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German Pages 334 Year 2023
Henning Ohst Die Epistulae ad familiares des Kaisers Augustus
Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte
Herausgegeben von Marcus Deufert, Heinz-Günther Nesselrath und Peter Scholz
Band 152
Henning Ohst
Die Epistulae ad familiares des Kaisers Augustus Studien zur Textgeschichte in der Antike, Edition und Kommentar
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
ISBN 978-3-11-119151-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-119359-5 ISSN 1862-1112 Library of Congress Control Number: 2023935863 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist eine geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die im Sommersemester 2021 unter dem Titel Epistularum Divi Augusti ad familiares reliquiae von der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig angenommen wurde. Zu großem Dank verpflichtet bin ich allen voran meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Marcus Deufert. Er hat das Thema angeregt und stand mir während der Zeit der Bearbeitung stets mit Interesse, Rat und Zuspruch zur Seite, ließ mir dabei aber auch Freiräume und bestärkte mich darin, eigene Zugänge zum Gegenstand zu entwickeln. Dieser mustergültigen Betreuung verdanken die Arbeit und ihr Verfasser mehr, als sich in einer kurzen Danksagung mitteilen lässt. Herrn Professor Dr. Hartmut Wulfram danke ich für die Übernahme des Korreferats. Von seiner Expertise auf dem Gebiet der kaiserzeitlichen Briefliteratur hat die Arbeit sehr profitiert. Danken möchte ich außerdem den Mitherausgebern der Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte, Herrn Professor Dr. HeinzGünther Nesselrath und Herrn Professor Dr. Peter Scholz, für die Aufnahme der Arbeit in diese traditionsreiche und angesehene Reihe und nicht zuletzt für weitere hilfreiche Hinweise und Korrekturen. Das Entstehen einer Arbeit wie der vorliegenden ist nicht vorstellbar ohne ständigen und intensiven fachlichen Austausch: Für unzählige, immer wieder gewinnbringende und ermutigende Gespräche möchte ich allen meinen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Klassische Philologie und Komparatistik in Leipzig danken, insbesondere PD Dr. Ute Tischer, Dr. Enrica Fantino, Dr. Melissa Kunz, Dr. Jonas Schollmeyer und Stephan Jödicke M. A.; außerdem danke ich für den Austausch im Gespräch oder per litteras electronicas sowie für Hilfen bei der Beschaffung von Literatur oder Digitalisaten Prof. Dr. Melanie Möller (FU Berlin), Prof. Dr. Peter Rothenhöfer (Sun Yat-Sen University, Zhuhai), PD Dr. Markus Stachon (Mainz), Dr. Antonio Rollo (Neapel), Dr. Claudia Wick (ThLL, München) und Claudia Minners-Knaup (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel). Vielfache Förderung sowohl während der Zeit meines Studiums als auch in der Zeit der Promotion verdanke ich Herrn Professor emeritus Dr. Wolfgang Huschner und Herrn Professor emeritus Dr. Kurt Sier. Ein wichtiger Bestandteil meiner Doktorandenzeit war die Mitarbeit an der damaligen Dresdner Arbeitsstelle des Akademievorhabens Die Deutschen Inschriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Nicht zuletzt auf die gemeinsamen Fahrten zur Inschriftenaufnahme kreuz und quer durch den Freistaat Sachsen mit meinen Kolleginnen und Kollegen Dr. Cornelia Neustadt, Dr. Sabine Zinsmeyer und Martin Riebel M. Ed. werde ich immer gern zurückblicken. https://doi.org/10.1515/9783111193595-201
VI
Vorwort
Für die kritische Durchsicht einzelner Kapitel dieses Buches danke ich Vincent Graf und Ute Tischer; mein Vater und mein lieber Studienfreund Dr. Erik Pulz haben das gesamte Manuskript vor der Einreichung korrekturgelesen. Fehler und Irrtümer, die stehengeblieben sein mögen, sind selbstverständlich allein mir zuzurechnen. Für die geduldige verlegerische Betreuung dieses Bandes danke ich Dr. Katharina Legutke, Dr. Torben Behm und Lena Hummel. Die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften hat die Drucklegung mit einem großzügigen Zuschuss gefördert. Meine Eltern haben es sich nicht nehmen lassen, diesen aufzurunden; viel wichtiger ist jedoch, dass sie mich und meine Vorhaben in den vergangenen Jahren jederzeit und in mannigfacher Weise bedingungslos unterstützt haben. Ihnen sei dieses Buch gewidmet. Wolfenbüttel, im Juni 2023
Henning Ohst
Inhalt Vorwort V Abkürzungen X I Einleitung 1 1 Forschungsgeschichte 4 Frühe Ausgaben: Rutgers/Fabricius (1727), Weichert (1846) 4 1.1 1.2 Enrica Malcovati. Epistulae ad res privatas pertinentes (1921/1969) 5 Exkurs: Die Textsorte ‚Privatbrief‘. Epistulae ad familiares 7 Paolo Cugusis Epistolographi latini minores (1970–79) 11 1.3 Neuere Arbeiten: De Biasi/Ferrero (2003), Bringmann/Wiegandt 1.4 (2008) 13 2 Aufbau der Arbeit 15 II Textgeschichte und Rezeption der Privatbriefe des Augustus in der Antike 17 1 Voraussetzungen: Publizierte Privatbriefsammlungen aus der (späten) Republik und ihre Rezeption in der Kaiserzeit 19 2 Die Publikation der Privatbriefe des Augustus und ihre Rezeption bis ins zweite Jahrhundert 34 2.1 Gellius und der Liber epistularum Divi Augusti ad Gaium nepotem 35 2.2 Sueton 38 2.3 Tacitus 47 2.4 Quintilian 48 Plinius d. Ä. 50 2.5 2.6 Cornelius Nepos 52 2.7 Cicero 52 2.8 Andere Autoren des ersten und zweiten Jahrhunderts 53 2.8.1 Historiographie und Biographie 53 2.8.2 Andere Gattungen 56 2.9 Zwischenfazit 57 3 Die Rezeption der Privatbriefe des Augustus vom dritten Jahrhundert bis in Spätantike und Frühmittelalter 58 Charisius (Hadrian/Iulius Romanus) 59 3.1 3.2 Marius Victorinus 59 3.3 Claudian 60
VIII
Inhalt
3.4 Macrobius 61 3.5 Priscian 66 3.6 Isidor von Sevilla 68 4 Zusammenfassung 69 III Vorbemerkungen zu Edition und Kommentar 77 1 Das Corpus 77 2 Anordnung der Fragmente und Testimonien 83 3 Die Edition 85 3.1 Aufbau der einzelnen Katalognummern 85 3.2 Editionen, Siglen und Textkritik 87 4 Der Kommentar 95 4.1 Leitfragen der Kommentierung 95 4.2 Aufbau und Formales 97 IV Edition, Übersetzung und Kommentar 99 1 Ad T. Pomponium Atticum (1) 99 2 Ad M. Tullium Ciceronem (2–5) 100 3 Ad L. Marcium Philippum vitricum (6) 106 4 Ad Iuliam M. Antonii matrem (7) 109 5 Ad M. Antonium (8 f.) 110 6 Ad. P. Vergilium Maronem (10–12) 113 7 Ad C. Maecenatem (13–15) 118 8 Ad Q. Horatium Flaccum (16–21) 130 9 Ad Liviam Drusillam uxorem (22–24) 146 10 Ad Ti. Claudium Neronem privignum (25–36) 163 11 Ad Iuliam filiam (37) 200 12 Ad C. Caesarem nepotem (38–40) 203 13 Ad Agrippinam neptem (41 f.) 213 14 Ad L. Vinicium (43) 217 15 Ad incertos (44–65) 219 V Synthesen 239 A Sprache und Stilistik 239 0 Vorbemerkungen: Antike Brieftheorie und Äußerungen zum genus eloquendi Augusti 239 Ausdruck und Darstellung 242 1 1.1 Wortschatz und Wortwahl, Morphologie 242 1.1.1 Substantive 242 1.1.2 Adjektive und adjektivisch gebrauchte Partizipien 244
Inhalt
B
1.1.3 Verben 244 1.1.4 Kleine Wörter 245 1.2 Sprachmischung 247 1.3 Milderung und Umschreibung 250 1.4 Abundanz 251 1.5 Gleichförmigkeit und Abwechslung 252 1.6 Brevitas 252 2 Wortstellung und Wortverbindung 253 2.1 Stellung des Verbum finitum im Hauptsatz 253 2.2 Stellungsfiguren 253 2.3 Klangfiguren 254 2.4 Rhythmus 254 3 Satzbau 257 4 Briefsprache 258 4.1 Formelsprache 258 4.2 Brieftempus 259 4.3 Diaphonie 259 Die Briefe des Augustus als biographische Quellen 262
VI Appendix 269 1 Konkordanz 269 2 Metrische Analyse der Satzschlüsse in Zitatfragmenten (mit Stephan Jödicke) 273 Bibliographie 275 Editionen 275 Sekundärliteratur, Kommentare, Übersetzungen 283 Abbildungsnachweise 303 Register 305 Stellenregister 305 Personen- und Sachregister 317
IX
Abkürzungen Bei der Zitation der folgenden, mit Abkürzungen angegebenen Editionen, Lexika und Handbücher werden Verfassernamen, wenn nötig (z. B. bei Lexikonartikeln), in Normaldruck zusätzlich angegeben. ADB AE AT lxx CE CIL CRF CSRL DGE Diehl, Pomp. Wandinschr. DKP DNP ELM FGrHist FPL4
FRH GG
GL HLL
HWPh IEG IG
Allgemeine Deutsche Biographie, 56 Bde. (Leipzig 1875–1912). LʼAnnée Epigraphique (Paris 1889–). Septuaginta. Id est Vetus Testamentum graece iuxta lxx interpretes, ed. A. Rahlfs, rec. R. Hanhart (Stuttgart 22005). Carmina Latina Epigraphica, 2 Bde. + Suppl., ed. Fr. Bücheler/E. Lommatzsch, Bibliotheca Teubneriana (Leipzig 1895–1926). Corpus Inscriptionum Latinarum, 17 Bde. u. auctaria (Berlin 1863–). Scenicae Romanorum poesis fragmenta, Bd. 2: Comicorum fragmenta, ed. O. Ribbeck, Bibliotheca Teubneriana (Leipzig 31898). Code-Switching in Roman Literature, hg. v. O. Elder et al., URL: https://csrl. classics.cam.ac.uk/ (23.02.2023).1 Diccionario Griego–Español, 8+ Bde. (Madrid 1980–). E. Diehl: Pompeianische Wandinschriften und Verwandtes, Kleine Texte für theologische und philologische Vorlesungen und Übungen 56 (Bonn 1910). Der Kleine Pauly, 5 Bde. (Stuttgart 1964–1974). Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, 16 Bde. u. Supplemente (Stuttgart/ Weimar 1996–). Epistolographi latini minores, 2 Bde., ed. P. Cugusi (Turin 1970–1979). Die Fragmente der Griechischen Historiker, 4+ Bde., ed. Fr. Jacoby et al. (Leiden – Leiden/Boston/Köln 1922–). Fragmenta poetarum latinorum epicorum et lyricorum praeter Enni Annales et Ciceronis Germanique Aratea, post W. Morel et K. Büchner ed. J. Blänsdorf, Bibliotheca Teubneriana (Berlin/New York, NY 42011). The Fragments of the Roman Historians, 3 Bde., ed. T. J. Cornell et al. (Oxford 2013). E. Schwyzer: Griechische Grammatik. Auf der Grundlage von Karl Brugmanns Griechischer Grammatik, 2 Bde., Handbuch der Altertumswissenschaft 2/1/1–2 (München 1953–1950). Grammatici Latini, 8 Bde., ed. H. Keil (Leipzig 1855–1880). Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, 4+ Bde. (1 u. 4–6), hg. v. R. Herzog/P. L. Schmidt, Handbuch der Altertumswissenschaft 8/1 u. 4–6 (München 1989–). Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter et al. (Basel 1971–2007). Iambi et elegi graeci ante Alexandrum cantati, 2 Bde., ed. M. L. West (Oxford 2 1998). Inscriptiones Graecae, 15 Bde. in 62+ Teilbänden (Berlin 1873–).
1 Auf die einzelnen Datensätze der Datenbank wird mithilfe der jeweiligen IDs verwiesen: Diese können über die Suchfunktion der Datenbank leider nicht direkt angewählt werden; vielmehr muss die ID dazu an folgende URL angehängt werden: https://csrl.classics.cam.ac.uk/detail.php?id= https://doi.org/10.1515/9783111193595-202
Abkürzungen
Kat. Hamburg 2022
Kat. Magdeburg 2012
KBl KG KH KSt LexGrPN LfgrE LG Allg. Teil LLF LLT
LU LSJ LSS
NT Graece OLD OLS ORF PCG P.Flor. P.Princ. P.Rain.Cent. PIR2 RAC RE RIC RPC
XI
Die Neuen Bilder des Augustus. Macht und Medien im antiken Rom, hg. v. A. Haug/A. Hoffmann, Kat. Bucerius Kunst Forum Hamburg, 8. Oktober 2022 bis 15. Januar 2023 (München 2022). Otto der Große und das Römische Reich. Kaisertum von der Antike zum Mittel alter, hg. v. M. Puhle/G. Köster, Kat. Kulturhistorisches Museum Magdeburg, 27. August bis 9. Dezember 2012 (Regensburg/Magdeburg 2012). R. Kühner/Fr. Blass: Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache. Elementar und Formenlehre, 2 Bde. (Hannover 21890–1892). R. Kühner/B. Gerth: Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache. Satzlehre (Hannover 41955). R. Kühner/Fr. Holzweissig: Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache. Elementar-, Formen- und Wortlehre (Hannover 21912). R. Kühner/C. Stegmann: Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache. Satzlehre (Hannover 51976). A Lexicon of Greek Personal Names, 5+ Bde. (Oxford 1987–). Lexikon des frühgriechischen Epos, 4 Bde. (Göttingen 1955–2010). M. Leumann, J. B. Hofmann, A. Szantyr: Allgemeiner Teil der Lateinischen Grammatik, LSS, 1*–89*. M. Leumann: Lateinische Laut- und Formenlehre, Handbuch der Altertumswissenschaft 2/2/1 (München 51926–1928; ND 1977). Library of Latin Texts. Complete, hg. v. Centre Traditio Litterarum Occidentalium (Turnhout 2019–), URL: http://clt.brepolis.net/llta/pages/QuickSearch. aspx (17.01.2023). J. B. Hofmann: Lateinische Umgangssprache (Heidelberg 11926; 31951). H. G. Liddell/R. Scott/H. S. Jones: A Greek-English Lexicon (Oxford 91940). J. B. Hofmann, A. Szantyr: Lateinische Syntax und Stilistik, Handbuch der Altertumswissenschaft 2/2/2 (München 21972). [Synt. = Teil Syntax; Stil. = Teil Stilistik] Novum Testamentum Graece. Nestle–Aland, ed. B. Aland et al. (Stuttgart 28 2012). Oxford Latin Dictionary, hg. v. P. G. W. Glare (Oxford 22012). H. Pinkster: The Oxford Latin Syntax, 2 Bde. (Oxford 2015–2021). Oratorum romanorum fragmenta, 2 Bde., ed. E. Malcovati (Turin 41976). Poetae comici graeci, 8 Bde., ed. R. Kassel/C. Austin (Berlin/New York, NY 1983–) Papiri greco-egizii. Papiri Fiorentini, 3 Bde. (Mailand 1906–1915). Papyri in the Princeton University Collections, 3 Bde. (Baltimore, MD/ Princeton, NJ 1931–1942). Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Papyrus Erzherzog Rainer (Wien 1983). Prosopographia imperii Romani. Saec. i. ii. iii., 8 Bde. (Berlin 1933–2015). Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinander setzung des Christentums mit der antiken Welt, 30+ Bde. (Stuttgart 1950–). Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung, 33 Bde. u. Supplemente (Stuttgart 1893–1978). The Roman Imperial Coinage, 10 Bde. (London 1923–). Roman Provincial Coinage, 5+ Bde. (London 1992–1994).
XII
Abkürzungen
TRF SäBi SchH
ShB Att. ShB fam. ShB Q. fr./ad Brut. T.Vindol. ThLL TTr
Scenicae Romanorum poesis fragmenta, Bd. 1: Tragicorum fragmenta, ed. O. Ribbeck, Bibliotheca Teubneriana (Leipzig 31897). Sächsische Biografie. Online-Ausgabe, hg. v. Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V. (2003–), URL: https://saebi.isgv.de/ (17.01.2023). M. Schanz/C. Hosius: Geschichte der Römischen Literatur bis zum Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian, 4 Bde. (Bd. 4 in 2 Teilbänden), Handbuch der Altertumswissenschaft 8/1–4 (München 41927; 41935; 31922; 21914; 1920). D. R. Shackleton Bailey: Ciceros’ Letters to Atticus, 7 Bde., Cambridge Classical Texts and Commentaries 3 (Cambridge 1965–1970). D. R. Shackleton Bailey: Cicero. Epistulae ad familiares, 2 Bde., Cambridge Classical Texts and Commentaries 16 (Cambridge 1977). D. R. Shackleton Bailey: Cicero. Epistulae ad Quintum fratrem et M. Brutum, Cambridge Classical Texts and Commentaries 22 (Cambridge 1980). The Vindolanda Writing-Tablets (Tabulae Vindolandenses), 3 Bde., ed. A. K. Bowman/J. D. Thomas (London 1983–2003). Thesaurus linguae Latinae, 11+ Bde. (Leipzig u. a. 1900–). L. D. Reynolds (Hg.): Texts and Transmission. A Survey of the Latin Classics (Oxford 21986).
I Einleitung Die Beschäftigung mit dem (lateinischen) Brief der Antike, mit den Verfassern der Briefe, Briefsammlungen sowie Sprache und Stil hat in jüngerer Zeit unbestreitbar Konjunktur.1 Das gilt auch für den Kaiser Augustus (63 v. Chr.–14 n. Chr.)2, dessen am 19. August 2014 zum zweitausendsten Mal wiedergekehrter Todestag zu einer verstärkten Beschäftigung mit dieser herausragenden Persönlichkeit der römischen Geschichte und ihrer Wirkung geführt hat – in der Tagespresse, in populärwissenschaftlichen Darstellungen und im altertumswissenschaftlichen Fachdiskurs.3
1 Ausdruck dessen sind z. B. die Tagungs- und Sammelbände Morello/Morrison 2007; Sogno et al. 2017; G. M. Müller 2018a; G. M. Müller et al. 2020; Späth 2021 oder Qualifizierungsschriften wie Schröder 2007; Wulfram 2008; Schwitter 2015; Derhard 2021; Eickhoff 2021; auf das von Eve-Marie Becker, Ulrike Egelhaaf-Gaiser und Alfons Fürst vorbereitete und für 2025 angekündigte Handbuch Brief – Antike kann hier lediglich vorverwiesen werden. 2 Für einen Überblick über die Geschichte der neueren biographischen Literatur zum Kaiser Augustus unter theoretischen Gesichtspunkten vgl. Walter 2011, bes. 235 f. u. passim; ausführlichere neuere Augustusbiographien in deutscher Sprache sind Bleicken 1999; Bringmann 2007; Dahlheim 2010; Kienast 2014; Pabst 2014; einen sehr konzisen Überblick bietet Eck 2009; die maßgebliche Überblicksdarstellung zum Prinzipat des Augustus unter politikgeschichtlichen Gesichtspunkten ist jetzt Brandt 2021, 35–115. Zur Rezeption der Figur ‚Augustus‘ von der Antike bis in die Zeit der Moderne vgl. Simonis/Simonis, DNP Suppl. viii, Art. Augustus, 151–164. 3 Beispiele für Reflexionen zum Jubiläum in der deutschen Presse, die erkennen lassen, wie unterschiedlich der Begründer des Prinzipats beurteilt werden kann und beurteilt wird, sind z. B. M. Schulz: Totengräber der Republik, Der Spiegel Jg. 68, Nr. 32, 04.08.2014, 112 f.; J. Schloemann: Der große Sanierer, Süddeutsche Zeitung Jg. 70, Nr. 187, 16.08.2014, V2/9; J. Bremer: Rom vergisst den Erfinder des Weltfriedens, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 193, 21.08.2014, 7; die wohl wichtigste monographische Darstellung zum Jubiläumsjahr im deutschen Sprachraum ist von den Hoff et al. 2014. Im Kontext des Jubiläums ist sicher auch die erstmalige Übersetzung des englischen (Brief-) Romans Augustus von John Williams (New York, NY 1971) ins Deutsche (München 2016) zu sehen; vgl. zu diesem Roman das Nachwort der Neuausgabe Mendelsohn 2016. Ein sehr instruktiver Tagungsband, dessen Beiträge gleichermaßen althistorische, archäologische und philologische Frage stellungen berühren und die dabei durchaus den Charakter von konzisen Forschungsberichten haben, ist Horster/Schuller 2014. Für einen Überblick über weitere internationale Tagungen, Ausstellungen und Publikationen im Jubiläumsjahr oder in dessen Folge siehe https://augustus2014. com/2014-events/ (23.02.2023). Der Versuch einer interdisziplinären Betrachtung des AugustusJubiläums ‚im Rückspiegel‘ wurde auf dem Symposium Augustus immortalis im Oktober 2019 in Berlin unternommen; vgl. dazu den Tagungsband Bartz et al. 2020 (hier vor allem das Vorwort der Herausgeber, 3–11). Einen nützlichen bibliographischen Überblick über die Forschung vor dem Jubiläumsjahr bietet Prokoph 2014. Hinweis: Übersetzungen stammen, wenn nicht ausdrücklich anders angegeben, vom Verfasser. Hinweise zur Zitation von Primär- und Sekundärliteratur finden sich im Abkürzungsverzeichnis und in der Bibliographie. https://doi.org/10.1515/9783111193595-001
2
I Einleitung
Kaum oder allenfalls randständige Beachtung haben im Rahmen beider ‚Trends‘ die sekundärüberlieferten, d. h. etwa in Form von Zitaten oder Paraphrasen bei späteren Autoren erhaltenen Privatbriefe des Kaisers Augustus4 gefunden. Dieser Befund ist erstaunlich; denn immerhin sind die Briefe auf diesem Weg in einem so großen Umfang erhalten, dass man den ersten Prinzeps durchaus als den dritten wichtigen Briefschreiber aus der Zeit der späten Republik und der frühen Kaiserzeit neben Cicero (106–43 v. Chr.) und Plinius d. J. (61/62–ca. 115 n. Chr.) bezeichnen kann und bezeichnet hat.5 Zwar ist das Bild, das sie vermitteln, bei weitem nicht so umfassend
4 Der erste römische Kaiser wurde im Jahr 63 v. Chr. als Gaius Octavius geboren und trug vielleicht das Cognomen Thurinus (belegt nur bei Suet. Aug. 7,1) oder Caepias (nur laut D.C. 45,1,1; vgl. Kienast 2014, 9 f. mit Anm. 42a). Nach seiner Adoption durch Iulius Caesar 44 v. Chr. übernahm er dessen Namen (die nach Adoptionen übliche Anfügung des ursprünglichen Gentilnomen in adjektivischer Form, also Gaius Iulius Caesar Octavianus, scheint ungebräuchlich gewesen zu sein). Zu Beginn der dreißiger Jahre des ersten Jahrhunderts v. Chr. machte er den Titel Imp(erator) zu seinem Praenomen und Caesar zum Nomen gentile, hieß also Imperator Caesar, bis er 27 v. Chr. vom Senat den Ehrennamen Augustus verliehen bekam, den er fortan als Cognomen führte; vgl. dazu PIR2 I, Nr. 215 (156); Boschung 2022, 28 f. Zum Zwecke der Klarheit vereinfache ich dies in dieser Arbeit stark und verwende den Namen ‚Octavian‘, wenn ich mich ausdrücklich auf die Zeit von dessen politischem Aufstieg und die Zeit der Bürgerkriege bis zur Schlacht bei Actium beziehe – sonst benutze ich den Namen ‚Augustus‘. 5 So nennt etwa Bourne 1918, 53 f. Augustus den „third great letter-writer among the Romans“. Octavian bzw. Augustus hat neben den Briefen noch andere Schriften verfasst, deren Sekundärüberlieferung sich mit derjenigen der Briefe jedoch nicht messen kann: Sueton (Aug. 85) erwähnt als Werke mit literarischem Anspruch neben einer Streitschrift Rescripta Bruto de Catone (betreffend den Cato des Brutus, vielleicht 45 v. Chr.; vgl. Bringmann/Wiegandt 2008, 181) und einer protreptischen Schrift mit dem Titel Hortationes ad philosophiam (vermutlich ebenfalls ein Jugendwerk; vgl. Bringmann/Wiegandt ibid., 183) vor allem das autobiographisch-zeitgeschichtliche Werk De vita sua, in dem Augustus in dreizehn Büchern sein politisches Handeln bis ins Jahr 25 v. Chr. dargestellt hat (vgl. Pausch 2004a, 312–314; Bringmann/Wiegandt ibid., 191 f.); einzig dieses Werk weist eine vergleichsweise breite Sekundärüberlieferung auf (Fragmente und Testimonien zuletzt ediert in Smith/Powell 2009, 1–13 u. FRH ii, 878–895). Auch von Werken in Versform weiß Sueton zu berichten: Er erwähnt ein hexametrisches Gedicht mit dem Titel Sicilia in einem Buch (vielleicht ein Lehrgedicht oder ein Kleinepos über den Krieg gegen Sextus Pompeius; vgl. Hollis 2007, 283; Bringmann/Wiegandt ibid., 25) und ein Buch mit Epigrammen; daraus könnten die bei Mart. 11,20 zitierten, drei elegischen Distichen obszönen Inhalts stammen (Imp. Aug. carm. frg. 4 ollis ibid.); bei dem in der Hs. Bern, Burgerbibl., 109, fol. 136rv überlieferten und mit der M; vgl. H Angabe Octa(viani) Aug(usti) überschriebenen Gedicht (Anth. 719 f R2 = Imp. Aug. carm. frg. 5 M) dürfte es sich jedoch eher um ein Werk der Karolingerzeit handeln (vgl. Contreni 2003). Schließlich erwähnt Sueton eine Tragödie mit dem Titel Aiax, die Augustus aber unvollendet vernichtet habe. Neben all dem ist natürlich der inschriftlich überlieferte ‚Tatenbericht‘ Res gestae zu nennen, wohl die bekannteste und einzige primärüberlieferte Schrift des Prinzeps. Bezeugt sind ferner Reden (laudationes funebres sowie Reden vor dem Volk und vor dem Senat), amtliches Schriftgut, etwa libelli (Kommuniqués an den Senat oder das Volk), Bürgerrechtsdiplome, Edikte und Mandate (vgl.
I Einleitung
3
und facettenreich, wie dies bei den in ungleich größerer Zahl überlieferten Briefen Ciceros der Fall ist, die uns in den Worten Georg Mischs einen „Ausdruck seines Innenlebens“ bieten, indem sie „das wahrhaft Bedeutende in der alltäglichen Vermischung mit den schwachen Seiten und Eitelkeiten zutage“ fördern.6 Vielleicht liegt jedoch gerade in dem ‚fragmentarischen‘ (Selbst-)Bild, das uns die Briefe des Augustus noch präsentieren, ein eigener ästhetischer Reiz,7 während der ‚umfassende‘ Charakter der Cicero-Briefe für deren Rezeption nicht immer unproblematisch gewesen ist.8 Jedenfalls bieten die Briefe einige interessante Selbstaussagen über das ‚Privatleben‘ des ersten Prinzeps: über seine Essgewohnheiten, seinen Hang zum Würfelspiel oder seinen Aberglauben. Eine potenziell wichtige Quelle für die römische Literaturgeschichte sind die Schreiben an die Dichter Vergil und Horaz sowie deren Förderer Maecenas. Abgesehen davon sind sie aber auch wichtige Zeugnisse für die Entwicklung des Privatbriefes von einer Gebrauchstextsorte hin zu einer literarischen Gattung.9 Diese hat mit der Publikation der Briefe Ciceros ihren Anfang genommen und mit dem plinianischen Briefcorpus ihren vorläufigen Abschluss gefunden, sich für uns jedoch weitgehend spurenlos vollzogen.10 Diesen Privatbriefen, ihrer Text- und Rezeptionsgeschichte in der Antike, ihrer fragmentarischen Überlieferung und Exegese, ist diese Arbeit gewidmet. Bevor die Disposition der Arbeit umrissen wird, soll im Folgenden ein problematisierender Überblick über die bisherige Forschung zu den Brieffragmenten mit einem Schwerpunkt auf Editionen und Kommentaren gegeben werden.
Bringmann/Wiegandt ibid., 21 f.); außerdem gibt es eine erhebliche Anzahl (angeblicher oder tatsächlicher) dicta et apophthegmata Augusti. 6 Misch 1949–1950, 360; vgl. auch Trapp 2006, bes. 339. 7 Vgl. dazu Burdorf 2020, bes. 11–21. 8 Man denke an Petrarcas „Briefe an Cicero“, in denen er der Erschütterung, die sein bisheriges Cicerobild durch die damals wiederentdeckten Briefe erfahren hatte, eine literarische Form gibt; vgl. dazu Viertel 1879, 7 f.; Misch 1949–1950, 372; P. L. Schmidt 1978, 32–34. 9 Die Frage, wie der ‚literarische Privatbrief‘ zu definieren und gegenüber anderen, nicht-literarischen Erscheinungsformen der Textsorte ‚Brief‘ abzugrenzen ist, ist seit langem umstritten; zwei neuere Ansätze sind Hartmut Wulframs „kommunikativ-mediale Brieftypologie“ (vgl. Wulfram 2008, 36–51) und Raphael Schwitters „deskriptiv-phasenorientiertes Briefmodell“ (vgl. Schwitter 2015, 45–64). 10 Das Problem hat jüngst Keeline 2018, 285 treffend auf den Punkt gebracht: „The standard histories of epistolography jump from Cicero to Seneca to Pliny to Fronto and beyond, perhaps with a detour for the poetic epistles of Horace or Ovid along the way. Such an approach is understandable; with the exception of a few papyri and imperial rescripts, we have no other Latin letters preserved until late antiquity. But consider the case of oratory: We likewise have only exiguous fragments between the death of Cicero and Pliny’s Panegyricus, but no one would dare leap from 43 BC to AD 100 in a single bound, still less claim that Cicero was Pliny’s only possible model in the speech. We know full well that there must have been other letter collections in the early Empire …“
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I Einleitung
1 Forschungsgeschichte 1.1 Frühe Ausgaben: Rutgers/Fabricius (1727), Weichert (1846) Die Forschungsgeschichte zu den Fragmenten der Briefe des Augustus beginnt mit einer Sammlung von 73 Zitaten, Paraphrasen und Bezugnahmen in der antiken Literatur, die Anfang des 17. Jahrhunderts von dem niederländischen Gelehrten Johannes Rutgers (1589–1625)11 zusammengetragen und im Jahr 1727 als Teil von Johann Albert Fabricius’ Imp. Caes. Augusti temporum notatio, genus, et scriptorum fragmenta12 veröffentlicht wurde. Dabei handelte es sich um ein Sammelwerk, das neben den Briefen und der Sekundärüberlieferung anderer Schriften des Augustus auch die Augustusvita des Nikolaos von Damaskus, Zeittafeln, Stammbäume u. ä. enthielt. Im Jahr 1846 wurde der erste Band einer ähnlich angelegten Fragmentsammlung von Jonathan August Weichert (1788–1844), einem Vorreiter der modernen Fragmentforschung,13 postum in Grimma veröffentlicht; ein zweiter Band konnte, bedingt durch den Tod des Herausgebers, nicht mehr erscheinen, sodass das Werk unvollständig geblieben ist. Immerhin liegt in diesem Band jedoch eine Sammlung von Brieffragmenten vor, die mit 36 Nummern gegenüber der Rutgers-Sammlung deutlich reduziert ist; vor allem hat Weichert einige Stellen aus der griechischen Literatur, insbesondere der Historiographie (Flavius Iosephus, Plutarch, Appian und Cassius Dio), weggelassen;14 sein Corpus konzentriert sich erkennbar auf Belege in der lateinischen Literatur, die wörtliche Zitate aus den Briefen oder wenigstens ergiebige Paraphrasen bieten.
11 Vgl. Hoche, ADB xxx, Art. Rutgers, Johannes, 42–44. 12 Imp. Caes. Augusti temporum notatio, genus, et scriptorum fragmenta. Praemittitur Nicolai Damasceni liber de institutione Augusti cum versione Hug. Grotii, et Henr. Valesii notis, ed. J. A. Fabricius (Hamburg 1727), 143–163; vgl. dazu Bourne 1918, 54. Inwieweit Rutgersʼ Stellensammlung von Fabricius erweitert wurde, wird nicht deutlich; Fabricius bleibt hier in der Vorrede Ad lectorem recht vage. Immerhin markiert Fabricius einige der Anmerkungen mit „Rutgers.“, woraus im Umkehrschluss folgt, dass die übrigen Anmerkungen von ihm selbst sind. 13 Vgl. Ohst, SäBi, Art. Weichert, Jonathan August, Permalink: https://saebi.isgv.de/gnd/117234869 (23.02.2023). 14 Imperatoris Caesaris Augusti scriptorum reliquiae, Bd. 1, ed. A. Weichert (Grimma 1846), 139–161. Vgl. Bourne 1918, 54.
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1.2 Enrica Malcovati. Epistulae ad res privatas pertinentes (1921/1969) Die bis heute neueste und als Zitierausgabe maßgebliche kritische Edition der Überreste von Schriften des Augustus, auch über die Briefe hinaus, sind Enrica Malcovatis Imperatoris Caesaris Augusti operum fragmenta, die erstmals 1921 und zuletzt in fünfter Auflage im Jahr 1969 in Turin publiziert wurden.15 Malcovatis Ausgabe unterscheidet sich von der ihres Vorgängers Weichert in zweierlei Hinsicht: Zum einen wurde das Corpus der Brieffragmente wieder deutlich vermehrt. Während Weichert ausschließlich Zitate und Paraphrasen bei lateinischen Autoren berücksichtigt hatte, nahm Malcovati zahlreiche Stellen aus griechischen Quellen (zu nennen sind hier vor allem die genannten hochkaiserzeitlichen Historiographen Flavius Iosephus, Appian und Cassius Dio) in ihr Corpus von Brieffragmenten auf. Außerdem umfasst es erstmals auch einige inschriftlich erhaltene Dokumente. Die entscheidende Innovation ist jedoch, dass das Material in zwei Rubriken unterteilt wurde: einerseits Epistulae ad res privatas pertinentes16 – zum größten Teil adressiert an Familienmitglieder, außerdem an Vergil, Horaz und Maecenas, sowie Marcus Antonius – und anderseits Epistulae ad res publicas pertinentes17 – Schreiben an Feldherren, diplomatische Schreiben an fremde Herrscher sowie Briefe, die der Kommunikation mit Amtsträgern wie etwa Provinzstatthaltern oder Prokuratoren dienten oder Rechtsakte gegenüber natürlichen oder juristischen Personen dokumentierten. Malcovati knüpft mit dieser Dichotomie an die bereits seit der spätrepublikanischen Zeit nachweisbare Unterscheidung von Briefen in epistulae privatae oder familiares einerseits und epistulae publicae anderseits an. Mit der epistula privata ist der Brief als Kommunikationsmittel zwischen Bekannten, Freunden und Verwandten gemeint, wie er uns z. B. in den ciceronianischen Briefsammlungen weit überwiegend vorliegt. Die epistula publica ist der ‚Amtsbrief‘, wie wir ihn beispielsweise im Briefwechsel zwischen dem jüngeren Plinius und Kaiser Traian vorfinden.18 Malcovatis Kategorien, die den ‚Inhalt‘ der Briefe
15 Imperatoris Caesaris Augusti Operum Fragmenta, ed. E. Malcovati (Turin 51969), 6–50 (Brieffragmente). 16 Darunter fallen die Fragmente 1–53 M; ein nützlicher Wortindex zu diesen Fragmenten ist Sblendorio 1973. 17 Darunter fallen die Fragmente 54–79 M. 18 Vgl. Malcovati, Ed. Imp. Aug. 1969, xviii f. u. xxv; z. B. Cic. Flacc. 23: p r i v a t a e l i t t e r a e nullae proferuntur, p u b l i c a e retentae sunt in accusatorum potestate (epistula publica heißt [hier] also nicht ‚veröffentlichter‘ Brief!) u. 37: creta illa Asiatica … qua utuntur omnes non modo in p u b l i c i s , sed etiam in p r i v a t i s l i t t e r i s ; Iul. Vict. rhet. p. 105,11 Gi/C: Epistolarum species duplex est: Sunt enim aut n e g o t i a l e s aut f a m i l i a r e s . Auf diese Dichotomie scheint auch Plin. epist. 1,10,9 anzuspielen: sedeo pro tribunali, subnoto libellos, conficio tabulas, scribo plurimas, sed
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(a d r e s privatas/publicas p e r t i n e n t e s ) zum dominanten Leitkriterium für die Einteilung machen, stoßen jedoch schnell an ihre Grenzen: Ein nicht-amtlicher Briefwechsel zwischen Freunden, Verwandten o. ä. kann natürlich sehr wohl politische Themen (res publicas) zum Gegenstand haben; hier genügt wohl ein Verweis auf Ciceros Epistulae ad Atticum.19 Entsprechend scheint Malcovati dieses Kriterium bisweilen auch ‚gebeugt‘ zu haben: So sind die Suet. Tib. 21,4–7 zitierten Briefe an den Stiefsohn Tiberius (frg. 12–17 M), in denen es rein auf der Inhaltsebene nur um die Themenfelder Militär und Politik geht, mit Recht dennoch unter den Privatbriefen zu finden. Doch einige Zuordnungen verwundern: Dass Malcovati die drei Fragmente von Briefen Octavians an Cicero (Cic. Att. 16,8,1; 16,9; 16,11,6 = frg. 54–56 M) aus den Jahren 44/43 v. Chr. – beide waren in dieser Zeit Privatpersonen – nicht unter die Privatbriefe zählt, wo wir jedoch den bei Sueton (Iul. 56,7 = Epist. imp. Aug. frg. 44 M) bezeugten Brief des Augustus an den wohl in die Planung der palatinischen Bibliothek involvierten Pompeius Macer finden,20 dem er verboten habe, bestimmte Jugendschriften seines Adoptivvaters zugänglich zu machen, will nicht recht einleuchten. Malcovatis Einteilung des Materials in Privat- und Amtsbriefe ist jedoch im Grundsatz berechtigt, und zwar nicht nur, weil sie, wie bemerkt, an die zeitgenössische Terminologie anknüpft, sondern weil auch die fragmentarische Überlieferung der Briefe des Augustus, d. h. ihre antike Rezeption, sie nahelegt: So werden die von ihr als Privatbriefe behandelten Fragmente ausschließlich von Autoren rezipiert und zitiert, die man zusammenfassend als antiquarisch-grammatische Autoritäten bezeichnen könnte: Zu nennen sind hier (in chronologischer Reihenfolge) Cornelius Nepos, Plinius d. Ä., Quintilian, Tacitus (Dialogus de oratoribus), Sueton, Gellius,
i n l i t t e r a t i s s i m a s l i t t e r a s . Mit den litterae inlitteratissimae sind offensichtlich die Amtsbriefe im Gegensatz zu den für Plinius natürlich viel ansprechenderen Privatbriefen gemeint. Auch Augustus selbst scheint so eine Unterscheidung einmal anzudeuten; vgl. 14F: ante ipse sufficiebam scribendis e p i s t u l i s a m i c o r u m . Vgl. zu dieser Dichotomie auch Schneider, RAC ii, Art. Brief, 568 f.; Dziatzko, RE iii, Art. Brief, 840; Malherbe 1988, 12; Wulfram 2008, 36 mit Anm. 93; Bauer 2011, 52 f.; Albrecht 2012, 434; Schwitter 2015, 45 mit Anm. 169. Eine Art ‚Wesensbeschreibung‘ des (neuzeitlich-modernen) Privatbriefes versucht Bürgel 1976. 19 So auch (zu den Briefen an die Ehefrau Terentia) Häger 2021, 514. 20 Es ist zugegeben strittig, inwieweit diese Aufgabe mit der Verleihung eines Amtes verbunden war (Büchner 1961, 340 bezeichnet ihn als „Bibliotheksdirektor“); die Kontroverse steht auch im Zusammenhang mit der prosopographischen Frage, ob der bei Sueton erwähnte Pompeius Macer identisch ist mit einem bei Strabo bezeugten Prokurator gleichen Namens, und falls ja, ob er in der Funktion des Prokurators in die Bibliotheksplanung eingebunden war; vgl. dazu PIR2 P, Nr. 625; P. White 1992, 213 f.; man wird jedoch nicht umhin kommen, zu sehen, dass das Verhältnis zwischen Augustus und Pompeius Macer in diesem Zusammenhang einerseits instrumentell und anderseits hierarchisch ist. Zur palatinischen Bibliothek vgl. Jochum 2007, 45–47.
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Macrobius, Isidor von Sevilla sowie einige Grammatiker. Die zweite Gruppe der Epistulae ad res publicas pertinentes umfasst dagegen weit überwiegend Belege in der griechischen Historiographie21 sowie einige inschriftlich erhaltene Briefe. Das Privatbriefcorpus in der Sammlung Malcovatis stellt für die Abgrenzung des Untersuchungsgebietes der vorliegenden Arbeit also eine wichtige Grundlage dar, allerdings ist das implizit zugrundeliegende Verständnis der Textsorte Privatbrief ergänzungsbedürftig: Zwar ist eine Orientierung an inhaltlichen Gesichtspunkten sicher nicht falsch, doch vermag sie das ‚Wesen‘ des Privatbriefes allein nicht adäquat zu beschreiben. Insofern soll hier, bevor der Überblick über die Forschungsgeschichte fortgesetzt wird, ein kleiner Exkurs eingeschoben werden, in dem auf die Textsorte ‚Privatbrief‘ genauer eingegangen wird.
Exkurs: Die Textsorte ‚Privatbrief‘. Epistulae ad familiares Neben dem ‚Inhalt‘ ist für die Entscheidung, ob ein Brief als privat oder als amtlichoffiziell anzusprechen ist, noch ein weiteres Kriterium relevant, welches sehr viel aussagekräftiger scheint: Das Verhältnis der Korrespondenten zueinander22 oder nach der Terminologie der Textsortentheorie: Der Handlungsbereich. Einen Weg, wie sich dieses Kriterium für die Typologisierung von (modernen) Briefen operationalisieren lässt, schlägt der Germanist Karl Ermert in seiner Studie Briefsorten. Untersuchungen zu Theorie und Empirie der Textklassifikation (1979) vor.23 Es handelt sich demnach bei dem Begriff ‚Privatbrief‘ um ein Kompositum, das sowohl die Kommunikationsform (Brief) als auch den Handlungsbereich (privat) der Textsorte angibt, die es bezeichnet.24 Zunächst kurz zur Kommunikationsform: Eine allgemein etablierte ‚Briefdefinition‘ gibt es zwar weder in der Klassischen Philologie noch in den neuen Philologien oder der allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft.25 Für gewöhnlich scheinen jedoch situative Merkmale einer-
21 Bei diesen Zeugnissen stellt sich die Frage nach der Authentizität, gehört es doch zu den Gattungskonventionen der Historiographie, Reden und Dokumente wie Briefe frei zu erfinden. 22 So bereits andeutungsweise Peter 1901, 22 zu Cic. Flacc. 23 u. 37: (siehe Kap. i.2, S. 5 Anm. 18): „Er (Cicero) schied also zunächst nach dem Verhältnis der Korrespondenten zu einander …“; vgl. auch Albrecht 2003, 68 f. 23 Vgl. Ermert 1979, bes. 66–125. 24 Kommunikationsform und Handlungsbereich sind in der Textlinguistik die zentralen Differenzierungskriterien für eine Textsorte unter kontextuellen Gesichtspunkten; vgl. dazu Brinker et al. 2014, 140 f. 25 Vgl. zum Problem Nikisch 1991, 1–28.
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seits sowie mediale Merkmale anderseits konstitutiv:26 Zum einen ist ein Brief eine schriftliche Botschaft, die von einem Absender an einen Empfänger gerichtet ist, wobei ersterer von letzterem sowohl räumlich als auch zeitlich getrennt ist. Daraus folgt, dass er von einem oder mehreren Dritten, jedenfalls nicht vom Absender persönlich, überbracht wird.27 Zum anderen handelt es sich um eine Textsorte, die sozial erlernten und somit relativ verbindlichen Konventionen sprachlicher28 und visueller Natur29 zu folgen hat. Der Handlungsbereich ist charakterisiert durch die sozialen Rollen30, in denen zwei Kommunikationspartner (im Falle des Briefes der Absender und der Adressat) miteinander kommunizieren. Unterscheiden kann man grob zwischen privaten und amtlich-offiziellen Rollen, die entsprechende Handlungsbereiche definieren.31 Private Rollen sind solche, deren konstitutive Verhaltenserwartungen von mikrosozialen Funktionen her beschreibbar sind, d. h. an konkrete Individuen gebunden sind. Beispiele für solche privaten Rollen sind etwa ‚die Mutter‘, ‚der Vater‘, ‚der Freund‘ oder ‚der Bekannte‘; man kann diese Rollen gut unter dem lateinischen Begriff der familiares subsumieren.32 Im Gegensatz dazu sind die Verhaltenserwar-
26 Vgl. dazu Ermert 1979, 50–65. Zu antiken Briefen Trapp 2003, 1; Gibson/Morrison 2007, bes. 3 f.; Bauer 2011, 51–57; Derhard 2021, 4 f.; Eickhoff 2021, 36–62. 27 Selbstverständlich sind diese situativen Bedingungen literarisch fiktionalisierbar. Es ist insofern wenig sinnvoll, zwischen ‚echten Briefen‘ und ‚literarischen Episteln‘ zu unterscheiden und letzteren die eigentliche Brieflichkeit abzusprechen, wie es Deissmann 1909, 163–168 bekanntermaßen vorgeschlagen hat. Die Striktheit dieser Dichotomie ist in der Forschung dann mit Recht auch immer wieder problematisiert bzw. zurückgewiesen worden (vgl. z. B. Conring 2001, 17–25; Wulfram 2008, 39–51; Bauer 2011, 1–8), sodass die Debatte hier nicht noch einmal aufgerollt zu werden braucht. 28 Wir alle kennen ein festes Repertoire von Gruß- und Schlussformeln für Briefe und haben (idealerweise) ein sozial erlerntes Gespür dafür, welche davon gegenüber welchem Adressaten und in welchem Kontext angemessen sind. Außerdem gibt es ‚Regeln‘ auf der Mikroebene wie z. B., dass man den eigentlichen Brieftext nicht mit dem Wort ‚Ich‘ beginnt u. dgl. mehr. Zur Formelsprache in antiken Briefen vgl. Babl 1893; Cugusi 1983, 43–72; Trapp 2003, 34–38; Bauer 2011, 44–51. 29 Zu Format und Layout antiker Briefe vgl. Sarri 2018, 87–124. 30 Unter einer sozialen Rolle verstehe ich im Folgenden mit Dahrendorf 2006, 37 f. einen „Komplex oder eine Gruppe von Verhaltenserwartungen“. 31 Vgl. Brinker et al. 2014, 142–144; der hier ebenfalls vorgeschlagene „öffentliche Handlungsbereich“, der sich mit dem offiziellen überschneidet, bezieht sich ausdrücklich auf moderne „Massenkommunikation“ und kann für den antiken Brief unberücksichtigt bleiben. Zur Unterscheidung von öffentlicher und privater Sphäre in der spätrepublikanischen und kaiserzeitlichen römischen Gesellschaft vgl. Winterling 2005, bes. 223–226 u. 234–242; wichtig ist Winterlings Feststellung (234 f.; 242), dass es sich bei den Gegenbegriffen ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ nicht um „metahistorische Kategorien“ handelt, die einer modernen (sozial-)wissenschaftlichen Analyse standhalten könnten, sondern um „simplifizierende Muster gesellschaftlicher Selbstbeschreibung“, denen als Ausdruck einer „Selbstsicht der Gesellschaft“ historische Bedeutung zukomme. 32 Vgl. Hey, ThLL vi, Art. familiaris, 249,53–250,39 u. 252,46–59.
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tungen, auf die sich eine amtlich-offizielle Rolle gründet, von makrosozialen Funktionen her beschreibbar. Eine solche Rolle ist nicht an ein konkretes Individuum gebunden, sondern vertritt eine Organisation im Sinne der soziologischen Terminologie.33 Für die Textsorte ‚Brief‘ würde ich präzisierend hinzufügen, dass die beiden Briefpartner sich nicht einfach von vorneherein in privaten oder offiziellen Rollen bewegen, sondern dass der Briefschreiber sich und dem Adressaten, also dem brieflichen Ich und dem brieflichen Du,34 entsprechende Rollen zuweist,35 er also die Deutungshoheit über den Handlungsbereich innehat – mag er auch in der Ausübung dieser Deutungshoheit nicht immer völlig ‚frei‘ sein. Für die Textsorte ‚Privatbrief‘ würde ich daher folgende Definition vorschlagen: „Ein Privatbrief ist ein Brief, dessen Absender sich und dem Adressaten eine private soziale Rolle zuweist.“
Warum das auf die sozialen Rollen bezogene Kriterium des Handlungsbereiches besser geeignet ist, zwischen privaten und amtlichen Briefen zu unterscheiden, als der ‚Inhalt‘, möchte ich hier kurz an zwei Beispielen demonstrieren, nämlich zwei Briefen oder Briefwechseln, die beide ein Thema zum Gegenstand haben, das wir ganz intuitiv der ‚Sphäre des Privaten‘ zuordnen würden: den Geburtstag. Zunächst ein Briefwechsel zwischen dem jüngeren Plinius und Kaiser Traian: Plin. epist. 10,88: C. Plinius Traiano imperatori. Opto, domine, et hunc natalem et plurimos agas aeternaque laude florentem virtutis tuae gloriam et incolumis et fortis aliis super alia operibus augebis. Traian. Plin. epist. 10,89: Traianus Plinio. Agnosco vota tua, mi Secunde carissime, quibus precaris, ut plurimos et felicissimos natales florente statu rei publicae nostrae agam.36
Bei beiden Briefen handelt es sich, so meine ich, eindeutig um amtliche Schreiben. Plinius setzt den Ton, er bezeichnet Traian schon im Präskript als imperator, im
33 Vgl. zum Begriff und für einen kurzen historisch-vergleichenden Überblick Müller-Jentsch 2003, 12–15. 34 Vgl. dazu Nikisch 1991, 10 f.; Ludolph 1997, 36–40; Wulfram 2008, 27 f. 35 Die Konstitution sozialer Rollen ist überhaupt eine Schlüsselfunktion des (antiken) Briefes als „textualized social performance“ verstanden; vgl. dazu Freisenbruch 2007, bes. 243–246; Ebbeler 2007, bes. 301 f. u. 322 f. (hieraus das Zitat). 36 Üb.: „Gaius Plinius (grüßt) den Kaiser Traian. Ich wünsche, Herr, dass du sowohl diesen Geburtstag als auch viele weitere begehen mögest und unter ewigem Lob den blühenden Ruhm deiner Tugend wohlbehalten und stark um immer neue Taten vermehren wirst.“ „Traian (grüßt) Plinius. Ich nehme deine Wünsche zur Kenntnis, mein liebster Secundus, in denen du bittest, dass ich viele und glückliche Geburtstage unter blühenden Verhältnissen für unseren Staat feiern möge.“
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Hauptteil redet er ihn mit domine an – zwar ist dominus im frühen zweiten Jahrhundert als offizielle Anrede für den Kaiser noch nicht völlig etabliert, doch ist es wenigstens die Anrede von einem sozial niedriger gestellten an einen Höherstehenden unter Freigeborenen.37 Plinius kommt mit diesem Schreiben in seiner Rolle als Provinzstatthalter einer Amtspflicht nach, die er dem Menschen Traian primär in dessen Rolle als Kaiser schuldet: Immerhin hatte der Kaisergeburtstag den Charakter eines öffentlichen Feiertages.38 Dazu passt das Antwortschreiben Traians (oder seiner Kanzlei), das recht eigentlich nur eine Empfangsbestätigung (agnosco, nicht gratias tibi ago oder dergleichen!) ist. Ferner fehlt jedes erkennbare Interesse am Wohlergehen des Plinius, das bei einer privaten Rollenrelation doch wohl zu erwarten wäre. Während im ersten Teil des Reskripts noch der Brief des Plinius paraphrasiert wird, verschiebt sich der Fokus weg von dem noch irgendwie persönlichen Wunsch, Traian möge den Ruhm seiner Tugend mehren, hin zu dem Wunsch nach einem florens status rei publicae – und damit mitten hinein in die politische Rhetorik.39 Ganz anders verhält es sich in einem weiteren ‚Geburtstagsbrief‘, der hier nur kurz anzitiert werden soll – er wird später in dieser Arbeit noch ausführlich gedruckt und zur Gänze kommentiert.40 Es handelt sich um einen bei Gellius (15,7 = 39F) zitierten Brief des Kaisers Augustus an dessen Enkel Gaius Caesar. Augustus schreibt im Jahr 1 n. Chr. seinem Enkel, weil dieser an seinem Geburtstag nicht anwesend war und er ihn vermisst hat: Ave, mi Gai, meus asellus iucundissimus, quem semper medius Fidius desidero, cum a me abes, set praecipue diebus talibus qualis est hodiernus. Oculi mei requirunt meum Gaium, quem, ubicumque hoc die fuisti, spero laetum et bene valentem celebrasse quartum et sexagesimum natalem meum …41
Der Enkel wird mit einem Kosenamen (asellus) angeredet, Augustus vermisst ihn, ja, seine Augen verlangen nach ihm (desidero … oculi mei requirunt meum Gaium). Und natürlich wird auch das Wohlergehen des Adressaten thematisiert: Augustus
37 Vgl. I. Kapp, ThLL v/1, Art. dom(i)nus, 1908,51–1909,44 (inschriftliche Belege) u. 1927,3–1928,84 (Belege in der Literatur); Dickey 2002, 77–99; speziell zu der Anrede im zehnten Buch der PliniusBriefe vgl. Sherwin-White 1966, 557 f. 38 Vgl. Latte 1960, § 114. 39 Die Formulierung status rei publicae oder civitatis stammt aus der politischen Rhetorik und amtlichen Sprache und ist in entsprechenden Kontexten schon in republikanischer Zeit belegt; vgl. z. B. Cic. leg. agr. 3,4; Catil. 1,3; dazu Köstermann 1937; OLD, Art. status, -us, 2003 (8a). 40 Siehe Komm. zu 39F. 41 Für eine Übersetzung des ganzen Briefes siehe S. 204.
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hofft, dass Gaius den Tag fröhlich und bei guter Gesundheit gefeiert hat. Abgesehen von der Frage, ob der Kaisergeburtstag zu Zeiten des Augustus schon in derselben Weise als öffentlicher Festtag etabliert war – jeder Großvater kann einen Brief an seinen Enkel zu diesem Anlass so eröffnen. Dazu muss er kein Kaiser sein. Ich will nicht verhehlen, dass es in diesem Brief im weiteren Verlauf noch eine interessante Wende sowohl in inhaltlicher Hinsicht als auch hinsichtlich der Tonalität geben wird: Auch hier wird das Schlagwort vom glücklichen status rei publicae noch fallen und wer Briefe anhand des Inhalts typologisieren möchte, mag ins Zweifeln kommen, wie privat dieser Brief wirklich ist und ob er nicht vielleicht auch ad res publicas pertinens ist. Aber die Rollenzuweisung, die Augustus zu Beginn des Schreibens vornimmt, ist eben für sich selbst die des Großvaters und nicht die des princeps, für den Adressaten die des Enkels und nicht die des Konsuls42, ganz gleich, was in diesem Brief dann noch ‚inhaltlich‘ angesprochen wird. Zwei Kaiser – zwei Geburtstage – zwei recht unterschiedliche Korrespondenzen. Diese zwei Beispiele sollen genügen, um zu illustrieren, warum die Rollenrelation für eine Typologisierung von Briefen in die Kategorien privat und amtlichoffiziell erheblich zweckmäßiger ist als allein inhaltliche Gesichtspunkte. Insofern habe ich den Gegenstand der vorliegenden Arbeit anders überschrieben als Malcovati: Privatbriefe sind für mich nicht epistulae ad res privatas pertinentes, sondern epistulae ad familiares (scriptae).43
1.3 Paolo Cugusis Epistolographi latini minores (1970–79) Eine weitere Sammlung von Fragmenten aus Briefen des Augustus findet sich außerdem im zweiten Band der Epistolographi latini minores von Paolo Cugusi, einer ursprünglich auf vier Bände hin angelegten Gesamtedition aller fragmenta-
42 Gaius Caesar war im Jahr 1 n. Chr. Konsul – eine Amtskorrespondenz zwischen beiden wäre also in dieser Zeit möglich gewesen und hat bestimmt auch stattgefunden. Aber dieser Brief gehört nicht dazu. 43 Zur Vermeidung möglicher Missverständnisse ein Wort: Die Bezeichnung Epistulae ad familiares verwende ich im Titel dieses Buches einzig und allein in der hier beschriebenen Weise als deskriptive Bezeichnung eines Brieftypus, keineswegs im Sinne eines von mir postulierten antiken Buchtitels, wie man mit den Cicero-Korrespondenzen im Hinterkopf vielleicht denken könnte. Wie noch zu erörtern sein wird (S. 25), handelt es sich jedoch auch im Falle Ciceros bei dem Titel um eine frühneuzeitliche Bezeichnung für eine Korrespondenzensammlung, die in der Spätantike und im Mittelalter schrittweise aus älteren Einzelbuchkorrespondenzen entstanden ist. Solche Ein-BuchBriefsammlungen scheint es auch von den Briefen des Augustus gegeben zu haben (siehe Kap. ii.2) und so scheint mir der Titel – richtig verstanden – für eine moderne Zusammenführung von deren Sekundärüberlieferung durchaus passend zu sein.
