Die Frage nach antiken Grundlagen der Menschenrechte nötigt beinahe dazu, den Fokus auf die geistesgeschichtliche Tradition, zu der die Geschichte der Naturrechtsidee gehört, zu lenken. Denn die Forschung kommt fast unisono zu dem Schluss, dass es subjektive Rechte, die den Einzelnen vor willkürlichen Herrschaftsansprüchen und staatlichen Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte schützen, vor dem Mittelalter nicht gab. Da es aber in der Antike auch jene Staatlichkeit nicht gab, vor der die Bürger durch Rechte geschützt werden mussten – weil sie als Bürger prinzipiell selbst Subjekt des politischen Handelns waren und der Bereich des Politischen von dem der Herrschaft klar abgegrenzt wurde 143 – ist der Hinweis auf die nicht vorhandenen subjektiven Rechte im Rahmen der Fragestellung unergiebig. Ebenso wie der Begriff der Menschenrechte kann auch der des Staates 144 oder der Gesellschaft nicht problemlos auf die antiken Verhältnisse übertragen werden. Viel141 Vgl. Sandkühler, Hans Jörg: »Moral und Recht? Recht oder Moral? Zur Einführung«, in: ders. (Hg.): Recht und Moral, Hamburg 2010, S. 9–32. 142 Vgl. Menke/Pollmann: Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, S. 71– 128; König, Siegfried: Zur Begründung der Menschenrechte: Hobbes – Locke – Kant, Freiburg München 1994, S. 50–61. 143 Siehe dazu den Exkurs Kap. III.2. 144 Vgl. Winterling, Aloys: »›Staat‹ in der griechisch-römischen Antike?«, in: Lundgreen, Christoph (Hg.): Staatlichkeit in Rom? Diskurse und Praxis (in) der römischen Republik, Stuttgart 2014. Bereits Schmitt kritisierte, dass der Begriff des Staates »zu einem auf alle Zeiten und Völker übertragenen Allgemeinbegriff« geworden ist. »Noch heute hört man statt von der griechischen Polis oder von der römischen Republik vom ›antiken Staat‹ der Griechen und Römer«. Schmitt, Carl: »Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff« [1941], in: ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, 2. Aufl., Berlin 1973, S. 376.

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Methodische Überlegungen

mehr drängt sich die Frage auf, wie das Politische und die juridischen Handlungsmöglichkeiten in der griechischen Polis und der römischen Republik verstanden wurden, wenn sie nicht als legitime Herrschaftsansprüche einerseits und subjektive Rechte andererseits gegenübergestellt werden können. Die Orientierung an einem breiteren Begriffsfeld der Menschenrechtstheorie ist für die Erschließung der Pluralität der Diskurse sinnvoll. Die founding fathers und die französischen Revolutionäre verwendeten nicht ausschließlich den Begriff »Menschenrechte«, sondern sprachen ebenso von unveräußerlichen Rechten, natürlichen Rechten, Naturgesetzen oder Urrechten (original rights). Daher scheint es insbesondere bei der Frage nach antiken Grundlagen sinnvoll zu sein, nicht nur von den Begriffen ius humanum, ius naturale, dignitas humana oder νόμος φύσεως auszugehen. Als ius humanum wurde in der Antike auch das von Menschen gemachte Recht im Unterschied zum göttlichen Recht bezeichnet. 145 Anhand des Asylrechts, des Rechts der Gefangenen auf Schonung ihres Lebens sowie des Verbots von Kannibalismus 146 lässt sich darüber hinaus zeigen, dass es in der griechischen Antike durchaus für alle Menschen geltende »Rechte« gab, die jedoch nicht als Natur- oder Menschenrechte tituliert wurden. Diese Rechte waren nicht einklagbar und sie wurden auch nicht explizit dem ungeschriebenen Recht zugeordnet, aber sie markierten eine Grenze dessen, was einem Menschen angetan werden darf – noch bevor die entsprechenden Begrenzungen von Gewalt mit einem philanthropischen Menschenbild begründet oder in eine ethische Theorie eingefügt wurden.

2.2. Die Geschichte der Menschenrechte unter Einbeziehung der Geschichtlichkeit des modernen Subjekts Die Beschreibung der antiken Grundlagen bleibt allerdings auf einen Referenzpunkt in der Moderne angewiesen. Auch dann, wenn eine möglichst offene Definition des Menschenrechtsbegriffs gewählt wird, lässt sich nicht vermeiden, dass die Interpretation der antiken Vgl. Kammasch/Schwarz: »Menschenrechte«, S. 385. Zum Kannibalismusverbot als ein für alle Menschen geltendes Recht bei Aristoteles vgl. Kraut, Richard: »Are there Natural Rights in Aristotle?«, in: The Review of Metaphysics 49, 4 (1996), S. 755–774. 145 146

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Texte mit Vorannahmen operiert, an denen kenntlich wird, was unter »Menschenrechte« verstanden wird, welche Rechte eventuell als Kern des Katalogs betrachtet werden, wie sie begründet werden oder was nach Ansicht des Autors ihre Deklaration ermöglichte. Eine solche Definition kann auch stillschweigend vorausgesetzt werden, zumeist sind dann die Rechte der französischen Erklärung, der Allgemeinen Erklärung oder generell universelle Rechte des Individuums gemeint. Um die Einseitigkeiten zu vermeiden, die aus einer Priorisierung des moralischen Rechts, der juridischen Form, einzelner Menschenrechte oder politischer Legitimationsstrategien folgen, wurde in der vorliegenden Untersuchung das Selbst- und Weltverhältnis des modernen Subjekts – Taylor spricht von der »neuzeitlichen Identität« 147 – zum Ausgangspunkt genommen, ohne das Menschenrechte, weder auf die eine noch die andere Weise, vorgängig bestimmt werden können. Das ist die zweite methodische Annahme. In der Neuzeit entsteht ein individualistisches Menschenbild, auf dessen Grundlage die Menschenrechtsidee formuliert werden konnte. Das moderne Subjekt, das sich im cogito ergo sum 148 seiner selbst vergewissert hat, entwirft sich als vernünftiges, wollendes und mitfühlendes Wesen. 149 Es mag sein, dass die Aufklärung ihrem Selbstverständnis nach den Akzent in dieser Dreiheit auf die Vernunft gelegt hat, sie berief sich aber nicht so ausschließlich auf die Vgl. Taylor: Quellen des Selbst. Im Original: »je pense, donc je suis«. Descartes, René: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Gäbe, Lüder (Übers./ Hg.), Hamburg 1960, IV, 3, S. 54. Hinsichtlich der modernen Verknüpfung des Subjektbegriffs mit dem erkennenden Ich ist zu berücksichtigen, dass die Bedeutungen der Begriffe ὺποκείμενον und subiectum davon stark abweichen. In Antike und Mittelalter bezeichnete »Subjekt« »1) ontologisch […] [den] Träger von Akzidenzien, Eigenschaften, Handlungen oder Habitus, 2) logisch das S[ubjekt], von dem das Prädikat ausgesagt wird, den Satzgegenstand, und 3) den Gegenstand einer Wissenschaft oder allgemein einer Beschäftigung (im Englischen subject/matter)«. Kible, Brigitte: »Subjekt«, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, völlig neubearb. Ausg. des ›Wörterbuchs der philosophischen Begriffe‹ von Rudolf Eisler, Bd. 10, Basel 1998, S. 373. 149 Zur Relation von Vernunft, Wille und moralischem Gefühl bei Kant vgl. Brandt, Reinhard: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg 2007, S. 356 f.; Mohr, Georg: »Ein ›Wert, der keinen Preis hat‹ – Philosophiegeschichtliche Grundlagen der Menschenwürde bei Kant und Fichte«, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Menschenwürde. Philosophische, theologische und juristische Analysen, Frankfurt a. M. 2007, S. 19 f.; Schönecker, Dieter: Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit: eine entwicklungsgeschichtliche Studie, Berlin 2005, S. 114 f. 147 148

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Rationalität, wie dies gelegentlich behauptet wird 150. Kant erklärte ausdrücklich, dass das moralische Gesetz nicht rein rational, sondern nur in Verbindung mit dem moralischen Gefühl zu erschließen ist. 151 Auf den Zusammenhang von Vernunft, Wille und Gefühl für die Begründung der Menschenrechte kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Ich möchte es bei dem Hinweis belassen, dass das kantische Moralkonzept nicht schon dadurch überwunden ist, dass anstelle der rationalen Begründung die Bedeutung der willentlichen Entscheidung 152 oder einer Kultivierung der Gefühle 153 hervorgehoben wird. Das Subjekt ist autonom, kann universelle Rechte beanspruchen und dies rational begründen. Üblicherweise werden im Rahmen einer rechtsphilosophischen Thematik Hobbes, Locke, Montesquieu oder Rousseau als Vordenker dieses Menschenbildes vorgestellt. 154 Mir geht es primär jedoch um die ontologischen Implikationen der Subjektivität und des damit verbundenen erkenntnistheoretischen Gewissheitsanspruchs. Beides durchdringt auch die frühbürgerliche Naturrechtstheorie, wird aber nicht in derselben Klarheit offengelegt wie bei Descartes. Nach Descartes steht das Subjekt im Zentrum der Welt, insofern es Seiendes nur in Bezug auf dieses, nur als Gegen-

150 Z. B. von Rorty, Richard: »Menschenrechte, Rationalität und Gefühl«, in: Shute, Stephen/Hurley, Susan (Hg.): Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt a. M. 1996, S. 144–170. 151 »Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch; denn bei völliger Unempfänglichkeit für diese Empfindung wäre er sittlich tot, und, wenn (um in der Sprache der Ärzte zu reden) die sittliche Lebenskraft keinen Reiz mehr auf dieses Gefühl bewirken könnte, so würde sich die Menschheit (gleichsam nach chemischen Gesetzen) in die bloße Tierheit auflösen und mit der Masse anderer Naturwesen unwiederbringlich vermischt werden.« Kant, Immanuel: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Ludwig, Bernd (Hg.), Hamburg 1990, S. 34. Siehe auch Scarano, Nico: »Moralisches Handeln. Zum dritten Hauptstück von Kants Kritik der praktischen Vernunft (71–89)«, in: Höffe, Otfried (Hg.): Immanuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft, 2., bearb. Aufl., Berlin 2011, S. 123 ff. 152 Vgl. Lohmann: »Zur moralischen, juridischen und politischen Dimension der Menschenrechte«, S. 140. 153 Rorty stellt Kant als einen »begründungsorientierten Philosophen« dar, der sich eingebildet habe, mit Hilfe rational hergeleiteter Wahrheiten Gewalttäter zu sittlichem Handeln zu erziehen und außerdem behauptet hätte, dass »das Gefühl nichts mit Moral zu tun habe«. Rorty: »Menschenrechte, Rationalität und Gefühl«, S. 154. Allerdings fordert Kant selbst, dass das moralische Gefühl »kultiviert« werden müsse. Vgl. Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, S. 33. 154 Vgl. z. B. König: Zur Begründung der Menschenrechte.

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stand des Bewusstseins geben kann. Bewusstsein ist, wie Descartes herausgestellt hat, immer Selbstbewusstsein. 155 In jedem Denkakt ist das Ich-bin mitgedacht. Das sum ist nicht die Schlussfolgerung eines Denkaktes und das ego auch nicht unbedingt Gegenstand des Denkens. Dennoch ist es das Zugrundeliegende, subiectum (ὺποκείμενον), weil alles Gedachte nur für ein Ich gegenwärtig sein könne. Anstelle des Wortes cogitare gebraucht Descartes auch den Begriff percipere, durch den der erfassende, Besitz ergreifende Charakter des cartesischen Verständnisses von Denken deutlicher zum Ausdruck kommt. Das cogito könne selbst nicht bezweifelt werden, weil alles Gedachte vom Menschen Vorgestelltes sei. »Demnach ist der Satz: Ich denke, also bin ich (ego cogito, ergo sum) die allererste und gewisseste aller Erkenntnisse, die sich jedem ordnungsgemäß Philosophierenden darbietet.« 156 Neu ist nicht die Einsicht, dass im Denken immer ein Bezug auf das Ich liegt und nur die Existenz des Zweifelnden unbezweifelbar ist 157, sondern dass die Gewissheit des auf das Subjekt bezogenen Erkennens zum Maßstab für die Seinsweise des Seienden wird. Ausgehend von der Gewissheit des Selbstbewusstseins wird die Angleichung der Sache an den Verstand zur grundlegenden erkenntnistheoretischen Methode. Dem äußeren Anschein nach hat schon Protagoras mit dem Satz »[D]er Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind.« 158 versucht, das Sein der Dinge auf den Menschen als subiectum zurückzuführen. Wie noch zu zeigen sein wird, ist diese Annahme jedoch irrig. Das »Maß-sein« des Menschen wird von Protagoras nicht als selbstbewusstes Verfügen über die Dinge verstanden. Zu Recht hat Hegel festgestellt, dass mit dem cogito Descartes’ in der Philosophie »nach langer Umherfahrt auf der ungestümen See« endlich festes Land entdeckt wurde. 159 Die allein

155 Zur folgenden Darstellung der cartesischen Subjektontologie vgl. Heidegger, Martin: Nietzsche, Bd. 2, 2. Aufl., Pfullingen 1961, S. 141–173. 156 Descartes, René: Die Prinzipien der Philosophie. Buchenau, Artur (Übers.), 7. Aufl., Hamburg 1965, I, 7, S. 2 f. 157 Der Gedanke geht auf Augustinus zurück. Vgl. Kreuzer: Augustinus zur Einführung, S. 19 f. 158 Plat. Tht. 8, 152. Sofern nicht anders angegeben, beziehen sich die Platon-Verweise auf die von Apelt herausgegebenen Sämtlichen Dialoge. 159 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus (Hg.), Bd. 20, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2003, S. 328.

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auf dem Selbstverhältnis gegründete Subjektvorstellung Descartes’ hat Kant um eine intersubjektive, moralische Perspektive erweitert, ohne den Boden der Bewusstseinsphilosophie dadurch zu verlassen. Mit der Feststellung, dass den Menschenrechten ein spezifisches Subjektivitätsdenken zugrunde liegt, über das Descartes Rechenschaft ablegt, soll keineswegs behauptet werden, dieser habe daher »Einfluss« auf die Rechteproklamationen genommen. Der häufig im Zusammenhang mit ideengeschichtlichen Darstellungen entstehende Eindruck, die Denker würden mit ihren Ideen gleichsam historische Ereignisse auslösen oder vorbereiten, ist ein Vorurteil. Diesem Vorurteil widerspricht zum einen die Kontingenz der Geschichte, zum anderen missversteht es das philosophische Denken, das nicht auf die »Lieferung von Ideen« als Handlungsanweisungen aus ist, sondern um einen »Einblick in das, was ist« 160, bemüht ist. Die cartesische, auf dem cogito gegründete Metaphysik 161 steht paradigmatisch für das Subjektverständnis der Moderne, daher kann ein Bezug zwischen der metaphysischen Grundstellung Descartes’ und den Menschenrechten hergestellt werden. Dass erst Kant im Rahmen dieser Grundstellung eine der Aufklärung gemäße Begründung der Menschenrechte ausgearbeitet hat 162, widerspricht dem nicht. Die Selbstvergewisserung des Subjekts wird durch die Erklärung der Rechte zu einem politisch-rechtlichen Faktum. Der Mensch ist nicht die Leerstelle dieser Deklaration, er ist derjenige, der sich in dieser Deklaration seines eigenen Wesens versichert, es auf seinen höchsten Grund zurückführt, seine Gegebenheit und Gegenwärtigkeit zu einem öffentlichen, einem universellen und unvergesslichen Faktum erhebt und in der Form der Deklaration dieses Wesen bestätigt. 163

Auf unterschiedlichen Wegen ist der Versuch unternommen worden, den Menschenwürde- und Menschenrechtsbegriff von metaphysi160 Mit »Einblick in das was ist« hat Heidegger Ende 1949 vier in Bremen gehaltene Vorträge betitelt. Vgl. Heidegger, Martin: Bremer und Freiburger Vorträge. Jaeger, Petra (Hg.), GA Bd. 79, Frankfurt a. M. 1994. 161 Zum cartesischen Metaphysikverständnis vgl. Patočka: Andere Wege in die Moderne, S. 331–347. 162 Siehe dazu König: Zur Begründung der Menschenrechte, S. 186 ff. Zur Frage nach der Aktualität dieser Bestimmung vgl. z. B. Göller, Thomas: »Kants Menschenrechtsbegründung heute«, in: Gerhardt, Volker/Horstmann Rolf-Peter/Schumacher, Ralph (Hg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. 4, Berlin 2001. 163 Hamacher: »Vom Recht, Rechte nicht zu gebrauchen«, S. 216 f. (Herv. O. B.).

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schen Gehalten zu befreien. 164 Eine Untersuchung der antiken Grundlagen kann dazu beitragen, insofern sie zeigt, dass wesentliche Entdeckungen im Prozess der Subjektivierung – die Verfügbarkeit des Wissens, das Vermögen des Willens, das Gewissen, die Vorstellung, dass das Denken immer auf ein Ich-bin rekurriert usw. – keine selbstverständlichen Kennzeichnungen des menschlichen Daseins sind. Denn sie mussten der phänomenalen Welt unter anderem auf dem Wege einer schwierigen philosophischen Arbeit an Begriffen abgerungen werden. Die von Joas im werttheoretischen Kontext artikulierte Skepsis gegenüber dem Begriff »Entdeckung«, der auf eine Präexistenz des Entdeckten vor der Entdeckung deutet, und dem der »Konstruktion«, welcher eine willentliche Motivation vorauszusetzen scheint, teile ich grundsätzlich. 165 Die Subjektivierung würde nicht als geschichtlicher Prozess aufgefasst werden, wenn sie als zunehmende Bewusstwerdung von seit jeher vorhandenen Vermögen beschrieben würde; und die im Willen gefundene Souveränität über sich selbst kann sich nicht willentlich vorweggenommen haben. Mit

164 Als »metaphysisch« kennzeichnet Rorty einen philosophischen Diskurs, der seit Platon, über Kant bis zu Habermas ausgehend von der Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen Wesensbestimmungen des Menschen vornehme. Diese Bestimmungen sollten begründen, für wen Menschenrechte gelten und würden damit aber zugleich Unterscheidungen von »Menschen wie wir« und »den Anderen«, denen das Menschsein abgesprochen werde, hervorbringen. Die Menschenrechte und der menschenverachtende Ausschluss der anderen vom Menschsein würden in derselben Metaphysik gründen. Rorty schließt daraus, dass es vermieden werden sollte, die »Menschenrechtskultur« auf Kriterien umfassender Gemeinsamkeiten festzulegen, stattdessen sei es »effizienter«, unter den Bedingungen der Kontingenz die Betonungen der Unterschiedlichkeit von Menschen zugunsten »kleiner Gemeinsamkeiten« zu relativieren. Vgl. Rorty: »Menschenrechte, Rationalität und Gefühl«, S. 144–170. Zur Darstellung und Kritik der Thesen Rortys vgl. Schweppenhäuser, Gerhard: »Metaphysik, Menschenrechte und die Utopie des moralischen Fortschritts. Richard Rortys Abrechnung mit der universalistischen Moralphilosophie«, in: Freytag, Tatjana/Hawel, Marcus (Hg.): Arbeit und Utopie. Oskar Negt zum 70. Geburtstag, Frankfurt a. M. 2004, S. 137–160. Schweppenhäuser weist überzeugend auf die Inkonsistenzen des rortyschen Metaphysikverständnisses hin. Auch Wetz lehnt metaphysische Aussagen über das Wesen des Menschen ab. Die Würde sei keine mit dem Menschsein verbundene Wesensauszeichnung, sondern werde in einer »Praxis des Respektierens« ausgestaltet. Sie sei, wie Wetz formuliert, ein ethischer »Gestaltungsauftrag«. Vgl. Wetz, Franz Josef.: Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwertes, Stuttgart 2005. 165 Vgl. Joas: Die Sakralität der Person, S. 15.

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»Entdeckung« ist hier das Ereignis einer Wandlung in der Weise der Weltbezüglichkeit und Selbstwahrnehmung gemeint. 166 Dass sich der Mensch selbst eine unantastbare Würde 167 und unverlierbare Rechte zuschreibt, stellt einen Höhepunkt im Prozess der Subjektivierung dar. Das moderne, aufgeklärte Subjekt denkt sich selbst gerade nicht als geschichtliches. Jene Vermögen, welche die Würde und den Rechtsanspruch begründen, hätten demnach einen überhistorischen Charakter. Die Philosophen, die erstmalig zu sagen versuchten, was Vernunft, Wissen, Wille, Gewissen usw. sind, hätten nur ausgesprochen, was seit jeher die Subjektivität auszeichne. Die Ahistorizität des modernen, subjektiven Selbstverhältnisses korreliert mit der Universalität der moralischen Forderungen. Laut der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist die Ausstattung aller Menschen mit unveräußerlichen Rechten »selbstverständlich«. Nach der französischen Erklärung sind »die Unkenntnis« und »das Vergessen« der Menschenrechte die Ursachen des öffentlichen Unglücks. Die Verfasser dieser Erklärungen waren folglich nicht der Ansicht, mit den Menschenrechten neue Rechte entdeckt zu haben. 168 Jene Ansprüche, die im Verlauf der Revolutionen mit dem Titel »Menschenrechte« belegt wurden, besäßen schon in der Antike »unmittelbare Vorläufer«. 169 Grundsätzlich wirft die historische Kontextuali166 Zur Rechtfertigung des Begriffs »Entdeckung« in einem ähnlichen Zusammenhang vgl. Snell: Die Entdeckung des Geistes, S. 7 ff. 167 Der Begriff der Menschenwürde wird erst mit der Charta der Vereinten Nationen von 1945 in einen Rechtstext aufgenommen. 168 Vgl. Schmidt, Burghart: »Menschenrechte und Menschenbilder von der Antike bis zur Gegenwart«, in: ders. (Hg.): Menschenrechte und Menschenbilder von der Antike bis zur Gegenwart, S. 15. 169 So Gerhardt, Volker: »Menschenrecht und Rhetorik«, in: Brunkhorst/Köhler/ Lutz-Bachmann (Hg.): Recht auf Menschenrechte, S. 20. Gerhardt wirft die Frage auf, »warum die Menschheit erst so spät auf den Einfall gekommen ist, elementare Rechte für sich selbst einzufordern und somit: von Menschenrechten zu sprechen« und kontrastiert die Verspätung mit der Selbstverständlichkeit, mit der sie, sobald sie eingefordert wurden, gelten sollten. »Jeder Mensch hat Anspruch darauf; niemand käme auf die Idee, daß es für ihn selbst nicht gelten könnte. Wenn es überhaupt in Anspruch genommen werden kann, ist keiner davon ausgenommen. Und das aufgrund von Eigenschaften, die jeder bei sich selbst für so offenkundig als gegeben eingestehen muss, daß die Annahme absurd erscheint, die Generationen vorher hätten keinen Grund gehabt, eben das einzuklagen, was jedem allein aufgrund seines Daseins als Mensch zukommt.« Ebd. Während Gerhardt zu zeigen versucht, dass »[d]ie Sache des Menschenrechts […] schon um einiges älter als sein Titel [ist]«, ist das Anliegen der vorliegenden Untersuchung, die Geschichte eben dieses Selbstverständnisses des

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sierung moralischer Rechte Schwierigkeiten auf. Normen wie z. B. das Unrecht der Sklaverei oder die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern scheinen an sich nicht relativierbar zu sein. Vom Standpunkt der universellen Moral aus lässt sich im Hinblick auf die Antike und die Vormoderne nur feststellen, dass die Normen »noch nicht« entdeckt oder sozial anerkannt wurden. Jeder Versuch, über die Geschichte der Menschenrechte zu sprechen, wird mit dem Problem konfrontiert, ein Thema geschichtlich verstehen zu wollen, das sich der genealogischen Einordnung prinzipiell zu entziehen scheint. Dem Anspruch des geschichtlichen Denkens genügt eine rein rechtshistorische Betrachtung oder eine Entwicklungsgeschichte ethischer Systeme nicht, sofern nicht auch die Geschichtlichkeit des Selbstund Weltverhältnisses des modernen, autonomen Subjekts mit in die Darstellung einbezogen wird. Die Geschichte der Menschenrechte lässt sich folglich nicht abgetrennt von ihrem eigentlichen »Gegenstand«, dem Menschen, darstellen, da dieser Gegenstand den geschichtlichen Grundriss der Darstellung fortwährend unterminiert, es sei denn, der Mensch der Menschenrechte wird als geschichtliches Phänomen begriffen. Die Menschenrechte sind dann nicht ein Produkt der Subjektivierung des Menschen, sondern »Ausdruck einer bestimmten Selbstdeutung des europäischen Menschen«. 170 Die historisch späteren Forderungen nach kollektiven Rechten widersprechen der individualistischen Grundkonzeption der Menschenrechte nicht, sondern bestätigen diese. In einem Kollektiv wird Vereinzeltes nach bestimmten Kriterien zusammenfassend betrachtet. Wenn das moderne Subjekt selbst ein geschichtliches Phänomen ist, dann erscheint es ratsam, auch die moderne gesellschaftstheoretische Antithese von Individuum und Kollektiv 171 nicht voreilig auf die menschlichen Daseins und der Entdeckung der mit dem Menschsein verbundenen Eigenschaften, die keineswegs seit jeher schlichtweg gegeben waren, zu thematisieren. Ebd., S. 22. 170 Vgl. Neschke-Hentschke: »Tradition und Identität Europas«, S. 17 (Herv. O. B.). 171 Die Begriffe »Individuum« und »Kollektiv« haben ihren Ursprung zwar in der Antike, stehen dort aber nicht in einem gesellschaftstheoretischen bzw. politischen Kontext. Vgl. Kobusch, Theo: »›Individuum‹ I. Antike und Frühscholastik«, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, völlig neubearb. Ausg. des ›Wörterbuchs der philosophischen Begriffe‹ von Rudolf Eisler, Bd. 4, Basel 1976, S. 299–304; Haller, Rudolf: »Kollektivbegriff«, in: Ritter/ Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, S. 882 f. Von Arendt wird »Gesellschaft« als modernes Phänomen beschrieben. Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 2. Aufl., München Zürich 2003, S. 43, 47 f., 52 f.

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antiken und vormodernen Verhältnisse zu übertragen. Ich vermeide die Begrifflichkeit der »kollektiven Pflichten«, unter die gelegentlich antike und christliche Moralvorstellungen zusammengefasst werden sollen. Für die antiken und vormodernen Formen politischer Ordnung ist der Begriff »Kollektiv« ebenso unangemessen wie der des »Staates«. Ich spreche daher zumeist von der »Polis«, »res publica« oder »politischen Gemeinschaft«. Die ahistorische Normativsetzung des modernen Subjekts wird in der Forschungsliteratur zur Geschichte der Menschenrechte tendenziell repetiert. Den antiken Beschreibungen der Natur des Menschen oder seiner Rechte haftet somit zwangsläufig immer etwas Unvollständiges an. Die Sophisten sprechen z. B. »schon« von der natürlichen Gleichheit, begründen sie aber »noch nicht« rational. Aristoteles umschreibt zwar die Vernunftnatur des Menschen, erkennt sie aber nicht allen Menschen zu. Die Stoiker universalisieren die Vernunft, leiten daraus aber »noch« keine politisch-rechtlichen Forderungen ab. Die Benennung dessen, was fehlt, was eine Idee noch nicht leistet, scheint unumgänglich, weil die einzelnen »Stationen« der Menschenrechtsgeschichte sonst in ihrer Bedeutung überschätzt oder missverstanden werden könnten. Meiner Ansicht nach reicht es aber nicht aus, auf das Unzureichende antiker und vormoderner Ideen und Vorstellungen zu verweisen, zumal sich in diesen Wertungen nur bestätigt, dass die moderne Subjektkonzeption und Menschenrechtsidee als letztgültige Maßstäbe gesehen werden. Vielmehr kommt es darauf an zu verstehen, wie einige Sophisten die natürliche Gleichheit denken konnten, ohne zugleich ein Menschenbild aufzubieten, in dem der Mensch Gegenstand des vorstellenden Denkens ist. Worin lag die Gleichheit, wenn nicht in der Vernunftnatur oder der gleichen natürlichen Bedürftigkeit? Durch einen phänomenologisch-hermeneutischen Theorieansatz, der von der Geschichtlichkeit des Subjekts ausgeht, wird ersichtlich, dass die Aussagekraft von epochenübergreifenden Rechtsvergleichen sehr begrenzt ist. Es ist zwar erstaunlich, dass sich den Rechten der Allgemeinen Erklärung Passagen aus antiken Texten zuordnen lassen, die teilweise sogar dem Wortlaut nach Ähnlichkeiten aufweisen 172, aber die Bedeutung dieser Passagen kann nur aufgehellt werden, wenn auch danach gefragt wird, wer der Mensch ist, dem 172 Vgl. Siewert: »Antike Parallelen zu der UNO-Menschenrechtsdeklaration von 1948«.

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Rechte zuerkannt oder Pflichten auferlegt werden und in welchem Verhältnis dieser zur Welt steht. Wenn die Antike und das Mittelalter kein »abgepuffertes Selbst« 173 oder Individuum kennen, welche Relevanz haben dann Aussagen über die Gleichheit oder Freiheit des Menschen? Wie lassen sich Rechte unter dieser Bedingung überhaupt adressieren? Ist die immer wiederkehrende These, dass die moralischen Normen ihrem Gehalt nach schon in der Antike auftauchen und nur noch nicht in die Form des subjektiven Rechts übertragen wurden, so plausibel? Oder sollte nicht eher davon ausgegangen werden, dass »der Wandel der Form natürlich mit einem des Inhalts einher[geht], also mit einem Wandel der Auffassung, was es überhaupt heißt, jemanden zu achten«? 174 Die Tendenz, von der Ahistorizität des Subjekts auszugehen, kann durch eine weniger »parteiische« Einbeziehung des Subjektivierungsprozesses abgemildert werden. Die Geschichte des Subjekts ist dann nicht die Geschichte des Bewusstseins auf dem Weg zu sich selbst, sie beruht nicht auf einem sich selbst und alles Seiende vorstellenden Subjekt, sondern betrachtet den Rahmen der Subjektivität selbst als entstandene und vergängliche Form der Weltbezüglichkeit. Foucault erklärt zur Seinsweise des modernen Menschen: Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen [der modernen Episteme, O. B.] verschwänden, so wie sie erschienen sind, […] dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet, wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand. 175

Die Unterscheidung zwischen modernem und vormodernem Subjekt oder »abgepuffertem« und »porösem Selbst« wird einer hermeneutisch-historisierenden Betrachtungsweise aber noch nicht gerecht. 173 Mit diesem Ausdruck für das neuzeitliche Individuum versucht Taylor zu verdeutlichen, dass das moderne, vergeistigte Selbst sich von den Geschehnissen und Dingen in der Welt abgrenzen kann. »Als begrenztes Ich kann ich die Grenze als Puffer auffassen, so daß mich die Dinge jenseits dieser Grenze nicht ›erreichen‹ müssen […]. Dieses Ich kann sich selbst als unverwundbares Wesen sehen, als Gebieter der Bedeutungen, die die Dinge für es haben.« Taylor: Ein säkulares Zeitalter, S. 73. Im Gegensatz dazu hielt sich das »poröse Selbst« in einer verzauberten Welt auf, in der es »keine wirklich klare Grenzlinie zwischen personaler Handlungsfähigkeit und nichtpersonalen Kräften [gab].« Ebd., S. 63. 174 Taylor: Quellen des Selbst, S. 30 (Herv. O. B.). 175 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1974, S. 462.

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Für eine adäquate Interpretation der antiken Texte müssen nicht nur die vorgreifenden Wertungen vermieden werden, die aus modernen Vorstellungen resultieren, sondern ebenso jene, die den jeweils nächsten ideengeschichtlichen »Stationen« entnommen werden. Damit z. B. das »vorsokratische« Denken nicht nur als Vorläufer zum philosophischen, sokratischen Fragen erscheint, müssen zunächst spezifische Merkmale der jeweiligen Formen des Selbst- und Weltverhältnisses der Epochen des Denkens herausgearbeitet werden. In der inhaltlichen Gliederung der Kapitel versuche ich diesem Anspruch gerecht zu werden, indem ich erst auf ontologische Grundfragen, von dort aus auf die Interpretationen der menschlichen Natur und zuletzt auf die unterschiedlichen Rechtsvorstellungen eingehe.

2.3. Die politische Dimension der Menschenrechte Die oben erwähnte Standarderzählung der Menschenrechtsgeschichte setzt ein bestimmtes Rangverhältnis unter den Dimensionen der Menschenrechte voraus. Demnach werden Menschenrechte zunächst moralphilosophisch begründet und anschließend in das positive Recht übersetzt, sobald der politische Wille dazu vorhanden ist. In ideengeschichtlichen oder rechtshistorischen Darstellungen der Menschenrechtsgeschichte wird Politik deshalb zumeist nur als Mittel zur Umsetzung moralischer Rechte in geltendes Recht betrachtet. Durch die instrumentelle Wahrnehmung von Politik und die Fiktion vorpolitisch gegebener Normen wird der Anteil des Politischen an der Mehrdimensionalität der Menschenrechte ausgeblendet. 176 Die politische Öffentlichkeit bietet nicht nur einen Raum für den einmaligen Akt einer Rechteproklamation, sondern ist der Ort, an dem menschenrechtliches Handeln überhaupt erst wirksam sein kann. Menschenrechtsverletzungen werden in einer Öffentlichkeit präsent und damit auch kritisierbar. Die Bedeutung der Öffentlichkeit für die Menschenrechte geht allerdings über die bekannte Kontrollfunktion der öffentlichen Wahrnehmung, deren Verlässlichkeit auch bestritten werden kann, weit hinaus. Politisches Handeln verändert unmittelbar den Gehalt und die Geltungsweite der Menschenrechte. In dem Moment, in dem z. B. die Revolutionärinnen der Französischen Revolution für gleiche Rechte eintraten, wurden die Grenzen der politischen 176

Vgl. Menke/Raimondi (Hg.): Die Revolution der Menschenrechte, S. 9.

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Sphäre und dem Anspruch nach auch die der Geltungsweite der Menschenrechte neu gezogen. De Gouges erklärte, dass Frauen, wenn sie das Recht haben, das Schafott zu besteigen, auch das Recht haben müssen, die Tribüne des Konvents zu besteigen. Rancière merkt dazu an: »Olympe de Gouges’ Argumentation zeigte […], daß die Grenze zwischen nacktem und politischem Leben nicht so einfach zu ziehen ist. Es gab zumindest eine Situation, in der sich das ›nackte Leben‹ als ›politisch‹ herausstellte: Es gab Frauen, die als Feindinnen der Revolution zum Tode verurteilt wurden.« 177 Laut Rancière ist das Subjekt der Menschenrechte identisch mit dem der Politik. 178 Im Prozess der »politischen Subjektivierung« überschreiten die Ausgeschlossenen die Grenze zwischen den zur Politik qualifizierten Menschen und den nichtqualifizierten anderen. Die moderne Geschichte der Menschenrechte sei unter diesem Blickwinkel die Geschichte einer fortschreitenden Selbsteinschreibung der Ausgeschlossenen in das politische Leben und damit in das Menschsein. »Der« Mensch, der vor jeder Politik anthropologisch, z. B. als ζῷον λόγον ἔχον, zu bestimmen wäre, existiere nicht. Aufgrund des erwähnten Verhältnisses von Politik und Menschenrechten möchte ich kurz auf die politische Theorie Rancières eingehen. In Das Unvernehmen expliziert Rancière den Begriff des Politischen genauer und er behauptet, dass der Prozess der politischen Subjektivierung in der Antike beginne. Politisch sei demnach ausschließlich die »Unterbrechung der Ordnung«, die sich daraus ergebe, dass die »Eigenschaftslosen«, also diejenigen, die weder über Besitz noch über Tugend verfügen und insofern nichts mitbringen, was in einer gerechten Ordnung verrechnet werden könnte, Anteil an der Gleichheit haben, indem sie als sprechende Wesen auftreten. Dieser Anteil der Anteillosen und die »Anmaßung des Demos, das Ganze der Gemeinschaft zu sein«, ist laut Rancière das für Politik konstitutive Unrecht. Ein Unrecht, das im Rahmen der antiken, auf Ausgleich abzielenden Vorstellungen einer gerechten Ordnung, nicht habe behoben werden können. Es gibt Politik, wenn die Kontingenz der Gleichheit als »Freiheit« des Volkes die natürliche Ordnung der Herrschaft unterbricht, wenn diese Unterbrechung eine bestimmte Gliederung produziert: eine Teilung der Gesell177 Rancière, Jacques: »Wer ist das Subjekt der Menschenrechte?«, in: Menke/Raimondi: Die Revolution der Menschenrechte, S. 482. 178 Vgl. ebd., S. 480.

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Methodische Überlegungen

schaft in Teile, die keine »wirklichen« Teile sind; die Einrichtung eines Teiles, der sich mit dem Ganzen im Namen einer »Eigentümlichkeit« gleichsetzt, die ihm gar nicht Eigen ist, und eines »Gemeinsamen«, das die Gemeinschaft eines Streits ist. 179

Mit dem Auftreten des Demos werde ein Streit um das Gemeinsame etabliert, weil der Anteil, den sie laut Aristoteles in die Gemeinschaft einbringen – die Freiheit – nicht wie z. B. der Besitz der Oligarchen als Anteil verrechnet werden könne. Entscheidend für das politische Denken Rancières ist, dass der für Politik konstitutive Streit aus der Paradoxie des »Anteils der Anteillosen« hervorgeht und nicht bloß als Verhandlung von Interessen, z. B. der Armen und Reichen, verstanden wird. Alle Bereiche der Herrschaft, die nicht durch die Gleichheit unterbrochen werden, sondern z. B. von »der Ausübung der Majestät, von der Stellvertretung der Gottheit, vom Befehlen der Armeen oder der Verwaltung der Interessen« handeln, werden von Rancière unter dem Begriff »Polizei« gefasst. 180 Mit »Polizei« ist somit nicht nur ein Teil der Exekutive gemeint, sondern alles, was zur Organisation und Verwaltung des öffentlichen Raumes gehört. Der Ort der Politik ist für Rancière folglich nicht der vom nackten Leben abgetrennte politische Raum, sondern ein Ort, an dem nach der Logik der Herrschaftsordnung organisierte Trennlinien unterbrochen werden und diejenigen, die nach dieser Ordnung ausgeschlossen sind, zu politischen Subjekten werden. »Jede Subjektivierung ist eine Ent-Identifizierung, das Losreißen von einem natürlichen Platz, die Eröffnung eines Subjektraums, in dem sich jeder dazuzählen kann, da es ein Raum einer Zählung der Ungezählten, eines In-Bezug-Setzens eines Anteils und der Abwesenheit eines Anteils ist.« 181 Rancière nennt historische Beispiele für solche Subjektivierungsprozesse: der Demos in der athenischen Demokratie, Livius’ Erzählung von der Integration der Plebejer in die politische Ordnung Roms und der Kampf der Frauen für politische Gleichberechtigung sowie das Auftreten der Proletarier als politische Klasse in der Moderne. In allen Fällen gehe es nicht Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M. 2002, S. 30. 180 Vgl. ebd., S. 39 f. Diese Definition orientiert sich am neuzeitlichen Verständnis der Polizeiwissenschaften, das auch die hegelsche Begriffsverwendung bestimmt. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus (Hg.), Bd. 7, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 2000, S. 382–393 (§ 231–249). 181 Rancière: Das Unvernehmen, S. 48. 179

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darum, dass Subjekte das Wort ergreifen oder ein gemeinsames Bewusstsein bilden, so als ob das Subjekt vorgängig zum politischen Handeln gegeben wäre, sondern darum, dass die Subjektivierung das Erfahrungsfeld neu [zerschneidet], das jedem seine Identität mit seinem Anteil gab. Sie löst und stellt die Verhältnisse zwischen den Weisen des Tuns, den Weisen des Seins und den Weisen des Sagens neu zusammen, die die sinnliche Organisation der Gemeinschaft, die Verhältnisse zwischen den Räumen, wo man eines macht und denen, wo man anderes macht, die an dieses Tun geknüpften Fähigkeiten und jene, die für ein anderes benötigt werden, bestimmen. 182

Die »Aufteilung des Sinnlichen« gehe auf die Teilung des Logos zurück, nach der der Mensch nicht generell ein sprechendes Wesen sei. Vielmehr geschieht eine Teilung der Menschen in die, die sprechen können und die, die sich nur wie Tiere ihrer Stimme bedienen, um Lust und Unlust zu äußern – ob es sich nun um Handwerker handle, die laut Platon keine Zeit für Politik haben, oder um Proletarier, die nach Auffassung der herrschenden Klasse nur zum Arbeiten, aber nicht zum politischen Handeln, zum Philosophieren oder zu künstlerisch-literarischen Tätigkeiten in der Lage sind. Rancière interessiert sich genau für jene Beispiele, in denen Subjekte Abstand nehmen von ihrem »natürlichen Platz« in der Ordnung, anfangen zu sprechen und so »einen konkreten Fall aus dem Unrecht [machen], das der Gleichheit angetan wurde, ohne aber diese Gleichheit als solche umsetzen zu können«. 183 Die universelle Gleichheit, die darin liege, als sprechendes Wesen Mensch zu sein, kann sich laut Rancière nur indirekt, in der Politik, zeigen, weil sie nur im Streit sichtbar werde. Die Gleichheit könne aber nie ein für alle Mal realisiert werden, denn dies würde bedeuten, dass die politische Subjektivierung im Sinne der Entidentifizierung und Veränderung der Aufteilung des Sinnlichen an ein Ende käme. An dieser Stelle wird ersichtlich, weshalb Rancière die Frage »Wer ist das Subjekt der Menschenrechte?« aufwerfen muss. Die Proklamation der Rechte hat die polizeiliche Ordnung in einer Weise verändert, die sofort Gruppen auf den Plan rief, die vorher nicht erscheinen konnten. Rancière versucht in kritischer Auseinandersetzung mit dem Denken Arendts zu zeigen, dass die Menschenrechte keineswegs bloß Bürgerrechte, also die Rechte Ebd., S. 52. Hebekus, Uwe/Völker, Jan: Neue Philosophien des Politischen zur Einführung, Hamburg 2012, S. 148. 182 183

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derjenigen seien, die schon Rechte haben, oder die Rechte der von der Bürgerschaft Ausgeschlossenen, also von Menschen, die keine Rechte haben. Der Begriff der Menschenrechte sei so entweder eine Tautologie oder leer. Dem hält Rancière entgegen: Ein politisches Subjekt […] entspricht [der] Fähigkeit zur Inszenierung von Dissensen. So zeigt sich, daß »Mensch« nicht nur der leere Begriff ist, der den tatsächlichen Bürgerrechten entgegengesetzt wird. Das Wort »Mensch« hat auch einen positiven Inhalt, nämlich die Zurückweisung des Unterschieds zwischen denen, die in dieser und jenen, die in der anderen Sphäre der Existenz »leben«, zwischen denen, die zum politischen Leben qualifiziert sind und jenen, die es nicht sind. Die Unterscheidung zwischen Mensch und Bürger ist kein Zeichen der Trennung, das beweisen würde, daß die Rechte entweder leer oder tautologisch sind. Es ist vielmehr die Öffnung eines Intervalls, in dem politische Subjektivierung möglich ist. […] Politische Subjekte […] konfrontieren nicht nur die Einschreibung von Rechten mit Situationen ihrer Verneinung; sie verbinden die Welt, in der diese Rechte Gültigkeit haben, mit der Welt, in der sie keine Gültigkeit haben. Sie verbinden eine Einschlußbeziehung mit einer Ausschlußbeziehung. 184

Rancières Verständnis der politischen Subjektivierung ist – unabhängig davon, ob im Namen der Menschenrechte oder für die Zugehörigkeit zur Polis gestritten wird – emanzipatorisch konzipiert. Mit dem leeren Politikbegriff können sowohl in der Moderne als auch in der Antike vergleichbare Praktiken der Emanzipation herausgearbeitet werden. Die Fokussierung auf die Praktiken und der Verzicht auf eine Bestimmung des Wesens der Politik stellen sicher, dass die Frage nach dem Politischen nicht von vornherein als Frage nach der guten Ordnung ausgelegt wird. Somit bietet Rancières Theorie die Möglichkeit, die politische Dimension der Menschenrechte in ihrer Eigenständigkeit – das heißt, nicht bloß als Mittel zur Umsetzung von Zwecken – zu erläutern. Entscheidender für die Thematik »Antike und Menschenrechte« ist aber, dass die Theorie Subjektivierungsprozesse aus unterschiedlichen Epochen miteinander in Bezug setzt, insofern z. B. gefragt werden kann, seit wann die Rede von »dem Menschen« politisch relevant wurde, also der Zurückweisung des Unterschieds von ausgeschlossenem und eingeschlossenem Leben diente. Rancière stellt einen methodischen Leitfaden für die Erzählung politischer Subjektivierungsprozesse und ihrer Wirkungen auf die politische Philosophie zur Verfügung, mit dem die geschichtlichen Dynamiken 184

Rancière: »Wer ist das Subjekt der Menschenrechte?«, S. 483 f.

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der politischen Dimension der Menschenrechte dargestellt werden können. Der Theorieansatz wurde kurz vorgestellt, weil sich mit ihm die oben erwähnte Hierarchisierung von moralischer, juridischer und politischer Dimension der Menschenrechte vermeiden lässt. Allerdings birgt der Ansatz auch die Gefahr einer zu starken Gleichsetzung der jeweiligen Subjektivierungsprozesse, insofern behauptet wird, dass Subjektivierung stets nach einem bestimmten Schema erfolge. Die Theorie kommt methodisch nicht zur Anwendung, weil es in der vorliegenden Untersuchung darum geht, die Entstehung und Bedeutung zentraler metaphysischer Grundbegriffe – z. B. dem der Natur, der Wahrheit oder der Gerechtigkeit – im philosophischen Kontext aufzuhellen, bevor sie in Bezug auf politische Subjektivierungsweisen gedeutet würden. Für Rancière ist die Subjektivierung eine Weise der Emanzipation, in der ein durchaus auch cartesisch vorstellbares Ich zu sich kommt. 185 Wie im vorigen Abschnitt erläutert wurde, soll aber genau dieses formell vorausgesetzte Subjekt als historisch Entstandenes begriffen werden. Die politische Dimension der Menschenrechte werde ich in einem Exkurs (III.2.) anhand des politischen Denkens Arendts erläutern, weil mit Arendt meines Erachtens die Unterschiede zur moralischen und juridischen Dimension sowie die Entdeckung des Politischen bei den Griechen deutlicher herausgearbeitet werden können. Ebenso wie für Rancière spielt auch für Arendt die Unterscheidung von Herrschaft und dem Politischen – bei Rancière »Polizei« und »Politik« – eine zentrale Rolle. Allerdings geht Arendt davon aus, dass diese Unterscheidung im politischen Selbstverständnis der Griechen ursprünglich als kontinuierlich gegebene wahrgenommen wurde. Das Politische war demnach anfänglich keine Ausnahmeerscheinung oder ein Randphänomen von Herrschaftsverhältnissen, wie Rancière annimmt. Arendt befreit den Begriff des Politischen von allen Substanz-, Relations- oder Funktionsvorstellungen. Dabei wird die Identifikation des Politischen mit der Wirklichkeit, dem »In-einer-wirklichenWelt« leben, wie Arendt sagt 186, deutlich. Im Sinne der arendtschen 185 »Unter Subjektivierung wird man eine Reihe von Handlungen verstehen, die eine Instanz und eine Fähigkeit zur Aussage erzeugen, die nicht in einem gegebenen Erfahrungsfeld identifizierbar waren, deren Identifizierung also mit der Neuordnung des Erfahrungsfeldes einhergeht. Formell ist das cartesianische ego sum, ego existo das Modell dieser Subjekte«. Rancière: Das Unvernehmen, S. 47. 186 Vgl. Arendt, Hannah: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß. Ludz, Ursula (Hg.), München Zürich 2003, S. 52.

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politischen Phänomenologie kann die politische Dimension der Menschenrechte nur unter Berücksichtigung dieses Realitätsbezugs des Handelns klarer umrissen werden. Anhand des entsubstanzialisierten Politikbegriffs, der politisches Handeln nicht von vornherein als die Umsetzung von Interessen oder Zwecken begreift, soll das antinomische Verhältnis zur moralischen und juridischen Dimension kurz beschrieben werden. Der Exkurs soll aufzeigen, weshalb die politische Dimension in der philosophischen Tradition nachrangig behandelt wurde und erst der Bruch mit dieser Tradition dem politischen Denken einen weiten Horizont eröffnet hat, von dem aus weiterführende Fragen zur Mehrdimensionalität der Menschenrechte gestellt werden können. Gerade weil der Begriff des Politischen metaphysisch nur unzureichend bestimmbar ist 187, wirft auch das antinomische Verhältnis zur moralischen und zur juridischen Dimension – welche zumeist weiterhin metaphysisch begründet werden – grundsätzlichere Fragen auf, als dies bei jenem von Moral und Recht der Fall ist. Mit Hilfe der arendtschen Theorie soll also ein wesentlicher Aspekt des Menschenrechtsbegriffs dargestellt werden. Da Arendt ihr Verständnis des Politischen unter anderem in Auseinandersetzung mit der politischen Ordnung der antiken Polis entwickelte, können auf diesem Wege auch die Unterschiede zwischen dem antiken und dem modernen Freiheits- und Gleichheitsverständnis näher erläutert werden. Am Schluss des Exkurses bleibt zu zeigen, aus welchem Grunde die Erfahrungen politischen Handelns nicht in einer adäquaten politischen Philosophie aufgehoben, sondern in einer »verborgenen Tradition« 188 überliefert wurden. Mit dem Anfang der »politischen Metaphysik« 189, durch die Politiken Platons und Aristoteles’, wurde laut Arendt paradoxerweise der Zugang zum Erfahrungshorizont des ursprünglichen, politischen Denkens verbaut, weil beide einem Begriff von »Politik« Vorschub leisteten, in dem Politik und Herrschaft letztlich gleichgesetzt werden. 190 187 Vgl. Vollrath, Ernst: »Politik und Metaphysik – Zum politischen Denken Hannah Arendts«, in: Reif, Adelbert: Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk, Wien München Zürich 1979, S. 19–57. 188 Zur Übertragung dieses Titels auf die Tradition politischen Denkens vgl. Opstaele, Dag Javier: Politik, Geist und Kritik. Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff, Würzburg 1999, S. 125. 189 Vgl. Vollrath: »Politik und Metaphysik«. 190 Im Gegensatz zu Platon tendiert Aristoteles allerdings weit weniger dazu, das politische Leben dem theoretischen unterzuordnen, insofern er erkennt, dass das auf

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Einleitung

Die genannten drei methodischen Aspekte – die Beachtung der Pluralität der Diskurse, der Geschichtlichkeit des modernen Subjekts sowie der politischen Dimension der Menschenrechte – dienen dazu, möglichst unvoreingenommen von begrifflichen oder disziplinären Vorannahmen antike Grundlagen für die Entstehung moderner Menschenrechte herauszuarbeiten. Vielleicht wird anhand der Menschenrechtsthematik, mehr als in der Auseinandersetzung mit anderen Beständen der Tradition, die Schwierigkeit ersichtlich, eine Außenperspektive gegenüber den überlieferten metaphysischen Kategorien – bspw. der Auslegung des menschlichen Wesens im Ausgang von der Subjektivität – zu gewinnen, denn dies gleicht dem Versuch, aus dem eigenen Selbst- und Weltverhältnis springen zu wollen.

der Phronesis beruhende praktisch-politische Wissen nicht durch die theoretische Wissenschaft erfasst werden kann. Vgl. Vollrath, Ernst: Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, Stuttgart 1977, S. 36 f., 85 ff.

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II. Anfänge des Rechtsdenkens bei den Griechen

1.

»Universalität« im Denken Heraklits

Seitdem das philosophische Denken nach dem Spezifikum der menschlichen Natur zu fragen begann, wurde auch über die Idee des Rechts und dessen Gültigkeit nachgedacht. Den Anfang der Rechtsphilosophie sieht die Forschung zumeist in den Lehren der Sophisten, insofern diese den Versuch unternahmen, die Frage nach dem Wesen des Rechts unabhängig von der traditionellen religiösen Überlieferung zu beantworten und erstmalig zwischen natürlichen und positiven Satzungen unterschieden. Es mag verwundern, wenn am Anfang dieses Kapitels zunächst eine Auseinandersetzung mit dem Denken Heraklits (um 540–480) erfolgt. Aufgezeigt werden soll die Distanz, die sich bereits in der frühgriechischen Philosophie zwischen den »anfänglichen Denkern« 1, zu denen Anaximander, Heraklit und Parmenides gehören, und den Sophisten herausgebildet hat, so dass das Neuartige der sophistischen Auffassungen über Recht und Gerechtigkeit deutlicher ersichtlich werden kann. Die Absicht ist aber nicht, die vermeintliche Radikalität, die den Sophisten schon so häufig unterstellt wurde, nochmals zu unterstreichen. Die unterschiedlichen Charakterisierungen der Sophisten als Aufklärer, Skeptiker, Linke und Rechte, radikale Rechtspositivisten und Rationalisten 2 kommen letztlich darin überein, dass sie eine Selbstreflexivität des Menschen 1 Vgl. Heidegger, Martin: Parmenides. Frings, Manfred S. (Hg.), GA 54, Frankfurt a. M. 1982, S. 2. 2 Vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 12 ff.; Coing, Helmut: Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl., Berlin New York 1985, S. 6; Marcic, René: Geschichte der Rechtsphilosophie. Schwerpunkte – Kontrapunkte, Freiburg 1971, S. 165 ff. Von einer »Aufklärung« durch die griechische Sophistik sprach als erster Hegel. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus (Hg.), Bd. 18, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1999, S. 410.

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Anfänge des Rechtsdenkens bei den Griechen

als Subjekt unterstellen 3, die erst in der Philosophie der Neuzeit entdeckt wird und auf die griechische Antike nicht problemlos übertragen werden kann 4. Vielmehr dient der Rückgang auf Heraklit dazu, ein ursprüngliches Verständnis der Grundworte Logos, Kosmos, Physis und Nomos, das auch das Denken der Sophisten beeinflusste, zumindest ansatzweise aufzuhellen, um eine vorschnelle Interpretation der Sophistik aus einem später aufkommenden metaphysischen Zusammenhang heraus zu vermeiden. Ebenso wie die unpassende Aufwertung muss die Abwertung der sophistischen Lehren als substanzlos, interessengelenkt oder bloße rhetorische Übung, eben »sophistisch«, vermieden werden. Die Herabwürdigung, die schon in den platonischen Dialogen einsetzt, verkennt zum einen die Differenzen, die innerhalb der sophistischen Positionen ausgemacht werden können und zum anderen den konstitutiven Charakter ihres Denkens für die Artikulation der sokratisch-platonischen Denkweise, die offenkundig auf einen Dialog mit den Sophisten angewiesen ist. Die Auseinandersetzung mit den Fragmenten Heraklits soll darüber hinaus zeigen, dass diese bereits von einem Verständnis von Universalität getragen sind, das gewissermaßen am Anfang des abendländischen, universalistischen Denkens steht. Die Universalität ergibt sich bei Heraklit primär jedoch nicht aus der Konstatierung eines unbegrenzten Nomos in Frg. 114, sondern aus dem Grundsatz seines Denkens, dass eins alles ist. Das Universelle wird somit nicht von vornherein in der Einschränkung auf Normen, die für alle gelten sollen, thematisiert. 1.1. Λόγος und φύσις Für Heraklit sind Logos, Kosmos, Physis und Nomos untrennbar aufeinander bezogen. Im Hinblick auf den Nomos unterscheidet er zwischen menschlichen Gesetzen und göttlichem Gesetz. Die menschlichen Gesetze beruhen auf dem göttlichen Gesetz, und wer im Einklang mit der Natur (φύσις) handelt, handle auch gemäß des ewiIn diesem Sinne erklärt Hegel: »Mit der Rückkehr des Denkens als dem Bewußtsein, daß das Subjekt das Denkende ist, ist verbunden die andere Seite, daß es ihm darum zu tun ist, sich einen wesentlichen absoluten Inhalt zu gewinnen. […] Hierher gehören nun die Sophisten, Sokrates und die Sokratiker«. Ebd. (Hegel), S. 405 f. 4 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Griechische Philosophie. Bd. III: Plato im Dialog, Gesammelte Werke, Bd. 7, Tübingen 1991, S. 43 ff. 3

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»Universalität« im Denken Heraklits

gen göttlichen Nomos. »Um beim Reden Verständiges zu meinen, muß man sich stützen auf das dem All Gemeine, wie auf das Gesetz die Stadt sich stützt, und viel stärker noch. Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze von dem Einen, dem Göttlichen: denn das herrscht soweit es will und reicht hin im All und setzt sich durch.« 5 Was aber ist »das dem All Gemeine«, der göttliche Nomos, und weshalb ist die Geltungskraft dieses Nomos’ unbeschränkt? Im ersten Satz des Frg. 114 dient Heraklit das Verhältnis von Polis und Gesetz offenbar nur als Beispiel für die Verbindlichkeit, in welcher das Allgemeine und das verständige Reden zueinander stehen. Für eine Annäherung an das heraklitische Verständnis von Gesetz und Gerechtigkeit scheint es daher ratsam zu sein, den besonderen Zuschnitt auf den Bereich der Polis zunächst beiseite zu lassen. Laut Heraklit wirkt in allem Seienden eine Gegensätzlichkeit, durch die jedes Seiende als das, was es ist, zu erscheinen vermag. Die Gesundheit z. B. könne nur in Abgrenzung zur Krankheit als ein Seiendes und damit auch als etwas Schätzenswertes verstanden werden. »Krankheit macht Gesundheit süß und gut, Hunger die Sattheit, Mühe die Ruhe.« 6 Alles Seiende sei an sich durch eine gewisse Zwiespältigkeit geprägt. 7 Der Gegensatz einer Sache ist nicht dialektisch mit dieser verbunden oder folgt in zeitlicher Abfolge auf sie, sondern ist durch die Sache selbst gegenwärtig. Daher heißt es über Tag und Nacht: »sind sie doch eins (ἔστι γὰρ ἕν)!« 8 Das Einssein wird auch in anderen Sprüchen hervorgehoben. So in Frg. 88: »Ein und dasselbe ist Lebendiges und Totes und Wachendes und Schlafendes und Junges und Altes; denn dies schlägt um (μεταπεσόντα) und ist jenes, und jenes wiederum schlägt um und ist dies.« 9 Heraklit geht es wohl nicht darum, die banale Tatsache, dass zu einer Gegensätzlichkeit mindestens zwei unterschiedliche Gegenstände oder Begriffe gehören, hervorzuheben, denn jedes Seiende ist als solches eins mit dem anderen. In dem Kernsatz »eins ist alles« spricht sich nach Heraklit die Wahrheit selbst aus. Das Einssein ist es, von dem er behauptet, dass Hesiod, Pythagoras, Xenophanes und Hekataios nichts davon gewusst haHerakl. B 114. Ebd., B 111. 7 Zur Erläuterung der unterschiedlichen Gegensatzformen vgl. Kirk, Geoffrey S./Raven, John E./Schofield, Malcolm: Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare, Stuttgart Weimar 2001, S. 206 ff. 8 Herakl. B 57. 9 Ebd., B 88. 5 6

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Anfänge des Rechtsdenkens bei den Griechen

ben. 10 Wer es aber versteht, folge damit nicht einer besonderen Lehre Heraklits, sondern dem λόγος. »Habt ihr nicht mich, sondern den Sinn (λόγου) vernommen, so ist es weise im gleichen Sinn zu sagen: Eins ist alles (ἓν πάντα εἶναι).« 11 Über den λόγος erklärt Heraklit weiter: »Drum tut es not, dem Allgemeinen zu folgen. Obwohl aber der Sinn allgemein ist, leben die Vielen (πολλοὶ), als hätten sie ein Denken (φρόνησιν) für sich.« 12 Der λόγος ist das Allgemeine (ξυνός), das allen Gemeinsame und das, was allem Seienden gemein ist. Das Wort ξυνός verwendet Heraklit hier ebenso wie in Frg. 114 in lautlicher Anspielung auf ξυν νόω »mit Verstand«. 13 Jeder kennt den λόγος und dennoch wird er von den Vielen nicht verstanden. Λόγος bedeutet bei Heraklit offenbar mehr als »Rede« oder »Sprache«. In Frg. 1 werden λόγος und Rede (ἔπεα) sogar einander gegenübergestellt. Snell übersetzt es mit »Sinn«. Offen bleibt, weshalb es sinngemäß ist, »eins ist alles« zu sagen. In Frg. 114 ist die Einsicht in die Einheit des Ganzen allerdings die Voraussetzung dafür, dass auch das Verhältnis der menschlichen Gesetze zum göttlichen Gesetz erklärt werden kann. Weiterhelfen kann an dieser Stelle Heideggers Übersetzung von λόγος, die er von λέγειν ableitet, das ursprünglich »sammeln«, »versammeln«, »zusammen-legen« bedeutet. 14 Mit der »Sammlung« erfolge eine Auslese von etwas, das ansonsten verborgen bliebe. Λόγος übersetzt Heidegger mit »beisammen-vor-liegen-Lassen«. 15 Die Einheit des Seienden werde demnach bereits mit dem Wort λόγος zum Ausdruck gebracht und sei in Frg. 50 nicht erst die Schlussfolgerung einer Aussage. Λόγος sei nicht das besondere Vermögen eines Seienden, des Menschen als ζῷον λόγον ἔχον. Wenn es dem λόγος entspricht, »eins ist alles« zu sagen, könne der λόγος nichts außerhalb Vgl. ebd., B 40, 41, 57, 81, 106, 129. Ebd., B 50. 12 Ebd., B 2. 13 Zur Relation von φρόνησις in B2 und B 113 und νοῦς in B 114 vgl. Voegelin, Eric: Ordnung und Geschichte. Opitz, Peter J./Herz, Dietmar (Hg.), Bd. V: Die Welt der Polis. Vom Mythos zur Philosophie. Gebhardt, Jürgen (Hg.), München 2003, S. 94 f. 14 Vgl. Heidegger, Martin: »Logos (Heraklit, Fragment 50)«, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, 4. Aufl., Pfullingen 1978, S. 201 ff. Zur Rechtfertigung der Anknüpfung an den heideggerschen Interpretationsansatz vgl. De Gennaro, Ivo: »Heidegger und die Griechen«, in: Heidegger-Studies 16 (2000), S. 87–113; Held, Klaus: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung, Berlin New York 1980, S. 111 ff. 15 Vgl. ebd., S. 207. 10 11

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»Universalität« im Denken Heraklits

des Einen oder von Allem sein, sondern nur dieses selbst. Mit dem λόγος, der Sprache, gelangt laut Heidegger das Verborgene in die Unverborgenheit, es liegt vor bzw. wird vorgetragen. Sprechen sei in diesem Sinne ein Offenbarmachen. Der λόγος sei in einem das Gesagte und das Sagen, denn »alles [geschieht] nach diesem Sinn (λόγον)«. 16 Auch das Nicht-Verstehen müsse folglich dem λόγος entsprechen. 17 Dass zur Wahrheit die Verborgenheit gehöre, versucht Heidegger durch die Übersetzung von ἀλήθεια mit »Unverborgenheit« zu verdeutlichen. 18 Das »Entbergen« könne nur im Hinblick auf die Verborgenheit geschehen. Ἀλήθεια und λόγος seien insofern identisch, als sie vom Ereignis des Anwesens des Seienden künden. Damit meint Heidegger aber nicht lediglich, dass jedes Seiende zunächst offenbar sein muss, damit der Mensch es wahrnehmen oder sich einen Begriff davon machen kann. »Die ἀλήθεια ist, wie ihr Name sagt, nicht eitel Offenheit, sondern Unverborgenheit des Sichverbergens.« 19 Im Entbergen geschehe ein Verbergen. In diesem Sinne interpretiert Heidegger auch die Metapher vom Feuer bei Heraklit. Im Schein des Feuers komme nicht nur das Seiende zum Vorschein, sondern ebenso die umgrenzende, bergende Dunkelheit, das heißt jenes, aus dem Seiendes erst heraustreten muss, um überhaupt zu sein. 20 Der Satz »Das Feuer ist vernunftbegabt (φρόνιμον)« 21 erklärt gemäß dieser Interpretation, dass im Lichte des Feuers das Maß bzw. die Weite (μέτρον) 22 ersichtlich wird, in der Seiendes erscheint. Damit Herakl. B 1. Vgl. Günther, Hans-Christian: Grundfragen des griechischen Denkens. Heraklit, Parmenides und der Anfang der Philosophie in Griechenland, Würzburg 2001, S. 54 f. 18 Die Übersetzung ist auch philologisch gerechtfertigt. Vgl. Helting, Holger: »Ἀλήθεια«, in: Günther, Hans-Joachim/Rengakos, Antonios (Hg.): Heidegger und die Antike, München 2006, S. 50 f. 19 Heidegger, Martin: Heraklit. Frings, Manfred S. (Hg.), GA 55, Frankfurt a. M. 1979, S. 175 (Herv. O. B.). 20 Vgl. ebd., S. 168 ff. 21 Herakl. B 64a. Im Zusammenhang mit dem »nach Maßen« aufscheinenden Feuer in B 30, 31 wird ersichtlich, weshalb das Feuer »vernunftbegabt« ist. Die Erkenntnis des Maßes bedarf der φρόνησις. Damit macht sich Heraklit keineswegs des Anthropomorphismus schuldig. Vgl. Held: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft, S. 414 f. 22 »Diese Weltordnung hier hat nicht der Götter noch der Menschen einer geschaffen, sondern sie war immer und ist und wird sein: immer-lebendes Feuer, aufflammend nach Maßen und verlöschend nach Maßen.« Herakl. B 30, 31: Die Übersetzung von μέτρα mit »nach Maßen« von Snell und Diels-Kranz hält Heidegger für irreführend, 16 17

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Anfänge des Rechtsdenkens bei den Griechen

werden zugleich regelmäßige Abläufe und Ordnungsmuster (μέτρα) erkennbar. Eine andere von Heraklit verwendete Metapher für das Zusammenspiel von Erscheinung und Verbergung ist das Aufleuchten des Blitzes. Frg. 64 lautet: »Das Steuer des Alls aber führt der Blitz.« 23 »Πάντα« bezeichnet hier nicht das Weltall, sondern die Allheit bzw. Gesamtheit von allem, was ist. »Wahrheit« bestimmt Heidegger im Anschluss an die anfänglichen Denker also nicht metaphysisch, das heißt als etwas Seiendes neben anderem, sondern als das Geschehen von Ent- und Verbergung. 24 Das Sein des Seienden sei als ein fortwährendes »Anwesen«, hier transitiv gemeint, aus der Verborgenheit zu denken. Anstelle von »Entbergen« oder »Anwesen« kann auch von Erscheinen gesprochen werden, wobei zu beachten ist, dass Heidegger das Erscheinen nicht vom Sein trennt und zum blo-

weil μέτρον im Hinblick auf πῦρ »die Weite, das Offene, die sich erstreckende, weitende Lichtung« bedeute. Vgl. Heidegger: Heraklit, S. 168 ff. Heidegger drängt auch hier auf eine Beachtung der Verbergung als Grundzug des Erscheinens. Der μέτρονBegriff wird vor dem Hintergrund des ἀλήθεια-Geschehens erläutert. Dieses schließe ein Verständnis von μέτρον als äußerlichem Gewichts- oder Längenmaß aus, das Entbergungsgeschehen erfolgt laut Heraklit aber in einem bestimmten Rhythmus, nach einer Ordnung. Das Maß ist in der Tat nicht äußerlich, dennoch wird mit μέτρον auch ein geregelter Ablauf – Held spricht von aufeinander folgenden »Weilen« – umschrieben, der in einer zeitlich und räumlich begrenzten Bemessung geschieht, eben so »wie es sich gehört«. Vgl. Held: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft, S. 407 f. Daher wird die Sonne in B 94 von Dike in ihren Bahnen gehalten. Buchheim erläutert dazu: »Ebenso ist die Sonne das, was sie ist, nur aufgrund ihrer Beziehung in ein Maß: die μέτρα der Sonne, ihre Bahnen, sind ihr nicht äußerlich verordnet, sondern es ist der Sonne, in diesen μέτρα zu sein.« Buchheim, Thomas: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, Hamburg 1986, S. 51. Die Ordnung ist folglich mit dem Erscheinen gleichursprünglich gegeben. Gadamer merkt mit Blick auf die ionische Kosmogonie zu B 30 an: »[Es geht] nicht darum, die angebliche Kosmologie in bloße Symbolik aufzulösen. Es geht vielmehr darum, in Heraklit eine neue Antwort auf die Erfahrung des Seins des Ganzen zu entdecken.« Gadamer: Griechische Philosophie. Bd. III, S. 72. 23 Herakl. B 64. 24 Dass das Wort λόγος von Heraklit im Zusammenhang mit der Verbergung gedacht wird, belegt auch das Frg. 93: »Der Herr, dessen das Orakel zu Delphi ist, spricht nicht aus (οὔτε λέγει) und verbirgt nicht (οὔτε κρύπτει), sondern gibt ein Zeichen (bedeutet).« Heidegger behauptet allerdings nicht, dass der Doppelcharakter der ἀλήθεια, die scheinbar paradoxe Struktur von Offenbarkeit und Verbergung durch die frühgriechische Philosophie oder Dichtung selbst schon bewusst thematisiert worden wäre. Die anfänglichen Denker und Dichter haben, so Heidegger, diesem Verständnis entsprochen, ohne dieses Entsprechen eigens zur Sprache zu bringen. Vgl. Heidegger: Parmenides, S. 19; Helting: »Ἀλήθεια«, S. 51 f.

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ßen Schein degradiert. 25 Die philosophische Trennung von Sein und Schein wird erst bei Platon vollzogen. In Anlehnung an die ἀλήθεια-Auslegung übersetzt Heidegger das Wort φύσις mit »das immerdar Aufgehen«. 26 »Die Natur« sei für das frühe griechische Denken demnach kein gesonderter Bereich des Seienden, zu dem alles Lebendige gezählt werden müsste, sondern als das Aufgehen eine Kennzeichnung des Seins. 27 Jede Zuordnung des Seienden zu bestimmten Bereichen setze bereits voraus, dass das Seiende sich von sich aus gezeigt hat, in die Anwesenheit gelangt ist. Das Anwesen selbst könne nie untergehen. Selbst das Untergegangene oder Vergangene bleibe in gewisser Weise anwesend. Wäre dem nicht so, hätte es kein Sein und könnte nicht als etwas Gewesenes genannt werden. In Frg. 16 fragt Heraklit: »Wie kann man verborgen (λάθοι) bleiben vor dem, das nie untergeht?« 28 Das nie Untergehende ist laut Heidegger das, was fortwährend aufgeht, die φύσις. Die Frage besage aber noch mehr. Der Mensch selbst stehe in einem Verhältnis zur φύσις, insofern er sich vor ihr nicht verschließen könne und sich in der Unverborgenheit aufhalte. »Jedwedes Seiende, das rufbar ist nur durch das ›Wer bist du?‹ und ›Wer seid ihr?‹ und nie durch ein ›Was ist das?‹, ›Was ist jenes?‹, jedes nur durch das Wer rufbare Seiende ist, sofern es ist, in der ἀλήθεια – in der Unverborgenheit.« 29 Dem Vernünftigen fällt nach Heraklit die Aufgabe zu, das Wahre zu sagen und in »Übereinstimmung mit der Natur« zu handeln. 30 Ein Bezug der φύσις zur ἀλήθεια wird auch in Frg. 123 angedeutet. Dort heißt es: »Das Wesen (φύσις) der Dinge versteckt sich gern.« 31 Die Wortwurzel φυ hat die Bedeutung »wachsen«, φύ-σις Vgl. Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik. Jaeger, Petra (Hg.), GA 40, Frankfurt a. M. 1983, S. 108 u. 116 f. 26 Vgl. Heidegger: Heraklit, S. 110. 27 Vgl. Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 108 f.; Helting: »Ἀλήθεια«, S. 55 ff. Zur kritischen Diskussion der von Heidegger hergestellten Identifikation von ἀλήθεια sowie φύσις mit »Sein« vgl. Hadot, Pierre: The Veil of Isis. An Essay on the History of the Idea of Nature, Cambridge (Mass.) London 2006, 303 ff. 28 Herakl. B 16. Zur Auslegung vgl. auch De Gennaro: »Heidegger und die Griechen«, 98 ff. 29 Heidegger: Heraklit, S. 174. 30 »Verständiges Denken (σωφρονεῖν) ist höchste Vollkommenheit, und die Weisheit ist, Wahres zu sagen und zu tun nach dem Wesen (φύσιν) der Dinge, auf sie hinhorchend.« Herakl. B 112. 31 Ebd., B 123. Zum heraklitischen φύσις-Begriff vgl. Heinimann, Felix: Nomos und 25

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kann sowohl »das Wachsen« als auch »das Gewachsene« bezeichnen. Im Hinblick auf diese Doppeldeutigkeit des Wortes bedeutet das Fragment, so Günther, dass sich »das Wachsen […] im Gewachsenen [verbirgt]«. 32 Veranschaulichen lässt sich der Charakter der φύσις, insofern an das Sprießen eines Triebes oder das Aufgehen einer Blüte gedacht wird. Allerdings muss dabei berücksichtigt werden, dass das φύσις-Verständnis nicht ausgehend von der Beobachtung solcher Naturvorgänge auf andere Gebiete des Seienden übertragen wurde. Jedes Seiende – Götter, Menschen, Tiere, Pflanzen usw. – ist dem heraklitischen Verständnis entsprechend nur präsent, insofern es aus dem Verborgenen, aus der Verhüllung oder Unauffälligkeit heraustritt und sich in der Weise, wie es wesentlich ist, zeigt. 33 Das für die Erläuterung des φύσις-Verständnisses in der Forschungsliteratur häufiger gewählte Blüten-Beispiel besagt, dass das Wesen der Blüte nur vom Blühen her gefasst werden kann, aber nicht, indem z. B. die Blüte als Fortpflanzungsapparat vorgestellt wird. An dem Beispiel wird ersichtlich, wie nahe »die Wahrheit« mit der Erscheinungsweise verbunden ist, sie liegt nicht als Idee hinter den Dingen, sondern zeigt sich in der Seinsweise, im Wechselspiel von Erscheinung und Verbergung. In der Interpretation Heideggers werden die griechischen Grundworte ἀλήθεια, λόγος und φύσις gleichermaßen vom »Aufgehen in die Unverborgenheit« her, also im Hinblick auf die Erscheinungsweise, ausgelegt. Die Eingrenzung des φύσις-Begriffs auf das »naturhaft Seiende« in der Unterscheidung zu Kunst und Technik erfolgte erst im platonischen Denken. 34 Im Kontext einer Untersuchung der Anfänge des rechtsphilosophischen Denkens ist es bezeichnend, dass der umgreifende φύσις-Begriff 35 zuvor schon zugunsten der Unterscheidung von φύσις und νόμος aufgebrochen wird. Damit die TiefendiPhysis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts, Darmstadt 1978, S. 92 ff. 32 Günther: Grundfragen des griechischen Denkens, S. 132. 33 Das schließt nicht aus, dass auf der Grundlage eines solchen Seinsverständnisses mit dem φύσις-Begriff, z. B. in der Ethnographie oder Medizin, weitere unterschiedliche Bedeutungen verknüpft wurden. Siehe dazu Heinimann: Nomos und Physis, S. 96–108. 34 Vgl. Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 18 f. 35 Der allumfassende Charakter der Physis wird bei Heraklit auch aus Frg. 1 ersichtlich, in dem er davon spricht, die Worte und Werke der Menschen ihrer Physis gemäß zu interpretieren. Schadewaldt deutet die Physis als die »gewachsene Wesensform« einer Sache. Vgl. Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Philosophie bei den Grie-

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mension dieser durch die Sophistik artikulierten Veränderung rechtsphilosophischer Prämissen deutlich werden kann, wird mit der Erläuterung des Zusammenhangs von λόγος und νόμος sowie δίκη und ἔρ [(i???)]ς/πόλεμος fortgefahren. Es handelt sich um eine »Veränderung der Prämissen«, weil zwischen der φύσις bei Heraklit und der φύσις bei den Sophisten kein gradueller Unterschied besteht, so als ob der Begriff hier allgemeiner und dort spezifischer gemeint wäre, sondern ein ontologischer. Bei Heraklit geht es um eine Seinsauslegung, bei den Sophisten um einen Bereich des Seienden. Obwohl der λόγος, das »beisammen-vor-liegen-Lassen«, alles Seiende kennzeichnet und daher das All-gemeine ist, verhalten sich die Vielen so, »als hätten sie ein Denken für sich«. 36 Obwohl sie Anwesende sind, sind sie abwesend. 37 Über die Vielen äußert sich Heraklit auch in anderen Sprüchen zumeist abfällig. 38 Sie verhalten sich zum λόγος wie Unerfahrene und Schlafwandler. 39 Sie sind jene, »[d]ie zu hören nicht verstehen noch zu sprechen«. 40 Und auch die Fragmente 9 und 97 beziehen sich wohl auf die Vielen. Das Scheinendste übersehen sie und sind deshalb wie Esel, welche die Spreu dem Gold vorziehen. 41 Sie behaupten ihren Unverstand wie Hunde, »[d]enn Hunde kläffen sogar an, wen sie nicht kennen«. 42 Desgleichen verurteilt Heraklit die Genusssucht, die Teilnahmslosigkeit, das starre Festhalten an der Tradition sowie das Streben nach Reichtum. 43 Aber heißt das, dass die Vielen dem λόγος nicht entsprechen können? Formulierungen wie »drum tut es not« oder »nicht soll man« legen bereits nahe, dass Heraklit sich dennoch um seine Mitmenschen sorgt und ihnen einen Weg zur Einsicht zu weisen versucht. Der λόγος kann dem Menschen nicht prinzipiell verschlossen sein, da der Mensch sich dem nie Untergehenden nicht entziehen kann. In Frg. 72 erläutert Heraklit, dass der λόγος trotz des Unverständnisses der Menschen das Vertrauteste für den Menschen bleibt. »Mit dem sie chen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen Band 1. Schudoma, Ingeborg (Hg.), Frankfurt a. M. 1978, S. 358. 36 Herakl. B 2. 37 Vgl. ebd., B 34. 38 Vgl. Vamvacas, Constantin J.: Die Geburt der Philosophie. Der vorsokratische Geist als Begründer von Philosophie und Naturwissenschaften, Düsseldorf 2006, S. 178. 39 Vgl. Herakl. B 1. 40 Ebd., B 19. 41 Vgl. ebd., B 9. 42 Ebd., B 97. 43 Vgl. ebd., B 4, 29, 74, 125a.

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am engsten verkehren, dem Sinn, von dem kehren sie sich ab, und worauf sie täglich stoßen, das erscheint ihnen fremd.« 44 Weil der Bezug zum λόγος nicht abreißen kann, kann Heraklit gleichermaßen erklären: »Gemeinsam ist allen das Denken.« 45 »Den Menschen allein ist zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken.« 46 Was ändert sich nun, wenn die Menschen den λόγος vernehmen? In welcher Beziehung steht der λόγος zur Polis? Heraklit behauptet, dass es vor allem im Bereich des Politischen darauf ankomme, dass das vom λόγος vorgeschriebene Maß (μέτρον) eingehalten und die Hybris bekämpft wird. »Vermessenheit (ὕβριν) ist zu löschen mehr als Feuersbrunst.« 47 Der Mensch ist nicht schlicht dem Schicksal unterworfen, sondern frei, sodass er sich von seinem Eigensinn befreien und das Gemeinsame erkennen kann. 48 Was aber ist das Gemeinsame für die πόλις? Frg. 114 besagt, dass die ἀνθρώπειοι νόμοι sich von einem göttlichen nähren, das mit dem λόγος verbunden ist, weil es ebenso wie der λόγος allem gemein ist. An anderer Stelle sagt Heraklit, dass das Volk für sein Gesetz kämpfen soll wie für die Stadtmauer. 49 Ebenso wie es dem λόγος entspricht, »eins ist alles« zu sagen, wird die Einheit der Polis durch das Gesetz gestiftet. Erst der νόμος verwandelt den δῆμος in eine πόλις. Aber die Polis hat nur dann Bestand, wenn ihre Gesetze dem einen göttlichen Gesetz entsprechen. Was aber ist das göttliche Gesetz? Für eine Annäherung an das heraklitische νόμος-Verständnis mag es hilfreich sein, kurz einige frühere Äußerungen über den νόμος anzuführen und zu erläutern. 1.2. Νόμος und δίκη bei Hesiod Bei Hesiod heißt es ca. 700 v. d. Z. über νόμος und δίκη: Perses, du aber laß dir das Herz nun bewegen: Höre du jetzt auf das Recht und schlag die Gewalt aus dem Sinn dir! Denn ein solches Gesetz erteilt den Menschen Kronion: Ebd., B 72. Ebd., B 113. 46 Ebd., B 116. Heraklit ist der erste, der die Gesundheit der Seele (ψυχή) zum Gegenstand der Sorge macht. Vgl. B 110, 118. 47 Herakl. B 43. 48 Vgl. Vamvacas: Die Geburt der Philosophie, S. 179. 49 Vgl. Herakl. B 44. 44 45

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Fische zwar sollten und wildes Getier und gefiederte Vögel fressen einer den andern, weil unter ihnen kein Recht ist. Aber den Menschen gab er das Recht bei weitem als bestes Gut. 50

Ebenso wie bei Heraklit ist bei Hesiod der νόμος göttlichen Ursprungs. Zeus hat den νόμος über die Menschen verfügt, dem Recht folgen zu können. Dieser übergeordnete νόμος ist kein Gesetz im juridischen Sinne und geht auch nicht auf politische Bestimmungen zurück. Ebenso wenig handelt es sich um eine moralische Norm, die ein Verhalten vorschreiben würde, sondern laut Busolt »[um] das Verhalten selbst, in dem die von der Gottheit bestimmte Natur der verschiedenen Arten der lebenden Wesen zum Ausdrucke kommt«. 51 Insofern schließt der von Zeus verfügte νόμος mit ein, dass unter den Tieren kein Recht sei, sondern Gewalt herrsche. 52 Νόμος ist die »Weltordnung«, die übereinstimmend mit der φύσις diesen Unterschied zwischen Menschen und Tieren festlegt. Heißt das, dass Gewalt laut Hesiod aus der Welt der Menschen auszuschließen ist? Die eben zitierte Textstelle legt dies ebenso wie die folgende nahe: Horkos, der Hüter des Eids, verfolgt jede Biegung des Rechtes (δίκῃσιν), wenn der Stromlauf des Rechts sich krümmt nach der Habgier der Männer, die das Gesetz sich biegen zurecht und fällen das Urteil. Dike jedoch geht weinend durch Städte und Länder der Völker, schwebt in luftigem Kleid und bringt den Menschen Verderben, die sie jagten hinaus und nicht gerade verteilten. Die aber jedem sein Recht, dem Fremden und Heimischen, geben ganz und gerad und sich nirgends vom Pfad des Rechten entfernen, denen gedeiht die Stadt, die Menschen blühen darinnen, Friede liegt über dem Land und nährt die Jugend, und niemals drückenden Krieg verhängt über sie der Weitblick Kronions. Auch kein Hunger verfolgt gerade richtende Männer, Schaden bleibt ihnen fern, nur Glück erblüht ihren Werken. 53

Die Textstelle ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, da einige Formulierungen auf Verständnisweisen von Recht und Gerechtigkeit hindeuten, die erst viel später philosophisch ausgearbeitet wurden. Ebenso wie in der modernen Rechtsprechung mit dem Begriff Hes. op. 273–279. Busolt, Georg: Griechische Staatskunde. Erste Hälfte: Allgemeine Darstellung des griechischen Staates, 3. Aufl., München 1920 [Nachdr. 1979], S. 456. 52 Vgl. Heinimann: Nomos und Physis, S. 62. 53 Hes. op. 218–230. 50 51

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»Rechtsbeugung«, also der bewusst falschen, interessengelenkten Anwendung des Rechts etwas Krummes, Ungerades assoziiert wird, spricht auch Hesiod von einer Biegung des Rechts. In Verszeile 223 heißt es dann, dass den Menschen Verderben daraus erwächst, das Recht »nicht gerade verteilt« zu haben. Aus der Ferne scheint sich hier bereits der Gedanke einer Verteilungsgerechtigkeit anzukündigen. Die Formulierung, dass »jedem sein Recht« zu geben sei, erinnert an den Kernsatz der platonischen Gerechtigkeitslehre »jedem das Seine«. Insbesondere ist hervorzuheben, dass Hesiod die Gabe des Rechts nicht bloß in der Heimatstadt anerkannt wissen will, sondern ebenso gegenüber Fremden. So »modern« all das anmutet 54, nicht übersehen werden darf, dass bei Hesiod mit δίκη keine Schutzrechte verbunden sind. Δίκη ist eine Göttin; wird das Recht gebeugt und damit der Weltordnung zuwider gehandelt, dann drohen den Menschen Verderben, Krieg und Hunger – Strafen, die von Zeus verhängt werden. Die Menschen können das Recht und den göttlichen Nomos nicht ändern, aber sie können sich an der göttlichen Ordnung orientieren, um die Hybris und die darauf folgenden Strafen zu vermeiden. Das Recht dient nicht der Rache oder Vergeltung, sondern dem Ausgleich. 55 Δίκη entsendet die Rachegöttinnen, damit der vormalige harmonische Grundzustand wiederhergestellt wird. Ebenso wie bei Heraklit 56 verdeutlicht auch ein Ausspruch Solons, dass der Zustand der Ausgeglichenheit nicht nur in den Rechtsverhältnissen der Polis, sondern auch in der äußeren Natur derjenige Zustand ist, in dem etwas in sich ruht. Das Frg. 11 lautet: »Von den Winden wird das Meer aufgerührt. Wenn es aber keiner bewegt, dann ist es von allen Dingen das Gerechteste (δικαιοτάτη).« 57 Dem Recht kommt, so Heinz Barta z. B. behauptet, dass die von Homer, Hesiod und Solon vertretenen »Grundwerte« Freiheit und Gleichheit zusammen mit der Gottesfurcht eine Trias gebildet hätten, aus der Demokratie und Menschenrechte entstanden seien. Vgl. Barta, Heinz: »Graeca non leguntur«? Zu den Ursprüngen des europäischen Rechts im antiken Griechenland, Bd. I, Wiesbaden 2010, S. 336. Siewert vertritt die Ansicht, dass Hesiod einen Rechtsschutz »menschenrechtlichen Charakters« gefordert habe. Siewert, Peter: »Zur Frage der Universalität der Menschenrechte bei den antiken Autoren«, in: Aigner-Foresti, Luciana/Barzanò, Alberto/Bearzot, Cinzia/Prandi, Luisa/ Zecchini, Giuseppe (ed.): L’ecumenismo politico nella coscienza dell’Occidente, Roma 1998, S. 33. 55 Vgl. Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, S. 112. 56 Vgl. Herakl. B 94. 57 Sol. Frg. 11 (Übers.: Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, S. 118). Schadewaldt merkt dazu an: »Dies in sich selbst Ausgeglichensein, Ungestört54

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Schadewaldt, die Funktion eines Korrektivs für begangenes Unrecht zu. Mit »Ausgleich« ist nicht ein bloßes Nullsummenspiel von Recht und Unrecht gemeint. Im Zustand der Gerechtigkeit befindet sich das Seiende, das nicht von äußeren Kräften bewegt wird und sich somit in seinem Wesen als das, was es ist, zeigen kann. Das ruhige Meer ist vielleicht deshalb »gerechter« als das stürmische und aufgewühlte, weil in der Ruhe die dem Meer eigentümliche Weite ersichtlich wird. 58 Im Gegensatz zur heraklitischen Auffassung umfasst der von Hesiod genannte νόμος aber nicht das Seiende im Ganzen, sondern die belebte Natur. 59 Hesiod glaubte in einem Zeitalter des Niedergangs und der sittlichen Verrohung, dem »Eisernen Zeitalter«, zu leben. In Werke und Tage berichtet er in Form einer Fabel über sein Schicksal. Darin spricht ein Habicht herrisch zu einer Nachtigall, die er in den Krallen hält: Was denn, Verblendete, schreist du? Ein Stärkerer hält dich gefangen. Dorthin mußt du, wohin ich dich bringe, und bist du auch Sänger. Fressen tu ich dich, ganz wie ich Lust hab, oder ich laß dich. Nur einen Narren verlockt es, mit stärkeren Gegnern zu kämpfen. Sieg ist ihm versagt, und zur Schande leidet er Qualen. 60

Hesiod befand sich in einem Rechtsstreit mit seinem Bruder, der die Richter bestochen hatte. In der Fabel sind sie die Habichte, er selbst identifiziert sich dagegen mit der Nachtigall. 61 Der Habicht beruft sich auf das unter den Tieren geltende Recht des Stärkeren. Die Textstelle belegt erneut, dass unter Tieren der νόμος der Gewalt gilt. Dass Hesiod hier aber die Nachtigall der Gewalt ausgeliefert sieht und ihr Dasein mit der Bestimmung »und bist du auch Sänger« deutlich von

sein und Ruhen, das ist die Vorstellung, die man griechisch einfach mit diesem Wort wiedergeben kann. Von irgendeinem Handeln kann keine Rede sein, es geht nicht um Gerechtigkeit im Sinne eines praktischen Tuns. […] Es gibt kaum ein besseres Zeugnis für das, was dike als Begriff und als lebendige Vorstellung bedeutet, als dieses Fragment 11.« Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, S. 118 f. 58 Nach Herodot entspricht der Ruhezustand des Meeres seinem Wesen (φύσις). Vgl. Hdt. VII, 16. Siehe auch Heinimann: Nomos und Physis, S. 96. 59 So Kullmann, Wolfgang: Naturgesetz in der Vorstellung der Antike, besonders der Stoa. Eine Begriffsuntersuchung, Stuttgart 2010, S. 14. 60 Hes. op. 206–210. 61 Vgl. Pleger, Wolfgang H.: Die Vorsokratiker, Stuttgart 1991, S. 45 f. Hesiod war auch als Sänger sehr erfolgreich. Vgl. Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, S. 84.

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dem des Habichts, der als Greifvogel nur rufen, aber nicht singen kann, abgrenzt, kann als Hinweis auf eine weitere Wortbedeutung von νόμος verstanden werden, die auf den ersten Blick mit der von »Brauch« und »Sitte« nichts zu tun hat. »Νόμος« hat im Griechischen auch die Bedeutung von »Gesang«. Der älteste Beleg dafür fällt ebenfalls in das 7. Jahrhundert und stammt von dem Dichter Alkman, der sagte: »Ich kenne die Nomoi aller Vögel«. 62 Pindar verwendet das Wort in beiden Bedeutungen. In einem Fragment heißt es: »Sie hörten den von dem Gott gebauten Klang – der Nomoi.« 63 Und an anderer Stelle: »[D]ie Sitte sei aller Wesen König.« 64 Georgiades hat versucht, den möglichen Zusammenhang zwischen der musikalischen und der sittlichen Bedeutung zu erläutern. Was sind die Nomoi der Vögel? Die Amsel singt, und Alkman erkennt den Nomos der Amsel. Aber was Alkman Nomos nennt, »ist« nicht »da«, ist nicht vorhanden. Was die Amsel jeweils singt, ist nie genau dasselbe. Doch kann er unterscheiden: Das ist der Nomos der Amsel oder der Nomos der Nachtigall. Insofern »sind« die Nomoi der Vögel »da«, unabhängig von ihrer Aktualisierung, von ihrem jeweiligen Hörbarwerden. […] Diese Umschreibung erfaßt zugleich den Sinn des Nomos überhaupt. Nomos ist etwas Geltendes und insofern gleichsam Immerwährendes, das aber nur in der jeweiligen Anwendung volle Realität erlangt. Es ist nichts Sichtbares, Vorhandenes, sondern etwas, das eine Weisung setzt, eine Richtung weist, dem Menschen anzeigt, was zu tun ist: was er tun soll, tun darf – oder auch, was man zu tun pflegt. 65

Die Vogelgesänge unterscheiden sich zwar und sind dennoch gleichermaßen Gesang. Beim menschlichen Gesang wird das Einssein von Selbigkeit und Verschiedenheit noch deutlicher. Jeder Mensch hat eine eigene Stimme, so dass dasselbe Lied von jedem anders gesungen wird. Selbst dann, wenn der Singende ein Stück nochmals singt, singt er es nicht in genau der gleichen Weise. Obwohl der Gesang also immer ein anderer ist, ist er als Gesang immer identifizierbar, indem er auf etwas fortwährend Selbiges, eine bestimmte geordnete Tonfolge, verweist. 66 Die Analogie von musikalischem und Zitiert nach Georgiades, Thrasybulos Georgos: Nennen und Erklingen. Die Zeit als Logos. Bengen, Irmgard (Hg.), Göttingen 1985, S. 101. 63 Pind. Frg. 23: νόμων ἀκούοντες θεόδματον κέλαδον (Übers. aus: ebd., S. 101). 64 Hdt. III, 38: νόμον πάντων βασιλέα φήσας εἶναι. 65 Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 102 f. Vgl. ferner Theunissen, Michael: Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München 2000, S. 971 ff. 66 Vgl. Heinimann: Nomos und Physis, S. 64 f. 62

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sittlichem νόμος besteht demnach darin, dass beide in ihrer Vollzugsweise zwar bekannt sind, aber dennoch ungreifbar und unvorhersehbar bleiben. Νόμος ist in diesem allgemeinen Sinne eine »ungeschriebene Ordnung« 67, die vorgibt, wie etwas getan wird. Bei Hesiod heißt es, dass Zeus den νόμος »erteilt«. »Νέμειν« heißt auch »zuweisen« oder »weiden lassen«. Der νόμος ist zwar nicht vom Menschen festgelegt worden, aber er ist auch nicht das, was der Mensch einfach nur passiv hinnimmt. Vielmehr zeigt sich unmittelbar am Zustand der Polisordnung, ob der νόμος verwirklicht oder den Menschen entzogen ist. Je mehr sich im politischen Handeln und in den Gesetzen die ungeschriebene Ordnung zeigt, desto stärker die Einheit der Polis. 1.3. Δίκη im Verhältnis zu ἔρις/πόλεμος Aus dem Gesagten kann geschlossen werden, dass der göttliche νόμος auch für Heraklit nicht nur ein allgemein anerkanntes politisches Gesetz ist, sondern jene Ordnung, die zugleich da und nicht da ist. Allerdings wird bei Heraklit deutlicher, dass mit dem νόμος nicht direkt der Weg zu einer »guten Ordnung« vorgegeben ist, sondern zur Harmonie der Ordnung auch das Widersprechende gehört. Die »Einheit« der Polis resultiert demnach nicht aus der bloßen Übereinstimmung der Meinungen, sondern daraus, dass das Einigende in den auseinanderstrebenden Meinungen der Einzelnen überwiegt. In der Einheit bleibt das Gegenstrebige bewahrt. 68 So wie Bogen und Leier in der gegenstrebigen Bewegung eine Harmonie erzeugen, wird auch die Polis vom Widerspruch zwischen Recht und Unrecht getragen. Wie oben bereits anhand anderer Beispiele dargestellt wurde, darf der »Widerspruch« hier aber nicht dialektisch verstanden werden. Recht und Gesetz sollen nicht dazu dienen, das Unrecht aus der Welt zu schaffen. »Des Rechtes (Δίκης) Namen kennten sie nicht, wenn dies nicht wär (das Ungerechte?).« 69 Mit der Setzung des Rechts wird in diesem Sinne der Zwist nicht ein für alle Mal beigelegt. Vielmehr ist das Recht selbst Streit (ἔρις): »Zu wissen aber tut not: Der Krieg (πόλεμον) führt zusammen, und Recht ist Streit, und alles Leben entVgl. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, Tübingen 2002, S. 35. 68 Vgl. Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 139 f. 69 Herakl. B 23. 67

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steht durch Streit und Notwendigkeit.« 70 Böckenförde meint, dass das Fragment von einem »prozedurale[n] Verständnis von Recht« zeugt, »demzufolge Recht aus dem Disput der Parteien, aus gegenseitiger Auseinandersetzung und deren Beendigung durch Befriedung im Rechtsspruch oder schlichtenden Kompromiß hervorgeht«. 71 Mit dieser Interpretation wird jedoch die Aussage, dass Recht Streit ist, übergangen. Vermutlich darf die Bestimmung von δίκη hier nicht zu schnell auf den Bereich des Polisrechts eingeschränkt werden, zumal laut Heraklit alles Leben seine Entstehung dem Streit verdankt. In der Übersetzung Snells wird δίκη mal mit »Recht«, mal mit »Gerechtigkeit« übersetzt. Es ist unwahrscheinlich, dass Recht und Streit bei Heraklit als einander ausschließende Gegensätze gedacht werden oder einander bedingen, in dem Sinne, dass gesetztes Recht immer wieder zu neuen Streitigkeiten führe, welche durch neues Recht beizulegen seien. Im Fragment wird an keiner Stelle dargelegt, dass der Streit primär auf politische oder überhaupt zwischenmenschliche Streitigkeiten begrenzt ist. In der Theogonie Hesiods erscheint Ἔρις als jene Göttin, die die Verbergung, die Λήθη, gebiert. 72 Das Wort λήθη ist in ἀλήθεια enthalten, das, wie oben erläutert wurde, mit »Unverborgenheit« übersetzt werden kann. Die Textstelle aus der Theogonie weist laut Heidegger darauf hin, dass ἔρις im Zusammenhang mit dem Erscheinen des Seienden aus der Verbergung zu denken ist. 73 Aus dem Widerstreit von Offenbarkeit und Verborgenheit gehe Seiendes hervor. Seiendes sei Anwesendes und somit für den Menschen sichtbar, denkbar, vorstellbar, erinnerbar usw. Was aber sind nun ἔρις und δίκη? Wenn beide im Zusammenhang mit dem Prozess des Erscheinens vom Seienden im Ganzen zu denken sind, dann können sie selbst nicht ein abgegrenzter Gegenstandsbereich innerhalb des Seienden sein. Ἔρις und δίκη sind also keine Gegenstände der Vorstellung. Weil der Mensch, wie anhand von Frg. 16 dargestellt wurde, der Anwesenheit von Seiendem nie entzogen sein kann, kann er auch vor dem Zusammenspiel von ἔρις und δίκη nie gänzlich verborgen bleiben. Im Gegenteil: Ἔρις und δίκη wirken an der Anwesenheit des Seienden – also an der »Wahrheit« als ἀλήθεια – mit, sodass der Mensch stets schon durch beide in Anspruch genom70 71 72 73

Ebd., B 80. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 40. Vgl. Hes. theog. 226 f. Vgl. Heidegger: Parmenides, S. 106 ff.

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men ist. 74 Der »Gerechtigkeit« und dem »Streit« gegenüber kann sich der Mensch nicht verschließen, weil es bezüglich beider kein Gegenüber gibt. Das Frg. 80 gibt demzufolge in erster Linie Auskunft über das Wesen der Wahrheit. Es gehört zum Wesen der Wahrheit, strittig zu sein und gleichermaßen Einheit und Maß des Seienden, also »Gerechtigkeit«, zu verfügen, wobei »Wahrheit« hier eben nicht aristotelisch als Richtigkeit der Aussage zu verstehen ist, sondern als Anwesenheit 75. Voegelin spricht von einem »kosmischen Drang der Eris, der alles ins Dasein bringt«. 76 Heraklits Polemik gegen Hesiod stützt sich möglicherweise auch darauf, dass Hesiod das Zusammengehören von Recht und Streit nicht von der Zwiespältigkeit der Wahrheit her versteht. 77 Am Rande sei an dieser Stelle angemerkt, dass der in Frg. 80 erwähnte »Krieg« (πόλεμος) in einem ähnlichen Sinne wie ἔρις zu interpretieren ist. Das heißt, dass auch der »Krieg« an der Anwesenheit des Seienden in seiner Einheit mitwirkt und nicht auf kriegerische Handlungen zwischen Menschen bezogen ist. 78 So wie ἔρις auf die Maß haltende, Ordnung stiftende Gerechtigkeit verwiesen bleibt, heißt es über den πόλεμος, dass er »zusammenführt« und »aller Dinge Vater ist«. Das Frg. 53 lautet vollständig: »Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die andern als Menschen, – die einen läßt er Sklaven werden, die anderen Freie.« 79 In ihm wird häufig ein Zeugnis für den agonalen Geist der Griechen gesehen, obwohl die Versklavung der geschlagenen Feinde oder gar der gesamten Polisbevölkerung in der Folge von Kriegshandlungen eher die Ausnahme war. 80 Die Angabe, dass der Krieg die einen als Götter erweise, deutet jedoch darauf hin, dass es Heraklit hier nicht darum geht, die unterschiedlichen menschlichen Schicksale Vgl. zu »ἔρις« ebd., zu »δίκη« Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 169. Siehe auch Günther: Grundfragen des griechischen Denkens, S. 148 f. 75 Vgl. ebd., S. 194 f. 76 Voegelin: Ordnung und Geschichte, Bd. V, S. 100. 77 Das könnte auch der Grund dafür sein, weshalb Heraklit, wie Aristoteles berichtet, diesen Spruch Homers gescholten haben soll: »Daß doch der Streit, der verwünschte, aus Göttern und Menschen verschwände!« Aristot. eth. Eud. VII, 1, 1235a. 78 Vgl. Stadler, Christian: Krieg, Wien 2009, S. 17 ff. 79 Herakl. B 53: πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς, καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους. 80 »[W]eithin waren die Kriege Turnierkriege«. Meier, Christian: »Die griechisch-römische Tradition«, in: Joas, Hans/Wiegandt, Klaus (Hg.): Die kulturellen Werte Europas, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2005, S. 98. 74

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infolge eines Krieges zu beschreiben. Die Erhebung von Menschen zu Göttern bliebe trotz größter Kriegsleistungen für Heraklit immer noch Hybris. 81 Auch die mögliche Annahme, dass die Götter sich ebenso wie die Menschen durch Kriegsleistungen auszuzeichnen hätten, ist haltlos. Die Götter greifen zwar in Kriegshandlungen ein, aber sie erweisen sich dadurch nicht erst als Götter. Unklar bliebe auch, weshalb und wie der Krieg als König über die Götter, die zu »allen Dingen« gerechnet werden müssen, thronen soll. Aus diesen Einwänden wird freilich noch nicht deutlich, weshalb der πόλεμος nun in einem ontologischen Sinne zu verstehen ist. Mit dem Wort »ontologisch« möchte ich hier nicht darauf hinweisen, dass der πόλεμος nur im Rahmen der Metaphysik als einem Bereich der philosophischen Systematik zu interpretieren wäre, sondern vielmehr von einer Erfahrung des Seins kündet. Sein im Sinne der Anwesenheit kann es demnach nur dort geben, wo der πόλεμος waltet. [Π]όλεμος ist das Auseinanderstrebende, der Gegenbegriff zu ἁρμονία; er thematisiert dasselbe unter einem gegensätzlichen Aspekt; ἁρμονία und πόλεμος sind zwei in widersprüchlicher Weise aufeinander bezogene Grundworte für dasselbe: die Entzüglichkeit des Grundes der sich dem Menschen darbietenden Erscheinung. 82

Die Übersetzungen »Krieg« oder »Kampf« verdecken den eigentlichen Sachverhalt mehr als sie ihn erhellen, passender sind »Unterschied«, »Differenz« oder »Auseinandersetzung« 83, wobei zu beachten ist, dass die Unterscheidbarkeit von Seiendem für die Griechen ursächlich nicht auf menschliche Vermögen zurückgeführt wird, sondern in der Art und Weise, wie Seiendes ins Erscheinen gelangt, angelegt ist. Nur deshalb, weil jedes Seiende von anderem differenziert sein muss, um überhaupt zu sein, waltet die Differenz »vor« allem Seienden als »König«, sie thront über allen Dingen, Göttern und Menschen. Freie kann es nur dort geben, wo es auch Sklaven gibt oder zumindest die Unterscheidung zum Zustand der Unfreiheit präsent Kirk, Raven und Schofield nehmen dagegen an, dass der Tod in der Schlacht Menschen zu Göttern machen könne. Vgl. Kirk/Raven/Schofield: Die vorsokratischen Philosophen, S. 212. 82 Günther: Grundfragen des griechischen Denkens, S. 149. 83 Vgl. Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 66. Voegelin sieht im πόλεμος bei Heraklit »das beherrschende Symbol für die Ordnung der Welt«. Vgl. Voegelin: Ordnung und Geschichte, Bd. V, S. 95. 81

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bleibt. Freiheit und Sklaverei werden demnach durch die Auseinandersetzung zusammengeführt, also gegenstrebig gefügt. Heraklit erwähnt die Differenzierungen nicht, um sie bloß in ihrer Widersprüchlichkeit nebeneinander stehen zu lassen oder in einer höheren Synthese vereinen zu wollen, sondern um ihr Zusammenspiel in der Einheit des Seienden zu verdeutlichen. Das heißt auch, dass weder Freiheit noch Unfreiheit je in Reinform verwirklicht werden können. Aber weshalb führt er ausgerechnet das Beispiel von Freien und Sklaven an, um das Walten des πόλεμος zu verdeutlichen? Dass hiermit in irgendeiner Weise, Seneca vorwegnehmend, angedeutet werden soll, dass das Schicksal des Krieges Freie zu Sklaven und umgekehrt Sklaven zu Freien macht, kann ausgeschlossen werden. Vermutlich werden die Unterscheidungen Götter – Menschen, Freie – Sklaven eher angeführt, weil sie für das Leben der Griechen die bedeutsamsten sind. Der Unterschied von Freien und Sklaven scheint für Heraklit ebenso unüberwindbar zu sein wie der von Göttern und Menschen. Er verweist dennoch auf die Götter, weil sie nach der mythischen Überlieferung diejenigen sind, die die Welt geschaffen haben. Indem Heraklit den πόλεμος als König über die Götter stellt, wendet er sich gegen die Tradition und hebt hervor, dass das Bestehen der Welt nur auf philosophischem Wege zureichend erhellt werden kann, nicht auf religiösem. Das Zusammenspiel von ἔρις und δίκη betrifft, wie oben dargelegt, die Erscheinungsweise von allem Seienden. So wie die Göttin Δίκη einschreiten würde, wenn die Sonne (Ἥλιος) ihre Bahn verließe 84, so »wird sie fassen der Lügen Schmiede und Zeugen« 85 im Bereich der Polis. Der göttliche Nomos ist auf das Eine ausgerichtet (versus unum) und in diesem Sinne universal. Das Gesetz »herrscht soweit es will und reicht hin im All und setzt sich durch«. 86 Sowohl für die »Naturgesetze« als auch für die von Menschen verfassten Gesetze gilt ein Nomos und Δίκη richtet in beiden Fällen. Gesetz und Recht werden nicht erst durch den Menschen konstituiert oder bestimmt. Die Menschen können im besten Falle die politisch-rechtliche Ordnung einsichtsvoll an der universalen ausrichten, welche selbst ewig ist und ohne Einschränkung gilt. 87 84 85 86 87

Vgl. Herakl. B 94. Ebd., B 28. Ebd., B 114. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass der Gedanke der Ewigkeit nicht an

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Die Einsicht in den göttlichen Nomos kommt unter Umständen nur einem Einzelnen zu. »Gesetz ist auch, dem Willen eines Einzelnen zu folgen.« 88 Da der νόμος sich vom λόγος nährt, kann ausgeschlossen werden, dass Heraklit in Frg. 33 das Gesetz plötzlich der Willkür eines Einzelnen überlassen wollte. Ebenso zeugt Frg. 49 – »Einer gilt mir zehntausend, so er am meisten taugt« 89 – nicht von einem vermeintlichen Standesdünkel Heraklits. Ein Einzelner kann für den Erhalt oder die Einrichtung einer Polisgemeinschaft so bedeutend sein wie zehntausend, wie die bloß zusammengezählte Menge der Bewohner, insofern er eine Ordnung stiftet, die harmonisch in den λόγος gefügt ist und somit die πόλις als Einheit überhaupt erst entstehen lässt. Möglicherweise dachte Heraklit an den Gesetzgeber, denn zu seinen Lebzeiten wurde in Athen das Reformprogramm des Kleisthenes umgesetzt. Auch wenn hier nicht weiter auf die Bedeutung der griechischen Grundbegriffe bei Heraklit eingegangen werden kann, kristallisiert sich doch ein Unterscheidungskriterium insbesondere zum neuzeitlichen Denken deutlich heraus: Im Zentrum der heraklitischen wie überhaupt der frühgriechischen »Naturphilosophie« steht nicht das erkennende menschliche Subjekt. In die harmonische Ordnung des Kosmos ist der Mensch stattdessen eingepasst, ohne sie zu transzendie Vorstellung eines unendlichen Ablaufs der Zeit gebunden ist, sondern daran, in welcher Weise Seiendes in die Anwesenheit gelangt. Weil das Seiende und somit auch der Mensch stets unverborgen ist und nie untergeht, ist die Ewigkeit ein Charakteristikum des Kosmos. »Diese Weltordnung (Κόσμον) hier hat nicht der Götter noch der Menschen einer geschaffen, sondern sie war immer und ist und wird sein: immer lebendes Feuer« Ebd., B 30. Κόσμος übersetzt Snell mit »Weltordnung«. Der κόσμος ist bei Heraklit alles andere als der Kosmos der Naturwissenschaft, in dem physikalische Prozesse ablaufen. Oben wurde bereits angedeutet, dass das Feuer als Metapher für die Offenbarkeit des Seins und nicht im Sinne einer primitiven Naturkunde zu verstehen ist. Zur Bedeutung des Feuers und der anderen Elemente im Zusammenhang mit dem heraklitischen Kosmosbegriff vgl. Günther: Grundfragen des griechischen Denkens, S. 161–176. Dass der κόσμος immer war, ist und sein wird, mag den Eindruck erwecken, dass die Ewigkeit von Heraklit doch als unendlich ablaufende Zeit verstanden werde. Diese kann jedoch nicht gemeint sein, weil das Sein im Sinne der Offenbarkeit bzw. Anwesenheit dem Sein jedes besonderen Seienden vorausgeht. Wenn der κόσμος durch die Götter oder den Menschen geschaffen worden wäre, dann gäbe es schon Seiendes und damit auch das Sein vor der Weltordnung. Dies widerspräche dem Grundgedanken Heraklits, dass eins alles ist. 88 Herakl. B 33. 89 Ebd., B 49.

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dieren oder gar Gesetze aus der Transzendenz für die menschliche Welt abzuleiten. Sollten die menschlichen Gesetze nicht dem göttlichen Nomos entsprechen, wird sich Dike gegen den Menschen wenden, so wie sie sich gegen Helios wendet, wenn dieser seine Bahn verlässt. Was gerecht ist, wird nicht durch den Menschen festgelegt; dieser ist stattdessen ebenso der Gerechtigkeit überantwortet wie er auf den Aufgang der Sonne für den Ackerbau angewiesen ist. Auch in dem einzigen erhaltenen Fragment Anaximanders, dessen Lehre Heraklit laut Pleger gewissermaßen fortsetzt 90, steht das Erscheinen und Vergehen des Seienden in einem unmittelbaren Zusammenhang zur Strafe für Ungerechtigkeit. 91 Alles Gewordene hat demzufolge allein dadurch, dass es geworden ist und einen Anfang hat, »Schuld« auf sich geladen. Es ist durch etwas verursacht und muss daher zu dem vergehen, woraus es entstanden ist. Auch hier wird die Gerechtigkeit als Ausgleich verstanden. Das Fragment belegt, dass der Bedeutungsgehalt der Begriffe »Gerechtigkeit«, »Schuld«, »Strafe« und »Buße« erst später auf den moralisch-rechtlichen Bereich eingegrenzt worden ist. Die alten mythischen Überlieferungen, nach denen die Götter und Heroen den Menschen einen Platz in der Welt zugewiesen haben und das Recht stifteten und schützen, werden hinterfragt. Aber das aus der »Kritik« gewonnene Wissen bleibt so nahe bei der Einsicht in das Ganze, dass – dies gilt zumindest für Heraklit – nicht die Notwendigkeit besteht, zu klaren begrifflichen Distinktionen 92 zu gelangen, wie sie die Polymathie verlangt. In diesem Sinne sind z. B. die Begriffe »Gott«, »Logos« und »Feuer« bei Heraklit nur schwer voneinander zu unterscheiden. 93 Teilweise werden sie auch im Zusammenhang mit denselben Adjektiven gebraucht, ohne dass sie jedoch dasselbe zu bedeuten scheinen. Die Suche nach begrifflichen Unterscheidungen und die Übereinkunft darin, dass die Denkenden und diejenigen, die denken wollen, sich für den Bedeutungsgehalt, den sie den gebrauchten Wörtern beilegen, rechtfertigen müssen, wird erst später, für Sokrates und Platon, zum Kennzeichen philosophischen Denkens. Daher Vgl. Pleger: Die Vorsokratiker, S. 91. »Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron (das grenzenlos-Unbestimmbare). Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.« Diels I, 12 B 1. 92 Vgl. Heinimann: Nomos und Physis, S. 55. 93 Vgl. Vamvacas: Die Geburt der Philosophie, S. 182. 90 91

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liegt die Vermutung nahe, dass sich Heraklits Denken auf diesem Wege kaum erschließen lässt. Streng genommen verwendet Heraklit keine »Begriffe«. Wie ich zu zeigen versucht habe, ist im Denken Heraklits ein ontologisches Verständnis von Universalität angedeutet. Das Sein kann als das Eine nicht in zeitlicher oder räumlicher Begrenzung gedacht werden. »Sein« meint bei Heraklit nicht das Seiende im Ganzen oder den Ursprung alles Seienden, sondern das »Aufgehen in die Unverborgenheit« – also die Art und Weise, wie etwas ins Erscheinen gelangt. Die »Universalität«, die Ausrichtung auf das Eine, ist demnach nicht auf einen bestimmten vorgestellten Gegenstandsbereich bezogen, da sich im fortwährenden Prozess des Aufgehens das Unverfügbare, Unendliche durchhält. Zur so gedachten »Universalität« kann der Einzelne nicht vollends in Widerspruch geraten, auch dann nicht, wenn er sich der Hybris schuldig macht, weil das Recht zugleich Streit ist; es kann nur bestehen, insofern auch der »Widerspruch«, das Ungerechte, fortbesteht. Die Aufforderung, sich dem Einen zuzuwenden, sprich: den λόγος zu vernehmen, gilt für jeden und zu jeder Zeit, sie resultiert unmittelbar aus dem λόγος selbst. Der Zuspruch des λόγος kommt nie zu spät. Die Ausrichtung auf das Eine und der schrankenlose göttliche Nomos dürfen also nicht mit einem Universalismus verwechselt werden, der immer schon etwas voraussetzt, das die Welt transzendiert, bspw. eine religiöse Offenbarung, die Vernunft etc., aus der dann Gesetzmäßigkeiten abgeleitet werden. Eine »Transzendenz schlechthin«, wie sie erstmalig in der platonischen Vorstellung der Idee des Guten geltend gemacht wird, ist dem frühen griechischen Denken fremd. Naturrecht und göttliches Gesetz können folglich auch nicht dem Willen eines göttlichen Gesetzgebers entspringen. Die frühen Denker Heraklit und Parmenides haben gezeigt, dass der Mensch der Anwesenheit der Welt nicht entrückt werden kann 94, selbst das Abwesende oder Nichtseiende ist immer noch, über das Sein hinaus kann schlichtweg nicht gedacht werden. Das Verborgene, Unbestimmbare ist in ihrem Denken präsent; insofern sind der

Die geläufige Gegenüberstellung von Heraklit als »Denker des Werdens« und Parmenides als »Denker des Seins« wird bspw. von Heidegger kritisiert. Vgl. Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 145. Held hat die fundamentale Übereinstimmung beider Denkansätze aufzuzeigen versucht. Vgl. Held: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft, S. 469 ff.

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menschlichen Erkenntnisfähigkeit von Sein und Verfügbarkeit über das Seiende deutliche Grenzen gezogen. Aber ist der Unterschied zwischen der Universalität als Besinnung auf den λόγος und einem aus der Transzendenz heraus gedachten Universalismus, wie er den modernen Menschenrechten zugrunde liegt, tatsächlich so groß? Wie gezeigt, kann die Aufforderung, sich dem Einen zuzuwenden, bereits aus dem Wort »Universalität« herausgelesen werden. Eben dies ist es, wozu Heraklit aufruft, weil aus der Einsicht in die Einheit alles Seienden auch der allumfassend herrschende Nomos ersichtlich wird, von dem wiederum die menschlichen Gesetze abgeleitet werden. Ist es dann nicht naheliegend, λόγος mit »Vernunft« zu übersetzen? Ist die Ewigkeit des Kosmos, die oben mit dem Kernsatz »eins ist alles« in Verbindung gebracht wurde und die sich daher auch auf den Nomos bezieht, nicht ein anderer Ausdruck für die apriorische Geltung dieses Nomos? Deutet die Aussage, dass selbst Helios der Gerechtigkeit unterworfen ist, nicht darauf hin, dass im Grunde genommen für alle vernünftigen Wesen das gleiche Recht gilt? Demnach würden die Fragmente schon einen Hinweis auf den für die Menschenrechte so zentralen Gedanken der Rechtsgleichheit enthalten. Rappe meint in diesem Sinne, dass Heraklit »den Gleichheitsgedanken als ›Rechtsgleichheit‹ (aller vor dem Gesetz) förderte«. 95 Röd glaubt, dass Heraklit seine Einsichten in Ephesos politisch nicht habe durchsetzen können, sich deshalb von der sozialen Realität entfremdete und dann dazu übergegangen sei, seine Forderungen in Form eines »universalen normativen Gesetzes«, »als Projektion der zu rechtfertigenden Verhältnisse auf eine metaphysische Ebene« zu legitimieren – ein Schema dem jede Form naturrechtlichen Denkens folge. 96 In Anlehnung an Frg. 114 erklärt schon Rommen: »Bei Heraklit, dem in dunklen Symbolen sprechenden Denker, taucht zuerst die Idee des Naturrechtes als eines natürlichen, unveränderlichen Gesetzes auf, von dem alle menschlichen Gesetze ihre Kraft haben«. 97 Diese Interpretationen sind jedoch problematisch. Es sind zwar Rappe, Guido: »Menschenrechte und die Anfänge des Naturrechts: Moralität und Legalität in der griechischen und chinesischen Antike«, in: Paul, Gregor/Göller, Thomas/Lenk, Hans/ders. (Hg.): Humanität, Interkulturalität und Menschenrecht, Frankfurt a. M. 2001, S. 221. 96 Vgl. Röd, Wolfgang: Geschichte der Philosophie, Bd. 1: Die Philosophie der Antike. Von Thales bis Demokrit, 3., überarb. u. aktual. Aufl., München 2009, S. 95. 97 Rommen, Heinrich A.: Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2., erw. Aufl., München 1947, S. 12 (Herv. O. B.). 95

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alle Menschen wie überhaupt alle Wesen dem Walten der Gerechtigkeit ausgesetzt, aber es wird bei Heraklit an keiner Stelle gesagt, dass alle Menschen als Gleiche auf die Gerechtigkeit bezogen sind oder vergleichbare Fälle gleich behandelt werden sollten. Die Gleichheitsidee im Sinne einer absoluten Gleichheit der Menschen als Individuen ist neuzeitlichen Ursprungs und der allgemeine Gleichheitssatz wurde von Aristoteles entwickelt. 98 Die Schwierigkeit einer adäquaten Interpretation der Fragmente Heraklits im Hinblick auf einen etwaigen Einfluss auf die spätere Naturrechtstheorie besteht unter anderem darin, jene Fragmente nicht vor dem Hintergrund der späteren Gleichheitsidee zu deuten. Dies ist deshalb schwierig, weil die Gleichheitsidee, wenn auch in rudimentärer Weise, scheinbar immer schon mitgedacht wird, sobald von »dem Menschen« die Rede ist. Wenn nicht mehr von Griechen, Persern, Ägyptern usw. gesprochen wird, sondern von »dem Menschen«, dann scheint es etwas zu geben, aufgrund dessen es alle verdienen, gleichermaßen »Mensch« genannt zu werden. Bei Heraklit ließe sich in diesem Zusammenhang auf die Befähigung zum Denken, zur Phronesis verweisen, die laut Frg. 113 allen Menschen gemeinsam ist. Schadewaldt erläutert dazu, dass das »phronein […] kein äußerliches Wissen [ist], sondern eins, das erhellend auf das Wesen geht«. 99 Mit dem Hinweis, dass das φρονεῖν allen gemeinsam ist, wird nicht eine allen Menschen gemeinsame Natur umschrieben. Phronesis ist keine subjektive Anlage, sondern etwas, das dem Menschen dadurch zuteil wird, dass er in der Unverborgenheit steht. Wie die Menschen sich jeweils in der Welt aufhalten, ob sie das Denken zur Vollkommenheit bringen oder Schlafwandler bleiben, können sie nicht einfach einseitig entscheiden, vielmehr muss sich der λόγος ihnen schon zugesprochen haben, damit sie sich bspw. dazu entschließen können, diesem in der Rede zu entsprechen. Daher weist Heraklit in Frg. 50 ausdrücklich darauf hin, dass es nicht darum geht, ihn, Heraklit zu vernehmen, sondern den λόγος. Und dazu seien die Menschen, wie mehrfach betont wird, größtenteils nicht in der Lage. Die oben erwähnten Formulierungen »drum tut es not« oder »nicht soll man« stehen keineswegs im Widerspruch zu den Eingangssätzen seines Werkes, in denen es heißt, dass die Menschen, auch nachdem sie seine Lehre gehört haben, immer zu töricht bleiben werden, den λόγος zu vernehmen. Notwendigkeit und »Sollen« in diesen Formu98 99

Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 114. Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, S. 366.

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lierungen sind Anweisungen des λόγος selbst. Auch wenn nur wenige den λόγος tatsächlich verstehen, geht er doch alle an. Daher bleibt das dem λόγος zugewandte Denken allen gemeinsam. Das Denken wird noch nicht als »Gespräch der Seele innerlich mit sich selbst« 100 interpretiert. Die entscheidende Aussage von Frg. 113 kann folglich nicht sein, dass alle Menschen das gleiche Potential oder die gleiche Fähigkeit zum Denken haben, sondern dass das aufs Wesentliche abzielende Denken immer vom Gemeinsamen bzw. dem Einen beansprucht wird. Das Gemeinsame betrifft alle, weil sich das Menschsein laut Heraklit dadurch auszeichnet, auf den λόγος, auf die Unverborgenheit von Seiendem bezogen zu sein. Diese Offenheit für die Welt ist es, die in der Tat jedem Menschen zukommt, an der aber nicht jeder gleichermaßen Anteil hat. Die Toten sind abwesend anwesend, die Vielen anwesend abwesend und nur die Weisen entsprechen dem Wesen des λόγος. Diese Unterteilungen taugen nicht dazu, die Gleichheit oder Ungleichheit von Menschen zu konstatieren. Auch die häufigen Vergleiche der Vielen mit Tieren zeigen, dass vom Bezug des Menschen zum λόγος nicht auf einen Begriff des Menschen geschlossen wird, der eine allen Menschen gemeinsame Substanz erfassen würde. Wie sich der Weltbezug des Einzelnen ausnimmt, kann nur erschlossen werden, indem der Einzelne daraufhin befragt wird. Auf der Grundlage der Weltbezüglichkeit lässt sich weder die universelle Gleichheit aller Menschen noch etwa deren natürliche Ungleichheit begründen, insofern Gleichheit und Natur neuzeitlich-naturrechtlich verstanden werden. Deshalb stellt auch das Frg. 53, in dem gesagt wird, dass der πόλεμος die einen als Freie, die anderen als Sklaven erscheinen lässt, keine »naturrechtliche« Sanktionierung der Sklaverei dar. 101 Heraklit entwickelt keine Idee der Gleichheit, aber er integriert die Unterscheidung von Leib (σῶμα) und Seele (ψύχω) in seine Lehre und hat damit eine theoretische Grundlage für spätere Gleichheitsvorstellungen geschaffen. Weil auch das Nicht-Vernehmen eine Form des Angesprochenseins durch den λόγος selbst ist, muss die Seele des Menschen prinzipiell für diesen empfänglich sein. Aufgrund des λόγος hat die Seele eine nicht zu ermessende Tiefe. 102 Snell weist darauf Vgl. Plat. soph. 47, 263. Auf das Thema der Sklaverei werde ich in Kapitel IV.2.4. näher eingehen. 102 »Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden, auch wenn du gehst und jede Straße abwanderst; so tief ist ihr Sinn.« Herakl. B 45. 100 101

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hin, dass Heraklit die Metapher von der Tiefe der Seele von der frühgriechischen Lyrik übernommen hat und damit auch die Unterscheidung von Leib und Seele des Menschen. 103 Bei Homer wurden Leib und Seele noch nicht als eindeutig voneinander differenzierte Entitäten gedacht. Daher konnte Homer im Gegensatz zu Heraklit auch nicht von einer geistigen Instanz sprechen, die den Menschen generell »gemeinsam« wäre. 104 In Frg. 115 erwähnt Heraklit eine weitere Qualität der Seele: »Die Seele hat Sinn, der aus sich heraus immer reicher wird.« 105 Das Verstehen des λόγος vollzieht sich in der Seele. »Durch« die Seele ist der λόγος steigerungsfähig, wobei die Steigerung vom λόγος selbst ausgeht und die Seele als dessen Medium fungiert. Die Seele wird nicht, wie bei Aristoteles, als »erstes Bewegendes« (πρῶτον κινοῦν) bestimmt. Heraklit zeigt, dass das Verstehen des λόγος sich in der Seele vollzieht. 106 Sich selbst zu erforschen, die Tiefen der Seele zu erkunden, heißt, den λόγος zu vernehmen. Er geht damit auf Distanz zu früheren religiösen Vorstellungen, nach denen überragende menschliche Leistungen auf das Eingreifen der Götter zurückgeführt wurden. 107

2.

Der Mensch als Maß aller Dinge

Die sophistischen Lehren orientieren sich mehr an Fragen der Politik, der Moral, des Rechts usw., also an Seiendem, und weniger am Sein des Seienden. Die sittlichen und religiösen Traditionen wurden in Frage gestellt. Dabei spielten die intensiveren Kontakte zu nichtgriechischen Völkern, die politische Krise der Adelsherrschaft und die daraus erwachsenden Tyranneien und Demokratien mit ihren jeweiligen Rechtsumwälzungen eine bedeutende Rolle. 108 Die Sophisten verbanden mit dem νόμος-Begriff nicht mehr die göttlich sanktionierVgl. Snell: Die Entdeckung des Geistes, S. 25 ff. »Homer kann nicht sagen, daß verschiedene Wesen gleichen Geistes sind, etwa zwei Menschen den gleichen Geist oder eine Seele haben und dgl., genau so wenig wie man sagen kann, daß zwei Menschen ein Auge oder eine Hand haben.« Ebd., 27. 105 Herakl. B 115. 106 Vgl. Voegelin: Ordnung und Geschichte, Bd. V, S. 89 f. 107 Laut Snell »geschieht« beim homerischen Menschen »[j]ede Mehrung der körperlichen und geistigen Kräfte […] von außen, vor allem durch die Gottheit.« Snell: Die Entdeckung des Geistes, S. 28. 108 Vgl. Voegelin: Ordnung und Geschichte, Bd. V, S. 137 ff.; Coing: Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 6. 103 104

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te, unabänderliche Ordnung, sondern das jeweils bei den Völkern geltende Recht bzw. die praktizierten Gebräuche und Sitten. Vom Bedeutungswandel des νόμος-Begriffs zeugt auch folgende Schilderung Herodots: Daß alle Völker wirklich ihre Lebensart (νόμους) für die beste halten, dafür gibt es viele Beweise. Als z. B. Dareios König war, ließ er die Hellenen an seinem Hofe rufen und fragte, um welchen Preis sie sich bereit erklären würden, ihre toten Väter zu verspeisen. Sie erwiderten, um keinen Preis. Darauf ließ er Kallatier rufen, einen indischen Volksstamm, bei dem die Leichen der Eltern gegessen werden, und fragte in Gegenwart der Hellenen mit Hilfe eines Dolmetschers, um welchen Preis sie zugeben würden, daß man die Leichen ihrer Väter verbrenne. Sie schrieen laut und sagten, er solle solche gottlosen Worte lassen. So steht es mit den Sitten der Völker, und Pindaros hat meiner Meinung nach ganz recht, wenn er sagt, »die Sitte (νόμον) sei aller Wesen König (βασιλέα)«. 109

Als Verfechter der Relativität des νόμος gilt insbesondere Protagoras (490–411). 110 Von ihm heißt es, »[e]r stellte zuerst die Behauptung auf, daß es zwei einander entgegengesetzte Aussagen über jegliche Sache gebe«. 111 Und nach Aristoteles vertrat er die Ansicht, dass sich mit rhetorischen Mitteln der schwächere Standpunkt zum stärkeren erheben ließe. 112 Die Kritik scheint auch vor der Gültigkeit allgemeiner Grundannahmen nicht haltzumachen. So bezweifelt er die Existenz der Götter: »Über die Götter allerdings habe ich keine Möglichkeit zu wissen weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind«. 113 Er formuliert den berühmten Satz, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist. 114 Jede Rechtsetzung muss vor diesem Hintergrund, so bspw. Böckenförde 115, als ein subjektiver Akt und das Recht als etwas Wandelbares erscheinen. Diese Interpretation ist naheliegend, weil bereits im Theätet, dem ältesten Zeugnis für den Homo-mensura-Satz, das Recht offenbar als etwas von Menschen Gemachtes betrachtet wird: »[A]uch auf staatlichem Gebiete sei für einen jeden Staat dasjenige schön und häßlich und gerecht und ungerecht und heilig und unheiHdt. III, 38. Zur Frage nach sophistischen Einflüssen auf Herodots Betrachtung der νόμοι und zur Pindarrezeption vgl. Heinimann: Nomos und Physis, S. 81 ff. 110 Vgl. z. B. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 13. 111 Diog. Laert. IX, 8, 51. 112 Vgl. Aristot. rhet. II, 24, 11, 1402a 23 ff. 113 Diels II, 80 B 4. 114 Vgl. Plat. Tht. 8, 152. 115 Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 47 ff. 109

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Anfänge des Rechtsdenkens bei den Griechen

lig, was er dafür hält und auf Grund dessen zur gesetzlichen Einrichtung macht, und in diesen Dingen gäbe es keinen Unterschied der Weisheit weder unter Privatleuten noch unter Staaten.« 116 Oben war angemerkt worden, dass eine Interpretation der sophistischen Lehren vor dem Hintergrund eines erst in der Neuzeit aufkommenden Subjektverständnisses problematisch ist. Nun scheint der Homo-mensura-Satz des Protagoras aber geradezu das in der Philosophie Descartes’ gedachte Selbst- und Weltverständnis, das auch den modernen Menschenrechten zugrunde liegt, vorwegzunehmen. Dieser Eindruck ist jedoch, wie ich zeigen möchte, äußerst zweifelhaft. Zunächst der vollständige Wortlaut des Satzes: »Der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind.« 117 Über die Bedeutung des Satzes ist viel gestritten worden. 118 Hoffmann behauptet, dass der Satz zwei Deutungsmöglichkeiten zulasse. »1. Eine subjektive, nach der alle Vorstellungen gleichermaßen wahr sind. 2. Eine objektive, derzufolge der einzelne Mensch, der Mensch überhaupt, aber auch der Mensch in der Gemeinschaft das Maß für das jeweils ihm bzw. der Gemeinschaft Nützliche darstellt.« 119 Diese Deutungen setzen jedoch stillschweigend voraus, dass der Mensch sich der eigenen Subjektivität schon gewiss ist und dann das Maß bestimmt, nach welchem Seiendes ist oder nicht ist, ebenso wie im cartesischen Denken die Sicherstellung des Seienden dadurch erfolgt, dass die seienden Dinge als res extensae berechenbar werden für ein Subjekt, das sich vorab als res cogitans definiert. Aber wollte Protagoras den Menschen tatsächlich als Gradmesser für das Vorhandensein der Dinge kennzeichnen? Im Zusammenhang mit dem Frg. 30, 31 Heraklits habe ich darauf hingewiesen, dass es wahrscheinlich ist, dass μέτρον dort primär nicht die Bedeutung von Maß als »Maßstab« oder »Längenmaß« hat, sondern von »Weite«, so wie Plat. Tht. 23, 172. Ebd., 8, 152: πάντων χρημάτων μέτρον ἄνθρωπον εἶναι, τῶν μὲν ὄντων ὡς ἔστι, τῶν δὲ μὴ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν. 118 Eine Übersicht über die historische Bedeutung bietet: Meister, Klaus: »Aller Dinge Maß ist der Mensch«. Die Lehren der Sophisten, München 2010, S. 143–146. Pleger unterscheidet zwischen ontologischen, skeptischen und relativistischen Interpretationen. Vgl. Pleger: Die Vorsokratiker, S. 141–145. 119 Hoffmann, Klaus Friedrich: »Überlegungen zum Homo-Mensura-Satz des Protagoras«, in: Kirste, Stephan/Waechter, Kay/Walther, Manfred (Hg.): Die Sophistik. Entstehung, Gestalt und Folgeprobleme des Gegensatzes von Naturrecht und positivem Recht, Stuttgart 2002, S. 30. 116 117

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μέτρον θαλάσσης wohl auch besser mit »die Weite« oder »das Offene des Meeres« übersetzt werden kann als mit »das Maß des Meeres«. 120 Demnach ist der Mensch insofern Mensch, als er offen ist für die Begegnung mit Seiendem und Nicht-Seiendem. Der Mensch bestimmt nicht erst das Maß, er hält sich vielmehr in dem ihm zugemessenen Weltbereich auf. Buchheim zeigt anhand einer Vielzahl von Belegen, dass die Erläuterung von μέτρον als äußerliches Kriterium bei Sextus Empiricus nicht zum griechischen Denkhorizont des Homo-mensura-Satzes passt. »[D]er den Dingen durch das μέτρον angewiesene Ort und ihre in ihm erschlossene Qualität ist ihnen nicht von außen angetragen, sondern macht […] ihr eigenes Wesen ausdrücklich: das μέτρον wurde immer als in den Dingen liegend gedacht.« 121 Das Sein oder Nichtsein der Dinge wird nicht einseitig auf den darüber gebietenden Menschen zurückgeführt, sondern als ein Verhältnis bestimmt, in das sowohl der Mensch als auch die Dinge eingelassen sind. Mit dem μέτρον wird das Sein der Dinge bestätigt, nicht aber bewertet. 122 Ebenso wie bei Heraklit ließe sich dann auch bei Protagoras das Nicht-Seiende als eine Weise der Anwesenheit interpretieren. Selbst jenes, was nicht zugegen oder untergegangen ist, bleibt anwesend, insofern es in der Vorstellung oder Erinnerung präsent ist. Seiendes kann es ohne den Menschen nicht geben, deshalb ist der Mensch aber nicht schon die Ursache dafür, dass überhaupt Seiendes ist. Diese Lesart des Homo-mensura-Satzes passt besser zu dem Titel der Schrift, in der der Satz laut Platon steht: Ἀλήθεια. Denn weshalb sollte ein Relativist, Sensualist oder Skeptiker sein Werk ausgerechnet mit dem Titel »Wahrheit« versehen? Die relativistische Interpretation 123 stützt sich unter anderem auf ein Beispiel im Theätet; demzufolge habe Protagoras anhand der Feststellung, dass der eine denselben Wind als kalt und der andere als warm emp120 Vgl. Hes. op. 648. Siehe auch Heidegger: Heraklit, S. 170. Wie bereits in Anm. 22 dieses Kapitels erwähnt wurde, schließt diese Übersetzung nicht aus, dass mit der Offenbarkeit zugleich eine Ordnung, ein Rhythmus sichtbar wird. 121 Buchheim: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, S. 47 f. 122 Vgl. ebd., S. 63. 123 Vgl. z. B. Mahlmann, Matthias: Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Baden-Baden 2010, S. 24; Zilioli, Ugo: Protagoras and the Challenge of Relativism. Plato’s subtlest Enemy, Aldershot 2007. Zum Windbeispiel: S. 31 ff.; Ricken, Friedo: Philosophie der Antike, 4., überarb. u. erw. Aufl., Stuttgart 2007, S. 61; Husserl, Edmund: Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924. Peucker, Henning (Hg.), Dordrecht 2004, S. 34; Reichardt, Tobias: Recht und Rationalität im frühen Griechenland, Würzburg 2003, S. 192 ff.