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risch überlieferten Briefe von der römischen Frühzeit bis ins vierte Jahrhundert mit Kommentar.44 Cugusis Fragmentcorpus ist im Unterschied zu dem Malcovatis noch einmal erheblich umfangreicher: Er berücksichtigt vor allem zahlreiche weitere Stellen aus der historiographischen Literatur des zweiten und dritten Jahrhunderts und legt hierbei augenscheinlich einen sehr, um nicht zu sagen zu weiten Begriff des Fragments zugrunde. Seine Sammlung umfasst so wirklich jede Erwähnung tatsächlicher oder angeblicher Briefe des Augustus, ganz gleich, ob diese zitiert oder paraphrasiert werden, ob sie lediglich erwähnt werden oder ob sie gar nur ‚Requisiten‘ in biographischen Erzählzusammenhängen sind. Die mit der Erwähnung von dokumentarischen Quellen in der Historiographie verbundenen Authentizitätsprobleme ignoriert Cugusi weitgehend. Ein Großteil dieser Testimonien bezieht sich auf (angebliche) Feldherrenkorrespondenz aus der Zeit der Bürgerkriege oder anderweitig amtliche Briefe, die etwa an Institutionen wie den Senat gerichtet sind. Eine Typologisierung von Briefen in Privat- und Amtskorrespondenz nimmt Cugusi dabei anders als Malcovati nicht vor; er sortiert die Fragmente soweit möglich nach Adressaten, wobei die Adressaten wiederum in einer Abfolge von Personen und Institutionen dargeboten werden, der keine nachvollziehbare Systematik zugrunde liegt. Cugusis Sammlung markiert für die Briefe des Augustus somit keinen qualitativen, sondern allenfalls einen quantitativen Fortschritt, weil die Flut von neuen Testimonien und Paraphrasen unser Wissen von dem ‚Briefschreiber Augustus‘ nicht wirklich erweitert. Die Authentizität dieser angeblichen Briefe wäre zunächst einmal dringend zu hinterfragen gewesen.45 44 Erschienen sind nur die ersten zwei Bände, die die Zeit vor Cicero (Bd. 1) und die Zeit Ciceros und die augusteische Zeit (Bd. 2) umfassen: P. Cugusi: Epistolographi latini minores, 2 Bde. (Turin 1970–1979; i. F. stets ELM), ii/1, 333–371 bzw. Nr. 151 (Edition) u. ii/2, 390–449 (Kommentar). 45 Vgl. das zurückhaltende Urteil in den einschlägigen Rezensionen, z. B. – zu Cugusis wenig durchdachter Mischung von Fragmenten und Testimonien sowie seinem Umgang mit Zeugnissen aus der Historiographie im ersten Band des Gesamtwerks – Gratwick 1972: „In the first place there is only a very small kernel of even quasi-genuine material … Unfortunately this material is lost amidst a large number of texts which paraphrase, summarize, or merely refer to the existence of letters sent …“ (ähnlich auch P. L. Schmidt 1972, 568), ausführlicher die Rezension Kytzler 1975: „Die vorliegende Sammlung stuft jedoch die drei unterschiedlichen Kategorien unterschiedslos ein, sie fügt Erwähnungen, indirekte Anführungen und wörtliche Zitate bunt durcheinander … anstatt die erste Kategorie lediglich anzuführen und die beiden anderen zu trennen. Wichtiger ist eine weitere Frage: die nach der Authentizität der angeführten Fragmente. … Bekanntlich bieten hellenistische Historiker freizügig Reden und Briefe als Züge ihrer Charakterportraits dar, und die Problematik der Echtheit der Texte neuen Sammlung verschiebt sich in einer ganzen Dimension.“ Für den zweiten ELM-Band hält er diese Kritik ausdrücklich aufrecht; vgl. Kytzler 1981, 702 mit Anm. 2. Noch deutlicher kritischer zum zweiten Band ist die Rezension Winterbottom 1980: „There is a certain (marginal) value in the registering of actual letters and their fragments … But there seems no conceivable sense in what one might call the testimonia to lost letters. When shall we ever
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Zu Cugusis Ausgabe gehört jedoch auch ein lateinischer Kommentar, der zwar recht knapp und keineswegs erschöpfend ist, aber doch häufig nützliche Informationen bietet. Schwerpunkt der Kommentierung ist die historische Kontextualisierung der Fragmente und Testimonien, es erfolgen aber gelegentlich auch Überlegungen zu Sprache und Stil.46 Kaum eine Rolle spielen in seinem Kommentar Überlegungen, die den ‚Fragmentcharakter‘ der behandelten Zitate und Paraphrasen betreffen; etwa die Abgrenzung der Zitate vom Kontext bzw. voneinander, die Unterscheidung zwischen direktem (wörtlichem) oder indirektem Zitat (Paraphrase) und die Problematisierung des Kontexts bei der Interpretation der Briefe. Im Gegensatz zu seiner Ausgabe ist Cugusis Kommentar für die Erforschung der Augustus-Brieffragmente also zweifellos ein Meilenstein – aber eben nicht das Ende der Straße.
1.4 Neuere Arbeiten: De Biasi/Ferrero (2003), Bringmann/Wiegandt (2008) Abschließend ist noch auf zwei neuere Arbeiten einzugehen, bei denen es sich um Studienausgaben handelt, die im Kern auf der Ausgabe Malcovatis beruhen: Zunächst einmal Luciano De Biasis und Anna Maria Ferreros Cesare Augusto Imperatore. Gli Atti Compiuti e i Frammenti delle Opere (2003).47 Die Edition ist im Wesentlichen ein Nachdruck derjenigen Malcovatis; hinzu kommen ein eher knapper Kommentar und eine italienische Übersetzung. Stärker um Eigenständigkeit gegenüber dem Vorbild Malcovatis bemüht ist die deutsche Studienausgabe Augustus. Schriften, Reden und Aussprüche (2008) der Althistoriker Klaus Bringmann und Dirk Wiegandt48 mit (zuverlässiger) deutscher Übersetzung und einem (jedoch recht knappen) Kommentar49. Neu gegenüber der Ausgabe Malcovatis ist eine Unterteilung des Materials in Fragmente und Testimonien;50 ferner lehnen sie
look them up? … Cugusi contributes little that is new in either text or commentary (rich though this is in bibliography, and sensible though his judgements are). It is a pity that all this energy has been directed towards something so unlikely to be of use to student or scholar.“ 46 Seine Beobachtungen zu Sprache und Stil der Briefe des Augustus hatte Cugusi zuvor bereits andernorts (Cugusi 1972, bes. 112–160) ausführlicher beschrieben. 47 L. De Biasi/A. M. Ferrero: Cesare Augusto Imperatore. Gli Atti Compiuti e i Frammenti delle Opere (Turin 2003 = Novara 2013). 48 K. Bringmann/D. Wiegandt: Augustus. Schriften, Reden und Aussprüche, Texte zur Forschung 91 (Darmstadt 2008). 49 Bedauerlicherweise „entfällt“ dieser jedoch bei vielen Nummern. 50 Diese folgt jedoch keinem klaren Kriterium und scheint mir in Hinblick auf die Briefe bisweilen etwas inkonsequent; vgl. dazu und zu der Unterscheidung zwischen Fragmenten und Testimonien S. 77 f. mit Anm. 9.
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I Einleitung
Malcovatis Unterteilung der Briefe nach privaten und politischen Inhalten ab,51 teilen das Material aber nicht nach einem sinnvolleren Kriterium auf, sondern führen beide Gruppen einfach zusammen und behalten dabei die Anordnung der Fragmente bei, was mir unglücklich zu sein scheint und zu Inkonsequenzen führt: So taucht Marcus Antonius als Adressat von Briefen zweimal auf, was für nicht mit der Forschungshistorie vertraute Leserinnen und Leser nicht einsichtig sein dürfte.52 Unglücklich scheint mir auch die Entscheidung, die Texte ohne kritischen Apparat und im Falle der wörtlicher Zitate ohne den Kontext darzubieten; leider schränkt insbesondere letzteres die Brauchbarkeit der Ausgabe an vielen Stellen stark ein.53 Der Kommentar ist vornehmlich auf Realien bezogen und zumeist recht knapp, der ältere Forschungsstand wird nur selten referiert (auf die Arbeiten Cugusis wird, soweit ich sehe, nicht ein einziges Mal Bezug genommen) und philologische Fragen werden zumeist ausgeklammert. Die intendierte Leserschaft der Ausgabe Bringmanns und Wiegands sind ausdrücklich Studierende der Alten Geschichte, die, so die Herausgeber,54 in der Regel nur noch über unzureichende Latein- und keinerlei Griechischkenntnisse verfügten, und für diesen Rezipientenkreis ist die Edition – mit den genannten Einschränkungen – zweifellos ein nützliches Hilfsmittel. Sie stellt aber keinen zufriedenstellenden Ersatz für die Ausgabe Malcovatis als wissenschaftliche Zitierausgabe dar. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Anzahl der edierten Fragmente in den eigenständigen Ausgaben seit Weichert stets zugenommen hat, wobei spätestens Cugusi den Bogen deutlich überspannt hat. Der bisher sinnvollste Versuch, über die Sammlung hinaus Ordnung in das Material zu bringen, ist Malcovatis Unterscheidung von Privat- und Amtsbriefen. Aufgrund des von ihr gewählten Differenzierungskriteriums ‚Inhalt‘ überzeugt die Anordnung aber nicht immer und überall. Ihre Sammlung von epistularum ad res privatas pertinentes reliquiae kann also für eine Edition der Privatbriefe des Augustus nicht vorbehaltlos übernommen, sondern nur als erster Anhaltspunkt herangezogen werden. Eine Kom-
51 Vgl. Bringmann/Wiegandt 2008, 21. 52 Bringmann/Wiegandt 2008, 48–50 u. 76 f. 53 Ein Beispiel aus der Rubrik „Werke in Versform“ soll das Problem verdeutlichen: Unter der Nr. 4 (Imp. Aug. carm. frg. 4 M), ein Zitat eines obszönen Epigramms des Augustus bei Martial (11,20), drucken Bringmann und Wiegandt nur die sechs Verse des Augustus, nicht die sie umgebenden Martial-Verse; auch im Kommentar sucht der Leser Hinweise darauf, wie diese Verse in ein MartialEpigramm geraten sind und woher wir wissen, dass sie von Augustus stammen, vergeblich. Bei den Briefen wird der Kontext zumindest im Kommentar meist kurz referiert, allerdings nicht immer korrekt, z. B. (50, Nr. 44) zum Kontext von Char. gramm. p. 164,8 B (8F); vgl. dazu Komm. zu 8F, S. 111 f. mit Anm. 8. 54 Vgl. Bringmann/Wiegandt 2008, 19 f.
2 Aufbau der Arbeit
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mentierung der Fragmente kann von dem von Cugusi gelegten Fundament ihren Ausgang nehmen, ist aber insbesondere unter philologischen Gesichtspunkten noch zu vertiefen.
2 Aufbau der Arbeit Die vorliegende Arbeit hat nicht das Ziel, die Ausgabe Malcovatis als maßgebliche Referenzausgabe aller Überreste von Werken und Schriften des Augustus zur Gänze oder in Teilen zu ‚ersetzen‘, sondern versteht sich im Hinblick auf editorische Fragen als kritisch-evaluative Studie zu einem Teil des Materials, nämlich den Privatbriefen im Sinne der in diesem Kapitel entwickelten Definition. Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile: In einem ersten Hauptkapitel wird die Textgeschichte und Rezeption der Briefe in der Antike behandelt (ii). Untersucht werden soll dabei, woher die antiken Autoren die Privatbriefe des Augustus kannten – Waren sie in bestimmten Archiven zu finden? Sind sie in Ausgaben schriftlich fixiert worden? Wie hat man sich diese Ausgaben vorzustellen? – und warum wir sie nur noch in bruchstückhafter Form kennen, d. h. wann und warum ihre Primärüberlieferung abgebrochen ist. Auf die Ergebnisse dieses Teils aufbauend, bildet den zweiten Hauptteil eine Edition der Sekundärüberlieferung mit einer Übersetzung und einem Zeilenkommentar (iv), wobei diesen beiden Teilen ein Kapitel mit methodischen Vorbemerkungen (iii) vorgeschaltet ist. Der Edition wird ein Corpus zugrunde liegen, das sich an demjenigen Malcovatis zwar orientiert, in einigen Punkten aber auch von ihm unterscheidet: Einmal, weil mein Verständnis der Textsorte Privatbrief sich wie dargestellt von dem ihren unterscheidet, und zum anderen, weil die Gesamtzahl der Brieffragmente durch Cugusi erheblich vermehrt wurde und ungeachtet der mit seiner Edition verbundenen methodischen Probleme hier zumindest in Einzelfällen sinnvolle Ergänzungen möglich sind. Der Kommentar hat im Gegensatz zu den bisher vorliegenden Kommentaren einen dezidiert philologischen Schwerpunkt. Den Schluss bildet ein zweigeteiltes Synthese-Kapitel (v), in dem ich zunächst die wichtigsten Beobachtungen zu Sprache und Stil der Briefe überblicksartig zusammentrage und anschließend eine Gesamtwürdigung versuche, die unter der Leitfrage nach dem biographischen Wert der Briefe steht.
II Textgeschichte und Rezeption der Privatbriefe des Augustus in der Antike Der Versuch, die antike Textgeschichte der Privatkorrespondenz des Augustus nachzuvollziehen, ist noch nicht systematisch unternommen worden, auch wenn die Notwendigkeit dafür oder zumindest die Relevanz der Frage schon vereinzelt festgestellt worden ist.1 Zunächst bestehen hier zwei sich freilich keineswegs widersprechende Möglichkeiten: Entweder wurden die Briefe ‚veröffentlicht‘ – wobei zu klären ist, was das bedeutet – oder es handelte sich bei ihnen um ‚Archivgut‘, auf das die zitierenden Autoren einen wie auch immer gearteten exklusiven Zugriff hatten. Für beide Möglichkeiten finden sich Anhaltspunkte: Auf der einen Seite steht die ausdrückliche Bezeugung eines Liber epistularum divi Augusti, quas ad Gaium nepotem suum scripsit bei Gellius.2 Anderseits ist zu vermerken, dass Sueton zweimal von handschriftlichen Originalbriefen des Augustus zu berichten scheint,3 die er dann im Folgenden zitiert bzw. paraphrasiert. Die Rezeption der Privatbriefe des Augustus bezieht sich also prima facie sowohl auf publiziertes Material als auch auf Archivgut, wobei in der Forschung – meist im Kontext der Suetonforschung – beide Möglichkeiten unterschiedlich stark betont worden sind. Die Annahme einer archivalischen Überlieferung wird meist mit Suetons zeitweiliger Bekleidung höherer Hofämter wie dem des ab epistulis unter den Kaisern Traian und Hadrian erklärt: Dies habe ihm einen privilegierten Zugang zu Archivalien am Hof gewährt, unter denen sich auch die Privatbriefe des ersten Kaisers befunden hätten.4 Diese reizvolle Annahme ist jedoch nicht ohne Probleme: Zunächst wissen wir eigentlich nichts über den Inhalt der Archive, die sich im ersten und frühen zweiten Jahrhundert am Hof befunden haben mögen, und es scheint fraglich, ob ein solches Archiv Privatbriefe beinhaltet hat. Und wenn es so war, warum dann augenschein-
1 Vgl. z. B. Mayer 2001, 128: „It would be interesting to know when they (sc. the letters of Augustus) became generally available.“ 2 Vgl. Gell. 15,7; siehe dazu ausführlicher Kap. ii.2.1. 3 Vgl. Suet. Aug. 71,2 u. 87,1; siehe dazu ausführlicher Kap. ii.2.2. 4 Diese ‚Archiv-Theorie‘ wurde, soweit ich sehe, zuerst formuliert von Macé 1900, 117–127 und wird seitdem und bis heute immer wieder vertreten; vgl. z. B. Gottanka 1904, 8; Bourne 1918, 62 f.; Townend 1959, 285–288; Horsfall 1989, 105; Wittstock 1993, 19; Trapp 2006, 338 mit Anm. 11; Wardle 2014, 489 f.; Pabst 2014, 14; Elder/Mullen 2019, 247 u. ö. Ausgewogenere Einschätzungen, die ein Nebeneinander von publizierten Ausgaben und Originaldokumenten annehmen, finden sich bei SchH, § 356 (407 f.); Baldwin 1983, 134–139; De Coninck 1983, 49–57 u. 1991, 3690–3692; Cugusi 1983, 181; Wallace-Hadrill 1995, 91–95. https://doi.org/10.1515/9783111193595-002
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II Textgeschichte und Rezeption der Privatbriefe des Augustus in der Antike
lich nur Privatbriefe des Augustus und keine von dessen Nachfolgern?5 Außerdem ist es fraglich, ob Sueton tatsächlich Zugang zu solch einem Archiv gehabt hat.6 Vor diesem Hintergrund scheint es unabdingbar, die beiden Sueton-Stellen, auf die sich die in der Sekundärliteratur häufig affirmativ rezipierte ‚Archiv-Theorie‘ stützt, noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Wenn hingegen eine Publikation von Briefen des Augustus anzunehmen ist, stellt sich die Frage, ob diese Briefe in Buchausgaben, also als Zusammenstellung von mehreren Briefen in einer oder mehreren Papyrusrollen (volumina) und somit als in rezeptionsästhetischem Sinne ‚literarische‘ Privatbriefe kursierten,7 oder
5 Sueton zitiert keinen Privatbrief irgendeines späteren Kaisers (allenfalls für den Suet. Tib. 11,5– 12,1 paraphrasierten Austausch zwischen dem im selbstgewählten Exil weilenden Tiberius und dem ‚Hof‘ wäre zu überlegen, ob Sueton sich auf einen Briefwechsel zwischen Tiberius und Augustus bezieht, doch ist dies nicht sicher, und wenn, muss ihm nicht mehr als ein Brief des Augustus vorgelegen haben; vgl. dazu S. 163 f. mit Anm. 64). Die Tib. 67,1; Cal. 23,2; und Nero 41 bezeugten oder zitierten Kaiser-Briefe sind allesamt an den Senat gerichtete amtliche Schreiben und waren Sueton entsprechend wohl in den acta senatus zugänglich. Townend 1959 hat versucht, das Fehlen von Zitaten aus der Privatkorrespondenz späterer Kaiser damit zu erklären, dass Sueton nach dem Zeugnis der Hadrianvita in der Historia Augusta (Hist. Aug. Hadr. 11,3) bereits 122 n. Chr. in Ungnade gefallen, seines Amtes enthoben worden und dadurch seines Zugangs zum ‚kaiserlichen Archiv‘ verlustig gegangen sei; im verlorenen Proöm der Caesarvita stand nach dem Zeugnis des Johannes Lydos eine Widmung an den Prätorianerpräfekten Septicius Clarus, der 119 ins Amt gekommen war und laut der Hadrian-Vita gemeinsam mit Sueton entlassen wurde (Septicio Claro praefecto praetorii et Suetonio Tranquillo epistularum magistro … successores dedit). Daraus würde folgen, dass Sueton nach der Publikation des ersten Buches der Kaiserviten nur noch maximal drei Jahre Zeit am Hof gehabt hätte. Die Datierung der Episode hängt allein am Kontext (zuvor wird der ins Jahr 122 zu datierende Britannienbesuch Hadrians behandelt, die Erzählung geht jedoch über in einen Exkurs zur Paranoia des Kaisers; vgl. dazu Fündling 2006, 582 f.; für eine erheblich spätere Datierung plädierte etwa H. Lindsay 1994), und selbst wenn man sie und die Prämisse, dass Sueton für seine Arbeit an den Viten auf ein ‚kaiserliches Archiv‘ angewiesen war, akzeptiert, ist fraglich, ob dies etwas für die Datierung der Kaierviten hergibt; vgl. bereits Baldwin 1975, 67–69. 6 Vgl. De Coninck 1983, 45–57, bes. 57: „Het is, zoals gezegd, niet bekend hoeveel private brieven in de keizerlijke archieven nog waren te vinden; evenim is bewezen dat hij daar als keizerlijke ambtenaar toegang had.“ Baldwin 1983, 47 f.: „In cold fact … the volume of documentation in the earlier lives (sc. of the Caesars by Suetonius) has been greatly exaggerated. It boils down mainly to citations from the correspondence of Augustus. In regarding letters as documents valuable to the biographer … Suetonius was following the example … not only of Nepos, but of Hellenistic biography … Thus, familiarity with the Augustan correspondence is no proof of access to, or use of, the imperial archives.“ 7 Umfangreiche, publizierte Ausgaben der Briefe nehmen an Peter 1897 i, 460 (vorsichtiger allerdings Ders. 1901, 97–100); Levi 1958, xlvi–xlix; Della Corte 1967, 161; Cugusi, ELM ii/2, 391 u. Cugusi 1983, 179–181; Giordano 2000, 6; Wulfram 2008, 22.
1 Voraussetzungen: Publizierte Privatbriefsammlungen aus der (späten) Republik
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ob sie als Einzelstücke, also in einer ‚halbliterarischen‘8 Form, im Umlauf waren. Hier kann die erwähnte Gellius-Stelle als Argument für die Annahme von Briefsammlungen in Buchform herangezogen werden, zumindest im Hinblick auf eine Sammlung von Briefen des Augustus an seinen Enkel Gaius Caesar. Da weitere ‚harte Fakten‘ nicht zur Verfügung stehen, scheint es zweckmäßig, sich dem Fragekomplex zunächst von den literaturhistorischen Rahmenbedingungen her anzunähern. Dazu werden zunächst im folgenden Unterkapitel die Publikations- und Rezeptionsbedingungen von Privatkorrespondenzen aus der späten Republik und der frühen Kaiserzeit, die für die Augustus-Briefe zeitlich und der Sache nach die beste Vergleichsfolie darstellen, näher beleuchtet.
1 Voraussetzungen: Publizierte Privatbriefsammlungen aus der (späten) Republik und ihre Rezeption in der Kaiserzeit Die Veröffentlichung authentischer Privatkorrespondenzen in Buchform ist ein genuin römisches Phänomen.9 Wer der ‚Archeget‘ dieser Publikationsform ist, ist jedoch nicht ganz klar: Man hat etwa vermutet, dass bereits der ältere Cato seine Privatkorrespondenz oder Teile davon publiziert habe.10 Dem hält Peter Lebrecht Schmidt entgegen, dass nur ein einziger Brief Catos an dessen Sohn Marcus fassbar sei,11 der vermutlich separat kursierte, und gibt zu bedenken, ob es sich hier nicht eher um eine in Briefform gekleidete Abhandlung, ähnlich dem ebenfalls bezeugten enzyklopädischen Vademecum Ad Marcum filium,12 gehandelt hat.13 Ähnlich umstritten ist die literaturgeschichtliche Stellung des Briefes der Cornelia an ihren Sohn Gaius Gracchus, von dem zwei Exzerpte in einer Nepos-Handschrift (Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Cod. Guelf. 166 Gud. lat.) überliefert sind:14 Hier sehen
8 Vgl. zu dieser Terminologie Wulfram 2008, 37 f. (mit Anm. 100 f.) u. 43. 9 Älteren Autoren zugeschriebene griechische Briefsammlungen bestehen einerseits meist nicht aus Privatbriefen in engerem Sinne, sondern z. B. eher philosophischen Lehrbriefen wie denen Epikurs, und sind anderseits auch in ihrer Echtheit meist mindestens umstritten; vgl. Trapp 2003, 12 f.; Wulfram 2008, 33 f.; Albrecht 2012, 431; Sarri 2018, 27. 10 Vgl. dazu z. B. Peter 1901, 8 mit Anm. 1; Leo 1913, 280 mit Anm. 3; SchH, § 68a. 11 ELM i, (66) frg. 6–9. 12 Vgl. dazu Leo 1913, 276–280. 13 Vgl. P. L. Schmidt 1972, 575 f.; vgl. auch Eickhoff 2021, 68. 14 Nep. frg. 59 M; Die Herkunftsangabe in der Handschrift (ex libro … de Latinis historicis excerpta) ist vermutlich unrichtig; vgl. dazu Geiger 1985, 88; Horsfall 1989, 125. Die Fragmente der CorneliaBriefe liegen (mit weiteren Testimonien) auch ediert vor in ELM i/1, 110–113 (Nr. 124).
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II Textgeschichte und Rezeption der Privatbriefe des Augustus in der Antike
einige Forscher den Überrest einer Buchausgabe des Briefwechsels,15 während andere die Echtheit der Exzerpte infrage stellen.16 Etwas klarer wird das Bild bei Cicero, dessen Privatkorrespondenz17 in großem Umfang in Buchform publiziert wurde und von der eine erhebliche Menge durch Primärüberlieferung auf uns gekommen ist: Wir besitzen heute noch eine sechzehn Bücher umfassende Sammlung der Briefe an Atticus, eine drei Bücher umfassende Ausgabe der Briefe an den Bruder Quintus sowie 26 Briefe aus einer Sammlung der Briefe an Brutus, die in den Ausgaben in zwei Bücher18 eingeteilt werden; ursprünglich muss die Sammlung mindestens neun Bücher umfasst haben.19 Außerdem ist mit den sogenannten Epistulae ad familiares ein Corpus von sechzehn kleineren Briefsammlungen in je einem Buch überliefert: Vierzehn der sechzehn Bücher beinhalten jeweils Briefe Ciceros an einen im Buchtitel genannten Hauptadressaten.20 Dieser ist aber längst nicht immer der einzige oder auch nur der häufigste Adressat innerhalb des jeweiligen Buches, sondern oft einfach der Adressat des ersten Briefes oder der ersten Briefe, der dann als eponymer Adressat für das gesamte
15 Vgl. P. L. Schmidt 1972, 576. 16 Vgl. zur Echtheitsfrage Horsfall 1989, 41 f.; zu überlegen wäre vielleicht auch hier – die Authentizität des Briefes vorausgesetzt –, ob es sich um ein weiter kursierendes Einzelstück gehandelt haben könnte. 17 Die überlieferten Briefsammlungen beinhalten im Sinne meiner Definition (S. 7–11) fast ausschließlich Privatbriefe. Amtliche oder halbamtliche Briefe haben wir lediglich aus der Zeit von Ciceros Statthalterschaft in Cilicia (Cic. fam. 2,7–15 u. 17–19; 3,2; 15,1–14). 18 Das erste Buch entspricht hierbei den Briefen, die in der handschriftlichen Tradition der Atticusbriefe und der Briefe an den Bruder Quintus mitüberliefert sind; die Überlieferung des ‚zweiten Buches‘ hängt an einem Druck des Andreas Cratander (Basel 1528), die zugrundeliegende Handschrift ist verloren; vgl. Rouse, TTr, Art. Cicero, 136. 19 Denn Nonius (p. 682 L [p. 421,30 M]) zitiert ein neuntes Buch; da die zitierte Stelle Cic. ad Brut. 1,1,1 entspricht, ist anzunehmen, dass die erhaltenen Briefe alle aus diesem neunten Buch stammen; vgl. auch SchH, § 155a (475). 20 Die Buchtitel, die in den Hss. jeweils im explicit und incipit zwischen den Büchern genannt werden (Ad P. Lentulum usw.), pflegen in den Ausgaben leider nicht mitediert bzw. im kritischen Apparat angegeben zu werden. Immerhin scheint sich L. C. Purser (Ed. Cic. fam. 1957) bei der Bezeichnung der Bücher stillschweigend an den Hss. zu orientieren bzw. dabei von diesen inspiriert zu sein. In den jüngeren Ausgaben (Watt, Ed. Cic. fam. 1982; Shackleton Bailey, Ed. Cic. fam. 1988) werden die Bücher hingegen ohne Hinweis auf den handschriftlichen Befund einfach durchnummeriert. Dass die in den Handschriften genannten Titel antik sind, wird ersichtlich aus dem Umstand, dass Gellius und Nonius nach ihnen zitieren. Vgl. z. B. Gell. 1,22,19: in libro epistularum ad L. Plancum et in epistula M. Asini Pollionis ad Ciceronem, d. h. in einem Brief des Pollio an Cicero, der im Buch mit dem Titel Ad L. Plancum (‚Ad familiares 10‘) zu finden ist; gemeint ist fam. 10,33,5. Analog verweist Non. p. 118 L (p. 83,25 M): Cicero ad Varronem epistola Paeti auf einen Brief Ciceros an Paetus im Buch Ad Varronem (fam. 9,20); vgl. auch Tyrrell/Purser 1899–1918 i, 66; Schröder 1999, 88 f.
1 Voraussetzungen: Publizierte Privatbriefsammlungen aus der (späten) Republik
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Buch fungiert.21 Außerdem beinhalten die Bücher auch einige ‚Gegenbriefe‘ dieser Adressaten an Cicero.22 Sonderfälle sind das achte Buch, das ausschließlich Briefe des Marcus Caelius an Cicero enthält, sowie das dreizehnte Buch, in dem Empfehlungsschreiben Ciceros an unterschiedliche Adressaten gesammelt vorliegen (allerdings sind auch diese weitgehend nach Adressaten sortiert). Die einzelnen Korrespondenzen – ob sie ein ganzes Buch umfassen oder kürzer sind – erheben augenscheinlich nicht den Anspruch, einen Querschnitt durch die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Cicero und seinem Adressaten zu bieten, sondern drehen sich zumeist um ein bestimmtes ‚Thema‘: So sind die Briefe des sechzehnten Buches (Ad Tironem) teilweise (vielleicht bewusst) gegen die Chronologie so angeordnet, dass sie Tiros Freilassung in den Mittelpunkt stellen.23 Die Zusammenstellung der Briefe in den Büchern wirkt also nur auf den ersten Blick unsystematisch: Es scheint zumindest im Grundsatz versucht worden zu sein, Ciceros Korrespondenzen mit bestimmten Adressaten und zu bestimmten Themen zusammenzustellen.24 Auf der
21 Als Beispiel mag hier der Aufbau des sechsten Buches dienen. Der Titel des Buches in den Handschriften lautet Ad A. Torquatum bzw. Ad A. Torquatum et ceteros (vgl. Hs. Florenz, Bibl. Medicea Laurenziana, Plut. 49.9, fol. 83v u. 100v; Hs. Paris, Bibl. nationale de France, lat. 17812, fol. 77v u. 83r, nur hier mit dem Zusatz et ceteros). An diesen Torquatus sind dann die Briefe 1–4 gerichtet, 5 u. 6 gehen an Aulus Caecina, 7 ist ein Brief Caecinas an Cicero, 8 wieder ein Brief Ciceros an Caecina. 9 ist ein Empfehlungsschreiben Ciceros an Titus Furfanius zugunsten von Caecina (5–9 bilden also einen ‚Block‘ innerhalb des Buches). 10 und 11 gehen an Trebanius, 12 an Titus Ampius Balbus, 13 und 14 an Ligarius, 15 an Basilius, 16 ist ein Brief des Quintus Pompeius Bithynicus an Cicero, 17 Ciceros Antwort darauf, 18 und 19 sind Briefe Ciceros an Quintus Lepta, 20 und 21 an Toranius und 22 an Domitius. Bücher, die ausschließlich Korrespondenzen mit einem Adressaten oder einer Adressatin beinhalten und in denen Briefe von anderen oder an andere nur als Beilagen enthalten sind, weil sie für die Korrespondenz mit dem Hauptadressaten relevant sind, sind Buch 1 (Ad P. Lentulum), Buch 3 (Ad Ap. Claudium Pulchrum), Buch 14 (Ad Terentiam uxorem), Buch 16 (Ad Tironem), in gewisser Weise aber wie bemerkt natürlich auch Buch 8, das nur Briefe des Marcus Caelius an Cicero enthält; ein kurzer Überblick über alle sechzehn Bücher finden sich bei Büchner, RE viia, Art. M. Tullius Cicero (Briefe), 1192 f.; ShB fam. i, 20–23. 22 In den anderen Korrespondenzen ergibt sich ein disparates Bild: In den Atticusbriefen befinden sich nur Briefe Ciceros an Atticus und einige Beilagen (Briefe an oder von Dritten, die inhaltlich für das Verständnis der Atticuskorrespondenz von Belang sind), jedoch nicht ein einziger Brief des Atticus an Cicero. In den Quintusbriefen sind nur Briefe Ciceros an dessen Bruder enthalten (allerdings gibt es einige Briefe des Quintus Cicero an Cicero in den Ad familiares-Sammlungen). Die Brutuskorrespondenz enthält Briefe in beide Richtungen. 23 Vgl. Beard 2002, 130–143; zu diesem Briefbuch jetzt Spurny 2021. 24 Vgl. P. White 2010, 51–56. Hierbei ist es jedoch zu Fehlern gekommen: So sind im siebenten Buch fünf Briefe an verschiedene Personen mit dem Cognomen Gallus zu einer Kleinkorrespondenz zusammengefasst und in fam. 11,16 werden Decimus und Marcus Brutus verwechselt; vgl. dazu ShB fam. i, 21 f.; P. White ibid., 33.
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II Textgeschichte und Rezeption der Privatbriefe des Augustus in der Antike
Ebene der einzelnen Adressaten gibt es wie auch in den größeren Briefsammlungen eine gewisse Tendenz zu einer chronologischen Anordnung der Briefe, die aber nicht immer und überall durchgehalten, teilweise vielleicht auch bewusst nicht beachtet wird.25 Neben den primärüberlieferten Sammlungen wissen wir außerdem noch von zahlreichen weiteren Briefsammlungen Ciceros, die (wie die Briefe des Augustus) nicht bzw. nur sekundär überliefert sind26: Titel
Buchzahl
Belege/Anmerkungen
Ad Caesarem
Ad Caesarem iuniorem
2 (3?)
Ad A. Hirtium
7+ (9+?)
Ad C. Pansam
3+
Die ausschließlich bei Nonius Marcellus dieser Sammlung zugeordneten Briefzitate könnten auch Bestandteil von Ad Caesarem iuniorem (Octavian) und an diesen gerichtet gewesen sein.27 Fragmente ausschließlich bei Nonius Marcellus, der ein drittes Buch zitiert, dessen Existenz allerdings bestritten wurde.28 Ludwig Gurlitt behauptet (in jeweils unterschiedlich überzeugender Weise) für einige Fragmente, dass sie aus Gegenbriefen, also Briefen Octavians an Cicero, stammen.29 Fünf Fragmente, ausschließlich bei Nonius Marcellus. Die Mindestbuchzahl ist belegt durch Non. p. 704 L (p. 437,26 f. M): M. ad Hirtium lib. vii: … Non. p. 721 L (p. 450,2 f. M) wird sogar ein neuntes Buch erwähnt, doch Gurlitt äußert Zweifel an die Richtigkeit dieser Angabe.30 Vier Fragmente (drei bei Nonius Marcellus, eines in Dub. Nom. B6). Mindestbuchzahl ist belegt bei Non. p. 131 L (p. 92,16 f. M): Cicero … idem ad Pansam lib. iii: …
25 Beard 2002 vermutet hinter den gelegentlichen Abweichungen von der Chronologie keine ‚Fehler‘, sondern betrachtet diese vielmehr als ein Ergebnis des Gestaltungswillens der anonymen Herausgeber der Sammlungen. Zustimmend Gibson 2012, 64 f., skeptisch dagegen Wulfram 2008, 30 mit Anm. 68 u. 32 mit Anm. 76. Zuzustimmen ist Beard und Gibson jedoch dahingehend, dass die in der handschriftlichen Tradition bewahrte Reihenfolge von Briefen in kritischen Editionen nicht künstlich verändert werden sollte, wie es in der Vergangenheit immer wieder versucht worden ist (Beispiele dafür sind die kommentierten Ausgaben von Tyrrell/Purser und Shackleton Bailey). Die neuzeitlich-moderne Konvention, Briefe in publizierten Sammlungen chronologisch anzuordnen, ist auf die Antike nicht vorbehaltlos übertragbar; vgl. dazu Gibson ibid., 61–64. 26 Die Fragmente der verlorenen Cicero-Korrespondenzen sind ediert in Shackleton Bailey, Ed. Cic. Q. fr. et al. 1988, 165–187 (in ELM wurden sie nicht berücksichtigt). Hilfreiche Überblicke über diese Korrespondenzen finden sich bei SchH, § 155a (477 f.); Büchner, RE viia, Art. M. Tullius Cicero (Briefe), 1199–1206; wichtig ist Weyssenhoff 1966. 27 So jedenfalls Gurlitt 1888, 4–11; vgl. jedoch Weyssenhoff 1966, 53–59 u. 78. 28 Vgl. Gurlitt 1888, 15. 29 Siehe zu dieser Frage ausführlicher S. 101–103 Anm. 1. 30 Vgl. Gurlitt 1888, 23 mit Anm. 1.
1 Voraussetzungen: Publizierte Privatbriefsammlungen aus der (späten) Republik
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Titel
Buchzahl
Belege/Anmerkungen
Ad Q. Axium
2+
Ad M. filium
2+
Ad L. Calvum
2+
Ad Cornelium Nepotem
2+
Ad M. Titinium
unbekannt
Ad Catonem
unbekannt
Ad Caerelliam Ad Hostilium
unbekannt unbekannt
Sechs Fragmente (bei Seneca d. J., Sueton, Nonius Marcellus und Arusianus Messius). Mindestbuchzahl ist belegt durch Non. p. 819 L (p. 509,14–16 M): M. Tullius … idem ad Axium lib. ii: … Sechs Fragmente (bei Quintilian, Plutarch, Lactanz, Servius, Nonius Marcellus und Priscian). Mindestbuchzahl ist belegt durch Non. p. 422 L (p. 275,18 M): M. Tullius ad filium lib. ii: … Zwei Fragmente (bei Nonius Marcellus und Priscian). Mindestbuchzahl ist belegt durch Prisc. gramm. GL ii, p. 490,12 H: Cicero epistularum ad Calvum primo: … Wo es ein erstes Buch gibt, muss auch mindestens ein zweites existiert haben. Sieben Fragmente (bei Sueton, Lactanz,31 Ammianus Marcellinus, Macrobius und Priscian), eines davon von einem Gegenbrief. Mindestbuchzahl bezeugt durch Macr. sat. 2,1,14: Testis … Cicero, qui in libro epistularum ad Cornelium Nepotem secundo sic ait: … Ein Fragment bei Suet. rhet. 26,1: de hoc Cicero in epistula ad M. Titinium sic refert: … Ein Fragment bei Non. p. 705 f. L (p. 438,31 M): atque ideo M. Tullius discrevit epistula ad Catonem: … Drei Fragmente (Quintilian, Cassius Dio, Ausonius). Ein Fragment bei Char. gramm. p. 140,20 B.: quamvis Cicero dixerit „requietem“ ad Hostilium.
Die Primärüberlieferung dieser Korrespondenzen scheint bereits recht früh abgebrochen zu sein: Die spät- und nachkaiserzeitlichen Bezeugungen, zumeist in der grammatischen Tradition, gehen jedenfalls sehr wahrscheinlich nur noch auf indirekte Vermittlung zurück, wie entsprechende Studien plausibel gemacht haben,32 und belegen somit keine Verbreitung der Sammlungen in dieser Zeit mehr. Es hat den Anschein, als ob Cicero einzelne Briefe, von denen er Abschriften behalten hatte, selbst in Umlauf gebracht hat, indem er Dritten gestattete, Abschriften davon anzufertigen – teilweise scheint er es geduldet zu haben, wenn die Empfänger dies zuließen.33 Einzelne Briefe werden also bereits zu seinen Lebzeiten und darüber hinaus in Umlauf gewesen sein. Die uns vorliegenden Sammlungen in Buchform gehen als solche wohl allerdings nicht auf eine Herausgabe durch ihn selbst zurück, sondern sind erst nach seinem Tod durch uns namentlich nicht
31 Offenbar enthielt diese Briefsammlung mindestens einen Gegenbrief; jedenfalls bietet Lactanz (inst. 3,15,10) ein recht umfangreiches Zitat aus einem Brief des Nepos an Cicero (Cic. epist. frg. 2a,1 ShB = ELM ii, [158] frg. 2). 32 Vgl. Nake 1861, bes. 40; Weyssenhoff 1966, bes. 77–81. 33 Vgl. dazu mit Beispielen Wulfram 2008, 24–26.
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II Textgeschichte und Rezeption der Privatbriefe des Augustus in der Antike
bekannte Herausgeber erfolgt. Zwar deutet eine Äußerung Ciceros in einem Brief an Atticus darauf hin, dass er die Publikation einer Auswahl aus seiner Privatkorrespondenz gegen Ende seines Lebens selbst erwogen hat: Cic. Att. 16,5,5 (9. Juli 44 v. Chr.): mearum epistularum nulla est συναγωγή, sed habet Tiro instar septuaginta, et quidem sunt a te quaedam sumendae. eas ego oportet perspiciam, corrigam; tum denique edentur.34
Ciceros Freigelassener Tiro habe demnach im Juli 44 v. Chr. etwa 70 Briefe zur Veröffentlichung gesammelt, zu denen aber noch einige Briefe an Atticus hinzukommen sollten. Diese Sammlung ist in der Forschung gelegentlich mit dem 79 Briefe umfassenden dreizehnten Buch der Epistulae ad familiares, das Empfehlungsschreiben an unterschiedliche Adressaten beinhaltet, identifiziert worden;35 dagegen spricht jedoch, dass dieses keinen einzigen Brief an Atticus und trotzdem deutlich mehr als „etwa 70“ Briefe beinhaltet.36 Selbst das Notargument, Atticus habe Ciceros Wunsch einfach nicht entsprochen, setzt also noch erhebliche Änderungen an dem Corpus, das Cicero hier vor Augen stand, vor der Publikation voraus. Wenn diese hier angedachte Ausgabe überhaupt jemals fertiggestellt und publiziert wurde, so hat sie wahrscheinlich nichts mit irgendeiner der Sammlungen zu tun, die wir heute kennen. Die Äußerung kann somit kaum als Beleg dafür herangezogen werden, dass irgendeine der uns bekannten Sammlungen von Cicero geplant oder von Tiro herausgegeben wurde,37 und es muss folglich für alle Cicero-Briefsammlungen mit der Möglichkeit einer erheblich späteren Publikation gerechnet werden. Was wissen wir über die Zeitpunkte der Veröffentlichung für die einzelnen Ausgaben eigentlich sicher? Betrachten wir zuerst die sogenannten Epistulae ad familiares: Es ist zunächst wichtig, nochmals festzuhalten, dass es sich hierbei gewissermaßen um eine ‚Metasammlung‘ handelt. Die sechzehn Bücher waren mindestens bis in die Spätantike jeweils für sich im Umlauf,38 bevor sie zunächst zu zwei separaten Sammlungen zusammengefasst wurden, von denen eine die heutigen Bücher 1–8 und die andere die Bücher 9–16 umfasste. Alle wichtigen Hand-
34 Üb.: „Es gibt noch keine Sammlung meiner Briefe, aber Tiro hat etwa 70 und ein paar sollen auch noch von dir kommen. Die muss ich noch durchsehen und überarbeiten; dann werden sie veröffentlicht.“ Außerdem scheint Cicero Tiro in einem Brief ein Jahr zuvor zu unterstellen, er wolle seine Korrespondenz mit ihm auch in einem volumen unterbringen; vgl. Cic. fam. 16,17,1 (29. Juli 45 v. Chr.). Dies ist jedoch unklar, zumal der Tonfall des Briefes eindeutig ein scherzender ist; vgl. Christes 1979, 123 f. mit Anm. 114; Spurny 2021, 265. 35 Vgl. etwa SchH, § 156 (481); ShB Att. i, 59; Rollinger 2014, 221. 36 Vgl. Tyrell/Purser 1899–1918 i, 68 f.; Wulfram 2008, 31 mit Anm. 73. 37 Vgl. Nake 1861, 29 f.; Christes 1979, 124; P. White 2010, 32 f. 38 Siehe S. 20 f.
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schriften mit Ausnahme von M (Florenz, Bibl. Medicea Laurentiana, Plut. 49.9), ein Codex, der wahrscheinlich aus der Regierungszeit Ludwigs des Frommen (814–840) stammt,39 enthalten nur eine dieser ‚Hälften‘ und in M ist (fol. 134r) das Inhaltsverzeichnis, in dem die Briefanfänge des ‚neunten Buches‘ (Ad M. Varronem) aufgeführt sind, mit liber i überschrieben (siehe Abb. 1).40 M stellt also möglicherweise selbst die erste Vereinigung dieser Sammlungen in ihre heutige Form dar, die sich deswegen ‚durchgesetzt‘ hat, weil die italienischen Renaissance-Handschriften auf M zurückgehen.41 Der Titel Ad familiares – wiewohl er gutes Latein und für die Beschreibung des Inhalts durchaus nicht unpassend ist42 – ist eine Schöpfung des 16. Jahrhunderts.43
Abb. 1: Überschrift liber i über den Initien der Briefe des neunten Buches Ad familiares (Hs. Florenz, Bibl. Medicea Laurentiana, Plut. 49.9, fol. 134r)
Die sechzehn Bücher können also ohne weiteres zu unterschiedlichen Zeitpunkten und von unterschiedlichen Herausgebern publiziert worden sein. Dass einige dieser libri vielleicht wirklich nach Ciceros Tod von Tiro zusammengestellt und publiziert wurden, wie immer wieder angenommen wurde und wird,44 ist zwar nicht auszuschließen, aber bei Lichte betrachtet eben auch nicht recht wahrscheinlich.45 Einigermaßen plausibel ist diese Annahme allenfalls für Buch 16, in dem Tiro selbst der Hauptadressat ist; die Briefe an ihn dürften sich immerhin in Tiros Besitz befunden haben. Ob Tiro eine solche Sammlung dann selbst als liber publiziert hat oder diese Sammlung nur die Grundlage für eine später publizierte
39 Vgl. Bischoff 1976, 21. 40 Vgl. dazu auch auch ShB fam. i, 23. 41 Vgl. dazu Rouse, TTr, Art. Cicero, 138–142. 42 Vgl. auch Suet. Iul. 56,6: Extant et ad Ciceronem, item ad familiares (sc. epistulae) …; das muss allerdings nicht auf einen Buchtitel hindeuten. 43 Der Titel ist erstmals für einen Pariser Druck von 1526 aus der Offizin des Robertus Stephanus belegt; vgl. die Liste von frühen Drucken der Epistulae ad familiares bei Orelli/Baiter 1886, 277– 295, bes. 285; außerdem Tyrrell/Purser 1899–1914 i,72; SchH, § 156 (482) u. § 157a (485 f.); ShB fam. i, 23; Wulfram 2008, 31 mit Anm. 69. 44 Vgl. z. B. ShB fam. i, 23 f.; Büchner, RE viia, Art. M. Tullius Cicero (Briefe), 1216–1223; Jäger 1986, 20 f.; Hutchinson 1998, 4 Anm. 4. 45 Dass Tiro Fehler wie z. B. die Vermengung der beiden verschiedenen Galli in Ad familiares 7 (siehe S. 20 mit Anm. 20) unterlaufen sein sollten, ist schwer vorstellbar.
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Ausgabe aus seinem Nachlass gewesen ist, stünde allerdings auch hier wieder auf einem anderen Blatt. Für die sechzehn Einzelsammlungen insgesamt ist die Behauptung der Herausgeberschaft Tiros also „unbewiesen und unbeweisbar“.46 Vielmehr lässt der durchaus heterogene Aufbau der Bücher eine Mehrzahl von Sammlern und Herausgebern sehr viel näherliegender erscheinen47 und die überhaupt recht schwache Rezeption der Briefsammlungen im ersten Jahrhundert deutet eher auf späte Termini ante quos hin. Der früheste sichere Beleg für die Kenntnis eines Briefes aus den Ad familiares-Sammlungen bei einem anderen Autor überhaupt ist ein wörtliches Zitat aus Cass. Cic. fam. 15,9,4 bei Sen. suas. 1,5;48 in Valerius Maximus’ Facta et dicta memorabilia gibt es Stellen, an denen Briefe aus den Ad familiares-Korrespondenzen Quellen sein könnten, doch ist das an keiner Stelle wirklich evident.49 Eine Publikation zumindest der Korrespondenz Ad senatum et ceteros (‚Buch 15‘) in tiberischer Zeit erscheint also möglich, doch auch das läge schon über ein halbes Jahrhundert nach Ciceros Tod. Für die übrigen Sammlungen ist mit einer noch später erfolgten Publikation zu rechnen; das dritte Buch (Ad Ap. Claudium Pulchrum) ist bei Quintilian belegt,50 Plinius d. J. schließlich scheint Briefe aus vielen der sechzehn Bücher gekannt zu haben.51 Es darf also damit gerechnet werden, dass zumindest die überwiegende Zahl der Ad familiares-Sammlungen um die Wende vom ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert öffentlich kursierte. Auch für die Epistulae ad Atticum muss eine eher späte Publikation in der uns bekannten Ausgabe in sechzehn Büchern angenommen werden; viel spricht für eine Veröffentlichung in neronischer Zeit. Den Terminus ante quem bildet die mehrfache Zitation oder Bezeugung der Briefe bei Seneca d. J., einmal sogar unter Nennung von Buchtitel und -nummer (Sen. epist. 97,4). Einen möglichen Terminus post quem bilden die vermutlich zwischen 54 und 57 n. Chr. verfassten52 AsconiusKommentare zu den Reden Ciceros, in denen der Kommentator stellenweise den Ein-
46 SchH, § 156a (482); Christes 1979, 124 mit Anm. 117. 47 Anders P. White 2010, 31–61, bes. 60 f., der die Herausgabe aller Cicero-Korrespondenzen durch einen Herausgeber annimmt, jedoch hierbei nicht ausreichend auf die komplexe Textgeschichte der Briefe in der Antike eingeht (er scheint implizit von einer Einheit der Ad familiares-Sammlungen auszugehen). 48 Vgl. dazu Feddern 2013, 184. 49 So könnte Val. Max. 8,11 ext. 2 Cic. fam. 5,12,7 zugrundeliegen; dafür plädiert jedenfalls Briscoe 2019, 183; dann wäre für die Sammlung Ad Q. Metellum et ceteros eine Publikation in tiberischer Zeit zu erwägen. 50 Cic. fam. 3,8,3 bei Quint. inst. 8,3,35. 51 Vgl. Keeline 2018, 317–334. 52 Vgl. Br. A. Marshall 1985, 27–29.
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druck erweckt, die Atticusbriefe nicht zu kennen.53 Die in diesem Zusammenhang in der Forschung diskutierten Stellen haben eine unterschiedlich starke Beweiskraft; besonders wichtig sind, wie Friedrich Leo zu Recht herausgestellt hat,54 solche Fälle, in denen sich Asconius in einer Aporie befindet, aus der ihn entsprechende Stellen in den Briefen leicht hätten erlösen können. Zu nennen ist hier im Kommentar zur Rede In toga candida die recht ausführliche und ergebnislose Diskussion, ob Cicero tatsächlich – wie von dem Historiker Fenestella behauptet – seinen späteren Antagonisten Catilina in einem Repetundenprozess verteidigt habe.55 Hätte Asconius den Brief Att. 1,2 gekannt, hätte er gewusst, dass Fenestella recht hatte. Vergleichbar ist das resignierte Bekenntnis des Kommentators im Kommentar zur Rede Pro Milone, er habe das Datum von Clodiusʼ Mordanschlag auf Cicero nicht ermitteln können;56 das Datum, der 11. November 57 v. Chr., geht aus Cic. Att. 4,3,3 hervor. Asconius’ unzutreffende Behauptung, Ciceros Vater sei während dessen Wahlkampf zum Konsulat verstorben,57 ist weniger belastbar;58 aber auch dies spricht natürlich nicht unbedingt dafür, dass er die publizierte Ausgabe der Briefe bereits kannte. Von der Rezeption der publizierten Korrespondenz zu trennen sind solche Bezeugungen der Atticusbriefe, die auf eine Benutzung der Originale im Nachlass
53 So zuerst Bücheler 1879, 352–355; vgl. auch Tyrrell/Purser 1899–1918 i, 60–65; Leo 1892, 3–5 u. 1895; Peter 1901, 41–52; SchH, § 156 (479 f.); Büchner, RE viia, Art. M. Tullius Cicero (Briefe), 1213 f.; ShB Att. i, 61–73; Br. A. Marshall 1985, 47–50 (vorsichtig); Lewis 2006, 290 u. 294. 54 Vgl. Leo 1901a, 320. 55 Vgl. Ascon. tog. cand. p. 66,13–18 St. 56 Vgl. Ascon. Mil. p. 41,12 f. St. 57 Vgl. Ascon. tog. cand. p. 64,11 f. St; tatsächlich war er bereits 68 v. Chr., was in Cic. Att. 1,6,2 belegt ist. 58 Man hat nämlich auch versucht, dies geradezu zu einem Argument für eine Veröffentlichung ante Asconium zu machen; so steht der Brief 1,6 in der überlieferten Sammlung gegen die Chronologie zwischen Briefen aus der Zeit von Ciceros Wahlkampf um den Konsulat. Dies würde ein Missverständnis auf Seiten von Asconius leicht erklären, wenn dieser die Sammlung gekannt hätte; so Stewart 1962, 469 Anm. 17; zustimmend Setaioli 1975, 109 f.; vorsichtiger Br. A. Marshall 1985, 283 f. Erklärt wäre damit allerdings noch nicht, warum der Kommentator, wie erwähnt, den in unmittelbarer ‚Nachbarschaft‘ stehenden Brief 1,2 allem Anschein nach nicht gekannt hat – die Frage würde sich vielmehr nur noch drängender stellen. Im Lichte dessen stellt sich außerdem die Frage, ob man den Befund nicht auch genau umgekehrt deuten kann: Vorausgesetzt, die in den Handschriften bewahrte insgesamt weitgehend unchronologische Reihenfolge der Briefe 1,1–11 ist die ursprüngliche (was noch einmal auf einem anderen Blatt steht) – könnte der Brief 1,6 dann nicht vielleicht gerade deswegen hinter die Briefe 1,1 und 1,2 gesetzt worden sein, weil der mit der Sortierung dieser Briefe offensichtlich überforderte Herausgeber die Position dieses Briefes mit Asconiusʼ Behauptung in petitione patrem amisit harmonisieren wollte? Dies nur, um zu zeigen, wie wenig Beweiskraft – in beide Richtungen! – solche einfachen Irrtümer haben und wie berechtigt daher Leos Forderung ist, die Diskussion auf echte Aporien zu beschränken.
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des Adressaten zurückgehen könnten. Die Zugänglichkeit dieser Originaldokumente bezeugt Cornelius Nepos in seiner Atticusvita. Nep. Att. 16,3: ei rei sunt indicio praeter eos libros …, qui in vulgus sunt editi, undecim volumina epistularum, ab consulatu eius (sc. Ciceronis) usque ad extremum tempus ad Atticum mis sarum.59
Der Biograph bezieht sich hier ausdrücklich auf unveröffentlichte Briefe (praeter eos libros …, qui in vulgus sunt editi), zu denen er Zugang gehabt zu haben scheint.60 Von diesen Originalen ausgehend wird man wohl auch damit rechnen müssen, dass abschriftliche Einzelstücke ‚halbliterarisch‘ in Umlauf gekommen sind. Das durch Quintilian bezeugte, abgewandelte Zitat aus einem Atticusbrief bei dem wohl um die Jahrtausendwende gestorbenen Domitius Marsus (vermutlich in De urbanitate) kann so erklärt werden;61 ebenso die Anspielung auf Cic. Att. 2,19,3 bei Val. Max. 6,2,9.62 Die ersten sicheren Bezeugungen nicht nur der Briefe, sondern der uns bekannten publizierten Sammlung, so wird man resümieren müssen, finden wir beim jüngeren Seneca. Das Schweigen des Asconius ist zwar ein Argumentum e silentio, aber eben doch ein wichtiges Indiz, das eine sehr viel frühere Veröffentlichung in dieser Form eher unwahrscheinlich macht. Dass die unpublizierten Briefe im Nachlass des Atticus zu einem gewissen Grad zugänglich gewesen zu sein scheinen, verkompliziert die Angelegenheit.
59 Üb.: „Beweis dafür (d. h. für Ciceros innige Zuneigung zu Atticus) sind neben denjenigen Büchern …, die für die Öffentlichkeit herausgegeben worden sind, elf Rollen mit Briefen, die von seinem Konsulat bis zu seinem Tod an Atticus geschickt worden waren“; vgl. dazu P. White 2010, 33. 60 Dass Nepos von undecim volumina spricht, ist interessant, weil die Bemerkung uns über die Art der Aufbewahrung von erhaltenen Briefen durch den Empfänger Auskunft gibt: Atticus hatte die Briefe, die auf einzelnen Papyrusblättern geschrieben waren, offenbar zu Rollen (volumina) zusammenkleben lassen (vgl. Wulfram 2008, 29 mit Anm. 65; Cicero ist umgekehrt mit den Briefen des Atticus an ihn genauso verfahren; vgl. Cic. Att. 9,10,4). Die dabei entstandene Anordnung ist aber offenkundig durch den späteren Herausgeber der Briefe nicht beibehalten worden, vielleicht, weil die zusammengeklebten Rollen jeweils zu viel Text für die bei Publikation üblichen Rollen enthielten und somit auf sechzehn Rollen ‚gestreckt‘ werden mussten. Auch sonst passt Neposʼ Beschreibung nicht so recht zu der uns bekannten Sammlung – diese beginnt nicht mit Ciceros Konsulat, sondern in der Zeit zwischen dessen Ädilität und Prätur. Der Konsulat wird ‚übersprungen‘ und die Korrespondenz endet auch nicht erst mit Ciceros Tod; vgl. zu all diesen Fragen immer noch Leo 1895, 442–446. 61 Quint. inst. 6,3,108: Ne tamen iudicium Marsi … subtraham, seria partitur in tria genera, honorificum contumeliosum medium … et contumeliosi quod Attico scripsit (sc. Cicero) de Pompeio et Caesare: „habeo quem fugiam, quem sequar non habeo.“ Cic. Att. 8,7,2: ego vero quem fugiam habeo, quem sequar non habeo; vgl. SchH, § 156 (480); Büchner, RE viia, Art. M. Tullius Cicero (Briefe), 1213 f.; Weyssenhoff 1966, 16; anders P. White 2010, 174 f. 62 Vgl. dazu Leo 1901a, 320; Setaioli 1975, 113.
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Die Epistulae ad Brutum sind erstmals bei Plutarch bezeugt,63 die Epistulae ad Quintum fratrem sicher bei Sueton,64 vielleicht sogar schon bei Asconius.65 Man wird also mit aller Vorsicht auch für die Publikation dieser Sammlungen nicht mit einer sehr viel früheren Publikation rechnen dürfen als für die der Atticusbriefe. Insgesamt liegt die Textgeschichte der Cicero-Korrespondenzen im ersten nachchristlichen Jahrhundert weitgehend im Dunkeln und die (zugegeben recht unscharfen) Indizien, die zur Verfügung stehen, deuten für das Gros der bekannten Corpora eher auf eine späte Publikation in neronischer und vor allem flavischer Zeit hin. Ein solcher Ansatz passt auch gut dazu, dass in dieser Zeit die Wertschätzung des ciceronianischen Stils in literaturinteressierten Zirkeln stieg, was sicherlich mit einem Interesse an bislang noch unveröffentlichten Schriften des Arpinaten einhergegangen ist.66 Die Atticusbriefe, für deren Publikation eine Spätdatierung schon länger die Mehrheitsmeinung ist, sind also allem Anschein nach nicht unbedingt ‚Ausreißer‘, sondern können sehr gut für den ‚Regelfall‘ stehen. Hochgradig aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Testimonium aus der zweiten Maternus-Rede im taciteischen Dialogus de oratoribus (verfasst wohl 101/102 n. Chr., das dramatische Datum ist wahrscheinlich um 74/75 n. Chr. anzusetzen)67, das die Sammlung und Herausgabe von Korrespondenzen aus der Zeit der späten Republik in den siebziger Jahren des ersten Jahrhunderts neben Cicero auch für andere Personen belegt: Tac. dial. 37,2 f.: Nescio an venerint in manus vestras haec vetera quae et in antiquorum bibliothecis adhuc manent et cum maxime a Muciano contrahuntur ac iam undecim, ut opinor, Actorum l i b r i s et t r i b u s E p i s t u l a r u m composita et edita sunt. Ex his intellegi potest Cn. Pompeium et M. Crassum non viribus modo et armis sed ingenio quoque et oratione valuisse; Lentulos et Metellos et Lucullos et Curiones et ceteram procerum manum multum in his studiis operae curaeque posuisse, nec quemquam illis temporibus magnam potentiam sine aliqua eloquentia consecutum.68
63 Plu. Cic. 45,2; Brut. 22,4; vgl. Weyssenhoff 1966, 75 f.; ShB Q. fr./ad Brut., 10 u. 253. 64 Shackleton Bailey (ShB Q. fr./ad Brut., 14) hat aufgrund der Bezeugung des zweiten Buches bei dem Grammatiker Diomedes den Terminus ante quem erst im späten vierten Jahrhundert angesetzt, doch scheint er dabei die Erwähnung der Briefe bei Sueton (Aug. 3,2) übersehen zu haben; vgl. auch Weyssenhoff 1966, 75. 65 Vgl. Br. A. Marshall 1985, 48. 66 Vgl. Tyrell/Purser 1899–1914 i, 64 f.; Keeline 2018, 229 f. 67 Vgl. dazu Heubner in: Güngerich 1980, 195–197. 68 Üb.: „Ich weiß nicht, ob diese alten (Schriften) in eure Hände gelangt sind, die in den Bibliotheken der Liebhaber von Altertümern bis heute erhalten sind, besonders von Mucianus gesammelt werden und schon in, wie ich meine, elf Büchern mit Protokollen und drei mit Briefen zusammengestellt und veröffentlicht wurden. Aus ihnen kann man erkennen, dass Gnaeus Pompeius und Marcus Crassus nicht nur durch Stärke und Waffen, sondern auch durch Talent und Beredsamkeit
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Nach Schurzfleischs in den neueren Ausgaben stets akzeptierter Ergänzung antiquorum69 befanden sich die Briefe in den Bibliotheken von an Altertümern interessierten Liebhabern, namentlich genannt wird ein gewisser Gaius Licinius Mucianus,70 und wurden nun, d. h. zur Zeit der Dialoghandlung, nach und nach zu Ausgaben zusammengestellt und publiziert: iam … composita et edita sunt legt nahe, dass hier von einem gegenwärtigen und aus der Perspektive der Dialogfiguren vielleicht noch nicht abgeschlossenen Veröffentlichungsprozess die Rede ist. Dass gerade Cicero hier nicht genannt wird, könnte Absicht sein: Es geht Maternus um den Einfluss der politischen Umstände auf die Beredsamkeit in der Geschichte – die Nennung einer Ausnahmeerscheinung wie Cicero als Beispiel für ein ‚allgemeines‘ Phänomen könnte die Argumentation empfindlich schwächen.71 Erkennbar sind im Ergebnis einige wichtige Grundtendenzen: Die Privatkorrespondenzen wichtiger Persönlichkeiten galten schon in der späten Republik als prinzipiell lesenswert, weswegen möglicherweise schon die Briefe des älteren Cato an dessen Sohn Marcus und die Briefe der Cornelia an ihren Sohn Gaius Gracchus in irgendeiner Form im Umlauf waren; hier haben wir jedoch eher an ‚halbliterarische‘ Einzelstücke zu denken als an regelrechte Buchausgaben. Sicher belegt ist eine Publikation von Briefen in buchförmigen Sammlungen für die Briefe Ciceros, die Veröffentlichungen dieser Sammlungen sind jedoch erst recht lange nach dessen Tod erfolgt. Die genauen Umstände der Publikation der jeweiligen Korrespondenzen im Einzelnen sind nicht mehr zu klären und ihr Aufbau ist heterogen; dennoch werden auch einige relativ feste Ordnungsprinzipien erkennbar: Die Briefe sind im Grundsatz stets nach ihren Adressaten und dann oft, wenn auch nicht immer, chronologisch angeordnet. Im Vordergrund stehen die Briefe Ciceros, Gegenbriefe oder inhaltlich relevante Briefe Dritter erscheinen nur vereinzelt.72 Umfangreiche Korrespondenzen können sich über mehrere Bücher erstrecken, die dann zu einer Sammlung zusammengefasst werden. Korrespondenzen, die selbst für ein volumen zu kurz sind,73 werden mit anderen kurzen Korrespondenzen zu einem Buch zusam-
mächtig waren, dass die Lentuler, Meteller, Luculler, die Curionen und die übrige Schar der Großen viel Mühe und Sorgfalt auf diese Studien investiert haben und dass in diesen Zeiten niemand große Macht erlangt hat ohne ein gewisses Maß an Beredsamkeit.“ 69 Vgl. dazu Güngerich 1980, 163. 70 Vgl. zu Mucianus SchH, § 495; PIR2 L, Nr. 216; Pausch 2004a, 330 f. 71 In jedem Fall ist die Aufzählung ausdrücklich unvollständig; vgl. Güngerich 1980, 164. 72 Eine Ausnahme ist nur auf den ersten Blick Ad familiares 8, denn auch dieses Buch folgt den formulierten Ordnungsprinzipien, wenn wir es isoliert als einen Liber epistularum M. Caelii ad M. Tullium Ciceronem betrachten, was es ja zunächst auch gewesen ist. 73 Für die Länge von volumina hatten sich bereits in hellenistischer Zeit bestimmte gattungsabhängige Konventionen gebildet. Briefbücher scheinen dabei – selbstverständlich mit gewissen
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mengefasst. Bei kürzeren Korrespondenzen handelt es sich zumeist um ausgewählte Briefe zu einem bestimmten Thema. Neben solchen Sammlungen von somit (in rezeptionsästhetischem Sinne) ‚literarischen‘ Privatbriefen Ciceros ist außerdem mit dem Kursieren von Einzelstücken in ‚halbliterarischer‘ Form zu rechnen. Die Atticusbriefe sind vor ihrer Publikation in der uns heute bekannten Form in Einzelfällen so rezipiert worden; ein weiteres mögliches Beispiel könnte etwa das Zitat aus einem Brief Ciceros an Marcus Titinius bei Suet. rhet. 26,1 sein: Weder kennen wir den dort zitierten Brief aus einer der überlieferten Sammlungen noch haben wir irgendeine Nachricht von einer verlorenen Buch-Korrespondenz Ad Titinium.74 Da die Herausgeberschaft einer Person, zumal diejenige Tiros, für alle diese Ausgaben in keinem Fall beweisbar und in den meisten Fällen unwahrscheinlich ist, scheint es angemessen, in den genannten, im Detail sehr unterschiedlich gehandhabten Ordnungsprinzipien eine Art relatives ‚Paradigma‘ für die postume Herausgabe von Privatkorrespondenzen in der fraglichen Zeit zu vermuten. Diese Herausgabe ist, jedenfalls für den größten Teil der Sammlungen, zeitlich eher spät, d. h. in der zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, anzusetzen, durch vor allem antiquarisch interessierte Personen erfolgt und wohl auch bei weitem nicht auf die Korrespondenzen Ciceros beschränkt gewesen, die ihrerseits auch nur zum Teil auf uns gekommen sind.75 An dieser Stelle erscheint es notwendig, den Begriff der ‚Publikation‘ kurz zu problematisieren und zu präzisieren. Ein organisierter Buchmarkt, auf dem bestimmte literarische Schriften in größeren ‚Auflagen‘76 verbreitet wurden, darf
Schwankungen – dasselbe ‚Kurzformat‘ gehabt zu haben wie Sammlungen von Kleindichtung; vgl. Isid. orig. 6,12,1 (Suet. frg. p. 133,7–9 Rf): Quaedam nomina librorum apud gentiles certis modulis conficiebantur. Breviora forma carmina atque epistolae. Vgl. Birt 1882, 288 f. u. 324–327; Wulfram 2008, 37. Birt versucht mit seiner (methodisch für Prosatexte problematischen) stichometrischen Analyse zu beweisen, dass das Format der Cicero-Briefbücher stärker geschwankt hätte als das der plinianischen Bücher, doch scheint mir auch danach nur fam. 13 (ohnehin ein Sonderfall!) mit 2024 ‚Zeilen‘ ein echter ‚Ausreißer nach oben‘ zu sein. Zu den mit Birts Ansatz verbundenen Problemen vgl. bereits Diels 1882, 377 f. 74 Vgl. Weyssenhoff 1966, 81. 75 Belegt sind neben den bei Tacitus erwähnten etwa Briefe Caesars, Varros (bei denen es sich jedoch auch um längere Abhandlungen gehandelt haben könnte; vgl. Dahlmann 1950), des Brutus und des Livius; vgl. Cugusi 1983, 176–182; Wulfram 2008, 22 mit Anm. 35; Salzman 2017, 24 u. 27 mit Anm. 90; Keeline 2018, 285 f. Außerdem ist hier auf die Briefe des Marcus Caelius an Cicero zu verweisen, die im Umfang eines Buches publiziert wurden und uns erhalten sind, weil sie in der Spätantike als ‚achtes Buch‘ in die Sammlung Ad familiares eingegangen sind. 76 Zu Theodor Birts (1882, 351–353) überzogenen Annahmen über den Umfang der „Auflagen“ (der Begriff ist überhaupt anachronistisch!) von Büchern im ersten und zweiten Jahrhundert vgl. Zetzel 1981, 233 f.
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für die in Rede stehende Zeit, also die zweite Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr., nicht unterstellt werden: Erste Tendenzen eines kommerziellen Vertriebs von Schriften in Rom sind überhaupt erst für die Zeit Ciceros nachweisbar; vorherrschend war aber auch hier sicherlich noch die sich bisweilen hin zur faktischen Publikation verselbstständigende Privatabschrift und allem Anschein nach ist es dabei auch bis in die Spätantike hinein geblieben.77 In der augusteischen Zeit und der frühen Kaiserzeit scheint sich ein Buchmarkt zwar nach und nach etabliert zu haben, doch hat auch hier sicherlich die Einrichtung von (öffentlichen und privaten) Bibliotheken, in denen Texte in abschriftlicher Form einer ‚Öffentlichkeit‘ potenziell zur Verfügung standen, eine erheblich größere Bedeutung gehabt.78 Es wäre jedenfalls anachronistisch gedacht, sich die ‚Publikation‘ eines Textes in der römischen Kaiserzeit so vorzustellen, dass dieser infolge der Veröffentlichung gewissermaßen ‚an jeder Straßenecke‘ für die eigene Privatbibliothek zu kaufen gewesen wäre.79 Welche Verbreitung ein veröffentlichter Text bzw. ein veröffentlichtes Textcorpus tatsächlich gefunden hat, ist im Einzelnen nur noch schwer nachzuvollziehen. Indizien könnte aber immerhin seine jeweilige Rezeption liefern. Die Rezeption der veröffentlichten Cicero-Korrespondenzen ist unter diesen Gesichtspunkten bemerkenswert, sie ist nämlich im Vergleich zu Ciceros anderen Werken, die z. T. sogar eine eigene Kommentartradition entwickelt haben, außerordentlich schwach ausgeprägt: Nicht nur dauert es nach Ciceros Tod rund siebzig Jahre, bis sich die Benutzung einer der veröffentlichten Sammlungen von einem anderen Autor überhaupt nachweisen lässt, sie ist auch danach sehr selten und dabei im Wesentlichen auf grammatisch oder rhetorisch interessierte Autoren beschränkt. 80
77 Vgl. Zetzel 1981, 234 f.; Reynolds/Wilson 1991, 24; Trapp 2003, 12. 78 Vgl. Reynolds/Wilson 1991, 24 f.; Deufert 2002, 64 f.; wie das römische Bibliothekswesen genau funktioniert hat und welche Rolle sogenannte ‚öffentliche‘ Bibliotheken wirklich gespielt haben, ist allerdings schwer zu beurteilen; vgl. dazu Wendel, RAC ii, Art. Bibliothek, 244 f.; Jochum 2007, 42–48; Winsbury 2009, 67–75. 79 Zur Entwicklung des römischen ‚Buchhandels‘ vgl. Starr 1987; Winsbury 2009, 57–66. 80 Vgl. SchH, § 157a. Bei Ciceros Reden sowie rhetorischen und philosophischen Schriften ergibt sich ein anderes Bild: Die Reden hatte Cicero bereits zu Lebzeiten und relativ zeitnah selbst veröffentlicht und ihre Rezeption ist auch schon sehr früh belegt: So hat Sallust die Catilinarischen Reden – naheliegenderweise – als Quelle für seine Coniuratio Catilinae benutzt (vgl. z. B. Sall. Catil. 31,6). Ferner ist ihre Rezeption schon im ersten Jahrhundert n. Chr. sehr stark ausgeprägt, etwa bei dem Historiker Fenestella. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die Kommentare des Asconius Pedianus zu den Reden In Pisonem, Pro Scauro, Pro Milone, Pro Cornelio i u. ii und In toga candida; vgl. dazu und zur Kommentartradition für Ciceros Reden, philosophische und rhetorische Schriften Zetzel 2018, 258–261. Eine Kommentierung der Briefe ist in der Antike hingegen zu keinem Zeitpunkt nachweisbar und ihre Rezeption ist sehr schwach ausgeprägt: Bei einer
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Die wichtigsten hier zu nennenden Autoren des ersten und zweiten Jahrhunderts sind Quintilian, Sueton, Fronto und Gellius.81 Ich möchte hier noch nicht auf den Umstand hinweisen, dass die Parallelen zur Rezeption der Privatbriefe des Augustus bezeichnend sind; zunächst geht es mir darum, dass die Rezeption der CiceroBriefe eine besonders weite Verbreitung der Briefsammlungen, die im Gegensatz zu den Briefen des Augustus bisweilen postuliert worden ist,82 gar nicht voraussetzt. Daraus lassen sich, mit aller Vorsicht, folgende Vermutungen ableiten: Die Korrespondenzen Ciceros lagen gegen Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. insofern publiziert vor, als man nicht die Originaldokumente einsehen musste, sondern abschriftlich in Ausgaben zusammengestellte Korrespondenzen zur Verfügung standen. Von diesen existierten aber nicht unbedingt viele Exemplare, sondern vielleicht nur einige wenige im Privatbesitz bestimmter Personen, vielleicht auch in ‚öffentlichen Bibliotheken‘, und wer sie lesen wollte, musste sie sich ausleihen bzw. sie dort einsehen. Dabei war es sicherlich möglich, Abschriften anzufertigen, wobei hier schon die schiere Masse an Briefen gelegentlich zu einer Auswahl einzelner Bücher, Passagen, Formulierungen oder auch nur Wörter gezwungen haben wird.83 Ob Autoren, die die Briefe Ciceros zitieren, eine genauere Stellenangabe, also etwa die Nummer des Buches innerhalb einer Sammlung, angeben, hängt unter den genannten Bedingungen nicht zuletzt mit ihrer Arbeitsweise zusammen. Es fällt auf, dass die genaueren Angaben über die Buchzahl der nur fragmentarisch erhaltenen Cicero-Korrespondenzen in fast allen Fällen Nonius Marcellus (bzw. dessen Vorlagen)84, außerdem in einem Fall Macrobius und einmal Priscian zu von mir vorgenommen Auswertung der Stellenregister von Keils Grammatici Latini zeigt sich z. B., dass von den insgesamt über 2100 Cicero-Belegen mit rund 70 % ein Großteil auf die Reden entfällt. Es folgen mit deutlichem Abstand die philosophischen Schriften (ca. 11 %) und die Schriften zur Rhetorik (ca. 7 %). Nur etwa 2,5 % der Zitate entfallen auf die Briefe. 81 Vgl. die Übersicht bei Nake 1861, 38 f. 82 Vgl. etwa Wallace-Hadrill 1995, 95: „Should we conclude that the letters of Augustus were published and in circulation like those of Cicero and so well known to the reading public? Surely not.“ 83 Belegt ist dieses Vorgehen für Fronto, der Marc Aurel im Rahmen eines Briefwechsels (Fronto p. 104,1–14 vdH) einige unter rhetorischen, philosophischen oder politischen Gesichtspunkten interessante Exzerpte aus den Briefsammlungen zuschickt, verbunden mit der Bitte, er möge sich davon Abschriften machen und sie ihm zurücksenden; dazu vgl. Trapp 2003, 286. 84 Grundlegende Studien zur Quellenbenutzung und Methode des Nonius Marcellus sind W. M. Lindsay 1901 u. D. C. White 1980, wobei White die Ergebnisse Lindsays im Wesentlichen bestätigen konnte. Zu den Zitaten aus den Cicero-Briefen vgl. außerdem Gurlitt 1888. Noniusʼ ‚Kenntnis‘ der Cicero-Briefe beruht in der Regel nicht auf den publizierten Korrespondenzen selbst, sondern auf Spezialglossaren und annotierten Ausgaben anderer Texte. Zu nennen sind hier mit ihren Lindsay-Siglen (vgl. Lindsay ibid., 7–10; D. C. White ibid., 113–115) Gloss. i (1), Terence (23), Lucilius ii (25), Cicero v (29), Gloss. v (38a). Eine Ausnahme bilden allerdings die sehr häufig
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verdanken sind. Weitere Buchangaben bei zitierenden Autoren im Hinblick auf erhaltene Briefbücher sind auch bei Gellius zu finden. Quintilian und Sueton liefern solche Informationen dagegen grundsätzlich nicht.
2 Die Publikation der Privatbriefe des Augustus und ihre Rezeption bis ins zweite Jahrhundert Dass Augustus eine Veröffentlichung seiner Briefe selbst betrieben hat, ist weder zu beweisen noch sonderlich wahrscheinlich: Sueton nennt sie im 85. Kapitel der Augustusvita nicht unter den von Augustus verfassten Prosaschriften, obwohl er sie offensichtlich kannte, wobei einschränkend angemerkt werden muss, dass Suetons Auflistung offensichtlich keine Vollständigkeit suggerieren soll.85 Plausibel ist also auch für Augustus nur die Annahme einer postumen Publikation der Privatkorrespondenzen. Für eine Publikation in Form einer oder mehrerer Ausgaben spricht zunächst die Intuition, dass es sich bei Privatbriefen einer zentralen Person der Zeitgeschichte, die Augustus unstreitig gewesen ist, um Dokumente gehandelt hat, die für die Öffentlichkeit potenziell von Interesse gewesen sind, und dass schon ein Interesse an den Briefen zu Lebzeiten des Augustus nachweisbar ist; man denke an die Bemerkungen zu dem Briefwechsel zwischen Octavian und Atticus bei Cornelius Nepos.86 Zumindest für eine Publikation von Briefen des Augustus an dessen Enkel Gaius Caesar gibt es, wie bemerkt, außerdem ein eindeutiges Testimonium. Zu fragen ist nun, ob sich die Publikation weiterer Korrespondenzen plausibel machen lässt. Der Weg zur Beantwortung dieser Frage kann nur über die Rezeption dieser Briefe im Vergleich zu der Rezeption der Briefe des Cicero führen, von deren Publikation und
und ohne Beschränkung auf bestimmte Anfangsbuchstaben oder Wortarten zitierten Epistulae ad Caesarem iuniorem, die Nonius aus einer einer Handschrift (Lindsay-Sigle: Cicero iv) entnommen hat, die außerdem Ciceros Verrinen und die Philippischen Reden umfasste; vgl. Lindsay ibid., 9 u. 110–112; D. C. White ibid., 115. 85 Ob Sueton mit multa varii generis oratione prosa (Suet. Aug. 85,1) wirklich nur die im Folgenden namentlich genannten Werke Rescripta Bruto de Catone, Hortationes ad Philosophiam und De vita sua gemeint haben kann, erscheint mir fraglich, aber vielleicht sind dies die einzigen von Augustus wirklich selbst veröffentlichten Prosaschriften. Denn auch bei den folgenden Ausführungen zu den poetischen Werken des Augustus (85,2) steht diese Frage im Vordergrund, man beachte vor allem die Anekdote über Augustus’ Aiax (gemeint ist eine nicht fertiggestellte oder zumindest nicht veröffentlichte Tragödie), von dem er auf Nachfrage gesagt habe, dieser habe sich in den Schwamm gestürzt. 86 Vgl. Nep. Att. 20,1 f. (1T); Nepos bezieht sich hier aber ganz sicher auf unveröffentlichtes Material im Nachlass des Atticus.
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deren Form wir zumindest in Grundzügen eine Vorstellung haben, die im letzten Unterkapitel umrissen wurde. Dazu wird in den folgenden Unterkapiteln zunächst die Rezeption der Briefe bis ins zweite Jahrhundert untersucht werden. Dabei wird in einzelnen Kapiteln zu den Autoren, denen wir Zitate, Paraphrasen oder sonstige Erwähnungen der Augustus-Briefe verdanken, zunächst ein Überblick über die entsprechenden Stellen gegeben und dann diskutiert, ob für den jeweiligen Autor die Benutzung von publizierten Briefen oder von Archivalien plausibler erscheint. Daran schließen sich bei den Autoren, die umfangreichere verbatim-Zitate der Briefe bieten, kritische Bemerkungen zu den Zitiergewohnheiten unter besonderer Berücksichtigung von Briefzitaten an.87 Die Kapitel zu den einzelnen Autoren des ersten und zweiten Jahrhunderts sind in chronologisch umgekehrter Reihenfolge angeordnet, da das wichtigste Testimonium für publizierte Augustus-Briefe erst bei Gellius, dem letzten Autor dieses Zeitabschnitts, zu finden ist.
2.1 Gellius und der Liber epistularum Divi Augusti ad Gaium nepotem Gellius zitiert in den Noctes Atticae dreimal aus den Briefen des Augustus.88 Ein Zitat (39F) entstammt einem Brief an Augustus’ Enkel Gaius Caesar, die beiden anderen Fragmente können keinem Adressaten zugeordnet werden. Seine Bedeutung für die Textgeschichte der Privatbriefe des Augustus liegt zuvörderst in dem Umstand begründet, dass er als einziger zitierender Autor einmal eine explizite Angabe über die Herkunft eines Briefzitats aus einer publizierten Sammlung bietet. Das Zitat aus einem Brief des Augustus an dessen Enkel Gaius Caesar leitet Gellius wie folgt ein (15,7,3 = 39F): Nocte quoque ista superiore, cum l i b r u m e p i s t u l a r u m d i v i A u g u s t i , q u a s a d G a i u m n e p o t e m s u u m s c r i p s i t , legeremus … Gellius spricht hier ausdrücklich von einem liber, der Briefe des Augustus, die dieser an seinen Enkel Gaius geschrieben habe, beinhalte. Die Formulierung (liber epistularum alicuius ad aliquem o. ä.) ist weitgehend konsistent mit Gellius’ Bezugnahmen auf in Büchern publizierte Briefe (z. B. die Cicero-Korrespondenzen) an anderer Stelle, man denke z. B. an Gell. 1,22,19: Ita enim scriptum est in libro epistularum M. Ciceronis ad L. Plancum et in epistula M. Asini Pollionis ad Ciceronem verbis his: … Gemeint ist Ad familiares 10, wo Plancus Hauptadressat und
87 Die folgenden Unterkapitel leisten insofern in Vorbereitung auf Edition und Kommentar sowohl eine (vertikale) quellenkritische Analyse (woher haben die zitierenden Autoren das Material?) als auch das, was Schepens 2000, 11 ‚horizontale Kontextanalyse‘ nennt (inwieweit dürfen wir einem zitierenden Autor ‚trauen‘?). 88 Gell. 10,11,5 (48F); 10,24,1 f. (49F); 15,7,3 (39F).
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Eponym ist; das Zitat stammt dann aus einem Brief Pollios an Cicero (Pollio Cic. fam. 10,33,5). Die kurze Bemerkung liefert folglich einige wertvolle Informationen: Zum einen war die Korrespondenz zwischen Augustus und seinem Enkel in Buchform publiziert. In diesem liber war, sofern er im Aufbau den bei den Cicero-Korrespondenzen erkennbaren Grundprinzipien gefolgt ist, Gaius Caesar entweder der einzige oder zumindest der erste Adressat. Drittens hat diese veröffentlichte Korrespondenz wohl nur einen liber umfasst, denn Gellius nennt keine Buchzahl.89 Insofern wird die publizierte Korrespondenz kaum alle Briefe des Augustus an dessen Enkel umfasst haben und es muss vielmehr mit einer Auswahl gerechnet werden. Vielleicht dürfen wir uns diesen liber in Umfang und Aufbau so vorstellen wie die kurzen, ein Buch umfassenden Cicero-Korrespondenzen Ad Terentiam uxorem (Ad familiares 14) oder Ad Tironem (Ad familiares 16).90 Durch das Zeugnis bei Gellius ist also gesichert, dass in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts eine Buchausgabe der Korrespondenz zwischen Augustus und seinem Enkel Gaius vorlag. Es gibt jedoch Indizien, die es erlauben, diese Ausgabe in eine frühere Zeit zu datieren, da auch Quintilian und Sueton sie benutzt zu haben scheinen, worauf noch einzugehen sein wird.91 Über die genauen Umstände der Publikation des Buches ist sonst nichts Genaueres zu sagen. Peters Annahme, Augustus habe die Publikation selbst veranlasst, um dem Lieblingsenkel gewissermaßen ein literarisches Denkmal zu setzen,92 ist fraglos reizvoll, aber nicht zu beweisen. Zur Vorsicht mahnen müssen diesbezüglich die Tatsachen, dass es für eine Publikation von eigenen Privatbriefen in Buchform zu Lebzeiten für Augustus keine sicher nachweisbare Präzedenz gegeben hätte und dass Sueton in seiner Auflistung von Prosa-Schriften des Augustus (Aug. 85,1: Multa varii generis prosa oratione composuit …), wie bereits bemerkt, von diesem Buch schweigt. Aus diesen Gründen scheint die Vermutung einer postumen Publikation plausibler, das Buch wird also nach 14 n. Chr. und vor oder während Quintilians Arbeit an der Institutio oratoria (wohl zwischen 88 und 96 n. Chr.) veröffentlicht worden sein – der Befund der Cicero-Korrespondenzen spricht eher für das Ende als den Anfang dieses Zeitraums. Gellius zitiert noch an zwei weiteren Stellen aus Briefen des Augustus, allerdings jeweils ohne die Nennung eines Adressaten oder Buchtitels.
89 Das wäre bei Gellius nämlich andernfalls zu erwarten; vgl. etwa Gell. 4,9,6: Itaque M. Cicero in l i b r o e p i s t u l a r u m n o n o ad Atticum: … 90 Siehe S. 21 Anm. 21. 91 Siehe Kap. ii.2.2, S. 38 Anm. 98 u. Kap. ii.2.4. 92 Vgl. Peter 1901, 98.
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Hinsichtlich der Zuverlässigkeit wörtlicher Zitate bei Gellius ist eine gewisse Vorsicht angebracht.93 Bei dem oben erwähnten Zitat aus dem Brief des Asinius Pollio an Cicero zeigt sich dies in Form einer veränderten Wortstellung: Gell. 1,22,19: nam neque deesse reipublicae volo neque superesse …
Pollio Cic. fam. 10,33,5: nam neque deesse neque superesse reipublicae volo.
Hier mag es sich noch um ein inhaltlich unbedeutendes ‚Versehen‘ oder sogar einen Überlieferungsfehler handeln, an anderer Stelle zeigt Gellius jedoch, dass er durchaus dazu bereit ist, ein (Brief-)Zitat auch im Sinne seiner Darstellungsabsicht aus dem syntaktischen und inhaltlichen Zusammenhang zu ‚reißen‘ bzw. sinnentstellend zuzuschneiden: Gell. 4,9,6: Itaque M. Cicero in libro epistularum nono ad Atticum „maiores“ inquit „nostri funestiorem diem esse voluerunt Alliensis pugnae quam urbis captae, quod hoc malum ex illo (itaque alter religiosus etiam nunc dies, alter in vulgus ignotus).“94
Cic. Att. 9,5,2: Ut maiores nostri funestiorem diem esse voluerunt Alliensis pugnae quam urbis captae, quod hoc malum ex illo (itaque alter religiosus etiam nunc dies, alter in vulgus ignotus), sic ego decem annorum peccata recordans, in quibus inerat ille etiam annus, qui nos hoc defendente, ne dicam gravius, afflixerat, praesentisque temporis cognoscens temeritatem, ignaviam, neglegentiam suscensebam.95
Gellius beschneidet den zitierten Text um das Korrelativum ut–sic und verschleiert somit – obgleich den Wortlaut sonst präzise wiedergebend – dessen ursprüngliche Funktion als historisches Exemplum.96 Dass es in dem Brief gar nicht vorrangig um den mos maiorum ging, sondern um das Verhalten des Pompeius im Allgemeinen und gegenüber Cicero im Speziellen, wäre für den heutigen Leser ohne Kenntnis des Prätextes nicht mehr feststellbar. Abgesehen von zwei kleineren (offensicht93 Vgl. zu Gellius bisweilen sehr freiem Umgang mit wörtlich zitierten Texten im Allgemeinen Tischer 2018, 54 f. (dort anhand eines Zitats aus Cic. Lael. 36 bei Gell. 1,3,18). 94 Üb.: „Und so sagt Marcus Cicero im neunten Buch der Briefe an Atticus: ‚Unsere Vorfahren wollten, dass die Schlacht an der Allia für unheilvoller gelte als (der Tag) der Stadteroberung, weil dieses Unheil aus jenem erwachsen sei. Daher wird der eine Tag nun als allgemeiner Trauertag beachtet, während der andere beim Volk unbekannt ist.‘“ 95 Üb.: „Wie unsere Vorfahren …, so bin auch ich zornentbrannt (gar nicht so sehr auf Caesar, sondern), wenn ich die Verfehlungen (des Pompeius) über zehn Jahre betrachte (zu denen auch dieses Jahr gehört, das mich heimgesucht hat, weil er, um es freundlich auszudrücken, mich nicht verteidigt hat) und wenn ich (seine) derzeitige Unbesonnenheit, Trägheit und Nachlässigkeit wahrnehme.“ 96 Zum Kontext der Stelle vgl. Oppermann 2000, 114.
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lichen) Fehlern in der Gellius-Überlieferung richtig zitiert ist Cic. fam. 4,4,4: sed tamen, quoniam … studiis serviam bei Gell. 12,13,22.
2.2 Sueton Sueton ist quantitativ der mit Abstand wichtigste Autor für die Sekundärüberlieferung Augustus-Briefe.97 Er zitiert bzw. paraphrasiert aus den Briefen an Augustus’ Ehefrau Livia Drusilla, dessen Tochter Iulia, dessen Stiefsohn Tiberius, dessen Enkelin Agrippina, an den Triumvirn Marcus Antonius, an Maecenas, an die Dichter Vergil und Horaz und einen Brief an einen gewissen Lucius Vinicius. Es scheint, als habe er auch die vor allem bei Quintilian und Gellius bezeugten und sicher in Buchform publizierten Briefe an den Enkel Gaius Caesar gekannt.98 Ein erheblicher Teil des bei Sueton bewahrten Materials lässt sich keinem Adressaten sicher zuordnen. Sueton gibt nirgendwo explizit an, publizierte Buchausgaben der Briefe benutzt zu haben, und nennt bei den Zitaten für gewöhnlich nur den Absender und höchstens noch den Adressaten. Das ist jedoch nicht nur bei den Augustus-Briefzitaten so, sondern auch bei Zitaten und Paraphrasen von und Verweisen auf Cicero-Briefe, die dennoch teilweise den publizierten und namentlich bekannten Briefsammlungen zugeordnet werden können:99
97 Zitate: Suet. vita Hor. p. 2*,3–8 Kl (14F); p. 2*,8–17 Kl (16F f.); p. 2*,20–3*,6 Kl (20F); p. 3*,7–14 Kl (21F); Aug. 51,2 f. (27F); 71,1–4 (28F f., 37F); 76 (30F; 53F f.); 86,3 (41F); 87,1 f. (56F f.; 63F f.); Tib. 21,4–7 (33–36F); Cal. 8,4 (42F); Claud. 4,1–6 (23F f., 65F). Paraphrasen: [Don.] vita Verg. 31 (11F; die sogenannte Vita Donatiana geht im Wesentlichen auf eine verlorene Vergilvita Suetons zurück und wurde durch Aelius Donatus allenfalls geringfügig erweitert, ist für die Text- und Rezeptionsgeschichte der Augustus-Briefe also primär für Sueton zu buchen; vgl. dazu [mit weiteren Literaturhinweisen] Deufert 2009, 115 f. mit Anm. 1; Stachon 2021, 109–112); vita Hor. p. 2*,17–20 Kl (18F f.); Aug. 7,1 (9F); 40,3 (22F, 26F); 64,2 (43F); 86,1–3 (15F; 31F); 87,1 f. (55F; 58–62F); 92,2 (32F). Testimonium: Aug. 93 (38T). 98 Aug. 93 berichtet er, dass Augustus seinen Enkel Gaius Caesar dafür gelobt habe, bei der Durchreise durch Jerusalem nicht im Tempel geopfert zu haben; der entsprechende Kommunikationsakt wäre wohl am besten brieflich zu erklären (so bereits Rutgers in: Fabricius, Ed. Imp. Aug. 1727, 150 mit Anm. o: „Laudavit, puto, per Epistolam, atque ideo in hanc classem retuli“), auch wenn das Testimonium hier nicht explizit ist. Wenn der Isid. orig. 1,25,2 (50F) zitierte Brief des Augustus ad filium wirklich an Gaius Caesar gerichtet war, wie alle früheren Herausgeber angenommen haben (was keineswegs sicher, aber doch immerhin möglich ist), könnte dies ein weiterer Beleg für Suetons Kenntnis der Briefe sein, weil das Zitat bei Isidor von Sevilla vielleicht auf Suetons verlorene Schrift De notis zurückgeht; siehe dazu Kap. ii.3.6; vgl. auch Cugusi 1983, 180 mit Anm. 118. 99 Dies spricht nebenbei bemerkt dafür, dass die bei Sueton zitierten Augustus-Briefe echt sind; dass die späteren Scriptores Historiae Augustae ihren Kaiserbiographien frei erfundene Briefe beilegen, steht auf einem anderen Blatt; vgl. dazu Leo 1901b, 297 f. u. 300.
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Suet. gramm. 14,2 f.: fuit et M. Ciceronis familiaris, in cuius epistula ad Dolabellam haec de eo legimus: „“ item ad Atticum: „“. Suet: gramm. 16,1: Q. Caecilius Epirota, Tusculi natus, libertus Attici equitis, ad quem sunt Ciceronis epistulae … (Allgemeiner Verweis auf die Atticusbriefe) Suet. rhet. 26,1: de hoc Cicero in epistula ad M. Titinium sic refert: „…“ (Einziger Beleg für einen Brief Ciceros an Titinius) Suet. Iul. 9,2: meminerunt huius coniurationis … et Cicero in quadam ad Axium epistula … (Die Briefe an Axius waren in mindestens zwei Büchern veröffentlicht) Suet. Iul. 49,3: Cicero vero non contentus in quibusdam epistulis scripsisse … Suet. Iul. 55,1 f.: Cicero … ad Cornelium Nepotem de eodem ita scripsit: „…“ (Die Briefe an Nepos waren in mindestens zwei Büchern veröffentlicht100) Suet. Aug. 3,2: ut epistulae M. Ciceronis extent, quibus Quintum fratrem … monet, imitetur Octavium. (Gemeint ist sicher Cic. Q. fr. 1,2,7, vielleicht auch 1,1,21101) Suet. Tib. 7,2: … neptem Caecili Attici equitis R. ad quem sunt Ciceronis epistulae … (Allgemeiner Verweis auf die Atticusbriefe)
Suetons Nichterwähnung von publizierten Augustus-Korrespondenzen expressis verbis, etwa durch die ausdrückliche Angabe von Buchtiteln oder -zahlen, spricht folglich weder gegen deren Existenz noch gegen deren Benutzung durch Sueton.102 An zwei Stellen behauptet Sueton jedoch ausdrücklich, Autographen der Briefe des Augustus zu zitieren: Suet. Aug. 71,2: A u t o g r a p h a quadam e p i s t u l a , „…“ ait „…“ Suet. Aug. 87,1: Cotidiano sermone quaedam frequentius et notabiliter usurpasse eum l i t t e r a e ipsius a u t o g r a p h a e ostentant.
Es hat daher den Anschein, dass Sueton sich zumindest in diesen beiden Fällen auf Dokumente bezieht, die ihm im Original vorlagen. Hier ist jedoch zunächst ein allgemeiner Einwand zu erheben: Sueton neigt gelegentlich dazu, Zitate mit Formulierungen einzuleiten, die ein besonderes Maß von Authentizität suggerieren sollen. So betont er beispielsweise Aug. 58,1 vor dem Zitat einer Ansprache des Augustus an
100 Siehe S. 23. 101 Vgl. Weyssenhoff 1966, 30; Wardle 2014, 90. 102 Mir ist unklar, worauf sich Wallace-Hadrills Eindruck gründet, dass sich Suetons Benutzung der Augustus-Briefe von der der Cicero-Briefe unterscheide, weil „one has the impression that with Augustus’ letters he is offering one of his rare collector’s items“; vgl. Wallace-Hadrill 1995, 94. Das Missverständnis liegt m. E. darin, dass Wallace-Hadrill die Verbreitung und Rezeption der publizierten Cicero-Briefe in der Antike überschätzt; siehe auch Kap. ii.1, S. 32–34. Der Eindruck mag insofern zutreffen, gilt dann aber für die Augustus- wie die Cicero-Briefe gleichermaßen und kann deswegen nicht als Argument gegen eine eventuelle Veröffentlichung gelten. Dass Sueton die Cicero-Briefe sehr viel seltener zitiert als die des Augustus, beweist gar nichts, weil dieser Umstand mit der Thematik der Schriften Suetons, die wir noch kennen, leicht zu erklären ist.
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den Senat (Dicta imp. Aug. 40 M103), in der dieser auf eine Glückwunschansprache des Messala zur Verleihung des Titels pater patriae antwortet: respondit Augustus his verbis – ipsa enim, sicut Messalae, posui –: … Dies hängt zunächst mit den Gattungskonventionen der Biographie zusammen. Dass Reden, Briefe und Dokumente im Gegensatz zur Historiographie bei ihm nicht fingiert werden, scheint Sueton bisweilen für den an fiktionale Zitateinlagen in der Historiographie gewöhnten Leser eigens betonen zu wollen.104 Das Adjektiv autographus, -a, -um105 mag hier also vielleicht auch einfach diesem Zweck dienen. Zu bedenken ist gerade in diesem Zusammenhang der berechtigte, wenn auch leider nicht weiter ausgeführte, Einwand Baldwins, dass die Behauptung der Kenntnis von Autographen durch gelehrte Autoren der Kaiserzeit konventionell zu sein scheint.106 Baldwin spielt damit auf die Debatte um die Erwähnungen von sehr alten Handschriften, Autographen und Handschriften mit Autorvarianten in der Rezeption bzw. Sekundärüberlieferung Vergils bei Autoren wie Plinius d. Ä., Quintilian und Gellius sowie indirekt bei Hygin und Probus an.107 Die skeptische Position in der Debatte hält diese Vergil-Varianten für das Ergebnis einer archaisierenden Tendenz und die genannten Handschriften für Fälschungen bzw. Erfindungen.108 Natürlich ist es möglich, dass die genannten
103 Vielleicht wäre das Zitat besser unter den Fragmenten der Reden des Augustus aufzuführen. 104 Vgl. Pabst 2014, 63 f. 105 Die beiden Sueton-Stellen sind die frühesten Belege für das Lehnwort im Lateinischen; vgl. Ihm, ThLL ii, Art. autographus, 1599,79–81. Gr. αὐτόγραφος bedeutet ‚mit eigenen Händen geschrieben‘ und ist von Briefen belegt; vgl. DGE iii, Art. αὐτόγραφος 614; D.H. 5,7,1 (es geht um Briefe von den Verschwörern, die den letzten römischen König Tarquinius Superbus nach dessen Vertreibung aus Rom wiedereinsetzen wollten); Plu. Sert. 27,3 (es geht um Briefe römischer Senatoren, in denen Sertorius darum gebeten worden sei, zwecks eines Umsturzes nach Rom zu kommen, und die Perperna dem Pompeius habe zeigen wollen, nachdem er in dessen Gefangenschaft geraten sei); in beiden Fällen haben diese Briefe den Autoren aber sicher nicht selbst vorgelegen: Die Autographie ist jeweils nur inhaltlich wichtig, da sie die kompromittierende Wirkung der Dokumente unterstreicht. 106 Vgl. Baldwin 1983, 47 f. mit Anm. 156: „Such claims were standard in matters of Roman academic research in the imperial period.“ 107 Für eine Sammlung entsprechender Stellen vgl. Horsfall 1995, 58. 108 So Goold 1970, 161 f. u. Zetzel 1973, 233 f. Interessanterweise behauptet Plinius d. Ä. (nat. 13,83), die Handschrift von Vergil und Augustus noch zu kennen (er gibt nicht zu erkennen, um welche Schriften es sich dabei jeweils handeln soll); eine Behauptung, die vielleicht ebenfalls in Zweifel zu ziehen ist. Ein größeres Gewicht möchte der Sekundärüberlieferung Timpanaro 2002 zumessen; im Grundsatz zustimmend äußert sich Jocelyn 1988 (Rezension zur ersten Auflage von 1986); skeptisch dagegen wiederum Horsfall 1995, 59: „Nothing in the recent debate, though, leads me to change my mind: by the time of Probus or Gellius the definitive author’s copy of the works of Virgil had long since disappeared; where it had been kept and why it was lost we simply do not know: Nero may (may not) have fiddled while it went up in smoke.“ u. 2007, 4–7.
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Gelehrten hier gewinnorientierten Fälschern ‚auf den Leim gegangen‘ sind (für diese Möglichkeit spricht sich Zetzel aus), doch ist nicht zu verkennen, dass mit der Behauptung, sich in literaturhistorischen, textkritischen oder exegetischen Fragen auf Autographen und Autorenvarianten zu beziehen, unter den zeitgenössischen Überlieferungsbedingungen die eigene argumentative Position erheblich gestärkt wird.109 Jedenfalls ist es offensichtlich, dass Sueton in beiden Fällen mit der einleitenden Bemerkung (auch) eine recht klare Darstellungsabsicht verfolgt: Im ersten Beispiel (71,1) belegt er mit dem Brief den rumor aleae, das Gerücht, Augustus sei ein leidenschaftlicher Spieler gewesen. Im zweiten Beispiel (87,1 f.) geht es neben besonderen Redewendungen und ἅπαξ λεγόμενα in den Briefen auch um morphologische Besonderheiten, bei denen es auf den einzelnen Buchstaben ankommt. Womit könnte man so etwas glaubwürdiger belegen als mit (angeblichen) handschriftlichen Originaldokumenten?110 Das Problem ist jedoch, dass Sueton hier in mindestens zwei Fällen nicht aus Autographen zitiert haben kann: So behauptet er: ponit … ‚simus‘ pro sumus et ‚domos‘ genitivo casu singulari pro domus. Diese beiden Solözismen werden jedoch auch bei dem Grammatiker Marius Victorinus (gramm. 4,6 = 51F) diskutiert: divus Augustus genetivo casu ‚huius domos meae‘ per O, non ut nos per U litteram scripsit; Messala, Brutus, Agrippa pro sumus ‚simus‘. Es ist gleichermaßen offensichtlich, dass einerseits zwischen beiden Stellen eine Verwandtschaft besteht (an beiden Stellen geht es um die Problematik simus/sumus und domos/domus und bei beiden wird Augustus als ‚Autorität‘ angeführt), Marius Victorinus jedoch anderseits nicht von Sueton abhängen kann (er zitiert nicht nur die Form domos, sondern gleich drei Worte aus einem Augustus-Brief und schreibt die Form simus statt sumus nicht Augustus, dafür jedoch Messala, Brutus und Agrippa zu – beides gibt die Sueton-Stelle nicht her).111 Daraus folgt, dass Sueton und Marius Victorinus hier (direkt oder indirekt) von einer gemeinsamen Quelle abhängen, in der sprachliche Besonderheiten aufgeführt gewesen sind, die unter anderem in den AugustusBriefen zu finden waren. Und diese Quelle können wir mit einiger Wahrscheinlichkeit benennen: Das vierte Kapitel der Ars grammatica des Marius Victorinus über die Orthographie geht im Kern vermutlich auf die Libri de orthographia des Verrius
109 Vgl. Reynolds, TTr, Art. Virgil, 436 mit Anm. 19. 110 Sueton ist durchaus bereit, mit solchen Argumenten in zeitgenössische Debatten einzugreifen: So behauptet er Nero 51 zu der Frage, ob Kaiser Nero selbst Gedichte geschrieben oder nur fremde Werke für die eigenen ausgegeben habe (ut quidam putant), ihm seien Wachstafeln und libelli mit einigen Versen Neros in dessen Handschrift in die Hände geraten, die dessen Autorschaft im eigentlichen Sinne bewiesen (vgl. auch Bradley 1984, 550). Auch wenn sich Suetons Behauptung hier kaum widerlegen lässt, ist eine gewisse quellenkritische Skepsis vielleicht angebracht. 111 Dies gegen Malcovati 1970, 182: „il luogo di Mario Vittorino, certamente derivato da Svetonio.“
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II Textgeschichte und Rezeption der Privatbriefe des Augustus in der Antike
Flaccus (55 v. Chr.–20 n. Chr.) zurück.112 Dass Verrius Flaccus Briefe des Augustus im Original einsehen konnte, liegt nahe, da er nach Suetons Zeugnis als ‚Hauslehrer‘ für die Enkel des Augustus fungierte und zu diesem Zwecke in den Palast gezogen war.113 Aus Verrius Flaccus’ Werk über die Orthographie also kannte Sueton, so hat es den Anschein, die beiden Solözismen und auch das Zitat bei Marius Victorinus geht darauf zurück. Dort wurden die Fragen domus/domos und sumus/simus direkt nacheinander behandelt und zumindest für ersteres Augustus als ‚Gewährsmann‘ angeführt. In der Frage sumus/simus weichen Sueton und Marius Victorinus jedoch voneinander ab; hier nennt letzterer nur Messala, Brutus und Agrippa als Zeugen, alle drei Zeitgenossen des Augustus, deren schriftliche Hinterlassenschaften ebenso gut ihren Niederschlag in der Orthographie des Verrius Flaccus gefunden haben mögen. Einer von beiden macht hier also einen Fehler: Entweder schreibt Sueton Augustus die Form in der Augustusvita zu Unrecht zu (vielleicht durch eine falsche Assoziation bei einem Zitat aus dem Gedächtnis) oder Marius Victorinus – bzw. dessen Vorlage – lässt Augustus als Gewährsmann für simus weg. Die zweite Variante ist als eine Art ‚Haplographie‘ vielleicht leichter erklärbar, doch letztlich muss die Frage mit einem non liquet beantwortet werden. Die zweite Sueton-Stelle, die für eine Benutzung autographer Augustus-Briefe durch Sueton in Anschlag gebracht wird, folgt unmittelbar auf den Katalog besonderer Redewendungen, bemerkenswerter Ausdrücke und Solözismen: Aug. 87,3 beschreibt Sueton eine Besonderheit der Handschrift des Augustus: Dieser habe Wörter am Zeilenende nicht getrennt, sondern den Rest des Wortes jeweils unter den Wortanfang geschrieben und um beides einen Kreis gezogen. So etwas kann Sueton doch nur aus handschriftlichen Originaldokumenten kennen, möchte man meinen – doch so einfach ist es nicht. Abgesehen davon, dass es sich hier nicht mehr um Briefe handeln muss, setzt die Äußerung auch nicht zwingend autographe Dokumente voraus: Vergleichbar mit dieser Eigenheit ist nämlich die kurz darauf von Sueton (Aug. 88) beschriebene Geheimschrift, die Augustus manchmal angewendet habe, wobei er jeden Buchstaben durch den alphabetisch nächsten ersetzt habe (B statt A, C statt B usw.); wie wir dank eines Parallelzeugnisses (Isid. orig.
112 Zu Verrius Flaccus und seinen Libri de orthographia vgl. SchH, § 340 u. 341a; PIR2 V, Nr. 422. Verrius Flaccus als direkte Quelle für Marius Victorinus nimmt Schady 1869, 22–49 an. Mackensen 1899, 33–40 geht von einem Epitomator als Zwischenquelle aus, der zusätzlich orthographische Schriften des Terentius Scaurus und des Velius Longus (beide Zeitgenossen Suetons) exzerpiert habe. Vgl. außerdem Wessner, RE xiv, Art. Marius (70), 1844 f.; Strzelecki, RE xvii, Art. Orthographie, 1477; Deufert 2022, 115 f. Anm. 8. 113 Vgl. Suet. gramm. 17,2: quare ab Augusto quoque nepotibus eius praeceptor electus, transiit in Palatium cum tota schola, verum ut ne quem amplius posthac discipulum reciperet; vgl. dazu Christes 1979, 84 f.
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1,25,2 = 50F) wissen, bezieht sich Sueton hier auf einen Brief des Augustus, in dem er dem Adressaten vorschlägt, diese Geheimschrift zu benutzen – nicht etwa auf ein Dokument, das tatsächlich in dieser Schrift ausgeführt war. Diese Darlegungen sollen genügen, um meine Zweifel an der ‚Archiv-Theorie‘ zu begründen. Dass Sueton in Einzelfällen Autographen der Briefe zur Verfügung gestanden haben könnten, vermag ich nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen, doch scheint mir selbst an den Stellen, wo Sueton dies zu behaupten scheint, ein gewisser quellenkritischer Zweifel angebracht. Und selbst wenn Sueton tatsächlich in bestimmten Fällen Autographen der Briefe einsehen konnte, so ist dies kaum seinem Zugang zu einem ‚kaiserlichen Archiv‘ zu danken, sondern viel eher seinem Zugang zu privaten Nachlässen der Empfänger, denn andernfalls wäre kaum überzeugend zu erklären, warum weder er noch sonst irgendein Autor mit vergleichbaren Interessen auch nur einen einzigen Privatbrief irgendeines Kaisers nach Augustus kennt, der von Sueton in De vita Caesarum behandelt wurde.114 Der weit überwiegenden Anzahl von Zitaten aus den Augustus-Briefen bei Sueton dürften also abschriftlich überlieferte bzw. publizierte Briefe zugrunde gelegen haben, mit denen er genauso umgeht wie mit denen Ciceros.115 Auch wenn Sueton dies niemals explizit macht, lassen sich durchaus Anhaltspunkte dafür benennen: Bisweilen verweist er mit Formen des Verbs exstare im Präsens auf die Briefe, was als Beleg für eine Publikation der entsprechenden Korrespondenzen gewertet worden ist.116 Zu nennen sind hier vier Zitate aus den Briefen an Horaz (vita Hor. p. 2*,8–20 Kl = 16F–19F: E x s t a n t epistulae, e quibus argumenti gratia pauca subieci …) und ein Zitat aus einem Brief an die Enkelin Agrippina (Cal. 8,4 = 42F: E x t a t et Augusti epistula …). In der Tat verwendet Sueton exstare auch sonst meist von publizierten Schriften in Buchform117 oder sonst wie bekannteren
114 Vgl. De Coninck 1983, 57 mit Anm. 79. Siehe auch S. 18 mit Anm. 5. 115 Dass Sueton die Briefe des Augustus sehr viel häufiger zitiert als die Ciceros, ist vermutlich der unvollständigen Überlieferung seines Werkes geschuldet: Das suetonische Œuvre wird nun einmal fast ausschließlich durch die Kaiserviten repräsentiert und für diese sind die Briefe des Augustus die eindeutig ‚relevantere‘ Quelle. Ein Interesse an den Briefen Ciceros lässt er jedoch auch hier erkennen, in De viris illustribus scheinen sie häufiger zitiert worden zu sein. 116 Vgl. SchH, § 356 (408 mit Anm. 5 u. 6). In der Tat bedeutet exstare mehr als einfach nur ‚existieren‘, etwa ‚herausragen‘ oder ‚deutlich sichtbar sein‘; vgl. Hiltbrunner, ThLL v/2, Art. exsto, 1929,9–16 (de notione). 117 Vgl. Iul. 56,6: extant et ad Ciceronem (sc. epistulae Caesaris); Aug. 3,2: ut epistulae M. Ciceronis extent; Aug. 85,2: u n u s l i b e r e x t a t scriptus ab eo (sc. Augusto) hexametris versibus, cuius et argumentum et titulum est Sicilia; e x t a t a l t e r aeque modicus epigrammatum …; Aug. 94,6: ut scriptum a p u d C . D r u s u m e x t a t , sicherlich als Verweis auf eine Schrift des genannten Drusus, vielleicht ein Geschichtsschreiber der augusteischen Zeit (vgl. SchH, § 331) zu verstehen; Vit. 1,2: e x t a t †elogi† ad Quintum Vitellium Divi Augusti quaestorem l i b e l l u s …
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sprachlichen Äußerungen, die durchaus schriftlicher Überlieferung entnommen sein können,118 wenn auch nicht immer,119 sodass diese Zitierformeln zumindest als ein Indiz für die Benutzung publizierter Briefe gelten können. Ein weiteres Indiz für die Publikation bestimmter Korrespondenzen ist es, wenn Sueton Briefe des Augustus an einen Adressaten benutzt, für den auch bei anderen, früheren oder gleichzeitigen, Autoren Briefe bezeugt sind: Dies gilt für die Briefe an den Triumvirn Marcus Antonius, die bereits Plinius d. Ä. gekannt hat,120 vielleicht für die Briefe an Vergil, auf die Tacitus an einer Stelle des Dialogus de oratoribus möglicherweise verweist,121 sowie für die Briefe an Tiberius: Für deren Publikation spricht erstens, dass sie neben Sueton auch Hadrian in den Sermones benutzt zu haben scheint, zweitens ihre vergleichsweise breite Überlieferung (elf sichere Fragmente, ein dubium) und drittens, dass an den Stellen, wo Sueton mehrere Zitate aus Briefen an Tiberius nacheinander anführt, die Briefe – sofern für eine Datierung Indizien vorliegen – jeweils in chronologischer Reihenfolge zitiert zu werden scheinen. Das ist immerhin das zu erwartende Bild, wenn man annimmt, dass Sueton hier mit Exzerpten arbeitet, die er aus einer Buchrolle mit einer zumindest weitgehend nach chronologischen Gesichtspunkten angeordneten Korrespondenz herausgeschrieben hat.122 Unabhängig von diesen Erwägungen darf man bei Sueton in Zitierformeln wie in epistula ad aliquem auch nicht einfach die Titel von publizierten Briefbüchern hineinlesen, denn in Suet. gramm. 14,2: in cuius epistula ad Dolabellam haec de eo legimus kann nicht auf einen Liber epistularum ad Dolabellam verwiesen worden sein: Das sogenannte neunte Buch Ad familiares hat in den Handschriften den 118 Vgl. Tib. 28: extat et sermo eius (sc. Tiberi) in senatu percivilis … (es ist unklar, welcher Über lieferung Sueton diese Rede verdankt); Claud. 41,3: extat talis scriptura in plerisque libris ac diurnis titulisque operum (von der Verwendung der Schriftzeichen des Claudius in Büchern und Inschriften); Nero 28,1: extatque cuiusdam non inscitus iocus; ob Sueton diesen Witz schriftlicher oder mündlicher Überlieferung verdankt, ist unklar; ebenso Vesp. 22: et tamen nonnulla eius facetissima extant. 119 Vgl. Iul. 56,6: epistulae quoque eius (sc. Caesaris) ad senatum extant, quas primum videtur ad paginas et formam memorialis libelli convertisse, cum antea consules et duces non nisi transversa charta scriptas mitterent. Die genannten Briefe Caesars an den Senat (Amtsbriefe!) scheinen Sueton oder dessen Quelle im Original vorgelegen zu haben, denn es geht ja ganz konkret um Fragen des Formats; vgl. dazu auch Neger 2018a, 105–107. Tib. 2,1: multa multorum Claudiorum egregia merita … extant; Tib. 2,3: extant et feminarum exempla (bezieht sich aber vielleicht auch auf exempla-Literatur). Vesp. 1,3: complura monumenta extant. Vesp. 12: … Herculis, cuius monimentum extat Salaria via. 120 Siehe Kap. ii.2.5. 121 Siehe Kap. ii.2.3. 122 Dies betrifft die Fragmente 28F f. (Suet. Aug. 71,2 f.) sowie vor allem 33–36F (Suet. Tib. 21,4–7); vgl. den Komm. zu diesen Nummern. Ein ähnliches Bild ergibt sich für die in der Horazvita zitierten Briefe an Horaz (16–21F).
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Titel Ad M. Varronem et ceteros und Dolabella ist hier lediglich ein Nebenadressat. Sueton ist bei der Benennung seiner Quellen also nicht so genau wie beispielsweise Gellius. Insofern wäre es verfehlt, für jeden bei Sueton belegten Adressaten eines Augustus-Briefes gleich einen eigenen liber zu postulieren, zumal ja auch ein Kursieren von Einzelstücken in ‚halbliterarischer‘ Form möglich ist.123 Suetons Umgang mit epistolischen Vorlagen lässt sich anhand zweier von ihm verbatim zitierter Cicero-Briefe nachprüfen: In beiden Fällen fallen Abweichungen und Lücken auf: Suet. gramm. 14,2: nihil – – – Romae geritur quod te putem scire curare nisi forte scire vis me inter Niciam nostrum et Vidium iudicem esse. Profert alter, opinor, duobus versiculis expensum – – –. Alter Aristarchus hos ὀβελίζει; ego tamquam criticus antiquos iudicaturus sum utrum sint τοῦ …
Cic. fam. 9,10,1: nihil enim Romae geritur quod te putem scire curare, nisi forte scire vis me inter Niciam nostrum et Vidium iudicem esse. Profert alter, opinor, duobus versiculis expensum Niciae, alter Aristarchus hos ὀβελίζει; ego tamquam criticus antiquus iudicaturus sum utrum sint τοῦ ποιητοῦ an παρεμβεβλημένοι.