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finden kann 124, zeigen wollen, dass jede Wahrheit subjektiv sei und es letztlich keine absolute Wahrheit gebe. In dieser Deutung wird jedoch das Problem übergangen, dass die Unmöglichkeit jeder Form von Übereinstimmung auch die Nicht-Übereinstimmung nicht mehr zulässt. 125 Zu fragen wäre hier, wie trotz der unterschiedlichen Wahrnehmungen einer Sache, noch Klarheit darüber bestehen kann, dass von derselben Sache die Rede ist. Eine weitere Schwierigkeit der relativistischen Interpretation ist, dass sie die Wahrheit vorschnell als adaequatio rei ad intellectum auslegt – ein Wahrheitsverständnis, dass erstmalig bei Thomas von Aquin in dieser Formulierung ausgesprochen wird und frühestens auf das Werk des Aristoteles zurückgeführt werden kann. 126 Vor dem Hintergrund einer später erdachten Logik, der Wahrheit als Adaequation sowie des modernen Subjektbegriffes ist der Homo-mensura-Satz leicht zu widerlegen. Fragwürdig bleibt aber, ob auf diesem Wege wirklich erschlossen werden kann, woran Protagoras bei dem Titel Ἀλήθεια dachte. In der Forschungsliteratur werden folglich auch Zweifel an der auf Platon zurückgehenden relativistischen Interpretation angemeldet. Pleger weist darauf hin, dass der platonische Gegensatz von Wahrnehmen und Denken bei Protagoras vermutlich gar nicht vorausgesetzt werden kann und daher auch die einseitige Festlegung des Homo-mensura-Satzes auf unterschiedliche Wahrnehmungsweisen irreführend ist. 127 Wenn μέτρον im Sinne von »Weite« oder »Offenheit« verstanden wird und der Mensch als derjenige, der auf die Dinge bezogen ist, dann würde der Hinweis darauf, dass diese dem Menschen auf unterschiedliche Weise begegnen (das Windbeispiel), bedeuten, dass trotz Vgl. Plat. Tht. 8, 152. Vgl. Heidegger, Martin: Aristoteles, Metaphysik Θ 1–3. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft. Hüni, Heinrich (Hg.), GA 33, 3., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 2006, S. 199. 126 Thomas verwendete allerdings noch weitere Formulierungen für die Bestimmung der Wahrheit. So ist auch umgekehrt von einer adaequatio intellectus ad rem die Rede. Er selbst berief sich bei der Wahrheitsdefinition auf Aristoteles, aber auch auf Anselm. Vgl. Schulz, Gudrun: Veritas est adaequatio intellectus et rei. Untersuchungen zur Wahrheitslehre des Thomas von Aquin und zur Kritik Kants an einem überlieferten Wahrheitsbegriff, Leiden 1993, S. 37 ff. Siehe auch Anselm von Canterbury: Über die Wahrheit. Enders, Markus (Übers./Hg.), Hamburg 2001, S. XXXff. 127 Vgl. Pleger: Die Vorsokratiker, S. 143. Buchheim merkt dazu an: »Protagoras unterschied kein Substrat der Erscheinung als seiendes Ding von seiner Aktualität als der Erscheinung des Dinges für uns.« Buchheim: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, S. 54 f. 124 125

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der unterschiedlichen Wahrnehmung das Menschsein im Sinne von »Maß-sein« nicht berührt wird und kein anderes ist. Dafür spricht auch die folgende, Sokrates nach der Anführung des Homo-mensura-Satzes in den Mund gelegte Äußerung: »Meint er es also nicht so, daß für mich alles so ist, wie es mir erscheint, und für dich hinwiederum so, wie es dir erscheint? Mensch aber bin ich ebenso wie du«. 128 In Frg. 16 fragt Heraklit, wie man vor dem Nie-Untergehenden verborgen bleiben kann. Das Menschsein ist demnach durch die Offenheit für das Anwesende gekennzeichnet. Lässt sich daraus schließen, dass Heraklit und Protagoras eine ähnliche Auffassung vom Menschsein teilten? Eine solche Ähnlichkeit habe ich im Hinblick auf den μέτρονBegriff aufzuzeigen versucht. Gleichwohl zeugt schon die Art und Weise, wie in Frg. 16 nach dem Menschen gefragt wird – vorausgesetzt, die Frage wird in diesem Sinne interpretiert – davon, dass ἀλήθεια hier stärker von der Verborgenheit, der λήθη, her gedacht wird, Offenheit und Verborgenheit also zusammenspielen. Dass durch die ἀλήθεια auch das Verborgene und damit ein Charakterzug der ἀλήθεια, nämlich stets in eins mit dem Verborgenen aufzugehen, ersichtlich wird, geht aus den auf Protagoras zurückgeführten Äußerungen weniger klar hervor. Dass Seiendes und Nicht-Seiendes dem Menschen zugänglich sind, wird im Homo-mensura-Satz zwar zugrunde gelegt, aber nicht, dass durch die Offenbarkeit des Seienden auch das in der Verborgenheit liegende Nicht-Seiende präsent ist. Eben dieses Verständnis von Wahrheit spricht sich bei Heraklit in solchen Sätzen aus, wie dem über das Einssein von Tag und Nacht. Protagoras dachte die Wahrheit vermutlich nicht als »gegenstrebige Fügung« 129, aber er verstand sie auch nicht als Idee oder Aussagewahrheit. Demnach ist Wahrheit für Protagoras kein Kriterium, mit dem sich das Gute und Gerechte gegenüber dem Schlechten und Ungerechten nachweisen ließe. Vertrat Protagoras im Hinblick auf sein Verständnis des Guten und Gerechten deshalb möglicherweise doch eine relativistische Position? Vor die Frage gestellt, wie der Homomensura-Satz und das Bessere und Schlechtere zusammenhängen,

128 Plat. Tht. 8, 152 (Herv. O. B.). Gadamer plädiert dafür, den Zusatz »Mensch aber bin ich ebenso wie du«, der mit größerer Wahrscheinlichkeit protagoreisch sein könnte, losgelöst vom Windbeispiel zu betrachten, das Protagoras von Platon zugeschrieben sein könnte. Vgl. Gadamer: Griechische Philosophie. Bd. III, S. 300. 129 Zur »gegenstrebigen Fügung« im Zusammenhang mit dem Denken Heraklits vgl. Heidegger: Heraklit, S. 144 ff.

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erklärt Sokrates, Protagoras Position zunächst noch verteidigend, Folgendes: Denn ich behaupte zwar, daß es mit der Wahrheit (ἀλήθειαν) so steht, wie ich geschrieben habe, daß nämlich jeder von uns das Maß sei des Seienden und Nichtseienden; aber weiter behaupte ich, daß jeder sich von dem anderen tausendfach dadurch unterscheide, daß für den einen anderes ist und erscheint als für den anderen. Und weit entfernt, von der Weisheit und dem Weisen als nicht vorhanden zu sprechen, nenne ich ganz ausdrücklich den einen Weisen, der in einem von uns, dessen Erscheinungs- und Seinswelt eine Schlechte ist, eine Umwandlung dahin zu bewirken weiß, daß sie eine gute wird. 130 Aber, während der Arzt den Wandel durch Arznei bewirkt, tut es der Sophist durch Reden. Denn keineswegs liegt die Sache so, daß jemand einen, der falsche Vorstellungen hat, dahin bringt, wahre zu haben; denn es ist weder möglich, das Nichtseiende vorzustellen, noch anderes vorzustellen, als was man an sich erlebt; das aber ist immer wahr. Wohl aber, glaube ich, bewirkt er, daß einer, der infolge schlechter Seelenverfassung dem verwandte Vorstellungen hat, durch gute Seelenverfassung auch gute Vorstellungen erhält; nur aus Unkenntnis bezeichnen einige diese Vorstellungen als wahre, während ich sie zwar besser nenne, die eine im Vergleich zu der anderen, wahrer aber durchaus nicht. 131

Das Bessere ist also ebenso wahr wie das Schlechtere, weil »Wahrheit« an dieser Stelle gleichbedeutend mit »Sein« ist. Die Maßstäbe für Moralität werden laut Protagoras dadurch aber nicht der Willkür ausgeliefert. Was jeweils gut oder schlecht für den Einzelnen ist, ergibt sich aus dessen Lebenslage und ist nicht beliebig austauschbar, so wie – um beim obigen Beispiel zu bleiben – die Wahl der Medizin für einen Kranken nicht beliebig ausfällt. Auf die Ebene der Polis übertragen, heißt das, dass das Recht jeweils so gestaltet werden muss, wie es den spezifischen Bedingungen einer Polis am besten gerecht wird und die Eintracht unter den Bürgern fördert. Protagoras legt jedoch auch vorpositive Bedingungen für das Polisleben fest. Davon berichtet er im Gründungsmythos 132:

Plat. Tht. 20, 166. Ebd., 20, 167 (Herv. O. B.). 132 Zur Bedeutung des Mythos bei Platon vgl. Kobusch, Theo: »Die Wiederkehr des Mythos. Zur Funktion des Mythos in Platons Denken und in der Philosophie der Gegenwart«, in: Binder, Gerhard/Effe, Bernd (Hg.): Mythos. Erzählende Weltdeutung im Spannungsfeld von Ritual, Geschichte und Rationalität, Trier 1990. 130 131

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Dem Zeus […] ward bange um das Menschengeschlecht, dessen völliger Untergang sich vorzubereiten schien; darum entsandte er den Hermes als Bringer der Scham und des Rechtes an die Menschen, auf daß durch diese den Staaten Ordnung und freundschaftlicher Zusammenhalt zuteil werde. So fragt denn Hermes den Zeus, auf welche Art er Recht und Scham an die Menschen verleihen solle. […] An alle, erwiderte Zeus, und jeder soll daran Teil haben. Denn nie wird es zum Bestehen von Staaten kommen, wenn nur wenige jener Güter teilhaftig sind wie bei den anderen Künsten. Ja, du sollst in meinem Namen das Gesetz geben, daß, wer nicht imstande sei sich Scham und Recht zu eigen zu machen, dem Tod verfallen sei; denn er ist ein Geschwür am Leib des Staates. 133

Recht (δίκη) und Scham (αἰδώς) werden als göttliche Gaben dargestellt, die es den Menschen ermöglichen, politische Gemeinschaften zu bilden. Im Mythos wird geschildert, dass die Menschen zuvor schon von Prometheus beschenkt worden waren. Er stahl die Weisheit und die Kunst (τέχνη), das Feuer zu beherrschen, damit sich die Menschen gegenüber den übrigen Lebewesen, die Epimetheus mit allem Notwendigen ausgestattet hatte, behaupten können. Weisheit und Kunst bzw. Technik 134 reichten jedoch nicht aus, um die zwischenmenschlichen Feindschaften zu beenden. Δίκη und αἰδώς werden dem Menschen nun aufgrund eines erneuten Eingreifens der Götter verliehen. Sie stehen im Rang deutlich über der Weisheit und der Kunst. 135 Von der αἰδώς heißt es, dass sie »neben Zeus [thront]«. 136 Obwohl Zeus Hermes dazu anweist, die Gaben an alle zu verteilen, werden sie offenbar aber doch nicht von jedem angenommen. Recht und Scham können demnach potentiell von jedem erlangt werden. Dass Protagoras glaubt, dass sich der Mensch in der politischen Tugend der Gerechtigkeit bessern könne, geht auch aus seinem Verständnis von Strafe hervor, die nicht bloß der Rache diene, sondern der Erziehung in der Sache der Gerechtigkeit. Ungerechtes Verhalten

Plat. Prot. 322. Der Begriff »τέχνη« umfasste ursprünglich auch alle Formen der künstlerischen Hervorbringung (ποίησις). Vgl. Müller, Reimar: Poiesis – Praxis – Theoria. Zur Bewertung der Technik in der Kulturtheorie der griechischen Antike, Berlin 1989. 135 Vgl. Sattler, Martin: »Der Mythos des Protagoras«, in: Kirste/Waechter/Walther (Hg.): Die Sophistik, S. 37. 136 Soph. Oid. K. 1266 f. Zur Bedeutung des Schamgefühls für die Anerkennung von Normen vgl. Kobusch, Theo: »Wie man leben soll: Gorgias«, in: ders./Mojsisch, Burkhard (Hg.): Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996, S. 50 ff.; Plat. Gorg. S. 319–323 (Übers. Erler, Nachw.). 133 134

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könne folglich nicht als zufälliger Mangel eines Menschen toleriert werden, weil jeder Mensch zur Gerechtigkeit befähigt sei. Das Recht wird im Mythos zusammen mit der Scham als vorpositive Bedingung für das Polisleben gekennzeichnet. Die positiven, rechtlichen Satzungen können nicht willkürlich geändert oder manipuliert werden, weil sie der natürlichen Begabung nur dann entsprechen, wenn die Zwecke Frieden und Eintracht durch sie realisiert werden. Wären das Gute und Gerechte bei Protagoras relativ, dann müsste er einer rechtspositivistischen Position das Wort reden. 137 Die Anwendung des Rechts des Stärkeren zwischen den Poleis müsste ihm dann gerecht erscheinen. Aus der Formulierung »auf daß durch diese den Staaten Ordnung (κόσμοι) und freundschaftlicher Zusammenhalt (δεσμοὶ φιλίας) zuteil werde« geht aber nicht hervor, dass Ordnung und Frieden nur innerhalb der Polis und nicht auch zwischen diesen erstrebenswert wären. Eine Polis könne ohne die Tugenden Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) und Besonnenheit (σωφρο-σύνη), die auf den Vermögen zu Recht und Scham beruhen, nicht existieren: [A]us diesen Gründen leitet es sich her, daß wie alle anderen Menschen so auch die Athener, wenn es sich um bewährte Tüchtigkeit in der Baukunst oder einer anderen Fachkunst handelt, meinen, nur einige wenige seien zu Ratgebern berufen […]. Wenn sie dagegen zu einer Beratung zusammentreten, zu der die Voraussetzung nur staatsbürgerliche Tüchtigkeit (πολιτικῆς ἀρετῆς) überhaupt bildet, wobei es also eben ganz auf Gerechtigkeit und Besonnenheit ankommt, da lassen sie sich mit Recht das Auftreten eines jeden gefallen, weil jedermann dieser Tüchtigkeit teilhaftig sein muß, wenn es überhaupt Staaten geben soll. 138

Mit dem Hinweis, dass es in politischen Angelegenheiten nicht auf das Expertenwissen Einzelner, sondern auf Tugenden, die alle Menschen beherrschen, ankomme, widerspricht Protagoras zunächst der sokratisch-platonischen Annahme, dass jede Tugend in der Grundtugend der Weisheit begründet sei. Dies verdeutlicht der Mythos auch insofern, als die Gabe der Weisheit – vermutlich gerade deshalb, weil ihrer nicht alle teilhaftig sind – den Erhalt der Polis nicht zu gewährleisten vermag. Die Unterschiede zum Denken Heraklits werden hier besonders deutlich. Während Δίκη bei Heraklit als eigenständig waltende Gott137 138

Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 57. Plat. Prot. 322 f.

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heit gedacht wird und Gerechtigkeit für den Menschen damit in gewisser Weise stets etwas Unverfügbares bleibt, sind Recht, Gerechtigkeit und Gesetz bei Protagoras ganz auf den Menschen und die Polisgemeinschaft zugeschnitten. Recht und Streit stehen sich bei Protagoras antagonistisch gegenüber, insofern ein anständiges Zusammenleben den Streit beendet, während Heraklit erklärt, dass Recht und Streit eins sind. Folgt man der oben dargestellten Interpretation des Homo-mensura-Satzes, dann bleibt ein gewisser Zusammenhang mit dem Denken Heraklits über den Wahrheitsbegriff bestehen, weil sowohl Heraklit als auch Protagoras Wahrheit nicht in der Richtigkeit einer überprüfbaren Aussage, sondern als Offenbarkeit der Welt verstehen. Deshalb rückt auch Platon das Denken Protagoras’ in die Nähe des heraklitischen. 139 Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Auffassungen ist aber, dass die Einsicht in die Wahrheit oder besser in das Wahrheitsgeschehen laut Heraklit nur wenigen zukommt. Dagegen statuiert der Homo-mensura-Satz die vollständige Zugänglichkeit der Wirklichkeit. 140 Das Ganze der seienden und nicht-seienden Dinge (παντα χρήματα) eröffnet sich dem Menschen. »[W]enn man akzeptiert, daß das μέτρον als ohnehin den Dingen angehörig betrachtet werden muß [,…] dann ist es gerade das Denkergebnis des Satzes, daß alle Dinge schon in der Dimension der Menschlichkeit sind, daß alle Dinge (auch und gerade die ›natürlichen‹) den Menschen belangen und angehen.« 141 Protagoras nimmt in diesem Sinne eine Zwischenstellung zwischen den anfänglichen Denkern und den ihm nachfolgenden Sophisten ein. Die später von den Sophisten geübte Kritik an den politischen und rechtlichen Verhältnissen setzt eine gedankliche Loslösung von der »ontologisierenden« Betrachtung – damit ist eine Sichtweise gemeint, die das Unverfügbare der Gerechtigkeit von der Unverborgenheit des Sichverbergenden (ἀλήθεια) her denkt – voraus. Recht und Gesetz konnten später so auch unabhängig von ihrem göttlichen Ursprung thematisiert werden. Der Homo-mensura-Satz ist die Grundlage dafür, dass auch die νόμοι in ihrer Verschiedenheit erblickt werden können. Während die Polisbewohner unterschiedliche Verhaltensweisen für sittlich geboten halten, erkennt der Weise laut Protagoras, ob der sittliche Zustand 139 140 141

Vgl. Pleger: Die Vorsokratiker, S. 144. Vgl. Buchheim: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, S. 53. Ebd., S. 53 f.

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einer Polis besser oder schlechter ist. Da die Menschen sich bessern können und die Tugend lehrbar sei, müsse ein Sophist auf die »Umwandlung« der »Erscheinungs- und Seinswelt« zum Besseren hinarbeiten. 142 Sokrates versucht dagegen zu zeigen, dass aus dem Homo-mensura-Satz kein normativer Maßstab für das Gute und Gerechte abgeleitet werden kann. Einerseits »[gäbe es] in diesen Dingen […] keinen Unterschied der Weisheit weder unter Privatleuten noch unter Staaten«, andererseits würde Protagoras zugeben, »daß nicht ein Ratgeber so gut sei wie der andere, und nicht die Meinung eines Staates so gut wie die des anderen hinsichtlich der Wahrheit«. 143 Sokrates verbindet mit dem Wahrheitsbegriff eine Wertung, während ἀλήθεια für Protagoras bedeutet, dass das Sein des Seienden in Relation zum Menschsein steht. Die Frage nach moralischen Kriterien für gerechtes Handeln wird von Protagoras nicht im Zusammenhang mit dem ἀλήθεια-Begriff aufgeworfen. Dennoch wird ihm im Verlauf des Dialogs ein ἀλήθεια-Verständnis unterstellt, das er zuvor noch vehement ablehnte 144. Sicherlich war Platon an einer kritischen Zuspitzung der Auseinandersetzung mit dem protagoreischen Denken gelegen, weil es sich dazu eignete, die öffentliche Meinung (κοινή δόξαν) zu rechtfertigen. 145 Platon deutet dies an. Protagoras ging es allerdings wohl kaum darum, durch die Annahme »kollektive[r] denkende[r] Subjekte« den äußersten Konsequenzen des »ethischen Relativismus« zu entgehen, wie Heinimann behauptet. 146 Unwahrscheinlich ist auch, dass er die Forderung erhob, »jeden Nomos dort, wo er gilt, als unbedingt verpflichtend zu betrachten«. 147 Wozu wäre dann die sophistische Tugendlehre gut, die darauf abzielt, durch Erziehung eine Steigerung der ἀρετή und Verbesserung der sittlichen Verfassung herbeizuführen? Und wie sollte ein Kollektiv als Maßstab mit dem Homo-mensura-Satz vereinbar sein, wenn doch nach relativistischer Ansicht nicht einmal Einigkeit über individuelle Sinneswahrnehmungen besteht? Innerhalb der Polis unterweisen sich die Bürger laut Protagoras selbst in den Tugenden. Aufgabe der Sophisten sei es, die-

142 143 144 145 146 147

Vgl. Plat. Tht. 20, 166. Ebd., 23, 172. Vgl. ebd., 20, 167. Vgl. ebd., 23, 172. Vgl. Heinimann: Nomos und Physis, S. 117. Ebd., S. 119.

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»Natürliche Gleichheit« bei Antiphon, Alkidamas, Hippias und Lykophron

sen Prozess »durch Bildung zu fördern«. 148 Diese Übungen sind mit einem »ethischen Relativismus« unvereinbar. 149 Protagoras unterstreicht dies durch einen Vergleich des ungerechtesten Menschen innerhalb einer gesetzlichen Ordnung mit einem Menschen, der gesetzlos in »völliger Wildheit« lebt. 150 Die Differenz zwischen beiden sei unendlich viel größer als jene zwischen einem gerechten und einem ungerechten Bürger. Der Vergleich soll zeigen, dass der Mensch ohne die von den Sophisten geförderte politische Kunst und ohne Erziehung nicht menschlich sein kann. Selbst der Schlechteste ist in der Polis noch ein »Mitarbeiter an der Gerechtigkeit«. 151 Damit ruft Protagoras jene im Mythos geschilderte Situation in Erinnerung, als dem Menschengeschlecht aufgrund von Scham- und Rechtlosigkeit der Untergang drohte. Die Pflicht, δίκη und αἰδώς anzunehmen, und die damit verbundenen Konsequenzen, die Gesetzesgerechtigkeit zu realisieren und jeden bei politischen Beratungen anzuhören, sind folglich nicht relativierbar. Dass diese Vorschriften auf der Grundlage des Homo-mensura-Satzes nicht als normative Ideen begründet werden, bedeutet nicht, dass ihnen keine Allgemeinverbindlichkeit zukommt.

3.

»Natürliche Gleichheit« bei Antiphon, Alkidamas, Hippias und Lykophron

Als νόμοι begreifen die Sophisten die jeweilige Gesetzesordnung einer Polis, die sie auf ihre Entsprechung hin zu dem, was sie unter φύσις verstehen, überprüfen. Die »Natur« ist für die Sophisten ein möglicher Zustand, der ausgehend von der beobachtbaren Natur vorgestellt wird und dem naturwidrigen Zustand der politischen Gemeinschaft entgegengesetzt werden kann. 152 Daraus ergibt sich, dass die Polis nicht als etwas natürlich Gewachsenes angesehen wird, sondern ihren Ursprung menschlichen Beschlüssen verdankt. Dies erVgl. Plat. Prot. 317. So auch Gadamer: Griechische Philosophie. Bd. III, S. 300 f. 150 Vgl. Plat. Prot. 327. 151 Vgl. ebd. 152 Vgl. Brandt, Reinhard: »Naturrecht« II. Antike, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, völlig neubearb. Ausg. des ›Wörterbuchs der philosophischen Begriffe‹ von Rudolf Eisler, Bd. 6, Basel 1984, S. 564. 148 149

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Anfänge des Rechtsdenkens bei den Griechen

laubt, die Gültigkeit der von Menschen gemachten Gesetze zu hinterfragen, weil sie den Prinzipien der Natur zuwider laufen können. Während der φύσις-Begriff zu einem erstrangigen Wertbegriff aufsteigt, wird die Existenz eines universellen νόμος bestritten. 153 Indem die Sophisten die Orientierung an einem einheitlichen Prinzip für den gesamten Kosmos aufgeben und sich stattdessen auf die praktische Anwendbarkeit und Vermittelbarkeit ihres Wissens konzentrieren, stellen sie die Frage nach der Natur des Menschen auf eine neuartige Weise. Die Erkenntnis- und Bildungsfähigkeit des Menschen (παιδεία) rückt in den Vordergrund. 154 Nach Antiphon, dem Sophisten (5. Jahrhundert) 155, sind alle Menschen den gleichen Prinzipien der Natur unterworfen und können ihr Handeln an diesen ausrichten. Allerdings zwinge die politische Gemeinschaft den Menschen oft widersprüchliche und naturwidrige Bindungen auf. Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) besteht darin, die gesetzlichen Vorschriften des Staates, in dem man Bürger ist, nicht zu übertreten. Es wird also ein Mensch für sich am meisten Nutzen bei der Anwendung der Gerechtigkeit haben, wenn er vor Zeugen die Gesetze hoch hält, allein und ohne Zeugen dagegen die Gebote der Natur; denn die der Gesetze sind willkürlich, die der Natur dagegen notwendig; und die der Gesetze sind vereinbart, nicht gewachsen, die der Natur dagegen gewachsen, nicht vereinbart. Wer also die gesetzlichen Vorschriften übertritt, ist, wenn es ihren Vereinbarern verborgen bleibt, von Schande und Strafe verschont; bleibt es ihnen nicht verborgen, so nicht. Wer dagegen eins der von Natur mit uns verwachsenen Ge153 Vgl. Forschner, Maximilian: Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Stuttgart 1981, S. 14 f. 154 Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 46. 155 Es ist nicht klar, wer Antiphon der Sophist wirklich war. Wolf spricht sich dafür aus, ihn von dem athenischen Staatsmann Antiphon, dem Lehrer des Thukydides, zu unterscheiden. Vgl. Wolf, Erik: Griechisches Rechtsdenken, Bd. II, Frankfurt a. M. 1952, S. 87 ff. Welwei bemerkt dagegen, dass »Antiphon […] zweifellos mit dem athenischen Politiker gleichen Namens identisch ist […]«. Welwei, Karl-Wilhelm: »Ius naturale und ius gentium in der antiken Beurteilung von Sklaverei und Freiheit«, in: Girardet/Nortmann (Hg.): Menschenrechte und europäische Identität, S. 85. Ich folge der Auffassung Hoffmanns und Unruhs, dass der Sophist Antiphon aller Wahrscheinlichkeit nach eine antiaristokratische Position vertrat und deshalb nicht mit Antiphon dem Rhetor identisch ist. Vgl. Hoffmann, Klaus Friedrich: Das Recht im Denken der Sophistik, Stuttgart Leipzig 1997, S. 182 f.; Unruh, Peter: »Die Gleichheit der Menschen bei Antiphon dem Sophisten«, in: Kirste/Waechter/Walther (Hg.): Die Sophistik, S. 59–61, 66 ff.

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»Natürliche Gleichheit« bei Antiphon, Alkidamas, Hippias und Lykophron

setze wider die Möglichkeit zu vergewaltigen sucht, für den ist, wenn es vor allen Menschen verborgen bleibt, das Unheil um nichts geringer und, wenn alle es bemerken, um nichts größer; denn der Schade beruht nicht auf bloßer Meinung, sondern auf Wahrheit (ἀλήθειαν). Die Betrachtung dieser Dinge ist im allgemeinen um dessen willen angestellt, weil die meisten gesetzlichen Rechtsbestimmungen feindlich zur Natur stehen. Es sind ja Gesetze aufgestellt für die Augen, was sie sehen dürfen und was nicht; und für die Ohren, was sie hören dürfen und was nicht; und für die Zunge, was sie sagen darf und was nicht; und für die Hände, was sie tun dürfen und was nicht; und für die Füße, wozu sie schreiten dürfen und wozu nicht, und für den Sinn, wessen er begehren darf und wessen nicht. Dabei sind wahrlich die Verbote der Gesetze an die Menschen und ihre Gebote beide genau ebenso wenig naturfreundlich oder -gemäß. Dagegen das Leben untersteht der Natur und auch das Sterben, und zwar kommt das Leben ihnen von dem Zuträglichen (ξυμφερόντων), das Sterben dagegen von dem nicht Zuträglichen. Das Zuträgliche ist, soweit es durch die Gesetze festgesetzt ist, Fessel der Natur, soweit dagegen durch die Natur, frei. 156

Antiphon verweist auf die Überlegenheit des von Natur aus Seienden gegenüber den positiven Rechtssetzungen und leitet von der physischen Gleichartigkeit der Menschen Notwendigkeiten für das politische Handeln ab. Die Polisbürger werden damit auf die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten verwiesen. Ihre Gesetze können sich auf Dauer nicht gegen die der Natur richten, obwohl die νόμοι durchaus als eine reale Gegenmacht zur φύσις dargestellt werden. 157 Erstaunlicherweise schränkt Antiphon seine Definition von Gerechtigkeit auf die Einhaltung der Gesetze in der Polis ein. Eine Gerechtigkeit in den Gesetzen der Natur erkennt er nicht. Νόμοι, δικαιοσύνη und δόξα auf der einen stehen φύσις und ἀλήθεια auf der anderen Seite unvereinbar gegenüber. 158 Während Protagoras das Gerechte und Ungerechte als gleichermaßen wahr erachtet, weil beides existent ist, behauptet Antiphon, dass nur das von Natur aus Gebotene wahr ist. Der Titel seiner Schrift Ἀλήθεια deutet an, dass es ihm um eine Auseinandersetzung mit der gleichnamigen Schrift des Protagoras geht. Der Begriff der Wahrheit gerät hier in einen Gegensatz zu dem der Meinung, auf welcher laut Antiphon die Gesetze beruhen. Im Vorausblick auf das gewandelte Wahrheitsverständnis bei Sokrates und Diels II, 87 B 44 A Col. 1–4. Vgl. Pleger: Die Vorsokratiker, S. 152. 158 Der von Antiphon aufgegriffene Gegensatz ἀλήθεια – δόξα sollte, so Heinimann, nicht zu der Annahme verleiten, dass auch die Antithese νόμος – φύσις eleatischen Ursprungs wäre. Vgl. Heinimann: Nomos und Physis, S. 90 ff., 139. 156 157

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Platon, die erstmalig die Frage nach der Wahrheit stellen, wird ersichtlich, wie weitreichend die Eingrenzung der ἀλήθεια auf das für den Menschen natürlich Gebotene ist. Wahrheit ist nicht die Art und Weise, in der das Erscheinen des Seienden generell eine Bestätigung findet, sondern ist nun in dem Bereich des Seienden angesiedelt, der über die Willkür und Eigeninteressen der Menschen hinausgeht und das für sie in Wahrheit Zuträgliche ist. Wer gegen die φύσις handelt, schadet sich selbst. Wahrheit steht folglich in enger Verbindung zu dem, was für den Menschen gut ist. Das Wahre und das Gute bzw. Zuträgliche sind bei Antiphon keine Ideen, denen ausgehend von den Phänomenen nachzuforschen wäre, vielmehr kommt das Zuträgliche unmittelbar im Phänomen selbst zum Vorschein. Antiphon spricht nicht direkt vom Guten (αγαθόν), bedeutsam ist aber, dass er mit der Wahrheit eine Wertung verbindet und damit den Weg für eine Erschließung des Zusammenhangs von Wahrheit und Gutem vorbereitet. Der Begriff des »Zuträglichen« (συμφέρων) ist vermutlich der Heilkunde entlehnt und kann unter Betonung der Vorsilbe syn- auch mit »Gemeinwohl« übersetzt werden. 159 Analogiebildungen zwischen der leiblichen und der politischen Verfassung der Menschen tauchen schon in früheren Texten häufig auf. Die Analogien sind aber nicht als bloße metaphorologische Rhetorik zu verstehen. Vielmehr wird angenommen, dass die politische Verfassung ebenso wie die geographische Lage, das Klima oder die Wirtschaftsweise und der Zustand des Leibes einander bedingen. In diesem Sinne liegt es auch nicht fern, den Leibzustand mit politischen Begriffen zu umschreiben. 160 Im Bereich der Heilkunde wird erfahren, was dem Menschen tatsächlich nützt und was ihm schadet. Antiphon erklärt, »[d]as in Wahrheit Zuträgliche muß […] nicht schädigen, sondern nützen«. 161 Das Nützliche der Natur zeige sich ganz konkret, es werde am eigenen Leib erfahren. Alles, was Schmerzen erzeugt, sei schädlich, was dagegen das Wohlbefinden steigert, zuträglich. Die Gesetze können laut Antiphon genau am Prinzip der Zuträglichkeit ausgerichtet werden. Wenn dies geschähe, dann müssten sie dem Geschädigten unmittelbar Linderung verschaffen. Aber schon das zeitaufwendige 159 Vgl. Kirner, Guido O.: »Polis und Gemeinwohl. Zum Gemeinwohlbegriff in Athen vom 6. bis 4. Jahrhundert v. Chr.«, in: Münkler, Herfried/Bluhm, Harald (Hg.): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, Berlin 2001, S. 33 f.; Heinimann: Nomos und Physis, S. 135 ff. 160 Vgl. Diels I, 24 B 4. 161 Diels II, 87 B 44 A Col. 4.

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Prozessverfahren und dessen ungewisser Ausgang liefen dem zuwider. 162 In Frg. 44 wird gleich zu Anfang herausgestellt, dass Antiphons Kritik sich nicht nur gegen die Gesetze einer bestimmten Polis richtet, sondern allgemein gegen die νόμοι. Sie variieren von Polis zu Polis und können leicht manipuliert werden. Aus der Feststellung, dass die φύσις und das συμφέρων nicht änderbar sind, zieht Antiphon nun den entscheidenden Schluss, dass die Menschen von Natur aus gleich sind. Die Unterscheidung zwischen Hellenen und Barbaren sei folglich nicht vereinbar mit der Natur des Menschen. 163 »Hierbei verhalten wir uns zueinander wie Barbaren, denn von Natur sind wir alle in allen Beziehungen gleich geschaffen, Barbaren wie Hellenen.« 164 Der Satz schließt an die Behauptung an, dass in den Poleis stets die eigenen Sitten überschätzt werden. Eine solche Haltung ist für Antiphon barbarisch: »Wir kennen und verehren die eigenen Sitten und Gebräuche, nicht aber die der entfernt wohnenden.« 165 Diese Feststellung stimmt mit der Auffassung Herodots überein, der ebenfalls die Relativität der νόμοι bei den Völkern konstatiert hatte. Mit Bezug auf die Perser sagt er: »Sich selber halten sie nämlich für die allervorzüglichsten Menschen auf Erden, die Tüchtigkeit der Umwohnenden richtet sich, meinen sie, nach der Entfernung von ihnen, und die Fernsten sind die allergeringsten.« 166 Antiphon hält den Athenern also den Spiegel vor. Wenn sie die Sitten anderer geringschätzen, verhalten sie sich wie Barbaren. Da Antiphon die Gleichheit auf die φύσις zurückführt, könnte er, so Un162 »Zunächst läßt es [das aus dem Gesetz stammende Recht, O. B.] ja das Leiden des Leidenden und die Tat des Täters ruhig geschehen und war zu diesem Zeitpunkt nicht imstande, das Leiden des Leidenden und die Tat des Täters zu verhindern. Bringt man den Fall dann zur gerichtlichen Ahndung, so hat der Leidende vor dem Täter gar nichts Besonderes voraus. Denn er muß die zur Ahndung Berufenen erst davon überzeugen, daß er Unrecht erlitten hat, und wünscht erst die Fähigkeit zu erlangen, den Prozeß zu gewinnen. Dieselben Mittel aber verbleiben auch dem Täter, wenn er zu leugnen unternimmt«. Ebd., 87 B 44 A Col. 6–7. 163 Vgl. Brandt: »Naturrecht«, in: Ritter/Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, S. 565. 164 Diels II 87 B 44 B Col. 2. 165 Zur Übersetzung siehe Unruh: »Die Gleichheit der Menschen bei Antiphon dem Sophisten«, S. 67. Diels/Kranz übersetzen dagegen mit: »Die von vornehmen Väter abstammen, achten und verehren wir, die dagegen nicht aus vornehmem Hause sind, achten und verehren wir nicht.« Diels II, 87 B 44 Col 2. 166 Hdt. I, 134.

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ruh, auch die Sklaverei kritisiert haben. Dafür gebe es zwar keinen direkten Beleg, aber es liege durchaus in der Logik der Argumentation, jenes »Barbaren wie Hellenen« um ein »Sklaven wie Freie« oder »Männer wie Frauen« zu erweitern. 167 Unruh weist darauf hin, dass es dennoch unwahrscheinlich sei, dass Antiphon eine egalitaristische Position 168 vertreten habe. Es gebe keine Anzeichen dafür, die körperlichen und geistigen Unterschiede zugunsten einer naturwidrigen Gleichmacherei zu übergehen. Es gibt allerdings auch keine Anzeichen dafür, dass Antiphon diesen Unterschieden für das Zusammenleben der Menschen irgendeine Geltung eingeräumt hätte oder dafür, dass er sie außerhalb einer gesellschaftskritischen Sicht überhaupt in den Blick genommen hat. Im συμφέρων wird nur ersichtlich, was für den Menschen jeweils zuträglich ist, das heißt, was das Leben schmerzfreier und angenehmer macht. »Atmen wir doch alle insgesamt durch Mund und Nase in die Luft aus und essen wir doch alle mit Hilfe der Hände«. 169 Die φύσις wird hier in keinerlei Weise rationalisiert. Dadurch stellt sich die Frage, ob es für Antiphon überhaupt Gesetze geben könnte, die im Einklang mit der φύσις formulierbar wären. Bevor er in Frg. 44 den Prozessverlauf kritisiert, erklärt er, dass es bei der Befolgung der Gesetze möglich sei, das Leiden zu verringern und die Freude zu steigern. »Wenn nun denen, die solche Grundsätze sich aneignen, eine Unterstützung von Seiten der Gesetze zuteil würde und denen, die sie sich nicht aneignen sondern sich widersetzen, ein Schade, so wäre der Gehorsam gegen die Gesetze nicht unvorteilhaft.« 170 Wird mit der spekulativen Äußerung, die Möglichkeit einer φύσις-gerechten Gesetzesordnung in Aussicht gestellt oder sollen die Spekulation und die nachfolgende Kritik am Prozessverlauf zeigen, dass die Gebote der φύσις nicht durch menschengemachte Gesetze realisiert werden, sondern ihre Einhaltung von selbst erzwingen? Für Letzteres spricht vor allem, dass Antiphon einen durch die Gesetze erzeugten Nutzen gänzlich ausschließt. Was sie einfordern, ist stets »Fesselung der Natur«. Außerdem treibt er seine Kritik an der Rechtsausübung so weit, dass ihm selbst ein fairer Prozess, in dem die Zeugen die Wahrheit sagen, ungerecht zu sein

Vgl. Unruh: »Die Gleichheit der Menschen bei Antiphon dem Sophisten«, S. 72 ff. Davon geht bspw. Jaeger aus. Vgl. Jaeger, Werner: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 1, 4. Aufl., Berlin 1959, S. 414. 169 Diels II, 87 B 44 B Col. 2. 170 Ebd., 87 B 44 A Col. 5–6. 167 168

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scheint, weil die Zeugen jemanden belasten, obwohl ihnen kein Unrecht zugefügt wurde. 171 Durch das Abwarten einer Entscheidung und das richterliche Urteil wird seiner Ansicht nach ebenfalls Unrecht ausgeübt, weil dies der einen Seite schade, der anderen nütze. Möglicherweise ging Antiphon davon aus, dass eine Besinnung auf das von Natur aus Gebotene völlig ausreicht, um das menschliche Zusammenleben zu organisieren. Die Frage, ob er die Aristokratie befürwortete oder ablehnte, könnte dann damit beantwortet werden, dass er erstens mit der Gleichsetzung aller Menschen jede auf die νόμοι gegründete Selbsteinschätzung ad absurdum führt, weil jeder die eigenen Sitten sowie den eigenen Rang höher schätzt und zweitens »das« Leben selbst antworten lässt: »Das ganze Leben (βίος) ist leicht anzuklagen, wunder wie sehr, mein Bester, denn es enthält nichts Überschwängliches, nichts Großes und Erhabenes, sondern nur Kleines, Schwaches, Kurzdauerndes und mit großen Schmerzen Verbundenes.« 172 Was die Menschen anstreben, biete ihnen das Leben gerade nicht. Da es nun aber die Natur selbst sei, die über das Leben des Einzelnen walte 173, sieht Antiphon vielleicht aus diesem Grund keinerlei Notwendigkeit dafür, ein Leben im Einklang mit der Natur zu propagieren oder darüber nachzudenken, wie bestehende Gesetze eventuell doch mit der Natur in Übereinstimmung gebracht werden könnten. Die Natur richtet, nicht der Mensch. Der Rhetor Alkidamas (5. Jahrhundert), ein Schüler des Gorgias, verbindet die Gleichheitsauffassung ausdrücklich mit der Ablehnung der Sklaverei: »Der Gott hat alle frei geschaffen, und keinen hat die Natur zum Sklaven bestimmt.« 174 Er wendet sich auch gegen die Auffassung, dass es ein von Natur aus bestehendes Recht des Stärkeren gebe. In seinen Reden forderte er die Machthabenden dazu auf, sich für die Schwachen einzusetzen und sah darin die eigentliche Aufgabe der Politik. 175 Der militärische Sieg in einem Krieg künde bspw. nicht von einer natürlichen Überlegenheit des einen gegenüber dem anderen, sondern von einer geschichtlichen Lage, die dem Sieger die Macht zuspiele, aber auch Pflichten auferlege. In der Messenischen Rede nach der Schlacht bei Mantinea fordert Alkidamas die Schonung

171 172 173 174 175

Vgl. ebd., 87 B 44 B Col. 1 f. Ebd., 87 B 51. Vgl. ebd., 87 B 44 A Col. 3. Aristot. rhet. I, 13, 2, 1373b Anm. 38. Vgl. Wolf: Griechisches Rechtsdenken, S. 138 f.

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der Unterlegenen, die Wiedergutmachung des durch den Krieg verursachten Schadens und die Anerkennung des früher von den Spartanern versklavten Messenien als freie und selbstständige Bürgergemeinde. Unabhängig davon, ob in seinen Reden eine gewisse Staatsklugheit oder politische Moral zum Ausdruck kommt, könnten sie ein Mindestmaß an menschlichen Rechten bestätigt haben, so Wolf. 176 Dass die Reden nicht nur auf eine Ächtung der Feinde abzielten, sondern an eine gesamtgriechische Diskussion über die Versklavung von Griechen 177 anschlossen, lässt sich z. B. aus einer Bemerkung Platons schließen: »[E]s gibt wohl, wenn man ganz Griechenland überschaut, kaum eine Frage, die so viel Zweifel und Streit verursacht wie die über das Helotentum bei den Spartanern, das den einen als eine vortreffliche, den anderen als eine verwerfliche Einrichtung erscheint.« 178 Die Kritik an Sparta bezieht sich auf die Versklavung von Hellenen. Die Gegenposition wurde von Isokrates vertreten, der sich auf das Recht der Sieger, die Besiegten zu versklaven, berief und die Gründung einer messenischen Polis unter Beteiligung ehemaliger Heloten strikt ablehnte. 179 Vermutlich forderte Alkidamas keine generelle Abschaffung der Sklaverei, zumal er sonst auch Athen mit in seine Kritik hätte einbeziehen müssen. 180 Mit »allen« sind demnach nicht alle Menschen, sondern die Messenier gemeint. Für Hippias (5. Jahrhundert) steht das Naturgesetz über den Gesetzen der Polis, an denen er kritisiert, dass sie nur der Erfüllung bestimmter politischer Zwecke dienlich sind. »Ihr Männer, die ihr hier beisammen seid, ich halte uns alle für verwandt und zueinander gehörig und für Mitbürger, und zwar von Natur (φυσει), nicht durch Gesetz (νόμω) ; denn das Ähnliche ist mit dem Ähnlichen von Natur Vgl. ebd., S. 139. Das System der »Helotie« wird in Kap. III.1. im Zusammenhang mit der spartanischen Gesellschaftsordnung kurz erläutert. 178 Plat. leg. VI, 19, 776. 179 Vgl. Isokr. or. 23, 29–30, 32. Gegen die von Isokrates 390 v. d. Z. gegründete Schule der Rhetorik konnte sich die Akademie Platons nicht durchsetzen. In der Konkurrenz um Schüler und Einfluss auf das griechische Bildungswesen sowie die Politik blieb Isokrates’ Bildungskonzept dominant. Vgl. Niehues-Pröbsting: Die antike Philosophie, S. 115 ff. 180 Vgl. Welwei: »Ius naturale und ius gentium in der antiken Beurteilung von Sklaverei und Freiheit«, S. 86; Klees, Hans: »Die römische Einbürgerung der Freigelassenen und ihre naturrechtliche Begründung bei Dionysios von Halikarnassos«, in: Laverna 13 (2002), S. 106; Welwei, Karl-Wilhelm: Die griechische Polis. Verfassung und Gesellschaft in archaischer und klassischer Zeit, Stuttgart 1983, S. 242. 176 177

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verwandt, das Gesetz dagegen, dieser Tyrann der Menschen, erzwingt vieles auch wider die Natur.« 181 Ähnlich wie bei Antiphon bestehen in der Sekundärliteratur allerdings Zweifel, wie die Äußerung genau zu verstehen ist. Angesprochen werden konkret die Gesprächsteilnehmer im Protagoras. Beschränkt sich die Ähnlichkeit nun auf Sokrates und die Sophisten, das heißt, einen Kreis von Athenern und Fremden? 182 Wenn es Hippias allein darum ginge, das »Kosmopolitentum der Weisen« 183 oder die Gleichheit der Griechen 184 zu unterstreichen, würde die deutliche Kritik an den Gesetzen jedoch stark relativiert. Für Heraklit war der νόμος göttlich und für Protagoras das Recht eine göttliche Gabe. Hippias identifiziert das Gesetz in schroffem Gegensatz dazu nun mit der Tyrannei. Dass er damit nur das griechische Recht gemeint haben könnte, erscheint wenig plausibel. In den Memorabilien wird ebenfalls von Hippias’ Skepsis gegenüber den νόμοι berichtet. 185 Wie bei Antiphon ergibt sich diese aus deren Änderbarkeit und Unterschiedlichkeit. Auf die Frage, ob er ungeschriebene Gesetze (άγραφοι νόμοι) kenne, erwidert Hippias aber: »Ja, solche, […] die in jedem Lande in derselben Weise gelten.« 186 Hieraus kann geschlossen werden, dass ihm nicht nur die Unterschiede der Polisgesetzgebungen fragwürdig erschienen, sondern jede Verschiedenheit und Änderbarkeit der von Menschen gemachten Gesetze. Die im Protagoras dazu im Gegensatz stehende Verwandtschaft der Menschen bezieht sich demnach ebenfalls auf alle Menschen und nicht nur auf die Weisen oder Hellenen. Dass Platon Hippias’ These so in den Dialog einführt, als ob sie dazu tauge, den Streit zwischen Protagoras und Plat. Prot. 337. Für die elitäre Lesart spricht, dass auch im folgenden Satz die verwandtschaftliche Zusammengehörigkeit auf die Anwesenden begrenzt wird. »Es wäre doch nun eine Schande, wenn wir, innig vertraut mit dem Wesen der Dinge, wir, die weisesten Männer ganz Griechenlands und als eben solche jetzt hier zusammengekommen in der Stadt, die recht eigentlich der geistige Mittelpunkt Griechenlands ist, und innerhalb dieser Stadt selbst wieder in ihrem glänzendsten und gesegnetsten Hause – wenn wir nichts dieser Erhabenheit Würdiges vorführen, sondern uns wie die kleinlichsten Menschen nur miteinander herumstreiten wollten.« Ebd. 183 Vgl. Neschke-Hentschke, Ada: Politik und Philosophie bei Plato und Aristoteles. Die Stellung der »NOMOI« im Platonischen Gesamtwerk und die politische Theorie des Aristoteles, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2004, S. 80, Anm. 98. 184 Vgl. Reimer, Franz: »Natürliche Gleichheit und gesetzliche Unterscheidung – Zur Nomos-Physis-Antithese bei Hippias von Elis«, in: Kirste/Waechter/Walther (Hg.): Die Sophistik, S. 98 ff. 185 Vgl. Xen. mem. IV, 4, 14. 186 Ebd., IV, 4, 19. 181 182

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Sokrates über die Gesprächsführung beizulegen, ist meines Erachtens als Polemik zu verstehen. Die Annahme, dass aus der natürlichen Verwandtschaft der Menschen ein Handlungsprinzip abzuleiten wäre, wird ad absurdum geführt. Schon die Regelung eines Gesprächs lässt sich damit nicht bewerkstelligen. Indem Platon Hippias außerdem noch vorschlagen lässt, in dem Streit den Schiedsrichter zu spielen, wird die Ironie auf die Spitze getrieben – gerade der, der den νόμοι so skeptisch gegenübersteht, möchte nun Richter sein! 187 Hippias’ Grundposition bezüglich des Verhältnisses von Gesetz und Natur wird in den Memorabilien demnach deutlicher, auch wenn der Dialog nicht sonderlich in die Tiefe geht. Um die Behauptung aufrechtzuerhalten, dass es gerecht sei, den Gesetzen zu folgen, stellt Sokrates die Frage nach den ungeschriebenen Gesetzen, die überall gelten. Dazu zählt er die Pflicht der Kinder, die Eltern zu ehren, und die Pflicht der Eltern, nicht mit den Kindern geschlechtlich zu verkehren. 188 Erstere erkennt Hippias sofort an, letztere nach kurzer Überredung. Er durchschaut allerdings nicht, dass Sokrates seine Argumentation damit stützt, dass die ungeschriebenen Gesetze dem von Natur aus Zuträglichen entsprechen. Erst nach diesem unartikulierten Umweg über die φύσις geht Sokrates dann dazu über, die Dankbarkeit für eine Wohltat als gleichermaßen universelles Gesetz zu kennzeichnen. Beide Seiten machen letztlich Zugeständnisse. Hippias muss anerkennen, dass der νόμος-Begriff nicht gänzlich verworfen werden kann, Sokrates muss sich dafür allerdings von der Ebene der faktisch geltenden νόμοι wegbewegen und kann nur im Hinblick auf die von den Göttern geschaffenen Gesetze an seiner Behauptung von der Gerechtigkeit der Gesetze festhalten. Nach Lykophron (4. Jahrhundert) sollen die politisch Handelnden die Rechte der Bürger schützen und die Sicherheit und Ordnung in der Polis aufrechterhalten. Das Zusammenleben in der Polis beruht seiner Ansicht nach auf Gesetzen, die die Bürger wie einen Vertrag abgeschlossen haben. Aristoteles hatte auf diese These hingewiesen, um zu verdeutlichen, dass das Gesetz kein bloßer Vertrag ist – vergleichbar mit Handels- oder gegenseitigen Schutzverträgen – der, wenn ihn Bürger vereinbaren, schon zur Bildung einer politischen 187 Weitere Hinweise zur ironischen Lesart, im Unterschied zu einer elitären und einer egalitären werden dargestellt von Reimer: »Natürliche Gleichheit und gesetzliche Unterscheidung«, S. 95–101. 188 Vgl. Xen. mem. IV, 4, 20.

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Gemeinschaft genüge. 189 Darüber hinaus sieht Lykophron in den Standesunterschieden der Bürger etwas Scheinbares und daher Nichtiges. »Wenn man sie (die edle Geburt) mit anderen Gütern vergleicht, so ist das Schöne der edlen Geburt obskur, nur dem Worte nach etwas Würdiges. Sie zu bevorzugen, ist eine Sache der bloßen Meinung. In Wahrheit gibt es keinen Unterschied zwischen den unedel und den edel Geborenen.« 190 Seine Lehre steht im Gegensatz zu den Naturrechtslehren jener Sophisten, die die soziale Ungleichheit mit dem Recht des Stärkeren begründeten. Dazu zählen bspw. Thrasymachos, Kallikles und Kritias. 191 Während sich Antiphon ausdrücklich auf basale Merkmale der natürlichen Gleichartigkeit der Menschen bezieht, könnte Lykophron die Gleichheit politisch begründet haben. In diesem Sinne erläutert Wolf: Indem alle diese unabhängigen Bürger miteinander zu ihrem eigenen Nutzen den νομος vereinbaren, erweisen sie sich als die eigentlichen Träger des politischen Ganzen. Sie sind als Politen, die frei sind, auch gleich, nämlich politisch gleichwertig für die Polis. Dem gegenüber käme kein τυραννος auf und zeige er noch so viel »angeborene Stärke«. 192

Die Bezugnahme auf die Gebürtlichkeit des Menschen in der Adelskritik scheint jedoch dafür zu sprechen, dass Lykophron auch der Gedanke der natürlichen Gleichartigkeit nicht fremd war. Dass die Sophisten φύσις und νομος nicht nur antithetisch einander gegenüber stellten, sondern auch die These einer Begründung des νομος in der φύσις kannten, verdeutlicht das vermutlich um 400 entstandene Fragment eines unbekannten Sophisten. Da die Menschen nicht imstande sind, für sich allein zu leben, sondern der Not gehorchend sich zusammengeschlossen haben – denn alle ihre Lebenseinrichtungen und technischen Erfindungen sind unter dem Drucke der Not entstanden; zusammenzuleben und doch ohne Gesetz zu sein, erwies sich aber als unmöglich – … darum herrschen Gesetz und Recht königlich

Vgl. Aristot. pol. III, 9, 1280b. Als Polis gilt ihm erst »die Gemeinschaft in einem guten Leben unter Häusern und Geschlechtern zum Zwecke eines vollkommenen und sich selbst genügenden Daseins«. Ebd. 190 Aristot.: Werke, Bd. 20: Fragmente, Teil 1, S. 84 (aus der Schrift Über die edle Geburt). 191 Vgl. Plat. rep. I, 12, 338; Plat. Gorg. 39, 483. 192 Wolf: Griechisches Rechtsdenken, S. 137. 189

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über Menschen und werden niemals beseitigt werden, denn sie sind in der Natur (φύσει) fest begründet. 193

Aus der Feststellung, dass jede Herrschaft der Gesetze bedarf, wird aber nicht die Konsequenz gezogen, dass die Bürger vor dem Gesetz gleich sind. Die Hochschätzung der ἀρετή in den anderen Fragmenten deutet eher auf eine elitäre Gesellschaftsauffassung hin. Im Unterschied zu Thrasymachos behauptet der Anonymus, dass auch eine Tyrannis die Gesetze beachten und schützen muss. 194 Die Lehren der Sophisten können als Vorläufer des Naturrechtsdenkens und damit als eine frühe Wegmarke zur Idee der Menschenrechte verstanden werden. 195 In ihren Ansichten geraten ἀλήθεια und δόξα sowie φύσις und νομος in einen Gegensatz. Jene Entscheidung über die Frage nach dem Wesen des Menschen, wie sie den neuzeitlichen, erklärten Menschenrechten zugrunde liegt, setzt voraus, dass es eine mit einer bestimmten Wertigkeit verbundene Natur des Menschen gibt. Die Sophisten verweisen auf Verhaltensregeln, die der Natur entsprechen, und solche ersetzen sollen, die durch Gewohnheit entstanden sind. Vom protagoreischen Denken aus konnte die Wahrheitsfrage nicht gestellt werden, da Wahrheit für Protagoras mit der Anwesenheit des Seienden identisch ist. Ebenso wenig können unter dieser Voraussetzung die Gerechtigkeit oder die Natur des Menschen fragwürdig werden. Auch wenn nicht die Sophistik, sondern Sokrates anfängt, die griechischen Grundbegriffe als Ideen zu deuten und damit eine Ideengeschichte einzuleiten 196, sprechen sich doch in den sophistischen Lehren Erfahrungen aus, ohne die das sokratische Fragen vielleicht nicht hätte beginnen können. Eine dieser Erfahrungen ist jene vom Widerspruch zwischen den Gesetzen der Polis und denen Anonymus Iamblichi: Fragmente, 89 6 1 (Übers. aus: Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 14.) 194 Vgl. Kirste, Stephan: »Einleitung«, in: ders./Waechter/Walther (Hg.): Die Sophistik, S. 10 f. 195 Vgl. Georgopoulou-Nikolakakou, Nikolitsa: »Die Geburt des Menschenrechtsgedankens in der europäischen (griechisch-römischen) Antike«, in: Voigt, Uwe (Hg.): Die Menschenrechte im interkulturellen Dialog, Frankfurt a. M. 1998; Oestreich: »Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß«, S. 15. 196 Vgl. Kap. IV. Zur Frage nach dem Einfluss des Eleatismus auf das Denken Platons vgl. Liebrucks, Bruno: Platons Entwicklung zur Dialektik. Untersuchungen zum Problem des Eleatismus, Frankfurt a. M. 1949. 193

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der Natur. Die Erfahrung, dass die Gesetze nicht immer gerecht sind, die Natur aber klar vorschreibt, was dem Menschen zuträglich ist, veranlasst Antiphon dazu, die Wahrheit scharf von bloßen Meinungen und Gesetzen abzugrenzen. Wer der Natur zuwider handelt, wird durch Wahrheit geschädigt. Die Klarheit darüber, was das Zuträgliche ist, ergibt sich für Antiphon primär aus den Gefühlen. Schmerz und Freude könne ein Mensch unmöglich gleichzeitig verspüren. Φύσις ist für die Sophisten nicht das Erscheinen des Seienden im Ganzen, so wie bei Heraklit, sondern ein bestimmtes Seiendes, das sich dadurch auszeichnet, nicht der Veränderung und Gestaltung zu unterliegen. Was genau damit gemeint ist, geht deutlicher aus der von Aristoteles gegen Antiphon erhobenen Kritik an seinem φύσις-Verständnis hervor. 197 Antiphon vertrat demnach eine Elementelehre, derzufolge die Natur bzw. das Wesen einer vorhandenen Sache jeweils elementare Stoffe seien. Als Beispiel führt er an, dass die Naturanlage einer Liege das Holz bzw. die Erde sei, denn »[w]enn man eine Liege in die Erde eingrübe und die Verrottung die Kraft bekäme, einen Sproß herauswachsen zu lassen, dann würde der nicht eine Liege, sondern nur Holz«. 198 Die Liege ist demnach ein künstliches Produkt, das Holz dagegen der beständigere Stoff und das Element Erde eine unveränderliche Naturanlage. Die Natur wird von Antiphon nicht als Idee vorgestellt. Die natürliche Gleichheit der Menschen ergibt sich aus ihrer gleichbleibenden leiblichen Verfassung, allerdings nicht in dem Sinne, dass Ungleichheiten bezüglich der Stärke, Klugheit usw. nicht ins Gewicht fielen, sondern insofern, als alle Menschen geboren werden, atmen, essen usw. Die Gleichheit wird im leiblich erfahrenen Weltbezug gesehen und nicht einer Deskription äußerer Merkmale des Körpers entnommen. Das Liegen-Beispiel illustriert auch, weshalb Antiphon nicht nach Gesetzen, die mit der φύσις übereinstimmen, fragt. Ebenso wie die Liege sind Gesetze bloß vergängliche, unbeständige Erzeugnisse, die im Vergleich zu den Elementen nicht wahrhaft seiend sind. Die Elemente sind die φύσις und bestimmen daher, nach Aristoteles’ Darstellung, das Sein. Sie verweilen dauerhaft als etwas Anwesendes, ohne sich zu ändern. Mit dem Begriff 197 Siehe dazu Heidegger, Martin: »Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles«, Physik B, 1, in: ders.: Wegmarken, 2., erw. und durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 1978, S. 263–268. 198 Aristot. phys. II, 1, 193a.

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Anfänge des Rechtsdenkens bei den Griechen

der φύσις ist bei Antiphon demnach eine Wertigkeit innerhalb der Seinsordnung verbunden, welche die Suche nach einer Übereinstimmung von Natur und Gesetz von vornherein überflüssig erscheinen lässt. Zwischen dem Wesen und dem Unwesentlichen kann es ebenso wie zwischen Sein und Schein keine substanzielle Übereinstimmung geben. Die sophistischen Lehren sind Vorläufer des Naturrechtsdenkens, weil ihre Auffassungen von der menschlichen Natur zu sehr an konkrete Phänomene der Leiblichkeit gebunden bleiben. Obwohl den Äußerungen eine gewisse Empörung über die gesetzlichen Ordnungen der Poleis abzulesen ist und der Geburtsadel kritisiert wird, können auf der Grundlage der sophistischen φύσις-Vorstellung kaum normative Geltungsansprüche formuliert werden. Es gibt keine Hinweise darauf, dass das Abstammungsprinzip zugunsten einer egalitaristischen Auffassung abgelehnt wurde. Wahrscheinlicher ist, dass ihre Auffassungen von der natürlichen Gleichartigkeit mit der geometrischen Gleichheit vereinbar sind, wobei Eignung und Leistung für die Ämterverteilung maßgebend sein sollten und nicht die Abstammung. Allein Hippias bezieht sich auf ungeschriebene Gesetze (άγραφοι νόμοι). Folglich beinhalten die geltenden Gesetze aus sophistischer Perspektive kaum etwas wesentlich Gutes und dauerhaft Gültiges. Sie sind den wechselnden Interessen Mächtiger oder anderen Zwecken, bspw. dem Schutz der Schwachen, ausgeliefert, ohne aus sich heraus einen höheren Anspruch auf Beständigkeit oder gar Universalität stellen zu können. 199 So besehen lassen sich aus einigen sophistischen Äußerungen auch zynische Folgerungen ableiten. Bleibt nach Antiphon die unentdeckte Tat ohne Strafe, dann kann das Gesetzesrecht so lange verletzt werden, wie es keinen Zeugen gibt. Für Kritias war der Götterglaube nur eine Erfindung, die jedem einbläuen sollte, dass er sich immer unter Aufsicht befände. 200 Die Schwäche der sophistischen Rechtslehren liegt in der oberflächlichen Begründung, wenn nicht gar gänzlichen Ablehnung des Gerechtigkeitsbegriffs, so dass sie nur begrenzt auf eine universale und egalitäre Norm hindeuten. 201 Dennoch ist es ihnen zu verdanken, dem Begriff der Natur durch das συμφέρων eine von religiösen Vorstellungen unabhängige Wertigkeit verliehen zu haben. Das von Natur aus Zuträg199 200 201

Vgl. Coing: Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 7. Vgl. Kritias: Fragmente, 88 B 25. Vgl. Horn: »Menschenrechte bei Aristoteles?«, S. 111.

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»Natürliche Gleichheit« bei Antiphon, Alkidamas, Hippias und Lykophron

liche ist nicht austauschbar und gibt zumindest einen gewissen Anhalt dafür, was der Einzelne zu tun hat und was nicht. Im συμφέρων wird eine Orientierung an basalen von allen Menschen geteilten Bedürfnissen erkennbar. Davon leiteten die älteren Sophisten immerhin ihre Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Rangordnungen ab. Diese Sichtweise konnte sich allerdings schon innerhalb der Sophistik nicht durchsetzen. Die jüngere Sophistik, deren Thesen in den platonischen Dialogen ausgiebiger diskutiert werden, identifiziert das von Natur aus Gebotene mit dem Recht des Stärkeren. Trotz der schon früh beginnenden philosophischen Auseinandersetzungen über das Wesen des Menschen, ging aus dem griechischen Denken bis zu den Lehren der Stoa kein Kollektivbegriff hervor, der eine allen Menschen immanent gemeinsame Natur beschreibt. Begriffe wie »Menschheit« oder »Menschengeschlecht« kannte das Griechische nicht. 202 Erstaunlicherweise sind in den Debatten der Sophisten aber schon grundsätzliche Positionen vorgezeichnet, die die Auseinandersetzungen um gerechtere gesellschaftliche Verhältnisse stets begleiten werden. 203 202 Die Aussagen über das Wesen des Menschen, dienten zumeist der Abgrenzung von den Göttern und den Tieren und nicht der Formulierung einer Menschheitsidee. Die Herkunft des lateinischen Begriffs »homo« von »humus« (»Erdboden«) verweist auf den Wohnsitz der Sterblichen, wohingegen die unsterblichen Götter den Himmel bewohnen. Beim Vergleich der Menschen mit den Göttern und den Tieren wird der Mensch mal als »Mängelwesen« beschrieben (Anaximander, Anaxagoras) oder als – zumindest gegenüber den Tieren – herausragendes Wesen (Diogenes von Apollonia). Dass der Mensch sich nicht zum Gott erheben und nicht ins Animalische zurückfallen darf, deutet auf das Fehlen einer metaphysisch gedachten Vorstellung vom Menschen. Worin sollte die allen gemeinsame menschliche Natur begründet sein, wenn der Mensch angeblich durchaus wie ein Tier leben kann? Erst mit der platonischen »Lösung« des Leib-Seele-Problems und der Betonung des Vernunftaspekts in der Seele wird jener Prozess eingeleitet, der letztlich zur Herausbildung der Idee eines vernunftbegabten Subjekts führt. Vgl. Bödeker, Hans Erich: »Menschheit, Menschengeschlecht«, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, völlig neubearb. Ausg. des ›Wörterbuchs der philosophischen Begriffe‹ von Rudolf Eisler, Bd. 5, Basel 1980, S. 1127 f. und Hügli, Anton: »›Mensch‹ II. Antike und Bibel«, in: Ritter/Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, S. 1062–1065. 203 Z. B. erinnert laut Müller Antiphons Plädoyer für ein Leben in Freiheit gemäß den Geboten der Natur an Rousseaus Schrift Abhandlung von dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. Vgl. Müller, Reimar: Anthropologie und Geschichte. Rousseaus frühe Schriften und die antike Tradition, Berlin 1997, S. 54. Coing sieht eine Parallele zwischen Antiphons Ansichten und Freuds Unbehagen in der Kultur. Vgl. Coing: Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 9.

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III. Politische Freiheit und politische Rechte

1.

Die Verfassung der Polis

Was zeichnete die Polis als den Ort, an dem die Ideen von Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Gerechtigkeit entstehen konnten, aus? Kannte die Polis auch Rechte, die gegenüber allen Menschen einzuhalten waren? Die Polis (griech. »Mitte«) entstand im 8. Jahrhundert aus dem freiwilligen Zusammenschluss einzelner Höfe zu einer Dorfgemeinschaft von Bauern. 1 Sie wurde nicht aufgrund von Machtansprüchen einzelner Herren oder eines königlichen Befehls gegründet. Jede Hausgemeinschaft (οίκος) erhielt einen Anteil am gemeinsam ererbten oder eroberten Ackerland. Im Mittelpunkt der Polis befand sich der heilige Tempelbezirk, der oft auf einem Hügel mit burgähnlichen Verteidigungsbauten gelegen war (ἀκρόπολις). Die ersten Poleis waren örtliche Zusammenschlüsse Blutsverwandter. 2 Entscheidend war, dass weniger die geographischen Bedingungen das Zusammengehören der Menschen bestimmten als deren freiwillige Entscheidung, ein Dorf zu gründen. Somit konstituierte sich das Volk (δήμος) nicht als territoriale Einheit, sondern als Synoikismus. 3 Bürger konnte nur sein, wer durch Geburt der Polis angehörte. Erst später wurde es üblich, Fremde in die Polis aufzunehmen und auch

1 Zur Entstehung der Polis vgl. Barta, Heinz: »Graeca non leguntur«? Zu den Ursprüngen des europäischen Rechts im antiken Griechenland, Bd. II: Archaische Grundlagen, Teil 2, Wiesbaden 2011, S. 33 ff.; Wolf: Griechisches Rechtsdenken, S. 166–172. 2 Vgl. Voegelin, Eric: Ordnung und Geschichte. Opitz, Peter J./Herz, Dietmar (Hg.), Bd. IV: Die Welt der Polis. Gesellschaft, Mythos und Geschichte. Gebhardt, Jürgen (Hg.), München 2002, S. 144 ff. 3 Vgl. Wolf: Griechisches Rechtsdenken, S. 168; Böckenförde: Geschichte der Rechtsund Staatsphilosophie, S. 15.

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Die Verfassung der Polis

gewaltsame Eingliederungen kleinerer Bürgerschaften in die eigene vorzunehmen. 4 Nahe dem Tempelbezirk befand sich der Versammlungsplatz (άγορά), dort versammelte sich das Volk zur Besprechung der politischen Angelegenheiten und zum Warenaustausch. 5 Vielerorts stand die Teilhabe an der Politik nur den Wohlhabenden zu, weil nur sie durch ihren Besitz von der Arbeit befreit waren. Frauen, Sklaven und Metöken waren von der Politik ohnehin ausgeschlossen. Der Hausherr hatte die Bestimmungsgewalt über seine Frau, die Kinder und, sofern vorhanden, über abhängige Hilfskräfte und Sklaven. Im Gegensatz zur römischen patria potestas gehörte dazu aber nicht das Recht, über Leben und Tod der Familienangehörigen zu verfügen. Die Söhne waren im Erwachsenalter selbstständig. Außerdem wurde das Haus häufig noch zu Lebzeiten an einen Sohn übergeben. Anders als in Rom war die Vermögensfähigkeit nicht auf den Hausherrn beschränkt. 6 Generell waren die Unfreien rechtsunfähig. Ein gewisser Rechtsschutz ergab sich aus ihrem Status als Eigentum eines Herrn, der Klage erheben konnte, falls ein Dritter sich an seinem Sklaven verging. In erster Linie ging es dabei aber um den Schutz des Eigentums, nicht um den des Sklaven. 7 Vor Gericht wurden Sklaven von ihren Herren vertreten. Da sie nicht vereidigt werden konnten, galt ihre Aussage nur, wenn sie unter Folter zustande gekommen war. Für Straftaten wurden Sklaven mit Peitschenhieben bestraft, Freie mit einer Geldstrafe. Der Gewalt des Herrn waren kaum Grenzen gesetzt. Verboten war lediglich die willkürliche Tötung. Laut Isokrates darf kein Sklave ohne Prozess hingerichtet werden. 8 Die Gesetze Drakons sollen für Freie, die vorsätzlich einen Sklaven getötet haben, die To-

Siehe z. B. Thuk. III, 2 ff.; I, 56 ff. Vgl. Wolf: Griechisches Rechtsdenken, S. 167. »Marktplatz« ist für άγορά eine weniger geeignete Übersetzung. Nicht nur, weil άγορά von άγείρειν »versammeln« kommt, sondern auch weil die Beratung über politische Angelegenheiten gegenüber dem Warenaustausch offenbar als höherwertigere Tätigkeit verstanden wurde. Aristoteles fordert sogar die Trennung der politischen Agora von der ökonomischen. Erstere soll allein der politischen Betätigung der Freien dienen und für Arbeiter und Bauern geschlossen sein, sofern sie nicht auf Befehl vor den Behörden zu erscheinen haben. Vgl. Aristot. pol. VII, 12, 1331a-1331b. 6 Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 14. 7 Vgl. Welwei: Die griechische Polis, S. 239 f. 8 Vgl. Isokr. Panathen. 181. 4 5

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Politische Freiheit und politische Rechte

desstrafe vorgesehen haben. 9 Geahndet wurde auch die absichtliche Tötung eines Sklaven nur als Totschlag. Einen gewissen Schutz vor exzessiver Grausamkeit bot das Tempelasyl. 10 In Athen riskierten Herren, die ihre Sklaven zu sehr misshandelten, eine Klage durch Mitbürger. 11 Die Existenz freier Bauern war in Griechenland nicht selbstverständlich, viele lebten im Zuge von Unterwerfung oder Kolonisation in Abhängigkeit und Unfreiheit. Dies betraf hinsichtlich der Kolonisation zumeist die ortsansässigen Bauern. 12 In vielen Städten wurden seit dem 6. Jahrhundert die Königtümer und Tyranneien abgeschafft oder zumindest die Herrschaftsbefugnisse des Königs stark eingeschränkt. Später wurde zugunsten der Demokratie die Macht des Adels zurückgedrängt. Die neuen Verfassungen beruhten auf der Freiheit (ἐλευθερία) der Bürger. Primär beinhaltete die Freiheit die Gestaltung des politischen Lebens durch die Teilnahme an der Volksversammlung, durch Meinungsäußerung, die Beteiligung an Wahlen 13 und der Rechtsprechung sowie durch die Übernahme politischer Ämter. Die Bürger hatten außerdem das Recht, privates Eigentum zu erwerben. Es wurden keine regelmäßigen Steuern erhoben. 14 Die Reichweite dieser Rechte konnte von Polis zu Polis stark variieren, in jedem Falle ist das Bürgerrecht der Griechen eine geschichtliche Neuerung ohne Vorbild. 15 So verschieden die Poleis ihrer Größe nach waren, vom bäuerlichen Dorf bis zur kolonialen Großstadt, unterschieden sich auch ihre politischen Ordnungen. In Sparta stand an der Spitze der Gesellschaftsordnung ein Doppelkönigtum, dessen Macht durch den Rat der Gerusia (γερουσία) und später durch die Ephoren (ἔφορος = »Aufseher«) beschränkt wurde. 16 Die Gerusia war der Rat der Alten, seine Mitglieder mussten über 60 Jahre alt sein und gehörten meist Vgl. Lykurg. Leokr. 65. Vgl. Kap. III.3. 11 Vgl. Aischin. Tim. 17. 12 Vgl. Lotze, Detlef: Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis zum Hellenismus, 3., bearb. u. erw. Aufl., München 1999, S. 24 f. (zum Status der Bauern) u. 26 (zur Kolonisation). 13 Bereits die Verfassung Drakons legte fest, dass die Ämter durch Wahl besetzt werden. Vgl. Aristot. Ath. pol. 4, 1–3. 14 Vgl. Meier: »Die griechisch-römische Tradition«, S. 99. 15 Vgl. Deininger: »Eine historische Vorstufe der Menschenrechte: Die Rechte des freien Bürgers in der Antike«, S. 64 f. 16 Zur Gesellschaftsordnung Spartas vgl. Lotze: Griechische Geschichte, S. 31–37. 9

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angesehenen Familien an. Das Gremium sorgte für die Rechtsprechung in wichtigen politischen Fällen und fertigte für die Volksversammlung Gesetzesvorlagen an. Das Volk hatte das Recht, Gesetze zu billigen oder zu verwerfen, aber es durfte keine eigenen Vorlagen oder Änderungsvorschläge einbringen. Zur Teilnahme an der Apella war jeder wehrfähige Bürger berechtigt, der das spartanische Erziehungssystem (ἀγωγή) durchlaufen hatte – das heißt, ab dem 20. Lebensjahr 17. Seit dem 6. Jahrhundert gewannen die Ephoren, die aus dem Volk gewählt wurden, an politischer Bedeutung hinzu. Sie übernahmen sämtliche Regierungsgeschäfte, die nicht von der Gerusia erledigt wurden. Das Königtum blieb in Sparta und einigen anderen Poleis länger bestehen, aber seine Macht ging nach und nach auf das politische Volk über, zuletzt war der König nur noch der »Erste unter Gleichen«, dem einige Ehrenrechte blieben. 18 Seine Machtbefugnisse als Feldherr wurden durch Kontrollräte und die Forderung nach Rechenschaftsberichten eingeschränkt. Später wurde auch Spartiaten und sogar Mothakes, das sind Söhne spartanischer Väter und helotischer oder periökischer Mütter, das Amt der Heeresführung übertragen. Vor allem dieser Aspekt und die Besetzung des Ephorats aus Spartiaten lassen auf einen relativ hohen Grad an Gleichrangigkeit unter den Bürgern schließen. 19 Die Könige waren außerdem dazu verpflichtet, monatlich zu schwören, dass sie ihre Herrschaft nach den Gesetzen ausrichten, das Volk versprach im Gegenzug die Achtung des Königtums. Die Legitimität der Gesetzesherrschaft resultierte somit zumindest teilweise aus einem Vertrag, den die Regierenden und Regierten regelmäßig erneuerten. Brieskorn erklärt dazu: »Das Anliegen der Abwehrrechte ist auch in diesem monatlich erneuerten Eid auszumachen, baute er doch eine Hemmschwelle und ein Drohpotential gegen den Amtsmißbrauch auf.« 20 Gegen ein einheitliches Votum der Machthabenden konnte sich die Volksversammlung aber vermutlich nicht durchsetzen, ihr kam in Sparta nur bei Uneinigkeit der leitenden Organe eine Entscheidungsfunktion zu. Vgl. Timmer, Jan: Altersgrenzen politischer Partizipation in antiken Gesellschaften, Berlin 2008, S. 55 f. 18 Vgl. Baltrusch, Ernst: Sparta. Geschichte, Gesellschaft, Kultur, 3. Aufl., München 2007, S. 23 ff. 19 Zur politischen Ordnung Spartas merkt Polybios an: »Durch diese Ordnung des Staates hat er [Lykurg, O. B.] den Spartanern länger als irgendeinem anderen Volk, von dem wir wissen, die Freiheit bewahrt.« Pol. VI, 10. 20 Brieskorn: Menschenrechte, S. 31. 17

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Das Besondere an der spartanischen Gesellschaftsordnung war, dass die Anzahl der Vollbürger deutlich geringer war als die der unterdrückten Heloten. Die Heloten waren griechische hörige Bauern, die die Hälfte ihrer Erträge an die Spartaner abzugeben hatten. Gerade das gesellschaftliche Ungleichgewicht erforderte eine außerordentliche Steigerung der militärischen Leistungsfähigkeit. Die Helotie unterscheidet sich von der Sklaverei dadurch, dass der Einzelne nicht ausschließlich einem Herrn unterworfen war, sondern in erster Linie dem Gemeinwesen. Den Heloten blieb ihr Bodenbesitz, sodass sie ein familiäres Leben führen konnten. Außerdem durften sie nicht von ihren Herrn verkauft oder freigelassen werden. Zwischen den Heloten und Spartiaten herrschte ein permanenter Kriegszustand, der jährlich durch eine Kriegserklärung der Ephoren erneuert wurde. Laut Plutarch, der sich auf Aristoteles’ verloren gegangene Schrift über die spartanische Verfassung beruft, rechtfertigte der Kriegszustand die Praxis der Krypteia, die es jungen Spartanern erlaubt haben soll, bei Nacht in die Häuser von Heloten einzudringen, um die Kräftigsten und Tüchtigsten zu erschlagen. 21 Auch die athenische Polis zeichnet sich zu Beginn durch ein Königtum aus, das später durch den Areopag und die Archonten ersetzt wurde. 22 Die Archonten waren gewählte Beamte, die sich wichtigen öffentlichen Aufgaben widmeten und nach einem Amtsjahr in den Areopag eintraten, der die Archonten beaufsichtigte und vor dem diese Rechenschaft für ihr Handeln ablegen mussten. Im Zuge der Reformen Solons (594/93) und Kleisthenes’ (509–507) erhielten die Bauern mehr demokratische Rechte und die Adelsmacht wurde wesentlich beschränkt. Umstritten ist, mit welcher Reform die Redefreiheit (ίσηγορία) eingeführt wurde. Sie erlaubte es jedem Bürger, an der Volksversammlung (ἐκκλησία), der Ratsversammlung (βουλή) und der Rechtsprechung (ἠλιαία) teilzunehmen. Bei der ίσηγορία handelte es sich nicht um ein individuelles Recht, sondern um eine Besonderheit der politischen Ordnung Athens. 23 In der berühmten Vgl. Plut. Lyk. 28. Nach Ansicht Welweis sind die Thesen von der Krypteia als Initiationsritus oder Terrorinstrument zur Sicherung der Herrschaft zweifelhaft. Vgl. Welwei, Karl-Wilhelm: War die Krypteia ein grausames Terrorinstrument? Zur Entstehung einer Fiktion, in: Laverna 15 (2004), S. 33–46. 22 Zur athenischen Staatsordnung vgl. Lotze: Griechische Geschichte, S. 42 f., 47 ff. u. 52. Vgl. auch Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 26–29. 23 Vgl. Wiltshire: Greece, Rome, and the Bill of Rights, S. 112 f. Dagegen: Barta: »Graeca non leguntur«?, Bd. II, 2, S. 184 f. 21

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Grabrede des Perikles (um 490–429) wird dieser Charakter der ίσηγορία erläutert: Wir vereinigen in uns die Sorge um unser Haus zugleich und unsre Stadt, und den verschiedenen Tätigkeiten zugewandt, ist doch auch in staatlichen Dingen keiner ohne Urteil. Denn einzig bei uns heißt einer, der daran gar keinen Teil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter, und nur wir entscheiden in den Staatsgeschäften selber oder denken sie doch richtig durch. Denn wir sehen nicht im Wort eine Gefahr fürs Tun, wohl aber darin, sich nicht durch Reden zuerst zu belehren, ehe man zur nötigen Tat schreitet. 24

Die Redefreiheit wurde demnach eingeführt, weil sie die bestmögliche Beurteilung der gemeinsamen politischen Angelegenheiten gewährleistet, aber es handelt sich dabei nicht um ein individuelles Recht, das gegen die Gemeinschaft durchgesetzt werden könnte. 25 Der politische Führungsanspruch der alten adligen Familien wurde durch die Reformen noch nicht eingeschränkt. 26 Das Volk konnte sich gegen die Partei der Adligen nur dann durchsetzen, wenn diese untereinander zerstritten waren. Die vollständige Etablierung der Demokratie – Aristoteles spricht von der »radikalen« Demokratie – erfolgte erst mit dem so genannten »Umsturz« des Ephialtes (462/ 61), durch den auch der Areopag und die Beamten vollständig der Kontrolle der demokratischen Gremien unterworfen wurden. 27 Wie vollzog sich der Wandel vom Königtum zur auf ίσηγορία und ἰσονομία beruhenden »Demokratie«? 28 Solon war zum AisymThuk. II, 40. Vgl. Anm. 52 in diesem Kap. 26 Vgl. Meier, Christian: Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin 1993, S. 208 ff. 27 Vgl. Bleicken, Jochen: »Wann begann die athenische Demokratie?«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1: 1. Griechische Geschichte, 2. Römische Geschichte (Anfang). Goldmann, Frank/Merl, Markus/Sehlmeyer, Markus/Walter, Uwe (Hg.), Stuttgart 1998, S. 35 f. 28 Zwischen dem antiken und dem modernen Demokratieverständnis bestehen gravierende Unterschiede. Zu einem allgemeinen »Wert« ist die Demokratie erst im 20. Jahrhundert erhoben worden. Vgl. Meier: »Die griechisch-römische Tradition«. In den antiken Quellen, aber auch in der Neuzeit und der Forschung des 19. Jahrhunderts, wird der Begriff dagegen zumeist abwertend verwendet. Vgl. Bleicken, Jochen: Die athenische Demokratie, 4., völlig überarb. u. wesentlich erw. Aufl., Paderborn München Wien Zürich 1995, S. 679–681. Die Demokratie wird als Willkürherrschaft der Menge beschrieben. Burckhardt kritisiert z. B., dass die individuelle Freiheit insbesondere in der Demokratie nicht geschützt worden wäre. »[D]iese Staatsknechtschaft des Individuums [besteht zwar] unter allen Verfassungen, nur wird sie unter 24 25

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neten, einem »Schlichter« bzw. »Versöhner«, ernannt worden, nachdem sich die sozialen Spannungen zwischen Adligen und Bauern erheblich zugespitzt hatten. Viele Bauern waren verschuldet, hatten ihren Hof verloren und mussten mit ihrem Leib haften. 29 Vor Gericht konnten sie sich kaum durchsetzen, da das Richteramt von Adligen besetzt wurde. Da es zunehmend weniger freie Bauern gab, die sich eine Hoplitenausrüstung leisten konnten, war auch die militärische Wehrfähigkeit der Stadt bedroht. Die erste Maßnahme, die Solon ergriff, war ein Schuldenerlass und ein Verbot der Haftung mit dem Leib. Athener, die als Sklaven ins Ausland verkauft worden waren, wurden zurückgekauft. Solon teilte den Zensus neu ein und legte fest, dass nur die »Fünfhundertscheffler«, also die überdurchschnittlich Wohlhabenden, in das Archontat gewählt werden konnten (Timokratie). 30 Außerdem soll er den Rat der Vierhundert geschaffen haben, in dem vermutlich Anträge für die Volksversammlung vorbesprochen wurden. Das Volksgericht, das vermutlich noch nicht durch Solon geschaffen wurde 31, bot auch den freien Bauern eine Möglichkeit zur Partizipation. Aus dem Volk wurden 6000 Richter durch Los gewählt. Sie leisteten folgenden Eid: Ich werde abstimmen in Übereinstimmung mit den Gesetzen und Beschlüssen des Volkes der Athener und des Rates der 500. […] Und wenn einer die athenische Demokratie umzustürzen versucht oder dagegen spricht oder abstimmen lässt, werde ich mich nicht fügen, ebenso wenig wie bei der privaten Schuldentilgung und bei der Verteilung von Land und Häusern der Athener. […] Und ich werde anhören sowohl den Ankläger als auch den sich Verteidigenden, beide in gleicher Weise, und ich werde (nur) darüber abstimmen, worum es bei der Anklage geht. Schwören soll er bei Zeus, Poseidon und Demeter und Vernichtung auf sich und sein Haus herabbeschwö-

der Demokratie, als sich die verruchtesten Streber für die Polis und deren Interesse ausgeben […] am drückendsten gewesen sein.« Vgl. Burckhardt, Jacob: Griechische Kulturgeschichte, Bd. 1, Gesammelte Werke Bd. 5, Basel Stuttgart 1970, S. 77. Auch das Fehlen von Menschenrechten wird moniert. Vgl. ebd., S. 72. Diese Sichtweise ist durch die neuere Forschung revidiert worden. Der Vergleich mit der antiken Demokratie kann auch dazu dienen, Schwächen oder Probleme der modernen besser zu verstehen. Vgl. z. B. Finley, Moses I.: Antike und moderne Demokratie, Stuttgart 1980. 29 Vgl. Meier: Athen, S. 66. 30 Vgl. ebd., S. 77. 31 Vgl. Bleicken: »Wann begann die athenische Demokratie?«, S. 23.

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ren, wenn er etwas davon übertritt, und sein gesamtes Wohlergehen sei von der rechten Bewahrung des Eides abhängig. 32

Der Eid belegt, dass den gewöhnlichen Bürgern zugetraut wurde, über die Einhaltung der Gesetze zu wachen und zu unabhängigen, unparteiischen Urteilen zu gelangen. Die Verpflichtung, beide Seiten »in gleicher Weise« zu hören, ähnelt dem römischen Rechtsgrundsatz Audiatur et altera pars, »Man höre auch die andere Seite«. Die Unparteilichkeit der Richter wurde durch ein Auswahlverfahren sichergestellt, das den Richtern die Fälle durch Los zuteilte. Es hatte »den Zweck, daß der Richter an den Gerichtshof geht, den er auslost, und nicht an den, den er sich wünscht, und auch den, daß nicht einer einen Gerichtshof zusammensetzen kann, wie er will«. 33 Die Bindung der Richter an das Gesetz und deren Unparteilichkeit sind wesentliche Merkmale einer rechtsstaatlichen Ordnung. Die Richter verpflichten sich dazu, die »Verfassung« – also den Anspruch des Volkes, sich selbst zu beherrschen 34 und Recht zu sprechen – zu schützen. Aus dieser Pflicht ergibt sich für den einzelnen Bürger der Rechtsschutz. Bekräftigt wird durch den Eid zudem der Schutz des Eigentums. Weder dürfen Bürger enteignet noch öffentliche Mittel zur privaten Schuldentilgung verwendet werden. Solon führte das neue Instrument der Popularklage ein, das Bürgern gestattete, anstelle eines Geschädigten zu klagen. So konnte dem Recht auch dann zur Geltung verholfen werden, wenn der Geschädigte vom Täter unter Druck gesetzt wurde. Eine Staatsanwaltschaft gab es nicht. Die Umsetzung der Reform war eine politische Gratwanderung. Sowohl die Adligen als auch die Bauern, die auf eine gleichmäßige Neuverteilung des Landbesitzes gehofft hatten, waren enttäuscht. Solon merkte später an, dass er die verfeindeten Parteien voreinander und sich selbst vor beiden schützen musste, um die von ihm angestrebte gerechte Ordnung (εὐνομία) herzustellen. 35 Einige seiner Maßnahmen, z. B. das Stasis-Gesetz, das die Neutralität angesichts eines drohenden Bürgerkriegs verbot, hatten wohl den Zweck, die

Demosth. Timokr. 149–151. Zur Rekonstruktion des Heliasteneides vgl. Fränkel, Max: »Der Attische Heliasteneid«, in: Hermes 13 (1878), S. 464. 33 Aristot. Ath. pol. 64, 4. 34 »Die Magistrate werden von allen aus allen gewählt. Alle herrschen über jeden und jeder im Turnus über alle.« Aristot. pol. VI, 2, 1317b. 35 Die Eunomia stellt sich ein, wenn das Handeln dem »unsichtbaren Maß der Götter« folgt. Vgl. dazu Voegelin: Ordnung und Geschichte, Bd. V, S. 53. 32

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Bürger zur politischen Verantwortung zu erziehen. 36 Wer nicht das Bürgerrecht verlieren wollte, musste in der Öffentlichkeit seine Meinung vertreten. Die Notwendigkeit eines solchen Gesetzes macht zugleich deutlich, weshalb Solon es nicht für sinnvoll erachtete, den Bauern mehr politische Rechte zuzugestehen. Nicht aus Sorge um das Ganze der Polis, sondern unter dem Zwang der materiellen Not hatten sie sich erhoben. Demnach strebten sie weniger eine gerechte Ordnung als die Verbesserung ihrer ökonomischen Situation an. Einige Aspekte der von Solon beabsichtigten Eunomie – innenpolitische Ruhe, wirtschaftliche Prosperität und Rechtssicherheit – wurden erst unter der Tyrannis des Peisistratos realisiert. 37 Solon hatte es stets abgelehnt, die Reform als Tyrann durchzusetzen. 38 Mit der Reform des Kleisthenes wird einer auf Isonomie beruhenden »Demokratie« der Weg geebnet. Durch eine Neuaufteilung der Phylen, nach der jeder Phyle jeweils eine Gemeinde (Demen) aus den drei Regionen Stadtgebiet, Binnenland und Küstengebiet zugeordnet wurde, gelang es ihm, die verschiedenen Landstriche besser in die politische Gemeinschaft zu integrieren. Während die Tyrannen darauf bedacht waren, die Bürger voneinander zu isolieren und Misstrauen zwischen ihnen zu säen, zielte die Phylenreform darauf ab, die Bürger entfernter Regionen zur Kooperation zu motivieren. Jene Solidarität und Vertrautheit, die die Bürger nur aus ihren nachbarschaftlichen Verhältnissen kannten, sollte nun die Angehörigen einer Phyle (ca. 3500 Bürger) miteinander verbinden. Zugleich trug die Phylenreform dazu bei, die Bildung von Interessengruppen zu unterbinden. 39 »Man muß nämlich […] alles aufbieten, um alle Klassen nach Möglichkeit zu vermischen und die früheren Genossenschaften aufzulösen« 40, merkt Aristoteles an. Meier hebt hervor, dass es sich bei den Phylen um »rational« und »künstlich geschaffene Unterabteilungen« handelt. 41 In jeder Phyle wurde unabhängig von der jeweiligen Interessenlage der betroffenen Bürger schlicht ein Zehntel der Bürgerschaft zusammengefasst. Angeblich entschied Kleisthenes Ausführlich dazu: Schmitz, Winfried: »Athen – Eine wehrhafte Demokratie? Überlegungen zum Stasisgesetz Solons und zum Ostrakismos«, in: Klio 93,1 (2011), S. 23– 51. Vgl. auch Meier: Athen, S. 184. 37 Vgl. Voegelin: Ordnung und Geschichte, Bd. IV, S. 149 f. 38 Vgl. Meier: Athen, S. 187. 39 Vgl. Bleicken: Die athenische Demokratie, S. 226. 40 Aristot. pol. VI, 4, 1319b. 41 Vgl. Meier: Athen, S. 194. 36

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durch Los, welche Demen zu einer Phyle vereint wurden. Der künstliche Charakter der Phylen sollte durch einige zusätzliche Bestimmungen überwunden werden. 42 Jede Phyle erhielt ihren eigenen Heroenkult. Im Heer wurden die Bürger entsprechend ihrer PhylenZugehörigkeit den Abteilungen zugeordnet, was den Wettkampf um besondere militärische Leistungen zwischen den Phylen förderte. Vor Gericht durfte ein Angeklagter zehn Mitglieder der eigenen Phyle um Unterstützung bitten. In den um hundert Ratsmitglieder erweiterten Rat der Fünfhundert wählte jede Phyle jeweils fünfzig Beamte. 43 Die Phylen waren im Rat, der zur bedeutendsten Behörde der Bürgerschaft aufstieg, also nach Proporz vertreten. Die Zugehörigkeit zur Phyle spiegelte sich in allen Lebensbereichen der Bürger wider. Die Macht der durch die Volksversammlung gewählten Archonten wurde zugunsten der Prytanen 44, der Strategen und des Schatzmeisters geschmälert. Jeder Bürger gehörte der Volksversammlung (ἐκκλησία) an, die Gesetze beschloss, über wichtige tagespolitische Fragen entschied, das Scherbengericht (ὀστρακισμός) 45 abhielt und Richter und Schöffen wählte. 46 Hinsichtlich einer breiteren Beteiligung der Bürger an der Herrschaft war Athen im Vergleich zu anderen Poleis zunächst nicht führend, aber die Besonderheiten der athenischen Polis, die in ihrer Größe, der Stärke des Adels etc. lagen, erforderten eine ebenso tiefgreifende Reform. Insbesondere wirkte sich die historische Situation (Perserkriege) auf die Entwicklung der athenischen Isonomie aus. 47 Angesichts vieler kritischer Beurteilungen antiker Schriftsteller drängt sich die Frage auf, seit wann und unter welchen BedingunVgl. ebd. Vgl. ebd., S. 195. 44 Die fünfzig Vertreter einer Phyle bildeten eine Sektion. Die Sektionen übernahmen der Reihenfolge nach den geschäftsführenden Ausschuss des Rates und hießen in dieser Eigenschaft Prytanen. Vgl. Lotze: Griechische Geschichte, S. 48. 45 Das Scherbengericht war Teil von Kleisthenes’ Reformen. Es gab den Bürgern einmal im Jahr die Gelegenheit, den Namen einer unliebsamen Person auf eine Scherbe zu schreiben, um die am häufigsten genannte Person für zehn Jahre ins Exil zu schicken. Besitz und Ehre der Person sollten dadurch keinen Schaden nehmen. Mit diesem Verfahren konnten politische Rivalitäten zwischen einflussreichen Männern ohne Gewaltanwendung gelöst werden. Vgl. Wiltshire: Greece, Rome, and the Bill of Rights, S. 115. 46 Zu den Aufgaben der Volksversammlung vgl. Aristot. Ath. pol. 43, 4–6. 47 Vgl. Meier, Christian: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a. M. 1980, S. 88 ff. 42 43

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gen der Demokratiebegriff überhaupt im politischen Diskurs prominent wurde. Das Wort δημοκρατία kam bei den Athenern ungefähr seit Mitte des 5. Jahrhunderts zur Bezeichnung ihrer politischen Ordnung in Gebrauch, als sich ein Bewusstsein dafür einstellte, dass sich nach den Perserkriegen die Form der Politik grundlegend geändert hatte. Der ältere Begriff für eine gute Ordnung, die εὐνομία, wurde der neuen Erfahrung nicht gerecht. Bedeutend war, dass seit der Schlacht bei Salamis (480) die gesamte Bürgerschaft nicht nur militärisch, sondern auch politisch aktiv geworden war. Die Schiffe konnten auch mit Besitzlosen (Theten) besetzt werden, von denen nicht verlangt wurde, sich auf eigene Kosten mit der teuren Hoplitenausrüstung zu bewaffnen. 48 Bleicken merkt an: So bleibt für die Bildung eines demokratischen Bewußtseins nur das Erlebnis der Perserkriege, in dem alle Bürger, bei Salamis buchstäblich die gesamte Bürgerschaft, und das heißt der Staat der Athener, aktiv wurden, und nach den großen Schlachten über Jahre hinaus bei außenpolitischen Unternehmungen tätig waren, also die Politik selbst gestalteten. 49

Zwei Hinweise Bleickens sind bezüglich der Herausbildung der demokratischen Ordnung besonders wichtig. Erstens war die Reform des Kleisthenes »nicht die Voraussetzung für den Willen nach politischer Anteilnahme, sondern deren Konsequenz«. 50 Die Mitsprache in der Politik ging der institutionellen Reform voraus. Die Begriffe ίσηγορία und δημοκρατία wurden von griechischen Autoren auch synonym gebraucht. 51 Das zeigt, dass der Begriff der Demokratie im Wesentlichen von der politischen Gleichberechtigung und Redefreiheit her verstanden wurde. 52 Zweitens kamen die Diskussionen über die Getreu des antiken Verständnisses von »Demokratie« als einer »Gemeinschaft bewaffneter Männer« wurde den Theten, laut Canfora, deshalb auch das Bürgerrecht zugestanden. Vgl. Canfora, Luciano: Eine kurze Geschichte der Demokratie. Von Athen bis zur Europäischen Union, 3., durchges. u. verb. Aufl., Köln 2004, S. 35 ff. Siehe auch Aristot. pol. III, 7, 1279b. 49 Bleicken: Die athenische Demokratie, S. 74. 50 Ebd., S. 75. 51 Vgl. Finley: Antike und moderne Demokratie, S. 23. 52 Kritisch merkt Platon an, dass in der Demokratie die Bürger »freie Menschen sind und daß der Staat förmlich überquillt von Freiheit und von Schrankenlosigkeit im Reden, und daß jeder ungehindert tun kann, was ihm nur immer beliebt«. Plat. rep. VIII, 11, 557. Damit wird die Charakterisierung »eines echten Vertreters gleicher Rechte für alle« eingeleitet. Vgl. ebd., VIII, 13, 561. Die ίσηγορία kann nicht mit der Meinungsfreiheit, wie sie in den modernen Demokratien als Recht garantiert wird, gleichgesetzt werden. Denn der Ausdruck bezieht sich primär auf die konkrete politi48

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beste Verfassung (Demokratie, Oligarchie, Alleinherrschaft 53 usw.) erst infolge der Bezeichnung der politischen Ordnung Athens als δημοκρατία auf. »Die Demokratie […] [hat] als die neue Verfassungsform das Verfassungsdenken und den Begriff der Verfassung (πολιτεία) überhaupt erst hervorgebracht«. 54 Die Frage nach der besten Verfassungsform übt im 20. Jahrhundert, in dem die Demokratie zur einzig legitimen Verfassungsform und darüber hinaus zu einem gesellschaftlichen Wert aufgestiegen ist, selbst auf das politische Denken, keinen großen Reiz mehr aus; im antiken Diskurs ist dagegen die Feststellung, dass Gemeinwesen verfasst sind, und dies auf unterschiedliche Weise, unmittelbare Folge der Entstehung »der« Demokratie. Hinsichtlich der Beteiligung der ärmeren Bevölkerung war Athen zum Vorbild für andere Poleis geworden. Die demokratisch Gesinnten konnten zur Durchsetzung ihrer Interessen auf die Hilfe Athens hoffen. Zur Erweiterung ihrer Machtstellung verhalfen die Athener auch gewaltsam dem Volk in einigen Poleis zur Herrschaft. Innerhalb des attischen Seebundes (gegründet 478/477) erwies sich Athen aber bald als Hegemon. Über die ursprünglich zur Verteidigung gegen die Perser geleisteten Tribute verfügte nicht mehr eine sche Aktivität. »Redefreiheit« bedeutet nicht, dass jemand an der Meinungsäußerung nicht gehindert werden dürfe – dies war durchaus der Fall, wenn z. B. religiöse Vorstellungen verletzt wurden – sondern, dass jeder direkten und gleichen Anteil an der Regierungstätigkeit hat. Der Umfang dieser Teilnahme ging, wie Finley betont, »über das uns bekannte, ja fast über das uns vorstellbare Maß hinaus«. Finley: Antike und moderne Demokratie, S. 24. Das wird deutlich, wenn man sich die Möglichkeiten und Häufigkeit der Amtsausübungen vor Augen führt, die ein einzelner Bürger übernehmen konnte. »Es traf durchaus im buchstäblichen Sinne zu, daß ein athenischer Knabe bei seiner Geburt keineswegs nur die Zufallschance hatte, einmal in seinem Leben in der Volksversammlung den Vorsitz zu führen und damit den höchsten, täglich wechselnden und wie in fast allen anderen Fällen durch das Ziehen des Loses besetzten Posten zu bekleiden. Er konnte Marktaufseher für ein Jahr werden, Mitglied des Rats der Fünfhundert für ein oder zwei (allerdings nicht unmittelbar aufeinanderfolgende) Jahre, Geschworenenrichter zu wiederholten Malen und abstimmendes Mitglied der Volksversammlung, sooft er es wünschte. Und hinter dieser unmittelbaren Erfahrung, zu der man noch die Verwaltung der etwa hundert Unterbezirke oder ›Demen‹, in die Athen eingeteilt war, hinzurechnen sollte, stand auch die allgemeine Vertrautheit mit den Staatsangelegenheiten, denen selbst der Uninteressierte und Teilnahmslose in einer so kleinen, überschaubaren Gesellschaft, in der man sich täglich sah, nicht entgehen konnte.« Ebd. 53 Nach diesen drei Herrschaftsformen wird in der ältesten Verfassungstypologie, der Herodots, differenziert. Vgl. Hdt. III, 80 ff. 54 Bleicken: Die athenische Demokratie, S. 71.

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Bundesversammlung, sondern allein das athenische Volk, nachdem die Seebundkasse 454 von Delos nach Athen verlegt worden war. Die enormen Summen, die Athen zuflossen, dienten laut Finley auch der Stabilisierung der athenischen Demokratie, denn mit ihnen konnten die ärmeren Bürger für ihre politische Aktivität entschädigt werden. 55 Die hegemoniale Politik Athens rief von Seiten der griechischen Eliten, deren Macht durch die δημοκρατία beschränkt oder aufgehoben worden war, Widerstand hervor. In diesem Zusammenhang wird nun der Begriff der Oligarchie als politischer Gegenbegriff zu dem der Demokratie eingeführt. 56 Die antiken Kritiker der Demokratie forderten einen politischrechtlichen Vorzug gemäß dem Anteil, den sie im Vergleich zu den Armen mehr für das Wohl der Polis leisten. In ihren Augen ist die Demokratie eine ungerechte Willkürherrschaft, weil ihnen dieser ihrer Leistung entsprechende Anteil vorenthalten wird. Laut Platon pervertiert die Demokratie die Sitten, »denn Übermut heißt nun Wohlgezogenheit, Zügellosigkeit Freiheit, Schwelgerei Großzügigkeit, Schamlosigkeit Männlichkeit«. 57 Aristoteles bezeichnet die »extreme Demokratie« als eine »vielköpfige Gewaltherrschaft« und ordnet sie generell zusammen mit der Tyrannis und der Oligarchie den schlechten Verfassungen zu. 58 In der Athenaíon politeía, deren Verfasser unbekannt ist, heißt es: »Wer aber, ohne dem Volk anzugehören, es vorgezogen hat, in einer demokratisch verfassten Stadt poVgl. Finley: Antike und moderne Demokratie, S. 53 f. »[U]nter dem Zwang, der demokratischen Verfassung eine andere entgegenzustellen, fanden die Gegner Athens für diese anti- oder nichtdemokratische Verfassung den Begriff der ›Oligarchie‹. Das Wort besagte im Grunde nur, daß in dieser Verfassung nicht der ganze Demos, sondern lediglich ein Teil (meist war es eine durch feste Einkommensschranken nach unten abgegrenzte Schicht, wie es die Hopliten etwa auch gewesen waren) die politische Macht innehatte.« Bleicken: Die athenische Demokratie, S. 69. Einem Fürsprecher der Oligarchie legt Xenophon die Worte in den Mund: »Ich […] habe von jeher jene bekämpft, die da meinen, nicht eher werde es eine gute Demokratie geben, als bis auch die Sklaven und die Ärmsten, die um eine Drachme ihre Vaterstadt verkaufen würden, sich an der Regierung beteiligen könnten; auf der anderen Seite aber war ich stets ebenso der Gegner derer, die die Auffassung vertreten, eine gute Oligarchie lasse sich erst dann verwirklichen, wenn sie die Stadt unter die Tyrannis einiger Weniger gebracht hätten. Denn die Staatsverwaltung mit Hilfe aller derjenigen Bürger, die in der Lage sind, dem Staat mit ihrem Pferd oder ihrer Rüstung zu dienen, habe ich schon früher für die beste gehalten«. Xen. hell. II, 3 (S. 298). 57 Plat. rep. VIII, 13, 560 f. 58 Vgl. Aristot. pol. V, 10, 1312b; III, 8, 1279b. 55 56

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litisch aktiv zu sein, eher als in einer oligarchischen, der hat sich bereit gemacht Unrecht zu tun und hat erkannt, dass es eher in einer demokratisch verfassten Stadt möglich ist, heimlich ein Übeltäter zu sein als in einer oligarchischen.« 59 Hinsichtlich der zum Teil scharfen Kritiken an der Demokratie ist zu beachten, dass sie einer Willkürherrschaft der Mehrheit gilt, weniger einer durch Gesetze verfassten Ordnung, in der die Mehrheit der Bürger politisch aktiv ist. 60 Aristoteles betont, dass Verfassungen nur dann schlecht sind, wenn einer oder mehrere ausschließlich ihre Sonderinteressen verfolgen, nicht aber das Gemeinwohl im Blick haben. 61 Außerdem geht er davon aus, dass die Verfassungsformen, deren Vor- und Nachteile dargestellt werden, kaum in reiner Form realisiert werden. Es handelt sich um Schemata, denen bestimmte, wiederkehrende Merkmale politischer Gemeinwesen zugeordnet werden. Daher kann Aristoteles auch darauf hinweisen, dass eine der besseren Ordnungen, die Politie, eine Kombination demokratischer und oligarchischer Elemente ist und dass sie der Demokratie näher steht als der Oligarchie. 62 Das spezifisch demokratische Element ist laut Aristoteles die Freiheit. Die Besetzung der Ämter durch Wahl – und nicht durch Los – sei dagegen ein Merkmal der Oligarchie. 63 Aristoteles empfiehlt nun eine Mischung der Aspekte. Die Demokratie soll auf das Losverfahren und die Oligarchie auf den Zensus verzichten, sodass die Freiheit aller mit dem Wahlverfahren kombiniert werden kann. Das Ergebnis ist dann eine Verfassung, die »aristokratisch und freistaatlich« ist, denn die Ämter werden nicht mehr nach Los, sondern durch die Wahl der Besten vergeben und niemand wird daran durch einen Zensus gehindert. Aristoteles’ Kritik an der Demokratie ist also durchaus ambivalent. Verworfen wird sie, wenn die Gesetze missachtet werden, Demagogen das Volk anführen und die besseren oder reicheren Bürger in der Volksversammlung Ps. Xen. Ath. pol. II, 20. Zu Situationen, die nicht durch Gesetze geregelt sind, erklärt Aristoteles außerdem, dass sie von der Menge besser beurteilt werden, als von »eine[m] allein, mag er sein wer er will« (Aristot. pol. III, 15, 1286a), und verwirft damit auch das platonische Modell einer Philosophenherrschaft. 61 Vgl. ebd., III, 6, 1279a. 62 Vgl. ebd., VI, 8, 1294a u. V, 1, 1302a. 63 Vgl. ebd., IV, 9, 1294b; Finley erklärt, dass Wahlen als Mittel der Aristokratie betrachtet wurden. Das passt insofern zur Darstellung des Aristoteles, als die Mischung des demokratischen und oligarchischen Elements eine Verfassung ist, die auch »aristokratisch« ist. Vgl. Finley: Antike und moderne Demokratie, S. 24. 59 60

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nicht mehr zu Wort kommen. Aber bei völliger Gesetzlosigkeit und reiner Willkürherrschaft würde es sich, wie Aristoteles selbst anmerkt, auch nicht mehr um eine demokratische Verfassung handeln, denn der Begriff setzt eine gesetzliche Ordnung voraus. 64 Im Gegensatz zu Platon spricht Aristoteles jedoch nicht von einer »gesetzlichen Demokratie«, sondern verwendet dafür das Wort »Politie«. 65 Canfora, der die athenische Demokratie mehr unter dem Gesichtspunkt der hegemonialen Außenpolitik betrachtet, behauptet, dass »keine Texte athenischer Autoren [existieren], die die Demokratie hochleben lassen. Und das wird kein Zufall sein.« 66 Dem widerspricht jedoch ein Passus aus der berühmten Leichenrede. Nach Perikles sind es die Werte Freiheit und Gleichheit, die die Demokratie kennzeichnen. Die Verfassung, nach der wir leben, vergleicht sich mit keiner der fremden; viel eher sind wir für sonst jemand ein Vorbild als Nachahmer anderer. Mit Namen heißt sie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft. Nach dem Gesetz haben in den Streitigkeiten der Bürger alle ihr gleiches Teil, der Geltung nach aber hat im öffentlichen Wesen den Vorzug, wer sich irgendwie Ansehen erworben hat, nicht nach irgendeiner Zugehörigkeit, sondern nach seinem Verdienst; und ebenso wird keiner aus Armut, wenn er für die Stadt etwas leisten könnte, durch die Unscheinbarkeit seines Namens verhindert. […] [F]rei leben wir miteinander im Staat. 67

Auch in der griechischen Tragödie belegen Textstellen, dass sich das demokratische Selbstverständnis auf die politische Gleichberechtigung gründete. 68 Angesichts der Gewaltakte im Peloponnesischen Krieg fordert Euripides die Bürger dazu auf, sich insbesondere an die

»Ist demnach die Demokratie wirklich eine von den Verfassungen, so ist offenbar ein solcher Zustand, wo alles durch die Stimmen abgemacht wird, eigentlich auch keine Demokratie«. Aristot. pol. IV, 4, 1292a. Im korrupten Zustand würde an die »Demokratie« nur noch das Abstimmungsverfahren erinnern, aber die Freiheit wäre vernichtet, weil das Volk nicht mehr eine vielstimmige, politische Größe wäre, sondern, zur »kollektive[n] Einheit« zusammengeschmolzen, nur noch wie ein Tyrann »Befehle« erteilen würde. Ohne Verfassung ist der Demos auch kein Volk mehr, daher spricht Aristoteles von einem »derartigen Volke«. Vgl. ebd. 65 Vgl. Flashar, Hellmut: Aristoteles. Lehrer des Abendlandes, 2., durchges. Aufl., München 2013, S. 124 f. 66 Canfora: Eine kurze Geschichte der Demokratie, S. 20. 67 Thuk. II, 37. 68 Vgl. Eur. Suppl. 426 ff. Eur. Heracl. 181 ff. Eur. Frg. 171. 64

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Pflichten gegenüber Fremden – das Recht auf Asyl und das Recht der Gefangenen auf Schonung ihres Lebens – zu halten. 69 Bemerkenswert ist, dass Perikles die Verteidigung der Demokratie gegen den gängigen Vorwurf des sittlichen Verfalls mit dem Argument stützt, dass die Athener die Herrschaft der Gesetze anerkennen und beim Rechtsschutz insbesondere die Rechte Verfolgter und die Vorschriften des ungeschriebenen Gesetzes beachten. Bei soviel Nachsicht im Umgang von Mensch zu Mensch erlauben wir uns doch im Staat, schon aus Furcht, keine Rechtsverletzung, im Gehorsam gegen die jährlichen Beamten und gegen die Gesetze, vornehmlich die, welche zu Nutz und Frommen der Verfolgten bestehn, und gegen die ungeschriebnen, die nach allgemeinem Urteil Schande bringen. 70

Perikles schlägt eine Brücke von der politischen Freiheit und Gleichheit der Bürger zu den Rechten der Verfolgten und zu den für alle Menschen geltenden ungeschriebenen Gesetzen. Die im politischen Handeln erfahrene Freiheit und Gleichheit schule die Bürger darin, nicht nach Herkunft, sondern dem Verdienst nach zu urteilen. Daher würden die Bürger auch in privaten Verhältnissen rücksichtsvoller miteinander umgehen. Thukydides erzählt, dass sie trotz der »ungebundenen Lebensweise« 71 die Rechte nicht missachten. Der Aufbau der Rede in II, 37 legt aber nahe, dass die Bürger aufgrund der politischen Teilhabe für die Achtung des Asylrechts und des ungeschriebenen Gesetzes sensibilisiert wurden. Die Entstehung der Demokratie wird von der Entwicklung eines normativ anspruchsvollen Gerechtigkeitsverständnisses begleitet, das an die Stelle der Gerechtigkeit durch Rache die des Rechts setzt 72. Dieser Wandel wurde durch die Tragödiendichtung forciert. Im Unterschied zu den Großreichen der Ägypter, Perser und Babylonier, in denen ein Herrscher gottgleich regieren konnte, herrschten in der Polis viele. Die Vielen mussten nicht notwendigerweise die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren, aber – und dieser Gesichtspunkt ist entscheidend – für ihr politisches Handeln bestand das Problem der Rechtfertigung. 73 In den Großreichen blieben geSiehe dazu Kap. III.3. Thuk. II, 37. 71 Vgl. ebd., II, 39. 72 Vgl. Menke, Christoph: Recht und Gewalt, 2. Aufl., Berlin 2012, S. 13–30. 73 Vgl. Krippendorff, Ekkehart: Die Kunst nicht regiert zu werden. Ethische Politik von Sokrates bis Mozart, Frankfurt a. M. 1999, S. 28 f. 69 70

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legentliche Machtkämpfe hinter den Palastmauern verborgen und die Selbstverständlichkeit der Herrschaft eines Pharaos, Königs oder Monarchen unangetastet. Die Polis trat dagegen mit der Infragestellung von Herrschaftsambitionen auf der Weltbühne auf, ihre Bewohner bezweifelten die Legitimität ihrer Könige und später die der persischen Oberhoheit. »Bühne« ist hier im doppelten Sinne das richtige Wort, denn das Theater, das im Falle der athenischen Polis ein Viertel der gesamten Einwohnerschaft beherbergen konnte, war der Aufführungsort von Tragödien 74 und Komödien 75, die das politisch-rechtliche Bewusstsein des Volkes schulten. Gelegentlich wurden die Volksversammlungen auch direkt im Theater abgehalten. Krippendorff nennt als »Geburtsstunde« der Politik das Jahr 458, als in Athen Aischylos’ Orestie aufgeführt wurde. 76 Die Orestie handelt von den Rachemorden im Haus Atreus nach der Rückkehr des griechischen Heerführers Agamemnon aus dem Krieg gegen Troja und der Beendigung der Rachenahme durch ein Gerichtsverfahren. Agamemnon wird von seiner Frau, der mykenischen Königin Klytämnestra, ermordet, weil er die gemeinsame Tochter Iphigenie zur Sühne geopfert hatte. Orestes tötet daraufhin seine Mutter Klytämnestra und ihren Liebhaber. Nach griechischem Recht hätte Orestes dafür mit dem Tode bestraft werden müssen, er wird jedoch freigesprochen. Es war offenbar Aischylos’ Absicht, die Athener auf ein Wesensmerkmal der Intrigen und Morde im Umfeld des Orestes hinzuweisen: das durch Rache ausgelöste Wechselspiel von Tilgung einer Blutschuld und erneutem Schuldigwerden. Nach jedem Mord wird die Rechnung durch einen Racheakt beglichen und damit Anlass zu erneutem Morden gegeben. 77 Die Rache stellt Gerechtigkeit her, indem eine Tat durch eine gleichwertige ausgeglichen wird, das ist ihre »Satzung«. 78 Zugleich wird durch die Wiederholung der Tat neues Unrecht begangen, das nach Sühne verlangt. Nachdem Orestes den Muttermord begangen hat, wird auch er von den Rachegöttinnen, den Erinnyen, verfolgt. Vgl. ebd., S. 30–34. Vgl. Finley: Antike und moderne Demokratie, S. 84–101. 76 Dies muss gänzlich unapodiktisch verstanden werden. Vgl. Krippendorff: Die Kunst nicht regiert zu werden, S. 30. 77 »Ist es Satzung ja, daß des Mordbluts Strom/Vergossen zur Erd, aufs Neue verlangt/Nach Blut. Ruft doch Mord die Erinys auf,/Die zur Blutschuld an vordem Gemordeten führt/Immer wieder herbei neue Blutschuld.« Aischyl. Choeph. 400–404. 78 Vgl. Menke: Recht und Gewalt, S. 15 ff. 74 75

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Er bittet Athene um Beistand. Das Stück endet mit einer öffentlichen Gerichtsverhandlung, bei der beide Seiten ihre Anliegen vorbringen. Orestes wird nicht bestraft, weil die Stimmenanteile für Freispruch und Todesstrafe gleich hoch ausfallen. Das Patt war von Athene herbeigeführt worden. Darüber beklagen sich die Rachegöttinnen. Doch Athene kann sie davon überzeugen, von der Rache abzulassen und stattdessen die Verehrung durch die Bürger in einem Heiligtum anzunehmen. Die Erinnyen werden so zu Eumeniden, zu »Wohlgesinnten«. Das Rechtsverfahren bricht mit der der Rache eigentümlichen Gewalt, indem es die Beteiligten dazu zwingt, ihre Sicht auf das Geschehene zu erzählen. Während die Rache unmittelbar nach Vergeltung schreit, wird durch das Verfahren sichergestellt, dass die Darstellung einer Seite parteilich ist und die Richter unparteilich beide Seiten hören müssen, um die Wahrheit zu ermitteln – es »distanziert jede Erzählung und relativiert sie damit als eine von zweien«. 79 Die Rechtsprechung wird der Rache gegenübergestellt und somit als Alternative zur endlosen Gewaltspirale vorgestellt. Zahlreiche Tragödien dieser Art wurden in den Theatern der Poleis gezeigt, deren immer wiederkehrendes Thema die Katastrophen waren, die aus der Hybris der Überheblichkeit und Selbstbezogenheit entstehen konnten. Das Theater fungierte als Ort der politisch-juridischen Selbstreflexion, in einem ganz konkreten Sinne. Wechselnd schauten die Bürger zu und bildeten den Chor, der somit die Bürgerschaft als Ganze repräsentierte. Der Wandel im Gerechtigkeitsdiskurs – von der Gerechtigkeit der Rache zum Recht des Verfahrens – ist nicht nur »Stoff« der Tragödie, vielmehr ist diese selbst »rechtsförmig«, wie Menke betont: Die Tragödie ist die Gattung des Rechts, das Recht ist die Gerechtigkeit der Tragödie. […] [D]ie Tragödie [führt], durch ihre Form, das Schicksal einer neuen Gestalt der Gerechtigkeit vor […], die an die Instanz eines unparteilich urteilenden Richters gebunden ist. Die Klage des Einzelnen, das Gegeneinander und die Wechselrede der Parteien, die Verantwortung des Handelnden, die Bedeutung und Folgen der Entscheidung, die Fragen und Rätsel der Deutung – das sind zugleich Strukturelemente der Tragödie und des Rechts. 80

Den Bürgern wurden somit politisch-rechtliche Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt, jenseits einer scheinbar zwangsläufig zu vollzie79 80

Ebd., S. 21. Ebd., S. 13 (Herv. O. B.).

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henden Herstellung von Gerechtigkeit durch Rache. Auf die oben gestellte Frage nach der Erfahrung, die zur Entdeckung der Ideen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit führte, ist eine mögliche Antwort: die Erfahrung jener Vorzüge, welche die Urteilsfähigkeit der Gesamtheit der Bürger birgt im Gegensatz zur Rache als »Prinzip der Wiedergutmachung«. 81 Die politische Urteilskraft kann nur unter der Bedingung der Ebenbürtigkeit der Urteilenden zur Geltung kommen. Weil das politische Urteilen immer auf andere Gleichrangige, die es vernehmen und selbst urteilen, angewiesen ist, kommt Krippendorff zu dem Schluss: Das Gleichheitspostulat ist somit ein unverzichtbares Ingredienz politischer Haltung: es fordert, dem Bürger nicht in einem modernen liberalen Toleranz-Sinne die Meinungsfreiheit zuzugestehen, sondern anzuerkennen, daß die andere Meinung vielleicht das bessere Argument, die bessere Problemlösung, die erfolgreichere Handlungsperspektive enthält. 82

Diese genuin politische Haltung ist es, die der Polis ihren Erfolg bescherte, auch dann, wenn sie sich gegen das persische Großreich zur Wehr setzen musste. Anhand der Beschreibung der politischen Ordnungen der Polis und der Hinweise zum antiken Verständnis von Demokratie wird ersichtlich, dass die »Bürgerrechte« Freiheit und Gleichheit nicht als individuelle Rechtsansprüche gegenüber dem Staat verstanden wurden, sondern als unmittelbar mit dem politischen Handeln verbundene Erfahrungen. Die versammelten Bürger sind »der Staat«, daher werden ihnen Rechte primär nicht »gewährt« oder als Pflichten verordnet. Die Bürger verpflichten sich zwar dazu, z. B. in ihrer Funktion als Richter, das Gesetz zu befolgen, aber nicht, weil sie einer Regierung gegenüber rechenschaftspflichtig sind, sondern weil Gesetz und Recht Ausdrucksform des politischen Gemeinwesens als Einheit darstellen. In der Bindung an das Gesetz können sich die Bürger als Gleiche – gleichwertige Teile eines Ganzen – betrachten, denn, so Perikles, »[n]ach dem Gesetz haben in den Streitigkeiten der Bürger alle ihr gleiches Teil«. 83 Das Spannungsfeld, das sich zwischen dem griechischen und

Zur Bedeutung der Orestie im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Politischen vgl. Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, S. 218 ff. 82 Krippendorff: Die Kunst nicht regiert zu werden, S. 35. 83 Thuk. II, 37. 81

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dem modernen Freiheits- und Gleichheitsbegriff öffnet 84, bestimmt wesentlich den Gang dieser Untersuchung. Anhand einer Auseinandersetzung mit der politischen Theorie Arendts sollen im folgenden Exkurs die Unterschiede zwischen der antiken und der modernen Verständnisweise von Freiheit und Gleichheit herausgestellt werden. Darüber hinaus wird auf eine grundsätzliche Differenz des Politischen zu menschenrechtlichen Ansprüchen näher eingegangen. Gezeigt werden soll, dass die Durchsetzung und Garantie der Menschenrechte die Konstitution einer politischen Öffentlichkeit voraussetzen. Die Menschenrechte haben nicht nur eine juridische und eine moralische, sondern auch eine genuin politische Dimension. Politik ist keineswegs nur ein »Mittel« zur Umwandlung moralisch begründeter Rechte in »starkes«, einklagbares Recht. Im Gegensatz zum Staat, der neuzeitlichen Ursprungs ist, ist das Politische eine Errungenschaft der griechischen Antike. Folglich beerbte die Antike die Menschenrechtsgeschichte nicht allein mit Gerechtigkeits- und Naturrechtstheorien, sondern ebenso mit einer Vielfalt politischer Erfahrungen, auf die das politische Denken nach der Antike mehr oder weniger erfolgreich zurückzugreifen verstand. Das Verhältnis der Menschenrechte zum Politischen anhand der Theorie Arendts zu untersuchen, bietet sich deshalb an, weil Arendt ihren Begriff des Politischen entlang dieser Erfahrungen entwickelt hat. Die historischen Gesichtspunkte verschmelzen in ihrem Denken mit phänomenologischen Einsichten. Arendts Geschichtshermeneutik sorgte in den Sozialwissenschaften und der politischen Philosophie vielfach für Verwirrung, weil diese sich den gängigen epistemologischen Kategorien nicht zuordnen lässt. 85 Übersehen wurde dabei zumeist, dass Arendts Kritik erkenntnistheoretischer Ansprüche auf Wissenschaftlichkeit durch eine fundamentale Kritik theoretischphilosophischen Denkens begründet ist. Was politisches Handeln auszeichnet, kann in den Kategorien der θεωρία nicht erfasst werden. 86 Daher muss die Rekonstruktion des Begriffs des Politischen Vgl. dazu auch Nippel, Wilfried: »Antike und moderne Freiheit«, in: Jens, Walter/ Seidensticker, Bernd (Hg.): Ferne und Nähe der Antike. Beiträge zu den Künsten und Wissenschaften der Moderne, Berlin New York 2003. 85 Zu den Kritiken und deren Widerlegung vgl. Vollrath, Ernst: »Hannah Arendt und die Methode des politischen Denkens«, in: Reif (Hg.): Hannah Arendt, S. 59 ff. 86 Vollrath erläutert diese Unzulänglichkeit der Theorie besonders anschaulich, indem er zeigt, dass die Aussagen der vier Grundsätze zur Erfassung der »Natur der Dinge (als Erscheinungen)« in den Postulaten des empirischen Denkens bei Kant in 84

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Politische Freiheit und politische Rechte

laut Arendt von einer Dekonstruktion der Metaphysik ausgehen. 87 Der folgende Exkurs kreist um das Phänomen des Politischen. Auf historische Sachverhalte wird im Anschluss an Arendt insoweit Bezug genommen, wie sie zur Erhellung des politischen Phänomens beitragen.

2.

Exkurs: Das Politische und die Menschenrechte

Menschenrechte können nicht allein mit den legitimen Zwangsmitteln des modernen Rechtsstaats gesichert werden. Bereits die Möglichkeit, dass ein bestimmtes moralisches »Recht« noch nicht in ein positives Menschenrecht transformiert wurde, zeigt, dass die Methoden der Rechtsdogmatik nicht ausreichen, um den Gehalt der Menschenrechtsidee vollständig zu erschließen. Deshalb wird darauf hingewiesen, dass das positive Recht in der wechselseitigen Garantie moralischer Rechte gründe. 88 Wenn eine Person von einer anderen als »Zweck an sich selbst« berücksichtigt werden möchte, sei damit zugleich gesetzt, dass der andere zur vernünftigen Selbstbestimmung fähig ist und im Gegenzug ebenfalls die Pflicht zur moralischen Achtung beanspruchen dürfe. Der Grund dafür, dass Menschen sich moralische Rechte zugestehen, wird darin gesehen, dass sie sich willentlich dazu entschieden haben. 89 Rein moralische Rechte werden als »schwache Rechte« bezeichnet, weil sie im Falle der Rechtsverletzung nicht wie das positive Recht eingeklagt werden können. Wer das moralische Recht eines anderen nicht beachtet, müsse mit der Empörung der moralischen Gemeinschaft rechnen. 90 Der Empörung der anderen entsprechend schäme sich die Person, die moralischem Recht zuwider gehandelt hat, sofern sie der moralischen Gemeinschaft angehört. Sanktioniert werden moralische Rechte demnach durch das eigene ihr Gegenteil verkehrt werden müssen, um auf das Phänomen des Handelns anwendbar zu sein. Vgl. Vollrath: Zur Rekonstruktion der Urteilskraft, S. 62–69. Nicht die Theorie, sondern die politische Urteilskraft ist »das für den politischen Bereich allein zuständige Wissen«. Vgl. ebd., S. 36. 87 Arendt spricht von einer »Demontage« der Metaphysik und Philosophie. Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. McCarthy, Mary (Hg.), München Zürich 1998, S. 207. 88 Vgl. z. B. Höffe, Otfried: »Transzendentaler Tausch. Eine Legitimationsfigur für Menschenrechte?«, in: Gosepath/Lohmann (Hg.): Philosophie der Menschenrechte. 89 Vgl. ebd., S. 139. 90 Vgl. Tugendhat, Ernst: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M. 1993, S. 59 f.

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Exkurs: Das Politische und die Menschenrechte

Gewissen. Tugendhat spricht von einer »inneren Sanktion«. Jemand, der z. B. einen Mord begeht, befinde sich deshalb nicht zwangsläufig außerhalb der moralischen Gemeinschaft. Denn dies würde bedeuten, dass der Mörder, der zwar gegen die Norm gehandelt hat, auch der Ansicht sei, dass die Norm selbst, das »Niemand darf töten«, inakzeptabel ist. 91 Horster unterscheidet Recht und Moral anhand der folgenden Kriterien: 1. Das Recht verzichtet auf eine rechtliche Gesinnung, weil es sich bei seiner Durchsetzung auf äußeren Zwang verlassen kann. 2. Im Recht gelten Normen und in der Moral Werte. Normen gelten absolut, Werte sind subjektiv geteilte Präferenzen. 3. Gesetze kommen durch Beschluß des Parlaments zustande. 4. Sie gelten ab einem bestimmten Datum. Undenkbar ist, daß moralische Werte zu einem bestimmten Datum in Kraft gesetzt werden könnten. 5. Im Recht gilt ein bis ins einzelne geregelter Vorrang bestimmter Normen vor anderen. Stehen hingegen moralische Werte gleichrangig nebeneinander, ist die individuelle Entscheidung der Betroffenen gefordert. 92

Auf der Grundlage dieser Unterscheidungskriterien kann das Konzept »moralischer Rechte« infrage gestellt werden. Diese Diskussion braucht hier aber nicht weiter verfolgt zu werden, ebenso wenig wie die damit zusammenhängenden Fragen, ob die Moral dem Recht als legitimierende Begründungsinstanz übergeordnet ist, das Recht die Normen positivistisch setzt oder Moral und Recht in einem »Ergänzungsverhältnis« zueinander stehen, wie Habermas annimmt. 93 Die moralische Empörung über Menschenrechtsverletzungen hätte ohne eine politische Öffentlichkeit, in der Unrecht thematisiert und Verantwortliche adressiert werden können, keinen realen Raum. Ohne eine solche Öffentlichkeit verkümmern Menschenrechte zur bloßen Abstraktion. Das Verhältnis des Politischen zu den Menschenrechten ist allerdings ambivalent. Da politisches Handeln nie vollständig bestimmten Regeln oder Maximen unterworfen werden kann, birgt das Politische – und nicht nur eine bestimmte Form von Politik – zugleich ein Unsicherheitsmoment, eine Gefährdung des demokratischen Verfassungsstaates. Mit der Geschichte des moderVgl. Tugendhat, Ernst: »Gerechtigkeit und Universalität in der Moral«, in: Willaschek, Marcus (Hg.): Ernst Tugendhat: Moralbegründung und Gerechtigkeit, Münster 1997, S. 16 f. 92 Horster, Detlef: »Recht und Moral: Analogien, Komplementaritäten und Differenzen«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 51 (1997), S. 370. 93 Vgl. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1998, S. 137. 91

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Politische Freiheit und politische Rechte

nen Staates ist die Geschichte der Menschenrechte eng verknüpft, insofern der Prozess der Menschenrechtsgeschichte sich als konstante Abwehr des Politischen gegen sich selbst, gegen die Übermacht des politischen Staates, darstellen lässt. Gerade weil der »freiheitliche, säkularisierte Staat« eine politische Organisation ist, »lebt [er] von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann«. 94 Dieser geschichtliche Zusammenhang besteht seit der Entstehung des Staates in der Neuzeit und kann nicht auf die Antike oder das Mittelalter zurückprojiziert werden. Das »Politische« und der »Staat« sind keine deckungsgleichen Begriffe. Arendt entwickelte einen Begriff des Politischen, den sie gegen jede instrumentelle oder ideologische Verkürzung zu verteidigen beabsichtigte. Das Politische lasse sich nicht im Wesen des Menschen als ζῷον πολιτικόν 95, in adäquaten Institutionen oder in moralischen Richtlinien auffinden; ebenso wenig könne es als soziale Funktion oder Interessenausgleich beschrieben werden. 96 Demnach gibt es keine Substanz des Politischen. 97 Arendts Kritik richtet sich unter anderem gegen die »Willensmetaphysik«, die sich in der Philosophie der Neuzeit herausbilde, bei Hegel, Schelling und Marx systematisiert werde und im Willen zur Macht bei Nietzsche am deutlichsten hervortrete. 98 Der heideggerschen These von der Auslegung des Seins als Wille stimmt Arendt zu. 99 Mit dem Willen sei dabei nicht das StrebeBöckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt a. M. 1976, S. 60 (Einf. d. Verf.). 95 Die These, dass Aristoteles den Menschen im Allgemeinen als politisches Lebewesen habe kennzeichnen wollen, ist laut Arendt eine Fehlinterpretation. Vgl. Arendt: Was ist Politik?, S. 37. Vgl. auch Flashar: Aristoteles, S. 135 f. 96 Vgl. ebd. (Arendt), S. 11. 97 Vgl. Brokmeier, Peter: »Hannah Arendts philosophischer Begriff des Politischen«, in: Horster, Detlef (Hg.): Verschwindet die politische Öffentlichkeit? Hannah-ArendtLectures und Hannah-Arendt-Tage 2006, Weilerswist 2007, S. 30–32; Bielefeldt, Heiner: Wiedergewinnung des Politischen. Eine Einführung in Hannah Arendts politisches Denken, Würzburg 1993, S. 86. 98 Vgl. Arendt, Hannah: Denktagebuch. 1950 bis 1973. Ludz, Ursula/Nordmann, Ingeborg (Hg.), 2 Bde., München Zürich 2002, S. 62, 74, 79 ff., 84 f., 95 f., 101 f., 109, 182, 187. 99 Vgl. Arendt: Vom Leben des Geistes, S. 384 f. Arendt und Heidegger setzen sich kritisch mit dem, was sie als »metaphysische« Tradition kennzeichnen, auseinander. Im Unterschied zu Heidegger, dessen Kritik im Rahmen des philosophischen Diskurses verbleibt, verknüpft Arendt die Geschichte der Philosophie mit der politischen Ereignisgeschichte. Vgl. Brokmeier: »Hannah Arendts philosophischer Begriff des Politischen«, S. 28 f. Die Kontingenz historischer Ereignisse ist in Arendts Darstel94

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Exkurs: Das Politische und die Menschenrechte

vermögen oder die Willensfreiheit eines Einzelnen gemeint, sondern der Grund des Seienden im Ganzen. Alles was ist, sei nur insofern es im Willen als Gewolltes aufgehoben ist. Dem Willen würden jene Prädikate zugesprochen, die in der philosophischen Tradition das Sein auszeichnen. Bei Schelling heißt es z. B.: »Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als Wollen. Wollen ist Ursein, und auf dieses allein passen alle Prädikate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung.« 100 Eine Kritik der Substanzontologie bleibe erfolglos, sofern sie den »Willen zur Durchsetzung« nicht mit einbezieht, wie Vollrath anmerkt: Das metaphysisch wie auch immer verstandene Sein hat abgedankt. Es kann nicht länger mehr zur Legitimation irgendwelcher Ansprüche vorgebracht werden. Dann aber verschafft sich dieser Anspruch eine neue Basis: den Willen zur Durchsetzung, der längst als nichts anderes dargestellt worden ist als die Fortsetzung der Metaphysik mit anderen Mitteln. 101 lung des »Verfalls« des Politischen und der Entfremdung von den Grundtätigkeiten in Vita activa miteinbezogen. Hierin unterscheidet sich Arendts Geschichtshermeneutik grundsätzlich von Heideggers Besinnung auf das »Geschick des Seins«. Auch in der »denkerischen Besinnung« ist Geschichte »nicht der Gegenstand und Bezirk einer Betrachtung, sondern jenes, was das denkerische Fragen erst erweckt und erwirkt als die Stätte seiner Entscheidungen« (Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie. (Vom Ereignis). Herrmann, Friedrich-Wilhelm von (Hg.), GA 65, Frankfurt a. M. 1989, S. 5), aber erst Arendt bezieht die Strömungen philosophischen Denkens auf die realen historischen Ereignisse, also die Polis im perikleischen Zeitalter, die res publica, die Revolutionen usw. In dieser Hinsicht kann behauptet werden, dass es »das Ereignis«, das Heidegger zu denken versucht und von dem stets im Singular gesprochen wird, nicht gibt, weil die Schwierigkeit, dem »alltäglichen Meinen« damit nur einen neuen Allgemeinbegriff zu liefern, tatsächlich, wie Heidegger selbst feststellt, »durch nichts zu beheben [ist]«. Vgl. ebd., S. 83. 100 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: »Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände«, in: Ausgewählte Werke. Schriften von 1806–1813, Darmstadt 1974, S. 294 [Sämtliche Werke, Bd. 7, Stuttgart Augsburg 1860, S. 350]. 101 Vollrath: Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, S. 48. Der Verlust der metaphysischen Tradition ist für Arendt nicht allein ein philosophiegeschichtliches Problem, sondern ein Faktum »unserer politischen Geschichte«. Vgl. Arendt: Vom Leben des Geistes, S. 207 (Herv. O. B.). Der Traditionsbruch kündigt sich laut Arendt zwar im philosophischen Diskurs seit der Neuzeit an, wird jedoch erst durch die totale Herrschaft zu einem geschichtlichen Ereignis. Das heißt, dass die Sprengung der »Kategorien des politischen Denkens« und der »Maßstäbe für das moralische Urteil« erst durch den Totalitarismus zu realen politischen Erfahrungen wurden. Vgl. Arendt, Hannah: »Verstehen und Politik«, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Ludz, Ursula (Hg.), 2., durchges. Aufl., München Zürich 2000, S. 112. Zum »Traditionsbruch« vgl. Grunenberg, Antonia: »Arendt,

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In der politischen Philosophie spiegle sich diese Aufwertung des Willens insofern wider, als seit der Neuzeit erstmalig versucht werde, das Gemeinwesen auf einen ungeteilten souveränen Willen zu gründen, wobei das Faktum der Pluralität der Menschen – das nicht mit ihrer Individualität zu verwechseln ist – ausgeblendet werde. Auf Hegel Bezug nehmend erklärt Arendt: Die Philosophie des Menschen endet bei der Willensphilosophie, weil in der Tat nur der Wille sich selbst wollen kann oder »sich auf nichts anderes als sich selbst bezieht«; im Willen verwirklicht sich die von der Pluralität schlechthin unabhängige Souveränität, das »infinitum actu«, das »sich zur Endlichkeit« nur vermöge der »denkenden Vernunft« entschliesst. Dies aber heisst, dass Souveränität primär am Willen und nicht an der Vernunft hängt. 102

Die Metaphysik des Willens sei in jedem Verständnis des Politischen gegenwärtig, das in der Politik ein Mittel zur Realisierung bestimmter Zwecke sieht – unabhängig davon, ob es sich bei den Zwecken um ideologische Programme, soziale Normen oder die Sicherung des Lebensstandards handelt. Konsequent politisches Denken müsse dagegen, wie im Folgenden deutlich werden soll, bei der Pluralität der Menschen ansetzen und auf die Idee der Souveränität im Bereich politischen Handelns verzichten. 103 Ein solcher Verzicht muss sich zwangsläufig auf politiktheoretische Begründungen der Menschenrechte auswirken, denn diese können sich dann nicht mehr auf den Willen einer politischen Gemeinschaft oder der Menschheit berufen. Ohne eine Abkehr von Substanzbegriffen des Politischen ist meines Erachtens eine zureichende Umschreibung der politischen Dimension der Menschenrechte nicht möglich.