Bei Sueton fehlt die Konjunktion enim, die im Brief die Begründung des vorherigen Gedankens (‚eher habe ich Briefe von dir zu erwarten als du von mir‘) einleitet, die aber im Zuschnitt des Zitats bei Sueton ins Leere laufen würde, wohl mit Absicht. Dass Niciae nach expensum ausgefallen ist, dürfte dagegen ein Fehler in der SuetonÜberlieferung sein, da sonst unklar wäre, wer der alter ist (daher wird Niciae in den Sueton-Ausgaben richtigerweise aus dem Text des Cicero-Briefes ergänzt). Die Form antiquos ist nicht zwingend ein Fehler: Als Akkusativ verstanden, wäre die Form zwar falsch, da das gedachte Objekt zu iudicare die versiculi sind, doch kann es sein, dass die Sueton-Überlieferung den ursprünglichen Text bietet, wenn hier eine auf Cicero zurückgehende griechische Nominativendung -ŏs vorliegt.124 In den SuetonAusgaben wird nach Cicero zu antiquus verbessert,125 vielleicht sollte aber besser in den Cicero-Ausgaben nach Sueton zu antiquŏs verbessert werden. Ein evidenter
123 Der bei Sueton paraphrasierte Brief des Augustus an Lucius Vinicius etwa, in dem er ihn für seinen Besuch bei seiner Tochter Iulia tadelt (43F), dürfte wohl allenfalls als Beilage zu einer anderen Korrespondenz, vielleicht der mit Iulia selbst, zu erklären sein. Eine Parallele dafür wäre in Cic. fam. 16 (Ad Tironem) der Brief des Quintus Cicero an seinen Bruder (16), der deswegen als Beilage in die Sammlung aufgenommen wurde, weil es in ihm um Tiro geht. Zu beweisen ist das natürlich nicht. Andernfalls ist er vielleicht ein einzeln kursierendes Dokument gewesen. 124 Für Cicero gar nicht undenkbar, so ist etwa antiquom belegt (leg. 2,38; zu antiquum normalisiert von Powell, Ed. Cic. leg. 2006, doch vgl. etwa Ziegler, Ed. Cic. leg., 1979); vgl. für weitere Beispiele bei Cicero auch KH, § 103,2. 125 Vgl. Kaster, Ed. Suet. 2016, 439 App.
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Überlieferungsfehler ist das ausgefallene ποιητοῦ an παρεμβεβλημένοι, zumal in einigen Handschriften hier eine Lücke gelassen wurde.126 Auch beim zweiten Zitat, im Kontext unmittelbar folgenden Zitat aus einem Cicero-Brief gibt es Abweichungen von der primärüberlieferten Vorlage: Suet. gramm. 14,3: De Nicia quod scribis, si ita me haberem ut eius humanitate frui possem, in primis vellem mecum illum habere. Sed mihi solitudo et recessus provincia est. – – – praeterea nosti Niciae nostri imbecillitatem, mollitiam, consuetudinem victus. Cur ergo illi molestus esse – – – non possit? Voluntas tamen eius mihi grata est.
Cic. Att. 12,26,2: De Nicia quod scribis, si ita me haberem ut eius humanitate frui possem, in primis vellem mecum illum habere. Sed mihi solitudo et recessus provincia est. Quod quia facile ferebat Sicca eo magis illum desidero. praeterea nosti Niciae nostri imbecillitatem, mollitiam, consuetudinem victus. Cur ergo illi molestus esse velim, cum mihi ille iucundus esse non possit? Voluntas tamen eius mihi grata est.
Die erste Lücke kann durchaus eine bewusste Auslassung durch Sueton sein, denn der Satz über Sicca ist für den Kontext – es geht ja um Nicias – entbehrlich. Bei der zweiten Lücke handelt es sich um einen Überlieferungsfehler, offenbar einen Augensprung von esse zu esse, denn der Text ergibt so keinen rechten Sinn mehr; entsprechend wird in den Ausgaben aus der Cicero-Stelle ergänzt.127 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass Sueton bei Briefzitaten zwar dazu bereit war, Kürzungen am zitierten Text vorzunehmen, etwa, wenn sie sich dadurch harmonischer in den neuen Kontext einfügten. Veränderungen oder gar grobe Sinnentstellungen durch den Zuschnitt der Zitate lassen sich anhand dieser beiden Beispiele aber nicht diagnostizieren. Im Wortlaut sind Suetons Zitate sehr zuverlässig. Neben den vielen wörtlichen Zitaten bietet Sueton auch eine Reihe von Paraphrasen auf Privatbriefe des Augustus. Die Prätextnähe von Paraphrasen verlorener Texte lässt sich im Allgemeinen kaum ermitteln, doch besitzen wir bei Sueton zumindest eine nachprüfbare nicht-wörtliche Bezugnahme auf einen Brief des Augustus: Aug. 88 beschreibt Sueton eine von Augustus verwendete ‚Geheimschrift‘, bei der ein Text chiffriert wird, indem jeder Buchstabe durch den alphabetisch folgenden ersetzt wird. Durch einen günstigen Überlieferungszufall wissen wir, dass Sueton sich hier auf einen Brief des Augustus bzw. eine Passage daraus bezieht, die Isidor von Sevilla orig. 1,25,2 (50F), wohl im Rückgriff auf eine verlorene Schrift Suetons,128 wörtlich zitiert:
126 Vgl. zu all dem Kaster 1995, 174. 127 Vgl. Kaster, Ed. Suet. 2016, 440 App. 128 Siehe Kap. ii.3.6.
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Suet. Aug. 88: Quotiens autem per notas scribit, B pro A, C pro B ac deinceps eadem ratione sequentis litteras ponit; p r o X a u t e m d u p l e x A .
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Isid. orig. 1,25,2: Caesar quoque Augustus ad filium: quoniam, inquit, innumerabilia incidunt assidue quae scribi ad alterutrum oporteat et esse secreta, habeamus inter nos notas, si vis, tales, u t c u m a l i q u i d n o t i s s c r i b e n d u m e r i t , pro unaquaque l i t t e r a scribamus s e q u e n t e m hoc modo: p r o A B , p r o B C e t d e i n c e p s eadem ratione ceteras; pro X autem littera redeundum erit ad duplex A [A].
Die Übereinstimmung mit dem Prätext ist hier insgesamt schwankend: Den cumSatz gibt Sueton mit einem quotiens-Satz nur ungefähr wieder und klammert den Aspekt der okkasionellen Notwendigkeit aus; die abstrakte Beschreibung (pro unaquaque littera scribamus sequentem) fällt weg, die konkrete Beschreibung mit Beispielen ist dann aber beinahe ein wörtliches Zitat (vor allem deinceps eadem ratione) und nimmt Bestandteile der nicht eigens paraphrasierten abstrakten Beschreibung auf (sequentis litteras paraphrasiert littera … sequentem). Ponit hat im Brief keine unmittelbare Entsprechung. Mit einer gewissen Vorsicht darf man also damit rechnen, dass auch nicht wörtliche Bezugnahmen auf die Briefe bei Sueton Teile des Originalwortlauts enthalten können; anderseits ist auch mit Auslassungen, syntaktischen Umstellungen bzw. Anpassungen und Umformulierungen zu rechnen. Diese führen im vorliegenden Beispiel auch durchaus zu einer Sinnentstellung: Sueton stellt die Benutzung dieser Geheimschrift als eine Gewohnheit des Augustus dar, während Augustus sie in dem Brief einem Adressaten dem Anschein nach eher spontan vorschlägt.
2.3 Tacitus Im Dialogus de oratoribus erwähnt die Dialogfigur Maternus Briefe des Augustus als testes für die Gunst, die Vergil bei Augustus genossen habe: Tac. dial. 13,1 f. (47T): Malo securum et quietum Vergilii secessum, in quo tamen neque apud divum Augustum gratia caruit neque apud populum Romanum notitia. T e s t e s A u g u s t i e p i s t u l a e , testis ipse populus, qui auditis in theatro Vergilii versibus surrexit universus et forte praesentem Vergilium veneratus est sic quasi Augustum.129
129 Üb.: „Ich ziehe die sichere und ruhige Abgeschiedenheit eines Vergil vor, wo ihm weder die Gunst beim vergöttlichten Augustus fehlte noch die Bekanntheit beim römischen Volk. Zeugnis
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Für gewöhnlich hat man diese Äußerung auf Briefe des Augustus an Vergil bezogen und sie sogar mit dem Brieffragment 11F (Don. vita Verg. 31) identifiziert,130 doch geht dies weder aus dem Wortlaut des Testimoniums hervor noch erscheint es zwingend. Im Prinzip könnte es sich hier auch um Briefe an Dritte gehandelt haben, in denen Augustus sich günstig über Vergil geäußert hat,131 und überhaupt scheint es um mehr als nur genau einen Brief zu gehen. Man wird allerdings nicht umhin können, festzustellen, dass Tacitus (bzw. Maternus) hier allem Anschein nach publizierte Briefe vorschweben: Nicht publizierte Autographen als testes für die Gunst einer Person zu bezeichnen, wäre zumindest kühn: Für gewöhnlich wird das Substantiv in dieser Weise von publizierten bzw. bekannten Texten oder deren Autoren gebraucht.132 Wenn wir Tacitus hier keinen Anachronismus unterstellen wollen, müsste man folglich annehmen, dass die genannten Briefe bereits um 74/75 n. Chr. vorgelegen haben; einer Zeit, in der die Sammlung und Publikation von Privatkorrespondenzen nach Tacitus’ eigenem Zeugnis in Mode gewesen zu sein scheinen.133
2.4 Quintilian Zwei Fragmente sind in Quintilians Institutio oratoria, die vor 96 n. Chr. entstanden ist, enthalten. Eines dieser Fragmente (Quint. inst. 1,6,19 = 40F) stammt aus einem Brief an Augustus’ Enkel Gaius Caesar, also aus einer Korrespondenz, für die eine publizierte Sammlung bei Gellius belegt ist.134 Die Formulierung, mit der Quintilian die Paraphrase einleitet (sed Augustus quoque i n e p i s t u l i s a d C . C a e s a r e m dafür legen Briefe des Augustus und das Volk selbst ab, das sich, nachdem im Theater Verse des Vergil zu Gehör gebracht worden waren, sämtlich erhob und einmal den anwesenden Vergil verehrte, als wäre er Augustus.“ 130 Vgl. z. B. Malcovati, Ed. Imp. Aug. 1969, 22; Cugusi, ELM ii/2, 410; Baldwin 1983, 138; Güngerich 1980, 53. 131 Man denke an 14F (Suet. vita Hor. p. 2*,3–8 Kl), ein Brief an Maecenas, in dem es um Horaz geht. 132 Vgl. z. B. Cic. off. 3,10: accedit eodem testis locuples Posidonius, qui etiam scribit in quadam epistula …; Plin. nat. 21,15: oleo maceratur, idque iam a Troianis temporibus Homero teste. Townend 1959, 287 wendet ein, dass „Tacitusʼ words, testes Augusti epistulae, no more prove the accessibility of the original letters than the following phrase, testis ipse populus, proves the Augustan plebs still to have been alive“, aber das geht an der Sache vorbei: Das Wissen um dieses ‚Ereignis‘ (nämlich, dass das Theaterpublikum nach einer Lesung von Vergilversen den Dichter in einer Form geehrt habe, die sonst nur dem Kaiser zugestanden hätte) ist noch präsent und legt gerade deswegen, weil es (jedenfalls den Dialogteilnehmern) bekannt war, Zeugnis über Vergils Ruhm ab. Vielleicht beruht die Episode auf einer allegorischen Deutung von Verg. ecl. 6; vgl. dazu Tischer 2016, bes. 71–73. 133 Vgl. dazu Kap. ii.1, S. 29 f. 134 Siehe Kap. ii.2.1; vgl. auch Cugusi 1983, 180.
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s c r i p t i s emendat …), scheint ebenfalls auf die Benutzung einer publizierten Sammlung hinzudeuten: Zwar spricht er anders als Gellius nicht explizit von einem liber epistularum, doch verweist der Plural nicht auf ein einzelnes Dokument, sondern legt nahe, dass es hier um eine Mehrzahl solcher Briefe geht, wobei die Paraphrase sicher auf eine spezifische Stelle in einem Brief zu beziehen ist. Es ist auch lehrreich, diesen Wortlaut mit entsprechenden Verweisen auf Briefe Ciceros bei Quintilian zu vergleichen: inst. 2,20,9 (Cic. epist. frg. 7,14 ShB): et ipse Cicero a sua persona cum a d B r u t u m i n e p i s t u l i s tum aliis etiam locis virtutem eam appellet? oder Quint. inst. 9,4,41 (Cic. epist. frg. 7,13 ShB): quod ne quis praecipi miretur, Cicero i n e p i s t u l i s excidit: „Res mihi visae sunt, Brute.“ In beiden hier bespielhaft aufgezeigten Fällen handelt es sich um Bezugnahmen auf Stellen aus Ciceros Briefen an Brutus, die ursprünglich in mindestens neun Büchern publiziert waren.135 Im ersten Beispiel wird Brutus als Adressat der Briefe genannt, was auf den Buchtitel verweisen wird, denn dass die Briefe an Brutus gerichtet waren, ist für den Inhalt (es geht darum, dass Cicero die Beredsamkeit hoch geschätzt habe) gar nicht von Belang. Im zweiten Beispiel zitiert Quintilian wörtlich aus dem Brief; da die Adressierung aus dem Zitat hervorgeht, braucht er den Buchtitel nicht in dieser Weise anzudeuten. Im Ergebnis ist es also mindestens wahrscheinlich, dass der Gellius vorliegende liber mit Briefen des Augustus an Gaius Caesar auch schon Quintilian vorgelegen hat und somit wohl schon vor dem Jahr 90 publiziert worden ist.136 Anders scheint es sich prima facie mit dem zweiten bei Quintilian überlieferten Fragment (Quint. inst. 1,7,22 = 52F) zu verhalten: „Here“ nunc E littera terminamus, at veterum comicorum adhuc libris invenio „heri ad me venit“: quod idem i n e p i s t u l i s A u g u s t i , q u a s s u a m a n u s c r i p s i t a u t e m e n d a v i t , deprenditur.
Quintilian spricht hier von Briefen, die Augustus mit eigener Hand geschrieben bzw. verbessert habe; insofern könnte man diese Stelle als Beleg dafür werten, dass er, ähnlich wie Sueton, neben publizierten Briefen auch einzelne Autographen eingesehen hat.137 Die Aussage Quintilians ist allerdings nicht ganz so eindeutig: Ihm geht es einzig und allein um die Schreibweise von heri. Er behauptet dabei aber 135 Siehe Kap. ii.1, S. 20. 136 So vermutete bereits Ax 2011, 259. 137 Eine Stütze scheint diese Interpretation auch durch den Umstand zu erhalten, dass das von Quintilian hier thematisierte Adverb heri (bzw. here) noch in einem Suet. Aug. 71,2 (28F) zitierten Brief an Tiberius belegt ist, den Sueton als eine autographa epistula bezeichnet. Dem steht jedoch entgegen, dass Quintilian hier von mehreren Briefen spricht und sich somit nicht notwendigerweise auf eine bestimmte Stelle beziehen muss (heri ist für die Augustus-Briefe noch ein weiteres Mal belegt; siehe 42F).
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nicht, dass er heri in einem speziellen handgeschriebenen Brief gefunden habe, sondern spricht allgemein von den Briefen des Augustus im Plural. Zum anderen relativiert Quintilian die Behauptung sua manu scripsit auch sogleich (aut emendavit). Er will also sagen: Augustus hat diese Briefe entweder selbst geschrieben oder ihren Wort- oder hier besser Buchstabenlaut zumindest persönlich durch Korrektur autorisiert. Man könnte sogar noch weiter gehen und in dem von Quintilian mit emendare bezeichneten Vorgang geradezu die Vorstufe zu einer Publikation sehen; so wird etwa für den Publikationsprozess der Werke Vergils bei Servius eine Abfolge von scribere – emendare – edere nahegelegt.138 Demgemäß könnte Quintilian Folgendes meinen: Augustus hat diese Briefe mit eigener Hand geschrieben oder (vielleicht sogar schon) für eine eventuelle Publikation überarbeitet – das lässt er offen, weil er es nicht sicher weiß. Wenn man es so versteht, lagen ihm die Briefe aber offenbar in einer Form vor, die dies zumindest möglich erscheinen ließ, also in irgendeiner Art ‚Ausgabe‘. Wie dem auch sei – dass er jemals das originale Papyrusblatt in Händen gehalten hat, kann aus der Stelle nicht geschlossen werden. Auch wenn Quintilian versucht, hinsichtlich des Buchstabenlauts einen gewissen Grad von Unmittelbarkeit zu suggerieren, deutet die Unsicherheit über die genauen Entstehungsbedingungen der Briefe eher auf im weitesten Sinne abschriftlich überlieferte Briefe als auf Originaldokumente hin.
2.5 Plinius d. Ä. Der ältere Plinius ist – von Augustus’ Zeitgenossen Cicero und Cornelius Nepos abgesehen – der früheste Autor, bei dem sich Rezeptionsspuren der Briefe finden. Wichtig für die Textgeschichte ist das auf dessen Schrift Dubius sermo zurückgehende139 kurze Zitat aus einem Brief an Marcus Antonius bei dem Grammatiker Charisius (Char. gramm. p. 164,9 f. B = 8F): Augustus ad Antonium „fretu cessi“. Die Dubii sermonis libri sind ein verlorenes, acht Bücher umfassendes grammatisches Werk, das vor der Naturalis historia und noch in spätneronischer Zeit verfasst wurde.140 Kaum wird man annehmen dürfen, dass Plinius d. Ä., der unter Nero keinerlei Ämter ausgeübt zu haben scheint – seine Laufbahn begann erst unter Vespasian141 –, in dieser Zeit privilegierten Zugang zu irgendwelchen ‚Geheimarchiven‘ 138 Vgl. Serv. Aen. praef. (p. 2,9–12 Th/H): item proposuit Maecenas Georgica, quae scripsit emendavitque septem annis. Postea ab Augusto Aeneidem propositam scripsit annis undecim, sed nec emendavit nec edidit. 139 Siehe dazu ausführlicher Komm. zu 8F. 140 Vgl. SchH, § 494 (781 f.); Garcea 2021, 35 f. 141 Vgl. SchH, § 490; Dihle 1989, 194.
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am Hof gehabt hätte; in irgendeiner Form scheinen Briefe des Augustus an Marcus Antonius also bereits in den sechziger Jahren des ersten Jahrhunderts veröffentlicht worden zu sein – sei es in einer Buchausgabe, sei es, dass einige Einzelstücke als Abschriften kursierten. Plinius d. Ä. behauptet zwar (nat. 13,83), dass er noch Autographen von Cicero, Vergil und Augustus kenne, doch lässt sich die Äußerung nicht zwingend auf (Privat-)Briefe beziehen und sollte, davon abgesehen, überhaupt mit Skepsis betrachtet werden.142 Vielmehr deuten zwei Stellen in der Naturalis historia auf die Benutzung von weiter verbreiteten Briefen des Augustus hin: Plin. nat. 18,94 (44T): Tritico nihil est fertilius …, utpote cum e modio, si sit aptum solum, quale in Byzacio Africae campo, centeni quinquageni modii reddantur. Misit ex eo loco divo Augusto procurator eius ex uno grano, vix credibile dictu, CCCC paucis minus germina, e x s t a n t d e e a r e e p i s t u l a e .143
Streng genommen geht aus dem Wortlaut der Stelle nicht hervor, wer der Verfasser der genannten Briefe ist, doch liegt es natürlich nahe, anzunehmen, dass Augustus einem oder mehreren Adressaten von dem gewaltigen Ernteertrag berichtet.144 Zu beachten ist, dass das Verb exstare in Bezug auf Schriften sonst eine weitere Verbreitung bzw. Bekanntheit zu bedeuten scheint,145 sodass Plinius hier wohl auf breiter zirkulierendes Material verweist. Ähnlich verhält es sich (zumindest sinngemäß) mit Plin. nat. 18,139 (45T): Nec ervi operosa cura est. Hoc amplius quam vicia runcatur, et ipsum medicaminis vim obtinens, q u i p p e c u m d i v o m A u g u s t u m c u r a t u m e o e p i s t u l i s i p s i u s m e m o r i a e x s t e t .146
142 De Coninck 1983, 55 f. verbindet die Stelle mit Quint. inst. 1,7,22 = 52F (siehe Kap. ii.2.4), doch gerade, dass Plinius d. Ä. Augustus im selben Atemzug mit Vergil und Cicero nennt, sollte zur Vorsicht gemahnen (siehe Kap. ii.2.2, S. 40 f.), auch wenn Reynolds/Wilson 1991, 30 f. dem älteren Plinius in dieser Frage mehr Glaubwürdigkeit zugestehen wollen als späteren Autoren. 143 Üb.: „Nichts ist fruchtbarer als Sommerweizen, weil schon aus einem Modius, wenn das Feld geeignet ist wie in Byzacium in der Provinz Africa, 150 Modii gewonnen werden können. Von diesem Ort schickte sein Procurator dem vergöttlichten Augustus aus einem Korn – kaum zu glauben – fast 400 Halme. Zu dieser Begebenheit sind Briefe überliefert.“ 144 Keineswegs muss es sich um einen (amtlichen) Briefwechsel mit dem genannten Prokurator gehandelt haben – die Erzählung von so einem Mirabile einem Dritten gegenüber passt sehr gut in einen Privatbrief an eine andere Person. 145 Vgl. die gesammelten Belege in Hiltbrunner, ThLL v/2, Art. exsto, 1933,45–82; zu dem Gebrauch des Verbs bei Sueton siehe Kap. ii.2.2, S. 43 f. 146 Üb.: „Die Pflege der Erve ist nicht schwer. Sie wird öfter ausgejätet als die Wicke und besitzt die gleiche Heilkraft: Jedenfalls weiß man aus seinen Briefen, dass der vergöttlichte Augustus durch sie geheilt wurde.“
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Außerdem scheint Plinius einen Brief zu kennen, in dem Augustus die nächtlichen Ausschweifungen seiner Tochter, namentlich deren Bekränzung einer MarsyasStatue auf dem Forum Romanum, „beseufzt“: Plin. nat. 21,9 (46T): Apud nos exemplum licentiae huius non est aliud quam filia divi Augusti, cuius luxuria noctibus coronatum Marsuam l i t t e r a e i l l i u s d e i g e m u n t .
Hier wird man wohl an einen Brief an Augustus’ Ehefrau Livia oder an Tiberius, mit denen Augustus heikle Familienangelegenheiten brieflich zu besprechen pflegte,147 zu denken haben.148 Woher Plinius den Brief kennt, ist nicht sicher zu ermitteln. Im Ergebnis ist jedoch festzuhalten, dass der Befund bei Plinius d. Ä. dafür spricht, dass bereits in den sechziger und siebziger Jahren des ersten Jahrhunderts zumindest Teile der Privatkorrespondenzen des Augustus im Umlauf waren – also in der Zeit, in der allem Anschein nach auch die Publikation der Korrespondenzen Ciceros und anderer Persönlichkeiten der späten Republik Fahrt aufgenommen hat.
2.6 Cornelius Nepos Cornelius Nepos beschreibt in einem Zusatz, den er nach dem Tod des Protagonisten seiner Atticusvita hinzugefügt hatte,149 kurz die Briefe, die Octavian dem Atticus geschickt habe.150 Der Biograph bezieht sich hier sicherlich nicht auf eine publizierte Briefschaft, sondern auf Dokumente, die er im Nachlass des Atticus gefunden hat, genauso wie er auch Ciceros noch unveröffentlichte Briefe an Atticus in dessen Privatarchiv einsehen konnte.151
2.7 Cicero Im achten, neunten und elften Brief des sechzehnten Buches der Atticusbriefe zitiert oder paraphrasiert Cicero Inhalte aus Briefen, die er von Octavian erhalten
147 Vgl. 23F f. u. 65F. 148 Münzer 1897, 388 hat Plinius’ Bemerkung auf das Suet. Aug 65,2 (de filia absens ac libello per quaestorem recitato notum senatui fecit) bezeugte Schreiben des Augustus an den Senat beziehen wollen, doch dann würde es sich bei dem in Rede stehenden Brief doch wohl um einen Amtsbrief handeln. Außerdem scheint mir das Verb gemere zu einem derart sachlich zu denkenden Schreiben (notum facere) nicht recht zu passen. 149 Vgl. dazu Leo 1901b, 213 (anders Toher 2002). 150 Nep. Att. 20,1 f. (1T). 151 Siehe Kap. ii.1, S. 27 f.
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habe.152 Ob diese Briefe später als Gegenbriefe Teil der vermutlich in zwei Büchern veröffentlichten Cicero-Korrespondenz Ad Caesarem iuniorem geworden sind, kann nicht mehr ermittelt werden.153 Cicero bezeugt anderenorts auch einige Schreiben Octavians an den Senat und Marcus Antonius, bei denen es sich eher um Amtsbriefe zu handeln scheint.154
2.8 Andere Autoren des ersten und zweiten Jahrhunderts 2.8.1 Historiographie und Biographie Neben den zuvor behandelten lateinischen Autoren finden sich auch Bezeugungen von Briefen des Augustus in der griechichsprachigen Historiographie und Biographie des ersten und zweiten Jahrhunderts, deren Authentizität aber jeweils fraglich ist. Für die Geschichtsschreibung gilt, dass fingierte, eingelegte Reden und Briefe ein Charakteristikum der Gattung sind, das die Erzählung lebhafter macht und – modern gesprochen – Fokalisierung sowie Multiperspektivität ermöglicht; schon zeitgenössische Leser werden diese ‚Binnenerzählungen‘ kaum für im engeren Sinne authentisch gehalten haben.155 Für die Rekonstruktion der Textgeschichte sollten solche Zeugnisse folglich nicht oder nur mit äußerster Vorsicht herangezogen werden.156 Historiographische Belege für (angebliche) Briefe des Octavian/Augustus finden sich vor allem im Bellum civile des Geschichtsschreibers Appian sowie bei Flavius Iosephus und Cassius Dio; größtenteils handelt es sich hierbei, soweit ersichtlich, um Schreiben amtlichen Charakters oder militärische Botschaften (Feldherren152 Cic. Att. 16,8,1 (2F); 9 (3F f.); 11,6 (5F). 153 Gurlitt 1888, 16 scheint es anzunehmen, aber dass Cicero diese Briefe gegenüber Atticus er wähnt, bedeutet selbstverständlich noch nicht, dass diese später auch in die Sammlung eingegan gen sind. Nur die Zitate aus diesen Briefen bei Nonius Marcellus verweisen sicher auf die beiden libri. 154 Cic. Phil. 12,9; 14,6 (ELM ii, [151] frg. 20 f.) an den Senat; Phil. 13,34 (ELM ii, [151] frg. 29) an Marcus Antonius. 155 Vgl. dazu Wallace-Hadrill 1995, 91; Neger 2018a, 122 mit Anm. 7 f.; Stöckinger 2020, 124. Briefe des Augustus werden in der Historiographie nur recht selten zitiert oder auch nur paraphrasiert, sondern lediglich ‚erwähnt‘, dies jedoch häufig. Es steht zu vermuten, dass diese ‚Briefe‘, sofern sie nicht Erfindungen des jeweiligen Historiographen sind, um eine bestimmte Kommunikation plausibel zu erklären, auf die historiographische Tradition zurückgehen – und damit wahrscheinlich nicht auf authentische Briefe des Augustus. 156 Dies gilt natürlich ebenso für die römische Geschichtsschreibung, sodass der Vell. 2,65,1 (ELM ii, [151] frg. 5) erwähnte Austausch von Briefen zwischen Octavian, Marcus Antonius und Lepidus im Rahmen der Bildung des Zweiten Triumvirats kaum als zuverlässiges Testimonium für einen ‚tatsächlichen‘ Briefwechsel betrachtet werden sollte.
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briefe), sodass sie hier, unabhängig von ihrer Echtheit, nicht weiter von Belang sind.157 Immerhin scheint Cassius Dio den bei Isidor von Sevilla zitierten Brief über die Geheimschrift (50F) unabhängig von Sueton (Aug. 88)158 zu kennen Suet. Aug. 88:
D.C. 51,3,7: ἐπέστελλε δὲ καὶ ἐκείνοις καὶ τοῖς ἄλλοις τοῖς πάνυ φίλοις,
Quotiens autem per notas scribit,
ὁπότε τι δέοιτο δι᾽ ἀπορρήτων σφίσι δηλῶσαι, τὸ δεύτερον ἀεὶ στοιχεῖον τοῦ τῷ ῥήματι προσήκοντος ἀντ᾽ ἐκείνου ἀντεγγράφων.
B pro A, C pro B ac deinceps eadem ratione sequentis litteras ponit; pro X autem duplex A.
Isid. orig. 1,25,2: Caesar quoque Augustus ad filium: (50F) quoniam, inquit, innumerabilia incidunt assidue quae scribi ad alterutrum oporteat et esse secreta, habeamus inter nos notas, si vis, tales, ut cum aliquid notis scribendum erit, pro unaquaque littera scribamus sequentem
hoc modo: pro A B, pro B C et deinceps eadem ratione ceteras; pro X autem littera redeundum erit ad duplex A [A].
Von Briefen ist bei Sueton streng genommen gar nicht die Rede, sodass schon ἐπέστελλε nicht dorther sein kann; der Nebensatz ὁπότε τι δέοιτο δι᾽ ἀπορρήτων σφίσι δηλῶσαι („wann immer er ihnen etwas in Geheimschrift kundtun musste“) wirkt wegen der Betonung der okkasionellen Notwendigkeit eher wie ein Echo des cum-Satzes in dem bei Isidor zitierten Brief. Auch wird die Geheimschrift nur abstrakt beschrieben, nicht mit konkreten Beispielen. Die Darstellung bei Cassius Dio hängt hier also allem Anschein nach nicht direkt von der Augustusvita ab. Es besteht die Möglichkeit, dass er den Brief direkt gelesesen haben könnte, zumal dann, wenn dieser in dem Liber epistularum ad Gaium nepotem enthalten gewesen ist, wie man aufgrund der Adressatenangabe ad filium bei Isidor geglaubt hat;159 freilich ist das nicht sicher, denn wie noch zu erörtern sein wird, kennt Isidor ihn auch nicht direkt, sondern aus einem älteren Werk über Geheimschriften; vielleicht
157 Dieses unter philologischen Gesichtspunkten zumeist eher unergiebige Material hat Cugusi (ELM ii) gesammelt und kommentiert. Ich habe die Stellen in der Konkordanz (Appendix 1) aufgeführt. 158 Siehe dazu Kap. ii.2.2, S. 46 f. 159 Siehe Komm. zu 50F.
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aus Suetons verlorener Schrift De notis.160 Diese kann demnach auch die Quelle des Historiographen gewesen sein. Als Paraphrase eines Privatbriefs könnte bei Appian am ehesten das App. BC 5,267 (7F) paraphrasierte Schreiben an Iulia, die Mutter des Marcus Antonius, aufgefasst werden – allerdings wissen wir sonst nichts von dieser Korrespondenz und es kann sich auch bei diesem Brief um eine Fiktion handeln.161 Schwieriger sind die Belege in der griechischen Biographie zu bewerten: Ein in der Augustusbiographie des Nikolaos von Damaskus paraphrasierte Brief Octavians an dessen Stiefvater Marcius Philippus162 (von dieser Korrespondenz fehlt im Übrigen sonst jede Spur) geht möglicherweise auf eine entsprechende Briefeinlage in Augustus’ De vita sua163 zurück und könnte somit in gewisser Weise auf einem ‚echten‘, wenn auch nicht historisch authentischen Octavian-Brief beruhen.164 Plutarch erwähnt an drei Stellen Briefe des Octavian/Augustus. Die Briefe an Cicero, die er Cic. 45,5 erwähnt, wird er eher aus entsprechenden Äußerungen Ciceros im sechzehnten Buch von Ciceros Atticusbriefen erschlossen haben, als dass er die Briefe Octavians an Cicero gekannt hätte, die sonst nirgendwo außer bei Cicero selbst belegt sind. Von Briefen an Marcus Antonius ist Plu. Ant. 78,2 f. (ELM ii, [151] frg. 7) die Rede: ὁ δʼ ὡς ἤκουσεν, ἐνδοτέρω τῆς σκηνῆς ἀποστὰς ἀπεδάκρυσεν ἄνδρα κηδεστὴν γενόμενον καὶ συνάρχοντα καὶ πολλῶν ἀγώνων καὶ πραγμάτων κοινωνόν. ε ἶ τ α τ ὰ ς ἐ π ι σ τ ο λ ὰ ς λαβὼν καὶ τοὺς φίλους καλέσας ἀνεγίνωσκεν ὡς εὐγνώμονα γράφοντος αὐτοῦ καὶ δίκαια φορτικὸς ἦν καὶ ὑπερήφανος ἀεὶ περὶ τὰς ἀποκρίσεις ἐ κ ε ῖ ν ο ς .165
160 Siehe Kap. ii.3.6. 161 Vielleicht geht die Erwähnung des Briefes auf die Autobiographie des Augustus (De vita sua) zurück, die Appian benutzt hat; da die Episode sonst (etwa bei Velleius Paterculus, Sueton oder Plutarch) nicht belegt ist, ist dies jedoch nur eine nicht weiter zu plausibilisierende Möglichkeit. 162 Nic. Dam. vita Caes. FGrHist ii/a, (90) F130,53 (6F). 163 Zu diesem Werk siehe S. 2 Anm. 5; zu der Frage der Abhängigkeit der Augustusbiographie des Nikolaos von der Autobiographie des Augustus vgl. Jacoby, FGrHist ii/c, 265: „der wert des buches besteht vor allem darin, daß es allein eine reihe von fakten und beleuchtungen aus der selbstbiographie bewahrt hat … mir scheinen auch die wirklichen verdrehungen von tatbeständen … in der hauptsache auf das konto des kaisers selbst zu kommen; N hat nur die panegyrische sauce dazu getan“; Malitz 2003, 5 f. u. 10–12; Toher 2009 (mit wichtigen methodischen Caveats); Smith, FRH i, 460; Hose 2018, 34–38; Diegel 2021, 243 f. (eher aporetisch). 164 Vgl. dazu ausführlicher Komm. zu 6F. 165 Üb.: „Als er (d. h. Octavian) dies (d. h. vom Selbstmord des Antonius) gehört hatte, zog er sich in sein Zelt zurück und beweinte den Mann, der mit ihm verschwägert war und ein Kamerad in vielen gemeinsamen Kämpfen und Staatsangelegenheiten. Dann nahm er die Briefe, rief seine Freunde und las sie laut vor, wie vernünftig und gerecht er geschrieben habe und wie vulgär und übermütig dessen Antworten immer gewesen seien.“
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Hier handelt es sich bei genauerer Betrachtung jedoch nicht einmal um ein Testimonium für die Briefe. Plutarch berichtet an dieser Stelle – ob die Episode sich nun so zugetragen hat oder auch nicht – von Octavians Reaktion auf den Tod des Antonius. In der geschilderten Szenerie spielen die Briefe, die Octavian vorgetragen habe, lediglich als ‚Requisiten‘ eine Rolle; Plutarch muss ihren Inhalt nicht kennen, geschweige denn sie selbst gelesen haben.166 Einen Beleg für seine Kenntnis der allem Anschein nach wenigstens in Teilen publizierten Privatkorrespondenz zwischen Octavian und Marcus Antonius stellt diese Stelle also nicht dar – auch wenn die Beschreibung φορτικὸς … καὶ ὑπερήφανος gut zu dem einen Brief des Antonius an Octavian, von dem wir ein Fragment besitzen, passt.167 Der Mor.15 207e–f (Apophth. reg.) paraphrasierte Brief (frg. 70 M = ELM ii, [151] frg. 67) ist an die Bürger von Athen gerichtet, also ein Schreiben amtlichen Charakters. 2.8.2 Andere Gattungen Der ältere Seneca erwähnt contr. 4 praef. 5 (ELM ii, [151] frg. 41 = Codicill. imp. Aug. frg. 3 M) einen kurzen schriftlichen Austausch zwischen Augustus und Asinius Pollio: Itaque cum mortuo in Syria C. Caesare p e r c o d i c i l l o s questus esset divus Augustus … quod in tam magno et recenti luctu suo homo carissimus sibi pleno convivio cenasset, rescripsit Pollio: „Eo die cenavi, quo Herium filium amisi.“168
Malcovati hat diese Stelle mit Recht nicht unter den Brieffragmenten aufgeführt, sondern sie der Rubrik der codicilli zugewiesen. Es handelt sich bei den beiden erwähnten Schreiben wohl um sehr kurze Nachrichten auf kleinen Wachstäfelchen, die kaum den formalen Kriterien einer epistula169 genügt haben dürften. Im
166 Vgl. zu solchen narrativen Funktionen von Briefen bei Plutarch Trapp 2006, 336; Neger 2018a, 125–127 (von ihr übernehme ich den Begriff „Requisit“). 167 Siehe S. 110 f. 168 Üb.: „Als der vergöttlichte Augustus, nachdem Gaius Caesar in Syrien verstorben war, sich in einer kurzen Notiz beklagte, dass sein liebster Freund angesichts so großer und frischer Trauer in einem vollen Speisezimmer tafelte, antwortete Pollio: ‚Ich habe an dem Tag diniert, als ich (meinen) Sohn Herius verloren habe.‘“ 169 Abgesehen von der Länge und formalen Kriterien dient der codicillus nach dem antiken Verständnis dem unmittelbaren Austausch kleiner Nachrichten zwischen Personen, die nicht weit voneinander entfernt sind, während die epistula längere Distanzen überbrückt; zu der Unterscheidung ganz richtig und bereits mit den entsprechenden antiken Belegen (insb. Sen. epist. 55,11) Lipsius 1630, 5 f.; wenig überzeugend dagegen Malcovati, Ed. Imp. Aug. 1969, xxv f.
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Übrigen scheint die Episode anekdotisch zu sein und könnte einer biographischen Tradition zu entstammen.170 Der jüngere Seneca kennt lediglich ein amtliches Schreiben des Augustus an den Senat, sicherlich aus den acta senatus.171
2.9 Zwischenfazit Die Rezeption der Privatbriefe des Augustus setzt, wenn man davon absieht, dass sie bereits von einigen Zeitgenossen registriert werden, mit Plinius d. Ä., also in spätneronischer und flavischer Zeit, ein. Von hier aus ergibt sich eine Rezeptionskette über Quintilian, Tacitus und Sueton bis hin zu Gellius. Das Gesamtbild hat also starke Ähnlichkeit mit der Rezeption der publizierten Cicero-Korrespondenzen, die mit Ausnahme eines Zitats bei Seneca d. Ä. erst in neronischer und flavischer Zeit in größerem Umfang festzustellen ist: Wichtig sind hier der jüngere Seneca, Quintilian, Plinius d. J., Sueton, Fronto und Gellius. Auch wenn Quintilian und Sueton vielleicht noch einige der Augustus-Briefe im Original einsehen konnten, wird die Rezeption im Großen und Ganzen eher auf einer Publikation der Briefe beruhen. Wir wissen von Gellius, dass es eine publizierte Sammlung von Briefen des Augustus an dessen Enkel Gaius Caesar in einem Buch gab, die wohl auch schon Quintilian benutzt hat. Dieser liber dürfte in seinem Aufbau den Büchern der sogenannten Epistulae ad familiares Ciceros ähneln und entweder nur Briefe des Augustus an Gaius Caesar (und vielleicht einzelne Gegenbriefe) beinhaltet oder diesen zumindest zum Hauptadressaten gehabt haben. Sueton deutet öffentliche Zugänglichkeit der Briefe im Falle der Briefe an Horaz und Agrippina an (extant epistulae u. ä.), auch Tacitus scheint auf publizierte Briefe zu verweisen, möglicherweise diejenigen an Vergil. Dass Plinius d. Ä. Zugriff auf unpublizierte Dokumente im Nachlass des Augustus gehabt haben könnte, erscheint, jedenfalls in neronischer Zeit, sehr unwahrscheinlich, sodass zumindest sein indirekt überliefertes Zitat aus einem Brief an Marcus Antonius in den Dubii sermonis libri ebenfalls einem publizierten Brief entnommen sein wird. Auch für eine Publikation von Briefen an Tiberius spricht einiges. In welcher Form diese Publikationen erfolgt sind, lässt sich nicht mehr ermitteln: Plausibel wäre sicherlich auch hier die Annahme von Sammlungen in Buchform, sei es, dass die jeweiligen Korrespondenzen je einen liber umfasst haben, dass sie mehrere libri umfasst haben oder dass sie eher kurz waren und jeweils mit anderen Korrespondenzen
170 Vgl. Deufert 2013, 335 Anm. 25 u. 27. 171 Sen. dial. 10,4,3 (frg. 79 M = ELM ii, [151] frg. 26).
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in einem liber zusammengefasst waren. Für alle drei Fälle liefern die Cicero-Korrespondenzen Präzedenzfälle. Denkbar ist jedoch prinzipiell auch, dass bestimmte Briefe in halbliterarischer Form, d. h. abschriftlich als Einzelstücke kursierten.
3 Die Rezeption der Privatbriefe des Augustus vom dritten Jahrhundert bis in Spätantike und Frühmittelalter In den einleitenden Bemerkungen seines Kommentars zur Augustusepistel des Horaz (epist. 2,1) geht der Grammatiker Pomponius Porphyrio kurz auf die Umstände der Entstehung des Werkes ein: Porph. Hor. epist. 2,1 praef.: Apparet hunc librum, ut supra diximus,172 hortatu Caesaris scriptum esse. Cuius rei etiam Suetonius auctor est. Nam apud eum epistula invenitur Augusti increpantis in Horatium, quod non ad se quoque plurima (suppl. Fraenkel) scribat.173
Tatsächlich zitiert Sueton in der Horazvita aus einem Brief des Augustus an Horaz, in dem sich der princeps über seine bisherige nicht-Berücksichtigung als Adressat einer Versepistel beklagt, und gibt danach zu erkennen, dass epist. 2,1 ein unmittelbares Resultat dieser Beschwerde gewesen sei.174 Worauf es hier ankommt, ist, dass mit Porphyrio ein Autor der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts175, der einen erheblichen Teil seiner Schaffenskraft in das Studium der Werke des Horaz und ihre Kommentierung investiert hat, die dafür fraglos ergiebige Horazkorrespondenz des Augustus nicht unmittelbar eingesehen hat, vielleicht nicht mehr einsehen konnte, sondern nicht anders als wir heute auf Sueton als Gewährsmann angewiesen war. Gleichwohl finden sich bei einer Reihe von späteren Autoren bis hinein in das frühe Mittelalter Belege für die Kenntnis der Briefe des Augustus, teils sogar umfangreiche Zitate aus ihnen. Insofern stellt sich die Frage, ob diese Autoren ebenfalls die wahr-
172 Porph. Hor. epist. 1,20,1.: nam secundum epistularum coactus adiecit. 173 Üb.: „Es hat den Anschein, als sei die Schrift, wie ich bereits gesagt habe, auf die Aufforderung Caesars hin geschrieben worden. Für diesen Sachverhalt ist auch Sueton Gewährsmann, denn bei ihm findet man einen Brief des Augustus, der Horaz tadelt, weil er nicht auch ihm mehr Gedichte dieser Art schreibe.“ Vgl. zum Text Fraenkel 1957, 1 mit Anm. 2. 174 Vgl. Suet. vita Hor. p. 2*,27–3*,3 Kl (20F): „Irasci me tibi scito, quod non in plerisque eius modi scriptis mecum potissimum loquaris; an vereris ne apud posteros infame tibi sit, quod videaris familiaris nobis esse?“ Expressitque eclogam ad se, cuius initium est: „Cum tot sustineas …“ 175 Zur Datierung von Porphyrios Commentum in Horatium Flaccum zuletzt Diederich 1999, 2 f. u. Kalinina 2007, 15. Für eine kurze Charakterisierung des Kommentars und seines Überlieferungszustandes vgl. Zetzel 2018, 151–153.
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scheinlich von Sueton und anderen Autoren der frühen und mittleren Kaiserzeit benutzten, publizierten Briefe und Korrespondenzen verwendet haben oder ob es sich wie im Falle Porphyrios um Fälle indirekter Vermittlung handelt. Dies berührt mithin auch die Frage, wann die selbstständige Überlieferung der Augustus-Briefe abgebrochen ist. Um diese Frage zu beantworten, werden im Folgenden ähnlich dem vorangegangenen Unterkapitel, aber nun in chronologischer Reihenfolge, die einzelnen Autoren behandelt.
3.1 Charisius (Hadrian/Iulius Romanus) Im Falle der zwei Zitate aus den Briefen des Augustus in der Ars grammatica des Flavius Sosipater Charisius (4. Jh.)176 ist indirekte Vermittlung aus dem Zitierkontext heraus evident. Beide Zitate sind Teil von Exzerpten aus den Ἀφορμαί des Iulius Romanus, eines Grammatikers des dritten Jahrhunderts;177 dieser verdankt sie seinerseits ebenfalls indirekter Vermittlung: Das Zitat aus einem Brief an Marcus Antonius Char. gramm. p. 164,4–9 B (8F) hat Iulius Romanus dem sechsten Buch des Sermo dubius des älteren Plinius entnommen (ut Plinius eodem sermonis dubii libro vi refert).178 Das Zitat aus einem Brief an Tiberius (p. 271,10–23 B = 25F) ist Teil der Paraphrase einer Passage aus dem ersten Buch der Sermones des Kaisers Hadrian (‚obiter‘ divus Hadrianus sermonum libro i quaerit an Latinum sit: …), einer wohl zumindest teilweise mit grammatischen Fragen befassten dialogischen Schrift.179 Damit belegen beide Stellen lediglich die Rezeption der Briefe in spätneronischer Zeit bzw. im frühen zweiten Jahrhundert.
3.2 Marius Victorinus Im vierten Kapitel der Ars grammatica (maior) des Marius Victorinus (ca. 285–ca. 370 n. Chr.),180 in dem es um die Orthographie geht, wird Augustus als ‚Autorität‘ für die Bildung des Genitiv Singular von domus mit -os zitiert (gramm. 4,6 = 51F). Die Stelle berührt sich sehr eng mit dem Brieffragment Suet. Aug. 87,2 (64F), dem
176 Vgl. Schenkeveld 2004, 1–4; Zetzel 2018, 187–190 u. 289 f. 177 Vgl. Kaster 1988, 424–426; Schenkeveld 2004, 29–53. 178 Siehe dazu Kap. ii.2.5. 179 Fein 1994, 43 f. hält die Sermones für einen frühen Vertreter der Buntschriftstellerei. 180 Vgl. zu den Lebensdaten und für einen Überblick über das Werk Riesenweber 2015, 2–6; Zetzel 2018, 301–303.
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eine gemeinsame Quelle zugrunde liegt, vermutlich die Libri de orthographia des Verrius Flaccus.181 Die Stelle ist also sehr wahrscheinlich indirekt vermittelt.
3.3 Claudian In Claudians (um 370–nach 404 n. Chr.) Epistula ad Olybrium (Claud. carm. min. 40), einer Versepistel, tadelt das poetische Ich den Adressaten Olybrius (Konsul 395 n. Chr.) dafür, dass es von ihm schon lange keine Briefe mehr erhalten habe. Zunächst wird eine Reihe von hypothetischen Gründen für das Ausbleiben von Briefen verworfen, dann kommt der Sprecher zu der Schlussfolgerung, Olybrius verachte ihn, den sozial niedriger stehenden Dichter, und sei seiner überdrüssig. Damit findet er sich aber nicht ab, sondern schließt mit einem exemplum:182 Claud. carm. min. 40,23 f. (10T): Dignatus tenui Caesar scripsisse Maroni. Nec tibi dedecori sit mea Musa. Vale.183
Claudian spricht hier eindeutig von Briefen des Augustus an Vergil, nur stellt sich die Frage, ob man aus dieser Stelle schlussfolgern darf, er habe hier einen speziellen Brief des Augustus oder gar die ganze Korrespondenz zwischen Augustus und Vergil vor Augen gehabt.184 Cugusis Annahme, Claudian beziehe sich hier auf den Brief des Augustus, der in der weitgehend auf Sueton zurückgehenden sogenannten Vergilvita des Donat zitiert wird (Don. vita Verg. 31 = 11F): Augustus vero, nam forte expeditione Cantabrica aberat, supplicibus atque etiam minacibus per iocum litteris efflagitaret, ut sibi de Aeneide, ut ipsius verba sunt, vel prima carminis ὑπογραφὴ vel quodlibet κῶλον mitteretur),185 scheint mir einerseits problematisch – Claudian nennt ja keine inhaltlichen Details, die die Identifizierung eines speziellen Briefes gestatten würden – und doch im Ergebnis vielleicht gerade richtig: Es ist gut möglich, dass Claudian genau diesen Brief meint, aber dann gerade nicht deswegen, weil er den Brief als ganzen vor Augen hatte, sondern weil er Vergil in dessen biographisch kommentierter Tradition kannte. Er kannte von der Augustus-Vergil181 Siehe dazu bereits Kap. ii.2.2, S. 41 f. Dagegen denkt Garcea 2001, 67 an die Dubii sermonis libri des älteren Plinius als Quelle (siehe dazu Kapitel ii.2.5). 182 Vgl. dazu Gnilka 2000–2003 i, 53. 183 Üb.: „Augustus hielt es nicht für unter seiner Würde, dem Vergil als einem Geringeren zu schreiben, und auch dir soll meine Muse nicht zur Schande gereichen. Lebʼ wohl.“ 184 So vermutete z. B. Peter 1901, 99. 185 Vgl. Cugusi, ELM ii/2, 410: „Praeterea Augusti epistula breviter memoratur ap. Claudian. carm. min. 40,23 …“, so bereits Weichert, Ed. Imp. Aug. 1846, 189.
3 Die Rezeption der Privatbriefe des Augustus
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Korrespondenz sehr wahrscheinlich nicht mehr als wir, nämlich das Fragment in Suetons Vergilvita bzw. in Donats Überarbeitung davon. Im Ergebnis hat die Stelle aus der Epistula ad Olybrium folglich nicht genug Beweiskraft, um Claudian die (umfassende) Kenntnis der Augustus-Vergil-Korrespondenz nachweisen zu können. Insofern sollte dieses wahrscheinlich sekundäre Zeugnis für den Versuch einer Rekonstruktion der Textgeschichte nur mit äußerster Zurückhaltung berücksichtigt werden.
3.4 Macrobius Ein bemerkenswertes Zitat eines Augustus-Briefes an Maecenas, genauer gesagt einen Briefschluss, verdanken wir Macrobius (385/390–nach 430): Macr. Sat. 2,4,12 (13F): Vale, mel gentium, †meculle† ebur ex Etruria, lasar Arretinum, adamas supernas, Tiberinum margaritum, Cilniorum smaragde, ἴασπι figulorum, berulle Porsenae. Carbunculum habeas, ἵνα συντέμω πάντα, μάλαγμα moecharum.
Zahlreiche lexikalische Übereinstimmungen und inhaltliche Gründe legen nahe, dass ein intertextuelles Verhältnis zwischen diesem Brief(-schluss) und einem bei Isidor von Sevilla zitierten Fragment eines Gedichtes des Maecenas besteht, genauer gesagt, dass der Briefschluss sich persiflierend auf das Epigramm bezieht:186 Isid. orig. 19,32,6 (Maecen. carm. frg. 2 FPL4): Lucentes, mea vita, nec smaragdos beryllosque mihi, Flacce, nec nitentes nec percandida margarita quaero nec quos Thynica lima perpolivit anellos nec iaspios lapillos.187
186 Etwas zweifelnd noch Harder 1889, 19 f.; in der jüngeren Forschung ist die Beziehung des Briefschlusses auf das Epigramm jedoch weitgehend Konsens; vgl. Gelsomino 1958a, 149 f.; Malcovati, Ed. Imp. Aug. 1969, 20; Cugusi, ELM ii/2, 404 f.; Billerbeck 1990, 193; Giordano 2000, 23; Petrain 2005, 347; Reed 2006, 57; Gutiérrez González 2012, 114 mit Anm. 14; Stachon 2021, 215 f. Zweifel äußert in jüngerer Zeit, soweit ich sehe, (ohne neue Argumente!) lediglich Courtney 1993, 277: „Maecenas may have been interested in precious stones; certainly Augustus seems to twit him with this (ap. Macrob. Sat. 2. 4. 12; probably not referring specifically to this poem)“; Hollis 2007, 319. Umdrehen möchte das Abhängigkeitsverhältnis Nicastri 1980, 266 f., dazu Gutiérrez González ibid.: „A rather strange proposal.“ 187 Üb.: „Weder leuchtende Smaragde, mein Leben, noch glänzende Berylle, mein Flaccus, noch weiße Perlen begehre ich für mich, noch kleine Ringe, die die thynische Feile auf Hochglanz poliert hat, noch iaspisartige Steinchen.“
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Augustus scheint sowohl das Gedicht als auch dessen Verfasser Maecenas selbst augenzwinkernd zu verspotten: Letzteren, indem er in einer Reihe von Begriffspaaren, mit denen er Maecenas anredet, dessen norditalisch-etruskische Abkunft mit orientalischen Luxusgütern, für die dieser offenbar eine Schwäche hatte, kontrastiert; ersteren, indem er dazu Begriffe direkt dem Gedicht entnimmt (smaragdus, beryllus, margaritum, ἴασπις).188 Obwohl eine derart enge Verbindung naheliegt, hat es an der unmittelbaren Bezogenheit der beiden Texte aufeinander auch vereinzelt Zweifel gegeben,189 vielleicht in der Annahme, es sei doch ein zu großer Zufall, dass uns gerade diese beiden Stellen erhalten sind. Solche Vorsicht ist im Umgang mit nur fragmentarisch erhaltenen Texten gewiss angebracht, allerdings glaube ich, dass die Tatsache, dass wir speziell diese beiden Fragmente besitzen, alles andere als ein Zufall ist. Zunächst einmal muss zu diesen zwei Fragmenten noch eine dritte Stelle hinzugezogen werden: Im 86. Kapitel der Augustusvita zum genus eloquendi paraphrasiert Sueton eine Äußerung des Augustus über den Stil des Maecenas: Suet. Aug. 86,2 (15F): Cacozelos et antiquarios ut diverso genere vitiosos pari fastidio sprevit exagitabat nonnumquam, in primis Maecenatem suum, cuius myrobrechis, ut ait, cincinnos usque quaque persequitur et imitando per iocum irridet.
Maecenatem suum persequi et imitando per iocum irridere ist nun wohl doch genau das, was Augustus in dem bei Macrobius zitierten Briefschluss tut.190 Es ist also sehr gut möglich, dass Sueton sich hier auf genau diesen Brief bezieht.191 Nun ist aber noch ein weiterer Umstand zu bedenken: Sueton scheint in den Kaiserviten gelegentlich in früheren Werken bereits ausführlicher zitiertes Material wiederzuverwenden.192 Zu denken ist hier an die Aug. 88 beschriebene Geheimschrift, von der Sueton aus einem Brief gewusst haben muss, der wiederum bei Isidor von Sevilla wörtlich zitiert vorliegt (die Stellen sind Kap. ii.2.2, S. 46 f. nebeneinander 188 Vgl. Gelsomino 1958a, 149 f.; Malcovati, Ed. Imp. Aug. 1969, 20; Cugusi, ELM ii/2, 404; Pillola 1989, 143; Komm. zu 13F. 189 S. o., Anm. 186. 190 Vgl. Komm. zu 13F. 191 Dies vermutete bereits Malcovati, Ed. Imp. Aug. 1969, 20. 192 Auch wenn die genaue Chronologie der einzelnen Werke Suetons nicht mit letzter Sicherheit zu klären ist (Leo 1910b, 11), hat sich in der Praxis die Annahme der Reihenfolge Antiquarische Schriften – De viris illustribus – De vita Caesarum immer wieder als sinnvoll erwiesen; vgl. H. Lindsay 1994, 464; Pausch 2004b, 238. Auch Suetons Umgang mit den Briefen des Augustus ist mit dieser Annahme gut in Einklang zu bringen. In seinen biographischen Werken greift Sueton immer wieder auf mutmaßliche Inhalte seiner antiquarischen Schriften zurück; vgl. Sallmann/ P. L. Schmidt, HLL, § 404 (41): „Der erste Rezipient (sc. der antiquarischen Schriften) ist natürlich in seinen Caesares der Autor selbst …“
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ausgeschrieben). Selbstverständlich hat Isidor diesen Brief jedoch nicht direkt rezipiert; es handelt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um ein Exzerpt aus einem verlorenen Werk über Geheimschriften, vielleicht aus Suetons antiquarischer Schrift De notis, auf der der ganze Passus bei Isidor – direkt oder indirekt – vielleicht fußt.193 Vielleicht hat Sueton den Brief also zuerst in De notis wörtlich zitiert und es dann bei der ‚Zweitverwertung‘ in der Augustusvita bei einer Paraphrase bewenden lassen.194 Es steht, wie ich meine, zu vermuten, dass der Brief an Maecenas einen ähnlichen Weg gegangen ist: Er wird in der Augustusvita nur noch einmal locker paraphrasiert bzw. anzitiert, nachdem Sueton ihn vermutlich bereits in einem früheren Werk wörtlich zitiert hatte, und zwar zusammen mit dem Gedicht des Maecenas, auf das der Brief mutmaßlich bezogen ist. Sueton könnte dort noch etwas mehr von dem Brief und nicht nur den Schluss geboten haben; die myrobrechis (bzw. μυροβρεχεῖς) cincinni in der Paraphrase scheinen dem Prätext nämlich unmittelbar entnommen worden zu sein (ut ait).195 In welchem verlorenen Werk Suetons wäre nun der Ort für diese beiden Zitate zu suchen? Hier lohnt sich die Überlegung, ob sie nicht aus einer ansonsten verlorenen Maecenasvita stammen könnten, die dann vielleicht am ehesten als Bestandteil von De poetis zu denken wäre. Zugegeben, für eine solche Vita Maecenatis fehlt jeder positive Beleg. Abgesehen von den Dichterviten Suetons, die in größerem Umfang auf uns gekommen sind, weil sie in die handschriftliche Tradition der jeweiligen Dichter oder ihrer antiken Kommentierung eingegangen sind wie etwa die Vita Horatii, wissen wir eigentlich nur von den Viten, aus denen Hieronymus in seiner lateinischen Übertragung der Chronik des Eusebius Exzerpte bietet. Insgesamt sind so Viten von 33 Dichtern belegt und Maecenas befindet sich nicht unter diesen.196 Die sich ergebende ‚Liste‘ vermittelt zwar insofern einen guten Eindruck von der Viten-Sammlung, als sie zeigt, dass Sueton sich quantitativ stark auf Dichter der spätrepublikanisch-augusteischen Zeit konzentriert197 und für diesen Zeitraum vielleicht sogar Vollständigkeit angestrebt hat; dafür spricht die Bezeugung von Biographien zu wenig bedeutenden Dichtern wie Furius Bibaculus oder den Brüdern Bavius und M(a)evius198. Doch fehlen umge-
193 Siehe Kap. ii.3.6. 194 Dies ist wohl nicht zuletzt durch seine Darstellungsabsichten bedingt; siehe Kap. ii.2.2, S. 47. 195 Vgl. dazu ausführlicher Komm. zu 15F. 196 Vgl. Wallace-Hadrill 1995, 50 f.; Sallmann/P. L. Schmidt, HLL, § 404 (30 f.); die Stellen finden sich jetzt in der ausgesprochen nützlichen Sammlung von Testimonien bei Stachon 2021, 305–372 (vgl. dort auch 31–34). 197 Vgl. Wallace-Hadrill 1995, 53–56. 198 „… whose only claim to fame was that Vergil pilloried them in the Eclogues“ (Wallace-Hadrill 1995, 53; eine Neubewertung der beiden obskuren Gestalten versucht Stachon 2017).