Heidegger, Jaspers: Thinking Through the Breach of Tradition«, in: Social Research 74, 4 (2007), S. 1016 f.; Opstaele: Politik, Geist und Kritik, S. 41 ff. 102 Arendt: Denktagebuch, S. 84. 103 Ein solcher Neuanfang des politischen Denkens sei nur möglich in Verbindung mit der Aufhellung des durch die θεωρία bedingten Erfahrungshintergrundes der tradierten politischen Philosophie. Vgl. Arendt, Hannah: »Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought«, in: Grunenberg, Antonia/Meints, Waltraud/ Bruns, Oliver/Harckensee, Christine (Hg.): Perspektiven politischen Denkens. Zum 100. Geburtstag von Hannah Arendt, Frankfurt a. M. 2008, S. 28.

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2.1. Grundlagen der arendtschen politischen Phänomenologie Arendts Begriff des Politischen setzt die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Bereich voraus. 104 Während der Einzelne im Privaten den Lebensnotwendigkeiten unterworfen sei, sei das Öffentliche die gemeinsam geteilte Welt, in der sich Menschen durch das gegenseitige Gehört- und Gesehenwerden der Wirklichkeit versichern und im Interesse an der Welt urteilen und handeln. Öffentlichkeit und Privatheit konstituieren sich gegenseitig. Ohne die Geborgenheit der Privatsphäre, das Nicht-Politische, könne die »Helligkeit« des politischen Raumes nicht erscheinen. Darüber sollten auch die zum Teil negativen Anklänge bei der Beschreibung des Privatlebens als eines Zustandes der Beraubung (privare = berauben) nicht hinwegtäuschen. Nur ein Privatleben zu führen, bedeute, »in einem Zustand zu leben, in dem man bestimmter, wesentlicher menschlicher Dinge beraubt ist« 105, nämlich der politischen Aktivität. Das Private sei aber ein Bereich der Zuflucht und der Sicherheit für das familiäre Leben, sofern der damit verbundene Ort in der Welt eine gewisse Beständigkeit aufweise. 106 Arendt unterscheidet drei Grundtätigkeiten, die von jeweiligen Grundbedingungen abhängen, um ausgeübt werden zu können. Das Handeln sei die spezifisch politisch Tätigkeit, im Unterschied zu Herstellen und Arbeiten. Sekundär sei aber auch das Herstellen relevant für den politischen Bereich, weil Worte und Taten, um dauerhaft erinnert werden zu können, in hergestellte Dinge transformiert werden müssen. Das Öffentliche sei erstens der fragile »Erscheinungsraum« miteinander handelnder Menschen, zweitens die gemeinsam gebrauchte Dingwelt. Der Begriff bezieht sich demnach auf zwei völlig unterschiedliche Phänomene, zum einen auf etwas Ungreifbares, Nicht-Materielles, zum anderen auf die materielle Welt. Die Aufteilung der vita activa in drei Grundtätigkeiten liefert Vgl. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 62–81. Vgl. ebd. (Arendt), S. 73. 106 Dazu sei Privateigentum unerlässlich. Arendt kritisierte daher den mit der Entstehung des Kapitalismus einsetzenden Prozess der Enteignung der unteren Gesellschaftsschichten. Die Zerstörung der Privatsphäre durch Enteignung sei zugleich eine Bedrohung für den politischen Bereich. Vgl. ebd., S. 324. Der Gegensatz von politischer Welt und Weltentfremdung bei Arendt wurde von Breier besonders deutlich herausgearbeitet. Vgl. Breier, Karl-Heinz: Hannah Arendt zur Einführung, Hamburg 1992. 104 105

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Arendt das Analyseinstrumentarium, um im historischen Abriss die Wandlungen einer verborgenen Tradition des Politischen nachzuzeichnen und damit einhergehend zu erklären, weshalb das Politische in der Philosophie nahezu ungedacht blieb. 107 Mit der Charakterisierung und strikten Unterscheidung der Grundtätigkeiten verfolgt sie nicht den Zweck, sozialwissenschaftlich-anthropologische Kategorien bereitzustellen, unter die jede denkbare Tätigkeit subsumiert werden kann. 108 Vielmehr ist die Unterscheidung selbst schon dem Blick auf das Phänomen des Politischen geschuldet, insofern die Grundtätigkeiten in eine Rangordnung gebracht werden, die anzeigt, in welchem Grad die »Wirklichkeit der Welt« im Tätigsein aufscheint. 109 Die primär weltbildende und Wirklichkeit gewährende Tätigkeit sei das Handeln. Der Charakter der Weltlichkeit färbe in gewisser Weise aber auf die beiden anderen Grundformen ab, wenn in einer Gesellschaft ein Erscheinungsraum vorhanden ist. 110 Die Behauptung, dass alle menschlichen Tätigkeiten durch das Handeln bedingt sind, ist eine der zentralen Thesen Arendts. Keine andere Tätigkeit könne den Verlust an Weltbezogenheit, an Wirklichkeit wettmachen, wenn der durch das Handeln hervorgebrachte öffentliche Raum zusammenbricht. Denken, Dichtung und Kunst seien wesentlich auf den Raum des Politischen angewiesen und würden zu dessen Erhalt beitragen. In der Kürze eines Exkurses muss auf die Einbettung der Tätigkeiten in ihren geschichtshermeneutischen Kontext 111 weitestgehend Vgl. Arendt: Was ist Politik?, S. 9. Arendt unterscheidet zwischen der Bedingtheit und der Natur des Menschen. Auf die Bedingungen kann durch eine Phänomenologie des Tätigseins geschlossen werden. Anthropologien setzen dagegen bei einer Wesensbestimmung des Menschen an. »[D]ie Rede von der Bedingtheit der Menschen und Aussagen über die ›Natur‹ des Menschen sind nicht dasselbe. Auch die Gesamtsumme menschlicher Tätigkeiten und Fähigkeiten, insofern sie menschlichen Bedingtheiten entsprechen, stellt nicht so etwas wie eine Beschreibung der Menschennatur dar.« Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 19. Zur Kritik der z. B. von Gerhardt vertretenen anthropologischen Lesart vgl. Romberg, Regine: Athen, Rom oder Philadelphia? Die politischen Städte im Denken Hannah Arendts, Würzburg 2007, S. 119 ff. 109 Vgl. Vollrath: »Politik und Metaphysik«, S. 35. Auf die Bedeutung der »Wirklichkeitsbedingung« weist z. B. auch Bielefeldt hin. Vgl. Bielefeldt: Wiedergewinnung des Politischen, S. 19. 110 Vgl. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 33. 111 Als »Geschichtshermeneutik« bezeichne ich eine Hermeneutik der Faktizität, die das Phänomen der Welt geschichtlich zu denken versucht. Vgl. z. B. Müller, Max: 107 108

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verzichtet werden. Zu beachten ist aber, dass die teilweise schematische Darstellung nur in diesem Rahmen ihren Zweck erfüllt. 112 Die Bedingungen und Grunderfahrungen, anhand derer Arendt die Tätigkeiten kennzeichnet, sind einer phänomenologischen Sicht auf das Tätigsein entnommen. Diese Perspektive führt Arendt unter anderem zu der ungewöhnlichen Unterscheidung von Arbeiten und Herstellen, die in früheren Arbeitstheorien nicht gemacht wurde. Unter Arbeit versteht Arendt sämtliche Tätigkeiten, die der Erhaltung der physischen Existenz, des menschlichen Körpers und seiner biologischen Prozesse, dienen. 113 Die Grundbedingung der Arbeit sei das Leben selbst. Während das Herstellen die Welt mit Dingen bereichere, zeichne sich das Arbeiten durch die Vergeblichkeit aus, mit der Produktion einen Endpunkt, ein Resultat zu erreichen. 114 Das Herstellen bringe Gegenstände hervor, die von Dauer seien und der Einrichtung in einer Welt dienen, in der der Mensch sonst heimatlos bliebe. Die Dinge würden nicht verbraucht, sondern gebraucht. Der Mensch als sterblich-unbeständiges Wesen bedürfe der Beständigkeit einer Dingwelt. Die Grundbedingung für die Tätigkeit des Herstellens sei Weltlichkeit als »die Angewiesenheit menschlicher Existenz auf Gegenständlichkeit und Objektivität«. 115 Für den Herstellungsprozess sei

Existenzphilosophie. Von der Metaphysik zur Metahistorik. Halder, Alois (Hg.), 4., erw. Aufl., Freiburg München 1986. 112 Die Tätigkeitskategorien sind selbst »historical structures«. Vgl. Ricoeur, Paul: »Action, Story and History: On Re-reading The Human Condition«, in: Salmagundi 60 (1983), S. 61. 113 Vgl. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 114 f. 114 Von allen Dingen, die der Mensch produziert, seien die Konsumgüter jene, die am schnellsten wieder aus der Welt verschwinden. Wesentlich für den phänomenologischen Zugang Arendts ist, dass sie von den mit Arbeit verbundenen Grunderfahrungen ausgeht – der Mühsal, dem Geplagtsein, der Zufriedenheit nach getaner Arbeit, dem Vergnügen am Verzehr usw. Diese Erfahrungen werden nicht vom Organaufbau des Menschen her erklärt und als anthropologische Konstanten dargestellt. Dass »Arbeit« gegenwärtig kaum noch als Plage empfunden wird, sondern zu einem umkämpften Gut geworden ist, bedeutet nicht, dass das Phänomen falsch interpretiert wurde, sondern dass laut Arendt eine Entfremdung von der Tätigkeit des Arbeitens stattgefunden hat. Keineswegs geht es Arendt darum, »Arbeiten und Herstellen im Hinblick auf Produkte zu differenzieren«, um damit zu »Tätigkeitsklassen, die sich wechselseitig ausschließen«, zu gelangen, wie Ebert glaubt. Vgl. Ebert, Theodor: »Praxis und Poiesis: Zu einer handlungstheoretischen Untersuchung des Aristoteles«, in: ders. (Hg.): Gesammelte Aufsätze. Bd. I: Zur Philosophie des Aristoteles, Paderborn 2004, S. 183. 115 Vgl. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 16.

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die Zweck-Mittel-Kategorie maßgebend. Das Herstellen orientiere sich an einer Idee, ohne die die eigentliche Werktätigkeit nicht beginnen könnte. Für die Bearbeitung des Materials müsse Gewalt angewendet werden. 116 Mit dem Ende des Herstellungsprozesses sei der Zweck erfüllt, das heißt auch, dass das Objekt nun eine gewisse Eigenständigkeit erlangt habe und selbst zum Mittel für weitere Herstellungsprozesse oder zum Gebrauch beim Arbeiten werden könne. 117 Je schneller ein Gegenstand wieder als Mittel gebraucht und abgenutzt wird, desto weniger bekunde sich an diesem die Grundbedingung des Herstellens, die »Angewiesenheit auf Gegenständlichkeit und Objektivität«. Mit »Gegenständlichkeit« ist nicht das bloße Vorhandensein irgendwelcher Gebrauchsdinge gemeint. Die Dinge sind erst dann eigentlich »Weltdinge«, wenn sie über die geschichtlich-politische Welt, in der der Mensch existiert, Auskunft geben. 118 Dass Arendt instrumentelles Tun und die Anwendung von Gewalt als Kategorien des Herstellens beschreibt, zeigt bereits an, dass diese ihrer Ansicht nach nicht zum Phänomen des Handelns gehören. Der Versuch, sie in das Feld des politischen Handelns zu integrieren, führe letztlich zur Abschaffung von Politik. Den höchsten Rang unter den Grundtätigkeiten nimmt laut Arendt das Handeln ein, das sich unmittelbar zwischen den Men-

Vgl. ebd., S. 165. Zur Unterscheidung von der Tätigkeit des Arbeitens betont Arendt, dass die Wiederholung eines Herstellungsprozesses nicht in diesem selbst angelegt ist, sondern aus anderen Zwecken, z. B. dem Gelderwerb erfolgt. Im Arbeiten seien Zweck und Mittel dagegen untrennbar miteinander verwoben. Die Frage, ob die Produktion der Konsumgüter zum Zwecke der Regeneration der Arbeitskraft erfolgt oder umgekehrt die Arbeitskraft zum Zwecke der Produktion aufgewendet wird, sei sinnlos, weil das Arbeiten an die unaufhörlichen Kreisläufe des Lebens gebunden sei. Diese Untrennbarkeit von Mittel und Zweck innerhalb des Arbeitens dürfe nicht verwechselt werden mit der Umwandlung eines Zweckes zu einem Mittel durch das Herstellen. Die Aporie des Herstellens bestehe darin, dass aus der Sicht des homo faber jeder vorherige Endzweck nach seiner Realisierung selbst der Zweckdienlichkeit unterworfen und damit zum Mittel werden könne. Vgl. ebd., S. 183. 118 Vgl. Arendt, Hannah: »Kultur und Politik«, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ludz (Hg.), S. 289. In einem ausgezeichneten Sinne werde dem Vertrautsein mit der Welt und dem Streben nach Unsterblichkeit im Kunstwerk Ausdruck verliehen, das daher auch nicht nach den Kriterien der Zweckdienlichkeit oder Haltbarkeit bemessen werde. Vgl. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 201 ff. 116 117

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schen abspiele. Sprechend und handelnd 119 schalten sich die Menschen in die Welt ein und enthüllen damit, wer sie sind. Das Wer eines Menschen unterscheidet Arendt von dessen Wassein dadurch 120, dass es nicht auf Eigenschaften einer Person, den Charakter oder Äußerlichkeiten reduziert werden kann. 121 Das Wer-jemand-ist entziehe sich der Sag- und Beschreibbarkeit. Immer dann, wenn der Versuch unternommen wird, etwas über das Wer zu sagen, falle die Beschreibung auf dieses Etwas, also auf Eigenheiten oder Verhaltensweisen der Person, zurück, ohne wirklich die Personalität zu benennen: »Es stellt sich heraus, daß die Sprache, wenn wir sie als ein Mittel der Beschreibung des Wer benutzen wollen, sich versagt«. 122 »Person« sei das je einzigartige Wesen eines Menschen. Dieses könne deshalb nie zureichend als ein Was bestimmt werden, weil seine Verschiedenheit nicht auf Besonderheit beruhe, die mehr oder weniger jedem Seienden zukomme, sondern auf Einzigartigkeit, die nur aktiv, also im Sprechen und Handeln, hervortreten könne. »Der Handelnde stellt nicht sich dar, sondern etwas. Indem er etwas darstellt, was er nicht ist, erscheint er selbst.« 123 Arendt überträgt die paradoxe Struktur der heideggerschen ἀλήθεια-Auslegung, nach der Wahrheit das gleichursprüngliche Geschehen von Offenbarkeit und Verbergung ist, auf ihren Begriff der Person. Das Wer zeigt sich, indem es sich verbirgt. Diese Übertragung ist aber nur möglich, wenn die Person in Bezug zur Welt, also als Handelnde, gedacht wird. Das Wer ist nicht etwas Vorhandenes, sondern ein Phänomen der Bezugsweise zu anderen. Der arendtsche Personbegriff wirft Verständnisschwierigkeiten auf, weil das Wesen der Person nicht im Innenleben lokalisiert wird, sondern im Erscheinen. Die Erscheinung bringt nicht etwas Inneres, Gedanken oder Gefühle, zum 119 Sprechen und Handeln werden von Arendt als eine Grundform der vita activa beschrieben. Vgl. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 218. 120 Eine ähnliche Unterscheidung findet sich bei Spaemann. Vgl. Spaemann, Robert: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, Stuttgart 1996. 121 »Im Unterschied zu dem, was einer ist, im Unterschied zu den Eigenschaften, Gaben, Talenten, Defekten, die wir besitzen und daher so weit zum mindesten in der Hand und unter Kontrolle haben, daß es uns freisteht, sie zu zeigen oder zu verbergen, ist das eigentlich personale Wer-jemand-jeweilig-ist unserer Kontrolle darum entzogen, weil es sich unwillkürlich in allem mitoffenbart, was wir sagen oder tun.« Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 219. 122 Ebd., S. 222 f. 123 Arendt: Denktagebuch, S. 648.

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Ausdruck, sondern »ist nichts als sie selbst«. 124 Das Personsein ist keine Eigenschaft oder Substanz, sondern ein Phänomen des Zwischen, der Welt. »In dieser Welt, in die wir aus dem Nirgends eintreten und aus der wir wieder ins Nirgends verschwinden, ist Sein und Erscheinen dasselbe.« 125 Zum Wesen des Menschen gehöre, dass es Menschen nur in einer Vielheit gibt, die sich dadurch auszeichnet, dass »jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist«. 126 Die Einzigartigkeit komme dem Menschen qua Geburt zu. Sie werde im zwischenmenschlichen Handeln, das zugleich immer ein Neuanfangen sei, bestätigt. »Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.« 127 Solange ein Mensch lebt, wirke die Unverfügbarkeit der Personalität fort. Der Grund für das Versagen der Sprache, wenn mit ihr das Wer beschrieben werden soll, sei, dass die lebendige Person an ihrer Geschichte noch mitwirkt und diese verändert. Darüber hinaus sei das durch die Personalität gekennzeichnete Menschsein nicht definierbar, weil es keine andere Art des Wer-Seins gebe, mit der es überhaupt verglichen werden könnte. 128 Die Schwierigkeit, das Wer eines Menschen in Worte zu fassen, hängt laut Arendt unmittelbar mit dem philosophischen Problem zusammen, das Wesen des Menschen zu bestimmen. Auch das Wesen des Menschen sei nicht zu definieren, weil die Sprache angesichts des Wer-Seins »sich versagt«. Sprechend zeige sich die Person, aber in der Sprache könne die unmittelbare, aktive Präsenz der Person nicht aufgehoben werden. Die offenbarmachende Qualität der Sprache versage, wenn sie über das Personsein Auskunft geben soll. Weil der Handelnde immer auf andere angewiesen sei, um überhaupt handeln zu können, sei eine Grundbedingung des Handelns die Pluralität der Menschen, also die absolute Verschiedenheit eines jeden Einzelnen vom anderen. 129 Handeln ereigne sich in einem Bezugsnetz zu anderen Menschen, so dass das ursprünglich von einem Einzelnen Intendierte, bspw. ein bestimmtes Ziel oder Programm, nie 124 125 126 127 128 129

Arendt: Vom Leben des Geistes, S. 40. Ebd., S. 29. Vgl. zum Seinsbegriff Opstaele: Politik, Geist und Kritik, S. 71–74. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 214. Ebd., S. 215. Vgl. ebd., S. 223. Vgl. ebd., S. 213 f.

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in Reinform durchgesetzt werden könne. Das Handeln löse niemals nur ein begrenztes Agieren oder Reagieren aus, sondern immer das neue eigenständige Handeln anderer. 130 Die Verschiedenheit der Menschen aktualisiere sich in allen Handlungsinitiativen, Urteilen und Meinungsäußerungen, die die gemeinsame Welt betreffen. Das nicht-vorhersehbare Neue ist somit konstitutiv für den politischen Raum. Daher erhalte sich der »Erscheinungsraum« nur so lange, wie tatsächlich gehandelt wird. Zum Erscheinen, also zur Phänomenalität des Handelns gehöre, dass sie durch keine Motivation und kein vorausgehendes Interesse erklärt werden kann. Jede Erklärung, die Handlungen – und dies ist ohnehin nur im Rückblick möglich – kausal miteinander verknüpft, übergehe bereits den Phänomencharakter des Handelns. 131 Vollrath erläutert dazu: Aus dem Dunkel hervortretend zeigen sich in der Welt Ereignisse und Begebenheiten, weil die Menschen als Täter ihrer Taten aus diesem Dunkel, das sie selbst sind, hervortreten. Sie offenbaren sich, aber was sie offenbaren, ist nicht das, was hinter den Ereignissen als ein verborgener Grund liegt. Was sich offenbart, sind die Phänomene selbst, denen keine wie auch immer geartete Natur außerhalb ihrer faktischen Existenz im Erscheinungsraum zukommt. 132

Dieser Raum gewähre das Erscheinen der Personen und ihrer Taten und gehe jeder Institutionalisierung voraus. »Ein Erscheinungsraum entsteht, wo immer Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen; als solcher liegt er vor allen ausdrücklichen Staatsgründungen und Staatsformen, in die er jeweils gestaltet oder organisiert wird.« 133 Die Macht oder Ohnmacht eines Gemeinwesens hänge unmittelbar vom Fortbestand des Erscheinungsraums ab. Die Rechtsordnung, Verfassung oder staatliche Institutionen könnten das jeweilige Machtpotential einer politischen Gemeinschaft niemals »siVgl. ebd., S. 236. Politische Ereignisse können zwar nicht erklärt werden, aber sie können verstanden werden. Vgl. Arendt: »Verstehen und Politik«, S. 110–127. Der sozialwissenschaftlichen Erklärung von Handlungen durch den Rekurs auf »Motive«, »Interessen« oder hintergründige »Tendenzen« stellt Arendt die Analyse des Selbstverständnisses und der Selbstinterpretation der Akteure entgegen. Vgl. Arendt, Hannah: »Über das Wesen des Totalitarismus. Ein Versuch zu verstehen«, in: Meints, Waltraud/Klinger, Katherine (Hg.): Politik und Verantwortung. Zur Aktualität von Hannah Arendt, Hannover 1994, S. 27 f. 132 Vollrath: »Hannah Arendt und die Methode des politischen Denkens«, S. 66. 133 Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 251. 130 131

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chern«, weil sie einem eventuellen Machtverlust, also der Auflösung oder Zerstörung des Erscheinungsraums, nichts entgegenzusetzen hätten. 134 Die potentielle Unermeßlichkeit des Handelns, d. h. der Macht, durch welche unendliche Bezüge zwischen handelnden Menschen gestiftet werden, läßt sich wesensmäßig nicht stabilisieren und begrenzen, und das schon deshalb nicht, weil alles Handeln aus seinem Charakter der Fähigkeit zum Anfang den Bereich des möglichen neuen Anfangens, d. h. der Zukunft, eröffnet. 135

In diesem positiven Sinne sei Macht etwas Ungreifbares, weil sie nur zwischen den Menschen etabliert werden könne und niemand als Einzelner Macht besitzen könne, im Gegensatz zu Gewaltmitteln, die auch von einem Einzelnen angehäuft werden können. Mit realisierter Macht haben wir es immer dann zu tun, wenn Worte und Taten untrennbar miteinander verflochten erscheinen, wo also Worte nicht leer und Taten nicht gewalttätig stumm sind, wo Worte nicht mißbraucht werden, um Absichten zu verschleiern, sondern gesprochen sind, um Wirklichkeiten zu enthüllen, und wo Taten nicht mißbraucht werden, um zu vergewaltigen und zu zerstören, sondern um neue Bezüge zu etablieren und zu festigen, und damit neue Realitäten zu schaffen. 136

Macht, Wirklichkeit und das Politische sind also miteinander verschränkte Phänomene. Zu Irritationen führt von einem philosophischen Standpunkt aus gesehen möglicherweise, dass Arendt den Begriff der Wirklichkeit nicht als eine ständige Gegebenheit, als Modalität des Seins vorstellt, sondern mit der Kontingenz politischen Handelns verbindet. Die Wirklichkeit erschließt sich im »Licht der Öffentlichkeit«, also zwischen den Menschen. »Erst in solcher All134 Gesetze und Institutionen beruhen auf Macht. »Was den Institutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht, ist die Unterstützung des Volkes, die wiederum nur die Fortsetzung jenes ursprünglichen Konsenses ist, welcher Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat. […] Alle politischen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen von Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt.« Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, 15. Aufl., München Zürich 2003, S. 42. Zur Frage nach dem Verhältnis von kontingenter Macht und der Stabilisierung des Gemeinwesens durch Gesetzgebung vgl. Ahrens, Stefan: Die Gründung der Freiheit. Hannah Arendts politisches Denken über die Legitimität demokratischer Ordnungen, Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 204– 207. 135 Vollrath: »Politik und Metaphysik«, S. 36. 136 Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 252.

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Exkurs: Das Politische und die Menschenrechte

seitigkeit kann ein und die gleiche Sache in ihrer vollen Wirklichkeit in Erscheinung treten, wobei man sich vergegenwärtigen muß, daß jede Sache so viele Seiten hat und in so vielen Perspektiven erscheinen kann, als Menschen an ihr beteiligt sind.« 137 An anderer Stelle heißt es: »In-einer-wirklichen-Welt-Leben und Mit-Anderen-übersie-Reden sind im Grunde ein und dasselbe, und den Griechen erschien das Privatleben ›idiotisch‹, weil ihm diese Vielfältigkeit des Über-etwas-Redens versagt war und damit die Erfahrung, wie es in Wahrheit in der Welt zuging.« 138 Nach Arendt schließen Macht und Souveränität einander aus. 139 Souverän sei in seinem Tätigsein nur der Herstellende, der einen Zweck verfolgt und über die notwendigen Mittel verfügen kann, um einen Gegenstand herzustellen. 140 Zur Souveränität des Herstellenden gehöre, den Herstellungsprozess unterbrechen oder das Produkt wieder zerstören zu können. Der Arbeitende müsse dagegen arbeiten, um die für den Lebensprozess notwendigen Produkte bereitzustellen. Für den Handelnden könne es Souveränität als »unbedingte Autonomie und Herrschaft über sich selbst« nicht geben, denn in dem Moment, in dem jemand anfängt zu handeln, exponiere sich dieser bereits anderen, ohne deren Reaktionen und Antworten zu kennen. 141 In dem Versuch, Freiheit und Souveränität miteinander zu verbinden, sieht Arendt daher einen »grundsätzlichen Irrtum«, der sich zuletzt immer an der Grundbedingung des Handelns selbst, nämlich der Pluralität stößt. Beachtet werde diese, wenn das Politische nicht im Menschen, sondern zwischen diesen lokalisiert wird. Die Philosophie hat zwei gute Gründe, niemals auch nur den Ort zu finden, an dem Politik entsteht. Der erste ist: Zoon politikon: als ob es im Menschen etwas Politisches gäbe, das zu seiner Essenz gehöre. Dies gerade stimmt nicht; der Mensch ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen-denMenschen, also durchaus außerhalb des Menschen. 142

Trotz der Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes und der Unvorhersehbarkeit von Handlungsprozessen, komme den Resultaten des Arendt: Was ist Politik?, S. 96. Ebd., S. 52. 139 Vgl. Grunenberg, Antonia: »›Macht kommt von möglich …‹. Macht und öffentlicher Raum bei Hannah Arendt«, in: dies./Probst, Lothar (Hg.): Einschnitte. Hannah Arendts politisches Denken heute, Bremen 1995, S. 92 f. 140 Vgl. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 168–170. 141 Vgl. ebd., S. 298 f. 142 Arendt: Was ist Politik?, S. 11. 137 138

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Handelns – sobald das Handeln zu einem vorläufigen Abschluss gelangt – eine Dauerhaftigkeit zu, mit der sich kein hergestellter Gegenstand messen könne. Das, was einmal gesagt oder getan wurde, könne nicht wieder aus dem zwischenmenschlichen Bereich getilgt werden. Die Unvorhersehbarkeit, die Irreversibilität sowie die Tatsache, dass für das gemeinsam Getanene nicht ein Einzelner verantwortlich gemacht werden könne, bezeichnet Arendt als »Aporien« des Handelns. 143 Diese seien mit dem Handeln unmittelbar gegeben, sodass der Versuch, sich ihrer zu entledigen, immer einer Zerstörung des politischen Raums gleichkomme. Die Aporien sind der wesentliche Grund dafür, dass politisches Handeln nicht einer bestimmten moralischen Maxime unterworfen werden kann und das Verhältnis des Politischen zu den Menschenrechten ambivalent bleibt. Ich komme darauf zurück und werde außerdem erläutern, wie die politische Metaphysik der westlichen Tradition aus dem Bemühen hervorgeht, mit den in der Politik erfahrenen Aporien fertig zu werden. Die politische Metaphysik hat seit ihrer Begründung durch Platon die wesentlichen Bedingungen politischen Handelns und Denkens verkannt, sodass die genuinen politischen Erfahrungen zumeist nur indirekt in der Überlieferung zur Sprache kommen konnten. Eingangs war bereits erwähnt worden, dass diese Erfahrungen in einer »verborgenen Tradition« bewahrt wurden. So wurde laut Arendt übersehen, dass die einzigen echten Heilmittel gegen die Aporien des Handelns diesem selbst entspringen, insofern der Handelnde die Möglichkeit habe zu verzeihen, um jemanden von den Folgen seines Handelns zu entbinden, und zu versprechen, um der absehbaren Unverlässlichkeit etwas Bindendes entgegenzustellen. 144 Treue und Beständigkeit wären im Gewebe menschlicher Beziehungen ohne die Fähigkeit zu versprechen nicht möglich. Verzeihen und Versprechen seien genuin politische Tugenden, weil sie ausschließlich an der Person des anderen und an der Vgl. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 279. Die kollektive Verantwortung schließt persönliche Schuld aber nicht aus. Vgl. Williams, Garrath: »Verantwortung«, in: Heuer, Wolfgang/Heiter, Bernd/Rosenmüller, Stefanie (Hg.): ArendtHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart Weimar 2011, S. 325–327. Ein wichtiger Aspekt der politischen Verantwortung ist, dass diese sich auch auf die unbeabsichtigten Handlungen und Ereignisse erstreckt. Vgl. Canovan, Margaret: »Politische Verantwortung in ›interessanten Zeiten‹«, in: Meints/Klinger (Hg.): Politik und Verantwortung, S. 69 f. 144 Vgl. ebd. (Arendt), S. 300–311. 143

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gemeinsamen Welt orientiert seien. Es komme darauf an, wem verziehen werden soll und ob die Freundschaft und das gemeinsame Handeln fortgeführt werden können, nachdem jemand die Regeln des Zusammenseins verletzt hat. Gerade weil es um die Person selbst gehe und nicht um die Tat 145, unterliegen Verzeihen und Versprechen keinem allgemeinen moralischen Gesetz, denn dieses habe das Verhalten gegenüber jedem Menschen zum Gegenstand. Anhand der Fähigkeit des Versprechens wird deutlich, inwiefern die Rechtsordnung 146 auch nach dem einmaligen Akt ihrer Institutionalisierung auf den Fortbestand einer politischen Öffentlichkeit angewiesen bleibt. Das Vertrauen darauf, dass Verträge und Abkommen eingehalten werden, beruht auf Versprechen. Als Beispiel führt Arendt das Prinzip pacta sunt servanda an, das dem römischen Recht zugrunde liegt. 147 Mit ihrem Begriff des Versprechens deutet sie demnach an, dass sich die Legitimität der Rechtsordnung aus Quellen speist, die außerhalb dieser selbst liegen. Im Gegensatz zu Carl Schmitt, der annimmt, dass »[d]ie Ordnung […] hergestellt sein [muß], damit die Rechtsordnung einen Sinn hat« 148 und die »konkrete politische Entscheidung über Art und Form der politischen Existenz« 149 auf einen Souverän zurückgeführt werden kann, resultiert die Legitimität des Rechts nach Arendt aus der Zustimmung zu einem Vertrag. Recht und Unrecht, das Menschen einander antun, haben ihre Masstäbe im Zwischen, richten sich nach dem, was zwischen Menschen beschlossen wur-

145 Vgl. Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Kohn, Jerome (Hg.), München Zürich 2007, S. 78, 100 f. 146 Die Frage, was genau bei Arendt unter Recht zu verstehen ist und wie eine Rechtsordnung politisch begründet werden kann, ist von der jüngeren Arendtforschung eingehender thematisiert worden. Vgl. Rosenmüller, Stefanie: Der Ort des Rechts. Gemeinsinn und richterliches Urteilen nach Hannah Arendt, Baden-Baden 2013; Goldoni, Marco/McCorkindale (ed.): Hannah Arendt and the Law, Oxford 2012; Volk, Christian: Die Ordnung der Freiheit. Recht und Politik im Denken Hannah Arendts, Baden-Baden 2010; Förster, Jürgen: Die Sorge um die Welt und die Freiheit des Handelns. Zur institutionellen Verfassung der Freiheit im politischen Denken Hannah Arendts, Würzburg 2009; Ahrens: Die Gründung der Freiheit. 147 Vgl. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 311. 148 Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 4. Aufl., Berlin 1985, S. 20. 149 Schmitt, Carl: »Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung« [1929], in: ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, 2. Aufl., Berlin 1973, S. 69 f.

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de – Vertrag, Kontrakt, »agreement« –, was sie einander garantieren und was außerhalb des Reiches, d. h. des zwischen Menschen bestehenden und von ihnen kreierten Gebiets, dem Zwischen-Reich, nicht existiert. […] Alles, was beschlossen wird, wird zwischen Menschen beschlossen und gilt, solange dies Zwischen gilt. Unabhängig von diesem Zwischen gibt es nicht Recht und Unrecht. Sobald es schwindet, verschwinden mit ihm die Masstäbe im buchstäblichsten Sinne. Es gibt kein Gewissen, das diesen Schwund, gleichsam im leeren Raum, überleben könnte. 150

Der »Vertrag« steht bei Arendt nicht nur für den einmaligen Akt eines Vertragsabschlusses, sondern auch für die Zustimmung, durch die sich die Gültigkeit des Rechts erhält. Politisch gedacht beruht die »Herrschaft« im Prinzip des rule of law nicht auf einem souveränen Willen oder einer dem Recht inhärenten Rationalität, sondern auf Verträgen, die zwischen den Menschen, also im Bereich des Politischen, abgeschlossen worden sind. Die auch von Kant geteilten Auffassungen, dass die Vernunft die Quelle des Rechts sei und der Wille die Quelle der Macht, sind für Arendt »sowohl aus historischen wie aus philosophischen Gründen fragwürdig«. 151 Die Legitimität der Macht erwachse aus dem »Machtursprung«, nämlich der Gründung des Gemeinwesens. 152 Macht sei demnach immer an die ursprüngliche »Einhegung des Neuanfangs« durch Gesetze gebunden; die zugleich der stabilisierende Rahmen seien, innerhalb dessen gehandelt wird: »Gesetze garantieren die Möglichkeit von etwas gänzlich Neuem und die Präexistenz einer gemeinsamen Welt, die Wirklichkeit einer alle Anfänge transzendierenden Kontinuität, die alle Ursprünge in sich aufnimmt und von ihnen sich nährt.« 153

2.2. Die Kluft zwischen dem antiken und dem modernen Freiheits- und Gleichheitsverständnis Die Phänomene »Freiheit« und »Gleichheit« werden von Arendt im Verhältnis zum politischen Raum interpretiert. Politisches Handeln Arendt: Denktagebuch, S. 179 f. Vgl. Arendt: »Über das Wesen des Totalitarismus«, S. 18; Volk: Die Ordnung der Freiheit, S. 252 f. 152 Vgl. Ahrens: Die Gründung der Freiheit, S. 135, 145 ff. 153 Arendt: »Über das Wesen des Totalitarismus«, S. 31. Politische Freiheit bedarf demnach eines gesetzlichen Rahmens. Vgl. Romberg: Athen, Rom oder Philadelphia?, S. 98 f. 150 151

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sei nur in Freiheit möglich und geschehe dort, wo Menschen einander als Gleiche begegnen. »Ursprünglich erfahre ich Freiheit und Unfreiheit im Verkehr mit anderen und nicht im Verkehr mit mir selbst. Frei sein können Menschen nur in Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen und des Handelns; nur dort erfahren sie, was Freiheit positiv ist und daß sie mehr ist als ein Nicht-gezwungenWerden.« 154 Politische Freiheit sei weder Voraussetzung noch erst Ergebnis bestimmter Formen politischen Handelns, sondern könne nur dort erfahren werden, wo de facto politisch gehandelt wird. Freiheit ist eine Weise des Weltbezugs, sie ereignet sich zwischen den Menschen, wenn diese miteinander handeln. Über politische Freiheit kann niemand als Einzelner verfügen. Sie ist kein allgemein menschliches Vermögen, wie z. B. die Willensfreiheit. Die Fragen, ob im Menschen eine Sehnsucht nach Freiheit angelegt ist oder die »innere Freiheit« für den Vollzug geistiger Vermögen vorausgesetzt werden müsse, sind für Arendt bloße Spekulation: Der »Raum freien Handelns […] allein ist die Wirklichkeit der Freiheit«. 155 Als Freie und Gleiche würden sich Menschen jenseits von Zwang, Gewalt und Herrschaft begegnen, um über die Belange des Gemeinwesens zu beraten. »Ohne solche Anderen, die meinesgleichen sind, gibt es keine Freiheit, und darum ist der, der über Andere herrscht und daher auch von Anderen prinzipiell verschieden ist, zwar glücklicher und beneidenswerter als die, welche er beherrscht, aber er ist um nichts freier.« 156 Der politische Raum sei ein herrschaftsfreier Raum. Während sich im freien politischen Miteinander ein gemeinsamer Bezug zur öffentlichen Angelegenheit und damit einhergehend ein Horizont von Handlungsmöglichkeiten, ein Machtpotential erschließe 157, zerstöre Herrschaft den freien Bezug zur Sache. Arendt unterscheidet zwischen der positiven, politischen Freiheit und der negativen Freiheit im Sinne der Befreiung. Freies politisches Handeln setze das Befreitsein von Notwendigkeiten voraus, aber das bedeute weder, dass die Befreiung zum Zwecke der politischen Betätigung erfolgen muss – sie könne ebenso ein Leben in Muße zum Ziel haben – noch, dass Politik ein »Mittel« sei, um Freiheit 154 Arendt, Hannah: »Freiheit und Politik«, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ludz (Hg.), S. 201. 155 Arendt: Über das Wesen des Totalitarismus, S. 32 (Herv. O. B.). 156 Arendt: Was ist Politik?, S. 39. 157 Zum Machtbegriff bei Arendt vgl. Grunenberg: »›Macht kommt von möglich …‹«, S. 85 ff.

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zu verwirklichen, denn Freisein und politisches Handeln seien ein und dasselbe. Arendt knüpft nur terminologisch an Berlins Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit an. 158 Um sich die Differenzen klarer vor Augen zu führen, macht es Sinn, den politischen Freiheitsbegriff von einem liberalen abzugrenzen und deren doppelte Konnotationen zu betonen. Im liberalen Sinne ist positive Freiheit auf den souveränen Willen gegründete, individuelle Handlungsmacht. Die Freiheit ist »positiv«, weil das Individuum durchsetzt, was es will. Damit dieser Wille nicht der Willkür anheimfällt, muss er mit dem allgemeinen Willen abgestimmt sein, der verbürgt, dass die Freiheit des Einzelnen nur so weit reicht, wie die Freiheit des anderen nicht verletzt wird. Die Individuen können nur dann gleichermaßen frei sein, wenn jedes Individuum durch gleiche Rechte vor willkürlichen Übergriffen des Staates und der anderen geschützt ist. Die grundrechtlich gesicherten Freiheiten sind negative Freiheiten, weil sie dem Schutz vor der Staatsgewalt dienen. Zu den neuzeitlichen Menschenrechten, der Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, dem Recht auf Eigentum usw., merkt Arendt an: »Alle diese Rechte und Freiheiten […] sind ihrem Wesen nach negativ; sie sind Resultate der Befreiung aus den verschiedensten Arten der Knechtschaft und enthalten keineswegs den eigentlich positiven Gehalt dessen, was Freiheit nun wirklich ist.« 159 Der positive Gehalt der Freiheit erschließt sich nicht in dem, was das Individuum aufgrund seiner Souveränität gegen andere durchsetzen kann, sondern nur in dem, was die Handelnden gemeinsam tun, wobei das Handeln durchaus antagonistisch, durch Dissens gekennzeichnet sein kann. Gerade weil die politische Freiheit eine gemeinsame Freiheit ist, ist ihr Resultat nicht vorhersehbar. Positiv formuliert heißt das, dass das Offene der Zukunft im Handeln als Möglichkeitshorizont real erfahrbar wird. 160 Die politische Freiheit 158 Das zeigt sich insbesondere hinsichtlich der Bestimmung der positiven Freiheit, als deren Konsequenz Berlin das Streben nach souveräner Herrschaft in der Politik darstellt. Vgl. Berlin, Isaiah: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt a. M. 1995, S. 201–215. Nach Arendt schließen Freiheit und Souveränität dagegen einander aus. 159 Arendt, Hannah: Über die Revolution, 4. Aufl., München Zürich 2000, S. 38. 160 Die Entdeckung der Freiheit in der griechischen Polis geht deshalb einher mit der Entstehung eines neuen Zeitbewusstseins. Castoriadis spricht von der »Schaffung einer öffentlichen Zeit«. Vgl. Castoriadis, Cornelius: »Die griechische polis und die Schaffung der Demokratie«, in: Rödel, Ulrich (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a. M. 1990, S. 315.

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ist zwar nur im Miteinander möglich, aber sie ist deshalb nicht eine Freiheit der Gemeinschaft, eine kollektive Freiheit in dem Sinne, dass nur die Gemeinschaft frei wäre, nicht aber der Einzelne. Vielmehr eröffnen sich dem Individuum erst in der politischen Gemeinschaft besondere Möglichkeiten, sich in Rede und Tat vor anderen auszuzeichnen. Individuelle Freiheiten sind nach Arendt vom öffentlichen Bereich nicht abgrenzbar. Auch jene Freiheiten, mit denen gemeinhin nicht-politische Tätigkeiten assoziiert werden – die Gedankenfreiheit, die Religionsfreiheit, die künstlerische Freiheit usw. – enthalten »ein politisches Element«. 161 Damit ist zum einen gemeint, dass die mit diesen Freiheiten verbundenen Tätigkeiten – das freie Denken, ein freies Verhältnis zur Religion oder die freie künstlerische Entfaltung – durch das Vorhandensein eines politischen Raums bedingt sind; zum anderen sind sie – in Abhängigkeit davon, wie sehr ihre Resultate in der Öffentlichkeit von Belang sind – konstitutiv für den Fortbestand des politischen Raums. Arendt insistiert auf die Unterscheidung von politischer und negativer Freiheit, weil Freiheit nur dort, wo ein politischer Raum vorhanden ist, »weltliche Realität« ist, also in »Worten, Taten, Ereignissen wirklich werden kann«. 162 Die Absicht, an dieser Freiheit festzuhalten und ihr nach Möglichkeit eine dauerhafte Stätte zu verschaffen, muss demnach grundsätzlich unterschieden werden von Zugeständnissen an Freiheitsrechten. Ersteres gründet in der Erfahrung der Freiheit. Die Lebendigkeit des öffentlich-politischen Lebens soll aufrechterhalten werden. Das war laut Arendt die Absicht der amerikanischen Gründerväter. Zugeständnisse an Freiheitsrechten können dagegen durchaus durch die Regierenden und in ihrem Interesse erfolgen, sofern ihre Herrschaft dabei nicht bedroht wird, aber das Verlangen nach Freiheit bei den Beherrschten gestillt ist. In dem einen Fall geht es um den »republikanischen Geist«, in dem anderen um den Rechtsstaat – sofern rechtliche Zugeständnisse die politischen und justiziellen Grundrechte beinhalten. Arendt betont die Differenz, um zu zeigen, dass Revolutionen im Wesentlichen durch die »Gründung der Freiheit« gekennzeichnet sind und nicht durch die Garantie gleicher Rechte, die auf die Befreiung von der unterdrückenden Regierungsgewalt folgen mag. Die Freiheitsbegriffe werden voneinander abgegrenzt, aber nicht gegeneinander ausgespielt. 161 162

Vgl. Arendt: »Freiheit und Politik«, S. 204 f. Vgl. ebd., S. 201 u. 207.

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Schließlich ist der Unterschied zwischen Rechtsstaat und Zwangsherrschaft ebenso groß und vielleicht größer als der zwischen dem bloßen Rechtsstaat und einer wirklich freien Republik. Die praktische Bedeutung solcher realistischen Einschätzungen soll gewiß nicht gering veranschlagt werden, sie dürfen aber nicht dazu führen, daß man über den bürgerlichen Rechten die politische Freiheit vergißt bzw. die Vorbedingungen des Politischen mit der substantiellen politischen Freiheit gleichsetzt. Solche Freiheit ist nie verwirklicht, wenn das Recht auf aktive Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten den Bürgern nicht garantiert ist. 163

Die politische Freiheit wurde laut Arendt erstmalig in den Verhältnissen der griechischen Polis 164 erfahren, deren Verfassung die Isonomie war. 165 Die Gleichheit der Bürger habe in erster Linie nicht auf der Abstammung von Vollbürgern oder dem Menschsein beruht, sondern darauf, dass Menschen von Natur aus ungleich sind und dieser Ungleichheit eine eingerichtete Welt entgegensetzen, in der sie kraft ihrer Gesetze als Gleiche erscheinen können. Gleiche seien die Arendt: Über die Revolution, S. 281. Arendts Darstellung der antiken Polis im perikleischen Zeitalter ist als Idealisierung, Nostalgie oder romantische Schwärmerei kritisiert worden, ihre scharfe Trennung von öffentlich und privat entspreche nicht der historischen Wirklichkeit. Bielefeldt z. B. spricht bezüglich der Grundtätigkeiten von »idealtypischen Konstruktionen«. Vgl. Bielefeldt: Wiedergewinnung des Politischen, S. 12, 38. Romberg nennt einige kritische Stellungnahmen und weist sie zurück. Vgl. Romberg: Athen, Rom oder Philadelphia?, S. 158 ff. Übersehen oder nicht diskutiert wird in den Kritiken zumeist, dass Arendts Begriffsbildung sich an Phänomenen und deren Grenzen orientiert. Phänomene sind keine Ideale, Ideen oder Allgemeinbegriffe, sondern – für Arendt – Explikationen von Wirklichkeitserfahrungen und geschichtlichen Ereignissen. Die Polis wird nicht zur Aufstellung eines der historischen Wirklichkeit fremden Ideals thematisiert, sondern als ein Beispiel, an dem sich geschichtliche Sinnzusammenhänge verstehen lassen. Die Trennung von privat und öffentlich ist phänomenologisch und geschichtshermeneutisch relevant, weil sie zur Erhellung des politischen Phänomens im Allgemeinen und des politischen Lebens der Griechen im Besonderen beiträgt. Arendt konstruiert kein Ideal herrschaftsfreier Politik, sondern erkennt, dass der Verzicht auf Herrschaft und Gewalt konstitutiv für Politik ist, also im Phänomen selbst liegt. Dieser phänomenologische Befund wird nicht dadurch beeinträchtigt, dass die Herrschaft über Sklaven notwendige Bedingung für das politische Leben der Freien war, diese teilweise auch untereinander nach »Herrschaft« (im Sinne des Hervorragens, vgl. Kap. VI.2.) strebten oder sich historisch nachweisen lässt, dass in der Polis auch Privatinteressen politisch bedeutsam werden konnten, solange die »Entstehung des Politischen bei den Griechen« (Christian Meier) als historisches Faktum anerkannt wird. Gegen die angebliche Idealisierung spricht außerdem, dass diese mit Arendts Kritik an den »metaphysischen Trugschlüssen« der philosophischen Tradition von Platon bis Hegel unvereinbar wäre. 165 Vgl. Arendt: Über die Revolution, S. 35 ff. 163 164

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Polisbürger demnach nicht als Privatpersonen und vorrangig auch nicht aufgrund vergleichbarer Lebensumstände – obwohl die Bürger zur politischen Betätigung ökonomisch unabhängig sein mussten 166 – sondern weil sie einen Raum gebildet hatten, aus dem sie Gewalt und Zwang verbannt hatten und einander als Ebenbürtige begegnen konnten. Der politische Gleichheitsbegriff der Isonomie ist nach Arendt mit dem, was die Griechen unter Redefreiheit (ίσηγορία) verstanden, eng verbunden. 167 Konträr zur freien Rede stünden alle Verhältnisse zwischen Menschen, in denen Befehle erteilt und Gehorsam erzwungen wurde. Befehle seien nicht im politischen Raum, wohl aber in allen Bereichen vonnöten gewesen, in denen auch Zwang und Herrschaft ihren Platz hatten, bspw. im privaten und im militärischen Bereich. Laut Arendt verbanden die Griechen damit eine Situation, in der freie Rede unmöglich war. 168 Insofern befänden sich nicht nur Sklaven im Zustand der Unfreiheit, auch der Despot sei unfrei, solange er keine Ebenbürtigen um sich herum duldet. Der arendtschen Interpretation zufolge sind Despotien, Tyranneien und vor allem die totale Herrschaft unpolitische Herrschaftsformen. Die Aristokratie oder Oligarchie könne dagegen durchaus politisch sein, solange die Wenigen, die handeln, einander gleichgestellt sind. Raaflaub weist darauf hin, dass z. B. Thukydides von einer isonomischen Oligarchie spricht. Aus der gut belegbaren Entgegensetzung zur τυραννίς zieht er den Schluss, dass der Begriff der ίσηγορία als Parole im Kampf gegen die Alleinherrschaft geprägt worden ist. 169 Genau genommen widerspricht eine Beschreibung des Königtums, der Aristokratie und der Oligarchie als »Herrschaftsformen« dem griechischen politischen Selbstverständnis. Nicht das Verhältnis von Herrschern und Beherrschten kennzeichnet die Art der politischen Ordnung, sondern die Frage, wer auf der Agora handelt – der 166 Die Unabhängigkeit von ökonomischen Zwängen wurde im Allgemeinen durch die Sklaverei ermöglicht. In den Worten Jaegers: »Der griechische Begriff des Freien […] beruht auf der Voraussetzung der Sklaverei als feststehender Einrichtung, ja, als der Grundlage der Freiheit des bürgerlichen Teils der Bevölkerung.« Jaeger, Werner: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 2, 3. Aufl., Berlin 1959, S. 104. 167 Vgl. Arendt: Was ist Politik?, S. 40. 168 Vgl. ebd. 169 Vgl. Raaflaub, Kurt: Die Entdeckung der Freiheit. Zur historischen Semantik und Gesellschaftsgeschichte eines politischen Grundbegriffes der Griechen, München 1985, 115 ff.

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König als der »Erste unter Gleichen«, die Besten oder die Reichen. Maßgeblich für die Kennzeichnung der Verfassungsformen ist, wer handelt und wodurch die Handelnden sich auszeichnen und nicht, über wen oder wie viele sie herrschen 170. Mit der Tyrannis wird dagegen die politische Ordnung aufgehoben, sie gleicht eher einer Okkupation durch äußere Feinde. Vermutlich konnte die Frage nach der ethischen Legitimität der Tyrannentötung bei den Griechen deshalb nicht aufkommen, weil Politik und Herrschaft sich ihrer Auffassung nach ohnehin kategorisch ausschlossen. 171 Erst Cicero erhebt die Tötung des Tyrannen zur ethischen Pflicht und legitimiert sie naturrechtlich. 172 Arendts Begriff der Gleichheit hat zunächst nichts mit Gerechtigkeit im Sinne der Chancengleichheit oder Verteilungsgerechtigkeit zu tun, denn die Menschen können in einer Diktatur durchaus wohlhabender sein als in einem politischen Gemeinwesen, in dem die Freiheit einen Platz hat. 173 Mit ihrem Rekurs auf den Begriff der Isonomie verdeutlicht sie, dass die griechische Antike keinen unserem heutigen Gleichheitsbegriff entsprechenden Begriff besaß. Die Gleichheit bezog sich auf die faktische Teilnahme an den gemeinsamen Angelegenheiten. 174 Gleichheit ist also eng verbunden mit Freiheit, denn der Einzelne ist in dem Moment frei, in dem er politisch tätig wird. Dagegen scheint vor allem zu sprechen, dass jede politische Betätigung die abstammungsmäßige Zugehörigkeit zur Bürgerschaft voraussetzte. Die Gleichheit der Bürger ergibt sich demnach aus der Abstammung. Diese war für die Griechen gewiss ein zentrales Kriterium politischer Zugehörigkeit. Dass aus ihr jedoch nicht unmittelbar die politische Gleichheit resultierte, wird daran ersichtlich, dass auch die »freien« Bauern, die nicht einem anderen Zum Herrschaftsbegriff vgl. auch Kap. VI.2. »Herrschaft zerstört […] den politischen Raum, und das Resultat dieser Zerstörung ist die Vernichtung der Freiheit für Herrscher wie Beherrschte.« Arendt: Über die Revolution, S. 37. Arendt belegt diese These in Anm. 11 (S. 365) mit einem Hinweis auf Hdt. III, 83. In der Diskussion über die beste Staatsform erklärt der Befürworter der Isonomie, nachdem ihm die Herrschaft als König angeboten wurde: »Ich will nicht herrschen und will nicht dienen.« 172 Vgl. Girardet: »Vis contra vim«, S. 172 ff. 173 Vgl. Arendt: Was ist Politik?, S. 40. 174 Dieser Befund wird von Historikern und Philologen geteilt. Vgl. Bleicken: Die athenische Demokratie, S. 338–344; Hansen, Mogens Herman: Die Athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis, Berlin 1995, S. 82–86. 170 171

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dienten, sondern für den eigenen Lebensunterhalt arbeiteten, nicht als freie Bürger angesehen wurden. 175 Erst dann, wenn ein Bürger sich durch Sklaven der Sorge für den Lebensunterhalt (ἀνάγκη) entledigen konnte, war er frei. Befremdlich wirkt daran sicher, dass Freiheit und Gleichheit offensichtlich auf Unfreiheit und Ungleichheit beruhen. Das, was Griechen und Römer unter Freiheit und Gleichheit verstehen, ist im modernen Sinne Unfreiheit und Ungleichheit, weil der einzelne Bürger seine Rechte im Konfliktfall nicht gegen die politische Gemeinschaft durchsetzen konnte und Sklaverei die Voraussetzung für die Freiheit der Bürger ist. Die Differenz in den Auffassungen betrifft aber nicht nur die Geltungsweite politischer Rechte – als ob die Rechte der Polisbürger nur auf weitere Gruppen hätten ausgedehnt werden müssen, um eine Annäherung an das moderne Verständnis zu erreichen. Vielmehr handelt es sich um qualitativ unterschiedliche Auffassungen. Auf die Kluft zwischen diesem antiken Gleichheitsbegriff und den modernen Vorstellungen, denen zufolge die Menschen gleich geboren oder als Gleiche erschaffen sind und erst durch gesellschaftliche oder politische, also jedenfalls ›künstliche‹ Einrichtungen ungleich werden, kann gar nicht ausdrücklich genug hingewiesen werden. 176

Aus dem bisher Aufgezeigten wird deutlich, dass das Politische und die positive Freiheit im arendtschen Sinne kontingente Phänomene sind und dass die Unfähigkeit des Staates, die eigenen Voraussetzungen garantieren zu können, daher rührt, dass es für einen Neuanfang, den Erscheinungsraum und das Sich-Zeigen der Person schlechterdings keine Garantie geben kann. Entscheidend ist, dass die Kontingenz zum Wesen des Politischen gehört und dass sie nur zum Preis eines Verlusts von Politik überhaupt aufgehoben werden kann. Selbiges gilt nicht von der Verfassung, den Bürgerrechten oder der institutionellen Ordnung des Staates – also von »Produkten« bzw. Rahmenbedingungen politischen Handelns – die durch erneutes Handeln ausgesetzt oder verändert werden können. Die von Arendt erwähnte Kluft zwischen dem antiken und dem modernen Freiheits- und Gleichheitsbegriff betrifft offensichtlich auch das Verhältnis des Politischen zu den Menschenrechten. Arendt stellt dem liberalen Freiheits- und Gleichheitsverständnis ein politi-

175 176

Vgl. Arendt: Denktagebuch, S. 183. Arendt: Über die Revolution, S. 36

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sches gegenüber – nicht um das eine durch das andere zu ersetzen, sondern um zu zeigen, dass der Schutz der Menschenrechte die Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft voraussetzt. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, friedliche Versammlung und Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten sollen sicherstellen, dass niemand daran gehindert wird, politisch zu handeln, gleichwohl können sie nicht garantieren, dass politisch gehandelt wird. Die politische Freiheit ist nicht liberale Freiheit, sondern ein Phänomen der Weltbezüglichkeit. Als solche unterliegt sie den Bedingungen des Handelns. Sie zeigt sich darin, dass jemand »in einem Beziehungssystem« lebt, »in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird«. Diese Form der Praxis ist Arendts Definition des »Rechts, Rechte zu haben«. 177 Es gibt eine genuin politische Dimension der Menschenrechte, die nicht durch die Gewährung bestimmter Partizipationsrechte oder den Betrieb der »technisch rationale[n] Maschine« 178 Rechtsstaat realisiert wird. Der Verlust oder die Verletzung einzelner Menschenrechte ist nicht gleichzusetzen mit dem Verlust des Rechts auf Rechte, also der Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft. Der Verlust der Menschenrechte findet nicht dann statt, wenn dieses oder jenes Recht, das gewöhnlich unter die Menschenrechte gezählt wird, verlorengeht, sondern nur wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, daß seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind. 179 177 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 9. Aufl., München Zürich 2003, S. 614. Das heißt, dass »Menschenrechte mit Blick auf die Handlungsfähigkeit der Menschen und auf ihre Institutionalisierungsmöglichkeiten begründet werden [müssen]«. Schües, Christina: »Das ›Recht, Rechte zu haben‹ im Zeitalter der Globalisierung«, in: Kahlert, Heike/ Lenz, Claudia (Hg.): Die Neubestimmung des Politischen. Denkbewegungen im Dialog mit Hannah Arendt, Königstein/Ts. 2001, S. 251. 178 Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5., rev. Aufl., Tübingen 1972, S. 469. 179 Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 613. Die Formulierung eines »Rechts auf Rechte« ist kritisiert worden, weil sie das Problem der Begründung von Menschenrechten nicht eigentlich löse. Das Recht auf Rechte sei entweder abstrakte legitimierende Grundlage der positiven Rechte oder es gehöre selbst zu den einklagbaren Rechten und könne daher nicht zugleich deren Begründung sein. Vgl. z. B. Dürr, Thomas: »Der Begriff des Menschenrechtes bei Hannah Arendt«, in: Gander (Hg.): Menschenrechte, S. 94 f.; Menke, Christoph: »Die ›Aporien der Menschenrechte‹ und das ›einzige Menschenrecht‹. Zur Einheit von Hannah Arendts Argumen-

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Exkurs: Das Politische und die Menschenrechte

Die Umsetzung menschenrechtlicher Forderungen ist ohne das Politische nicht zu denken, ihr Inhalt ist das Ergebnis politischer Diskurse und über ihre Gültigkeit, Durchsetzung und Legitimation wird weiterhin im Rahmen solcher Diskurse gestritten. Rechte, die nicht statation«, in: Geulen, Eva/Kauffmann, Kai/Mein, Georg (Hg.): Hannah Arendt und Giorgio Agamben. Parallelen, Perspektiven, Kontroversen, München 2008, S. 140 f. Birmingham vertritt dagegen die These, dass die Menschenrechte bei Arendt ontologisch in der Natalität begründet sind. Vgl. Birmingham, Peg: Hannah Arendt and Human Rights. The Predicament of Common Responsibility, Bloomington Indianapolis 2006. Oben war erläutert worden, dass Rechtsgarantien im zwischenmenschlichen Bereich gründen, insofern das Recht gleich einem »Vertrag« zwischen den Menschen vereinbart ist. »[R]ights spring from the mutual guarantees which alone can assure them.« Arendt, Hannah: »›The Rights of Man‹. What are they?«, in: Modern Review 3, 1 (1949), S. 36. Der bindende Charakter von Verträgen beruht laut Arendt auf der Fähigkeit zu versprechen. Damit sollen Vertrag und Versprechen aber nicht gleichgesetzt werden. Vgl. Förster: Die Sorge um die Welt und die Freiheit des Handelns, S. 285 ff., 307 f. Für Arendt ist der Vertrag, also die von den Bürgern geteilte Vorstellung, dass das Recht de facto gilt, alles andere als ein abstraktes Konstrukt. Ihr geht es primär nicht um rational schlüssige Begründungen des Rechts, sondern um die Frage, ob die Geltung des Rechts als »weltliche Realität« nachweisbar ist. Ebenso wie bei den Phänomen Freiheit, Politik, Macht usw. orientiert sich Arendt an wirklichen Erfahrungen. Historische Beispiele für die Geltung von Rechtsverträgen sieht Arendt in der römischen Tradition und in den Gründungsverträgen der amerikanischen Kolonien. In Über die Revolution wird strikt zwischen politischen Vertragsakten und den hypothetischen Gesellschaftsverträgen der Naturrechtstheoretiker unterschieden. Vgl. Arendt: Über die Revolution, S. 220 f. Dabei soll nicht das begründungstheoretische Rechtsdenken einer »realistischen« politischen Theorie gegenübergestellt werden, sondern die politische Bedingtheit der Rechtsgeltung betont werden. Das Recht wird nach Arendt wechselseitig garantiert, aber nicht zwischen abstrakten, absolut gleichen Individuen, sondern zwischen verschiedenen Menschen, die erst durch Vertrag und Gesetz gleich werden. Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 622. Das Recht auf Rechte wird dieser Garantie nicht als Legitimationsfloskel vorausgeschickt, sondern benennt das Prinzip dieses Vertrags unter der neuen Bedingung, dass die Menschheit eine politische Tatsache geworden ist. Demnach können Menschenrechte nur gelten, wenn die Menschheit als ihr Garant auftritt. Vgl. ebd., S. 617. Menschenrechte werden »zwischen Menschen beschlossen«, sie gelten, »solange dies Zwischen gilt«, das heißt, solange das Prinzip pacta sunt servanda weltliche Realität ist. Vgl. Arendt: Denktagebuch, S. 179 f. Wie ein solcher Zwischenraum, in dem sich die Menschheit organisiert, politisch-institutionell aussehen mag, lässt Arendt offen (einige Hinweise zur Institutionalisierung des Rechts auf Rechte gibt Birmingham: Hannah Arendt and Human Rights, S. 132– 142), aber die Geltung des Prinzips, das den Menschenrechten zugrunde liegt, erwächst ebenso wie die des Mayflower Compacts, der die Pilgerväter einte, allein aus »dem Vertrauen auf die Kraft gegenseitiger Versprechen«. Vgl. Arendt: Über die Revolution, S. 217; Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 314 f. Jene Lippenbekenntnisse autoritärer Staaten, die in der Forschungsliteratur so häufig als Teilerfolg

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Politische Freiheit und politische Rechte

tusbezogen begründet werden, haben einen kontraktuellen Charakter, für den das Politische unabdingbar ist. Arendt ordnet die Menschenrechte in Über die Revolution dem Bereich der negativen Freiheiten zu, konstatiert aber, dass die Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit historisch gesehen oft schwer auszumachen ist 180, insofern bspw. während der amerikanischen Revolution die Diskussion über die Rechte eine eminent politisch-öffentliche Angelegenheit war. Der Kampf für politische Freiheiten wäre deutlich erschwert, wenn die proklamierten und ratifizierten Menschenrechte als Dreh- und Angelpunkt für den Diskurs über Freiheits-, Gleichheits- und Partizipationsansprüche keinen Halt zu geben vermögen. Dass die Menschenrechte durch das Politische bedingt sind, bedeutet nicht allein, dass sie im Rahmen einer politischen Öffentlichkeit erkämpft werden, sondern auch, dass sie seit ihrer Deklaration Bedingung geworden sind für das Handeln. Alles, was sich im politischöffentlichen Bereich ereignet, unterliegt den Bedingungen des Politischen 181, also dem Spiel der Machtverhältnisse, den Aporien des Handelns usw. und hat deshalb zwangsläufig auch bedingende Folgen für die Politik, erst recht, wenn es um die Gründung des Gemeinwesens geht und deren Legitimation durch die Menschenrechte. Die Tatsache, dass Menschenrechte erklärt wurden, musste Folgen für die Politik haben. Hinsichtlich der ungelösten Sklavenfrage nach der amerikanischen Revolution merkt Vollrath an: »Auch die Folgenlosigkeit der Setzung von Menschenrechten hat politisch schwerwiegende Folgen: sie ist selber eine!« 182 Wie bereits anhand der Darstellung des antiken und des modernen Freiheits- und Gleichheitsbegriffs deutlich wurde, verweisen Menschenrechtsanspruch und politische Freiheit nicht zwingend aufeinander. Historisch gesehen mag dies offensichtlich sein, im Kern der Menschenrechtspolitik verbucht werden, zeigen vor diesem Hintergrund eher, dass die Menschheit von einem Pakt für Menschenrechte, der Staaten- und Rechtlosigkeit unmöglich macht, noch weit entfernt ist. Die Situation der Staatenlosen und Flüchtlinge ist nach wie vor ein wesentlicher Prüfstein dafür, ob der Mangel an Realitätssinn, den Arendt bezüglich der Menschenrechtsansprüche konstatierte (Vgl. Arendt: »The Rights of Man«, a. a. O., S. 37.), behoben ist – also den normativen Forderungen ein wirkliches Handeln-Können entspricht – oder nicht. 180 Vgl. Arendt: Über die Revolution, S. 39. 181 »Was immer in diesem Erscheinungsraum vor sich geht, ist politisch per definitionem, auch wenn es mit Handeln direkt nichts zu tun hat.« Arendt: »Freiheit und Politik«, S. 207. 182 Vollrath: »Die Folgen der Menschenrechte«, S. 72.

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Exkurs: Das Politische und die Menschenrechte

geht die Divergenz jedoch auf ein ontologisches Problem zurück, durch das das Spannungsverhältnis auch unter den Bedingungen der Moderne aufrechterhalten wird. Während Menschenrechte einen Begriff von dem Menschen voraussetzen, kann politisch nur von den Menschen gesprochen werden, insofern die Pluralität eine Grundbedingung des Handelns ist. Im Phänomenbezirk des Handelns gibt es »den Menschen« nicht. Dass dieses Faktum in der Philosophie nicht ausreichend berücksichtigt wurde, ist von Arendt immer wieder kritisiert worden. 183 Die menschliche Pluralität ist eine »paradoxe Eigenschaft«, weil das Menschsein durch die Einzigartigkeit der Menschen gekennzeichnet wird. 184 Wie die Pluralität der Menschen und die Existenz des Menschen im Hinblick auf die Garantie von gleichen Rechten aufeinander bezogen sein könnten, wird von Arendt in Was ist Politik? angesprochen. 183 Wie oben bereits angedeutet wurde, schließt Arendts Kritik der Metaphysik eine Kritik der darauf basierenden politischen Philosophien ein, insbesondere der Konzeptionen, die Politik als Herrschaft beschreiben. Daraus wurde in der Forschung häufig geschlossen, dass Arendts Denken demgegenüber in der politischen Theorie oder in der Tradition des republikanischen Denkens zu verorten sei. Zur Diskussion des arendtschen Republikanismus vgl. Straßenberger, Grit: »Republikanismus«, in: Heuer/Heiter/Rosenmüller (Hg.): Arendt-Handbuch, S. 377–382. Mit einer solchen Gegenüberstellung wird jedoch einerseits die Vielgestaltigkeit der arendtschen Rezeption und andererseits die Tragweite der Abgrenzung und Befreiung von tradierten politischen Theorien – bedingt durch den Traditionsbruch, der eine schlichte Anknüpfung an jede Tradition unmöglich macht – verdeckt. Vgl. Opstaele: Politik, Geist und Kritik, S. 41 ff. Arendt entnimmt nicht nur den republikanischen Theorien wesentliche Einsichten für ihr politisches Denken, sondern ebenso den metaphysischen politischen Philosophien. Trotz der grundsätzlichen Kritik an Platon wies sie z. B. mehrfach daraufhin, dass dieser »die ungeheure Bedeutung« der Identität von Anfang und Prinzip für die menschlichen Angelegenheiten erkannt habe. Vgl. Arendt: Über die Revolution, S. 274. Die republikanischen Theorien bergen zwar zentrale politische Erfahrungen, und zweifelsohne verfügen laut Arendt nur republikanisch geordnete Gemeinwesen über eine legitime politische Ordnung, aber auch in der Summe erhellen diese Theorien nicht die »menschliche Bedingtheit« – vor allem die Grundbedingungen für politisches Handeln Pluralität und Natalität. Erst recht hat sich die tradierte politische Theorie nie von der »politischen Metaphysik« emanzipieren können, aber genau das ist Arendts Anliegen. »Jedenfalls ist aus dem Konflikt zwischen Philosophie und Politik, wie er in dem Prozeß des Sokrates zum Ausbruch kam, unsere politische Philosophie entstanden. Der Konflikt, möchte man meinen, ist durch Plato nicht beigelegt, sondern von ihm nur diktatorisch zugunsten der Philosophie entschieden worden – was dann allerdings für nahezu die gesamte politische Theorie des Abendlandes maßgebend geworden ist.« Arendt, Hannah: »Was ist Autorität?«, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ludz (Hg.), S. 181. 184 Vgl. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 214.

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Politische Freiheit und politische Rechte

Der Mensch, wie ihn Philosophie und Theologie kennen, existiert – oder wird realisiert – in der Politik nur in den gleichen Rechten, die die Verschiedensten sich garantieren. In dieser freiwilligen Garantie und Zubilligung eines juristisch gleichen Anspruchs wird anerkannt, daß die Pluralität der Menschen, die ihre Pluralität sich selber danken, ihre Existenz der Schöpfung des Menschen verdankt. 185

Die freiwillige Garantie gleicher Rechte überbrückt die Distanz zwischen dem singularen und dem pluralen Begriff vom Menschen und schafft eine »relative Gleichheit«. Wenn der Mensch allein als Ebenbild Gottes vorgestellt würde, so könnten nach Arendt die Menschen nur »zu einer mehr oder minder geglückten Wiederholung des Selben [werden]« und die Existenz des anderen würde im Prinzip sinnlos. 186 Der Brückenschlag von den Menschen zu dem Menschen kann laut Arendt nur gelingen, wenn die Menschenrechte wie jedes Recht als zwischenmenschliche Vereinbarung interpretiert werden. Im Gegensatz zu den einzelnen Menschenrechten verlangt das Rechte auf Rechte, also die Zusicherung, »niemals seiner Staatsbürgerschaft beraubt zu werden« 187, die Vereinbarung einer Gemeinschaft von Nationen. »This human right, like all other rights, can exist only through mutual agreement and guarantee. Transcending the rights of the citizen – being the right of men to citizenship – this right is the only one that can and can only be guaranteed by the comity of nations.« 188 Die Erfahrung der politischen Freiheit war konstitutiv für das Selbstverständnis der Polis, ihr Bedeutungsgehalt lässt sich aus den Texten der antiken politischen Philosophie und der Geschichtsschreiber zumeist aber nur indirekt erschließen. Die Ideen Platons und Aristoteles’ sind nach Ansicht Arendts vielmehr das Ergebnis einer Abkehr vom politischen Raum und den dort offenbar gewordenen Aporien des Handelns. 189 Platon und Aristoteles erörterten demnach, wie die Polis vor den Auswüchsen extremer politischer Aktivität geschützt werden könne, die letztlich zu ihrem machtpolitischen Niedergang Arendt: Was ist Politik?, S. 11. Vgl. ebd. 187 Arendt: »The Rights of Man«, S. 36. 188 Ebd., S. 37. 189 Vgl. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 244 f.; Arendt, Hannah: »Philosophie und Politik«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 41, 2 (1993), S. 381– 400. 185 186

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Exkurs: Das Politische und die Menschenrechte

im Peloponnesischen Krieg führte. Es sei ihnen darum gegangen, eine Lösung für die Aporien des Handelns zu finden, also der Unabsehbarkeit der Folgen, der Irreversibilität und der moralischen Verantwortungslosigkeit der Beteiligten, die sich aus der Tatsache ergibt, dass in Handlungen immer mehrere verstrickt sind 190. Ihr Interesse sei gewesen, der politischen Ordnung mehr Stabilität zu verleihen. Dabei haben sie sich der »älteste[n] Sünde aller politischen Philosophie des Abendlandes« schuldig gemacht, »nämlich [der] so außerordentlich nahe liegende[n] Verwechselung von Herstellen und Handeln, in der das Handeln immer im Sinne eines herstellenden Verfahrens erfahren und begriffen wurde«. 191 Die Frage sei, wie in das Prozedere politischer Auseinandersetzungen, in dem sich bislang nicht notwendigerweise die bessere Ansicht durchsetzte, ein zwingendes Element eingeführt werden könnte und zwar der Zwang, den die Vernunft ausübe, wenn sie die Wahrheit vernimmt. Die philosophische Entdeckung, dass die Wahrheit einen unwiderstehlichen Charakter habe und dem politischen Meinungsaustausch, der mit Hilfe von Rhetorik zu überreden und zu überzeugen versucht, überlegen sei, trete im platonischen Werk besonders deutlich hervor, insofern laut Platon aus der echten Vernunfteinsicht stets unmittelbar die entsprechende Verhaltensweise resultiert. Wer die Wahrheit kennt – z. B., dass es besser ist, Unrecht zu leiden, als zu tun – könne nicht in einen Gewissenskonflikt geraten oder etwas anderes als wahrheitsgetreues Handeln wollen. 192 Damit der Frage nach der Wahrheit im Kontext politischen Denkens überhaupt eine zentrale Rolle beigemessen werden konnte, musste Platon, so Arendt, in das Handeln die Differenz von Wissen und Tun hineintragen und diese mit dem Verhältnis von Herrschern und Beherrschten identifizieren. Plato hat als erster die Menschen eingeteilt in solche, die wissen und nicht tun, und solche, die tun und nicht wissen, was sie tun. Betrachtet man die Geschichte des politischen Denkens seit Plato, so ist man versucht zu meinen, daß der Riß, mit dem Plato das Handeln in einen Gegensatz zwischen Tun und Wissen aufspaltete, zwar auf die mannigfaltigste Weise variiert und auch wieder verdeckt wurde, aber nie wieder verheilt ist. 193 Vgl. ebd., S. 279. Arendt, Hannah: »Geschichte und Politik in der Neuzeit«, in: Ludz (Hg.): Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 98. 192 Vgl. Kap. IV.1.2. 193 Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 282. 190 191

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Politische Freiheit und politische Rechte

Im griechischen Sprachgebrauch wird laut Arendt zwischen zwei Handlungsmomenten differenziert, dem Anfangen (ἄρχειν) und der Ausübung (πράττειν). Platon habe diese begriffliche Unterscheidung aufgegriffen und dem Anfangenden unterstellt, über ein Wissen zu verfügen, das dem Beginn des Handelns vorausgeht und dies rechtfertigen kann. Damit derjenige der anfängt, souverän gegenüber den anderen bleiben kann, müssten diese von jeder eigenen Initiative abgehalten werden und ausschließlich das tun, was ihnen vom Herrscher (ἄρχων) aufgetragen wird. 194 Ich habe darauf hingewiesen, dass Protagoras im Gegensatz zu Platon die Ansicht vertrat, dass sich die Menschen als Bürger in Fragen der Tugend, also der Gerechtigkeit, der Frömmigkeit usw., gegenseitig schulen und dass es auf die Meinung und das Urteil eines jeden ankommt, während sie bei jenen Künsten Sachkundige zu Rate ziehen, die der Übung oder technischer Kenntnisse bedürfen – z. B. bei der Baukunst, der Medizin oder dem Flötenspiel. Diese für Protagoras noch selbstverständliche Trennung von politischer Tugend und Expertenwissen wird von Platon verwischt. Ebenso wie vom Arzt wird nun auch vom politisch Handelnden ein aus der Theorie gewonnenes Wissen verlangt. Indem Platon die Unterscheidung von Theorie und Praxis, die ihrerseits in der von Wirklichkeit und Möglichkeit fundiert ist, auf den Begriff des Handelns überträgt, vollzieht er laut Vollrath den ersten Schritt zur Entfremdung »vom phänomenalen Bestand alles Handelns« und begründet die »Metaphysik des Politischen« 195, die politisches Handeln schließlich als souveräne Herrschaft begreifen wird. Nun waren jedoch alle Formen der Herrschaft im Bereich des Politischen, in dem es nur Gleiche unter Gleichen gab, verpönt. Die Griechen kannten, so Arendt, nur zwei Formen von Herrschaftsverhältnissen, die Tyrannis, die auch für Platon und Aristoteles jeder Legitimität entbehrte, und die »Despotie« des Haushaltsvorstandes gegenüber den Sklaven. 196 Letztere habe Platon einen passenden Erfahrungshintergrund für seine Vorstellung von einer politischen Ordnung geboten, wobei zu beachten sei, dass ihm nicht die Gewalt194 Vgl. ebd. Zu den Gründen dafür, weshalb die Philosophen nicht nur die Unabhängigkeit von der Politik zum Zwecke des ungestörten Philosophierens verlangten, sondern einen Herrschaftsanspruch bezüglich der politischen Angelegenheiten formulierten vgl. auch Arendt: »Philosophie und Politik«, S. 393 f. 195 Vgl. Vollrath: »Politik und Metaphysik«, S. 20, 22. 196 Vgl. Arendt: »Was ist Autorität?«, S. 170 f.

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Exkurs: Das Politische und die Menschenrechte

verhältnisse des häuslichen Lebens vorbildlich erschienen – schließlich zwinge die Wahrheit ohne Gewalt – sondern die Autorität des Herrn gegenüber den Familienmitgliedern, die ohne Gewaltanwendung Gehorsam hervorrufe. 197 Arendt belegt diese These unter anderem mit einer Textstelle aus Platons Gesetzen, in der das Gesetz als »Herr« und »Despot« bezeichnet wird, dem sich die jeweils Herrschenden als »Sklaven« fügen sollen. 198 Insbesondere die Beispiele für Herrschaftsverhältnisse, auf die Platon zurückgreift, verdeutlichen die Orientierung an nicht-politischen Erfahrungsbereichen. 199 Damit zeige Platon, dass nur derjenige, der sich selbst beherrscht und von der Vernunft leiten lässt, zur Herrschaft über andere befugt ist. Sobald sie jedoch auf den politischen Bereich übertragen werden, ergebe sich die Schwierigkeit, wie die Mehrzahl derer, die für den Anspruch der Vernunft nicht empfänglich sind, belehrt werden können. 200 Da das Mittel der Gewalt dem Wesen der Wahrheit widerspreche und den politischen Raum zerstören würde, musste Platon eine andere Lösung finden. Die Lösungen, die er anbot, konnten 197 Laut Arendt schließen Autorität und Gewalt einander aus. »Da Autorität immer mit dem Anspruch des Gehorsams auftritt, wird sie gemeinhin für eine Form von Macht, für einen Zwang besonderer Art gehalten. Autorität jedoch schließt gerade den Gebrauch jeglichen Zwanges aus, und wo Gewalt gebraucht wird, um Gehorsam zu erzwingen, hat Autorität immer schon versagt.« Ebd., S. 159. 198 Vgl. ebd., S. 172. 199 »Immer wieder erwähnt er die Beziehungen, die zwischen dem Hirten und seiner Herde, dem Steuermann eines Schiffes und den Passagieren, dem Arzt und seinen Patienten, dem Herrn und den Sklaven sich ergeben. Charakteristisch für diese Beispiele ist, daß in ihnen entweder überragende Sachkunde solches Vertrauen gebietet, daß weder Gewalt noch Überredung notwendig sind, um Gehorsam zu erzielen, oder daß Herrscher und Beherrschte durch einen solchen Abgrund voneinander geschieden sind, daß sie ganz verschiedenen Kategorien von Lebewesen angehören, wie dies der Fall ist in der Beziehung zwischen dem Hirten und seiner Herde und, jedenfalls antiker Auffassung zufolge, dem Herrn und seinen Sklaven.« Ebd., S. 175. 200 Diese Schwierigkeit zeige sich erstens darin, dass die Wahrheit, wenn sie im politischen Raum geäußert wird, nur als Meinung erscheinen könne. »Sobald der Philosoph seine Wahrheit […] der Polis vortrug, wurde sie sofort zu einer Meinung unter anderen Meinungen. Sie verlor ihr unterscheidende Qualität, denn es gibt kein sichtbares Zeichen, das Wahrheit von Meinung unterscheidet.« Arendt: »Philosophie und Politik«, S. 384. Zweitens könne die Kunst der dialektischen Rede nicht die Vielen einbeziehen. »Der Hauptunterschied zwischen Überredung und Dialektik besteht darin, daß erstere sich an eine Menge richtet (peithein ta pléthé), während Dialektik nur als ein Dialog zwischen zweien möglich ist. Sokrates’ Fehler bestand darin, sich in der Form der Dialektik an seine Richter zu wenden, weshalb er sie nicht überreden konnte.« Ebd., S. 385.

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Politische Freiheit und politische Rechte

dieses Problem laut Arendt jedoch ebenso wenig beheben wie alle anderen Versuche, die die politische Philosophie nach Platon anzubieten hatte. 201 Zuerst schlug Platon einen Mythos vor, der von einem Gericht erzählt, das die Guten nach dem Tode damit belohnt, auf der Insel der Seligen fortzuleben, und die Schlechten mit dem Tartaros bestraft. Die Aussicht auf die beiden Optionen sollte die Bürger dazu veranlassen, sich freiwillig der Philosophenherrschaft zu fügen. In den Gesetzen sollen schließlich längere Vorbemerkungen zu Sinn und Zweck der Gesetzgebung die Bürger überzeugen. Die Übertragung der Grundkategorien des Herstellens auf das Handeln bleibt bei Platon unvollständig, da er im Sinne des griechischen Politikverständnisses die Anwendung von Zwang und Gewalt im politischen Bereich ausschließt. In der späteren politischen Metaphysik wurde diese Auslassung laut Arendt nachgeholt. Von Hobbes wird schließlich auch die Gewaltherrschaft bzw. Tyrannis als eine Form der legitimen Herrschaft aufgefasst. 202 Die Metaphysik des Politischen »endet« laut Arendt jedoch erst in dem Moment, in dem die Widersprüchlichkeit der Amalgamierung des Politischen mit dem Begriff der Herrschaft in aller Deutlichkeit zum Vorschein kommt. Dies habe nur dadurch geschehen können, dass versucht wurde, aus dem verdrängten Erfahrungshintergrund, dem der Herrschaftsbegriff entstammt, neue Kategorien politischen Handelns abzuleiten. 203 Ein Aspekt dieser widersprüchlichen Anknüpfung an die Tradition sei bspw., dass Marx mit dem »Absterben des Staates«, also der Aufhebung aller Herrschaftsverhältnisse, für alle Menschen eine Freiheit fordert, die in der Antike nur den reicheren Bürgern zukam. Die Freiheit zur Muße soll aber erreicht werden, indem der Mensch sowohl von der Politik als auch der Arbeit befreit wird. Ersteres widerspreche offenkundig den antiken Ansichten. Im Widerspruch dazu stehe aber auch, dass die einzig sinnvolle Art des Handelns, durch die das Vgl. Arendt: »Was ist Autorität?«, S. 174 f. Vgl. Arendt, Hannah: »Tradition und die Neuzeit«, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ludz (Hg.), S. 25. 203 »In den Marxschen Theorien, die nicht so sehr Hegel auf die Füße als die traditionelle Hierarchie von Denken und Handeln, Kontemplation und Arbeit, Philosophie und Politik auf den Kopf gestellt haben, beweist der von Plato und Aristoteles gesetzte Anfang seine außerordentliche, bis in unsere Zeit reichende Lebenskraft dadurch, daß er Marx in offenkundige Widersprüche verwickelt, und dies vor allem in dem Teil seiner Lehren, die man gemeinhin als utopisch bezeichnet.« Ebd., S. 24. Vgl. Arendt: »Philosophie und Politik«, S. 399. 201 202

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Exkurs: Das Politische und die Menschenrechte

marxsche Ideal verwirklicht werden kann, das gewalttätige sei. Wenn das geschichtliche Ziel einer klassenlosen Gesellschaft erreicht ist, und die Gewalt ebenso wie jede zweckdienliche Arbeitstätigkeit und alle Politik überflüssig geworden sind, hätte damit auch das Handeln jeden weiteren Sinn verloren. Die arendtsche Auseinandersetzung mit Marx illustriert, dass das politische Denken nach wie vor mit der widersprüchlichen Anknüpfung an die Tradition zu kämpfen hat. Mit dem »Ende« der abendländischen Tradition bzw. politischen Metaphysik ist nicht ein datierbares Ende gemeint, so als ob das politische Denken seit Marx von den Irrtümern der Tradition befreit wäre. Gemeint ist vielmehr, dass das widersprüchliche Verhältnis zum Beginn der Tradition bis zur völligen Verkehrung der überlieferten Maßstäbe getrieben werden kann, ohne dass sich das Denken von ihnen lösen müsste. 204 Mit dem Exkurs zum politischen Denken Arendts sollte nicht behauptet werden, dass Menschenrechte im Hinblick auf ihre politische Dimension schon im antiken Griechenland partiell verwirklicht worden wären. Das griechische Rechtsdenken bezog sich auf einen klar umgrenzten Raum und nur wenige kamen in den Genuss der »politischen Freiheiten«, von einer Grundrechtsordnung kann in keinem Fall gesprochen werden. Die Menschenrechte in ihrer neuzeitlich-metaphysischen Prägung beanspruchen jedoch universelle Gültigkeit. Eine Rechtsnorm muss für alle Menschen, zu jeder Zeit und an jedem Ort gültig sein. Gerade von diesem Anspruch war die griechische politisch-rechtliche Praxis weit entfernt, erst mit der stoischen und der christlichen Tradition eröffnet sich der Horizont des universalistischen Denkens. Darüber hinaus konnte die Formulierung subjektiver Rechte thematisch erst in den Vordergrund rücken, als »politische« Freiheit nur noch negativ, als Befreitsein von Herrschaftsansprüchen, verstanden wurde. Die von Platon ersonnene Identifikation von Politik und Herrschaft musste dafür zunächst in den realen politischen Verhältnissen entdeckt werden. Dies war spätestens unter den Bedingungen der spätrömischen Kaiserzeit möglich. Die Kaiser gaben nicht einmal mehr vor, ihre Herrschaft im 204 »Das Ende einer Tradition muß nicht notwendigerweise bedeuten, daß das traditionelle Begriffsgerüst seine Macht über die Gedanken der Menschen verloren hat. Diese Macht kann im Gegenteil gerade dann tyrannisch werden, wenn die Tradition ihre lebendige Kraft verloren hat, wenn die Begriffe abgenutzt und die Kategorien platt geworden sind und die Erinnerung an den Anfang ganz und gar verblaßt ist.« Arendt: »Tradition und die Neuzeit«, S. 34 f.

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Politische Freiheit und politische Rechte

Sinne der republikanischen Tradition auszuüben und ließen sich als dominus noster titulieren. Die Antike leistete auch insofern einen Beitrag zur Geschichte der Menschenrechte, als das Versprechen auf Freiheit und Gleichheit aller Menschen nur unter der Bedingung einer politischen »Gründung der Freiheit« eingelöst werden kann. Auch dann, wenn Menschenrechte als Grundrechte in der Verfassung verankert wurden, bleibt die Garantie dieser Rechte anhängig von politischer Zustimmung. Allein durch die Zwangsmittel des Staates können Menschenrechte nicht gesichert werden. Mit Hilfe der arendtschen Theorie des Politischen lässt sich verstehen, weshalb Menschenrechte nie ein für alle Mal »verwirklicht« sind. Was Menschenrechte sind, für wen sie gelten und welche Reichweite sie haben, erschließt sich unter anderem aus der Gesetzgebung, die den Bereich des Zwischen regelt und zugleich selbst ein Resultat politischer Aushandlungsprozesse ist. 205 Sofern ein solcher Vergleich überhaupt zulässig ist, scheinen die in Kapitel II.3. angeführten Äußerungen der Sophisten über die Natur des Menschen für die Lebenswelt der Griechen nur eine geringe Bedeutung gehabt zu haben gegenüber der Erfahrung des Politischen und den damit verbundenen Exklusionen. 206 Anfänge naturrechtlichen Denkens sind jedoch auch in der Tragödiendichtung erkennbar. Deutlicher als die Geschichtsschreibung illustriert die Tragödie die religiöse Dimension von »Rechten des Menschen«, z. B. des Bestattungsrechts oder des Asylrechts. Im Folgenden wird vor allem die Bedeutung des Asylrechts und des Rechts der Gefangenen auf Schonung ihres Lebens erläutert, um zu zeigen, dass es in der griechischen Antike durchaus »Rechte« gab, die für jeden galten. Sie wurden allerdings nicht als Naturrecht oder ungeschriebenes Recht bezeichnet und spielen daher, verglichen mit dem von Antigone eingeforderten Bestattungsrecht, für die Forschung zur Menschenrechtsgeschichte kaum eine Rolle.

Vgl. Arendt: Denktagebuch, S. 150. Der Grund für die generelle starke Reglementierung der Bürgerschaften ist, dass mit einer zu großen Erweiterung eine Beschränkung der politischen Mitwirkungsmöglichkeiten verbunden gewesen wäre. »Wäre dies nämlich der Fall gewesen, wären die einzelnen gleichsam kleiner geworden, mediatisiert – es sei denn, sie hätten qua Funktion oder Hierarchie, also vermittelt, oder qua Reichtum oder Spezialisierung, also einseitig einiges Format gewonnen. Genau das aber wollten sie nicht.« Meier: »Die griechisch-römische Tradition«, S. 99. 205 206

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Das Theater als Schule der φιλανθρωπία und des »Griechenrechts«

3.

Das Theater als Schule der φιλανθρωπία und des »Griechenrechts«

In Sophokles’ Antigone, 442 uraufgeführt, gelangt die Kritik an der Hybris in die Dimension des naturrechtlichen Denkens, insofern hier erstmalig die für die spätere Naturrechtsdebatte bedeutende Unterscheidung zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen getroffen wird. Kreon: Und hast gewagt, dieses Gesetz zu übertreten? Antigone (sehr schlicht): […] Auch meint ich nicht, daß deine Ausgebote So mächtig seien, daß die ungeschriebenen Und wankenlosen Satzungen der Götter Einer, der sterblich wäre, überholen könnte. Denn nicht seit heut und gestern sind sie: diese leben Von je her, und weiß niemand, woher sie gekommen. 207

Mit diesen Worten wendet sich Antigone gegen Kreon, nachdem sie gegen dessen ausdrückliches Verbot ihren Bruder Polyneikes bestattet hatte. Anfänglich berufen sich sowohl Kreon als auch Antigone darauf, dass die Gegenseite sich der Hybris schuldig gemacht habe. Kreon stützt seine Behauptung, nach der Polyneikes nicht bestattet werden dürfe, auf das von ihm erlassene Gesetz, das aber im Widerspruch zu den geltenden Sitten steht. Ohne Bestattung kann Polyneikes nicht in das Totenreich gelangen. Antigone sieht darin einen Verstoß gegen die ungeschriebenen, ewigen, göttlichen Gesetze, über die kein menschlicher Wille sich erheben dürfe. Für die Bestattung ihres Bruders nimmt Antigone daher auch ihren eigenen Tod in Kauf. Kreon erkennt schließlich zu spät, dass er sich mit der Verurteilung Antigones und dem Bestattungsverbot über das göttliche Gesetz hinweggesetzt hatte und selbst der Maßlosigkeit verfallen war. Sein Sohn Haimon, der mit Antigone verlobt gewesen war, folgt ihr in den Tod und diesem wiederum Kreons Gattin Eurydike. Im Schlusswort spricht der Chor: Das weitaus Erste an höchstem Glück Ist Besonnensein. Und not auch ist, Vor den Göttern nie zu verletzen die Scheu. Doch große Worte Großprahlender,

207 Soph. Ant. 449–458. Zu den ungeschriebenen Satzungen gehört also das Recht, die Toten zu bestatten.

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Politische Freiheit und politische Rechte

Wenn unter großen Schlägen sie gebüßt, Haben im Alter gelehrt die Besinnung. 208

Damit wird die vom Chorführer anfangs gestellte Frage, ob Antigones Tat »nicht doch sei gottgetrieben« 209, zustimmend beantwortet. 210 Ebenso wie das spätere Naturrecht ist das göttliche Gesetz bei Sophokles ungeschrieben und von ewiger Gültigkeit. Darüber hinaus fordert es zu besonnenem, vernünftigem Handeln auf. Das Recht auf Bestattung und Ehrung der Toten ist allerdings kein Recht, das allen Menschen zukommt. Zur Begründung ihres Anspruchs erklärt Antigone, dass ihr Bruder kein Sklave war. Die Ehre der Bestattung gebührt demnach nur den Adligen bzw. Bürgern. In König Ödipus werden zwei weitere Normen thematisiert, die zu »hochwandelnde[n], [i]m himmlischen Äther geborene[n] [Gesetzen], denen der Olympos Vater allein ist« 211, gezählt werden. Das Inzestverbot und die Pflicht, die Eltern zu achten, scheinen für alle Menschen zu gelten. In Euripides’ Die bittflehenden Mütter (ca. 421) wird die eindeutige Einschränkung des Bestattungsrechts auf Bürger etwas relativiert. Erst nachdem Theseus dieses Recht, das hier als »heiliges Recht«, »der Götter Recht«, »Recht der Menschen«, »Griechenrecht« und »altes Götterrecht« 212 bezeichnet wird, für die sieben Argier, die vor Theben gefallen waren, erkämpft hatte, fragt er nach deren Charakter. Seiner Ansicht nach war mit ihrem Tod die frühere Missachtung eines Seherspruchs beglichen. 213 Demnach rechtfertigt keine Tat, dass jemandem die Bestattung versagt wird. Die unbedingte Gültigkeit dieses Rechts wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass Theseus selbst die Leichen vor der Stadtmauer birgt und damit eine Aufgabe übernimmt, die Sklaven aufgebürdet wurde. Einige Jahrzehnte später legt Euripides in Die Phönikerinnen (410/409) Iokaste, der Mutter des Polyneikes und Eteokles, welche, noch bevor Kreon in Theben herrschte, um die Herrschaft rangen, folgende Worte in den Mund:

Soph. Ant. 1348–1352. Vgl. ebd., 279. 210 Vgl. Lohmann, Friedrich: Zwischen Naturrecht und Partikularismus. Grundlegung christlicher Ethik mit Blick auf die Debatte um eine universale Begründbarkeit der Menschenrechte, Berlin New York 2002, S. 170. 211 Soph. Oid. T. 865 ff. 212 Vgl. Eur. Heracl. 19, 301 f., 378, 526, 563, 671. 213 Vgl. ebd., 527 ff. 208 209

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Das Theater als Schule der φιλανθρωπία und des »Griechenrechts«

Wieviel schöner ists, Die Gleichheit ehren, die ihr sanftes Band Um Fremde, Städter und um Bündner schlingt. Die Gleichheit ist der Menschen Ruhepunkt. Dem Überstarken ist der Schwache stets Der Feind, der ihm verhaßte Tage macht. Hat nicht die Gleichheit Maße und Gewicht Dem Menschen eingesetzt und fest bestimmt? 214

Um den drohenden Krieg zwischen ihren Söhnen abzuwenden und einen Ausgleich zu erreichen, warnt Iokaste davor, für Ruhmsucht und Alleinherrschaft die zwischen den Menschen bestehende Gleichheit, auch hier im Sinne einer »natürlichen Ordnung der Dinge«, aufzuheben. Interessant ist an dieser Textstelle, dass die Fremden ausdrücklich in das Gleichheitsverhältnis mit einbezogen werden, sodass der philanthropische Anspruch, Gewalt und Brutalität zu vermeiden, prinzipiell für alle Menschen gilt. Ihren Söhnen hält Iokaste vor, dass es ihnen an Weisheit und somit an Einsicht in das Prinzip der Gleichheit, das zwischen den Menschen waltet, mangelt. In Ion (ca. 412– 408) ist es dieser »edle Sinn«, in dem auch ein Sklave dem Bürger gleichen kann: »Nur eines bringt uns Sklaven Schande ein:/ Der Name. Hat der Sklave edlen Sinn,/ So steht er allen freien Bürgern gleich.« 215 Es sind vor allem die Diener-Gestalten, denen Euripides zum Teil hervorragende menschliche Eigenschaften attestiert. Die Unterscheidung von Freien und Sklaven wird dadurch prinzipiell zwar nicht aufgehoben, allerdings zeigt Euripides, dass der Sklave an der Freiheit durch seinen »Sinn« (νοῦς) partizipieren kann und somit etwas mit dem Freien gemeinsam hat. 216 In einem Fragment aus Melanippe wird sogar behauptet, dass die meisten edlen Sklaven besser sind als

Eur. Phoen. 535–542. Eur. Ion 854–856. Ähnlich in Phrixos: »Viele Sklaven tragen zwar diesen häßlichen Namen, aber ihr Sinn ist freier als der von Nichtsklaven.« Eur. Frg. 831. An anderer Stelle lässt Euripides einen Sklaven erklären: »Ich möchte, wenn ich schon zum Knecht geboren bin,/Der Schar der edlen Sklaven beigezählt nur sein,/Und wenn schon nicht den Namen, so doch Herz und Sinn/Des Freien haben. Besser so, als in sich selbst/Der Übel beides zu vereinen: schlechten Sinn/Und Untertanschaft in des Hauses Sklaverei.« Eur. Hel. 728–733 (Übers. aus Vogt, Joseph: Sklaverei und Humanität. Studien zur antiken Sklaverei und ihrer Erforschung, 2., erw. Aufl., Wiesbaden 1972, S. 14.). 216 Vgl. ebd. (Vogt). 214 215

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Freie. 217 Noch vor Platon erhebt Euripides das Erkenntnisvermögen – Platon spricht von νόησις – zum Maßstab des sittlichen Verhaltens. Euripides’ Dichtung bereitete den stoischen Gedanken einer allen Menschen zugänglichen Vernunft vor, welcher auch Sklaven teilhaftig sein können. Mit den Stoikern verbindet Euripides möglicherweise auch die Ansicht, dass ein Mensch aufgrund des Schicksals der Sklaverei anheimfällt und nicht aufgrund einer natürlichen Veranlagung. Die oben zitierte Äußerung »wenn ich schon zum Knecht geboren bin« bedeutet lediglich, dass der Diener in die Knechtschaft hineingeboren wurde, denn an anderer Stelle führt Euripides die Sklaverei eindeutig auf das durch die Götter erwirkte Schicksal zurück und versteht die »edle Geburt« in einem nicht-biologischen Sinne. 218 Dass nur die Vernunft adelt und nicht der Brauch, verdeutlicht er in Alexandros (415). Es ist bloßes Gerede, wenn wir die edle Geburt eines Menschen preisen; denn in Urzeiten, als wir zuerst entstanden sind und die mütterliche Erde die Menschen aussonderte, da gab sie allen ähnliches Aussehen; niemand bekam etwas, das nur ihn auszeichnete, sondern ein und dieselbe Geburt schuf edel und unedel; erst durch Sitte und Konvention (νόμῳ) machte die Zeit das eine stolz. Verstand (φρόνιμον) macht den Adel aus, und die Gottheit gewährt Einsicht, nicht der Reichtum. 219

Ebenso wie die Sophisten kritisiert Euripides mit dem νόμος begründete Standesunterschiede. Die Kritik wird jedoch nicht mit der Annahme einer allen Menschen gemeinsamen natürlichen Gleichheit begründet. 220 Adel und Nicht-Adeligkeit erscheinen als schicksalhaft zugewiesene Anlagen. Daher kann die Aussetzung des Paris-Alexandros und seine Erziehung durch Sklaven nicht verhindern, dass sich dessen wahre edle Natur früher oder später Bahn bricht. Die inmitten Vgl. Eur. Frg. 511. »Ach, wie doch die Gottheit den Sklaven überall das schlechtere Los zugeteilt hat.« Eur. Frg. 218. »[Ü]ber edle Geburt jedoch habe ich wenig Gutes zu sagen: Der anständige Mann ist für mich edel geboren, und wer Unrecht tut, der kann von einem Vater stammen, der noch über Zeus steht und ich halte ihn doch für unedel.« Eur. Frg. 336. Siehe auch: Eur. Frg. 495, 40–43: »Ich weiß nicht, wonach man edle Geburt nun beurteilen soll; denn den Männern, die wirklich tapfer und gerecht sind, spreche ich eher Adel zu, auch wenn sie Söhne von Sklaven sind, als wenn sie nur so scheinen.« 219 Eur. Frg. 52. 220 Vgl. Welwei: »Ius naturale und ius gentium in der antiken Beurteilung von Sklaverei und Freiheit«, S. 85. 217 218

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der Wirren des Peloponnesischen Krieges verfassten Tragödien Hekabe (ca. 424) und Die Troerinnen (415) belegen ebenfalls die Behauptung eines Adels »von Natur«. Die schweren Schicksalsschläge, welche Hekabe, die Frau des Priamos, ihre Töchter Polyxena und Kassandra sowie Andromache, die Frau Hektors, treffen, führen nicht zum Verlust ihrer edlen Gesinnung. 221 Hekabe gelingt es, den Mord an dem letzten ihr verbliebenen Sohn zu rächen. Sie erleidet nicht bloß passiv die Sklaverei, sondern handelt nach eigenen Interessen. 222 Polyxena zieht den Opfertod der Sklaverei vor 223 und Andromache, die das Schicksal der Sklaverei zwar annimmt, stellt von vornherein klar: »Doch will ich lautlos nicht geschlagen sein.« 224 Überhaupt lässt sich konstatieren, dass nur Adlige tragödienfähig sind, nicht die Sklaven. 225 Die griechische Dichtung thematisiert kein Recht, das auf eine allen Menschen gemeinsame Natur zurückgeführt wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass es nicht zumindest »eine Spur von rechtlichem Schutz« gab, der sowohl Sklaven als auch Freien zugestanden wurde, wie Vogt bemerkt. 226 Gemeint ist das Recht der Besiegten und Gefangenen auf Schonung ihres Lebens. Vogt belegt die Existenz dieses Rechts mit Verweisen auf Hekabe, Die Kinder des Herakles (ca. 430) sowie einigen Thukydides-Stellen. Darüber hinaus wurde das Asylrecht Freien und Sklaven zugestanden. Die Bedeutung der beiden Rechte erschließt sich eher, wenn sie als Antwort auf die Frage, was einem Menschen schlechterdings nicht angetan werden darf, verstanden werden. Um das Leben ihrer Tochter flehend, sagt Hekabe zu Odysseus: Mit diesen Worten kämpf ich für mein Recht; […] Der Mächtige mißbrauche nicht die Macht […] Sag ihnen, daß man Frauen nicht töten darf, Die man zuerst von den Altären riß Und dann verschonte und am Leben ließ, Und daß bei euch das gleiche Blutgesetz Für Freie und für Sklaven gilt. Auch wenn

221 222 223 224 225 226

Vgl. Vogt: Sklaverei und Humanität, S. 15 f. Vgl. Eur. Hec. 864 ff. Vgl. ebd., 357 ff., 550 ff. Eur. Andr. 191. Vgl. Vogt: Sklaverei und Humanität, 15. Vgl. ebd., S. 15 f.

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Dein Wort sie nicht beredt, tut es doch Die Würde. 227

Zu Ehren des verstorbenen Achilles fordert das griechische Heer, »Polyxene [z]u schlachten an Achilleus’ Grab«. In dieser Situation beruft sich Hekabe auf das Gesetz, das die Schonung der Unterworfenen vorschreibt. Es gilt für Freie und Sklaven sowie für Hellenen und Barbaren. Odysseus wendet dagegen ein, dass damit das Vorrecht des »größten Helden« auf Ehrung verletzt würde und schließt seine Rede mit den Sätzen ab: »Mögt ihr Barbaren eure Freunde nicht/Als Freunde achten, die Gefallenen/Vergessen – Hellas wird es wohl ergehn/ Und euch wie eure Torheit es verdient.« Doch Euripides lässt durch die folgende Klage des Chors keinen Zweifel daran, dass das Mitleid verdient wäre: »O Sklavenlos! Im Joche der Gewalt/Muß auch das Schlimmste noch ertragen sein!« 228 In Die Kinder des Herakles tritt der Chor der Athener dafür ein, den in der Schlacht besiegten, aber nicht getöteten König von Mykene Eurystheus am Leben zu lassen. 229 Die Tötung eines Gefangenen wird nicht wie in Hekabe von den Siegern gefordert, sondern von Alkmene, die hier für die vertriebenen Herakliden spricht, die in Athen endlich Schutz gefunden hatten. Bis zur Schlussszene waren die Rollen für Gut und Böse im Stück klar verteilt. Das Recht schien eindeutig auf Seiten der vom Schicksal geplagten Herakliden zu stehen, die von dem feigen und hasserfüllten Eurystheus verfolgt werden. Am Schluss ändert sich die Darstellung jedoch. Eurystheus erklärt, dass er zur Sicherung seiner Herrschaft die Herakliden nicht am Leben lassen konnte, da er ihre Rache befürchtete – ein rational nachvollziehbares Argument. Angestiftet wurde er zu seinem Handeln durch Hera, die ihn dann im Stich ließ. Seinem ehemaligen Kontrahenten Herakles zollt er Anerkennung, aber ohne jeden Ehrgeiz, sein Leben dadurch retten zu wollen. Aus Dank dafür, dass die Athener ihm sein Recht auf Leben als Gefangenen zugestanden haben, verspricht er, dass sein Geist zukünftig dem Schutz der Stadt vor den Nachkommen der Herakliden dienen soll, »[w]enn sie bewaffnet zieEur. Hec. 271, 282, 288–294. Ebd., 328–333. 229 »Den Mann zu töten, ist dir nicht erlaubt!/So fiel er ganz umsonst in unsere Hand?/Gibt’s ein Gesetz, das solchen Tod versagt?/Die Fürsten dieses Landes tun es nicht./Ist Tötung eines Feindes ein schlechter Brauch?/Gefangne Krieger schlachtet man nicht ab.« Eur. Heracl. 961–966. 227 228

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hen gegen euch, [d]es Danks vergessend« 230 – eine Anspielung auf den zur Zeit der Aufführung tobenden Archidamischen Krieg (431– 421), in dem die Spartaner, deren Könige ihre Abstammung auf die Herakliden zurückführten, jährlich in Attika einfielen und das Land verwüsteten. Somit bewies Eurystheus zumindest angesichts des bevorstehenden Todes Tapferkeit und menschliche Größe. Die abschließenden Verse des Chors deuten an, dass die Athener den Mord geschehen lassen, aber nicht die Verantwortung übernehmen. »Was an uns noch liegt,/Soll nie unsre Herrscher beflecken!« 231 Das Abzugslied ist nicht vollständig erhalten. Daher kann nur vermutet werden, dass die Athener ihre zuvor geäußerte Ansicht bestätigten, dass das Recht der Gefangenen auf Schonung ihres Lebens unbedingt einzuhalten ist. Letztlich bewirkt also die Rechtschaffenheit der Athener, dass aus dem Feind ein Schutzgeist Athens wird. Euripides führt den Athenern vor Augen, dass das Kriegsglück nicht zum Zwecke der Rache ausgenutzt werden darf. Die von Eurystheus begangenen Untaten rechtfertigen keine eigenmächtige Übertretung des »Griechenrechts« 232. Eine solche Tat würde die Herrschaft beflecken und unablässig zur Sühnung aufrufen. In der Darstellung des Euripides wird der Mord den Herakliden und das heißt, den Spartanern angelastet und die Athener werden vom Unrecht freigesprochen. 233 Bei dem Recht auf Schonung der Gefangenen handelt es sich um eine »völkerrechtliche« Bestimmung, die vorschreibt, dass die Tötung eines Menschen nur in der Schlacht legitim ist. Auf die Frage Alkmenes, ob Hyllos, ein Sohn des Herakles, der in einem Zweikampf getötet wurde, dieses Gesetz billigen würde, antworten die Athener daher: »Sein Fehler war: er fiel nicht in der Schlacht.« 234 Wer dagegen in der Schlacht die Waffen streckt, hat ein Recht auf Schonung des Lebens. Bei Thukydides wird dieses Recht von den Plataiern gegenüber den Spartanern beansprucht. 235 Die Thebaner, die die Hinrichtung der Ebd., 1035 f. Vgl. auch 315. Ebd., 1054 f. 232 Vgl. ebd., 1010. 233 Nach der älteren mythischen Erzählung wird Eurystheus von Hyllos oder dem verjüngten Iolaos getötet. Die Tötung durch Alkmene ist vermutlich eine euripideische Innovation. Vgl. Grethlein, Jonas: Asyl und Athen. Die Konstruktion kollektiver Identität in der griechischen Tragödie, Stuttgart Weimar 2003, S. 383. 234 Eur. Heracl. 970. 235 »[W]enn ihr uns für unsere Leben Sicherheit gebt, bleibt ihr als Richter […] frei 230 231

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Plataier fordern, erkennen das Recht auf Schonung der Gefangenen an. Sie weisen aber darauf hin, dass die Plataier dieses Recht selbst verletzt haben – die Tötung von 180 thebanischen Gefangenen durch die Plataier erfolgte bereits im ersten Kriegsjahr 431 236 – und eigens keinen Anspruch darauf erheben dürfen, weil sie nicht in einer Schlacht kapitulierten. 237 Die Spartaner geben letztlich dem Drängen ihrer Bündnispartner nach und richten die ca. 200 männlichen Bürger von Plataia zusammen mit einigen mitgefangenen Athenern hin, die Frauen werden als Sklavinnen verkauft. Für das Urteil ist zuletzt nicht die gegen die Thebaner verübte Rechtsverletzung entscheidend, sondern die Frage, ob die Plataier den Spartanern Vor- oder Nachteile verschafft haben. Thukydides’ abschließende Bemerkung, dass die Spartaner nur deshalb so grausam verfuhren, um sich der Bündnistreue der Thebaner zu versichern, lässt eine Vermutung auf dessen eigene Absichten bei der ausführlichen Beschreibung des Niedergangs von Plataia zu. Er zeigt deutlich, wie in einem gerichtlichen Verfahren zugunsten des Machtkalküls rechtsstaatliche Grundsätze, wie die Unparteilichkeit der Richter und die Formulierung einer Anklage 238, aufgehoben werden und schließlich das Gefangenenrecht verletzt wird. Trotz dieses Ausgangs belegt die Diskussion, dass das Recht auf Schonung der Gefangenen ein in Griechenland allgemein anerkanntes Recht war, dessen Einforderung den Unterlegenen einen minimalen Schutz gegen das ansonsten nahezu unbeschränkte Kriegsrecht des Siegers bieten konnte. Die Bedeutung dieses Rechts wird auch dadurch hervorgehoben, dass es in der Rede der Plataier zum Schluss thematisiert wird, was die Thebaner, offenbar beunruhigt von der überzeugenden Darlegung, dazu veranlasst, eine Gegenrede zu halten, obwohl das gesamte Verfahren von vornherein eine Farce zu sein schien. Euripides nahm sich mit seinem Protest gegen die Tötung Gefangener also eines hochaktuellen politischen Themas an. Der Prozess erfolgte 427. Laut Thukydides ermordeten die Athener Gefangene in Vergeltung für die Tötung von athenischen und mit Athen verbündeten Kaufleuten durch die Spartaner gleich zu Beginn

von Schuld, und wenn ihr nicht vergeßt, daß wir uns freiwillig und mit vorgestreckten Händen euch ergaben (und solche zu töten ist in Hellas nicht rechtens)«. Thuk. III, 58. 236 Vgl. ebd., II, 5. 237 Vgl. ebd., III, 66 f. 238 Vgl. ebd., III, 52 f.

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des Krieges. 239 Es kann also ausgeschlossen werden, dass Euripides nur das Handeln der Feinde kritisieren wollte. Die Botschaft richtet sich eindeutig an die Athener, die bei dem bleiben sollen, wofür sie im Rufe stehen. »Du ziehst den gerechten Weg,/Du Stadt der Väter,/ Trenne dich niemals von ihm.« 240 In Die Kinder des Herakles wird darüber hinaus ein weiteres Recht thematisiert, das dem Einzelnen auch jenseits der Heimatstadt einen minimalen Schutz bieten konnte – das Recht der Flüchtlinge auf Hikesie und Asyl. Auf ihrer Flucht war den Herakliden in ganz Griechenland der Beistand versagt worden, weil sich keine Polis mit dem mächtigen Bündnis von Mykene und Argos anlegen wollte. Indem sie sich in Athen zum Tempelaltar begeben und das Ritual der Hikesie durchführen, unterstreichen sie ihre Schutzbedürftigkeit. Als Hiketiden stehen sie unter dem Schutz des Gottes, dem der Tempel geweiht ist und partizipieren an der Heiligkeit des Ortes, welche sie gegen gewaltsame Übergriffe unantastbar machen soll. Der von Eurystheus ausgesandte Herold vergreift sich jedoch an dem greisen Iolaos, der die Kinder in seiner Obhut hat. Die zur Hilfe kommenden Athener weisen den Herold zurecht. 241 Die Gewaltausübung gegen Bittflehende verstößt gegen göttliches und menschengemachtes Gesetz zugleich. Dass die Gewährung der Hikesie Teil des freiheitlichen Selbstverständnisses der Athener ist, wird von Euripides unmissverständlich klargestellt. 242 »Frech schleppst du diese Fremden vom Altar,/Ehrst unsern Boden nicht als freies Land!« 243 An anderer Stelle heißt es: »Gerechten Menschen, wenn sie hilflos sind,/Wird allzeit unser Land zur Seite stehn.« 244 Das Recht auf Hikesie bzw. Asyl steht allen Menschen zu. 245 Es jemandem vorzuenthalten, widerspricht der Vernunft. 246 Als der versklavten Andromache gedroht wird, dass sie und ihr Sohn getötet werden, flüchtet sie in den Thetis-Tempel und ist dort so lange vor jedem Übergriff sicher, bis sie, durch eine List herausVgl. ebd., II, 67. Eur. Heracl. 901 f. 241 Vgl. ebd., 101–104, 107 f. 242 Das Publikum konnte sich mit dieser Darstellung vermutlich sehr gut identifizieren. Vgl. Grethlein: Asyl und Athen, S. 389. 243 Eur. Heracl. 112 f. 244 Ebd., 329 f. 245 »Der Göttersitz leiht allen Menschen Schutz.« Ebd., 260. 246 Vgl. ebd., 371. 239 240

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gelockt, ihren Gegnern Menelaos und Hermione in die Hände fällt. Ihre Abstammung ist für die ἀσυλία völlig belanglos, da der Schutz nicht an eine persönliche Qualität, sondern den Ort gebunden ist. Als der Chor schon darüber klagt, dass gegen Andromache ein »Mord ohne Gott, ohne Recht, ohne Gnade« 247 verübt werden soll, trifft im letzten Moment Peleus ein, um über den Fall Gericht zu halten. Nach dem glücklichen Ausgang wird bestätigt, dass keine Herrschaft ohne das göttliche Recht, das sowohl im privaten als auch öffentlichen Bereich gilt, bestehen kann. »Nie eine Macht ohne Recht!/Weder im Haus/Noch auf dem Markt!« 248 Hermione muss dagegen einsehen, dass sie mit dem Mordversuch schweres Unrecht beging. Indirekt bestätigt sie, dass sie gegen ein für alle Menschen gültiges Recht verstoßen hat. »Ich klage tief/Die Taten, die ich gewagt./Ich ganz Verfluchte, Verfluchte/Bei allen Menschen!« 249 Wohlgemerkt klagt hier eine freie Bürgerin über das, was sie einer Sklavin antun wollte. Hikesie und Asyl bezeichnen ursprünglich nicht dasselbe. 250 Die Hikesie ist das Ritual, durch das jemand Schutz zu erlangen versucht, wohingegen mit Asylie die Unverletzbarkeit von Menschen gemeint ist, denen Schutzrechte durch eine Regierung garantiert worden sind. 251 Das Wort ἀσυλία ist aus einem alpha privativum und der Wurzel συλ… gebildet. 252 Συλãν heißt »gewaltsam wegnehmen« oder »rauben«. Das Asyl verhindert also den gewaltsamen Übergriff und schützt vor völliger Rechtlosigkeit. Im Unterschied zum modernen Asyl ist die ἀσυλία aber kein spezifisches Ausländerrecht, sondern eines, das von allen Menschen, Bürgern ebenso wie Sklaven, beansprucht werden kann. Der Schutz hängt vom politischen Willen der Herrschenden ab und kann auch unabhängig von der Hikesie gewährt werden. Beim säkularen Asyl bezeugt der Bittende seinen Willen durch das Umfassen der Knie desjenigen, von dem er sich Schutz Eur. Andr. 490 f. Ebd., 786 f. 249 Ebd., 837–839. 250 Vgl. Traulsen, Christian: Das sakrale Asyl in der Alten Welt. Zur Schutzfunktion des Heiligen von König Salomo bis zum Codex Theodosianus, Tübingen 2004, S. 177 ff. 251 Vgl. Dreher, Martin: »Einleitung: Die Konferenz über das antike Asyl und der Stand der Forschung«, in: ders. (Hg.): Das Antike Asyl. Kultische Grundlagen, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion, Köln Weimar Wien 2003, S. 3. 252 Vgl. Traulsen: Das sakrale Asyl in der Alten Welt, S. 164. 247 248

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erhofft. Allerdings beruht auch die Schutzfunktion des Tempelasyls nicht allein auf der Heiligkeit des Ortes, sondern auf bilateralen Verträgen mit anderen Poleis. 253 Das Asyl konnte auch auf die ganze Bürgerschaft ausgedehnt werden. Bei dem in der Tragödiendichtung thematisierten Asylrecht und dem Recht der Gefangenen und Sklaven auf Leben handelt es sich nicht um Idealisierungen moralischer Vorstellungen, sondern um in Griechenland faktisch geltendes Recht. Der Sklave war zwar Eigentum seines Herrn, er durfte körperlich gezüchtigt, verkauft, vererbt und vermietet werden, aber er durfte nicht getötet werden. Die Praxis der Krypteia bei den Spartanern ließ sich daher nur legitimieren, indem der Kriegszustand gegenüber den Heloten permanent aufrechterhalten wurde. Nach Platon soll derjenige, der vorsätzlich einen Sklaven tötet, vor Gericht mit dem gleichen Strafmaß belangt werden, wie jemand, der einen Freien tötet. 254 Bei der fahrlässigen Tötung eines eigenen Sklaven genügt ein sakrales Reinigungsritual zur Sühnung der Blutschuld. Nach dem attischen Gesetz wird die Tötung eines Sklaven vor dem Blutgerichtshof am Palladion verhandelt und nicht vor dem Areopag, der bei Mord die Todesstrafe verhängen konnte. 255 Das heißt, dass der Mord an einem Sklaven gerichtlich nur als unvorbedachter Totschlag geahndet wird, vorausgesetzt, dass ein Bürger Klage erhoben hat. Welche Strafe die Tötung eines Sklaven in Athen nach sich zog, ist unbekannt. Das Asylrecht bestimmter Heiligtümer bot den Sklaven nicht nur bei Bedrohung des Lebens, sondern auch bei Misshandlungen Schutz. 256 In Athen wurde den Asylsuchenden ein vergleichsweise längerer Aufenthalt im Tempel gewährt. Sklaven konnten gegen den Willen ihrer Herren beantragen, an einen anderen Herrn verkauft zu werden. Im Hain der Paliken wurden die Herren zu einer besseren Behandlung ihrer Sklaven eidlich verpflichtet. Im Unterschied zur Asylsuche der Freien unterlag die der Sklaven allerdings einer Einschränkung. Ihr Anspruch wurde gerichtlich überprüft. Wurde diesem nicht nachgegeben, durfte ihr Herr sie abführen. Im günstigsten Fall blieben die Sklaven dauerhaft als Hierodoulen im Tempel. Laut Thür kommt diese Lösung dem mo253 Vgl. Auffarth, Christoph: »Protecting strangers: establishing a fundamental value in the religions of the ancient Near East and ancient Greece«, in: Numen 39, 2 (1992), S. 204. 254 Vgl. Plat. leg. IX, 11, 872. 255 Vgl. Busolt: Griechische Staatskunde, S. 280. Siehe auch Aristot. Ath. pol. 57, 3. 256 Vgl. ebd. (Busolt), S. 281.

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dernen Asylverständnis insofern nahe, als durch die Aufnahme unter die Tempelsklaven eine tatsächliche Statusveränderung erfolgte. 257 Wer als Fremder in ein Heiligtum flüchtete, war zunächst schon durch den einfachen Umstand geschützt, der heimatlichen Gerichtsbarkeit entzogen zu sein und genoss außerdem das bei den Griechen hoch geachtete Gastrecht. Mit der Unterstützung der asylgewährenden Stadt ließen sich gegebenenfalls eigene Ansprüche gegen den politischen Willen der Heimatstadt durchsetzen. Die Reichweite des Asylrechts bzw. der Hikesie wird daran ersichtlich, dass selbst Verschwörer, deren Putschversuch scheiterte, durch die Flucht in ein Heiligtum eine Verhandlungsposition gegenüber der politischen Gemeinschaft behielten und sich die Verbannung zusichern lassen konnten, um einer drohenden Hinrichtung zu entgehen. 258 Diese Möglichkeit stieß auch auf Kritik. Nach Ansicht Demokrits sollte gegenüber Staatsfeinden nicht nach dem Asylrecht verfahren werden, sondern nach dem Gesetz. 259 Bürger, die unabsichtlich einen anderen getötet haben, waren in einem Asyltempel sicher vor der Rachenahme durch die Verwandten des Getöteten. 260 Der Täter handelte von hier aus einen Sühnepakt mit den Angehörigen aus. War die Schuldfrage nicht geklärt, konnte er die Einberufung eines Gerichtshofs fordern. Wie die Anwendungsbeispiele verdeutlichen, ist das griechische Asylrecht ein äußerst vielschichtiges Phänomen. Innerhalb der Bürgerschaft wirkte es dem Talionsprinzip entgegen. Sklaven bot es Schutz vor extremer Grausamkeit. Einer politisch entmachteten oder durch die Gegenseite gefährdeten Opposition konnte das Asyl vorübergehend als Unterschlupf dienen. In seiner sakralen Form ist es ein ungeschriebenes Gesetz, das vorschreibt, dass niemand, der den heiligen Bezirk eines Asyltempels einmal betreten hat, gewaltsam von dort entfernt werden darf. Es wäre allerdings überzogen, die Einrich257 Vgl. Thür, Gerhard: »Gerichtliche Kontrolle des Asylanspruchs«, in: Dreher: Das antike Asyl, a. a. O., S. 34 f. 258 Vgl. ebd. (Thür), S. 24 f. 259 »So wie gegen feindliches Getier und Gewürm Gesetze (bei mir) geschrieben stehen, so, meine ich, sollte man es auch gegen Menschen machen: nach den von den Vätern überkommenen Gesetzen einen Staatsfeind töten in jeder (Staats)ordnung, in der es ein Gesetz nicht verwehrt. Dies verwehren aber Heiligtümer (oder heilige Bestimmungen), bei jedem Volke die landeigenen, und Verträge und Eide.« Diels II, B 259. 260 Vgl. Thür: »Gerichtliche Kontrolle des Asylanspruchs«, S. 25 f.

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tung des Asyls auf eine prinzipiell philanthropische Haltung der Griechen zurückzuführen. 261 Dazu ermangelt es dem Asylrecht auch an einer rechtlichen, von politischen Absichten deutlicher abgrenzbaren Ausgestaltung, wie die neuere Forschung gezeigt hat. In der geschichtlichen Entwicklung trat die sakrale Dimension außerdem mehr und mehr hinter der säkularen zurück. 262 Das heißt, dass in klassischer und hellenistischer Zeit kaum mehr die Heiligkeit des Ortes, sondern die politische Gemeinschaft das Asylrecht garantierte. Eingeleitet wurde diese Entwicklung durch die zunehmende Regulierung des Asyls durch bilaterale Verträge, in denen sich die Poleis des Schutzes ihrer Bürger in anderen Städten versicherten. Die Profanisierung des Asylrechts hatte einerseits zur Folge, dass die Gewährung des Asyls nun von politischen Erwägungen abhängig wurde und sich vornehmlich auch nur noch auf politische Flüchtlinge bezog, andererseits setzte sich die völkerrechtlich wichtige Auffassung durch, dass es zur Selbstbestimmung eines Gemeinwesens gehört, über den Schutz von Verfolgten zu entscheiden. 263 In jedem Falle können also humanitäre Absichten zur Begründung des Asylanspruchs und des Rechts der Gefangenen auf Schonung ihres Lebens ausgeschlossen werden. Vielmehr lässt sich selbst in der Einforderung dieser Minimalrechtsansprüche noch die Geringschätzung gegenüber dem Menschlichen, das heißt, dem aufs bloße Überleben reduzierten Menschsein, wiedererkennen. Bliebe den in der Tragödie vom Schicksal gebeutelten Herrschergestalten nicht ein geringer Handlungsspielraum und damit die Hoffnung darauf, an dem Ausgleich des gegen sie verübten Unrechts mitzuwirken, sondern nur das Sklavendasein, dann würden sie wohl übereinstimmend mit Polyxene den Tod der Sklaverei vorziehen. 264 Das Schlimmste, was ihnen geschehen kann, ist nicht der Verlust des Lebens, sondern der Verlust der politischen Freiheit sowie eines ihrer Natur angemessenen Lebens. 265 Daher sind beide Rechte in der Tragödiendichtung auch vereinbar mit der Unterscheidung eines natürlichen Adels und Vgl. Näf, Beat: »Asyl – humanitäres Erbe des Altertums? Ein Rückblick auf die Tagung«, in: Dreher: Das antike Asyl, a. a. O., S. 342 ff. 262 Vgl. Kimminich, Otto: »Die Geschichte des Asylrechts«, in: amnesty international (Hg.): Bewährungsprobe für ein Grundrecht. Art. 16 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«, Baden-Baden 1978, S. 32 f. 263 Vgl. ebd. S. 33. 264 Siehe auch Plat. Gorg. 38, 483. 265 Vgl. Eur. Tro. 630 ff. 261

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Unadels bzw. Knechtseins, ohne auf eine allen Menschen gemeinsame Qualität zu rekurrieren. Auffällig ist aber, dass in der Tragödie fast ausschließlich das sakrale Asylrecht thematisiert wird. Möglicherweise prangerten die Dichter auf diese Weise die Profanisierung dieses ursprünglich göttlichen und für alle geltenden Rechts an. Die römische Rechtstradition schloss im Hinblick auf das Asylrecht an die griechische Entwicklung an. Das heißt, dass die Gewährung des Asyls als Recht des römischen Staates betrachtet wurde. Im Gegensatz zur Poliswelt beruhte die römische Asylgewähr allerdings nicht auf völkerrechtlicher Gegenseitigkeit. Das Recht anderer Staaten, römischen Staatsfeinden Asyl zu gewähren, wurde nicht anerkannt. Wie Kimminich zeigt, gibt es gewisse Ähnlichkeiten zwischen der antiken Entwicklung des Asylrechts und jener vom Ende des römischen Reiches bis zur Neuzeit. 266 Im Mittelalter etablierte sich erneut das religiös sanktionierte Asyl, das im Zusammenhang mit der Entstehung des modernen Staates dann mehr und mehr als Teil der staatlichen Souveränität aufgefasst wurde. Die Verbindung des Asylrechts mit der Souveränitätsidee verhinderte, dass es als subjektives Recht im Zuge der Revolutionen in die Menschenrechtsproklamationen aufgenommen wurde. Die Forderung eines Rechtsanspruchs auf Asyl war aber nicht unbekannt. Mit zahlreichen Belegen aus der griechischen Antike, unter anderem auch der Tragödiendichtung, unterstreicht Grotius, der selbst Asyl in Frankreich erhalten hatte, dass die Staaten zur Gewährung des Asyls verpflichtet sind, sofern die Flüchtlinge sich nicht selbst am Natur- oder Völkerrecht vergangen haben. 267 Die Rechtspraxis kam dieser Forderung erst im 20. Jahrhundert nach.

Vgl. Kimminich: »Die Geschichte des Asylrechts«, S. 35 ff. Vgl. Grotius, Hugo: Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens. Schätzel, Walter (Übers.), Tübingen 1950, II, 21, 5, 1 ff. und III, 2, 3, 2 f. Dass das antike Asyl auch Verbrechern Schutz bieten konnte, wird von Grotius nicht gesehen. Zur Relevanz der griechisch-römischen Quellen im Verhältnis zu den christlichen für sein Hauptanliegen der Formulierung eines Völker- und Naturrechts erklärt Grotius: »Beispiele […] haben um so mehr Wert, je besser die Zeit und das Volk ist, dem sie entlehnt sind. Deshalb haben wir die aus der alten griechischen und römischen Geschichte vorzugsweise berücksichtigt.« Ebd., Vorrede, 46.

266 267

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IV. Δικαιοσύνη bei Platon und Aristoteles

1.

Der Anfang des Naturrechtsdenkens bei Platon

Die Sophisten gelangten zu einem vorläufigen Begriff des »Naturrechts«, ohne diesen philosophisch zu vertiefen. Wie bereits angemerkt wurde, ist eine solche Vertiefung nur möglich geworden, indem die Wahrheit, die bei den Sophisten entweder mit dem Erscheinen des Seienden im Ganzen (Protagoras) oder eines besonderen Seienden (Antiphon) identisch ist, fragwürdig wurde. Vom platonischen Standpunkt aus betrachtet sind die differierenden sophistischen Ansichten – die von der natürlichen Gleichheit und die vom Recht des Stärkeren – gleichermaßen unbegründet, weil sie sich nicht an Ideen orientieren. Indem ich im Folgenden zunächst die Ideenlehre, dann die Tugendlehre und schließlich das »Naturrecht« bei Platon (428/27–348/47) erläutere, möchte ich zeigen, dass seine Bedeutung für die Geschichte des Naturrechtsdenkens und im weitesten Sinne auch für die der Menschenrechte primär nicht darin besteht, die eine oder andere naturrechtliche Norm aufgestellt zu haben, sondern der Frage nach natürlichen Rechten des Menschen durch die Ideenlehre überhaupt erst einen philosophischen Horizont eröffnet zu haben. Die Beweisführung in den Dialogen mag sich vielfach als inkonsistent oder haltlos erwiesen haben, die Tatsache aber, dass es einer nachvollziehbaren Beweisführung bedarf und die Wahrheit nicht in Meinungen und Überzeugungen, sondern in der vernünftigen Erkenntnis (νόησις) zu suchen ist, gilt sowohl für Platons Frage nach der Gerechtigkeit wie für die Frage nach der Idee der Menschenrechte. Whitehead ist in diesem Sinne beizupflichten, wenn er sagt: »Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht.« 1 Mit Whitehead, Alfred North: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a. M. 1987, S. 91.

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diesem Hinweis möchte ich einer Diskussion der einzelnen Normen, die Platon aufstellt, nicht ausweichen. Diese muss allerdings auf die Ideenlehre im Ganzen bezogen werden. Es genügt nicht, Platon als Feind der »offenen Gesellschaft« anzuprangern 2 und sein Verständnis von Natur, Gesetz und Recht gegenüber dem einer vermeintlichen »sophistischen Aufklärung« herabzusetzen. 3

1.1. Ideenlehre Die Antwort auf die Frage, ob eine Handlung gerecht oder ungerecht ist, erübrigt sich für Sokrates nicht dadurch, dass die gerechte als nützlicher oder lustvoller angesehen wird, sondern könne nur in Bezug auf die Idee der Gerechtigkeit als Maßstab für die Bewertung aller Handlungen gefunden werden. Wenn daher der Begriff des Naturrechts von vornherein so bestimmt wird, dass eine Idee vom Wesen des Menschen dabei vorausgesetzt wird, dann dürfte im Hinblick auf das vorsokratische und sophistische Denken streng genommen nicht von einem Naturrecht gesprochen werden. 4 Die Sophisten können sich nicht, wie Welzel schreibt, für »das existentielle Naturrecht« und damit »den empirischen Menschen« und gegen das »ideelle Naturrecht« und den vernünftigen Menschen »entschieden« haben, weil sie dazu bereits die Fragwürdigkeit von Ideen, mit der sie erst durch Sokrates konfrontiert worden sind, in ihren Denkhorizont hätten einbeziehen müssen. 5 Zum Übergang von der Sophistik zum sokratischen Fragen merkt Buchheim an: »Wer […] wie Platon eine logische Rechtfertigung sophistischer Techne fordert, katapultiert sophistisches Denken aus seinem Konzept […]. Die Frage zu stellen allein ist bereits die logische Widerlegung der Sophistik.« 6 Gemeint ist hier 2 Vgl. Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1, 7., verb. u. erw. Aufl., Tübingen 1992. 3 Vgl. Neschke-Hentschke, Ada: »Politischer Platonismus und die Theorie des Naturrechts. Essai zur Archäologie der Menschenrechte«, in: Rudolph, Enno (Hg.): Polis und Kosmos. Naturphilosophie und politische Philosophie bei Platon, Darmstadt 1996, S. 60. 4 So auch ebd., S. 61. 5 Vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 11 f. 6 Buchheim: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, S. 108 f. Siehe auch Martin, Gottfried: »Sokrates: Das Allgemeine. Seine Entdeckung im sokratischen Gespräch«, in: Speck, Josef (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie des Altertums und des Mittelalters, Göttingen 1972, S. 20–26.

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die Hauptfrage des Protagoras-Dialogs nach dem Sinn der Staatskunst (πολιτική τέχνη), die Protagoras zu lehren vorgibt. »[W]orin wird er denn besser und in welcher Hinsicht?« 7 Die Frage unterstellt, dass es für jede Tugend ein Richtmaß gibt, das es erlaubt, die Tugend als solche von der Schlechtigkeit abzugrenzen. Zwar geben auch die Sophisten Auskunft darüber, welche Handlungsweisen ihnen jeweils gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht erscheinen, dabei orientieren sie sich jedoch zumeist nur an der Wirkungsweise ihrer Ratschläge, ohne die Fragen, was die Gerechtigkeit, das Gute, das Wahre und das Schöne sind, tatsächlich aufkommen zu lassen. Sokrates strebt nicht nur nach Wissen, sondern nach einem »sich selbst wissende[n] und sich selbst prüfende[n] Wissen«. 8 Platon versucht auf diesem Wege, zu in sich widerspruchsfreien Erkenntnissen zu gelangen, das heißt, zu wahrem Wissen. Erst damit, dass sich der Einzelne frei macht von dem, was er zu wissen glaubt, und an dem orientiert, was durch reines Denken erwiesen ist, wird die Entfaltung des Naturrechtsdenkens möglich. Wie dem Einzelnen die Schau der Ideen gelingt, schildert Platon im Höhlengleichnis. 9 In einer Höhle sitzen Menschen und können, weil sie gefesselt und ihre Köpfe fixiert sind, ihren Blick nur nach vorn richten. Weit hinter ihnen befindet sich ein Feuer, dessen Licht Schattenbilder an die Höhlenwand vor ihnen wirft. Diese stammen von Dingen, die auf einem Weg hinter den Gefesselten entlang getragen werden, wobei die Träger selbst keine Schatten werfen, da sie sich hinter einer Mauer bewegen. 10 Die Gefesselten sehen also wie in einem Puppentheater nur Schattenbilder, die sie für das Wahre (ἀληθὲς) halten. Sokrates fragt nun, was geschähe, wenn einem von ihnen die Fesseln gelöst würden und derjenige dazu genötigt würde, das zu erblicken, was sich hinter ihm abspielt und den Feuerschein. Dieser wäre geblendet und verwirrt und würde nach wie vor annehmen, dass die Schattenbilder die Wirklichkeit darstellten. Ebenso schmerzhaft und schockierend ist 7 Plat. Prot. 318. (Herv. O. B.). Wenn nicht anders angegeben, wurde die Übersetzung von Apelt verwendet. 8 Martin: »Sokrates«, S. 41. 9 Vgl. Plat. rep. VII, 1–3, 514–518. Siehe auch: Rehn, Rudolf: »Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis«, in: Horn, Christoph/Müller, Jörn/Söder, Joachim (Hg.): PlatonHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart Weimar 2009, S. 333. 10 Platon lässt offen, wer die Träger der Gegenstände sind und von wem sie hergestellt wurden. Vgl. Szlezák, Thomas A.: »Das Höhlengleichnis (Buch VII 514a-521b und 539d-541b)«, in: Höffe, Otfried (Hg.): Platon. Politeia, Berlin 1997, S. 207 f.

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der Anblick der Welt, wenn der Befreite »gewaltsam durch den holperigen und steilen Aufgang aufwärts« aus der Höhle gezerrt wird und bei Tageslicht die Welt sieht. 11 Der Schmerz und die Verleugnung des Gesehenen hielten so lange an, bis sich der Entführte an die neue Wirklichkeit gewöhnt hat. Nach einer Weile erkennt er, dass das Seiende nur im Sonnenlicht zu erscheinen vermag, weil die Sonne »über allem waltet, was in dem sichtbaren Raum sich befindet«. 12 Wer nun zur Sonne, der höchsten Idee, aufgeschaut hat 13, wird gleichzeitig jene bedauern, die in der dunklen Höhle gefesselt zurückgeblieben sind, und daher die Pflicht verspüren, sie zu befreien. Um sich in der Welt der Schatten wieder orientieren zu können, müssen sich seine Augen zuerst wieder an die Dunkelheit gewöhnen. Jemand, der kaum sehen kann, die Schatten für Trugbilder hält und vorgibt, andere zur Erkenntnis führen zu wollen, wird den Gefesselten aber lächerlich 14 erscheinen und sie werden ihn umbringen, wenn er versucht, ihre Fesseln zu lösen, und das Gewohnte kritisiert. Das Schauspiel in der Höhle repräsentiert den sinnlich erfahrbaren Bereich der Welt, dieser ist Abbild »der oberen Welt«, einer intelligiblen Sphäre, die sich nur dem Denken eröffnet. 15 Die Idee des Guten verbürgt die Einheit 16 der Welt, »indem sie im Sichtbaren das Licht und den Quell und Herrn desselben (die Sonne) erzeugt, in dem Denkbaren aber selbst als Herrscherin waltend uns zu Wahrheit und Vernunft verhilft«. 17 Die alltägliche Erscheinungswelt sei eine Welt des Werdens, wirklich seiend seien nur die Ideen. 18 Das WindVgl. Plat. rep. VII, 2, 515. Ebd., VII, 2, 516. 13 »Zuletzt dann, denke ich, würde er die Sonne, nicht etwa bloß Abspiegelungen derselben im Wasser oder an einer Stelle, die nicht ihr eigener Standort ist, sondern sie selbst in voller Wirklichkeit an ihrer eigenen Stelle zu schauen und ihre Beschaffenheit zu betrachten imstande sein.« Ebd. 14 Die Analogie zum Leben des Sokrates, wird auch daran ersichtlich, dass der Befreier den Gefesselten lächerlich erscheint. In Die Wolken, eine 423 uraufgeführte Satire auf Sokrates, nennt Aristophanes bereits jene Vorwürfe – Gottlosigkeit und Verderben der Jugend – die Sokrates zwanzig Jahre später im Prozess vorgehalten wurden. Vgl. Martin: »Sokrates«, S. 15. Bereits der Spott des Konservativen Aristophanes zielte auf die Vernichtung der neuen philosophischen Bewegung. Vgl. Niehues-Pröbsting: Die antike Philosophie, S. 209 f. 15 Vgl. Rehn: »Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis«, S. 330 ff. 16 Vgl. Krämer, Hans: »Die Idee des Guten. Sonnen und Liniengleichnis (Buch VI 504a-511e)«, in: Höffe: Platon (Hg.), S. 189 ff. 17 Plat. rep. VII, 3, 517. 18 Vgl. ebd., VII, 4, 518. 11 12

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beispiel im Theätet besagt, dass derselbe Wind dem einen warm und dem anderen kalt vorkommen kann. 19 Der Wind kann auch faktisch wärmer oder kälter werden, aber die Eigenschaften »kalt« und »warm« können nicht ineinander übergehen. Die Blätter eines Baumes werden gelb, aber die Farbtöne »grün« und »gelb« bleiben dem Wandel entzogen. Kein Tisch ist dem anderen gleich, ohne die Idee des Tisches könnte aber weder ein Tisch hergestellt noch als solcher erkannt und von anderem abgegrenzt werden. Jeder Wandel könne folglich nur auf der Grundlage von etwas, das nicht dem Wandel unterworfen ist, ersichtlich werden. 20 Jede Andersheit setze etwas Gemeinsames voraus. Eine einzelne Idee erscheint in einer Vielzahl von Erscheinungen. 21 Es gibt z. B. viele gerechte Handlungen, aber nur eine Idee der Gerechtigkeit. Jede einzelne Erscheinung ist Abbild vieler Ideen. Das griechische Wort ἰδέα bedeutet der Etymologie nach »anschaubare Gestalt«, »Aussehen«. Diese für Platon keineswegs irrelevante sinnliche Dimension des Wortes deutet bereits an, dass die Ideen keine reinen Abstraktionen sind, sondern – wenn auch nur schattenhaft – im Bereich des Sinnlichen gegenwärtig bleiben. Sie sind dem Wandel entzogen und können denkend erkannt werden. Dieses »Erkennen« ist, da die unsterbliche Seele die Ideen bereits geschaut hat, ein Wiedererinnern (ἀνάμνησις). 22 Jede Erkenntnis bleibt haltlos ohne die Idee des Guten (ή τού αγαθού ιδέα), die den Schlussstein im System der platonischen Ideen bildet, weil sie erst die Einheit von Erkenntnis (ἐπιστήμη) und Wahrheit (ἀλήθεια) ermöglicht. 23 Sokrates erläutert, dass das Gute zwar mit Wahrheit und Erkenntnis »verwandt«, aber nicht identisch ist. 24 Das ältere Verständnis von Wahrheit als Unverborgenheit 25 ist hier noch präsent, denn die Wahrheit wird von Platon nicht allein als Erkenntnisprodukt verstanden. Schon die Hinwendung zum künstlichen Höhlenfeuer bringt ein Mehr an Wahrheit, lässt das Seiende Vgl. Plat. Tht. 8, 152. Vgl. Plat. Phaid. 25, 78; Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 22. 21 Vgl. Bormann, Karl: »Platon: Die Idee«, in: Speck (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen, S. 53 ff. 22 Vgl. Manuwald, Bernd: »Wiedererinnerung/Anamnesis«, in: Horn/Müller/Söder (Hg.): Platon-Handbuch, S. 352 ff. 23 Vgl. Bormann: »Platon«, S. 54. 24 Vgl. Plat. rep. VI, 19, 509. 25 Krämer übersetzt ἀλήθεια mit »Erschlossenheit«. Vgl. Krämer: Die Idee des Guten, S. 190. 19 20

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unverborgener und scheinender hervortreten. Platon richtet die Erkenntnis und die Wahrheit auf die Idee des Guten aus, die, wie das Sonnengleichnis zeigen soll, »auf einer noch höheren Stufe« steht: Du wirst, denke ich, sagen, die Sonne verleihe dem, was gesehen wird, nicht nur das Vermögen gesehen zu werden, sondern auch Werden, Wachstum und Nahrung, ohne doch selbst ein Werden zu sein. – Wie könnte sie das auch sein? – Also mußt du auch sagen, daß dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden von dem Guten zuteil werde, sondern daß es sein Sein und Wesen von ihm habe, so daß das Gute nicht das Sein ist, sondern an Würde und Kraft noch über das Sein hinausragt (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας). 26

Auch im Höhlengleichnis erfüllt die Identifikation der Sonne mit der Idee des Guten in erster Linie eine ontologische Funktion. Das Gute nimmt bei Platon jene Stellung ein, die zuvor der Wahrheit als Unverborgenheit zugeschrieben wurde. Jedes Seiende verdanke sein Sein nicht allein der Offenbarkeit, in der es zum Vorschein kommt, sondern der Idee des Guten, die die Einheit von Erkennen und Erschlossenheit des Seienden ermöglicht. Im Sinne des bei Heraklit und Protagoras vorgefundenen ἀλήθεια-Verständnisses drängt sich hier die Frage auf, wie das Gute, das zwar schwer zu schauen ist, von dem aber gleichwohl behauptet werden kann, dass es ist, über das Sein »hinausragen« kann? Allein mit der Aussage, dass es das Gute gibt, wird es doch vom Sein eingeholt. Hinausragen könne das Gute laut Gigon und Zimmermann insofern, als es nicht nur das Sein von etwas verbürgt, sondern dieses Sein darüber hinaus als gut qualifiziert. Das Gute sei nicht nur Grund des Seins und der Erkennbarkeit des Seienden, der Anblick der Idee des Guten zeige zugleich, dass »es für das Seiende besser ist, zu sein als nicht zu sein«. 27 Auch Horn behauptet, dass mit der aixiologischen Funktion des Guten eine Wertung verbunden ist: Das bedeutendste Erkenntnisobjekt ist die Idee des Guten; denn erst durch die Teilhabe an der Idee des Guten wird alles Gerechte und alles andere, was von ihr Gebrauch macht, nützlich und wertvoll. Wenn wir, so Platon, alles wüssten, ohne die Idee des Guten zu kennen, wüssten wir immer noch nicht, was moralisch gut und was funktional gut ist. 28

Plat. rep. VI, 19, 509. Gigon, Olof/Zimmermann, Laila: Platon. Lexikon der Namen und Begriffe, Zürich München 1975, S. 156. 28 Horn, Christoph: »Moralphilosophie«, in: Ders./Müller/Söder (Hg.): PlatonHandbuch, S. 160. 26 27

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In der Tat konstatiert Platon, dass die Idee des Guten erkannt werden muss, damit das Handeln moralisch sein kann 29, unklar bleibt aber, weshalb der wertbegründende Charakter des Guten dieses sogleich die Seiendheit (οὐσία) überragen lässt. Krämer erklärt zu dieser »Übertranszendenz«, dass das Gute »als Bestimmungsgrund alles Seienden qua Bestimmten nicht selbst ein Seiendes sein kann, sondern jenseits des Seins und der Seinsheit zu stehen kommt«. 30 Das Gute sei das Eine und könne daher nicht wie ein Seiendes begrenzt sein. Unterstrichen wird die Selbigkeit des Einen und des Guten laut Krämer durch den nachfolgenden Ausruf des Dialogpartners: »beim Apollon«. 31 Etymologisierend gelesen spielt der Name Ἀπόλλων auf das Nicht-Viele, also das Eine an. Umstritten ist, inwieweit Platon an dem ἐπέκεινα-Gedanken im Hinblick auf die Seinsauslegung festhält, denn an anderen Stellen wird die Idee des Guten dem Seienden zugeordnet. 32 Über das Gute hinaus kann nicht gefragt werden. Während Heraklit eine Achtsamkeit gegenüber dem Wahrheitsgeschehen fordert, hat Platon den Verbergungscharakter der ἀλήθεια zum Schein umgedeutet, in dem die verborgenen Ideen widerscheinen. Mit den Dialogen wird somit ein Weg aufgezeigt, wie die Ideen ihrer Verborgenheit zumindest ansatzweise entzogen werden können. Der Wahrheit als Offenbarkeit wird dadurch die Wahrheit der Vernunfterkenntnis – im Bilde des Höhlengleichnisses die Wahrheit des richtigen Sehens 33 – zur Seite gestellt. Der schriftlich fixierte Dialog selbst kann als Methode betrachtet werden, durch die eine strenge, jederzeit nachvollziehbare Betrachtung des Ideenreichs ermöglicht wird. Die Darstellung der Übergänge im Gleichnis, von der Fixierung auf die Höhlenwand, zum Anblick des Höhlenfeuers sowie aus der Höhle in die aufgehellte Welt der Ideen und die Rückkehr zu den Menschen, vermittelt jedoch auch einen Eindruck von den Schwierigkeiten, die der Philosophie 34 entgegenstehen. So wie sich die Augen erst nach einer Weile und unter SchmerVgl. Plat. rep. VII, 3, 517. Krämer: »Die Idee des Guten«, S. 192. 31 Vgl. Krämer, Hans: »Platons ungeschriebene Lehre«, in: Kobusch/Mojsisch (Hg.): Platon, S. 263 32 Vgl. Plat. rep. VII, 4, 518, VII, 9, 526 und VII, 13, 532. 33 »[D]em Seienden nahegerückt […] sehe er richtiger«. Ebd., VII, 1, 515. 34 Sokrates erklärt, dass »die Philosophie« zu ihm spricht und die Wahrheit, das Unrechttun schlimmer ist als Unrechtleiden verkünde. Vgl. Plat. Gorg. 37, 482. Von der 29 30

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zen an die plötzliche Helligkeit gewöhnen, gelingt auch die Orientierung in der Ideenwelt erst mit der Zeit und nur durch das Aufgeben von Vorurteilen und trügerischem »Wissen«. Hinzu kommt, dass der Philosoph als Sehender unter Blinden der gemeinsamen Welt ein für alle Mal entrückt ist und seine Sorge um die Mitmenschen von diesen nicht verstanden wird. Platon behauptet, dass die Menschen einen Weisen eher umbringen würden, als ihre Meinungen der Kritik auszuliefern. Im Höhlengleichnis spielen zwei Formen von Gewalt eine Rolle. 35 Zum einen nötigt und zwingt die Wahrheit selbst 36, denn wer einmal zur Vernunft gekommen ist, der »[würde] lieber alles andere über sich ergehen lassen […] als […] ein Leben jener Art zu führen«. 37 Der Philosoph kann nicht anders handeln als sich von den Meinungsstreitigkeiten der Höhlenbewohner abzuwenden. Wenn er sich aus Mitleid dennoch zu den Menschen begibt und auf den Kampf um die »Deutung jener Schattenbilder« einlässt, gerät die Wahrheit notwendig in Konflikt mit den Meinungen. Auf den zwingenden Charakter der Wahrheit reagieren die Menschen ihrerseits gewaltsam, sie verwerfen die Philosophie und bringen denjenigen um, der ihnen die Wahrheit aufzudrängen versucht. Platon war sich demnach ganz und gar darüber im Klaren, dass es sich bei der Erfahrung des Denkens um eine individuelle Erfahrung handelt, zu deren Resultaten die Menschen nicht durch die gewöhnlichen Prozesse der Meinungsbildung und des Überzeugens gelangen können. Die neuen Gesetze sollen »die Bürger durch Überredung und Zwang zur Einheit« 38 zusammenbringen. Im zwischenmenschlichen Bereich, »sei es in persönlichen oder in öffentlichen Angelegenheiten«, kann die Wahrheit nicht wie eine Meinung vertreten werden, dennoch sei die Einsicht in die höchste Idee die unbedingte Voraussetzung, um in diesen Bereichen vernünftig handeln zu können. 39 Der Philosoph darf sich daher nicht allein mit der Wissenschaft befassen, er muss in die Politik zu-

Wahrheit sagt er an anderer Stelle, dass sie niemals widerlegt werde. Vgl. ebd., 28, 473. 35 Der von Platon im Höhlengleichnis dargestellte Gewaltaspekt in der philosophischen Erziehung steht freilich im Kontrast zur pädagogischen Praxis des Sokrates. Vgl. dazu Niehues-Pröbsting: Die antike Philosophie, S. 100 f. 36 Vgl. Arendt: Was ist Autorität?, S. 174. 37 Plat. rep. VII, 2, 516. 38 Ebd., VII, 5, 519. 39 Vgl. ebd., VII, 3, 517.

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rückkehren, denn letztlich sollen »politische Macht und Philosophie […] in eins zusammen[fallen]«. 40 Der Aufstieg zur Idee des Guten wird durch ein ergänzendes Gleichnis, das als Teil des Sonnengleichnisses vorgestellt wird 41, veranschaulicht. Im Liniengleichnis werden vier Gegenstandsbereiche unterschieden, denen jeweils eine bestimmte Erkenntnisform entspricht. 42 Dazu wird eine senkrechte Linie in zwei ungleiche Abschnitte geteilt, die dann beide nochmals in zwei ungleiche Abschnitte unterteilt werden, sodass die Linie insgesamt also in vier nach oben hin größer werdende Abschnitte geteilt ist. 43 Die erste Teilung verdeutlicht die Unterscheidung von sinnlicher und intelligibler Sphäre. Im Gebiet des sinnlich Wahrnehmbaren wird unterschieden zwischen den Abbildern sichtbarer Dinge, z. B. Spiegelungen im Wasser und den Dingen selbst, im Bereich des Denkbaren zwischen den Gegenständen der mathematischen Wissenschaften und jenen der Dialektik. Die einfachste Erkenntnisform ist das Vermuten (εἰκασία), das ein Erkennen der sichtbaren Bilder gestattet. Die wahrnehmbaren Gegenstände werden durch das Fürwahrhalten (πίστις) erkannt, die mathematischen durch die Verstandeserkenntnis (διάνοια). Während die mathematischen Wissenschaften von unhinterfragten Voraussetzungen ausgehen, zielt die Vernunfteinsicht (νόησις) des Dialektikers auf das »Voraussetzungslose«, »den wirklichen Anfang des Ganzen«. 44 Gemeint ist damit die Idee des Guten. Wenn der Dialektiker diese erreicht hat, werden von dort aus die mathematischen Ideen, auf die Platon im Liniengleichnis primär verweist 45, erneut durchdacht, denn Ebd., V, 18, 473. »Es muß […] ein jeder von euch herabsteigen in die Wohnstätten der anderen und sich daran gewöhnen die Finsternis zu schauen; denn einmal daran gewöhnt, werdet ihr tausendmal besser als jene da drunten alle jene Bilder erkennen und beurteilen, was sie sind und welchen Ursprungs, denn ihr habt ja, was das Schöne, Gerechte und Gute anlangt, die Wahrheit geschaut.« Ebd., VII, 5, 520. 41 »Das Liniengleichnis ist ein Teil des Sonnengleichnisses, das hier primär nach seiner erkenntnistheoretischen Seite hin weiter entfaltet und differenziert wird.« Krämer: »Die Idee des Guten«, S. 192. 42 Vgl. Plat. rep. VI, 20 f., 509–511. Siehe auch Rehn: »Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis«, S. 332. 43 Die unterschiedliche Größe symbolisiert das Rangverhältnis der Erkenntnisgegenstände und -formen. Vgl. Krämer: »Die Idee des Guten«, S. 193. 44 Plat. rep. VI, 21, 511. 45 Zu den mathematischen Grundbegriffen im Einzelnen vgl. Krämer: »Die Idee des Guten«, S. 197 f. Szlezák weist darauf hin, dass die Gegenstände der Mathematik ebenso wie die διάνοια eine Zwischenstellung zwischen den Ideen und den Dingen der Sinneswahrnehmung einnehmen. Vgl. Szlezák: »Das Höhlengleichnis«, S. 213 f. 40

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erst im Lichte dieser Idee wird die Stellung jener und aller anderen Ideen erkannt. Die Deutung des Sonnengleichnisses wird laut Krämer dadurch ergänzt, »daß das Eine-Gute [im Linienschema] durch eine dialektische Schrittfolge stufenweise erreicht wird und dann – in Umkehrung der Schrittfolge – Definitionen oberster Gattungs- und Grundbegriffe zu formulieren erlaubt, die Platon zufolge erst ein adäquates Verstehen dieser Entitäten ermöglichen«. 46 Die Idee des Guten ist erkennbar. Platons Sonnenmetapher bedeutet nicht, dass sie das menschliche Erkenntnisvermögen übersteige oder undefinierbar sei, weil der Blick in die Sonne nicht auszuhalten wäre. 47 Vielmehr wird betont, dass »sie selbst in voller Wirklichkeit an ihrer eigenen Stelle zu schauen und ihre Beschaffenheit zu betrachten« 48 ist, die Betrachtung »des Hellsten […] [ist] auszuhalten«. 49 Von den Philosophen wird verlangt, dass sie sich »nach gelungenem Anstieg […] genügend damit bekannt gemacht« 50 haben. Platon lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, dass die Idee selbst gesehen werden muss und nicht etwa eine Spiegelung. Die Anordnung der Gleichnisse ist in dieser Hinsicht aufschlussreich. Das Liniengleichnis verdeutlicht zwar den Aufstieg; auch wird knapp angemerkt, dass der Abstieg darin besteht »die Begriffe selbst nach ihrem eigenen inneren Zusammenhang« zu verstehen, allerdings werden die Schwierigkeiten dieser Aufgabe für das Denken kaum ersichtlich. Erst die Sonnenmetapher im Höhlengleichnis zeigt, dass derjenige, der den Seinsgrund zu erkennen und davon ausgehend Wissen über das Seiende zu erlangen versucht, dabei zuerst geblendet wird und über das Seiende in Unklarheit gerät. Die von Platon angesprochene »zwiefache Störung der Sehkraft« 51 ist für den Erkenntnisprozess unvermeidbar, aber die Blendung besteht nur »für den Augenblick« und auch die »Trübung des Blicks« bei der Rückkehr in die Höhle lässt nach. 52 Durch Gewöhnung der Augen werden schließlich das Gute und die Ordnung der Ideenwelt sichtbar.

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Krämer: »Die Idee des Guten«, S. 198. Zu diesem umstrittenen Punkt vgl. Szlezák: »Das Höhlengleichnis«, S. 215–220. Plat. rep. VII, 2, 516. Ebd., VII, 4, 518. Ebd., VII, 4, 519. Siehe auch VII, 9, 526. Ebd., VII, 3, 518. Vgl. ebd., VII, 2, 516.

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1.2. Tugendlehre Die Einsicht in die Idee des Guten sei die unbedingte Voraussetzung dafür, dass der Einzelne ein Leben in Glückseligkeit führen kann. Den Nachweis, dass das Gerechte um seiner selbst willen erstrebenswert ist und es in der menschlichen Natur liegt, die Gerechtigkeit im Handeln zu verwirklichen, versucht Platon bspw. im Gorgias zu erbringen. 53 In einem ersten Redegang wird die Frage behandelt, was die Rhetorik ist, mit der Gorgias angeblich begabt ist. Zunächst korrigiert Sokrates die Ansicht Gorgias’, dass die Rhetorik sowohl für gerechte als auch ungerechte Zwecke gebraucht werden könne. Die Einsicht in das, was gerecht ist, setze eine Erkenntnis über die Fragen nach Recht und Unrecht, dem Guten und Schlechten sowie Schönen und Hässlichen voraus. 54 Wer aber das Recht erlernt hat und daher auch gerecht ist, der könne auch als Redner nur das Rechte tun. Voraussetzung für dieses Argument ist die Unterscheidung von Glaube und Wissen (ἐπιστήμη). 55 Während es im Hinblick auf den Glauben einen wahren und einen falschen Glauben geben könne, könne es bezüglich des Wissens nur wahres Wissen, aber niemals ein falsches geben. »Glaube« ist hier in einem ähnlichen Sinne gemeint wie »Meinung« (δὀξα) in den anderen Dialogen. Ein falsches Wissen könne es deshalb nicht geben, weil jedes Wissen gemäß platonischer Vorstellung immer schon ein Gut ist, dessen Gegensatz allein die Unkenntnis ist. Hinzu kommt nun eine weitere von Sokrates ins Spiel gebrachte Unterscheidung, nämlich die von Erfahrenheiten (έμπειρίαι) und Künsten (τέχναι). 56 Sokrates vergleicht die Rhetorik mit der Kochkunst, die beide ihrem Wesen nach eine »Schmeichelei« – die Rhetorik für die Seele und die Kochkunst für den Leib – seien, weil sie lediglich auf das Angenehme nicht aber auf das Beste (βέλτιστον) abzielen. 57 Im Hinblick auf den Leib sei die Heilkunst eine wahre Kunst. Der Leib sei dann wohlgestaltet, wenn er gesund und kräftig ist. Doch welche Kunst zielt auf die Verbesserung der Seele? Wenn dies nun, wie eingangs von Gorgias behauptet, die Rhetorik wäre, dann wäre es nach dem bisher Gesagten unmöglich, dass sie zugleich für gerechte wie

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Vgl. Lohmann: Zwischen Naturrecht und Partikularismus, S. 171. Vgl. Plat. Gorg. 14, 459 f. Vgl. ebd., 9, 454. Vgl. ebd., 17, 462. Vgl. ebd., 19, 465.

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für ungerechte Zwecke gebraucht werden könne. Stattdessen bestimmt Sokrates jene Kunst im Zusammenhang mit dem Begriff der Ordnung (κόσμος, τάξις). 58 So wie die Gesundheit den Körper auszeichne, wenn dieser nach den richtigen Regeln der Körperpflege, sportlichen Ertüchtigung und Genesung umsorgt wurde, so ist die Seele nach Sokrates dann im Zustand der Ordnung, das heißt vollkommen (χρηστή), wenn in ihr Gesetzlichkeit und Gesetz herrschen. 59 Auf die Verbesserung der Seele zielen demnach die Künste der Gesetzgebung und der Rechtspflege. Wie erwähnt können sie nur von demjenigen ausgeübt werden, der die Idee des Guten erkannt hat. 60 Ein naives oder unbewusstes Gerechtigkeitsverständnis gibt es laut Platon also nicht, ebenso wenig ist ein Widerspruch zwischen höherem Wissen und faktischem Handeln möglich. Wer sich scheinbar wider besseres Wissen ungerecht verhält, habe in Wahrheit keine Kenntnis von der Gerechtigkeit. Unkenntnis schmälere Ungerechtigkeit nicht, sondern vergrößere diese. 61 Den Begriff der Natur führt Kallikles, ein Politiker, in den Dialog ein, nachdem Gorgias und Polos widerlegt worden sind. Sokrates’ Lehre, dass Unrechttun schlimmer ist als Unrechtleiden 62, weist Kallikles mit der Behauptung zurück, dass sie für das öffentlich-politische Leben untauglich ist. 63 Sokrates habe nur recht behalten können, weil Polos unbegründet zugestanden hat, dass Unrechttun häßlicher sei als Unrechtleiden. 64 Dagegen vertritt er die These, dass die Gesetze von der Mehrheit der Schwachen gemacht worden sind und sich nur Vgl. ebd., 59–62, 504 ff. »Für die Ordnungs- und Gestaltungsmaßregeln der Seele aber gelten die Bezeichnungen Gesetzlichkeit und Gesetz, zufolge deren die Menschen gesetzlich und wohlgesittet werden.« Ebd., 59, 504. 60 »Wenn wir sie […] nicht voll kennen, so weißt du doch, daß, mögen wir auch noch so genau alles andere ohne sie kennen, uns dies keinen Nutzen bringt, wie auch kein Besitz uns nützt ohne das Gute.« Plat. rep. VI, 16, 505. 61 Daher wird im Hippias auch die These verfochten, dass die vorsätzliche Lüge besser sei als die unabsichtliche, denn zu Ersterem ist nur derjenige in der Lage, der auch die Wahrheit kennt. Vgl. Plat. Hipp. I. 62 Vgl. Plat. Gorg. 28, 473. Eine ähnliche Auffassung vertrat offenbar auch Demokrit: »Wer Unrecht tut ist unseliger als wem Unrecht geschieht.« Diels II, 55 B 45. 63 Vgl. ebd. (Platon), 40 f., 485 f. Im Gegensatz zu Polos gerät Kallikles durch die ungewöhnlichen sokratischen Argumente nicht in Verwirrung, sondern vertritt »eine eigenständige Philosophie der Existenz«. Siehe dazu Voegelin, Eric: Ordnung und Geschichte. Opitz, Peter J./Herz, Dietmar (Hg.), Bd. VI: Platon. Herz, Dietmar (Hg.), München 2002, S. 46 ff. 64 Vgl. Plat. Gorg. 38, 482; Plat. Gorg. S. 326 ff. (Übers. Erler, Nachw.) 58 59

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so die Konvention, dass das Unrechttun schlechter sei, habe durchsetzen können. Der Natur entspreche aber das Recht des Stärkeren. Dass der Stärkere über den Schwächeren herrscht, werde nicht nur innerhalb menschlicher Gemeinschaften und in Auseinandersetzungen zwischen diesen ersichtlich, sondern ebenso »bei den übrigen Geschöpfen«. 65 Kallikles ist also der in der Antike weniger geläufigen Ansicht, dass für alle lebenden Wesen ein Gesetz der Natur gilt, das dem Stärkeren Vorteile gegenüber dem Schwächeren einräumt. 66 Glücklich sind nicht die Mäßigen und Bedürfnislosen, wie Sokrates meint: »Also mit Unrecht sagt man, diejenigen seien glücklich, die nichts bedürfen? – Da wären ja die Steine und die Toten die glücklichsten.« 67 Glücklich ist laut Kallikles nur derjenige, der seine Begierden ungehemmt auslebt, z. B. ein Tyrann. »Wer richtig leben will, muß seine Begierden so groß wie möglich werden lassen ohne ihnen einen Zügel anzulegen; sind sie aber so groß wie möglich, so muß er imstande sein, ihnen mit Tapferkeit und Klugheit zu dienen und alles, wonach sich die Begierde regt, zur Stelle zu schaffen.« 68 Scham und moralische Konvention unterdrücken demnach die ursprüngliche, unverstellte Natur. 69 In der Gegenargumentation greift Sokrates ebenfalls den φύσις-Begriff auf und zwar im Zusammenhang mit einer Kennzeichnung der τέχνη. Eine Kunst »kennt durch Forschung die Natur (φύσις) des Objektes, das sie behandelt, und den Grund für alles, was sie tut, und vermag über jede darauf bezügliche Frage Rechenschaft (λόγος) zu geben«. 70 Was die Natur einer Sache ist, kann demnach nur durch die Vernunft erschlossen werden. Kallikles’ Gleichsetzung des Guten mit dem Angenehmen versucht Sokrates zu widerlegen, indem er darlegt, dass derjenige, der ein Unrecht begeht, sich selbst nicht beherrscht und eine gestörte Seele hat. 71 Wer sich z. B. unrechtmäßig bereichert oder die Herrschaft in einer Polis an sich reißt, herrscht eigentlich überhaupt nicht, sondern ist seinen Begierden unterworfen. Das schlagende Argument, das Kallikles zum Einlenken zwingt, ist, dass der Feige vermutlich mehr Lust empfindet als derjenige, den Kallikles für tapfer und 65 66 67 68 69 70 71

Vgl. Plat. Gorg. 39, 483. Vgl. Lohmann: Zwischen Naturrecht und Partikularismus, S. 171. Plat. Gorg. 47, 492. Ebd., 46, 491 f. Vgl. Kobusch: »Wie man leben soll: Gorgias«, S. 58 f. Plat. Gorg. 56, 501. Vgl. ebd., 66, 511.

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einsichtsvoll halten würde. 72 Somit wäre der Feige besser als der Tapfere. Kallikles gibt schließlich zu, dass zwischen »nützlichen« und »schädlichen Lüsten« differenziert werden muss. 73 Sokrates kann nun zeigen, dass das Angenehme nur um des Guten willen angestrebt wird. Die Annehmlichkeiten können faktisch nur solange anhalten, wie die Begierde gestillt wird, wohingegen das Gute, das im höheren Wissen gegenwärtig bleibe, nicht durch eine gute Tat aufgehoben werden kann. 74 Das Gute zu tun, kann zwar auch angenehm sein, aber es erschöpfe sich nicht darin, denn zum Guten gehöre die Suche nach der richtigen Lebensweise und die Übereinstimmung mit sich selbst. 75 Die Identifikation des Guten mit dem Angenehmen zeugt also von Unkenntnis. Erkenntnis ist darüber hinaus von Sokrates als die Grundlage einer jeden Tugend bestimmt worden. Die Tugenden (ἀρεταί), Einsicht, Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Frömmigkeit etc. können somit ebenfalls nur von demjenigen erlangt und gelehrt werden, der sich selbst beherrscht, dessen Seele geordnet ist 76 und der das kennt, was sich gebührt (τά προσήκοντα). An dieser Stelle wird eine weitere wichtige Schlussfolgerung aus der Feststellung, dass es kein falsches Wissen gibt, ersichtlich. Das Schlechte kann nur der Unwissende tun, die Tugenden können dagegen von demjenigen ausgeübt werden, der die Kunst, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden, beherrscht. Für alle Tugenden gilt folglich, dass sie auf das Wissen vom Guten bezogen sind. Tapfer könne nur sein, wer auch besonnen ist. Im Protagoras begründet Sokrates die Einheit dieser Tugenden damit, dass der Tapfere im Gegensatz zum Feigling die »Kenntnis des Furchtbaren und Nichtfurchtbaren« besitzt. 77 Ohne dieses Wissen wäre jeder Kampfesmut nur Tollheit. Insofern Tapferkeit Wissen voraussetzt, ist laut Sokrates der Philosoph der tapferste. 78 Der seinen Begierden unterworfene Tyrann sei dagegen der tugendloseste, schlechteste und unglücklichste Mensch. Er unterliege einem »inneren Tyrannen«. 79 Ständig müsse er fürchten, seine Macht Vgl. Voegelin: Ordnung und Geschichte, Bd. VI, S. 54. Vgl. Plat. Gorg. 54, 499. 74 Vgl. ebd., 51 f., 497. 75 Vgl. Kobusch: »Wie man leben soll: Gorgias«, S. 60. 76 Vgl. Voegelin: Ordnung und Geschichte, Bd. VI, S. 55. 77 Vgl. Plat. Prot. 360. 78 Vgl. Plat. Phaid. 13, 68. 79 Vgl. Waechter, Kay: »Thrasymachos und Kallikles. Interpretationen zur sophistischen Rechtsphilosophie«, in: ders./Kirste/Walther (Hg.): Die Sophistik, S. 123 f. Ein 72 73

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zu verlieren und sei deshalb anderen gegenüber grundsätzlich misstrauisch. Ein solcher Mensch könne keine Freundschaften eingehen, weder zu Menschen noch zu Gott. Die Freundschaft (φιλία) sei jedoch das Band, das den Kosmos als rechte Ordnung (νόμος) zusammenhält: Es sagen ja doch die Weisen, mein Kallikles, daß die Gemeinschaft und Freundschaft und Wohlverhalten und Besonnenheit und Gerechtigkeit es sei, die Himmel und Erde, Götter und Menschen zusammenhalten, und deshalb nennen sie dies Weltganze Weltordnung, mein Freund, nicht aber Unordnung oder Zuchtlosigkeit. 80

1.3. Gesetzesrecht Im Folgenden möchte ich diskutieren, inwiefern Platons Tugendlehre eine Naturrechtslehre beinhaltet und in welcher Beziehung beide zum geltenden Recht stehen. Das primäre Ziel der Lebensführung ist laut Platon die Gottverähnlichung. 81 Gott sei uneingeschränkt gut, wandle sich nicht und begehe kein Unrecht. Daher sei das Göttliche allein nachahmungswürdig. Die geschriebenen Gesetze seien das beste Mittel zum Zweck, nämlich der Besserung der Seele. 82 Wer gerecht handelt, bedürfe ihrer allerdings nicht, da er stets schon gerecht sei. Für diejenigen, die eine »edle Erziehung« genossen haben, ist es laut Sokrates sogar schimpflich, wenn sie eine »Schlafmütze von Richter« aufsuchen müssen. 83 Der Philosophenkönig im Staat steht somit über dem Gesetz. Dies gilt auch dann, wenn der Philosoph im Namen der Gesetze verurteilt wird. So kann Sokrates in der Apologie erklären, dass ihm durch das Urteil, gleichwie es ausfällt, kein Leid geschieht. 84 »[F]ür einen rechtschaffenen Mann [gibt es] kein Übel […], weder im Leben noch im Tode«. 85 Da aber nur die wenigsten sich tatsächlich die vollkommene Tugend zu eigen machen können, blieben geschriebene solcher Tyrann sei nicht einmal dazu in der Lage, ein vernünftiges Gespräch zu Ende zu führen, weshalb Kallikles am Ende des Dialogs in Schweigen verfällt und Sokrates im Selbstgespräch den Dialog fortführen muss. Vgl. Plat. Gorg. S. 336 f. (Übers. Erler/ Nachw.). 80 Plat. Gorg. 63, 507 f. 81 Vgl. Plat. rep. II, 21, 383. 82 »[T]atsächlich ist doch Gesetzgebung und Gründung von staatlicher Ordnung das vollkommenste Mittel in der Welt, um zur Tugend zu gelangen.« Plat. leg. IV, 3, 708. 83 Vgl. Plat. rep. III, 14, 405. 84 Vgl. Plat. apol. 30. 85 Ebd., 41.

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Gesetze unverzichtbar. In seinem »zweitbesten« 86, realistischeren Entwurf einer politischen Gemeinschaft gründet er diese auf die Autorität der Gesetze, die freilich auch hier allein die Funktion haben, die Menschen besser zu machen. Die Herrschaft der Gesetze ersetzt die des Philosophen. »[D]em Staate, in dem das Gesetz abhängig ist von der Macht des Herrschers und nicht selbst Herr ist, dem sage ich kühn sein Ende voraus«. 87 Die Regenten sind »Diener des Gesetzes«. 88 Die Ämter werden entsprechend der jeweiligen Treue des Einzelnen zu den Gesetzen verteilt. Wenn Platon in den Gesetzen anmerkt, dass niemand über dem Gesetz stehen darf, so widerspricht dies scheinbar seiner früheren im Staat und im Politikos vertretenen Position. 89 Allerdings darf nicht übersehen werden, dass Platon zuvor nie behauptet hat, dass der Weise die Gesetze seinem Belieben unterstellt. Das Streben nach Macht (δύνασθαι) – im Sinne des geläufigen Verständnisses identisch mit dem Streben nach der Herrschaftsgewalt – wird von Platon ausdrücklich verurteilt. 90 Der Weise werde sich ohnehin nie in Widerspruch zu den Gesetzen begeben und wenn doch, würde er sich selbst als Erster anklagen und bestrafen. 91 In welchem Verhältnis steht aber nun die den geltenden Gesetzen inhärente Gerechtigkeit zu der des Idealstaats? Und welche Rolle spielt dabei die φύσις? Ginge es allein darum, die geltenden Gesetze an die Ideale anzupassen, dann hätte Sokrates die Gesetze Athens einer deutlichen Kritik unterziehen müssen. Bekanntlich stellte er seine Treue zum Gesetz und zur Philosophie aber durch das Opfer des eigenen Lebens unter Beweis. Ausschlaggebend für diese Entscheidung ist, dass Sokrates nicht zwischen Gesetz und Gerechtigkeit trennt. 92 Das geltende Gesetz sei unmittelbarer Ausdruck der Gerechtigkeit. Hätte er sich dem gegen ihn ergangenen Urteil durch Flucht entzogen, hätte er sich selbst widersprochen und wäre zum StaatsPlaton selbst erklärt, dass die Gesetze im Vergleich zum Staat, die zweitbeste Ordnung darstellen. Vgl. Plat. leg. V, 9, 739. 87 Ebd., IV, 7, 715. 88 Vgl. ebd. 89 Vgl. Plat. rep. IV, 4, 425; Plat. polit. 33 f., 294 ff. 90 Vgl. Plat. Gorg. 66, 510 f. Im Gorgias deutet Platon aber auch ein davon abweichendes Verständnis von Macht an, indem er erklärt, dass – sofern Macht ein Gut ist – der Tyrann und der Redner, der sich ihm anschließt, keine Macht haben, weil es ihnen an Einsicht ermangelt. Vgl. ebd., 22, 466 f. 91 Vgl. ebd., 36, 480. 92 »[I]ch erkläre, das Gesetzmäßige ist das Gerechte. So meinst du wohl, Sokrates, daß gesetzmäßig und gerecht dasselbe sind? Sicherlich, sagte er.« Xen. mem. IV, 4, 12. 86

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feind geworden. Das Recht sei sowohl für die Seele als auch das Gemeinwesen der Grundpfeiler der Ordnung. Unordnung und Unrecht seien um jeden Preis zu vermeiden. Dass das Urteil möglicherweise ungerecht ist, rechtfertige nicht die widerrechtliche Flucht. Zwischen dem ungerechten Urteil und dem gerechten Gesetz muss unterschieden werden, wie Welzel anmerkt. »Sein Gehorsam will weniger die Rechtspflicht gegenüber dem materiell unrichtigen Urteil bestätigen, als die Rechtsordnung, die von den Richtern verletzt wurde, als Ganzes schützen.« 93 Es scheint so, als rede Sokrates blind einem Rechtspositivismus das Wort. Dieser Eindruck täuscht jedoch. Im Kriton erläutert er, weshalb es unrecht wäre, sich dem Urteil zu entziehen und beruft sich dabei auf Grundsätze, die über das geltende Gesetz hinausgehen. Die unbedingte Zustimmung zur Rechtsordnung folgt aus dem Grundsatz, dass rechtliche Verträge einzuhalten sind. »Muß man, wenn man mit einem anderen einen rechtlichen Vertrag geschlossen hat, ihn auch einhalten, oder darf man sich trügerisch seiner Verpflichtung entziehen? – Einhalten muß man ihn.« 94 Um die vertragstheoretische Dimension der Gesetzesgeltung in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen, lässt Platon die Gesetze wie einen Dialogpartner selbst sprechen. Auf die Behauptung, dass ein gefälltes Urteil unrecht sei, erwidern sie: »War es denn dies, Sokrates, worauf sich die Vereinbarung zwischen uns und dir bezog? Lautete diese nicht vielmehr dahin, du würdest dich getreulich den richterlichen Urteilen fügen, die vom Staate gefällt werden?« 95 Die Rechtmäßigkeit des Vertrages und damit des Urteils wird mit zwei Argumenten begründet. Zum einen erlauben die Gesetze jedem, der mit ihnen nicht einverstanden ist, mit seinem Vermögen auszuwandern, zum anderen hat jeder die Wahl, den Gesetzesurteilen zu folgen oder zu zeigen, dass ein Versehen vorliegt. 96 Das Recht auszuwandern erhält der Einzelne, sobald er in die Bürgerliste aufgenommen worden ist. Beide Begründungen sowie die Behauptung, dass die Gesetzestreue aus einem Vertrag resultiert, werden von Platon mehrfach genannt, womit die Relevanz dieses Gedankens unterstrichen wird. Wenn Sokrates an den athenischen Gesetzen etwas auszusetzen gehabt hätte, dann hätte er, wie er selbst anmerkt, siebzig 93 94 95 96

Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 21. Plat. Krit. 49. Ebd., 50. Vgl. ebd., 51 f.

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Jahre Zeit gehabt, seinem Unmut Ausdruck zu verleihen 97, stattdessen habe er seine Gesetzestreue sowohl durch seine Lehre als auch durch sein politisches Handeln bewiesen 98. Das »Recht« auszuwandern verfällt also nicht. Die Zustimmung zum Gesetz wird stillschweigend vorausgesetzt, wenn jemand in Kenntnis der Gesetze nicht auswandert. Die Vereinbarung wird als eine freiwillige Unterwerfung 99 aufgefasst, womit Sokrates dem Faktum gerecht wird, dass die Gesetze durch die Aufnahme neuer Bürger in die Bürgerliste nicht jedes Mal neu ausgehandelt werden können. Bemerkenswert ist, dass er die Gehorsamspflicht gegenüber den Gesetzen nicht allein auf das ungleiche Verhältnis (geometrische Gleichheit) zwischen einem Bürger und der Stadt zurückführt, sondern auf einen »rechtlichen Vertrag«, der »mit einem anderen« geschlossen wurde. Die Legitimität des Gesetzes bedarf demnach der Zustimmung. Platon geht der Vertragsidee aber nicht weiter nach. Anhand des Vertrages wird lediglich gezeigt, dass Gesetzestreue nicht ohne Zustimmung, und das heißt, nicht ohne Vernunfteinsicht aufrechterhalten werden kann. Die Zugehörigkeit zur Bürgerschaft setzt in diesem Sinne voraus, dass der Einzelne »sich mit den Verhältnissen des Staates sowie mit […] den Gesetzen bekannt gemacht hat«. 100 Die Verbindlichkeit des Vertrages wird am zwischenmenschlichen Verhältnis illustriert, weil sie hier primär erfahren wird. Dadurch, dass Platon die Gesetze dann sprechend in den Dialog einbezieht, wird suggeriert, dass die Seele mit sich selbst ebenso verbindlich Verträge abschließen könne wie Menschen untereinander. Keinesfalls soll mit dem Vertragsgedanken, wie bei Lykophron, die Legitimität der Gesetze begründet werden. Diese kann nach Platon nur auf der Idee der Gerechtigkeit beruhen. Daher soll die Vorstellung eines Vertrages als Grundlage von Gesetz und Gerechtigkeit Vgl. ebd., 52. Als Beweis dafür, dass Sokrates als »Vorkämpfer des Rechtes« unbeugsam ist, führt er zwei Tatsachen an. Als Prytane sprach er sich als Einziger gegen die gesetzeswidrige Verurteilung mehrerer Feldherren aus, die bei der Rettung Schiffbrüchiger nach der Seeschlacht bei den Arginusen versagt hatten. Und unter der Herrschaft der Dreißig führte er einen direkten Befehl, der ihn zum Unterstützer der Oligarchen gemacht hätte, nicht aus. Beide Male riskierte er damit sein Leben. Vgl. ebd., 31 f. 99 Es handelt sich um eine »Unterwerfung«, weil der Einzelne gegenüber den Gesetzen nicht das gleiche Recht hat wie diese. Nach dem Gesetz kann es legitim sein, für einen Bürger die Todesstrafe zu fordern, aber der zum Tode Verurteilte darf deshalb nicht das Gemeinwesen vernichten wollen. Vgl. ebd., 50 f. 100 Ebd., 51. 97 98

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in der Politik als sophistische Meinung entlarvt werden. 101 »Ursprünglich« sei das Unrechttun für gut und das Unrechtleiden für schlecht gehalten worden. 102 Diejenigen, die sich weder Vorteile verschaffen, noch dem Unrechttun anderer entkommen konnten, einigten sich darauf, dass »man weder Unrecht tue noch Unrecht leide«. Und damit hätten sie denn den Anfang gemacht zur Gesetzgebung und zu Verträgen untereinander und das vom Gesetze Angeordnete hätten sie als Gesetzliches und Gerechtes bezeichnet. Dies sei denn der Ursprung und das Wesen der Gerechtigkeit, die ein Mittleres sei zwischen dem Besten, nämlich dem straflosen Unrechttun, und dem Schlimmsten, nämlich der Unfähigkeit sich zu rächen, wenn man Unrecht leide. 103

Auch wenn Platon sich ausschließlich darauf konzentriert, die Unzulänglichkeit dieses Gerechtigkeitsbegriffs offenzulegen, wird doch ersichtlich, dass diese Auffassung ausreicht, um den ursprünglichen, ungerechten Zustand, der an Hobbes’ Naturzustand als bellum omnium contra omnes erinnert, zu beenden. 104 Selbst unter der Bedingung, dass das Wesen der Gerechtigkeit missverstanden wird, gelingt es der Gemeinschaft noch, den Auswüchsen willkürlichen, eigennützigen Handelns Grenzen zu setzen. Die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit stelle sich als unumgänglich dar, sofern »die Menschen […] Unrecht tun und Unrecht leiden und beides zu kosten bekommen« 105, also das Unrecht noch als Unrecht erfahren. Platon gelangt gewiss nicht zu vorpositiven Rechten, die ein Einzelner gegen die politische Gemeinschaft geltend machen könnte. Dem antiken Freiheitsverständnis folgend ist der Einzelne auch nach Platon nur in der politischen Ordnung frei. Insofern kann Sokrates die Verteidigung der eigenen Person auch mit der der Gesetze als Inbegriff der Ordnung des Gemeinwesens identifizieren. Möglicherweise ist es der besonderen Situation geschuldet, als Einzelner faktisch außerhalb der politischen Gemeinschaft zu stehen und dennoch das Gesetz der Stadt als Ausdruck einer höheren Ordnung zu bejahen, die Sokrates auf Rechtsprinzipien und -sätze zurückgreifen lässt, die im Kriton zwar keine besondere Bezeichnung erhalten oder schlicht »Gesetz« genannt werden, in der späteren Rechtstradition 101 102 103 104 105

Vgl. Voegelin: Ordnung und Geschichte, Bd. VI, S. 99 ff. Vgl. Plat. rep. II, 2, 358. Ebd., II, 2, 359. Vgl. ebd., II, 2, 359, Anm. 4, S. 442. Ebd., II, 2, 358.

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aber zu natürlichen Gesetzen oder Naturrechten ausgearbeitet werden. Das der griechischen politisch-rechtlichen Tradition fremde Prinzip pacta sunt servanda wird im Dialog immerhin insoweit entfaltet, als eine Rechtsordnung nur bestehen kann, wenn die Bürger dieser zustimmen. Das schließt die Akzeptanz der strafrechtlichen Folgen für Vergehen mit ein. Die Zustimmung kann nur auf freiwilliger Basis erfolgen. Wer sich mit den Gesetzen nicht einverstanden erklären kann, hat die Erlaubnis auszuwandern. Dies wird Sokrates ausdrücklich vom Gesetz gewährt. In diesem Sinne kann von einem »Auswanderungs-« oder »Migrationsrecht« gesprochen werden. Dass dieses Recht im platonischen Werk nicht ausführlicher thematisiert wird, ist den realen politisch-rechtlichen Verhältnissen geschuldet, innerhalb derer die Preisgabe der Poliszugehörigkeit ohne gleichzeitige Aufnahme in eine andere Bürgerschaft einer Bestrafung mit Verbannung gleichgekommen wäre, die zu den schwersten Strafen zählte, die verhängt werden können. Umso erstaunlicher ist es freilich, dass Sokrates die Figur eines solchen Rechts in der Theorie vorwegnimmt. Auch die Erlaubnis, die Gesetze eines Besseren zu belehren, lässt auf ein Handlungsrecht schließen, dessen Bedeutung sich nicht nur darauf erstreckt, vor Gericht Widerspruch einlegen zu dürfen. Vielmehr deckt es sich mit dem Hauptanliegen Platons, die Menschen durch Überredung besser zu machen. Anhand von Kriton wird deutlich, dass Platon sich nicht widerspricht, wenn in den Gesetzen behauptet wird, dass niemand über die Gesetze verfügen darf. Zwischen der Gerechtigkeit in den geltenden Gesetzen und der im Idealstaat besteht kein substanzieller Unterschied. Was die Gerechtigkeit kennzeichnet, ist in Letzterem lediglich offenkundiger. Gerechtigkeit ist, »das Seinige tun und sich nicht in alles Mögliche einmischen«. 106 Jeder soll bei der Tätigkeit bleiben, zu der er »von Natur« befähigt ist. Die »Vielgeschäftigkeit« gilt es zu vermeiden. 107 An die Forderung nach einer Korrelation von Tätigkeit und individuellem Vermögen knüpft Platon den Eigentumsschutz. »Werden sie [die Regierenden, O. B.] bei ihrer Rechtsprechung irgend etwas anderes mehr im Auge behalten als dies, daß niemand einer-

106 Ebd., IV, 10, 433. Zuvor wurde festgestellt: »[U]nmöglich [könne] ein einzelner viele Künste zugleich mit gutem Erfolge betreiben«. Ebd., II, 14, 374. 107 Die Vielgeschäftigkeit ist in platonischer Sicht eines der wesentlichen Kennzeichen der Unordnung, in die die Polis geraten ist. Vgl. Voegelin: Ordnung und Geschichte, Bd. VI, S. 88 f.

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seits sich fremdes Gut aneigne, andererseits des eigenen beraubt werde? – Nichts anderes.« 108 Wie bereits der Argumentation im Gorgias zu entnehmen war, wird das Gerechtigkeitsprinzip durch die Ordnung der Seelenkräfte begründet. Gerecht sein könne nur, wer sich selbst beherrscht (ἐγκράτεια), dessen Vernunft über alle anderen Kräfte der Seele, vor allem die Begierden, gebietet. 109 Die Begierden können nur dann »das Ihrige« leisten, wenn sie von der Vernunft geleitet werden. Dieses Modell der Selbstbeherrschung überträgt Platon im Staat auf zwischenmenschliche, politische Verhältnisse. 110 Den drei Seelenkräften, Vernunft, Mut und sinnliche Begierde entsprechen die drei Stände der Herrscher, Wächter und Erwerbstätigen. Im Metall-Mythos schildert Sokrates, dass Gott den Menschen bei ihrer Erschaffung unterschiedliche Stoffe in die Seelen gemischt hat, den Herrschern Gold, den Wächtern Silber und den Bauern und Handwerkern Eisen und Kupfer. 111 Vor allem von den Herrschern hänge es ab, die Veranlagung eines Menschen zu erkennen, sie dementsprechend zu fördern und jedem seinen gesellschaftlichen Stand zuzuweisen. Nur wenige seien zur philosophischen Erkenntnis und somit zur Herrschaft begabt. 112 Nicht die Abstammung entscheidet, zu welcher Tätigkeit jemand heranerzogen werden soll, sondern dessen Fähigkeiten und Begabungen, also seine Natur. Daher schärft Sokrates den Herrschern ein, dass sie auch ihre Kinder für die niederen Tätigkeiten erziehen sollen, wenn diese nur dazu begabt sind. 113 Die Kritik an der Vielgeschäftigkeit betrifft ausschließlich die Überschreitung der Standesgrenzen. Die Übernahme anderer Aufgaben innerhalb eines Standes schade der politischen Gemeinschaft nicht. Ebenso wie im Gorgias wird im Staat ersichtlich, dass die φύσις nur mit Hilfe der Vernunft erkannt werden kann. Zur umfassenden Vernunfterkenntnis gelangen aber nur wenige. Daher läge für Platon wohl nichts ferner als die Annahme, dass alle Menschen von Natur aus mit Vernunft begabt und diesbezüglich gleich seien. Die ErwerbsPlat. rep. IV, 10, 433. Vgl. Hadot, Pierre: »Selbstbeherrschung«, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, völlig neu bearb. Ausg. des ›Wörterbuchs der philosophischen Begriffe‹ von Rudolf Eisler, Bd. 9, Basel 1995, S. 325. 110 Vgl. Plat. rep. II, 10, 368 f. 111 Vgl. ebd., III, 21, 415. 112 Vgl. Szlezák, Thomas A.: »Psyche – Polis – Kosmos. Bemerkungen zur Einheit des platonischen Denkens«, in: Rudolph (Hg.): Polis und Kosmos, S. 31. 113 Vgl. Plat. rep. III, 21, 415. 108 109

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tätigen müssen so zwingend »das Ihrige« tun, wie die Begierden notwendigerweise von der Vernunft beherrscht werden sollen. Die Bauern und Handwerker dürfen aber nicht gewaltsam unterdrückt und zu ihren Tätigkeiten gezwungen werden. In der Seele und im Staat wird eine Harmonie von Herrschendem und Beherrschtem angestrebt. Die Vernunft unterdrückt die Begierde nicht, sondern richtet sie neu aus. Folglich müssen die Bauern und Handwerker unter der Herrschaft eines Philosophen zufrieden sein. Die Standeszugehörigkeit muss für jeden die beste sein. In dem Maße, wie dies der Fall ist, ist auch das Gemeinwesen in der bestmöglichen Ordnung. Wenn dagegen Bürger Ämter besetzen, ohne über die vorausgesetzten Kenntnisse zu verfügen, sei dies dem Gemeinwohl abträglich. Das Gerechtigkeitsprinzip »jedem das Seine« ist sowohl an der individuellen Natur als auch der Ordnung des Ganzen ausgerichtet. 114 Die Ordnungen von Seele, Polis und Kosmos bedingen einander. 115 Die richtige Ordnung entspricht dem »von Natur Gerechten« (τὸ φύσει δίκαιον). 116 Platon bestimmt die Gerechtigkeit als ein Verhältnis, das auf Harmonie abzielt. Allerdings soll die Rechtsprechung nicht nur das begangene Unrecht ausgleichen, sondern zur Besserung des Menschen beitragen. In dieser Hinsicht knüpfen Sokrates und Platon trotz aller Polemik gegen die bezahlte Wissensvermittlung nahtlos an die Sophistik an. In der Apologie geht Sokrates z. B. davon aus, dass die Richter das unfaire Urteil gegen ihn aufgrund späterer Einsicht bereuen werden. 117 In den Gesetzen bemängelt Platon an der bestehenden Rechtsprechung, dass sie nur gewaltsame Bestrafung nach sich ziehe, aber keinerlei Belehrung. »Denn in ihren Gesetzesbestimmungen verbinden sie nicht den Befehl mit überredender Mahnung, sondern beschränken sich auf die reine Gewalt.« 118 Strafen sind nach Platon nur dann sinnvoll, wenn sie eine Besserung der Seele beVgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 83 ff. Vgl. Brisson, Luc: »Den Kosmos betrachten, um richtig zu leben: Timaios«, in: Kobusch/Mojsisch (Hg.): Platon. 116 Vgl. Plat. rep. VI, 13, 501. Apelt übersetzt τὸ φύσει δίκαιον mit »das wahrhaft Gerechte«. Neschke-Hentschke merkt zum platonischen Begriff des Naturrechts an: »Es handelt sich bei diesem Naturrecht um ein universales Ordnungsprinzip, das Seele, Polis, den sinnlichen und intelligiblen Seinsbereich unter ein und dasselbe Strukturgesetz, die Proportionalität (τὸ κατὰ λόγον) stellt.« Neschke-Hentschke: Politischer Platonismus und die Theorie des Naturrechts, S. 63. 117 Vgl. Plat. apol. 41. 118 Plat. leg. IV, 12, 722. 114 115

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wirken, indem der Täter zur Rechenschaft gezogen wird 119. Weil das bloße Leben aber nicht das Beste ist, sondern nur das vollkommene, folgt aus dem Gebot der Besserung keineswegs etwa eine Ablehnung der Todesstrafe. 120 Anhand des Metall-Mythos und des Gerechtigkeitsgrundsatzes »jedem das Seine« wird ersichtlich, dass die Natur bei Platon nicht bloß eine vorpositive oder vorgesellschaftliche Anlage ist. Erst für den Gerechten bzw. in einem gesetzlich geordneten Gemeinwesen wird sie thematisierbar. Die Natur ist auch eine Bedingung im Sinne von Begabungen, Talenten usw., aber sie ist gleichzeitig und untrennbar davon das Wesen einer Sache, welches sich nur dem Wissenden (σοφός) erschließt. In den Gesetzen kritisiert Platon die sophistische Naturphilosophie, die die Elemente, aus denen alles Übrige – die Seele, Vernunft, Gesetze usw. – entstanden sei, als φύσις kennzeichneten. Mit φύσις ist demnach das Ursprüngliche, Unverfälschte im Gegensatz zu allem von Menschen Gemachten gemeint. »Unter Natur verstehen sie das, was seiner Entstehung nach zuerst da war. Wenn sich aber herausstellen sollte, daß die Seele das Erste ist und daß nicht Feuer oder Luft, sondern eben die Seele das Ursprünglichste ist, so wird man mit vollstem Rechte gerade ihr den besonderen Vorzug zuerkennen von Natur zu sein.« 121 Ein Vertreter der ElementeLehre war bspw. Antiphon. Platon behauptet allerdings, dass die spätere These vom Recht des Stärkeren ebenfalls nur aufgrund der Trennung von φύσις und νόμος habe populär werden können. Aus der Darstellung der sophistischen Position wird Platons eigene ersichtlich, derzufolge φύσις und νόμος zusammengehören. 122 »[W]as die Sittlichkeit anlangt, so bestehe ein Unterschied zwischen dem, was von Natur, und dem, was von Gesetzes wegen lobwürdig ist. Und was vollends das Recht anlange, so gebe es von Natur gar keines, sondern ewig lägen die Menschen darüber mit einander im Streite und bestimmten es bald so, bald wieder anders«. 123 Dem Gesetzgeber falle dagegen die Aufgabe zu, »das Gesetz (als solches) und die Kunst in ihrem Anspruch darauf zu unterstützen, daß sie beide selbst von Vgl. Plat. Gorg. 28, 472. Dazu, dass das Leben nicht das höchste Gut ist, vgl. ebd., 66 ff., 511 ff. Für die Todesstrafe spricht sich Platon z. B. in den Gesetzen aus. Vgl. Plat. leg. IX, 2, 854. 121 Ebd., X, 5, 892. 122 Vgl. Schöpsdau, Klaus: »Theorie des Rechts«, in: Horn/Müller/Söder (Hg.): Platon-Handbuch, S. 183. 123 Plat. leg. X, 4, 889. 119 120

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Natur sind oder nicht geringere Seinskraft haben als die Natur, wenn anders sie wirklich Erzeugnisse der Vernunft sind gemäß der richtigen Ansicht«. 124 Das Gesetz steht nicht im Gegensatz zur Natur, sondern ist Ausdruck der vernünftigen Natur. 125 Auch für Platon ist die Natur etwas Ursprüngliches und Unverfügbares. Sie kann nicht künstlich verändert werden, deshalb muss sie in enger Beziehung zu Gott und den Ideen stehen. Sie ist ebenso wie die Idee kein Konstrukt des Denkens, nicht etwas bloß Ausgedachtes, sondern Erkenntnis des Wesens. Die Vernunft wird bei Platon radikal von den Sinnen, die jeweils nur das Sichtbare, Hörbare, Fühlbare usw. wahrnehmen können, getrennt. 126 Durch Vernunft könne die Seele über die sinnlich erfahrbare Welt hinaus das Gemeinsame erblicken. Was Gesetz, Natur und Kunst sind, erschließe sich nicht den Sinnen, dies würde die »Seinskraft« der Ideen vermindern, sondern nur der vernünftigen Seele.

1.4. Naturrecht Wie kann unter dieser Voraussetzung das »Naturrecht« bei Sokrates und Platon deutlicher bestimmt werden? Wenn die Bedeutung des Begriffes auf »ungeschriebene Gesetze […], die in jedem Lande in derselben Weise gelten« 127, eingeschränkt wird, dann kann auf die in den Memorabilien erwähnten göttlichen Gesetze verwiesen werden. Dazu zählen das Gesetz, die Götter und Eltern zu verehren, die Verpflichtung zur Dankbarkeit gegenüber Wohltätern sowie das Inzestverbot. 128 Göttlich sind diese Gesetze laut Sokrates deshalb, weil sie Ebd., X, 4, 890. Der Gegensatz von Natur und Konvention wird auch im Kratylos aufgegriffen. Erörtert wird, ob die Bezeichnungen den Dingen durch Konvention, und damit, wie Hermogenes annimmt, willkürlich zugeteilt werden, oder ob sie natürliche Abbilder der Dinge sind, wie Kratylos behauptet. Der Gegensatz wird auch auf sprachphilosophischem Gebiet dadurch überwunden, dass die Konvention gemäß der Natur (κατὰ φύσιν) geschehen muss, »daß es«, so Soulez, »der ›naturalisierte‹ Gebrauch ist, der Bedeutung hervorbringt, indem im Austausch von Sprachstücken etwas bezeichnet wird«. Soulez, Antonia: Das Wesen der φωνή. Die Relevanz eines phonetischen Symbolismus für eine Bedeutungslehre: Kratylos, in: Kobusch/Mojsisch (Hg.): Platon, S. 132. 126 Vgl. Plat. Tim. 16, 46 u. 18, 51. 127 Xen. mem. IV, 4, 19. 128 Vgl. ebd., IV, 4, 19 ff. 124 125

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nicht ungestraft verletzt werden können. »[D]enn daß die Gesetze selbst die Strafe enthalten für die, welche sie übertreten, das scheint mir das Werk eines besseren als eines menschlichen Gesetzgebers zu sein.« 129 Es ist also allein der direkte Zusammenhang von Gesetz und Strafe, der die genannten Gesetze zu »göttlichen Gesetzen« erhebt. Auch diese Gesetze beruhen auf einer Kenntnis des Guten. Die göttlichen Gesetze müssen deshalb nicht niedergeschrieben werden, weil sie allgemein bekannt sind und die Wenigen, die gegen sie verstoßen, automatisch bestraft werden. Bedeutsam ist an der Begründung, dass die Göttlichkeit dieser Gesetze in den Memorabilien in erster Linie nicht auf ihre Unabänderlichkeit oder Vernünftigkeit zurückgeführt wird. Sie sind ewig gültig und vernünftig, aber dies sind alle gut begründeten Gesetze, weil Gerechtigkeit und Gesetzmäßigkeit 130, wie oben erläutert, von Platon gleichgesetzt werden, die Idee der Gerechtigkeit aber dem Wandel entzogen ist. Die ungeschriebenen Gesetze sind ebenso wie die geschriebenen nach der platonischen Vorstellungsweise insofern Naturrecht, als ihre Gerechtigkeit auf einer Kenntnis der φύσις beruht. Dieser Grundsatz gilt für alle Gesetze – vorpositive wie positive. Der Gesetzgeber bzw. Philosoph unterscheidet sich von allen anderen nur dadurch, dass er die φύσις des Sittlichen weitaus klarer vor Augen hat, das heißt ihre Prinzipien widerspruchsfrei zu entwickeln vermag. Während Hippias in seiner Argumentation schon darüber stolpert, dass gegen die ungeschriebenen Gesetze gelegentlich auch verstoßen wird, weshalb er an ihrer Beständigkeit zweifelt 131, offenbart sich Platon das System des von Natur aus Rechten (φύσει δίκαιον) ausgehend von der Idee des Guten bis in die zahllosen Verästelungen von Einzelvorschriften, wie sie im Staat und den Gesetzen entwickelt werden. Auch die weniger bedeutsamen Vorschriften oder jene, die real nie vollständig umgesetzt wurden, folgen dem Grundsatz »jedem das Seine« und entsprechen demnach der φύσις. Die Kriterien »geschrieben« oder »ungeschrieben« sowie »überall anerkannt« oder »nirgendwo anerkannt« spielen zur Charakterisierung des Naturrechts für Platon keine Rolle. Bezüglich Ebd., IV, 4, 24. Auch in den Gesetzen wird eine kontraktualistische Konzeption angedeutet. Aus individuellen Entscheidungen forme sich die »allgemeine Geltung« (δόγμα). Vgl. Plat. leg. I, 13, 644. Allerdings solle jedermann der Vernunfteinsicht Folge leisten und der λόγος des Gesetzes von einem Gott oder jemandem, der zur richtigen Erkenntnis gelangt ist, empfangen werden. Vgl. ebd., I, 13, 645. 131 Vgl. Xen. mem., IV, 4, 24. 129 130

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der ungeschriebenen Gesetze ist der Zusammenhang von Gesetz und Strafe lediglich einfacher einzusehen. Was die von Platon geforderten Gesetze und Änderungen der Staatsverfassung betrifft, ist die Erkenntnis ihrer Entsprechung zur φύσις schwieriger, aber nicht weniger naturgemäß. Das Gesetz muss demnach vollständig zum Medium der vernünftigen Natur werden. 132 Zu den nach gemeingriechischer Auffassung befremdlichsten »naturrechtlichen« Forderungen gehört die nach gleicher Teilhabe der Frauen an militärischen und politischen Tätigkeiten. Es gibt […] keine die Staatsverwaltung betreffende Beschäftigung, die der Frau als Frau oder dem Manne als Mann zukäme; vielmehr sind die natürlichen Anlagen auf ähnliche Weise unter beiden Geschlechtern verteilt, und naturgemäß hat die Frau ebenso wie der Mann Anspruch auf alle Beschäftigungen, bei allen aber ist das Weib schwächer als der Mann. 133

Die Behauptung, dass Frauen bei allen Tätigkeiten schwächer seien als Männer, bezieht sich vermutlich auf die physische und psychische Leistungsfähigkeit. Dieser Unterschied steht für Platon aber in keinem Zusammenhang mit der Natur. Aus der Betrachtung der natürlichen Veranlagungen erschließt sich nur die Standeszugehörigkeit. Es ist also auch unter Frauen die eine zum Wachdienst geeignet, die andere nicht. Oder haben wir bei der Auswahl der zum Wachdienst tauglichen Männer ihre natürliche Anlage nicht ebenso beurteilt? […] Es ist also auch die natürliche Anlage zum staatlichen Wächterdienst die nämliche bei Frauen und Männern, nur daß sie schwächer oder stärker ist. […] Müssen aber nicht den gleichen Naturen auch die gleichen Tätigkeiten zugewiesen werden? 134

Eine natürliche Differenz von Mann und Frau gibt es laut Platon nicht. Schwäche und Stärke sind keine Unterscheidungsmerkmale der φύσις. Frauen und Männer sollen daher auch gleichermaßen Zugang zu den gemeinsamen Gütern und allen Ämtern haben. Das schließt alle Möglichkeiten der Bildung und körperlichen Ertüchtigung ein, weshalb Frauen nicht von den dazu dienlichen Künsten ausgeschlossen werden dürfen. Nicht das von Natur aus Vernünftige, sondern die bestehenden Sitten sind im Zweifelsfall naturwidrig. »Es waren […] keine unmöglichen oder frommen Wünschen gleichende 132 Vgl. Neschke-Hentschke: »Politischer Platonismus und die Theorie des Naturrechts«, S. 64. 133 Plat. rep. V, 5, 455 (Herv. O. B.). 134 Ebd., V, 5 f., 456.

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Dinge gesetzlich festgelegt; denn wir gaben das Gesetz ja im Einklang mit der Natur. Vielmehr ist das, was jetzt im Gegensatz dazu üblich ist, wie es scheint, mehr gegen die Natur.« 135 In den Gesetzen erläutert Platon am Beispiel eines Gesetzes über gemeinsame Mahlzeiten, dass bezüglich der Ernährung die unterschiedlichsten Gewohnheiten bekannt sind und sich somit die Frage aufdrängt, inwiefern sie die Tugendhaftigkeit begünstigen oder verfehlen. 136 Je länger eine gesetzliche Ordnung vernachlässigt wird, desto mehr verstärke sich der Widerspruch zur φύσις. Als Beispiel für eine solche durch die Gewohnheit gesteigerte Ungerechtigkeit verweist Platon auf die Geschlechterbeziehung. Denn wenn man es an einer gesetzlichen Ordnung für die Weiber fehlen läßt, so ist damit nicht etwa bloß […] die Hälfte verabsäumt, sondern je weiter das weibliche Geschlecht an Anlage zur Tugend hinter dem männlichen zurücksteht, um so entschiedener kommt auch mehr als das Doppelte gerade auf die Regelung seiner Lebensweise an. Diese zurückgestellte Aufgabe also in die Hand zu nehmen und das Verabsäumte gut zu machen und alle Einrichtungen gemeinsam für Frauen und Männer zu treffen ist ein Gewinn für die Wohlfahrt des Staates. Bisher aber ist das Menschengeschlecht in dieser Beziehung […] unglücklich geleitet worden. 137

Platon bekräftigt in seinem Spätwerk die Idee der Gleichberechtigung. Auch die massive Kritik, die ihm aufgrund dieser These entgegenschlug, konnte daran nichts ändern. Der emanzipatorische Gehalt der platonischen Idee der Gleichberechtigung ist, gemessen an modernen Vorstellungen, begrenzt. Platon nimmt an, dass Frauen im Allgemeinen schwächer seien. 138 Von den positiven Freiheiten profitieren außerdem nur jene, die für den Wächterstand auserkoren sind. Gelegentlich äußert er sich auch abwertend über Frauen. 139 Andererseits wird erklärt, dass die diffamierenden Wertungen nur aufgrund einer fehlenden Berücksichtigung der Frauen durch das Gesetz zutreffen. [F]ür die Weiber hat unverantwortlicherweise die Gesetzgebung keine Sorge getragen […], sondern gerade dasjenige der beiden Geschlechter, das als das schwächere begreiflicherweise auch weit hinterhältiger und verschlage-

135 136 137 138 139

Ebd., V, 6, 456. Vgl. Plat. leg. VI, 22, 782 f. Ebd., VI, 21, 781. Siehe auch Plat. rep. V, 6, 457; Plat. Tim. 14, 41 f. Vgl. bspw. Plat. rep. I, 22, 350, III, 2, 387 f., III, 8, 395, III, 10, 398, V, 15, 469.

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ner ist, das weibliche nämlich, ist zu Unrecht unberücksichtigt geblieben, weil der Gesetzgeber wegen der Schwierigkeit hier Ordnung zu schaffen, sich an diese Aufgabe nicht wagen wollte. In Folge dieser Unterlassung ist bei euch nun vieles liegen geblieben, womit es weit besser bestellt sein würde als jetzt, wenn es eine gesetzliche Regelung gefunden hätte. 140

Die Äußerung, dass das weibliche Geschlecht hinterhältiger und verschlagener »ist« 141, bestätigt also nicht die Vorurteile, ebenso wenig wie die nachfolgende Feststellung, dass es gewohnt sei, »in der Verborgenheit und im Dunkel zu leben«. 142 Im Gegenteil, der Istzustand wird als ein gewordener dargestellt. Die Frauen sind nicht aufgrund einer natürlichen Veranlagung schlecht, zumal diese dieselbe ist wie bei den Männern, sondern der unzureichenden Gesetzgebung. Die schlechten Charaktereigenschaften wären mit den Tugenden, über die die Wächterinnen verfügen sollen, unvereinbar und selbstverständlich würden die Frauen in diesem Stand kein Leben mehr in der Sphäre des οἶκος führen. Im Wächterstand gibt es weder familiäre Strukturen noch Privateigentum. Die traditionellen, griechischen Familienstrukturen, nach denen Frau und Kinder »Besitz« des Hausherrn sind, sollen ersetzt werden durch die Frauen- und Kindergemeinschaft. Platon verspricht sich von der Vergemeinschaftung des »Besitzes« eine Vereinheitlichung der Interessen, den Schutz der Polis vor politischem Zwiespalt und eine Verminderung von gesellschaftlichen Streitigkeiten aller Art. [V]on Rechtshändeln und Anklagen wider einander wird bei ihnen so gut wie gar nicht die Rede sein; denn sie besitzen ja nichts zu eigen als ihren Leib, alles andere ist gemeinsam. Daher bleiben sie doch wohl auch verschont von all den Zwistigkeiten, die über den Besitz von Geld oder Kindern und Verwandten unter den Menschen entstehen? 143

In den Gesetzen wird die Idee der »Weibergemeinschaft« zwar zurückgenommen, aber der Haushalt wird gesetzlichen Bestimmungen Plat. leg. VI, 21, 780 f. Von modernen emanzipatorischen Ansichten trennt Platon auch, dass ihm die Vorurteile gegenüber Frauen nicht als solche erscheinen. Die Erkenntnis, dass Hinterhältigkeit und Verschlagenheit nicht zu einem vermeintlichen Wesen der Frau gehören, wird nicht als Norm weiterentwickelt. Der normativ gewollte Zustand bestimmt also nicht den Blick auf den bestehenden. Das Fehlen einer normativen Perspektive kann damit erklärt werden, dass in der griechischen Sprache eine Differenz von Sein und Sollen nicht existiert. Vgl. Anm. 187 in diesem Kap. 142 Vgl. Plat. leg. VI, 21, 781. 143 Plat. rep. V, 12, 464. 140 141

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unterworfen und die Frauen erhalten die gleiche Erziehung wie die Männer. 144 Platon betont, dass auch diese Konzeption gegen alle gesellschaftlichen Widerstände durchgesetzt werden muss: Wenn die Sache an sich keine Unmöglichkeit ist, so meine ich, ist es die größte Torheit, die man jetzt hier zu Lande mit ansehen muß, daß nicht alle insgesamt, Weiber und Männer, mit all ihrer Kraft einmütig den nämlichen Beschäftigungen obliegen. Denn durch diesen Gegensatz der Ziele und Leistungen wird der Staat so ziemlich um die Hälfte dessen herabgesetzt, was er als Ganzes leisten könnte. Er wäre der doppelten Leistung fähig. Und das ist doch ein höchst auffälliger Fehler für einen Gesetzgeber. 145

Es darf nicht übersehen werden, dass Platons Vorstellung von Gleichberechtigung durch die Einheit der Tugenden begründet wird und keineswegs durch die Annahme, dass alle Menschen aufgrund ihrer Gattungszugehörigkeit gleich seien. Für die Frage nach dem richtigen Leben gibt es keine geschlechtsspezifischen Antworten, daher werden von den Geschlechtern dieselben »Ziele und Leistungen« gefordert. Alle Gesetzesvorschriften, die zur Besserung der Menschen dienlich sind, können bei Platon dem von Natur aus Rechten (φύσει δίκαιον) 146 zugeordnet werden. Dafür spricht auch, dass er die guten Gesetze allgemein für göttlich hält und keinesfalls nur die ungeschriebenen – letzteres könnte irrtümlicherweise im Anschluss an die Auseinandersetzung mit Hippias in den Memorabilien angenommen werden. Denn es gibt kein Wissensfach, das in Bezug auf bessernde Wirkung auf den Lernenden dem überlegen wäre, was die Schriften über Gesetzgebung, die wirklich guten natürlich meine ich, bieten. Wäre dem nicht so, so würde das göttliche und wunderherrliche Gesetz mit Unrecht seinen Namen tragen, der der Vernunft verwandt ist. 147

Daraus folgt allerdings nicht, dass jede sinnvolle Norm, als Gesetz niedergeschrieben werden muss. Übermäßige Pedanterie bei der Gesetzgebung könnte den Gesetzesgehorsam insgesamt beeinträchtigen. 148 Erst dann, wenn sich die Bürger an eine bessere Gesetzgebung gewöhnt haben, sollte zur weiteren Besserung auch die Gesetzgebung verfeinert werden. Die Frage, welche Gesetze niedergeschrieben wer144 145 146 147 148

Vgl. Plat. leg. V, 10, 739 f. und VI, 18, 775 f. Ebd., VII, 11, 805. Vgl. ebd., X, 4, 889. Ebd., XII, 8, 957. Platon spielt hier deutlich auf das Fragment B 114 Heraklits an. Vgl. ebd., VII, 1, 788.

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den sollen, hänge davon ab, ob in einem Gemeinwesen schon gerechte Sitten herrschen oder den Bürgern noch anerzogen werden müssen. Platons Naturrechtsbegriff hat also dieselbe Reichweite wie die Gerechtigkeitslehre. Die Übereinstimmung von Gerechtigkeit und Gesetz kann durch einen Rekurs auf die φύσις überprüft werden, aber das Naturrecht wird noch nicht in der Eingrenzung auf vorpositive oder ungeschriebene Gesetze gedacht, die eine Grundlage zur Kritik der gegebenen Verhältnisse böten. Insofern kommt auch nicht die Forderung auf, die Gesetzeswirklichkeit vorpositiven Naturrechten anzupassen. Zu konstatieren ist lediglich, dass die realen Gesetzgebungen mehr oder weniger – im Falle Spartas mehr, im Falle Athens weniger – der idealen Ordnung im Staat bzw. den Gesetzen entsprechen. Je vernünftiger die Gesetze gegeben oder eine Gesetzgebung reformiert wird, desto mehr wird das Naturrecht darin umgesetzt. Wie oben bereits angeführt wurde, kann eine Idee jedoch nie vollständig realisiert werden. Die reale Gesetzgebung bleibt ein Schatten des Ideals. Im 7. Brief erläutert Platon das Verhältnis von Idee und Realität an einem anschaulichen Beispiel. Ein Kreis ist »ein sprachlich bezeichnetes Ding«, das »allseitig von den Endpunkten bis zum Mittelpunkt die gleiche Entfernung hat«. 149 Jedes hergestellte Rad oder jeder gezeichnete Kreis ist nun aber nicht absolut rund, sondern »gerät überall in das Gebiet des Geraden«. 150 Was ein Kreis ist, kann demnach nur mit Hilfe der Vernunft erkannt werden. Platon entwickelt keine gesonderte Naturrechtslehre, er ist ausschließlich daran interessiert, der Seele einen Weg zur Vervollkommnung aufzuzeigen. Die Standardthemen einer politischen Theorie – Verfassungen, Gesetze, Institutionen – werden von ihm im Staat eher am Rande berührt, stattdessen steht die Erziehung zur Tugend im Zentrum. Wer einmal die vollkommene Tugend erlangt hat, begeht kein Unrecht mehr. So wie ein Musiker als solcher nicht unmusikalisch sein kann und andere nicht unmusikalisch machen kann, begeht auch der Gerechte kein Unrecht oder stiftet andere dazu an. 151 Eine von der Tugendlehre getrennte Naturrechtslehre würde Normen vorschreiben, aus denen hervorginge, was jemand nicht tun darf, nicht, was er nicht tun kann. 152 Gerechtigkeit, Gesetz und Ordnung sind für 149 150 151 152

Plat. epist. 342. Vgl. ebd., 343. Vgl. Plat. rep. I, 9, 335. Vgl. Neschke-Hentschke: Politik und Philosophie bei Plato und Aristoteles, S. 95.

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Platon aber vorrangig Auszeichnungen der Seele, außerhalb dieser haben sie keine Realität. Für den tugendhaften Herrscher folgt daraus, dass seinem Handeln keinerlei äußere Beschränkungen auferlegt werden. Er kann alles tun, sofern er seine Seele nicht durch ein Unrecht befleckt oder dem Gemeinwohl zuwider handelt. Um des Guten willen darf der Regent täuschen, lügen 153 und Zwang ausüben. Nach Platon nimmt er damit aber nicht ein kleineres Übel für ein größeres in Kauf. Auch das kleinere Übel bliebe ein Übel und würde der Seele schaden. Lüge oder Zwang sind eher mit der bitteren Medizin zu vergleichen, die unter Umständen allein zur Heilung verhilft. Als »Lüge« wird bspw. der oben erwähnte Metall-Mythos bezeichnet, der es allen erleichtern soll, den ihnen zugemessenen Stand zu akzeptieren. Welzel erklärt dazu: »Zum erstenmal wird hier der verhängnisvolle Satz, daß der Zwang zum ›Guten‹ auch sittlich gut und zulässig ist, philosophisch begründet.« 154 Welcher Stellenwert Platon im Rahmen der Geschichte der Menschenrechte zukommt, lässt sich bezüglich einzelner Normvorstellungen abschließend schwer beurteilen. Aufgrund der Rechtfertigung eines Zwangs zum Guten, seines Festhaltens an der geometrischen Gleichheit, der fehlenden Kritik an der Sklaverei sowie der im Staat geforderten Menschenzucht durch Auslese der Besten behauptet bspw. Tönnies, dass Platon nichts zum »moralischen Fortschritt« beigetragen habe. 155 Zu einem ähnlichen Schluss kommen Wolgast 156 und Kühnhardt. 157 Oestreich kritisiert im Anschluss an Welzel, dass Platon die Begabung zur Vernunft auf »eine kleine Schar höchstqualifizierter Menschen« eingrenzt. 158 Während einige Autoren behaupten, dass die Gerechtigkeitsbestimmung »jedem das Seine« der Legitimierung politisch-rechtlicher Ungleichheiten diene, erklärt Neschke-Hentschke, dass die Idee der natürlichen Gerechtigkeit bei Platon die der distributiven Gerechtigkeit bei Aristoteles vorwegVgl. Plat. rep. III, 21, 414, V, 8, 459. Plat. leg. II, 8, 663 f. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 25. Möglicherweise ist bei Platon aber nicht ein äußerer physischer Zwang gemeint, sondern das Zwingende einer philosophischen Beweisführung (im Gegensatz zu Überzeugung und Überredung im politischen Bereich). Siehe auch Kap. VI.2., Anm. 138. 155 Vgl. Tönnies: Die Menschenrechtsidee, S. 26. 156 Vgl. Wolgast: Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte, S. 12. 157 Vgl. Kühnhardt: Die Universalität der Menschenrechte, S. 41 f. 158 Vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 24; Oestreich: Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, S. 15. 153 154

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nimmt. »Die natürliche Gerechtigkeit besteht darin, Kompetenz und Handlungsspielraum einer Person, bzw. mehrerer Personen untereinander in ein gleiches proportionales Verhältnis zu bringen.« 159 Platon stehe daher am Anfang der Naturrechtstradition. Ishay meint, dass Sokrates und Platon gegen den Relativismus der Sophisten für einen »universal view of human goodness and, in a sense, human rights« plädiert und somit eine Kerndebatte um Menschenrechte vorweggenommen hätten. 160 Mit der Idee der Gütergemeinschaft habe er den »socialist or communist view of human rights« antizipiert. Außerdem habe er gefordert, dass unter den Griechen keine Stadt die andere versklaven dürfe und Ähnliches für das Verhältnis zu den Barbaren gelte. Die Sklaverei werde im Staat nicht thematisiert, dies lasse auf eine »abolitionistische« Haltung schließen. 161 Revolutionär sei außerdem die Forderung nach einer politischen Betätigung und Erziehung der Frauen. 162

Neschke-Hentschke: »Tradition und Identität Europas«, S. 21. Vgl. Ishay: The History of Human Rights, S. 23, 38, 43, 53, 58. 161 Diese These stimmt vermutlich nicht, denn schon im Politikos wird gesagt, dass Unwissende in die Sklaverei überführt werden sollten. Vgl. Plat. polit. 46, 309. Im Zusammenhang mit der Erörterung der demokratischen Verfassung wird kritisiert, dass sich die Sklaven ebenso frei verhielten wie ihre Besitzer. Vgl. Plat. rep. VIII, 14, 563. Und in den Gesetzen erklärt Platon, dass die landwirtschaftlichen Arbeiten ausschließlich von Sklaven auszuführen sind. Die Unterscheidung von Freien und Sklaven sei »notwendig«. Vgl. Plat. leg. VII, 13, 806 und VI, 19, 777. Siehe auch Knoll, Manuel: »Der Status der Bürger, der Frauen, der Fremden und der Sklaven in Magnesia«, in: Horn, Christoph (Hg.): Platon. Gesetze – Nomoi, Berlin 2013, S. 155 ff. 162 Die antiken Vorstellungen von Gleichberechtigung dürften für moderne Gleichberechtigungsbestrebungen jedoch kaum relevant gewesen sein. Die Idee widersprach in der Tat den realen gesellschaftlichen Verhältnissen, aber sie war nicht abstrakt. Und dies nicht nur deshalb, weil Platon die Politik und die Gesetze als konkrete Entwürfe für die Gesetzgebung betrachtete, sondern weil die Philosophie in der Antike generell als »Lebensform« verstanden wurde. (Voegelin betont, dass es nicht um die Konstruktion eines Idealstaates geht, sondern einen direkten Angriff auf ungerechte politische Verhältnisse. Er beklagt, dass die »militante Konkretheit der dikaiosynê« in der Theorie nicht zur Kenntnis genommen wird. Vgl. Voegelin: Ordnung und Geschichte, Bd. VI, S. 87 ff., insb. 89.) Die Philosophen, die die Idee der Gleichberechtigung teilten, trachteten nach einer entsprechenden Haltung im gesellschaftlichen Leben, auch dann, wenn sich die Idee politisch nicht realisieren ließ. Die Gleichberechtigung wurde zumindest unter den Sokratikern praktiziert, die Antisthenes folgten, und von diesen an die Kyniker vermittelt. Diogenes Laertius schreibt, dass Antisthenes die sokratische Ansicht vertrat, dass »[f]ür Mann und für Frau […] die Tugend die nämliche [ist]«. Diog. Laert. VI, 1, 12. In die Gemeinschaft der Kyniker wurde z. B. die Philosophin Hipparchia aufgenommen. Vgl. ebd., VI, 7, 96–98. Laut Diogenes Laerti159 160

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Sowohl die kritisch bemängelnden als auch die positiv wertenden Anmerkungen zu Platons Beitrag zur Naturrechts- bzw. Menschenrechtsgeschichte können noch um einige weitere Punkte ergänzt werden. Die Gütergemeinschaft kann im Gegensatz zur Ansicht Ishays auch als Negierung des Rechts auf Eigentum verstanden werden. An den Erziehungsvorschriften kann moniert werden, dass sie auf eine umfassende Zensur in der musischen Bildung hinauslaufen, mit der genau diktiert wird, was gelehrt werden darf und was nicht. 163 Die überlieferte Dichtung müsste bspw. umgeschrieben werden, wenn von sittlichem Fehlverhalten der Götter berichtet wird, da die Götter laut Platon kein Unrecht begehen. Für die Musik wird genau festgelegt, welche Tonarten gespielt werden dürfen und welche Instrumente zu verwenden sind. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass der Einzelne dem Gemeinwesen nicht völlig ausgeliefert ist. Wie ich oben bereits erläutert habe, hat ein Bürger prinzipiell die Erlaubnis auszuwandern, sofern er mit der Gesetzgebung nicht einverstanden ist. Es ist wohl der Erfahrung des Prozesses gegen Sokrates geschuldet, dass Platon außerdem einige Vorkehrungen trifft, um Angeklagte vor willkürlichen Verurteilungen zu schützen. Wie schon Hesiod fordert er, dass die Richter unparteiisch sein müssen. »Denn nicht dazu hat der Richter seinen Platz eingenommen, um nach Gunst des Rechtes zu walten, sondern um unparteiisch den Sachverhalt festzustellen.« 164 Der Richter muss sein Amt streng nach den Gesetzen ausüben. Platon verlässt sich allerdings nicht allein auf den Gerechtigkeitssinn der Richter. Für den Gesetzesstaat legt er fest, dass für die Klärung der Rechtsfälle »Zeit und Geduld und häufige Verhöre« vonnöten sind. Institutionell wird dieser Forderung dadurch Rechnung getragen, dass gegen ein Urteil zweimal bei der nächsthöheren Instanz Berufung eingelegt werden us kritisierte auch Zenon das Herrschaftsverhältnis zwischen Mann und Frau. Vgl. Kap. V.2.3. 163 »Sind es […] etwa nur die Dichter, die wir unter Aufsicht stellen und nötigen müssen das Bild der guten Sinnesart zum Leitstern ihrer Gedichte zu machen, wenn sie überhaupt bei uns dichten wollen, oder müssen wir diese Aufsicht auch auf die übrigen Meister ausdehnen, indem wir sie hindern dies Unsittliche, Zuchtlose, Niedrige und Mißgestaltete weder in Bildern lebender Wesen noch in Gebäuden noch in sonstigen Erzeugnissen der Kunst hervortreten zu lassen? […] – Ja, das wäre weitaus die beste Erziehung.« Plat. rep. III, 12, 401. Eine Zensur der Dichtung fordert Platon, weil die Dichter den Göttern schlechte Eigenschaften zusprechen. Selbiges bemängelte schon Xenophanes. Vgl. Xenophanes: Fragmente, 21 B 11, 12, 14–16, 23. 164 Plat. apol. 35.

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kann. 165 Die Unparteilichkeit der Richter soll außerdem dadurch gewährleistet werden, dass die Richter von den streitenden Parteien wie Beamte gewählt werden. In letzter Instanz können die Richter selbst bei den Gesetzeswächtern im Falle der Rechtsbeugung angeklagt werden. »Falls aber jemand einen der Richter beschuldigt, daß er vorsätzlich das Recht gebeugt habe, so soll er ihn vor den Gesetzeswächtern anklagen«. 166 Bemerkenswert ist, dass Platon die Rechtsbeugung von der Vorsätzlichkeit abhängig macht – dieser Grundsatz bestimmt noch heute die Definition des Bundesgerichtshofs für diesen Straftatbestand. Verhindert wird dadurch, dass den Richtern nach einem Fehlurteil sofort der Vorwurf der Rechtsbeugung droht. Im Hinblick auf die von Platon geforderte Unparteilichkeit der Richter liegt ein Vergleich mit Art. 10 der Allgemeinen Erklärung nahe, in dem es heißt, dass »[j]eder […] Anspruch auf ein gerechtes und öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht« hat. Natürlich kann dieser Anspruch im Gesetzesstaat nur von Bürgern geltend gemacht werden und nicht von allen Menschen, außerdem wird nach dem Prinzip der geometrischen Gleichheit geurteilt. Außer Frage steht auch, dass es Platon primär nicht um den Schutz individueller Rechte geht, sondern um den Erhalt der Poliseinheit, die durch Rechtsstreitigkeiten gefährdet werden kann. Dies wird dadurch unterstrichen, dass er für Fälle einer Schädigung des öffentlichen Wohls einen besonderen Gerichtshof einsetzt. Insofern über Fälle, die den »Staat«, also die Gesamtheit der Bürger, betreffen, aber auch über Privatprozesse das Volk als Ganzes richten soll (in diesem Punkt stimmt Platons Modell eines Gesetzesstaats mit den realen Verhältnissen der athenischen Polis überein) sind subjektive Rechte undenkbar. Gegenüber der öffentlichen Sphäre existiert keine geschützte Rechtssphäre. Die rechtsstaatlichen Vorkehrungen in den Gesetzen sind vielmehr in dem Sinne eine Neuerung, als die Gesetze ihre Geltungskraft nicht aus dem wandelbaren Gerechtigkeitssinn der Bürgermenge beziehen, sondern aus der unwandelbaren Vernunft. 167 Ein Prozess soll daher nicht durch die Anzahl der Zeugen entschieden werden – eine im griechischen Rechtswesen übliche Praxis – sondern durch die Aufklärung des Tatbestandes. Dieser Forderung wird dadurch Nachdruck verliehen, dass in Prozessen, in denen 165 166 167

Vgl. Plat. leg. VI, 13, 766 f. Siehe auch Schöpsdau: »Theorie des Rechts«, S. 184 f. Ebd. (Platon), VI, 13, 767. Vgl. ebd., IV, 6, 713–714 u. VIII, 5, 835.

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Der Anfang des Naturrechtsdenkens bei Platon

die Richter aus dem gesamten Volk ausgelost werden, die Aufgabe der Klärung des Tatbestandes drei Gesetzeswächtern zufällt, auf die sich Kläger und Beklagter vorab zu einigen haben. Diese vertreten zwar nicht die eine oder andere Seite und können daher nicht als Anwälte bezeichnet werden, sie sind aber eine wichtige prozessrechtliche Vermittlungsinstanz, da sie als Gesetzeswächter, das heißt im besseren Wissen der Gesetzeslage, die Untersuchung des Falles leiten. Platon ist vielleicht davon ausgegangen, dass gerade jene Gesetzeswächter häufiger in die Prozesse eingeschaltet werden, die im Ruf stehen gerecht zu sein. Zumindest verspricht er sich vom Gesetzesstaat, dass den gesetzestreuen Bürgern mehr Anerkennung zukommen wird als denjenigen, die sich im Krieg oder in Olympia ausgezeichnet haben. 168 Vor allem in den kritischen Beurteilungen wird übersehen, dass die Frage nach einer vernunft- und damit naturgemäßen Rechtsordnung erstmalig durch Platon gestellt wird. 169 So unterschiedlich die Auffassungen bezüglich des Naturrechts in der Tradition auch ausfallen mögen, seit Platon existiert der Anspruch, das von Natur aus Rechte möglichst unabhängig von Meinung, Erfahrung und Gewohnheit rein aus der Vernunft herzuleiten. Die Forderung nach einer Menschenzucht bezeugt ebenso wie die nach einer Güter-, Weiber- und Kindergemeinschaft, dass der Einzelne bei Platon in keinerlei Weise bezüglich subjektiver Ansprüche gegenüber der Gemeinschaft gedacht wird. Der Bürger hat weder ein Recht auf sein Leben oder seinen Körper noch auf seinen Besitz. Hierbei handelt es sich nicht nur um einen »Vorrang« der Gemeinschaft gegenüber dem Individuum, sondern im Hinblick auf das Individuum um eine noch nicht bekannte Subjektvorstellung. Ein Vorrang, Mangel oder Fehlen würde immer noch eine Verhältnismäßigkeit zwischen zwei Perspektiven voraussetzen, die in der Antike noch nicht ausgebildet sind. Dass Platon die gemeinschaftszentrierte Sichtweise, die das Denken bis zur Neuzeit dominiert, radikal, das heißt widerspruchsfrei, zur Entfaltung bringt, wirkt befremdlich. Die Gemeinschaft ist per se das Ursprünglichere. Daher ist die platonische Auslieferung des Einzelnen an das Gemeinwesen auch nicht vergleichbar mit der aliénation totale Rousseaus. Letzterer liegt die Frage zugrunde, wie ein GeVgl. ebd., V, 2, 729. Vgl. Neschke-Hentschke: »Politischer Platonismus und die Theorie des Naturrechts«. 168 169

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Δκαιοσύνη bei Platon und Aristoteles

meinwille aus Einzelwillen konstituiert werden kann – eine Frage, die im platonischen Denkhorizont nicht aufkommen kann. Dennoch gehen vom platonischen Denken entscheidende Anstöße zur Subjektivierung aus. Ausgehend von der Idee einer in jedem Lebewesen wirkenden energetischen Instanz, der Seele (ψυχή) bzw. Weltseele (ψυχή τοῦ παντός), die nicht Bewegtes, sondern selbstbewegt ist 170, kann der Einzelne durch die »Sorge um die Seele« 171 zu einer selbstbeherrschten, gerechten Lebensführung gelangen. 172 Indem Platon die Gerechtigkeit nicht allein in den gesellschaftlichen Strukturen, sondern ebenso innerhalb der Seele verortet, wird die Sittlichkeit fest im menschlichen Wesen verankert. Apelt merkt dazu an: »Es liegt […] darin das stille Bekenntnis, daß niemand Ehre und Gerechtigkeit, diese Eckpfeiler der Sittlichkeit, verleugnen kann, ohne sich vor sich selbst und anderen zu erniedrigen.« 173 In diesem Zusammenhang gelangt Platon bereits zu der Erkenntnis, dass der Seele eine besondere Würde zukommt, derer sie nicht durch tugendloses Handeln beraubt werden darf. Da in der gesamten platonischen Konzeption die Tugend nie losgelöst von der Gerechtigkeit und den Gesetzen gedacht wird, ist auch die Beachtung der menschlichen Würde eng mit der Einhaltung der Gesetze verbunden. 170 »Wenn nun offenbar das von sich selbst Bewegte unsterblich ist, so wird man unbedenklich gerade darin das Wesen und die Begriffsbestimmung der Seele suchen dürfen. Denn jeder Körper der seine Bewegung von außen erhält ist seelenlos, aber einer der sie von innen erhält, aus sich selbst, ist beseelt: dies eben ist die Natur der Seele.« Plat. Phaidr. 24, 245. Die Seele als im Einzelnen wirkende Vermögensinstanz kann bei Platon nicht unabhängig von der Weltseele thematisiert werden. Zur Vielschichtigkeit des ψυχή-Begriffs vgl. Müller, Jörn: »Psychologie«, in: ders./Horn/Söder (Hg.): Platon-Handbuch, S. 142–154. 171 Vgl. Plat. apol. 17, 29. 172 Welzel weist darauf hin, dass die von Sokrates geforderte Selbstbeherrschung nicht mit dem späteren Autonomiegedanken verwechselt werden dürfe. Vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 19. Rappe betont dagegen, dass Platon die Grundlage für den Autonomie-Gedanken formuliert habe, indem er die Idee der Selbstbeweglichkeit der Seele mit der der ethischen Selbstverantwortung verknüpft habe. Der menschlichen Seele werde somit die Fähigkeit zugesprochen, frei wählen zu können. Vgl. Rappe: »Menschenrechte und die Anfänge des Naturrechts«, S. 225 f. Dem widerspricht jedoch die Ansicht Platons, dass niemand freiwillig ein Unrecht begeht. Vgl. Plat. Gorg. 22 f., 466 f.; Plat. Men. 10, 78. Aus der Selbstbeweglichkeit der Seele folgt keine Selbstgesetzgebung, Sokrates zieht die Möglichkeit ungerechter Gesetze nicht einmal in Erwägung. Zu beachten sind auch die Differenzen von platonischer ψυχή und christlichem Seelenbegriff. Vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 18 f. und 21. 173 Plat. Gorg. S. 4 (Einleitung).

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[W]er nicht alles, was der Gesetzgeber durch genaue Einzelbestimmungen für schimpflich und verwerflich erklärt, auf alle Weise zu meiden, und was er für gut und schön erklärt, mit allen Kräften zu erlangen strebt, der hat keine Ahnung davon, daß jeder Mensch mit allen Handlungen, die solcher Gesinnung entstammen, seine Seele, dies Göttlichste, was er hat, auf das Schmählichste entehrt und ihrer Würde beraubt. 174

2.

Aristoteles – die Natur ist das Ziel

Im Gegensatz zu den Sophisten haben Sokrates und Platon ihre Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit ontologisch begründet und damit den Anschluss an die anfänglichen Denker Heraklit und Parmenides gefunden. Einen neuen Anlauf zur Ergründung des Seins unternimmt Aristoteles (384–322). Die Trennung von Idee und Realität hatte bei Platon nicht nur zu der Annahme geführt, dass die Ideen seiender sind als die realen Dinge, sondern nach Aristoteles’ Ansicht auch dazu, dass das Sein gänzlich auf die Seite der Idee geschlagen wird. 175 Gegenüber der platonischen Idee sind die realen Gegebenheiten nur etwas Schattenhaftes, Unseiendes. 176 Der gezeichnete Kreis oder das hergestellte Rad sind nicht nur weniger rund als der ideale, sie sind an sich überhaupt keine Kreise. Aus der Dissoziation von Idee und Realität folgt aber nicht nur eine Verkennung des in der Welt Begegnenden, sondern im Grunde genommen auch der Idee, die trotz ihres hohen Seinsranges ebenfalls als etwas Vereinzeltes, für sich Bestehendes gedacht wird und somit letztlich nicht das Sein, sondern Seiendes repräsentiert. Aristoteles merkt dazu an: »›Sein‹ selbst kann doch nicht ein einzelnes Seiendes sein«. 177 Das Sein müsse vielmehr alles Seiende und das Nicht-Seiende, sofern es ist 178, umschließen. Während laut Platon die sinnliche Wahrnehmung für den Erkenntnisprozess, der als Wiedererinnerung 174 Plat. leg. V, 1, 728 (Herv. O. B.). Müller weist darauf hin, dass das göttliche Element im Menschen für Platon dessen »Würde und Sonderstellung im Kosmos begründet«, gemäß dem Metallmythos aber nur Wenigen die Verähnlichung mit Gott möglich ist. Vgl. Müller, Jörn: »Platon«, in: Gröschner, Rolf/Kapust, Antje/Lembcke, Oliver W. (Hg.): Wörterbuch der Würde, München 2013, S. 15. 175 Zur Kritik an Platon vgl. bspw. Aristot. met. I, 6, 987b oder I, 9, 991af. 176 Vgl. Heidegger: »Vom Wesen und Begriff der Φύσις«, S. 273. 177 Aristot. phys. I, 3, 186b. 178 Zu der Erkenntnis, dass auch das Nicht-Seiende nur als etwas Seiendes thematisiert werden kann vgl. Plat. soph. 42 f., 258.

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und insofern als reine Verstandesleistung vorgestellt wird, nur störend ist, setzt Aristoteles bei den Sinnendingen an und versucht, das Bestehen der Idee anhand des Phänomens selbst kenntlich zu machen. Die Idee existiert nicht vor der Sache, sondern ist in ihr als Form präsent, wobei die Einsicht in die Idee schrittweise erfolgt. Die sinnliche Wahrnehmung ermöglicht zunächst die Bildung von Vorstellungen, die mittels der Erinnerung festgehalten werden. Die Befähigung dazu teilen die Menschen mit den Tieren. Die Erinnerung erlaubt es dem Menschen, Ursache-Wirkungs-Beziehungen festzustellen, das heißt, Erfahrungen zu erlangen, welche ihrerseits die Voraussetzung für Wissenschaft und Kunst sind. 179 Aus dem Vergleich ähnlicher Erfahrungen entstehen Begriffe. Die Erfahrung z. B., dass ein bestimmtes Heilmittel einem Kranken geholfen hat, wird dann zum Wissen, wenn die Krankheit bezüglich ihrer Symptome und die Menschen, denen das Heilmittel hilft, bezüglich ihrer körperlichen Verfassung durch allgemeine Begriffe definiert worden sind. Während sich der Erfahrene an konkreten einzelnen Fällen, am »Das«, orientiert, geht der Wissende von allgemeinen Begriffsbestimmungen aus und kennt »das Warum und die Ursache«. 180 Erst auf der Ebene begrifflicher Verallgemeinerungen wird das Wissen lehrbar. Je mehr Erfahrungsmaterial herangezogen wird, wobei es sich um Beobachtungen, Aussagen oder Lehrmeinungen handeln kann, desto stimmiger die Begriffsbildung. 181 Das Wissen kann die Erfahrung aber nicht ersetzen, weil es nur die Kenntnis vom Allgemeinen nicht aber vom Besonderen hat. 182 Diese Einsicht ist insbesondere für die praktische Philosophie relevant. Hier kommt es laut Aristoteles nicht allein auf die Erkenntnis an, wie bspw. in der Mathematik, sondern auf Klugheit, die sich nur durch langjährige Erfahrung gewinnen lässt. Die Mathematik sei der Jugend daher lehrbar, Philosophie und Moral seien es aber nicht. 183 Dementsprechend 179 »Wissenschaft aber und Kunst gehen für die Menschen aus der Erfahrung hervor; denn ›Erfahrung brachte Kunst hervor‹, sagt Polos mit Recht, ›Unerfahrenheit aber Zufall‹.« Aristot. met. I, 1, 981a. 180 Vgl. ebd. 181 Es wird bspw. berichtet, dass Aristoteles und seine Schüler 158 Verfassungen griechischer Poleis gesammelt haben. Vgl. Diog. Laert. V, 1, 27. Erhalten ist davon allerdings nur die athenische Verfassung. 182 Zu Aristoteles’ »epistemischer Toleranz« vgl. Höffe, Otfried: Aristoteles, 3., überarb. Aufl., München 2006, S. 42. 183 Vgl. Aristot. eth. Nic. IV, 9, 1142a.

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merkt Aristoteles zu Beginn der Nikomachischen Ethik an, dass diese nicht dem Erkenntnisinteresse, sondern der Erlangung der Tugend gewidmet ist. Da die gegenwärtige Untersuchung keine bloße Erkenntnis verfolgt, wie es sonst bei den Untersuchungen der Fall ist (denn wir betrachten die Tugend nicht, um zu wissen, was sie ist, sondern um tugendhaft zu werden; sonst wäre unsere Arbeit zu nichts nütze), so müssen wir unser Augenmerk auf die Handlungen (πράξεις) und die Art ihrer Ausführung richten. 184

Im Vergleich zu Platon wird Aristoteles in der Forschungsliteratur häufig als »Empiriker« bezeichnet. Diese Bezeichnung ist insofern irreführend, als Aristoteles ebenso wie Platon der Ansicht ist, dass das Seiende ideengeformt ist und die Ideen nur mittels der Vernunft geschaut werden können. Die Vernunft richtet sich an einer vorgegebenen Wirklichkeit aus, sie ist vernehmend, keinesfalls bringt sie die Wirklichkeit aus sich selbst hervor. 185 Dieser Hinweis Böckenfördes erklärt auch, weshalb das Naturrecht und die Staatstheorie der Neuzeit sich radikal von den antiken Naturrechts- und Verfassungslehren unterscheiden. Selbst Platons Modell einer Polis, das von den realen Gegebenheiten deutlich abweicht, zielt nicht darauf ab, die Wirklichkeit nach einem Ideal revolutionär umzugestalten 186, sondern sie gedanklich tiefer zu durchdringen, als es zuvor geschah. Die Tugendund Verfassungslehren ermöglichen eine Anpassung an das, was von Natur aus das Bessere ist und dienen somit der Vervollkommnung der politischen Gemeinschaft. Sie schreiben nicht vor, was einer moralischen Verpflichtung zufolge getan werden soll, sondern was getan werden kann. 187 Laut Platon überragt das Gute das Sein in der Weise, dass das, was ist, bereits als etwas Seiendes gut ist. Die Ausformulierung einer reinen Soll-Dimension setzt aber eine Trennung von Sein und Sollen sowie die Veranschlagung des Guten auf der Seite des Sollens voraus. Diese Trennung setzt sich erst im neuzeitlichen DenEbd., II, 2, 1103b. Vgl. Aristot. eth. Eud. I, 5, 1216b. Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 102. 186 Vgl. Szlezák: »Psyche – Polis – Kosmos«, S. 30. 187 Dies lässt sich auch auf sprachlicher Ebene nachweisen, insofern dem Griechischen ein von der physischen oder logischen Notwendigkeit getrennter, also rein moralischer Begriff des Sollens fehlt. Vgl. Brague, Rémi: »Zur Vorgeschichte der Unterscheidung von Sein und Sollen«, in: Buchheim, Thomas/Schönberger, Rolf/Schweidler, Walter (Hg.): Die Normativität des Wirklichen. Über die Grenze zwischen Sein und Sollen, Stuttgart 2002, S. 24–26. Zur Frage, ob es das moralisch Gute bei Platon gibt, vgl. Horn: »Moralphilosophie«, S. 156–158. 184 185

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ken durch. Das politische Phänomen der Revolution musste der Antike unter diesen Voraussetzungen fremd bleiben.

2.1. Seinslehre Aristoteles stellt die Frage, welcher Seinscharakter dem werdenden, sich verändernden Seienden der umgebenden Welt zukommt. Sollte das, womit der Mensch alltäglich zu tun hat, tatsächlich nur ein Schattenspiel sein? In kritischer Auseinandersetzung nicht nur mit Platon, sondern dem gesamten früheren griechischen Denken entwickelt Aristoteles seine Lehre von den Gestaltprinzipien des Seienden, derzufolge dessen Seiendheit durch die Materie (ὕλη), die Idee/ Form (εἶδος/μορφή), den Ursprung der Bewegung (ἀρχή τῆς κινήσεως) sowie den Zweck (τέλος) verursacht wird. 188 Der Seiendheit der Dinge liegt also nicht nur ein bestimmter elementarer Stoff zugrunde, wie die ionischen Naturphilosophen annehmen, sie erschöpft sich aber auch nicht in der Nachahmung einer Idee. Dennoch gehören Stofflichkeit und Formung zum dinglichen Sein. Die ὕλη eines Tisches z. B. ist das Holz, das mit dem εἶδος eine bestimmte Gestalt (μορφή) erhalten hat. 189 Diese Gestalt ist dem Holz aber nicht immanent zu eigen. Von der jeweils konkreten Sache, dem einzelnen Etwas (ὅπερ τόδε τι) her betrachtet, ist die ὕλη daher das Gestaltlose, das, was nicht durch ein εἶδος als etwas Allgemeines benannt werden kann. 190 Sie ist τὸ ἀόριστον – »das Unbestimmte«. An anderer Stelle heißt es: »Die Materie ist an sich unerkennbar.« 191 Die Übersetzung Vgl. Aristot. met. I, 3, 983a. Zum μορφή-Begriff vgl. Heidegger: »Vom Wesen und Begriff der Φύσις«, 273 ff. 190 Vgl. Picht, Georg: »Der Begriff der Energeia bei Aristoteles«, in: ders. (Hg.): Hier und Jetzt, S. 294; Guzzoni, Ute: Grund und Allgemeinheit. Untersuchungen zum aristotelischen Verständnis der ontologischen Gründe, Meisenheim am Glan 1975, S. 173. 191 Aristot. met. VII, 10, 1036a (Herv. O. B.). Aristoteles spekuliert an dieser Stelle nicht bloß über die Möglichkeit einer »reinen« Materie im Unterschied zu einer ansonsten vereinzelt vorliegenden Materie, wie Flashar annimmt. Vgl. Flashar: Aristoteles, S. 222. Bei einem so gedachten Nebeneinander von Stoff und Form »darf man nicht […] stehenbleiben«, wie Aristoteles anmerkt, »[d]enn diese Bestimmung selbst ist unklar, und überdies würde die Materie Wesen werden«. Vermieden werden soll also, dass die Materie als Wesen (οὐσία), wörtlich »Seiendheit« ausgelegt wird. Über die Seiendheit eines Seienden können Aussagen getroffen werden, Materie aber nennt Aristoteles das, »was an sich weder als etwas noch als Quantitatives, noch durch 188 189

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von ὕλη mit Materie oder Stoff verdeckt die Tatsache, dass die ὕλη selbst nicht etwas konkret Vorliegendes, Seiendes ist. Das Holz ist folglich nicht schlechthin Material für einen Tisch, sondern kann selbst nur als dieses erscheinen und genannt werden, insofern es aus einer Verbindung (σὑνολον) von ὕλη und εἶδος hervorgegangen ist. Wenn es also darum ginge, die Seiendheit eines Holzbrettes zu bestimmen, dann wäre die ὕλη des Holzes das Unbestimmte. Alle weiteren Bestimmungen zu dessen Stofflichkeit, z. B. bezüglich der Farbe, des Geruches oder der Härte, würden gerade nicht die ὕλη beschreiben, sonst wäre sie ja bestimmbar, sondern ein σὑνολον niederer Ordnung. Erst die Verbindung von ὕλη und εἶδος macht die Seiendheit (οὐσία) durch den λόγος ansprechbar. 192 Da die Bestimmbarkeit der Seiendheit einer Sache nun offenbar primär vom εἶδος und nicht von der an sich unbestimmbaren ὕλη abhängt, und das εἶδος das Allgemeine ist, scheint es so, als ob das Sein des Seienden nun doch wieder auf die unveränderliche Idee zurückgeführt wird, der gegenüber jedes Besondere nur schattenhaft vorkommt. Wenn die ὕλη ein Aspekt der Seiendheit eines Seienden ist, ohne aber an sich bestimmbar zu sein, wie kann dann von ihr gesagt werden, dass sie ist? Inwiefern ist das Holz ὕλη des Tisches? Um die Art und Weise der Beteiligung der ὕλη am Sein des Seienden zu begreifen, führt Aristoteles die Unterscheidung von δύναμις und ἐνέργεια ein, die ins Lateinische mit potentia und actus übersetzt wurde. Die Seinsweise der ὕλη wird durch den Begriff der δύναμις näher umschrieben. Demnach ist die ὕλη am Seienden als Möglichkeit beteiligt. Potentiell ist das Holz ein Tisch, insofern sich am Ende des Herstellungsprozesses die Idee des »Tisches« in ihrer ganzen Wirklichkeit realisiert und aktual wird. Den Charakter der ὕλη nimmt das Holz also an, wenn es sein eigenständiges Sein als Baumaterial verliert und zum Stoff des Tisches geworden ist, erst dann ist es Möglichkeit in Wirklichkeit. Der Tisch ist also nicht einfach ein Zusammengesetztes aus Stoff und Form, sondern die verwirklichte Gestalt (ἐντελέχεια). 193 Da die Idee laut Aristoteles nicht früher oder außerhalb der Präsenz einer Sache existent ist, steht er vor dem philosophischen Problem, wie angesichts der Wandelbarkeit des Seienden, das Bestehen irgendeine andere der Aussageweisen bezeichnet wird, durch welche das Seiende bestimmt ist«. Aristot. met. VII, 3,1029a. 192 Vgl. Picht: »Der Begriff der Energeia bei Aristoteles«, S. 298. 193 Vgl. Guzzoni: Grund und Allgemeinheit, S. 175.

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einer Idee begründet werden kann. Wenn die Idee der Sache als Form inhärent ist, müsste sie dann nicht wie diese der Veränderung unterliegen? Wie lässt sich das εἶδος bzw. die μορφή einer Sache erfassen, wenn alles ständig im Fluss ist? Die Frage nach der μορφή wird in einem engen Zusammenhang mit der Frage nach dem Wesen der φύσις behandelt. Aristoteles verweist zunächst auf die beiden einander widersprechenden Lehrmeinungen, dass zum einen die ὕλη, zum anderen die μορφή als »das Naturbeschaffene« betrachtet wird. Beide Positionen haben ihre Berechtigung. Stoff und Form sind laut Aristoteles aber nicht gleichwertig an dem, was eine Sache von Natur aus ist, beteiligt. Der Form räumt er eine höhere Bedeutung ein. »[D]iese (Form) ist in höherem Maße Naturbeschaffenheit als der Stoff; ein jedes wird doch dann erst eigentlich als es selbst angesprochen, wenn es in seiner zweckhaft erreichten Form da ist, mehr als wenn es bloß der Möglichkeit nach ist.« 194 Die Idee oder Form ist also deshalb »mehr φύσις«, weil sie Auskunft gibt über die »zweckhaft erreichte Form« (ἐντελέχεια). 195 Mehr (μᾶλλον) als nur durch den Stoff wird durch die Form ersichtlich, was etwas ist, was seine Natur ist. Das τέλος einer Sache kommt dann gänzlich zum Vorschein, wenn sie sich in der ihr gemäßen Form realisiert hat. Erst mit dem ausgewachsenen, blühenden Baum wird die Gestalt des Baumes aktual. Das τέλος begreift Aristoteles dabei nicht bloß als den Endpunkt einer Bewegung, sondern als das, was die Bewegung von Anfang an leitet und in der Vollendung am deutlichsten sichtbar wird. 196 Alles Lebendige trägt sein τέλος demnach in sich. Wörtlich übersetzt bedeutet ἐντελέχεια »Sich-im-Ende-haben«. 197 Für die hergestellten Dinge verwendet Aristoteles den Begriff der ἐνέργεια, abgeleitet von ἔργον »Werk«. 198 Auch für das Werk gilt, dass sein εἶδος nicht durch den Abschluss des Herstellungsprozesses bestimmt wird, also dadurch, dass es fertig ist, sondern dass es die ihm eigentümliche, zweckhafte Gestalt angenommen hat. Bei beiden Begriffen, ἐντελέχεια und ἐνέργεια, handelt es sich um von Aristoteles geprägte Wortschöpfungen. Sie dürfen nicht im Sinne eines reinen Finalismus missdeutet werAristot. phys. II, 1, 193b. Vgl. Heidegger: »Vom Wesen und Begriff der Φύσις«, S. 280 ff. 196 Vgl. ebd., S. 282. Die »Bewegung« bzw. »Veränderung« selbst definiert Aristoteles dementsprechend als »die noch nicht zu Ende gekommene Ziel-Tätigkeit eines Veränderbaren«. Aristot. phys. VIII, 5, 257b. 197 So Heidegger: »Vom Wesen und Begriff der Φύσις«, S. 282. 198 Vgl. Picht: »Der Begriff der Energeia bei Aristoteles«, S. 289. 194 195

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den. Es geht nicht darum, für das Seiende Zwecke zu konstruieren, die es nach Möglichkeit erreichen soll, oder darum, im Anschluss an Platon den Anteil von Bewegung und Idee am Seienden miteinander zu vereinbaren, sondern die Bewegung und Veränderung (κίνησις) als das Wesen des Seienden zu begreifen. 199 Der teleologisch-metaphysische Hintergrund erlaubt einen ersten Ausblick auf das, was bei Aristoteles unter »Naturrecht« verstanden werden kann. Insofern die zweckhaft erreichte Form natürlicher ist, muss der Wirklichkeit gegenüber dem Möglichen ein Vorrang bei der Bestimmung des von Natur aus Rechtmäßigen eingeräumt werden. Denn das, was im Sinne der δύναμις möglich ist – deutlicher: wozu etwas geeignet ist, was im Bereich des Sein-Könnens liegt, aber nicht ist – kann sich als dieses Noch-nicht nur im Gegenwärtigen zeigen. 200 Das Naturrecht kann demnach nicht unabhängig von der sich aktual zeigenden menschlichen Natur bestimmt werden. Das heißt aber nicht, dass es bloß zur Rechtfertigung der bestehenden Verhältnisse dient, da die Menschen möglicherweise ihr τέλος verfehlen. Das von Natur aus Richtige lässt sich nur ausgehend von der besten Verfassung einer Sache bestimmen. 201 »Das Naturgemäße muß man aber an denjenigen Dingen abnehmen, die sich in ihrem natürlichen Zustande befinden, nicht an denen, die verderbt sind.« 202 Die Frage nach der Bedeutung des Naturrechts bei Aristoteles steht folglich in Verbindung mit der menschlichen Entelechie. Wenn ersichtlich wird, worin sich das Wesen des Menschen vollendet, eröffnet sich damit auch das Wesen seiner Natur. Das höchste τέλος des Menschen ist laut Aristoteles die Glückseligkeit, die εὐδαιμονία. Sie ist deshalb das höchste Ziel, weil sie ausschließlich »Zweck an sich selbst« ist und nicht Mittel zu etwas anderem. Was das Glück ist, wird 199 Vgl. Aristot. phys. III, 1, 200b; Bröcker: Aristoteles; Höffe: Aristoteles, S. 108 ff. Gadamer merkt an: »Der Kunstausdruck der ›Entelecheia‹, den Aristoteles einführt, will offenbar gerade […] sagen, daß das ›Telos‹ nicht ein Ziel ist, das einer fernen Ordnung der Vollkommenheit angehört, sondern daß es je das einzelne Seiende selbst ist, in dem das ›Telos‹ sich in der Weise verwirklicht, daß das Einzelne das ›Telos‹ enthält. Die aristotelische Metaphysik hat das als ihr ständiges Thema vor Augen.« Gadamer: Griechische Philosophie. Bd. III, S. 227, siehe auch S. 423 f. 200 »[D]er Ausgangspunkt [wird] nicht neutral, sondern negativ bestimmt […] als Mangel (sterêsis, wörtlich: Beraubung, Privation) und komplementär der Endpunkt positiv als Gestalt oder Form (eidos, morphê).« Ebd., S. 110. Siehe auch Flashar: Aristoteles, S. 223. 201 Vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 30 f. 202 Aristot. pol. I, 5, 1254a.

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weniger inhaltlich definiert als formal bestimmt. Höffe merkt dazu an: »Das Glück ist die Bedingung, die über die Zieltauglichkeit aller Ziele entscheidet.« 203 Eine Tugend bspw. ist dann vollkommen realisiert, wenn sie rein um ihrer selbst willen ausgeübt wird. Diese »Realisierung« ist aber in erster Linie nicht durch die δύναμις determiniert, sondern durch die Wirklichkeit, weshalb Aristoteles auch sagen kann, dass »die Wirklichkeit früher ist als das Vermögen (die Möglichkeit)«. 204 Für die φύσις heißt das, dass mit ihr ebenfalls keine statische, überzeitliche Natur gemeint sein kann, sondern eine, die durch das aktuale Geschehen verändert und neudefiniert wird, aber dennoch Natur bleibt. Demnach eröffnet die aristotelische Entelechie, wie Böckenförde erläutert, auch die Möglichkeit einer Veränderung des Naturrechts. »Das von Natur Rechte ist nicht auf die aktuale Natur begrenzt, sondern potentiell auf deren Vollendung angelegt und darauf gerichtet, die je aktuale Wirklichkeit auch über sich hinaus zu führen.« 205

2.2. Verfassungslehre und Ethik Ebenso wie die Ethik beruht die Verfassungslehre auf dem Grundgedanken der Entelechie und Eudaimonie, insofern die Verwirklichung eines tugendhaften und zuletzt glückseligen Lebens vom Zusammenleben in einer politischen Ordnung abhängt. 206 »[D]ie aus mehreren Dorfgemeinden gebildete vollkommene Gesellschaft [ist] der Staat, eine Gemeinschaft, die gleichsam das Ziel vollendeter Selbstgenügsamkeit erreicht hat, die um des Lebens willen entstanden ist und um des vollkommenen Lebens (εὖ ζῆν) willen besteht.« 207 Die Polis ist autark und unterliegt keiner anderen Zwecksetzung. Der Mensch ist für Aristoteles ein ζῷον πολιτικόν, ein »Lebewesen in der Polisgemeinschaft«, weil er außerhalb einer politischen Ordnung nicht zu existieren vermag. Unabhängig von der Frage nach der besten Staatsform stellt Aristoteles fest, dass alle Menschen von Natur Höffe: Aristoteles, S. 222. Vgl. Flashar: Aristoteles, S. 70; Rapp, Christoph: Aristoteles zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg 2001, S. 19 f. 204 Aristot. met. IX, 8, 1049b. 205 Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 110. 206 Zu Beginn der Ethik war daher auch festgehalten worden, dass ethische Fragen Teil der Politikwissenschaft sind. Vgl. Aristot. eth. Nic. I, 1, 1094a. 207 Aristot. pol. I, 2, 1252b. 203

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aus den Trieb (ὁρμή) zum gemeinschaftlichen Leben teilen, nur ein Tier oder Gott könne ohne Gemeinschaft auskommen. 208 Aber auch in der Verfassungslehre gilt, dass die φύσις »mehr« durch den Zweck als durch die Anlage bestimmt wird. Das Ziel ist die Natur: »Denn die Beschaffenheit, die ein jedes Ding beim Abschluß seiner Entstehung hat, nennen wir die Natur des betreffenden Dinges, sei es nun ein Mensch oder ein Pferd oder ein Haus oder was sonst immer.« 209 Vom τέλος, vom vollkommenen Leben in einer politischen Gemeinschaft her, wird ersichtlich, dass es zur Natur des Menschen gehört, Gemeinschaften zu bilden. Aristoteles schlussfolgert: »Darum ist denn auch der Staat der Natur nach früher als die Familie und als der einzelne Mensch, weil das Ganze früher sein muß als der Teil.« 210 Die Begründung dafür, dass der Mensch ein ζῷον πολιτικόν ist, ergibt sich aus der Tatsache, dass es Menschen außerhalb jeglicher Gemeinschaften nicht gibt, das Miteinandersein muss zum Menschsein gehören, sonst würde das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen verdreht. Analog zur Polisgemeinschaft verweist Aristoteles auf die Beziehung der Leibteile zum Leib: »Hebt man das ganze menschliche Kompositum auf, so kann es keinen Fuß und keine Hand mehr geben, außer nur dem Namen nach, wie man etwa auch eine steinerne Hand Hand nennt«. 211 Das Wesen einer Sache lässt sich demnach nur erschließen, wenn es als Teil in Bezug auf die Ganzheit, von der es Teil ist, gedacht wird. Für den Menschen als ζῷον πολιτικόν bedeutet das, dass seine Wesensbestimmung, ein glückseliges Leben zu führen, sich nur vom Zweck der politischen Gemeinschaft her ableiten lässt und umgekehrt, die Polis nicht um eines im Menschen angelegten seelischen Bedürfnisses willen gegründet wird. So wie die Organe sich dadurch auszeichnen, als Werkzeuge für den Leib ὄργανον zu sein, ist der Polisbürger ein Mittel der politischen Gemeinschaft zu ihrem Dasein. Die εὐδαιμονία können die Menschen nicht je für sich als Einzelne realisieren, sondern nur im organisierten politischen Leben durch Recht und Gerechtigkeit. 212 Für die Idee der Polis ist der Mensch ὕλη, etwas UnbeVgl. ebd., I, 2, 1253a. Zum Begriff des »Triebes« bzw. »Strebens« vgl. Höffe: Aristoteles, S. 197 ff. 209 Aristot. pol. I, 2, 1252b. 210 Ebd., I, 2, 1253a (Herv. O. B.). 211 Ebd. 212 Vgl. Flashar: Aristoteles, S. 109; Höffe, Otfried: »Aristoteles: Ethik und Politik«, in: Buchheim, Thomas/Flashar, Hellmut/King, Richard A. H. (Hg.): Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, Darmstadt 2003, S. 139 f. 208

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stimmtes, dessen Wesen sich nur in der politischen Gemeinschaft zeigen kann. Vom einzelnen Menschen her lässt sich das Wesen des Menschen so wenig erfassen, wie von der steinernen Hand auf das leibliche Hände-Haben geschlossen werden kann. Ein Begriff von »dem Menschen« kann also ohne Reflexion auf die Polis nicht gewonnen werden. Auch das Wesen der Ökonomie lässt sich laut Aristoteles nur im Hinblick auf die politischen Bedingungen verstehen, weil die Polis auch »früher« als das Haus (οἶκος) ist. Derjenige, der eine Polisgründung veranlasst, ist »Urheber der größten Güter«, weil er der Veranlagung des Menschen zum politischen Leben Rechnung trägt und dem Gesetz sowie der Gerechtigkeit einen Platz in der Welt verschafft. 213 »Die Gerechtigkeit aber, der Inbegriff aller Moralität, ist ein staatliches Ding. Denn das Recht ist nichts anderes als die in der staatlichen Gemeinschaft herrschende Ordnung, und eben dieses Recht ist es auch, das über das Gerechte entscheidet.« 214 Die Begriffe »Recht« und »Gesetz« bezeichnen insofern dasselbe, als die Beachtung der Gesetze gerecht und deren Überschreitung ungerecht ist. 215 Da die νόμοι beinahe alle Lebensbereiche regeln – sie fordern bspw. Tapferkeit im Krieg, Treue in der Ehe, Mäßigkeit, Besonnenheit auch bei Streitigkeiten etc. – ist die gesetzliche Gerechtigkeit die allgemeine (iustitia universalis). 216 Die Gerechtigkeit erscheint Aristoteles als die vollkommenste Tugend. 217 Allerdings hat sie ihren Ursprung primär nicht im Verhältnis der Seele zu sich selbst, sondern in dem zwischenmenschlichen politischen Bereich. 218 »Denn viele können die Tugend in ihren eigenen Angelegenheiten ausüben, aber in dem, was auf andere Bezug hat, können sie es nicht.« 219 Ob jemand Zur Aktualität der Gerechtigkeitsbegriffe siehe Höffe: Aristoteles, S. 228 ff. Aristot. pol. I, 2, 1253a. 215 »Da uns der Gesetzesübertreter als ungerecht und der Beobachter des Gesetzes als gerecht galt, so ist offenbar alles Gesetzliche in einem bestimmten Sinne gerecht und Recht. Was nämlich von der gesetzgebenden Gewalt vorgeschrieben ist, ist gesetzlich, und jede gesetzliche Vorschrift bezeichnen wir als gerecht oder Recht.« Aristot. eth. Nic. V, 3, 1129b. 216 Vgl. Flashar: Aristoteles, S. 85. Die Bezeichnungen iustitia universalis und iustitia particularis sowie iustitia commutativa und iustitia distributiva gehen auf die scholastischen Kommentatoren des 13. Jahrhunderts zurück. 217 Vgl. Bien, Günther: »Gerechtigkeit bei Aristoteles (V)«, in: Höffe, Otfried (Hg.): Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, Berlin 1995, S. 136. 218 Vgl. Höffe: Aristoteles, S. 230. 219 Aristot. eth. Nic. V, 3, 1129b. 213 214

238 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Aristoteles – die Natur ist das Ziel

gerecht oder ungerecht ist, bemisst sich am sozialen Verhalten und daran, ob die jeweilige Handlung aus freier Zustimmung gewollt ist. 220 Wer bspw. nur aufgrund einer Strafandrohung Diebesgut erstattet, kann nicht als gerecht bezeichnet werden. Auch das Unrechttun setzt eine entsprechende Haltung voraus. 221 Da die Gerechtigkeit im zwischenmenschlichen Bereich ihren Platz hat, ist sie nicht selbst schon mit dem Begriff der Tugend identisch, bei dem es sich vielmehr »um einen Habitus handelt, der sich in den Akten der Gerechtigkeit auswirkt«. 222 Nur die Tugenden, die für das Gemeinwesen nützlich sind, verhelfen dem Menschen zu einem gerechten Leben, neben der Achtung des Gesetzes bedarf es dazu auch der Achtung der Gleichheit. Unter Gleichheit versteht Aristoteles die Mitte zwischen zwei Extremen. So wie in der Mesotes-Lehre die Tugenden jeweils die Mitte zwischen zwei Untugenden sind, z. B. die Tapferkeit als vernunftgemäßes Mittleres 223 zwischen Tollkühnheit und Feigheit oder die Freigebigkeit als Mittleres zwischen Verschwendung und Geiz, ist in Fragen der Zuteilung, Vergeltung oder des Austauschs die Mitte die Gleichheit, nach der keine der beteiligten Personen bevorzugt oder benachteiligt werden darf. Innerhalb der partikularen Gerechtigkeit (κατὰ μέρος δικαιοσύνης/iustitia particularis) wird zwischen arithmetischer und geometrischer Gleichheit unterschieden. Nach der arithmetischen Gleichheit wird der Ausgleich z. B. beim Schadensersatz oder Kaufvertrag berechnet, wobei der Status der Person nicht von Belang ist (ausgleichende Gerechtigkeit/διορθωτικόν (δίκαιον)/ iustitia commutativa). 224 Sie ist allein auf die Vergeltung einer Leistung durch eine Gegenleistung oder eines Schadens durch die Wiedergutmachung ausgerichtet. »Es trägt ja nichts aus, ob ein guter Mann einen schlechten beraubt oder ein schlechter einen guten oder ob ein guter oder ein schlechter Mann einen Ehebruch begeht; vielmehr sieht das Gesetz nur auf den Unterschied des Schadens, und es

Vgl. ebd., V, 1, 1129a; V, 10, 1135a. Vgl. ebd., V, 13, 1137a. 222 Ebd., V, 3, 1130a. 223 Die Tugenden mit den jeweiligen Extremen hat Aristoteles in einer Tabelle zusammengestellt. Vgl. Aristot. eth. Eud. II, 3, 1220bf. Zu beachten ist, dass das Mittlere nicht wie eine mathematisch berechenbare Mitte genau zwischen den Untugenden steht. Die Tapferkeit bspw. steht der Tollkühnheit näher als der Feigheit. Vgl. Flashar: Aristoteles, S. 78. 224 Vgl. Aristot. eth. Nic. V, 7, 1131b. 220 221

239 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

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behandelt die Personen als gleiche«. 225 Dem Richter obliegt die Aufgabe, im Streitfall die genaue Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig zu treffen. »Zum Richter gehen heißt aber soviel, als zur Gerechtigkeit gehen, da der Richter gleichsam die lebendige Gerechtigkeit sein soll.« 226 Nach der geometrischen Gleichheit wird die Zuteilung von Ämtern, Ehren, gemeinsamen Gütern oder Lasten im Verhältnis zum Wert der Person verfügt (zuteilende Gerechtigkeit/νεμητικόν δίκαιον/iustitia distributiva). 227 Die zuteilende Gerechtigkeit regelt also das Verhältnis der politischen Gemeinschaft zu den einzelnen Bürgern. Gleichen soll gleich viel, Ungleichen ungleich viel zugeteilt werden. Erhält der weniger Würdige das Gleiche wie eine würdigere Person oder erhält einer mehr, obwohl beide in gleicher Weise vortrefflich handeln, führt dies zu Streitigkeiten und Zerwürfnissen. Auch die zuteilende Gerechtigkeit zielt demnach auf ein mittleres Gleiches, das sich bspw. aus der Leistung oder Bedürftigkeit der Beteiligten ergibt. Bei der geometrischen bzw. proportionalen Gleichheit handelt es sich um eine frühe Formulierung des Gleichheitssatzes. 228 Nach welchem Gegenstand die Proportionalität bemessen werden sollte, ist jedoch strittig: »[N]icht jedermann [versteht] unter Würdigkeit dasselbe, sondern die Demokraten erblicken sie in der Freiheit, die oligarchisch Gesinnten im Besitz, andere in edler Abstammung, die Aristokraten in der Tüchtigkeit.« 229 Obwohl die partikularen Gerechtigkeitsbegriffe ein Maß der Gerechtigkeit bestimmen, erlauben sie noch keine Rückschlüsse auf die beste Form einer Verfassung. Wie diese auszusehen habe, erläutert Aristoteles in der Politik. Im Vergleich zu Platon bleibt festzuhalten, dass Aristoteles den Grundgedanken »jedem das Seine« übernimmt und in seine Gerechtigkeitsbegriffe einfließen lässt. Das Ihrige erhalten die Bürger dann, wenn im Ausgleich oder bei der Verteilung die Mitte getroffen wird. Auch die Unterscheidung von geometrischer und arithmetischer Gleichheit war bereits von Platon angeführt worden. Letztere hat für Aristoteles allerdings einen gleichwertigen Anteil an der partikularen Gerechtigkeit. Platon hatte die arithmetische Gleichheit da-

225 226 227 228 229

Ebd., V, 7, 1132a. Ebd. Vgl. ebd., V, 6–7, 1131aff. Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 114. Aristot. eth. Nic. V, 6, 1131a.