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kehrt auch einige Namen, die man erwarten würde, allen voran Properz und Tibull; dabei ist in der handschriftlichen Tradition des Tibull-Textes eine kurze, anonyme Vita – vielleicht ein Exzerpt aus einer längeren – mitüberliefert, die mit hoher Wahrscheinlichkeit suetonischen Ursprungs ist.199 Die bei Eusebius bezeugten Viten ergeben also kein vollständiges Verzeichnis.200 Insofern scheint zumindest vorstellbar, dass eine Viten-Sammlung, die neben einer ganzen Reihe von Dichtern aus der ‚zweiten Reihe‘ des augusteischen Literaturbetriebs den gesamten Maecenaskreis umfasst hat, auch zumindest eine kurze Vita des Maecenas selbst beinhaltet haben könnte, zumal dieser ja auch Gedichte geschrieben hatte, die Sueton kannte.201 In dieser Vita wären dann, wie ja auch in Suetons Vergil- und Horazvita, die Beziehungen des Dichters zu Augustus und dessen Beurteilung der poetischen Produktion des Protagonisten wahrscheinlich Gegenstand einer thematischen Rubrik gewesen. In diesem Kontext könnte Sueton das Gedicht des Maecenas zitiert und diesem dann Augustus’ Brief gegenübergestellt haben, den wir uns dann als eine Art ‚Rezension‘ denken sollten, die in dem bei Macrobius zitierten spöttischen Schluss gipfelte. Aus dieser Passage der verlorenen Maecenasvita Suetons, so glaube ich, hat Macrobius den Augustus-Briefschluss exzerpiert,202 Isidor von Sevilla wiederum das Maecenas-Epigramm.
199 Vgl. Leo 1901b, 14; Sallmann/P. L. Schmidt, HLL, § 404 (35); Stachon 2021, 460 f. 200 Vgl. auch Stachon 2021, 33 Anm. 89. 201 In der Horazvita zitiert er ein Epigramm des Maecenas, um dessen Zuneigung zu Horaz zu demonstrieren; vgl. Suet. vita Hor. p. 1*,13–15 Kl = Maecen. carm. frg. 3 FPL4: ni te visceribus meis, Horati, plus iam diligo, tu tuum sodalem † nimio videas strigosiorem Das Fragment ähnelt dem bei Isidor zitierten nicht nur dem Inhalt nach (das poetische Ich spricht Horaz an), sondern es hat auch dasselbe Versmaß. Stachon 2021, 216 bringt die Möglichkeit ins Spiel, dass beide Fragmente aus demselben Gedicht stammen; die Überlegung hat in der Tat einiges für sich. Eine Vita Maecenatis als Zwischenquelle für Isidor zieht Stachon gleichwohl nicht in Betracht. 202 Zu den Quellen des Abschnitts De iocis veterum ac nobilium virorum (Sat. 2,2–7) vgl. immer noch Wessner, RE xiv, Art. Macrobius (7), 184, der für den Augustus-Passus eine Sammlung von Witzworten, in der der Stoff nach Personen geordnet war (also eher nicht Domitius Marsus), annimmt. Sueton wird hier als Quelle nicht in Erwägung gezogen, dabei ist die Benutzung von De poetis an mehreren Stellen im zweiten Buch plausibel zu machen. So wird sowohl bei Sueton als auch bei Macrobius die bekannte Anekdote über die gewitzte Antwort des Augustus auf die Frage nach dessen Tragödie Aiax (dieser habe sich in den Schwamm gestürzt) erzählt.
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Doch dies soll nur eine These am Rande sein, die vielleicht in der Sueton-Forschung weiter zu diskutieren wäre. Für die Überlegungen im Rahmen dieser Arbeit ist entscheidend, dass Macrobius ebenfalls keine Kenntnis primärüberlieferter Augustus-Korrespondenzen unterstellt werden darf – er kannte den einen Brief, den er zitiert, sehr wahrscheinlich nur durch indirekte Vermittlung.203 Hinsichtlich der Zuverlässigkeit des Zitats ist daher auf die Bemerkungen zu den Zitiergewohnheiten Suetons zu verweisen,204 wobei zu bedenken ist, dass durch die indirekte Vermittlung bereits Fehler in die Überlieferung eingedrungen sein könnten. Hinzu kommt, dass das Zitat mit teils massiven textkritischen Problemen behaftet ist, die im Kommentar näher zu diskutieren sein werden.205
Suet. Aug. 85,2: Nam tragoediam magno impetu exorsus non succedente stilo abolevit quaerentibusque amicis quidnam Aiax ageret, respondit Aiacem suum in spongiam incubuisse.
Macr. Sat. 2,4,2: Aiacem tragoediam scripserat eandemque quod sibi displicuisset deleverat. Poestea L. Varius tragoediarum scriptor interrogabat eum quid ageret Aiax suus et ille „in spongiam“, inquit, „incubuit.“
Zwischen beiden Fassungen der Episode gibt es verbale Parallelen, die eine ‚Verwandtschaft‘ zwischen Ihnen hochgradig wahrscheinlich machen. Doch es gibt auch Unterschiede, die eine Abhängigkeit des Macrobius-Texts von dem in der Augustusvita Suetons ausschließen: Dass Sueton die Antwort des Augustus nur paraphrasiert, während Macrobius sie wörtlich zitiert, mag man noch mit einer recht direkt Rückübertragung der indirekten in die direkte Rede erklären, doch dass Macrobius den Dichter Lucius Varius als den Fragenden benennt, während bei Sueton nur von namenlosen amici die Rede ist (die Identität spielt im Kontext der Augustusvita keine Rolle), deutet eher auf eine gemeinsame Quelle hin; und hier wäre wohl eine Variusvita nicht die abwegigste Vermutung; eine solche ist für Sueton zumindest bezeugt (Suet. frg. p. 48,10–13 Rf). Einen ganz ähnlichen Weg ist die Überlieferung des Laberius-Fragments mim. 98–124 CRF (Macr. Sat. 2,7,1–3, also in derselben Passage) gegangen. Es handelt sich um einen Prolog, den Laberius mehr oder weniger freiwillig auf Caesars Wunsch gegen eine Belohnung selbst vortragen musste. Sueton erwähnt Iul. 39,2 die Gegebenheit knapp, Macrobius zitiert 27 Verse. Vielleicht hatte Sueton die Episode ausführlicher und mit dem Zitat in einer (verlorenen) Laberiusvita (frg. p. 40,1 f. Rf) geboten und spielt in der Caesarvita nur noch einmal kurz darauf an; Macrobius zitiert entweder direkt aus der Laberiusvita oder aus einer Zwischenquelle; vgl. dazu Schwartz 1948, 269–271; Panayotakis 2010, 45 f. 203 An der Echtheit des andernorts in den Saturnalia zitierten Briefes von Vergil an Augustus (Macr. Sat. 1,24,11 f.), der als Gegenbrief einer Augustus-Vergil-Korrespondenz entstammen könnte, bestehen neuerdings begründete Zweifel; siehe dazu S. 114 f. mit Anm. 10. Der Sat. 2,5,6 (ELM ii, [151] frg. 97) bezeugte schriftliche Austausch zwischen Augustus und seiner Tochter Iulia bezieht sich eher auf den spontanen Austausch von codicilli, um ein hörbares Gespräch in der Öffentlichkeit zu vermeiden, und somit nicht auf Briefe im formalen Sinne; siehe Kap. ii.2.8.2. 204 Siehe Kap. ii.2.2, S. 45–47. 205 Zur Genauigkeit von Zitaten bei Macrobius im Allgemeinen vgl. außerdem Kaster 2010, 65–84; zu Zitaten aus den Cicero-Briefen vgl. Weyssenhoff 1966, 40 f.
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3.5 Priscian Der Grammatiker Priscian (um 500) zitiert im Rahmen einer Diskussion der Frage, ob Perfektformen von Komposita von currere mit oder ohne Reduplikation gebildet werden, aus einem Brief des Augustus an Vergil. Prisc. gramm. GL ii, p. 533,2–15 H: Curro etiam repetita priori syllaba cucurri facit praeteritum, quod in compositione invenitur apud quosdam auctorum geminationem primae syllabae servans, apud alios autem minime, ut Vergilius in iiii Aeneidos: Decurrere iugis, alia de parte patentes| Transmittunt cursu campos. Livius in xxii ab urbe condita: qua cuique proximum fuit, decucurrerunt. Idem in xxv: et si ferocius procucurissent. Cato contra C. Pisonem: Video hac tempestate concucurisse206 omnes adversarios. Terentius in Hecyra: Una illarum interea propere praecucurri. (12F) Caesar ad Vergilium: E x c u c u r r i s t i a N e a p o l i . Plautus in Sticho: Praecucurri, ut nuntiarem nuntium exoptabilem.
Wallace-Hadrill hat eine Vermittlung der Stelle über Sueton vermutet und dabei ohne näheren Beleg auf ein „comparable fragment in which he (sc. Suetonius) discusses whether decurrit or decucurrit is correct Latin“ verwiesen.207 Ich kann nur vermuten, dass es sich bei dem genannten ‚Sueton-Fragment‘ um das Lemma Decurrit an decucurrit recte dicamus in der Differentiae-Reihe handeln soll,208 die in der Hs. Montpellier, BU Historique de Médecine, H 306 (9. Jh.), fol. 61r–68r überliefert ist und dort in incipit und explicit als Auszug aus dem Pratum Suetons bezeichnet wird.209 Es ist jedoch umstritten, ob der im Montepessulanus überlieferte Traktat, zumal dessen erster Teil, tatsächlich aus einer der verlorenen antiquarischen Schriften Suetons bzw. dem Pratum stammt oder wenigstens Inhalte daraus über206 Vgl. zum Text hier Till 1935, 16 f. mit Anm. 6. 207 Vgl. Wallace-Hadrill 1995, 93. 208 Zur Gattung der Differentiae in der grammatischen Fachschriftstellerei vgl. P. L. Schmidt, DNP iii, Art. Differentiarum scriptores, 558; Zetzel 2018, 235 f.; zu diesem Traktat vgl. Uhlfelder 1954, 19–21. 209 Diff. Suet. p. 309,32–38 Ro: Decurrit an decucurrit recte dicamus] ea quae geminanda erunt verba temporis praesentis, praeterito tempore unam syllabam accipient, tamquam currit cucurrit, spondet spopondit. At cum praepositio accesserit, perdunt syllabam, tamquam decurrit non decucurrit, et despondit non despopondit. Hoc ita verum erit si non plus quam v. accipient praepositiones; nam cum sit mordet, et facit momordit nec tamen facit demordit. Der Traktat wird in incipit (incipiunt differentiae sermonum Remmi Palaemonis ex libro Suetonii) und explicit (explicit praescriptae verborum differentiae ex libro Suetoni Tranquilli[ni] qui inscribitur Pratum) Sueton zugeschrieben; die Nennung des Remmius Palaemon im incipit ist möglicherweise als Interpolation aus einer in der Hs. davor stehenden Hieronymus-Notiz zu diesem zu erklären; vgl. dazu Baehrens 1921, 411.
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liefert.210 Jedenfalls kann das Lemma nicht so ohne weiteres als Indiz für eine Vermittlung des Augustus-Zitats über Sueton herangezogen werden. Dennoch spricht wenig dafür, dass Priscian noch einen unmittelbaren Zugriff auf die Briefe des Augustus gehabt hätte. Die Frage des Umgangs mit Komposita von Verben mit Reduplikationsperfekt wird in der grammatischen Tradition immer wieder diskutiert, und zwar fast immer (auch) anhand von Komposita mit -currere, die sich dahingehend unregelmäßig verhalten.211 Gemeinsam mit Charisius212 und Servius213 bildet Priscian hier eine Trias von grammatischen Fachschriftstellern, die das Problem behandeln und die alle in erheblichem Umfang direkt oder über Vermittlung etwa des Flavius Caper (2. Jh.)214 aus noch früheren grammatischen Werken schöpfen.215 Hier kommen Suetons antiquarische Schriften vielleicht prinzipiell infrage, doch sind etwa auch Plinius’ d. Ä. Dubii sermonis libri, in denen Briefe des Augustus zitiert waren,216 zu nennen. Worauf es hier ankommt, ist, dass auch die Priscian-Stelle nur als indirekte Rezeptionsspur für das erste oder zweite Jahrhundert, nicht aber als Rezeptionsspur für die Spätantike betrachtet werden kann.
210 Der Traktat zerfällt in zwei offenbar ursprünglich selbstständige Hälften, einen längeren nichtalphabetischen Teil (p. 306,35–314,16 Ro) und einen kürzeren alphabetischen Teil (p. 314,17–320,34 Ro), der einen alphabetischen Auszug aus der in mehreren Fassungen überlieferten DifferentiaeReihe inter polliceri et promittere darstellt (den Nachweis führte Baehrens 1921; vgl. auch Zetzel 2018, 235). Für Sueton als Autor des ersten Teils plädierte Beck 1889; als Autor des zweiten Teils betrachtete ihn Reifferscheid, Ed. Suet. frg. 1860, 451 f., der konsequenterweise auch nur diesen Teil edierte. Beides geht wohl nicht an (vgl. Wessner 1917, 272–278; Baehrens ibid.; Goetz, RE v, Art. Differentiarum scriptores, 482 f.) und man wird allenfalls stellenweise mit einer Zweitverwertetung suetonischen Gutes rechnen dürfen (so Uhlfelder 1954, 20 f.). Wenigstens der Angabe im explicit möchten Sallmann/P. L. Schmidt, HLL, § 404 (43) ein höheres Gewicht beimessen. Im Hinblick auf die decurrit/decucurrit-Frage ist zu vermerken, dass das Problem offenbar in der Vergilerklärung von Bedeutung gewesen ist; siehe unten Anm. 213. 211 Vgl. etwa Rubenbauer, ThLL v/1, Art. decurro, 226,45–74; Rehm, ThLL v/2, Art. excurro, 1291,59– 64; Ramminger, ThLL x/1, Art. praecurro, 515,75–516,11; Rey, ThLL xi/2, Art. recurro, 450,47–53. 212 Vgl. Char. gramm. p. 337,1–8 B: Omnia verba quorum perfecto prima syllaba iteratur adiecta praepositione desinunt iterare velut tendo tetendi … adiecto praepositione intendo intendi facit … praeter haec, disco didici, et adiecta praepositione addisco addidici, et curro cucurri, e x c u r r o e x c u c u r r i . Sic enim apud auctores non numquam invenimus; alioquin recurri dicimus et excurri. Quare autem perfectum tempus aut syllabis crescat aut minuatur aut par sit non est inventa ratio … 213 Vgl. Serv. Aen. 11,189: decurrere rogos] … Bene autem ait decurrere (sc. decurrēre) non decucurrere: Namque verba quae in praeterito perfecto primam syllabam geminant, ut curro cucurri, tondeo totondi, cum composita fuerint, geminare non possunt: Nam decurri et detondi dicimus, non decucurri neque detotondi: exceptis tantum duobus. 214 Vgl. P. L. Schmidt, HLL, § 438 (234–236). 215 Zu Priscians Quellen vgl. SchH, § 1112 (225–227). 216 So jetzt auch Garcea 2021, 67; siehe dazu Kapitel ii.2.5.
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3.6 Isidor von Sevilla Der im ersten Buch der Etymologiae des Isidor von Sevilla (ca. 560–636)217 zitierte Brief des Augustus an einen namentlich nicht genannten filius218, dem der Kaiser für eventuell inhaltlich heikle Briefe in der Zukunft den Gebrauch einer Geheimschrift vorschlägt, ist sehr wahrscheinlich über ein verlorenes Werk zum Themenfeld ‚besondere Schriftzeichen und Kryptographie‘ vermittelt, welches Isidor für den diesem Thema gewidmenten Passus orig. 1,21–26, vielleicht neben anderen Quellen, benutzt hat. Infrage kommt hier zum einen eine Schrift aus Suetons Pratum219 mit dem Titel De notis.220 Dafür spricht neben der eher intuitiven Erwägung, dass der Brief hier gut hineingepasst haben dürfte, vor allem, dass Sueton den Brief nachweislich gekannt hat: Er paraphrasiert ihn in der Augustusvita.221 Alternativ könnte man vielleicht auch an eine Schrift des Probus denken, in der Kryptographie behandelt wurde; eine solche ist bei Gellius bezeugt.222 Zwar ist dort nur von den Briefen Caesars die Rede, doch es ist darauf hinzuweisen, dass sowohl
217 Zu diesem Werk vgl. jetzt Elfassi 2020. 218 Isid. orig. 1,25,2 (50F); die älteren Ausgaben ordnen dieses Fragment zumeist den Briefen an den Enkel Gaius Caesar zu, der mit dem filius identifiziert wird. Diese Zuordnung ist unsicher und die Argumente, die sie stützen sollen, sind sachlich falsch; es gehört in die Rubrik ad incertos; vgl. Komm. zu 50F. 219 Um die Frage, ob die Vielzahl antiquarischer Schriften Suetons gemeinsam mit dem biographischen Werk De viris illustribus (wozu De poetis und De grammaticis et rhetoribus gehört haben) in einem Sammelwerk mit dem Titel Pratum vereinigt waren (der Titel ist so immerhin belegt bei Gell. praef. 8; Charisius [gramm. p. 307,18 f. B] bezeugt den Titel De rebus variis; vielleicht ist dieser ein Untertitel von jenem; vgl. Sallmann/P. L. Schmidt, HLL, § 404 [18]), ob dieses Werk so auf Sueton selbst zurückgeht oder eine postume Zusammenstellung von Einzelschriften ist (Pausch 2004b, 237 f. plädiert für letzteres), und ob bzw. in welchem Maße sich dieses aus der suetonischen Werktitel-Liste in der Suda (Τράγκυλλος, iv, p. 581,19–27 A) und den Werken Origines und De natura rerum des Isidor rekonstruieren lässt, dreht sich bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine bislang nicht entschiedene Forschungskontroverse (zusammengefasst in Sallmann/P. L. Schmidt, HLL, § 404 [16–19]). Für einen ausgewogenen Rekonstruktionsvorschlag vgl. P. L. Schmidt 1991, 3800–3807; auch Sallmann/P. L. Schmidt ibid. (20–40). 220 Die Existenz einer Schrift Περὶ τῶν ἐν τοῖς βιβλίοις σημείων Suetons ist belegt in der Suda (s. o., Anm. 219). Dass diese wenigstens bis Kapitel 25 Hauptquelle für den Isidor-Passus De notis gewesen ist, ist die Mehrheitsmeinung; vgl. Macé 1900, 126 f. mit Anm. 17; Traube 1901, 15–20; SchH, § 532 (60); Fontaine 1983, 80–84, bes. 83; Baldwin 1983, 106 f.; P. L. Schmidt 1991, 3815 f.; Sallmann/P. L. Schmidt, HLL, § 404 (39 f.); Zetzel 2018, 246 f. 221 Vgl. Suet. Aug. 88; die Stellen finden sich nebeneinander auszitiert S. 47. 222 Vgl. Gell. 17,9,5: Est adeo Probi grammatici commentarius satis curiose factus de occulta litterarum significatione in epistularum C. Caesaris scriptura. Mit commentarius ist hier sicherlich eine Bemerkung innerhalb eines längeren Werkes gemeint und nicht der Werktitel einer nur mit der occulta significiatio litterarum Caesars befassten schrift (so Colker 1971, 85 f.).
4 Zusammenfassung
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Sueton als auch Cassius Dio, die von der Geheimschrift des Augustus wissen, andernorts auch die Geheimschrift Caesars erläutern.223 Hier scheint also ein gewisser Zusammenhang zu bestehen.224 Möglich ist natürlich auch, dass Suetons De notis bereits auf der Schrift des Probus fußt und gewissermaßen eine Zwischenstufe darstellt. Es gibt noch ein weiteres Augustus-Zitat bei Isidor (nat. 44,4): „Caecus fluctus“ tumens necdum canus, de quo Atta in togata sic ait „pro populo fluctus caecos faciunt per discordiam“ et Augustus: „Nos venimus Neapolim fluctu quidem caeco“. Die Nachbarschaft des Augustus-Zitats zu einem Vers des Togata-Dichters Quinctius Atta im selben Lemma spricht in jedem Fall für eine erheblich ältere Zwischenquelle. Erwogen wurde auch hier eine antiquarische Schrift Suetons, De naturis rerum (bzw. das neunte Buch des Pratum);225 es ist jedoch völlig unklar, ob es sich hierbei um ein Briefzitat handelt.226
4 Zusammenfassung Für die Augustus-Briefe lässt sich zusammenfassend sagen, dass eine Publikation nach dem freilich recht heterogenen und seinerseits nicht bis ins Letzte nachzuvollziehenden ‚Vorbild‘ der ‚kleinen‘ Cicero-Korrespondenzen, die man heute in ihrer Gesamtheit als Epistulae ad familiares zu bezeichnen pflegt,227 eine plausible Erklärung für zumindest einen erheblichen Teil der vergleichsweise umfangreichen Sekundärüberlieferung ist. Wenn dies der Fall war, dürfen wir annehmen, dass diese Korrespondenzen postum publiziert wurden, insbesondere die Korrespondenzen mit den Mitgliedern der iulisch-claudischen Kaiserfamilie kaum vor dem Tod Neros im Jahr 68 n. Chr. Die Briefe dürften dabei nach Adressaten sortiert veröffentlicht worden sein, wobei hier keine koordinierte Herausgabe aller Korrespondenzen durch einen Herausgeber unterstellt werden darf. Längere Korrespondenzen haben zum Teil ein (Ad C. Caesarem nepotem), andere vielleicht auch mehrere Bücher umfasst; kürzere waren vielleicht auch zusammen in einem liber vereinigt – beides ist vorstellbar. Einige Korrespondenzen, namentlich die mit Marcus Antonius, könnten auch Gegenbriefe und Beilagen (Briefe an Dritte oder von Dritten) enthalten haben. Dass die Anordnung der Briefe innerhalb der Kor223 Vgl. Suet. Iul. 56,6: D.C. 40,9,3 f.; vgl. auch Spevak, Ed. Isid. orig. (1) 2020, 303 f. 224 Vgl. auch Iul. Vict. rhet. p. 105,26–28 Gi/C: Solent etiam notas inter se secretiores pacisci, quod et Caesar et Augustus et Cicero et alii plerique fecerunt. 225 Vgl. Sallmann/P. L. Schmidt, HLL, § 404 (25). 226 Siehe auch Komm. zu 12F. 227 S. o., S. 20–22 u. 24–26.
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respondenzen chronologisch war oder zumindest chronologisch sein sollte, ist möglich228 – beweisen lässt es sich nicht. Gleichwohl sind parallel auch andere Formen der Rezeption denkbar, namentlich die Benutzung der Originale. Immerhin behauptet Sueton zweimal ausdrücklich, Autographen der Briefe zu zitieren.229 Dies findet eine Parallele in der Rezeption der Atticusbriefe Ciceros, die bis zur Publikation der Briefe in der uns bekannten Form in neronischer Zeit einer begrenzten Öffentlichkeit im Nachlass des Adressaten zur Verfügung standen und somit schon vor der Publikation vereinzelt im Original eingesehen werden konnten.230 In beiden Fällen dürften die Originale für die Sekundärüberlieferung der Briefe insgesamt von untergeordneter Bedeutung gewesen sein. Die Privatbriefe des Augustus werden in der Zeit zwischen 60 und 120 n. Chr. recht intensiv rezipiert, wobei hier zwei Ausrichtungen der Rezeption zu unterscheiden sind: Einerseits zeigt sich ein Interesse an Augustus als Stilisten bei Plinius d. Ä. (Sermo dubius), Quintilian (Institutiones oratoriae) und Sueton (antiquarische Schriften). Anderseits zeigt sich ein Interesse an Augustus und seinen Korrespondenten als (literatur-)historischen Persönlichkeiten, das sich in den biographischen Schriften Suetons niedergeschlagen hat: Dieser hat die Briefe dem Anschein nach schon in seinen antiquarischen Schriften (Pratum) als Belegstellen für in der Regel sprachliche Besonderheiten verwendet, sie dann in den Dichterviten als Quellen für das von ihm als literaturgeschichtlich bedeutsam empfundene Verhältnis des Augustus zu den Poeten seiner Zeit herangezogen und sie zum Schluss (naheliegenderweise) in den Kaiserviten verwendet. Im weiteren Verlauf des zweiten Jahrhunderts sind sie dann nur noch selten bezeugt, wobei aber im Falle des Gellius sogar die Kenntnis einer in Buchform publizierten Korrespondenz expressis verbis belegt ist. Gellius’ Interesse scheint ebenfalls vorwiegend Augustus’ Stil gegolten zu haben, den er durchaus positiv beurteilt.231
228 Im Falle der Briefe an Horaz und Tiberius gibt es dafür jedenfalls Indizien; siehe S. 44 mit Anm. 122. 229 Für zumindest zwei der in diesen Kontexten gebotenen Zitate lässt sich jedoch plausibel machen, dass Sueton über Vermittlung des Verrius Flaccus, der ein Zeitgenosse des Augustus und Teil von dessen ‚Hofstaat‘ war, aus zweiter Hand zitiert und somit wohl allenfalls dessen Behauptung der Autographennutzung wiederholt. 230 Vgl. dazu S. 27 f. 231 Gell. 10,24,2: Divus etiam Augustus, linguae Latinae non nescius munditiarumque patris sui in sermonibus sectator … u. 15,7,3: Nocte quoque ista superiore, cum librum epistularum divi Augusti … legeremus duceremurque elegantia orationis neque morosa neque anxia, sed facili hercle et simplici …; ein ähnliches Urteil fällt Fronto (p. 123,5–7 vdH): Augustum vero saeculi residua elegantia et Latinae linguae etiamtum integro lepore potius quam dicendi ubertate praeditum puto, hier geht es jedoch vordergründig eher um Augustus als Redner; vgl. Bringmann/Wiegandt 2008, 163.
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Es gibt zwar auch vom dritten Jahrhundert bis hinein ins frühe Mittelalter (Isidor von Sevilla) noch vereinzelte Belege für die Kenntnis der Briefe; bei näherer Prüfung zeigt sich aber, dass hier jeweils mit Sicherheit oder zumindest sehr hoher Wahrscheinlichkeit Fälle indirekter Vermittlung vorliegen. Der in einem aus dem zwölften Jahrhundert stammenden Katalog der Bibliothek von Limoges (Hs. Paris, Bibl. nationale de France, lat. 1139, fol. 229r–236r) belgte Liber octaviani imperatoris (siehe Abb. 2) enthielt wahrscheinlich die einen liber umfassende Augustusvita Suetons.232
Abb. 2: Aufführung eines Lib(er) octaviani imperatoris im Katalog der Bibliothek von Limoges (Hs. Paris, Bibl. nationale de France, lat. 1139, fol. 234r)
Wenig belastbar erscheint Francesco Petrarcas Behauptung in den zwischen 1343 und 1345 verfassten Rerum memorandarum libri, ihm sei als adulescens ein schwer lesbarer und von Fäulnis halb zerfressener liber mit Epigrammen und epistulae ad amicos des Augustus in die Hände geraten, den er danach nicht mehr habe auffinden können.233 Die schwachen Spuren direkter Rezeption der Briefe bzw. Briefsammlungen verlieren sich also bereits um die Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert, sodass die Annahme zulässig scheint, dass ihre Primärüberlieferung bereits hier abgebrochen ist.234 Wie könnte es dazu gekommen sein? Hier scheinen zwei mögliche Faktoren erwägenswert, die sich als Grund und als Ursache möglicherweise auch komplementär ergänzen: Zunächst einmal hat in der Gattungsgeschichte des ‚literarischen Privatbriefs‘ im zweiten Jahrhundert eine Art Paradigmenwechsel stattgefunden: Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts wurde die neun Bücher umfassende Sammlung von Privatbriefen des jüngeren Plinius veröffentlicht, die sich von dem spätrepublikanisch-ciceronianischen ‚Paradigma‘ deutlich abhebt: Zunächst einmal wurden diese Briefe nicht postum durch andere veröffentlicht, sondern noch zu
232 Vgl. Manitius 1892, 27, der daneben auch eine Abschrift des Monumentum Ancyranum in Erwägung zieht. 233 Francesco Petrarca, Rer. mem. (ed. Billanovich, 1,13): Scripsit (sc. Augustus) et epygrammatum librum et epystolarum ad amicos, conditum facetissima gravitate et luculentissima brevitate; quod opus inexplicitum et carie semesum, adolescenti michi admodum in manus venit, multum frustraque quaesitum; vgl. dazu Bourne 1920 u. v. a. Billanovich, Ed. Petrarca, Rer. mem. 1945, 12. 234 Dies entspricht dem Befund für die nur fragmentarisch erhaltenen Teile der Cicero-Korrespondenzen; s. o., S. 22 f.
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Lebzeiten durch Plinius selbst.235 Dann sind sie innerhalb der einzelnen Bücher nicht nach Adressaten sortiert und auch eine chronologische Anordnung liegt innerhalb der Bücher nicht vor, was Plinius in dem das erste Buch einleitenden Widmungsbrief ausdrücklich betont.236 In der ganzen Sammlung gibt es nicht einen einzigen Gegenbrief, sondern ausschließlich Briefe des Plinius an andere. Auch auf der inhaltlichen Ebene fallen Unterschiede auf: Im Vergleich zu den Cicero-Briefen strahlen die Plinius-Briefe jeweils eine innere Geschlossenheit aus: Sie sind inhaltlich weniger sprunghaft und fast immer auf ein einziges Thema beschränkt,237 was sie eher wie kleine literarische Kunstwerke wirken und weniger als Alltagsdokumente erscheinen lässt. Aufgrund dessen hat Hartmut Wulfram die neun Bücher etwa als „prosaische Gedichtbücher“ bezeichnet, die von den „dokumentarischen“ Briefen der Cicero-Korrespondenzen zwar angeregt seien, aber deren literarisch-ästhetische Mängel mit poetischen Mitteln zu vermeiden versucht hätten.238 Zwei ästhetische Kategorien, die für die plinianische Briefsammlung paradigmatisch zu sein scheinen, sind brevitas und varietas: Mit brevitas ist nicht notwendigerweise der bloße Umfang eines Briefes gemeint239 – einige Briefe des Plinius sind tatsächlich sehr lang –, sondern vielmehr die genannte, extrem verdichtete Darstellung eines Gegenstandes oder Erzählgeschehens. Gerade in den längeren Briefen begegnet aber auch häufig eine topische Vorwegnahme von Kritik an der dem Prinzip der brevitas zuwiderlaufenden Länge.240 Die varietas ist in gewisser Weise das Gegenmodell zu den spätrepublikanisch-ciceronianischen Ordnungsprinzipien von Briefsammlungen: Die Briefe scheinen so angeordnet, dass sich lange und kurze Briefe, Briefe an unterschiedliche Adressaten und mit unterschiedlichem Inhalt möglichst abwechseln. Damit entsprechen die Plinius-Briefe, wie durch Dennis Pausch herausgearbeitet wurde, dem literarischen Geschmack
235 Vgl. Wulfram 2008, 426 mit Anm. 103. Unbedingt fernzuhalten ist hier die im zu Unrecht so genannten zehnten Buch erhaltene Amtskorrespondenz zwischen Plinius d. J. und Kaiser Traian, die in einem gewissen Maße wieder dem ciceronianischen Paradigma folgt, postum veröffentlich wurde und wohl erst in der Spätantike als zehntes Buch an die eigentliche Briefsammlung ange hängt wurde; vgl. z. B. Coleman 2012, 233 f.; Whitton 2013, 1 mit Anm. 1. 236 Vgl. Plin. epist. 1,1,1: collegi non servato temporis ordine … Man mag diese programmatische Bemerkung sogar als eine dezidierte Abkehr von einer überkommenen Konvention auffassen. Vgl. zu den Ordnungsprinzipien und zur Struktur der plinianischen Briefsammlung auch Gibson 2012, 67 f. 237 Vgl. Peter 1901, 120; Kasten 1984, 667; Wulfram 2008, 435 mit Anm. 146; Halla-aho 2011, 433 f.; Albrecht 2012, 972; Fögen 2017. 238 Wulfram 2008, 423–441; vgl. jetzt auch Eickhoff 2021, 239–252. 239 So wird die ‚Kürze‘ eines Briefes bei Demetr. Eloc. 228 aufgefasst. 240 Vgl. zu all dem Fögen 2020.
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des frühen zweiten Jahrhunderts und sind insofern innovativ.241 Das ‚plinianische Paradigma‘ hat im weiteren Verlauf der Gattungsgeschichte großen Erfolg gehabt:242 Die dokumentarischen Korrespondenzen des bekennenden Bewunderers der Cicero-Briefe Fronto scheinen zwar noch einmal dem ciceronianischen Muster zu folgen,243 doch ändert dies nichts an dem offensichtlichen Siegeszug des plinianischen Modells, spätestens ab dem dritten Jahrhundert.244 Briefsammlungen werden nun häufig von ihren Autoren selbst herausgegeben und können somit auch als literarische Werke in produktionsästhetischem Sinne gelten.245 Plinius’ Stellung als Archeget einer neuen Form von literarischer Epistolographie zeigt sich deutlich an den Briefsammlungen des Ambrosius246, des Symmachus247 und besonders des Sidonius Apollinaris248, die nicht nur (wenigstens teilweise) von ihren Autoren selbst publiziert wurden, sondern dem plinianischen Paradigma auch in der Anlage der Sammlung in neun Büchern folgen.249 Sidonius Apollinaris drückt dies sogar expressis verbis aus, indem er im Widmungsbrief des ersten Buches deutlich auf Plinius (vor allem epist. 1,1) anspielt und ihn (gemeinsam mit Symmachus) als sein
241 Vgl. Pausch 2004b, 65–71; auch Fögen 2017, 28 f.; gleichwohl soll nicht geleugnet werden, dass Ciceros Briefe für Plinius in mancherlei Hinsicht ein wichtiges Vorbild gewesen sind; vgl. dazu Keeline 2018, 317–334. 242 Zur Verbreitung von Briefen in der Spätantike, die neben planvollen Briefsammlungen natürlich auch in gänzlich anderen Publikationsmodi erfolgen konnte vgl. Mathisen 2018. 243 Vgl. zu dieser Korrespondenz Wulfram 2008, 442–448. 244 Die nicht erhaltene Sammlung von epistulae inlustrium feminarum eines Titianus (vermutlich ein gallorömischer Rhetor im frühen dritten Jahrhundert) scheint sich nach dem Zeugnis des Sidonius Apollinaris (epist. 1,1,2) im Stil eng an Cicero angelehnt zu haben. Dies gilt aber mit Sicherheit nicht für den Aufbau der Sammlung, die wir uns wohl eher als eine prosaische und nicht-mythologische Version von Ovids Epistulae heroidum denken dürfen; vgl. dazu jetzt van Waarden 2022, 1035 mit Anm. 51. 245 Vgl. Albrecht 2012, 432. 246 Vgl. dazu Nauroy 2017, 146–150; Semmlinger 2018; Zelzer, HLL, § 655 (468 f.). 247 Vgl. dazu Sogno 2017, 179–182. 248 Vgl. dazu Mratschek 2017, 311–313. 249 Vgl. Gibson 2012, 59 u. 67–69. Das Corpus der Briefe des Cyprian setzt sich aus verschiedenen postum publizierten Sammlungen zusammen, die sich teils überschneiden; vgl. dazu SchH, § 727; Gülzow/P. L. Schmidt, HLL, § 478 (537 f. u. 540–553); Salzman 2017, 27–29. Für die Briefe des Hieronymus steht eine eingehende Untersuchung noch aus: Bei Conring 2001 wird mögliche Plinius-Rezeption allenfalls am Rande thematisiert (im Stellenregister begegnet nur Plin. epist. 1,1 mit einem Verweis auf das Einleitungskapitel zum antiken Brief), doch scheint auch hier mit einer starken Plinius-Rezeption zu rechnen zu sein; vgl. Duval, HLL, § 647 (136–142); Mülke 2020; Einzelbeobachtungen auch bei Derhard 2021 (siehe dort die entsprechenden Einträge im Stellenregister).
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konzeptionelles und sprachlich-stilistisches Vorbild nennt, während Cicero bescheiden als unerreichbar qualifiziert wird.250 Dieser gattungsgeschichtliche Paradigmenwechsel fällt zusammen mit einem weiteren Paradigmenwechsel auf einer anderen Ebene: Dem Übergang von der Papyrusrolle zum Codex als dominierender Buchform. Dieser ging vermutlich vom frühen Christentum aus, wo sich der Codex als Medium für biblische Texte schon früher bewährt hatte, und führte dazu, dass die Zeit vom zweiten bis zum vierten Jahrhundert zu einem ersten ‚Flaschenhals‘ der Überlieferungsgeschichte der antiken Literatur wurde.251 Insbesondere im Fall von Pergament-Codices ist die Frage, ob man einen Text von Papyrusrollen in einen Codex abschreibt, nicht zuletzt immer auch eine ökonomische Frage gewesen. So praktisch der Codex zum Lesen im Vergleich zur Papyrusrolle auch ist, in der Produktion ist er sehr viel aufwendiger und entsprechend teurer gewesen. Hier musste es notwendigerweise zur Auswahl bestimmter Texte zur Weitertradierung und somit zum Verlust anderer Texte kommen. Texte, die nicht irgendwann in diesem Zeitraum von einer Papyrusrolle in einen Codex übertragen wurden, gingen also leicht mit dem Papyrus, auf den sie geschrieben waren, verloren.252 Dass diese mediale Innovation auch für die Überlieferung von Privatbriefsammlungen nicht folgenlos war, kann man wieder gut am Beispiel der Briefe Ciceros demonstrieren: So geht die heutige Gestalt der sogenannten Epistulae ad familiares vermutlich darauf zurück, dass die bis dato in separaten einzelnen Papyrusrollen tradierten 16 Bücher – vielleicht über Zwischenstufen – in Codices zusammengeführt wurden, was ihre Primärüberlieferung über die Zeit der Antike hinaus gewährleistet hat. Andere Cicero-Korrespondenzen haben diese Hürde hingegen nicht genommen. Während der große Name Ciceros in diesem Zeitraum aber zumindest einen erheblichen Teil der publizierten Briefe gerettet zu haben scheint, war dies den Briefen des Augustus nicht vergönnt. Die dokumentarische Privatbriefsammlung war als ‚Gattung‘ aus der Mode gekommen, die einzelnen Bücher mit den Augustus-Korrespondenzen vielleicht zu verstreut, als dass sie nach dem Muster der Epistulae ad familiares in Codices hätten vereint
250 Vgl. Sidon. epist. 1,1,1 f.: Diu praecipis, domine maior, summa suadendi auctoritate, sicuti es in his quae deliberabuntur consiliosissimus, ut, si quae mihi litterae paulo politiores varia occasione fluxerint, prout eas causa persona tempus elicuit, omnes retractatis exemplaribus enucleatisque uno volumine includam, Quinti Symmachi rotunditatem, Gai Plinii disciplinam maturitatemque vestigiis praesumptuosis insecuturus. Nam de Marco Tullio silere me in stilo epistulari melius puto …; dazu ausführlich Köhler 1995, 105 f.; G. M. Müller 2018b, 303–306; van Waarden 2022, 1023–1025 (im Folgenden weist van Waarden außerdem überzeugend intertextuelle Bezugnahmen auf Plin. epist. 1,2 und 1,5 nach, die für das Verständnis des Widmungsbriefes wichtig sind). 251 Vgl. Koep, RAC ii, Art. Buch i, 683 f.; Jochum 2007, 52–54. 252 Vgl. dazu Reynolds/Wilson 1991, 34 f.; Winsbury 2009, 134.
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werden können, und Augustus war als Schriftsteller im Vergleich zu Cicero wohl auch eine zu geringe Autorität, als dass eine Weitertradierung unter den angedeuteten Bedingungen zu rechtfertigen gewesen wäre. Eine Äußerung wie das Verdikt des Kaisers Hadrian, Augustus sei einfach kein pereruditus homo gewesen,253 zeigt, dass der erste römische Kaiser – zumindest in sprachlich-stilistischen Fragen – allenfalls als eine zweitrangige Autorität betrachtet worden ist.
253 Char. gramm. p. 271,18–20 B: Sed divus Hadrianus, tametsi, inquit, Augustus non pereruditus homo fuerit, ut id adverbium (sc. obiter) ex usu potius quam lectione protulerit; vgl. dazu Komm. zu 25F.
III Vorbemerkungen zu Edition und Kommentar In diesem Kapitel soll ein Überblick über die methodischen Grundlagen und den Aufbau von Edition und Kommentar gegeben werden. In einem ersten Unterkapitel wird zunächst diskutiert, nach welchen Kriterien Fälle von Sekundärüberlieferung in das Corpus aufgenommen werden sollen und wie die Stellen gegebenenfalls zu klassifizieren sind. Im zweiten Unterkapitel werden die Prinzipien erläutert, nach denen die Zeugnisse in der Edition angeordnet werden. Daran schließt sich ein Unterkapitel an, in dem auf die Editionsprinzipien und die Gestaltung der einzelnen Katalognummern in der Edition eingegangen wird. Im letzten Unterkapitel wird kurz der Aufbau und die Methodik des Kommentars erläutert.
1 Das Corpus „The first problem to be faced by an editor of fragments concerns the criteria for inclusion of material …“ Ian G. Kidd (Edelstein/Kidd 1972–1999 i, xv)
Die Privatbriefe des Augustus sind ausnahmslos auf dem Wege der Sekundärüberlieferung auf uns gekommen. Unter Sekundärüberlieferung verstehe ich zunächst alle Formen von Textüberlieferung, bei denen Texte nicht selbstständig, sondern eingebettet in andere (primärüberlieferte) Texte tradiert werden.1 So, wie die Primärüberlieferung unterschiedliche Formen haben kann, die mit unterschied lichen Unmittelbarkeitsgraden einhergehen,2 kann auch die Sekundärüberlieferung weiter typologisiert werden; gängig ist hierbei eine Unterscheidung zwischen Fragmenten (direkte und indirekte Zitate) und Testimonien (bloße Erwähnungen bzw. Bezeugungen).3 Auch wenn die Unterscheidung zwischen Fragment und Testimonium an sich älter ist,4 so ist ein forschunghistorischer locus classicus dafür doch das von Felix Jacoby 1923 begründete und 1998 wiederaufgenommene Großvorhaben Die Fragmente der Griechischen Historiker (FGrHist),5 wo die auf-
1 Zu diesen Termini vgl. z. B. Pöhlmann 1994–2003 i, 1 f. 2 Originalüberlieferung (Inschriften, Papyri) oder abschriftliche Überlieferung, etwa über mittel alterliche Handschriften. 3 Den philologischen Fragmentbegriff hat jüngst Georg Wöhrle einer eingehenden Kritik unterzogen und stattdessen den Terminus „Zeugnistext“ vorgeschlagen; vgl. Wöhrle 2022, bes. 386–394; dazu ausführlicher Ohst 2023, 64–67. 4 Vgl. Wöhrle 2022, 394 mit Anm. 49. 5 Vgl. zur Geschichte des Projekts jetzt Berti 2021, 35–38. https://doi.org/10.1515/9783111193595-003
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III Vorbemerkungen zu Edition und Kommentar
genommenen Belege in diese beiden Kategorien eingeteilt werden, je nachdem, ob es sich um wörtliche oder indirekte Zitate (Paraphrasen, Inhaltsangaben) aus bzw. Verweise auf eine konkrete Schrift handelt (Fragmente)6 oder ob es sich um Zeugnisse das Leben des Autors oder dessen Werk im Allgemeinen handelt (Testimonien).7 Ich fasse sowohl den Fragment- als auch den Testimonienbegriff etwas enger bzw. anders: Unter Fragmenten verstehe ich wörtliche Zitate oder inhaltliche Paraphrasen, also das, was die Narratologie8 als ‚zitierte‘ oder ‚transponierte Rede‘ bezeichnet. Als Testimonien behandle ich selbstverständlich nicht alle Zeugnisse zum Leben des Augustus, sondern nur ‚Brieftestimonien‘, also Textstellen, in denen Briefe des Augustus erwähnt werden, deren Inhalt jedoch nicht oder nur in einem mittelbaren ‚narrativen‘ Modus wiedergegeben wird.9 Anders als im Falle primärüberlieferter Texte steht am Anfang der Edition eines sekundärüberlieferten Textes ein letztlich subjektiver Prozess der Auswahl und Corpusbildung.10 Für die Auswahl potenzieller Fragmente und Testimonien muss im vorliegenden Fall geklärt werden, wann ein Zitat oder eine Paraphrase als aus einem Brief des Augustus stammend angesehen werden soll, und dann, wann ein Brieffragment als ‚privat‘ im Sinne meiner Definition der Textsorte ‚Privatbrief‘ betrachtet werden darf. Im Idealfall nennt ein zitierender Autor Augustus als den Urheber einer Äußerung und bemerkt ausdrücklich, dass das Zitat bzw. die Paraphrase auf einen Brief zurückgeht (etwa nach dem Muster Augustus in quadam epistula scripsit: „…“), doch das ist in der Praxis längst nicht immer der Fall. Als beinahe gleichwertig sind Zitierformeln wie ad aliquem scripsit oder alicui rescripsit zu bewerten, die semantisch klar auf briefliche Äußerungen hindeuten. Wo solche deutlichen Hinweise fehlen, ist das Fragment selbst und der Zitier- bzw. Paraphrasenkontext genauer zu betrachten: Finden sich im Fragment sprachliche Merkmale, die auf einen Brief hindeuten, etwa brieftypische Topik, Formelsprache
6 Dies ist nicht unumstritten: Für einen erheblich engeren Fragmentbegriff, der sich allein auf verbatim-Zitate beschränkt, plädiert etwa Laks 1997, bes. 239, der bereits Paraphrasen nur noch als Testimonien gelten lassen möchte („le fragment, cʼest le littéral, par opposition au témoignage, qui ne lʼest pas“). 7 So ähnlich waren zuvor bereits die von Hermann Diels begründeten Fragmenten der Vorsokratiker strukturiert; dort jeweils A (‚Leben und Lehre‘) und B (Fragmente). 8 Vgl. die Übersicht bei Martinez/Scheffel 2002, 62. 9 Eine Unterscheidung zwischen Fragmenten und Testimonien haben in ihrer Neubearbeitung der Ausgabe Malcovatis bereits Bringmann und Wiegandt vornehmen wollen (vgl. Bringmann/ Wiegandt 2008, 20 f.), dies jedoch nicht sehr konsequent umgesetzt; ich verstehe z. B. nicht, warum Suet. Aug. 7,1 (9F) bei ihnen (48, Nr. 41F) zwar ein Fragment, Suet. Aug. 86,2 (m. E. gar kein Brief, s. u. S.) jedoch ein Testimonium sein soll (49, Nr. 42T): Zwischen beiden (Brief-)bezeugungen besteht jedenfalls kein formaler Unterschied im Hinblick auf den Grad der narrativen (Un-)mittelbarkeit. 10 Vgl. dazu Schepens, FGrHist iv/a/1, xii f.; Schepens 2000, 6; Trachsel 2017, 20–23.
1 Das Corpus
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oder direkte Anreden an einen Adressaten in der zweiten Person? Legen die im Kontext beschriebenen Rahmenbedingungen eine briefliche Äußerung nahe, etwa, weil die Person, an die die Aussage gerichtet ist, vom Urheber räumlich getrennt ist? Selbstredend nimmt mit der abnehmenden Klarheit hinsichtlich dieser Fragen jeweils die Notwendigkeit zu, die Aufnahme in das Corpus im Kommentar zu rechtfertigen. Zur Bildung des Corpus ergeben sich aus diesen Überlegungen folgende Kriterien: 1. Das Fragment wird im Kontext ausdrücklich als ein Brief bezeichnet. 2. Das Fragment weist brieftypische Topik oder Formelsprache auf. 3. Das Fragment weist Anreden in der zweiten Person auf oder wird im Kontext als eine Anrede an eine andere Person charakterisiert. 4. Die im Kontext beschriebenen kommunikativen Rahmenbedingungen legen einen Brief als Prätext nahe. Als Brieffragmente werden alle Zitate und Paraphrasen betrachtet, für die wenigstens eines dieser Kriterien zutrifft. Da die Kriterien 3 und 4 jedoch weniger eindeutig sind, gilt, dass alle Fragmente, auf die nicht entweder 1 oder 2 zutrifft, als Dubia markiert werden (×).11 Einen exemplarischen Problemfall für die Frage der Brieflichkeit von bezeugten Äußerungen des Augustus stellen die zahlreichen Zitate und Paraphrasen im 86. Kapitel der Augustusvita Suetons dar, in dem es um Augustus’ Stil und Ausdrucksweise (genus eloquendi) geht. Ich drucke hier zunächst das vollständige Kapitel ab, wobei sämtliche direkten und indirekten Zitate unterstrichen und für die folgenden Ausführungen römisch durchnummeriert sind:
11 Es versteht sich, dass im Ergebnis eine Reihe von Äußerungen, die Augustus zugeschrieben werden und die sehr gut aus Briefen stammen könnten, nicht in das Corpus aufgenommen wurden; zu nennen sind hier viele der dicta Augusti (gesammelt bei Malcovati, Ed. Imp. Aug. 1969, 152–173; Bringmann/Wiegandt 2008, 285–325), aber auch Stellen, die traditionell anderen Werken zugeordnet wurden, beispielsweise die Suet. Aug. 62,2 bezeugte schriftliche Behauptung des Augustus (ut scribit), er habe sich von Scribonia pertaesus morum perversitatem eius scheiden lassen, die in bisherigen Ausgaben dem Werk De vita sua zugeordnet wurde (Imp. Aug. De vita sua frg. 14 M = FRH, [60] F15; dass es sich hierbei ebenso gut um ein Briefzitat gehandelt haben könnte, betont jedoch Smith, FRH iii, 544). Solche Überlegungen sind natürlich vollkommen legitim; es ist jedoch meine Überzeugung, dass eine kritische Edition der sekundärüberlieferten Augustus-Privatbriefe sich nach transparenten Kriterien auf ‚sichere‘ Brieffragmente oder doch zumindest hinreichend wahrscheinliche Dubia beschränken muss, gerade weil damit für solche weitergehenden Überlegungen zu schwerer zuweisbaren Augustus-Fragmenten ein desto zuverlässigerer ‚Prüfstein‘ geliefert wird.
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III Vorbemerkungen zu Edition und Kommentar
Suet. Aug. 86: Genus eloquendi secutus est elegans et temperatum, vitatis sententiarum ineptiis atque concinnitate et reconditorum verborum, ut ipse dicit, fetoribus (i), praecipuamque curam duxit sensum animi quam apertissime exprimere. Quod quo facilius efficeret aut necubi lectorem vel auditorem obturbaret ac moraretur, neque praepositiones urbibus addere neque coniunctiones saepius iterare dubitavit, quae detractae afferunt aliquid obscuritatis etsi gratiam augent. Cacozelos et antiquarios ut diverso genere vitiosos pari fastidio sprevit exagitabatque nonnumquam, in primis Maecenatem suum, cuius myrobrechis, ut ait, cincinnos usque quaque persequitur et imitando per iocum irridet (ii). Sed nec Tiberio parcit ut exoletas interdum et reconditas voces aucupanti (iii). M. quidem Antonium ut insanum increpat, quasi ea scribentem, quae mirentur potius homines quam intellegant (iv), deinde ludens malum et inconstans in eligendo genere dicendi iudicium eius addit haec: Tuque dubitas, Cimberne Annius an Veranius Flaccus imitandi sint tibi, ita ut verbis, quae Crispus Sallustius excerpsit ex Originibus Catonis, utaris, an potius Asiaticorum oratorum inanis sententiis verborum volubilitas in nostrum sermonem transferenda? (v) Et quadam epistula Agrippinae neptis ingenium conlaudans, sed opus est, inquit, dare te operam, ne moleste scribas et loquaris (vi).12
Das Kapitel zerfällt in zwei Teile: Zunächst (Genus eloquendi … gratiam augent) geht es allgemein um Augustus’ eigenen Stil: Er habe sich um einen feinen und einfachen Duktus sowie Verständlichkeit bemüht und deswegen auch der Klarheit wegen Präpositionen vor Städtenamen gesetzt und Konjunktionen häufiger wiederholt. Im zweiten Teil (Cacozelos … loquaris) geht es um Augustus’ Position in der Auseinandersetzung zwischen den an die Attizisten anknüpfenden Anhängern des archaisierenden Stils und den Anhängern eines modernistischen Stils (‚Asianismus‘).13 12 Üb.: „Er bediente sich einer geschmackvollen, gemäßigten Ausdrucksweise und vermied Albernheiten mit Sinnsprüchen, Gesuchtes und, wie er selbst sagt, den Gestank entlegener Worte. Besonders gab er acht darauf, den Sinn eines Gedankens so genau wie möglich auszudrücken. Um dies umso leichter zu erreichen und nirgendwo den Leser oder Zuhörer zu verwirren oder zu stören, zögerte er weder, Präpositionen vor Städtenamen zu setzen, noch, Konjunktionen häufiger zu wiederholen, deren Auslassung zwar die Anmut steigert, aber auch Unklarheit verursacht. Die ‚Affektierten‘ und ‚Altertümler‘ verachtete er in gleichem Maße, weil sie (lediglich) in unterschiedlicher Weise Fehler machten, und verspottete sie recht häufig, besonders seinen Maecenas, dessen ‚salbentriefende Locken‘, wie er sagt, er bei jedem Anlass tadelt und durch Nachahmung im Scherz verlacht. Aber auch Tiberius schont er nicht als jemanden, der altertümliche und entlegene Begriffe verwendet. Marcus Antonius verhöhnt er als einen Verrückten, der Dinge schreibe, über die sich die Menschen eher wunderten als dass sie sie verstünden; dann fügt er in Anspielung auf dessen schwankendes Urteil in der Wahl der Ausdrucksweise hinzu: ‚Und du zweifelst, ob Cimber Annius und Veranius Flaccus dir zur Nachahmung taugen, sodass du Wörter verwendest, die Crispus Sallustius aus den Origines des Cato herausgeschrieben hat, oder ob du besser die von Sinn und Verstand freie Wortwirbelei der asianischen Redner in unsere Redeweise einführen sollst.‘ Und obwohl er in einem Brief das Talent seiner Enkelin Agrippina lobt, sagt er: ‚Aber es ist nötig, dass du dir Mühe gibst, dass du nicht umständlich schreibst und sprichst!‘“ 13 Vgl. dazu Norden 1915, 251–264, v. a. 263 f.; Norden betont zu Recht, dass in der Passage die entsprechenden Kampfbegriffe (besonders cacozeli) fallen; vgl. Quint. inst. 8,3,56–58; Sherwin-White 1966, 417; Billerbeck 1990, 193 f.; Russell 1995, 57.
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Augustus habe zwischen beiden Positionen eine Mittelstellung eingenommen, die darin bestanden habe, beide Extreme gleichermaßen abzulehnen.14 Dies wird durch insgesamt sechs Paraphrasen und Zitate – wenigstens teilweise aus Briefen des Augustus – illustriert, von denen fünf in der Ausgabe Malcovatis (und in ELM ii15) als Brieffragmente behandelt und infolgedessen in der Forschung auch sonst so aufgefasst wurden: i (frg. 52 M [ad ignotos] = ELM ii, [151] frg. 123 [incerta]), ii (frg. 34 M [ad Maecenatem] = ELM ii, [151] 125 [incerta]), iv u. v (frg. 29 f. M [ad M. Antonium] = ELM ii, [151] frg. 38a–b [ad M. Antonium]) und vi (35 M [ad Agrippinam neptem] = ELM ii, [151] frg. 74 [ad Agrippinam neptem]). Unstreitig im Sinne meines Kriterienrasters ist die Zuordnung zu den Brieffragmenten jedoch nur für vi, wo im Zitierkontext ausdrücklich von einem Brief die Rede ist. Kompliziert gelagert ist der Fall von iv und v, die zusammengehören (deinde … addit haec16): Sueton bezeichnet sie nicht als Briefzitate und betont vielmehr bei dem folgenden Zitat aus einem Brief an Agrippina (vi) die Brieflichkeit eigens (et quadam epistula Agrippinae neptis …), was für reine Briefzitatnester bei Sueton eher ungewöhnlich wäre. Wahrscheinlicher ist, dass es sich hier um Zitate aus einem Text invektiven Charakters, vielleicht eine Art ‚Flugschrift‘, gehandelt hat.17 iv und v wurden daher nicht in mein Corpus aufgenommen, auch wenn sie aufgrund der Anreden in der zweiten Person, isoliert betrachtet, im Prinzip Briefzitate sein könnten, wenn auch nur Dubia. Die Paraphrase i, für die nicht einmal ein Adressat erkennbar wird, schließe ich aus dem Corpus aus, da für die Annahme eines brieflichen Prätextes keine inneren oder äußeren Indizien zur Verfügung stehen. ii und iii nehme ich hingegen als Dubia in das Corpus auf; zwar ist in beiden Fällen nicht ausdrücklich von Briefen die Rede, doch ist die Nennung von Adressaten im Kontext (sprevit exagitabatque … Maecenatem suum bzw. sed nec Tiberio parcit) immerhin ein Indiz;18 hinzu kommt, dass sich unter den ‚sicheren‘
14 Andere haben dagegen versucht, beide Extreme zu verbinden; vgl. Norden 1915, 252. 15 Wobei Cugusi einige der Stellen in der incerta-Rubrik aufführt, d. h. ihre Brieflichkeit, wenn auch nicht ausschließt, so doch in Zweifel zieht. 16 Vgl. Cugusi 1972, 117–118 mit Anm. 15. 17 So bereits Peter 1901, 99 mit Anm. 2; zu den propagandistischen Auseinandersetzungen zwischen Octavian und Marcus Antonius in den Jahren 44–30 v. Chr., bei der das Mittel der literarischen Invektive eine gewichtige Rolle gespielt zu haben scheint; vgl. Hose 2018, 25 f.; zum Begriff ‚Flugschrift‘ Ott 2013, 8–65; die Fragmente der Invektiven des Antonius gegen Octavian sind gesammelt bei Charlesworth 1933. Zumindest in einem Fall scheint er die Textsorte ‚Brief‘ für eine Invektive in den Dienst genommen zu haben (Suet. Aug. 69,2 = frg. 6 Ch; siehe Komm. [Ad M. Antonium], S. 110 f.), sodass es eine Schnittmenge zwischen diesen Textsorten gibt; es handelt sich dann aber nicht unbedingt um Privatbriefe. 18 So vermuteten bereits Fabricius, Ed. Imp. Aug. 1727, 149 u. 152; Lana 1975, 443 u. 454.