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gegen mit dem Wert der Person verbunden und ihr deshalb einen weitaus geringeren Stellenwert beigemessen, weil die Bürger unter diesem Gesichtspunkt alle als Gleiche zu betrachten wären. 230 Gerade weil die Qualität der Seele über das Gerechtsein entscheidet und ein solches Urteil nur einem Gott möglich ist, weigert sich Platon letztlich auch, dem Prinzip »jedem das Seine« den vollen Gehalt der Gerechtigkeit zuzuerkennen. Von dieser Zurückhaltung ist bei Aristoteles nichts mehr zu spüren. Dass zum Gerechtsein eine Kenntnis der Gerechtigkeit gehört, nimmt auch Aristoteles an, er distanziert sich aber von der Behauptung, dass niemand freiwillig unrecht tun könne. »Da unfreiwillig ist, was aus Zwang oder Unwissenheit geschieht, so möchte freiwillig sein, dessen Prinzip in dem Handelnden ist und zwar so, daß er auch die einzelnen Umstände der Handlung kennt.« 231 Freiwillig (ἑκών) sind demnach alle Handlungen, die ihren Anfang beim Handelnden haben. Sowohl der Habitus des Gerechten als auch der des Ungerechten beruhen auf der Entscheidung etwas zu tun oder zu lassen. »Denn wo das Tun in unserer Gewalt ist, da ist es auch das Unterlassen, und wo das Nein, da auch das Ja.« 232 Die προαίρεσις, die »Willenswahl« (wörtlich: »Bevorzugung«), steht gewissermaßen zwischen den Imperativen der Wahrheit und den Handlungen, die sie einfordern, sowie zwischen den Begierden und den Handlungen, zu denen jene drängen, und sie schwächt somit das Zwingende von logischer Wahrheit und Begierde ab. Die Wahl bezieht sich aber ausschließlich auf die Mittel zum Zweck, nicht auf die Zwecke selbst. 233 Laut Arendt handelt es sich bei der προαίρεσις um einen Vorläufer des Willensbegriffs. 234 Die προαίρεσις erlaubt die Wahl verschiedener Möglichkeiten, sie darf aber nicht mit den Vermögen, spontan Neues anzufangen oder autonom die Regeln eigenen Handelns zu wählen, verwechselt werden. Der Grund, den Platon für Vgl. Plat. leg. VI, 5, 757. Aristot. eth. Nic. III, 3, 1111a. 232 Ebd., III, 7, 1113b. 233 Vgl. ebd., III, 5, 1112bf.; Flashar: Aristoteles, S. 81; Rapp: Aristoteles zur Einführung, S. 26. 234 Vgl. Arendt: Vom Leben des Geistes, S. 296 f. Kahn erläutert das Fehlen des Willensphänomens in der griechisch-römischen Antike anhand philosophiegeschichtlicher Vergleiche. Zu den bei Aristoteles infrage kommenden Begriffen für »Wille« vgl. Kahn, Charles, H.: »Discovering the Will: From Aristotle to Augustine«, in: Long, Anthony A./Dillon, John M. (Ed.): The Question of »Eclecticism«. Studies in Later Greek Philosophy, Berkeley Los Angeles London 1988, S. 239–245. Siehe auch Höffe: Aristoteles, S. 210 ff. 230 231

241 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Δκαιοσύνη bei Platon und Aristoteles

seine Behauptung, niemand könne freiwillig Unrecht tun, angibt, dass nämlich das Gerechtsein die Erkenntnis der Gerechtigkeit voraussetzt, wird von Aristoteles nicht bestritten. Dennoch wird die unrechte Handlung freiwillig ausgeübt. »[D]ie Verkehrtheit muß um nichts weniger freiwillig sein, weil dem schlechten Mann die gleiche Selbstbestimmung bezüglich seiner Handlungen, wenn auch nicht bezüglich des Zieles, zukommt.« 235 Die Unwissenheit entschuldigt nicht die unrechte Handlung, weil der Einzelne auch für seine Unwissenheit verantwortlich gemacht werden könne. 236

2.3. Das Naturrecht als politisches Recht Nachdem Aristoteles im fünften Buch der Nikomachischen Ethik die Maße der partikularen Gerechtigkeit bestimmt hat, wendet er sich dem Bereich zu, in dem diese gelten, und zwar im Hinblick auf die Menschen, für die sie gelten. »[D]as politische Recht […] hat seine Stelle, wo eine Anzahl freier und gleichgestellter Menschen zwecks vollkommenen Selbstgenügens in Lebensgemeinschaft stehen«. 237 Gerechtigkeit kann es demnach nur dort geben, wo die Freiheit und Gleichheit der Menschen realisiert ist und Gesetze das Zusammenleben regeln. »Ein eigentliches Recht ist da vorhanden, wo ein Gesetz ist, das das gegenseitige Verhältnis bestimmt«. 238 Die Gesetzesherrschaft ist für Aristoteles, ebenso wie für Platon, die einzig vernünftige Form der Herrschaft, alles andere wäre Tyrannei. 239 Auf die Bestimmung des politischen Rechts folgt nun die des Naturrechts. Für dessen Interpretation ist wesentlich, dass es als Teil des politischen Rechts aufgefasst wird. Das politische Recht zerfällt in das natürliche (φυσικόν) und das gesetzliche (positive) (νομικόν). Natürlich ist jenes, das überall die nämliche Geltung hat, unabhängig davon, ob es den Menschen gut scheint oder nicht; gesetzlich jenes, dessen Inhalt ursprünglich indifferent ist, das aber, einmal durch Gesetz festgelegt, seinen bestimmten Inhalt hat. 240 Aristot. eth. Nic. III, 7, 1114b. Die Wahl betrifft auch die grundsätzliche Entscheidung über die Lebensführung, daher ist der Mensch auch für die Ziele verantwortlich. So Flashar: Aristoteles, S. 81 f. 237 Aristot. eth. Nic. V, 10, 1134a. 238 Ebd. 239 Vgl. ebd., V, 10, 1134af.; Flashar: Aristoteles, S. 126 f. 240 Aristot. eth. Nic. V, 10, 1134b. 235 236

242 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Aristoteles – die Natur ist das Ziel

Auf den ersten Blick scheint es sich hier um die klassische Unterscheidung von positivem Recht und Naturrecht zu handeln. Das Naturrecht wäre demnach unveränderlich und würde für alle Menschen gleichermaßen gelten. Die dabei vorgestellte Natur entspricht jedoch nicht der aristotelischen φύσις, die oben im Zusammenhang mit der ἐντελέχεια als τέλος gedeutet wurde. Dem natürlichen Recht wird der Mensch durch ein zur Glückseligkeit strebendes, politisches Leben gerecht. Das natürliche Recht bestätigt im Rahmen der Ethik, dass der Mensch ein ζῷον πολιτικόν ist. Da die φύσις dynamisch ist, kann auch das Naturrecht nicht unveränderlich sein. 241 In diesem Punkt setzt sich Aristoteles deutlich von der sophistischen Position ab. Einige sind aber der Meinung, alles Recht sei von dieser letzteren Art, weil alles Natürliche unbeweglich ist und überall dieselbe Kraft hat – wie z. B. das Feuer bei uns so gut wie bei den Persern brennt –, während man das Recht der Bewegung und dem Wandel unterworfen sieht. Allein es ist damit doch nicht genau so, wie man sagt, sondern nur mit Unterschied. Bei den Göttern freilich mag sich gar keine Bewegung finden. Bei uns dagegen ist zwar auch ein Naturbereich, derselbe steht aber ganz unter dem Gesetz der Bewegung. Und doch bleibt der Unterschied dessen, was von Natur und dessen, was nicht von Natur ist, bestehen. 242

Die Anbindung an die sich aktual zeigende Natur verhindert, dass das Naturrecht zur bloßen Abstraktion verkommt. Das heißt aber nicht, dass die Natur sich in jeder Hinsicht den bestehenden Verhältnissen anpasst und diese legitimiert. Was an einer Sache nun von Natur ist und was auf Übereinkunft beruht, sei »von selbst einleuchtend«. Dennoch führt Aristoteles drei Beispiele an. »Die rechte Hand ist z. B. von Natur stärker, und doch kann es Menschen geben, die beide Hände gleich gut gebrauchen.« 243 Das Beispiel kann leicht missverstanden werden. Bröcker behauptet, es belege, dass das natürliche Recht durch die Konvention ersetzt werden könne. In der Sekundärliteratur habe man mit der Feststellung, dass das Naturrecht laut Aristoteles änderbar ist, fälschlicherweise die Annahme verbunden, dass es dabei dennoch Naturrecht bleibe. 244 Es gebe zwar Naturrechte, wie das von Antigone geforderte Bestattungsrecht, welche nicht geändert werden 241 242 243 244

Vgl. Höffe: Aristoteles, 232. Aristot. eth. Nic. V, 10, 1134b (Herv. O. B.). Ebd. Vgl. Bröcker: Aristoteles, S. 303.

243 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Δκαιοσύνη bei Platon und Aristoteles

dürften, aber hieraus lasse sich nicht der Schluss ziehen, dass eine Abkehr vom Naturrecht mit Hilfe der Gesetze generell verboten sei. Wie das positive Recht von zweierlei Art ist, nämlich einerseits solches, das zum Naturrecht hinzutritt, ohne es zu verändern, andererseits solches, das das Naturrecht verändert, so ist auch das Naturrecht von zweierlei Art, nämlich einerseits solches, das durch positives Recht verändert werden darf, andererseits solches, das durch positives Recht nicht verändert werden darf. 245

Aber nach welchem Recht »darf« das Naturrecht durch das positive Recht geändert werden? Im weitesten Sinne kann es tatsächlich das Naturrecht ändern, insofern dieses in einzelnen Gesetzesbestimmungen näher ausgestaltet wird, aber das positive Recht kann das Naturrecht nicht ersetzen, wie Bröcker behauptet. Wäre dem so, dann würde es sich auf eine Sache beziehen, die ohne Bewegung und ohne natürliches Ziel wäre, also außerhalb des menschlichen Bereichs stünde – Eigenschaften die nur dem Göttlichen zukommen. Das Handbeispiel besagt demnach nicht, dass die natürliche Zweckbestimmung der Hände durch Übung der linken Hand außer Kraft gesetzt oder obsolet wird, sondern dass im Rahmen dieses τέλος, nämlich mit den Händen an der leiblich erschlossenen Weltbezüglichkeit zu partizipieren, eine Veränderung der Kräfteverhältnisse beider Hände dem Menschen überlassen bleibt. Das zweite Beispiel besagt, dass die Konvention im Handelsverkehr vorschreibt, dass bei Kauf und Verkauf mit unterschiedlichen Maßen gerechnet wird. Sie trifft also eine Bestimmung über etwas, das »ursprünglich indifferent ist«. Die Gesetze fußen aber zugleich auf dem natürlichen τέλος des Nutzens, das seinerseits in der notwendigen Sorge für den Lebensunterhalt begründet ist. Daher dürfen die Preise im Warenaustausch nicht willkürlich allein zum Zwecke der Bereicherung festgelegt werden. In der Politik unterscheidet Aristoteles demgemäß zwischen einer natürlichen und einer widernatürlichen Erwerbskunst. Als drittes Beispiel für jenen Spielraum, der dem positiven Recht innerhalb einer natürlichen Ordnung verbleibt, verweist Aristoteles auf die unterschiedlichen Polisverfassungen. »Ebenso sind die nicht natürlichen, sondern vom menschlichen Willen getroffenen Rechtsbestimmungen nicht allerorts dieselben, gerade so, wie es auch die Staatsverfassungen nicht sind, und doch ist eine allein überall von Natur die beste.« 246 245 246

Ebd., S. 305. Aristot. eth. Nic. V, 10, 1135a.

244 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Aristoteles – die Natur ist das Ziel

Obwohl die νόμοι von Polis zu Polis verschieden sind, verdanken sie ihre Beständigkeit der Ausrichtung auf ein τέλος. Die allem bewegten Seienden zugrunde liegende Natur-Ziel-Struktur ist, wie die Beispiele verdeutlichen, ohne Ausnahme. Die Wege bzw. Mittel zur Verwirklichung der Zwecke können aber variieren. In der Unterscheidung von natürlichem und positivem Recht spiegelt sich folglich derselbe Sachverhalt wider, der im Zusammenhang mit der Willenswahl erläutert wurde. Denn auch für die προαίρεσις gilt, dass sie sich auf etwas bezieht, »dessen Inhalt ursprünglich indifferent ist«. Erst durch die Wahl gewinnt die ethische Handlung ihren spezifischen Ausdruck, so wie das positive Recht statuiert sein muss, um einen Inhalt zu haben. Die Souveränität des Gesetzgebers erstreckt sich aber nur auf die Mittel. Die Glückseligkeit oder die Gesundheit sind so wenig Gegenstand einer Willenswahl wie das politische Recht, das in sich das natürliche und das positive Recht vereint, also »Recht schlechthin« 247 ist, Gegenstand einer Diskussion über die beste Verfassung sein könnte. Die Wahl – das »überlegte Begehren von etwas, was in unserer Macht steht« 248 – bezieht sich nur auf die Mittel, wohingegen die Zwecke nicht der menschlichen Macht unterliegen. Die relative Toleranz gegenüber den Mitteln erlaubt es Aristoteles, Handlungen in der Ethik und Unterschiede bei den Polisverfassungen differenzierter zu beurteilen. Die Vielfalt der νόμοι zeugt weder von ihrer Naturwidrigkeit, wie die Sophisten meinen, noch muss sie zugunsten eines Idealmodells eingeebnet werden. Einzelne Naturrechtsbestimmungen sind für Aristoteles nicht ewig gültig und unveränderlich, die teleologische Struktur allerdings schon. Je mehr die Veränderung eines Seienden aus einer Selbstbewegung erfolgt und auf etwas abzielt, das um seiner selbst willen erstrebenswert ist, desto »zielhafter« und naturgemäßer ist das Ziel. Alle positiven Gesetzesbestimmungen können daher im Hinblick auf ihre Zieltauglichkeit überprüft werden. Eben dies ist es, was Aristoteles bspw. im zweiten Buch der Politik anhand utopischer und realer Verfassungen vorführt. Die Frage ist dabei stets die, ob die einzelnen Regelungen am besten orientiert sind und dieses fördern. Auch wenn die Gesetze erst durch die Gewohnheit echte Geltungskraft erlangen, resultiert ihre Legitimität keineswegs aus der Gewohnheit. Aristoteles erwähnt in diesem Zusammenhang »alte Gesetze«, die »sehr pri247 248

Ebd., V, 10, 1134a. Ebd., III, 5, 1113a.

245 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

Δκαιοσύνη bei Platon und Aristoteles

mitiv und roh sind«. 249 Die Verbesserung der Gesetze muss sich aber in Grenzen halten, da sonst die Gefahr besteht, dass die Manipulation der Gesetze zur Gewohnheit wird und die Bürger sich an das Gesetz nicht mehr gebunden fühlen. »Denn die Veränderung der Gesetze kann einem nicht so viel nützen, als die Gewöhnung an Ungehorsam gegen die Obrigkeit einem schadet.« 250 Das Naturrecht im Sinne der Ausrichtung auf natürliche Ziele ist dem positiven Recht also nicht als Korrektiv vorgeordnet, es »strahlt« auch nicht nur »in das einfache Recht ein« 251, sondern ist in diesem und nur durch dieses selbst präsent. Damit das von Natur aus Bessere im Handeln realisiert werden kann, muss es Gesetze geben, die es entsprechend lenken und so dem Naturrecht eine Gestalt verleihen. Dass die ursprüngliche inhaltliche Indifferenz, die durch das positive Recht überwunden wird, nicht auf eine Indifferenz der damit festgelegten Zwecke schließen lässt, illustrieren auch die von Aristoteles angeführten Beispiele 252. Die Höhe des Lösegeldes für Gefangene ist demnach variabel, nicht aber der Zweck, dass die Gefangenen zum Nutzen der Sieger zurückgegeben werden dürfen. Ebenso tangiert die Wahl der Opfertiere nicht den Sinn der Opferungen. Ritter hat darauf hingewiesen, dass der aristotelische Naturrechtsbegriff sehr direkt mit den Erfahrungen einer praxisnahen, menschlichen Lebensweise verbunden ist. 253 Das Naturrecht ist demzufolge nicht Teil einer besonderen Rechtstheorie, sondern einer allgemeinen Theorie des Handelns. Mit ihm erhält der Mensch über sein Anrecht auf die Erhaltung des Lebens hinaus die Möglichkeit, seiner Vernunftnatur gemäß moralisch zu handeln. Während allen sonstigen Lebewesen die Zwecke ihrer Handlungen von der Natur vorgegeben sind, kann der Mensch sich zu einer Handlung entscheiden. 254 Durch falsches Handeln befindet er sich nur kurzfristig im Widerspruch zur Natur, in diesem Zustand kann er aber nicht verharren. Moralität ist laut Ritter das Verhältnis freier Handlungen zu ihrer Natur, und es sei die Aufgabe der praktischen Philosophie, den Aristot. pol. II, 8, 1268bf. Ebd., II, 8, 1269a. 251 Zur »Ausstrahlwirkung« der Grundrechte vgl. das »Lüth-Urteil« des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 1958 (BVerfGE 7, 198 – Lüth). 252 Vgl. Aristot. eth. Nic. V, 10, 1134b. 253 Vgl. Ritter, Joachim: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, erw. Ausg., Baden-Baden 2003, S. 134. 254 Vgl. ebd., S. 136 f. 249 250

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Aristoteles – die Natur ist das Ziel

Menschen zu zeigen, welche Handlungen in sich richtig sind. Das Naturrecht verleihe somit das Recht, »das zu tun und zu sein, was notwendig ist, damit die Natur des Menschen im Handeln und so in einem menschlichen Leben wirklich werden kann«. 255 Naturrecht und positives Recht sind noch nicht voneinander getrennt. Von Ersterem wird nicht verlangt, dass es auf überpositive oder übergeschichtliche Normen verweist und Letzteres befindet sich noch nicht in der stetigen Begründungskrise, die mit Hinweisen auf die Eigengesetzlichkeit des positiven Rechts oder dessen Bedingtheit durch geschichtliche Entwicklungen nie ganz überwunden werden konnte. 256 Erst im Zuge der Aufklärung setzt sich, so Ritter, die Vorstellung von einer »Vernunft a priori« durch und mit ihr ein rein metaphysischer und von jeglicher Erfahrung getrennter Begriff des Menschen. 257 Das Naturrecht wird somit von dem eigentlichen menschlichen Handeln getrennt und zu einem bloßen gedanklichen Konstrukt degradiert, dessen Wirklichkeitsbezug dahinschwindet. Die Bedeutsamkeit des aristotelischen Naturrechtsbegriffs liegt folglich in dessen Verknüpfung mit dem menschlichen Handeln. Und diese Konstellation ist es, die zur Frage nach dem richtigen Leben und dem tugendhaften Handeln führt.

2.4. Der »Sklave von Natur« und die »Barbaren von Natur« im Verhältnis zum Naturrecht In der Diskussion über die Bedeutung der aristotelischen Philosophie für die Geschichte des Naturrechts und der Menschenrechte wird vor allem die Analyse der Sklaverei im ersten Buch der Politik scharf kritisiert. Aristoteles habe hier die Sklaverei naturrechtlich sanktioniert. So behauptet z. B. Oestreich, dass Aristoteles »die Ungleichheit der Völker und Menschen« gelehrt habe. 258 Laut Flaig konstruiert Aristoteles den Sklaven als Untermenschen. 259 Patterson meint, dass Ebd., S. 138. Vgl. ebd., S. 140 ff. 257 Vgl. ebd., S. 139. 258 Vgl. Oestreich: Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, S. 16. Ebenso Kühnhardt: Die Universalität der Menschenrechte, S. 42; Brieskorn: Menschenrechte, S. 27; Wolgast: Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte, S. 12. 259 Vgl. Flaig, Egon: »Den Untermenschen konstruieren. Wie die griechische Klassik den Sklaven von Natur erfand«, in: Hoff, Ralf von den/Schmidt, Stefan: Konstruktio255 256

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seine Theorie zur Sklaverei »zum Wirrsten gehörte, was er jemals geschrieben hatte«. 260 Und Höffe, der vielfach die Aktualität der aristotelischen Theorien betont, stellt fest: »Die Vorstellung, es gebe geborene Sklaven, ist uns trotz aller Achtung vor Aristoteles ein schlichtes Ärgernis.« 261 Bei der folgenden Darstellung dieses Theorems soll deutlich werden, dass Aristoteles nicht zwischen der habituellen Praxis der Sklaverei und einer normativ-ontologischen Wesensdefinition »des« Sklaven unterscheidet. Das Fehlen einer solchen Unterscheidung mag aus Sicht der modernen normativen Theorien als Ärgernis erscheinen, es kann aber auch zum Ausgangspunkt für ein näheres Verständnis des aristotelischen Menschenbildes gemacht werden. Den »Sklaven von Natur« bestimmt Aristoteles folgendermaßen: »Wer von Natur nicht sein, sondern eines anderen, aber ein Mensch ist, der ist ein Sklave von Natur.« 262 Die unterschiedliche »Natur« des Herrn sowie des Sklaven wird am Verhältnis des vernünftigen Teils der Seele zum Leib illustriert. [W]as von Natur dank seinem Verstande vorzusehen vermag, ist ein von Natur Herrschendes und von Natur Gebietendes, was dagegen mit den Kräften seines Leibes das so Vorgesehene auszuführen imstande ist, das ist ein Beherrschtes und von Natur Sklavisches, weshalb sich denn die Interessen des Herrn und des Sklaven begegnen. 263 nen von Wirklichkeit. Bilder im Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., Stuttgart 2001, S. 27–49. 260 Patterson, Orlando: »Freiheit, Sklaverei und die moderne Konstruktion der Rechte«, in: Joas/Wiegandt (Hg.): Die kulturellen Werte Europas, S. 169. Pattersons These ist, »daß die gesellschaftliche Konstruktion der Freiheit erst durch die Sklaverei möglich wurde. Es mußte Sklaverei geben, bevor überhaupt die Idee der Freiheit als eines Wertes entstehen konnte, das heißt, bevor man die Freiheit für ein sinnvolles, nützliches und erstrebenswertes Ideal halten konnte.« Ebd., S. 166 f. Problematisch erscheint mir die Grundannahme, nach der Freiheit ein »dreistimmiges Konzept« sei, das bereits seit der Mitte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts die persönliche, die bürgerliche und die souveräne Freiheit beinhaltet habe. Vgl. ebd., S. 165. Mit der »persönlichen Freiheit« ist das »Fehlen von Beschränkungen für den Wunsch, das zu tun, was uns gefällt«, gemeint. Diese Form von Freiheit sei die ursprünglichste, sie sei aus der Abgrenzung zur Sklaverei zu einem Wert erhoben worden. Patterson scheint hier aber die historische Tatsache auszublenden, dass die persönliche Freiheit sich nur dort entfalten konnte, wo die »bürgerliche Freiheit« bereits etabliert war. 261 Höffe: Aristoteles, S. 256. 262 Aristot. pol. I, 4, 1254a: ὁ γὰρ μὴ αὑτοῦ φύσει ἀλλ’ ἄλλου ἄνθρωπος ὤν, οὗτος φύσει δοῦλός ἐστιν 263 Ebd., I, 2, 1252a.

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Aristoteles – die Natur ist das Ziel

Insofern das Sklavische gehorchen und belehrt werden müsse, kann ihm ein Anteil an der Vernunft nicht völlig abgesprochen werden. 264 Der Sklave habe sie aber nicht in der Weise, dass er sie gebraucht, indem er denkt. In dieser Hinsicht wird schon in der Ethik zwischen zwei Gebrauchsformen der Vernunft unterschieden, die in der Politik dann jeweils dem Herrn sowie dem Sklaven zugeordnet werden. »So bleibt also nur ein nach dem vernunft-begabten Seelenteile tätiges Leben übrig, und hier gibt es einen Teil, der der Vernunft gehorcht, und einen anderen, der sie hat und denkt.« 265 In der Vernunft erblickt Aristoteles das »spezifisch Menschliche«, nachdem er zuvor das bloße Leben (ζωή) 266 als primäres Kennzeichen des Menschlichen ausgeschlossen hatte. Da der Sklave nur gehorche und nicht selbst vernünftig handle, wäre er demzufolge kein Mensch. Dieser Eindruck scheint in der Politik bestätigt zu werden. Der Vernunftanteil des Sklaven wird hier reduziert auf die Fähigkeit, die Vernunft des anderen zu vernehmen. Der Sklave unterscheide sich somit nicht sonderlich von einem Haustier. Die anderen Sinnenwesen vernehmen nämlich ihre Stimme nicht, sondern lassen sich ausschließlich durch Gefühlseindrücke und sinnliche Empfindungen regieren und leiten. Aber auch die Dienste, die man von beiden erfährt, sind nur wenig verschieden: beide, Sklaven und Haustiere, verhelfen uns zur Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse. 267

Vgl. ebd., I, 13, 1259b. Aristot. eth. Nic. I, 6, 1098a. 266 Zur Unterscheidung von ζωή und βίος erklärt Agamben: »[Z]ōē´ meinte die einfache Tatsache des Lebens, die allen Lebewesen gemein ist (Tieren, Menschen und Göttern), bíos dagegen bezeichnete die Form oder Art und Weise des Lebens, die einem einzelnen oder einer Gruppe eigen ist. Wenn Platon im Philebos drei Lebensarten anführt und Aristoteles in der Nikomachischen Ethik das kontemplative Leben des Philosophen (bíos theōrētikós) vom Leben der Lust und des Vergnügens (bíos apolaustikós) und vom politischen Leben (bíos politikós) unterscheidet, hätten sie niemals den Begriff zōē´ gebrauchen können (dem bezeichnender Weise im Griechischen die Pluralform fehlt); und zwar aus dem einfachen Grund, weil es beiden in keiner Weise um das natürliche Leben, sondern um ein qualifiziertes Leben, um eine besondere Lebensweise zu tun war«. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002, S. 11. Die Begriffe ζωή und βίος werden von Agamben aber nicht einfach nur in Opposition zueinander gesehen, sondern es wird nach der »einschließenden Ausschließung« der ζωή durch die Politik gefragt. Vgl. ebd., S. 17. 267 Aristot. pol. I, 5, 1254b. 264 265

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Trotz dieses Vergleiches mit dem Tier hält Aristoteles jedoch gemäß der oben zitierten Definition daran fest, dass der Sklave von Natur ein Mensch ist. In welchem Verhältnis das Menschsein zur Sklaverei steht, soll im Folgenden näher erörtert werden. Aus dem bisher Gesagten lässt sich bislang nur schließen, dass die Befähigung zum Gehorchen sowie der Gebrauch der leiblichen Kräfte nicht konstitutiv für das Menschsein des Sklaven sind, aber notwendig, um »das so Vorgesehene auszuführen«. Am Rande sei angemerkt, dass auch Xenophon die Erziehung der Sklaven mit der von Tieren vergleicht und von der für Menschen angemessenen abgrenzt. 268 Analog zum Verhältnis von Seele und Leib würden Herr und Sklave ein Ganzes bilden, sie seien in einer Interessengemeinschaft, der »Familie« 269, vereint. Aristoteles meint also, dass die Sklaverei für den Sklaven nicht schlecht, sondern nützlich ist. Nur solange die Herrschaft beiden nütze, sei sie »von Natur«. Da ein Teil gegenüber dem Ganzen, von dem es Teil ist, nicht selbstständig sein könne, sei der Sklave gegenüber seinem Herrn unselbstständig, ein Besitzstück. »Der Teil nämlich ist nicht bloß Teil eines anderen, sondern ist überhaupt eines anderen, und dasselbe gilt von einem Besitzstück.« 270 Er sei seinem Herrn ebenso sehr unterworfen, wie ein Leibteil. Der Erläuterung des gemeinsamen Nutzens fügt Aristoteles hinzu: »Ist doch das nämliche dem Teil und dem Ganzen, dem Leibe und der Seele nützlich und der Knecht ein Teil seines Herrn, gleichsam ein beseelter, aber getrennter Teil des Leibes.« 271 Zweifelsohne ist der Zustand der Sklaverei nach der aristotelischen Analyse – die im Übrigen die einzig erhaltene fundierte Auseinandersetzung der Antike mit dieser Thematik ist – ein Zustand völliger Rechtlosigkeit. Das Verhältnis von Herr und Sklave wird zwar als Interessengemeinschaft bestimmt, aber der Sklave kann, sofern er der Beherrschte ist, gegenüber seinem Herrn, der der Herrschende ist, keinerlei Ansprüche auf die Berücksichtigung seiner In-

»Menschen kann man durch Vernunftgründe folgsamer machen, indem man darlegt, daß ihnen Gehorsam zuträglich ist; für die Sklaven aber ist auch die scheinbar nur auf Tiere berechnete Erziehung durchaus förderlich, ihnen Gehorsam beizubringen.« Xen. oec. XIII, 9. 269 Wörtlich ist im Griechischen vom »Haus« die Rede, für »Familie« gibt es kein entsprechendes Wort. Vgl. Flashar: Aristoteles, S. 101. 270 Aristot. pol. I, 4, 1254a. 271 Ebd., I, 6, 1255b. 268

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teressen geltend machen. 272 Da es im Interesse des Sklaven sei, beherrscht zu werden, gelangt er gar nicht erst zu besonderen eigenen Interessen. Andererseits erklärt Aristoteles, dass die Beziehung zwischen dem Herrn und dem Sklaven nicht durch Gewalt determiniert sein sollte und dass zwischen beiden durchaus eine Freundschaft bestehen kann. Gesetze dürfen die Stellung beider allerdings nicht regeln, wenn sie »von Natur« sein soll. Dies ist konsequent, weil die Gesetze nur für Bürger gelten. Der Hinweis auf die Freundschaft ist jedoch insofern erstaunlich, als Aristoteles ihr im 8. Buch der Ethik einen äußerst hohen Rang für den Erhalt des Gemeinwesens zuschreibt. »Freundschaft ist es auch, die die Staaten erhält und den Gesetzgebern mehr am Herzen liegt als die Gerechtigkeit.« 273 Darüber hinaus wird erklärt: »[D]as höchste Recht wird unter Freunden angetroffen.« 274 In den folgenden Kapiteln wird mehrfach hervorgehoben, dass die Freundschaft Gleichheit herstellt. Sicherlich denkt Aristoteles hier vorrangig an die Freundschaft unter Bürgern. Die Gleichheit stellt sich jedoch auch in Freundschaftsverhältnissen ein, in denen Ungleiche befreundet sind. Aristoteles erwähnt die Freundschaft eines Vaters mit dem Sohn, eines Älteren mit einem Jüngeren, eines Mannes mit einer Frau und eines Vorgesetzten mit einem Untergebenen als Beispiele. 275 Insofern der Herr dem Sklaven überlegen ist, wäre zu erwarten gewesen, dass dieses Beispiel ebenfalls angeführt wird. Da es aber zunächst ausgespart bleibt, entsteht der Eindruck, als sei die Unterlegenheit des Sklaven gegenüber dem Herrn durch kein Mehr an Gegenliebe auszugleichen, wie es in den Freundschaften geschieht, in denen die Befreundeten ungleich sind. »In allen diesen auf einer Überlegenheit beruhenden Freundschaften muß die Liebe eine verhältnismäßige sein, muß der Bessere, Nützlichere und sonst Überlegene mehr geliebt werden als lieben. Denn dann, wenn beide Teile nach Würden geliebt werden, entsteht gewissermaßen Gleichheit, was ja als Grundzug aller Freundschaft gilt.« 276 Es wird erläutert, dass die Freundschaft trotz der jeweiligen Ungleichheitsverhältnisse auf etwas Gemeinsames, z. B. den sozialen oder familiären Stand, rekurrieren muss. Der Sklave sei jedoch ein Werkzeug 277, wes272 273 274 275 276 277

Vgl. Höffe: Aristoteles, S. 257. Aristot. eth. Nic. VIII, 1, 1155a. Ebd. Vgl. ebd., VIII, 8, 1158b. Ebd. Vgl. Aristot. eth. Eud. VII, 9, 1241b; VII, 10, 1242a.

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halb mit ihm ebenso wenig wie mit einem Ochsen eine Freundschaft eingegangen werden könne. Der Grund einer möglichen Freundschaft zwischen Herr und Sklave, die es ja dennoch gibt, ist nicht das Herrschaftsverhältnis, so schlussfolgert Aristoteles, sondern das Menschsein. »Sofern er also Sklave ist, ist keine Freundschaft mit ihm möglich, wohl aber sofern er Mensch ist.« 278 Er fügt hinzu: »Denn jeder Mensch, kann man sagen, steht im Rechtsverhältnis zu jedem Menschen, der Gesetz und Vertrag mit ihm gemeinsam haben kann, und damit ist auch die Möglichkeit eines Freundschaftsbandes gegeben, insofern der Sklave ein Mensch ist.« 279 Aristoteles unterscheidet zwischen dem Sklaven, der als Sklave tätig ist, und dem Sklaven als Menschen. Der Sklave wird nicht als Person generell entmenschlicht und zum Tier degradiert, sondern ist dies allein unter dem Aspekt seiner Funktion. Jenseits davon kann aber eine Freundschaft zum Herrn bestehen, weil alle Menschen zu allen anderen in einem Rechtsverhältnis stehen, sofern sie überhaupt rechtsfähig sind. Diese Begründung ist erstaunlich, denn Aristoteles beschreibt die Sklaverei in der Politik eindeutig als eine Institution, die nicht durch Gesetze geordnet wird. Auch in der Ethik war zuvor ausgeführt worden, dass zwischen Herren und Sklaven kein Rechtsverhältnis besteht, weil der Sklave ebenso wie das Kind Teil des Herrn ist und der Herr sich absichtlich selbst Schaden zufügen müsste, um diesen Unrecht zu tun. 280 Dies sei aber nicht möglich. Jenes Rechtsverhältnis, das die Freundschaft zwischen Herr und Sklave ermöglicht, muss folglich ursprünglicher als die Sklaverei sein, obwohl es durch die Sklaverei insofern aufgehoben wird, als es sich in ihr nicht widerspiegelt. Gleichwohl bleibt es im Menschsein aktual, denn Aristoteles erklärt, dass jeder mit jedem in einem Rechtsverhältnis »steht«, wohingegen die Vereinbarung und Einhaltung von Verträgen und Gesetzen eindeutig als der ermöglichende Grund angeführt werden. Meines Erachtens entspricht das hier erwähnte »Recht« eher späteren Naturrechtsvorstellungen als jenes »Naturrecht«, das von Aristoteles als Teil des politischen Rechts thematisiert wird. Aber wie ist ein solches Recht mit der Theorie vom »Sklaven von Natur« vereinbar? Vom aristotelischen Standpunkt aus, kann diese Frage nur im Hinblick auf die soziale Organisationsform beantwortet 278 279 280

Aristot. eth. Nic. VIII, 13, 1161b. Ebd. Vgl. ebd., V, 10, 1134b.

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werden, die die Sklaverei voraussetzt. Das ist in erster Linie die Familie und darüber hinaus die Polis. 281 Denn die Natur des Sklaven mitsamt ihren Erfordernissen, also der körperlichen Stärke und eines geringen Anteils an der Ausübung der Vernunft, lässt sich nicht aus einer Betrachtung der Menschen als Individuen erschließen – eine Sichtweise, die vollkommen außerhalb des Denkhorizonts der griechischen Antike liegt – sondern des Zweckes (τέλος), der, wie oben gezeigt wurde, »mehr« der Natur entspricht. Die Familie dient der »natürlichen Erwerbskunst«, durch die alle Dinge, die zum Überleben notwendig sind, bereitgestellt werden. 282 Im Gegensatz zu Platon, dem eine gemeinschaftliche Produktion der notwendigen Güter und Erziehung der Kinder vorschwebte, vertritt Aristoteles die Ansicht, dass sowohl in der Ökonomie als auch in der Erziehung die jeweilige Fürsorge durch eine Vergemeinschaftung vermindert werden würde. Für Aristoteles bleibt die Familie daher ein wesentliches Element der Polisautarkie. Ihr Beitrag beschränkt sich allerdings nicht allein auf das Ökonomische, da die Unabhängigkeit des Hausherrn nicht Selbstzweck, sondern Voraussetzung für ein politisches und tugendhaftes Handeln ist. Aristoteles hält daher fest, dass es die »natürliche Erwerbskunst« für »Hausvorstände« und »Staatsmänner« gibt. 283 Das ändert aber nichts daran, dass die Zwecke der Familie sowie der Polis nicht dieselben sind, womit erwiesen ist, dass auch die Herrschaftsformen – die Herrschaft eines Herrn über Sklaven und die eines Staatsmannes über Freie – unterschiedlich sein müssen. Gleich zu Anfang der Politik hatte Aristoteles angekündigt, dass es seine Absicht ist, diesen Sachverhalt im ersten Buch darzulegen. Er thematisiert allerdings auch den naturrechtswidrigen Fall einer auf den bloßen Gelderwerb ausgerichteten ökonomischen Praxis. Das Ziel der Erwerbskunst – die Sorge für den Unterhalt und im weiteren Sinne die politische Betätigung – wird zugunsten des Mittels zurückgesetzt, das, zwecklos geworden, unbegrenzt in Anspruch genommen werden kann. 284 Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Gebrauchsund Tauschwert erkennt Aristoteles, dass die Geldwirtschaft praktisch eine schrankenlose Bereicherung ermöglicht und dazu tendiert,

281 Vgl. Pellegrin, Pierre: »Hausverwaltung und Sklaverei (I 3–13)«, in: Höffe, Otfried (Hg.): Aristoteles. Politik, Berlin 2001, S. 42 ff. 282 Vgl. Aristot. pol. I, 8, 1256af. 283 Vgl. ebd., I, 8, 1256b. 284 Vgl. ebd., I, 9, 1257b.

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alle übrigen Künste zu korrumpieren. 285 In ihrer pervertierten Form bedroht die Erwerbskunst folglich auch die politische Kunst und das vollkommene Leben, derentwillen sie eigentlich ausgeübt werden soll. Der Blick auf die unnatürliche Wirtschaftsweise verdeutlicht, was Aristoteles meint, wenn er Tätigkeiten oder soziale Verhältnisse mit dem Zusatz »von Natur« versieht. Er bewertet damit, ob sie ihrem τέλος folgen oder nicht, wobei allerdings zu beachten ist, dass dieses τέλος nicht vor die Sache als Zielsetzung hingestellt wird, sondern als Potenz und aktual ihr Sein bestimmt. Ein Sklave ist deshalb »Sklave von Natur«, weil die Tätigkeit, die er verrichtet, z. B. die Feldoder Bergarbeit, sklavisch ist und das tatsächliche Sklavesein schon die entsprechenden Vermögen dazu voraussetzt. Unter den »Erwerbstätigkeiten aber sind […] die sklavischsten die, wo der Körper am meisten zu tun hat«. 286 Ein starker Körper sowie ein geringer Anteil an der Vernunft sind für die schweren Arbeiten vonnöten. Ohne diese Veranlagungen wäre die Arbeit nicht zu verrichten. »Wir haben uns […] klargemacht, dass der Sklave nur für die notwendigen Arbeiten gebraucht wird, so daß er offenbar auch nur geringerer Tugend bedarf, nicht mehr als nötig ist, um nicht aus Unmäßigkeit und Trägheit seinen Dienst zu versäumen.« 287 Wäre der Sklave vernünftiger und tugendhafter als sein Herr, dann wäre er kein Sklave von Natur, sondern zu anderen Tätigkeiten berufen. Die Versklavung eines Menschen ist für Aristoteles dann gerechtfertigt, wenn dieser die Vermögen besitzt, welche die Erledigung der Arbeit erfordert. Daraus folgt bspw., dass Barbaren oder Feinde nicht grundsätzlich natürliche Sklaven sind. »Denn man muß sagen, daß es Menschen gibt, von denen die einen überall Sklaven sind, die anderen nirgends.« 288 Der Ansicht, dass diejenigen, die eine adlige Herkunft vorweisen können, von Natur aus generell besser seien als Unfreie, kann Aristoteles daher nicht zustimmen. »Indessen will zwar die Natur es so machen, kann es aber oft nicht. Daß also der aufgeworfene Zweifel einen gewissen Grund hat und nicht alle Men»Denn die Mannhaftigkeit z. B. soll nicht Schätze häufen, sondern Mut verleihen, und ebensowenig soll das die Feldherrnkunst und die Heilkunst, sondern die eine soll den Sieg, die andere die Gesundheit bringen. Jene Menschen aber machen aus allen diesen Dingen einen Gelderwerb, als wäre das das Ziel, worauf alles bezogen werden müßte.« Ebd., I, 9, 1258a. Vgl. Flashar: Aristoteles, S. 115 ff. 286 Aristot. pol. I, 11, 1258b. 287 Ebd., I, 13, 1260a. 288 Ebd., I, 6, 1255a. 285

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schen, die Sklaven oder Freie sind, dieses von Natur sind, ist einleuchtend«. 289 Dass die natürliche Sklaverei bei Aristoteles von der Art der Tätigkeit her verstanden wird, verdeutlicht auch die Behauptung, dass die niederen Handwerker in einer »partikulären Sklaverei« leben. 290 Im dritten Buch begründet Aristoteles den Ausschluss dieser von der Politik mit einem Hinweis auf deren Lebensumstände. Der beste Staat aber wird keinen Gewerbsmann zum Bürger machen, und sollte auch er ein Bürger sein, so ist doch die von uns angegebene Tugend des Bürgers nicht jedem und auch nicht dem, der bloß ein freier Mann ist, zuzuschreiben, sondern nur denen, die von dem Erwerb des notwendigen Lebensunterhaltes befreit sind; die aber mit der Beschaffung des notwendigen Lebensunterhaltes zu tun haben, sind, wenn sie für Einen arbeiten, Sklaven, wenn aber für die Gesamtheit, Gewerbsleute und Tagelöhner (βάναυσοι καὶ θῆτες). 291

Zu beachten ist, dass Aristoteles nicht aus Gründen der Verachtung für die niederen Handwerker deren Ausschluss von der Politik »fordert«, sondern er konstatiert, dass die Sorge um den Lebensunterhalt und die Erlangung der bürgerlichen Tugend sich gegenseitig ausschließen. »Denn unmöglich kann, wer das Leben eines Banausen oder Tagelöhners führt, sich in den Werken der Tugend üben.« 292 Der Handwerker kann unter einer oligarchischen Regierung allerdings der partikularen Sklaverei entkommen und Bürger werden, indem er reich wird. Aristoteles weist in diesem Zusammenhang außerdem auf ein thebanisches Gesetz hin, dass die Ämtervergabe an die Bedingung knüpft, mindestens zehn Jahre lang keine Marktgeschäfte betrieben zu haben. Dieses Gesetz schien ihm vermutlich sinnvoll zu sein, weil es von den Neureichen verlangt, vom weiteren Erwerb abzulassen und sich auf das τέλος eines vollkommenen Lebens zu konzentrieren. Somit verhindert es, dass die angehenden Bürger ihren

Ebd., I, 6, 1255b. »Der Sklave lebt mit seinem Herrn zusammen, der Handwerker aber steht ihm ferner und hat nur soviel Anteil an der Tugend als er Anteil an der Sklaverei hat. Der niedere Handwerker lebt nämlich in einer partikulären Sklaverei.« Ebd., I, 13, 1260ab. 291 Ebd., III, 5, 1278a. Auch Xenophon erklärt, dass die handwerklichen Betätigungen mit politischem Handeln nicht vereinbar sind und einige Gemeinwesen ihren Bürgern deren Ausübung deshalb verbieten. Vgl. Xen. oec. IV, 2 f. 292 Ebd. (Aristoteles). 289 290

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neuen Status lediglich zur Mehrung ihrer Reichtümer nutzen und die Polis von Prinzipien der Ökonomie überwuchert wird. Eine adäquate Interpretation der aristotelischen Analyse der Sklaverei ist aus drei Gründen mit Schwierigkeiten verbunden. Erstens wird der Begriff φύσις zumeist im modernen Sinne einseitig als natürliche Veranlagung eines Individuums missverstanden. Ein Mensch wäre ein Sklave von Natur, weil er sich aufgrund seiner Natur nur zum Sklaven entwickeln könne. Die φύσις wird bei Aristoteles jedoch nicht allein als eine potentiell zur Entfaltung kommende Anlage thematisiert, sondern ist vorrangig auf das εἶδος bezogen. 293 Gleichwohl ist das εἶδος nicht ausschließlich φύσις, sondern »mehr φύσις«, so dass die φύσις sich keineswegs nur in der vollendeten Gestalt zeigt. Zweitens: Da Aristoteles den Gegensatz von Sein und Sollen nicht kennt und das Sein des Seienden als Einheit von Wirklichkeit und Möglichkeit gedacht wird, werden z. B. seine Äußerungen über die Vermögen der Sklaven als Ontologisierung einer moralisch zweifelhaften Normativität wahrgenommen. Die These, dass der Sklave das Vermögen zu überlegen nicht »hat«, bezieht sich aber nicht auf einen Zustand, der so sein soll, und dient auch nicht der Legitimierung bestehender Verhältnisse 294 – denn eine solche Legitimation würde ebenfalls die Unterscheidung von Sein und Sollen voraussetzen. Vielmehr wird mit ihr erklärt, was zu der Zweckbestimmung »Sklavesein« gehört. Demnach bedarf der Sklave, um Sklave zu sein, nur geringer Vernunft. Folgerichtig konstatiert Aristoteles auch, dass Sklaven, die mit »freien Aufgaben« betraut werden, nicht mehr wie Sklaven behandelt werden sollen. 295 Drittens wird die Interpretation dadurch erschwert, dass der Mensch nicht als Individuum verstanden wird. Die aus moderner Sicht so naheliegende Frage, ob sich die Arbeit nicht so verteilen ließe, dass auf die Sklaverei verzichtet werden könnte, um das Glück der größten Anzahl von Menschen zu realisieren, kann von Aristoteles nicht gestellt werden, weil sie eine am Individuum bemessene Handlungsethik voraussetzen würde. Daher kreisen die Spekulationen darüber, ob die antike Wirtschaftsweise auch ohne Sklaven hätte auskommen können, um sich 293 Flashar unterscheidet zwischen teleologischem und biologischem Aspekt des Naturbegriffs, übersieht allerdings völlig, dass die ontologische Gewichtung der Aspekte, also deren Mitwirkung daran, ein Seiendes als solches erscheinen zu lassen, deutlich zugunsten des εἶδος ausfällt. Vgl. Flashar: Aristoteles, S. 108 f. 294 Vgl. u. a. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 125. 295 So Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 437 Anm. 11.

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selbst. 296 Die εὐδαιμονία wird durch Mehrbeteiligung nicht maximiert. Vor allem aber würde sie sich bei einer gleichen Verteilung der Arbeit auf alle, die dem Gemeinwesen angehören, weniger deutlich vom Haushaltsbereich, in dem Herrschaft zugelassen werden kann, abgrenzen. Der freie Bürger wäre nicht mehr ausschließlich frei und dem tugendhaften Leben verpflichtet, sondern nur noch teilweise, wodurch das »zielhafteste Ziel« in seiner Unabhängigkeit beeinträchtigt werden würde. Zum Problem der individualethischen Bewertung eines Denkers, der das Individuum nicht kennt, gehört auch, dass – im Diskurs über die Grundlagen der modernen Menschenrechtsgeschichte – gerade jene Entdeckungen übersehen werden, die im Hinblick auf die nachfolgende Geschichte der Subjektivierung des Menschen von herausragender Bedeutung sind. Dazu gehört bspw. das von Aristoteles entdeckte Vermögen der προαίρεσις. Die Natürlichkeit der Sklaverei ist bei Aristoteles letztlich ein Resultat der Zweckordnung, in die sich Seiendes nach dem Maß der Fremd- oder Eigenbewegung einfügt. Je mehr etwas nur durch Zwang oder Gewalt, also von außen kommenden Kräften, bewegt wird, desto niedriger ist die Seinsart. Der Mangel an Vernunft oder der Werkzeugcharakter des Sklaven sind keine Belege dafür, dass der Sklave generell eine niedere Menschennatur hat, sondern meinen lediglich, dass jemand, solange er nicht freiwillig handelt, Sklave ist. Im Sklaven liegt nicht der Anfang einer Bewegung, daher ist er »überhaupt eines anderen«. Zur Natur des Menschen gehört laut Aristoteles die Sklaverei, weil der Mensch dazu gezwungen ist, das zum Überleben Notwendige zu tun. Der Gedanke einer sklavenlosen Gesellschaft wird daher nur insoweit berührt, als es vorstellbar wäre, dass der Mensch aller Mühe der Arbeit ledig sein könnte. »[W]enn […] das Weberschiff von selber webte und der Zitherschlägel von selber spielte, dann brauchten allerdings die Meister keine Gesellen und die Herren keine Knechte.« 297 Nach Aristoteles’ Ansicht ist die Sklaverei alternativlos, weil der Mensch aufgrund seiner biologischen Natur der Notwendigkeit und der mit ihr verbundenen Zwänge nicht entkommen kann. Das Institut der Sklaverei steht daher nicht im WiderVgl. bspw. Pellegrin: »Hausverwaltung und Sklaverei (I 3–13)«, S. 49. Aristot. pol. I, 4, 1253bf. Wenig plausibel ist dagegen die Annahme Flashars, dass Aristoteles mit dem Hinweis auf die automatischen Werkzeuge »in kühner Vision einer modernen Technik« eine »Sonderlehre« entwickeln wollte, die »das bestehende System der Sklaverei bis zu einem gewissen Grade in Frage gestellt hätte«. Vgl. Flashar: Aristoteles, S. 111. 296 297

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spruch zum Naturrecht, zur Willenswahl oder zum Vernunftvermögen des Menschen, wie in der Forschungsliteratur häufig angenommen wird. 298 Bei Vergleichen zwischen antiker und moderner Freiheit bzw. antiker und moderner Demokratie wird oft darauf hingewiesen, dass der Mensch der liberalen Gesellschaft nach griechischem Verständnis als »unfrei« zu qualifizieren wäre, sofern er nicht unmittelbar politisch tätig ist. Dem lässt sich hinzufügen, dass er nach Aristoteles solange ein Sklave von Natur bleibt, wie er – trotz aller Erleichterungen der Arbeit durch die moderne Technik – dem Arbeits- und Konsumzwang unterworfen ist. Die Kritik an Aristoteles stützt sich vor allem auf die Thesen, dass die Idee der Gleichheit aller Menschen durch die Sophistik bereits formuliert und in diesem Zusammenhang die Einrichtung der Sklaverei kritisiert worden sei. 299 Ohne diese Annahmen könnte der vermeintliche Rückschritt im naturrechtlichen Denken Platons und Aristoteles’ nicht konstatiert werden. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass das naturrechtliche Denken keineswegs so weit fortgeschritten war, wie häufig angenommen wird. In Kapitel II.3. habe ich bereits darauf hingewiesen, dass die von Antiphon entdeckte Gleichheit sich lediglich auf die leibliche Verfassung bezieht und sowohl Antiphon als auch Hippias meinten, dass von der natürlichen Gleichheit kein Weg zu gleichen Rechten oder gesetzlicher Gerechtigkeit führe. Der sophistische Gleichheitsgedanke ist nicht auf der Ebene der Idee 300 angesiedelt. Die einzige Textstelle, die zumindest dem Wortlaut nach eine Kritik an der Sklaverei belegt, geht auf Alkidamas zurück, sie richtete sich vermutlich aber gegen die Besonderheiten der spartanischen Helotie. 301 Dennoch nahm Aristoteles die Behauptung 302 ernst, dass die Sklaverei naturwidrig ist und bloß auf So bspw. von Ishay: The History of Human Rights, S. 54; Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 125. 299 Vgl. Kühnhardt: Die Universalität der Menschenrechte, S. 41 f.; Vogt: Sklaverei und Humanität, S. 135. 300 Vgl. Kap. IV.1. 301 Das System der Helotie erschien auch vor dem Hintergrund der Entstehung eines hellenischen Identitätsbewusstseins und der damit einhergehenden Forderung nach einer Humanisierung der Kriegsführung überholt. Vgl. Welwei, Karl-Wilhelm: »Herren und Sklaven im archaischen und klassischen Griechenland. Überlegungen zu ihrem wechselseitigen Verhältnis«, in: Herrmann-Otto (Hg.): Antike Sklaverei, S. 158 f., 164 f. 302 Aristoteles sagt nicht, wer die Sklaverei auf diese Weise kritisierte. Die Entgegensetzung von φύσις und νόμος erweckt den Eindruck, dass die Kritik sophistischen 298

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Gesetzen beruht. Er erwähnt diese Ansicht, um sich davon abzugrenzen. »[D]ie anderen glauben, die Despotie widerstreite dem Naturrecht. Nur kraft positiven Gesetzes wäre ihnen zufolge der eine ein Sklave und der andere ein Freier, dagegen von Natur unterschieden sie sich durchaus nicht, und darum sei die Gewalt des Herrn über den Sklaven auch nicht rechtmäßig, sondern sie beruhe lediglich auf Zwang.« 303 Euripides erklärt in Ion zwar, dass Sklave und Bürger im »edlen Sinn« einander gleich sein können, die Forderung nach einer Aufhebung der Sklaverei wird allerdings an keiner Stelle seines Werkes erhoben. Das Schicksal der Sklaverei wird stattdessen als göttliche Zuweisung verstanden. 304 In der gesamten griechisch-römischen Literatur gibt es nur wenige Hinweise, mit denen sich die Forderung nach einer gänzlichen Abschaffung der Sklaverei nachweisen lässt. Ausdrücklich formuliert erst Zenon, beeinflusst von Antisthenes und den Kynikern, eine solche Kritik, deren Radikalität von den nachfolgenden Stoikern allerdings abgemildert wurde. 305 Nicht einmal revoltierende Sklaven, die im bewaffneten Kampf ihre Freiheit gewinnen wollten, forderten die generelle Abschaffung der Sklaverei. 306 Die Komödiendichtung kennt zwar verkehrte Welten, in denen Frauen die Männer oder kluge Sklaven ihre Herren beherrschen, eine sklavenlose Gesellschaft liegt aber außerhalb ihrer Vorstellungskraft. 307 In Aristophanes’ Komödie Die Weibervolksversammlung Ursprungs ist. Falls Alkidamas’ Position hiermit referiert werden sollte, bezöge sie sich, wie erwähnt, auf die spartanische Helotie. Die ausdrückliche Zurückweisung der Gewaltherrschaft des Herrn lässt jedoch auch die Vermutung zu, dass die Kritik dem Kynismus entstammt, denn eine generelle Kritik an der Sklaverei als Institution wurde vermutlich nur von den Kynikern und den ihnen diesbezüglich folgenden frühen Stoikern erhoben. Vgl. dazu Kap. V.2.3. 303 Aristot. pol. I, 3, 1253b. 304 Vgl. Eur. Frg. 218. 305 Vgl. Kap. V.2.3. 306 Vgl. Welwei: »Ius naturale und ius gentium in der antiken Beurteilung von Sklaverei und Freiheit«, S. 81. 307 Vgl. Pellegrin: »Hausverwaltung und Sklaverei (I 3–13)«, S. 48. Eine Ausnahme wird in der Komödie Theria erwähnt. Krates lässt einen Redner von Werkzeugen erzählen, die von selbst die Arbeit verrichten, sodass Sklaven wohl überflüssig wären. »Ein jeglich Stück des Hausrats kommt dann, wenn du ihm rufst, von selbst. Zum Beispiel: ›Tischlein, deck dich, rück näher her! Und Säckchen Mehl, daß du das Brot mir knetest! Schenk ein, mein Krug! Doch wo ist’s Glas? Im Kommen soll sich’s spülen! Herauf, ihr Brötchen! Und der Topf soll seinen Mangold spenden. He, Fisch, marsch marsch! ›Ich bin doch erst auf einer Seit’ gebraten.‹ Dann dreh dich um und salze dich und schmälze dich gefälligst!‹« Aristoph. Frg. 14.

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(492) stellt Praxagora ihr Konzept einer egalitären Gesellschaft vor, in der alle gleich viel besitzen und gleichberechtigt sein sollen. Die Frage aber, wer dann die Äcker bewirtschaften soll, wird ganz selbstverständlich mit »Die Sklaven« beantwortet. 308 In Plutos (388) heilt der Bauer Chremylos den blinden Plutos, damit dieser erkennt, wie ungerecht der Besitz verteilt ist. Von Penia, der Personifikation der Armut, wird ihm daraufhin vorgeworfen, dass die Menschen Kunstfertigkeit und höheres Wissen nur anstreben, wenn der Besitz ungleich verteilt ist. Ansonsten würden sie jede Arbeit einstellen. Chremylos wendet dagegen ein, dass diese von den Sklaven erledigt werden würde, worauf Penia antwortet, dass niemand die Gefahr der Sklavenjagd auf sich nehmen würde, wenn alle reich wären. 309 Obwohl der Dichter in beiden Komödien der Darstellung seiner Ideen für eine gerechtere Welt freien Lauf lässt und utopische Welten entwirft, in denen Mann und Frau politisch gleichberechtigt sind und es keine Besitzunterschiede mehr gibt, gelangt die Einbildung nicht zur Idee einer sklavenlosen Gesellschaft. Das Unrecht der Sklaverei wird als solches nicht einmal erkannt. Platon leitet die Erklärung, wie die Sklaven seiner Ansicht nach zu behandeln seien, mit einer merkwürdigen Äußerung ein. »[E]s ist doch klar, daß der Mensch, dies überhaupt so schwer zu behandelnde Wesen, sich auch durchaus nicht dazu hergeben und dazu bringen lassen will, die an sich so notwendige Unterscheidung zwischen Sklaven, Freien und Herren tatsächlich anzuerkennen.« 310 Diese Behauptung deutet an, dass es im Wesen des Menschen etwas gibt, das mit der Unterscheidung von Freien und Sklaven unvereinbar ist. Laut Apelt handelt es sich um einen versteckten Hinweis auf die »Anerkennung der allgemeinen gleichen Menschenwürde«. 311 Ebenso wie Aristoteles lehnt Platon eine rein gewaltsame Beherrschung der Sklaven ab. Mehr noch als im Verhältnis zu Gleichgestellten hat der Gerechte gegenüber Wehrlosen seine Achtung vor dem Recht zu beweisen. 312 An der Unabdingbarkeit der Sklaverei in den platonischen Staatskonzeptionen ändert das allerdings nichts.

308 309 310 311 312

Aristoph. Eccl. 651. Aristoph. Plut. 517 ff. Plat. leg. VI, 19, 777. Vgl. ebd., Anm. 78. Vgl. ebd.

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Der gegen Aristoteles erhobene Vorwurf, er habe die Sklaverei »gerechtfertigt«, trifft nicht zu, insofern damit gemeint ist, dass das erste Buch der Politik einer »sophistischen Aufklärung« und ihren angeblich abolitionistischen oder egalitaristischen Tendenzen entgegengestellt worden wäre. Aristoteles hätte diese Sichtweise wohl auch eingehender erläutert und namentlich auf entsprechende Theoretiker verwiesen, wenn dies die eigentliche Absicht gewesen wäre. Der Gegensatz von Naturrecht und Sklaverei wird aber nur einmal – in Verbindung mit einer Zurückweisung von gewaltsamen Herrschaftsverhältnissen – erwähnt. Eine etwaige Rechtfertigung könnte den Kynikern entgegengehalten worden sein. Keineswegs evident ist, dass diese Ansicht unter Berufung auf die Gleichheit aller Menschen vertreten wurde. Brieskorn meint, dass die Griechen und insbesondere Aristoteles sich mit »der Ungeheuerlichkeit auseinanderzusetzen [hatten], daß die von Natur aus doch im wesentlichen gleichen Menschen offenbar nur zusammenleben konnten, wenn sie Unterund Überordnung einrichteten und Herrschaft zuließen« 313 und unterstellt dabei, dass die Idee der natürlichen Gleichheit bereits im 4. Jahrhundert klar umrissen gewesen wäre. Außer Frage steht, dass die Sklaverei nach Auffassung antiker Autoren ein Übel ist. Schändlich ist sie jedoch vor allem dann, wenn Freie anstelle eines ehrenhaften Todes im Krieg ein Leben in der Sklaverei wählen. 314 Dann stellt sich heraus, dass ihre wahre Natur die des Sklaven ist. Das heißt jedoch nicht, dass nun anstelle einer vernünftig-herrschenden eine sklavisch-dienende Veranlagung in ein Subjekt hineinprojiziert wird, sondern dass die Arbeitstätigkeit, der Zwang und die Gewöhnung ans Gehorchen die Schlechtigkeit mit sich bringen. Platon zitiert in diesem Zusammenhang Homer: »Siehe, es raubt der waltende Zeus jedwedem Gesellen,/Wenn ihn der Tag der Knechtschaft traf, vom Verstande die Hälfte.« 315 Nicht von Anfang an, sondern mit Beginn der Versklavung brauche der Sklave nur noch einen Teil seiner Vernunft. Auch der Platonschüler Herakleides Pontikos merkt an, dass die Natur eine Folge der Tätigkeit ist. »Genießen und Wohlleben ist Sache der Freien, denn dies erhebt und steigert die Seelen. Schuften dagegen ist Sache der Sklaven und kleinen Leute, Brieskorn: Menschenrechte, S. 27. In diesem Sinne fragt Euripides: »Wer aber muß Sklave sein, wenn er den Tod nicht scheut?« Eur. Frg. 958. 315 Plat. leg. VI, 19, 777. 313 314

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daher verkümmern diese auch in ihrer Natur«. 316 Der in Griechenland tobende Streit über die Sklaverei, von dem sowohl Platon als auch Aristoteles berichten 317, kreist um die Frage, wer unter welchen Umständen zu Recht die Sklaverei zu ertragen hat. Indem Aristoteles diese vom Standpunkt der Haushaltslehre her wissenschaftlich beantwortet und somit Gründe für die Sklaverei anführt, »rechtfertigt« er sie in gewisser Weise auch. Die Haushaltslehre ignoriert nicht den Haushalt, zu dessen Führung sie eine Anleitung sein soll. Insofern die Natur mit dem Zweck der Tätigkeit übereinstimmen muss, ist derjenige Sklave von Natur, der die geforderten Tätigkeiten bestmöglich erfüllen kann. Die Natürlichkeit ergibt sich primär nicht aus der Zugehörigkeit zu nichthellenischen Ethnien. Auf den »Barbaren von Natur« komme ich im Folgenden zurück. Nach Aristoteles ist die Sklaverei nur dann wirklich nützlich, wenn sie dem Herren und dem Sklaven Vorteile verschafft. Diese Bedingung ist erfüllt, wenn zwischen beiden Freundschaft besteht, die Gewalt kategorisch ausschließt. »Deshalb ist auch eine gegenseitige Freundschaft zwischen einem Sklaven und einem Herrn, die beide ihren Stand von Natur verdienen, nützlich. Wenn aber ihre Stellung nicht darauf, sondern auf Gesetz und Gewalt beruht, so gilt das Gegenteil von dem, was wir ausgeführt haben.« 318 Die geforderte Freundschaft beinhaltet außerdem, dass der Herr den Sklaven nicht nur als Bediensteten, sondern zugleich als Menschen betrachtet. Auch die vernünftige Belehrung, derer die Sklaven mehr als Kinder bedürfen, setzt voraus, dass der Herr auf Gewalt verzichtet. Ein reines Gewaltverhältnis zwischen Herr und Sklave lehnt Aristoteles ab. 319 Wie sehr diese Lehre von den realen gesellschaftlichen Verhältnissen abweicht oder sich doch auf diese auswirken konnte, lässt sich schwer beurteilen. Platon begründet die Zweckmäßigkeit einer besseren Behandlung der Sklaven unter anderem mit dem Unheil, das aus Sklavenaufständen erwächst, und verweist auf die Aufstände der Messenier gegen die Spartaner. In politisch unsicheren Zeiten kam es vor, dass sich die Bürger zu einem milderen Umgang mit den Sklaven verpflichteten, um Aufständen vorzubeugen. Auch der in der Forschung weniger beachtete Ratschlag des Aristoteles, die Sklaven für 316 317 318 319

Athen. deipn. XII, 512b (Übers. aus Vogt: Sklaverei und Humanität, S. 19). Vgl. Plat. leg. VI, 19, 776; Aristot. pol. I, 6, 1255af. Aristot. pol. I, 6, 1255b. Vgl. ebd., I, 13, 1260b.

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ihre Dienste mit der Freilassung zu belohnen 320, war wohl unter den Bedingungen der Sklaverei in der Polis kaum realisierbar. Laut Welwei wird damit »das Postulat einer gleichsam natürlichen Grenze zwischen Freien und Unfreien zumindest implizit in Frage [gestellt]«. 321 Wie ich zu zeigen versucht habe, ist die Natur für Aristoteles allerdings ohnehin keine statisch-substantielle Anlage. Die Belohnung mit der Freilassung würde der Idee eines Sklaven von Natur völlig widersprechen, wenn mit »Natur« eine Veranlagung gemeint wäre, die ein vernünftiges und freies Leben ausschließt. Wie sollte jemand frei sein können, der von Geburt an nur zum Gehorchen fähig, also unabänderlich ein Sklave ist? Im geschichtlichen Rückblick zeigt sich, dass Aristoteles’ Bestimmung des »Sklaven von Natur« zur Verfestigung 322 der Einrichtung der Sklaverei beitrug. Diese legitimierende Funktion konnte die aristotelische Haushaltslehre jedoch erst erfüllen, nachdem die φύσις primär nicht mehr als gemeinschaftliches Ziel, sondern gemäß der natura als Veranlagungsnatur vorgestellt wurde, wobei nicht übersehen werden darf, dass z. B. der spanisch-spätscholastische Rekurs auf Aristoteles sowohl den Befürwortern der Sklaverei als auch ihren Gegnern, die sich auf die allgemeine Vernunftnatur und das Naturrecht beriefen, zur Untermauerung ihrer Thesen verhalf. Innerhalb der Antike wurde mit der Akzentverschiebung beim Naturbegriff zugunsten der Veranlagung die Idee einer allgemeinen Menschennatur denkbar, auf deren Grundlage verlautbart werden konnte, dass von Natur aus alle Menschen frei sind. Damit verband sich jedoch nicht Vgl. ebd., VII, 10, 1330a. Welwei: »Ius naturale und ius gentium in der antiken Beurteilung von Sklaverei und Freiheit«, S. 87 f. 322 Klees weist darauf hin, dass die Theorie bei einigen Schriftstellern der frühen Kaiserzeit aufgegriffen wird. Vgl. Klees: »Die römische Einbürgerung der Freigelassenen und ihre naturrechtliche Begründung bei Dionysios von Halikarnassos«, S. 97 ff. Der Neupythagoreer Bryson bestimmt den »Sklaven von Natur« im Unterschied zum kriegsrechtlich Versklavten und zum »Sklaven der Leidenschaften« folgendermaßen: »Sklave von Natur ist derjenige, der aus eigenem Vermögen nur dazu in der Lage ist, seinem Herrn körperlich zu dienen, ihn unterwegs zu begleiten und das Gepäck zu tragen, Strapazen und Bedienung auf sich zu nehmen, ohne dass seine Seele Tugend oder sittliche Schlechtigkeit entwickelt.« Zitiert nach ebd., S. 98. Zur Rezeption der aristotelischen Konzeption in der Hochscholastik vgl. Köhler, Theodor W.: »Gleiche Menschennatur – naturgegebene soziale Unterschiede. Die Rezeption der aristotelischen Lehre vom physei doulos«, in: Fidora, Alexander/Fried, Johannes/ Lutz-Bachmann, Matthias/Schorn-Schütte, Luise (Hg.): Politischer Aristotelismus und Religion in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2007. 320 321

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zwangsläufig die Forderung nach einer Aufhebung der Sklaverei. 323 Durch die Konfrontation mit der römischen Freilassungspraxis wurde eine Infragestellung der bei den Griechen verbreiteten Ansicht, dass es »natürliche« Sklaven gibt – in dem Sinne, dass Barbaren eher versklavt werden sollten und Sklaven grundsätzlich schlechtere Menschen sind – gefördert. 324 Die Natürlichkeit des Versklavtseins steht bei Aristoteles in einem Zusammenhang mit der Wesensbestimmung des Menschen als ζῷον πολιτικόν. Die Frage, wer der Mensch ist, wird von Aristoteles nicht direkt beantwortet, denn der Mensch ist für die politische Gemeinschaft ὕλη, das Unbestimmte. Als Einzelwesen kann er gerade nicht existieren. »Wer aber nicht in Gemeinschaft leben kann, oder ihrer, weil er sich selbst genug ist, gar nicht bedarf, ist kein Glied des Staates und demnach entweder ein Tier oder ein Gott.« 325 Hier endet das Nachdenken über den Menschen als Einzelnen. In einem höheren Sinne ist nur derjenige Mensch, der an der Freiheit und Gleichheit innerhalb des politischen Bereichs teilhat. Ein begründetes Verständnis vom Menschen als Teil der Menschheit kann so nicht aufkommen. In der aristotelischen politischen Philosophie fehlt ein τέλος 323 Chrysipp vertrat die Ansicht, dass »kein Mensch […] von Natur aus ein Sklave [ist]«, erklärte aber auch, »dass Sklaven auch als Freigelassene noch Sklaven seien«. SUS, Frg. 678 u. 682 = SVF III 352 (p. 86, 18–19) u. SVF III 353. (Die Angaben zu den Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF) sind der Sammlung von Nickel (Stoa und Stoiker = SUS) entnommen und beziehen sich jeweils auf den vollständigen Fragmenttext. Fehlt im Folgenden bei einem Verweis auf SUS die zusätzliche SVF-Angabe, dann kommt das Fragment in den SVF nicht vor.) Vgl. Kap. V.2.3. 324 Die römische Freilassungspraxis zeichnete sich dadurch aus, dass mit der Freilassung zugleich der römische Bürgerstatus verliehen wurde. Außerdem konnte ein Herr selbstständig die Freilassung verfügen, während Freilassungen bei den Griechen auf staatlichen Beschluss hin erfolgten. Freigelassene erhielten in der Polis den Status von Metöken, in Rom wurden sie zu Klienten ihres früheren Herrn. Der Makedonenkönig Philipp V. erkannte das militärisch-machtpolitische Potential der römischen Freilassungspraxis und sah darin auch einen Grund für die territoriale Expansion Roms. Ständige Einbürgerungen vergrößern die Bürgerschaft und stärken somit das Militär. Die verbündete Stadt Larissa forderte er vor diesem Hintergrund dazu auf, alle ortsansässigen griechischen Metöken in die Bürgerschaft aufzunehmen. Vgl. Klees: »Die römische Einbürgerung der Freigelassenen und ihre naturrechtliche Begründung bei Dionysios von Halikarnassos«, S. 92–94. Der Rhetor und Geschichtsschreiber Dionysios von Halikarnassos (ca. 54–8 n. d. Z.) war darum bemüht, die römische Freilassungspraxis, die Bestandteil der romkritischen Einstellung einiger Griechen war, durch eine naturrechtliche Begründung aufzuwerten. Vgl. ebd., S. 94– 97. 325 Aristot. pol. I, 2, 1253a.

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des Menschen als Menschen sowie der Menschheit als ganzer. Dass einige für die fortdauernde Autarkie der Polis versklavt werden müssen, widerspricht daher keinem τέλος und das heißt, auch nicht dem Naturrecht. Dieses ist nach Aristoteles kein Recht aller Menschen, weil es nicht mit einer Natur in Verbindung steht, die allen gemeinsam oder überhaupt dem einzelnen Menschen immanent zu eigen wäre. Die Natur schreibt vor, dass ein tugendhaftes Leben nur unter Ausschluss der sklavischen Arbeit realisiert werden kann. Dass Aristoteles die Natur als Zweck der Tätigkeit und nicht als immanente Eigenschaft bestimmter Menschen betrachtet, verdeutlicht insbesondere die Behauptung, dass mit dem Sklaven als Menschen eine Freundschaft möglich ist. Das Schicksal der Sklaverei wird gerade nicht auf eine angeborene Veranlagung des Einzelnen zurückgeführt. Der Zweck der Sklaverei verdeckt auch nicht das gesamte Menschsein. Der Sklave wird nie völlig zum Tier, weil das Menschliche in ihm potentiell erhalten bleibt und jederzeit in freundschaftlichen Beziehungen verwirklicht werden kann. Der in partikulärer Sklaverei lebende Tagelöhner oder Handwerker kann, wenn er zu Reichtum gelangt, sogar politisch tätig werden. Die Alternativlosigkeit der Sklaverei betrifft demnach die Einrichtung als solcher, die solange nicht aufgehoben werden kann, wie der Zwang zur Bereitstellung des zum Überleben Notwendigen den Menschen gängelt. Dadurch wird allerdings nicht das Leben einzelner Menschen determiniert. Wie oben bereits erwähnt, wird die potentiell stets vorhandene Menschlichkeit damit begründet, dass »jeder Mensch […] im Rechtsverhältnis zu jedem Menschen [steht], der Gesetz und Vertrag mit ihm gemeinsam haben kann«. 326 Das hier angesprochene alle Menschen verbindende Recht (δίκαιον παντὶ ἀνθρώπῳ) hat viel mehr mit der späteren Naturrechtsvorstellung zu tun als jenes tatsächlich von Aristoteles als Naturrecht bezeichnete Recht. Denn Ersteres bezieht sich auf alle Menschen, es begründet sich selbst aus deren Rechtsfähigkeit und es wird durch die Sklaverei nicht abgeschafft oder ersetzt, sondern bleibt als Potenz bzw. Veranlagung der Menschen erhalten – nicht des Menschen als Repräsentant der Menschheit, diesen entscheidenden Schritt geht Aristoteles gerade nicht. Es ist der Grund dafür, dass jederzeit zwischen den Menschen etwas Gemeinsames entstehen kann, sodass Freundschaft möglich wird. Freundschaftliche Verhältnisse werden aber nicht nur durch die 326

Aristot. eth. Nic. VIII, 13, 1161b.

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Δκαιοσύνη bei Platon und Aristoteles

Sklaverei erschwert, sondern ebenso durch die Tyrannis, mit der Aristoteles die Sklaverei vergleicht. Das Gemeinsame ist in der reinen Sklaverei ebenso wie in der Tyrannenherrschaft zerstört, weil in beiden Herrschaftsformen das Verhältnis zum anderen einen instrumentellen Charakter hat. Der Tyrann pflegt gegenüber den Bürgern »ein Verhältnis wie das des Werkmeisters zu seinem Werkzeug«, er behandelt sie also wie Sklaven. 327 Hier wird deutlich, dass an der Schlechtigkeit der reinen Sklaverei sowie der Tyrannis für Aristoteles kein Zweifel besteht. Trotzdem wird jene, wie die anderen Regierungsformen auch, ohne jede moralische Verurteilung besprochen. So erläutert Aristoteles, durch welche Praktiken ihr Erhalt gesichert werden kann. Der Tyrann muss bspw. Zusammenkünfte aller Art unterbinden, damit »Selbstgefühl und wechselseitiges Vertrauen« unter den Bürgern nicht entstehen können. »[Man sorgt] dafür, daß die Bürger, die daheim sind, sich immer in der Öffentlichkeit zeigen und vor ihrer Türe aufhalten, weil so am wenigsten verborgen bleibt, was sie tun, und sie als beständige Sklaven an niedrige Gesinnung gewöhnt werden.« 328 Die niedrige Gesinnung könnte aber nicht das als δύναμις fortbestehende, alle Menschen verbindende Recht aushebeln. Sie macht es lediglich unwahrscheinlicher, dass sich Freundschaften bilden können. Aristoteles stellt fest, dass es in der Sklaverei und unter der Tyrannis kaum Freundschaften gibt. In der Demokratie kommt sie dagegen am häufigsten vor, weil die Gleichheit hier am stärksten ausgeprägt ist. Daraus lässt sich schließen, dass die Demokratie dem Rechtsverhältnis, das potentiell alle Menschen verbindet, am meisten entspricht. Die Tyrannis kann zugunsten einer besseren Regierungsform überwunden werden, die Sklaverei offenbar nicht. Denn auch der mit dem Herrn befreundete Sklave bleibt dem Status nach Sklave wie der Nachsatz »insofern der Sklave ein Mensch ist« 329 verdeutlicht. Dass die Tyrannis es aber überhaupt vermag, die Bürger mittels der Gewöhnung an bestimmte Verhaltensweisen zu Sklaven zu degradieren, beweist sehr deutlich, dass das Sklaven-Dasein nicht per se an eine im Menschen vorfindliche natürliche Veranlagung geknüpft ist 330, sondern an die Herrschaft, die »von Natur« besteht, wenn sie 327 328 329 330

Vgl. ebd., VIII, 13, 1161a. Aristot. pol. V, 11, 1313b. Aristot. eth. Nic. VIII, 13, 1161b. So bspw. Pellegrin: »Hausverwaltung und Sklaverei (I 3–13)«, S. 48.

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Aristoteles – die Natur ist das Ziel

auf den Bereich des Hauswesens beschränkt bleibt und unnatürlich wird, wenn sie auf den gesamten Bereich der Polis ausgreift. Die Sklaverei erfüllt dann nicht mehr den Zweck, die Bürger von dem Bereich der Notwendigkeiten zu befreien. Dagegen scheint allerdings zu sprechen, dass Aristoteles die Barbaren ebenfalls von Natur aus für sklavisch hielt. Wie können sie dies aber »von Natur« aus sein, wenn die Sklaverei in ihren Despotien nicht dem Zweck einer Befreiung der Bürger von der Arbeit dient? Zu den barbarischen Völkern erklärt Aristoteles: Diese alle haben eine Gewalt ähnlich der Tyrannis, sind aber gesetzmäßig und bestehen von Alters her. Weil nämlich die Barbaren von Natur sklavischeren Sinnes sind als die Griechen, und von ihnen wieder die Asiaten mehr als die Europäer, so ertragen sie die despotische Herrschaft gar nicht widerwillig. Diese Königtümer sind mithin aus solchem Grund tyrannisch, gleichzeitig aber, weil sie auf Herkommen und Gesetz beruhen, von festem Bestande. 331

Noch deutlicher wird der scheinbare Widerspruch zwischen einem für alle Menschen gültigen Naturziel und der Unterscheidung von griechischer und barbarischer Natur, wenn Aristoteles beide Verständnisweisen nebeneinander verwendet. Aber vielleicht verhält sich dieses bei einer bestimmten Gattung von Menschen wirklich so, bei einer anderen nicht. Es gibt nämlich solche, die von Natur darauf angelegt sind, unter einem sklavischen Regiment zu stehen, und andere, die für ein königliches, und noch andere, die für ein freistaatliches Regiment von Hause aus disponiert sind, und für die sonach die entsprechende Herrschaft gerecht und nützlich zugleich ist. Die Tyrannis aber ist nicht der Natur gemäß, noch sonst eine derjenigen Verfassungen, die eine Ausartung darstellen; denn sie bilden sich gegen die Natur (παρὰ φύσιν). 332

Wie kann die Tyrannis generell der Natur des Menschen widersprechen, wenn die Barbaren aufgrund ihrer Natur in despotischen Herrschaften leben? Zunächst gilt auch hier, dass die Natur vom aktualen Zustand nicht zu trennen ist. Wer die Perser sind, welche Natur sich in ihrer Verfasstheit zeigt, lässt sich nicht aus Spekulationen über eine allen gemeinsame Menschennatur ermitteln, sondern nur anhand einer Betrachtung ihrer Regierungsform. Sie sind von Natur aus sklavischeren Sinnes, weil sie faktisch in einer der Tyrannis ähn331 332

Aristot. pol. III, 14, 1285a. Ebd., III, 17, 1287b.

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lichen Herrschaftsform leben, ohne sich gegen diese zu erheben. Aristoteles weist ausdrücklich darauf hin, dass der Unterschied zwischen griechischen und barbarischen Tyranneien bzw. Despotien darin besteht, dass einer griechischen Bürgerschaft die Tyrannei mit Hilfe einer ausländischen Leibwache gewaltsam aufgezwungen werden muss, wohingegen die Barbaren den Despoten bewaffnet zur Seite stehen. 333 Ebenso wird hervorgehoben, dass die Tyrannis sich verfestigen konnte, weil sich ihre Herrschaft auf Gesetze stützt und sie seit alters her besteht. Es kann demnach nicht bezweifelt werden, dass die Natur der Barbaren eine gewordene ist. Jene Maßnahmen, durch die die Beständigkeit der Tyrannei gesichert werden kann, sind laut Aristoteles in den barbarischen Reichen zur Anwendung gekommen. Sie haben zur Folge, dass aus dem, was anfänglich vielleicht aufgezwungen werden musste, Gewohnheit wurde und mit der Zeit schließlich »zweite Natur« 334. So wie die Arbeitstätigkeit und die Unterwerfung im Haushalt das Sklavische im Menschen fördern, bringt auch die permanente Despotie einen sklavisch gesinnten Menschen hervor. Der sklavische Sinn der Barbaren kann folglich nur vor dem Hintergrund der despotischen Herrschaft adäquat interpretiert werden. Es ist die Herrschaftsform, die eine entsprechende Mentalität erzeugt, nicht eine bei allen außergriechischen Völkern verankerte genetische Anlage. Die Mentalität bzw. zweite Natur ist allerdings schwer zu ändern. Deshalb gibt es Menschen, die »von Natur darauf angelegt sind, unter einem sklavischen Regiment zu stehen«. Sie kann nach Aristoteles’ Ansicht aber geändert werden. Wenn man vom sozialen und politischen Stand absieht, ist das den Menschen Gemeinsame die Fähigkeit, Gesetz und Vertrag gemeinsam haben zu können. Eine Änderung der politischen Verfassung würde in den Barbarenreichen eine Änderung der Gewohnheiten, durch die die Gesetze ihre Kraft erlangen, zur Folge haben und längerfristig auch der Natur. Es wäre auch absurd, wenn nur die Natur der Griechen »ganz

Vgl. ebd., III, 14, 1285a. Aristoteles verweist auf die zweite Natur im Zusammenhang mit der Erläuterung einer Untugend und den Schwierigkeiten, zunächst die Gewohnheit und schließlich die Natur zu ändern. »Die Gewohnheit ist nämlich leichter zu ändern als die Natur. Denn nur darum wird auch die Gewohnheit so schwer geändert, weil sie der Natur gleicht, wie Euenus spricht: ›Lange, glaube mir, Freund, muß dauern die Übung; sie wird dann/Sich als die zweite Natur der Menschen am Ende erweisen.‹« Aristot. eth. Nic. VII, 11, 1152a. 333 334

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Aristoteles – die Natur ist das Ziel

unter dem Gesetz der Bewegung« 335 stünde, die der Barbaren dagegen nicht. Von der Wesensbestimmung des Menschen als ζῷον πολιτικόν sind die Barbaren nicht ausgenommen, sie sind von der Verwirklichung dieses Ziels lediglich weiter entfernt. In welchem Zusammenhang stehen nun die unterschiedlichen, einem Naturrecht ähnelnden Rechtsbegriffe? Die Möglichkeit aller Freundschafts- und Rechtsbeziehungen ist durch das δίκαιον παντὶ ἀνθρώπῳ gegeben. Zum Menschsein gehört die Fähigkeit, verbindliche Beziehungen zu anderen aufzubauen. Aristoteles kann dieses Recht aber auf keinen Fall als Naturrecht bezeichnen, weil die Natur mehr als Ziel bzw. Zweck bestimmt wird und aus der bloßen Rechtsfähigkeit aller Menschen noch kein κοινον ersichtlich wird. »Von Natur« rechtmäßig ist daher das, wodurch ein Zweck und damit einhergehend gleichzeitig eine Gemeinschaft realisiert werden. Das Naturrecht ist nach aristotelischem Verständnis politisches Recht. Da der Mensch nicht für sich bestehen kann, sind die natürlichen Zwecke der Autarkie und darüber hinaus des politischen Lebens nur als gemeinschaftliche denkbar. Auch der Herr ist »Herr von Natur« 336, weil durch die Interessengemeinschaft von Herr und Sklave die relative Autarkie der Familie garantiert wird. Die beste Verfassung und das politische Leben sind ebenfalls natürlich, weil sie als Ziele nicht austauschbar sind. Das Naturrecht ist nach Aristoteles jenes Recht, »das überall die nämliche Geltung hat, unabhängig davon, ob es den Menschen gut scheint oder nicht«. 337 Die beste Verfassung wird in diesem Zusammenhang als Beispiel für etwas angeführt, das von Natur aus vorgegeben und gleichzeitig in sich bewegt, dynamisch ist. Die Mittel zur Verwirklichung der Natur mögen sich so sehr unterscheiden, wie die besseren Verfassungen – Königtum, Aristokratie und Politie – unterschiedliche sind. Dennoch können sie gleichermaßen »von Natur« sein, insofern sie sich der Idee der besten Verfassung annähern. Das Naturrecht wird durch das positive Recht konkretisiert. Letzteres kann aber nicht völlig abgetrennt vom Naturrecht betrachtet werden, weil es dazu außerhalb der Zweckordnung stehen müsste. Zuletzt bleibt zu beachten, dass Erziehung und Gewohnheit eine maßgebliche Rolle für die Realisierung des politischen Rechts spielen. Wenn die Bürger nicht von vornherein willens sind, 335 336 337

Vgl. ebd., V, 10, 1134b. Vgl. Aristot. pol. I, 6, 1255b. Aristot. eth. Nic. V, 10, 1134b.

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Δκαιοσύνη bei Platon und Aristoteles

sich an die Gesetze zu halten, dann können auch die besten Gesetze nichts ausrichten. Dem Spott des Ananxandrides, der mit dem Satz »Die Stadt beschloß, die auf Gesetze doch nichts gibt« 338, zitiert wird, pflichtet Aristoteles bei. Eine nach innen gerichtete, polizeiliche Gewalt, die die Bürger zur Einhaltung der Gesetze zwingen könnte, kennt die politische Gemeinschaft nicht. Es verwundert daher nicht, wenn sowohl für Aristoteles als auch für Platon die tatsächliche Tugendhaftigkeit oder Schlechtigkeit der Bürger für die Wahl der Verfassung entscheidend ist. Die moralische Empörung darüber, dass es Despotien oder Oligarchien gibt, wäre demgegenüber so sinnvoll, wie die Empörung darüber, dass es überhaupt Schlechtigkeit gibt.

338

Ebd., VII, 11, 1152a.

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V. Universelles Naturrecht in der hellenistischen und römischen Philosophie sowie in der römischen Jurisgenese

Der Hellenismus ist die Moderne der Antike. 1 Reinhard Brandt

Aristoteles entwickelte seine Lehre ethischen und rechtlichen Handelns vor dem Hintergrund des gemeinschaftlichen Zusammenlebens in der Polis. Als die Stadtstaaten im Zuge der Herausbildung antiker Großreiche, zuerst des Alexanderreichs, dann der Diadochenreiche und schließlich des römischen Reichs, ihre außenpolitische Unabhängigkeit einbüßten, wirkte auch die strenge Ausrichtung von Ethik und Recht auf die politische Praxis der Polis kaum mehr überzeugend. Unter den Diadochen entrichteten die Poleis Steuern und waren wichtige Militärstützpunkte. Kulturell sowie in der Innenpolitik und Gesetzgebung konnten sie ihren eigenständigen Charakter bewahren. Die Anhänger der beiden neu gegründeten philosophischen Schulen, die Epikureer und die Stoiker, suchten nach Wegen zu einer praktischen Lebenskunst, durch die das Ziel der Glückseligkeit auch jenseits direkter politischer Mitwirkung verwirklicht werden konnte. Zunächst war der Fortbestand der Philosophie in Athen allerdings bedroht. 2 Nachdem die Demokraten in Athen im Jahre 307 v. d. Z. wieder an die Macht gekommen waren und den Philosophen Demetrios von Phaleron – einen Peripatetiker, der auf Geheiß des makedonischen Königs zehn Jahre lang die Stadt verwaltete – abgesetzt hatten, erließ ein gewisser Sophokles ein Gesetz, das die Leitung einer Schule ohne politische Genehmigung unter Androhung der Todesstrafe verbot. Das Gesetz richtete sich in erster Linie gegen die makedonenfreundlichen Peripatetiker, war aber allgemein formuliert. Theophrast und seine Schüler verließen daraufhin die Stadt. Schon nach einem Jahr wurde es aber wieder aufgehoben und die Peripatetiker kehrten zurück. Niehues-Pröbsting merkt dazu an: 1 2

Brandt: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, S. 140. Vgl. Niehues-Pröbsting: Die antike Philosophie, S. 132 f.

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Universelles Naturrecht in der hellenistischen und römischen Philosophie

Das ist ein denkwürdiger Vorgang: Fast ein Jahrhundert nachdem Sokrates zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war, revidierten die Athener einen ähnlichen Fehler. Das Gesetz, das Sophokles eingebracht hatte, verstieß gegen das Recht auf freie Vereinigung, dem mit der Aufhebung des Gesetzes erneut Geltung verschafft wurde. 3

Epikur (ca. 341–271/70) eröffnete 306 seine Schule, den »Garten«. Die Gründung der Stoa wird auf das Jahr 300 datiert, als Zenon von Kition in der »bemalten Vorhalle« (στοὰ ποικίλη) auf der Agora seine Lehrtätigkeit aufnahm. Im Unterschied zu Epikur rieten die Stoiker nicht dazu, sich von der Politik abzuwenden. Sie übertrugen die Polisidee stattdessen auf die gesamte Welt und universalisierten dadurch jene ethisch-rechtlichen Grundsätze, nach denen laut Aristoteles nur innerhalb der räumlich begrenzten Polis gehandelt werden konnte. »Denn unsere Welt ist die ›große Stadt‹ (μεγαλόπολις) , und sie bedient sich nur einer einzigen Verfassung und eines einzigen Gesetzes.« 4 Die Tendenz zur Verallgemeinerung der politischen Vorstellungen ist gewiss schon im politischen Denken Platons und Aristoteles’ angelegt. Im platonischen Idealstaat kommt jedem das Seine zu und daher ist es auch für alle Menschen das Beste, nach diesem Modell zu leben. Über die von Natur aus beste Verfassung bemerkt Aristoteles, dass sie trotz der Verschiedenheit der realen Gesetzgebungen »überall« die beste ist. 5 Doch erst die Stoiker beziehen die Idee einer politisch geeinten Menschheit in ihre Ethik ein und betrachten es als Aufgabe jedes Einzelnen, dieses Ziel im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten zu verwirklichen. Diejenigen, die aufgrund ihrer Herkunft nicht zur politischen Gemeinschaft gehörten, konnten offenbar leichter erkennen, dass der Weise, der weder durch Gewalt gezwungen werden kann noch Gewalt ausübt, nur dann wirklich tugendhaft ist, wenn er auch die Gewaltherrschaft des Hausherrn ablehnt.

1.

Epikur – Selbstsorge und »individuelles« Naturrecht

Die Grundauffassungen der Stoiker lassen sich leichter verstehen, wenn sie im Zusammenhang mit der epikureischen Denkweise erläutert werden, von der sich die Stoiker abzugrenzen versuchten – aller3 4 5

Ebd., S. 133. SUS, Frg. 667 = SVF III 323 (p. 79, 37–80, 13). Vgl. Aristot. eth. Nic. V, 10, 1135a.

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Epikur – Selbstsorge und »individuelles« Naturrecht

dings nicht ohne dabei einzelne Ansichten zu übernehmen bzw. zu teilen. Vielfach wird jedoch der Gegensatz von epikureischem Hedonismus und stoischer Vernunftlehre betont. »Wie für Epikur die hedonistische, so gibt für die Stoa die vernünftige Seite der menschlichen Natur das ethische Richtmaß. War für jenen der Vernunftgebrauch nur Mittel zum Zweck, um angenehm zu leben, so ist für die Stoa das vernunftgemäße Leben Selbstzweck.« 6 Die Zuordnung Epikurs zum Hedonismus hat eine lange Tradition, sie geht aber an wesentlichen Inhalten seiner Lehre vorbei, die mit der Stoa durchaus vereinbar sind – insbesondere dann, wenn mit »Hedonismus« ein exzessives Genussleben gemeint ist. 7 Epikur weist darauf hin, dass seine Lehre keineswegs auf die bloße Lustmaximierung abzielt. »Wenn wir also die Lust als das Endziel hinstellen, so meinen wir damit nicht die Lüste der Schlemmer und solche, die in nichts als dem Genusse selbst bestehen, wie manche Unkundige und manche Gegner oder auch absichtlich Mißverstehende meinen, sondern das Freisein von körperlichem Schmerz und von Störung der Seelenruhe.« 8 Das höchste Ziel, die Seelen- bzw. Gemütsruhe, lässt sich seiner Ansicht nach leichter durch eine bescheidene als durch eine ausschweifende Lebensweise realisieren. Zu Missverständnissen führte vor allem die Behauptung, dass ein glückseliges Leben nur als ein lustvolles zu denken ist, obwohl bereits Aristoteles die Lust als »ein Ganzes und Vollendetes« interpretiert hat. 9 Die ἡδονή bezieht sich nicht nur auf den leiblichen, sondern ebenso auf den seelischen Bereich. Die jeweils höchsten Zustände, Gesundheit und Seelenruhe, sind die lustvollsten. Das ἡδονή-Verständnis Epikurs ähnelt der platonischen Hierarchisierung der Lüste und dem aristotelischen Konzept. 10 Die Kritik

6 Zippelius, Reinhold: Geschichte der Staatsideen, 8., verb. Aufl., München 1991, S. 43. 7 Zur Abgrenzung des epikureischen Hedonismus von früheren hedonistischen Lehren vgl. Hossenfelder, Malte: Epikur, 3., aktual. Aufl., München 2006, S. 29 ff. 8 Diog. Laert. X, 1, 131–132. 9 Platon entgegnend erklärt Aristoteles: »[D]ie Art und somit auch die Form der Lust [ist] jederzeit vollendet, und so wird klar, daß sie von der Bewegung verschieden und ein Ganzes und Vollendetes ist.« Aristot. eth. Nic. X, 3, 1174b. Siehe auch Aristot. rhet. I, 6, 7, 1362b. Zum Verhältnis des epikureischen Lustbegriffs zur philosophischen Tradition vgl. Kimmich, Dorothee: Epikureische Aufklärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge, Darmstadt 1993, S. 11 ff. 10 Vgl. Geyer, Carl-Friedrich: Epikur zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg 2004, S. 75 ff.

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Universelles Naturrecht in der hellenistischen und römischen Philosophie

am »Hedonismus« entzündete sich, wie Geyer annimmt, daher wohl eher an der atomistischen Begründung. 11 Die Beschäftigung mit metaphysischen oder wissenschaftlichen Fragen erscheint ihm nur dann sinnvoll, wenn sie zur Vermeidung von Schmerzen oder der Störung der inneren Ruhe beiträgt. 12 Metaphysik und Physik werden der Ethik untergeordnet. Der Zweck des Philosophierens ist die Sorge um sich selbst (Ἕπιμέλεια ἑαυτοῦ). 13 »Denn niemand kann früh genug anfangen, für seine Seelengesundheit zu sorgen, und für niemanden ist die Zeit dazu zu spät.« 14 Im Zentrum der »philosophischen Therapie« 15 stehen die vier Hauptlehren des so genannten Tetrapharmakos 16, die der Epikureer verinnerlicht haben muss. Erstens sind die Götter glückselig und können daher nicht die Seelenruhe stören, weshalb man sich vor ihnen nicht zu fürchten braucht. Zweitens ist der Tod bedeutungslos. Drittens ist das Gute leicht zu beschaffen. Viertens hält intensiver Schmerz nur kurze Zeit an und lang andauernder ist nicht intensiv. Im Folgenden werde ich ausgehend vom Lustbegriff und vom Konzept des Tetrapharmakos die Naturrechtslehre Epikurs erläutern. Welche Formen der Lust sind zu bevorzugen und welche zu meiden? An sich ist laut Epikur keine Lust schlecht. 17 Dass es dennoch besser sein kann, auf bestimmte Annehmlichkeiten zu verzichten, wird offenbar, wenn die vorhergehenden Bemühungen sowie die Folgewirkungen in die Bewertung des Lustmoments miteinbezogen werden. 18 Die variablen Begierden (kinetische oder dynamische Lust) haben insoweit ihre Berechtigung, wie sie der Erlangung der dauerVgl. ebd., S. 78. Vgl. Epikur: Von der Überwindung der Furcht. Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlung, Fragmente. Gigon, Olof (Übers.), Zürich 1949, S. 82. 13 Zur Verankerung der Selbstsorge in der griechischen Kultur vgl. Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981/82). Gros, Frédéric (Hg.), Frankfurt a. M. 2004. 14 Diog. Laert. X, 1, 122. Die epikureische Lehre setzt eine bestimmte Einstellung zur Zeit voraus. Die Sorge soll im Sinne des carpe diem allein auf das gegenwärtig Reale gerichtet werden. Vgl. Hadot: Philosophie als Lebensform, S. 106 ff. 15 Vgl. Epikur: Von der Überwindung der Furcht, S. XIV (Einleitung). 16 Gemeint sind damit die in den ersten vier Hauptlehrsätzen benannten Grundbedingungen eines glücklichen Lebens. Vgl. Diog. Laert. X, 1, 139 f. 17 Vgl. Geyer: Epikur zur Einführung, S. 84 f. Die Lust ist stets ein Gut, weil ihr Vorhandensein die Abwesenheit von Schmerz oder Unlust bedeutet. Lust ist grundsätzlich »Unlustfreiheit«. Vgl. Hossenfelder: Epikur, S. 63 ff. 18 Vgl. Diog. Laert. X, 1, 14. 11 12

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haften Lebensfreude (katastematische Lust) nicht im Wege stehen. Drei Kategorien von Begierden müssen voneinander unterschieden werden. »Unter den Begierden sind die einen natürlich und notwendig, die anderen natürlich und nicht notwendig; noch andere weder natürlich noch notwendig, sondern Erzeugnisse nichtigen Wahnes.« 19 Zur ersten Kategorie gehören Grundbedürfnisse wie Essen und Trinken, zur zweiten die sexuelle Begierde, die aber für die katastematische Lust nicht zwangsläufig erforderlich ist, zur letzten das Streben nach Luxusgütern oder öffentlichen Ehrungen, bspw. durch Bekränzungen oder die Errichtung von Statuen. Mit dem Hinweis auf die Grundbedürfnisse soll die Glückseligkeit aber nicht auf das Angenehme reduziert werden. Ein glückseliges Leben bedarf der Vernunft und führt zur höchsten Tugend – der Gerechtigkeit. »Sie [die vernünftige Einsicht (φρόνησις)] lehrt, daß ein lustvolles Leben nicht möglich ist ohne ein einsichtsvolles und sittliches und gerechtes Leben, und ein einsichtsvolles, sittliches und gerechtes Leben nicht ohne ein lustvolles.« 20 Erst mit Hilfe der Vernunft erkennt der Einzelne, welchen Begierden er folgen sollte und welchen nicht, wobei die Entscheidung sich daran bemisst, ob eine Handlung langfristig gesehen mehr schadet oder die Lebensfreude erhöht. »Denn eine von Irrtum sich freihaltende Betrachtung dieser Dinge weiß jedes Wählen und jedes Meiden in die richtige Beziehung zu setzen zu unserer körperlichen Gesundheit und zur ungestörten Seelenruhe; denn das ist das Ziel des glückseligen Lebens.« 21 Das Streben nach Glückseligkeit wird nicht erst durch die Vernunft geweckt. Sie ist, wie Zippelius anmerkt, »nur Mittel zum Zweck«, das gebraucht wird, weil das »angeborene« Luststreben zuvor schon eine Richtung vorgegeben hat. 22 Dennoch ist die Vermeidung von Unlust nur vermittels der Vernunft möglich. 23 Dass die Lust das höchste τέλος ist, begründet Epikur auch mit der Beobachtung, »daß die LebeEbd., X, 1, 149. Ebd., X, 1, 132. Vgl. Hossenfelder: Epikur, S. 76 f. 21 Diog. Laert. X, 1, 128. 22 »Eben darum ist die Lust, wie wir behaupten, Anfang und Ende des glückseligen Lebens. Denn sie ist, wie wir erkannten, unser erstes, angeborenes Gut, sie ist der Ausgangspunkt für alles Wählen und Meiden, und auf sie gehen wir zurück, indem diese Seelenregung uns zur Richtschnur dient für Beurteilung jeglichen Gutes.« Ebd., X, 1, 128 f. 23 Geyer betont diesen konstitutiven Charakter der Vernunft für die Lust: »Epikurs Transformation der aristotelischen Zuordnung von Vernunft und Lust stilisiert den Begriff der Lust zum negativen Grenzbegriff: Unter Lust versteht Epikur jede Weise 19 20

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wesen von der Stunde ihrer Geburt ab mit der Lust auf bestem Fuße stünden, gegen den Schmerz aber einen natürlichen und nicht erst durch Überlegung bestimmten Abscheu empfänden«. 24 Durch die Lust ist der Mensch mit allen empfindsamen Lebewesen verbunden. Sie ist »der Ausgangspunkt« und daher in höherem Maße »von Natur« als die Vernunft. Ebenso wie bei den Sophisten, Platon oder Aristoteles zeichnet sich auch bei Epikur die Natürlichkeit einer Sache dadurch aus, dass sie der Grund der Möglichkeit einer Bewegung bzw. Veränderung ist. Indem das natürliche Ziel von der Lust abhängig gemacht und dadurch in das Streben des einzelnen Menschen verlegt wird, ist das Ziel aber nicht mehr zwingend ein gemeinschaftliches, sondern eines, das der Mensch unter Umständen auch allein erreichen kann – obwohl die Besinnung auf die natürliche Lust auch im sittlichen Bereich Voraussetzung für ein tugendhaftes Leben ist. Aus dieser Umdeutung des individuellen τέλος folgt, dass nicht ein natürlicher Drang das Leben in der Gemeinschaft erforderlich macht, sondern die Schutzbedürftigkeit des Einzelnen. 25 Von existenziellen Ängsten, z. B. der Angst vor dem Tod, die um der Seelenruhe willen notwendig überwunden werden muss, kann sich der Mensch durch »Naturerkenntnis« befreien. »Das angeblich schaurigste aller Übel also, der Tod, hat für uns keine Bedeutung; denn solange wir noch da sind, ist der Tod nicht da; stellt sich aber der Tod ein, so sind wir nicht mehr da.« 26 Der Schmerz, den der Mensch angesichts des Todes empfindet, ist laut Epikur nur eingebildet und eine Folge der Unkenntnis der Natur. »Es ist nicht möglich, sich von der Furcht hinsichtlich der wichtigsten Lebensfragen zu befreien, wenn man nicht Bescheid weiß über die Natur des Weltalls, sondern sich nur in Mutmaßungen mythischen Charakters bewegt. Mithin ist es nicht möglich, ohne Naturerkenntnis zu unverfälschten Lustempfindungen zu gelangen.« 27 Für Epikur gehören die Erforschung der äußeren Natur und die der Seele zusammen. Die von Diogenes Laertius überlieferten Briefe enthalten zu einem großen vernunft-vermittelter und -gestützter Freiheit von Unlust.« Geyer: Epikur zur Einführung, S. 84. 24 Diog. Laert. X, 1, 137. 25 Vgl. Scholz, Peter: Der Philosoph und die Politik. Die Ausbildung der philosophischen Lebensform und die Entwicklung des Verhältnisses von Philosophie und Politik im 4. und 3. Jh. v. Chr., Stuttgart 1998, S. 262. 26 Diog. Laert. X, 1, 125. 27 Ebd., X, 1, 143.

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Teil Erklärungen zu den Himmelskörpern und zu Wetterphänomenen. Epikur weist darauf hin, dass solche Kenntnisse allein zum Zwecke der Seelenruhe zu erwerben sind. 28 Die Mehrdeutigkeit der Erklärungen spielt keine Rolle, sofern sie trotzdem dazu beitragen, den Menschen die Angst vor den »Dinge[n] da droben und unter der Erde und überhaupt im ganzen weiten Weltraum« zu nehmen. 29 Den Glauben an zornige und strafende Götter weist Epikur entschieden zurück. 30 Wie Sokrates, Platon und Aristoteles ist er der Ansicht, dass die Götter uneingeschränkt gut sind. Das schlechthin Gute sei für den Menschen in greifbarer Nähe. [W]er wäre deiner Meinung nach höher zu achten als der, der […] dem Endziel der Natur nachgedacht hat und sich klar darüber ist, daß im Reiche des Guten das Ziel sehr wohl zu erreichen und in unsere Gewalt zu bringen ist und daß die schlimmsten Übel nur kurzdauernden Schmerz mit sich führen? Der über das von gewissen Philosophen als Herrin über alles eingeführte allmächtige Verhängnis lacht und vielmehr behauptet, daß einiges zwar infolge der Notwendigkeit entstehe, anderes dagegen infolge des Zufalls und noch anderes durch uns selbst; denn die Notwendigkeit herrscht unumschränkt, während der Zufall unstet und unser Wille frei (herrenlos, d. i. nicht vom Schicksal abhängig) ist 31.

Den Gedanken der freien Wahl hält Epikur für unvereinbar mit der Idee des Schicksals, weshalb er die Stoiker kritisiert. Er stimmt mit ihnen allerdings darin überein, dass die Menschen sich das Gute aneignen und hierin den Göttern gleichen können. Seinem Schüler Menoikeus schreibt er: »Dies und dem Verwandtes laß dir Tag und Nacht durch den Kopf gehen und ziehe auch deinesgleichen zu diesen Überlegungen hinzu, dann wirst du […] wie ein Gott unter Menschen leben. Denn keinem sterblichen Wesen gleicht der Mensch, der inmitten unsterblicher Güter lebt.« 32 Was die Stellung des Menschen zu den Göttern betrifft, zeigen sich vor allem im Vergleich zu Platon deutliche Unterschiede. Während das Gute für Platon sogar das Sein überragt und der Grund dafür Vgl. ebd., X, 1, 85 f.; Geyer: Epikur zur Einführung, S. 43 f. Die »Naturwissenschaft« hält Epikur der Paideia entgegen vgl. Foucault: Hermeneutik des Subjekts, S. 298 ff. 29 Vgl. Diog. Laert. X, 1, 143. 30 Vgl. Hossenfelder: Epikur, S. 79 f. 31 Diog. Laert. X, 1, 133. 32 Ebd., X, 1, 135. Vgl. Epikur: Briefe, Sprüche, Werkfragmente, 1.3.5., 1.3.7., 1.3.8., 1.3.9. 28

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ist, dass der Mensch überhaupt das Vermögen hat, Seiendes zu erkennen, kann der Mensch es laut Epikur in seine Gewalt bringen. Auch der Platoniker lebt, wenn er das Gute erkannt hat, »inmitten unsterblicher Güter«, aber sein Wissen kann dem göttlichen nur ähneln, er kann nicht »wie ein Gott unter Menschen leben«. Epikur erklärt ausdrücklich, dass der Weise keinem sterblichen Wesen gleicht. Keineswegs drückt er, wie Pohlenz schreibt, das »Wesen des Menschen […] auf die Stufe des Tieres herab« 33. Die These von der Gemeinschaft mit Gott, die auch die Stoiker vertreten, erlaubt es, das Handeln an Prinzipien auszurichten, die der Einzelne im Verhältnis zu sich selbst entdecken muss. Jene Ziele, die laut Aristoteles ausschließlich durch das Leben in einer politischen Gemeinschaft verwirklicht werden können – die Autarkie und das vollkommene Leben – werden zu individuellen Zielen, die ebenso gut durch eine bescheidene und vernünftige Lebensweise erreichbar sind. Die unpolitische Privatperson, auf Griechisch »Idiot« (ἰδιώτης), erfährt dadurch eine deutliche Aufwertung. Laut Pohlenz konvergiere dies mit der epikureischen Atomlehre, derzufolge der Mensch in erster Linie ein egoistisches Individuum (ἄτομος) sei. 34 Epikur behauptet allerdings nicht, dass das Wesen des Menschen ein Unteilbares ist, sondern dass sowohl der Leib als auch die Seele aus einer Vielzahl von Atomen bestehen und dass alle Einwirkungen auf die Seele von »gewissen Atomgruppen« herrühren, die die Sinnesorgane reizen und »Abdrücke in uns«, also Vorstellungen, hinterlassen. 35 Er versucht damit zu beweisen, dass jede Wahrheit an die sinnliche Wahrnehmung gebunden ist und darüber hinaus die Seele etwas Körperliches ist. »Denn wäre die Seele von dieser Art [unkörperlich, O. B.], so könnte sie überhaupt weder wirken noch leiden.« 36 In einem Nebensatz wird erwähnt, weshalb die eigenen Wahrnehmungen und seelischen Regungen für Epikur eine so bedeutende Rolle spielen: »[D]enn diese haben Anspruch auf die sicherste Glaubwür-

Pohlenz, Max: Stoa und Stoiker, Zürich 1950, S. X. Vgl. ebd., S. IX. 35 Vgl. Diog. Laert. X, 1, 49 ff. 36 Ebd., X, 1, 67. Aus der Körperlichkeit der Seele folgt für Epikur, dass sie sterblich ist. Platon stützte die These von der Unsterblichkeit der Seele dagegen mit der Behauptung, dass sie unkörperlich ist. Vgl. Long, Anthony A./Sedley, David N. (Hg.): Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, Stuttgart Weimar 2006, S. 82 f. 33 34

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digkeit«. 37 Alles, was unabhängig von der »vorstellenden Tätigkeit« gedacht wird – also aus dem reinen Denken hervorgeht, dem Epikur jede Eigenständigkeit abspricht – führt zu Trug und Irrtum. 38 Erst Descartes wird dieses Verhältnis umkehren und im Gegenzug die sinnlich gegebene Welt einem radikalen Zweifel unterziehen. Bei Epikur wird der Mensch aber weder durch die Lust noch durch das vorstellende Denken von der Welt abgesondert. Seine Lehren verdeutlichen vielmehr, dass der Mensch sich als wahrnehmendes und vorstellendes Wesen am Kosmos zu orientieren hat und nur so sich selbst erkennen kann. Der Mensch wird nicht als Individuum im Sinne einer autonomen Subjektivität 39 vorgestellt. Zwischen dem epikureischen »Individuum« und dem der Moderne bestehen gravierende Unterschiede. Auch die vorrangige Bedeutung, die Epikur den Affekten Schmerz und Lust zuschreibt, begründet nicht zwangsläufig eine am Individuum ausgerichtete Theoriekonzeption. 40 Diese scheinbar so individuellen Empfindungen werden im Kontext des antiken Denkens missverstanden, wenn sie einer von anderen Substanzen getrennten körperlichen Substanz (res corporea) zugeordnet werden. Schmerz oder Lust treten nicht als gesonderte »körperliche« Phänomene auf, sondern betreffen das Ganze der Weltbezüglichkeit. Dass die Lust weltbezüglich thematisiert wird, verdeutlicht bspw. der 9. Hauptlehrsatz, in dem Epikur die Einheit und Vollendung der Lust mit einer spekulativen Äußerung zu unterstreichen versucht. »Wenn alle Lust sich zusammenhäufte und mit der Zeit auch das gesamte Gefüge der Welt durchdränge oder wenigstens die hauptsächlichsten Teile der Natur, so würden die Lustempfindungen niemals voneinander verschieden sein.« 41 Könnten sie sich unterscheiden, wäre die Lust etwas Unvollkommenes. Die katastematische Lust ist selbst dann Diog. Laert. X, 1, 63. Bereits Aristipp vertrat die These, dass nur den eigenen Empfindungen vertraut werden könne, der Erkenntnis dagegen nicht. Vgl. Kimmich: Epikureische Aufklärungen, S. 12. 38 »Durch sie (die mit der vorstellenden Tätigkeit zusammenhängt, aber ihre besondere Auffassungsweise hat) entsteht, wenn sie nicht bestätigt oder unmittelbar widerlegt wird, der Trug, wenn sie dagegen bestätigt oder nicht widerlegt wird, die Wahrheit.« Diog. Laert. X, 1, 51 f. Zur Verteidigung der Wahrheit der Sinneswahrnehmung bei Epikur vgl. Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen, S. 98–101. 39 So bspw. Geyer: Epikur zur Einführung, S. 100. 40 Hossenfelder ist der Ansicht, das »der Hedonismus […] eigentlich nur eine egoistische Deutung [zuläßt]«, weil das Individuum die Lust ausschließlich in der Selbstbezogenheit erfahren könne. Vgl. Hossenfelder: Epikur, S. 147 f. 41 Diog. Laert. X, 1, 142. 37

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nicht zu steigern, wenn sie über den menschlichen Weltbereich hinaus die Welt erfüllen würde. Die Vorstellung einer Lust, die das gesamte Gefüge der Welt durchdringt, kann auch in der Spekulation nur plausibel erscheinen, wenn die Lust nicht als körperliches Gefühl, das ein davon irgendwie abgetrenntes Subjekt affiziert, gedacht wird, sondern als Grundstimmung, die in allen schmerzfreien Weltverhältnissen – Freundschaft, Furchtlosigkeit vor den Göttern und vor der eigenen Sterblichkeit, Verachtung des Schmerzes – präsent ist. Dass die Rede vom »hellenistischen Individualismus« sehr missverständlich ist 42, wenn sie nicht eindeutig von der neuzeitlichen Individualität und Subjektivität abgegrenzt wird, lässt sich auch anhand des τέλος-Begriffs zeigen. Obwohl das epikureische Denken ebenso wie das seiner philosophischen Vorgänger um die Frage kreist, welche Dinge um ihrer selbst willen und nicht um eines anderen Zweckes willen bestehen, erscheint im antiken Denken nirgendwo der Mensch als »Zweck an sich selbst«. Sicherlich kommt der Mensch – vom Standpunkt des modernen Subjektdenkens aus gesehen – durch die Fokussierung auf die eigenen Empfindungen und die daraus resultierende Selbstsorge einer Selbsterkenntnis näher. Wäre aber tatsächlich schon bei Epikur der Mensch und nicht die Lust Selbstzweck, dann wäre nicht die Lust das Erste, wie Epikur annimmt, sondern der Wille. Hossenfelder erklärt dazu: Wenn der einzelne dagegen alle seine Zwecke selbst setzt, dann allein ist er der absolute Endzweck; denn auf die Frage, warum gerade diese und nicht andere Zwecke für ihn gölten, gibt es nur die Antwort: »Weil er selbst es so will.« Die Privatisierung aller Werte und Zwecke ist somit eine Konsequenz des hellenistischen Individualismus. 43

Der Epikureer führt aber nicht alle Zwecke auf ein autonomes Selbst zurück, sondern entdeckt, dass er anhand der entgegengesetzten natürlichen Leidenschaften Schmerz und Lust das Richtige erkennen und tun kann. Trotz ihrer Vollkommenheit kann die Lust durch andere Menschen – mehr noch als durch Krankheiten und physischen Schmerz – leicht gestört werden. Zur Erlangung der wahren Lebensfreude soll sich der Einzelne daher in erster Linie an den Störungen der Seele und nicht an denen des Leibes orientieren. Die größtmögliche Sicher-

42 43

Vgl. Hossenfelder: Epikur, S. 36 f., 52 ff.; Geyer: Epikur zur Einführung, S. 100. Ebd. (Hossenfelder), S. 54.

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heit des seelischen Befindens erfährt der Mensch laut Epikur in der Freundschaft. Der 27. und der 28. Hauptlehrsatz besagen: Von allem, was die Weisheit zur Glückseligkeit des ganzen Lebens in Bereitschaft hält, ist weitaus das wichtigste der Besitz der Freundschaft. Es ist die nämliche Erkenntnis, die uns einerseits die ermutigende Überzeugung schafft, daß nichts Schreckliches ewig oder auch nur lange Zeit dauert, anderseits Klarheit darüber gibt, daß innerhalb unserer begrenzten Verhältnisse die volle Sicherheit vor allem auf Freundschaft beruht. 44

In einem Brief, den er kurz vor seinem Tod verfasste, betont Epikur, dass die Erinnerung an die Gespräche mit Freunden, das Leiden an Krankheiten aufwiegt. »Harnzwang und Dysenterie haben sich bei mir eingestellt mit Schmerzen, die jedes erdenkliche Maß überschreiten. Als Gegengewicht gegen alles dies dient die freudige Erhebung der Seele bei der Erinnerung an die zwischen uns gepflogenen Gespräche.« 45 Die Briefstelle macht deutlich, wie weit der Begriff der Lust eigentlich gefasst ist. Er bezieht sich auf das Ganze des seelischen Befindens. Treffender als mit »Lust« oder »Begierde« könnte ἡδονή vielleicht mit »Zufriedenheit« oder »Gelassenheit« übersetzt werden. Die mit einem seelischen Vermögen, der Erinnerung, einhergehende Freude vermag es, maßlosen Schmerz aufzuwiegen und so die Wogen des »Seelensturms« 46 zu glätten. Der Hinweis auf die Erinnerung an frühere Gespräche sowie die Lehrsätze zur Freundschaft zeigen, dass die Freundschaft um ihrer selbst willen angestrebt wird 47 und nicht bloß aufgrund eines utilitaristischen und egoistischen Lustkalküls. Letzteres mag zwar der Freundschaft vorausgehen, sie erschöpft sich aber nicht darin. Andernfalls müsste Epikur die Freundschaft als bloßes Mittel zum Zweck geringschätzen, denn die mit ihr einhergehenden Empfindungen würden ebenfalls nicht um ihrer selbst willen erstrebt. Epikur erklärt allerdings, dass die Freundschaft zur Absicherung der Glückseligkeit »das wichtigste« ist. Im letzten Lehrsatz verbindet er die Bemühung um freundschaftliche Beziehungen mit

Diog. Laert. X, 1, 148. Ebd., X, 1, 22. 46 Vgl. ebd., X, 1, 128. 47 »Jede Freundschaft ist um ihrer selbst willen zu wählen. Ihr Ursprung freilich besteht im Nutzen.« Epikur: Von der Überwindung der Furcht, S. 51. Zum Zusammenhang von Freundschaft und individuellem Lustkalkül vgl. Foucault: Hermeneutik des Subjekts, S. 245 ff. Geyer nimmt an, dass der Widerspruch letztlich nicht aufzuheben ist. Vgl. Geyer: Epikur zur Einführung, S. 101 f. 44 45

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einem seiner Hauptanliegen, nämlich der Überwindung der Angst vor dem Tod. 48 Von den Sophisten übernimmt Epikur die Vorstellung, dass die Natur selbst vorschreibt, was das Zuträgliche (συμφέρων) ist. Seiner Ansicht nach gibt es jedoch ein natürliches Recht, das im Gemeinwesen durch einen Vertrag realisiert und inhaltlich bestimmt wird. »Das natürliche Recht (Gerechte) (φύσεως δίκαιόν) ist ein mit Rücksicht auf den Nutzen getroffenes Abkommen zum Zweck der Verhütung der gegenseitigen Schädigung.« 49 Συμφέρων wurde mit »Nutzen« übersetzt. Zum Nützlichen gehört für Epikur alles, was die Glückseligkeit fördert – z. B. die Beschäftigung mit seiner Philosophie. Das Zuträgliche ist natürlich, weil der Mensch, wie oben gezeigt wurde, von Geburt an danach strebe, den Schmerz zu vermeiden und die Seelenruhe zu finden. Maßstab dessen, was als natürlich gelten kann, ist nicht mehr der gemeinschaftliche Zweck, sondern die in jedem Menschen vorfindliche Naturanlage. In der Bestimmung der Natur des Menschen setzt sich Epikur also deutlich von Aristoteles ab. Von Natur aus gerecht ist eine politische Ordnung nicht allein dadurch, dass ein Gemeinwesen die bestmögliche Verfassung angenommen hat, sondern dass die Bürger die größtmögliche Zufriedenheit und Lebensfreude erreichen. Epikur begreift das angeborene, natürliche Recht durchaus auch als vorpolitisches Recht. Im 31. Hauptlehrsatz heißt es zwar, dass das natürliche Recht ein »Abkommen« ist, aber in den Sätzen 36 bis 38 hebt Epikur hervor, dass die Gültigkeit der Gesetze sich allein an der Natur des Gerechten, das heißt am wechselseitig Zuträglichen, bemisst. Das positive Recht darf gegen das natürliche nicht verstoßen. »Gibt aber einer ein Gesetz, das nicht zum Vorteil der wechselseitigen Gemeinschaft ausschlägt, so hat dies nicht mehr die Natur des Gerechten.« 50 Auch ältere Gesetze büßen ihre Verbindlichkeit ein, wenn sie nicht mehr dem Prinzip des wechselseitigen Nutzens dienen. Das natürliche Recht schreibt ausschließlich vor, dass die Bürger einander keinen Schaden zufügen dürfen und dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Inhaltlich wird dieses Recht nicht näher bestimmt. 51 Einer vermeintlichen Gerechtigkeit an sich spricht Epikur jedes Sein ab. »Der Gerechtigkeit kommt an 48 49 50 51

Vgl. Diog. Laert. X, 1, 154. Ebd., X, 1, 150. Ebd., X, 1, 152. Vgl. Scholz: Der Philosoph und die Politik, S. 264.

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sich kein Sein zu, vielmehr ist sie nur ein im gegenseitigen Verkehr in beliebigen Erdgegenden getroffenes Abkommen zur Verhütung gegenseitiger Schädigung.« 52 Es bleibt daher den Bürgern überlassen zu bestimmen, welche Gesetze ihnen nützlich erscheinen. »In Beziehung auf das Gemeinwesen gilt allen ein und dasselbe für gerecht, da es etwas für die wechselseitige Gemeinschaft Förderliches ist; nach den besonderen örtlichen Verhältnissen und jeweiligen sonstigen Bedingungen aber stellt sich nicht das nämliche als für alle gerecht dar.« 53 Ein gesondertes Naturrecht im Sinne einer Aufstellung überpositiver, ewig und universell gültiger Normen kennt Epikur ebenso wenig wie Platon oder Aristoteles. Stattdessen hält er an der relativen Gültigkeit der Gesetzgebungen fest. Daraus folgt allerdings nicht, dass zwischen den Gemeinwesen das Recht des Stärkeren gelten würde oder völkerrechtliche Fragen belanglos wären. Verträge zur Vermeidung von Kriegen und zur Förderung der Eintracht sollen mit allen geschlossen werden, die überhaupt rechtsfähig sind. »Für alle Lebewesen, die keine Verträge abschließen konnten zur Verhütung gegenseitiger Schädigung, gibt es kein Recht (Gerechtes) oder Unrecht (Ungerechtes). Und das gleiche gilt für die Völker, die nicht imstande waren, dergleichen Verträge zur Verhütung gegenseitiger Schädigung abzuschließen.« 54 Der 32. Lehrsatz ähnelt dem von Aristoteles erwähnten Rechtsverhältnis, in das jeder Mensch eingebunden ist, sofern er »Gesetz und Vertrag« mit anderen gemeinsam haben kann. 55 Da dieses Recht laut Aristoteles aber nur der Möglichkeit nach vorkommt, konnte er es nicht als Naturrecht bezeichnen. Indem Epikur den Begriff aus der Zuordnung zum politischen Recht herauslöst und auf alle Lebewesen bezieht, gibt er ihm einen völlig neuen Gehalt. Das φύσει δίκαιον gilt nicht nur innerhalb der Polis, sondern zwischen allen rechtsfähigen Menschen. Jeder Mensch, der einsieht, dass das eigene Glück die Anerkennung des anderen als empfindsames und gleichermaßen nach Glück strebendes Wesen voraussetzt, ist dazu aufgefordert, die gemeinsam geteilten Bedürfnisse und Ansprüche in einem Vertrag zu fixieren, der als Richtschnur des Handelns dienen soll. Das universel52 53 54 55

Diog. Laert. X, 1, 150. Ebd., X, 1, 151. Ebd., X, 1, 150. Vgl. Aristot. eth. Nic. VIII, 13, 1161b.

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le Prinzip der Wechselseitigkeit wird in Übereinstimmung zur Relativität der νόμοι gedacht. Obwohl »sich nicht für alle das nämliche als gerecht darstellt«, folgt aus der Relativität nicht, dass die Gesetze willkürlich oder nach Belieben festgelegt werden, sondern dass sie auf die jeweiligen Interessen der Bürger und Gemeinwesen bezogen sein müssen, deren Selbstbestimmungsrecht sonst verletzt werden würde. Weil das Zuträgliche Zwecke umfasst, die um ihrer selbst willen zu verfolgen sind, und der Nutzen wechselseitig sein muss, mündet der Hedonismus nicht in einen utilitaristischen Egoismus. Das natürliche Recht, dem an sich kein Sein zukommt, wird durch den Vertrag realisiert, es legitimiert das positive Recht. Epikur rückt damit die im antiken politischen Denken unpopuläre Vertragsidee ins Zentrum seiner rechtsphilosophischen Lehrsätze. Platon hatte anhand des Vertrages bereits illustriert, dass die Legitimität der Rechtsordnung die Zustimmung der Bürger voraussetzt und der Einzelne das »Recht« haben muss, die Gesetze zu verbessern oder auszuwandern. In letzter Instanz beruhte die Legitimität des Gesetzes aber auf der Idee der Gerechtigkeit, deren Existenz Epikur bezweifelt. Für ihn ist der Vertrag daher kein Unterwerfungsvertrag, sondern eine Vereinbarung über das, was für die Bürger das Zuträgliche ist. 56 Der erste Schritt auf dem Weg zur »volle[n] Sicherheit«, die nur über freundschaftliche Beziehungen gefestigt werden kann, ist die Verständigung über die eigenen Empfindungen und Interessen. Kommt diesen Allgemeingültigkeit zu, sollen sie durch eine entsprechende Gesetzgebung gefördert werden. »Was allgemein bei den Betätigungen wechselseitiger Gemeinschaft als nützlich anerkannt ist, das nimmt auch (unter dem was für gerecht gilt) den ihm gebührenden Platz als ›Recht‹ ein«. 57 Von subjektiven Rechten kann auch bei Epikur nicht die Rede sein. Es ist jedoch augenfällig, dass die Idee eines wechselseitigen Vertrags Rechte im Sinne eines objektiven Reflexes impliziert, ohne die das natürliche Recht nicht bestehen könnte. Da die individuellen Lustempfindungen Maßstab des Naturrechts sind, muss jeder Bürger frei und gleichberechtigt an der Gesetzgebung beteiligt sein. Darüber hinaus betont Epikur viel stärker als Platon oder Aristoteles die Schutzfunktion des Rechts. Ebenso wichtig wie die Sorge um das Gemeinwohl ist die »Verhütung gegenseitiger Schädigung«. Dieser An56 57

Vgl. Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen, S. 157 f. Diog. Laert. X, 1, 152.

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spruch ähnelt dem liberalen Grundsatz, dass die individuelle Freiheit so weit reicht, wie die Freiheit anderer nicht verletzt wird. Die epikureische Naturrechtslehre ist aus folgenden Gründen äußerst innovativ: Erstens trennt Epikur den Begriff der Natur von transzendenten Ideen ab, die seiner Ansicht nach bloße Einbildung sind. Die Natur wird ausschließlich im Hinblick auf menschliche Bedürfnisse gedacht und bedarf keiner theologischen Begründung. 58 Zweitens: Der einzelne Mensch als empfindsames Wesen trägt die Richtschnur zum von Natur aus Gerechten in sich. Das Naturrecht ist angeboren. Es gilt daher drittens auch jenseits der politischen Gemeinschaft, insofern die Gemeinwesen aber auch Einzelne dazu angehalten sind, Gewalt und Feindschaft zu vermeiden. Ähnlich wie die Stoiker erklärt bspw. der Epikureer Diogenes von Oinoanda im 2. Jahrhundert n. d. Z., dass alle Menschen die Welt als eine Heimstatt teilen. Nicht zuletzt taten wir dies alles auch im Interesse der sog. Fremden, die in Wirklichkeit keine solchen sind. Denn entsprechend dem jeweiligen Abschnitt der Erde hat jeder ein anderes Vaterland, jedoch im Hinblick auf den gesamten Umkreis dieser Welt ist das einzige Vaterland aller die ganze Erde und die einzige Wohnstatt die Welt 59.