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III Vorbemerkungen zu Edition und Kommentar
Fragmenten von Briefen an diese beiden Adressaten Äußerungen finden, die inhaltlich gut zu diesen Paraphrasen passen.19 Nicht als eigene Nummer behandele ich Suet. Cal. 8,4 (27 M = ELM ii, [151] frg. 76), die Erwähnung einer Korrespondenz mit Germanicus in einem Zitat aus einem Brief des Augustus an Agrippina, der als solcher natürlich Berücksichtigung findet (42F). Ebenso nicht aufgenommen wird das Augustus-Zitat Isid. nat. 44,4 (45 M = ELM ii, [151] frg. 127 [incerta]). Zwar wird Augustus als Urheber der Äußerung ausgewiesen, doch erfüllt das Zitat keines meiner vier Kriterien für Brieflichkeit.20 Weniger ‚mechanisch‘ ist die Frage zu beantworten, wann es sich bei einem Brieffragment im Sinne des oben entwickelten Kriterienrasters um einen P r i v a t brief handeln soll. Wie ich den Begriff verstehe, habe ich bereits dargelegt;21 Wo ich Zeugnisse in das Corpus aufgenommen habe, die in Malcovatis Privatbriefcorpus fehlten, wird dies im Kommentar begründet. Der umgekehrte Fall liegt einmal vor, nämlich im Falle des in der Caesarvita Suetons (Iul. 56,7) bezeugten Briefes des Augustus an einen gewissen Pompeius Macer, den Malcovati als frg. 44 der Gruppe der Briefe privaten Inhalts zugeordnet hatte (ELM ii, [151] frg. 80): Feruntur et †aitvero† ab adulescentulo quaedam scripta, ut ‚Laudes Herculis‘, tragoedia ‚Oedipus‘, item dicta collectanea, quos omnis libellos vetuit Augustus publicari in epistula quam brevem admodum ac simplicem ad Pompeium Macrum, cui ordinandas bibliothecas delegaverat, misit.22
Unstreitig handelt es sich hier um eine Briefparaphrase, doch dem Anschein nach eben nicht um die Paraphrase eines Privatbriefes. Selbstverständlich ist es schwer, aus einem so knappen Zeugnis belastbare Rückschlüsse zu ziehen, doch liefert
19 Vgl. Komm. zu 13F u. 25F. 20 S. o., S. 69 u. Komm. zu 12F. Hermann Peter ordnete die Stelle in seinen Historicorum Romanorum reliquiae (Peter 1870–1906 ii, 64) als frg. 24 Augustus’ De vita sua zu; vgl. dazu auch Smith, FRH i, 456. 21 S. o., S. 7–11. 22 Üb.: „Man kennt auch aus seiner Jugend noch einige Schriften wie ‚Das Lob des Hercules‘, eine Tragödie mit dem Titel ‚Ödipus‘ und gesammelte Aussprüche. In einem Brief, den er ganz kurz und bündig an Pompeius Macer schickte, dem er die Ordnung der Bibliotheken aufgetragen hatte, verbot Augustus, all diese Bücher zu veröffentlichen.“ In diesem Brief untersagt Augustus Pompeius Macer, seinem „Bibliotheksdirektor“ (Büchner 1961, 340; siehe jedoch S. 6 mit Anm. 20), wohl entweder, die aufgezählten angeblichen Jugendwerke Caesars in einer bereits bestehenden Bibliothek zugänglich zu machen oder sie in eine im Aufbau befindliche Bibliothek zu integrieren; vgl. dazu P. White 1992, 213 f.; Spahlinger 2003, 117.
2 Anordnung der Fragmente und Testimonien
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Sueton hier immerhin einige Anhaltspunkte:23 Der Adressat wird als eine Person vorgestellt, die von Augustus in eine bestimmte Aufgabe eingesetzt worden ist, und allein diese Funktion scheint Anlass dafür, dass Augustus ihm geschrieben hat. Der sich in dem Brief manifestierende Kommunikationsakt wird mit dem Verb vetare beschrieben, ist also in hohem Maße normativ und passt somit auch eher zum amtlich-offiziellen Handlungsbereich.24
2 Anordnung der Fragmente und Testimonien „es ist die alte geschichte von dem mann mit dem esel, und der editor muß sich mit dem resignierten weisheitssatze trösten ‚wie manʼs macht, macht manʼs falsch‘.“ Felix Jacoby (FGrHist ii/a, iii)
Die Frage, wie die vorhandenen ‚Bruchstücke‘ eines sekundärüberlieferten Textes oder Textcorpus in einer Edition anzuordnen sind, ist ein notorisches Problem der Editionsphilologie: Auf der einen Seite steht das natürliche Bedürfnis, zu rekonstruieren, d. h. über die Anordnung der Fragmente zumindest in Grundzügen ein Gesamtbild des ursprünglichen Textzustandes zu gewinnen. Auf der anderen Seite steht Felix Jacobys berechtigtes Postulat, dass eine Fragmentedition möglichst unter Ausschaltung aller subjektiven Erwägungen den antiken Überlieferungszustand abzubilden habe, um mit der Edition eine Arbeitsgrundlage zu liefern, die frei ist von spekulativer Kontamination.25 Eine rekonstruierende Anordnung ist jedoch immer insoweit zulässig, wie die Überlieferung uns hierzu ein Mittel an die Hand gibt: So können beispielsweise viele Zitate aus den Annales des Ennius problemlos den Büchern des Epos zugeordnet werden, weil diese von den zitierenden Autoren häufig genannt werden. Wenn dann noch die Grundzüge der ‚Handlung‘ bekannt sind, gibt es eine gute Grundlage, auf der die einzelnen Bücher hypothetisch, aber plausibel rekonstruiert werden können. Im Falle von sekundärüberlieferten Briefen oder Briefsammlungen ist die Lage allerdings deutlich komplizierter, weil Briefe situationsgebunden sind und es übergreifende ‚Handlungsbögen‘ allenfalls punktuell gibt. Auch gibt es in der Antike nur bedingt so etwas wie etablierte Ordnungsprinzipien für Briefsammlungen – ganz davon abgesehen, dass sich nur selten im Einzelfall beweisen lässt, dass ein Brief in eine konkrete Samm-
23 Vgl. zur Herkunft des Dokuments (kaum aus einem ‚kaiserlichen Archiv‘!) De Coninck 1983, 77 mit Anm. 135. 24 Vgl. Brinker et al. 2014, 104 f. u. 143. 25 Vgl. Jacoby, FGrHist i/a, viii; vgl. zu dem Problem auch Schepens 2000, 17–20; Trachsel 2017, 23–25; Wöhrle 2022, 400.
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III Vorbemerkungen zu Edition und Kommentar
lung integriert war. Wenn wir überlegen, nach welchen Kriterien die Fragmente der Augustus-Briefe angeordnet werden könnten, liefern die in Kapitel ii formulierten Überlegungen wenigstens einen Rahmen. Die in den älteren Ausgaben aus eher pragmatischen Gründen26 vorgenommene, keineswegs selbstverständliche Sortierung der Fragmente nach Adressaten als primäres Organisationsprinzip ist im konkreten Fall unbedingt beizubehalten, weil diese Anordnung ist für im ersten Jahrhundert postum publizierte Privatkorrespondenzen im Allgemeinen zu erwarten und für die Augustus-Korrespondenzen im Speziellen in wenigstens einem Fall, der Korrespondenz Ad Gaium nepotem (Gell. 15,7), explizit belegt ist. Wie aber auf der Makroebene die Adressaten anzuordnen sind, ist eine andere Frage: Nicht für jeden Adressaten darf einfach so ein eigener liber postuliert werden (es sei nochmals auf die Mischkorrespondenzen unter den ciceronischen Ad familiares-Sammlungen verwiesen) und es gibt auch Adressaten, für die eine veröffentlichte Korrespondenz nach Lage der zur Verfügung stehenden Informationen gar nicht angenommen werden sollte (hier ist vor allem Atticus zu nennen27). Die Edition kann also aufgrund der fehlenden Informationen über Anzahl und Zusammensetzung der Bücher nicht das Ziel verfolgen, einzelne libri zu rekonstruieren, wenn man von dem Fall der Briefe an den Enkel Gaius Caesar absieht, sondern bestenfalls die bekannten Korrespondenzen, die jeweils den Umfang eines liber gehabt, genauso aber auch nur Teil eines Buches gewesen sein oder sogar mehrere Bücher umfasst haben können. Ich habe mich daher dafür entschieden, die Adressaten nach einem möglichst ‚neutralen‘, d. h. nicht-rekonstruierenden Kriterium, nämlich ihrem Geburtsjahr, anzuordnen, sodass Atticus den Anfang macht. Lucius Vinicius, über dessen Geburtsjahr wir keinerlei Kenntnis haben, habe ich als letzten der namentlich bekannten Adressaten eingeordnet.28 Ganz am Ende stehen die Briefe, für die ein Adressat gar nicht bestimmt werden kann (Ad incertos). Auf der Mikroebene stellt sich dann die Frage, wie die Überreste von Briefen an einen bestimmten Adressaten (bzw. die ad incertos) angeordnet werden sollen. Der Vergleich mit anderen postum veröffentlichten Korrespondenzen der Zeit spricht im Prinzip für eine chronologische Anordnung, wobei hier anzumerken ist, dass es innerhalb der Cicero-Korrespondenzen durchaus auch Abweichungen von der Chronologie gibt; teilweise ist dies Fehlern, teilweise vielleicht aber auch der Absicht der Herausgeber geschuldet. Abgesehen davon würden sich bei dem Versuch einer
26 Vgl. Weichert, Ed. Imp. Aug. 1846, 150; Malcovati, Ed. Imp. Aug. 1969, xxv; bei Cugusi (ELM ii) folgt die Anordnung der Fragmente ohnehin den übergeordneten Kriterien des Großvorhabens. 27 Siehe dazu S. 52. 28 Es wäre aus inhaltlichen Gründen zu überlegen, ob dieser Brief vielleicht eine Beilage zu einer Korrespondenz Ad Iuliam filiam gewesen sein könnte, s. o., S. 45 Anm. 123.
3 Die Edition
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chronologischen Reihung zwei schwerwiegende Probleme ergeben, nämlich zum einen, dass in der Praxis nur ein sehr geringer Teil der Briefe überhaupt datiert werden kann – und dies zumeist auch nur relativ –, und zum anderen, dass gelegentlich von einem Autor mehrere Fragmente von Briefen an ein und denselben Adressaten hintereinander zitiert oder paraphrasiert werden. Da die entsprechenden Zitierkontexte für die im Kommentar folgende Interpretation der Fragmente aber von großer Bedeutung sein können, ist es der Benutzbarkeit der Edition abträglich, diese Zitatnester zum Zwecke einer oft genug hypothetisch bleibenden chronologischen Reihung ‚auseinanderzureißen‘. Ich habe mich daher dafür entschieden, so vorzugehen, wie Hermann Diels in solchen Fällen in den Fragmenten der Vorsokratiker verfahren ist, also den Versuch einer rekonstruierenden Reihung von vorneherein zu unterlassen und die Fragmente innerhalb einer Korrespondenz – in beabsichtigter Willkür – alphabetisch nach den zitierenden Autoren zu ordnen;29 wo mehrere Fragmente oder Fragmentkomplexe aus einer Korrespondenz demselben Autor zu verdanken sind, nach der (wahrscheinlichen) chronologischen Reihenfolge der Werke und dann nach der Reihenfolge in einer bestimmten Schrift.30 Auf die Möglichkeiten und Grenzen einer Datierung der Fragmente wird dann im Kommentar eingegangen. Die Testimonien werden jeweils vor den Fragmenten aufgeführt. Die Fragmente und Testimonien werden in der sich ergebenden Reihenfolge durchnummeriert, wobei jeweils mit einem T oder F gekennzeichnet wird, um welchen Typus von Sekundärüberlieferung es sich handelt.
3 Die Edition 3.1 Aufbau der einzelnen Katalognummern Beim Aufbau der einzelnen Nummern in der Edition orientiere ich mich lose an den Editionsrichtlinien der FGrHist Continued.31 Zunächst zu den Fragmenten: Sowohl bei Zitaten in direkter als auch bei Zitaten in indirekter Rede (Paraphrasen)32 wird der Kontext der Fragmente, soweit er inhaltlich mit dem Brief in Zusammenhang steht, in petit mitabgedruckt. Hierbei werden Äußerungen, die für den Charakter des Zitats bzw. der Paraphrase als Brieffragment, die Urheberschaft des Augustus 29 Vgl. Diels/Kranz 1951–1952 i, viii. 30 Suetons Augustusvita z. B. vor dessen Tiberiusvita; Kapitel 10 der Augustusvita vor Kapitel 20 usw. 31 Vgl. dazu Schepens, FGrHist iv/a/1, xii–xiv. 32 In FGrHist iv wird nur der Kontext von Zitaten in indirekter Rede petit gedruckt, ich verfahre der Einheitlichkeit halber bei allen Zitaten so.
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III Vorbemerkungen zu Edition und Kommentar
oder die Bestimmung des Adressaten relevant sind, unterstrichen. Verbatim-Zitate werden durch S p e r r d r u c k hervorgehoben, Paraphrasen werden – anders als in den FgrHist – kursiv gedruckt.33 Unter einem Zitat verstehe ich nach der Definition Ute Tischers eine „partielle Kopie oder Wiederholung des zitierten Textes …, die von den Entscheidungen und Intentionen des zitierenden Autors geleitet ist.“34 Ein direktes Zitat unterscheidet sich von einem indirekten Zitat bzw. einer Paraphrase dadurch, dass der wiederholte Text nicht innerhalb des deiktischen Systems des zitierenden Texts syntaktisch untergeordnet, sondern parataktisch neben den zitierenden Text gestellt wird, indem ein ‚Sprecherwechsel‘ bzw. eine Verschiebung der Origo von der zitierenden Instanz hin zu der Sprecherinstanz des zitierten Textes stattfindet (‚doppelte Deixis‘).35 Als direkte Zitate werden auch einzelne Wörter behandelt, wenn aus dem Kontext ersichtlich ist, dass sie genau in der angegebenen Form im Prätext gestanden haben müssen. Unter einer Paraphrase verstehe ich eine ohne Wechsel des deiktischen Bezugsrahmens realisierte Wiedergabe eines Textes, z. B. die Wiedergabe in Oratio obliqua, die eine starke Prätextnähe zumindest suggeriert, oder eine zusammenfassende Inhaltsangabe, also all das, was die Narratologie als ‚transponierte Rede‘ bezeichnet.36 Auch werden Einzelworte, bei denen eine syntaktische Anpassung an den Zitierkontext stattgefunden haben könnte, als Paraphrasen behandelt. Es sind auch Mischfälle aus direktem und indirektem Zitat möglich; in diesem Fall wird dies typographisch entsprechend unterschiedlich dargestellt. Anders als in FGrHist werden Zitate vom Kontext zusätzlich durch Einrückung abgegrenzt und jeweils mit einer eigenen Zeilenzählung versehen. Der Fundort des Fragments steht am Anfang vor dem Zitierkontext. In einer Kopfzeile werden die Nummer des Fragments und danach in Klammern gegebenenfalls die Nummern bei Malcovati und Cugusi (ELM ii) angegeben. Ein hochgestelltes × nach der Nummer bezeichnet ein dubium. Testimonien, also bloße Bezeugungen von Briefen in ‚erzählter Rede‘, werden in dem Umfang abgedruckt, dass der Kontext für die Erwähnung der Briefe hinreichend ersichtlich wird;37 auch hier werden Äußerungen unterstrichen, aus denen ersichtlich wird, dass es um Briefe geht, dass diese von Augustus geschrieben wurden oder wer der Adressat ist.
33 Die Grenzen der Zitate und Paraphrasen sind dann gegebenenfalls im Kommentar zu diskutieren. 34 Tischer 2015, 336; vgl. auch Tischer 2018, 11. 35 Vgl. dazu G. Volkmann 2010, bes. 21 f. 36 Vgl. die Übersicht bei Martinez/Scheffel 2002, 62. 37 Da viele der Testimonien bereits in Kapitel ii ausführlicher diskutiert wurden, werden diese in der Edition jedoch nicht nochmals abgedruckt und übersetzt, sondern es wird auf die entsprechenden Stellen in der Arbeit verwiesen.
3 Die Edition
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Am Ende der einzelnen Nummern finden sich (wo nötig) zwei Apparate: Zunächst ein Apparat, in dem Stellen aufgeführt werden, in denen derselbe Brief sekundärüberliefert ist, die aber nicht zur Grundlage der Edition gemacht wurden, beispielsweise weil sie den Brief in weniger ergiebiger Form bieten (z. B. nur Paraphrase statt wörtliches Zitat) oder weil sie in der Überlieferung gegenüber der zugrunde gelegten Fundstelle sekundär sind.38 Dann ein kritischer Apparat; dieser bezieht sich jeweils nur auf die Zitate bzw. Paraphrasen und nicht auf den Kontext.39 Außerdem erhebt der Apparat nicht den Anspruch, alle Varianten und Konjekturen an den jeweiligen Stellen aufzuführen, sondern beschränkt sich auf diejenigen textkritischen Probleme, die im Kommentar thematisiert werden.40 Die Siglen werden in der Regel aus der zugrundeliegenden Ausgabe übernommen; siehe dazu das folgende Unterkapitel. Konjekturen werden, soweit möglich, direkt im Apparat bibliographisch nachgewiesen.
3.2 Editionen, Siglen und Textkritik Dem Vorbild älterer Fragmenteditionen folgend beruhen die Texte in der Edition nicht auf einer eigenen, systematischen Auswertung der handschriftlichen Überlieferung, sondern auf den derzeit maßgeblichen kritischen Ausgaben41 zu den zitierenden Autoren bzw. deren Werken – gegebenenfalls in Verbindung mit weitergehenden, jüngeren Forschungsergebnissen.42 Die Handschriften selbst habe ich nur einzelfallsweise, etwa im Falle schwerwiegender textkritischer Probleme oder in Fällen, in denen sich die Apparate älterer Ausgaben widersprechen, noch einmal selbst eingesehen, sofern Digitalisate verfügbar waren. Im Folgenden nenne ich die maßgeblichen kritischen Editionen der Texte, in denen die in die Edition aufgenommen Brieffragmente zu finden sind, und (nach einigen einführenden Bemerkungen für die im Rahmen dieser Arbeit wichtigeren Autoren) die Siglen der jeweiligen Handschriften, sofern sie für die Edition der Fragmente in dieser Arbeit relevant sind, in einer jeweils an das Stemma angelehnten von links nach rechts hierarchisierten Form. Sofern nichts Anderes vermerkt
38 Letztere werden in Klammern angegeben. 39 Sollten im Kontext schwerwiegende textkritische Probleme bestehen, werden diese dort in Klammern vermerkt. 40 Vgl. zu diesem Vorgehen Schepens 2000, 13. 41 Die Auswahl orientiert sich im Wesentlichen am Index des Thesaurus linguae Latinae bzw. an der Liste „Autores y obras“ des Diccionario Griego – Español (siehe Bibliographie, S. 275). 42 Vgl. dazu auch Schepens, FGrHist iv/a/1, xiii; Schepens 2000, 13; Trachsel 2017, 18–20; Wöhrle 2022, 398 Anm. 62.
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III Vorbemerkungen zu Edition und Kommentar
ist, stimmen die Siglen mit den in der jeweils maßgeblichen Edition verwendeten Siglen überein. Für diejenigen Handschriften, die ich in digitalisierter Form selbst eingesehen habe, wird der Link zu dem Digitalisat in einer Fußnote angegeben. Appian, Bella civilia Appiani historia Romana, Bd. 2, ed. L. Mendelsohn/P. Viereck, Bibliotheca Teubneriana (Leipzig 1905).
Charisius, Ars grammatica Charisii artis grammaticae libri v, ed. C. Barwick, Bibliotheca Teubneriana (Leipzig 1964).
Cicero, Epistulae ad Atticum M. Tulli Ciceronis epistulae ad Atticum, 2 Bde., ed. D. R. Shackleton Bailey, Bibliotheca Teubneriana (Stuttgart 1987).
Donatus, Vita Vergilii Vitae Vergilianae antiquae, ed. G. Brugnoli/F. Stok (Rom 1997), viii–xviii (praefatio) u. 9–56 (Text). ω
z w
M | München, Bayer. Staatsbibl., Clm 305–ii (11./12. Jh.) y D | Vatikanstadt, Bibl. Vat., Ottob. lat. 3313 (11. Jh.) P | Paris, Bibl. nationale de France, lat. 11308 (9. Jh.) u A | Paris, Bibl. nationale de France, lat. 16236 (10. Jh.) B | Bern, Burgerbibl., 172 (9./10. Jh.) E | Paris, Bibl. nationale de France, lat. 7930 (11. Jh.) R | Vatikanstadt, Bibl. Vat., Reg. lat. 1495 (10./11. Jh.) G | St. Gallen, Stiftsbibl., 862 (10. Jh.) V | Vatikanstadt, Bibl. Vaticana, lat. 1575 (12. Jh.)
Gellius, Noctes Atticae Auli Gelli Noctes Atticae, ed. L. Holford-Strevens, Oxford Classical Texts (Oxford 2020).
Die Noctes Atticae des Gellius weisen eine geteilte Überlieferung auf: Die Bücher 1–7 und die Bücher 9–20 (Buch 8 ist verloren) haben unabhängig voneinander eine eigene handschriftliche Überlieferung.43 Da die drei bei Gellius überlieferten
43 Vgl. dazu P. K. Marshall, TTr, Art. Aulus Gellius, 176–180.
3 Die Edition
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Augustus-Brieffragmente aus dem zehnten und fünfzehnten Buch stammen, muss hier nur auf die Überlieferung des zweiten Teils eingegangen werden. Die stemmatische Einteilung der Handschriften in drei Familien, von denen eine allein durch eine Leeuwardener Handschrift (F) vertreten wird, unterscheidet sich zwischen den Ausgaben von Marshall (1990) und Holford-Strevens44 kaum,45 nur dass letzterer hier (ohne Konsequenzen für die Brieffragmente) einige zusätzliche Textzeugen berücksichtigt hat. Hinzu kommt als wichtige Sekundärüberlieferung das in einer eigenen handschriftlichen Tradition überlieferte sogenannte Florilegium Valerio-Gellianum. F | Leeuwarden, Tresoar (Frysk Histoarysk en Letterkundich Sintrum), 55 (836) γ O | Vatikanstadt, Bibl. Vat., Reg. lat. 597 (9. Jh.) X | Leiden, Univ.-bibl., Voss. F112 (10. Jh.) π Π | Vatikanstadt, Bibl. Vat., Reg. lat. 1646 (1170) κ G | Paris, Bibl. nationale de France, lat. 13038 (12. Jh.) v | Vatikanstadt, Bibl. Vat., Vat. lat. 3452 (57r–133r) (12. Jh.) N | Florenz, Bibl. Nazionale Centrale, J.4,26 (15. Jh.) δ B | Bern, Burgerbibl., 404 = Leiden, Bibl. Univ., B.P.L. 1925 (12. Jh.) Q | Paris, Bibl. nationale de France, lat. 8664 (13. Jh.)46 Z | Leiden, Univ.-bibl., Voss. F7 (13. Jh.) D |Göttingen, Niedersächsische Staats- und Univ.-bibl., Philol. 162 (15. Jh.) Φ | Florilegium Valerio-Gellianum (11. Jh.) τ T | Paris, Bibl. nationale de France, lat. 4925 (12. Jh.) Y | Vatikanstadt, Bibl. Vaticana, lat. 3307 (13. Jh.) η H | Paris, Bibl. nationale de France, NAL 1777 (1382) M | Florenz, Bibl. Marucelliana, C220 (15. Jh.)
Isidor von Sevilla, Etymologiae sive Origines Isidore de Séville. Étymologies Livre i. La grammaire, ed. O. Spevak, Auteurs Latins du Moyen Âge 31 (Paris 2020); zu Buch 1.47 Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum libri xx, ed. W. M. Lindsay, Oxford Classical Texts (Oxford 1911).
44 Vgl. zu dieser auch den Begleitband Holford-Strevens 2020. 45 Die Annahme eines dreigeteilten Stemmas für diesen Teil der Gellius-Überlieferung ist freilich nicht unumstritten; vgl. v. a. Gamberale 1975, bes. 49–55. 46 Digitalisat: https://archivesetmanuscrits.bnf.fr/ark:/12148/cc67966z (10.02.2023). 47 Auch für die übrigen Bücher liegen z. T. Spezialausgaben vor; da das einzige hier relevante Zeugnis aus dem ersten Buch stammt, werden diese hier nicht aufgeführt.
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III Vorbemerkungen zu Edition und Kommentar
Der Text der Etymologiae bzw. Origines ist in drei Textfassungen überliefert, die man seit Lindsay als α (die „französische Familie“), β (die „italienische Familie“) und γ (die „spanische Familie“) bezeichnet und deren stemmatisches Verhältnis zueinander nicht abschließend geklärt ist. α und γ bieten einen gegenüber β erweiterten Text und gemeinsame variae lectiones.48 Die seit 1983 in Paris erscheinenden neueren Editionen zu den einzelnen Büchern versuchen in der Regel, sich am γ-Text zu orientieren, hinter dem sich vielleicht die Ausgabe des Braulio verbirgt.49 α β γ
A | Mailand, Bibl. Ambrosiana, L99 sup. (8. Jh.) B | Bern, Burgerbibl., 101 (9. Jh.) C | Leiden, Univ.-bibl., Voss. F74 (9. Jh.) I | Brüssel, KBR, ii 4856 (8. Jh.) K |Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Cod. Guelf. 64 Weiss. (8. Jh.) L | Vatikanstadt, Bibl. Vat., Vat. Lat. 5763 (8. Jh.) M | Cava de’ Tirreni, Bibl. Statale del Monumento Nazionale Badia di Cava, 2 (xxiii) (8. Jh.) T | Madrid, Bibl. Nacional de España, Vitr. 14,3 (8. Jh.) U | San Lorenzo de El Escorial, Real Sitio de San Lorenzo de El Escorial, T ii 24 (9. Jh.) W | San Lorenzo de El Escorial, Real Sitio de San Lorenzo de El Escorial, P i 7 (9. Jh.) X | St. Gallen, Stiftsbibl., 237 (8. Jh.)
Macrobius, Saturnalia Macrobii Ambrosii Theodosii Saturnalia, ed. R. A. Kaster, Oxford Classical Texts (Oxford 2011). ω
α β
N | Neapel, Bibl. Nazionale, V. B. 10 (9. Jh.) D | Oxford, Bodleian Library, Auct. T. 2. 27 (10./11. Jh.) G | Straßburg, BNU, 14 (11. Jh.) P | Paris, Bibl. nationale de France, lat. 6371 (11. Jh.) β1 V | Vatikanstadt, Bibl. Vaticana, Reg. lat. 1650 (9. Jh.)50 β2 R | Vatikanstadt, Bibl. Vaticana, Reg. lat. 2043 (10./11. Jh.)
Marius Victorinus, Ars grammatica Marii Victorini Ars grammatica. Introduzione, Testo critico e Commento, ed. I. Mariotti (Florenz 1967).
48 Vgl. P. K. Marshall, TTr, Art. Isidore, 194–196; Spevak, Ed. Isid. orig. (1) 2020, lxxxvi–lxxxviii schlägt eine Art Stemma vor, in dem β die ‚erste Version‘ des Textes ist. Sie postuliert eine erweiterte, zweite Version des Textes als Archetyp für α und γ; vgl. dazu und zu Spevaks Ausgabe die Rezension Steinová 2020, bes. 316. 49 Vgl. P. K. Marshall 2012, 10 (speziell zu Buch 2); Spevak, Ed. Isid. orig. (1) 2020, lxxxviii. Zur Textgenese der Etymologiae vgl. jetzt Elfassi 2020, 248 f. 50 Digitalisat: https://digi.vatlib.it/view/MSS_Reg.lat.1650 (09.02.2023).
3 Die Edition
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Nepos, Atticus Cornelii Nepotis Vitae cum fragmentis, ed. P. K. Marshall, Bibliotheca Teubneriana (Leipzig 1977), 89–101.
Nikolaos von Damaskus, Vita Caesaris Nicolaus of Damascus. The Life of Augustus and the Autobiography. Edited with Introduction, Translations and Historical Commentary, ed. M. Toher (Cambridge 2017).
Plinius d. Ä., Naturalis historia C. Plini Secundi Naturalis historiae libri xxxvii, 6 Bde., ed. L. Ian/C. Mayhoff, Bibliotheca Teubneriana (Leipzig 1892–1909; ND Stuttgart 1967–1970).
Priscian, Institutiones grammaticae Prisciani grammatici Caesariensis Institutionum grammaticarum libri xviii, ed. M. Hertz, Grammatici Latini ex recensione Henrici Keilii 2–3 (Leipzig 1855–1859).
Für die Bücher 1–16 der Institutiones grammaticae zieht Hertz hauptsächlich neun Handschriften heran; die einzige varia lectio für das aus dem zehnten Buch stammende Brieffragment findet sich in der Handschrift B (Bamberg, Staatsbibl., Msc. Class 43 [9. Jh.]).51 Quintilian, Institutio oratoria M. Fabi Quintiliani Institutionis oratoriae libri duodecim, 2 Bde., ed. M. Winterbottom, Oxford Classical Texts (Oxford 41991).
Sueton, De vita Caesarum De vita Caesarum libri viii et de grammaticis et rhetoribus liber, ed. R. A. Kaster, Oxford Classical Texts (Oxford 2016).
Ein Großteil der erhaltenen Fragmente der Privatbriefe des Augustus geht auf die Kaiserviten Suetons, genauer die Augustus-, die Tiberius-, die Caligula- und die Claudiusvita, zurück. Günstigerweise liegt hier mit der 2016 erschienenen kritischen Ausgabe Robert A. Kasters eine sehr zuverlässige Edition vor, die ihren Vorgän-
51 Digitalisat: https://www.digitale-sammlungen.de/de/details/bsb00140753 (09.02.2023).
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III Vorbemerkungen zu Edition und Kommentar
gerinnen52 nicht zuletzt ein erstmalig erstelltes, sehr überzeugendes Stemma53 voraus hat. Für Kaster stammen die insgesamt achtzehn kollationierten Handschriften, von denen elf im Apparat zitiert werden, von zwei Hyparchetypen ab: dem Hyparchetyp α, einer verlorenen Handschrift, die etwa um die Wende vom achten zum neunten Jahrhundert entstanden ist, und dem Hyparchetyp β, einer Handschrift aus dem späten elften Jahrhundert, die insgesamt einen schlechteren Text geboten hat. Eine erhebliche Aufwertung gegenüber den älteren Editionen erfährt der Textzeuge V, für den Kaster eine unmittelbare Abhängigkeit von α nachweist, während die übrigen Vertreter dieser Familie, darunter die älteste Handschrift M aus dem neunten Jahrhundert, über weitere Hyparchetypen (α1, α2) nur indirekt von α abhängen. Die Kritik gegenüber Kasters Ausgabe, sowohl im Hinblick auf das Stemma als auch im Hinblick auf konkrete textkritische Entscheidungen, beschränkte sich bislang vornehmlich auf einige wenige, insgesamt weniger bedeutende Einzelfragen.54 Auf die Prinzipien zielende Kritik, die allerdings gleichermaßen auch für die Vorgängerausgaben gilt, wurde lediglich im Hinblick auf Kasters Umgang mit den Rekonstruktionen der durchaus zahlreichen – und gerade im Rahmen der vorliegenden Arbeit bedeutsamen – griechischen Passagen in De vita Caesarum geübt, die in den Handschriften bisweilen bis zur Unkenntlichkeit falsch abgeschrieben wurden und entsprechend oft mehr ope ingenii als ope codicum rekonstruiert werden mussten und müssen. Diese Konjekturen verfolgt Kaster im Apparat jeweils zurück bis zu den frühen Drucken55 und den von ihm herangezogenen Recentiores56, die er mit der Sigle ς bezeichnet. Viele dieser Konjekturen finden sich so jedoch bereits in den Randglossen zweier von Kaster nicht ausgewerteten Recentiores aus dem 13. Jahrhundert (Hs. Florenz, Bibl. Medicea Laurenziana, Plut. 20 sin. 3 und Hs. Rom, Bibl. Vallicelliana, 26/2). Diese Glossen stammen sehr wahrscheinlich von dem byzantinischen Gelehrten Manuel Chrysoloras (1350–1415),57 der von 1390 bis zu seinem Tod als Gesandter des oströmischen Kaisers in Italien sowie
52 Zu nennen sind vor allem die Ausgaben von Roth (Ed. Suet. 1858), PreudʼHomme (Ed. Suet. 1906) und Ihm (Ed. Suet. 1907 [editio maior] u. 1908 [editio minor]); vgl. auch Tibbets, TTr, Art. Suetonius (De vita Caesarum), 399–404. 53 Ausführlich begründet bei Kaster 2016, 3–45. 54 Vgl. die Rezensionen: Ausführlicher mit dem Stemma beschäftigt sich Dolveck 2017. Einzelheiten zum Text finden sich bei Ohst 2017; Chassignet 2017; Wardle 2018; Stok 2020. Vgl. zu beidem auch Briscoe 2018. 55 Kaster, Ed. Suet. 2016, lix–lxii. 56 Kaster, Ed. Suet. 2016, xlii–xliv. 57 Zu Chrysoloras’ Urheberschaft der Glossen im Vallicellianus vgl. Fera 1993, 34 f., im Mediceus Rollo 2002, 401–403; außerdem Rollo 2018, 613. Eine detaillierte Studie zum Umgang mit den griechischen Passagen der Kaiserviten in der Zeit des Humanimus ist Rollo 2020.
3 Die Edition
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beim Konstanzer Konzil wirkte und sich von 1396 bis 1400 in Florenz aufhielt.58 Er wäre demnach als der Urheber dieser Konjekturen bei Sueton zu betrachten59 und entsprechend im Apparat zu berücksichtigen.
Abb. 3: Chyrsoloras-Glossen zu Suet. Claud. 4,1 (23F): ἄρτιος für artius, ὁλόκληρος für holocleros (Hs. Florenz, Bibl. Medicea Laurenziana, Plut. 20 sin. 3, fol. 58r)
Zu diesem Zweck habe ich Abbildungen der genannten Handschriften gesichtet60 und die Chrysoloras zugeschriebenen Konjekturen (sie sind in allen im Rahmen dieser Arbeit relevanten Fällen in beiden Handschriften identisch) mit der Sigle χ eingearbeitet. ω
α
β
α1 M | Paris, Bibl. nationale de France, lat. 6115 (9. Jh.)61 G | Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Cod. Guelf. 268 Gud. lat. (11. Jh.)62 V | Vatikanstadt, Bibl. Vat., Vat. lat., 1904 (11. Jh.), nur bis Cal. 3,363 α2 L | Florenz, Bibl. Medicea Laurenziana, Plut. 68.7 (12. Jh.) γ S | Montpellier, Faculté de medicine, 117 (12. Jh.) δ N | Vatikanstadt, Bibl. Vat., Reg. lat. 833 (12. Jh.) ε P | Paris, Bibl. nationale de France, lat. 5801 (11./12. Jh.) O | Florenz, Bibl. Medicea Laurenziana, Plut. 66.39 (12. Jh.) β1 R | London, British Library, 15 C. iii (12. Jh.) ζ C | Oxford, Bodleian Library, Lat. class. D. 39 (12. Jh.) H | London, British Library, 16 C. iv (13. Jh.) β2 D | Durham, Cathedral Library, C. iii. 18 (11. Jh.)
58 Vgl. zuletzt Kolovou 2019, 330 f. 59 Ähnliche Glossen des Chrysoloras kennt man auch aus einer Handschrift der Epistulae ad Atticum Ciceros (Hs. Florenz, Bibl. Medicea Laurenziana, Plut. 49.18); vgl. dazu Detlefsen 1863, 566 f.; Voigt 1879, 53 f.; O. E. Schmidt 1887, 349–351; Leighton 1890, 78 f. 60 Ich danke Herrn Dr. Antonio Rollo (Neapel) sehr herzlich für die Bereitstellung seiner photographischen Aufnahmen des Vallicellianus. Für den Laurentianus liegt ein frei zugängliches Digitalisat vor: http://mss.bmlonline.it/s.aspx?Id=AWOMq8FoI1A4r7GxMYFH&c=Svetonii%20Vitae%20 XII20Caesarum#/book (09.02.2023). 61 Digitalisat: https://archivesetmanuscrits.bnf.fr/ark:/12148/cc65167j (09.02.2023). 62 Digitalisat: http://diglib.hab.de/mss/268-gud-lat/start.htm (09.02.2023). 63 Digitalisat: https://digi.vatlib.it/view/MSS_Vat.lat.1904 (09.02.2023).
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III Vorbemerkungen zu Edition und Kommentar
η Q | Paris, Bibl. nationale de France, lat. 5802 (12. Jh.) θ K | Cambridge. University Library, Kk 5.24 (12. Jh.) A | Soissons, Bibl. municipiale, 19 (13. Jh.) ς1–33 | Recentiores; vgl. Kaster, Ed. Suet. 2016, xlii–xliv χ | Chrysoloras zugeschriebene Glossen in den Hss. Florenz, Bibl. Medicea Laurenziana, Plut. 20 sin. 3 und Rom, Bibl. Vallicelliana, 26/2 (beide 13. Jh.)
Sueton, Vita Horatii Horatius. Opera, ed. Fr. Klingner, Bibliotheca Teubneriana (Leipzig 1959), 1*–4*.
Die Horazvita Suetons ist in mehreren Handschriften gemeinsam mit den Werken des Horaz bzw. Horazkommentaren wie dem des Pseudo-Acron überliefert.64 Zugrunde gelegt wird hier der Text in der Horaz-Ausgabe Klingners, nicht zuletzt deswegen, weil deren Paginierung und Zeilenzählung gemäß dem ThLL-Index für die Zitation der Vita maßgebend ist.65 codd. F φ | Paris, Bibl. nationale de France, lat. 7974 saec. IX ψ | Paris, Bibl. nationale de France, lat. 7971 saec. X λ | Paris, Bibl. nationale de France, lat. 7972 saec. IX p | Paris, Bibl. nationale de France, lat. 8214 saec. XII ς | Exzerpte, die sich in den Handschriften Melk, Stiftsbibl., 177 (11. Jh.); München, Staatsbibl., lat. 375 (11./12. Jh.) und Paris, Bibl. nationale de France, lat. 7977 (11. Jh.) finden.
Abweichungen vom Text der jeweiligen Referenzausgaben nehme ich nur sehr behutsam vor und begründe sie stets im Kommentar.66 In einem Aspekt habe ich mich jedoch zu einer Vereinheitlichung entschlossen, die teilweise zu Abweichungen von den Ausgaben führt: Dies betrifft den Fall, dass griechische Wörter oder Passagen in lateinischen Handschriften bisweilen in lateinischen Buchstaben überliefert sind, ohne dass sicher festgestellt werden kann, ob sie ursprünglich bereits so geschrieben wurden oder ob die Transkription im Laufe der Überlieferungsgeschichte vorgenommen wurde;67 die Herausgeber haben dies jeweils
64 Vgl. zur Überlieferung ausführlich Formenti 2018, 104–106; Stachon 2021, 27 f. 65 M. Stachons neue Ausgabe der Dichterviten Suetons (Stachon 2021) ist insbesondere aufgrund der reichen Kommentierung ohne Zweifel sehr verdienstvoll, aber ich bin nicht sicher, ob sich sein Text als maßgebliche Ausgabe der Dichterviten durchsetzen wird bzw. sollte; vgl. dazu auch die in dieser Hinsicht kritischen Rezensionen Schmitzer 2022, 183; Ullrich 2022, 179. 66 Vgl. zu diesem Vorgehen Edelstein/Kidd 1972–1999 i, xxiii. 67 Zu dem Problem im Allgemeinen vgl. Pelttari 2011, der als Ursachen neben der ‚Inkompetenz‘ mittelalterlicher Kopisten auch spätantike Schriftentwicklung und Schreibgewohnheiten in den Fokus rückt. Im Speziellen zu Sueton Rollo 2018; zu Gellius Holford-Strevens 2020, x f.; zu Macrobius Kaster, Ed. Macr. Sat. 2011, xxviii–xlv.
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unterschiedlich gehandhabt. Abgesehen von der (eher ästhetischen) Frage der Einheitlichkeit in meiner Ausgabe ergibt sich hier auch ein praktisches Problem: Bestimmte griechische Flexionsendungen sind, mit lateinischen Buchstaben ausgedrückt, mehrdeutig. So kann z. B. ein Adjektiv der o-Deklination auf -os gleichermaßen als Nominativ Singular Maskulin (-ος) oder als Adverb (-ως) interpretiert werden. Ich habe mich bei dieser Problematik im Sinne der Einheitlichkeit in der Edition und der Klarheit meines Textverständnisses zu folgender Vorgehensweise entschlossen: Da die Schreibung griechischer Begriffe mit griechischen Buchstaben in den Briefen des Augustus oft genug durch den handschriftlichen Befund belegt ist und in vergleichbaren Briefen der fraglichen Zeit (Cicero) der Regelfall gewesen zu sein scheint, werden griechische Wörter, die nach den Regeln der griechischen Formenbildung flektiert sind, in meiner Ausgabe stets auch mit griechischen Buchstaben gedruckt, selbst wenn sie in den Handschriften in lateinischer Transkription ausgeführt sind; selbstverständlich wird die in den Handschriften überlieferte Schreibung im Apparat angegeben. Griechische Wörter, die im überlieferten Text mit lateinischen Buchstaben ausgeführt sind und mit lateinischen Endungen flektiert werden, betrachte ich hingegen als Lehnwörter und drucke sie entsprechend mit lateinischen Buchstaben.68 Vereinheitlichungen der Interpunktion wurden behutsam vorgenommen.
4 Der Kommentar 4.1 Leitfragen der Kommentierung Neben den allgemein üblichen Untersuchungsgegenständen eines jeden philologischen Kommentars ergeben sich für den vorliegenden Kommentar spezifische Problemkomplexe, die einerseits aus der Spezifik der Sekundärüberlieferung, anderseits aus dem Briefcharakter der zu kommentierenden Texte resultieren, und die hier aufgrund ihrer Bedeutung für den gesamten Kommentar kurz umrissen werden sollen. Zitatfragmente sind Texte, die in eigentümlicher Weise an zwei Kontextebenen bzw. Kommunikationssituationen teilhaben: Dem verlorenen Ursprungskontext, aus dem sie entnommen und somit dekontextualisiert worden sind, und dem Kontext innerhalb der Schrift, in der sie zitiert und in die sie somit rekontextualisiert wurden. Dieser neue Kontext ‚verschleiert‘ einerseits die ursprüngliche Umgebung einer zitierten Äußerung, liefert umgekehrt aber auch Informationen
68 Z. B. 58F: baceolum statt βάκηλον.
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III Vorbemerkungen zu Edition und Kommentar
über den zitierten Text, die natürlich – wie schon der Zuschnitt und die Form des Zitats – im Hinblick auf die Darstellungsabsichten des zitierenden Autors kritisch zu betrachten sind.69 Da die Funktionen, die der neue Kontext für das Fragment, seine Überlieferung und Interpretation hat, sich gut mit den drei Bedeutungseben des englischen Verbs ‚to cover‘ (verbergen, retten, umschließen [des Textes]) umschreiben lässt, hat sich in der jüngeren Fragmentforschung dafür der Terminus ‚cover-text‘ etabliert.70 Dass unter Kontext auf beiden Ebenen aber nicht nur die Textumgebung im engeren Sinne, sondern auch nicht-sprachliche Situationsbedingungen (Ort, Zeit, soziale Einflüsse auf und Beziehung zwischen Schreiber und Leser, [Vor-]wissensannahmen des Schreibers gegenüber dem Leser etc.) gefasst werden müssen, betont mit Recht Ute Tischer.71 Dies gilt im Prinzip für jeden in dieser Weise fragmentarisch überlieferten Text – für Briefe aus naheliegenden Gründen aber in besonderem Maße. Es soll daher stets Aufgabe des Kommentars sein, einerseits beide Kontextebenen – den Ursprungskontext, d. h. den nicht überlieferten Teil des jeweiligen Briefes und die ihm zugrundeliegende Kommunikationssituation, sowie den ‚covertext‘ – in die Untersuchung einzubeziehen, beide Ebenen dabei aber auch scharf auseinanderzuhalten. Im Bereich des Ursprungskontextes bedeutet dies z. B. auf der Textebene, anhand (brief-)sprachlicher Beobachtungen begründete Annahmen über die Position einer zitierten Passage innerhalb des verlorenen Briefes zu treffen. Methodisch erscheint hierbei der Vergleich mit anderen (literarischen) Privatbriefen, allen voran aufgrund ihrer gattungsgeschichtlichen Nähe zu den Augustus-Briefen natürlich den Cicero-Korrespondenzen, methodisch vielversprechend. Auf der Ebene der nicht-sprachlichen Kommunikationsbedingungen ist nach der dem Brief zugrundeliegenden Kommunikationssituation zu fragen und scharf zwischen Indizien zu unterscheiden, die sich aus dem Zitierkontext bzw. aus dem Fragment selbst ergeben. Auf der Ebene des ‚cover-text‘ gilt es, zu untersuchen, welche Funktion das Fragment für ihn erfüllt72 und inwiefern er Deutungen des Fragments oder seines Ursprungskontexts (auf sprachlicher wie auf nicht-sprachlicher Ebene) nahelegt; diese sind aber auch im Rahmen der Darstellungsabsichten des ‚cover-text-Autors‘ quellenkritisch zu prüfen. Für die Interpretation der Fragmente ist folglich stets zu bedenken, dass sich im Unterschied zu selbstständig überlieferten Texten jeweils zwei Ebenen von Darstellungsabsichten überlagern: Die des 69 Vgl. dazu Tischer 2015, bes. 334–338, die als dritte Kontextebene außerdem noch die gerade forschungshistorisch relevante Rekontextualisierung von Zitaten in Fragmentausgaben nennt. 70 Der Begriff wurde geprägt durch Schepens 1997, 166 f. mit Anm. 66 u. 2000, 12; vgl. auch Berti 2021, 86–88. 71 Vgl. Tischer 2015, 334 f. 72 Vgl. Wöhrle 2022, 401 f.
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Augustus als Autor der Briefe und die der zitierenden Autoren, die die Briefe ihrem Darstellungs- bzw. Argumentationszusammenhang einverleiben, indem sie dem Leser einen Deutungsrahmen vorgeben und das Zitat entsprechend zuschneiden oder sogar verändern.73
4.2 Aufbau und Formales Der Kommentar gliedert sich in zwei Teile: In einem ersten Schritt wird jeweils ein Überblick über den Zitierkontext zu einem Fragment oder einer im selben Kontext zitierten Gruppe von Fragmenten gegeben. Es folgt daran anschließend ein Zeilenkommentar, wobei in einem Überblickslemma zunächst ein Überblick über das gesamte Fragment gegeben wird und anschließend einzelne Noten zu bestimmten kommentierungsbedürftigen Textstellen folgen. Hierbei gilt, dass Noten zu längeren Texteinheiten, etwa Textabschnitten oder ganzen Sätzen, den Noten zu kürzeren Texteinheiten bis hin zu einzelnen Worten vorangehen. Der Kommentar ist also so aufgebaut, dass nach und nach von der Makro- zur Mikroebene vorgedrungen wird. Wie in der Kommentarliteratur allgemein üblich, erfolgen Anmerkungen und Verweise direkt im Text oder durch Klammereinschub. Im Sinne der Lesbarkeit und Stringenz werden aber besonders ausführliche Anmerkungen, Ausführungen, die eher einen Exkurscharakter haben, sowie Übersetzungen lateinischer und griechischer Zitate in Fußnoten ‚ausgelagert‘.
73 Beispiele dafür habe ich in meinen Anmerkungen zu den Zitiergewohnheiten Suetons und Gellius’ im Kapitel ii geboten; siehe Kap. ii.2.1 (Gellius) u. 2 (Sueton).
IV Edition, Übersetzung und Kommentar 1 Ad T. Pomponium Atticum (1) Wir wissen von einer Korrespondenz zwischen Octavian und Atticus (110–32 v. Chr.) in dessen letztem Lebensjahrzehnt. Nach der Proskription und Ermordung Ciceros scheint Octavian um ein enges Verhältnis zu Atticus bemüht gewesen zu sein und konnte sogar die Eheschließung zwischen Atticus’ Enkelin Vipsania Agrippina und Tiberius erreichen (vgl. Nep. Att. 19,4). Von den Briefen haben wir nur ein Testimonium bei Cornelius Nepos, das sich nicht auf einen speziellen Brief, sondern eher auf die Korrespondenz insgesamt bezieht, die jedoch rege gewesen zu sein scheint. Dafür, dass diese Korrespondenz jemals in irgendeiner Form publiziert wurde (so ohne Begründung Wallace-Hadrill 1995, 94 Anm. 27), gibt es keine Indizien: Der Biograph konnte anscheinend noch die Originaldokumente im Nachlass des Atticus einsehen (siehe Kap. ii.1, S. 27 f.) und nach ihm hören wir von den Briefen nichts mehr. 1T 43 M = ELM ii, (151) 79 Nep. Att. 20: (1) Quamvis ante haec sponsalia non solum, cum ab urbe abesset, numquam ad suorum quemquam litteras misit (sc. Octavianus), quin Attico mitteret, quid ageret, in primis quid legeret quibusque in locis et quamdiu esset moraturus, (2) sed etiam, cum esset in urbe et propter infinitas suas occupationes minus saepe, quam vellet, Attico frueretur, nullus dies temere intercessit, quo non ad eum scriberet, cum modo aliquid de antiquitate ab eo requireret, modo aliqua quaestionem poeticam ei proponeret, interdum iocans eius verbosiores eliceret epistulas.
Üb.: Doch auch vor dieser Eheschließung schickte Octavian nicht nur, wenn er nicht in Rom war, niemals irgendeinem seiner Verwandten einen Brief, ohne auch Atticus zu schreiben, was er unternahm – vor allem, was er las und an welchen Orten er sich aufhalten wolle und wie lange –, sondern auch, wenn er in der Stadt war und wegen seiner unzähligen Geschäfte weniger oft, als er wollte, Umgang mit Atticus hatte, verging kein Tag einfach so, an dem er ihm nicht geschrieben hätte, weil er mal etwas über die Geschichte von ihm wissen wollte, mal ihm ein poetisches Problem vorlegte oder manchmal scherzend seine wortreichen (Antwort-)Briefe provozierte. Komm.: Nach dem Tod des Atticus fügte Nepos seiner Atticusvita einen Anhang hinzu (Nep. Att. 19–22; vgl. dazu Geiger 1985, 85 mit Anm. 76 [dort ältere Literatur]; Horsfall 1989, 8 f.), der zunächst Atticus’ Verhältnis zu Octavian gewidmet war. Nepos berichtet von dem Ehearrangement zwischen Atticus’ Enkelin Vipsania Agrippina mit Octavians bzw. Augustus’ Stiefsohn Tiberius, dann kommt er auf https://doi.org/10.1515/9783111193595-004
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die zahlreichen Briefe zu sprechen, die Octavian dem Atticus geschickt habe. Er unterscheidet dabei zwischen zwei ‚Typen‘ von Briefen: zum einen den Briefen, die Octavian Atticus geschickt habe, wenn er außerhalb Roms gewesen sei, zum anderen den Briefen, die er täglich geschrieben habe, wenn er in Rom, aber zu beschäftigt für persönliche Treffen mit ihm gewesen sei, wobei er zwischen diesen beiden Typen inhaltlich-motivische Unterschiede diagnostiziert. Hier klingt eine auch sonst zeitgenössisch nachweisbare Zweiteilung der Textgattung Brief an: die Unterscheidung zwischen certiorem facere und iocari/colloqui (vgl. z. B. Cic. Att. 6,5,4: Cupiebam mehercule longiorem epistulam facere, sed nec erat res de qua scriberem nec iocari prae cura poteram; vgl. dazu Thraede 1970, 27–38). Es hat mithin den Anschein, als habe Nepos hier eine sehr umfangreiche und thematisch breite Korrespondenz vorgelegen. Dass Nepos die Briefe des Octavian an Atticus in den Vordergrund rückt und Briefe von diesem an Octavian nur zum Schluss – und nur als Ergebnis scherzender Provokationen – erwähnt, wirkt vielleicht verwunderlich. Womöglich liegt dies in der Darstellungsabsicht des Nepos begründet, der seinen Protagonisten als im Bürgerkrieg politisch neutral charakterisieren will und daher den Eindruck zu erwecken versucht, es sei Octavian, der um die Freundschaft des Atticus gebuhlt habe (vgl. Stem 2012, 57–59). Eine einfachere Erklärung wäre, dass Nepos überwiegend die Briefe Octavians vorgelegen haben könnten, da er nur die Briefe aus Atticus’ Nachlass, also die an diesen adressierten, einsehen konnte.
2 Ad M. Tullium Ciceronem (2–5) Der Briefwechsel mit Cicero (106–43 v. Chr.) fällt gänzlich in die Zeit zwischen der Ermordung Caesars (15. März 44 v. Chr.) und der Errichtung des zweiten Triumvirats zwischen Octavian, Marcus Antonius und Lepidus im November des Jahres 43 v. Chr. In dieser Zeit versuchte Octavian, der zur Durchsetzung seiner politischen Interessen privat (bzw. illegal) Truppen ausgehoben hatte, über Cicero Einfluss auf den Senat auszuüben, wozu er anders als sein Konkurrent Marcus Antonius, der 44 v. Chr. den Konsulat bekleidete, selbst nicht in der Lage war. Cicero auf der anderen Seite ging das Bündnis mit Octavian trotz einiger Bedenken in der Hoffnung ein, den jungen Octavian zu seinen eigenen Zwecken beeinflussen und so, nachdem Marcus Antonius erst einmal besiegt wäre, die Herrschaft des Senats wiederherstellen zu können. Das Bündnis hielt bis in den Sommer des Jahres 43 v. Chr., als Marcus Antonius die Legionen in den westlichen Provinzen auf seine Seite gebracht hatte und Octavian den Ausgleich mit ihm suchte. In der Folge kam es zum zweiten Triumvirat und den Proskriptionen, denen Cicero am 7. Dezember 43 v. Chr. zum Opfer fiel (vgl. dazu Syme 1956, 141–145; Dahlheim 2010, 43–58; Bringmann 2014, 34 f.).
2 Ad M. Tullium Ciceronem (2–5)
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Der Briefwechsel (oder zumindest eine Auswahl daraus) wurde nach dem Tod Ciceros – und sehr wahrscheinlich auch erst nach dem Tod des Augustus –, in einer Sammlung mit dem Titel Ad C. Caesarem iuniorem epistularum libri ii bzw. iii, veröffentlicht, aus der wir insgesamt 42 Zitatfragmente besitzen. Fast alle sind dem Grammatiker Nonius Marcellus zu verdanken (eine tabellarische Rekon struktion der Sammlung findet sich bei Gurlitt 1888, 16–19; siehe auch Kap. ii.1, S. 22 f.). Nonius schreibt all diese Zitate Cicero zu, doch ist in der Forschung für einige Fragmente die Möglichkeit diskutiert worden, dass sie vielleicht auch aus Gegenbriefen, also Briefen Octavians an Cicero stammen könnten, die demnach auch in der Sammlung enthalten gewesen seien1 – da dies unklar bleibt, wurden
1 Diese Ansicht wurde zuerst vertreten von Ludwig Gurlitt, der fünf Fragmente als Zitate oder mögliche Zitate aus Briefen Octavians identifizieren wollte (vgl. Gurlitt 1888, 11–15 u. 17 mit Anm. 2 u. 7. Dem schließen sich an Tyrrell/Purser 1899–1918 vi, 292–300 und Bardon 1968, 33 f.). Denkbar ist dies, sind doch z. B. auch in den Sammlungen der sogenannten Epistulae ad familiares Briefe an Cicero enthalten. Die fehlerhafte Zitation wäre dann wohl so zu erklären, dass Nonius sich hier nur auf den Buchtitel bezieht oder aber nur die Randglossen zu den Briefen gelesen hat, ohne dabei auf die Korrespondenzsituation achtzugeben (vgl. Gurlitt ibid., 19–21). Malcovati hat diese Stellen nicht berücksichtigt, Cugusi ordnet sie den fragmenta incerta zu, da er die Angelegenheit für unsicher hält (vgl. Cugusi, ELM ii/2, 445: „sed res quam incertissima est“). Gurlitts Argumente erscheinen unterschiedlich überzeugend: Kaum zwingend etwa im Falle von Non. p. 437 L (p. 283,36–284,2 M) (Cic. epist. frg. 4,7 ShB = ELM ii, [151] frg. 112): M. Tullius ad Caesarem iuniorem lib. i: Ne res duceretur, fecimus ut Hercules Antianus in alium locum transferretur (Üb.: „Damit sich die Angelegenheit nicht weiter in die Länge zieht [?], habe ich veranlasst, dass der Herkules von Antium an einen anderen Ort gebracht werde“). Gurlitt selbst ist hier schon sehr vorsichtig und behauptet lediglich, dass eine Verfasserschaft Octavians gleichermaßen denkbar sei wie eine Verfasserschaft Ciceros (ibid., 14). Dies liegt aber weniger daran, dass sich der Inhalt des Zitats plausibel als Teil eines Briefes Octavians erklären ließe, sondern vor allem daran, dass die Bedeutung und der Kontext des Zitats überhaupt im Dunkeln liegen: Was es mit dem Hercules Antianus auf sich hat, warum er versetzt werden musste und von wem, ist nicht zu klären (vgl. dazu Huttner 1995, 109 mit Anm. 57). Jedenfalls scheint Antium eine dem Heros heilige Stadt gewesen zu sein; vgl. Suet. Cal. 8,2. Bei Non. p. 545 L (p. 344,25 f. M) (Cic. epist. frg. 4,22 ShB = ELM ii, [151] frg. 113): M. Tullius ad Caesarem iuniorem lib. ii: Quem perisse ita de re publica merentem consulem doleo (Üb.: „Dass dieser um den Staat so verdiente Konsul gestorben ist, schmerzt mich“) überzeugt Gurlitts Argumentation ebenfalls nicht vollständig: Er bezieht die Stelle auf den Tod des Konsuln Hirtius in der Schlacht bei Mutina und hält aus chronologischen Gründen Octavian für den Verfasser: Cicero habe am 3. Mai 43 v. Chr. vom Tod beider Konsuln, Hirtius und Pansa, in dieser Schlacht erfahren und es sei unwahrscheinlich, dass er in einem Brief an Octavian nur Trauer für einen der beiden ausdrücke. Octavian hingegen habe vom Tod Pansas erst einen Tag nach der Schlacht erfahren und so sei anzunehmen, dass das Zitat aus einem Brief stammt, den er tags zuvor an Cicero geschrieben habe (vgl. Gurlitt ibid., 15; so auch Tyrrell/Purser ibid., 299). Allerdings bringt Gurlitt für diese Chronologie keine eindeutigen Belege bei und unabhängig davon ist seine Argumentation auch etwas spitzfindig: Schließlich kennen wir den Rest des Briefes nicht und wissen daher gar nicht sicher, ob dort wirklich nur ein Konsul betrauert wurde oder vielleicht doch beide.
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diese Stellen nicht in die Edition aufgenommen. Neben den Zitaten bei Nonius Marcellus besitzen wir auch einige Bezugnahmen auf Briefe des Octavian an Cicero im Wahrscheinlicher erscheint die Verfasserschaft Octavians im Falle von Non. p. 358 L (p. 239,22–24 M) = Non. p. 611 L (p. 383,9 f. M) (Cic. epist. frg. 4,2 ShB = ELM ii, [151] frg. 111): Et ad Caesarem iuniorem (sc. M. Tullius) lib. i: Roga ipsum, quemadmodum eum ego Arimini acceperim (Üb.: „Frag ihn, auf welche Weise ich ihn in Rimini empfangen habe“). Nonius zitiert die Stelle zweimal, einmal als Beleg für das Verb accipere in der Bedeutung tractare oder increpare (sic! Vgl. Non. p. 358 L [p. 239,21 M]), das andere Mal als Beleg für das Verb rogare in der Bedeutung quaerere oder scitari (vgl. Non. p. 611 L [p. 383,8 M]). Gurlitt hält die Stelle für ein Zitat aus einem Brief Octavians an Cicero und argumentiert chronologisch: Würde das Zitat von Cicero stammen, müsste er zu irgendeinem Zeitpunkt 44/43 v. Chr. in Rimini (Ariminum) gewesen sein, wofür es aber sonst keinen Beleg gebe. Octavians Anwesenheit dort sei hingegen für Dezember 44 v. Chr./Januar 43 v. Chr. gut bezeugt, als er dort auf Verstärkung durch Hirtius wartete und ihn schließlich im Januar 43 v. Chr. dort traf (vgl. App. BC 3,189; Gurlitt ibid., 12; Tyrrell/Purser ibid., 295f.). Das Zitat auf diese Begegnung zu beziehen, erscheint in der Tat plausibel. Ähnlich ist die Argumentation im Falle von Non. p. 632 L (p. 394,7 f. M) (Cic. epist. frg. 4,23a ShB = ELM ii, [151] frg. 114): M. Tullius ad Caesarem iuniorem lib. II: Cum iter facerem ad Aquilam (Gurlitt, hi qui iam codd., Hirtium Roth) Claternam tempestate spurcissima (Üb.: „… als ich zu Aquila (?) nach Claterna marschiert bin, bei furchtbarem Sauwetter …“). Nonius zitiert die Stelle als Beleg für das Adjektiv spurcus im Sinne von vehemens oder asper. Die Stelle bezieht sich unabhängig davon, ob man die Textverderbnis nun mit ad Aquilam oder ad Hirtium beheben möchte, in jedem Fall auf die Schlacht bei Mutina: In Claterna waren die Truppen des Hirtius stationiert, Octavians Truppen befanden sich nicht weit davon entfernt in Forum Cornelii (heute Imola); vgl. Cic. fam. 12,5,2: erat autem Claternae noster Hirtius, ad Forum Cornelium Caesar. Cicero war während der ganzen Zeit in Rom, insofern ist es schwer, einen Kontext plausibel zu machen, in dem er diese Worte geschrieben haben könnte (vgl. Gurlitt ibid., 12 f.; Tyrrell/Purser ibid., 297). Nicht unplausibel erscheint Gurlitts Argumentation auch in Bezug auf Non. p. 864 L (p. 539,3 f. M) (Cic. epist. frg. 4,25 ShB = ELM ii, [151] frg. 115): M. Tullius ad Caesarem iuniorem lib. II: Antonius demens ante lucem paludatus (Üb.: „Der rasende Antonius ist vor Tagesanbruch im Feldherrengewand [aufgebrochen?]“). Die Stelle zitiert Nonius im 13. Buch von De compendiosa doctrina, in dem es um die Bezeichnung von Kleidungsstücken geht (De genere vestimentorum). Sie wird als Beleg für den Begriff paludamentum (Non. p. 864 L [p. 538,33 M]: vestis, quae nunc clamys dicitur) zitiert. Wahrscheinlich stammt das Zitat aus dem Kontext eines Berichts über den Aufbruch des Antonius am 28. oder 29. November 44 v. Chr. aus Rom vor Tagesanbruch. Cicero war zu diesem Zeitpunkt nicht in Rom, sehr wohl aber Octavian, sodass der Brief, aus dem das Zitat stammt, vielleicht auch von Octavian an Cicero gerichtet war (vgl. Gurlitt ibid., 17 mit Anm. 2. Tyrrell/Purser ibid., 299). Henry Bardon hat in ähnlicher Weise noch zwei weitere Fragmente aus den Epistulae ad Caesarem iuniorem Octavian zuschreiben wollen: Zum einen Non. p. 388 L (p. 255,34–256,3 M) (Cic. epist. frg. 4,4 ShB): M. Tullius ad Caesarem iuniorem lib. i: neminem tibi profecto hominem ex omnibus aut anteposuissem umquam aut etiam comparassem (Üb.: „Wahrhaft keinen Menschen von allen würde ich dir je vorziehen oder auch nur (mit dir) gleichsetzen“; vgl. dazu Bardon 1968, 33). Es erscheint jedoch vielleicht nicht völlig ausgeschlossen, dass Cicero sich gegenüber Octavian derart schmeichlerisch geäußert haben könnte. Zum anderen Non. p. 48 L (p. 33,21–24 M) (Cic. epist. frg. 4,18 ShB): M. Tullius ad Caesarem iuniorem ii lib.: In quo tua me provocavit oratio, mea consecuta est segnis (Üb.: „Worin deine Rede mich provoziert hat, ist meine träge gefolgt.“ Vgl. dazu Bardon ibid., 33 f.). Leider ist der Kontext des Zitats völlig unklar; allem Anschein nach geht es um eine Senatssitzung,
2 Ad M. Tullium Ciceronem (2–5)
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16. Buch der Epistulae ad Atticum; allerdings ist nicht zwangsläufig davon auszugehen, dass die Briefe, auf die dort rekurriert wird, auch in der herausgegebenen Sammlung enthalten waren, wie Gurlitt angenommen hat. In jedem Fall gehören sie nicht zu den Überresten von Octavians bzw. Augustus’ Amtskorrespondenz, wo sie in der Ausgabe Malcovatis eingeordnet sind: Octavian und Cicero hatten in der fraglichen Zeit beide gar keine Ämter inne, die eine amtlich-offizielle Rollenrelation hätten begründen können. Ich habe mich daher für die Aufnahme der Stellen in das Corpus entschieden. 2F 54 M = ELM ii, (151) 16a Cic. Att. 16,8,1: Kalendis vesperi litterae mihi ab Octaviano. Magna molitur. Veteranos, qui Casilini et Calatiae sunt, perduxit ad suam sententiam. Nec mirum: quingenos denarios dat: cogitat reliquas colonias obire. Plane hoc spectat, ut se duce bellum geratur cum Antonio. Itaque video paucis diebus nos in armis fore. Quem autem sequamur? Vide nomen, vide aetatem. Atque a me postulat primum ut clam colloquatur mecum vel Capuae vel non longe a Capua. 5 Puerile hoc quidem, si id putat clam fieri posse.
Üb.: Abends am Ersten habe ich einen Brief von Octavian erhalten. Er hat Großes vor. Die Veteranen, die in Casilinum und Calatia sind, hat er auf seine Seite gebracht. Kein Wunder: Er gibt (ihnen je) 500 Denare: Er überlegt, auch die übrigen Kolonien zu bereisen. Offenbar erwartet er, dass unter seiner Führung Krieg mit Antonius geführt werde. Daher sehe ich uns in wenigen Tagen in Waffen. Aber wem soll ich folgen? Schau dir den Namen an, schau dir das Alter an! Und von mir fordert er vor allem, dass er sich heimlich mit mir unterreden kann, entweder in Capua oder nicht weit davon. Kindisch ist das, wenn er glaubt, es könne heimlich geschehen. Komm.: In diesem vermutlich auf den 1., 2. oder 3. November 44 v. Chr. zu datierenden Schreiben (vgl. Tyrrell/Purser 1899–1918 vi, 26; ShB Att. vi, 297) berichtet an der beide teilgenommen und in der beide gesprochen haben. Es liegt die Annahme nahe, dass Cicero als ehemaliger Konsul vor Octavian gesprochen hat und letzterer dann dessen Rede (natürlich) für die bessere gehalten hat, aber da Octavian im Rang eines Konsulars in den Senat aufgenommen worden war und dort folglich denselben Rang wie Cicero hatte (vgl. R. Gest. div. Aug. 1,2), könnte er im Prinzip auch vor Cicero das Wort erhalten haben und hier von diesem gelobt werden. In allen sieben Fällen bleibt eine erhebliche Restunsicherheit: Wir kennen den Kontext nicht und Cicero könnte jeweils etwa auch aus Briefen von Dritten an ihn zitieren oder dergleichen. Insofern gehören diese Zeugnisse eher in eine Ausgabe der Brieffragmente Ciceros, wo sie dann entsprechend zu kommentieren wären. In eine Edition der Briefe des Octavian/Augustus sollten sie nicht aufgenommen werden.
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IV Edition, Übersetzung und Kommentar
Cicero Atticus von einem Brief, den er tags zuvor von Octavian erhalten habe. Diesen Brief paraphrasiert er nacherzählend (nicht in Oratio obliqua) und fügt in die Paraphrase auch eigene Beurteilungen ein, die in der Edition entsprechend petit gedruckt sind. Über den ungefähren Inhalt und die ungefähre Struktur hinaus lässt sich über diesen Brief nichts Genaueres sagen. Magna molitur: Kein Teil der Briefparaphrase, sondern eine Aussage Ciceros, mit der er Octavians Ambitionen beurteilt – offenbar etwas ironisch, darauf deutet die Alliteration hin. In Wahrheit hält er Octavian wegen dessen Herkunft und Alter für unbedeutend und unreif (vide nomen, vide aetatem). Veteranos, qui Casilini et Calatiae sunt, perduxit ad suam sententiam. Nec mirum: quingenos denarios dat: cogitat reliquas colonias obire: Cicero fasst den ersten Teil des Briefes zusammen: Octavian habe die Veteranen in Casilinum und Calatia auf seine Seite gebracht, indem er ihnen je 500 Denare bezahlt habe (nec mirum ist natürlich eine beurteilende Bemerkung Ciceros), und plane nun, die übrigen Kolonien, in denen Veteranen angesiedelt sind (vgl. Cugusi, ELM ii/2, 395), zu besuchen. Plane hoc spectat, ut se duce bellum geratur cum Antonio. Itaque video paucis diebus nos in armis fore. Quem autem sequamur? Vide nomen, vide aetatem: Hier ‚spricht‘ wieder Cicero. Atque a me postulat primum ut clam colloquatur mecum vel Capuae vel non longe a Capua: Der zweite Teil des Briefes: Octavian habe Cicero um ein heimliches Treffen in oder bei Capua gebeten. Im Folgenden wird deutlich, dass Cicero ein solches Treffen in einem Antwortbrief abgelehnt hat, da es unmöglich hätte geheim bleiben können (puerile hoc quidem, si id putat clam fieri posse. Docui per litteras id nec opus esse nec fieri posse). 3–4F 55 M = ELM ii, (151) 17 Cic. Att. 16,9: Binae uno die mihi litterae ab Octaviano,
3F: nunc quidem ut Romam statim veniam; velle se rem agere per senatum.
Cui ego non posse senatum ante Kal. Ian., quod quidem ita credo. Ille autem addit 4F: c o n s i l i o t u o . Quid multa? Ille urget, ego autem σκήπτομαι.
Üb.: An einem Tag erhalte ich zwei Briefe von Octavian: Nun soll ich sofort noch Rom kommen; Er wolle die Angelegenheit dem Senat vortragen. Ich antworte ihm, dass der Senat vor dem 1. Januar nicht (zusammentreten) könne, was ich jedenfalls so annehme. Er aber fügt hinzu: A u f d e i n e n R a t h i n . Was soll ich sagen? Er drängelt, ich aber bin unschlüssig.
2 Ad M. Tullium Ciceronem (2–5)
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Komm.: Dieser Brief Ciceros an Atticus ist auf den 3. oder 4. November 44 v. Chr., also einen bis zwei Tage nach Cic. Att. 16,8 (2F) zu datieren (vgl. Tyrrell/Purser 1899–1918 vi, 28). Erneut berichtet Cicero von seinem Austausch mit Octavian; diesmal habe er gleich zwei Briefe Octavians an einem Tag erhalten, den ersten paraphrasiert er nur kurz (3F), aus dem zweiten zitiert er zwei Worte (4F).2 3F] nunc quidem ut Romam statim veniam; velle se rem agere per senatum: Octavian wolle nun auf einmal, dass Cicero sofort nach Rom komme, um die Angelegenheit – d. h. seine bislang illegale Aushebung von Truppen – dem Senat vorzutragen (per senatum agere zu verstehen wie Cic. Verr. 2,4,61: ii posteaquam temporibus rei publicae exclusi p e r s e n a t u m a g e r e quae voluerant non potuerunt, in Syriam … profecti sunt3), und glaube, dazu Ciceros Hilfe zu benötigen. Im ersten Teil (ut Romam statim veniam) ist nicht so recht klar, ob es sich um einen Nebensatz in Abhängigkeit von einem elliptisch ausgefallenen Verbum postulandi handelt (vgl. KSt, § 184d) oder um einen Wunschsatz in der Oratio obliqua. Gegen letzteres spricht vielleicht die Konjunktion ut (vgl. jedoch LSS Synt., § 185α). Der zweite Teil (velle se rem agere per senatum) ist indirekte Rede, doch wie nah am Prätext die Paraphrase ist, lässt sich nicht sagen: Octavian kann tatsächlich etwa rem agere per senatum volo geschrieben haben, genauso gut kann es sich hier aber um die Zusammenfassung längerer Ausführungen durch Cicero handeln. Zumindest erinnert rem agere an das bei Augustus nicht seltene, etwas stereotype rem gerere (vgl. dazu Komm. zu 29F,3: rem gessit). 4F] consilio tuo: Cicero habe Octavian auf dessen ersten Brief (3F) geantwortet, dass der Senat vor dem 1. Januar, also in den kommenden zwei Monaten, keine Sitzung abhalten könne (cui ego non posse senatum ante Kal. Ian., quod quidem ita credo; zu den Hintergründen vgl. ShB Att. vi, 298). Auf diesen Einwand scheinen die beiden von Cicero zitierten Worte consilio tuo („auf dein Anraten hin“; vgl. Gudeman, ThLL iv, Art. consilium, 451,68–452,64) zu antworten; es handelt sich bei ihnen also um ein wörtliches Zitat aus dem zweiten Brief. Ich verstehe sie so: Octavian möchte sagen, dass eine Senatssitzung doch möglich sei, sofern Cicero nur seinen Einfluss im Senat geltend machte. Octavians Vorgehen wirkt sehr geschickt, drängt er Cicero doch dazu, die Einberufung einer baldigen Senatssitzung zu betreiben, indem er ihm als ‚Führer‘ dieser Körperschaft schmeichelt, dessen consilium entscheidendes Gewicht habe. Jedenfalls stellt Cicero es so dar. Cicero hat Octavians Wunsch zwar im Folgenden nicht entsprochen (siehe auch 5F), doch ist dessen Strategie nicht völlig ohne Erfolg geblieben: Die Tatsache, dass Cicero, dem Eitelkeit wahrlich kein fremder Wesenszug gewesen ist, die Worte zitiert, um Atticus zu 2 Wichtige Beobachtungen zum Stil dieses Cicero-Briefes finden sich bei Halla-aho 2011, 432 f. 3 Üb.: „Nachdem sie aufgrund der politischen Umstände daran gehindert worden waren, dem Senat (das) vorzutragen, was sie wollten, brachen sie … nach Syrien auf.“
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IV Edition, Übersetzung und Kommentar
verdeutlichen, in welch hoher Achtung er beim jungen Octavian stehe, zeigt, dass dieser den älteren und erfahreneren Staatsmann durchaus zu manipulieren wusste (vgl. auch 5F: iterum rem publicam servarem). 5F 56 M = ELM ii, (151) 18 Cic. Att. 16,11,6: Ego me, ut scripseram, in Pompeianum non abdidi, primo tempestatibus, quibus nihil taetrius; deinde ab Octaviano cottidie litterae
ut negotium susciperem, Capuam venirem, iterum rem publicam servarem, Romam utique statim.
Aἴδεσθεν μὲν ἀνήνασθαι, δεῖσαν δʼ ὑποδέχθαι. (Il. 7,93)
Üb.: Ich habe mich nicht, wie ich geschrieben hatte, in meiner Villa in Pompei versteckt, zum einen wegen des Wetters, das nicht schlimmer sein könnte, zum anderen bekomme ich täglich Briefe von Octavian: Ich soll die Angelegenheit in die Hand nehmen, nach Capua kommen, ein weiteres Mal den Staat bewahren, auf jeden Fall sofort nach Rom kommen. „Sie scheuten sich zwar, es abzuschlagen, fürchteten sich aber auch, es auf sich zu nehmen.“ Komm.: Dieser Brief Ciceros an Atticus ist auf den 5. November 44 v. Chr. zu datieren (vgl. Tyrrell/Purser 1899–1918 vi, 29). Cicero berichtet Atticus nochmals, dass er täglich Briefe von Octavian mit unterschiedlichen Aufforderungen erhalte, auf einen speziellen Brief wird allerdings nicht eingegangen. Octavian habe Cicero dazu aufgefordert, die Sache (d. h. wohl die Legalisierung der von Octavian eigenmächtig ausgehobenen Truppen) in die Hand zu nehmen, nach Capua zu kommen (siehe 2F), erneut den Staat zu retten (dies natürlich eine Cicero schmeichelnde Anspielung auf dessen Aufdeckung der Catilinarischen Verschwörung; vgl. Hutchinson 1998, 74) und sofort nach Rom zu kommen (siehe 3F).
3 Ad L. Marcium Philippum vitricum (6) Lucius Marcius Philippus (geb. 100 v. Chr.; Konsul 56 v. Chr.) war seit 58 v. Chr. mit Atia verheiratet und damit der Stiefvater Octavians (vgl. Münzer, RE xiv, Art. [76] L. Marcius Philippus, 1568–1571). Von einem Briefwechsel zwischen den beiden berichtet der Geschichtsschreiber Nikolaos von Damaskus (geb. 64 v. Chr.) in seiner Vita Caesaris, die ihrerseits unter anderem auf Augustus’ autobiographisches Geschichtswerk De vita sua zurückgeht, auch wenn der Grad der Abhängigkeit nicht mehr genau zu bestimmen ist (siehe Kap. ii.2.8.1). Sonst ist von einer Korres-
3 Ad L. Marcium Philippum vitricum (6)
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pondenz, geschweige denn von einer publizierten, zwischen Octavian und dessen Stiefvater nichts bekannt. 6F× ELM ii, (151) 15 Nic. Dam. vita Caes. 53 = FGrHist ii/a, (90) F130,53: Ἐπέστειλε δ’ αὐτῷ καὶ ὁ πατρῳὸς Φίλιππος δεόμενος μὴ προσελθεῖν τῇ Καίσαρος κληρονομίᾳ, φυλάξασθαι δὲ καὶ αὐτὸ τοὔνομα, δι’ ἅ πάθοι κεῖνος, ζῆν δ’ ἀπραγμόνως καὶ ἀσφαλῶς. ὁ δὲ Καῖσαρ ᾔδει μὲν ὑπ’ εὐνοίας ταῦτα παραινοῦντα, ἐγίγνωσκε δὲ τἀναντία, μεγάλα ἐπινοῶν ἢδη καὶ φρονήματος μεστὸς ὤν, ποιούμενος δὲ ἴδια πόνον καὶ κίνδυνον ἤ ἀνδρῶν ἀπέχθειαν, οἷς οὐκ ἔμελλεν ἀρεστὸς φανεῖσθαι, (Feder) τοσοῦδε ὀνόματος καὶ ἀρχῆς παραχωρήσειεν ὁτῳοῦν, ἄλλως τε καὶ τῆς πατρίδος συμπροθυμουμένης καὶ ἐπὶ τὰς πατρῴους τιμὰς καλούσης αὐτὸν ἐκ τοῦ δικαιοτάτου·
καὶ γὰρ φύσει καὶ νόμῳ τὰς ἀρχὰς αὐτῷ προσήκειν ἄγχιστα τοῦ γένους ὄντι καὶ ὑπ’ αὐτοῦ κείνου παιδὶ τεθειμένῳ καὶ τὸ ἐπεξελθεῖν δ’ αὐτῷ καὶ τιμωρῆσαι τοιαῦτα πεπονθότι πάντων εἶναι δικαιότατον.
ὁ μὲν δὴ ταῦτα ἐφρόνει τε καὶ τὸν Φίλιππον γράφων ἀνεδίδασκεν οὐ μάλα πειθόμενον.
Üb.: Es schrieb ihm aber auch sein Stiefvater und bat ihn, das Erbe Caesars nicht anzutreten, sich aber auch vor dem Namen selbst in Acht zu nehmen, wegen der Dinge, die jener erlitten habe; er möge vielmehr außerhalb der Politik und ungestört leben. Octavian hingegen wusste, dass er (ihm) das in guter Absicht geraten hatte, dachte aber anders, hatte schon Großes im Sinn und war voll Hoffnung, obwohl er Mühe und Gefahr und die Feindschaft der Menschen auf sich nahm, denen er nicht gefallen wollte, indem er auf so einen Namen und so eine Herrschaft verzichtete, zumal das Vaterland ihn ermutigte und ihn zur Übernahme der väterlichen Ehren von Rechts wegen aufrief. Sowohl aufgrund der Verwandtschaft als auch von Rechts wegen stünden ihm die Befugnisse zu, sei er doch der nächste Verwandte und an Sohnes statt adoptiert. Es sei das Gerechteste, dies durchzuführen und Caesar zu rächen, der so viel erlitten habe. So dachte er und unterrichtete Philippus schriftlich davon, überzeugte ihn aber nicht so recht. Komm.: Marcius Philippus habe Octavian brieflich davon abgeraten, das Erbe Cäsars und dessen Namen anzunehmen, und ihm vielmehr empfohlen, sich aus der Politik herauszuhalten und ein ruhiges Leben zu führen. Octavian habe seinem Stiefvater aber nicht zugestimmt (der Passus ist hervorragend kommentiert bei Toher 2017, 253–256). Die Einschätzung des Marcius Philippus ist ebenfalls belegt bei Vell. 2,60,1 u. Suet. Aug. 8,2; auch wenn dort jeweils nicht von einem Briefwechsel die Rede ist, spricht dies vielleicht dafür, dass der Passus auf Augustusʼ Autobiographie De vita sua zurückgeht (vgl. Jacoby, FGrHist ii/c, 271; zu dieser Rekonstruktionsmethode vor-
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IV Edition, Übersetzung und Kommentar
sichtiger Toher 2009, 127 u. 136). Ob hier eine Briefparaphrase vorliegt und wo diese beginnt und endet, ist nicht ganz klar; Nikolaos von Damaskus charakterisiert die referierten Motive des Octavian einerseits als dessen Gedanken (ταῦτα ἐφρόνει), behauptet jedoch anderseits, dass Octavian seinen Stiefvater entsprechend brieflich in Kenntnis gesetzt habe (τὸν Φίλιππον γράφων ἀνεδίδασκεν). Ein gewisser syntaktischer Einschnitt liegt zwischen ἐκ τοῦ δικαιοτάτου und καὶ γὰρ φύσει: Wurden Octavians Gedanken bis dahin durch verbundene Partizipien wiedergegeben (ἐπινοῶν … ὤν, ποιούμενος), folgen nun Accusativi cum infinitivo (τὰς ἀρχὰς … προσήκειν und τὸ ἐπεξελθεῖν δ’ αὐτῷ καὶ τιμωρῆσαι τοιαῦτα … εἶναι δικαιότατον), was stärker wie die Wiedergabe von Hauptsätzen in der indirekten Rede wirkt (vgl. KG, § 593). Insofern sollte eher nur diese Passage als Brieffragment betrachtet werden. Malitz 2003, 138 f. hält die Darstellung, insbesondere Octavians topische Racheankündigung, für „anachronistisch“, weil sie ihn wie den „Thronerben einer Dynastie erscheinen“ lasse4 – das geht wohl zu weit (vgl. Dahlheim 2010, 47–51; Kienast 2014, 14–17; Toher 2017, 254). Dass Octavian bereits unmittelbar nach der Ermordung Caesars ein Junktim zwischen den privatrechtlichen Bestimmungen in dessen Testament und einer direkten Nachfolge in dessen Machtposition gesehen haben soll (τὰς ἀρχάς wird hier im Plural die einzelnen von Caesar legal erworbenen Ämter und Befugnisse meinen, auch wenn das Substantiv im vorausgehenden Satz im Singular noch dessen extraordinäre Machtposition insgesamt bezeichnet hat; anders Toher 2017, 255), ist jedoch wenigstens ein möglicher Anachronismus: Caesars Förderung seines Enkels – sei es zu Lebzeiten oder testamentarisch – diente vielleicht lediglich dem Ziel, ihm eine ‚klassische‘ Laufbahn nach den Regularien des cursus honorum zu ermöglichen, vielleicht auch, sie zu vereinfachen – nicht aber, die Ämter und Befugnisse einfach zu vererben. Von diesem vorgesehenen ‚Karriereweg‘ weicht
4 Sie ähnelt vielleicht der apophthegmatischen Darstellung der Reaktion Octavians, einer Racheankündigung gegenüber der Mutter, bei Appian (BC 3,47), die in Form einer imitatio Achillei gestaltet ist (Dicta imp. Aug. 47 M): ἐς τὴν μητέρα ὥσπερ ἐς τὴν Θέτιν ἐπιστρεφόμενος ἔλεγεν· „αὐτίκα τεθναίην, ἐπεὶ οὐκ ἄρ᾽ ἔμελλον ἑταίρῳ κτεινομένῳ ἐπαμύνειν.“ (Il. 18,98 f.) καὶ τόδε εἰπὼν Ἀχιλλεῖ μὲν ἔφη κόσμον ἀθάνατον ἐκ πάντων εἶναι τοῦτο τὸ ἔπος, καὶ τὸ ἔργον αὐτοῦ μάλιστα. Üb.: „Seiner Mutter wandte er sich wie Achill der Thetis zu und sprach: ‚Auf der Stelle soll ich sterben, wenn ich den ermordeten Gefährten nicht rächen kann!‘ Und weiter sagte er, dass diese Worte und besonders die folgende Tat dem Achill unsterblichen Ruhm verliehen hätten.“ Vgl. dazu Gelsomino 1958b: „apopthegma fortasse post rem fictum est. … Ex apopthegmate elucet, vel Augustum se quodam tempore Achilli adsimulasse, scil. imitatum Alexandrum, vel contemporaneos eius talia haud sine causa finxisse.“ Zur allegorischen Gleichsetzung von Augustus und Achill in der augusteischen Dichtung vgl. Bickel 1956, bes. 358–360.
4 Ad Iuliam M. Antonii matrem (7)
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Octavian erst im Oktober 44 v. Chr. mit der ‚privaten‘ Aushebung von Truppen ab (vgl. dazu Halfmann 2014, bes. 42–48; anders jedoch Kienast 2014, 5–9); auch der vielzitierte, bei Cicero (Att. 16,15,3; November/Dezember 44 v. Chr.) bezeugte Schwur Octavians (iurat ita sibi parentis honores consequi liceat – „er schwört, sowahr es ihm beschieden sei, die Ehren und Ämter seines Vaters zu erreichen“; Orat. imp. Aug. frg. 6 M) stammt erst aus der Zeit danach (vgl. dazu Kienast ibid., 17 mit Anm. 67) und impliziert im Übrigen auch kein behauptetes ‚Erbrecht‘ auf Caesars politische Stellung.5 Wie dem auch sei, in jedem Fall scheint es so, als seien fingierte Reden (und somit vielleicht auch Briefe) in Augustusʼ De vita sua enthalten gewesen (einschlägig ist Imp. Aug. De vita sua FRH, [60] F8; vgl. dazu Bringmann/Wiegandt 2008, 206 f.; Smith, FRH iii, 541 f.). Wenn die Stelle bei Nikolaos tatsächlich darauf zurückgehen sollte, spräche dies gegen die Authentizität des erwähnten Briefes.
4 Ad Iuliam M. Antonii matrem (7) Eine Korrespondenz zwischen Octavian und Iulia, der Mutter des Marcus Antonius (gest. nach 40 n. Chr.), wird im Kontext der Belagerung Brundisiums durch Marcus Antonius und im Vorfeld des Vertrags von Brundisium im Herbst des Jahres 40 v. Chr. durch Appian erwähnt (zum historischen Kontext vgl. Bringmann/Wiegandt 2008, 65). 7F× 57 M = ELM ii, (151) 48 App. BC 5: (267) Οὕτω καθομιλῶν τὸν Καίσαρα ὁ Κοκκήιος ἐκείνην τε τὴν ἡμέραν ἐξενίζετο παρ’ αὐτῷ καὶ ἐδεῖτο ἐπιστεῖλαι τι τῷ Ἀντωνίῳ, νεώτερον ὄντα πρεσβυτέρῳ. ὃ δὲ πολεμοῦντι μὲν ἔτι οὐκ ἔφη γράψειν· οὐδὲ γὰρ ἐκεῖνον· μέμψεσθαι δ’ αὐτοῦ τῇ μητρί,
ὅτι συγγενὴς οὖσα καὶ προτιμηθεῖσα ἐκ πάντων ὑφ’ αὑτοῦ, φύγοι τὴν Ἰταλίαν καθάπερ οὐ τευξομένη πάντων ὡς παρ’ υἱοῦ.
(268) ὧδε μὲν καὶ ὁ Καῖσαρ ἐτέχναζε καὶ ἐπέστελλε τῇ Ἰουλίᾳ.
Üb.: So gewann Cocceius das Vertrauen Octavians, verbrachte den Tag bei ihm als Gast und bat ihn, dem Antonius zu schreiben als der Jüngere dem Älteren. Er aber sagte, er werde einem, der sich (ihm gegenüber) feindlich verhalte, nicht länger
5 Die Schwurformel ist auch anders interpretiert worden: Gesche 1968, 79–82 verstand sie so, dass Octavian hier nur angekündigt habe, die Caesar zwar noch votierten aber nicht mehr ausgeführten Ehren in Kraft zu setzen (zustimmend Alföldi 1970, 175; ablehnend H. Volkmann 1971, 262; vgl. auch Kienast 2014, 17 mit Anm. 67; Toher 2017, 255).
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schreiben: Jener habe (ihm) nämlich auch nicht (geschrieben). Er würde aber dessen Mutter tadeln, weil sie, obgleich mit ihm verwandt und von ihm vor allen geehrt, aus Italien geflohen sei, als könne sie nicht alles von ihm erreichen wie von einem Sohn. So überlegte es sich Octavian und schrieb Iulia. Komm.: Der der Paraphrase folgende Satz (ὧδε μὲν καὶ ὁ Καῖσαρ ἐτέχναζε καὶ ἐπέστελλε τῇ Ἰουλίᾳ) lässt vermuten, dass es sich hier tatsächlich um eine Paraphrase des Briefes – nicht nur um eine Paraphrase der Aussage Octavians gegenüber Cocceius Nerva – handelt bzw. handeln soll (zu Cocceius Nerva vgl. Bringmann/Wiegandt 2008, 65). Die Stelle wird im Gegensatz zu den zahlreichen bei Appian im Kontext militärischer Kommunikation erwähnten Schreiben des Octavian berücksichtigt (siehe dazu Kap. ii.2.8.1), da hier in nennenswertem Umfang ein Brief inhaltlich wiedergegeben wird, den man aufgrund der Betonung des verwandtschaftlichen Verhältnisses zwischen Schreiber und Adressatin in der Argumentation des Briefes als Privatbrief charakterisieren kann. Gleichwohl macht der Umstand, dass wir neben diesem Beleg bei einem Historiographen von einer Korrespondenz zwischen Octavian und der Mutter des Antonius nichts wissen, die Authentizität dieses angeblichen Briefes zweifelhaft. Es ist denkbar, dass die Erwähnung dieses Briefes, ähnlich wie 6F, auf eine entsprechende fiktive Briefeinlage in Augustusʼ De vita sua zurückgeht; da es anders als im Falle von 6F jedoch keine Parallelüberlieferung der Episode bei anderen Autoren gibt, die die Autobiographie benutzt haben (etwa Velleius Paterculus, Sueton oder Plutarch), kann dies nur eine Möglichkeit bleiben.
5 Ad M. Antonium (8 f.) Die Sekundärüberlieferung der Privatbriefe an Marcus Antonius (86/83/82–30 v. Chr.) beläuft sich auf zwei Fragmente, eines bei dem Grammatiker Charisius sowie eines in Suetons Augustusvita.6 Neben den hier behandelten Fragmenten existieren auch noch einige Testimonien für nicht unbedingt authentische Feldherrenbriefe in der historiographischen Tradition (die Stellen sind in der Konkordanz aufgeführt). Abgesehen von den hier behandelten Briefen liegt auch ein bei Sueton (Aug. 69) wörtlich zitierter Brief des Antonius an Octavian vor (ELM ii, [95] frg. 33), der mit keinem der im Folgenden besprochenen Brieffragmente in einem engeren Kommunikationszusammenhang zu stehen scheint, hier aber dennoch mitgeteilt sei:
6 Das längere Augustus-Zitat Suet. Aug. 86,2 f., das in den älteren Ausgaben unter den Briefen aufgeführt worden ist, gehört hier nicht hin; siehe Kap. iii.1, S. 79–82.
5 Ad M. Antonium (8 f.)
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M. Antonius super festinatas Liviae nuptas obicit et feminam consularem e triclinio viri coram in cubiculum abductam, rursus in convivium rubentibus auriculis incomptiore capillo reductam … Scribit etiam ad ipsum haec familiariter adhuc necdum plane inimicus aut hostis: „Quid te mutavit? Quod reginam ineo? Uxor mea est? Nunc coepi an abhinc annos novem? Tu deinde solam Drusillam inis? Ita valeas, uti tu hanc epistulam cum leges non inieris Tertullam aut Terentillam aut Rufillam aut Salviam Titiseniam aut omnes. An refert ubi et in qua arrigas?“7
8F 31 M = ELM ii, (151) 39 Char. gramm. p. 164,4–10 B: Fretus, huius fretus Porcius Licinus, ut Plinius eodem sermonis dubii libro vi refert, „salsi fretus“, Messala contra Antonii litteras „angustiae fretus.“ „Fretu“ Cicero „a Gaditano“ inquit „fretu“, Augustus ad Antonium fretu cessi. Fabrum pro fabrorum …
Üb.: Fretus, huius fretus (d. h. fretus folgt der u-Deklination): Porcius Licinus habe, wie Plinius in demselben sechsten Buch über die undeutliche Ausdrucksweise berichtet, salsi fretus (der salzigen Meerenge) geschrieben, Messala „angustiae fretus“ (die Enge der Meerenge) in einer Schrift gegen die Briefe des Antonius. Cicero sagt „a Gaditano fretu“ (von der Meerenge von Cádiz, d. i. die Straße von Gibraltar), Augustus an Antonius: „ f r e t u c e s s i “ ( i c h b i n v o r d e r M e e r e n g e z u r ü c k g e w i c h e n ) . Fabrum anstelle von fabrorum … Komm.: Charisius zitiert wohl über Vermittlung durch den Grammatiker Iulius Romanus indirekt aus den Dubii sermonis libri Plinius’ d. Ä. (vgl. Dahlmann 1950, 202 f.; Cugusi, ELM ii/2, 401 f.; Garcea 2021, 66) neben anderen Belegen auch aus einem Brief des Octavian an Marcus Antonius, um zu zeigen, dass fretum/fretus (die Meerenge) nach der u-Deklination gebeugt werde (p. 164,4 B: Fretus, huius fretus …8),
7 Üb.: „Marcus Antonius warf ihm neben der übereilten Heirat mit Livia vor, dass er die Frau eines ehemaligen Konsuls in dessen Gegenwart aus dem Speise- ins Schlafzimmer geführt und sie dann mit roten Ohren und unordentlichem Haar wieder zur Tischgesellschaft zurückgeführt habe … Er schreibt ihm auch folgendes freundschaftlich und noch nicht als ein Feind oder Gegner: ‚Was hat dich verändert? Dass ich eine Königin (d. h. Kleopatra) vögele? Ist sie meine Frau? Habe ich jetzt erst damit angefangen oder schon vor neun Jahren? Du vögelst seitdem nur noch Drusilla? Es möge dir so gut gehen, wie du, wenn du diesen Brief liest, nicht gerade Tertulla oder Terentilla oder Rufilla oder Salvia Titisenia oder alle zusammen vögelst. Kommt es darauf an, wo und worin man einen hoch hat?‘“ Vgl. zu diesem Brieffragment Neger 2018a, 127–129. 8 Der Kontext ist falsch wiedergegeben bei Bringmann/Wiegandt 2008, 50 („Das Fragment ist von Charisius als Beleg für den Gebrauch des separativen Ablativs ohne Präposition zitiert.“); das Beispiel wäre dafür auch denkbar schlecht gewählt (s. u.).
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IV Edition, Übersetzung und Kommentar
wobei das Substantiv im Allgemeinen zwischen der o- (Neutrum) und u-Deklination (Maskulin) zu schwanken scheint (im handschriftlich überlieferten Cicero-Text etwa begegnet beides; vgl. z. B. Cic. nat. deor. 3,24: quid f r e t o Siciliensi? aber Sest. 18: in Scyllaeo illo aeris alieni tamquam in f r e t u ; Rubenbauer, ThLL vi, Art. fretum, 1311,39–70; KH, § 109 [485]). fretu cessi: Cedere mit bloßem Ablativ ist recht gewöhnlich (vgl. etwa die zahlreichen Belege dafür bei KSt, § 80a). Dass mit fretus hier die Straße von Messina gemeint sein könnte (so Malcovati, Ed. Imp. Aug. 1969, 19; Cugusi, ELM ii/2, 401 f.; Bringmann/Wiegandt 2008, 50), in der Octavian 36 v. Chr. im Krieg gegen Sextus Pompeius eine schwere Niederlage erlitt und mit knapper Not der Gefangenschaft entging (vgl. dazu Kienast 2014, 54 f.), ist gut möglich; es wäre jedoch im Hinblick etwa auf Cic. Sest. 18 (s. o.) einzuwenden, dass fretum/fretus auch metaphorischbildersprachlich in ganz anderen Kontexten verwendet werden kann (dort steht der Scyllaeus fretus für eine Situation der Überschuldung). 9F 28 M = ELM ii, (151) 37 Suet. Aug. 7: (1) Sed et a M. Antonio in epistulis per contumeliam saepe Thurinus appellatur, et ipse nihil amplius quam mirari se rescribit pro obprobrio sibi prius nomen obici. (2) Postea [Gai] (cf. Kaster 2016, 90) Caesaris et deinde Augusti cognomen assumpsit …
Üb.: Aber auch von Marcus Antonius wird er in Briefen häufig in verleumndender Absicht Thurinus genannt und er selbst schreibt zurück, er könne sich nur wundern, dass er mit seinem früheren Namen wie mit einem Schimpfwort bezeichnet werde. Später nahm er den Namen Caesar und dann das Cognomen Augustus an … Komm.: Sueton fasst hier einen Briefwechsel – oder zumindest einen inhaltlichen Aspekt daraus – paraphrasierend zusammen, um den Nachweis zu führen, dass Octavian als Kind das Cognomen Thurinus verliehen worden sei: Antonius habe ihn in Briefen häufig in herabsetzender Absicht so genannt, worauf Octavian geantwortet habe, er könne sich nur wundern, dass ihm sein alter Name wie ein Schimpfwort an den Kopf geworfen werde. Cugusi schlägt für diesen Briefwechsel eine Datierung auf den Herbst des Jahres 44 v. Chr. vor, da Antonius in dieser Zeit propagandistisch versucht habe, den Ruf des jungen Octavian zu schädigen (vgl. Cugusi, ELM ii/2, 400). pro obprobrio … obici: Die Formulierung könnte so durchaus direkt dem Prätext entnommen sein, jedenfalls zeigen die verbatim überlieferten Brieffragmente durchaus eine Vorliebe für solche schweren Alliterationen (siehe dazu Kap. v.A.2.3).
6 Ad. P. Vergilium Maronem (10–12)
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6 Ad. P. Vergilium Maronem (10–12) Die Korrespondenz des Augustus mit dem Dichter Publius Vergilius Maro (70–19 v. Chr.) ist durch zwei Fragmente bezeugt, die beide auf indirekter Vermittlung beruhen: Die Vergilvita des Aelius Donatus geht im Kern auf Sueton zurück, wurde von Donat allenfalls geringfügig überarbeitet und dessen Vergilkommentar vorangestellt – die Briefparaphrase 11F dürfte dorther stammen (siehe Kap. ii.2.2, S. 38 Anm. 97). Das Zitat bei dem Grammatiker Priscian (12F) ist indirekt vermittelt und geht sehr wahrscheinlich ebenfalls auf Sueton zurück (siehe dazu Kap. ii.3.5). Zu dem Macr. Sat. 1,24,11 f. zitierten Brief des Vergil an Augustus siehe Komm. zu 11F, S. 114 f. mit Anm. 10.
Claud. carm. min. 40,23 f.: Dignatus tenui Caesar scripsisse Maroni. Nec tibi dedecori sit mea Musa. Vale.
10T
Üb./Komm.: Siehe S. 60 Anm. 183. 11F 36 M = ELM ii, (151) 60 Don. vita Verg.: (30) Aeneidos vixdum coeptae tanta extitit fama, ut Sextus Propertius non dubitaverit sic praedicare: „Cedite, Romani scriptores, cedite Grai:| Nescio quid maius nascitur Iliade“ (Prop. 2,34,65 f.). (31) Augustus vero, nam forte expeditione Cantabrica aberat, supplicibus atque etiam minacibus per iocum litteris efflagitaret, ut sibi de Aeneide, ut ipsius verba sunt, vel prima carminis ὑπογραφὴ vel quodlibet
κῶλον mitteretur.
(32) Cui tamen multo post, perfectaque demum materia, tres omnino libros recitavit, secundum, quartum et sextum. 1 ὑπογραφὴ] Hagen 1867, 737, om. M, hypografa PABR, hypographa D, ypografa E, hypografae G, ypographe V ⸺ 2 κῶλον] Hagen ibid., colon ω
Üb.: Der Ruhm der kaum begonnenen Aeneis war bereits so groß, dass Sextus Propertius nicht zögerte vorauszusagen: „Tretet zur Seite, römische Autoren, tretet zur Seite, ihr Griechen: Etwas größeres als die Ilias wird geboren“; und dass Augustus, denn er befand sich gerade auf dem kantabrischen Feldzug, in einem bald flehenden, bald scherzhaft drohenden Brief forderte, dass ihm von der Aeneis – das waren seine Worte – eine erste Skizze des gesamten Epos oder ein beliebiger Abschnitt geschickt werde. Er (Vergil) trug ihm aber erst sehr viel später, als der Stoff endlich ausgearbeitet war, drei Bücher vollständig vor: Das zweite, das vierte und das sechste.
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IV Edition, Übersetzung und Kommentar
Komm.: Das Briefzitat fällt in der sogenannten Vita Donatiana im Kontext der Schilderung des Ruhmes, den die Aeneis bereits vor ihrer Veröffentlichung gehabt habe. Dies wird zunächst mit einem Distichon des Properz belegt, in dem das entstehende Epos als sogar der Ilias überlegen bezeichnet wird, und dann mit der Paraphrase eines Brief des Augustus: In diesem Brief, den Sueton als „unterwürfig und scherzhaft drohend“ charakterisiert, habe Augustus Vergil darum gebeten, ihm doch eine Skizze oder eine Probe des Werkes zuzusenden. Suetons Beschreibung des Briefes passt gut zu dem Tonfall, den wir sonst aus den Briefen des Augustus an die Literaten seiner Zeit (namentlich Horaz und Maecenas) kennen, die durchzogen sind von scheinbar abwertenden oder mit sexuellen Assoziationen verbundenen Bemerkungen oder Anreden (vgl. v. a. 13F; 18F f.; 21F). Den Brief habe Augustus während des Kantabrerfeldzugs (29–19 v. Chr.) verfasst (nam forte expeditione Cantabrica aberat); Augustus war zwischen 27 und 24 v. Chr. selbst am Ort des Geschehens. Cugusi (ELM ii/2, 410) datiert den Brief in das Jahr 25 v. Chr., in dem Augustus sich schwer erkrankt in Taragona aufhielt – einen zwingenden Anhaltspunkt für genau diese Datierung gibt es m. E. nicht. In den Saturnalia des Macrobius (1,24,11 f.) zitiert die Dialogfigur Symmachus einen Brief des Vergil an Augustus (ELM ii, [194] frg. 1), der die vielseitige Gelehrsamkeit (multiplex doctrina) des Dichters belegen soll und der auf den in der Vita Donatiana paraphrasierten Augustus-Brief zu antworten scheint: „Si in hac opinione es“, inquit Symmachus, „ut Maro tibi nihil nisi poeticum sensisse aestimetur, licet hoc quoque eidem nomen invideris, audi quid de operis sui multiplici doctrina ipse pronuntiet. Ipsius enim Maronis epistula, qua compellat Augustum, ita incipit: ‚Ego vero frequentes a te litteras accipio.‘ Et infra: ‚De Aenea quidem meo, si mehercle iam dignum auribus haberem tuis, libenter mitterem, sed tanta inchoata res est ut paene vitio mentis tantum opus ingressus mihi videar, cum praesertim, ut scis, alia quoque studia ad id opus multoque potiora impertiar.‘ …“9
Vergil lehnt die Bitte um eine Kostprobe aus der Aeneis ab, weil er aufgrund der intensiven Vorarbeiten, derer das Werk bedürfe, noch nichts habe, was er dem Kaiser guten Gewissens vorlegen könne. Die Echtheit dieses Briefes, die in der
9 Üb.: „Symmachus sagte: ‚Wenn du dieser Meinung bist, dass Maro dir abgesehen von der Dichtung nichts verstanden zu haben scheint – wobei du ihm auch diese Bezeichnung (d. h. ‚Dichter‘) missgönnst –, dann hör, was er selbst über die vielseitige Gelehrsamkeit seines Werkes sagt. Ein Brief von Maro selbst, in dem er Augustus anspricht, beginnt nämlich so: ‚Ich erhalte zahlreiche Briefe von dir‘‘, und weiter unten: ‚Aus meinem Aeneas schickte ich dir gerne etwas, wenn ich schon etwas hätte, was deiner Ohren wahrhaft würdig wäre; aber das begonnene Vorhaben ist so gewaltig, dass ich beinahe glaube, mich in einem Anflug geistiger Umnachtung an ein so großes Werk gemacht zu haben, besonders, weil ich, wie du weißt, diesem Werk auch viele andere und viel wichtigere Studien widme.‘‘“
6 Ad. P. Vergilium Maronem (10–12)
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älteren Forschung zumeist unhinterfragt vorausgesetzt wurde, wurde in jüngerer Zeit (Deufert 2013, zur älteren Forschung dort 332 f.) mit gewichtigen Gründen angezweifelt.10 Das Zitat ist in Oratio obliqua ausgeführt; Sueton suggeriert aber eine starke Nähe zum Prätext (ut ipsius verba sunt). Das bezieht sich mindestens auf die beiden griechischen Fachtermini, die folglich so im Brief gestanden haben dürften. prima carminis ὑπογραφὴ: Eine erste Skizze des (gesamten) Werkes. Ὑπογραφή – das Graecum hat Hagen richtig aus dem überlieferten Text rekonstruiert – ist hier gleichbedeutend mit lat. delineatio oder adumbratio, bedeutet also etwa eine Skizze oder einen Umriss, der mit dem Skizzierten nicht deckungsgleich ist (vgl. z. B. Pl. R. 504d: καὶ μεῖζον, ἦν δ᾽ ἐγώ, καὶ αὐτῶν τούτων οὐχ ὑπογραφὴν δεῖ ὥσπερ νῦν θεάσασθαι, ἀλλὰ τὴν τελεωτάτην ἀπεργασίαν μὴ παριέναι11; vgl. auch Gelsomino 1959, 122; Deufert 2013, 335). Augustus denkt hier also vermutlich an eine Art konzeptionellen Entwurf der Handlung. Nach dem Zeugnis der Vita Donatiana scheint Vergil bei der Arbeit an der Aeneis zunächst Prosa-Skizzen angefertigt zu haben, die er erst in einem zweiten Arbeitsschritt in Versform brachte (vgl. Don. vita Verg. 23 f.) – so etwas ist hier vielleicht auch gemeint. Prima deutet darauf hin, dass sich die Arbeit Vergils an dem Epos offenbar noch in einem frühen oder allenfalls fortgeschrittenen Stadium befunden hat. Dies passt, da Augustus von 27 bis 24 v. Chr. am Kantabrerfeldzug teilgenommen hat und Vergil von 29 bis zu seinem Tod 19 v. Chr. an der Aeneis gearbeitet hat. Der Brief muss also etwa in die ersten fünf Jahre der Arbeit Vergils an seinem ‚Großvorhaben‘ fallen. quodlibet κῶλον: Die Handschriften bieten colon, doch scheint wegen der Übereinstimmung mit ὑπογραφὴ ein Graecum als Verbum ipsissimum wahrscheinlicher, sodass ich – auch in Übereinstimmung mit meinen Editionsprinzipien (siehe Kap. iii.3.2) – Hagens stillschweigender (Re-)Transkription folge.
10 Ausgangspunkte für Deuferts Argumentation – die hier nur in aller Kürze wiedergegeben werden soll, weil sie am besten für sich selbst spricht – sind zunächst die Überlieferungssituation (kein Autor außer Macrobius, insbesondere nicht Sueton bzw. Donat, kennt den Brief, 333–336) sowie auffällige sprachliche Entsprechungen zwischen den beiden Brieffragmenten und andere sprachliche Besonderheiten, vor allem vitium im Sinne von perturbatio, die „schiefe“ Antithese: „Zwar würde ich dir gerne etwas schicken, aber ich scheine als Geisteskranker mich an dieses Werk gemacht zu haben, weil …“, der Gebrauch des sonst nur spät belegten Deponens impertiri, sowie die sonst weit überwiegend in der Rede, besonders in der Panegyrik belegte Verbindung si meherc(u)le (336–342). Insbesondere letztere Beobachtung veranlasst ihn, das Fragment in die Nähe der prosopopoeia, eines Produkts der kaiserzeitlichen Rhetorikschule, zu rücken (342–344) und im Rahmen der antiken Vergilrezeption zu kontextualisieren (344–347). 11 Üb.: „‚Es gibt noch eine größere (Tugend),‘ sagte ich, ‚und von diesen (Tugenden) darf er nicht nur einen Umriss betrachten, wie bisher, sondern er darf die genaue Untersuchung nicht unterlassen.‘“
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IV Edition, Übersetzung und Kommentar
Was Augustus meint, ist offenkundig und im Gegensatz zu ὑπογραφὴ eine bereits in Versen ausformulierte Partie. Der griechische Terminus ist hier jedoch weniger passend und wird so nur in Bezug auf Abschnitte aus syntaktischen oder rhythmischen Einheiten gebraucht, ist also eher ein Begriff der grammatischen und metrischen Fachsprache; das Wort, das Augustus sucht, ist ποίημα, die lateinische Entsprechung wäre membrum (vgl. Gelsomino 1959, 122; Deufert 2013, 338 mit Anm. 34). Der beiden griechischen12 Fachtermini bedient sich Augustus deswegen, weil sie ihm der Thematik, der ποιητική τέχνη, besonders angemessen erscheinen;
12 Die Möglichkeit, für einzelne Wörter oder längere Passagen ins Griechische zu wechseln, sogenanntes ‚c o d e - s w i t c h i n g ‘ (vgl. dazu Wenskus 1998) ist offensichtlich ein Charakteristikum des römischen Privatbriefes. Zum ‚code-switching‘ in den Cicero-Briefen vgl. Swaine 2002; Adams 2003a, 308–347; Rollinger 2015; Mäkilähde/Rissanen 2016. Den Versuch, ‚code-switches‘ im römischen Brief über Cicero hinaus systematisch zu untersuchen und die Einzelfälle in funktionale Kategorien einzuteilen, unternehmen jetzt Elder/Mullen 2019. Der gedruckte Band wird begleitet von der nützlichen, frei zugänglichen Online-Datenbank „Code-Switching in Roman Literature“ (i.F. CSRL). Elder/Mullen unterscheiden im Wesentlichen zwischen intra- und intersententiellen ‚code-switches‘ (d. h. solchen, die in einen Satz in Matrixsprache eingebettet sind, und solchen, die eigenständige Sätze darstellen; vgl. dazu Elder/Mullen ibid., 57–62), sowie zwischen verschiedenen „lower-order functions“: Damit meinen sie die unmittelbaren sprachlichen Funktionen der ‚codeswitches‘ im Text, die vergleichsweise mechanisch ermittelt werden können, auch wenn die Autoren der Studie sich der Arbitrarität der Entscheidung im Einzelfall bewusst sind. Zu nennen sind hier neben anderen vor allem die Funktionen „Description“, „Metalinguistic“, „Referential“, „Evocation of Greek Cultural Sphere (GCS)“ – hier werden zahlreiche Subkategorien wie z. B. „GCS: Literature/Rhetoric/Grammar“, „GCS: Medicine“ und „GCS: Philosophy“ unterschieden –, „Quotation“ und „Wordplay“; vgl. Elder/Mullen ibid., 19–30 (mit einer Tabelle, in der für die verschiedenen funktionalen Typen Beispiele aufgeführt werden). In der CSRL-Datenbank sind sämtliche ‚codeswitches‘ in den Cicero-Korrespondenzen, den Briefen des jüngeren Plinius und Frontos sowie bei Sueton (darunter alle bei ihm zitierten die Augustus-Brieffragmente!) aufgeführt und einer dieser „lower-order functions“ (ich spreche im Folgenen von CSRL-Funktionen) zugeordnet. Für eine Bewertung dieses wohl in erster Linie für linguistisch orientierte Studien auf der Makroebene fruchtbaren Ansatzes vgl. die grundsätzlich positive, aber in Einzelfragen angemessen kritische Rezension Dickey 2020. Abzugrenzen von den CSRL-Funktionen sind die „higher-order functions“, die sich auf weitergehende kommunikative Absichten hinter dem jeweiligen ‚code-switch‘ beziehen und nicht in derselben Weise kategorisierbar sind, sondern nur durch sorgfältige Interpretation des jeweiligen Kontexts näherungsweise ermittelt werden können (eher transitorische und argumentativ fast nur auf Sekundärliteratur beruhende Interpretationsvorschläge für einige Stellen in den AugustusBrieffragmenten bieten Elder/Mullen a.a.O, 256–268). Mein Kommentar fragt hier und im Folgenden eher nach diesen „higher-order functions“, auf die CSRL-Funktionen gehe ich nur insoweit ein, dass ich für die von Elder/Mullen nicht berücksichtigten Fragmente Zuordnungsvorschläge mache und an den Stellen, die sie berücksichtigt haben, mich ihre Zuordnung aber nicht überzeugt, eine passendere Zuordnung versuche. Ich gebe S. 248 f. einen tabellarischen Überblick darüber.
6 Ad. P. Vergilium Maronem (10–12)
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dahinter steht möglicherweise der Versuch, gegenüber dem Adressaten Sachkenntnis zu suggerieren und somit einen gemeinsamen intellektuellen Horizont zu konstruieren: Dass Augustus sich selbst an der Abfassung verschiedener poetischer Werke versucht hat, ist durch Sueton bezeugt (vgl. Suet. Aug. 85), insofern liegt die Annahme nahe, dass er hier gegenüber Vergil einen sozusagen kollegialen Ton anzuschlagen versucht. Bezeichnend ist jedoch, dass Augustus in der Nutzung der entsprechenden Terminologie unsicher scheint.13 12F 35 M = ELM ii, (151) 62 Prisc. gramm. GL ii, p. 533,13 H: Caesar ad Vergilium: Excucurristi a Neapoli. Plautus in Sticho: … a Neapoli] ad Neapolim B
Üb.: Caesar an Vergil: D u b i s t a u s ( d e r G e g e n d v o n ? ) N e a p e l d a v o n g e l a u f e n . Plautus im Stichus: … Komm.: Priscian zitiert die Stelle als Beispiel für die der Schulgrammatik widersprechende Wurzelreduplikation eines Kompositums im Perfekt. Das Fragment inhaltlich zu kontextualisieren, ist schwierig. Zunächst einmal stellt Augustus fest, dass Vergil Neapel in überhasteter Weise verlassen habe (wobei eine varia lectio das genaue Gegenteil aussagt, s. u.), was die Vermutung nahelegt, dass er gehofft hatte, ihn dort anzutreffen (vgl. M. Möller im Druck). Hier schwingt dann sicherlich auch ein gewisser Vorwurf mit, nämlich die Unterstellung, Vergil habe ihn bewusst meiden wollen (die Unterstellung, der Angesprochene versuche, sich von ihm zu distanzieren, findet sich etwa auch in den Briefen an Horaz; vgl. 16F u. 17F). Man hat dieses Brieffragment mit dem (jedoch nicht unbedingt brieflichen) Augustuszitat Nos venimus Neapolim fluctu quidem caeco bei Isid. nat. 44,4 rekonstruierend verbinden wollen (vgl. Cichorius 1922, 269–271, der vorschlägt: nos venimus Neapolim fluctu quidem caeco excucurrusti a Neapoli; siehe dazu Kap. ii.3.6; mit Recht skeptisch auch Malcovati, Ed. Imp. Aug. 1969, 26).