Viertens kommt ihm in der Konkretion als Abkommen eine Kontrollfunktion gegenüber dem positiven Recht zu. 60 Fünftens ist Epikur der erste Theoretiker, für den das Recht aus einem wechselseitigen Vertrag entsteht, welcher die Abwägung individueller Interessen verlangt. Ebenso wie Hobbes nimmt er an, dass es jenseits eines »Gesellschaftsvertrages« keine Gerechtigkeit gibt. Epikurs Feststellung, dass es »[f]ür alle Lebewesen, die keine Verträge abschließen konnten zur Verhütung gegenseitiger Schädigung, […] kein Recht (Gerechtes) oder Unrecht (Ungerechtes) [gibt]« 61, berücksichtigt Hobbes für seine Darstellung des Naturzustandes, in dem »nichts ungerecht sein kann. Die Begriffe von Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben hier keinen Platz. Wo keine allgemeine Gewalt ist, ist kein

Vgl. Hossenfelder: Epikur, S. 123. Jürss, Fritz/Müller, Reimar/Schmidt, Ernst Günther (Übers.): Griechische Atomisten. Texte und Kommentare zum materialistischen Denken der Antike, Berlin 1984, Frg. 25 Chilton, Col. If. 60 Vgl. Hossenfelder: Epikur, S. 106. 61 Diog. Laert. X, 1, 150. 58 59

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Gesetz, und wo kein Gesetz, keine Ungerechtigkeit.« 62 Zur Theorie von der Künstlichkeit aller menschlichen Verpflichtungen gelang Hobbes durch eine Rezeption der epikureischen Texte, wie Ludwig betont. 63 Ein zentrales Alleinstellungsmerkmal moderner politischer Philosophie entstammt, fast wortgetreu übernommen, einem antiken Lehrsatz! Sicherlich weisen Ontologie und Naturlehre Epikurs erkenntnistheoretische Schwächen auf, die z. B. bei der schwierigen Aufgabe, die Wahrheit von der Sinneswahrnehmung her zu begründen, ersichtlich werden. Dazu muss jedoch angemerkt werden, dass zahlreiche Schriften Epikurs nicht erhalten sind – darunter Teile der 37 Bücher Von der Natur, Vom Rechthandeln oder Von der Gerechtigkeit und den anderen Tugenden. 64 Über die theoretischen Auffassungen Epikurs lassen sich daher vielfach nur Vermutungen anstellen. Möglicherweise kam es ihm aber auch weniger auf die Bereicherung akademischer Debatten als auf die unmittelbare Einwirkung auf die seelische Verfassung seiner Schüler an 65. Er ist der erste Denker, der seine Lehre in Hauptlehrsätzen zusammenfasst, die auswendig gelernt werden sollten. Überliefert ist auch, dass Epikur sehr streng über die wortgetreue Weitergabe seiner Ansichten wachte. Der Utilitarismus, die Orientierung an der »Lust« und die Abwendung von der Politik 66 haben zeitweise zu einer äußerst verzerrten Rezeption 67 seines Werkes geführt. Vor allem von stoischer und später von christlicher Seite wurde der Hedonismus kritisiert. Zufrieden stellt Kaiser Julian 362/363 fest, Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Fetscher, Iring (Hg.)/Euchner, Walter (Übers.), Frankfurt a. M. 1984, S. 98. 63 Vgl. Ludwig: Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts, S. 401 ff. 64 Vgl. Diog. Laert. X, 1, 27 f. 65 Siehe dazu Niehues-Pröbsting: Die antike Philosophie, S. 85 f. 66 Scholz weist bezüglich Epikurs bekanntem Spruch »Lebe im Verborgenen!« darauf hin, dass dieser vermutlich nur an diejenigen adressiert war, die noch unschlüssig darüber waren, ob sie der Schule beitreten sollten. Der Spruch sei demnach nicht als universell gültiger Ratschlag zur Vermeidung eines politischen Lebens zu verstehen. Vgl. Scholz: Der Philosoph und die Politik, S. 273 f. Siehe auch Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen, S. 159. Platons Behauptung, dass »politische Macht und Philosophie […] in eins zusammen[fallen]« sollen und der Philosoph sich somit zwingend mit den politischen Geschäften zu befassen habe, wies Epikur aber wohl zurück. Entschieden gegen die Politik richtet sich die Weisung: »Befreien muß man sich aus dem Gefängnis der Alltagsgeschäfte und der Politik.« Epikur: Briefe, Sprüche, Werkfragmente, 2.2. 58. 67 Dazu genauer Geyer: Epikur zur Einführung, S. 111–128. 62

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Epikur – Selbstsorge und »individuelles« Naturrecht

dass von den Schriften Epikurs keine mehr erhalten sei. 68 Im Mittelalter avanciert das Wort »Epikureer« zum Schimpfwort für Menschen, die ihrer Lust sklavisch unterworfen sind. Zu allen Zeiten gab es jedoch auch ernsthafte Auseinandersetzungen mit Epikur, die – erst recht nach der Übersetzung der Philosophenviten ins Lateinische 69 – auch zu einer Popularisierung seiner naturrechtlichen Lehrsätze beigetragen haben mögen. Die Vorurteile gegenüber dem Hedonismus sind vermutlich der Grund dafür, dass die Bedeutung Epikurs für die Geschichte des Naturrechts bislang weniger gewürdigt worden ist 70. Bei Oestreich, Welzel, Böckenförde und Lohmann 71 werden Ethik und Naturrecht Epikurs gänzlich unberücksichtigt gelassen. Am Rande wurde bereits ersichtlich, dass der epikureische Hedonismus und die stoische Vernunftlehre einander nicht so sehr widersprechen, wie dies auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint. 72 Beide Schulen bleiben der Tradition des Eudaimonismus verpflichtet. Ebenso wie Aristoteles spricht Epikur von einem natürlichen τέλος. Der 25. Hauptlehrsatz schreibt vor: »Wenn du nicht jederzeit all dein Tun auf das natürliche Endziel beziehst, sondern vorher abbeugst und dich, sei es meidend oder erstrebend, einem andern Ziele zuwendest, so werden deine Taten nicht deinen Worten entsprechen.« 73 Nach der epikureischen Auffassung erzwingt das angeborene Luststreben ein vernünftiges und sittliches Leben. Die Vernunft belehrt vor allem darüber, dass ein ausschweifendes Genussleben zu meiden ist. Das Ziel der Schmerzfreiheit (ἀταραξία) und der dauerhaften Lebensfreude ähnelt der von den Stoikern erstrebten Gelassenheit (ἀπάθεια). 74 Für Epikur ist der Logos allerdings kein universelles Prinzip, das das Weltganze seit seiner Entstehung durchdringt, sondern ein auf die menschliche Einsichtsfähigkeit beschränktes Vermögen. Dennoch ist Vgl. Jul. epist. 48. Das Werk wurde 1433 von Traversari übersetzt und 1472 erstmals gedruckt. Vgl. Botley, Paul: Latin Translation in the Renaissance. The Theory and Practice of Leonardo Bruni, Giannozzo Manetti and Desiderius Erasmus, Cambridge 2004, S. 167. 70 Siehe auch Ludwig: Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts, S. 403 f. 71 Vgl. Oestreich: Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß; Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit; Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie; Lohmann: Zwischen Naturrecht und Partikularismus. 72 Vgl. Hadot: Philosophie als Lebensform, S. 114 f. 73 Diog. Laert. X, 1, 148. 74 Vgl. Kimmich: Epikureische Aufklärungen, S. 32. 68 69

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die Erkenntnis über die »Natur des Weltalls« eine unbedingte Voraussetzung der Glückseligkeit. Aufgrund ihrer Rückbindung an die »vorstellende Tätigkeit« steht der Epikureer den Erkenntnissen der reinen Vernunft grundsätzlich kritisch gegenüber. Im Vergleich mit dem Epikureismus drängt sich für die Stoiker insbesondere die Frage auf, welche Veranlagung den Menschen überhaupt zur Ausbildung der Vernunft führen soll, wenn nicht Schmerz und Lust das vorrationale Handeln leiten. Nach der stoischen Oikeiosis-Lehre ist dem Menschen die natürliche Neigung gegeben, das eigene Wesen zu erhalten und auszubilden. Der Trieb zum Selbsterhalt sei aber nicht an Schmerzvermeidung und Lustgewinn ausgerichtet.

2.

Die stoische Naturrechtslehre und Ethik

Ausgehend vom heraklitischen und platonisch-aristotelischen Denken entwickeln die Stoiker ein Naturrecht, das den Menschen zeigen soll, wie sie gemäß der Vernunft leben können. 75 Wie Heraklit nehmen sie an, dass λόγος und φύσις eine Einheit bilden. Das damit verbundene Seinsverständnis hat sich jedoch gewandelt. Während die ontologischen Grundbegriffe bei Heraklit das Aufgehen in die Unverborgenheit (ἀλήθεια) zur Sprache bringen 76, schließen die Stoiker an die aristotelische Seinsauslegung an 77, nach der das Sein vom Seienden im Ganzen her als etwas Vorhandenes verstanden wird. Die φύσις ist nicht mehr das, was sich vor dem Menschen verbirgt 78, sondern eine Natur, die der Mensch erkennen kann, um sein Handeln an ihr auszurichten. Der Logos wird als ein geistiges Prinzip vorgestellt, das alles Seiende in seinem Sosein bestimmt und in eine harmonische Gesamtordnung fügt. Für Heraklit ist die verborgene Fügung stärker als die für den Menschen einsehbare. 79 Dieser Grundzug einer im Erscheinen waltenden Verborgenheit darf nicht gleichgesetzt werden mit einer Unkenntnis der kosmischen Ordnung oder des Schicksals. Im Zustand der Unwissenheit oder Unvernunft, in dem sich derjenige Vgl. Georgopoulou-Nikolakakou: »Die Geburt des Menschenrechtsgedankens in der europäischen (griechisch-römischen) Antike«, S. 69–72. 76 Vgl. dazu Kap. II.1.1. 77 Vgl. Hossenfelder, Malte: Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, München 1985, S. 79. 78 Vgl. Herakl. B 123. 79 Vgl. ebd., B 54. 75

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befindet, der nicht »im Einklang mit der Natur« handelt, wird das Unverfügbare von λόγος, φύσις und ἀλήθεια ebenso wenig bedacht wie im Zustand des stoischen Weisen. Gerade aufgrund der unartikuliert vollzogenen Abkehr vom Seins- und Wahrheitsverständnis der anfänglichen Denker können schließlich Epikureer und Stoiker behaupten, »daß im Reiche des Guten das Ziel sehr wohl zu erreichen und in unsere Gewalt zu bringen ist«. 80 Diese Auffassung Epikurs teilen die Stoiker, auch wenn beide Schulen unterschiedliche Wege zum Ziel verfolgen. Im Vergleich von vorsokratischer und hellenistischer Denkweise wird die veränderte Stellung des Menschen zur Welt besonders deutlich. Während die Gerechtigkeit für Solon, Anaximander oder Heraklit eine ausgleichende Kraft ist, die das gesamte Gefüge des Seins durchdringt, wurde sie durch Antiphon im Zuge der Trennung von φύσις und νόμος zunächst auf den Bereich des menschlichen Zusammenlebens eingeschränkt. Von Platon wird die Gerechtigkeit als Idee in den Bereich des für den Menschen Erkennbaren eingerückt. Anhand der Willenswahl konnte Aristoteles zeigen, dass der einzelne Mensch auch im Falle der Unwissenheit für eine ungerechte Handlung verantwortlich ist. Mit der προαίρεσις, dem »überlegte[n] Begehren von etwas, was in unserer Macht steht« 81, hatte er schon den theoretischen Boden für eine Ethik erschlossen, die nicht mehr ganz und gar auf die Polis zugeschnitten sein würde. Die Stoiker erkennen, dass jeder Mensch ein gutes Leben führen kann, sofern er sich für den λόγος entscheidet. Die gesamte Ethik gründet in der Willenswahl, denn erst durch die Entscheidung für ein vernunftgemäßes Leben realisiert sich die Vernunftnatur, die den Menschen vor dem Tier auszeichnet. Epiktets Handbuch der Moral setzt sogleich mit der Unterscheidung dessen, »was in unserer Macht steht und was nicht«, ein. 82 In der stoischen Ethik beruht das gerechte Handeln in erster Linie nicht mehr auf gemeinschaftsbezogenen Zielen, sondern auf der individuellen Wahl des von Natur aus Guten und der Vermeidung des Schlechten – wobei die Wahlsituationen immer auf zwei konträre Möglichkeiten reduziert werden. Auch wenn die Stoiker betonen, dass angesichts des Schicksals nur sehr wenig in der Macht des Menschen steht, dient ihre Ethik dennoch dazu, dieses zu bewältigen. Der 80 81 82

Diog. Laert. X, 1, 133. Aristot. eth. Nic. III, 5, 1113a. Vgl. Epikt. ench. 1. Siehe auch M. Aur. V, 5 u. VI, 41.

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Mensch kann dauerhaft glücklich werden, indem er sich bejahend mit dem, was das Schicksal ihm zuweist, vereint. Der »dunkle« Heraklit deutet stattdessen auf das, was sich dem Menschen entzieht. Λόγος, φύσις und ἀλήθεια sind gerade nicht in den Griff zu bekommen, weil sie als Seinsbegriffe das benennen, was jeder willentlichen Bewältigung vorausgeht. Der Unverborgenheit entspricht laut Heraklit ein universeller Nomos. Forschner merkt dazu an: In Heraklits Begriff des Naturgesetzes vereinen sich naturrechtliche, naturphilosophische und theologische Bedeutungsmomente: der Logos ist normatives, überpositives Rechtsgesetz (νόμος), als gestaltendes Feuer kosmogonischer Urstoff (πῦρ ἀείζωον), als metaphysisches Prinzip Grund der Einheit alles Seienden in der Unterschiedenheit und Gegensätzlichkeit, als theologische Größe die göttliche, alles bestimmende Weltvernunft (ἓν σοφόν). 83

Diese Beschreibung passt meiner Ansicht nach besser zum stoischen Verständnis des Weltgesetzes als zum heraklitischen. Für Heraklit sind λόγος oder φύσις nicht als »Vereinigung« bestimmter Entitäten zu denken, die darüber hinaus auch gesondert betrachtet werden könnten. Das »alles ist eins« ist keine Ineinssetzung. Das Feuer bspw. ist deshalb »vernunftbegabt« 84, weil jedes Vernehmen auf Helle, auf Offenbarkeit angewiesen ist. In diesem Sinne kann das Feuer unmöglich so wie in der stoischen Lehre ein Element neben anderen sein oder als Sonnen- und Körperwärme spürbar werden. 85 Die Stoiker betrachten das Feuer unter dem Einfluss der Naturphilosophie letztlich doch als einen Stoff, obwohl sie diese Vorstellung zumindest für das reine Feuer, das mit der Weltvernunft identisch ist, ablehnen. Wie im Folgenden deutlicher werden wird, versuchen sie einem offensichtlichen Widerspruch zu entgehen, indem der »erste Stoff« und das reine Feuer als zwei getrennte Weltanfänge dargestellt werden. Diese Annahme ist jedoch mit dem Grundsatz Heraklits, dass eins

Forschner: Die stoische Ethik, S. 11. Vgl. Herakl. B 64a. 85 Long und Sedley merken zur stoischen Heraklit-Rezeption an: »Aber die ›Feurigkeit‹ ihres aktiven Prinzips ist keine einfache Neuauflage Heraklits. Ihre streng biologischen und teleologischen Aspekte deuten auf platonische und aristotelische Vorbegriffe, die den Eindruck erwecken können, auf unbeholfene Weise mit einem feurigen aktiven Prinzip verbunden worden zu sein.« Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen, S. 331. Zur Diskussion über die Bedeutung Heraklits für die Stoa vgl. Long, Anthony A.: Stoic Studies, Berkeley Los Angeles London 2001, S. 35 ff. 83 84

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alles ist, unvereinbar. Außerdem ist die Welt laut Fragment B 30, 31 ungeschaffen. Dennoch ist das stoische Verständnis von einem Logos, der sowohl die äußere Natur als auch die politische Ordnung bestimmt, einer Heraklit-Rezeption geschuldet. Die Stoiker setzten sich intensiv mit dessen Werk auseinander. 86 Allein Kleanthes (um 331–231) verfasste vier Bücher zu Heraklit. Die stoische Maxime vom Handeln im Einklang mit der Natur könnte in Anlehnung an das Fragment B 112 formulierten worden sein. Bezüglich der Gleichsetzung des Feuers mit dem λόγος, bietet das Werk Heraklits immerhin deutliche Anknüpfungspunkte.

2.1. Die Gestaltprinzipien des Seienden Unter λόγος verstehen die Stoiker sowohl ein kosmisches Ordnungsprinzip als auch das Vermögen der Vernunft, diese Ordnung zu erkennen. Alle seienden Dinge sind, wie Zenon von Kition (333/32– 262/61) erklärt, durch die Vernunft geformte Materie. »Ursubstanz ist der ›erste Stoff‹ aller seienden Dinge; diese ist als ganze ewig und wird weder mehr noch weniger. Aber ihre Teile bleiben nicht immer dieselben: Sie lösen sich auf und vermischen sich. Diese ›erste Hyle‹ wird aber von der Vernunft des Alls durchdrungen.« 87 Im Vergleich zu Aristoteles fällt auf, dass die Stoiker nicht von vier, sondern zwei Gestaltungsprinzipien ausgehen. Im λόγος sind causa formalis, finalis und efficiens vereint. 88 Die Unterscheidung von ὕλη und λόγος ähnelt der von ὕλη und εἶδος/μορφή. Allerdings gehört der λόγος laut Zenon ursprünglich nicht zur Seiendheit (οὐσία). Seiend ist nur die πρώτη ὕλη, der Stoff, der weiterhin dadurch charakterisiert wird, ewig und in der Menge unveränderlich zu sein. Der Begriff οὐσία wird demzufolge nicht schlechthin auf alles, was ist, bezogen, sondern nur auf das Materielle. 89 Es gibt nach Ansicht der Stoiker auch immaterielle, unkörperliche Dinge 90 – die Leere, den Ort, die Zeit und das 86 Vgl. Forschner: Über das Handeln im Einklang mit der Natur, S. 11; Hadot, Pierre: Die innere Burg. Anleitung zu einer Lektüre Marc Aurels, Frankfurt a. M. 1997, S. 87 f. 87 SUS, Frg. 237 = SVF I 87 (p. 24, 28–31). 88 Vgl. Forschner: Die stoische Ethik, S. 41. 89 Vgl. Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen, S. 201. 90 Vgl. ebd., S. 234–239, 353 f. u. 365–367.

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so genannte Lekton 91 – die aber, insofern sie außerhalb des UrsacheWirkungs-Verhältnisses stehen, nicht seiend sind. Von einer Wirkung kann nur die materielle Substanz betroffen sein. Der spätantike Gelehrte Chalcidius vergleicht die Substanz mit Wachs, die erst durch den λόγος eine bestimmte Form und Gestalt erhält. 92 Clemens von Alexandria erwähnt darüber hinaus, warum die Stoiker das Sein mit ὕλη identifizieren. »Sie bestehen darauf, dass nur das existiert, was ein Anstoßen und eine Berührung erzeugt, und erklären das Materielle und das Sein für identisch.« 93 Die Substanz des Seienden ist das passive, der Logos dagegen das aktiv gestaltende Element. »Ihrer Lehre zufolge hat das Weltall zwei Anfänge, das Tätige und das Leidende. Das Leidende sei die qualitätslose Wesenheit, die Materie, das Tätige sei die Vernunft in ihr, die Gottheit; denn diese, ewig in ihrem Bestand, walte schöpferisch über alle Gestaltungen der Materie.« 94 Dass die Stoiker den Begriff der οὐσία einseitig für die ὕλη reservieren und nicht vom λόγος oder der Einheit von λόγος und ὕλη abhängig machen, muss erstaunen, insofern es ihnen gerade darum geht, die Vernünftigkeit der Weltordnung zu betonen. Für Aristoteles ist ὕλη das, »was an sich weder als etwas noch als Quantitatives, noch durch irgendeine andere der Aussageweisen bezeichnet wird, durch welche das Seiende bestimmt ist«. 95 Als »das Unbestimmte« trägt die ὕλη am wenigsten zur Seiendheit des Seienden bei. Eben diese ungeformte und unstrukturierte ὕλη charakterisiert Zenon nun als das Wesen des Seienden, als dessen οὐσία. Die Seiendheit ist das, was bestehen bleibt, wenn das Seiende jenseits aller Eigenschaften und Gestaltungen gedacht wird. 96 Die Substanz einer jeden Sache hat keine spezifische Ausprägung, sie muss daher – abgesehen von Vgl. SUS, Frg. 225 = SVF II 331. In ihrer Sprachtheorie unterscheiden die Stoiker zwischen dem Bezeichnenden (σημαῖνον), dem Ausgesagten (λεκτὸν) und der Sache selbst (τυγχάνον). Das Semainon ist das lautliche Wort, das Lekton benennt die unkörperliche Bedeutung. Die Stoiker trennen zwischen der Bedeutung und dem Gegenstand, auf die sie sich bezieht. Vgl. Hülser, Karlheinz: »Stoa (Beginn ca. 300 v. Chr.)«, in: Borsche, Tilman (Hg.): Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky, München 1996, S. 57 f. u. in der Einleitung von Borsche S. 9; Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3, S. 76; Pohlenz: Die Stoa, S. 64 f. 92 Vgl. SUS, Frg. 238 = SVF I 88. 93 Ebd., Frg. 220 = SVF II 359. 94 Diog. Laert. VII, 1, 134. 95 Aristot. met. VII, 3, 1029a 96 Vgl. Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen, S. 322; Graeser, Andreas: Zenon von Kition. Positionen und Probleme, Berlin New York 1975, S. 118 ff. 91

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der Menge – identisch sein mit dem »ersten Stoff«, aus dem alles Materielle entsteht. Das von Chalcidius erwähnte Wachs-Beispiel darf nicht in der Hinsicht missverstanden werden, dass die Substanz selbst wie das Wachs etwas Vorhandenes wäre. Die Substanz geht allen Erscheinungen voraus, denn jede Erscheinung ist bereits »von der Vernunft durchdrungen«. Dennoch verbleibt die ὕλη nicht in der Unbestimmtheit, die Aristoteles ihr zugesprochen hat. Mit dem Zusatz, dass sie ewig und in der Menge unveränderlich ist, wird eine Aussage bezüglich der Quantität gemacht und somit gegen die aristotelische Definition der ὕλη verstoßen. Kriterien, die bei Parmenides und Heraklit dem Sein entsprechen sollten, werden von Zenon auf etwas Seiendes übertragen. Alle Einzeldinge lassen sich als Einheit von Stoff und Form begreifen. Da jedoch laut Zenon nicht die Einheit das Sein des Seienden ausmacht, sondern die ὕλη, bleibt offen, welche οὐσία dem λόγος zu eigen ist. Welche Seinsart entspricht dem λόγος bzw. Gott, wenn dieser nicht Teil der πρώτη ὕλη ist? Zwischen λόγος und ὕλη wird streng differenziert, insofern das eine ausschließlich aktiv und das andere ausschließlich passiv ist. Dem λόγος kann somit nicht etwas Materielles zugrunde liegen. Die Frage nach dem ὑποκείμενον des λόγος beschäftigte schon die antiken Autoren, sie wird von stoischer Seite aus nicht eindeutig beantwortet. Anzunehmen ist, dass der λόγος an sich reines Feuer ist. 97 In der stoischen Elementelehre hat das Feuer gegenüber den übrigen Elementen Luft, Wasser, und Erde eine herausragende Bedeutung. 98 Die Stoiker verstehen darunter eine kreative, göttliche Kraft. Dem Feuer verdanken die seienden Dinge ihre Erschaffung, ihren Bestand und ihr Ende. Die Welt entsteht und vergeht periodisch im Weltbrand. Zuerst bildet sich aus dem reinen Feuer durch eine Spannungsbewegung (τονικὴ κίνησις) 99 Luft, aus Luft entsteht Wasser und aus diesem schließlich Erde. Feuer und Luft sind die aktiv-tätigen Elemente, Wasser und Erde dagegen die passiv-leidenden. 100 Die Mischung der beiden aktiven Elemente erzeugt das Bewegungs- und Lebensprinzip, das Pneuma (πνεῦμα), das in den seienden Dingen Vgl. ebd., S. 110; SUS, Frg. 260 = SVF II 413 (p. 136, 6–36). Vgl. Guckes, Barbara: »Stoische Ethik – eine Einführung«, in: dies. (Hg.): Zur Ethik der älteren Stoa, Göttingen 2004, S. 10 f. 99 Siehe dazu Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen, S. 343; Pohlenz: Die Stoa, S. 75. 100 Vgl. SUS, Frg. 261 = SVF II 418. 97 98

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unterschiedlich stark enthalten ist. Der Mensch ist dank eines besonders hohen Anteils am Pneuma sprach- und vernunftbegabt. Die geistigen und sinnlichen Vermögen der Seele sind auf das Feuer in ihr zurückzuführen. 101 Das Feuer der Seele gleicht nicht dem reinen Feuer des λόγος, insofern ersteres auf ein Seiendes, die Seele, begrenzt ist. Als etwas Begrenztes müsse die Seele auch materiell-körperlich sein. 102 Laut Chrysipp (281/76–208/4) sind das schöpferische Feuer und das belebende Pneuma dasselbe. 103 Nicht nur die einzelnen Dinge in der Welt, sondern auch diese selbst wird von einem Pneuma zusammengehalten. Alles Seiende hat mehr oder weniger Anteil an der »Weltseele« 104. Diese kosmologische Grundannahme birgt bereits gewichtige Konsequenzen für die Ethik, da durch das Pneuma alles mit allem verbunden ist und in Wechselwirkung (συμπάθεια) zueinander steht. 105 Aus der pneumatischen Teilhabe ergeben sich auch die Rangstellung eines Lebewesens im Vergleich zu anderen und das Recht, über die jeweils niederen Dinge und Wesen verfügen zu dürfen. Vor diesem Hintergrund kann das übrige Seiende keine in ihm selbst liegende Zweckbestimmung haben, vielmehr werden die Zwecke der Lebewesen auf die Zweckbestimmung des Menschen 106 hin ausgerichtet. Laut Brandt knüpfen der Neustoizismus und Kant direkt an

101 »Zenon stellte fest, dass das Feuer ein selbstständiges Element ist, das in jedem den Geist und die Sinne erzeuge. […] Dem Stoiker Zenon schien die Seele Feuer zu sein.« Ebd., Frg. 320 = SVF I 134. 102 Zenon führt dafür folgenden Beweis an: »Es ist ein Körper durch dessen Verschwinden das Lebewesen stirbt. Wenn aber der von der Natur mitgegebene Lebensstrom (πνεῦμα, spiritus) verschwindet, stirbt das Lebewesen. Also ist der von der Natur mitgegebene Lebensstrom ein Körper: Der von der Natur mitgegebene Lebensstrom ist aber die Seele. Also ist die Seele ein Körper.« Ebd., Frg. 363 = SVF I 137 (p. 38, 10–14). Das Zitat verdeutlicht, dass die stoische Lehre nicht weniger »materialistisch« ist als die vom Atomismus geprägte Lehre Epikurs. Auch das Gute, die Affekte oder die Tugenden sind für die Stoiker materiell gebunden. Vgl. ebd., Frg. 235 = SVF III 84 (p. 20, 29–21, 22). 103 Vgl. ebd., Frg. 274 = SVF II 473. 104 Zu dem Begriff vgl. Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen, S. 380 f. 105 Vgl. SUS, Frg. 291 = SVF II 1013; Forschner: Die stoische Ethik, S. 55 f. 106 »Die Stoiker glauben zwar, daß die Menschen durch die Bande des Rechts untereinander zusammengehalten werden, zwischen Mensch und Tier aber stellen sie jedes Rechtsverhältnis in Abrede. Vortrefflich sagt Chrysipp, alles sei um der Götter und Menschen willen geschaffen, sie selbst aber seien zum Zweck gesellschaftlicher Gemeinschaft da.« Cic. fin. III, 67.

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diese originär stoische Antwort auf die Frage nach der Bestimmung des Menschen an. 107

2.2. »Er handelt also freiwillig unter Zwang.« – Freiheit und Determination im stoischen Denken Vom Gang der Gestirne bis hin zur einzelnen Handlung des Menschen ist das gesamte Weltgeschehen von Gott gewollt und kausal determiniert. Die Stoiker verbinden in ihrer λόγος-Theorie das Kausalgesetz Leukipps mit dem Monotheismus Xenophanes’. Leukipp erklärte: »Kein Ding entsteht ohne Ursache, sondern alles aus bestimmtem Grunde und unter dem Drucke der Notwendigkeit.« 108 Naturvorgänge werden ebenso wie menschliches Handeln als »geschlossene Kette von Ursachen« interpretiert. 109 Das griechische Wort für »Schicksal« εἱμαρμένη sei, so Aëtius, von dem Wort für »Verkettung« bzw. »Kette« (εἱρμὸς) abgeleitet. 110 Die stoische Behauptung, dass alles Seiende eine Ursache hat, richtet sich vor allem gegen Epikurs These einer ursachelosen Bewegung. Jede Veränderung in der Welt beruhe demnach auf einer zufälligen Bewegung von Atomen, die von ihrer Bahn – Epikur spricht von einer »senkrechten Linie« – abweichen. Eine Bewegung, die ohne vorhergehende Ursache, wie aus dem Nichts ausgelöst wird, kann es nach Ansicht der Stoiker nicht geben. Die Ursachen mögen auf Anhieb nicht immer feststellbar sein, dennoch könne jede Bewegung auf eine bestimmte Ursache zurückgeführt werden. Das aktive, verursachende Prinzip nennen die Stoiker auch »Gott«. Bei Xenophanes heißt es: Ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen am größten, weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken. Gott ist ganz Auge, ganz Geist, ganz Ohr. Doch sonder Mühe erschüttert er alles mit des Geistes Denkkraft. Stets aber am selbigen Ort verharrt er sich garnicht bewegend, und es geziemt ihm nicht hin- und herzugehen bald hierhin bald dorthin. 111

107 108 109 110 111

Vgl. Brandt: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, S. 15, 145 ff. und 160 ff. Diels II, 54 B 2. Vgl. SUS, Frg. 474 = SVF II 1024 (p. 305, 33–306, 3). Vgl. ebd., Frg. 481 = SVF II 917. Diels II, 21 B 23–26.

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Die Existenz anthropomorpher Götter wird von Xenophanes ebenso wenig bestritten wie von den Stoikern. Allerdings sind die verschiedenen Götter im Vergleich zum einen Gott sterblich und repräsentieren, so Zenon, lediglich gewisse Grundstoffe der Natur. 112 Der unsterbliche Gott ist dagegen identisch mit dem λόγος, dem reinen Feuer, dem Schicksal, der Natur und der Notwendigkeit. 113 Seneca bezeichnet ihn als »die erste Ursache« 114 und Diogenes Laertius umschreibt ihn folgendermaßen: »Von Gott aber lehren sie: er ist ein unsterbliches Wesen, vernünftig, vollkommen, oder ein denkender Geist, glückselig, unempfänglich für alles Böse, voll vorschauender Fürsorge für die Welt und alles, was in ihr ist; doch trägt er nicht Menschengestalt. Er ist der Schöpfer der Welt und gleichsam der Vater von allem«. 115 Die Welt ist von Gott geschaffen, nach seiner Vorsehung laufen das Naturgeschehen und das sittliche Handeln ab. Diese Vorstellung verändert das Naturrechtsdenken von Grund auf, denn die natürlichen Gesetze gelten nicht seit jeher, sondern werden auf die Initiative eines Gesetzgebers zurückgeführt. 116 Die göttliche Vorsehung ist allerdings nicht transzendent, sondern der Welt als Wille immanent. 117 In allem Seienden ist Gott lenkend präsent. 118 Aus der Annahme, dass es nichts in der Welt geben kann, das nicht vernünftig und von Gott gewollt wäre, schlussfolgert Chrysipp, dass die Welt selbst ein Gott ist. 119 Das bedeutet zugleich, dass die Welt so wie sie ist, die bestmögliche ist. 120 »Nichts aber ist größer und besser als die Welt; sie wird also durch die Planung und die Vorsehung der Götter verwaltet.« 121 Vgl. SUS, Frg. 436 = SVF I 169 (p. 43, 29–31). Vgl. ebd., Frg. 475 = SVF I 160 (p. 42, 23–25). Zur Ineinssetzung der Begriffe vgl. Kullmann: Naturgesetz in der Vorstellung der Antike, besonders der Stoa, S. 41 f.; Forschner: Die stoische Ethik, S. 99; Hadot: The Veil of Isis, S. 26. 114 Vgl. Sen. benef. IV, 7, 1–2. 115 Diog. Laert. VII, 1, 147. 116 Vgl. Kullmann: Naturgesetz in der Vorstellung der Antike, besonders der Stoa, S. 46. 117 Vgl. Lloyd, Geneviève: »Leben mit Notwendigkeit«, in: Guckes (Hg.): Zur Ethik der älteren Stoa, S. 125. 118 »Das Schicksal selbst, die Natur und die Vernunft, nach der das All verwaltet wird, sagen sie, sei Gott; es sei in allem Seienden und Werdenden und benutze so die je eigene Natur aller Dinge zur Verwaltung des Alls.« Alex. Aphr. fat. XXII. 119 Vgl. SUS, Frg. 433 = SVF I 448 (p. 99, 10–16); Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen, S. 323. 120 Vgl. Forschner: Über das Handeln im Einklang mit der Natur, S. 8 f. 121 SUS, Frg. 445. 112 113

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Ausdruck dieser Vollkommenheit sind bspw. die regelmäßigen Abläufe in der Natur, die nicht zufällig entstanden sein können, sondern auf ein überlegenes Wesen schließen lassen, das diese geschaffen haben muss. Naturkatastrophen oder Krankheiten widersprechen dem Guten in der Welt nicht. Vielmehr ist es der beschränkten Einsicht geschuldet, wenn nicht auch diese Erscheinungen der Natur als etwas Gutes betrachtet werden. Die Schwächen des menschlichen Körpers und die Untugend, so stellt es Gellius dar, betrachtet Chrysipp als Begleiterscheinungen der an sich guten, schaffenden Natur. 122 Die Anfälligkeit für Krankheiten und Schädigungen ist demnach eine unabsichtliche Folge der feinsinnigen körperlichen Ausstattung des Menschen. Cicero vergleicht die Untugend mit einem guten Erbe, das in schlechte Hände gerät. 123 Implizit appelliert er damit an die Verantwortung des Einzelnen, vernunftgemäß zu handeln. Inwiefern ist der Mensch dazu aber angesichts des determinierten Schicksals in der Lage? Schließt die Kette der Ursachen nicht jede Möglichkeit individueller Freiheit aus? In der Forschungsliteratur ist die Frage nach der Kohärenz des stoischen Freiheitsbegriffs umstritten. Fest steht aber, dass die Stoiker zum einen das Problem der Vereinbarkeit von Determination und Freiheit kannten 124 und zum anderen, dass sie der Ansicht waren, dass der Mensch in dem Sinne frei ist, dass er für sein Schicksal verantwortlich ist. 125 Für den Stoiker bezeugen Vorsehung und Determination, dass die Welt nicht besser sein kann, dass es nichts zu beklagen und über die gegenwärtigen Lebensumstände hinaus nichts zu erstreben gibt. Im Einzelnen gibt es zwischen den Phasen der frühen, mittleren und späten Stoa oder den jeweiligen Vertretern gravierende Unterschiede bezüglich des angemessenen Verhältnisses von heiterer Selbstgenügsamkeit und der Verantwortung für das politische Gemeinwesen und die Menschheit. Zu beachten ist, dass deterministische Theorieansätze im Bereich des Sittlichen erst in der Moderne einen negativen Beigeschmack bekommen haben, insofern sie mit der Willensfreiheit des Menschen unvereinbar zu sein scheinen. UnVgl. ebd., Frg. 461 = SVF II 1170 (p. 336). »Man kann nicht deshalb behaupten, die Götter hätten nicht auf das Beste für uns vorgesorgt, weil schon viele von uns deren Wohltaten missbrauchten; es gibt ja auch viele, die ihr Erbe missbrauchen. Aber das heißt nicht, dass diese Leute von ihren Vätern nichts Gutes geerbt hätten.« Ebd., Frg. 462 = SVF II 1186 (p. 341, 7–10). 124 Vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 40. 125 Vgl. z. B. Cic. fat. V, 9; Pohlenz: Die Stoa, S. 106. 122 123

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ter diesem Gesichtspunkt wird die Stoa in der Neuzeit allerdings weniger rezipiert. Von herausragender Bedeutung für die Neuzeit als »Epoche der Natürlichkeit« ist dagegen die Auffassung, dass der menschlichen Natur eine Bestimmung eingeschrieben ist. 126 Obwohl grundsätzlich alle Handlungen determiniert sind, hängt es dennoch vom einzelnen Menschen selbst ab, ob er vom Schicksal nur gezwungen wird oder in Übereinstimmung mit dem Notwendigen handelt. Zenon und Chrysipp vergleichen den Menschen mit einem Hund, der an einen fahrenden Wagen gekettet ist und sich entweder sträuben kann oder willig mitläuft. Wenn ein Hund, der an einen Wagen festgebunden ist, mitlaufen will, dann wird er einerseits gezogen und andererseits läuft er mit. Er handelt also freiwillig unter Zwang. Will er aber nicht mitlaufen, ist er unausweichlich dem Zwang ausgeliefert. Dasselbe gilt wohl auch für die Menschen. Denn auch wenn sie nicht wollen, werden sie unausweichlich dazu gezwungen, sich dem Schicksal zu fügen. 127

Kurz und bündig sagt Seneca: »Es führt einen das Schicksal, wenn man zustimmt, wenn man sich verweigert, schleppt es einen fort.« 128 Der Mensch bleibt trotz der εἱμαρμένη Urheber seiner Handlungen. Diese Souveränität über das eigene Tun verdankt er einem spezifischen seelischen Vermögen, dem im Herzen 129 lokalisierten Hegemonikon (ἡγεμονικόν). Die Seele besteht nach Ansicht der Stoiker nicht aus verschiedenen Teilen, sondern ist eine Einheit mit acht unterschiedlichen Vermögen, zu denen neben dem ἡγεμονικόν die fünf Sinne, das Sprachvermögen und das Zeugungsvermögen gehören. 130 Das ἡγεμονικόν ist seinerseits untergliedert in das Vermögen der Vorstellungskraft (φαντασία), die Fähigkeit zuzustimmen (συγ-κατάθεσις), die Antriebskraft (ὁρμή) und das Denkens (λόγος). 131 Das ἡγεμονικόν verarbeitet die ungeordneten Sinnesreize zu bewussten Wahrnehmungen und Erfahrungen. Dabei hinterlässt das sinnlich Wahrgenommene einen »Abdruck« in der Seele und ermöglicht so 126 Vgl. Brandt: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, S. 143–151, die zitierte Begrifflichkeit auf S. 145. 127 SUS, Frg. 506 = SVF II 975. 128 Sen. epist. XVII-XVIII, 107, 11. 129 Vgl. SUS, Frg. 372 ff. = SVF II 837, SVF II 885 (p. 238, 27–239, 3), SVF 885 (p. 239, 3–8), SVF II 896 (p.246, 1–2), SVF II 886 (p. 240, 1–8), SVF II 887 (p. 240, 27–241,3), SVF II 899 (247, 31–32 und 36–39), SVF II 894 (p. 244, 15–20). 130 Vgl. ebd., Frg. 390 = SVF II 827 (p. 226, 14–18). 131 Vgl. ebd., Frg. 399 = SVF I 143 (p. 39, 23–26).

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die Bildung von Vorstellungen. 132 Beim Menschen sind die Vorstellungen immer sprachlich vermittelt und dienen als Kriterium der Wahrheit. 133 Die bewusste Wahrnehmung unterscheidet sich von der sinnlichen dadurch, dass ersterer zugestimmt wird. »Zu dem, was wahrgenommen und durch die Sinne gleichsam aufgenommen wurde, fügt Zenon noch die ›Zustimmung‹ (assensio) der Seelen hinzu: Er behauptet, dass diese in unserer Reichweite liegt und freiwillig ist.« 134 Der Mensch ist dem sinnlich Gegebenen zwar ausgeliefert, aber er kann vernünftig entscheiden, ob er den Wahrnehmungen Vertrauen schenkt oder nicht und so zwischen erkenntnistauglichen und nicht-erkenntnistauglichen Vorstellungen differenzieren. 135 Im Gegensatz zu einer Wahnvorstellung oder einem Traumbild bezieht sich die bewusste Wahrnehmung auf ein reales Objekt, das präzise in allen seinen Besonderheiten erfasst wird. 136 Aus der Zustimmung zu diesem Objekt ergibt sich die Erkenntnis (κατάληψις). Zenon bezeichnete diesen Prozess in Analogie zum Greifen mit der Hand als »Begreifen«. 137 Das Begriffene ist aber noch kein Wissen, sondern Grundlage von Wissen und Nichtwissen und daher weder gut noch schlecht. 138 Erst wenn das Begriffene auch der vernünftigen Argumentation standhält, wird es zu Wissen, andernfalls bleibt es bloße Meinung. Wer nur Meinungen hat, habe keinerlei Anteil am Wissen. Den Erkenntnisprozess von der sinnlichen Wahrnehmung bis hin zur Weisheit beschreibt Zenon folgendermaßen: Denn nachdem er die innere Handfläche mit ausgestreckten Fingern gezeigt hatte, sagte er: »Genauso ist es mit dem Wahrnehmungsbild (visum = phantasía).« Darauf sagte er, nachdem er die Finger etwas gekrümmt hatte: »So funktioniert die Zustimmung (adensus = synkatáthesis) .« Dann sagte er, nachdem er die Finger ganz zusammengepresst und eine Faust geballt hatte, dass dies die Erfassung des Objekts (comprehensio = katálepsis) sei […]. Als er schließlich auch noch mit der linken Hand die Faust fest und kräftig umfasst hatte, sagte er, so sei es mit dem Wissen (scientia = epistéme), über das niemand außer dem Weisen verfüge. 139 Vgl. ebd., Frg. 170 = SVF II 53 (21, 12–14). Vgl. Diog. Laert. VII, 1, 49. Siehe auch Guckes: »Stoische Ethik«, S. 14 f. 134 SUS, Frg. 173 = SVF I 61. 135 Wobei sich aber die erkenntnistaugliche Vorstellung selbst als solche zeigt. Vgl. Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen, S. 298. 136 Vgl. SUS, Frg. 206 = SVF II 65. 137 Vgl. ebd., Frg. 201 = SVF I 60. 138 Vgl. Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen, S. 305 f. 139 SUS, Frg. 202 = SVF I 66. 132 133

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Die Stoiker wollen damit allerdings nicht behaupten, dass über wahr und falsch zuletzt anhand unwandelbarer Ideen entschieden würde, vielmehr bleibt das Kriterium der Wahrheit das neutrale, bewusste Wahrnehmen. Das Denken ist auf Vorstellungen und in letzter Instanz auf die sinnliche Wahrnehmung angewiesen. »Alles Denken (nóesis) geht nämlich von der sinnlichen Wahrnehmung (aísthesis) aus«. 140 Relevant ist für das Verhältnis von Freiheit und Determination, dass die Zustimmung freiwillig erfolgt. Bei der Wahrnehmung eines bestimmten Gegenstandes wird durch die συγκατάθεσις bestätigt, dass der Gegenstand als solcher erscheint. 141 Die bewusste Wahrnehmung beinhaltet also immer ein Urteil, mit dem bejaht oder verneint wird, dass eine Vorstellung tatsächlich mit der Sache selbst übereinstimmt. Auch das Handeln anderer unterliegt einer freiwilligen Beurteilung, insofern deren Wahrnehmung Zustimmung erfordert. Wirklich gut ist die gut scheinende Handlung eines anderen erst dann, wenn nach Maßgabe des individuellen λόγος geurteilt wurde, dass diese Vorstellung richtig ist. Die συγκατάθεσις zu einer Vorstellung begleitet auch das eigeninitiative Handeln. Beurteilt wird dabei, ob eine Handlung vollzogen oder vermieden werden sollte. Der Impuls bzw. Antrieb (ὁρμή) zu einer Handlung wird im Moment der Zustimmung ausgelöst. Die Einheitlichkeit der Seele bedingt, dass sich zwischen Zustimmung und Handlungsimpuls keine weiteren seelischen Vermögen einschalten können oder der Antrieb erst nach der Zustimmung entstünde. 142 Die Stoiker gehen nicht davon aus, dass im Menschen entweder die Vernunft oder der Trieb herrscht, vielmehr verändere sich beides wechselseitig. Die Vernunft kann auch zu schlechten Zwecken gebraucht werden. Der Trieb muss für eine gerechte Handlung nicht unterdrückt werden, sondern begleitet diese. Mit der Ausbildung des Vernunftvermögens im Einzelnen, kommen die ersten »Vorbehalte« auf, die den Trieb umformen. Dem Weisen schließlich kann nichts mehr geschehen, was er nicht aus eigenem Antrieb gewollt hätte. 143

Ebd., Frg. 167 = SVF II 88. Vgl. Guckes: »Stoische Ethik«, S. 15. 142 Vgl. ebd., S. 16. 143 Vgl. Lloyd: »Leben mit Notwendigkeit«, S. 130 f. Passend zu dieser Haltung schildert Diogenes Laertius, dass Zenon, als er kurz vor seinem Tod stolperte und hinfiel, zur Erde gesagt haben soll: »Schon komme ich, was rufst du mich?« Diog. Laert. VII, 1, 29. 140 141

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Offensichtlich kommt dem Vermögen der συγκατάθεσις im ἡγεμονικόν eine besondere Bedeutung im Hinblick auf die Freiheit und Verantwortlichkeit des Einzelnen für sein Handeln zu. 144 Der Mensch kann zwar nicht kontrollieren, welche Vorstellungen sich ihm zeigen, aber er kann diesen zustimmen oder die Zustimmung verweigern und somit eine Handlung gewollt ausführen oder unterbinden. Zu fragen bleibt allerdings, weshalb nicht auch determiniert ist, ob der Mensch zustimmen wird oder nicht. Denjenigen, die an der Vorsehung und dem Schicksal zweifeln, hält Chrysipp entgegen: Vieles nämlich kann nicht geschehen, ohne dass wir es auch wollen und uns mit äußerster Bereitschaft und Einsatzfreude darauf einlassen. Denn es war vom Schicksal bestimmt, dass es nur in Verbindung damit geschehen konnte. Es wird […] an uns liegen, wenn von der Heimarmene mitbestimmt ist, dass es an uns liegen wird. 145

Nach diesem Zitat fährt Diogenianos fort: »Schon aus der Unterscheidung, die Chrysipp vornimmt, wird deutlich, dass die bei uns liegende Ursache von der Heimarmene getrennt ist.« 146 Das Schicksal kann sich demnach ohne die Mithilfe des Menschen nicht erfüllen. Innerhalb der Kausalkette ist der Mensch eine selbstständige Ursache. Der Meinung, dass das Schicksal unausweichlich sei, wollte sich Chrysipp, wie Cicero berichtet, nicht anschließen. Er unterscheidet daher zwei Formen der Ursache. 147 Die Schicksalsfügung legt zwar fest, dass alles nach einer vorab bestimmten Ursache geschieht, diese Ursache ist allerdings nicht »maßgebend und grundlegend« für jede einzelne Handlung, sondern »unterstützend und unmittelbar wirksam«. Der Handlungsimpuls wird durch die letztgenannte Ursache nicht unausweichlich festgelegt. Der Vergleich mit einer Walze soll das Zusammenwirken von innerer und äußerer Ursache illustrieren. Wie derjenige, der eine Rolle vorwärts stößt, dieser zwar den Anstoß zur Bewegung gibt, nicht aber die Fähigkeit zu rollen, so prägt sich auch ein sichtbares Objekt zwar in der Seele ein und hinterlässt dort sozusagen seine Spur, aber die Zustimmung dazu (es zu sehen) unterliegt unserem Einfluss, und diese Zustimmung wird zwar, wie es bei der Rolle beschrieben wurde,

Zur Bedeutung des συγκατάθεσις-Begriffs für die Ausarbeitung des Willenskonzepts im mittelalterlichen Denken vgl. Kahn: »Discovering the Will«, S. 245 ff. 145 SUS, Frg. 503 = SVF II 998 (p. 292, 28–293, 11). 146 Ebd. 147 Vgl. Pohlenz: Die Stoa, S. 105. 144

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von außen angestoßen, hält sich aber darüber hinaus aus eigener Kraft und aufgrund ihrer natürlichen Beschaffenheit in Bewegung. 148

Ob das Beispiel tatsächlich die Unausweichlichkeit des Schicksals widerlegt, ist fragwürdig, weil auch die Meinung vertreten werden kann, dass die »natürliche Beschaffenheit« einer Sache bereits durch das Schicksal festgelegt worden ist. 149 Cicero erläutert die Problematik anschaulicher, indem er zwischen der »Willensentscheidung« (voluntas) und »natürlichen Ursachen« (causae naturales) unterscheidet: Nun müssen wir freilich zugeben, daß es nicht in unserer Macht liegt, ob wir scharfsinnig sind oder stumpf, kräftig oder schwach. Wer aber glaubt, er könne daraus folgern, es liege selbst das nicht in unserer Willensentscheidung, daß wir sitzen oder umhergehen, der sieht nicht, wie Ursache und Wirkung sich zueinander verhalten. Denn angenommen, die Begabten und die Langsamen würden auf Grund vorausgehender Ursachen so geboren und ebenso die Starken und die Schwächlichen, so folgt doch daraus nicht, daß es auch Hauptursachen sind, durch die bestimmt und festgelegt ist, daß diese Menschen sitzen, umhergehen oder irgendeine Tätigkeit ausüben. 150

Ursache aller menschlichen Tätigkeiten ist demnach die Willensentscheidung. Cicero kehrt das Verhältnis von maßgeblicher und sekundärer Ursache im Hinblick auf das menschliche Handeln um. Natürliche Ursachen spielen im Bereich des Handelns nur als Bedingungen eine Rolle. Der Mensch ist aufgrund des Willensvermögens für seine Handlungen verantwortlich. 151 Im Anschluss an die Auffassung des Aristotelikers Alexander von Aphrodisias tendiert Forschner dazu, bei der Unterscheidung der Ursachen außerdem hervorzuheben, ob die notwendige Bewegung im Hinblick auf die Sache gewaltsam oder in Übereinstimmung mit dessen Natur vollzogen wird. 152 Eine Erläuterung des Verhältnisses von Freiheit und Determination bei Epiktet (ca. 50–ca. 125) macht deutlich, dass die Freiheit auch ein Resultat der Unkenntnis des Schicksals ist. Es ist demnach ein weises Wort des Chrysippus: »Solange ich […] die Folgen einer Sache nicht genug einsehe, halte ich mich an das seinem Wesen nach Bessere, damit ich das erhalte, was der Natur gemäß ist. Denn dies hat Gott selber meiner Wahl überlassen. Wenn ich aber wüßte, daß das Schick148 149 150 151 152

SUS, Frg. 495 = SVF II 974. Vgl. bspw. Gell. VII, 2, 7. Cic. fat. V, 9. Siehe auch ebd., V, 10–11. Vgl. Forschner: Die stoische Ethik, S. 109 ff.

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sal jetzt eine Krankheit über mich beschlossen hätte, so würde ich mit allem Ernst darnach streben.« 153

Die Freiheit hängt nicht so sehr davon ab, sich in einer bestimmten Situation für oder wider eine Handlung zu entscheiden – zumal diese Wahl ebenfalls determiniert sein könnte – sondern davon, langfristig die Konturen des Ereignisverlaufs zu erkennen, um sich durch Vorbehalte gegen mögliche zukünftige Enttäuschungen zu schützen, so Lloyd. 154 Die Kontrolle über Handlungen und Ereignisse ist infolgedessen schwach ausgeprägt. Dieser Befund entspricht der stoischen Einschätzung, dass überhaupt nur weniges menschlicher Einflussnahme unterliegt. Im Vergleich zur modernen Idee des freien Willens, der sich autonom Gesetze zu geben vermag, ist die stoische Freiheitskonzeption sehr begrenzt, da die Zwecke durch die Natur vorherbestimmt sind und nicht mittels der Vernunft frei gewählt werden. Einige Autoren vertreten daher die Ansicht, dass Freiheit und Determination sich in der stoischen Philosophie nicht vereinbaren lassen. Hossenfelder behauptet z. B., dass die Stoiker sowohl an der Unverfügbarkeit des Naturgeschehens als auch an der »zwecksetzenden Vernunft« festhielten und deshalb zu einem widersprüchlichen teleologisch-deterministischen Weltbild gelangt seien. 155 Die Frage, ob die stoischen Vorstellungen von Freiheit und Schicksal tatsächlich inkonsistent sind, möchte ich hier nicht weiter verfolgen. Vermutlich kann zur Klärung nur eine deutlichere Differenzierung zwischen den stoischen Denkrichtungen beitragen. Zu beachten ist bei Vergleichen mit der modernen Autonomiekonzeption, dass die hellenistischen und römischen Philosophen erst beginnen, den Bereich dessen, worüber der individuelle Mensch verfügen kann, abzustecken und dieses Potential mit dem entsprechenden Vermögen – der συγκατάθεσις im ἡγεμονικόν – zu verknüpfen. Es ist nicht selbstevident, dass der Einzelne in seinem sittlichen Handeln souverän (κυριώτερος) sein kann. Denn das Handeln steht immer in Relation zu anderen, deren Initiativen die gemeinsamen Handlungen mitkonstituieren. 156 Diese SouEpikt. diatr. II, 6, 9. Vgl. Lloyd: »Leben mit Notwendigkeit«, S. 130 ff. 155 Vgl. Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3, S. 88. Long und Sedley betonen dagegen, dass Freiheit und Determination nach stoischer Auffassung einander voraussetzen. Vgl. Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen, S. 468 ff. 156 Vgl. Kap. III.2.1. 153 154

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veränität wird aber nicht durch den λόγος und erst recht nicht durch eine »zwecksetzende Vernunft« verbürgt, die den Stoikern ebenso wenig wie Aristoteles bekannt war. Im Rahmen der teleologischen Durchstrukturiertheit der Welt sind die Zwecke, die die Vernunft zu erkennen vermag, stets vorgegeben. Indem sich das Fatum Schritt für Schritt zu erkennen gibt, eröffnet es dem Einzelnen die Möglichkeit, »Hauptursache« der Handlungen zu sein und somit moralisch zu handeln: »Weit davon entfernt, mit Moralität in Konflikt zu stehen, ist das Fatum die moralische Struktur der Welt.« 157 Wegweisend ist im Hinblick auf die Geschichte der Menschenrechte unter anderem, dass das Freiheitsverständnis aus dem zwischenmenschlichen, politischen Kontext herausgelöst und im Bereich der seelischen Erfahrungen und Vermögen verortet wird. Die bis zu einem gewissen Grad »individuell« gewordene Freiheit bemisst sich nicht daran, ob ein Bürger politisch tätig ist, sondern ob er in Übereinstimmung mit sich selbst, der Natur und der Weltvernunft lebt. Anhand der συγκατάθεσις wird gezeigt, dass der Mensch das Vermögen besitzt, eigenverantwortlich zu handeln, insofern er die Weisheit erstrebt. »Er [der Weise, O. B.] allein sei wahrhaftig frei, alle Schlechten aber seien Sklaven. Denn die Freiheit bestehe in der Möglichkeit, selbständig zu handeln, die Knechtschaft dagegen in der Entziehung dieser Möglichkeit.« 158 Das hier angesprochene Freiheitsund Knechtschaftsverhältnis grenzt Diogenes Laertius von zwischenmenschlichen Herrschaftsverhältnissen ab – die Zenon im Gegensatz zu Epiktet allerdings der Kritik unterzieht 159. Mit der Freiheit des Weisen ist die innere Freiheit gemeint, die das selbstständige Handeln erst ermöglicht. 160 Deutlich wird anhand des Zitats, dass die politische Freiheit der inneren untergeordnet wird. Der politisch Freie verfolgt möglicherweise die falschen Ziele und ist somit der eigenen Unwissenheit unterworfen. Umgekehrt kann ein Sklave, der Weisheit besitzt, trotz des Zustandes der Sklaverei frei sein. Es verwundert daher nicht, dass Epiktet, »der große Philosoph des 2. Jahrhunderts« – einer der bedeutendsten Fürsprecher dieser neu entdeckten Freiheit – ein Sklave war. 161 Wie Nickel ermittelt hat, Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen, S. 470. Diog. Laert. VII, 1, 121 f. 159 Vgl. Kap. V.2.3. 160 Vgl. Forschner: Die stoische Ethik, S. 111. 161 »In der Tat war Epiktet damals der große Philosoph. Die Literatur des 2. Jahrhunderts beschwört durchgängig seine Gestalt und seine Lehre, und bis zum Ende der 157 158

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gebraucht Epiktet den Begriff »Freiheit« ca. 130 mal, bei Marc Aurel taucht er dagegen nur zweimal auf. 162 Die Freiheit liegt für Epiktet in der Fähigkeit begründet, die innere Einstellung mit den Umständen des Lebens zu versöhnen. Schlecht sein kann nicht das, was einem Menschen geschieht, sondern nur die Art und Weise, wie dieser sich dazu verhält. Insofern versperren nicht die äußeren Angelegenheiten den Weg zur Glückseligkeit, sondern die eigenen Meinungen. Eine Kernthese Epiktets lautet: »Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Urteile und Meinungen über sie.« 163 In jeder Lebenssituation soll man sich fragen, welche Geschehnisse tatsächlich im eigenen Verantwortungsbereich liegen und welche nicht. Das eine steht in unserer Macht, das andere nicht. In unserer Macht stehen: Annehmen und Auffassen, Handeln-Wollen, Begehren und Ablehnen – alles, was wir selbst in Gang setzen und zu verantworten haben. Nicht in unserer Macht stehen: unser Körper, unser Besitz, unser gesellschaftliches Ansehen, unsere Stellung – kurz: alles, was wir selbst nicht in Gang setzen und zu verantworten haben. 164

Dass die Freiheit für Epiktet ein rein seelisches Phänomen ist, wird daran ersichtlich, dass alles, was den zwischenmenschlichen Bereich tangiert, außerhalb des Verhältnisses von Freiheit und Unfreiheit steht. Schädlich ist die Sklaverei für den Sklaven nur dann, wenn er selbst glaubt, dass ihm Schaden zugefügt wird. »Denn dir selbst wird kein anderer Schaden zufügen, wenn du es nicht willst. Du wirst aber dann geschädigt, wenn du annimmst, daß du geschädigt wirst.« 165 Die innere Freiheit muss sich in der Praxis, auch in existenziellen Notlagen, bewähren. Ich muß sterben. Muß ich aber auch darüber seufzen und jammern? Ich muß in Fesseln liegen. Muß ich aber auch deswegen Tränen vergießen? Ich bin des Landes verwiesen. Was verwehrt mir, lachend und fröhlich und guter Dinge fortzuwandern? […] »So laß ich dich ins Gefängnis stecken.« Was sagst du, Mensch? Mich? Meine Beine kannst du in den Stock legen, Antike wird er den Philosophen als Vorbild dienen.« Hadot: Die innere Burg, S. 94. Dass Epiktets Lehre eine solche Bedeutung erlangen konnte, obwohl er selbst kein Wort geschrieben hat – Epiktets Schriften sind Aufzeichnungen Arrians, der versichert, wortgetreu dessen Auffassungen wiederzugeben – veranschaulicht besonders deutlich, dass Philosophie in der Antike Lebensform war. Vgl. ebd., S. 82, 94 ff. 162 Vgl. Epikt. ench., S. 77 (Einführung). 163 Ebd., 5. 164 Ebd., 1. 165 Ebd., 30.

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aber meinen freien Willen (προαίρεσις) kann selbst Zeus nicht überwinden. 166

Der Grund der Freiheit ist demnach die προαίρεσις. Es ist zwar das Vernunftvermögen, das den Menschen nach Ansicht Epiktets vom Tier unterscheidet, aber nur der Wille kann »befehlen« und somit ohne Verzögerung eine Handlung auslösen. 167 Die Verinnerlichung der Freiheit hat zur Folge, dass der Wille als ein eigenständiges Vermögen zu erscheinen vermag, dem laut Epiktet sogar die Vernunft unterlegen ist. »Der Mensch [hat] nichts Souveräneres (κυριώτερος) als den Willen, […] alles andere [ist] ihm untertan, und der Wille selbst ist frei von Sklaventum und Unterordnung.« 168 Weder eine äußerliche Gewalt noch ein anderes Vermögen der Seele kann den Willen zu etwas zwingen. Nur der Wille selbst kann die Zustimmung zu einer Sache verweigern. Dass bei Epiktet der Wille deutlicher als das herrschende Vermögen innerhalb der Seele hervortreten kann, ist sicherlich der Radikalität seiner Pflichtenlehre geschuldet, in der diese die übrigen stoischen Lehren übertrifft. 169 Die Stoiker stellen zwar allgemein die Ethik ins Zentrum ihrer Lehren, aber die ausschließliche Orientierung an den Möglichkeiten des Willens lässt Epiktet sogar am Sinn metaphysischer Fragen zweifeln. 170 Zur Stoa sollten sich nur diejenigen bekennen, deren Glückseligkeit tatsächlich unerschütterlich ist. 171 Die Aufforderung, das zu wählen, was »in unserer Macht steht«, und das Fremde zu meiden, bleibt allerdings eine Wahl, im Sinne des Entweder-Oder. 172 Der Wille ist bei Epiktet nicht Ausdrucksform der Spontaneität. 173 Ein Vermögen, das nicht einmal Zeus einschränken kann, muss selbst göttlichen Ursprungs sein. »Denn dies hat Gott selber meiner

Epikt. diatr. I, 1, 22–24. Vgl. Arendt: Vom Leben des Geistes, S. 312. 168 Epikt. diatr. II, 10, 1 (Übers. aus ebd.). 169 Vgl. Pohlenz: Die Stoa, S. 331 f. 170 Vgl. Epikt. Frg. I. 171 »[S]o zeiget mir einen [Stoiker], der nach den stoischen Grundsätzen, die er äußert, gebildet ist. Zeiget mir einen, der krank und glückselig, der in Gefahr und glückselig, der stirbt und glückselig, der des Landes verwiesen und glückselig, der allen Ehren entsetzt und glückselig ist. Zeiget mir doch einen, ich kann es kaum aussprechen, wie sehr mich verlangt, einen Stoiker zu sehen.« Epikt. diatr. 2, 19, 22–24. 172 Vgl. Pohlenz: Die Stoa, S. 334 f. 173 Zum »Willen« im antiken Denken siehe auch Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 48 f. 166 167

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Wahl überlassen.« 174 Zugleich hat der Mensch dadurch etwas mit Gott gemeinsam. Gott ist im Menschen, dem »bevorzugten Wesen«, selbst gegenwärtig. 175 Da Gott gemäß der stoischen Lehre sowohl der Schöpfer der Welt als auch deren immanenter λόγος ist, sind die Menschen Geschöpfe Gottes und zugleich gottähnlich. Der Gedanke der Gottesebenbildlichkeit kommt nicht erst im Christentum auf, sondern war bereits der älteren Stoa bekannt. 176 Im Zeushymnus des Kleanthes heißt es: »Dich [Zeus, O. B.] dürfen ja alle Sterblichen anreden, denn von dir entstammen wir, von dir das Abbild (μίμημα) erlangt habend als einzige von allem, was sterblich auf Erden lebt und wandelt; deshalb werde ich dich preisen und immer deine Macht besingen.« 177 Auch Seneca verwies auf die Gotteskindschaft: »[A]lle, wenn man auf den ersten Ursprung zurückgeht, stammen von den Göttern ab.« 178 Der göttliche Geist ist in jedem, unabhängig vom gesellschaftlichen Stand. »Der Geist (animus), […] was anders kannst du ihn nennen als Gott, im Menschenkörper zu Gast weilend? Dieser Geist kann in einen römischen Ritter wie in einen Freigelassenen wie in einen Sklaven fallen.« 179 Dem Bild Gottes (imago dei) soll sich der Mensch würdig erweisen. Seneca zitiert Vergil 180: »[E]rhebe dich nur ›und auch dich bilde dich/ würdig des Gottes.‹ Das wirst du nicht mit Gold oder Silber: nicht kann aus diesem Stoff ein Bild geschaffen werden, dem Gotte ähnlich«. 181 Die Gotteskindschaft ist der Grund dafür, dass alle Menschen miteinander verwandt sind. »Gott ist der Vater […] der Menschen«, auch Sklaven sind »deine natürlichen Brüder«. 182 In der Sekundärliteratur wird im Zusammenhang mit der Idee der Gotteskindschaft und der Freiheit bei Epiktet häufig darauf hingewiesen, dass hiermit die Menschenwürde begründet werde 183, obwohl der Begriff selbst in Epikt. diatr. II, 6, 9. Vgl. ebd., II, 8, 9–14. 176 Vgl. Forschner: Über das Handeln im Einklang mit der Natur, S. 24. 177 Zitiert nach Kullmann: Naturgesetz in der Vorstellung der Antike, besonders der Stoa, S. 39. 178 Sen. epist. V, 44, 1. 179 Ebd., IV, 31, 11. 180 Vgl. Verg. Aen. VIII, 364 f. 181 Sen. epist. IV, 31, 11. 182 Vgl. Epikt. diatr. I, 3, 1; I, 13, 4; Oestreich: Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, S. 17. 183 Vgl. Epikt. ench. S. 77 f. (Einführung); Dihle, Albrecht: »Die Begegnung mit Fremden im Alten Griechenland«, in: Dummer, Jürgen/Vielberg, Meinolf (Hg.): Der Frem174 175

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seinen Schriften nicht vorkommt. Der Verweis auf die Menschenwürde ist dennoch naheliegend, weil der Zusammenhang von erlebten Unrechtserfahrungen und der »Selbsterziehung zur Freiheit« bei Epiktet offensichtlich ist. Bereits Platon hatte in den Gesetzen angemerkt, dass derjenige, der Tugend und Wissen nicht erstrebt, sich der eigenen Würde beraubt. 184 Er verband die Beachtung der Würde allerdings auch mit der Einhaltung der Gesetze. Bei Epiktet entspringen aus den moralischen Ansprüchen dagegen keine Forderungen an die Gesetzgebung, da diese außerhalb der Reichweite der eigenen Einflussmöglichkeiten liegt. Hier zeigt sich die Schattenseite eines Freiheitsverständnisses, das ausschließlich die innere Haltung zum Maßstab nimmt. Der Wille kann über die eigenen Meinungen verfügen, aber er darf sich nicht an Zwecksetzungen binden, die er nicht kontrollieren kann. Ein Stoiker soll sich laut Epiktet nicht gegen einen Tyrannen oder Gesetze, die im Widerspruch zum Naturrecht stehen, auflehnen. 185 Cicero, der sich kritisch mit den stoischen Lehren auseinandersetzt, und Seneca vertreten diesbezüglich eine gegenteilige Ansicht. Auf das stoische Verständnis von Menschenwürde gehe ich in Kapitel V.2.5. ausführlicher ein. Hier sollte zunächst gezeigt werden, dass die Freiheit des Menschen als Willensfreiheit verstanden wird. Auch wenn bezweifelt werden kann, ob die Willensfreiheit mit dem Determinismus vereinbar ist oder die Rede von einer Willensfreiheit überhaupt gerechtfertigt ist – angesichts der Tatsache, dass nur die Wahl zwischen den Mitteln zu einem von Natur aus vorgegebenen Ziel gemeint ist – ist es doch den Stoikern zu verdanken, im Zuge der Subjektivierung der εὐδαιμονία auch die προαίρεσις und die übrigen Vermögen der menschlichen Seele in ihrem subjektiven Zusammenwirken interpretiert zu haben.

de – Freund oder Feind? Überlegungen zu dem Bild des Fremden als Leitbild, Wiesbaden 2004, S. 39; Pohlenz: Die Stoa, S. 336. Forschner merkt an, dass der Mensch bei Epiktet »göttlichen Ursprungs [ist] und daher von göttlicher Würde, der es gerecht zu werden gilt«. Forschner, Maximilian: »Stoa«, in: Gröschner/Kapust/Lembcke (Hg.): Wörterbuch der Würde, S. 17. Hadot erklärt, dass die Stoiker an den »absoluten Wert des Menschen glaubten« und aus diesem Grunde z. B. gegen die Missachtung der »menschliche[n] Würde« durch das Schauspiel der Gladiatorenkämpfe protestierten. Vgl. Hadot: Die innere Burg, S. 416 f. u. 425 f. 184 Vgl. Plat. leg. V, 1, 728. 185 Vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 41.

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2.3. Weltgesetz und Naturrecht Die εἱμαρμένη bzw. Weltvernunft 186 (τοῦ κόσμου λόγος) ist zugleich Natur- und Weltgesetz (lex aeterna et perpetua) . Dem νόμος-Begriff, der in der Entgegensetzung zum φύσις-Begriff bei den Sophisten deutlich abgewertet worden war, messen die Stoiker wieder eine universelle Geltung bei. 187 Der Anfang von Chrysipps Buch Über das Gesetz, der stark an den Hymnus Pindars erinnert, in dem das Gesetz als »König« bezeichnet wird, belegt die neue Autorität des Weltgesetzes. Das Gesetz ist der König aller göttlichen und menschlichen Dinge. Es ist notwendig, dass dieser König auch der Beschützer des Schönen und des Sittlichen und sein Herrscher und Lenker ist und dass er in diesem Sinne die Richtschnur des Gerechten und des Ungerechten ist und unter den von Natur aus gesellschaftsbezogenen Lebewesen die Instanz ist, die anordnet, was man tun muss, und verbietet, was man nicht tun darf. 188

Schon Zenon soll ähnlich wie Heraklit den göttlichen Charakter dieses νόμος betont haben. 189 Im Hinblick auf die einzelstaatlichen Verfassungen sprechen die Stoiker nicht mehr von νόμοι, sondern von Satzungen (θέσεις). 190 Deren Verschiedenheit erklärt Chrysipp damit, dass die Völker – ausdrücklich ist von Griechen und Nichtgriechen die Rede – keine Verbindung zueinander haben. 191 Gegenseitiges Misstrauen und das Machtstreben einzelner Völker führten zur Entfremdung von der Natur, indem die Verfassungen durch Gesetze erweitert wurden, die nur Gruppeninteressen dienlich sind. Dies ändert aber nichts daran, dass in der Welt, der »großen Stadt« nur das »der richtigen Vernunft der Natur« Gemäße Gesetz sein soll. Das in der Kosmopolis geltende Recht ist das Naturrecht. Die Stoiker betrachten es als Aufgabe jedes Menschen, nach diesem Recht zu leben. Weiterhin beruht der sehr bewunderte »Staat« (πολιτεία) des Zenon, des Gründers der stoischen Sekte, auf diesem einen Prinzip, dass wir nicht in Staaten und Völker aufgeteilt leben, die durch eigene Rechtssysteme von-

Vgl. SUS, Frg. 486. Vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 39. 188 SUS, Frg. 659 = SVF III 314. 189 Vgl. Cic. nat. I, 36. 190 Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 135; Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 39. 191 Vgl. SUS, Frg. 667 = SVF III 323 (p. 79, 37–80, 13). 186 187

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einander getrennt sind, sondern dass wir alle Menschen für Angehörige eines Volkes und eines Staates halten, und ein gemeinsames Leben und eine gemeinsame Weltordnung existiert, wie es bei einer Herde der Fall ist, die zusammen lebt und auf einer gemeinsamen Weide grast. Das beschrieb Zenon wie einen Traum oder ein Idealbild, das er von einer guten von Philosophie getragenen Ordnung und Verfassung gewonnen hatte. 192

Zenons politische Ideale vom Weltstaat und Weltbürgertum sind Teil oder Ergebnis einer umfassenden Gesellschaftskritik. Zu Beginn seines Buches über das Gemeinwesen erklärt er, dass die Allgemeinbildung bei den Griechen nutzlos sei. 193 Der Bau von Gymnasien, Tempeln und Gerichten soll verboten, das Geldwesen abgeschafft und eine Einheitskleidung für Männer und Frauen eingeführt werden. 194 Über die Heiligtümer schrieb er: »Heiligtümer zu errichten, wird nicht erforderlich sein. Denn ein Heiligtum ist nicht viel wert, und man darf es nicht für heilig halten. Nicht viel wert und nicht heilig ist ein Werk von Baumeistern und Handwerkern.« 195 Nicht die Götterbilder, sondern die Tugenden der Bürger sollen eine Stadt schmücken. 196 Er integriert die platonische Idee von der Weibergemeinschaft in seine Lehre. 197 Möglicherweise folgte er Platon auch bezüglich der Forderung nach einer Abschaffung des Privateigentums. Die Metapher von der »gemeinsamen Weide« legt dies nahe. Außerdem wären die Möglichkeiten zur Mehrung des Eigentums ohne eine Geldwirtschaft ohnehin begrenzt. Auch die stoische Grundannahme, dass ein glückliches Leben kaum materieller Güter bedarf, würde zur Idee der Gütergemeinschaft passen. Alleiniger Maßstab aller gesellschaftlichen Beziehungen ist für Zenon die Tugend. Verwandt, befreundet, frei und als Weltbürger 198 geeint sind nur die Tugendhaften. 199 Zwischen den Weltbürgern gibt es keine Sklaverei, Feindschaft, Entfremdung oder Gehässigkeit. ZeEbd., Frg. 698 = SVF 262 (p. 60, 38–61, 7). Vgl. Diog. Laert. VII, 1, 32. 194 Vgl. ebd., VII, 1, 33. 195 SUS, Frg. 701. 196 Vgl. ebd., Frg. 702. 197 Vgl. Diog. Laert. VII, 1, 33. 198 Den Weltbürgerbegriff übernahm Zenon von den Kynikern. Diogenes antwortete auf die Frage nach seiner Heimatstadt: »Ich bin ein Weltbürger (Κοσμοπολίτης).« Ebd., VI, 2, 63. Vgl. Nussbaum, Martha C.: »Kant und stoisches Weltbürgertum«, in: Lutz-Bachmann, Matthias/Bohman, James (Hg.): Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, Frankfurt a. M. 1996, S. 49. 199 Vgl. Diog. Laert. VII, 1, 32 f. 192 193

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non stellt fest, dass die Weisen frei und die Schlechten Sklaven sind. Die Ansicht, dass jemand nicht frei sein kann, der inneren Zwängen unterworfen ist, war bereits von Platon vertreten worden. Die Kyniker und Zenon schließen daraus allerdings, dass nur derjenige Sklave ist, der sich selbst dazu macht, das heißt, der Vernunft nicht gehorcht und den Begierden nicht widersteht. Darüber hinaus belegt Diogenes Laertius’ Bericht jedoch, dass für Zenon die Sklaverei in all ihren Ausprägungen, wozu auch die Gewaltherrschaft (δεσποτία) gerechnet wird, »verwerflich« ist. [D]ie Freiheit (ἐλευθερίαν) bestehe in der Möglichkeit, selbständig zu handeln, die Knechtschaft (δουλείαν) dagegen in der Entziehung dieser Möglichkeit. Es gebe auch noch eine andere Knechtschaft, die in der Unterordnung, und eine dritte, die in Besitz und Unterordnung bestehe und der als Gegenstück die Gewaltherrschaft gegenübersteht, die auch ihrerseits verwerflich ist. 200

Nicht nur der Entzug der Möglichkeit freien Handelns ist schlecht, sondern ebenso das Herrsein, der Besitz von Sklaven. Die Glückseligkeit des Weisen und das Zwangsverhältnis der Sklaverei schließen einander aus. Zenon verfügte folglich auch über keine Sklaven. 201 Die zitierte Textstelle ist ein eindeutiger Nachweis für eine generelle Kritik an der Institution der Sklaverei. 202 Die Behauptung, dass es in der griechisch-römischen Antike keine derartige Kritik gegeben habe 203, ist demnach falsch. Wesentlich ist, dass das gewaltsame Herrschaftsverhältnis abgelehnt wird und nicht nur festgestellt wird, dass es von Natur aus keine Sklaven gibt; denn damit wäre immer noch die Möglichkeit einer durch Konvention gerechtfertigten Sklaverei vereinbar. Auch wenn es kaum weitere vergleichbare Belege gibt, war die Kritik an der Gewaltherrschaft offenkundig verbreitet, denn Zenon hatte sie vermutlich nicht als Erster formuliert, sondern von den Kynikern übernommen, wie Diogenes Laertius angibt. 204 Laut Seneca Ebd., VII, 1, 121 f. Vgl. Sen. Helv. XII, 4. 202 Vgl. Cancik: »Gleichheit und Freiheit«, S. 197. 203 Vgl. Flashar: Aristoteles, S. 110 f.; Deininger: »Eine historische Vorstufe der Menschenrechte: Die Rechte des freien Bürgers in der Antike«, S. 61. Obwohl Tönnies den Kynikern eine bedeutende Rolle in der Geschichte der Menschenrechte einräumt – Diogenes wird als ein »Begründer der Menschenrechte« dargestellt – behauptet sie, dass eine Kritik der Sklaverei erst in der römischen Kaiserzeit erfolgt sei. Vgl. Tönnies: Die Menschenrechtsidee, S. 26 und 30. 204 Vgl. Diog. Laert. VII, 1, 121 und VI, 1, 15. 200 201

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erkannte Diogenes von Sinope, dass nicht nur der Sklave unfrei ist, sondern auch ein Herr, der vom Besitz der Sklaven abhängig ist: »[D]em Diogenes entfloh der einzige Sklave, und ihn zurückzuholen, als es ihm gemeldet wurde, hielt er nicht der Mühe wert: ›Schimpflich‹, sagte er, ›ist es, daß Manes ohne Diogenes leben kann, Diogenes ohne Manes es nicht kann.‹« 205 Würde Diogenes den Sklaven verfolgen, wäre er weniger frei als dieser. Möglicherweise kritisierte auch Antisthenes, der Begründer des Kynismus, die Sklaverei. Er hatte ein Buch mit dem Titel Von Freiheit und Sklaverei geschrieben. 206 Die Ablehnung der Sklaverei wird bei Zenon damit begründet, dass jeder Mensch potentiell dazu fähig ist, ein tugendhaftes Leben zu führen und alle gesellschaftlichen Institutionen, die den Einzelnen daran hindern, dieses Ziel zu erreichen, überwunden werden müssen. Bereits Antisthenes war nur dem universellen Gesetz verpflichtet. »Der Weise werde sich in Sachen der Staatsverwaltung nicht nach den bestehenden Gesetzen richten, sondern nach dem Gesetze der Tugend.« 207 Zenon geht noch einen Schritt weiter. Das Weltbürgertum ist nicht nur allen anderen Gemeinschaftsformen übergeordnet, es verlangt deren Abschaffung, wenn sie der Ausbildung der Tugend im Wege stehen. Die partikularen Rechtssysteme und politischen Gemeinschaften sollen zugunsten eines Weltstaates aufgehoben werden, damit sich alle Menschen als Gleiche begegnen können und zwischen ihnen Freundschaft und Freiheit Bestand haben. Die Geringschätzung der fremden Völker als Barbaren widerspricht diesem Anliegen. Zenon selbst war zugewandert und legte Wert auf die Betonung seiner Herkunft aus Kition. 208 Aus der Auflösung der Familie 209 folgt zum einen die Abschaffung der Sklaverei, zum anderen die Gleichstellung von Mann und Frau, denn Zenon hielt nicht nur die Gewaltherrschaft für verwerflich, sondern vermutlich ebenso familiäre Unterordnungsverhältnisse. Diese sind mit der oben genannten, zweiten Form der Knechtschaft gemeint. 210 Dafür, dass er den Gedanken der Gleichberechtigung teilSen. tranq. VIII, 7. Auf diesen Sachverhalt weist auch Epiktet hin: »[W]as fügt sich denn ein Herr für Schaden zu, wie du meinst, wenn er seinen Knecht bindet? Eben den, daß er seinen Knecht bindet.« Epikt. diatr. IV, 1, 120. 206 Vgl. Diog. Laert. VI, 1, 16. 207 Ebd., VI, 1, 11. 208 Vgl. ebd., VII, 1, 12. 209 Zenon übernahm die platonische Idee der Frauengemeinschaft. Vgl. ebd., VII, 1, 33. 210 Vgl. ebd., VII, 1, 121 f. 205

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te, spricht auch, dass Kleanthes, der als treuer Jünger Zenons beschrieben wird, ein Buch über die »Einerleiheit der männlichen und weiblichen Tugend« schrieb. 211 Antisthenes vertrat diese Idee ebenfalls 212, Platon hatte sie damit begründet, dass sie »im Einklang mit der Natur« steht. 213 Obwohl Zenon einige Ideen Platons für seine politische Lehre übernimmt, wird berichtet, dass er sich selbst als dessen Kritiker verstand. Ein Aspekt dieser Kritik war sicherlich, dass Platon die Möglichkeiten zur Erlangung der Tugend vom Leben in der Polis, das heißt, vom Status der Vollbürgerschaft, abhängig machte. Die Kyniker und Zenon entdeckten, dass eine vollgültige Verwirklichung universeller Normen in partikularen Rechtsverhältnissen nicht möglich ist. Die Begrenzung solcher Normen widerspricht diesen und ist somit Unrecht. Ein moralisches Ziel könne nicht auf die Ziele einer politischen Gemeinschaft beschränkt sein. 214 Diogenes von Sinope, der Sklave Monimos aus Syrakus, der Thebaner Krates, der Phönizier Menippos, ebenfalls ein Sklave, und schließlich die Stoiker Zenon, Kleanthes und Chrysipp waren als Fremde oder sogar Sklaven zwar von der athenischen Rechtsordnung ausgeschlossen, konnten sich aber dennoch durch ein tugendhaftes Leben auszeichnen. Antisthenes war Athener, aber nicht aus vollgültiger Ehe. Jenen Athenern, die ihn dafür verspotteten und sich viel auf ihre Abstammung einbildeten, soll er entgegnet haben, dass sie Schnecken und Heuschrecken diesbezüglich nichts voraus hätten. 215 Auch die institutionelle Ordnung, die Platon genauer in den Gesetzen dargestellt hatte, dürfte von Zenon kritisiert worden sein. Weder Tempel und Heiligtümer noch Gerichte sollen den Weltbürgern eine Gelegenheit bieten, vom jeweils eigenen Weg zur Glückseligkeit abgelenkt zu werden. Wozu bräuchte ein Stoiker, dem das Schicksal nichts nehmen kann, was er nicht freiwillig geben würde, auch ein Gericht? Weshalb sollte der Weise, der das Wesen der Gerechtigkeit kennt, das Urteil eines Richters nötig haben? Der gesellschaftskritische Impuls, der vom Kynismus und der frühen Stoa ausging, wurde von der mittleren und späten Stoa nur

211 212 213 214 215

Vgl. ebd., VII, 5, 175. Vgl. ebd., VI, 1, 12. Vgl. Plat. rep. V, 6, 456. Vgl. Nussbaum: »Kant und stoisches Weltbürgertum«, S. 53. Vgl. Diog. Laert. VI, 1, 1.

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zum Teil weitergegeben. 216 Es wird zwar erklärt, dass die Sklaverei naturwidrig ist, aber nicht die Abschaffung dieser Institution gefordert. 217 Ishay merkt dazu an: »What distinguished the earlier Greek Stoics from Cicero […] was their explicit assertion that reason and the capacity for good judgment were not limited to free citizens but were possessed by everyone, no matter their race, rank or wealth, including those living beyond the Greek city-states.« 218 Die Idee einer gleichen Befähigung von Mann und Frau zur Erlangung der Tugend gaben spätestens die römischen Stoiker auf, die zwischen spezifisch männlichen und weiblichen Tugenden unterscheiden 219. Der Grieche Plutarch zitiert in Über das Glück Alexanders nur Zenons Äußerungen über den Kosmopolitismus. Durch die Schrift sollten die Römer offenbar mit der Menschheitsidee und den Ideen eines Weltbürgerrechts sowie der Gleichberechtigung von Römern und Griechen vertraut gemacht werden 220 – einem Ideal, dem auch die Parallelbiographien dienten. Zenons Gesellschaftskritik konnte dem römischen Publikum offenbar nicht zugemutet werden. An der aristotelischen Auffassung, dass der Mensch ein von Natur aus politisches Wesen und dass der Zweck – die politische Gemeinschaft – die Natur ist, halten die Stoiker fest. 221 Diese Gemeinschaft kann sich aber nur vollenden, wenn die Menschheit in einem Staat geeint ist und einem Gesetz folgt. Im Widerspruch zur Menschheitsidee stehen solche Ansichten, nach denen zwischen den Völkern natürliche Unterschiede bestehen. Strabon berichtet von dem griechischen Gelehrten Eratosthenes, dessen Werke nicht überliefert sind: »Am Schluss seiner Geographie wendet sich Eratosthenes scharf gegen die Männer, die die ganze Menschheit in zwei Gruppen ein-

Vgl. Pohlenz: Die Stoa, S. 139. Ich komme darauf im folgenden Kapitel zurück. Long und Sedley nehmen an, dass bereits Chrysipp oder einer seiner Nachfolger sich wieder mit der Sklaverei im Sinne der Gewaltherrschaft abfand. Vgl. Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen, S. 521. 218 Ishay: The History of Human Rights, S. 25. 219 Vgl. bspw. Cic. off. I, 130. 220 Vgl. Cancik: Gleichheit und Freiheit, S. 196. 221 »Da nun der Mensch ein vernunftbegabtes, sterbliches und von Natur aus politisches Wesen ist, bestehen nach Meinung der Stoiker die gesamte menschliche Tugend und die Glückseligkeit in einem Leben, das der Natur folgt und mit ihr übereinstimmt.« SUS, Frg. 660. Siehe auch M. Aur. VI, 44. 216 217

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teilen, in Hellenen und Barbaren, und Alexander raten, die Hellenen als Freunde, die Barbaren aber als Feinde zu behandeln«. 222 Fremde Völker dürfen aufgrund des Naturrechts nicht zum Zwecke vermeintlicher Vorteile angegriffen werden. »Aber es ist nicht nur durch die Natur, das heißt durch das Menschenrecht, sondern auch durch die Gesetze der Völker (legibus populorum), aus denen in den einzelnen Staaten das Gemeinwesen besteht, auf dieselbe Weise bestimmt, dass es nicht erlaubt ist, um des eigenen Vorteils willen einem anderen zu schaden.« 223 Als Natur- bzw. Menschenrecht definiert Cicero (106–43) ein Recht, das in den Verfassungen aller Völker enthalten ist und die Nicht-Schädigung gebietet. Die Übersetzung von iure gentium mit »Menschenrecht« kann dadurch gerechtfertigt werden, dass dieses laut Gaius auch als »gemeinsames Recht aller Menschen« verstanden wurde. 224 Außerdem wird es ausdrücklich von den Gesetzen der Völker unterschieden. Nicht jede Regelung der einzelstaatlichen Verfassungen muss Ausdruck des ius gentium sein, aber das Naturrecht muss in allen Verfassungen als Bürgerrecht beachtet werden. »[D]as Recht eines einzelnen Gemeinwesens muss aber nicht ohne weiteres identisch sein mit dem für alle Völker geltenden Recht, während das für alle Völker geltende Recht mit dem Recht eines einzelnen Gemeinwesens identisch sein muss.« 225 Cicero trennt zwischen dem universellen, unveränderlichen, vorpositiven Recht und dem positiven und fordert, dass jede Verfassung dem Naturrecht entsprechen muss. 226 Eine Konkretisierung des Naturrechts wird dadurch erschwert, dass sich die Ideale des »wahren Rechts« und der »wirklichen Gerechtigkeit« nur als Abbilder zeigen. 227 Deshalb sei es Aufgabe der Philosophie, einen Beitrag zur Erkenntnis des Naturrechts zu leisten. Im Zusammenhang mit dieser Forderung spricht Cicero wortwörtlich vom ius hominum. [Die Philosophie] hat uns zuerst zur Verehrung der Götter, dann zum Recht der Menschen, das in der Gemeinschaft des Menschengeschlechts begrünSUS, Frg. 676. Cic. off. III, 23. 224 Vgl. Kap. V.3.2. 225 Cic. off. III, 69. 226 Vgl. Horn, Christoph: »Gerechtigkeit bei Cicero: kontextualistisch oder naturrechtlich?«, in: Richter, Emanuel/Voigt, Rüdiger/König, Helmut (Hg.): Res publica und Demokratie. Die Bedeutung von Cicero für das heutige Staatsverständnis, Baden-Baden 2007, S. 116–118. 227 Vgl. Cic. off. III, 69. 222 223

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det ist, erzogen, dann zur Zucht und Größe des Geistes und sie hat vor dem Geiste wie vor Augen die Dunkelheit verscheucht, damit wir alles Obere und Untere, allen Anfang, Ende und Mitte zu erblicken vermöchten. 228

Wie begründen die Stoiker die Geltungsweite des νόμος? Über die Frage nach dem Ursprung des Rechts gelangt Cicero zu der Erkenntnis, dass die Richtschnur für die Gesetzgebung nur in der allen Menschen gemeinsamen Natur gefunden werden kann. Das Wesen des Rechts lässt sich nicht anhand positiver Satzungen erfassen, sondern nur ausgehend vom Wesen des Menschen, das in Abgrenzung zum Tier folgendermaßen definiert wird: [E]s geht darum, daß dieses vorausschauende, verständige, vielseitige, scharfsinnige, erinnerungsfähige, von planender Vernunft erfüllte Lebewesen, das wir »Mensch« nennen, mit vorzüglichen Eigenschaften vom höchsten Gott geschaffen wurde. Denn als einziges Wesen unter so vielen Arten und Geschöpfen der belebten Natur hat er teil an der Vernunft und dem Denken, während alle übrigen Wesen davon ausgeschlossen sind. 229

Die Gesetze der einzelnen Völker beruhen auf Volksbeschlüssen, Verordnungen der Herrschenden und richterlichen Urteilen und können durch erneute Beschlüsse verändert werden, wodurch die Idee der Gerechtigkeit aber nicht tangiert wird. Ein Gesetz kann das, was zuvor als Unrecht galt, nicht plötzlich als Recht erscheinen lassen. 230 Tugenden, wie bspw. die Freigebigkeit, Vaterlandsliebe, Frömmigkeit oder die Bereitschaft, sich anderen gegenüber wohltätig und dankbar zu erweisen, sind für sich genommen gut und nicht von der Befolgung der Gesetze aus zu bewerten. »Was ein lobenswertes Gut ist, muß etwas in sich haben, weshalb es gelobt wird. Das Gute (bonum) selbst beruht nämlich nicht auf bloßen Meinungen, sondern auf der Natur. Denn wenn es nicht so wäre, gäbe es auch glückliche Menschen aufgrund bloßer Meinung: Was kann man Törichteres sagen als dies?« 231 In Abgrenzung zu allen anderen Lebewesen zeichnet sich das Wesen des Menschen durch die Anteilnahme an Vernunft (ratio) und Denkvermögen aus, woraus sich den Menschen erschließt, was die rechte Vernunft gebietet und was sie verbietet. Insofern muss die Vernunft laut Cicero auch Bestandteil des Göttlichen sein, »[d]enn 228 229 230 231

Cic. Tusc. I, 64. Cic. leg. I, 7, 22. Vgl. ebd., I, 15, 42 f. Ebd., I, 16, 46.

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der göttliche Geist kann nicht ohne Vernunft sein«. 232 Zwischen den Menschen und Gott besteht »eine erste Gemeinschaft« auf der Grundlage der Vernunft. 233 Die Vernunft ist dem menschlichen Geist durch die Götter zugeteilt worden, weshalb allein die Menschen Kenntnis von Gott haben und es unter ihnen »kein noch so gesittetes und noch so wildes Volk [gibt], das auch dann, wenn es keine Ahnung davon hätte, welchen Gott man haben sollte, nicht trotzdem wüßte, daß man einen Gott haben muß«. 234 Die Menschen sind, so Cicero, qua Vernunft dazu in der Lage, das ewige göttliche Gesetz, das mit der Natur übereinstimmt, einzusehen. Dieses Gesetz wird folgendermaßen bestimmt: Es ist aber das wahre Gesetz (vera lex) die richtige Vernunft (recta ratio) , die mit der Natur in Einklang steht, sich in alle ergießt, in sich konsequent, ewig ist, die durch Befehle zur Pflicht ruft, durch Verbieten von Täuschung abschreckt […]. Diesem Gesetz etwas von seiner Gültigkeit zu nehmen, ist Frevel, ihm irgend etwas abzudingen, unmöglich […]. [A]lle Völker und zu aller Zeit wird ein einziges, ewiges und unveränderliches Gesetz beherrschen, und einer wird der gemeinsame Meister gleichsam und Herrscher aller sein: Gott! 235

Mit demselben Gedanken der Identifikation von Gesetz und menschlicher Vernunft wird Montesquieu sein Hauptwerk einleiten: »Das Gesetz, ganz allgemein, ist die menschliche Vernunft, sofern sie alle Völker der Erde beherrscht; und die Staats- und Zivilgesetze jedes Volkes sollen nur die einzelnen Anwendungsfälle dieser menschlichen Vernunft sein.« 236 Aus der Begabung zur Vernunft und der möglichen Erkenntnis höchster Gesetze ergibt sich für Cicero, dass die Menschen »zur Gerechtigkeit geboren« sind. 237 Selbst wenn moralisches Handeln keinerlei Anerkennung findet, bleibt es »von Natur aus lobenswert«. Nun kann der einzelne Mensch aber nicht von Geburt an im Besitz der voll ausgebildeten Vernunft sein, so dass sich die Frage aufdrängt, Ebd., II, 4, 10. Vgl. ebd., I, 7, 23. 234 Ebd., I, 8, 24. 235 Cic. rep. III, 22 (33). 236 Montesquieu, Charles de: Vom Geist der Gesetze. Forsthoff, Ernst (Übers./Hg.), München 1967, I, 3, S. 62. Auch Montesquieus Lehre von der Gewaltenteilung hat laut Hofmann eine stoische Wurzel. Vgl. Hofmann, Hasso: Einführung in die Rechtsund Staatsphilosophie, 4. Aufl., Darmstadt 2008, S. 89, 170 ff. 237 Vgl. Cic. leg. I, 10, 28. 232 233

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wie die Natur die Vernunftanlage zur Entfaltung bringt. Epikurs Antwort lautete, dass Lust und Schmerzvermeidung den Menschen zum von Natur aus Richtigen führen. Die Stoiker behaupten dagegen, dass der erste Trieb in jedem Lebewesen in der »Hinwendung zu sich selbst«, der Oikeiosis, besteht. Gemeint ist damit laut Forschner ein »Prozeß, durch den ein Lebewesen schrittweise seiner selbst inne und dadurch mit sich selbst vertraut und einig wird«. 238 Gelegentlich wird οἰκείωσις auch mit »Selbsterhaltungstrieb« übersetzt. Der Urtrieb zielt darauf ab, das eigene Wesen zu erhalten und das individuelle τέλος zu realisieren. 239 Z. B. versucht ein Kind aufgrund dieses Triebes das aufrechte Gehen und das Sprechen zu erlernen. Das vernünftige Denken schließt nach stoischer Auffassung ab dem vierzehnten Lebensjahr an die οἰκείωσις an. Gegen Epikur wendet Cicero ein, dass Schmerz oder Freude nur Begleitphänomene sind, die sich einstellen, wenn die natürliche Entwicklung scheitert oder gelingt. 240 Die Affekte sind daher sekundär und können nicht mit dem ersten Trieb bzw. der Natur identisch sein. Anhand der οἰκείωσις-Lehre wollen die Stoiker jedoch nicht nur beweisen, dass es vor der Lust einen zeitlich früheren, natürlichen Trieb in den Lebewesen gibt. Erklärt werden soll auch, weshalb jene eine Beziehung zu sich selbst und ihrem Körper herstellen und dabei Selbstliebe entwickeln. Denn es war doch nicht zu erwarten, daß die Natur das lebende Wesen sich selbst entfremde, oder auch, daß sie, nachdem sie das Geschöpf einmal hervorgebracht, sich weder die Selbstentfremdung noch die Selbstbefreundung habe angelegen sein lassen. Es bleibt also nur übrig zu sagen, daß sie nach vollzogener Schöpfung es mit sich selbst befreundet habe. 241

Damit das Geschöpf sich selbst erhalten kann, muss es zu sich selbst in Beziehung treten können, ein Wissen von sich selbst (συνείδησις) haben. 242 Forschner: Über das Handeln im Einklang mit der Natur, S. 51. Vgl. Cic. fin. III, 16. 240 Vgl. ebd. 241 Diog. Laert. VII, 1, 85. 242 Vgl. Cancik, Hubert: »Persona and Self in Stoic Philosophy«, in: ders.: Europa – Antike – Humanismus. Cancik-Lindemaier (Hg.), S. 317 f. Brandt grenzt die συνείδησις von der »in Urteilen formulierbare[n] Selbsterkenntnis« ab, stellt darüber hinaus aber die bemerkenswerte These auf: »Das Selbstbewusstsein des Ich im 17. und 18. Jahrhundert hat hier seinen Ursprung. Das Bewusstsein ist das epistemische Selbstverhältnis, das selbst keine Erkenntnis ist, aber jede Erkenntnis begleitend ermöglicht; daher seine fundierende Rolle, die nun ihrerseits zum Untersuchungsobjekt 238 239

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Durch die Selbstliebe führt die Natur den Menschen zu den »ersten naturgemäßen Dingen« (τὰ πρῶτα κατὰ φύσιν), zu denen Gesundheit, Stärke, die richtige Funktion der Sinnesorgane, das Gedächtnis usw. zählen. 243 Die ersten Entwicklungsstadien geschehen in Übereinstimmung mit der Natur, sofern die Entwicklung nicht durch Krankheiten oder Behinderungen unterbrochen wird. Mit der Vernunftaneignung wandelt sich die Form der Selbstliebe. Der Mensch erkennt, dass ihm tatsächlich nur die Vernunft zu eigen ist und er sich von der Orientierung an den »anfänglichen Gaben der Natur« lösen muss, die nicht um ihrer selbst willen erstrebenswert sind. 244 Die »rechte Vernunft« (ὀρθὸς λόγος) ist das Urteilsvermögen, das jedem Menschen erlaubt, Recht und Unrecht voneinander zu unterscheiden. 245 Seneca beschreibt es als Gewissen (conscientia) , einem inneren Zeugen und Beobachter, dem man nicht entkommen kann. Die Urteile dieser Instanz, das »gute« oder »schlechte« Gewissen, haben gegenüber allen äußeren Urteilen Vorrang. »Nichts werde ich um des guten Rufes willen, alles um des guten Gewissens willen tun.« 246 Von schlechten Verhaltensweisen wird nicht nur deshalb abgeraten, weil den Täter die Furcht plagen werde, von anderen entdeckt zu werden, wie Epikur annimmt 247; vielmehr ist der Verbrecher durch sein Gewissen stets schon entlarvt: »[W]as nützt es dir, keinen Mitwisser (conscium) zu haben, wo du doch ein Gewissen (conscientiam) hast?« 248 Das Gewissen ist reflexiv, es vermittelt ein Wissen über sich selbst (se habere, suum fieri, suum esse). Die Schuldigen können sich philosophischer (und nur philosophischer) Erkenntnis wird. Ohne einen schon vorbereiteten Bewusstseinsbegriff hätte Kant den kategorischen Imperativ als ein jeder Kritik entzogenes, jenseits aller falliblen Erkenntnis stehendes Machtwort nicht konzipieren können.« Brandt: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, S. 151 f. Kammasch und Schwarz verweisen auf die Bedeutung der οἰκείωσις-Lehre für den grotianischen Gedanken der Selbsterhaltung (appetitus societatis) und Pufendorfs socialitas-Lehre. Vgl. Kammasch/Schwarz: »Menschenrechte«, S. 386. 243 Vgl. SUS, Frg. 527. Bees hat dargelegt, dass die mit der Oikeiosis gemeinte »Hinwendung« oder »Zueignung« nicht vom Menschen als erkennendes Subjekt aktiv ausgeübt wird, sondern von der Natur. Die Natur bewirkt somit, dass der Mensch sich selbst zugeeignet wird. Vgl. Bees, Robert: Die Oikeiosislehre der Stoa. I Rekonstruktion ihres Inhalts, Würzburg 2004. 244 Vgl. Cic. fin. III, 21; Forschner: Über das Handeln im Einklang mit der Natur, S. 54. 245 Vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 45 f. 246 Sen. vit. beat. XX, 4. 247 Vgl. Diog. Laert. X, 1, 151. 248 Lact. inst. VI, 24, 17.

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von Furcht nicht befreien, weil »das Gewissen sie überführt und sie vor sich selbst enthüllt«. 249 Seneca verwendet eine ganze Reihe von Formulierungen, die die moralische Eigenverantwortung artikulieren. 250 Die Selbstreflexion wird in weniger abstrakten, generalisierenden oder metaphorischen Begriffen umschrieben. Welzel stellt daher zu Recht fest, dass in Senecas Schriften »die Selbständigkeit der subjektiven Moralität in einem der Antike sonst unbekannten Grade bis nahe an den Gedanken der moralischen Autonomie, der freien Selbstbindung an den selbsterkannten sittlichen Wert, herangeführt [ist]«. 251 Das Ziel eines Lebens in Übereinstimmung mit der Natur (ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν) wird erreicht, wenn die individuelle Vernunft mit der göttlichen Allvernunft übereinstimmt. Laut Forschner verbinden die Stoiker mit der οἰκείωσις in Anlehnung an die ältere Sophistik auch die Vorstellung einer intakten, unpervertierten Natur, die sie von diskreditierten politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen abgrenzen. 252 Da die Stoiker jedoch zugleich davon ausgehen, dass alles, was geschieht, dem Willen Gottes entspricht und der jeweils aktuelle Weltzustand der bestmögliche ist, kann die Kritik sich vermutlich nur gegen kurzweilige Missstände gerichtet haben. Ein weiterer wesentlicher Aspekt der οἰκείωσις-Lehre ist, dass mit dem Selbsterhaltungstrieb zugleich die Liebe zu den Kindern, der Familie und Bekannten entsteht. Chrysipp schreibt, dass »wir gleich bei der Geburt uns selbst, unsere Körperteile und unsere eigenen Nachkommen in Besitz nehmen«. 253 Schon bei Tieren kann die Liebe zu den Jungtieren beobachtet werden. Als Vernunftwesen ist es dem Menschen möglich, über den Kreis der Angehörigen hinaus jeden Menschen in die natürliche Sympathie einzubeziehen. »Daraus geht hervor, daß es auf Natur beruht, wenn die Menschen sich zu einer Gemeinschaft hingezogen fühlen mit einer Kraft, die zwangsläufig dazu führt, daß der Mensch, eben weil er Mensch ist, sich dem Mitmenschen gegenüber nicht fremd vorkommt.« 254 Cicero paraphrasiert an dieser Stelle 255 das geflügelte Wort des Komödiendichters Terenz (um 190–159/158) aus dem Theaterstück Heautonti249 250 251 252 253 254 255

Sen. epist. XVI, 97, 16. Eine Auflistung bietet Cancik: »Persona and Self in Stoic Philosophy«, S. 318–322. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 46. Vgl. Forschner: Über das Handeln im Einklang mit der Natur, S. 52. SUS, Frg. 530. Cic. fin. III, 63. Siehe auch Cic. leg. I, 12, 33.

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moroumenos: »Mensch bin ich; nichts, was menschlich, acht ich mir als fremd.« 256 Der Satz ist wie kaum ein anderer Ausdruck römischer humanitas. 257 Für alle Menschen gilt ein νόμος, weil jeder einzelne Mensch qua Geburt Anteil an der Vernunft der Allnatur hat. In Vernunft und Rede erkennt Cicero die eigentlichen Qualitäten der menschlichen Natur, die die Menschen miteinander verbinden. »Doch diese (auf Vernunft und Rede beruhende) Gemeinschaft der Menschen untereinander dehnt sich sehr weit aus und bedeutet eine Gemeinschaft aller mit allen.« 258 Daher ist es prinzipiell jedem Menschen möglich, ein tugendhaftes Leben zu führen. »Denn alle Menschen haben von Natur aus die Anlagen zur Areté«. 259 Das Hauptanliegen der Stoa besteht darin, aus dieser Einsicht eine Ethik zu entwickeln, die eine Verbindung zwischen der metaphysischen Lehre und den individuellen Handlungsweisen herstellt. Insbesondere anhand der ciceronischen Vorstellungen vom Naturrecht wird ersichtlich, dass das Problem des Verhältnisses von positivem und vorpositivem Recht im Vergleich zur griechischen Philosophie tiefer behandelt wird. Die unscharfe, begriffliche Trennung von ius humanum und lex natura, ius gentium, göttlichem Recht oder Naturrecht sollte nicht irritieren, denn genaue Definitionen setzten sich auch in der neuzeitlichen Naturrechtstheorie noch nicht durch. Bedeutsam ist, dass das Menschenrecht nicht allein als das von Menschen gesetzte Recht, sondern als unwandelbares, göttliches Recht aufgefasst wird, das dem Zugriff des Menschen entzogen ist. Ihm wird eine Kontrollfunktion gegenüber dem ius civile eingeräumt. Legitim sind ausschließlich Verfassungen, die die Gleichheit vor dem Gesetz gewährleisten. 260 Marc Aurel erklärt später, dass er durch die Schriften der Republikaner »eine Vorstellung von einem Staat [gewann], in dem alle die gleichen Rechte und Pflichten haben und der im Sinne der Gleichheit und allgemeinen Redefreiheit verwaltet wird«. 261 Für die Monarchie bedeute dies, dass ihr die Aufgabe zukomme, die Freiheit der Bürger zu achten. Cicero entwickelte aus der Idee einer Kontrollfunktion des Naturrechts gegenüber dem ius 256 257 258 259 260 261

Ter. Heaut. I, 1 (Ludwig/Donner): Homo sum, humani nihil a me alienum puto. Vgl. Bauman: Human Rights in ancient Rome, S. 1 f. und 26 f. Cic. off. I, 51. SUS, Frg. 582. Vgl. Cic. off. II, 42. M. Aur. I, 14.

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civile kein individuelles Anspruchsrecht, aber er formuliert universelle, moralische Normen, die auch dann nicht verletzt werden dürfen, wenn dies der politischen Gemeinschaft scheinbar von Nutzen ist. Die Normen begrenzen den Handlungsspielraum der Regierenden und haben Vorrang, wenn das Handeln nicht mit ihnen übereinstimmt. Cicero verdeutlicht dies am Beispiel eines Extremfalls: Wenn zwischen einer moralisch besonders schändlichen Tat und der Rettung des Staates entschieden werden müsse, rechtfertige selbst die Staatsrettung nicht jede Handlungsweise. 262 Deutlicher lässt sich der Vorrang der Moral vor anderen Zwecken nicht veranschaulichen.

2.4. humanitas als Maßstab ethischen Handelns Welche moralischen Richtlinien ergeben sich nun aus der Vernunftnatur des Menschen? Wird zwischen einzelnen naturrechtlichen Bestimmungen differenziert? Moralität beruht laut Cicero auf vier Voraussetzungen. Entweder hat es [alles, was moralisch ist] zu tun (a) mit der Erkenntnis der Wahrheit und mit der Geschicklichkeit im täglichen Leben oder (b) mit dem Einsatz für die menschliche Gemeinschaft, der Bereitschaft, jedem Einzelnen das zuzuteilen, was ihm zukommt, und der zuverlässigen Erfüllung von Vereinbarungen oder (c) mit der Größe und der Stärke einer innerlich unabhängigen und unbesiegbaren Seele oder (d) mit der Ordnung und dem Maß bei allem, was geschieht und was man tut, womit Zurückhaltung und Selbstbeherrschung (temperantia) verbunden sind. 263

Den Pflichten entsprechen die platonischen Tugenden Wissen (φρόνησις), Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) , Tapferkeit (ἀνδρεία) und Mäßigung (σωφροσύνη). Die »erste Quelle der Pflicht« ist die Erkenntnis des Wahren, durch die ein Maßstab bezüglich der praktischen Pflichten (c-d) gewonnen werden kann. Diese Pflicht erfordert, dass »wir nichts Unverstandenes als verstanden hinnehmen und ihm nicht bedenkenlos zustimmen [dürfen]«. 264 Cicero integriert an dieser Stelle das Vermögen der συγκατάθεσις in seine Morallehre und er folgt Platon bezüglich des Primats der Erkenntnis. Da ein tugendhaftes Leben aber nur im Tätigsein verwirklicht werden kann, steht ein aus262 263 264

Vgl. Cic. off. I, 159. Ebd., I, 15. Ebd., I, 18.

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schließlich kontemplatives Leben im Widerspruch zur umfassenden Pflichterfüllung. Die drei praktischen Pflichten beruhen auf Gerechtigkeit (iustitia) und Hilfsbereitschaft (beneficentia). Erstere setzt die Zuverlässigkeit (fides) voraus, die sich aus Verlässlichkeit (constantia) und Wahrhaftigkeit (veritas) ergibt. 265 Vorbildlich und anständig ist es, gerecht, gütig und hilfsbereit zu sein. Der Tugendhafte vermeidet alle Handlungen, die einem anderen oder gar der Gemeinschaft schaden könnten. In Übereinstimmung mit der älteren Stoa behauptet Cicero, dass das Nützliche und das moralisch Richtige eins sind. Nichts kann nützlich sein, das nicht zugleich gut ist. Selbstsüchtige Absichten werden seiner Ansicht nach zumeist durch Lust, Gier oder Bequemlichkeit hervorgerufen, weshalb sich der Pflichtbewusste in Bescheidenheit, Zurückhaltung und Mäßigung übt. Gelingt es, »die Leidenschaften der Seele zu überwinden«, erreicht der Einzelne Seelenruhe (tranquillitas), Selbstsicherheit (securitas), innere Festigkeit (constantia) und Würde (dignitas). 266 Bei der Anordnung der Pflichten fällt unter anderem auf, dass der Kardinaltugend der Gerechtigkeit die Hilfsbereitschaft zur Seite gestellt wird. Durch den hohen Rang dieser und der aus ihr resultierenden Wohltaten (beneficiis) wird der stoische Grundgedanke einer natürlichen Sympathie bestätigt. Cicero versteht die Neubewertung der Hilfsbereitschaft aber auch als Kritik an Platon. 267 Seiner Ansicht nach dürfen sich die Weisen nicht nur mit philosophischen Fragen und der Zügelung der Begierden beschäftigen. Die Maxime, dass es besser ist, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun, verleite zur Passivität gegenüber politischen Angelegenheiten. Platon sei der Auffassung gewesen, dass ein Philosoph nur gezwungenermaßen politisch tätig werde. Für Cicero ist die gewollte Abkehr von der Politik dagegen generell ein Unrecht, weil so die Sorge um das Wohl der politischen Gemeinschaft vernachlässigt werde. Ein Philosoph, der sich nicht um den bestmöglichen Zustand des Staates bemüht, versäumt es, den Mitmenschen sein möglicherweise ausgewogeneres Urteil zu politischen Streitfragen mitzuteilen. Die Hilfsbereitschaft verlangt aber die politische Betätigung, die nur dann moralisch legitim ist, wenn sie

Vgl. ebd., I, 23. Vgl. ebd., I, 69. 267 Vgl. ebd., I, 28 f. Zu weiteren grundsätzlichen Unterschieden zwischen den politischen Vorstellungen Platons und Ciceros vgl. Horn: »Gerechtigkeit bei Cicero: kontextualistisch oder naturrechtlich?«, S. 112 f. 265 266

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freiwillig erfolgt. 268 Die politische Relevanz der beneficentia wird mit Übersetzungen wie »Hilfsbereitschaft«, »Güte« oder »Großzügigkeit« leicht übersehen. Es geht nicht nur um milde Wohltätigkeit, sondern um das aktive Engagement für das Gemeinwohl. Der Preis des Lebens ist, wie Cicero immer wieder betont, gering, wenn damit der Fortbestand der Republik gesichert werden kann. Auch die oben genannten Tugenden – die Seelenruhe, Bescheidenheit, Selbstsicherheit usw. – können ebenso wie Tapferkeit und Mut nur durch ein politisches Leben erlangt, nur dort wirklich auf die Probe gestellt werden. 269 Als bescheiden kann sich bspw. nur derjenige erweisen, der auf die Möglichkeiten zur persönlichen Bereicherung verzichtet, die sich durch politische Ämter bieten. Die ciceronische Begründung der Pflicht zum politischen Handeln belegt, dass die landläufige Behauptung von der Weltabgewandtheit der Stoiker falsch ist. 270 Schon Zenon erklärte: »Der Weise wird in die Politik gehen, wenn ihn nichts daran hindert.« 271 Ähnlich wie Cicero bemüht sich auch Seneca (ca. 1–65) um eine ethische Praxis in Übereinstimmung mit der Natur. In der an Kaiser Nero adressierten Schrift De clementia, führt er die Milde (clementia) auf das Ideal der sittlichen Vollkommenheit zurück. 272 Die Milde darf nicht mit dem Mitleid (misericordia) verwechselt werden, das jemand einem anderen nur aus Schwäche und ohne Kenntnis der Ursachen für die Mitleid erregende Situation entgegen bringt. Milde äußert sich stattdessen im freien Urteil, das – »auf Grund des Billigen und Guten« an keine Rechtsnorm gebunden – allein aus Sorge um das

Vgl. Cic. off. I, 28. Vgl. ebd., I, 270 Ritter behauptet bspw., dass die Stoa »eine unpolitische, unsichtbare Geistesgemeinschaft« gewesen sei, vgl. Ritter: »Ursprung und Wesen der Menschenrechte«, S. 205. Forschner erklärt dagegen: »Die Stoa hat niemals einer Haltung quietistischer Fügsamkeit in Veränderbares noch einem Rückzug aus der Sphäre gesellschaftlichpolitisch tätigen Lebens das Wort geredet. Auch die noch von Aristoteles bevorzugte und im Peripatos gepflegte Lebensform der reinen Theoria wird ausdrücklich abgelehnt. Der stoische Weise ist in der Welt tätig – die Tugend äußert sich, wo immer dies möglich ist –, er verselbständigt nur die Tugend als inneren Habitus und macht sich so unabhängig von allen unverfügbaren Momenten des Lebens.« Forschner: Die stoische Ethik, S. 24. Vgl. Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen, S. 519 ff.; Nussbaum: »Kant und stoisches Weltbürgertum«, S. 52. 271 SUS, Frg. 708. 272 Vgl. Sen. clem. Prooemium, I, 3. 268 269

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Gemeinwohl und der Besserung der Menschen gefällt wird. 273 Die Frage, unter welchen Umständen eine Handlung als vernünftig gelten kann, ist deshalb schwer zu beantworten, weil die Stoiker nicht einfach von einem Tugendideal ausgehen, sondern in die Beurteilung das Wer, Wem, Was, Wann, die Gründe und die Gelegenheit miteinbeziehen. 274 Es ist bspw. richtig, einem Armen Geld zu schenken, aber gilt dies auch bezüglich eines Kynikers, der vorgibt, Geld und Besitz zu verachten? Seneca zeigt, dass der Pflicht zur Milde eine auf Gewalt gegründete Herrschaft niemals gerecht werden kann. Die ethischen Verpflichtungen sollen aber nicht nur dem Kaiser erklären, was erlaubt ist und was nicht, sie richten sich an alle Menschen. Dies wird bspw. anhand der Äußerungen über die Behandlung der Sklaven ersichtlich. Hier ist sogar ausdrücklich von einem ius humanum die Rede. Wer bestreitet, ein Sklave erweise gelegentlich seinem Herrn eine Wohltat, ist ohne Kenntnis des Menschenrechts; es kommt nämlich darauf an, welcher Gesinnung ein Mensch ist, der eine Wohltat erweist, nicht welchen Standes. Niemandem ist die sittliche Vollkommenheit verschlossen; allen ist sie zugänglich, alle läßt sie zu, alle lädt sie ein, frei Geborene, Freigelassene, Sklaven, Könige und Verbannte; nicht sucht sie aus Familie noch Vermögen, mit dem nackten Menschen ist sie zufrieden. 275

Das Menschenrecht ist auch bei Seneca kein positives Recht, das individuelle Rechtsansprüche statuiert; es bezieht sich auf die bei allen gleichermaßen vorhandene Fähigkeit zu einem tugendhaften Leben. Relevant ist aber, dass der Menschenrechtsbegriff im Kontext der Gleichheitsidee gebraucht und dieses Recht jenseits aller Rechtsstellungen (status) verortet wird. Moralisch gesehen kann sich ein Mensch bessern, und die Vernunft gebietet, einem jeden dazu zu verhelfen. Als Kern seiner Lehre fasst Seneca Folgendes auf: »[S]o lebe mit einem Menschen von niedrigerem Range, wie mit dir einer von

Vgl. ebd., II, 5, 3. Vgl. Sen. benef. II, 16, 1. 275 Ebd., III, 18, 2. An anderer Stelle, ebenfalls mit Verweis auf das Menschenrecht, begründet Seneca die Gleichheit aller Menschen aus der Mortalität. »Ungleich werden wir geboren, gleich sterben wir. […] Der Schöpfer des Menschenrechts (iuris humani) hat uns nicht nach Geburt und Berühmtheit der Namen unterschieden, außer solange wir leben. Sobald man aber an das Ziel menschlicher Existenz gekommen ist, heißt es: ›Hinweg, Ehrgeiz! Für alles, was auf Erden lebt, soll das gleiche Gesetz gelten.‹« Sen. epist. XIV, 91, 16. 273 274

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höherem Rang, nach deinem Wunsche, leben soll.« 276 Dem ging das Argument voraus, dass das Schicksal (fortuna) denjenigen stürzen und zum Sklaven machen kann, der sich von anderen durch Geburt und Rang eben noch absetzte. Es lohnt sich folglich nicht, jemanden für ein Schicksal zu verachten, das einem selbst ebenso zustoßen könnte. Seneca scheint die Sklaverei zwar nicht grundsätzlich abzulehnen, aber er bezweifelt, dass sie in der Natur des Menschen begründet ist. »›Sklaven sind sie‹ – Nein, Menschen. ›Sklaven sind sie‹ – Nein, Hausgenossen. ›Sklaven sind sie.‹ – Nein, Freunde von geringem Rang. ›Sklaven sind sie‹ – Nein, Mitsklaven, wenn du bedenkst, ebensoviel steht gegenüber dem einen wie dem anderen frei dem Schicksal.« 277 Die Aufzählung liest sich wie eine Erwiderung auf Aristoteles’ Theorie des »Sklaven von Natur«. Dass der Sklave einerseits dem Tier ähnlich, andererseits aber eine Freundschaft mit ihm möglich sei, sofern er Mensch ist, muss Seneca paradox erschienen sein. »Die« Sklaven als eine von den Menschen abgesonderte Gruppe gibt es nicht. Wenn es überhaupt Sklaven gibt, dann nur insofern der Mensch als solcher dem Schicksal unterworfen ist. Der universale, auf die gesamte Menschheit gerichtete Bezug des ethischen Handelns wird noch deutlicher in der Metaphorik vom »großen Körper«, als den Seneca sich die menschliche Gemeinschaft vorstellt. Während Platon mit der Metapher gerade den unterschiedlichen Rang der gesellschaftlichen Klassen zu unterstreichen versuchte, hebt Seneca die gattungsmäßige Verwandtschaft aller Menschen hervor. Aus der Einheit des Menschengeschlechts folgt, dass der Mensch von Natur aus dazu bestimmt ist, sich jedem anderen gegenüber solidarisch zu verhalten. Glieder eines großen Körpers sind wir. Die Natur hat uns als Blutsverwandte geschaffen, als sie uns aus demselben Stoff zu derselben Bestimmung zeugte. […] Sie hat Billigkeit und Recht geschaffen, nach ihrer Verfügung ist es erbärmlicher, zu schaden, als Schaden zu erleiden: nach ihrem Befehl sind zum Helfen bereit die Hände. Folgender Vers wohne in der Brust und sei auf den Lippen: Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir, meine ich, fremd. 278

Auch Seneca beruft sich auf Terenz’ berühmten Vers. In Über die Milde verbindet er den Appell für Menschlichkeit gegenüber den Sklaven sogar mit einem Rechtsanspruch. Der Ausruf »Sklaven dür276 277 278

Ebd., V, 47, 11. Ebd., V, 47, 1. Ebd., XV, 95, 52–53.

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fen sich zur Statue flüchten!« 279 – die Kaiserstatuen boten ebenso wie Heiligtümer Asyl – soll den Leser offenbar dazu ermahnen, dem gesetzlich geforderten Schutz der Sklaven nachzukommen. Da die Gesetze für grausame Herren keine besonderen Strafen vorsehen, betont Seneca am Beispiel des Vedius Pollio, dass die Grausamkeit durch die moralische Empörung der Mitbürger sanktioniert wird und es für einen solchen Menschen besser sei, nicht geboren zu sein. Pollio, der Sohn eines Freigelassenen, war dafür bekannt, seine Fische mit Menschenfleisch zu füttern. 280 Obwohl gegenüber einem Sklaven alles erlaubt ist, gibt es auch Dinge, die bei einem Menschen erlaubt sein zu lassen das gemeinsame Recht der Lebewesen verbietet. Wer hat nicht Vedius Pollio heftiger gehaßt als seine Sklaven, weil er seine Muränen mit Menschenblut zu mästen und die, die ihn etwas beleidigt hatten, in den Fischteich […] werfen zu lassen pflegte? O Mensch, tausend Tode wert, sei es, daß er Sklaven den Muränen zum Fraße vorwarf, die er selbst essen wollte, sei es, daß er sie allein dazu fütterte, um sie so zu füttern. 281

Das commune ius animantium bezieht sich wohl nicht auf alle Lebewesen schlechthin, sondern auf die beseelten. Schon Aristoteles hat im 7. Buch der Politik den Kannibalismus und die Sakralopferung von Menschen verboten und sich damit ausnahmsweise zu einem vorpolitischen Gerechtigkeitsproblem geäußert. Es wäre aber (auch) ungereimt, daß unter den Menschen nicht ein Teil von Natur Herren und ein anderer Teil Sklaven sein sollten, und wenn dem also ist, so darf man nicht über alle wie über Sklaven herrschen wollen, sondern nur über solche, die von Natur zum sklavischen Stande bestimmt sind, wie man auch zum Behuf eines Schmauses oder Opfers nicht auf Menschen Jagd machen darf, sondern nur auf jagdbare, zu Opfer und Mahl verwendbare Geschöpfe, also auf wilde, eßbare Tiere. 282

Die Analogie des Verhältnisses von Bürger und Sklave sowie Mensch und Tier unterstreicht, dass es um Pflichten geht, die gegenüber jedem Menschen einzuhalten sind. Die Theorie vom »Sklaven von Natur« wurde in Kapitel IV.2.4. bereits besprochen. Im Gegensatz zu Aristoteles spricht Seneca ausdrücklich dort von einem Recht, wo be279 280 281 282

Sen. clem. III, 16, 2. Vgl. Cass. Dio 54, 23, 1–2. Sen. clem., III, 16, 2. Aristot. pol. VII, 2, 1324b.

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sonders vehement gegen die Pflicht zur Menschlichkeit verstoßen wird. Während die erwähnten Verbote für die politische Philosophie bei Aristoteles nicht weiter relevant sind, ist das von Seneca thematisierte Recht grundlegend in das ethische Gesamtsystem integriert. Demnach soll jeder Mensch das höchste Gut anstreben, um sich »nach dem Bilde des Gottes« zu verwirklichen. 283 Jeder Mensch kann zur Freiheit aufbrechen und »Gestalter seines Lebens« sein 284, niemand soll versuchen, andere daran zu hindern. Die Seele ist dazu in der Lage, die eigenen Begierden zu kontrollieren und auf tatsächlich Erstrebenswertes auszurichten, aber sie beherrscht oder besitzt den Körper nicht. 285 Über den Körper verfügt stattdessen das Schicksal, vielleicht konnte sich die von den Kynikern und Zenon erhobene grundsätzliche Kritik am Gewaltverhältnis der Sklaverei auch aufgrund dieser Auffassung nicht durchsetzen. Senecas Hinweise auf das Menschenrecht und seine Mildtätigkeitsforderungen zum Umgang mit Sklaven werden in der Forschungsliteratur häufig als Belege dafür verwendet, dass es in der Antike keine Menschenrechte gab und die Sklaverei nur unzureichend kritisiert wurde. Dabei sollte nicht übersehen werden – und gerade dieses Kennzeichen stoischen Denkens tritt bei Seneca besonders deutlich hervor – dass seine Äußerungen zum Menschenrecht und zur humanitas eingebettet sind in die Formulierung einer universellen Sozialethik. Die Tugendlehren Platons und Aristoteles’ sowie die vorsokratischen Mahnungen zur Tugend bezogen sich im Wesentlichen nur auf die Bürger bzw. »Freunde«. Pflichten, die gegenüber allen Menschen einzuhalten sind, werden kaum formuliert. Gegenüber Fremden sollte zwar, z. B. in besonderen Notlagen, Hilfe geleistet werden, aber Vorschriften dieser Art gab es nur wenige. Sie waren nicht Teil der Polis-Gesetze, sondern vermutlich das Ergebnis von Nützlichkeitserwägungen. »Die Griechen kannten keine allgemeine Nächstenliebe, kein soziales Verantwortungsgefühl« 286, so Snell. Auch bei den Römern bezog sich das wohltätige Handeln auf die Freunde. Senecas Ausführungen zur Ethik sind vor diesem Hintergrund zu bewerten. Sie markieren eine Wende im ethischen Denken, das sich nun nicht mehr ausschließlich am Bürger, sondern am 283 284 285 286

Vgl. Sen. vit. beat. XVI, 1. Vgl. ebd., IV, 4–5 und VIII, 3. Vgl. ebd., VIII, 2. Snell: Die Entdeckung des Geistes, S. 162.

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Menschen schlechthin orientieren soll, denn »[d]er Mensch ist dem Menschen etwas Heiliges«. 287 Das Verhalten gegenüber Schwächeren, die sich gegen Unrecht nicht zur Wehr setzen können, ist auch für Cicero ein wichtiger Prüfstein für die Internalisierung der Pflichten. Daher fordert er, dass die Arbeit der Sklaven entlohnt werden muss. »Die niedrigste Stellung haben aber die Sklaven; diejenigen, die dazu raten, sie so zu behandeln wie Lohnarbeiter, geben keine schlechte Empfehlung: Man verlange von ihnen Leistung und gebe ihnen angemessenen Lohn.« 288 Auf die Frage, ob sich dadurch der Status des Sklaven verändern würde, geht Cicero nicht näher ein. Die Textstelle belegt die in Kapitel IV.2.4. formulierte These, dass der Zustand der Sklaverei primär durch die Art der Tätigkeiten bestimmt wird. Ähnlich wie Aristoteles stellt Cicero fest, dass zwischen Sklaven und Tagelöhnern (mercennarii) kein wesentlicher Unterschied besteht. 289 Obwohl die Forderung nach einer allgemeinen Aufhebung der Sklaverei von den späten Stoikern nicht mehr erhoben wird, betrachten sie diese doch unter anderen Gesichtspunkten als bspw. Platon, Euripides oder Aristoteles. Die Sklaverei erscheint deutlicher als ein notwendiges Übel und weniger als Teilaspekt der vernünftigen Gesamtnatur. Den Begriff eines »Sklaven von Natur« lassen die Stoiker fallen, da der Zweck der sklavischen Tätigkeiten nicht in der individuellen Natur angelegt sein kann. »Denn kein Mensch ist von Natur aus ein Sklave« 290, so Chrysipp. Die Annahme einer auf Veranlagung beruhenden Sklaverei hätte den römischen Verhältnissen kaum entsprechen können, denn in Rom wurde einem Sklaven mit der Freilassung automatisch das Bürgerrecht verliehen. Die Stoiker haben den Begriff der Natur, der bei Aristoteles auf den Zweck der politischen Gemeinschaft ausgerichtet war, auf jenen der Menschheit übertragen. Richtmaß des Handelns ist nun die Menschheit bzw. das Menschengeschlecht. Unmittelbar im Zusammenhang mit der Erläuterung der Sen. epist. XV, 95, 33 (Übers. nach Hadot: Die innere Burg, S. 416). Cic. off. I, 41. 289 Cicero fordert zwar nicht wie Aristoteles den Ausschluss der Tagelöhner von der Bürgerschaft, aber er merkt an, dass ihre Arbeiten mit der Würde freier Bürger unvereinbar sind. »Eines freien Mannes unwürdig und schmutzig sind die Erwerbsmöglichkeiten aller Tagelöhner, die man für ihre körperliche Arbeit und nicht für ihre handwerklichen Fähigkeiten bezahlt; bei ihnen ist nämlich der Lohn als solcher ein Handgeld für die Abhängigkeit.« Ebd., I, 150. 290 SUS, Frg. 678. 287 288

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Pflicht zum politischen Handeln erklärt Cicero, dass dieses für die Menschheit »ergiebig« sein soll. Das Wohl eines Gemeinwesens darf nicht auf Kosten eines anderen oder von einzelnen Privatpersonen gesteigert werden. So sehr die Stoiker auch betonen, dass die seelische Vervollkommnung sich am Verhalten gegenüber den Mitmenschen bemisst, sie haben dabei dennoch stets den einzelnen, wollenden Menschen als Repräsentanten der Menschheit im Blick und nicht den begrenzten Zweck einer politischen Gemeinschaft. Im vorhergehenden Kapitel wurde bereits erläutert, dass die innere Freiheit auch unter den Bedingungen der Sklaverei aufrechterhalten werden kann und dass umgekehrt Freie auch Sklaven ihrer Begierden sein können. 291 »Wenn man Menschen sieht, die von Sklavenhändlern zum Verkauf angeboten werden, glaubt man sogleich, dass es Sklaven seien, verfehlt aber die Wahrheit sehr. Denn nicht der Verkauf macht den Käufer zum Herrn oder den Verkauften zum Sklaven.« 292 Der Grad der Freiheit oder Unfreiheit eines Menschen bemisst sich nach einhelliger Auffassung der Stoiker am vernünftigen Willen. Cicero und Seneca betonen, dass es nicht auf den äußeren Anschein der Tugendhaftigkeit ankommt, sondern auf die Absicht, die ihrerseits an der Vernunft ausgerichtet sein muss. Dass bei den späten Stoikern eine grundsätzliche Kritik an der Sklaverei fehlt, zeigt, dass diese trotz der Einwände der Kyniker und frühen Stoiker als Selbstverständlichkeit angesehen wurde. Auch der Ausspruch Marc Aurels »Mach dich aber weder zum Tyrannen noch zum Sklaven irgendeines Menschen.« 293 steht im Kontext des Weges zur Erreichung der höchsten Vernunft. Die vernünftige Einsicht befreit den Einzelnen von tugendlosen Verhaltensweisen, der Selbstbezogenheit und lässt ihn den richtigen Platz in der Welt sowie die damit verbundenen Pflichten erkennen. An der tradierten gesellschaftlichen Ordnung änderte dies kaum etwas. Unter der Herrschaft der Adoptivkaiser wurde immerhin eine rechtliche Besserstellung von Frauen, Sklaven und Kindern erreicht. Hadrian hatte z. B. die grausame Sklavenfolter vor gerichtlichen Verhören weitgehend abgeschafft. Diese beruhte darauf, dass die Aussage eines Sklaven nur dann Beweiskraft hatte, wenn sie unter Folterqualen zustande gekommen war. Marc Aurel hatte ein Gesetz erlassen, das Sklaven die 291 292 293

Vgl. Kap. V.2.3. SUS, Frg. 679. M. Aur. 4, 31.

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Freiheit gewährte, sofern sie ihnen je versprochen worden war. Weigerte sich der Herr, die Freiheit zu gewähren, hatte der Sklave das Recht zu klagen. 294 Möglicherweise übten die Stoiker an der Sklaverei auch deshalb kaum Kritik, weil der Fall, dass sich Freie aufgrund elender Lebensumstände oder um bestimmte Ämter erlangen zu können selbst in die Sklaverei verkauften, keine Seltenheit war. Über diese Praxis schweigen die Stoiker; laut Veyne lässt die juristische Thematisierung aber darauf schließen, dass sie häufig vorkam. 295 Obwohl die späte Stoa nicht die Aufhebung der Sklaverei forderte, leistete sie einen wesentlichen Beitrag zur Reformulierung der Kritik, insofern sie den Begriff der Natur – im Vergleich zu Aristoteles – stärker von der Naturanlage her interpretierte und erklärte, dass ein Leben als Sklave nicht das Ziel der individuellen Natur sein könne. Die Entdeckung der Menschheitsidee lässt nicht nur eine Revision des Verhaltens gegenüber den Sklaven notwendig erscheinen, sondern auch gegenüber anderen Völkern und Fremden. Erst unter diesem Gesichtspunkt wird überhaupt über Fragen einer gerechten, durch Gesetze geregelten Außenpolitik nachgedacht. In den politischen Schriften von Platon und Aristoteles konnten diese kaum thematisiert werden, weil das Recht, ob positives Recht oder Naturrecht, ohnehin nur als Teil des »politischen Rechts« betrachtet wurde. Bei Cicero hingegen beschränken sich die Vorschriften zum moralischen Handeln nicht nur auf die politische Gemeinschaft, sondern zielen auf die »unbegrenzte Gemeinschaft der ganzen Menschheit«. 296 Weil alle Völker »Nachgiebigkeit, Güte, Liebenswürdigkeit und Dankbarkeit« bei anderen schätzen und gleichermaßen »die Überheblichen, die Übeltäter, die Grausamen und die Undankbaren« verachten, sei offensichtlich, »daß die ganze Menschheit miteinander verbunden ist« und »alles darauf hinaus[läuft], daß die Lehre von der richtigen Lebensführung alle besser macht«. 297 Cicero spricht in diesem Zusammenhang von einem »Recht der menschlichen Gemeinschaft« (ius humanae societatis). 298 Jeder Mensch ist aufgrund dieses RechtsDie Freilassung beinhaltete nach dem Zwölftafelgesetz noch die volle Übertragung der römischen Bürgerrechte durch Eintrag in die Bürgerliste, später wurden die gewährten Bürgerrechte für Freigelassene eingeschränkt. Vgl. König, Ingemar: Der römische Staat. Ein Handbuch, Stuttgart 2007, S. 51. 295 Vgl. Veyne, Paul: Die römische Gesellschaft, München 1995, S. 238. 296 Vgl. Cic. off. I, 53. 297 Cic. leg. I, 11, 32. 298 Vgl. Cic. off. I, 21 f. 294

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verhältnisses Inhaber »einer Art Bürgerrecht« (quasi civile ius). 299 Dieses umfasst bspw. das Recht auf Privateigentum, dessen Schutz eine zentrale Aufgabe des Staates (res publica) ist. »Vor allem aber wird derjenige, der das Gemeinwesen verwalten will, darauf sehen müssen, dass jeder behält, was ihm gehört und dass das Vermögen der Einzelpersonen nicht durch staatliche Einwirkung verringert wird.« 300 Von Natur aus gibt es laut Cicero zwar kein privates Eigentum, aber durch Inbesitznahme, Eroberung, Verträge usw. hat jeder etwas von dem, was ursprünglich allen gehörte, erworben, das ihm nun nicht mehr genommen werden darf. Cicero vergleicht den ursprünglichen Eigentumserwerb mit der Einnahme von Sitzplätzen im Theater: »Aber wie ein Theater wohl für die Allgemeinheit bestimmt ist und doch jeder mit Recht behaupten kann, der Platz, den er eingenommen habe, gehöre ihm, so gibt es auch in der Rechtsordnung der bürgerlichen Gemeinschaft oder der Welt nichts, was dem Einzelnen den Anspruch auf sein Eigentum streitig machen könne.« 301 Nicht nur innerhalb der politischen Gemeinschaft, sondern über ihre Grenzen hinaus gilt der Grundsatz, dass jedem das Seine zukommt (suum cuique), den Cicero ganz direkt als Recht auf Eigentum begreift. Die Umverteilung von Landbesitz ist nur dann legitim, wenn diejenigen, die Land verlieren, entschädigt werden. Cicero war daher ein entschiedener Gegner der Gracchischen Reform. Das Recht auf Eigentum würde auch durch die Erhebung von Steuern verletzt werden, außer in Fällen, in denen jedem einsichtig ist, dass ein Staatsnotstand nicht anders abgewendet werden kann. Cicero stellt darüber hinaus fest, dass die Republik dafür zu sorgen hat, dass »die Dinge ausreichend vorhanden sind, die für das tägliche Leben erforderlich sind«. 302 Zu denken ist hier bspw. an eine sichere Getreideversorgung. Ein Vergleich mit der griechischen Polis macht deutlich, dass es keineswegs selbstverständlich ist, die Versorgung der Bürger mit lebensnotwendigen Gütern als öffentliche Aufgabe des Gemeinwesens zu betrachten. Noch erstaunlicher ist, dass diese Verpflichtung im Rahmen der beneficentia auch gegenüber fremden Völkern gelten müsste, wenn diese unter einer Hungersnot leiden und Hilfe möglich ist. Dies legt zumindest ein Beispiel nahe, 299 300 301 302

Vgl. Cic. fin. III, 67. Cic. off. II, 73. Cic. fin. III, 67. Cic. off. II, 74.

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das Cicero verwendet, um klarzumachen, dass ein Verkäufer den Käufer beim Warenhandel nicht täuschen darf. Demnach muss ein Händler, der eine unter Nahrungsmittelknappheit leidende Stadt beliefert, über weitere Versorgungsmöglichkeiten Auskunft geben, sofern er davon Kenntnis hat, und darf keinen Profit aus der Not schlagen. 303 Cicero forderte gewiss keine Menschenrechte, was bereits daraus ersichtlich wird, dass die politisch-rechtlichen Normen bei ihm vereinzelt in einer umfassenden Pflichtenlehre zu finden sind und nicht in einem Katalog subjektiver Rechte. Allerdings interpretierten die Naturrechtstheoretiker der Neuzeit diese Pflichten als subjektives Recht. 304 Gerade im Krieg gilt es, gewisse Rechte zu beachten, die wohl ebenfalls dem »Recht der menschlichen Gemeinschaft« zugeordnet werden können. Wie schon Hesiod behauptet Cicero, dass Krieg und Gewalt generell unmenschlich sind und eher dem Verhalten wilder Tiere entsprechen. Kriege dürfen nur zum Zwecke eines zukünftigen Friedens geführt werden und dies auch nur dann, wenn der Krieg durch Verhandlungen nicht abgewendet werden konnte. 305 In den Verhandlungen soll über die Möglichkeit von Entschädigungen diskutiert werden, um Kriegsgründe auszuräumen. Die Führung eines Krieges ist laut Cicero nur dann gerecht, wenn als Kriegsgrund (causa belli) ein substanzielles Unrecht (iniuria) vorliegt und die Regeln der Kriegserklärung eingehalten werden. 306 Für die kriegerische Auseinandersetzung gilt, dass sie so geführt werden muss, dass »der Frieden als ihr eigentlicher Zweck erscheint«. 307 Das heißt, dass Grausamkeiten vermieden und kapitulierende Feinde geschont werden müssen. Der Frieden soll so beschlossen werden, dass »keine heimlichen Absichten« zu erwarten sind. 308 Alle während des Krieges mit dem Feind getroffenen Vereinbarungen – bspw. für einen Gefangenenaustausch – sind strikt einzuhalten. Ein bedeutsames Beispiel für die Gerechtigkeit gegenüber dem Feind sieht Cicero in der Auslieferung eines Überläufers, der dem Senat versprochen hatte, König Vgl. ebd., III, 50–57. Vgl. z. B. Straumann: Hugo Grotius und die Antike, S 10. 305 Vgl. Cic. off. I, 34 f., 80. 306 Zum bellum iustum bei Cicero vgl. Girardet, Klaus M.: »Gerechter Krieg – Von Ciceros Konzept des bellum iustum bis zur UNO-Charta«, in: Richter/Voigt/König (Hg.): Res Publica und Demokratie, S. 193–206. 307 Cic. off. I, 80. 308 Vgl. ebd., I, 35. 303 304

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Pyrrhus, einen mächtigen Feind Roms, zu vergiften. 309 Cicero orientierte sich bei der Aufstellung der Regeln für einen gerechten Krieg und hinsichtlich des Friedenszweckes nicht an philosophischen Idealen, sondern »an dem Bild, das er von der völkerrechtlichen Praxis Roms in früheren Jahrhunderten gewonnen hatte«. 310 Unschwer lassen sich in dieser Auswahl moralischer Pflichten zum Teil Normen wiedererkennen, die Kant in der Schrift Zum ewigen Frieden für die Schaffung einer friedlichen Weltordnung in neun Artikeln aufgelistet hat. 311 Ciceros Rechtslehre zielt auf eine Ordnung des sittlichen Zusammenlebens aller Menschen ab. Die Menschen sind nicht bloß biologisch zu einem »Menschengeschlecht« geeint, sondern müssen es in einem rational-naturrechtlichen Sinne als Menschheit werden. Er greift die Lehre seiner griechischen Vorgänger über die ungeschriebenen Gesetze und deren Ableitung aus der Vernunft auf, bezieht diese dann aber auf den Einzelnen, der durch sein moralisches Handeln einen Beitrag zur Vertiefung des »Rechtes der menschlichen Gemeinschaft« leisten soll. Dieses Recht gilt es nicht nur beiläufig zu berücksichtigen. Für Cicero erweist sich die Menschlichkeit (humanitas) eines Menschen überhaupt erst an der Verbundenheit mit dem ganzen Menschengeschlecht (genus humanum). »Denn wer könnte den mit Recht einen Menschen nennen, der zwischen sich und seinen Mitbürgern, der schließlich mit dem ganzen Menschengeschlecht Vgl. ebd., I, 40. Girardet: »Gerechter Krieg«, S. 195. 311 Nussbaum fasst zusammen: »Kants Darlegung des Verhältnisses zwischen Moralität und Politik im Ersten Zusatz steht im engsten Zusammenhang mit Ciceros Beschreibung der Verknüpfung von Moralität und Zweckmäßigkeit. Beide Denker beharren auf der großen Bedeutung der Gerechtigkeit bei der Führung des politischen Lebens, sie geben gleiche Gründe für ihre Ablehnung, daß Moral abgewogen werden sollte gegen die Nützlichkeit. Auch gibt es enge Parallelen beider Denker hinsichtlich des Rechts der Hospitalität und ihrer hohen Bewertung angemessener moralischer Haltung während eines Krieges und besonders der Gerechtigkeit gegenüber Feinden. Beide betonen die große Bedeutung der Wahrhaftigkeit und der Einhaltung von Versprechen, sogar im Krieg; beide verurteilen Greueltaten und Vernichtungskriege; beide wenden sich entschieden gegen verräterisches Betragen, auch gegenüber dem Feind. Kant befindet sich auch dort in der Nähe der stoischen Analysen, wo er vom Recht aller Menschen auf ›gemeinschaftlichen Besitz der Oberfläche der Erde‹ spricht und von der Möglichkeit, daß ›entfernte Weltteile mit einander friedlich in Verhältnisse kommen, die zuletzt öffentlich gesetzlich werden, und so das menschliche Geschlecht endlich einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher bringen können‹.« Nussbaum: »Kant und stoisches Weltbürgertum«, S. 61 f. 309 310

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keine Gemeinschaft des Rechtes, keine Verbundenheit in der Menschlichkeit haben will?« 312 Insofern die Menschheit eine Rechtsgemeinschaft ist, gelten die zentralen moralischen Pflichten auch gegenüber Ausländern. Diejenigen aber, die behaupten, sie nähmen auf ihre Mitbürger Rücksicht, kümmerten sich aber nicht um Fremde, zerreißen die allumfassende Gemeinschaft der Menschheit; wenn diese aufgehoben ist, werden auch Hilfsbereitschaft (beneficentia), Großzügigkeit (liberalitas), Herzensgüte (bonitas), Gerechtigkeit (iustitia) von Grund auf beseitigt. 313

Cicero lehnt es ab, die Pflichterfüllung auf das Gemeinwesen zu beschränken, weil die Gerechtigkeit zu begrenzen Unrecht wäre. Konkret folgt aus der Pflicht gegenüber Ausländern, dass ihnen ein Aufenthaltsrecht gewährt werden muss. »[D]en Fremden den Aufenthalt in der Stadt zu verbieten, ist zweifelsfrei unmenschlich (inhumanum).« 314 Die Ausweisung von Fremden würde der humanitas-Formel des Terenz widersprechen.

2.5. Ciceros Auffassung von der dignitas humana Cicero verwendet erstmalig, aber eher beiläufig den Begriff der Würde (dignitas) zur Kennzeichnung der menschlichen Natur. »[W]enn wir uns vor Augen halten wollen, welche Überlegenheit (excellentia) und Würde in unserer Natur liegen, werden wir auch verstehen, wie schändlich (turpe) es ist, sich Ausschweifungen zu ergeben und üppig und verweichlicht zu leben«. 315 Hinsichtlich der Verachtung körperlicher Begierden und Triebe weicht Ciceros Würdedefinition nicht vom allgemeinen römischen Verständnis von dignitas ab – einer Würde, die Auszeichnung und Verpflichtung zugleich ist. 316 Die Würdigkeit des Einzelnen wird durch die Führung eines tugendhaften Lebens bestätigt. Cicero unternimmt aber einen ersten Schritt, um die Würdeidee aus der aristokratisch-elitären Anschauungsweise herausCic. rep. II, 26 (48). Cic. off. III, 28. 314 Ebd., III, 47. 315 Ebd., I, 106. 316 Vgl. Pöschl, Viktor: Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, Heidelberg 1989, S. 38 ff. und Cancik: »Die frühesten antiken Texte zu den Begriffen ›Menschenrecht‹, ›Religionsfreiheit‹, ›Toleranz‹«, S. 94 f. 312 313

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zulösen, indem er sie auf die menschliche Natur bezieht. Die dignitas wird als Wesensmerkmal des Menschen vorgestellt, jeder hat das Potential dazu, sich der Menschenwürde gemäß zu verhalten. Begründet wird diese natürliche Veranlagung mit dem Vernunftvermögen und durch die Abgrenzung vom Tier. »[E]s kommt bei der ganzen Untersuchung über die Pflicht (officium) darauf an, immer vor Augen zu haben, wie sehr die Natur des Menschen dem Vieh und den übrigen Tieren überlegen ist; jene empfinden nichts außer der Lust […], der Geist des Menschen aber nährt sich durch Lernen und Denken (cogitando)«. 317 Das Licht der Vernunft (lumen naturale) ist eine angeborene Anlage, »[d]enn in unserm Geiste sind Samen der Tugenden eingeboren« 318, so Cicero im 3. Buch der Gespräche in Tusculum. Die Bedeutung dieser neuen Auffassung von Würde darf nicht unterschätzt werden, beruhte die Dignität doch seit alters her ausschließlich auf politischen Leistungen sowie adliger Herkunft. Gemäß traditioneller Sicht erstrahlte die persönliche Würde besonders, wenn ihr Träger auf Helden, Könige oder – wie im Falle Caesars – eine Göttin unter den Ahnen zurückschauen konnte. Solche Ahnherren konnten auch ein Ersatz für die Nichtzugehörigkeit zur römischen Nobilität sein. So würdigt Horaz Maecenas, indem er in seinen Anreden dessen Abstammung von einem etruskischen Königsgeschlecht anspricht, worauf Maecenas offenbar Wert legte. 319 Erlangte jemand aber die Amtswürde, ohne dem Adel zu entstammen, galt dies nicht etwa als achtenswert, sondern peinlich und schändlich. Das belegt das Beispiel des Curtius Rufus, der unter Tiberius zum Konsul und Prokonsul aufstieg, obwohl er der Sohn eines Gladiators gewesen sein soll. Tacitus scheut sich, etwas über dessen Herkunft zu sagen und Tiberius habe mit den Worten »C. Rufus scheint mir sein eigener Vater zu sein« versucht, diese zu vertuschen. 320 Der Anspruch auf die Würde eines höheren Amts setzte also die Zugehörigkeit zur römischen Gentilordnung voraus. Die Plebejer besaßen anfänglich, so Livius und Gellius, keine gentes. 321 Es scheint nahezuliegen, die römische dignitas mit Begriffen wie Ehre, Prestige oder Ansehen zu übersetzen. Allerdings verfehlen diese Begriffe laut Pöschl den

317 318 319 320 321

Cic. off. I, 105. Cic. Tusc. III, 2. Vgl. Pöschl: Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, S. 12. Tac. ann. XI, 21, 3. Vgl. Liv. X, 8, 9; Gell. X, 20, 5 mit Anm.

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»Ernst, der über der römischen dignitas liegt«. 322 Pöschl interpretiert dignitas als ein »römisches Stil und Formprinzip« im umfassenden Sinne. 323 In allen Lebensbereichen verlangt die jeweilige Dignität einer Persönlichkeit den ihr angemessenen Ausdruck. Dies gilt vorrangig für das politische Leben sowie die moralische Integrität. Als Caesar nach den Gallierfeldzügen dazu aufgefordert wurde, das militärische Kommando niederzulegen und sich einer Anklage vor Gericht zu stellen, sah er darin eine Missachtung seiner dignitas. 324 Seine Gegner bestreiten den dignitas-Anspruch nicht, sondern lediglich die Art und Weise des Handelns, die diesem gerecht werden soll. Andere führende Politiker Roms wie Cicero, Pompeius oder auch Catilina und Brutus haben sich in politischen Auseinandersetzungen ebenfalls auf ihre Würde berufen. 325 Obwohl die dignitas an die Person gebunden ist, kann sie nicht getrennt von der »öffentlichen Sache« (res publica) betrachtet werden. Eine Verletzung der dignitas impliziert gleichermaßen einen Schaden für die Republik. 326 Die unterschiedlichen Grade an Würde und Ehrenhaftigkeit wurden auch bei gerichtlichen Prozessen zur Geltung gebracht oder entschieden über das Strafmaß. Als Gellius ohne Beweise und Zeugen über die Klage eines Ehrenmannes zu entscheiden hatte, folgte er dem Rat des älteren Cato, demzufolge der Richter sich in einem solchen Fall für den »besseren Mann« entscheiden solle. 327 Bezüglich des Strafmaßes war es üblich, dass die honestiores, also Senatoren, Ritter, Decurionen und Veteranen, bei schweren Verbrechen nur mit Verbannung bestraft wurden, während die rangmäßig niedrigeren humiliores bei gleichen Delikten mit der Verurteilung zu einer der schwersten Strafen, der Zwangsarbeit im Bergwerk, rechnen mussten. Das Strafmaß wurde auch dann erhöht, wenn eine Person von höherem Stand durch jemanden niederen Standes geschädigt wurde. Die dignitas wird aber nicht nur auf den Feldern der Politik und des Rechts berücksichtigt, sondern ragt in alle Lebensbereiche hinein, die für die Republik oder die Person repräsentativ sind – angefangen bei der äußeren Erscheinung, der Körperpflege, einer angemessenen Haltung, dem richtigen Tempo beim Gehen – 322 323 324 325 326 327

Vgl. Pöschl: Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, S. 7. Vgl. ebd., S. 32. Vgl. Caes. civ. I, 9, 2. Vgl. Pöschl: Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, S. 8. Vgl. ebd., S. 13. Vgl. Gell. XIV, 2, 21.

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bis hin zur architektonischen Gestaltung der Gebäude, dem rhetorischen und poetischen Stil sowie der Ausstattung religiöser Zeremonien. Der römische Würdebegriff steht in enger Verbindung zu Wertbegriffen wie Ehre (honestas), Autorität (auctoritas), Treue (fides) oder Erhabenheit (maiestas) – also Begriffen, die im römischen Sinne die Macht einer herausragenden Persönlichkeit umschreiben. Erst durch Cicero wurde dieses Würdeverständnis in eine Lehre über die Natur des Menschen übertragen – laut Pöschl der folgenreichste Schritt für die Geschichte des Begriffes Menschenwürde. 328 Jene Wertvorstellungen, die zum Teil dem politischen öffentlichen Leben der Bürger entstammten und der Auszeichnung einzelner Persönlichkeiten dienten, gelten nun als Ausdruck einer Würde, die dem Menschen qua Natur zu eigen ist. Auch wenn Cicero nur an einer Stelle von der Würde als Wesensmerkmal spricht, folgt er damit doch der stoischen Tendenz zur Universalisierung ethischer Prinzipien und Hochschätzung des Menschen im Sinne der humanitas. Der Würdegedanke wird in Vom pflichtgemäßen Handeln durch den direkt im Anschluss behandelten Personbegriff näher erläutert. 329 Auch dieser Begriff wird erstmalig von Cicero philosophisch ausgearbeitet. 330 Als persona wird eine »Rolle« bzw. »Maske« bezeichnet, die die Natur dem Einzelnen aufsetzt. Der Einzelne soll danach streben, vier unterschiedliche Rollen in seiner Lebensführung in Übereinstimmung zu bringen. Die erste Bedeutung der persona legt die Vorrangstellung gegenüber dem Tier aufgrund der Teilhabe an der Vernunft fest. 331 Zweitens gehören zur Person die individuellen Besonderheiten, z. B. körperliche und geistige Eigenarten, die einen jeden vom anderen unterscheiden. Man muss sich […] deutlich machen, dass wir von Natur aus sozusagen zwei Rollen (personis) spielen; die eine von diesen ist allen Menschen gemeinsam, weil wir alle an der Vernunft und an dieser Vorrangstellung teilhaben, mit der wir die Tieren überragen, aus der sich alles Moralische und Angemessene herleitet und aus der das methodische Vorgehen bei der Untersuchung des Pflichtbegriffs gewonnen wird. Die andere ist die Rolle, die 328 Vgl. Pöschl: Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, S. 38. Vgl. dazu und zur wirkungsgeschichtlichen Bedeutung der Würdekonzeption Ciceros auch Forschner: Über das Handeln im Einklang mit der Natur, S. 96 ff. 329 Vgl. Cancik: »Die frühesten antiken Texte zu den Begriffen ›Menschenrecht‹, ›Religionsfreiheit‹, ›Toleranz‹«, S. 96. 330 Vgl. auch Cic. inv. I, 24. 331 Vgl. Cic. off. I, 107–115.

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jedem Einzelnen aufgrund seiner persönlichen Eigenart (proprie singulis) zugewiesen ist. 332

Zwei weitere personae werden ergänzt. Die dritte Rolle, die dem Menschen durch die Natur zugeteilt wird, betrifft die äußeren Lebensumstände und die geschichtliche Situation. Darüber hinaus gibt es eine vierte Rolle, die jeder durch den eigenen Willen und nach eigenem Urteil ergreifen kann. Zu den zwei Rollen, die ich oben erwähnt habe, kommt eine dritte hinzu, die uns irgendwelche Zufälle oder die Zeitumstände auferlegen, und sogar noch eine vierte, die wir uns selbst durch unsere eigene Entscheidung zulegen. Denn Königswürde, Herrschergewalt, Ansehen, Ehrenämter, Reichtum, Machtmittel und alles, was im Gegensatz dazu steht, hängen vom Zufall ab und werden durch die Zeitumstände bestimmt. 333

Die Reihenfolge der vier personae geht vom Allgemeinen zum Besonderen. Jeder Mensch muss darauf achten, dass sie in einem harmonischen Verhältnis zueinander stehen. Cicero bedient sich mit dem Personbegriff der Metaphorik des Theaterschauspiels. Schon der äquivalente griechische Begriff πρόσωπον bezeichnete zunächst die Maske und in hellenischer Zeit auch den Charakter, die Rolle, die jemand spielt. »Von hier aus, also über den Begriff des (menschlichen) Charakters (im Theater) entwickelt sich die Bedeutung von prosopon als sprechender und handelnder Person« 334, so Forschner. Anhand der vier personae wird ersichtlich, für welche Rolle sich ein Mensch entschieden hat und wer er sein möchte. 335 Der Träger der Masken wird noch nicht als Person bezeichnet. Ermöglicht wird die Wahl durch den Willen (voluntas) . »Welche Rolle wir aber persönlich spielen wollen, hängt von unserem eigenen Willen ab.« 336 Der Wille entscheidet sich nicht nur für das, was die Vernunft gebietet und allgemein als richtige Verhaltensweise anerkennt, er muss auch erstreben, mit der individuellen Natur übereinzustimmen. Dies gelingt nicht, »wenn man die Natur anderer Menschen nachahmt und seine eigene aufgibt«. 337 Die Eigenart (proprietas) muss im Rahmen der Gattungsnatur des Menschen berücksichtigt werden. 332 333 334 335 336 337

Ebd., I, 107. Ebd., I, 115. Forschner: »Der Begriff der Person in der Stoa«, S. 41. Vgl. Cancik: »Persona and Self in Stoic Philosophy«, S. 315. Cic. off. I, 115 (Herv. O. B.). Ebd., I, 111. Vgl. auch Forschner: »Der Begriff der Person in der Stoa«, S. 44 f.

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Wir müssen nämlich so verfahren, damit wir zwar nichts unternehmen, was im Gegensatz zur allgemeinen Menschennatur steht, aber in Achtung vor ihr dennoch unsere individuelle (propriam) Natur verwirklichen, so dass wir, auch wenn anderes wichtiger und besser sein sollte, dennoch unsere eigenen Bemühungen an dem Maßstab unserer individuellen Natur ausrichten. 338

Forschner erläutert dazu: »Was hier angesprochen wird, ist – in modernen Worten – das Problem personaler Identität in praktischer Hinsicht. Der Mensch ist in seinem Personsein hinsichtlich seiner sozialen Rolle nicht nur Gattungswesen, sondern auch eigen- wenn nicht einzigartiges Individuum«. 339 Ciceros Personbegriff leistet einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung einer individualistischen Subjektkonzeption. Es wurde darauf hingewiesen, dass zwischen dem hellenistischen und dem neuzeitlich-modernen Individualismus deutliche Unterschiede bestehen. 340 Auch bei Cicero ist das Subjekt nicht autonom, es orientiert sich an einem vorgegebenen höchsten Gut. Dennoch verfügt es über einen freien Willen und die Möglichkeit, die individuelle Natur zu gestalten. Das, was für den einzelnen Menschen das Angemessene (decorum) ist – wodurch sich entscheidet, ob ein Mensch in Übereinstimmung mit der Natur lebt oder nicht – lässt sich nicht ausschließlich allgemeinen, ethischen Handlungsanweisungen entnehmen. Zum »Selbstwissen« (συνείδησις wird von Cicero mit conscientia übersetzt) gehört die Bezugnahme auf die eigene Natur. Dass Cicero stärker von der individuellen Entscheidungsmacht überzeugt ist als von der völligen Determination der Handlungsprozesse, ist vermutlich den Einflüssen des Skeptizismus geschuldet, aufgrund derer er sich auch als Anhänger der Neuen Akademie betrachtete. Er verweist auf das einfache logische Argument des Karneades: »›Wenn alles auf Grund vorangehender Ursachen geschieht […], steht nichts in unserer Entscheidungsmacht (potestate). Nun liegt aber etwas in unserer Entscheidungsmacht. […] Daraus folgt: Es geschieht nicht alles auf Grund des Fatums.‹« 341 Der Begriff der Person wird von Cicero bereits im Kontext von Begriffen wie Freiheit und Gleichheit, Selbstbestimmung, Rationalität oder Individualität ver338 339 340 341

Cic. off. I, 110. Forschner: »Der Begriff der Person in der Stoa«, S. 45. Vgl. Kap. V.1. Cic. fat. XIV, 31.

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wendet, in welchem er auch in späteren humanistischen Begründungen für Menschenwürde und -rechte wieder gebraucht wird. 342 In der griechisch-römischen Antike wurden der Menschenwürde- und der Personbegriff 343 Ciceros kaum rezipiert. Eine bedingungslos allen Menschen zukommende Würde ist aber auch den frühchristlichen Kirchenvätern noch unbekannt. In der Bibel findet sich der Begriff Menschenwürde nicht. Obwohl sich die Kirchenväter im Allgemeinen eher darum bemühten, sich von der stoischen Philosophie abzusetzen, schließen sie, was die Weiterentwicklung des Würdetheorems betrifft, nahtlos an die Stoiker an. Vielfach wird nun betont, dass die Würde eine Auszeichnung des menschlichen Wesens ist. Die Wesenswürde kann nur durch ein tugendhaftes und gottesfürchtiges Leben bewahrt werden oder zur Entfaltung kommen. Wer sich ohne Vernunft den Begierden und der Lust hingibt, gelangt nicht zur Würde. Wie Cicero betont Laktanz, dass der Mensch aufgrund des Vernunftvermögens eine »Verwandtschaft mit Gott« hat und deshalb den Tieren überlegen ist. 344 Aus der Erschaffung des Menschen durch Gott ergibt sich, dass alle Menschen gleich und frei sind, alle sind »zur Weisheit gezeugt« und allen ist »die Unsterblichkeit versprochen«. Unter Verweis auf die Gotteskindschaft und die Würde wird die Institution der Sklaverei kritisiert. »[Gott] schenkt […] allen Gleichheit und Würde. Niemand ist bei ihm Sklave, niemand ein Herr, wenn er für alle derselbe Vater ist, sind wir mit gleichem Recht alle Freie.« 345 Die Kirchenväter begründen die Würde mit der Gottesebenbildlichkeit. »Gott zeigt nämlich dadurch, dass er sagt: ›Lasst uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis‹ die Würde des Menschen« 346, so Theophilus von Antiochien. Aber auch der ältere Gedanke der Gottverähnlichung oder sogar Vergöttlichung des Menschen wird von den Kirchenvätern noch geteilt. Origines erklärt: »[D]er Mensch [empfing] zwar die Würde des Bildes bei der ersten Schöpfung […], die Vollendung der Ähnlich342 Vgl. Cancik: »Die frühesten antiken Texte zu den Begriffen ›Menschenrecht‹, ›Religionsfreiheit‹, ›Toleranz‹«, S. 96. 343 Der Personbegriff wird erst unter dem Einfluss christlicher Vorstellungen und deren Verrechtlichung deutlicher im Sinne des modernen Terminus von der »freien Entfaltung der Persönlichkeit« verstanden. Vgl. ebd., S. 95 f. Die Unterscheidung von allgemeiner und eigener Natur ist in späteren Texten präsent. Vgl. M. Aur. II, 9 u. V, 3. 344 Vgl. Wetz, Franz Josef (Hg.): Texte zur Menschenwürde, Stuttgart 2011, S. 47 f. 345 Zitiert nach ebd., S. 48. 346 Zitiert nach ebd., S. 45.

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keit [ist] ihm aber für das Ende aufgespart […]. Er sollte sich selbst durch eigenen Eifer diese Ähnlichkeit zur Nachahmung Gottes erwerben«. 347 Bei Gregor von Nyssa heißt es: »Der Mensch steigt aus seiner eigenen Natur heraus: aus sterblich wird unsterblich, aus vergänglich wird unvergänglich und aus flüchtig ewig, aus dem Menschen wird kurz: Gott.« 348 Sowohl theologische als auch rationalistische Ethiklehren konnten erfolgreich an Ciceros Morallehre anschließen, weil Natur-, Vernunft-, und göttliches Gesetz einander gleichgesetzt werden. Er interpretierte Begriffe neu, die in der Moderne aufgegriffen wurden und von herausragender Bedeutung für den Kontext der Menschenrechte sind. Die später hervortretende Prominenz der Schriften Ciceros spiegelt sich in ihrer Verbreitung im Mittelalter und vor allem in der Neuzeit wider. Vom pflichtgemäßen Handeln fand im Mittelalter einen großen Leserkreis und wurde bereits im Jahre 1488 in Augsburg ins Deutsche übersetzt. In der frühen Neuzeit lagen zahlreiche Gesamtausgaben seines Werkes vor, die von bedeutenden Philologen wie bspw. Erasmus, Pier Vettori, Denys Lambin und Paulus Manutius ediert worden waren. 349 Nur das Werk des Aristoteles war vergleichsweise gut verfügbar. Die philologische Forschung hat nachgewiesen, dass Vom pflichtgemäßen Handeln zumindest teilweise eine Nachschrift der verschollenen Schrift über die Pflichten des Stoikers Panaetius von Rhodos ist. 350 Das griechische Wort axioma hatte Cicero mit dignitas übersetzt, dieses wurde mit Wyrde übersetzt. Mehrfach wurde ersichtlich, dass die ethischen Lehren der Stoiker um das Problem zentriert sind, der Willenswahl (προαίρεσις) eine Handlungsorientierung aufzuzeigen. Der Wille ist eigentlich nur dann »frei«, wenn eine Handlung mit der Natur und dem Schicksal übereinstimmt, andernfalls erfolgt sie bloß aus Begierde oder Lust. Die stoische Ethik geht demnach nicht von einem autonomen Willen aus. Im Unterschied zu den griechischen Tugendlehren richten die Stoiker aber das Verhältnis von freier Wahl und Pflicht systematisch auf das höchste Gut aus. 351 Tönnies verweist auf Schweitzer, der hieZitiert nach ebd., S. 45 f. Zitiert nach ebd., S. 50. 349 Vgl. Straumann: Hugo Grotius und die Antike, S. 13. 350 Vgl. Tiedemann, Paul: Was ist Menschenwürde? Eine Einführung, Darmstadt 2006, S. 52. 351 Vgl. Tönnies: Der westliche Universalismus, S. 65 f. 347 348

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rin den wesentlichen Unterschied zwischen griechischer Philosophie und römischer Stoa ausmacht. 352 Laut Schweitzer scheiterte Aristoteles daran, seine Ethiklehre vollständig auf das Tätigsein des Menschen zu beziehen. Die Tugenden, die Aristoteles jeweils zwischen zwei extremen Abweichungen verortet, seien bloß natürliche Eigenschaften. Zwischen Verwegenheit und Feigheit z. B. befände sich nicht die Tugend der Tapferkeit, sondern die Eigenschaft der vernünftigen Vorsicht. Schweitzer hält dem entgegen, dass sich eine ethische Tugend dadurch auszeichne, »daß die Eigenschaft sich an einem Ideale der Selbstvervollkommnung orientiert und einem auf das Allgemeine gehenden Zwecke dienstbar wird«. 353 In der Ethik gehe es darum, ein Grundprinzip aufzustellen, nach dem gehandelt werden soll. Die Tapferkeit bspw. sei im ethischen Sinne »das Wagen meiner Existenz für einen von mir als allgemein wertvoll anerkannten Zweck, bei dem die eventuell vorhandene natürliche Anlage der Waghalsigkeit keine Rolle spielt und die der natürlichen Ängstlichkeit außer Kraft gesetzt wird«. 354 Bei Tugenden, die nicht auf einen höheren Zweck ausgerichtet sind, handle es sich bloß um Eigenschaften. »Die Hingabe des Besitzes oder des Lebens für einen allgemein wertvollen Zweck ist unter allen Umständen ethisch, während Vergeudung und Geiz, und Verwegenheit und Feigheit, als einfache, nicht durch ein höheres Ziel motivierte Eigenschaften, niemals ethischen, sondern immer nur natürlichen Charakter haben.« 355 Erst eine Ethik im Sinne eines allgemeinverbindlichen Regelsystems lasse eine fortwährend provokative Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu. Im Gegensatz zu einer dem Natürlich-Eigenschaftlichen verhafteten Tugendlehre berge die Ethik die Möglichkeit eines menschlichen Fortschritts. Jahrhundertelang haben die Menschen, die das Meer befuhren, sich nach den Sternbildern orientiert. Nachher aber sind sie über dieses Unvollkommene hinausgekommen, indem sie die Magnetnadel entdeckten, in der der Norden seinem wirkenden Kraftprinzip nach gegeben ist. Seither finden sie sich in der dunkelsten Nacht auf dem fernsten Meere zurecht. Dieser Art ist der Fortschritt, den wir in der Ethik zu suchen haben. Solange wir nur die Ethik der ethischen Aussprüche besitzen, richten wir uns nach Sternen, die, Vgl. ebd., S. 64–70. Vgl. Schweitzer, Albert: Kultur und Ethik, 9. Aufl., München 1953, S. 37 ff. 353 Ebd., S. 42. 354 Ebd. 355 Ebd., S. 42 f. 352

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so leuchtend ihr Glanz ist, doch nur mehr oder weniger sicher leiten und durch einen aufsteigenden Dunst verhüllt werden können. In der Sturmesnacht lassen sie die Menschheit, wie wir es jetzt erleben, im Stiche. Besitzen wir aber die Ethik als denknotwendiges, in uns zur Klarheit kommendes Prinzip, so setzt weitgehend ethische Vertiefung der Einzelnen und stetiger, ethischer Fortschritt der Menschheit ein. 356

Platon und Aristoteles seien daran gescheitert, eine universale Ethik zu entwickeln, weil ihre Tugendlehren auf das Gemeinwesen der Polis beschränkt blieben. 357 Entscheidend ist laut Tönnies und Schweitzer der geopolitische Unterschied zwischen griechischer Polis und römischem Imperium. 358 Erst das Weltreich werfe für den Einzelnen Fragen nach einer gemeinsamer Identität und dem inneren Zusammenhang des Ganzen auf, während ethische Universalien in den kleinen Verhältnissen der Polis nicht hätten reifen können. Entfremdungseffekte, die es in der Polis nicht gegeben habe, hätten die Entstehung einer universalen Idee bewirkt und einen für jeden Untertanen gültigen Verhaltenskodex notwendig erscheinen lassen. Tönnies sieht in der Wende zum Universalismus die eigentliche »Entdeckung der Menschenrechte«. 359 Ich teile die Ansicht, dass die römische Stoa einen ethischen Universalismus entwickelte, der über die klassischen Tugendlehren hinausgeht. Im Hinblick auf das Verhältnis der stoischen Lehre zur Menschenrechtskonzeption ergeben sich aus dem Anspruch, die Gesetze aus einer Universalvernunft ableiten zu wollen, jedoch Schwierigkeiten. Bestehende gesellschaftliche Ordnungen können als vernünftig und gottgewollt legitimiert werden, wenn davon ausgegangen wird, dass deren Änderung nicht in der Macht der subjektiven Handlungsmöglichkeiten liegt. 360 Der Sklave Epiktet vermag der universalen Vernunft im Gegensatz zu seinem Herrn teilhaftig zu sein, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage zu stellen. Im Hinblick auf die Schicksalhaftigkeit könnte gerade die tradierte Ordnung als letztgültige erscheinen. So notwendig die Idee einer universellen Teilhabe an der Vernunft für die Menschenrechtsgeschichte rückblickend sein mag, in der Absetzung dieser von den subjektiven Meinungen der Masse wird auch eine ursprüngliche politische Erfahrung der Griechen, nämlich die, 356 357 358 359 360

Ebd., S. 24 f. Vgl. Tönnies: Der westliche Universalismus, S. 66. Vgl. ebd., S. 67 ff. Siehe auch Punt: Die Idee der Menschenrechte, S. 17. Vgl. Tönnies: Der westliche Universalismus, S. 67. Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 142 f.

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dass sich die Menschen eines vernünftigen Urteils im politischen Miteinander versichern müssen, übergangen. Insofern die »wahre Ordnung« erkannt, aber nicht gestaltet, verändert oder noch entdeckt werden kann, sind dem politischen Handeln deutliche Grenzen und Beschränkungen auferlegt. Es genügt, ganz im Sinne Platons, dass die Herrscher nach der Idee des Guten handeln und die Bürger zum Guten erziehen, um eine Harmonie im Ganzen der politischen Gemeinschaft zu gewinnen, so Pöschl. 361 Andererseits darf nicht übersehen werden, dass die Stellungnahmen »der« Stoiker zum politischen Handeln vielschichtig und verschieden sind. Die Ablehnung politischer Verantwortung bei Epiktet ist nur ein Extrembeispiel. Dagegen verpflichten Cicero und Seneca den Politiker dazu, sich für den Erhalt der res publica einzusetzen. Beide legitimieren den Widerstand gegen Tyrannen und ungerechte Herrscher. Für eine »Entdeckung der Menschenrechte« scheint nicht nur eine klare Differenzierung zwischen Recht und Ethik zu fehlen, sondern eine grundlegendere Voraussetzung menschenrechtlichen Denkens, nämlich die vollständige Verankerung der Vernunft im Subjekt als Vermögen und nicht außerhalb seiner selbst als ewig gültiges und unwandelbares Prinzip des Weltgeschehens. Welche Bedeutung hat vor diesem Hintergrund das stoische Denken für die modernen Menschenrechte? Worin werden über den erwähnten ethischen Gesichtspunkt hinaus, Beiträge zum Menschenrechtsdenken gesehen? In Kapitel I.1. wurde angemerkt, dass viele Autoren in der Stoa eine wesentliche philosophische Grundlage der Menschenrechtsidee erblicken. Oestreich betont z. B., dass die Stoa die Lehre von der Gleichheit der Menschen entwickelt hat, insofern alle Menschen die gleiche sittliche Zielsetzung haben und gleichberechtigte Teilhaber des λόγος sind. 362 Außerdem sei das Naturgesetz unveränderbar und Grundlage der Rechtsgestaltung. Cancik verbindet seine Darstellung des stoischen Kosmopolitismus mit einem wichtigen wirkungsgeschichtlichen Hinweis. 363 In Diderots Enzyklopädie, die Cancik zu »den unmittelbaren Quellen der französischen Menschenrechtserklärung«

361 Zum Anschluss des ciceronischen Staatsdenkens an das Platons vgl. Pöschl, Viktor: Römischer Staat und griechisches Staatsdenken bei Cicero. Untersuchungen zu Ciceros Schrift De re publica, Darmstadt 1990. 362 Vgl. Oestreich: Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, S. 16 ff. 363 Vgl. Cancik: »Gleichheit und Freiheit«, S. 194 ff.

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zählt, empfiehlt Diderot den Herrschenden am Schluss des von ihm verfassten Artikels über die Philosophie der Griechen Plutarchs Zenonzitat zum Weltbürgertum wahrzunehmen. Diderot schreibt: »Wir können dieses Stück nicht besser beschließen als mit einer Stelle aus Plutarch; sie zeigt, wie sehr Alexander seinem Lehrer [Aristoteles, d. Verf.] in der Politik überlegen war; sie spendet erhebliches Lob der gesunden Philosophie, und sie kann den Königen zur Lektüre dienen.« 364 Die Könige sollten demnach anerkennen, dass alle Menschen vernunftbegabt sind, die Welt eine fundamentale Verfassung hat und die Völker zu einer Menschheit vereint werden sollten. Zur Gleichheitsidee und dem Naturgesetz in Verbindung mit dem Personenkonzept Ciceros erklärt Cancik: »Dieses stoische ›Naturrecht‹ ist die philosophische Grundlage der Menschenrechte.« 365 Auch nach Kühnhardt ist das Gleichheitspostulat eine Entdeckung der Stoiker, das aber aufgrund einer Fehlkonstruktion des Naturrechts, politisch nicht habe wirksam werden können. 366 Kühnhardt bezieht sich auf Welzel, der erklärt: Soweit sie [die stoische Ethik und ihr Naturrecht] den Menschen von allen äußeren Mächten unabhängig stellen will, muß sie allen Wert in den Akt und den reinen Willen verlegen, der allein in unserer Hand steht, aber damit verfällt sie in den Rigorismus einer leeren Gesinnungsethik. Soweit sie aber dem Leben objektive Handlungsziele weisen will, tauchen mit den äußeren Gütern die »ersten naturgemäßen Dinge« und damit die ganz Vieldeutigkeit der empirischen Natur des Menschen wieder auf. Auf diese jedoch läßt sich keine objektive materiale Wertordnung gründen. So hängt das Naturrecht der Stoa bereits in seinem Ansatz in der Luft. 367

Im Gegensatz zu Schweitzer und Tönnies ist Welzel der Ansicht, dass der Rückgriff auf die empirische Natur verhinderte, dass die Stoiker material zu Aussagen von apriorischer Gültigkeit gelangen konnten. Die ideengeschichtliche Bedeutung des stoischen Naturrechts erklärt Welzel damit, dass die Stoiker die Stimme der Natur mit der Stimme des Gewissens identifizieren, welche nicht nur, wie Platon annahm, den Philosophen, sondern jeden dazu anhält, das Richtige zu tun. Böckenförde und Ishay 368 würdigen, dass die Stoiker als legitime

364 365 366 367 368

Zitiert nach ebd., S. 195. Ebd., S. 198. Vgl. Kühnhardt: Die Universalität der Menschenrechte, S. 43 f. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 45. Vgl. Ishay: The History of Human Rights, S. 25.

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Grundlage einer gesetzlichen Ordnung nur die Übereinstimmung mit dem universellen νόμος anerkennen. Die Veränderung des Nomosbegriffs und seine Verselbständigung gegenüber den geltenden nomoi unterwirft die bestehenden Gesetze einer Legitimationsnotwendigkeit außerhalb ihrer selbst, die über die Positionen von Platon und Aristoteles noch erheblich hinausgeht. Diese Gesetze haben ihren Maßstab und ihre Rechtfertigung in keiner Weise mehr in sich, weder aus der Art ihrer Entstehung noch aus einer durch Tradition vermittelten göttlichen Herkunft; ihre Verbindlichkeit, ihr Charakter als Recht hängt allein davon ab, daß sie mit dem vorgeordneten, aus sich geltenden Naturgesetz im Einklang stehen, sich aus ihm herleiten können. 369

Die Darstellung der stoischen Theorien in den vorausgehenden Kapiteln ergab, dass die Beurteilungen der Sekundärliteratur bezüglich der Weiterentwicklung des Naturrechtsdenkens zutreffen. Die Einschränkungen im Hinblick auf die mangelnde apriorische Gültigkeit des Naturrechts, das individuelle Freiheitsverständnis, den ciceronischen Personbegriff, die später abnehmende Kritik an der Sklaverei oder die schwache Ausbildung des Würdegedankens sind meines Erachtens Indizien für die Schwierigkeit, zu einer Vorstellung vom Menschen als vernunftbegabtem Individuum zu gelangen. In Kapitel IV.2.2. wurde die These vertreten, dass Aristoteles den individuellen Menschen nicht in Betracht zieht, weil die Menschen für das Ganze ὕλη, also »unbestimmt« sind. Die Berücksichtigung des Einzelnen wird ausdrücklich abgelehnt. »Man darf auch nicht meinen, daß irgendein Bürger sich selber angehöre, sondern man sei überzeugt, daß sie alle dem Staat angehören, da jeder ein Teil von ihm ist und die Sorge für den Teil immer die Sorge für das Ganze zu berücksichtigen hat.« 370 Die Unbestimmtheit bleibt das Kennzeichen der ὕλη, auch wenn diese näher dadurch charakterisiert wird, dynamisch, als Möglichkeit zu sein, denn für Aristoteles ist die Wirklichkeit »früher« als die Möglichkeit. Da Aristoteles mit der Unterscheidung von ἐνέργεια und δύναμις erst den Denkhorizont eröffnet hat, welcher es der späteren Philosophie erlaubte, auch zwischen Sein und Sollen zu differenzieren, war behauptet worden, dass eine Kritik seines politischen Denkens vor dem Hintergrund dieser Differenz problematisch ist. In der stoischen Ontologie wird nun die ὕλη als das eigentliche Sein des Seienden betrachtet und das Mögliche als Anlage und Natur gegen369 370

Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 142. Aristot. pol. 1337a.

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über dem Wirklichen somit aufgewertet. Nicht allein durch die Krise der Polis angesichts der Ausbreitung antiker Großreiche wurde die Identifizierung von glückseligem und politischem Leben in Frage gestellt, sondern auch deshalb, weil das Mögliche als etwas Seiendes latent bestimmbar wird. Der einzelne Mensch ist somit nicht mehr wie bei Aristoteles unbestimmbar und das ethische Dasein ist nicht mehr prinzipiell an das politische Leben gebunden. In den Schulen der hellenistischen Philosophie entdeckt sich der Mensch erstmalig als unabhängiges, selbstbezügliches und zur Glückseligkeit fähiges Wesen. Aristoteles hätte nie behaupten können, dass die Eudaimonie auch unter der Bedingung eines widrigen Schicksals erreicht werden kann. 371 Die Stoiker erklären dagegen, dass das Glück etwas ist, das im Möglichkeitsbereich des einzelnen Menschen liegt. Das als ἡγεμονικόν bezeichnete seelische Vermögen stellt sicher, dass einem Menschen nichts geschehen kann, wozu nicht auch die eigene Zustimmung (συγκατάθεσις) erteilt wird. Wenn der Einzelne sich folglich auf das besinnt, worüber er wirklich verfügt – nämlich auf das, »was von uns ausgeht« – kann ihm kein Schaden zugefügt werden. Im epikureischen und stoischen »Individualismus« wird das Subjekt erstmalig als souveräne Instanz greifbar. Es kann über gewisse Dinge unabhängig von äußeren Einflüssen frei bestimmen. In diesem Sinne sagt Epiktet, dass nicht einmal Zeus Macht über den menschlichen Willen (προαίρεσις) hat. Diese ersten Nachforschungen zum Willensphänomen sind eine wesentliche Voraussetzung für den neuzeitlichen Siegeszug der Willensmetaphysik, keinesfalls handelt es sich aber schon um Zeugnisse einer solchen Metaphysik, deren Grundlagen bspw. von Schelling in der Gleichsetzung von Wille und Sein erkannt wurden. 372 Während die Stoiker annehmen, dass der Mensch nur über Weniges verfügt und die Natur unveränderbar ist, erscheint diese dem modernen Subjekt als ein berechen- und manipulierbarer Gesamtzusammenhang. In der Neuzeit macht das Denken die Subjektivität des Subjekts aus, die Stoiker ringen dagegen darum, im Menschen überhaupt etwas Subjektives jenseits der verursachenden, aktiven Natur – als dem eigentlichen »Subjekt« – zu lokalisieren. Auch wenn die Epikureer und Stoiker die Tür zu einer individualistischen Subjektkonzeption nur einen Spalt weit geöffnet haben und die 371 Priamus z. B. habe aufgrund der Schicksalsschläge am Schluss seines Lebens nicht glücklich sein können. Vgl. Aristot. eth. Nic. I, 11, 1101a. 372 Vgl. Kap. III.2.

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erkenntnistheoretischen und ontologischen Begründungen teilweise inkonsistent zu sein scheinen, belegt z. B. die kosmopolitische Lehre Zenons, dass diese Umdeutungen von Anfang an mit einem enormen gesellschaftskritischen Impuls einhergingen. Die hellenistischen Philosophien schließen primär keineswegs an vorsokratische Denkrichtungen an. Sie kommen nicht umhin, die durch die Ideenlehre und die aristotelische Metaphysik der Bewegung eröffnete metaphysische Grundstellung zu übernehmen. Die dabei entstandenen Missverständnisse waren gewiss produktiver als das akademische und peripatetische Epigonentum.

3.

Vom ius civile zum ius gentium als das »allen Menschen zukommende Recht«

Bezüglich der Gesellschaftskritik bei Zenon war angemerkt worden, dass deren Radikalität in der späten Stoa nicht erhalten blieb. Wenn darüber hinaus berücksichtigt wird, dass das Subjekt gerade erst begonnen hat, sich in einem sehr begrenzten Sinne unabhängig von den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen zu betrachten – die aufkeimende Idee eines moralischen Fortschritts aber weit entfernt davon ist, die Menschheit oder ein Volk zum Subjekt zu haben – dann wird verständlicher, weshalb es unergiebig ist, von den Stoikern eine revolutionäre Umwälzung der gesellschaftlichen Ordnung oder entsprechende egalitäre Forderungen an die Rechtsordnung zu erwarten. 373 Im Folgenden werde ich kurz auf die römische Rechtsentwicklung eingehen, die sich laut Tönnies weitestgehend unabhängig von den Einflüssen stoischer Lehren vollzog. 374 Cancik vermutet dagegen, dass es schon im 2. Jahrhundert v. d. Z. Verbindungen zwischen römischer Rechtsprechung und stoischer Rechtsphilosophie gegeben haben könnte. 375 Feststeht, dass das Interesse der Juristen, das Recht philosophisch zu begründen und das Rechtssystem weiter zu rationalisieren, bis zur Kaiserzeit stark zugenommen hatte. 376

373 Zu der These, dass die Revolution ein ausschließlich modernes Phänomen ist vgl. Arendt: Über die Revolution. 374 Vgl. Tönnies: Der westliche Universalismus, S. 71–81. 375 Vgl. Cancik: »Gleichheit und Freiheit«, S. 202. 376 Vgl. Honoré, Tony: Ulpian. Pioneer of Human Rights, 2. Aufl., Oxford 2002, S. 76–93.

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Die römische Rechtsentwicklung zeichnet sich durch ein Prinzip aus, das sowohl das ius civile als auch das ius gentium bestimmt. Beide Rechtsformen dienten auf unterschiedliche Weise der Schaffung dauerhafter Bindungen zwischen ehemals verfeindeten Parteien – zwischen Patriziern und Plebejern 377, Römern und anderen italischen Städten und Stämmen sowie Bürgern und Nicht-Bürgern. Gesetzgebung und Verträge vereinigten die ehemaligen Kontrahenten nicht, um deren spezifische Unterschiede aufzuheben oder zu schlichten, sondern um der Beilegung der Feindschaft willen. Die Unterschiede blieben gewahrt oder wurden durch die Gesetze teilweise noch betont. Schon das Zwölftafelgesetz (ca. 450 v. d. Z.) verbot bspw. Eheschließungen zwischen Patriziern und Plebejern. 378 Und auch wenn die einzelnen Bestimmungen der Zwölftafeln, ähnlich den Gesetzen Drakons, von einer gewissen Härte zeugen mögen, ersetzten sie die willkürliche Rechtsprechung der patrizischen Magistrate durch eine gesetzlich verbindliche. Verbindlichkeit kann auch dann als Fortschritt in der Rechtsprechung gelten, wenn die rechtlichen Sanktionen gleichermaßen scharf bleiben, weil sich fortan auch die Mächtigen an das Gesetz halten müssen. 379 Schon Aristoteles merkt an, dass »es wünschenswerter [ist], daß das Gesetz herrsche, und nicht irgendein einzelner Bürger.« 380 Die Gesetzgebung wurde durch die Römer zum Bestandteil der politischen Praxis, zur »öffentlichen Angelegenheit«, res publica. Um die Bedeutung des römischen Rechtsverständnisses deutlicher hervorzuheben, erscheint es mir sinnvoll, dieses vorab kurz mit dem griechischen zu kontrastieren und anschließend anhand einiger Beispiele aus der römischen Politik und Jurisprudenz eingehender darzustellen. Was bei den Griechen als vorpolitische Tätigkeit verstanden wurde, die von einem Gesetzgeber ausgeführt werden konnte, der nicht einmal Bürger der Stadt zu sein brauchte, war bei den Römern eine wesentlich politische Tätigkeit. Für die Griechen musste die GesetzDer Begriff populus bezieht sich auf die gesamte Bürgerschaft, die plebs ist einen Teil davon, wobei vorrangig nicht die sozialen Verhältnisse den Unterschied zu den patricii ausmachen, sondern der politisch-rechtliche Status. Vgl. Jehne, Martin: »Das Volk als Institution und diskursive Bezugsgröße in der römischen Republik«, in: Lundgreen (Hg.): Staatlichkeit in Rom?, S. 118 f. 378 Vgl. Chiusi: »Das Bild des Fremden in Rom«, S. 69 f. 379 Vgl. Söllner, Alfred: Einführung in die römische Rechtsgeschichte, 3., überarb. Aufl., München 1985, S. 34. 380 Aristot. pol. III, 16, 1287a. 377

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gebung vollzogen worden sein, bevor das politische Handeln sich in ihrem Rahmen entfalten konnte. Heraklit vergleicht die Gesetze mit den Mauern einer Stadt. 381 So wie die Mauer die Stadt klar umgrenzt und als ein Ganzes erscheinen lässt, lassen die Gesetze die politische Verfasstheit der Bürger erkennbar werden. Sie sind mehr Voraussetzung als Gegenstand der Politik, insofern wäre eine Ausdehnung der gesetzgeberischen Tätigkeit auf die Verhältnisse zu anderen Völkern oder Poleis für die Griechen undenkbar gewesen. Im Falle der Gründung einer Kolonie musste ein Gesetzgeber, der »Nomothet«, vorerst die Gesetze festlegen, bevor der neue politische Bereich erschlossen war. Auch aus der kurzfristigen Einigkeit der Spartaner und Athener samt der zu ihnen in Abhängigkeit stehenden Poleis im Kampf gegen die Perser ging keine politische, auf einem gesetzlichen Vertrag basierende Einheit hervor. Der attische Seebund erwies sich als ein Zwangsverhältnis von Schutz und Gehorsam und nach dem Sieg über die Perser waren die Poleis schon bald wieder in ihre gewohnten Machtkämpfe verstrickt. Der Ausspruch »daß im menschlichen Verhältnis Recht gilt bei Gleichheit der Kräfte, doch das Mögliche der Überlegene durchsetzt, der Schwache hinnimmt« 382, den Thukydides den Athenern im Melierdialog in den Mund legt, kann als Paradigma der griechischen »Außenpolitik« verstanden werden. Verträge, die zwischen den Poleis vereinbart wurden, erreichten nie den Grad an Verbindlichkeit, den die römische Rechtsordnung garantierte. Sie ist nach Cicero das primäre Wesensmerkmal des Gemeinwesens (res publica): »›Es ist also‹, sagte [Scipio] Africanus, ›das Gemeinwesen die Sache des Volkes, ein Volk aber nicht jede irgendwie zusammengescharte Ansammlung von Menschen, sondern die Ansammlung einer Menge, die in der Anerkennung des Rechtes (iuris consensu) und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist.‹« 383 Wie bereits gezeigt wurde, bildet auch die Menschheit eine Gemeinschaft, die durch eine eigene Rechtsordnung, dem Naturgesetz (lex natura), zusammengehalten wird und jedem Menschen einen bürgerrechtsähnlichen Status verleiht. Marc Aurel bestätigt diesen Gedanken unter Berufung auf das allen Menschen gemeinsame Vernunftvermögen:

381 382 383

Vgl. Herakl. B 44. Thuk. V, 89. Cic. rep. I, 25 (39).

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Wenn uns das Denkvermögen gemeinsam ist, dann ist uns auch die Vernunft, durch die wir vernünftig sind, gemeinsam. Wenn dies zutrifft, dann ist auch die Vernunft, die bestimmt, was zu tun ist oder nicht, uns allen gemeinsam. Trifft dies zu, so ist auch das Gesetz uns allen gemeinsam. Wenn dies richtig ist, dann sind wir alle Bürger. In diesem Falle haben wir teil an einer Art von Staatswesen. Wenn dies zutrifft, dann ist der Kosmos gewissermaßen ein Staat. 384

In der Unfähigkeit, politisch-rechtliche Formen der Verbindlichkeit über den Stadtbereich hinaus zu etablieren, sieht schon Polybios im 2. Jahrhundert v. d. Z. einen Grund für das Scheitern der griechischen Stadtstaaten. Für den Griechen ist die römische Machtentfaltung ein Paradox, denn Rom hatte sich nicht wie die anderen Gemeinwesen je nach Verfassung besser oder schlechter entwickelt. Die nach Polybios’ Ansicht beste Verfassung war »nicht durch theoretische Einsicht, sondern unter vielen Schwierigkeiten und Kämpfen« eingerichtet worden. 385 Er weist auch darauf hin, dass der Vorzug der römischen Verfassung vor der vielfach gelobten Verfassung Spartas darin besteht, die Politik gegenüber Unterworfenen gewissen Regeln unterworfen zu haben. 386 Auch für Kaiser Claudius unterschieden sich Römer und Griechen vor allem im Hinblick auf ihr Verhalten gegenüber den Unterworfenen. 387 Die römische Geschichte als Geschichte politischer Zusammenschlüsse beginnt mit der Gründung. Fremde sind es, die den ersten Grundstein für die ewige Stadt legten, so erzählen es die ersten Verse von Vergils Aeneis. 388 Livius berichtet, dass Aeneas mit dem einheiM. Aur. IV, 4. Vgl. Pol. VI, 10. 386 Vgl. ebd., VI, 48–50. Von konkreten Normen ist nicht die Rede, aber der Textstelle lässt sich entnehmen, dass Regeln oder Verhaltensweisen gemeint sein müssen, insofern es Aufgabe der Gesetzgebung sei, für die Hegemonie vorzusorgen. 387 »Auch weiß ich genau, daß die Julier aus Alba, die Coruncanier aus Camerium, die Porcier aus Tusculum, daß ferner, um nicht erst in der alten Geschichte nachzuforschen, Familien aus Etrurien, Lukanien, überhaupt aus ganz Italien in den Senat berufen wurden, ja daß Italien selbst bis an die Alpen vorgeschoben wurde, so daß nicht bloß einzelne Männer, sondern ganze Landschaften und Stämme zu einem einheitlichen römischen Volk zusammenwuchsen. […] Was wurde denn den Lacedämoniern und den Athenern trotz ihrer kriegerischen Erfolge zum Verhängnis? Nichts anderes, als daß sie die Unterworfenen als fremdstämmig von sich fernhielten. Der Gründer unseres Reiches, Romulus, war dagegen so weise, daß er sehr viele Völkerschaften, die eben noch unsere Feinde waren, am gleichen Tage zu Mitbürgern machte.« Tac. ann. XI, 24, 2, 4. 388 Verg. Aen. I, 1, 1–7. 384 385

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mischen König Latinus ein Verwandtschaftsbündnis schließt. 389 Aeneas vereinigt schließlich die Völker der Troianer und Aboriginer unter dem Namen Latiner. Von Aeneas stammt Rhea Silvia ab, die Mutter der legendären Stadtgründer Romulus und Remus. Romulus fasst den Beschluss, die Sabinerinnen zu rauben. Die Fehden mit den Nachbarstädten enden jeweils damit, dass die Gemeinwesen fusioniert oder Bürgerrechte an die Unterworfenen verliehen werden. Den Zusammenschluss mit den Sabinern kommentiert Livius schlicht mit: »Sie schlossen nicht nur Frieden, sondern vereinigten auch die beiden Völkerschaften zu einer (civitatem unam ex duabus faciunt).« 390 Auch die Fehde zwischen Horatiern und Curiatiern endet damit, dass das Volk von Alba nach Rom überführt wird und das Bürgerrecht erhält. »[E]ine gemeinsame Stadt und ein gemeinsames Staatswesen […] schaffen (unam urbem, unam rem publicam facere)« 391, schreibt Livius. Die neuen Bürger stellen Senatoren und können die Königsherrschaft erringen. Mit Titus Tatius, einem Sabiner, teilt sich Romulus kurzfristig die Herrschaft. Numa war ebenfalls Sabiner. Servius Tullius scheint dem Namen nach etruskischer Herkunft zu sein. Ancus Marcius stammt von Numa ab. Tarquinius Priscus war Etrurier, sein Vater soll aus Korinth zugewandert sein. 392 Livius beschreibt den Gründungsmythos Roms als eine Geschichte politisch-rechtlicher Gemeinschaftsbildungen mit Fremden. Darin spiegelt sich bis zu einem gewissen Grad sicherlich die augusteische Weltanschauung vom einheitlich geordneten Weltreich wider. 393 Das Motiv der politisch-rechtlichen Integration wird jedoch auch von anderen Autoren als ein spezifisch römisches hervorgehoben. So erklärte Cicero in einem Brief an seinen Bruder, dass über »das allgemeine Vertrauensverhältnis hinaus, das wir allen schulden«, insbesondere den Griechen für die überlieferten wissenschaftlichen Errungenschaften Vertrauen (fides) geschuldet werde. Mit »Vertrauen« ist fides nur unzureichend übersetzt. Cicero bekundet nicht nur seine Hochschätzung für die griechische Kultur oder appelliert an die persönlichen Tugenden des Bruders, sondern spricht an, was den Zusammenhalt der Völker und Bürger in einem Reich überVgl. Liv. I, 1, 6 ff. Ebd., I, 13, 4. 391 Ebd., I, 28, 7. 392 Vgl. ebd., I, 13, 5; I, 18, 5; I, 32, 1; I, 34, 2. 393 Vgl. Kienast, Dietmar: Augustus. Prinzeps und Monarch, 3., durchges. u. erw. Aufl., Darmstadt 1999. 389 390

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haupt zu stiften vermag, nämlich fides im Sinne der Treuepflicht zu Gesetzen und Verträgen. 394 Kein Recht kann bestehen, wenn die ihm Unterworfenen nicht glauben, dass ihre Fälle darunter subsumiert werden können. Auch Vergil sieht in der Stiftung rechtlicher Verhältnisse zwischen den Völkern die eigentliche Quelle römischer Macht. »Du regierst durch die Macht (imperio) die Völker, Römer, gedenke – dies wird dir Kunst sein: durch Frieden Recht zu gebieten, die sich Ergebenden zu schonen, die Hochmütigen niederzuwerfen.« 395 Das römische Recht erfuhr im Zwölftafelgesetz 396 (lex duodecim tabularum) eine einmalige, umfassende Kodifikation. Es blieb formell bis zum Gesetzgebungswerk des oströmischen Kaisers Justinian – also ca. ein Jahrtausend lang – gültig, obwohl seine Bestimmungen in späterer Zeit kaum noch zur Anwendung kamen. 397 Andere Rechtsvorschriften sind Gesetze, Plebiszite, Senatsbeschlüsse oder magistratische sowie kaiserliche Erlasse. Entscheidend ist, dass mit dem Zwölftafelgesetz der Bereich des Rechts (ius) erstmalig in aller begrifflichen Schärfe umrissen und vom Bereich des Sittlichen (mos maiorum) und des Sakralen geschieden wurde. 398 Mit der Aufhebung des Eheverbots zwischen Patriziern und Plebejern sowie der Zulassung plebejischer Kandidaten zu den höheren Magistraturen durch die lex Canuleia (445) waren schließlich die größten sozialen Hürden für die Rechtsgleichheit aller Bürger überwunden. 399 Laut Livius hat das Gesetz »für alle, hoch wie niedrig, gleiche Rechtsbestimmungen geschaffen«. 400 Die Rechtsbeständigkeit wurde 449 vermutlich durch 394 Liebs merkt dazu an: »Wenn ein traditionsbewusster Römer etwas auf seine fides genommen hatte, konnte man sicher sein, dass er es einhalten würde. Das galt sowohl bei Schutzzusagen, etwa bei Begründung eines Patronats gegenüber dem Klienten oder nach einem militärischen Sieg Roms gegenüber der sich in die fides des Siegers ergebenden Stadt, als auch bei schlichten Leistungszusagen unter Partnern eines Vertrags, unter Bürgern ebenso wie mit Nichtbürgern.« Liebs, Detlef: »Das Rechtswesen der römischen Republik«, in: Lundgreen (Hg.): Staatlichkeit in Rom?, S. 244. 395 Verg. Aen. VI, 851–853 (Übers. aus Chiusi: »Das Bild des Fremden in Rom«, S. 64, Anm. 14.). 396 Das Zwölftafelgesetz ist nur bruchstückhaft überliefert, eben so weit, wie sich aus späteren verstreuten Quellen einige wenige Satzungen den Zwölftafeln zuweisen lassen. Vgl. Flach, Dieter: Das Zwölftafelgesetz, Darmstadt 2004. 397 Vgl. Dulckeit, Gerhard/Schwarz, Fritz/Waldstein, Wolfgang: Römische Rechtsgeschichte, 6., neu bearb. Aufl., München 1975, S. 47. 398 Vgl. ebd., S. 40 f. 399 Vgl. ebd., S. 47. 400 Liv. III, 34, 3.

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eines der leges Valeriae Horatiae gesichert, indem die Einsetzung eines Magistrats mit Gesetzgebungsbefugnissen für Rom selbst verboten wurde. Hintergrund dieser Bestimmung ist, dass den Dezemvirn, die die Gesetze ausarbeiten sollten, nicht nur die Gesetzgebungsgewalt, sondern die gesamte Regierungsgewalt übertragen worden war, damit die Ausarbeitung der Gesetze ungestört vor sich gehen konnte. Die in der zweiten Wahl ernannten Zehnmänner, die die letzten zwei Tafeln entwarfen, traten von der Regierungsgewalt aber nicht zurück, sondern errichteten eine Diktatur, die nach kurzer Zeit – folgt man Livius, dann vor allem aufgrund des massiven Widerstandes der Plebejer 401 – wieder gestürzt wurde. Diese Erfahrung zeigte deutlich, dass zum Schutz einer »Verfassung« der Grundsatz gehört, dass niemand mit Vollmachten ausgestattet werden darf, die die vollständige Aushebelung der Verfassung ermöglichen. Erst Sulla war – als die Republik sich ihrem Ende näherte – wieder mit vergleichbaren Vollmachten legibus scribundis et rei publicae constituendae ausgestattet worden. 402 Unabhängig davon, wie roh, wenig systematisch und letztlich auf die Bedingungen eines städtischen Bauernstaates zugeschnitten das Zwölftafelgesetz auch war, blieb es doch als eine Art »Grundgesetz« im römischen Recht erhalten 403 und kann – zusammengenommen mit den Bestimmungen der lex Canuleia – als erster Sieg der Plebejer für politische Gleichberechtigung betrachtet werden. 404 Wie oben bereits erwähnt, kommt es weniger auf die einzelnen Bestimmungen der Zwölftafeln an als auf Rechtsverbindlichkeit. »Die Beschränkung des Rechtsstoffs auf eine Zusammenfassung der Normen, die für das Recht des einzelnen Bürgers […] maßgebend waren,

Vgl. ebd., III, 44–49. Vgl. Dulckeit/Schwarz/Waldstein: Römische Rechtsgeschichte, S. 48. 403 Livius bezeichnet das Zwölftafelgesetz als »Quelle alles öffentlichen und privaten Rechts«: fons omnis publici privatique iuris. Liv. III, 34, 6. 404 Vgl. Dulckeit/Schwarz/Waldstein: Römische Rechtsgeschichte, S. 49 f. Die innenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Patriziern und Plebejern hielten an. Erst im Laufe der Zeit errangen die Plebejer auch den Zugang zu den Ämtern der Quästur und des Konsulats sowie zum Senat. Mit den leges Liciniae Sextiae (367 v. d. Z.) wurde festgelegt, dass jeweils ein Plebejer und ein Patrizier das Konsulat bekleiden sollten. Dem so genannten »Ständekampf« wurde 287 v. d. Z. mit der lex Hortensia ein Ende gesetzt. Das Gesetz legte fest, dass die Beschlüsse der Volksversammlung auch für die Patrizier bindend sind. Vgl. Ebel, Friedrich/Thielmann, Georg: Rechtsgeschichte. Von der Römischen Antike bis zur Neuzeit, 3., neu bearb. Aufl., Heidelberg 2003, S. 18. 401 402

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läßt an den Zweck des Gesetzes erinnern: Es sollte vor allem den sozial Schwachen Schutz vor Willkür bei der Rechtsfindung bieten.« 405 Delikte und Verbrechen sind nur dann strafbar, wenn ein Gesetz vorliegt, das den Straftatbestand festlegt – sine lege nulla poena, in den Worten des Rechtsgelehrten Feuerbach. In den Digesten heißt es: »Eine Strafe wird nicht verhängt, außer wenn sie im Gesetz oder in irgendeiner anderen Rechtsvorschrift für diese Straftat besonders angedroht ist.« 406 Dieser rechtsstaatliche Grundsatz wird in Artikel 11 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte folgendermaßen formuliert: »Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine schwerere Strafe als die zum Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden.« 407 Mit der Schaffung des römischen Rechts werden rechtsstaatliche Grundsätze formuliert, die in der abendländischen Geschichte immer wieder aufs Neue erkämpft werden mussten. Die Freiheitsrechte bilden bekanntlich die so genannte erste Generation der Menschenrechte. Das Prozessrecht der ersten Tafel bestimmt, dass die Ladung vor Gericht Sache des Klägers ist. 408 Anklage und Verteidigung erfolgen im Vortragen wörtlich genau festgelegter Prozessformeln vor dem Prätor. 409 Damit wird bereits durch das Verfahren sichergestellt, dass beide Seiten angehört werden. Auch hierbei handelt es sich um einen rechtsstaatlichen Grundsatz – audiatur et altera pars, der Anspruch auf rechtliches Gehör, der in Artikel 10 der Allgemeinen Erklärung aufgegriffen wird: »Jeder hat bei der Feststellung seiner Rechte und Pflichten sowie bei einer gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Beschuldigung in voller Gleichheit Anspruch auf ein gerechtes und öf-

405 Meder, Stephan: Rechtsgeschichte. Eine Einführung, 3., überarb. u. erg. Aufl., Köln Weimar Wien 2008, S. 16. 406 Dig. 50, 16, 131, 1: poena non irrogatur, nisi que quaque lege vel quo alio iure specialiter huic delicto imposita est 407 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, Art. 11, Abs. 2. Vgl. Art. 103 Abs. 2 des GG. 408 »Wenn er [der Kläger] vor Gericht lädt, soll er [der Beklagte] gehen. Wenn er [der Beklagte] nicht geht, soll er [der Kläger] sich nach einem Zeugen umtun. Alsdann soll er [der Kläger] ihn (zum Zeugen) nehmen.« (Ergänzungen in Klammern von Flach) Vgl. Flach: Das Zwölftafelgesetz, I, 1., S. 37. 409 Vgl. Gai. inst. IV, 30.

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fentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht.« 410 Es sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass die parallele Darstellung von römischem Recht und moderner Menschenrechtserklärung nicht dazu dient, einzelne Menschenrechte bereits in der Antike zu verorten. Die Diskrepanzen, bspw. in der Geltungsweite zwischen einem römischen Vollbürger und »jedem Menschen«, lassen sich nicht aufheben – ganz zu schweigen von der strafrechtlich ungleichen Behandlung von Plebejern und Patriziern. Den »antiken Menschenrechten« 411 fehlt auch der mit der Allgemeinen Erklärung verbundene Anspruch der Unteilbarkeit. Demnach kann von »Menschenrechten« nur dann gesprochen werden, wenn die Rechte in ihrer Gesamtheit gültig sind. Die Parallelisierung bezieht sich auf rechtsstaatliche Grundsätze, die sowohl in den justiziellen Menschenrechten als auch im römischen Recht zum Ausdruck kommen. Ein weiterer rechtsstaatlicher Grundsatz schreibt vor, dass ein Gesetz erst dann verbindlich ist, wenn es öffentlich bekannt gemacht worden ist: lex non obligat nisi promulgata, »Ein Gesetz bindet nur, wenn es verkündet ist.« 412 Auch im Hinblick auf diesen Grundsatz scheint bereits das Zwölftafelgesetz vorbildlich gewesen zu sein. Livius berichtet, dass die ersten zehn Tafeln öffentlich ausgehängt wurden, damit das versammelte Volk sie zur Kenntnis nehmen und Verbesserungen vorschlagen konnte. 413 Hiernach sei das Gesetz durch die Kenturiatskomitien ratifiziert worden. Unabhängig von der Frage, ob es sich bei den Zehntafeln mehr um ein Volksgesetz (lex rogata) oder ein erlassenes Gesetz (lex data) handelt, kann angenommen werden, dass der Inhalt allgemein bekannt gemacht worden ist. Nach dem Sturz der zweiten Dezemviri, so Livius, wurden die Gesetzesbestimmungen in bronzene Tafeln eingraviert und öffentlich ausgestellt. 414 Auch neue Gesetze und Senatsbeschlüsse wurden bekannt gemacht,

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, Art. 10. Vgl. Art. 103 Abs. 1 des GG. 411 Von »antiken Menschenrechten« spricht bspw. Siewert: »Antike Parallelen zu der UNO-Menschenrechtsdeklaration von 1948«, S. 135 f. 412 Liebs, Detlef: Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 7., vollst. überarb. u. verb. Aufl., München 2007, S. 123. 413 Vgl. Liv. III, 34, 1–6. 414 Vgl. ebd., III, 57, 10. 410

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indem die Texte allerorts öffentlich ausgestellt oder an Markttagen vorgelesen wurden. 415 Die politisch-rechtliche Integration der Unterworfenen erfolgte auf unterschiedliche Weise. 416 Den benachbarten latinischen Gemeinden und angrenzenden mittelitalischen Städten wurde das volle Bürgerrecht zugestanden. Die Bürger konnten direkt an der Politik in Rom teilnehmen, ihre Städte wurden von Rom aus verwaltet. Nur die niederen Verwaltungsaufgaben oblagen örtlichen Beamten, bspw. römischen Präfekten. Die meisten weiter entfernt liegenden italischen Städte behielten eine volle oder beschränkte Souveränität und waren zur Waffenhilfe verpflichtet. Sie wendeten ihr eigenes ius civile an und waren mit Rom lediglich durch das völkerrechtliche Verhältnis der Bundesgenossenschaft verbunden. Unterschiede im bundesgenössischen Verhältnis ergaben sich aus dem jeweils zugrunde liegenden Vertrag (foedus), der zwischen gleichwertigen oder ungleichen Partnern (aequum oder iniquum) geschlossen werden konnte. 417 Die Bundesgenossen besaßen aber weder das römische Eheschließungsrecht (conubium), die Fähigkeit, Manzipationen 418 wirksam abzuschließen (commercium) noch das Recht, nach Rom überzusiedeln, um das römische Bürgerrecht zu erlangen (ius migrandi) . 419 Trotz ihrer Waffenhilfe im Krieg waren sie politisch und ökonomisch im Vergleich zu einem römischen Vollbürger stark benachteiligt – eine Lage, die für die Bundesgenossen schließlich unerträglich wurde. Rechtlich folgte die seit 268 bestehende italische Wehrgenossenschaft also weiterhin dem stadtstaatlichen Prinzip. Eine Wende ergab sich erst mit dem Bundesgenossenkrieg von 91– 89. 420 Der Volkstribun Livius Drusus, dessen Reformpläne die Verleihung des Bürgerrechts an die Bundesgenossen vorgesehen hatten, wurde von den Optimaten ermordet. Daraufhin brach bei den Bundesgenossen ein Aufstand aus. Im Kriegsverlauf gewannen die Römer erst wieder die Oberhand, als sie denen, die treu geblieben waren und denjenigen, die bereit waren, die Waffen niederzulegen, das geforderte Bürgerrecht (leges Iulia et Plautia Papiria) zugestanden. Aus dem Vgl. Giovannini: »Die Rechtsprechung im alten Rom«, S. 49 f. Vgl. Dulckeit/Schwarz/Waldstein: Römische Rechtsgeschichte, S. 113 ff. 417 Vgl. ebd., S. 113 f. 418 Damit sind Kaufgeschäfte gemeint, die sich auf bestimmte Gegenstände (Sklaven, Grundstücke in Italien, Lasttiere usw. beziehen. 419 Vgl. Dulckeit/Schwarz/Waldstein: Römische Rechtsgeschichte, S. 116. 420 Vgl. ebd., S. 117 415 416

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römischen Stadtstaat war ein Staatsverband gebildet worden, der sich von der Straße von Messina bis zum Po erstreckte. Die neuen Bürger wurden in Rom über alle 35 Tribus verteilt und waren stimmberechtigt. 421 Den Bewohnern Oberitaliens wurde mit der lex Pompeia de Transpadanis (89) das latinische Recht verliehen, das als eine Art Vorstufe zum römischen Bürgerrecht betrachtet werden kann. 422 Eine derartige Verbreitung des Bürgerrechts eines Gemeinwesens war in der Antike bis dahin beispiellos. Zur Zeit der Republik wurde das römische Bürgerrecht noch nicht an Fremde (peregrini), also Provinzbewohner, verliehen. Die Fremden behielten vielfach ihre eigenen Rechte 423 und Verwaltungsstrukturen bei. Versklavung oder Vertreibung drohte den Unterworfenen aber in der Regel nicht. Vielmehr erhielten sie einen ähnlichen Status wie ihn zuvor auch die italischen peregrini dediticii innehatten. 424 Zu den geopolitischen Folgen einer zunehmenden Ausdehnung des römischen Reiches gehören die Probleme einer komplexer werdenden Vielvölkergesellschaft. Diese Probleme forderten auch zu Veränderungen in der Rechtslandschaft auf, deren bedeutsamstes Produkt das ius gentium, das jedem zukommende Recht bzw. das Recht der Völker war. Mit dem Wort ius gentium wurde sowohl das privatrechtliche Verhältnis zwischen Einzelpersonen als auch das zwischenstaatliche Recht bezeichnet. In der ersten Bedeutungsdimension wird es vor allem von römischen Juristen, in der zweiten von den Geschichtsschreibern gebraucht. 425 Das ius gentium war bei den Juristen ein »commune omnium hominum ius«, also ein gemeinsames Recht aller Menschen. Aufschluss darüber gibt Gaius’ Schrift Institutiones, die im 2. Jahrhundert n. d. Z. entstand: Alle Völker, welche durch Gesetz und Sitten geleitet werden, wenden zum Teil ihr Sonderrecht, zum Teil das gemeinsame Recht aller Menschen an. Was nämlich ein jedes Volk sich selbst als Recht gesetzt hat, ist sein eigenes Vgl. ebd. Vgl. ebd. 423 Umstritten ist, in welchem Umfang dies möglich war. Vgl. Wieacker, Franz: Römische Rechtsgeschichte. 2. Abschnitt: Die Jurisprudenz vom frühen Prinzipat bis zum Ausgang der Antike im weströmischen Reich und die oströmische Rechtswissenschaft bis zur Justinianischen Gesetzgebung. Ein Fragment, [Handbuch der Altertumswissenschaft X, 3, 1, 2]. Wolf, Joseph Georg (Hg.), München 2006, S. 161. 424 Vgl. Dulckeit/Schwarz/Waldstein: Römische Rechtsgeschichte, S. 118 f. 425 Vgl. Kaser, Max: Ius gentium, Köln Weimar Wien 1993, S. 10 f. 421 422

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Sonderrecht und heißt »bürgerliches Recht« (ius civile), sozusagen als das Sonderrecht der Bürgerschaft; was aber die natürliche Vernunft für alle Menschen festgesetzt hat, das wird bei allen Völkern in gleicher Weise beachtet und heißt »Völkergemeinrecht« (ius gentium), sozusagen als ein Recht, das alle Völker anwenden. Somit wendet das römische Volk zum Teil sein Sonderrecht, zum Teil ein allen Menschen gemeinsames Recht an. 426

Im Sinne eines ius inter nationes wird der Begriff »ius gentium« erstmalig bei Sallust verwendet. Allerdings schließt das ius gentium als zwischenstaatliches Recht nicht alle Völker (nationes) ein, im Gegensatz zum commune omnium hominum ius, sondern nur diejenigen Völker, die eine stabile politische Organisation aufweisen, so dass völkerrechtliche Beziehungen durch Gesandtschaften und Staatsverträge unterhalten und rechtmäßige Kriege geführt werden können. 427 In einem völkerrechtlichen Verhältnis stand Rom nicht nur zu Gemeinwesen, die außerhalb des Imperium Romanum lagen, sondern ebenso zu unterworfenen Völkern, denen durch einen Friedensvertrag eine gewisse Autonomie geblieben war. Dies galt vor allem für einzelne Poleis, später aber auch für größere Gebiete und sogar für Ägypten, bis schließlich auch diese einer Provinzverwaltung unterworfen wurden, womit sie ihre relative Autonomie als Völkerrechtssubjekte einbüßten. Der persönlich freien Bevölkerung wurde im Gegenzug mit der Zeit das römische Bürgerrecht verliehen. 428 Beiden Bedeutungen von ius gentium ist gemein, dass sie den Bereich der römischen Rechtssphäre überschreiten und außerrömische Subjekte – Nichtbürger und fremde Staaten – binden. 429 Grundlage dieser Bindungen ist der fides-Gedanke. Das »allen Menschen gemeinsame Recht« steht aber nur denen zu, die als rechtsfähig anerkannt werden. Sklaven sind vom Rechtsanspruch ausgeschlossen. Das privat- und personenrechtliche ius gentium wurde nicht allein aus ethischen, philosophischen oder humanistischen Gründen eingeführt. Vielmehr entstand es aus dem Bedürfnis nach einer Klärung der rechtlichen Grundlagen für die ökonomischen Beziehungen Gai. inst. I, 1. Vgl. Kaser: Ius gentium, S. 23 f. Jenes Recht, das später als ius gentium im Sinne eines ius inter nationes bezeichnet wurde, gehörte ursprünglich in den Bereich des römischen Sakralrechts, des ius fetiale – benannt nach dem Priesterkollegium der fetiales, die über die Rituale der Kriegserklärung und des Bündnisabschlusses wachten. 428 Vgl. ebd., S. 24. 429 Vgl. ebd., S. 10. 426 427

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zu den Peregrinen. 430 Gemeint sind vor allem die privatrechtlichen Verhältnisse, die Einzelpersonen miteinander eingingen, z. B. vermögensrechtliche Verhältnisse durch Handelsgeschäfte oder später personenrechtliche durch Eheschließung. Die partikularen Rechte der Römer sowie der unterworfenen Völker gaben eine solche Grundlage nicht her. Das quiritische, heilige römische Recht, dessen Formvorschriften zelebriert wurden und in dem die Römer eine vornehme Pflicht ihrer Rechtsgebräuche sahen, war für die praktische Anwendung im Handelsverkehr ungeeignet. Somit erschien es den römischen Rechtsgelehrten notwendig, jenseits der partikularen Rechte ein allen Menschen gemeinsames Recht zur Anwendung zu bringen. Das ius gentium wurde aber nicht gesetzlich oder positivrechtlich fixiert. 431 Es verdankt seine Geltung mehr dem sittlichen und rechtlichen Empfinden. Viele Geschäftsverträge wurden verbal abgeschlossen, so dass der Pflicht zur Treue (fides) eine hohe Bedeutung zukommen musste. Wie das obige Zitat von Gaius belegt, wird das ius gentium nicht durch Normen des ius civile begründet, sondern durch die natürliche Vernunft (naturalis ratio) . 432 Dennoch handelt es sich beim ius gentium um römisches Recht. Zu Gericht saß ein römischer Prätor, die Prozessakte und die Prozessordnung waren nach römischem Vorbild entwickelt worden und das Recht, das vom Prätor angewendet wurde, das ius honorarium, war ein von diesem selbst geschaffenes Recht. 433 Per Edikt kündigte der Prätor bei Amtsantritt an, welche Rechtsverordnungen in der Rechtsprechung zur Anwendung kommen. Die Rechtserfahrungen der unterworfenen Völker spielten für die Rechtspflege durch die römischen Magistrate wohl eine geringere Rolle. Bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Römern und Nichtrömern sowie zwischen den sich in Rom aufhaltenden Fremden untereinander konnten sich die jeweiligen Parteien an den zuständigen praetor peregrinus wenden. 434 Das Amt war nach dem ersten Punischen Krieg 242 v. d. Z. eingerichtet worden – noch bevor die erste Provinz geschaffen wurde. Es handelt sich beim ius gentium also keinesfalls nur um ein Fremdenrecht, seine Bestimmungen sind für Römer und Vgl. ebd., S. 4. Vgl. ebd., S. 6. 432 Vgl. auch Gai. inst. I, 189; II, 69; III, 154/154a 433 Vgl. Kaser: Ius gentium, S. 7 f.; Liebs: »Das Rechtswesen der römischen Republik«, S. 233. 434 Vgl. Dulckeit/Schwarz/Waldstein: Römische Rechtsgeschichte, S. 128 f. 430 431

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Nichtrömer bindend. 435 Sollte eine zivile Klage, z. B. eine private Strafklage aufgrund von Diebstahl oder Sachbeschädigung, erhoben werden, konnte der Peregrinenstatus mit der Klausel si civis Romanus esset überwunden werden. 436 Die Jurisdiktion unter Zuhilfenahme eines fiktiven Bürgerstatus verdeutlicht den besonderen Stellenwert, den der Handel mit den Peregrinen für die Römer hatte. Zum allgemeinen Verkehrsrecht gehören alle Real- und Konsensualverträge, die sich auf Darlehen, Leihe, Verwahrung, Pfand, Kauf, Miete, Auftrag und Gesellschaft bezogen. Die Verträge wurden durch das abstrakte Schuldversprechen (stipulatio) bekräftigt, das ursprünglich römischen Bürgern vorbehalten war. Aufgrund der Einfachheit und vielseitigen Verwendbarkeit wurde die Stipulation in das ius gentium übertragen. 437 Die stipulatio konnte auch auf Griechisch und möglicherweise auch in anderen Sprachen erfolgen. Der Verbalvertrag erzeugt einen dem Inhalt entsprechenden materiellen Anspruch (actio). Mit dem ius gentium wird neben der Stammesgebundenheit auch die archaische Formgebundenheit überwunden, die dem römischen Recht anhaftete. 438 Die Anwendung des römischen Rechts wurde von Ritualen begleitet, deren Durchführung für einen Römer mit großer Ehre verbunden war. In diese Rituale sollten Fremde nicht miteinbezogen werden. Deshalb durfte der für die Fremden zuständige praetor peregrinus Prozesse unabhängig von den komplizierten Zeremonien der Römer führen. Die bewährte Elastizität des Formularprozesses führte dazu, dass dieses auch in innerrömischen Konflikten zunehmende Bedeutung erlangte. Durch die lex Iulia iudicioreum privatorum ermöglichte Augustus 17 v. d. Z. die gesetzliche Anerkennung aller Anspruchsarten. 140 n. d. Z. wurde der Formularprozess durch die lex Aebutia zur generellen Prozessform für alle römischen Bürger erhoben. Als Caracalla im Jahre 213 n. d. Z. allen Untertanen des römischen Reiches die Staatsbürgerschaft verlieh, waren die Un-

Vgl. Kaser: Ius gentium, S. 6. Vgl. Dulckeit/Schwarz/Waldstein: Römische Rechtsgeschichte, S. 129. 437 Es handelt sich bei der Stipulation um einen Verbalvertrag, bei dem in der Antwort, mit der eine Verpflichtung bekräftigt wird, dasselbe Verb verwendet wird wie in der Frage – statt spondesne? spondeo, die so genannte sponsio, die Bestandteil des ius civile war, wurde fidepromittis? fidepromitto gefragt bzw. geantwortet. Ein Beispiel: »Versprichst Du, 300 Scheffel besten afrikanischen Weizens aus Cyrene nach Rom zu liefern?« – »Ich verspreche es«. Chiusi: »Das Bild des Fremden in Rom«, S. 72. 438 Vgl. Tönnies: Der westliche Universalismus, S. 73 ff. 435 436

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terschiede zwischen dem ius gentium und dem ius civile praktisch auf ein Minimum reduziert. Laut Tönnies wird die Bedeutsamkeit des »römischen Rechts« für die Entwicklung universeller Rechte insofern oft falsch verstanden, als nicht das ius civile von den Römern wesentlich transformiert wurde und zur Weltgeltung gelangte, sondern das Recht, das sie für die von ihnen unterworfenen Ausländer schufen. 439 Die grundlegende Prämisse des neuen Rechts sei die Souveränität des »unqualifizierten Individuums«. Mit »unqualifiziert« meint Tönnies, dass der Einzelne unabhängig von politischer Zugehörigkeit und gesellschaftlichem Rang beurteilt werden sollte. Jedes Individuum besitzt demnach die gleiche Rechtsmacht. Dieser Gedanke sei das Fundament des rechtlichen Universalismus. Der rechtliche Universalismus des ius gentium verdiene auch ohne die der Stoa entlehnten Begründungen eine Würdigung. 440 Es geht laut Tönnies um die bis heute anhaltende Entwicklung, statusgebundene Beziehungen durch kontraktuell gewonnene Rechtspositionen zu ersetzen, gemäß dem geflügelten Wort: from status to contract. »Statusgebunden« heißt demnach, dass Rechte z. B. auf Abstammung beruhen, durch die Ehe begründet werden oder sich als Familien- und Erbrechte auch in modernen Rechtsystemen halten, womit auf unterschiedliche Weise Statusbeziehungen rechtlich abgesichert werden, ohne dass der kontraktuelle Charakter von Rechten berücksichtigt wird, der seinerseits die Rechtsmacht des unqualifizierten Individuums voraussetze. 441 Die Ausdehnung, Formalisierung und Rationalisierung des Rechts in der Kaiserzeit wurde jedoch nicht bloß durch ökonomische Bedürfnisse erzwungen, wie Tönnies behauptet. Ulpian (gest. 223) erklärt in seinem Lehrbuch Institutiones, dass das Recht in der wahren Philosophie verwurzelt sein muss, die Rechtsprechung also eine Art »Technik des Guten und Gerechten« (ars boni et aequi) ist und dass die Richter daher als Priester des Rechts bezeichnet werden können. 442 Er führt diese Bestimmung des Rechts auf den Juristen Celsus zurück, der sich ein Jahrhundert früher mit der Frage nach dem Zweck der Gesetzgebung befasst hatte. Schon Cicero erklärte, dass nicht das Edikt eines Prätors, sondern die Philosophie Quelle des 439 440 441 442

Vgl. ebd., S. 71–82. Vgl. ebd., S. 72 f. Vgl. ebd., S. 73. Vgl. Dig. 1.1.1.pr, 1.

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Rechts ist. 443 Chrysipp wird in den Digesten zitiert und als »philosophus summae stoicae sapientiae« bezeichnet. 444 Die einführenden Institutionen Ulpians bilden zusammen mit den Digesten oder Pandekten und angefügten Kaisergesetzen, dem Codex, sowie den Novellen, den Corpus iuris civilis, der auf Geheiß Justinians erstellt und 533 mit Gesetzeskraft ausgestattet wurde. Laut Honoré rangen die Juristen um 200, also kurz vor der antoninischen Konstitution, durch die römisches Recht und ius gentium faktisch gleichgesetzt wurden, darum, dem Recht eine universell gültige Begründung zu verleihen. 445 Ihr Unbehagen habe sich vor allem gegen die Gewohnheitsrechte in den verschiedenen Gesellschaften des römischen Reiches gerichtet. Ulpian hat die stoischen Ansichten, dass alle Menschen frei und gleich geboren sind und ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur führen sollen, geteilt. 446 Als nun das ius gentium und das römische Recht durch die Ausdehnung des Bürgerrechts auf alle Untertanen einander angeglichen wurden, musste sich auch das kritische Potential verringern, das auf der Grundlage des ius gentium gegen unsittliche Rechtsbestimmungen angeführt werden konnte. Diese Funktion wurde nun verstärkt dem Begriff des Naturrechts abverlangt, das am deutlichsten im Hinblick auf die Sklaverei im Widerspruch zum ius gentium steht. »The role of natural law in justifying some institutions and criticizing others persisted but was wider than the role formerly performed by the ius gentium. Slavery is the prime example of an institution contrary to nature but recognized by the ius gentium, which ›encroached on‹ (invasit) the law of nature.« 447 Kriege und die Einrichtung der Sklaverei sind historische Phänomene, ursprünglich aber sind alle Menschen laut Ulpian gleich und frei. [A]ufgrund der Bedürfnisse des Verkehrs und der Notwendigkeiten des menschlichen Lebens haben sich die menschlichen Völkerschaften gewisse Einrichtungen geschaffen: Kriege brachen aus und zogen Gefangenschaft und Sklaverei nach sich, die dem Naturrecht (iuri naturali) widersprechen. Nach Naturrecht wurden nämlich am Anfang alle Menschen frei geboren. 448 443 444 445 446 447 448

Vgl. Cic. leg. I, 5, 17. Vgl. Dig. 1.3.2. Vgl. Honoré: Ulpian, S. 78. Vgl. ebd., S. 80. Ebd., S. 80. Inst. Iust. 1.2.2. Siehe auch Dig. 1.1.4.

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In der Diskussion darüber, ob die Sklaverei im Widerspruch zum Naturrecht steht, obwohl sie doch bei allen Völkern praktiziert wird, entschieden sich die Juristen immerhin dazu, auf die Unvereinbarkeit mit dem Naturrecht in einem Gesetzeswerk hinzuweisen. Entgegen der Auffassung, dass die Gesetze nur die realen Verhältnisse zu regeln haben, verliehen sie dem stoischen Ideal von der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit aller Menschen Ausdruck. Auch der von der Stoa geteilte Gedanke vom göttlichen Ursprung des Naturrechts sowie die stoische Verknüpfung von Naturrecht und Vorsehung werden übernommen. »Die naturrechtlichen Rechtssätze (naturalia iura) aber, die bei allen Völkerschaften gleichermaßen befolgt werden, sind von wahrhaft göttlicher Vorsehung geschaffen worden und bleiben immer gültig und unwandelbar.« 449 Als göttliches und unwandelbares Recht ist das Naturrecht normativ den veränderbaren Bürgerrechten übergeordnet 450, es bezieht sich nicht nur auf den Menschen, sondern auf alle Lebewesen 451. Die Sklaverei ist generell, ob durch gewaltsame Unterwerfung oder Selbstverkauf, naturrechtswidrig. 452 Denn die Freiheit hat einen unschätzbaren Wert (libertas inaestimabilis est). 453 Das Recht unterscheidet weiterhin zwischen Freien und Unfreien, dennoch »enthält« laut Cancik »[j]enes […] contra naturam einen grundsätzlichen Protest«. 454 Cancik weist auch auf eine wesentliche Ähnlichkeit zur französischen Deklaration hin. Im Buch an Sabinus sagt Ulpian zum Naturrecht: »Was das natürliche Recht angeht, sind alle Menschen gleich.« 455 »Das ist auf lateinisch: Iure naturali omnes homines liberi nascuntur et aequales sunt. In einem neulateinischen Dialekt klingt das, nach mehr als eineinhalb Jahrtausenden, so: ›Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits.‹ Das ist der erste Artikel der französischen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1789.« 456 Der Menschenrechtsbegriff (ius hominum bzw. ius humanum), der von Cicero und Seneca bereits verwendet wurde, taucht im Corpus iuris allerdings nicht auf. 457 449 450 451 452 453 454 455 456 457

Inst. Iust. 1.2.11. Vgl. auch ebd., 2.1.11. Vgl. ebd., 1.2. Vgl. ebd., 1.3.2. Vgl. ebd., 1.6.7. Vgl. Cancik: »Gleichheit und Freiheit«, S. 203. Siehe auch Dig. 1.5.4.1. Inst. Iust. 50.17.32: quod ad ius naturale attinet, omnes homines aequales sunt. Cancik: »Gleichheit und Freiheit«, S. 203 f. Zum Beginn der Geschichte des Begriffs »Menschenrechte« in der römischen An-

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So als ob an das humanitas-Paradigma des Terenz erinnert werden sollte, wird festgestellt, dass ursprünglich alle als »Menschen« bezeichnet wurden. 458 Im Zusammenhang mit den eingangs formulierten Zielsetzungen des Rechts, »[e]hrenhaft leben, niemanden verletzen, jedem das Seine gewähren« 459, entsteht der Eindruck, dass die Juristen den Prozess einer Verbesserung des Rechts noch nicht für abgeschlossen halten. Sie können die Sklaverei nicht abschaffen, aber »in dem Bestreben, alles zu vervollkommnen und in einen besseren Zustand zu versetzen«, um »einem neuen Verständnis von Menschlichkeit« 460 den Weg zu bereiten, werden einige Bestimmungen zugunsten von Sklaven und Freigelassenen formuliert oder verändert und nachteilige, veraltete Gesetze abgeschafft. 461 Z. B. wird das erforderliche Mindestalter des Herrn für Freilassungen herabgesetzt. Ein als Erbe eingesetzter Sklave erhält automatisch auch die Freiheit. Gläubiger, die die Freilassung eines Sklaven durch einen Schuldner verhindern wollen, müssen eine Benachteiligung nicht nur hinsichtlich des ihnen zustehenden Vermögens nachweisen, sondern auch bezüglich der Absicht des Schuldners. Was den Rechtsstatus der Freigelassenen betrifft, aktualisieren die Juristen eine ältere Regelung, die zwischenzeitlich außer Kraft gesetzt worden war. Freigelassene erhalten das römische Bürgerrecht, die niedrigeren Freiheitsgrade – die der Latiner nach der lex Iunia Norbana von 19 n. d. Z. sowie die Freiheit der »Unterworfenen ohne Rechte« – wurden abgeschafft. 462 In Ausnahmefällen konnte einem Freigelassenen auch der Status des Freigeborenen zugesprochen werden. Der römische Jurist Marcianus weist darauf hin, dass damit jener »Status« anerkannt wird, den alle Menschen von Geburt an innehaben. 463 In der Forschungsliteratur wird zum Teil moniert, dass die römischen Juristen aus den stoischen Ideen keine Grundrechte ableiteten und in das Recht integrierten. Daher seien sie nicht dazu in der tike vgl. Schmale, Wolfgang: »Grund- und Menschenrechte in vormodernen und modernen Gesellschaften Europas«, in: ders./ Weinzierl, Michael/Grandner, Margarete (Hg.): Grund- und Menschenrechte. Historische Perspektiven – Aktuelle Problematiken, Wien München 2002, S. 36 f. 458 Vgl. Inst. Iust. 1.5. 459 Ebd., 1.1.3: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere. 460 Vgl. ebd., 1.5.3 und 1.6.2. 461 Vgl. ebd., 1.8.7, 1.6.2 und 1.6.3. 462 Vgl. ebd., 1.5.3. 463 Vgl. Dig. 40.11.2. Siehe auch Honoré: Ulpian, S. 88.

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Vom ius civile zum ius gentium

Lage gewesen, den Widerspruch zwischen der Praxis der Sklaverei und der naturrechtlich begründeten Freiheit und Gleichheit aller Menschen aufzulösen. Vielmehr werde das Institut der Sklaverei rechtlich sanktioniert, indem systematisch zwischen Freien und Unfreien unterschieden wird. Diese Befunde sind richtig, aber sie sollten nicht zur Abwertung der für die Menschenrechtsgeschichte relevanten Neuerungen im Corpus iuris führen, zumal ein ähnlicher Widerspruch auch die Menschenrechtsproklamationen im 18. Jahrhundert begleitet. In den USA wurde die Sklaverei erst mit dem 13. Zusatzartikel von 1865 abgeschafft. Das 1794 vom Nationalkonvent erlassene Dekret zur Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien wurde 1802 wieder aufgehoben. Der Corpus iuris enthält zwar keinen Katalog von Grundrechten, dennoch wird betont, dass die Sklaverei dem Naturrecht widerspricht. Die kontrafaktische Feststellung, dass alle Menschen frei und gleich geboren sind, resultiert nicht aus einer zunehmenden Rationalisierung des Rechts, sie ist philosophischen Quellen entnommen. Mit dem Corpus iuris werden universelle Normen aus den Büchern in eine Verfassung übertragen. Aber das Naturrecht wird nicht allein im Sinne der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit aller Menschen thematisiert. Das zweite Buch der Institutionen, in dem das Sachenrecht erläutert wird, beginnt mit einer Auflistung der Sachen, die »nach Naturrecht allen gemeinsam zu[stehen]: die Luft, die fließenden Wasser, das Meer und damit auch der Meeresstrand«. 464 Die Ländereien gehören nicht allen gemeinsam. In mehreren Gesetzen wird dargelegt, unter welchen Bedingungen Eigentum nach dem Naturrecht erworben werden kann, wobei Ulpian offensichtlich besonders daran gelegen war, das Recht von Vogelfängern, Fischern und Wildjägern – also einer ärmeren Bevölkerungsschicht – auf ungehinderten Zugang zu Jagdgebieten gegen die Rechte der Landbesitzer zu verteidigen. 465 Auf fremdem Gut darf gejagt werden, wenn der Eigentümer nicht einschreitet. Wer daran gehindert wird, Eigentum nach Naturrecht zu erwerben, kann bei einem Prätor Klage erheben. 466 Zur Einklagbarkeit eines Naturrechtsgrundsatzes erklärt Honoré: »The action for wrongs is there-

464 465 466

Inst. Iust. 2.1.1. Vgl. Honoré: Ulpian, S. 89. Vgl. Dig. 47.10.13.7.

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Universelles Naturrecht in der hellenistischen und römischen Philosophie

fore the legal technique for vindicating human rights so far as they were recognized in Ulpian’s time.« 467 Mit dem Ende des römischen Reiches und dem beginnenden Mittelalter fiel das universalistische Rechtssystem jedoch in sich zusammen, Mikropolitik und Einzelrechte, die leges barbarum, setzten sich durch. 468 Der römische Corpus iuris geriet in Vergessenheit und wurde erst im 11. Jahrhundert von Bologneser Juristen neu entdeckt und interpretiert, nachdem eine Abschrift, vermutlich im zu jener Zeit noch von Byzanz beherrschten Amalfi, geraubt wurde. Die Titulierung »Corpus iuris civilis« und die herabsetzende Sammelbezeichnung »leges barbarum« wurden von humanistischen Juristen eingeführt. Die Methode des Corpus iuris, hinter der Vielfalt konkreter Rechtsgrundlagen eine abstrakte und allgemeine Rechtsidee zu sehen, begeisterte erneut und leitete ausgehend von Bologna einen neuen Prozess der Universalisierung von Rechtsnormen ein. 469 Die Bürger der norditalienischen Stadtstaaten verstanden das Gemeinwesen nicht mehr als organisch gewachsene Gemeinschaft, sondern als Artefakt, das sich der menschlichen Schaffenskraft verdankt. 470 Unter Berufung auf die angeborene Freiheit und das Naturrecht sicherten sie sich die Freiheit zu. In einem Gesetz gegen die Hörigkeit, das 1289 in Florenz erlassen wurde, heißt es z. B.: Da die Freiheit, aus der der Wille entstammt, nicht vom fremden Ermessen abhängen kann, sondern auf Selbstbestimmung beruhen muß; da die persönliche Freiheit aus dem Naturrechte stammt, demselben, das auch die Völker vor Bedrückungen schützt, ihre Rechte hütet und erhöht, sind wir willens, sie zu erhalten und zu mehren. 471

Nicht göttliches Recht oder Herkunft begründet in dem Gesetz die bürgerliche Freiheit, sondern der politische Wille der Bürger, deren Selbstbestimmungsrecht als naturrechtliche Norm betrachtet wird.

Honoré: Ulpian, S. 90. Vgl. Tönnies: Der westliche Universalismus, S. 81 f.; Meder: Rechtsgeschichte, S. 92 f. 469 Vgl. Hofmann, Hasso: »Das antike Erbe im europäischen Rechtsdenken. Römische Jurisprudenz und griechische Rechtsphilosophie«, in: Jens/Seidensticker (Hg.): Ferne und Nähe der Antike, S. 35 ff. 470 Vgl. Münkler, Herfried: Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt a. M. 1995, S. 151. 471 Ebd., S. 152. Zit. nach Davidson, Robert: Geschichte von Florenz, Bd. II, Teil 2, Berlin 1908, S. 355. 467 468

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VI. Antike Grundlagen und moderne Menschenrechte – Differenzen und Kontinuitäten

1.

Naturrecht und Herrschaft des Gesetzes: Spuren einzelner Menschenrechte

In den vorausgehenden Kapiteln wurde gezeigt, dass die antiken Vorstellungen von ungeschriebenen Gesetzen, vom Naturrecht, von Freiheit und Gleichheit oder von Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit häufig weiter von der modernen Idee der Menschenrechte im Sinne universaler, einklagbarer Rechte entfernt sind, als von jenen Forschern, die auf antike Grundlagen verweisen, angenommen wird. Aus der Einbettung dieser Vorstellungen in ihre metaphysischen oder politisch-gesellschaftlichen Kontexte ergab sich zumeist eine deutliche Relativierung von vermeintlichen Normentsprechungen. Durch diese Relativierungen sollte die Bedeutung der Antike für die Menschenrechtsgeschichte aber nicht herabgesetzt werden. Denn ohne den in der Antike erreichten Stand der Reflexion auf das Subjekt wären die daran anschließenden Fortschritte im Prozess der Subjektivierung, die letztlich zur Entstehung der »neuzeitlichen Identität« führten 1, welche ihrerseits Voraussetzung der modernen Menschenrechtskonzeption ist, kaum denkbar. Die ältere Sophistik spricht von der natürlichen Gleichheit aller Menschen und scheint damit bereits ein grundlegendes Motiv der Menschenrechte aufzugreifen. Die Erörterung der sophistischen Verständnisweisen von φύσις veranschaulichte jedoch, dass der Begriff noch nicht auf die Ebene der Idee gehoben worden war, so dass streng genommen von einer Idee der Gleichheit oder des Naturrechts bei den Sophisten nicht gesprochen werden kann. Die Natur wird zwar thematisiert, aber es fehlt die Frage nach der Natur, die nur unter der Bedingung, dass sich der Wahrheitsbegriff wandelte, gestellt werden

1

Vgl. Taylor: Quellen des Selbst.

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Antike Grundlagen und moderne Menschenrechte

konnte. 2 Der Hinweis auf dieses Fehlen einer Metaphysik diente nicht dazu, die sophistischen Sichtweisen auf die Natur des Menschen gegenüber der platonischen abzuwerten, sondern den Blick auf die jeweilige Weise der Weltbezüglichkeit zu lenken – soweit sie anhand der sophistischen und vorsokratischen Fragmente rekonstruiert werden kann. Die geschichtliche Relevanz der Aussagen über die natürliche Gleichheit kann nur vor diesem Hintergrund erhellt werden. Das Fehlen der Unterscheidung von Idee und Erscheinungswelt oder der von deskriptiver und rationalisierter Natur spricht nicht aus den vorsokratischen Quellen selbst, sondern wird rückblickend, ausgehend von späteren philosophischen Betrachtungsweisen festgestellt. Um Vorgriffe dieser Art nach Möglichkeit zu vermeiden, setzte die Untersuchung bei den Fragmenten Heraklits ein, weil diese die Ferne zwischen den anfänglichen und den nachfolgenden Denkern besonders eindrücklich bekunden. Der Homo-mensura-Satz des Protagoras erwies sich als Brücke zwischen dem φύσις- und ἀλήθεια-Verständnis Heraklits und dem der anderen Sophisten. Der Mensch ist nicht Maß aller Dinge, insofern er darüber gebietet, ob etwas seiend ist oder nicht, sondern insofern Seiendes nur in einer offenen Weite (μέτρον) begegnen kann, deren Erfahrbarkeit durch das Menschsein mitbestimmt wird, wobei Protagoras nicht zwischen sinnlicher Wahrnehmung und geistigen Vermögen differenziert. 3 Der Satz ist also nicht Ausdruck eines Subjektivismus. Dennoch wird das Verhältnis des Menschen zum Sein, im Vergleich zu Anaximander und Heraklit, neu bestimmt. Ἀλήθεια ist nicht das sich selbst verbergende Verhältnis von An- und Abwesenheit, sondern die Kenntnisnahme von der Gegenwärtigkeit oder Nichtgegenwärtigkeit von Seiendem. Die ungeschriebenen Gesetze, zu denen Sophokles erklärte, dass ihre Herkunft ungewiss sei 4, werden von den Sophisten Antiphon und Hippias nun zum Nicht-Seienden gerechnet. Zugleich wird die φύσις als das Frühere, ohne äußeres Zutun Entstandene, als das Wesen einer Sache verstanden und damit zum vorrangigen Wertbegriff erhoben. Laut Antiphon zeigt sich die unveränderbare Natur in der leiblichen Weltbezüglichkeit des Menschen. Alle Menschen atmen, essen und trinken und unterliegen damit natürlichen NotwendigkeiVgl. Buchheim: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, S. 108 f. Vgl. Pleger: Die Vorsokratiker, S. 143; Buchheim: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, S. 54 f. 4 Vgl. Soph. Ant. 449–458. 2 3

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ten. Die Natur wird nicht deskriptiv im Sinne einer äußeren Beschreibung des menschlichen Körpers interpretiert. Für ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur ist laut Antiphon die Besinnung auf das von Natur aus Zuträgliche erforderlich, wohingegen alle anderen Bestrebungen überflüssig zu sein scheinen. Jedes naturwidrige Verhalten widerspreche zugleich der Wahrheit. Während für Protagoras das Gute und das Schlechte gleichermaßen wahr sind, verleiht Antiphon dem Wahrheitsbegriff durch den Bezug zur φύσις eine wertende Qualität. Damit wurde ein wesentlicher Schritt unternommen, um »Wahrheit« überhaupt zum Kriterium des Fragens werden zu lassen. Auch bezüglich der platonischen Tugendlehre sind Vergleiche mit der neuzeitlichen Moralphilosophie, die auf Normentsprechungen abzielen, problematisch. Die Tugenden müssen laut Platon mit der Idee der Gerechtigkeit übereinstimmen. Durch die Unterscheidung von Handeln und Wissen 5 bereitet er zwar jene von Sein und Sollen vor, der Durchbruch zu einer Normethik erfolgt im platonischen Denken aber ebenso wenig wie im aristotelischen. Im Griechischen gibt es nicht einmal ein Wort für das moralisch gemeinte Sollen. 6 Der Wissende handelt laut Platon nie anders als dem Wissen entsprechend. Die Pflicht, ein tugendhaftes Leben zu führen, gilt nicht für jeden Menschen. Sie resultiert nicht aus einer allgemeingültigen, für alle geltenden Norm, sondern gilt nur für diejenigen, die überhaupt dazu veranlagt sind. Ausgiebig erläutert Platon, dass jeder nur das Seinige tun darf. Während Protagoras noch lehrte, dass in Sachen der Tugend alle Bürger gleichermaßen fähig sind, können nach Platon nur die Philosophen vollkommen tugendhaft sein, weshalb sie die Polis beherrschen sollen. Der Übung in der Tugend sollen sich auch die Wächter widmen; die Bauern und Handwerker sollen sich dagegen ausschließlich auf die für das Arbeiten und Herstellen nötigen Fähigkeiten konzentrieren. Durch die Beschränkung auf das Seinige erlange jeder das für ihn bestmögliche Leben. Die Polis erhalte eine harmonische Ordnung. Ähnliches gilt für die aristotelische Tugendlehre, die sich nicht an alle Menschen richtet, sondern die Berechtigung zum politischen Handeln, also den Bürgerstatus, voraussetzt. 7 Wie ich zu zeigen verVgl. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 282 f. Vgl. Brague: »Zur Vorgeschichte der Unterscheidung von Sein und Sollen«, S. 24 ff. 7 Auch die Glückseligkeit kann folglich nur von demjenigen erlangt werden, der die Möglichkeit hat, politisch zu handeln. In der Rhetorik wird die edle Herkunft als eine 5 6

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sucht habe, wird das Naturrecht in Anlehnung an das politische Denken konzipiert. Die Realisierung der besten Verfassung lässt das von Natur aus Richtige aufscheinen, wobei das Naturrecht selbst nicht unwandelbar ist und es nicht nur eine ideale Form der Verfassung gibt. Das erste von Aristoteles in diesem Zusammenhang erwähnte Beispiel besagte, dass es gleichgültig ist, ob jemand Rechts- oder Linkshänder ist, sofern das Handeln seinen Sinn nicht verfehlt, ebenso gestattet die Natur auch bei der Wahl der Verfassung unterschiedliche Möglichkeiten, die aber dennoch Variationen eines Ideals sind. 8 So wie erst der Zweck der mit den Händen verrichteten Arbeiten den Vorteil erkennen lässt, dass es zweckmäßig und daher natürlich ist, eine Hand besser trainiert zu haben als die andere, wird auch der Zweck, also die Natur des Menschen, erst im tugendhaften politischen Leben ersichtlich. Aus diesem Grund bleibt das Naturrecht für Aristoteles Teil des politischen Rechts. Es hat sich herausgestellt, dass eine basale Form von Gleichheit – das bei allen Menschen vorhandene Vermögen, Verträge abschließen und unter Gesetzen leben zu können – von Aristoteles nicht im Zusammenhang mit dem Naturrecht, sondern mit der Freundschaft zwischen dem Herrn und dem Sklaven angesprochen wird. 9 Aristoteles weigert sich, im Sklaven nur einen Sklaven zu sehen und das Herrschaftsverhältnis als ein rein instrumentelles zu betrachten. Angesichts eines Ungleichheitsverhältnisses, das nach griechischem Verständnis mit dem zwischen Gott und Mensch oder Mensch und Tier verglichen werden kann 10 – aber eine Freundschaft faktisch dennoch nicht ausschließt – entdeckt Aristoteles, dass es zwischen freien Bürgern und Unfreien ein gemeinsames Potential geben muss, das die Freundschaft ermöglicht. Aber weshalb beruht die Freundschaft zwischen beiden ausgerechnet auf der allen Menschen gemeinsamen Rechtsfähigkeit und nicht auf anderen Vermögen, z. B. der Liebe oder Sympathie? Aristoteles’ Ausführungen über die Freundschaft zeigen, dass diese als Gleichheitsverhältnis gedacht wird, das sich nur einstellen kann, wenn die vorausgehenden sozialen Ungleichheiten ausgeglichen werden, z. B. zwischen Familienmitgliedern oder Bürgern notwendige Voraussetzung unter anderen betrachtet. Über politische Macht sollte jemand ebenfalls verfügen. Vgl. Aristot. rhet. I, 5, 4, 1360b; Flashar: Aristoteles, S. 135 f. 8 Vgl. Aristot. eth. Nic. V, 10, 1134bf. 9 Vgl. ebd., VIII, 13, 1161b. 10 Vgl. Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, Bd. 1, S. 150.

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unterschiedlichen Standes. Zwischen Freien und Sklaven gibt es aber, abgesehen vom bloßen Menschsein, keine frühere, auszugleichende soziale Beziehung. Das gefragte Vermögen muss folglich vor jeder Form der »Vergesellschaftung« angesiedelt und Möglichkeitsgrund des Zusammenlebens sein. Indem Aristoteles durch die Berücksichtigung der Sklaverei in der Ethik auf ein alle Menschen verbindendes Rechtsverhältnis stößt, gelingt ihm partiell der Durchbruch zu einem an subjektiven Vermögen orientierten Menschenbild 11. Der Gedanke, dass alle Menschen rechtsfähig sind, ist abstrakt. Er widerspricht den realen gesellschaftlichen Verhältnissen der Polis und scheint für eine Betrachtung der ethischen Zweckordnung nicht unbedingt erforderlich zu sein. Daher wird auf die Rechtsfähigkeit auch nicht in der Darstellung des Naturrechts, das Teil des politischen Rechts ist, verwiesen. Epikureer und Stoiker, die als Fremde häufig nicht der politischen Gemeinschaft angehörten 12, erkannten, dass sich aus der Idee der Rechtsfähigkeit, begründet durch die Vermögen der Willenswahl (προαίρεσις) und der Vernunft (νοῦς) , durchaus ein Naturrecht formen lässt, das für alle Menschen gilt. Möglicherweise war die aristotelische These, dass die Freundschaft zwischen Herr und Sklave – also zwischen Bürger und Nicht-Bürger – auf der Fähigkeit beruhe, Verträge abschließen zu können und dies zur Bildung einer Interessengemeinschaft 13 führe, der Anlass für Epikurs Schlussfolgerung, dass es die Idee der Gerechtigkeit an sich nicht gebe. Gerechtigkeit sei stattdessen relativ zu den Bedürfnissen derer, die einen Gründungsvertrag mit dem Ziel des gegenseitigen Nutzens und des Schutzes vor Gewalt abschließen. Auch nach Aristoteles’ Vorstellungen sollte das Herrschaftsverhältnis zwischen Herr und Sklave gewaltfrei sein. 14 Die von Aristoteles nur im Zusammenhang mit der Freundschaft angedeutete »Ausgangssituation« von freien, rechtsfähigen, ihren Interessen – der Steigerung der Zufriedenheit und dem Schutz vor Gewalt – folgenden Individuen, könnte für Epikur also durchaus relevant gewesen sein. Diese Situation war so aber offenbar nur »von außen« wahrnehmbar – aus der Perspektive derjenigen, die wie EpiDas Sprach- und das Vernunftvermögen werden dagegen keineswegs allen Menschen zuerkannt. Vgl. z. B. Rancière: Das Unvernehmen. 12 Epikur, geboren und aufgewachsen auf Samos, war allerdings ein vollgültiger Bürger Athens. 13 Vgl. Aristot. pol. I, 6, 1255b. 14 Vgl. ebd. 11

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kur von der politischen Mitwirkung Abstand nahmen oder derjenigen, die nicht zur Politik zugelassen wurden. Nach Aristoteles würde eine solche Betrachtungsweise den Zweck der politischen Gemeinschaft verfehlen. Politisch gesehen sind die Einzelnen nicht gleich, sondern verschieden. 15 Der epikureische Hedonismus und der Eudaimonismus stoischer Prägung teilen miteinander die Fokussierung auf das individuelle Glück. Für die Epikureer bahnen primär Lustempfinden und Schmerzvermeidung, für die Stoiker Selbsterhaltung und Vernunft, den Weg zum Glück. Der Streit zwischen den beiden Lebensweisen kreist um die Frage, welches Vermögen die Wesensentfaltung des Menschen grundsätzlicher bestimmt, wobei beide Schulen nicht ausschließen, dass die jeweils als nachrangig betrachteten Vermögen von zentraler Bedeutung sind. Nach Epikur ist die Erlangung der dauerhaften Seelenruhe ohne Vernunft unmöglich und im Rahmen des stoischen Seelenmonismus geht die Entfaltung der individuellen Vernunft unmittelbar mit einer Veränderung der leiblichen Triebe einher. Im stoischen Denken setzt sich nach und nach die Erkenntnis durch, dass der Wille nicht durch das Schicksal determiniert ist. Cicero entwickelt sein Konzept der vier personae auf der Grundlage des freien Willens. Der Einzelne ist Gestalter seiner selbst, die personae machen die Rollen, die jemand spielen kann, also die individuellen Möglichkeiten konkret greifbar. 16 Die Entwicklung zur Persönlichkeit verlangt nicht nur ein pflichtgemäßes Leben, sondern die harmonische Übereinstimmung von Pflichterfüllung und individueller Natur. 17 Dennoch unterscheidet sich dieser »Individualismus« gravierend vom spätantiken, christlichen Personbegriff und von der neuzeitlichen Idee des autonomen Individuums. Während auch der Aufruf zur »Sorge um sich selbst« (ἐπιμέλεια ἑαυτοῦ) letztlich zur Identifikation mit einem göttlichen Willen führt – womit die Verschiedenheit der Personen und ihrer Geschichten aufgehoben wird 18 – fordert Augustinus zur radikalen Reflexion des eigenen seelischen Eine etwaige individuelle Gleichheit der Bürger wird ausdrücklich ausgeschlossen. »Der Staat besteht aber nicht bloß aus einer Mehrheit von Menschen, dieselben sind auch der Art nach verschieden; aus ganz gleichen Menschen kann nie ein Staat entstehen.« Ebd., II, 2, 1261a. 16 Vgl. Forschner: »Der Begriff der Person in der Stoa«, S. 46. 17 Vgl. Cic. off. I, 110. 18 Vgl. Forschner: »Der Begriff der Person in der Stoa«, S. 54 f.; Kreuzer: Augustinus zur Einführung, S. 49. 15

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Lebens auf. 19 Die Bekenntnisse sind die beispielhafte Darstellung einer sich in ihrer Geschichtlichkeit begreifenden Person. 20 Die Selbstsorge und das Weisheitsideal verlangten dagegen in erster Linie eine Veränderung der Blickstellung, weg von den vergänglichen, nicht erstrebenswerten Dingen hin zu den ewigen, unveränderlichen. 21 Wie Taylor ausführt, spielt die Trennung zwischen dem Inneren der Seele und dem Außen der Welt für diesen Perspektivwechsel keine Rolle. Erst bei Augustinus »[führt] der Weg vom Niedrigeren zum Höheren – der entscheidende Richtungswechsel – […] über die Stelle, an der wir unserer selbst als etwas Innerem gewahr sind«. 22 Demnach beginnt der von Taylor dargestellte Prozess der Verinnerlichung, der zur Herausbildung der neuzeitlichen Identität führt, bei Augustinus. Angesichts der erwähnten Differenzen zwischen antikem und neuzeitlichem Selbst- und Weltverhältnis können Kontinuitäten nur unter Vorbehalten herausgearbeitet werden. Die Anknüpfung an frühere Moral- oder Rechtsprinzipien ist kein Beleg für deren überzeitliche Gültigkeit. Sie zeugt nicht von einer anhaltenden Aktualität des Selben oder der Tradierung unveränderlicher, moralischer Gehalte, sondern von einer Aktualisierung, einem Prozess der Neuaneignung, für den der Rekurs auf Transzendentalien aber bedeutend ist. Unter diesen Voraussetzungen kann durchaus auf in der Antike tradierte, menschenrechtsrelevante Moral- und Rechtsvorstellungen verwiesen werden. Gemeint sind Vorstellungen, die zur Formulierung der neuzeitlichen Menschenrechtsidee oder als Bedingungen ihrer Proklamation notwendig vorhanden sein mussten. Zu ersteren gehören z. B. die Idee universeller Normen und deren Priorität gegenüber dem positiven Recht, wie auch der Gleichheitsgedanke. Zu den Bedingungen gehört das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, das aus der Idee der Gesetzesherrschaft entwickelt worden ist. Mit der Annahme, dass die antiken Quellen bestenfalls Äußerungen enthalten, die zufällig eine Ähnlichkeit zu modernen Menschenrechten aufweisen, deren rezep-

Vgl. Taylor: Quellen des Selbst, S. 240 ff. Vgl. Kreuzer, Johann: »Begriffene Endlichkeit. Augustinus’ Entdeckung der Geschichte«, in: Jostkleigrewe, Christina/Klein, Christian/Prietzel, Kathrin/Saeverin, Peter F./Südkamp, Holger (Hg.): Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, Köln Weimar Wien 2005, S. 155–161. 21 Vgl. dazu z. B. Plat. rep. VII, 4, 518. 22 Taylor: Quellen des Selbst, S. 238. 19 20

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tionsgeschichtliche Bedeutung aber unklar sei 23, wird der Traditionszusammenhang, in dem diese stehen, außer Acht gelassen. Als erstes zu nennen ist das Merkmal der Universalität bestimmter Gesetze oder Rechte. In allen Literaturgattungen wird die Ansicht vertreten, dass es ungeschriebene Gesetze gibt, die zum Naturrecht im Sinne einer natürlichen Ordnung der Dinge gehören. Diese Gesetze würden seit jeher gelten, seien von einem göttlichen Gesetzgeber geschaffen und unveränderlich. Ihre Überschreitung werde auch ohne menschliche Initiative bestraft. Von Sophokles wird z. B. das Recht auf eine Bestattung zu den »ungeschriebenen und wankenlosen Satzungen der Götter« gerechnet. Laut Xenophon betrachtete Sokrates die Elternverehrung, das Inzestverbot und die Dankbarkeit für Wohltaten als ungeschriebene Gesetze. Obwohl nach Platon die Familie im Idealstaat abgeschafft wird und die Kinder ihre Eltern somit nicht kennen, betrachtet er das Inzestverbot als ungeschriebenes Gesetz. 24 In den Gesetzen wird gesagt, dass das Gebot, die Eltern zu ehren, der »natürlichen Ordnung der Dinge« entspricht. 25 Es stehe in einer Beziehung zu der »bei allen Völkern« anerkannten Pflicht der Götterverehrung. 26 Aristoteles unterscheidet zwei Formen des ungeschriebenen Rechts. 27 Das »von Natur aus allgemeine Recht« umfasse zum einen Pflichten wie die Dankbarkeit, die Erwiderung von Wohltaten oder die Hilfeleistung für Freunde, zum anderen die Billigkeit, nach der im Einzelfall abweichend von einer strikten Anwendung des Rechts – sofern dies zu einem ungerechten Urteil führt – geurteilt werden darf. Am Bestand universeller Gesetze zweifelt Epikur, wenn er erklärt, dass es keine Gerechtigkeit unabhängig von einem Vertrag zur Bildung einer politischen Gemeinschaft gibt. Dennoch erkennt er in den menschlichen Bedürfnissen einen Maßstab, und zwar die »Natur des Gerechten«, an dem Verträge und Gesetze auszurichten sind. 28 Während das ungeschriebene Recht bei Platon und Aristoteles inhaltlich weitgehend identisch mit dem Gewohnheitsrecht ist, beSo bspw. Moulin: »Christliche Quellen der Erklärung der Menschenrechte«, S. 17 ff. 24 Vgl. Plat. leg. VIII, 6, 838. Wie Inzest unter den Bedingungen der Frauen- und Kindergemeinschaft vermieden werden soll, wird im Staat nicht eindeutig erklärt. 25 Vgl. ebd., XI, 11, 931 f. 26 Vgl. ebd., XI, 11, 930 f. 27 Vgl. Aristot. rhet. I, 13, 11 f., 1374a. 28 Vgl. Diog. Laert. X, 1, 152. 23

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trachten die Stoiker es als Teil des »Naturgesetzes«, das im gesamten Bereich der menschlichen Angelegenheiten als Richtschnur gerechten Handelns dient. Die Kennzeichen der ungeschriebenen Gesetze – der göttliche Ursprung, die Unwandelbarkeit und die universelle Gültigkeit – werden auf ein Naturrecht übertragen, das gegenüber dem positiven Recht eine prioritäre Gültigkeit hat. Laut Cicero dürfen die einzelstaatlichen Verfassungen verschieden sein, aber sie müssen dem Naturrecht entsprechen. 29 Das Naturrecht wird folglich nicht mehr als Teil des politischen Rechts betrachtet. Es bestand schon vor der Bildung der res publica oder einer Polis. Im Corpus iuris wird der prioritäre Charakter des Naturrechts verfassungsrechtlich anerkannt. Die Priorität vor dem positiven Recht ist ein weiteres Merkmal moderner Menschenrechte. 30 Der von den Stoikern eingeleitete Prozess der Universalisierung des Naturrechts führt dazu, dass die Geltungsweite der Moralität erweitert wird. Die Maßstäbe der Sittlichkeit gelten nicht nur im Bereich der öffentlichen Angelegenheiten – obwohl sie laut Cicero nur dort wirklich auf die Probe gestellt werden – sondern ebenso in den privaten Verhältnissen, in der Außenpolitik und im Verhalten gegenüber Fremden. Die klassischen Tugenden werden in das Programm einer umfassenden humanitas integriert. Die Philosophen sind dazu verpflichtet, nicht nur die Mitbürger, sondern alle Menschen zu bessern. Voraussetzung dieser Pflicht ist die Idee, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind. »Denn nichts ist einem anderen so ähnlich, so gleich, wie wir selbst es alle untereinander sind.« 31 Die Gleichheit sei dadurch erwiesen, dass alle Menschen über Vernunft, dieselbe sinnliche Wahrnehmung, die gleiche Lernfähigkeit sowie das gleiche Lust- und Schmerzempfinden verfügen. Aufgrund der Gleichheit stehen laut Cicero allen Menschen dieselben Rechte zu. »Daraus folgt also, daß wir Menschen von Natur aus dazu bestimmt sind, das Recht miteinander zu teilen, und es auch allen anderen zu gewähren.« 32

Vgl. Cic. off. III, 69. Die römischen Juristen setzen Naturrecht und ungeschriebenes Recht nicht gleich. Das ungeschriebene Recht wird bei ihnen mit dem Gewohnheitsrecht identifiziert. Vgl. Inst. Iust. 1.2.9. Inhalte des ungeschriebenen Rechts bei den Griechen – bezüglich der Ehe von Mann und Frau und der Kindererziehung – werden dem Naturrecht zugeordnet. Vgl. ebd., 1.2. 31 Vgl. Cic. leg. I, 29. 32 Ebd., I, 33 (Herv. O. B.). 29 30

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Das »quasi civile ius« 33 soll in ein Menschenrecht umgewandelt werden. Diese Forderung wird im Hinblick auf drei überpositive Rechte konkretisiert: das Recht auf Eigentumsschutz, das Recht auf eine Versorgung mit allen zum Leben notwendigen Gütern und das Aufenthaltsrecht. Im Corpus iuris wird die natürliche Gleichheit aller Menschen bestätigt und die Sklaverei als naturrechtswidrige Einrichtung bezeichnet. 34 Das Prinzip des rule of law ist eine notwendige Bedingung der neuzeitlichen Menschenrechtserklärungen – zum einen, weil Menschenrechte erstmalig in der amerikanischen Republik, die sich als Herrschaft von Gesetzen, nicht als Demokratie, verstand 35, proklamiert wurden, zum anderen, weil Menschenrechte ohne rechtsstaatliche Strukturen nicht realisiert werden können. Die Idee der Gesetzesherrschaft wurde, im Gegensatz etwa zur Idee des Naturrechts, schon im antiken Diskurs ohne gravierende Veränderungen überliefert. Platon führte die Idee einer Gesetzesherrschaft in das rechtsphilosophische Denken ein. Die Forderung, das politische Handeln und Regieren an die Einhaltung der Gesetze zu binden, wurde zwar auch von Hesiod aufgestellt und sie wurde in der solonischen Verfassungsreform umgesetzt, aber erst Platon entwirft ein Herrschaftssystem, in dem die Gesetze anstelle eines Regenten oder einer Partei herrschen sollen. Der Gedanke scheint paradox zu sein, weil jede Herrschaft letztlich von Menschen ausgeübt wird und die Gesetze von einem menschlichen Gesetzgeber stammen, aber er wurde in dieser Konstruktion tradiert, wobei die Widersprüchlichkeit offenbar erst in der Neuzeit diskutiert wurde 36. Für Platon ist die Gesetzesherrschaft nur das zweitbeste Modell eines Staates, notwendig allein aufgrund des absehbaren Fehlens eines Philosophenkönigs. Obwohl die Gesetze in der Grundtendenz dem Idealstaat verpflichtet bleiben, wird das Ideal im Spätwerk von Platon in eine mythische Vorzeit verschoben und eingestanden, dass nur ein Gott die Rolle des Philoso-

Vgl. Cic. fin. III, 67. Vgl. Kap. V.3. 35 Die Herrschaft der Gesetze war nach Auffassung der amerikanischen Gründerväter nicht mit der Demokratie als einer Herrschaft der Majorität vereinbar, weil befürchtet wurde, dass durch die Vorherrschaft einer Meinung der Prozess der öffentlichen Meinungsbildung zerstört werden könnte. Vgl. Arendt: Über die Revolution, S. 289 ff. 36 Vgl. Harrington, James: Oceana. Klenner, Hermann/Szudra, Klaus Udo (Hg.), Leipzig 1991, S. 31. 33 34

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phenkönigs hätte erfüllen können. 37 Einen Menschen würde die unumschränkte Macht eines solchen Herrschers notwendig korrumpieren. 38 Das Charakteristikum der Göttlichkeit wird nun den Gesetzen zugesprochen. Die Obrigkeiten sollen »Diener der Gesetze« und das Gesetz »Herr über die Herrscher« sein. 39 Platon kritisiert die griechische Auffassung von Gesetzgebung, nach der Gesetze als starres Regelsystem in einem einmaligen Akt erlassen werden und plädiert stattdessen dafür, die Gesetze neuen Gegebenheiten anzupassen, wenn dies erforderlich ist. 40 Höffe merkt dazu an: »Mit der Veränderbarkeit der Gesetze greift er dem neuzeitlichen Gesetzgebungsstaat bzw. Gesetzespositivismus vor und weist ihn – mit der geforderten Einsicht – zugleich in die Schranken.« 41 Aristoteles teilt die von Platon angeführten Argumente für die Gesetzesherrschaft. Auch die Besten können ihren Begierden oder dem Zorn unterliegen, ihr Wissen ist begrenzt und daher sollte auch ihre Machtbefugnis Gesetzen untergeordnet werden. 42 Die Gesetzesherrschaft wird mit der Herrschaft der Vernunft identifiziert. Sie stellt sicher, dass die Urteile bei Rechtsstreitigkeiten von einer unparteiischen Instanz gefällt werden 43. Im Zusammenhang mit der Diskussion über unterschiedliche Formen der Demokratie kommt Aristoteles zu dem Schluss, dass eine Demokratie, in der sich Demagogen über die Gesetze hinwegsetzen, so dass nur noch eine Volksmasse und nicht mehr das Gesetz herrscht, über keine »Verfassung« mehr verfügt. »[W]o die Gesetze nicht herrschen, ist keine Verfassung. Das Gesetz muß über alles herrschen.« 44 Polybios greift diese Unterscheidung, nach der eine Herrschaft entweder den Gesetzen folgt oder despotisch ist, auf. 45 Leidenschaftlich spricht sich Cicero z. B. in der Rede für Cluentius Habitus für die Herrschaft der Gesetze aus. 46 »[K]ein Staat, der nicht einen Gott, sondern irgend einen Sterblichen zum Herrscher hat, [wird] jemals Erlösung finden […] von Unheil und Elend«. Plat. leg. IV, 6, 713. 38 Vgl. ebd. 39 Vgl. ebd., IV, 7, 715. 40 Vgl. Plat. polit. 34, 295 f. 41 Höffe, Otfried: »Vier Kapitel einer Wirkungsgeschichte der Politeia«, in: ders. (Hg.): Platon, S. 337. 42 Vgl. Aristot. pol. III, 16, 1287a. 43 Vgl. ebd., III, 16, 1287b. 44 Ebd., IV, 4, 1292a. 45 Vgl. Pol. II, 41. 46 »[D]u [mußt] mir zugestehen, daß es noch viel unwürdiger ist, wenn man in einem 37

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Durch das Gesetz wird die Freiheit der Bürger gesichert, es müssen dazu alle Bürger vor dem Gesetz gleich sein. 47 Aber nicht nur das Gemeinwesen, sondern alle sozialen Verbände von der Familie bis zur Menschheit sollen laut Cicero der Gesetzesherrschaft, dem Naturrecht unterworfen sein. Jeder Mensch verfüge über einen dem Bürgerrecht ähnlichen Rechtsstatus (quasi civile ius). 48 Nicht nur diese Behauptung ist neuartig, sondern auch die dem Gedanken der Rechtsstaatlichkeit vorgreifende These, dass politisches Handeln generell jurifiziert werden müsse. »Wie nämlich über den Magistraten die Gesetze stehen, so stehen die Magistrate über dem Volk, und es kann ernstlich behauptet werden, daß ein Magistrat ein sprechendes Gesetz und ein Gesetz ein stummer Magistrat ist.« 49 Die im gesamten philosophischen Werk präsente Kennzeichnung der politischen Gemeinschaft als Rechtsordnung entspricht eher modernen Staatsvorstellungen als den realen Verhältnissen der res publica, so Bleicken. 50 Laut Livius erlangte das römische Volk durch die Etablierung der Gesetzesherrschaft die Freiheit. Er erkennt, dass die Machtbefugnisse, über die die Könige verfügten, in der Republik nicht abgeschafft, sondern den Konsuln übertragen wurden, mit dem wesentlichen Unterschied, dass die Herrschaft der Konsuln zeitlich auf ein Jahr begrenzt wurde. Aufgrund dieser Begrenzung sei die Gesetzesherrschaft »mächtiger […] als die von Menschen«. 51 Dass die Volksversammlung die Gesetze erließ, wurde nicht als Widerspruch empfunden. 52 Zur Rezeption der Idee der Gesetzesherrschaft in der frühen Staat, der sich auf Gesetze stützt, von den Gesetzen abweicht. Denn sie sind der Anker der Stellung, die wir im öffentlichen Leben einnehmen, sie die Grundlage der Freiheit, sie der Quell der Gerechtigkeit; Geist und Sinn und Zweck und Gedanke des Staates beruhen auf den Gesetzen. Wie wir ohne das Hirn unseren Körper nicht gebrauchen können, so vermag auch ein Staat ohne Gesetz seine Bestandteile – wie Sehnen und Blut und Gliedmaßen – nicht zu beherrschen. Der Gesetze Diener sind die Beamten, der Gesetze Dolmetscher die Richter, der Gesetze Untertanen sind schließlich wir alle, damit wir frei sein können. […] Blickt um euch auf alle Bereiche des Staates; ihr werdet sehen, daß alles nach Weisung und Vorschrift der Gesetze geschieht.« Cic. Cluent. 146 f. 47 Vgl. Cic. rep. I, 32 (49). 48 Vgl. Cic. fin. III, 67. 49 Cic. leg. III, 2. 50 Vgl. Bleicken, Jochen: »Staatliche Ordnung und Freiheit in der römischen Republik«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Goldmann/Merl/Sehlmeyer/Walter (Hg.), S. 290 f. 51 Vgl. Liv. II, 1, 1. Hillen übersetzt »potentiora« mit »wirksamer«. 52 Vgl. ebd., X, 13, 9 f.

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Naturrecht und Herrschaft des Gesetzes

Neuzeit sei hier lediglich erwähnt, dass Harrington seine Beschreibung des Gemeinwesens (commonwealth) als »an empire of laws, and not of men« auf Aristoteles und Livius zurückführt. 53 Zur Kritik an der Erbmonarchie und dem blinden Gehorsam gegenüber Autoritäten greifen Trenchard und Gordon in ihren »Cato-Briefen«, erschienen 1720–1723, die Formulierung auf: »Government, honest and legal Government, is imperium legum, non hominum, the Authority of Law, and not of Lust«. 54 Montesquieu, »ein Vater der Gründerväter« 55, erklärte, dass der »Geist der Freiheit« nur unter der Bedingung einer gesetzlichen Verfassung gedeihen kann. 56 Im Verlauf der amerikanischen Revolution gewinnt die Formel in Verknüpfung mit dem Freiheitsgedanken stark an Popularität. Adams definiert die »freie Republik« in seinem Verfassungsvorschlag von 1776 als »an empire of laws, and not of men«. Auffällig ist, dass die Idee der Gesetzesherrschaft jahrhundertelang kaum modifiziert wurde. Als Kennzeichen einer vernünftigen, legitimen Herrschaft wurde sie stets Formen der Willkürherrschaft entgegengesetzt. Es wurde gezeigt, dass einige Merkmale moderner Menschenrechte und die Bedingung einer Gesetzesherrschaft bereits in der Antike bekannt waren. Als Spuren einzelner Menschenrechte können die Meinungs- und Redefreiheit (ίσηγορία) , die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne der ἰσονομία, das Recht auszuwandern, der Anspruch auf rechtliches Gehör (audiatur et altera pars), das Rückwirkungsverbot im Strafrecht (nulla poena sine lege), das Recht auf zum Überleben notwendige Güter, das Asylrecht oder die von Sokrates und Platon geforderte Gleichberechtigung von Mann und Frau 57 betrachtet werden. Aus Ciceros Legitimierung der Tyrannentötung konnten Argumente für ein Recht auf Widerstand entwickelt werden. 58 Insofern im römischen Recht Bestimmungen dem ius naturale zugerechnet wurden, wie z. B. die natürliche Freiheit aller Menschen,

Vgl. Harrington: Oceana, S. 30. Trenchard, John/Gordon, Thomas: Cato’s Letters: or, Essays on Liberty, Civil and Religious, and other important Subjects, Bd. 2, 6., korr. Aufl., London 1755, Brief Nr. 36, 8. Juli 1721, S. 26. 55 Vgl. Kuntz, Paul Grimley: The Ten Commandments in History. Mosaic Paradigms for a well-ordered Society. D’Evelyn, Thomas (ed.), Cambridge 2004, S. 155. 56 Vgl. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, XVII, 6, S. 232 f. 57 Vgl. Kap. IV.1.4. 58 Vgl. Girardet: »Vis contra vim«. 53 54

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Antike Grundlagen und moderne Menschenrechte

sollten sie universell gelten. Mit dem Recht auf Dinge, die »allen gemeinsam zustehen«, wurde ein Naturrecht sogar als individuell einklagbares Recht berücksichtigt. 59 Die Integration der stoischen Naturrechtslehre in den Lehrschriften der klassischen Iurisprudenz sicherte der Theorie des ius gentium und ius naturale »schon wegen ihrer Hervorhebung zu Beginn der justinianischen Digesten und Institutionen einen unabsehbaren Einfluß [auf die weitere Geschichte des mittelalterlichen und neueren Natur- und Völkerrechts]«. 60 Ein Prozess der Universalisierung von Rechten ist in der Antike deutlich erkennbar. Durch die constitutio Antoniniana von 212 n. d. Z. wird das Bürgerrecht allen Untertanen zugestanden. Nach antiken Maßstäben haben die Freiheitsrechte damit eine beinahe »weltweite« Verbreitung gefunden. 61 Begleitet wird die Ausdehnung des römischen Rechts von einer inhaltlichen Konkretisierung des stoischen Naturrechts. Obwohl Priorität und Unwandelbarkeit des Naturrechts erkannt werden, bleibt es letztlich aber Bestandteil des veränderbaren positiven Rechts, ohne dieses in einer idealisierten Form zu transzendieren. 62 Die Übereinstimmung mit dem positiven Recht soll das römische Recht anthropologisch begründen und die Institutionen legitimieren. Die Funktion des Naturrechts ist nicht, die bestehenden politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse zu kritisieren und durch ein Ideal zu ersetzen. Auch im Rahmen der stoischen Ethik werden Normen, die später dem Naturrecht zugeordnet werden, nicht gesondert angeführt. Es gibt also weder in der juristischen noch in der philosophischen Literatur eine Auflistung besonderer Rechte, die dem Menschen von Natur aus, unveräußerlich zustehen, obwohl einige der genannten Rechte, z. B. die Bürgerrechte, deutlich als Vorläufer moderner Menschenrechte erkennbar zu sein scheinen. So kann der Eindruck entstehen, dass der Antike zur Formulierung

Vgl. Honoré: Ulpian, S. 90. Vgl. Wieacker: Römische Rechtsgeschichte, 2. Abschnitt, S. 88. 61 Deininger merkt dazu an: »Was […] die Geltungskraft der antiken Bürgerrechte betrifft, so besteht hier schwerlich ein tieferer Unterschied zu den als Meilensteine auf dem Weg zu den Menschenrechten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit geltenden Dokumenten, also der Magna Charta, der Habeas-Corpus-Akte, der englischen Bill of Rights usw. Insofern war es die Antike, die, jedenfalls für die ›Bürger‹, zum ersten Mal eine große Zahl von ausgesprochenen Freiheits- und Grundrechten geschaffen hat.« Deininger: »Eine historische Vorstufe der Menschenrechte: Die Rechte des freien Bürgers in der Antike«, S. 71. 62 Vgl. Wieacker: Römische Rechtsgeschichte, 2. Abschnitt, S. 88. 59 60

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Naturrecht und Herrschaft des Gesetzes

von Menschenrechten nur dieser Titel und eine Katalogisierung der jeweiligen Rechte fehlten 63. Mit dieser Annahme wird jedoch übersehen, dass der antike Subjektivierungsprozess weniger weit fortgeschritten war, als implizit vorausgesetzt wird. Dass im Vergleich zur neuzeitlichen Identität und Autonomie des Individuums Aspekte der Selbstauslegung »fehlen«, ist den antiken Denkern und Dichtern nicht als Nachlässigkeit anzulasten, denn ohne die antiken Grundlagen der Interpretation des Selbstverhältnisses wäre die Entstehung der neuzeitlichen Identitätsund Autonomiekonzeption, in der die Menschenrechte gründen, nicht vorstellbar. Der Selbstvergewisserung des Menschen als Subjekt und Träger subjektiver Rechte geht ein jahrhundertelanger Prozess des Nachdenkens über die Seele als Ursprung von Handlungen und darüber, was im Bereich menschlicher Verfügungsgewalt liegt, voraus. Bevor das Subjekt mit subjektiven Rechten gegenüber Herrschaftsansprüchen versehen werden konnte, musste es »zu sich kommen« – das heißt, zur Herrschaft über sich selbst 64 und Verantwortlichkeit für sein Handeln. Die antike Philosophie war eine Wegbereiterin dieser Form der Selbstauslegung, wobei zu beachten ist, dass »Philosophie« dabei nicht lediglich als literarischer Diskurs zu verstehen ist, sondern vor allem als »Lebensform« 65 und dass sich diese Lebensform mit der Gründung der Akademie als Alternative zum politischen Leben etablierte. 66

Diese Ansicht vertreten Bauman: Human Rights in ancient Rome und Siewert: »Antike Parallelen zu der UNO-Menschenrechtsdeklaration von 1948«; Siewert: »Zur Frage der Universalität der Menschenrechte bei den antiken Autoren«. 64 Vgl. Foucault, Michel: »Enkráteia«, in: ders.: Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. Bröckling, Ulrich (Hg.), Berlin 2010. 65 Vgl. Hadot: Philosophie als Lebensform; Niehues-Pröbsting: Die antike Philosophie, S. 142–219. 66 Nach Scholz fällt die Entstehung der philosophischen Lebensweise mit ihrer schulischen Institutionalisierung zusammen und ist von den Anfängen des Philosophierens zu unterscheiden. Vgl. Scholz: Der Philosoph und die Politik. 63

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2.

Antike Philosophie als Lebensform im Verhältnis zum Politischen [Freiheit] war der Inbegriff der Polis und des politischen Lebens, des βίος πολιτικός. Unsere philosophische Tradition aber, sofern sie von Parmenides und Plato ihren Ausgang nimmt, ist ursprünglich im Gegensatz zur Polis und dem Bereich des Politischen gestiftet worden. 67 Hannah Arendt

Abschließend möchte ich dieses Merkmal antiken Philosophierens, Lebensform zu sein, erläutern, aber auch Grenzen des durch das philosophische Leben eingeleiteten Subjektivierungsprozesses im Verhältnis zum Politischen, vorrangig mit Bezug auf das 4. und 3. Jahrhundert v. d. Z., aufzeigen. Ersichtlich werden soll, dass dieses Verhältnis durch ein Paradoxon gekennzeichnet ist. Die philosophische Lebensform entsteht gewissermaßen im öffentlich-politischen Raum, aber in einer Abkehr von den Grundbedingungen, die diesen Raum konstituieren. In der Abkehr ist die Philosophie allerdings nicht von diesen Bedingungen entbunden, vielmehr wird ihr eine verborgene politische Grammatik eingeschrieben, deren Entschlüsselung gerade durch die antike politische Philosophie nachhaltig verhindert wurde. Als Lebensform realisiert antike Philosophie eine neue Form von Freiheit – die Befreiung von Begierden und jeglichem Zwang – welche jener Freiheit, die nur im politischen Handeln erfahrbar ist, übergeordnet wird. Damit einhergehend kreiert sie einen Begriff von Politik als Herrschaft, der der Politik als Freiheit entgegengesetzt wird. 68 Die hier angedeutete Argumentation steht vor einigen Schwierigkeiten, denn die jeweiligen Praktiken der Schulen sowie deren politische Theorien sind äußerst heterogen. Platons Ideal einer Philosophenherrschaft steht z. B. Epikurs Aufforderung zur Abwendung von der Politik entgegen. Fraglich ist insbesondere, ob Aristoteles, der im politischen Leben das dem Wesen des Menschen gemäße Arendt: »Freiheit und Politik«, S. 211. Damit ist nicht gemeint, dass die Philosophie gewissermaßen von außen den Herrschaftsbegriff an die Politik herangetragen hätte. Dieser stand seit jeher in Verbindung zum Begriff des Handelns. Die antike Philosophie, insbesondere Platons, hat allerdings, wie im Folgenden deutlicher werden soll, die Grundlage dafür bereitet, dass sich der Akzent des doppeldeutigen Begriffs ἄρχειν von den Bedeutungen »Anfangen, Herausragen« auf ein durch Wissen legitimiertes »Herrschen mittels Zwang« verschieben konnte. Vgl. Kap. III.2.2.

67 68

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Leben erblickte, die Abkehr von der Politik und die damit einhergehende Etablierung einer »politischen« Metaphysik 69 vorantreibt. Ein äußeres Zeichen des paradoxen Verhältnisses zur Politik ist aber, dass einerseits die Erfahrung der politischen Freiheit in »klassischer Reinheit« artikuliert wird, während andererseits ein philosophischer Begriff der Freiheit bei Aristoteles, wie in der gesamten griechischrömischen antiken Philosophie, keine besondere Rolle spielt 70. Das »theoretische Leben« (βίος θεωρητικός) war als Praxis 71 durch eine bestimmte Form der Subjektivierung gekennzeichnet. Die Entscheidung für die Philosophie sollte die gesamte Existenz umfassen. 72 Sie erfolgte nicht gegen die Praxis, sondern als Praxis des tugendhaften Lebens. Davon zeugt bspw. Aristoteles’ Bemerkung, dass die Tugend nicht um der bloßen Erkenntnis willen betrachtet werde, sondern um tugendhaft zu werden. 73 Wer sich für die Philosophie entschied, musste sich zumeist von familiären und politischen Bindungen und Erwartungen frei machen und gänzlich auf das Leben in einer Schulgemeinschaft einlassen, um das Ziel »der möglichsten Verähnlichung mit Gott« oder, in den Worten Epikurs, »wie ein Gott

Zum Begriff der »politischen Metaphysik« vgl. Vollrath: »Politik und Metaphysik«. 70 Zu diesen nur auf den ersten Blick widersprüchlichen Stellungnahmen vgl. Arendt: »Freiheit und Politik«, S. 217 u. 219. 71 Die Unterscheidung von theoretischem und praktischem Leben (βίος πρακτικός) in der Nikomachischen Ethik ist nicht gleichzusetzen mit der platonischen Trennung von wahrer Ideenwelt und Scheinwelt der Meinungen. Für Aristoteles hat die Theorie »praktische Bedeutung«, sie ist eine Form der praktischen Lebensweise: »[W]enn […] die Glückseligkeit als rechte und vollkommene Tätigkeit zu bestimmen ist, so folgt, daß das tätige Leben wie für die staatliche Gesamtheit so für den Einzelnen das Beste sein muß. Indessen braucht der Tätige sich nicht, wie manche meinen, mit anderen zu beschäftigen, und es ist nicht gesagt, daß bloß dasjenige Denken praktisch ist, bei dem man den Erfolg einer Handlung überlegt, sondern diejenigen Betrachtungen und Überlegungen beanspruchen in viel höherem Maße praktische Bedeutung und Wert, die sich selber Zweck sind und ihrer selbst wegen angestellt werden. Denn des Daseins Zweck ist Wohlbefinden und so denn auch eine gewisse in sich selbst bleibende Tätigkeit. Auch gelten uns vorzüglich diejenigen als eigentlich tätig, die durch ihr Denken, gleichwie Baumeister, auch die äußeren Handlungen maßgebend beeinflussen und bestimmen.« Aristot. pol. VII, 3, 1325b. Siehe auch Scholz: Der Philosoph und die Politik, S. 127–131. 72 Von der Philosophie als Lebensform unterscheidet Niehues-Pröbsting Philosophie in literarischen sowie schulischen Formen. Vgl. Niehues-Pröbsting: Die antike Philosophie. 73 Vgl. Aristot. eth. Nic. II, 2, 1103b. 69

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unter Menschen [zu] leben« 74, erreichen zu können. So sehr sich die von den Schulen entwickelten Lebensformen auch unterschieden – z. B. das Leben eines kynischen Wanderpredigers von dem eines rein der θεωρία verpflichteten Peripatetikers – so »bestimmt« doch in allen ihren Ausprägungen »die Philosophie das Leben« 75. Durch entsprechende Übungen (ἄσκησις/μελέτη bzw. exercitatio/meditatio) sollte eine Präsenz der philosophischen Einsichten in jedem Moment des Lebens erreicht werden. 76 »Nichts, sagte [Diogenes], gerate wohl im Leben ohne Übung; diese sei imstande, alle Hindernisse zu überwinden«. 77 Platon verlangte, dass sich der Einzelne vor der Übernahme politischer Aufgaben in der Tugend übe. »Und dann erst, wenn wir sie [die Tugend] gemeinsam geübt, nicht eher, wollen wir nötigenfalls uns auch an die Staatsgeschäfte wagen […], denn dann taugen wir mehr dazu als jetzt.« 78 Vor allem in hellenistischer Zeit werden die philosophischen Grundsätze zu diesem Zweck auswendig gelernt und ständig memoriert. 79 Die Interpretationen der antiken Philosophie als Lebensform verdeutlichen, inwiefern Herrschaftsverhältnisse faktisch relevant werden. Die Lehren und Praktiken der Schulen zielen darauf ab, die Seele zur Selbstbeherrschung 80 und Unabhängigkeit (αὐτάρκεια) zu Diog. Laert. X, 1, 135. Niehues-Pröbsting: Die antike Philosophie, S. 143. »Der Anspruch, Lebensform zu sein, ist allen Ausprägungen und Richtungen der antiken Philosophie gemeinsam. Er verbindet so heterogene Erscheinungen wie die Akademie oder den Peripatos einerseits und den Kynismus andererseits und begründet, dass sowohl Platon und Aristoteles als auch der Kyniker Diogenes als Philosophen gelten. Dieser Titel lässt die Trennung von Leben und Theorie nicht zu, und eher verliert derjenige den Anspruch darauf, bei dem beides nicht im Einklang steht und der nicht gemäß der Theorie lebt, als der, dessen Lehre zwar schlicht und theoretisch dürftig ist, dafür aber umso konsequenter gelebt wird; wobei gemäß der Theorie leben auch bedeuten kann, die Theorie als Lebensform zu realisieren.« Ebd., S. 142. 76 Vgl. Hadot: Philosophie als Lebensform, S. 80 f. 77 Diog. Laert. VI, 2, 71. 78 Plat. Gorg. 83, 527. 79 Vgl. z. B. Diog. Laert. X, 1, 135. 80 Hadot übersetzt die Begriffe σωφροσύνη, ἐγκράτεια, temperantia, moderatio, continentia sowie imperium in semetipsum mit Selbstbeherrschung. Vgl. Hadot: »Selbstbeherrschung«, S. 324–330. Zum Zusammenhang von σωφροσύνη und ἐγκράτεια vgl. Foucault: Hermeneutik des Subjekts, S. 155; Foucault: »Enkráteia«, S. 272 f. u. 277 f. Foucault behauptet, dass die σωφροσύνη auch bei Aristoteles eine Beherrschung der Begierden impliziert, insofern »die enkráteia die Bedingung der sophrosýne [ist], sie ist die Arbeit und die Kontrolle, die das Individuum an sich selber vornehmen muss, um maßvoll (sóphron) zu werden.« Ebd., S. 273. Er weist außerdem darauf hin, 74 75

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erziehen. Der Streit darüber, ob ein Mensch primär der Vernunft gehorchen sollte, wie Platon fordert, oder Schmerzvermeidung und Lust beachten sollte, wie Epikur sagt, bezieht sich auf den Weg, nicht auf das Ziel. Ein zentraler Grundzug der gelungenen Lebensführung (ευδαιμονία) ist in allen Schulrichtungen die Selbstbestimmung, die dadurch erlangt wird, dass sich das Selbst ausschließlich auf die Dinge konzentriert, die es beeinflussen, über die es verfügen kann. Die Einsicht, dass Handeln nur dann vernünftig und gerecht ist, wenn der rationale Teil der Seele die Begierden beherrscht und ein Mensch so Herr seiner selbst ist, geht auf Platon zurück. 81 Damit war gesetzt, dass die Erreichung der besten Lebensform »in der Macht der Menschen [steht]« und »zum Bereich des bewußten Handelns [gehört]«. 82 Vor allem Epikureismus und Stoizismus drängen auf eine systematische Trennung von beherrschbaren und nicht-beherrschbaren Verhältnissen – ein Anspruch, der aus dem Bedürfnis erwächst, in jeder Situation selbstbeherrscht und gerecht zu handeln. Epiktets Handbüchlein der Moral beginnt sogleich mit einer entsprechenden Einteilung der Dinge. Marc Aurels Selbstbetrachtungen sind eine Meditation über das, »was in unserer Macht liegt« 83. Wie Hadot bezüglich der Selbstbetrachtungen feststellt, war die Abfassung solcher Schriften Teil »geistiger Übungen«, durch die das Selbst bedürfnislos und unabhängig werden sollte. 84 Schon die ältere Stoa konstatierte, dass die Seele dazu durch eine leitende Instanz (ἡγεμονικόν) befähigt wird. Die Interpretationen der antiken Philosophie als Lebensform dass der Mäßige bei Aristoteles nicht begierdelos sei, sondern »mit Maß« begehre. Vgl. ebd., S. 278. Aristoteles erklärte zur Unterscheidung von Mäßigung und Selbstbeherrschung aber, dass der Mäßige keine »schlechten Begierden« hat. Vgl. Aristot. eth. Nic. VII, 11, 1151bf. Vgl. z. B. Rapp: Aristoteles zur Einführung, S. 28 f. 81 Vgl. Taylor: Quellen des Selbst, S. 214 ff. Platon spricht ausdrücklich von der »Selbstbeherrschung« (ἐγκράτεια ἑαυτοῦ). Vgl. Plat. rep. III, 4, 390. Im Sinne einer besonnenen Haltung (σωφροσύνη), auch gegenüber den Begierden, wird aber auch schon vor Platon von »Selbstbeherrschung« gesprochen. Vgl. Hadot: »Selbstbeherrschung«, S. 324 f. 82 Aristot. eth. Eud. I, 3, 1215a. 83 Vgl. M. Aur. VI, 41; Hadot: Die innere Burg, S. 81. 84 Vgl. ebd.; Hadot: Philosophie als Lebensform, S. 72 ff. Die Übung liegt im Akt des Schreibens selbst, nicht in der Lektüre des Geschriebenen. Die »geistige und gefühlsmäßige Intensität« des Schreibaktes dient der besseren Verinnerlichung der Dogmen, so Hadot. Vgl. Hadot: Die innere Burg, S. 83. Der Zusammenhang von Inhalt und Form der selbstdialogischen Praxis Marc Aurels ist von van Ackeren näher erläutert worden. Vgl. Ackeren, Marcel van: Die Philosophie Marc Aurels, Bd. 1: Textform, Stilmerkmale, Selbstdialog, Bd. 2: Themen, Begriffe, Argumente, Berlin 2011.

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verweisen verstärkt auf Praktiken und geistige Übungen, um den ursprünglichen Anspruch der Philosophie zu unterstreichen, die gesamte Lebensführung zu bestimmen. Mit diesen Interpretationen können auch Grenzen des Subjektivierungsprozesses aufgezeigt werden. In allen ihren schulischen Ausprägungen blieb Philosophie eine Angelegenheit der Wenigen. 85 Diese mochten wie Platon nach politischer Macht streben, wie die Epikureer in größeren Gemeinden leben oder wie die Kyniker durch eine provokant-asketische Lebensweise gegen gesellschaftliche Zwänge opponieren, aber keine Schule erblickte in der philosophischen Existenz eine allen Menschen zumutbare Lebensform. Die Herrschaft des Philosophen sollte alle bessern – so wie laut Xenophon Sokrates »die, welche mit ihm umgingen, als bessere Menschen [entließ]«. 86 Aristoteles nahm an, dass das Nachdenken über die »höchste Lebensform« dazu beitrage, dass »mehr Menschen die Möglichkeit der Teilhabe hätten« 87, aber utopisch blieb, dass jeder an ihr teilhaben könnte. An dem seit Parmenides geltenden Paradigma, dass nur Wenige den Weg der Philosophie einzuschlagen vermögen, während die Masse an ihre Meinungen und Begierden gebunden bleibt, hielt noch die spätantike Philosophie fest. Erst das Christentum trat mit dem Anspruch auf, in jedem einzelnen Menschen den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele zu wecken und jeden auf die »Verähnlichung mit Gott« einzustimmen. 88 Laut Hadot hat die Philosophie als Lebensform »im Laufe ihrer Geschichte in der Antike ihr Wesen nicht verändert«. 89 Verändert hat sich jedoch das Verhältnis von Philosophie und Politik. Der sichtbare Bruch der philosophischen Existenzweise mit der Politik erfolgte durch die Gründung der Akademie. 90 Nach dem Tod des Sokrates konnten dessen Anhänger die sokratische Form des Philosophierens, auf öffentlichen Plätzen (δημοσιεύειν) 91, nicht fortsetzen. Mit der Vgl. Niehues-Pröbsting: Die antike Philosophie, S. 232. Vgl. Xen. mem. I, 2, 61. 87 Aristot. eth. Eud. I, 3, 1215a. 88 Zur Übernahme und Veränderung der antiken geistigen Übungen durch das Christentum vgl. Fürst: Von Origines und Hieronymus zu Augustinus, S. 100 ff.; NiehuesPröbsting: Die antike Philosophie, 220–249; Hadot: Philosophie als Lebensform, S. 48–65, 170 f. 89 Ebd., S. 170. 90 Vgl. Scholz: Der Philosoph und die Politik, S. 1 ff. 91 Vgl. Xen. mem. I, 1, 10. 85 86

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neuen Institution war eine Abwendung von der Politik verbunden. Die Akademiker verzichteten auf politische Karrieren, Ämter und Ehren. Ein solcher Verzicht auf die politischen Rechte, auf Freiheit, durch den auch Autorität und Ansehen des Geschlechts verletzt wurden, erschien den Athenern unverständlich und trug wohl zur Stigmatisierung der Philosophen als Sonderlinge bei. 92 Den Berichten über die Lebensweise der Philosophen im 4. und 3. Jahrhundert lässt sich entnehmen, dass die Athener den Philosophen vielfach auch mit Missgunst begegneten. 93 Die Abkehr von der Mitwirkung am politischen Geschehen führte gleichwohl nicht zu einem vollständigen Rückzug aus der Öffentlichkeit. Die Akademie nutzte, ebenso wie der Peripatos, öffentliche Einrichtungen für Unterricht und Übungen. Sie bot den Philosophen im »›Kampf‹ um die Autonomie ihrer besonderen Lebenspraxis« einen Raum. 94 Der Bezug zur Öffentlichkeit 95 ist zentral für das paradoxe Verhältnis von Philosophie und Politik in der Antike. Einerseits wandten sich die Philosophen vom politischen Leben (βίος πολιτικός) ab, durch das Öffentlichkeit erst entstehen kann, andererseits waren sie Dies belegt z. B. eine Anekdote, die über den Kyniker Diogenes erzählt wird. Gefragt, warum die Bürger Bettlern etwas spenden, den Philosophen aber nicht, antwortet Diogenes: »Weil sie sich vorstellen, sie könnten wohl dereinst lahm oder blind werden, niemals aber, sie könnten Philosophen werden.« Diog. Laert. VI, 2, 56. 93 Die Philosophen wurden als Außenseiter betrachtet, die die tradierten Sitten kritisierten. Vgl. Scholz: Der Philosoph und die Politik, S. 9–71. Ihre »Merkwürdigkeit« (ἀτοπία) zog den Spott der Komödie auf sich. Vgl. Weiher, Anton: Philosophen und Philosophenspott in der attischen Komödie, München 1913. Sie lebten häufig ehelos, verfügten über keinen eigenen Hausstand und nahmen Frauen in ihre Gemeinschaften auf, obwohl diesen traditionell keine Bildung zuteilwerden sollte. Vgl. Cole, Susan G.: »Could Greek Woman Read and Write?«, in: Foley, Helene P. (Hg.): Reflections of Woman in Antiquity, 4. Aufl., London New York 2004, S. 219–245. Zudem fielen sie teilweise durch einen extravaganten Kleidungsstil auf. Die schwerwiegendsten Gründe für den Argwohn der Bürger waren jedoch, dass die Philosophen im Verdacht standen, die Jugend zu verderben und die Kulte und Gottheiten nicht zu ehren. Diese Klagen waren gegen Sokrates erhoben worden. Im Gegensatz zu religiös begründeten Asebieklagen war der Vorwurf, die Jugend zu verderben, eher unspezifisch und daher kaum zu widerlegen. Vgl. Scholz: Der Philosoph und die Politik, S. 62 ff. 94 Vgl. ebd., S. 2. 95 Vgl. dazu Kapitel III.2. Meier erklärt zum Öffentlichkeitsbegriff: »Zu diesen Poleis gehörte ferner die große Rolle der Öffentlichkeit, das Wort ganz konkret genommen: der Plätze, auf denen man sehr viel Zeit zubrachte, um sich zu treffen, zu unterhalten, sich zu zeigen, aufs laufende zu bringen, zu beraten und zu beschließen; sich auszuzeichnen, aber auch untereinander zu kontrollieren.« Meier: »Die griechisch-römische Tradition«, S. 100. Vgl. Bleicken: Die athenische Demokratie, S. 422–427. 92

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auf den Fortbestand der Öffentlichkeit angewiesen, in der sie als Philosophen in Erscheinung traten, um Einflussnahme auf die öffentliche Moral und Politik bemüht waren und um Anhänger warben. Die Einschreibung einer politischen Grammatik in die Philosophie wird dadurch erzwungen, dass das philosophische Denken auf die durch den öffentlichen Raum gegebene Wirklichkeit angewiesen ist 96. Dieser These liegen die arendtschen Begriffe des Politischen und Öffentlichen zugrunde. Beide sind deutlich auf die historische Situation von πόλις (und res publica) bezogen und abstrahieren als phänomenologische Termini zugleich von dieser. 97 Das Öffentliche erstreckt sich auf »alles, was vor der Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist, wodurch ihm die größtmögliche Öffentlichkeit zukommt. Daß etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, daß ihm Wirklichkeit zukommt.« 98 Dieser Vgl. dazu z. B. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 414. Diese Methode, die oben als phänomenologische Geschichtshermeneutik bezeichnet wurde (Kap. III.2.), ist in der Rezeption häufig missverstanden worden. Die historische Situation, insbesondere der Polis und der amerikanischen Revolution werde »idealisiert« und es würden Theoriebegriffe von dieser abgeleitet, denen aber die Allgemeingültigkeit fehlt, die solchen Begriffen zukommen müsse. Die unterstellte Subsumtion der Fakten und Begriffe unter allgemeine Regeln und Oberbegriffe ist jedoch überhaupt nicht das Anliegen politischer Phänomenologie. Historische Ereignisse werden von Arendt nicht als subsumierbare Fälle betrachtet, sondern als Beispiele für Regeln, die den Ereignissen selbst entnommen sind und deren Gültigkeit durch politisches Urteilen erwiesen wurde und stets aufs Neue erwiesen werden muss. Dem politischen Denken und Urteilen geht es primär nicht um eine Diskussion philosophischer Letztbegründungen, sondern um das Sichtbarmachen und Destruieren von Vorurteilen, die das Verstehen politischer Ereignisse behindern. Nur insofern für den politischen Bereich relevante Vorurteile dem philosophischen Denken entsprungen oder darin begründet sein können, rückt dann die Auseinandersetzung mit dessen Erkenntnissen in den Vordergrund. Die partikulare Gültigkeit aller Resultate des politischen Urteilens ist aufs engste mit dem bedingten und zugleich bedingenden Charakter politischer Phänomene verknüpft. »Unbedingtheit« kann nur die reine Theorie einfordern. Vgl. Vollrath: Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, S. 9–52; Vollrath: »Die Folgen der Menschenrechte«, S. 71 f. 98 Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 62. Mit dieser Definition ist eine Zurückweisung jener Bestimmungen aus den Wissenschaften und der Philosophie verbunden, die den Wirklichkeitsbezug ausgehend von individuellen Vermögen und Erfahrungen, z. B. einer Erfahrung des Denkens oder Erlangung höchsten Wissens, zu begreifen versuchen. »Verglichen mit der Realität, die sich im Gehört- und Gesehenwerden konstituiert, führen selbst die stärksten Kräfte unseres Innenlebens – die Leidenschaften des Herzens, die Gedanken des Geistes, die Lust der Sinne – ein ungewisses, schattenhaftes Dasein, es sei denn, sie werden verwandelt, gleichsam ent96 97

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Wirklichkeitsbezug war, so Arendt, für die Griechen mit dem politischen Leben und der Redefreiheit unmittelbar verknüpft. »In-einerwirklichen-Welt-Leben und Mit-Anderen-über-sie-Reden sind im Grunde ein und dasselbe, und den Griechen erschien das Privatleben ›idiotisch‹, weil ihm diese Vielfältigkeit des Über-etwas-Redens versagt war und damit die Erfahrung, wie es in Wahrheit in der Welt zuging.« 99 Entstehungsgeschichtlich ist das Bewusstsein einer Trennung zwischen »öffentlich« (κοινόν/δημόσιον) und »privat« (ἴδιον/ οἰκεῖον) in Athen eng mit dem Niedergang der Adelsherrschaft und der Einführung der Demokratie verbunden. Perikles soll diesen Unterschied durch seine Handlungsweise regelrecht vorgeführt haben. 100 Arendt nimmt an, dass die akademische Öffentlichkeit eine Nachbildung der politischen ist. 101 Im akademischen Bereich wird der Redefreiheit als gemeinsame, ungezwungene Suche nach der Wahrheit, im weitesten Sinne »Freiheit der Lehre«, ein neuer Sinn verliehen. Die Abkünftigkeit der akademischen Redefreiheit von der politischen wird dadurch indiziert, dass Platon der Oralität methodisch und sachlich einen Vorrang vor dem schriftlichen Dialog einräumt. Die bedeutendsten Fragen – Platons »ungeschriebene Lehre« – sollten ohnehin nur im mündlichen Austausch erörtert werden. 102 Im siebten Brief wird erklärt: privatisiert und entindividualisiert, und so umgestaltet, daß sie eine für öffentliches Erscheinen geeignete Form finden.« Ebd., S. 62 f. (Herv. O. B.). 99 Arendt: Was ist Politik?, S. 52. 100 »Perikles hat […] das Öffentliche als einen unabhängigen und privilegierten Raum offensichtlich ganz bewußt herausgestellt. Denn sein Bürgerrechtsgesetz von 451/50 hat den Bürgerverband von der Außenwelt scharf abgegrenzt und bedeutete damit auch das formale Ende der adligen, die Polis sprengenden Bindungen. Es wird auch Perikles nachgesagt, daß er sich nur noch zur Agora und zum Ratsgebäude, also zu öffentlichen Geschäften, aus dem Haus entfernte, an dem gesellschaftlichen Leben jedenfalls keinen Anteil nahm. Die Absonderlichkeit dieses Verhaltens darf als Beweis für die Zuverlässigkeit des Berichts genommen werden, das in der später nicht mehr verstandenen Absicht begründet ist, sich selbst als einen allein dem bürgerlich-öffentlichen Bereich zugewandten Politiker hinzustellen«. Bleicken: Die athenische Demokratie, S. 425. 101 Vgl. Arendt: Was ist Politik?, S. 54 ff. 102 In Aristoteles’ Physik ist von der »Ungeschriebenen Lehre« Platons die Rede. Vgl. Aristot. phys. IV, 2, 209b. Platon begründet die mehrfach angedeutete Verschweigung der tiefsten Wahrheiten seiner Lehre damit, dass diese, im Gegensatz zum schriftlich Erörterten, nicht in Vergessenheit geraten können, wenn sie einmal erkannt worden sind. Vgl. Plat. epist. VII, 344. Die Dialoge hatten folglich die Funktion, Gedankengänge wieder in Erinnerung zu rufen. Außerdem widerspräche die schriftliche Ver-

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Von mir wenigstens gibt es keine Schrift darüber und wird es sicher auch nie eine geben; denn das läßt sich nicht in Worte fassen wie andere Wissenschaften, sondern aus dem Zusammensein in ständiger Bemühung um das Problem und aus dem Zusammenleben entsteht es plötzlich wie ein Licht, das von einem springenden Funken entfacht wird, in der Seele und nährt sich dann weiter. 103

Für Platon ist selbstverständlich, dass die philosophische Lebensform nur als gemeinsame praktizierbar und somit auch die Erkenntnis der höchsten Idee nur im Zusammenleben möglich ist. 104 Durch die akademische Rede- und Lehrfreiheit konstituiert sich eine neue Form von Öffentlichkeit jenseits der »großen Menge«, die »in ganz übertriebener Weise, mit Schreien und Klatschen«, bloß »starken Lärm« erzeuge, um »je nachdem ihren Tadel oder ihr Lob über das Vorgetragene kund[zu]geben«. 105 Laut Platon übt die öffentliche Meinung auf diejenigen, die zur Philosophie begabt sind, Gewalt aus, indem sie ihnen die Uniformität ihrer Meinungen aufzwinge. 106 Nicht die Bürger könnten beurteilen, »wie es in Wahrheit in der Welt zugeht«, sondern ausschließlich der Philosoph, der über die Idee des Guten und die der Wahrheit Auskunft zu geben vermag. 107 Zumindest Platon dürfte noch die Hoffnung gehegt haben, dass die akademische Öffentlichkeit einst als vollgültiger Ersatz der Agora dienen und das breitung jener Inhalte ihrer Dignität, denn in der breiten Öffentlichkeit könne dafür kein Verständnis erzeugt werden. Vgl. ebd., VII, 341–344. Andeutungen zur Verschweigung wesentlicher Inhalte werden bspw. gemacht in Plat. Phaid. 56, 107; Plat. rep. VI, 18, 506 f.; Plat. Parm. 8, 136; Plat. Tim. 17, 48. Zum Verhältnis von Schriftlichkeit und Philosophie bei Platon vgl. Szlezák, Thomas A.: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil 1: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen, Berlin 1985; Szlezák, Thomas A.: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil 2: Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen, Berlin 2004. Zur Diskussion über die Inhalte und die Gründe für die Formulierung der ungeschriebenen Lehre vgl. Ferber, Rafael: Warum hat Platon die »ungeschriebene Lehre« nicht geschrieben?, München 2007; Krämer: »Platons ungeschriebene Lehre«; Gaiser, Konrad: Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule, Stuttgart 1963. 103 Plat. epist. VII, 341, siehe auch 344 (Übers.: Howald) (Herv. O. B.). 104 Aristoteles greift zu Beginn des VIII. Kapitels über die Freundschaft einen Spruch Homers auf und behauptet, dass dieser nicht nur für das Handeln, sondern ebenso für das Erkennen gilt: »›Zwei Männer voran‹ : dann gewinnt das Erkennen wie das Handeln an Kraft.« Aristot. eth. Nic. VIII, 1, 1155a (Übers. aus: Flashar: Aristoteles, S. 98). 105 Plat. rep. VI, 6, 492. 106 Vgl. ebd. 107 Vgl. ebd., VII, 3, 517. Siehe auch Effe, Bernd: »Der Herrschaftsanspruch des Wissenden«: Politikos, in: Kobusch/Mojsisch (Hg.): Platon, S. 202.

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Programm einer philosophischen Erziehung an die Stelle der bisherigen politischen Angelegenheiten treten würde. Die politischen Betätigungen werden damit ihrer Nicht-Zweckhaftigkeit beraubt und nur noch gemäß den Anweisungen eines Philosophen ausgeführt. 108 Politik wird zu einem Mittel zum besseren Leben degradiert. 109 Die lebenspraktische Anknüpfung an das tradierte politische Verständnis von Öffentlichkeit wird im Werk Platons aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht thematisiert. Erstens wird sie verdeckt durch die vordergründige Abwendung vom politischen Leben auf der Agora, zweitens dadurch, dass die philosophische Lebensweise dennoch an der Öffentlichkeit partizipierte und gleichermaßen scharf von jeder ökonomischen Betätigung abgegrenzt war. Drittens scheint erst die akademische Öffentlichkeit, in der vorurteilslos nach dem Wahren gefragt wird, das Potential freier Rede wirklich auszuschöpfen. Viertens überlagert, so Arendt, Platons Idee von Politik als Herrschaft – Grundlage der ersten politischen Philosophie überhaupt – jene Auffassung von Politik als herrschaftsfreies Miteinanderhandeln Freier und Gleicher, wie sie von den Athenern geteilt wurde. 110 Bezüglich des letzten Punkts ist zu beachten, dass damit nicht gemeint ist, Platon sei sich der Bedingungen politischen Handelns nicht bewusst gewesen – das Gegenteil ist der Fall. Außerdem war eine solche Bedeutungsverschiebung nur möglich, weil das Wort ἄρχειν in Bezug auf politisches Handeln von alters her Verwendung fand. Ἄρχειν bedeutet ursprünglich sowohl »Anfangen« als auch »Herrschen«, darauf hat Arendt hingewiesen. 111 Die Vieldeutigkeit des Wortes ἄρχειν besagt: Das Anfangen kann nur dem zufallen, der Herrscher bereits ist, und dies hieß in Griechenland einem Mann, der einem Sklavenhaushalt vorstand, sich durch Herrschaft von 108 Arendt unterscheidet zwischen dem »Sinn« und einem »Zweck« der Politik. Der Sinn zeigt sich im aktualen Handeln und wird diesem, im Gegensatz zum Zweck, nicht als Zielorientierung vorgeschrieben. Wenn es heißt, dass der Sinn von Politik Freiheit ist, meint Arendt damit, dass »Freisein und In-einer-Polis-Leben […] in gewissem Sinne ein und dasselbe [waren]«. Arendt: Was ist Politik?, S. 38. Die Erfahrung einer Identität von Politik und Freiheit in der Polis ist scharf abzugrenzen von einem Politikbegriff, demzufolge es Aufgabe der Politik sei, den Menschen ein freies Leben zu gewähren. In diesem Verständnis wird Politik nach der Zweck-Mittel-Kategorie bewertet. 109 Vgl. ebd., S. 55 f. 110 Zum Problem einer vermeintlichen Polisidealisierung bei Arendt vgl. Kap. III.2.2., Anm. 164. 111 Vgl. Arendt: Was ist Politik?, S. 49.

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den Notwendigkeiten des Lebens befreit hat und so frei geworden ist für das Leben in der Polis unter seinesgleichen; das Anfangen selbst aber fällt mit dem Andere-Anführen zusammen, denn nur mit Hilfe der anderen kann der Anfangende etwas vollbringen (πράττειν). 112

Das Anfangen ist konstitutiv für politische Freiheit. Verhältnisse von Gewalt, des Befehlens und Zwangs hatten dagegen – unabhängig von der Staatsform – im politischen Bereich keinen Platz. Insofern sich die Bürger durch Sklaven von ökonomischen Sorgen befreiten, waren Herrschaftsverhältnisse zwar eine Bedingung für den Erhalt des politischen Raums, aber keinesfalls selbst politisch. 113 »[W]eder herrschen noch beherrscht werden« 114, das ist die Devise, die Herodot dem Fürsprecher der Demokratie in einer fiktiven Diskussion über die beste Verfassung (für das Perserreich) in den Mund legt. Für das gemeinsame Handeln ist die Erfahrung prägend, dass niemand als Einzelner die politischen Ereignisse und Tatbestände in ihrer »vollen Wirklichkeit« erfassen kann. 115 Urteil und Meinung des einzelnen Bürgers zu politischen Angelegenheiten sind zwangsläufig partikular. Daher sind die Anwesenheit anderer und die Verständigung über die Geschehnisse konstitutiv für das Phänomen des Handelns (πράττειν). Die von Arendt aufgezeigte Differenz des politischen Phänomens zu dem der Herrschaft im Sinne des Befehlens und Regierens ist für ein Verständnis des Verhältnisses von Philosophie und Politik in der Antike so bedeutsam, weil erst vor diesem Hintergrund deutlich werden kann, dass die philosophischen Lebensweisen in Form und Inhalt vielfach als Antworten auf Erfahrungen zu verstehen sind, die dem politischen Leben entstammen. Die Originalität des platonischen Versuchs, Politik durch Herrschaft zu ersetzen, kann überhaupt erst auffallen, wenn Politik nicht von vornherein als Herrschaft ausgelegt wird. Die Selbstverständlichkeit, mit der im Allgemeinen bezüglich der Polis von »Herrschaft« und »Herrschaftsformen« gesprochen wird, ist äußerst problematisch, weil sie den Gehalt des Wortes ἄρχειν verdeckt. Der Herrschaftsbegriff ist durch Erfahrungen späterer Epochen geformt, die auf die Polisverfassung (πολιτεία) nicht übertragbar sind – z. B. die Trennung von Herrschern und Be112 113 114 115

Arendt: »Freiheit und Politik«, S. 218. Vgl. Arendt: Was ist Politik?, S. 38 f. Hdt. III, 83. Vgl. Arendt: Was ist Politik?, S. 51 f.

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herrschten, die Unterscheidung zwischen Befehl und Gehorsam, die Verfügungsgewalt über Zwangsmittel, die Souveränität und Autorität des Herrschers sowie die Möglichkeit einer absoluten Herrschaft – sofern von der politischen Selbstreflexion, also griechischem »Verfassungsdenken«, das erst mit der Entstehung der Demokratie im perikleischen Zeitalter aufkommt 116, ausgegangen wird. Die Assoziation dieser Merkmale von Herrschaft mit dem politischen Leben in der Antike steht bereits bei der einfachen Frage, wer über wen herrscht, vor offenkundigen Widersprüchen. Zu der Frage, wer in der Polis über die Amtsmacht verfügt, sagt Aristoteles: »[D]ie Gesamtheit der Bürgerschaft [zerfällt] in Priester und Magistrate«. 117 Wenn beinahe alle Bürger »Magistrate« sind, wer ist ihnen dann unterworfen? Gewiß gab es in der Polis Beamte, die bestimmte Aufgaben der politischen Organisation übernahmen, aber sie waren weder mit besonderen Vollmachten ausgestattet wie die römischen Magistrate, noch als Funktionsträger von den übrigen Bürgern klar abgegrenzt. 118 Entscheidend für die Form der Verfassung ist laut Aristoteles, wie viele »durch Tugend hervorrag[en]«. 119 Im Königtum überragt ein einzelner alle anderen und in der Aristokratie sind viele »gemäß ihrer Tüchtigkeit in der Staatsregierung zur Führung berufen«. Aber das heißt nicht, dass einer alle anderen oder die Besten über die übrigen herrschen, sondern dass sich einer oder mehrere oder, wie im Falle der Politie, die »kriegerische Menge« unter den Herrschenden, also den Bürgern, in der ἀρετή auszeichnen. Es gab keine Aufteilung der Bürgerschaft in eine herrschende und eine beherrschte Klasse (und auch nicht in »Parteien« oder Interessengruppen). 120 Der König war nicht ein Souverän, sondern primus inter pares. Auf Aristoteles’ Unterscheidung von Herrschaftsbegriffen wird im Folgenden noch eingegangen.

Vgl. Kap. III.1.; Bleicken: Die athenische Demokratie, S. 71. Aristot. pol. VII, 12, 1331b. 118 Vgl. Bleicken: Die athenische Demokratie, S. 270 ff. Über eine »besoldete Bürokratie« verfügte die Polis nicht. Vgl. Finley: Antike und moderne Demokratie, S. 29. 119 Vgl. Aristot. pol. III, 17, 1288a. 120 Im Gegenteil, die Entstehungsgeschichte der athenischen Demokratie zeigt, dass die Bürgerschaft bestrebt war, eine solche Aufteilung unter allen Umständen zu verhindern. Auch die Institutionen der Demokratie sollten keine eigenen Regierungskompetenzen entwickeln, ihre Zuständigkeiten waren ganz und gar dem Zweck untergeordnet, die Funktionsfähigkeit der Volksversammlung sicherzustellen. Vgl. Bleicken: Die athenische Demokratie, S. 224 ff., 233, 235 f. 116 117

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Die Annahme, dass Politik und Herrschaft dasselbe sind, erweist sich im Hinblick auf die πόλις als schwerwiegendes Vorurteil. Eine notwendige Voraussetzung für Politik wird mit dem politischen Leben selbst verwechselt. 121 Umstritten konnte sein, wer an der Politik teilhat und in welchem Ausmaß, nicht aber, dass Freisein bedeutet, »niemand untertan zu sein«, und die jeweils Freien in Bezug aufeinander frei sind, indem sie gemeinsam über die öffentlichen Angelegenheiten beraten und handeln. 122 Eine Folge der Verwechselung von Politik und Herrschaft ist, dass die Transformation politischer Erfahrungen im Rahmen der philosophischen Lebensform ebenso übersehen wird wie die damit verbundenen antipolitischen Konsequenzen. In Foucaults Hermeneutik des Subjekts wird zwischen politischem Handeln und Regieren nicht unterschieden 123 und damit der Zusammenhang von politischer Lebensform und Selbstkultur ausgeblendet. Ohne Reflexion auf die »anarchischen« 124 Subjektivierungsprozesse im Feld des Politischen greift jede Beschreibung antiker Lebensform zu kurz, auch oder gerade dann, wenn sich die Selbstkultur außerhalb der Politik entwickelt oder sogar gegen die politischen Bedingungen gerichtet ist. Platon wusste, dass »[es] unmöglich ist […] zu handeln ohne Freunde und zuverlässige Gefährten« 125; aber eine allein auf das Miteinanderhandeln gegründete Politik war seiner Ansicht nach gescheitert. Sie hatte zum Niedergang der Polis geführt und dazu, dass die Stadt ihren gerechtesten Bürger hinrichtet. Die Polis war nur zu retten, indem die Wenigen, die wahrhaft zur Herrschaft berufen sind, an 121 Daher ist es nur konsequent, wenn Aristoteles mehrfach betont, dass Sklaven, Metöken, Handwerker etc. zwar notwendige Bedingung für den Bestand der Polis sind, aber nicht Teil derselben. Vgl. Aristot. pol., VII, 4, 1326a; VII, 6, 1327b; VII, 8, 1328af. 122 Das schließt nicht aus, dass die Freien danach trachteten, außerhalb des politischen Bezirks zu herrschen. Zum Sturz der Demokratie während des Peloponnesischen Krieges merkt Thukydides an, dass »es […] kein kleines [war], dem Volk von Athen ziemlich genau 100 Jahre nach dem Sturz der Tyrannen seine Freiheit zu nehmen, nachdem es nicht nur niemand untertan, sondern über die Hälfte dieser Zeit selber andre zu beherrschen gewohnt war«. Thuk. VIII, 68. Freiheit und Herrschaft werden von Thukydides hier offenkundig als voneinander getrennte Phänomene betrachtet. 123 Sofern Foucault überhaupt von politischem Handeln spricht, ist damit nichts anderes als »Regieren« gemeint. Vgl. Foucault: Hermeneutik des Subjekts, S. 66, 104 f. 124 Vgl. auch Kap. III.2.2. Platon stellte fest, dass die Demokratie »herrschaftslos« (άναρχος) ist. Vgl. Plat. rep. VIII, 11, 558. 125 Plat. epist. VII, 325 (Übers.: Arendt: Was ist Politik?, S. 50).

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die Macht kommen. Dies war jedoch, wie Platon selbst erfahren musste 126, zur gegebenen Zeit aufgrund des unter den Bürgern herrschenden »Wahns« (μανία) nicht möglich. Wer öffentlich die politischen Verhältnisse kritisiert und zum Besseren ändern möchte, der riskiert »wie ein unter wilde Tiere geratener Mensch« 127 sein Leben. Dies verdeutlicht auch das Schiffsgleichnis, in welchem die politischen Auseinandersetzungen in der Polis mit einem Streit von Seeleuten über die Führung des Steuers verglichen wird. 128 Sobald der »wahre Steuermann« erklärt, dass die Steuermannskunst erlernbar ist und er sie lehrt, wird er von den streitenden Schiffsleuten bekämpft, die in ihm nur eine Gefährdung ihres Führungsanspruchs sehen; obwohl er der einzige ist, der das ziellose Schiff vor dem absehbaren Schiffbruch retten könnte. Aufgrund der politischen Umstände bleibt dem Philosophen nichts anderes übrig, als »wie bei einem Unwetter […] unter ein Obdach [zu treten]« und von »Ungerechtigkeiten und frevelhaften Taten« unbefleckt zu bleiben. 129 Der Rückzug aus der Politik erfolgt nicht aus Bescheidenheit oder aufgrund einer übertriebenen Scheu vor politischen Risiken, sondern um des Überlebens willen. Die Zuversicht, dass durch »göttliche Fügung« 130 ein Philosoph zur Herrschaft oder als Gesetzgeber gerufen wird, oder dass ein der Philosophie zugeneigter Monarch seine Herrschaft nach den Grundsätzen der politischen Theorie organisieren würde, verlor Platon jedoch nicht. 131 Dies bezeugen auch die politischen Ratgebungen, durch die Platon und seine Schüler Einfluss auf die Politik zu gewinnen versuchten. 132 Für die zukünftige Rettung des Gemeinwesens mussten zunächst die zur Philosophie und zum Herrschen Begabten gerettet werden. Ihrem Schutz und ihrer Erziehung diente die Akademie. Unabhängig davon, ob bei Platon reale politische Gegebenheiten oder der ideale Entwurf 133 beschrieben werden, wird das Politische Vgl. Scholz: Der Philosoph und die Politik, S. 75–79. Vgl. Plat. rep. VI, 10, 496. 128 Vgl. ebd., VI, 4, 488. 129 Ebd., VI, 10, 496. 130 Vgl. Plat. epist. VII, 326 f. 131 Vgl. Szlezák: »Psyche – Polis – Kosmos«, S. 30. 132 Vgl. bspw. Plat. epist. VII, 334 u. VII 337; Scholz: Der Philosoph und die Politik, S. 110 ff. 133 Ein Ideal, das Platon allerdings für realisierbar hielt. Vgl. Plat. rep. VI, 12, 499, VI, 14, 502, VII, 17, 540. Vgl. Szlezák: »Psyche – Polis – Kosmos«, S. 31. 126 127

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vorrangig als Herrschaftsverhältnis interpretiert. Er nahm an, dass die politische Freiheit nicht nur Quelle der »Sitten und Lebensgewohnheiten unserer Väter« war, sondern auch des Unheils, das den Niedergang der Poliswelt herbeigeführt hatte. 134 Im Schiffsgleichnis wird die Umdeutung des Politischen zu einem Begriff von Herrschaft veranschaulicht. Ein »Schiffsherr« verkörpert das Volk, der »zwar an Größe und Stärke alle überragt, aber harthörig ist; auch mit seinem Gesicht ist es schlecht bestellt und ebenso schlecht mit seiner Kenntnis des Schiffswesens«. 135 Physische Stärke kann für die Anwendung von Gewalt maßgeblich sein, nicht aber für die politische Rede. 136 Das Volk, um dessen Gunst die politische Elite buhlt, kann es sich daher erlauben, »harthörig« zu sein. Für Platon steht in diesem Gleichnis nicht jener Anteil an der Wahrheit im Vordergrund, der durch die richtige Meinung hindurchscheint 137, sondern das gewaltsame Ringen der politischen Akteure um Herrschaft. Nach Platons Auffassung gehören Herrscher und Beherrschte unterschiedlichen Kategorien von Lebewesen an. Dies bezeugt die häufige Verwendung von Mensch-Tier-Metaphern, z. B. der vom Hirten und der Herde, und die Übertragung der Begriffe für die häusliche Herrschaft, δεσπότης und δοῦλοι, auf die Politik. Im Unterschied zu jener Gewalt, die Platon der öffentlichen Meinung zuschreibt, und zur Gewaltherrschaft im Haushalt, sollte die Herrschaft des Philosophen oder der Gesetze allerdings gewaltlos sein. Die Herde muss sich aus eigenem Antrieb einen Hirten suchen. Bedingung einer Verfassungsänderung ist, dass das Volk oder die politische Führung den Zweck der besseren Herrschaftsform zumindest partiell erkennt und den philosophischen Rat freiwillig befolgt, denn »in der Seele […] bleibt kein erzwungenes Wissen haften«. 138 Vgl. Plat. epist. VII, 325. Aus »unersättlicher Begier nach übertriebener Freiheit« entspringt laut Platon Gesetzlosigkeit, die zuletzt zur Entstehung einer Tyrannis führt. Vgl. ebd., VIII, 354 (Übers. Howald); Plat. rep. VIII, 11, 557 f., VIII, 1, 544. 135 Ebd., VI, 4, 488. 136 Gewalt ist nach Arendt ihrem Wesen nach stumm. Zur Unterscheidung von Stärke, Gewalt und Macht vgl. Arendt: Macht und Gewalt, S. 45–47. 137 Zur »richtigen Meinung« als Mittleres zwischen Weisheit und Unwissenheit vgl. Plat. symp. 22, 202. 138 Plat. rep. VII, 16, 536. Mit jenem »Zwang«, der im Zusammenhang mit Überredung ausgeübt werden soll, um die Stadt zur Einheit zusammenzuschweißen (vgl. ebd., VII, 5, 519 f.), ist vermutlich nicht physische Gewalt gemeint, sondern ein Zwang, unter den sich derjenige gestellt sieht, der partiell bereits zur richtigen Erkenntnis gelangt ist, ohne sich darauf bereits vollständig eingelassen zu haben. Wer 134

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Politische Macht fügt dem guten Leben nichts hinzu, da ein Philosoph bereits frei und unabhängig ist. Dennoch bemüht sich Platon um eine Begründung der Verantwortung des Philosophen für das Gemeinwesen. 139 Aus der Isomorphie 140 von Seele und Polis ergibt sich, dass die Philosophen »ihre alles ordnende Fürsorge der Reihe nach abwechselnd dem Staat, den einzelnen Mitbürgern und sich selbst widmen«. 141 Platon betont, dass die Übernahme der politischen Aufgaben »dem Staat zuliebe, nicht als etwas Wünschenswertes und Schönes, sondern als etwas Notwendiges« erfolgt. 142 Diese Bürde muss aber nur getragen werden, wenn dadurch nicht das Leben des Philosophen gefährdet wird und dieser zuvor um die politische Betätigung gebeten wurde. Das mit der philosophischen Lebensführung einhergehende Desinteresse an politischer Macht 143 unterscheide den wahren Staatsmann von politischen Scharlatanen, die nur ihrem Eigennutz folgen. 144 in diesem Sinne an der Schwelle steht, sich ganz nach dem Guten zu richten und danach zu leben, soll durch einen geübten Philosophen dazu angehalten werden – z. B. durch zwingende Beweisführungen. Wie bereits erwähnt, ist Gewalt für Platon das Kennzeichen der verhassten öffentlichen Meinung, es wäre also vollkommen ungereimt, wenn sich die Philosophen gegenüber ihren Schülern und den übrigen Bürgern der Gewalt bedienen sollten. Und gegenüber demjenigen, der sich das Vernünftige nicht aneignen kann, soll so geherrscht werden, »daß es von außen her als sein Gebieter auftritt, auf daß wir nach Möglichkeit alle einander gleich und befreundet werden, indem wir unter der nämlichen Leitung stehen«. Ebd. IX, 13, 590. 139 Die Philosophen sind laut Platon zur »Rückkehr in die Höhle« verpflichtet, weil sie eine »bessere und vollkommenere Bildung« genossen haben. Vgl. ebd., VII, 5, 520. Demnach soll sie die Dankbarkeit für dieses Privileg dazu motivieren, die »mühseligen Pflichten für den Staat« auf sich zu nehmen. 140 Zur Analogie der Gerechtigkeiten von Einzelseele und Polis vgl. ebd., II, 10, 368. Die Analogie ist, wie Borsche betont, nicht nur eine »logisch strukturelle […], sondern als eine kontingent natürliche Isomorphie zu verstehen […], eine Isomorphie, die auf komplexen, der freien Gestaltung (insbesondere in der Erziehung) zugänglichen Kausalbeziehungen zwischen den jeweiligen Charakteren beider beruht«. Borsche, Tilman: »Die Notwendigkeit der Ideen: Politeia«, in: Kobusch/Mojsisch (Hg.): Platon, S. 101. 141 Plat. rep. VII, 17, 540. 142 Vgl. ebd. Die mit dem Handeln verbundene Ehre gehöre zusammen mit der Befriedigung der Triebe in den Bereich des Notwendigen, also durch Not Erzwungenen. Vgl. ebd., IX, 7, 581. 143 »[D]erjenige Staat, in dem die zur Herrschaft Bestimmten am wenigsten darauf erpicht sind zu herrschen, ist unbedingt am besten verwaltet und bleibt am sichersten von Bürgerkrieg verschont«. Ebd., VII, 5, 520. 144 Die Schwierigkeit, den Philosophen von Sophisten zu unterscheiden, wird im Politikos thematisiert. Vgl. Plat. polit. 30, 291 ff.

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Der Philosoph würde nicht als Gleicher unter Gleichen handeln, sondern wäre aufgrund des wahren Wissens 145, der Selbstbeherrschung und Unabhängigkeit befugt, über die anderen zu herrschen. Im Theätet heißt es, dass er »wahrhaft in Freiheit und Muße aufgewachsen« ist. 146 Die Menge der Bürger hält Platon dagegen nur dem Anschein nach für frei. Auch jene, die eine anspruchsvolle Erziehung genossen haben, lassen sich im politischen Leben zu »schmeichlerischen Reden« und anderen Dienstbarkeiten herab, weshalb sie nicht als Freie (ἐλεύθεροι), sondern Knechte (δοῦλοι) zu betrachten seien. Platons Konzeption einer Idee des Politischen, nach der Politik als Herrschaft zu bestimmen ist, geht einher mit einer Neubestimmung des Freiheitsverständnisses. Die Freiheit resultiert aus der Gottverähnlichung. Wer einmal zur richtigen Erkenntnis gelangt ist und sich selbst beherrscht, unterliegt keinem Zwang mehr, außer dem, den die Vernunft ausübt, indem sie das Selbst nötigt, bei der Wahrheit zu bleiben und das Richtige zu tun. Freiheit wird als innere Unabhängigkeit begriffen. Platons Analogie von Seele und Polis macht den Zusammenhang zwischen der im Selbstverhältnis erfahrenen Form von Herrschaft und der Forderung nach einer Umwandlung politischer Beziehungen in Herrschaftsverhältnisse offenkundig. Die mit dem wahren Wissen erlangte Souveränität über das eigene Tun soll auf die politischen Verhältnisse übertragen werden. Der Herrschaftsanspruch in der Politik entspringt also der Selbstbeherrschung, einer Ordnung der Seele 147, der gemäß die Begierden von der Vernunft beherrscht werden. Jede ungerechte Tat wäre für den Gerechten daher nicht nur ein Frevel gegenüber einem anderen, sondern auch gegen sich selbst. 148 Dass politische Verhältnisse überhaupt nach dem Muster von Herrschaftsbeziehungen beschrieben werden, entsprach, wie erwähnt, nicht dem Selbstverständnis, das dem politischen Leben in der Polis zugrunde lag. Das bezeugt auch 145 Zum »Wissens-Absolutismus« bei Platon vgl. Effe: »Der Herrschaftsanspruch des Wissenden«, S. 208 f. 146 Vgl. Plat. Tht. 25, 175. 147 Diese Ordnung spiegelt sich im Kosmos wider. Szlezák: »Psyche – Polis – Kosmos«. Daher kann auch umgekehrt festgestellt werden, dass der Vernünftige sein Inneres nach dem Muster des idealen Staates ordnet, der sich am Himmel als Paradigma befindet: »Aber am Himmel ist er [der geschilderte Staat] vielleicht als Muster hingestellt für den, der ihn anschauen und gemäß dem Erschauten sein eigenes Innere gestalten will.« Plat. rep. IX, 13, 592. 148 Vgl. Plat. Gorg. 64, 508 f.

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die Kritik, die der Sophist Kallikles gegen den philosophischen Souveränitäts- und Wissensanspruch erhebt, indem er betont, dass dieser in der politischen Praxis nicht zur Geltung kommen kann. »[W]eder wirst du in einer Beratung über Recht ein Argument richtig beitragen, noch etwas Einleuchtendes und Überzeugendes sagen, noch für einen anderen einen mutigen Beschluss fassen können.« 149 Durch die philosophische Lebensweise würden die Jünglinge den Bezug zur Politik verlieren und können sich folglich nicht in der freien Rede üben. [S]olch ein Mensch verfällt […] mag er auch noch so begabt sein, unausbleiblich der Unmännlichkeit, da er die Brennpunkte des öffentlichen Lebens und die Märkte meidet, wo, wie der Dichter sagt, die Männer ihre Trefflichkeit bewähren, und es trifft ihn das Schicksal, in stiller Zurückgezogenheit in einem Winkel flüsternd mit drei oder vier Bürschchen sein weiteres Leben zuzubringen; ein freies und lautes und keckes Wort kommt aber niemals über seine Lippen. 150

Die Jünglinge könnten ihrer »eigentlichen Bestimmung«, der Sorge für das Gemeinwesen, nicht mehr nachkommen. Kallikles Argument lautet, dass die Überzeugungskraft freier Rede in der Öffentlichkeit wirksam werden muss. Nur dort wird das »freie Wort« gesprochen, es lässt die Sprechenden als Freie erscheinen. Bereits der philosophische Anspruch auf Selbstbeherrschung und Unabhängigkeit kollidiert mit den Erfordernissen politischen Handelns. Denn das Handeln spielt sich zwischen Menschen ab, ein Einzelner kann andere von einer bestimmten Handlungsoption überzeugen, aber nicht Souverän einer gemeinsamen Handlung sein. Im Bereich der Politik kann die Gemeinschaft, aber nicht ein Einzelner unabhängig sein. 151 Ersichtlich werden sollte, dass mit der Institutionalisierung der philosophischen Lebensform ein neues Freiheitsverständnis aufkommt, nicht nur als Ideal, sondern in der Lebenspraxis. Die durch die ἐγκράτεια realisierte Freiheit ist emanzipatorisch, sie befreit die Seele von Zwängen, die in ihr entstanden sind. Mit der Überwältigung des »inneren Tyrannen« 152 widersteht die Seele auch allen »äußeren« VerEbd., 41, 486 (Übers. Erler). Ebd., 40, 485. 151 Daher ist nicht individuelle Selbstbeherrschung, sondern Unparteilichkeit eine wesentliche Voraussetzung zur Ausbildung politischer Urteilskraft. Vgl. Vollrath: »Hannah Arendt und die Methode des politischen Denkens«, S. 62. 152 Die Tyrannen tun nicht das, was sie eigentlich wollen. Vgl. Plat. Gorg. 22, 466; Plat. rep. IX, 6, 579. 149 150

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führungen und Bedrohungen. Mit der von Platon angestrebten Befreiung von der Politik, die nun dem Bereich des Notwendigen zugeordnet wird, wird erstmalig ein negativer Begriff von Freiheit formuliert, demzufolge der Einzelne nicht durch Politik, sondern nur außerhalb ihrer frei sein kann. 153 Die Identität von Freiheit und politischem Leben wird aufgelöst, indem politisches Handeln als Mittel zu einem höheren Zweck, dem guten Leben, verstanden wird – wobei nicht außer Acht gelassen werden darf, dass die Selbstsorge bei Platon stets die Sorge um die anderen, um die πόλις mit einschließt. 154 Wer die Idee des Guten geschaut hat, soll in die Höhle zurückkehren. Die Dissoziation von Selbstsorge und politischer Angelegenheit war gerade nicht seine Absicht. Aristoteles hält daran fest, dass das Glück des Einzelnen mit dem des Gemeinwesens identisch ist. 155 Im Gegensatz zu Platon erkennt er aber, dass zum politischen Handeln eine auf Einzelfälle und situative Besonderheiten bezogene praktische Vernunft, die φρόνησις, gehört. 156 Die Eigengesetzlichkeit der praktisch-politischen Lebensform wird erkannt, im Vergleich zur theoretischen sei sie allerdings »zweitrangig«. 157 Aristoteles betrachtet den menschlichen Bereich vom Standpunkt des Theoretikers aus. 158 Da »die Tätigkeit der Vernunft […] keinen anderen Zweck hat, als sich selbst« 159 und ein Leben Vgl. Arendt: Was ist Politik?, S. 55. Vgl. Foucault: Hermeneutik des Subjekts, S. 113, 244. 155 Vgl. Aristot. pol. VII, 2, 1324a; VII, 3, 1325b. 156 Vgl. Aubenque, Pierre: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, Hamburg 2007, S. 48 ff., 140. 157 Vgl. Aristot. eth. Nic. X, 8, 1178a. Siehe auch Flashar: Aristoteles, S. 103. 158 Damit sind im Hinblick auf das Phänomen des Handelns bereits gewichtige Probleme verbunden. Vgl. Vollrath: Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, S. 87–89. Den Grund dafür, dass die Klugheitstheorie dem Bereich des Handelns unangemessen bleibt, sieht Vollrath in der von Platon übernommenen Abwertung der Meinung. »Es gibt für ihn keine Möglichkeit, die Phronesis und den politischen Bereich von der Meinung her zu bestimmen. Dies würde bedeutet haben, daß die Phronesis selbst den politischen Bereich und das Handeln in ihm gemäß einer Maxime beurteilend zu bestimmen gehabt hätte. Weil die parmenideisch-platonische Abwertung der Meinung durch die Theorie ihr diese Leistung nicht zutraut, läßt Aristoteles den Aufriß des politischen Bereichs, d. h. auch des ihn konstituierenden Handelns, in seiner kategorialen, temporalen, modalen und kausalen Struktur nicht von der Urteilskraft vornehmen, sondern von der Theorie her, d. h. in Absetzung von dem Bereich her, auf den Theorie sich versteht, dem Bereich des ideenhaft Substantiellen.« Ebd., S. 97 f. 159 Aristot. eth. Nic. X, 7, 1177b. 153 154

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in Muße »das glückseligste« sei, würden auch die politischen Angelegenheiten als etwas Notwendiges, als »Arbeit« 160, nur um des mußevollen Lebens willen verfolgt werden. »Denn wir arbeiten, um dann Muße zu haben, und führen Krieg, um dann in Frieden zu leben […]. Das Handeln im öffentlichen Bereich verträgt sich aber erfahrungsgemäß nicht mit der Muße, kriegerisches Tun schon gar nicht.« 161 Der in Muße lebende Weise ist folglich am unabhängigsten (αὐταρκέστατος). 162 Aristoteles betrachtet das Verhältnis von Politik und Philosophie weitaus differenzierter als Platon und ist im Allgemeinen eher darum bemüht, eine Abwertung des politischen Lebens zu verhindern. 163 Die theoretische Lebensform kann schließlich nur innerhalb der πόλις realisiert werden. Da es für Aristoteles keine das Handeln leitende Idee des Guten gibt, kann der Theoretiker auch nicht unmittelbar die Herrschaft über die Polis beanspruchen, ebenso wenig beinhaltet das theoretische Leben schon die Vortrefflichkeiten aller Tugenden. 164 Politik und Philosophie werden als Tätigkeiten, gemäß ihrer Zweckhaftigkeit, voneinander geschieden und gehören doch zusammen, eben weil beide πράξεις sind. 165 Damit der Philosoph als Politiker, Ratgeber oder Gesetzgeber aktiv werden kann, muss er sich aufgrund der fehlenden Erfahrung in den Prozessen politischen Handelns der Mithilfe erfahrener Politiker versichern, die mit praktischer Vernunft (φρόνησις) begabt sind. Umgekehrt sollen die Handelnden von der »maßgebendsten und im höchsten Sinne leitenden […] politischen Wissenschaft« 166 – damit ist die Ethik gemeint – lernen, bewusst tugendhaft und somit zielgerichtet zu handeln. Indem Aristoteles Politik und Philosophie als πράξεις trennt und zusammenführt, entwickelt er eine theoretische Grundlage für die Unabhängigkeit des βίος θεωρητικός von der Politik. 167 Der Philosoph ist bereits praktisch tätig, sodass er keinesfalls dazu gedrängt werden muss, in die Höhle zurück160 »Nun ist […] das ganze Leben geteilt in Arbeit (ἀσχολία) und Muße (σχολή) […] und die Tätigkeiten sind geteilt in notwendige und nützliche auf der einen, und sittlich schöne auf der anderen Seite.« Aristot. pol. VII, 14, 1333a. 161 Aristot. eth. Nic. X, 7, 1177b (Übers. aus Flashar: Aristoteles, S. 103). 162 Vgl. ebd., X, 7, 1177b; Rapp: Aristoteles zur Einführung, S. 35. 163 Vgl. Flashar: Aristoteles, S. 104. 164 So ebd. Zur Kritik an der platonischen Idee des Guten vgl. Aristot. eth. Nic. I, 4, 1096bf. Ausführlich dazu: Gadamer: Griechische Philosophie. Bd. III, S. 198–227. 165 Siehe Scholz: Der Philosoph und die Politik, S. 129–131. 166 Vgl. Aristot. eth. Nic. I, 1, 1094a. 167 Vgl. Scholz: Der Philosoph und die Politik, S. 179–181.

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zukehren. Politische Entscheidungen müssen nicht direkt vom Philosophen getroffen werden, es genügt, wenn ein Philosoph beratend tätig ist. Die Möglichkeit, Normen zu stiften, eröffnet sich dem Philosophen jedoch vor allem hinsichtlich der Gesetzgebung, denn Gesetze sollen auf der Basis fundierten theoretischen Wissens gegeben werden. 168 Mit ihnen werden die Rahmenbedingungen und Zwecke politischen Handelns bestimmt, denn diejenigen sind »eigentlich tätig, die durch ihr Denken, gleichwie Baumeister, auch die äußeren Handlungen maßgebend beeinflussen und bestimmen«. 169 Die höchste Form praktischen Tätigseins ist dem Philosophen vorbehalten. Sie unterscheidet sich jedoch gravierend vom freien Miteinanderhandeln. Die Maßstäbe für das Tätigsein des Philosophen entspringen bezüglich der Gesetzgebung nicht dem Handeln, sondern dem Herstellen – auch wenn Aristoteles die πρᾶξις im Gegensatz zur ποίησις allgemein als eine Tätigkeit bestimmt, deren Zweck im Vollzug selbst liegt. 170 Die Dichotomie von Theorie und Praxis wird hier vordergründig vermieden, faktisch steht der Philosoph aber gerade dort, wo seine Tätigkeit in praktischer Hinsicht ihre Höchstform erreicht, dem politischen Bereich wie ein Architekt gegenüber, dessen Handlungskompetenzen durch sicheres Wissen begründet werden. Ebenso wie der Hersteller gutes Material für einen Gegenstand braucht, wählt der Gesetzgeber die Bürger für den zu konstruierenden politischen Verband aus. 171 Der Philosoph herrscht nicht direkt, sondern bestimmt durch Gesetze die Bedingungen des Handelns. Offenkundig gibt Aristoteles hier dem Bedürfnis nach, politisches Handeln, das nie 168 »Und so muß wohl auch, wer durch seine Fürsorge die Menschen bessern will, gleichgültig ob viele oder wenige, nach der Befähigung trachten, Gesetze zu geben, […] das vermag nicht der nächste beste, sondern wenn irgendeiner, der Wissende«. Aristot. eth. Nic. X, 10, 1180b. Erfahrung allein reicht dazu nicht aus. Vgl. ebd., X, 10, 1181b. 169 Aristot. pol. VII, 3, 1325b. 170 Vgl. Aristot. eth. Nic. I, 1, 1094a. 171 »Denn wie den Werkmeistern, z. B. den Webern und Schiffsbaumeistern, das geeignete Material für ihre Arbeit zu Gebote stehen muß – denn je besser es beschaffen ist, desto besser muß auch die Leistung ihrer Kunst geraten –, ebenso muß auch der Staatsmann und Gesetzgeber das eigentümliche Material für seine Aufgabe in der geeigneten Beschaffenheit zur Verfügung haben. Bei der Ausstattung eines Staates kommt aber an erster Stelle in Betracht, wie viele und was für Leute er nach der Natur der Sache notwendig braucht, und imgleichen, welche Größe und Beschaffenheit das zu ihm gehörige Land haben muß.« Aristot. pol. VII, 4, 1325bf.

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zuverlässig bestimmte Resultate erbringen kann, mit Hilfe der Gesetzgebung zumindest äußerlich zu steuern. In dieser Perspektive haben weder die Tätigkeit des Philosophen noch die erwünschten politischen Handlungsweisen ihren Zweck ausschließlich in sich selbst. Die wissensbasierte, poietische Perspektive betrifft die Gesetzgebung. Das politische Handeln an sich und die Bildung sollen dagegen frei von den Maßstäben des Herstellens bleiben. Gelingendes Handeln schließt jede Form instrumentellen Verhaltens aus. Dies wird insbesondere an der wiederkehrenden Ausschließung alles »Banausischen« vom Handeln und der Erziehung deutlich. Im letzten Buch der Politik werden sämtliche Lebensbereiche, die grundsätzlich eines freien Mannes würdig sind, im Hinblick auf mögliche Verfallsformen ins Banausische untersucht. 172 Aristoteles kann damit an eine bei den Griechen tief verankerte Skepsis gegenüber der Tätigkeit des Herstellers anknüpfen. 173 Grundsätzlich gilt jedoch, dass sowohl die πρᾶξις als auch die ποίησις von ihrem »Werk« her ausgelegt werden und auch die φρόνησις nur eine Wahl bezüglich der Mittel, nicht aber des Zweckes trifft. Der teleologische Charakter, der allen Tätigkeitsformen zugrunde gelegt wird, zeigt an, dass »stets die Techne Modell [steht], auch für die Phronesis, die nicht durch ihre eigene Wissensweise von der Techne unterschieden ist, sondern durch ihr unterschiedliches Sachfeld, die Prakta«. 174 Die neuartige Interpretation von Politik als Herrschaft wird von Aristoteles nur vordergründig geteilt, insofern die Verfassungen, Monarchie, Aristokratie, Oligarchie usw., »in Bezug auf die Gewalten 172 Ein solcher Verfall tritt immer dann ein, wenn der Zweck eines tugendhaften, gelingenden Lebens durch allzu eifrige Perfektionsbemühungen in einer Kunstfertigkeit bzw. Technik ersetzt wurde. Das gilt für den Handel, das Kriegshandwerk, die Musik und für die Künste und Wissenschaften. Vgl. Aristot. eth. Nic. VIII, 2, 1337b; VIII, 4, 1338b; VIII, 5, 1339b; VIII, 6, 1340b. Zum Ausschluss der Handwerker von der Politik vgl. ebd., VII, 4, 1326a. 173 Die Skepsis bezieht sich allerdings nur auf die herstellende Tätigkeit und damit auf den Hersteller nicht etwa auf das Werk. »Die Griechen konnten gleichsam gleichzeitig sagen: ›Wer den Zeus des Phidias in Olympia nicht gesehen hat, hat umsonst gelebt‹ und: Leute wie der Phidias, nämlich Bildhauer, sollten eigentlich nicht zum Bürgerrecht zugelassen werden.« Arendt: Kultur und Politik, S. 284. Vgl. auch Meier: »Die griechisch-römische Tradition«, S. 100. Grundsätzlich ist zum Verhältnis von Kultur und Politik bei den Griechen anzumerken, dass die besondere Kulturbildung auf die politische Freiheit zurückzuführen ist. Meier spricht von einer »Kulturbildung aus Freiheit statt aus Herrschaft«. Vgl. ebd., S. 97. 174 Vollrath: Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, S. 88.

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(ἀρχῶν)« 175, also die Frage, wer herrscht, analysiert werden. Die oben erwähnte Doppeldeutigkeit des Herrschaftsbegriffs liegt auch in der Politik vor, aber Aristoteles differenziert zwischen der Herrschaft über Freie und der über Unfreie (δεσποτία) sowie das Haus und die Familienmitglieder, wobei der Sammelbegriff dafür aber ἀρχή ist. 176 Weil die Herrschaft über Sklaven im ersten Buch als gewaltfreie Interessengemeinschaft bestimmt wurde – obwohl Gewalt nach geläufiger Auffassung der Griechen die Despotie kennzeichnet – entfällt sie als Unterscheidungskriterium für ἀρχῆς. Die Herrschaft über Freie zeichne sich dadurch aus, dass sie wechselt. 177 Diese Bestimmung ist aber zu formal, denn die Herrschaft über Freie muss auch an sich höherwertiger sein. Daher heißt es weiter: »Wenn […] jemand an Tugend und an Macht, das Beste zu vollbringen, die anderen überragt, so ist es schön, einem solchen Manne zu folgen, und gerecht ihm zu gehorchen. Also nicht bloß Tugend müßte er haben, sondern auch eine Machtstellung, die es ihm möglich machte, sein Können in Taten umzusetzen.« 178 Nur die Freien können tugendhaft handeln, das entspricht wieder der gemeingriechischen Ansicht. Aber die Doppeldeutigkeit bezüglich der Herrschaftsbegriffe wird nicht vollständig aufgelöst, denn dazu sind die Kontexte, die mit demselben Begriff belegt werden, zu verschieden. Das eigene »Können in Taten« zu zeigen, ruhmreich zu handeln ist konstitutiv für das antike Verständnis von Politik. 179 Dazu bedarf es einer »Machtstellung«, die ihrerseits nicht auf Zwang beruht, sondern sich aus vorbildlichen Handlungsinitiativen in der Vergangenheit speist. In diesem Sinne ist der »Herrscher« ein Anführer – jemand, der herausragt, weil er den Anfang zu einer Tat macht und andere zu überzeugen vermag, ihm zu folgen. 180 Nicht der Wechsel der Herrschaft, sondern das Anfangen und Sich-Auszeichnen kennzeichnet das ἀρχεῖν unter Freien. »Herrschaft« und »Gehorsam« haben also völlig unterschiedliche Bedeutungen, je nachdem, ob damit das Anführen Freier oder die Autorität gegenüber Unfreien gemeint ist. Dass die bezeichneten Kontexte sich stark vonVgl. Aristot. pol. III, 6, 1278b. Vgl. ebd., III, 6, 1278bf.; VII, 3, 1325af. 177 »Denn für solche, die einander gleichstehen, liegt das sittlich Schöne und Gerechte in dem Wechsel der Herrschaft, der allein der Forderung der Gleichheit und Gemeinsamkeit entspricht.« Ebd., VII, 3, 1325b, siehe auch III, 6, 1279a. 178 Ebd. 179 Vgl. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 260 f. 180 Vgl. ebd., S. 282–285; Arendt: Was ist Politik?, S. 49. 175 176

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einander unterscheiden und im ἀρχεῖν unter Freien das Anfangen und Herausragen anklingen, war sowohl für Aristoteles als auch für die athenischen Politiker, an die die Schrift sich richtete, selbstverständlich. Aristoteles betrachtet die Differenz unter veränderten Gesichtspunkten. Die Despotie soll nützlich, aber nicht gewaltsam und die politische »Herrschaft« gerecht sein, in dem Sinne, dass auf Gewalt und Zwang beruhende Abhängigkeiten weder unter den Handelnden noch in Bezug auf die Nachbarstädte angestrebt werden dürfen. 181 Aristoteles versöhnlichere Darstellung des Verhältnisses von Politik und Philosophie bringt die Abkehr und Emanzipation des βίος θεωρητικός von der Politik zum Abschluss. 182 Durch die Annahme, dass das Handeln im öffentlichen Bereich »Arbeit« sei, wird der Philosoph von den alltäglichen politischen Aufgaben im Wesentlichen entbunden. Ebenso wie der Hausherr die ökonomischen Angelegenheiten einem Hausverwalter überlassen kann, könne auch der »Weise« die politische Verantwortung an einen »politischen Sachverwalter«, den φρόνιμος, delegieren. Die politischen Angelegenheiten ähneln notwendigen Alltagsgeschäften, zu deren Erledigung auch das Denken erforderlich ist 183, keinesfalls aber bildet sich die Verantwortung dadurch aus, dass sie im Bereich des Handelns zu erringen wäre. Damit die Seele sich vollgültig zur »Trägerin des ethischen Lebens« 184 entfalten kann, muss sie sich vom bloß Menschlichen ab und dem Göttlichen zugewendet haben. 185 Im menschlichen Bereich kann Wirklichkeit 186 nur unzureichend erfahren werden. Damit wird dem βίος πολιτικός genau jene Qualität abgesprochen, durch die laut Arendt Öffentlichkeit gekennzeichnet ist. Die Abhängigkeit des Denkens von der im öffentlich-politischen Raum erfahrenen Wirklichkeit wird von der antiken politischen Philosophie nicht gesehen. Auf181 »Allein die meisten Menschen halten, scheint’s, den Despotismus für Staatsweisheit und schämen sich nicht, ein Verfahren, das jeder von ihnen sich selbst gegenüber nicht gerecht und nicht nützlich finden würde, gegen andere zur Anwendung zu bringen. Denn wo es sich um sie selber handelt, soll gerechtes Regiment walten, wo es aber andere betrifft, da fragen sie nach keiner Gerechtigkeit.« Aristot. pol. VII, 2, 1324b. 182 Vgl. Scholz: Der Philosoph und die Politik, S. 179–181. 183 Vgl. Aubenque: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, S. 138. 184 Vgl. Aristot. pol. VIII, 5, 1340a. 185 Vgl. Aristot. eth. Nic. X, 7, 1177b. 186 Das Wort ἀληθινός kann sowohl »wahr« als auch »wirklich« bedeuten. Vgl. Long/ Sedley: »Die hellenistischen Philosophen«, S. 99.

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grund dieser Abhängigkeit ist der Philosophie eine politische Grammatik eingeschrieben. Das Politische erweist sich als der eigentliche Erfahrungs- und Entstehungshintergrund der abendländischen metaphysischen Tradition. Die politische Philosophie vermochte es nicht, diese Bedingungen aufzudecken. Wie ein Fluch hat dieser Mangel an primitivster begrifflicher Klarheit und Deutlichkeit, was entscheidende politische Erfahrungen und Realitäten anlangt, auf der abendländischen Geschichte im Grunde seit dem Perikleischen Zeitalter gelegen, als die Denker sich von den Handelnden schieden und das Denken begann, sich von politischer Faktizität und Erfahrung zu emanzipieren bzw. beschloß, diese Wirklichkeitsaspekte nicht eigentlich ernst zu nehmen. 187

Die philosophische Lebensform ist in ihrem Bemühen um ein Verständnis der Wirklichkeit und um Freiheit, gewissermaßen politischer als die Politik und steht zugleich außerhalb des politischen Raums, indem sie Wahrheit und Wirklichkeit nach Maßgabe von Erfahrungen des Denkens und nicht ausgehend von der Vielfalt der Meinungen beurteilt, und indem sie über die politische Freiheit hinaus die Befreiung von der Politik anstrebt. Mit der Institutionalisierung der philosophischen Lebensform wurde ein Erfahrungsraum für eine neue Form der Freiheit geschaffen. Dieser Freiraum zeichnete sich dadurch aus, dass sich diejenigen, die sich dazu entschieden hatten, in ihm zu leben, weitestgehend von den Angelegenheiten der Politik losgesagt hatten, falls sie nicht ohnehin als Fremde ausgeschlossen waren. Solange aber die politischen Sphären von πόλις und res publica intakt blieben und nur wenige die philosophische Lebensweise wählten, konnte die im Selbstverhältnis erfahrene Freiheit – die negativ, als Freisein von Begierden, Ängsten, Leidenschaften etc., bestimmt wurde 188 – nicht zum eigentlichen Erfahrungshorizont von Freiheit aufsteigen. Beide Gemeinwesen definierten sich durch die Identität von Politik und Freiheit. 189 Daher Arendt: Über die Revolution, S. 229. Passend dazu wird das Gute in den eudaimonistischen Moraltheorien vorrangig durch die Abwesenheit des Schlechten definiert. Vgl. Snell: Die Entdeckung des Geistes, S. 151–177. 189 Zweifelsfrei ist mit der Realisierung der politischen Freiheit eine enorme Steigerung von Entfaltungsmöglichkeiten in nicht-politischen Lebensbereichen verbunden und ein Gemeinwesen, das deren Vielfalt unterdrücken würde, wäre nicht politisch. Vgl. Meier: »Die griechisch-römische Tradition«. Die ökonomische Unabhängigkeit des Hausherrn und die patria potestas waren zwar zwingende Voraussetzung für die 187 188

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sind sich die politischen Denker der Antike darüber einig, dass das Gemeinwohl über den privaten Interessen steht. 190 Laut Cicero ist das Privatleben das, was im Verhältnis zum öffentlichen »übrig bleibt«. 191 Obwohl die philosophischen Praktiken offenkundig einen emanzipatorischen Charakter aufweisen, erblickten die antiken Denker in der Freiheit erstaunlicherweise kein spezifisch philosophisches Problem. Die Tugenden, in denen sich die ευδαιμονία bekundet, stehen im Zentrum der politisch-ethischen Überlegungen, nicht aber die Freiheit als ein besonderes, im Willen verankertes subjektives Vermögen. 192 Die Strömungen der antiken Philosophie entwickelten politische Betätigung, und zum Herrsein gehörte, keinen Herrn über sich zu haben, aber unter jenen Tätigkeiten, die frei vollzogen werden, nahm das politische Handeln den höchsten Rang ein. Erst unter der Herrschaft der römischen Kaiser erfuhr die negative Freiheit eine gewisse Aufwertung, zumal die politischen Mitwirkungsmöglichkeiten ohnehin eingeschränkt waren und das römische Bürgerrecht mit zunehmender Ausdehnung an Wert verloren hatte. Die eigentliche Aufwertung der negativen Freiheit, also des Befreitseins von den Lebensnotwendigkeiten, war aber vielmehr mit der Entstehung einer breiten Gesellschaftsschicht von Freigelassenen verbunden, die an das politisch-republikanische Freiheitsverständnis schon allein aufgrund ihres Status’ nicht anknüpfen konnten. Das republikanische Erbe blieb in Teilen dennoch bis zum Ende der Antike intakt. Z. B. wurden die Volksversammlungen in der Kaiserzeit fortgesetzt, auch wenn ihre Funktion eher eine symbolisch-rituelle war. Vgl. Jehne: »Das Volk als Institution und diskursive Bezugsgröße in der römischen Republik«, S. 133. 190 Über Brutus, den Begründer der Republik, sagt Cicero: »Obwohl er Privatmann war, hat er doch das ganze Gemeinwesen vertreten und hat als erster in diesem Staate gelehrt, daß in der Erhaltung der Freiheit der Bürger niemand Privatmann ist.« Cic. leg. II, 25 (46). Niemand kann sich darauf berufen, Privatmann zu sein, wenn die gemeinsame Freiheit auf dem Spiel steht, denn mit dem Verlust dieser Freiheit verfallen auch die unabhängigen Hausherrn der Unfreiheit, selbst dann, wenn ihre privaten Eigentumsverhältnisse unangetastet bleiben, was unter der Tyrannis zumeist der Fall war. 191 Vgl. Cic. leg. I, 4 (8). 192 Solange die Vollzugsweise von politischer Praxis und philosophischen Übungen vorrangig in Bezug auf das Können betrachtet wurde und darin »Wollen und Tun zusammen[fallen]«, so dass das Wollen der Tat nicht vorausgeht, sondern bereits selbst Tat ist, wurde auch die Frage nach der Freiheit des Menschen nicht aufgeworfen. Erst im Zusammenhang mit dem Phänomen des Willens, das der griechisch-römischen Antike als gesondertes Vermögen unbekannt war (Vgl. Dihle, Albrecht: »The Theory of Will in Classical Antiquity«, Berkeley Los Angeles London 1982), wird auch die Freiheit philosophisch interpretiert. Vgl. Arendt: »Politik und Freiheit«, S. 212 f. Snell erklärt dazu: »Wir setzen als Motiv des Handelns den Willen. Aber ein Wille, der sich immerfort bemüht, ist den Griechen fremd – es fehlt schon ein Wort für unser ›Wollen‹ – ϑέλειν ist: ›bereit sein, offen sein für etwas‹, βούλεσϑαι heißt: ›etwas als (mehr) erstrebenswert im Auge haben‹. Das Eine bezeichnet die subjektive

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zwar keinen Freiheitsbegriff, als Lebensformen gaben sie aber ein Beispiel dafür, dass der Mensch auch jenseits der politischen Sphäre frei sein kann. Mit den jüdisch-christlichen Philosophen verbindet sie, dass Freiheit für sie im Wesentlichen ein Phänomen des Selbstverhältnisses ist und nicht der politischen Ordnung und des Verhältnisses zu anderen. Partiell werden mit der neuen Lebensweise gesellschaftliche Schranken durchbrochen. Frauen werden bei den Akademikern aufgenommen, den Stoikern und Epikureern konnten sich Sklaven anschließen. Solange aber Richtmaß und Wert der gelungenen Lebensführung dem Göttlichen und nicht dem Menschlichen entsprangen, konnte mit der neuen Form von Freiheit keine entsprechende Idee vom Menschen oder der Menschheit verbunden werden. Im Gegenteil, indem der Tugendhafte das göttliche Element in der Seele verwirklicht, wendet er sich vom bloßen Menschsein ab. In den Politiken Platons und Aristoteles’ werden die Unterschiede zwischen den freien, vernunftbegabten »Menschen« und den unfreien Barbaren und Sklaven, verglichen mit den politischen und gesellschaftlichen Realitäten, nicht abgemildert, sondern betont. »Menschlichkeit« im Sinne einer allgemeinen Wertschätzung des Menschen ist keine Entdeckung der griechischen Philosophie. Im Griechischen gibt es für humanitas nicht einmal ein Wort. 193 Vernünftig kann laut Platon und Aristoteles nur sein, wer nicht unter der Gewalt eines anderen steht, wie die Sklaven, oder unter dem Zwang der Lebensnotwendigkeiten, wie die einfachen Bauern und Tagelöhner. Platons Forderung danach, dass jeder nur das Seinige tun dürfe, beinhaltet, dass derjeniBereitwilligkeit, eine Freiwilligkeit ohne besonderen Entschluß, das Andere den auf ein bestimmtes Objekt gerichteten Wunsch oder Plan (Bulé), also etwas, das nahe verwandt ist mit der Einsicht in einen Nutzen, jedoch keins den Vollzug des Wollens, das tätige Hinstreben vom Subjekt auf das Objekt hin«. Snell: Die Entdeckung des Geistes, S. 172. Die antiken Denker leisteten zur Erfassung dieses Phänomens durch die Theorien von der Selbstbewegung der Seele, der »Willenswahl« (φρόνησις) und der »Zustimmung« (συγκατάθεσις) Vorarbeit. Vgl. Kahn: »Discovering the Will«. In den Praktiken der Selbstbeherrschung, z. B. im Kampf gegen die Begierden, konnte sich sehr wohl Willenskraft bekunden, aber zur prägenden Erfahrung eines neuen Bewusstseins wird der Wille nicht aufgrund seiner Macht, sondern der Ohnmacht des Nicht-Könnens. Arendt verweist in diesem Zusammenhang auf Paulus, der erklärte: »Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht.« Römer, 7, 18 (Luther-Übers.). Mit Augustinus’ Konzeption des liberum arbitrium beginnt die Tradition der »Metaphysik der Freiheit«. Vgl. Kobusch: Die Entdeckung der Person. 193 Vgl. Snell: Die Entdeckung des Geistes, S. 235 u. 237.

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ge, der mit politischen Aufgaben betraut ist, nicht zugleich im Bereich des Handwerklichen oder der Ökonomie tätig sein darf. Und Aristoteles erklärt konsequenterweise, dass für Politik und Warenaustausch unterschiedliche Agoren einzurichten seien und den Bauern und Tagelöhnern der Zugang zur politischen Agora verwehrt werden müsse. 194 Die Stoiker halten an der Angleichung an Gott fest, da aber die Begrenzung der Gerechtigkeit auf das »politische Recht« 195 selbst Unrecht sei, muss die πόλις die gesamte Welt umgreifen, eine μεγαλόπολις sein. In dieser »Weltstadt« entscheiden nicht mehr Abstammung und Bürgerschaft über das Gelingen des tugendhaften Lebens, sondern einzig und allein das Geübtsein in der Tugend selbst. Jeder konnte sich, zumindest prinzipiell, für eine philosophische Existenz entscheiden. 196 Mit der Ausdehnung der politischen Konzeption auf die Menschheit und der Zurückweisung des natürlichen Unterschieds von Hellenen und Barbaren 197 sowie Freien und Sklaven, erfolgte eine Neuinterpretation des Naturbegriffs. »[K]ein Mensch ist von Natur aus ein Sklave«, so Chrysipp. 198 Es kann niemandes Interesse sein, beherrscht zu werden 199, niemand ist von Geburt an zur Unterordnung disponiert. Im Vergleich zu Aristoteles betonen die Stoiker den Veranlagungsaspekt des φύσις-Begriffs stärker. Die Natur ist als Universalvernunft von Anfang an in jedem Lebewesen lenkend präsent. Im Gegensatz zu den Tieren führt sie den Menschen an den Punkt, an dem er sich individuell der Vernunft bedienen muss, um zur Seelenruhe fortzuschreiten. Aber die ältere Stoa verbindet mit der natürlichen Freiheit noch nicht ausdrücklich eine Aufwertung des Menschseins. Erst Cicero, der den φύσις-Begriff von vornherein im Sinne der natura primär als natürliche Anlage versteht, erblickt im Vernunftvermögen, der Bildungsfähigkeit und im Reden-Können Auszeichnungen, die sich auf das ganze Menschengeschlecht (genus humanum) beziehen und

Vgl. Aristot. pol. VII, 12, 1331a. Vgl. dazu Kap. IV.2.3. 196 Insbesondere Epikur war darauf bedacht, mit seiner Lehre die Vielen anzusprechen. Vgl. Geyer: Epikur zur Einführung, S. 47. 197 Vgl. SUS, Frg. 676. 198 Ebd., Frg. 678 = SVF III 352 (p. 86, 18–19). Die Herrschaftsverhältnisse werden nicht so sehr aufgrund der Misere der Unterdrückten hinterfragt, sondern deshalb, weil sie mit der Würde und Unabhängigkeit des Philosophen nicht vereinbar sind. 199 Vgl. Aristot. pol. I, 6, 1255b. 194 195

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die Humanität des Menschen kennzeichnen. 200 Er bildet aus dem stoischen Naturbegriff, dem παιδεία-Konzept der Rhetorik, insbesondere des Isokrates, und jener Wertschätzung des Menschlichen, dem die Komödien des Terenz Ausdruck verleihen, einen Maßstab für die Menschlichkeit des Menschen. Humanitas ist die Grundlage dafür, dass die Menschen Gemeinschaften bilden können und als Menschheit in einer Gemeinschaft des Rechts verbunden sind. »[D] ie Natur [schreibt] dem Menschen vor […], dass er für den Menschen, wer es auch sei, allein aus dem Grund, weil es ein Mensch ist, zu sorgen hat«. 201 Die höhere Wertigkeit der menschlichen Natur 202 wird dadurch unterstrichen, dass in ihr, so Cicero, Würde (dignitas) liegt. Seneca spricht sogar von der Heiligkeit dieses Wertes: »Der Mensch ist dem Menschen etwas Heiliges«. 203 Er kann dabei auf die altstoischen Gedanken der Abstammung von Gott und der Gottesebenbildlichkeit zurückgreifen. Die römischen Juristen der Kaiserzeit orientieren sich an der stoisch-ciceronischen Auslegung der Natur des Menschen, um damit das römische Recht philosophisch zu begründen. Der Grundsatz, dass alle Menschen nach dem Naturrecht frei und gleich geboren sind und »jedem sein Recht zuzuteilen« 204 ist, steht am Anfang der bis dato umfassendsten Kodifikation.

Vgl. Snell: Die Entdeckung des Geistes, S. 236 f. Cic. off. III, 27 (Herv. O. B.). 202 Auch in der römischen Geschichtsschreibung wird die Vernunftnatur des Menschen hochgeachtet. Sallust z. B. schreibt, dass man »nichts Größeres und Vortrefflicheres als sie« finden kann und es »nichts Besseres und Herrlicheres in der menschlichen Natur [gibt] als [den Geist]«. Sall. Iug. 1–2. 203 Sen. epist. XV, 95, 33 (Übers. nach Hadot: Die innere Burg, S. 416). 204 Vgl. Dig. 1.1.1. Siehe auch Neschke-Hentschke: »Tradition und Identität Europas«, S. 22. 200 201

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Der Grundsatz von der natürlichen Freiheit und Gleichheit aller Menschen begegnet uns in den Menschenrechtserklärungen der Neuzeit wieder, nachdem das antike Erbe – vermittelt durch drei bedeutende Rezeptionsströmungen, der des römischen Rechts seit dem 11. Jahrhundert, des Aristotelismus seit dem 12. Jahrhundert und des Stoizismus seit dem 16. Jahrhundert – eine maßgebliche Referenz für die Formulierung der neuzeitlichen Naturrechtstheorien geworden war. Auf zwei weitreichende Veränderungen im Zuge der beiden großen Revolutionen Ende des 18. Jahrhunderts ist im ersten Kapitel hingewiesen worden. Erstens sind die Menschenrechte durch ihre Erklärung zur Bedingung der Politik geworden, zweitens setzt das Menschenbild der Menschenrechte die Autonomie und Identität des neuzeitlichen Subjekts voraus. Auf unterschiedliche Weise illustrieren diese beiden Gesichtspunkte einerseits den Bruch mit den in der Antike entstandenen Denkmustern und andererseits deren Aktualisierung. Zum ersten Aspekt: Laut Menke und Raimondi »[stehen] [d]er Begriff der Revolution und der Begriff der Menschenrechte […] in einem inneren, systematischen Zusammenhang«, denn Menschenrechte sind durch ihre öffentlichen Erklärungen zum »Prinzip einer anderen Politik« geworden. 1 Die moderne Politik ist eine »andere«, weil sie »wesentlich revolutionär« ist und weil ihre Handlungsmöglichkeiten stets im Lichte des Ereignisses der Menschenrechtserklärung gesehen werden. Die Revolution und das Ereignis der Erklärung sind somit nicht endgültig abgeschlossene »Akte«; vielmehr ist die Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse konstitutiv für die Politik geworden, weil »[d]er Sinn der Revolution ist, dass die Veränderung, die vollständige Veränderung, möglich ist, und es […] deshalb unmöglich [ist], eine Grenze des revolutionären Vorgangs 1

Menke/Raimondi: Die Revolution der Menschenrechte, S. 9.

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auch nur skizzenhaft anzugeben«. 2 Die Menschenrechte sind dabei nicht nur normative Vorgabe für die Politik, sondern sie sind das Prinzip der neuen »Form der Politik«. 3 Die politischen Handlungen werden nicht allein an den von ihnen gleichsam unabhängigen Anforderungen der Moral und des Rechts gemessen, sondern auch daran, ob sie als Folgehandlungen einhalten, was zuvor politisch vereinbart bzw. versprochen wurde. 4 Vollrath weist im Hinblick auf die ungelöste Sklavenfrage in den USA darauf hin, dass auch die Folgenlosigkeit der Erklärung nicht gegen ihren bedingenden und bindenden Charakter spricht, sondern selbst als eine Folge zu betrachten ist. 5 Mit der Feststellung, dass die Menschenrechte in der Neuzeit zum Prinzip einer neuen Form von Politik geworden sind, ist demnach nicht gemeint, dass ihre Durchsetzung im 19. Jahrhundert ein zentrales Anliegen der Politik gewesen sei – das wäre, historisch betrachtet, nicht haltbar. Behauptet wird aber, dass sich die Politik grundsätzlich verändert hat, unabhängig davon, ob sie direkt Menschenrechte zum Gegenstand hat oder nicht. Die »Politik der Menschenrechte« zeichnet sich in diesem Sinne dadurch aus, dass Menschenrechte zu einem Konstituens des Politischen geworden sind. In der griechisch-römischen Antike war das politische Handeln dagegen an kein universelles Prinzip gebunden; maßgebend für den Fortbestand von politischer Gleichheit und Freiheit in der Polis oder der römischen Republik war stattdessen, dass Freiheit und Gleichheit als Privileg nur dem Bürger zugestanden wurde. Auf die damit zusammenhängenden Differenzen von antiker und neuzeitlicher Politik Lev, Amnon: »Demokratie und Menschenrechte«, in: Gander (Hg.): Menschenrechte, S. 64. 3 Vgl. Menke/Raimondi: Die Revolution der Menschenrechte, S. 9. 4 Zur Relevanz des Versprechens für politisches Handeln vgl. Förster: Die Sorge um die Welt und die Freiheit des Handelns, S. 273 ff. Arendt weist darauf hin, dass die Einhaltung von Moralvorschriften sich innerhalb des politischen Bereichs allein auf die »Fähigkeit zum Versprechen« berufen kann und »auf nichts anderes stützen kann als den guten Willen, den Risiken und Gefahren, denen Menschen als handelnde Wesen ausgesetzt sind, mit der Bereitschaft zu begegnen, zu vergeben und sich vergeben zu lassen, zu versprechen und Versprechen zu halten. Dies jedenfalls sind die einzigen Moralvorschriften, die an das Handeln nicht Maßstäbe und Regeln herantragen, die außerhalb seiner gewonnen und von einem angeblich höheren Vermögen oder von Erfahrungen mit vorgeblich höheren Dingen abgeleitet sind.« Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 314 f. Hinsichtlich des »guten Willens« gilt an dieser Stelle, wie für den Handlungsbegriff bei Arendt im Allgemeinen, dass der Wille der Tat nicht vorausgeht, sondern selbst Tat ist. 5 Vgl. Vollrath: »Die Folgen der Menschenrechte«, S. 72. 2

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bzw. Demokratie wiesen schon Constant, Tocqueville und Hegel hin – trotz unterschiedlicher Auffassungen darüber, in welchem Verhältnis der Staat und die Menschenrechte in der Moderne zueinander stehen. 6 Obwohl der neuzeitliche, durch Menschenrechte legitimierte Staat mit den antiken Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit bricht – insofern Freiheit und Gleichheit als liberale Kategorien der von gesellschaftlichen Hierarchien entbundenen Rechtsordnung verstanden werden – verdankt er dennoch seine Entstehung einer erneuten Erfahrung der politischen Freiheit, deren Bewahrung das primäre Ziel der Revolutionäre war. 7 Diese Freiheitserfahrung, die nicht gleichzusetzen ist mit dem Befreitsein von Herrschaft oder grundrechtlich zugesicherten Freiheiten – so die These von Kapitel III.2.2. – ist laut Arendt als positiver Lebensmodus den politischen Freiheitserfahrungen der Griechen und Römer durchaus ähnlich. Die führenden Köpfe der amerikanischen Revolution, die sich selbst founding fathers nannten, waren sich der Einmaligkeit der geschichtlichen Situation, in der sie sich befanden, vollkommen bewusst. Vor die Aufgabe gestellt, die Freiheit im neuen Gemeinwesen zu gründen (constitutio libertatis), wandten sie sich enthusiastisch an die antiken Autoren, und plötzlich gewannen deren Themen – die Vor- und Nachteile der einzelnen Verfassungsformen, das Ideal der Mischverfassung, die politischen Tugenden, die vorbildlichen Taten und Verhaltensweisen der griechischen und römischen Persönlichkeiten, die Reflexionen über die menschliche Natur, das Naturgesetz bzw. -recht usw. – eine ungeheure Präsenz in der öffentlichen Diskussion. 8 Die Revolutionen kennzeichnet also, dass die politische Freiheit – an der nach antiker Auffassung immer nur eine begrenzte Anzahl von Bürgern (bei den Griechen das politische Volk, δῆμος) unmittelbar teilhaben kann – erneut auflebt und geleitet wird von einem Prinzip, das der antiken Tradition politischen Denkens völlig fremd ist, nämlich der Befreiung von Herrschaft im Zeichen der Gleichheit aller Menschen. 9 Obwohl dieses Prinzip in der Antike nicht formuliert wurde, Vgl. dazu Lev: »Demokratie und Menschenrechte«. Vgl. Arendt: Über die Revolution, S. 33–42, 183–231. 8 Vgl. Richard, Carl J.: The Founders and the Classics. Greece, Rome, and the American Enlightenment, Cambridge (Mass.) London 1996 (zur Rezeption antiker Naturrechtstheorien insbes. S. 175 ff.). 9 Übertragen auf die antiken Verhältnisse gliche dieses Motiv einem Kampf für die Gleichberechtigung von Sklaven und Metöken. Mit der Umsetzung einer solchen Forderung würden die Grenzen der politischen Gemeinschaft, der πόλις, gesprengt, 6 7

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werden doch zwei wesentliche Voraussetzungen dafür im antiken philosophischen Diskurs entwickelt, wie in Kapitel VI.2. sichtbar wurde. Die politische Philosophie legt seit Platon Politik als Herrschaft aus und nicht als positive Freiheit gemäß dem Politikverständnis der Athener. Darüber hinaus entwickelt sie zugleich einen negativen Begriff von Freiheit im Sinne der Befreiung von Begierden, Affekten und Zwängen. Davon wird der zweite Aspekt, der sich auf die »Selbstdeutung des europäischen Menschen« 10 bezieht, berührt, denn diese Form von Freiheit ist in der Antike nicht bloß ein Ideal oder ein theoretisches Konstrukt, sondern ein wesentliches Begleitphänomen von Übungen, die die philosophische Lebensform als Subjektivierungsprozess überhaupt erst konstituieren. Dieser in der Antike beginnende Prozess kann folglich nicht allein anhand des literarischen Diskurses rekonstruiert werden, sondern nur unter Einbeziehung der Philosophie als Lebensform. Wie Hamacher betont, »erklären« die neuzeitlichen Erklärungen diesen »Prozeß um das Wesen des Menschen im Prinzip für beendet«. 11 Die Subjektivierung des europäischen Menschen, die hinsichtlich ihrer Entstehung in der Antike nur im Verhältnis zum politischen Raum zu verstehen ist, gelangt also in der Neuzeit an ein Ende, nämlich unter der Voraussetzung einer erneuten Erfahrung der politischen Freiheit. Durch die Deklaration vergewissert sich der Mensch seines Wesens: Der Mensch ist nicht die Leerstelle dieser Deklaration, er ist derjenige, der sich in dieser Deklaration seines eigenen Wesens versichert, es auf seinen Grund zurückführt, seine Gegebenheit und Gegenwärtigkeit zu einem öffentlichen, einem universellen und unvergesslichen Faktum erhebt und in der Form der Deklaration dieses Wesen bestätigt. Das Wesen, das recht erkannte und als Recht erkannte Wesen des Menschen spricht sich in seiner Deklaration nicht als einem ihm fremden Medium nur aus; es selbst ist diese Deklaration, indem es sich in ihr bestätigt. 12

Die Freiheit und die Würde des Menschen werden als »recht erkannte« Wesensmerkmale des Menschen durch die Erklärungen verifiziert, weil sich im Erklären selbst die Freiheit und die Würde des denn der Demos würde sich immens vergrößern und der Einzelne in der Masse untergehen. Außerdem würden die Bürger ihre ökonomische Unabhängigkeit einbüßen. 10 Vgl. Neschke-Hentschke: »Tradition und Identität Europas«, S. 17. 11 Hamacher: »Vom Recht, Rechte nicht zu gebrauchen«, S. 219 (Herv. O. B.). 12 Ebd., S. 216 f.

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Menschen zeigen. Offensichtlich ist, dass diese Wesensauslegung durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 nicht aufgehoben, sondern bestätigt wurde, und dass auch neuerliche Erklärungen eine Aufhebung nicht vermögen würden, eben weil sich in der »Selbst-Deklaration« das Wesen des Menschen »als ein enthüllendes, deklaratives und juristisches« offenbart. In der zweiten methodischen Überlegung (Kap. I.2.2.) ist diese politische »SelbstDeklaration« vor dem Hintergrund der Entstehung des modernen autonomen Subjekts erörtert worden. Der Subjektivierungsprozess, also der »Prozeß um das Wesen des Menschen«, welcher mit den Erklärungen zum Abschluss kommt, hat seine Anfänge in der griechisch-römischen Antike. Die verallgemeinernde Rede von einem Prozess der Subjektivierung und der Interpretation des menschlichen Wesens ist allein durch den Rückblick, ausgehend von der neuzeitlichen Identität, gerechtfertigt. Das moderne Subjekt, also das Subjekt der Menschenrechte, ist ein historisch gewordenes. Aber auch eine geschichtshermeneutische Interpretation des Subjektivierungsprozesses läuft Gefahr, diesen Prozess zu sehr im Lichte moderner Implikationen des Subjektbegriffs zu verstehen. Deshalb ist der Erörterung dieses Prozesses keine besondere Theorie des Subjekts zugrunde gelegt worden. Ausgangspunkt für die philosophiegeschichtliche Darstellung ist nicht ein vorab nach bestimmten Kriterien definiertes Subjekt, sondern ein Wandel im Diskurs über die Wahrheit (ἀλήθεια), durch den das Fragen nach dem Wesen des Menschen, nach der φύσις, erst möglich wurde. Gezeigt werden konnte, dass im Kontext dieses Fragens Vorstellungen von der Natur des Menschen entwickelt worden sind, die stets begleitet wurden von φύσις-gemäßen Rechtsauffassungen. Im antiken Naturrechtsdenken spiegeln sich Auslegungen des Wesens des Menschen wider, die – nachdem Platon bestimmt hatte, was »Erkenntnis« ist – auch ein Wissen vom Menschenwesen beinhalten. Wie eben angemerkt wurde, wird in der politiktheoretischen Perspektive vorausgesetzt, dass die Menschenrechte keineswegs nur das Produkt einer geistesgeschichtlichen Tradition des Naturrechtsdenkens sind; so als habe diese Tradition unabhängig von der politischen Ereignisgeschichte und nach Jahrhunderten der »Reifung« schließlich die »Frucht« der Menschenrechtsidee hervorgebracht, die dann nur noch in den Schoß der Revolutionäre fallen musste. Somit drängt sich hinsichtlich antiker Grundlagen die Frage auf, in welchem Verhältnis die Entstehung des Naturrechtsdenkens, oder allgemeiner die Ent417 https://doi.org/10.5771/9783495817001 .

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stehung der Philosophie, und die Politik zueinander stehen. Den Erklärungen geht eine Pluralität von Diskursen voraus (siehe I.2.1.). Deutlich wurde, dass diese, z. B. die Naturrechtstradition, der Würdediskurs, der Diskurs über die Sakralität der Person oder die Rechtsstaatlichkeit, ihre Anfänge in der Antike haben. Die Bezüge dieser Diskurse untereinander lassen sich aufhellen, indem sie im Kontext zu den beiden maßgeblichen Lebensformen erläutert werden. »Der« Prozess der Subjektivierung wird damit konkretisiert als ein politischer und ein philosophischer, bzw. mit Blick auf politische und philosophische Lebensformen. 13 Zuletzt (Kap. VI.2.) wurde erläutert, dass die Etablierung der philosophischen Lebensweisen durch das Vorhandensein eines politisch-öffentlichen Raums bedingt war; sie entstanden als Alternativen zum politischen Leben und in einem antagonistischen Verhältnis zu diesem. Die »politische Subjektivierung« ist demnach Voraussetzung für die Entstehung der antiken Philosophie – welche einen ersten Begriff des Politischen formuliert, demzufolge Politik als Herrschaft zu verstehen sei. Deutlich wurde in diesem Zusammenhang, dass die »politische Subjektivierung« – in einer den antiken Vorstellungen gemäßen Weise – gerade nicht als Ausnahme von der Herrschaft zu betrachten ist, wie Rancière annimmt, sondern sich unter Ausschluss von Herrschaftsverhältnissen vollzog. Ausgehend von dieser neuen Verhältnisbestimmung von politischer Subjektivierung und Subjektivierung im Rahmen des philosophischen Diskurses könnten auch die Zusammenhänge von Subjektkonstitution und Politik in der Nachantike hinsichtlich spezifischer Beiträge zur Menschenrechtsgeschichte untersucht werden. Die Auseinandersetzung mit den antiken Grundlagen der Menschenrechte hat gezeigt, dass die Menschenrechte im Rahmen einer »Ideengeschichte« oder einer rechtshistorischen Darstellung nur unzureichend als geschichtliches Phänomen interpretiert werden können. Wenn es tatsächlich einen inneren, systematischen Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Politik gibt, so kann die Geschichte der Menschenrechte nur unter Einbeziehung der Entdeckung des Politischen in der Antike dargestellt werden. Aristoteles wies auf das antagonistische Verhältnis beider Lebensformen hin: »Denn diese beiden Lebensformen sind es so ziemlich, die man die eifrigsten Verehrer der Tugend in der Vor- und in der Jetztzeit hat erwählen sehen: sie waren immer entweder Staatsmänner oder Philosophen.« Aristot. pol. VII, 2, 1324a (Herv. O. B.).

13

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Abkürzungen

SUS = Nickel, Rainer (Übers.): Stoa und Stoiker, Düsseldorf 2008. SVF = Arnim, Hans von: Stoicorum Veterum Fragmenta, 4 Bde., Leipzig 1905–1924.

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Personenregister

Adams 381 Aëtius 295 Agamben 249 Aischylos 140 Alexander der Große 315, 346 Alexander von Aphrodisias 302 Alkidamas 115–116, 258–259 Alkman 86 Ambrosius 38 Ananxandrides 270 Anaxagoras 123 Anaximander 73, 93, 123, 289, 370 Anselm 102 Antiphon 110–115, 117, 119, 121– 123, 193, 215, 258, 289, 370–371 Antisthenes 224, 259, 312–313 Arendt 18, 48, 62, 68, 70–71, 143– 144, 146–177, 241, 390–391, 393– 394, 398, 407, 410, 414–415 Aristipp 279 Aristophanes 196, 259 Aristoteles 16, 19–22, 30, 35, 41, 44, 55, 63, 67, 71, 89, 96, 98–99, 102, 118, 121, 125, 128–129, 132, 136– 138, 146, 172, 174, 176, 223, 229– 258, 260–273, 276–278, 282–284, 287, 289, 291–293, 304, 324, 326– 329, 331, 342–344, 347–348, 350, 372–374, 376, 379, 381, 384–388, 391–392, 395–396, 402–407, 410– 411, 418 Arrian 305 Augustinus 35, 38, 58, 374–375 Augustus 362 Aurel 39, 43, 305, 321, 330, 351, 387

Balibar 48 Berlin 162 Bloch 13 Boethius 38 Brutus, L. I. 409 Brutus, M. I. 337 Bryson 263 Burckhardt 129 Caesar 336–337 Caracalla 362 Castoriadis 162 Catilina 337 Cato 337 Celsus 363 Chalcidius 293 Chrysipp 264, 294, 296–298, 301– 302, 309, 313–314, 320, 329, 364, 411 Cicero 35, 38–39, 42, 45–46, 166, 297, 301–302, 308, 314–318, 320–324, 329–342, 345–346, 351, 353, 363, 365, 374, 377, 379–381, 409, 411– 412 Claudius 352 Clemens von Alexandria 37, 292 Condorcet 23 Constant 45, 415 De Gouges 66 De Vitoria 35 Demetrios von Phaleron 271 Demokrit 190, 204 Descartes 57–59, 100, 279 Diderot 345–346

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Personenregister Diogenes Laertius 224–225, 276, 296, 300, 304, 311 Diogenes von Apollonia 123 Diogenes von Oinoanda 285 Diogenes von Sinope 310–313, 386, 389 Diogenianos 301 Dionysios von Halikarnassos 264 Drakon 125, 350 Drusus, M. L. 358 Ephialtes 129 Epiktet 21, 43, 289, 302, 304–308, 312, 344–345, 348, 387 Epikur 20–21, 272–287, 289, 294– 295, 318–319, 373–374, 376, 384– 385, 387, 411 Erasmus 342 Eratosthenes 314 Euripides 138, 180–182, 184–187, 259, 261, 329 Foucault 64, 386, 396 Freud 123 Gadamer 78, 103 Gaius 41–42, 315, 359, 361 Gellius 297, 336–337 Gordon, Th. 381 Gorgias 115, 203–204 Gregor von Nyssa 342 Grotius 192 Habermas 29, 48, 60, 145 Hadrian 330 Hammurabi 40 Harrington 381 Hegel 30, 36, 58, 73, 146, 148, 164, 176, 415 Heidegger 59, 76–80, 88, 94, 146–147 Hekataios 75 Herakleides Pontikos 261 Heraklit 17–18, 73–84, 87–98, 100– 101, 103, 106–107, 117, 121, 198– 199, 221, 229, 288–291, 293, 309, 351, 370 Herder 23

Herodot 85, 99, 113, 135, 394 Hesiod 17, 75, 82–85, 87–89, 225, 333, 378 Hippias 116–118, 122, 217, 221, 258, 370 Hobbes 21, 57, 176, 211, 285–286 Homer 17, 84, 89, 98, 261, 392 Horaz 336 Isidor von Sevilla 35 Isokrates 116, 125, 412 Jellinek 25–32 Julian 286 Justinian 354, 364 Kallikles 119, 204–207, 401 Kant 57, 59–60, 143, 160, 294, 319, 334 Karneades 340 Kleanthes 38, 291, 307, 313 Kleisthenes 92, 128, 132–134 Krates 259 Kritias 119, 122 Laktanz 38, 341 Lefort 48 Leukipp 295 Lévinas 50 Livius 67, 336, 352–355, 357, 380– 381 Locke 57 Löwith 30–31, 36 Lykophron 118–119, 210 Lykurg 127 Marcianus 366 Marx 146, 176–177 Menoikeus 277 Montesquieu 57, 317, 381 Nero 324 Nietzsche 146 Numenius von Apameia 37 Origines 37, 341

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Personenregister Panaetius 342 Parmenides 73, 94, 229, 293, 384, 388 Paulus 410 Perikles 129, 138–139, 142, 391 Philipp V. 264 Philon von Alexandria 37 Picht 41 Pindar 86, 99, 309 Platon 18–19, 30, 37, 58, 60, 68, 71, 79, 93, 101–104, 107–108, 112, 116–118, 120, 134, 136, 138, 158, 164, 171–177, 182, 189, 193–195, 197–204, 207–229, 231–232, 235, 240–242, 249, 253, 258, 260–262, 270, 272–273, 276–278, 283–284, 286, 289, 308, 310–311, 313, 322– 323, 326, 328–329, 331, 344–347, 371, 376, 378–379, 381, 384, 386– 388, 391–393, 396–400, 402–403, 410, 416–417 Plutarch 42, 128, 314, 346 Polybios 127, 352, 379 Pompeius 337 Protagoras 17–18, 58, 99–109, 111, 117, 120, 174, 193, 195, 198, 370– 371 Pufendorf 319 Pyrrhus 334 Pythagoras 75

Sextus Empiricus 101 Sokrates 18–19, 74, 93, 103–104, 108, 111, 117–118, 120, 171, 175, 194– 197, 199–200, 203–214, 216, 224– 225, 228–229, 272, 277, 376, 381, 388–389 Solon 84, 128–132, 289 Sophokles 179–180, 370, 376 Strabon 314 Suárez 35 Sulla 355

Rancière 48, 66–70, 418 Robespierre 14 Rorty 57, 60 Rousseau 26, 57, 123, 227

Vergil 307, 352, 354 Victorinus 38 Voegelin 89–90, 224

Tacitus 336 Taylor 36, 39, 56, 64, 375 Terenz 320, 326, 335, 366, 412 Tertullian 37, 45 Theophilus von Antiochien 341 Theophrast 271 Thomas von Aquin 33, 102 Thrasymachos 119–120 Thukydides 110, 139, 165, 183, 185– 186, 351, 396 Tiberius 336 Tocqueville 36, 415 Trenchard, J. 381 Troeltsch 27, 30 Tugendhat 30, 145 Ulpian 42, 46, 363–365, 367–368

Whitehead 193 Schelling 146–147, 348 Schmitt 54, 159 Schweitzer 342–344, 346 Scipio Africanus 351 Seneca 42–43, 91, 296, 298, 307–308, 311, 319–320, 324–328, 330, 345, 365, 412

Xenophanes 75, 225, 295–296 Xenophon 136, 250, 255, 376, 388 Zenon von Kition 42, 225, 259, 272, 291–294, 296, 298–300, 304, 309– 314, 324, 328, 349

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Sachregister

actio 46, 362 Akademie, platonische 116, 383, 388– 389, 397 Asylrecht 18, 55, 139, 178, 183, 189– 192 audiatur et altera pars 131, 356, 381 Aufenthaltsrecht 335, 378 Barbaren 113–114, 184, 224, 254, 264, 267–269, 312, 315, 410–411 Bestattungsrecht 178, 180, 243, 376 Bewusstsein 58–59, 64, 318, 410 Bürgerrechte 22, 45, 49, 51, 68–69, 126, 134, 142, 167, 331, 353, 358– 359, 365, 380, 382, 405 Corpus iuris civilis 35, 364–365, 367– 368, 377–378 Demokratie 84, 124, 126, 129–130, 132, 134–139, 142, 224, 258, 266, 378–379, 391, 394–396, 415 Entelechie 235–236 Freiheit 21–22, 30, 35–36, 40, 49–50, 67, 84, 91, 124, 126, 137–138, 142– 143, 157, 160–164, 166–168, 170, 176, 178, 242, 258, 264, 285, 297, 300, 302–306, 308, 311, 330, 365, 367–368, 384, 389, 391, 400, 408– 409, 411, 414, 416 –, innere 21, 161, 304–305, 330 –, negative 161–163, 170, 402, 409, 416

–, politische 139, 160–162, 164, 168, 170, 172, 177, 191, 304, 385, 394, 398, 408, 415–416 Freiheitsrechte 23, 27, 29, 41, 163, 356, 382 Gerechtigkeit 18, 21, 46, 50, 75, 83, 85, 88–89, 93, 96, 105–107, 109– 111, 122, 139, 141–142, 174, 193– 195, 203–204, 207–208, 210–213, 217, 222–223, 228–229, 238–242, 282, 284, 289, 322–323, 333–335, 371, 373, 399, 411 –, allgemeine 238 –, distributive 46, 84, 223 –, partikulare 239 Gesetz 17, 74–75, 82–83, 87, 91–92, 109–114, 116–117, 120, 122, 130– 131, 137–138, 142, 145, 156, 160, 175, 189, 204, 207–212, 217, 219, 221–222, 238–239, 246, 251–252, 255, 265, 268, 270–271, 282–284, 286, 315–316, 344, 347, 350–351, 356–357, 368, 372, 378–380 –, göttliches 74–75, 82, 84, 87, 91–92, 94, 179–180, 216–217, 317, 342 Gesetze –, Herrschaft der 119, 127, 139, 208, 242, 375, 378–381 –, natürliche 18, 212, 296 –, ungeschriebene 18–19, 117–118, 122, 139, 179, 190, 216–218, 222, 334, 369–370, 376–377 Gewissen 60–61, 160, 319–320, 346 Gewissensfreiheit 32, 45

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Sachregister Gleichberechtigung 67, 219, 221, 224, 312, 314, 381, 415 Gleichheit 18, 24, 31, 64, 66–68, 84, 96–97, 113, 117, 119, 121, 138–139, 142–143, 160, 164, 166–167, 172, 178, 181, 239, 242, 251, 258, 261, 264, 266, 340–341, 345, 367, 369, 374, 377, 406, 415 –, arithmetische 239–240 –, geometrische 122, 210, 223, 226, 239–240 –, natürliche 63, 121, 182, 193, 258, 261, 369–370, 378 –, vor dem Gesetz 321, 381 Heliasteneid 131 Helotie 116, 128, 189, 258–259 Höhlengleichnis 195, 198–200, 202 Homo-mensura-Satz 17, 99–103, 107–108, 370 humanitas 44, 321, 328, 334–335, 338, 366, 377, 410, 412 Idee des Guten 196–199, 201–203, 217, 345, 392, 402–403 Individuum 43, 62, 64, 162–163, 227, 256–257, 278–279, 340, 347, 363, 383 ius gentium 41, 43–44, 315, 321, 350, 359–364, 382 ius humanum 39, 55, 315, 321, 325, 365 »jedem das Seine« 46, 84, 214–215, 217, 223, 240–241, 332, 366 Lebensform –, philosophische 22, 224, 305, 383– 388, 392, 396, 401, 403, 408, 416, 418 –, politische 389, 396, 402 lumen naturale 336 Maß (μέτρον) 17, 58, 77–78, 82, 99– 101, 103–104, 370 Materie (ὕλη) 232–234, 237, 264, 291–293, 347

Meinungsfreiheit 134, 142 Menschenwürde 16, 23, 34, 42, 51, 59, 61, 260, 307–308, 336, 338, 341 Menschheit 16, 23, 61, 123, 148, 169– 170, 264–265, 272, 297, 314, 326, 329–331, 334–335, 344, 346, 349, 351, 380, 410–412 Metaphysik 50, 60, 90, 144, 147–148, 171, 235, 274 –, Dekonstruktion der 144 –, der Bewegung 19, 349 –, politische 158, 171, 174, 176–177 Naturgesetz 22, 55, 91, 116, 290, 345–347, 351, 377, 415 Naturrecht 13, 19–21, 23, 26, 30, 32, 39, 42–43, 47–48, 51, 94–95, 178, 180, 192–194, 212, 214, 216–217, 222, 227, 231, 235–236, 242–244, 246–247, 252, 258–259, 261, 263, 265, 269, 271, 283–285, 287–288, 308–309, 315, 321, 331, 346–347, 364–365, 367–369, 372–373, 376– 378, 380, 382, 412 Öffentlichkeit 13, 51, 65, 143, 145, 149, 156, 159, 163, 170, 266, 389– 393, 401, 407 pacta sunt servanda 159, 169, 212 Person 35–36, 38, 49, 53, 144, 153– 155, 158, 167, 337–340, 346–347, 374–375, 418 Pluralität 148, 154, 157, 171–172 Rache 84, 105, 139–142 Recht –, auf Eigentum 126, 162, 225, 332, 378 –, auf freie Vereinigung 272 –, der Gefangenen 18, 55, 139, 178, 183–186, 189, 191 –, göttliches 47, 55, 188, 192, 321, 365 –, Migrations- 210, 212, 358 –, subjektives 26, 28, 34–35, 43–44, 46–47, 54, 64, 177, 192, 226, 284, 333, 383

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Sachregister Recht auf Rechte 168–169 Rechtsgleichheit 95, 354 Rechtssicherheit 19, 132 Rechtsstaat 19, 144, 163–164, 168 Redefreiheit (ίσηγορία) 128–129, 134–135, 165, 321, 381, 391 Seele 19, 37, 97–98, 197, 204, 206– 207, 213–216, 223, 228–229, 241, 250, 276, 278, 294, 298, 300–301, 306, 328, 375, 383, 386–388, 392, 399–401, 407 Selbstbeherrschung 213, 228, 322, 386–387, 400–401, 410 Selbsterhaltungtrieb (οἰκείωσις) 318–320 sine lege nulla poena 356, 381 Sklaverei 16, 19, 32, 39, 47, 91, 97, 114, 116, 128, 167, 182–183, 191, 223–224, 247–248, 250, 252–253, 255–267, 304–305, 310–312, 314, 326, 328–331, 341, 364–367, 373, 378 Subjektivierung 22, 60–62, 64, 67, 228, 257, 308, 369, 383–385, 388, 396, 416–418 –, politische 66, 68–70, 418 Todesstrafe 126, 141, 189, 210, 215, 271 ungeschriebene Lehre 391 Universalismus 36, 43, 94–95, 344, 363 Unparteilichkeit 131, 141, 186, 226, 401

Vernunft 19–21, 41, 57, 61, 63, 123, 160, 173, 175, 196, 200–201, 213– 214, 216, 221, 223, 247, 249, 258, 263, 275–276, 288, 291, 300, 303– 304, 306, 316–317, 319, 321, 338, 341, 344, 351, 360–361, 373, 379, 402, 411–412 –, praktische (φρόνησις) 72, 96, 275, 402–403, 405 Vertrag als Rechtsquelle 20–21, 49, 118, 159–160, 209–210, 252, 265, 268, 282–285, 358, 373, 376 Wahrheit (ἀλήθεια) 17, 75, 77–78, 80, 88–89, 104, 107–108, 112, 153, 197–199, 278, 289, 371, 417 Weltbezug 97, 121, 150, 161, 168, 279 Weltbürgertum 310, 312, 334, 346 Weltgesetz 290, 309 Weltstaat 272, 310, 312, 411 Weltvernunft 290, 304, 309 Wille 21, 35, 50, 53, 56–57, 60–61, 146–148, 160, 162, 241, 280, 296, 301, 306, 308, 339, 342, 346, 348, 374, 409–410, 414 Willenswahl (φρόνησις) 21, 241, 245, 258, 289, 342, 373, 410 Wirklichkeit 70, 107, 149–150, 156– 157, 160–161, 233, 235–236, 256, 347, 390–391, 394, 407–408 Zustimmung (συγκατάθεσις) 21, 299–301, 306, 348, 410 Zwölftafelgesetz 331, 350, 354–355, 357

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