13 Zum Zusammenhang von Gruppenkonstitution und sprachlicher Spezialisierung (Termini technici) vgl. Möhn 1998–1999. Zum Problem der Übertragbarkeit des modernen Verständnisses von ‚Fachsprache‘ auf die antike Literatur vgl. Wöckener-Gade 2017, 13.
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IV Edition, Übersetzung und Kommentar
excucurristi: Siehe dazu Kapitel ii.3.5. Bei der Beibehaltung der Perfektreduplikation in Komposita wirkt altlateinischer Sprachgebrauch nach: Für Cato ist (in eben diesem Kontext bei Priscian) concucurisse belegt14; Belege aus der Komödie und Varros Menippea führt Skutsch (1986, 672) auf. Decucurri ist Plin. epist. 10,96,9 als Lesart belegt und wird in der Ausgabe von Mynors gedruckt; die Frage ist jedoch strittig (vgl. bereits Schuster 1929, 7 f.). a Neapoli: Die Handschrift B bietet (fol. 124v) die Lesart ad Neapolim, was unter der Prämisse, dass Augustus (hier) eine Präposition bei einem Städtenamen verwenden kann (s. u.), ebenso denkbar wäre (für excurrere ad vgl. z. B. Liv. 2,53,1; Cypr. epist. 43,4,2). Präpositionen bei Städtenamen zu verwenden, wird schon in der Antike als eine besondere im Dienste der ‚Klarheit‘ stehende Stileigenheit des Augustus bezeichnet (vgl. Suet. Aug. 86,1: neque praepositiones urbibus addere neque … dubitavit; Cugusi 1972, 130 f.; Adams 2016, 195)15. Es stellt sich die Frage, ob dieses Fragment wirklich ein Beispiel dafür ist: Zunächst einmal sind die Präpositionen ab und ad bei Städtenamen nach der Standardgrammatik durchaus zulässig, wenn mit der Stadtbezeichnung gar nicht die Stadt selbst, sondern ihr Umland oder ihr Hafen gemeint ist, aber auch, wenn die Richtung der Bewegung oder der Gegensatz woher–wohin besonders betont werden soll (vgl. KSt, § 88a–b mit Belegen, z. B. Cic. Phil. 12,11: a Mutina discederet u. Caes. civ. 1,11,4: ab Arimino M. Antonium cum cohortibus v Arretium mittit). Dennoch scheint es überzogen, wenn Gutiérrez González (2012, 128) ausschließlich die Übersetzung „you rushed to leave the neighborhood of Naples“ gelten lassen möchte.
7 Ad C. Maecenatem (13–15) Von Augustus’ Privatbriefen an Maecenas (68–8 v. Chr.) haben sich drei Fragmente erhalten, die mittelbar oder unmittelbar auf die Rezeption der Briefe durch Sueton
14 Till 1935, 16 f. mit Anm. 6 hält die Form für „poetisch“, doch ist sein dafür angeführter EnniusBeleg wertlos: Enn. ann. 468 Sk = Prisc. gramm. GL ii, p. 482,3–6 H: Detondeo detondi. Vetustissimi tamen etiam ‚detotondi‘ protulerunt. Ennius in annalibus „et d e t o t o n d i t (codd.) …“ At Varro in magno talento „detotonderat …“ (Varro Men. frg. 246 A) ist für Ennius gegen den handschriftlichen Befund detondit zu lesen, da at einen Gegensatz zwischen Ennius und Varro impliziert; vgl. Skutsch 1986, 627. Davon abgesehen wäre detotondit bei Ennius auch contra metrum. 15 Außerdem begegnen nachklassisch sowie in der Umgangssprache – wenigstens einmal bei einem Briefpartner Ciceros! – durchaus Abweichungen von den Regeln zur Verwendung von Präpositionen bei Städtenamen (vgl. z. B. Sulp. Ruf. Cic. fam. 4,12,2: cum a b A t h e n i s proficisci in animo haberem. Für weitere Belege vgl. KSt, § 88 Anm. 4).
7 Ad C. Maecenatem (13–15)
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zurückgehen. Sie stehen alle im Zusammenhang mit Maecenas’ Förderung junger Dichter oder dessen eigenen poetischen Versuchen, denen gegenüber Augustus sich eher skeptisch zeigt. Politische Fragen spielen keine erkennbare Rolle (zu Maecenas’ politischer Funktion im Herrschaftssystem des Augustus vgl. Dahlheim 2010, 318– 320). Nicht behandelt wird hier das von Appian (BC 5,222) erwähnte Schreiben, in dem Octavian Maecenas auftragen habe, für ihn eine Ehe mit Scribonia zu arrangieren – dabei dürfte es sich weniger um einen Privatbrief als um eine Verhandlungsvollmacht handeln, mit der Octavian den Adressaten ermächtigt, in seinem Namen rechtsverbindliche Arrangements zu treffen. Meine grundsätzlichen Zweifel an der Authentizität des Schreibens mögen dahinstehen. 13F 32 M = ELM ii, (151) 47 Macr. Sat. 2,4: (12) Idem Augustus, quia Maecenatem suum noverat stilo esse remisso, molli et dissoluto, talem se in epistolis, quas ad eum scribebat, saepius exhibebat et contra castigationem loquendi, quam alias ille scribendo servabat, in epistola ad Maecenatem familiari plura in iocos effusa subtexuit:
Va l e , m e l g e n t i u m † m e l c u l e † , e b u r e x E t r u r i a , l a s a r A r r e t i num, adamas supernas, Tiberinum margaritum, Cilneorum smaragde, ἴασπι figulorum, berulle Porsenae. Carbunculum habeas, ἵνα συντέμω πάντα, μάλαγμα moecharum.
(13) Exceptus est a quodam cena satis parca et quasi cotidiana …
mel gentium] meligentium V (fortasse μέλι gentium?) — melcule] DP2G, meculle Nβ, Medulliae Turnebus (Adversaria, Bd. 2 [Paris 1565], lib. xviii, cap. ii), mei ocule Pillola 1989, 145–147; an melius mi o-?) — Cilneorum] ω, Cilniorum Stephanus (Ed. Macr. 1585, 283) — ἴασπι] iaspi ω — μάλαγμα] ω, ἄλλαγμα Morgan (cf. Kaster 2010, 42), fortasse μείλιγμα
Üb.: Weil er wusste, dass sein Maecenas einen nachlässigen, weichen und lockeren Stil hatte, zeigte er sich ebenso in den Briefen, die er recht häufig an ihn schrieb, ganz im Gegensatz zu der sprachlichen Zurückhaltung, die er sonst beim Briefeschreiben walten ließ. In einem Privatbrief an Maecenas fügte er folgenden Erguss von Scherzen hinzu: L e b ’ w o h l , L i e b l i n g d e r W e l t , E l f e n b e i n a u s Etrurien, du Lasarsaft aus Arrezzo, Nordküstendiamant, du T i b e r p e r l e , d e s C i l n i e r g e s c h l e c h t s S m a r a g d , J a s p i s d e r T ö p f e r, Beryll des Porsenna. Einen Karbunkel sollst du haben, um alles zusammenzufassen, du Matratze der Ehebrecherinnen. Er wurde von jemandem zu einem recht sparsamen und alltäglichem Abenessen empfangen …
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IV Edition, Übersetzung und Kommentar
Komm.: Der Brief wird im zweiten Buch von Macrobius’ Saturnalia in einer Rede des Avienus über den Humor des Augustus zitiert. Augustus habe den lockeren, weichen und freien Stil seines Freundes Maecenas gekannt (Maecenatem suum noverat stilo esse remisso, molli et dissoluto), daher einen ebensolchen Stil in seinen Briefen an ihn an den Tag gelegt und entgegen seiner sonstigen stilistischen Zurückhaltung (contra castigationem loquendi, quam alias ille scribendo servabat) einen Privatbrief mit vielen Scherzen unterwoben. Macrobius kannte den Brief, so meine ich, durch indirekte Überlieferung über Sueton (siehe dazu Kap. ii.3.4). Das Fragment wird durch seinen Wortlaut (vale) als Briefschluss ausgewiesen; vielleicht handelt es sich sogar um eine Art Postskriptum (subtexuit im Zitierkontext ist wohl im Sinne von ‚hinzufügen‘, ‚anfügen‘ oder dergleichen zu verstehen; vgl. OLD, Art. subtexo, 2042 [3a]), in dem statt einer zu erwartenden Nennung des Adressatennamens (etwa mi Maecenas) asyndetisch eine Reihe von zweigliedrigen Anreden folgt, mit denen Augustus den Stil des Maecenas einerseits und dessen Herkunft aus Etrurien anderseits scherzend aufs Korn nimmt (vgl. Gelsomino 1958a, 148). mel gentium: Die Handschriften überliefern fast geschlossen mel gentium; lediglich die Handschrift V (fol. 65v) bietet meli gentium (die Lesart fehlt in Kasters Apparat). Gelsomino (1958a, 148) zieht nach dem Prinzip der lectio difficilior letztere Lesart vor, wobei er meli als lat. Schreibweise von gr. μέλι (Vokativ) deutet und die Lesart mel g- als Glosse im Archetyp erklärt (so auch Cugusi 1972, 155; Sblendorio 1973, 58; m. E. müsste Augustus dann auch μέλι mit griechischen Buchstaben geschrieben haben wie die übrigen Graeca in diesem und vielen anderen Brieffragmenten). Für den Inhalt ergibt sich hier kein Unterschied: Als Anrede ist mel (oder μέλι) wohl zu verstehen wie engl. honey, also im Sinne von Liebling (ähnlich Plaut. Bacch. 17 f.: cor meum, spes mea,| mel meum; Poen. 367: meum mel, meum cor, mea colustra …; Mart. 10,68,5 f.: κύριέ μου, μ έ λ ι μου, ψυχή μου congeris usque,| pro pudor!16 Vgl. dazu auch Dickey 2002, 159–161). Der Genitiv Plural von gens begegnet häufig als partitiver Genitiv im Sinne von der (ganzen) Welt wie z. B. caput gentium (weitere Beispiele bei Meyer, ThLL vi, Art. gens, 1856,20–52). Insofern scheint die Übersetzung „Allerweltsliebling“ (Bringmann/Wiegandt 2008, 50) durchaus den Sinn zu treffen.
16 Die Worte werden einer Laelia, die für ihren graecophilen und promisken Lebensstil kritisiert wird, vom poetischen Ich in den Mund gelegt; vgl. Watson/Watson 2003, 226–229; Hecker, Damschen/Heil 2004, 251 f.; auch wenn die Anrede so in dem, was wir aus der griechischen Komödie kennen, nicht belegt zu sein scheint, deutet der Kontext der Martial-Stelle in Verbindung mit den Plautus-Stellen doch sehr auf entsprechende Vorbilder in der Neuen Komödie hin.
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melcule ist besser überliefert als meculle – befriedigend sind beide Lesarten nicht: Während meculle eine vox nihili ist, spricht gegen melcule, dass das Deminutivum von mel sonst nur im Neutrum belegt ist (immerhin recht ähnlich als Anrede bei Plaut. Cas. 837: meum corculum, melculum17, verculum); vielleicht wäre melculum als Emendation des überlieferten Textes zu erwägen (Verschreibung von -u mit Kürzungszeichen zu -e?), immerhin würde sich so ein schönes Homoioteleuton (mel gentium, melculum) ergeben. Zu Turnebus’ Konjektur Medulliae vgl. Kaster 2010, 41 Anm. 19. Pillolas mei ocule (fehlt aufgeführt Apparat bei Kaster, Ed. Macr. Sat. 2011) ist ein paläographisch guter Vorschlag; zu erwägen wäre vielleicht auch mi ocule (vgl. Plaut. Curc. 203: bene vale, ocule mi). ebur ex Etruria, lasar Arretinum, adamas supernas, Tiberinum margaritum, Cilniorum smaragde, ἴασπι figulorum, berulle Porsenae: Die Pointe ist, dass Maecenas mit den Bezeichnungen verschiedener orientalischer Luxusgüter angeredet wird, die dann jeweils mit einer (unpassenden) norditalischen Provenienzbezeichnung oder anderen unpassenden Attributen versehen werden. Damit spielt Augustus auf die Diskrepanz zwischen Maecenas’ offen zur Schau gestelltem Stolz auf dessen etrurische Herkunft einerseits und dessen asianisch-modernistischem Stilideal anderseits an, die ihn zum ‚Allerweltsliebling‘ (s. o.) macht (vgl. Gelsomino 1958a, 149). Augustus spielt mit der Aufzählung offenkundig persiflierend auf ein Epigramm des Maecenas an, von dem ein Fragment in den Etymologiae des Isidor von Sevilla erhalten ist, in dem fast alle genannten Luxusgüter ebenfalls begegnen: Isid. orig. 19,32,6 (Maecen. carm. frg. 2 FPL4): Lucentes, mea vita, nec smaragdos beryllosque mihi, Flacce, nec nitentes nec percandida margarita quaero, nec quos Thynica lima perpolivit anellos nec iaspios lapillos.18
Unterstrichen sind jeweils die lexikalischen Entsprechungen (vgl. zu den Beziehungen zwischen diesen beiden Fragmenten auch Kapitel ii.3.4). Auch Sueton bezeugt, dass Augustus den Stil des Maecenas häufig im Scherz nachgeahmt habe (vgl. Suet. Aug. 86,2), vielleicht hat er dabei genau diesen Brief vor Augen gehabt. Ebenfalls
17 Die dort nur in der Palimpsest-Handschrift A (Mailand, Bibl. Ambrosiana, G 82 sup. [3./4. Jh.]) überlieferte Lesart melculum (die übrigen Hss. haben melliculum) ist geschützt durch die Sekundärüberlieferung bei Prisc. gramm. GL ii, p. 102,18 H. 18 Üb. siehe Kap. ii.3.4, S. 61 Anm. 187.
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wird hier deutlich, was in Tac. dial. 26,1 gemeint ist, wenn von den calamistri Maecenatis, den „Schnörkeleien des Maecenas“, die Rede ist. Elfenbein kommt aus Indien, nicht aus Etrurien. Bei lasar, einer umgangssprachlichen Form von laser (vergleichbar anser/ansar; vgl. Prob. app. gramm. GL iv, p. 198,22 u. 33 K: anser non ansar, vielleicht aus klanglichen Gründen bewusst gewählt, s. u.), handelt es sich nach Plinius d. Ä. um den sehr wertvollen und medizinisch verwendeten Saft der Silphium-Pflanze, die zumeist aus Syrien importiert wurde, also natürlich nicht in Arezzo heimisch war (vgl. Plin. nat. 22,100–106). Adamas supernas bedeutet „Diamant von der Adriaküste“; supernas, -tis (einendig) ist eine seltenere Nebenform von supernus, -a, -um (vgl. Neue/Wagener 1892–1905 ii, 28; OLD, Art. supernas, 2069; die frühesten Belege finden sich neben unserem Fragment bei Vitr. 1,6,10; 2,9,17; 2,10,2)19 und bezeichnet eine nördliche Lokalisierung an der von Rom aus gesehen im Norden liegenden Adriaküste; die Form ist hier offenbar aus klanglichen Gründen gewählt (s. u.). Natürlich gibt es an der Adria keine Diamanten. Tiberinum margaritum ist die Perle aus dem Tiber – es gibt dort keine Perlen. Cilniorum smaragde bedeutet Smaragd der gens Cilnia, der Maecenas angehörte und die bis ins vierte Jahrhundert v. Chr. zu den führenden Geschlechtern im etruskischen Arrezzo gehört hatte (darauf spielt etwa auch Hor. carm. 1,1,1: Maecenas, atavis edite regibus oder 3,29,1–3: Tyrrhena regum progenies … Maecenas an; vgl. Münzer, RE iii, Art. Cilnius, 2545 f.). Smaragde wurden im Altertum in Ägypten abgebaut und insofern mit dieser Region identifiziert. Ἴασπι figulorum – die in den Handschriften überlieferte Form iaspi ist eindeutig ein griechischer Vokativ (vgl. Gelsomino 1958a, 150), den ich mit griechischen Buchstaben gedruckt habe – bedeutet „Jaspis der Töpfer“, wobei hier vielleicht eine Doppeldeutigkeit vorliegt: Der Begriff ist inschriftlich auch als Name belegt (griechisch IG ii, Nr. 3802 = ii/iii2, Nr. 11700 [Athen; 4. Jh. v. Chr.] vielleicht für eine Hetäre oder eine Sklavin; lateinisch als Cognomen eines Freigelassenen CIL x, Nr. 2433 [Puteoli; 1./2. Jh. n. Chr.]; vgl. Bechtel 1917, 597; LexGrPN ii, 231; iiia, 215; zu – mehrheitlich maskulinen – gr. Namen auf -ις vgl. Locker 1934, 85–87).20 Hier wird wieder ein Schmuckstein ironisch mit einer etruskischen Spezialität, dem Töpferhandwerk,
19 Für Gelsomino 1958a, 150 liegt hier eine umgangssprachliche Färbung vor, was jedoch unsicher erscheint. Interessanter ist im Gesamtzusammenhang, dass die Deklination -as, -atis für etruskische Familiennamen (wie Maecenas, -atis!) typisch zu sein scheint; vgl. Simpson 1996, 394 mit Anm. 5. Wenn dies zutrifft, handelt es sich wohl um ein etruskisches Äquivalent zu Herkunftsnamen auf -ius; vgl. Varro ling. 8,84; de Melo, Ed. Varro ling. 2019 ii, 1105. 20 Möchte man den ‚code-switch‘ einer der CSRL-Funktionen zuordnen (vgl. dazu Komm. zu 11F, S. 116 Anm. 12), kommen ‚Beschreibung‘ (da Maecenas mit dem Begriff charakterisiert wird), ‚Evokation der griechischen Kultursphäre‘ (da es sich um einen ‚Fachbegriff‘ für einen exotischen Schmuckstein handelt) oder ‚Gruß‘ (da es sich um einen Briefschluss handelt) infrage.
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in Verbindung gebracht (vgl. Gelsomino 1958a, 151). Genauso berulle Porsenae: Ein Beryll ist ein aus Indien stammender Schmuckstein; mit Porsenna ist wohl Lars Porsenna, ein etruskischer König von Clusium aus der römischen Frühzeit, gemeint (vgl. Gelsomino 1958a, 151; Bringmann/Wiegandt 2008, 51). Auffällig sind die Alliterationen, Assonanzen und Homoioteleuta in der asyndetischen Aufzählung (ebur ex Etruria, lasar Arretinum, adamas supernas, Tiberinum margaritum) sowie der Chiasmus Cilniorum smaragde, ἴασπι figulorum (vgl. Petrain 2005, 347). All dies verleiht den Anreden auch auf der Klangebene einen pompös-ironischen Unterton. Carbunculum habeas: Ich lasse hier einen neuen Satz beginnen; so scheint mir habeas, von Kaster in cruces gesetzt, vertretbar. Es handelt sich bei dem Konjunktiv um einen iussivus („du mögest an einem Geschwür leiden …“), der in informeller Sprache durchaus vorkommt (gerne in Grußformeln, in denen dem Angesprochen Wohlergehen gewünscht wird; vgl. z. B. Plaut. Amph. 928: valeas, tibi habeas res tuas, reddas meas; Poen. 858: salvos sis; Ter. Andr. 802: salvo’ sis, Crito; Cic. fam. 16,9,4: Cautus sis, mi Tiro; Aur. Fronto p. 56,4 vdH: valeas semper, anima suavissima; vgl. auch KSt, § 47,6c). Hier liegt – in scherzhafter Weise – der gewissermaßen umgekehrte Fall vor: Augustus wünscht Maecenas nicht, dass es ihm gut gehe, wie man am Briefschluss erwarten könnte, sondern dass er sich einen Karbunkel zuziehe. Habere mit Akkusativobjekt im Sinne von „an einer Krankheit leiden“ – etwa anstelle von laborare mit Ablativ – ist eine konventionell-stereotype Formulierung, die von der Umgangssprache beeinflusst sein könnte (vgl. zu diesem Zug der Umgangssprache Till 1935, 14; Happ 1967, 75–77; so z. B. auch Cic. fam. 7,26,1: quia febrim non haberem; Gelsomino 1958a, 151). Carbunculus ist doppeldeutig: Das Substantiv kann einerseits wieder auf einen Edelstein verweisen (vgl. Plin. nat. 37,92; Gelsomino 1958a, 151; Bringmann/Wiegandt 2008, 51), anderseits aber auch metaphorisch „Geschwür“ bedeuten (vgl. Langslow 2000, 186). Mir scheint hier aber letztere Bedeutung vorherrschend zu sein. Aufgrund des Folgenden meint Augustus vielleicht eine Sexualinfektion bzw. das Symptom einer solchen (vgl. Petrain 2005, 347 mit Anm. 70). Der Wunsch, Maecenas möge so einen Edelstein besitzen, passt nicht recht in den Kontext: Die anderen Edelsteine o. ä. im vorherigen Satz werden ja als Anreden verwendet. Insofern scheint die Überlegung Cugusis, der hier ein Aprosdoketon sieht – d. h., dass Augustus den Leser bei carbunculum zunächst bewusst an eine weitere Edelsteinart denken lässt, um dann mit habeas eine überraschende Bedeutungsverschiebung zu erreichen – immerhin bedenkenswert (vgl. Cugusi, ELM ii/1, 345 u. ii/2, 406); dagegen spricht zwar, dass carbunculum kein Vokativ sein kann, Augustus in der Aufzählung zuvor aber immer Vokativ-Formen verwendet hat. Die Doppeldeutigkeit ist jedoch zweifellos vorhanden. ἵνα συντέμω πάντα: Anscheinend eine Euripides-Anspielung: Sehr ähnlich ist in der Hecuba des Euripides zum Ende einer längeren Rede des Polymestor; vgl. E. Hec. 1180: ἅπαντα ταῦτα συντεμὼν ἐγὼ φράσω (vgl. Gelsomino 1958a, 152). Auch Aris-
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tophanes legt in den Ranae seinem Euripides eine solche Formulierung in den Mund; vgl. Aristoph. Ran. 1261 f.: πάνυ γε μέλη θαυμαστά· δείξει δὴ τάχα.| εἰς ἓν γὰρ αὐτοῦ πάντα τὰ μέλη ξυντεμῶ21. Jedenfalls handelt es sich bei ἵνα συντέμω πάντα (etwa anstatt lat. ad summam) wohl um eine gelehrte Anspielung gegenüber dem gebildeten Maecenas, die der ohnehin scherzhaften Verwünschung die Schärfe nimmt.22 μάλαγμα moecharum: Dies ist ausweislich Kasters Apparat der in den Handschriften einhellig überlieferte Text. Μάλαγμα ist das Substantiv zu μαλάσσω bzw. -ττω (‚weich machen‘ oder ‚beruhigen‘), also ein ‚Weichmacher‘, im weiteren Sinne auch ein Polstermaterial und hier dann etwa Kissen, Matratze oder Bett der Ehebrecherinnen (vgl. LSJ, Art. μαλάσσω -ττω, 1077). Kaster nimmt Anstoß daran, dass μάλαγμα moecharum die vorangegangene Aufzählung nicht adäquat zusammenfasse, und folgt Morgans Konjektur ἄλλαγμα (etwa ‚Belohnung‘ oder ‚Preis‘). Als Belegstelle führt er Dtn 23,19 (lxx): οὐ προσοίσεις μίσθωμα πόρνης οὐδὲ ἄ λ λ α γ μ α κυνὸς εἰς τὸν οἶκον κυρίου τοῦ θεοῦ σου23 an (vgl. Kaster ibid., 41 f.). Diese Lösung vermag nicht recht zu überzeugen: Mit ἄλλαγμα κυνὸς ist der Erlös aus der Prostitution gemeint, während eine moecha eine Ehebrecherin, bzw. eine freizügige, promiske Frau, aber eben keine Prostituierte strictiore sensu ist (abwertend ist der Begriff zwar, aber nicht in demselben Maß).24 Demnach wäre das von Morgan vorgeschlagene ἄλλαγμα hier allenfalls als ‚Geschenk‘ eines Liebhabers an seine Geliebte zu verstehen, aber damit ist dem Begriff, der sonst immer für ein ‚Tauschmittel‘ steht, semantisch zu viel abverlangt (vgl. DGE ii, Art. ἄλλαγμα, 155). Der überlieferte Text passt eigentlich nicht schlecht zu carbunculum habeas, wenn wir carbunculus als Symptom einer Sexualinfektion verstehen (s. o.). Gleichzeitig erscheint auch die Überlegung, μάλαγμα verweise auf Maecenas’ Stil als Dichter, der die Frauen erweiche, bedenkenswert (vgl. Gelsomino 1958a, 152; Graver 1998, 630). So ergäbe sich eine sexuell-poetologische Ambivalenz, die gut mit der Doppeldeutigkeit von carbunculum korrespondiert. Wenn man diese Interpretation partout nicht akzeptieren mag, erschiene mir alternativ als Konjektur μείλιγμα (‚Liebling‘) erwägenswert: Das Graecum ist eben-
21 Üb.: „Ganz wundervolle Lieder sind das (gemeint sind die Chorlieder des Aischylos). Das wird gleich deutlich. In eins werde ich alle seine Lieder zusammenfassen.“ 22 Derartiges wäre dann der CSRL-Funktion ‚Zitat‘ zuzuordnen – da hier jedoch ein Briefschluss vorliegt wäre auch gemeinsam mit dem folgenden μάλαγμα ‚Gruß‘ zu erwägen. 23 Üb.: „Du sollst keinen Lohn aus der Prostitution und keine Bezahlung für Unzucht in das Haus des Herrn, deines Gottes, bringen.“ 24 Wenn Catull in carmen 42 die moecha, von der er seine codicilli zurückerhalten möchte, als lupanar (‚Hurenhaus‘) bezeichnet (vgl. Catull. 42,13 f.: o lutum, lupanar,| aut si perditius potes quid esse!), dann eben nicht, weil sie tatsächlich mit sexuellen Dienstleistungen ihren Lebensunterhalt bestreitet, sondern, um sie zu beleidigen.
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falls, wenn auch in etwas anderer Bedeutung, in den Briefen Ciceros belegt (Att. 13,27,1: ‚Catonis‘ μείλιγμα; etwa: „Loblied auf Cato“); hier wäre es ähnlich zu verstehen wie in A. A. 1438 f.: κεῖται γυναικὸς τῆσδε λυμαντήριος,| Χρυσηίδων μ ε ί λ ι γ μ α τῶν ὑπʼ Ἰλίῳ25. Vielleicht handelt es sich dann hier ebenenfalls (wie bei ἵνα συντέμω πάντα) um eine Anspielung auf die Tragödie. 14F 33 M = ELM ii, (151) 46 Suet. vita Hor. p. 2*,3–8 Kl: Augustus epistularum quoque ei (sc. Horatio) officium obtulit, (Lambinus) hoc ad Maecenatem scripto significat:
Ante ipse sufficiebam scribendis epistulis amicorum. Nunc occupatissimus et infirmus Horatium nostrum te cupio a b d u c e r e . Ve n i e t e r g o a b i s t a p a r a s i t i c a m e n s a a d h a n c r e g i a m et nos in epistulis scribendis adiuvabit.
Ac ne recusanti quidem aut suscensuit quicquam aut amicitiam suam ingerere desiit. Exstant epistulae, e quibus argumenti gratia pauca subieci: (16F f.) Nannius (ΣΥΜΜΙΚΤΩΝ sive Miscellaneorum decas una [Lyon 1548], 73)
Üb.: Augustus bot ihm ein Amt für die Besorgung der Korrespondenzen an, wie er es mit diesem Brief an Maecenas kundtut: F r ü h e r w a r i c h d e r B e s o r g u n g meiner Privatkorrespondenz selbst gewachsen. Nun – sehr b e s c h ä f t i g t u n d u n p ä s s l i c h – h a b e i c h d a s Ve r l a n g e n , u n s e r e n von dir Horaz zu entführen. Er wird also von diesem Parasitentisch da an diesen königlichen kommen und mir beim Brief e s c h r e i b e n h e l f e n . Doch weder zürnte er Horaz wegen dessen Weigerung noch hörte er auf, ihm seine Freundschaft anzutragen. Es sind Briefe bekannt, aus denen ich zum Beweis ein paar (Stellen) anführe:(16F f.) Komm.: Das Briefzitat eröffnet in Suetons Horazvita eine Rubrik zum Verhältnis zwischen Augustus und Horaz (p. 2*,3–3*,6 Kl). Augustus habe Horaz ein officium epistularum angeboten. Zum Beleg dessen zitiert er aus einem Brief des Augustus an dessen Förderer Maecenas. Die (Horaz-)Forschung26 interpretiert das Briefzitat für gewöhnlich mit Sueton als Beweis dafür, dass Horaz ein Hofamt von Augustus angeboten bekommen habe, auch wenn Uneinigkeit darüber besteht, ob es um das
25 Üb.: „Da liegt er, der Verderber dieser Frau (d. h. mein, Klytaimnestras, Verderber), Liebling der Chryseiden vor Troja.“ 26 Vgl. z. B. Stemplinger, RE v, Art. Horatius (10), 2342; Wili 1948, 149; Fraenkel 1957, 17–19; Vretska, DKP ii, Art. Horatius (8), 1220; H. Lindsay 1994, 459; Kytzler 1996, 27.
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später von Sueton bekleidete Amt des ab epistulis geht. Die bei Sueton folgenden (kontextuell ziemlich dunklen!) Zitate aus Briefen an Horaz (14 f.), werden entsprechend als Reaktionen des Augustus auf die von Sueton behauptete Absage des Horaz interpretiert. Bringmanns und Wiegandts (2008, 52) Datierungsvorschlag für den Brief in die Zeit nach Augustus’ Rückkehr aus Spanien (24 v. Chr.) hängt letztlich allein an dieser Interpretation. Vordergründig teilt Augustus Maecenas seine Absicht mit, Horaz zu sich an den Hof zu holen, damit dieser ihn bei seiner Privatkorrespondenz unterstütze. Die von Sueton nahegelegte Interpretation, Augustus habe Horaz hier tatsächlich ein regelrechtes ‚Amt‘ antragen wollen, erscheint jedoch fraglich: Topische Sprache und ein scherzender Tonfall legen vielmehr nahe, dass es sich bei dem Brief eigentlich um eine gewitzte Antwort auf eine (topische) Beschwerde vom Typus a te tam diu litterae nullae27 handelt und dass das ‚Stellenangebot‘ Teil einer gegen Maecenas gerichteten Frotzelei ist.28 Ante … Nunc … ergo: Die Adverbien koordinieren den parataktischen Aufbau der Briefpassage, die ganz ohne Nebensätze auskommt. Auf dem Gegensatz ‚früher – nun‘ liegt dabei eine gewisse Emphase: Diese Form der temporalen Gegenüberstellung hat vielleicht einen umgangssprachlichen Zug (vgl. z. B. Plaut. Trin. 568: si a n t e voluisses, esses; n u n c sero cupis; Cic. Q. fr. 3,9,1: licentiaque audacium, qua a n t e rumpebar, n u n c ne movear quidem) und vermittelt ein lebhaftes Bild der von Augustus empfundenen gestiegenen Beanspruchung durch seine Pflichten. Für das durch den Gegensatz ante … nunc aufgeworfene ‚Problem‘ wird dann im dritten Satz eine ‚Lösung‘ präsentiert (ergo). Das Zitat weist also in sich eine kompositorische Geschlossenheit auf, die die Annahme eines bis auf die Gruß- und Schlussformel vollständig zitierten Briefes oder zumindest eines in sich geschlossenen Briefabschnitts wenigstens denkbar erscheinen lässt. Ante ipse sufficiebam scribendis epistulis amicorum: In der Vergangenheit habe Augustus die Korrespondenz mit seinen amici selbst, d. h. allein, erledigen können (amicorum ist als Objektsgenitiv zu verstehen, so übersetzt bei L. Möller 2014, 418; vgl. auch Stachon 2021, 220).
27 Plin. epist. 2,2,1 (s. u.), weitere Beispiele solcher Beschwerden in Briefen Ciceros, seiner Korrespondenten und bei Plinius vgl. Cugusi 1983, 76 mit Anm. 152–155. 28 Wenn meine im Folgenden vorgetragene Interpretation überzeugt, wäre das Zeugnis bemerkenswert, weil Antwortbriefe auf derartige Beschwerden (die sehr zahlreich vorliegen!), sonst kaum bezeugt sind. Immerhin zu nennen ist Sen. epist. 118,1 (Exegis a me frequentiores epistulas …); Seneca rechtfertigt im Folgenden das Ausbleiben von Briefen an Lucilius mit einer Kritik an Ciceros Gewohnheit, ausdrücklich auch dann Briefe zu schreiben, wenn es gar nichts zu schreiben gibt (Belege dafür bei Cugusi 1983, 75 mit Anm. 149 f.).
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occupatissimus et infirmus: Ein brieftypisches Begriffspaar: Occupatus oder infirmus zu sein, ist eine Standardentschuldigung für das Ausbleiben von Briefen; dies thematisiert Plin. epist. 2,2,2: Non sum auditurus „non eram Romae“ vel „o c c u p a t i o r eram“; illud enim nec di sinant, ut „i n f i r m i o r “29; vgl. Whitton 2013, 87 f. mit weiteren Belegen für occupatus in diesem Sinne bei Cicero (s. u.). Infirmus esse scheint überhaupt eine gleichermaßen fadenscheinige wie gesellschaftlich akzeptierte Standardentschuldigung für alles Mögliche zu sein (für Belege vgl. Szantyr, ThLL vii/1, Art. infirmus, 1441,82–1442,17). Der Superlativ des Partizips Perfekt Passiv occupare ist eher selten belegt und dann vor allem in Briefen in genau solchen Kontexten (z. B. Cic. Att. 10,6,1; 12,38,1; Cael. Cic. fam. 8,4,3; Plin. epist. 4,26,2; 9,35,1; oft auch in den Briefen des Augustinus, z. B. epist. 169,12). Horatium nostrum te cupio abducere: Die Bezeichnung einer Person mit dem Possessivpronomen der ersten Person kann eine Bandbreite von einer gemeinsamen Gruppenzugehörigkeit bis hin zu affektiver Zuneigung ausdrücken; die Pluralform dient hier wohl primär dazu, Maecenas in das Beziehungsgefüge einzubinden (‚soziativer Plural‘; vgl. LSS Synt., § 30; Cugusi, ELM ii/2, 404; Biville 2006, 2–6; so etwa auch 23F,24 f.: Antoniae quoque nostrae). Cupio ist viel stärker als volo oder opto und steht für ein wirklich heftiges Begehren (vgl. Isid. diff. 1,583 [289 C]: volo minus est quam opto, opto minus est quam cupio; Hoppe, ThLL iv, Art. cupio, 1429,40–45). Veniet ergo … adiuvabit: Augustus stellt Maecenas vor vollendete Tatsachen, daher Futur (vgl. Stachon 2021, 220) – dieser Tonfall wäre, sollte es sich hier tatsächlich um ein ‚Stellenangebot‘ handeln, allenfalls noch an der Grenze dessen, was als Höflichkeit bezeichnet werden kann. Zu einer scherzhaften Plänkelei passt er hingegen gut. ab ista parasitica mensa ad hanc regiam: Augustus bezeichnet seinen Tisch hier selbstverständlich nicht deswegen als königlich, weil er selbst ein ‚König‘ im eigentlichen Sinne wäre (Liv. 27,19,4: Tum Scipio … dixit … regium nomen, alibi magnum, Romae intolerabile esse; so bereits Malcovati 1937, deren Interpretation, regius im Sinne von von magnificus, amplus, sumptuosus o. ä. wie Hor. carm. 2,15,1 f.: regiae moles, jedoch nicht recht zu überzeugen vermag [vgl. Kiessling/Heinze 1930, 221]). Das Begriffspaar parasitus–rex bzw. parasiticus–regius geht auf die plautinische Komödie zurück, wo rex den Brotherrn, gr. τρέφων, des Parasiten30 bezeichnet 29 Üb.: „Ich kann es nicht mehr hören: ‚Ich war nicht in Rom‘ oder ‚ich war ziemlich beschäftigt‘; das mögen die Götter verbieten wie auch ‚ich war unpässlich.‘“ 30 Ein schönes Bild eines ‚typischen‘ Parasiten in der Nea zeichnet die Rede des Gelasimus im plautinischen Stichus (155–234): Zum Parasiten prädestiniert ist er durch seinen ständigen Hunger (155: Famem ego fuisse suspicor matrem mihi) und seine Gauklernatur (174 f.: Gelasimo nomen mi indidit parvo pater,| quia inde iam a pausillo puero ridiculus fui). Eingeladen wird ein Parasit nicht an den
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(die Bezeichnung ist auch bei Terenz, Horaz und Martial belegt; vgl. Fraenkel 1922, 191–197; Antonsen-Resch 2004, 23 mit Anm. 95; Vössing 2004, 240 f.). Damon (1997, 127 f.) betont mit Recht, dass hier nicht Horaz als Parasit bezeichnet wird, weil der Parallelismus (~ „Horaz möge von einem Tisch, wo er der Parasit ist, an einen Tisch kommen, wo ich König/Brotherr bin“) schief wäre: Es sei Maecenas, der seine mensa zu einer parasitica mensa macht und Horaz sei insofern allenfalls ein „subparasite“ (vgl. auch Flores Militello 2019, 39) – aber das ist hier gar nicht von Belang. Die Pointe liegt darin, dass Augustus die Dichter des Maecenaskreises und vor allem Maecenas selbst als Parasiten bezeichnet, die er selbst als deren rex unterhält. Sie sitzen am Parasitentisch31, er am Brotherrentisch. Die Aussage des Briefes ist folglich: „Du willst, dass ich dir (mehr) Briefe schreibe? Ich bin ziemlich beschäftigt und geschwächt. Wenn du Briefe willst, dann schick Horaz zu mir, sodass er nicht mehr mit dir (und den anderen Dichtern) auf meine Kosten lebt, ohne etwas Sinnvolles zu tun, sondern sich nützlich macht, indem er mir hilft, die Briefe zu schreiben, die du dir so sehr wünschst.“ Dieser scherzhaft-angriffslustige Tonfall scheint nicht untypisch für die Briefe des Augustus an Maecenas (und auch an Horaz) gewesen zu sein (vgl. Komm. zu 13F; 21F), ebenso wie das Spiel mit stereotypen Komödienfiguren (vgl. Komm. zu 30F: Ne Iudaeus quidem …). et nos in epistulis scribendis adiuvabit: Die parataktische Struktur des Briefzitats wird hier durch Konjunktparataxe (Beiordnung mit et statt eines Finalsatzes mit ut; vgl. LSS Synt., § 256h) auf die Spitze getrieben; gemeint ist: … ut nos in epistulis scribendis adiuvet. 15F× 34 M = ELM ii, (151) 125 Suet. Aug. 86,2: Cacozelos et antiquarios ut diverso genere vitiosos pari fastidio sprevit exagitabatque nonnumquam, in primis Maecenatem suum, cuius myrobrechis, ut ait, cincinnos usque quaque persequitur et imitando per iocum irridet. myrobrechis] ω, fortasse μυροβρεχεῖς
Tisch (ad mensam), sondern allgemein zum Essen (ad cenam), 185 u. 190: veni illo ad cenam … vocem te ad cenam, nisi egomet cenem foris. Zum Essen bekommt er, was übrigbleibt, 231: parasitum inanem quo recondas reliquias; dazu ausführlich Flaucher 2002, 55–63; Antonsen-Resch 2004, 143–152. 31 Die Junktur parasitica mensa ist zwar sonst nirgendwo belegt, doch bezeichnet das Adjektiv stets Dinge, die den Parasiten eigen sind (vgl. Paśkiewicz, ThLL x/1, Art. parasiticus, 315,71–316,10; am ehesten vergleichbar ist vielleicht Schol. Iuv. 3,67: trechedipna] vestimenta parasitica), die parasitica mensa ist also der Tisch an dem die Parasiten – und nur die Parasiten! – sitzen.
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Üb.: Die ‚Affektierten‘ und ‚Altertümler‘ verachtete er in gleichem Maß, weil sie (lediglich) in unterschiedlicher Weise Fehler machen, und verspottete sie recht häufig, besonders seinen Maecenas, dessen salbentriefende Locken, wie er sagt, er bei jedem Anlass tadelt und durch Nachahmung im Scherz verlacht. Komm.: Die Paraphrase gehört in Suetons Augustusvita in die Rubrik zum genus eloquendi. Augustus habe die Anhänger eines ‚affektierten Stils‘ (cacozeli) und die ‚Altertümler‘ (antiquarii) aufgrund ihrer in unterschiedlicher Weise aber gleichermaßen tadelnswerten Stilprinzipien verachtet und verspottet; also im Streit zwischen Asianismus und Attizismus eine Zwischenposition ähnlich derjenigen Ciceros eingenommen. Die ‚Affektierten‘ (cacozeli) und die ‚Altertümler‘ (antiquarii). Maecenas bzw. dessen Stil wird als Beispiel für κακοζηλία angeführt (so z. B. auch Sen. epist. 114,1; Kroll 1924, 265; zum Begriff vgl. Sacerd. gramm. GL vi, p. 455,12 f. K: cacozelia est quae fit duobus modis, aut magnarum rerum humilis dictio, aut minimarum oratio tumens). Zum Kontext und zur Frage der Brieflichkeit siehe Kap. iii.1, S. 79–82. myrobrechis cincinnos: Da Sueton die Übernahme dieser Junktur aus einem Prätext durch ut ait stark markiert, stammt sie wohl so aus dem Prätext, als Akkusative sind die Begriffe aber an den Kontext bei Sueton, nämlich als Objekte zu persequitur und irridet angepasst; es handelt sich somit um eine (wahrscheinlich sehr Prätext-nahe) Paraphrase. Zu myrobrechis (von gr. μυροβρεχής, ‚von Salbe triefend‘, sonst nur noch belegt in der Septuaginta; vgl. 3 Makk 4,6 [lxx]; vgl. LSJ, Art. μυροβρεχής, 1155) vgl. Ehlers, ThLL viii, Art. myrobrechis, 1746,7–9: Das Adjektiv ist sonst mit lateinischen Buchstaben nirgendwo belegt, auch folgt die Endung -is nicht der zu erwartenden lateinischen Flexion (richtig wäre myrobrechas); ich halte es daher für immerhin wahrscheinlich, dass Sueton richtig flektierend μυροβρεχεῖς geschrieben hat (vgl. Sblendorio 1973, 58; in dem Brief, auf den hier möglicherweise rekurriert wird, kann selbstredend auch ein anderer Kasus gestanden haben!) und dass es sich bei myrobrechis um eine Korruptel handelt (so auch Wardle 2014, 487). Eine Verschreibung von ΜΥΡΟΒΡΕΧΕΙΣ zu MYROBRECHIS ist nicht jenseits des Vorstellbaren, wenn man sie mit anderen Fällen von fehlerhafter Überlieferung griechischer Wörter bei Sueton vergleicht (vgl. etwa Komm. zu 21F: ὀγκωδέστατος; weitere Fälle in 23F; 32F; 33F; 34F). Mit dem Bild der ‚von Salbe triefenden Schnörkeleien‘ kritisiert Augustus den Stil des Maecenas auf zwei Ebenen: Zum einen bezeichnet er ihn als Ausdruck einer exotischen, d. h. griechisch-kleinasiatischen luxuria; dies wird durch myrobrechis bzw. μυροβρεχεῖς zum Ausdruck gebracht (vgl. McDermott 1982, 214; Petrain 2005, 349; ähnlich den λήκυθοι, ‚Salbölfläschen‘, als Metaphern für ‚asianischen‘ Schmuck in der Rede bei Cic. Att. 1,14,3 u. Plin. epist. 1,2,4; vgl. dazu van Waarden 2022, 1029 mit Anm. 21). Zum anderen bezeichnet er ihn als weich und effeminiert; dafür
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stehen die cincinni, die Locken.32 Diese Stilkritik ist nicht unähnlich der asyndetischen Reihung von scherzhaften Anreden in 13F. Vielleicht wird hier auf denselben Brief rekurriert (so vermutete Malcovati, Ed. Imp. Aug. 1969, 20).
8 Ad Q. Horatium Flaccum (16–21) Das Verhältnis zwischen Augustus und Horaz (65–8 v. Chr.) ist wechselhaft: Hatte Horaz nach der Ermordung Caesars im Bürgerkrieg auf der Seite der Caesarmörder gekämpft, wurde er nach der Schlacht bei Philippi (42 v. Chr.) durch Octavian begnadigt (vgl. Suet. vita Hor. p. 1*,6–9 Kl). Seine Aufnahme in den Maecenas-Kreis ebnete ihm dem Weg zu einer herausragenden Stellung unter den Dichtern der augusteischen Zeit. Horazens Œuvre trägt mindestens in Teilen und in zunehmendem Maße Züge von Augustus-Panegyrik (vgl. zur Forschungsdiskussion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Überblick bei Doblhofer 1992, 36–41). Aus den sekundärüberlieferten Briefen des Augustus an Horaz gewinnt man allerdings den Eindruck, dass der Prinzeps auf persönlicher Ebene eine gewisse Distanziertheit des Dichters ihm gegenüber nicht zu überbrücken vermag. Die Fragmente der Briefe des Augustus an Horaz stammen allesamt aus der Horazvita Suetons, die einen gewissen Schwerpunkt auf das Verhältnis Horaz– Augustus gelegt zu haben scheint. 16–19F 37 f. u. 41 M = ELM ii, (151) 63 f. u. 126 Suet. vita Hor. p. 2*,8–20 Kl: Ac ne recusanti (sc. Horatio) quidem aut suscensuit (sc. Augustus) quicquam aut amicitiam suam ingerere desiit. Exstant epistulae, e quibus argumenti gratia pauca subieci:
16F: S u m e t i b i a l i q u i d i u r i s a p u d m e , t a m q u a m s i c o n v i c t o r mihi fueris; recte enim et non temere feceris, quoniam id usus mihi tecum esse volui, si per valetudinem tuam fieri possit.
Et rursus:
17F: T u i q u a l e m h a b e a m m e m o r i a m , p o t e r i s e x S e p t i m i o q u o q u e nostro audire; nam incidit ut illo coram fieret a me tui mentio. Neque enim si tu superbus amicitiam nostram sprevisti, ideo nos quoque ἀνθυπερηφανοῦμεν.
32 Nahe steht dem semantisch die Charakterisierung der eloquentiae des Maecenas bei Tac. dial. 26,1: malim … quam calamistros Maecenatis; ein calamister bzw. calamistrum ist eigentlich ein Instrument aus Eisen, mit dem künstliche Locken erzeugt werden können, steht metaphorisch aber auch für übertriebenen rhetorischen Schmuck; vgl. Probst, ThLL iii, Art. calamistrum, 118,37–42. Zu den sozialen Implikationen [künstlicher] Locken in der römischen Gesellschaft vgl. Olson 2014, 188 f.
8 Ad Q. Horatium Flaccum (16–21)
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Praeterea saepe eum inter alios iocos et
18F: purissimum penem
19F: homuncionem lepidissimum
appellat, unaque et altera liberalitate locupletavit. 16F: possit] codd., posset Rostagni 1944, 14 ⸺ 17F: ἀνθυπερηφανοῦμεν] Nannius (ΣΥΜΜΙΚΤΩΝ sive Miscellaneorum decas una [Leiden 1548], 75), ΑΝΕΠΕΡΕΦΑΝΟΥΜΕΝ codd.
Üb.: Doch weder zürnte er Horaz wegen dessen Weigerung noch hörte er auf, ihm seine Freundschaft anzutragen. Es sind Briefe bekannt, aus denen ich zum Beweis ein paar (Stellen) anführe: N i m m d i r b e i m i r e t w a s h e r a u s , d a s dir zusteht, als wärst du mein Hausfreund. Ganz richtig und mit Bedacht wirst du gehandelt haben, da ich ja diese Art des Umgangs mit dir haben wollte, wenn es deine Gesundheit zulassen sollte. Und nochmals: Wa s f ü r e i n e E r i n n e r u n g i c h a n d i c h h a b e , wirst du auch von unserem Septimius hören können; denn es geschah, dass du vor ihm von mir erwähnt wurdest. Auch, wenn du hochmütig meine Freundschaft verschmäht hast, bin ich deswegen doch nicht gleichermaßen überheblich. Außerdem nennt er ihn neben anderen Scherzen einen reinsten Schwanz und ein zierlichstes Menschlein und er beschenkte ihn das eine oder andere Mal großzügig. Komm.: Die vier Zitate und Paraphrasen schließen in der Augustus-Rubrik der suetonischen Horazvita unmittelbar an das gegenüber Maecenas brieflich geäußerte Vorhaben an, Horaz zur Besorgung der Privatkorrespondenz an den Hof zu holen (14F) und sollen nach Darstellung des Biographen Augustus’ mittelbare Reaktion auf Horazens Absage illustrieren (an dieser Darstellung Suetons habe ich erhebliche Zweifel; siehe Komm. zu 14F). In den beiden längeren Brieffragmenten scheint Augustus darauf zu reagieren, dass Horaz irgendwie seine Freundschaft verschmäht habe, aber was genau gemeint ist, bleibt jeweils im Dunkeln. 16F] Eine Interpretation dieses Fragments fällt deswegen schwer, weil unklar ist, was der konkrete Anlass für Augustus’ Äußerung ist. Worauf es Sueton ankommt, ist, dass er Horaz gegenüber seine Bereitschaft zu einem engeren zwischenmenschlichen Verhältnis betont, obwohl Horaz sich dem entzogen zu haben scheint. Sume tibi aliquid iuris apud me: Die Wendung sumere sibi bedeutet in etwa ‚sich etwas herausnehmen‘ (vgl. Rostagni 1944, 114; OLD, Art. sumo, 2061 f. [5a]), laut Fraenkel umgangssprachlich (1957, 18 mit Anm. 6: „A colloquial phrase“), doch sind seine Belege (Cic. fam. 13,29,6 u. 13,50,1) nicht einschlägig: Sie stammen beide
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IV Edition, Übersetzung und Kommentar
aus den Empfehlungsschreiben33 des dreizehnten Buches Ad familiares (Cic. Att. 9,4,1: sumpsi mihi quasdam tamquam θέσεις ist von der Bedeutung her anders). Zu ergänzen wären vielleicht Plaut. Truc. 843: tute sumpsisti tibi (außerdem Stich. 101) und Hor. sat. 2,3,237, aber die Frage der Stilhöhe bleibt doch eher unsicher. Bei iuris (partitiver Genitiv) ist wohl ein elliptisch ausgefallenes mei oder tui mitzudenken (vgl. z. B. Ov. met. 8,426: sume mei spolium, Nonacria, iuris; 10,36 f.: Haec quoque [sc. Eurydica] … iuris erit vestri; Primmer, ThLL vii/2, Art. ius, 694,80–695,72); hier scheint tui vom Sinn her näher zu liegen, Horaz möge sich also etwas herausnehmen, das ihm ohnehin bereits zusteht (nicht falsch – wenn auch etwas ungelenk – ist entsprechend auch L. Möllers [2014, 418] Übersetzung „Nimm dir ruhige einige Rechte bei mir“). tamquam si: Vergleiche mit tamquam si begegnen besonders häufig in der Komödie und im Brief und könnten insofern unter dem Einfluss der Umgangssprache stehen (vgl. z. B. Plaut. Asin. 427: tamquam si claudus sim, cum fustist ambulandum; Cic. fam. 2,16,7: Dolabella quod scripsi suadeo videas, tamquam si tua res agatur; vielleicht Cic. Q. fr. 3,2,2: omnes tamquam si tu esses ita fuerunt [si hier von Shackleton Bailey stillschweigend getilgt]; OLD, Art. tamquam, 2099 [2]). Worauf sich Augustus hier konkret bezieht, ist nicht mehr zu klären, es spielt für Sueton im Kontext der Vita Horatii auch keine Rolle. Entscheidend ist dort, dass er Horaz explizit zu einem vertrauten Umgang auffordert. convictor mihi: Ein convictor ist eine Person, mit der man einen regelmäßigen Umgang pflegt, besonders als Gast beim gemeinsamen Essen (vgl. Gudeman, ThLL iv, Art. convictor, 875,16–29; hier wählt Augustus das Nomen agentis, in Briefen an Tiberius [28F,1] und Iulia [37F] wird hingegen conviva bevorzugt). Horaz beschreibt sein Verhältnis zu Maecenas als das eines convictor und sieht darin, wegen seiner Abstammung von einem freigelassenen Vater, den Anlass für Neid ihm gegenüber (sat. 1,6,45–47: nunc ad me redeo libertino patre natum| quem rodunt omnes libertino patre natum| nunc, quia sim tibi, Maecenas, convictor;34 vgl. dazu Flores Militello 2019, 37) – ein solches Bekenntnis zu ihm wünscht sich hier offenbar Augustus. recte enim et non temere feceris: Recte facere ist sehr häufig in der Komödie und vereinzelt auch im Brief belegt (vgl. z. B. Plaut. Capt. 960 f.: sed neque vere neque recte adhuc| fecisti umquam; 1017: fecisti edepol et recte et bene; Plin. epist. 6,34,1: recte fecisti quod gladiatorium munus Veronensibus nostris promisisti)
33 Cugusi 1983, 112: „lettere stereotipate ed impersonali“. Siehe zu der Briefsorte ‚Empfehlungsschreiben‘ auch Komm. zu 22F, S. 148 Anm. 51. 34 Üb.: „Nun zurück zu mir, dem Sohn eines Freigelassenen, über den alle lästern, den Sohn eines Freigelassenen, weil ich jetzt dein guter Freund bin, Maecenas …“
8 Ad Q. Horatium Flaccum (16–21)
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und somit vielleicht umgangssprachlich. Non temere ist eine Litotes (‚nicht unbedacht‘, d. h. ‚mit Bedacht‘; vgl. OLD, Art. temere, 2108 [1b]), die Figur könnte ebenfalls umgangssprachlichen beeinflusst sein (vgl. z. B. Caecil. com. 78 CRF: quaeso, ne temere hanc rem agas; LU, § 134). quoniam id usus mihi tecum esse volui: Mit id usus ist gemeint, dass Horaz sich als Augustus’ convictor verhalten möge. Dass dabei im weiteren Sinne an die gegenüber Maecenas brieflich geäußerte Offerte, Horaz möge ihm bei seiner Privatkorrespondenz helfen (14F), gedacht ist (so Rostagni 1944, 114), legt lediglich der Zitierkontext nahe. si per valetudinem tuam fieri possit: Rostagni konjiziert posset und fasst den si-Satz somit als gleichzeitigen Irrealis auf (auch erwogen von Klingner, Ed. Hor. 1959, 2* App.). Denkbar ist jedoch sehr wohl ebenfalls der Potentialis: Augustus brächte dann seinen Wunsch nach einem convictor-Verhältnis des Horaz zu ihm in der Vergangenheit unter der Bedingung von dessen Gesundheit zum Ausdruck. Schwierigkeiten bereitet hierbei zwar das Nebeneinander von Konjunktiv Präsens im si-Satz und Indikativ im übergeordneten quoniam-Satz, doch kann es sein, dass hier recte im Hauptsatz noch nachwirkt: Ein potentialer si-Satz kann einem indikativischen Satz untergeordnet werden, wenn in letzterem ein Können, Müssen, eine Angemessenheit oder Billigkeit ausgedrückt wird (vgl. dazu KSt, § 44,2b u. § 214,1b). Der überlieferte Text sollte also gehalten werden. 17F] Augustus berichtet Horaz von einer Begegnung mit einem gewissen Septimius, vor dem er ihn erwähnt habe – offenbar ist schon diese Erwähnung durch den Prinzeps für Horaz vorteilhaft und daher ein Freundschaftsdienst, den Augustus ihm gewährt hat, obwohl dieser seine Freundschaft verschmäht habe. Tui qualem habeam memoriam, poteris ex Septimio quoque nostro audire: Der schon für sich genommen proleptische Nebensatz mit dem nochmals proleptischen Personalpronomen der zweiten Person wirkt wie eine ‚Überschrift‘ für das folgende Thema: „Was für eine Erinnerung ich an dich habe.“ Es handelt sich also sehr wahrscheinlich um einen Briefanfang oder einen deutlich hervorgehobenen neuen thematischen Abschnitt innerhalb eines längeren Briefes; quoque verweist nicht zwingend auf etwas Vorangehendes zurück, sondern kann hier auch steigernd gebraucht sein (vgl. dazu KSt, § 159,3; OLD, Art. quoque, 1727 [4a]). Tui … habeam memoriam: Memoriam habere ist die Umschreibung eines Vollverbs (memorari) mit einem Hilfsverb; dies entspricht dem trivial-sparsamen Zug der Umgangssprache (so LU, § 150) wie auch im Deutschen z. B. ‚Fieber haben‘ statt ‚fiebern‘ oder ‚Hunger haben‘ statt ‚hungern‘; derlei ist typisch für den Briefstil des Augustus (vgl. 29F,3: rem gessit; 33F: rem gere; 61F: vapide se habere). Memoriam habere ist sonst selten: Vor dieses Brieffragment zu datieren ist
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nur Rhet. Her. 3,33: hoc modo et testium et hereditatis et ueneno necati memoriam habere poterimus).35 ex Septimio quoque nostro audire: Die Konstruktion audire ex aliquo ist besonders häufig bei Plautus und Terenz (dort jeweils zumeist mit einem Personalpronomen) und begegnet auch in den Briefen Ciceros und Pliniusʼ d. J. (Belege bei Sinko, ThLL ii, Art. audio, 1275,24–56). Es handelt sich vielleicht um denselben Septimius, an den Horaz carm. 2,6 und epist. 1,9 gerichtet hat (er ist ein gemeinsamer Freund: nostro, siehe Komm. zu 14F: Horatium nostrum …), doch ist diese Identifizierung keineswegs sicher (vgl. Fraenkel 1957, 19 mit Anm. 1; PIR2 S, Nr. 422; Stachon 2021, 222). nam incidit ut illo coram fieret a me tui mentio: Beachtung verdient die chiastische Wortstellung illo coram … a me. Es handelt sich hier um den einzigen Beleg für nachgestelltes coram in der Prosa vor Tacitus (Beleg fehlt in Reisch, ThLL iv, Art. coram, 943,11–21; falsch LSS Synt., § 144); der erste Beleg in der Dichtersprache ist Hor. (!) sat. 1,4,93–95: m e n t i o siquae| de Capitolini furtis iniecta Petilli| t e c o r a m fuerit. In der Horaz-Satire folgt eine dem angesprochenen pravus in den Mund gelegte, scheinbare Verteidigungsrede für Petillius Capitolinus, die freilich in boshafter Weise den Vorwurf noch verstärkt (99 f.: sed tamen admiror, quo pacto iudicium illud| fugerit). Will Augustus etwa darauf anspielen? Dann deutet er hier wohl an, dass Septimius und er keine amicum rodentes (vgl. Hor. sat. 1,4,81) seien, auch wenn Horaz sich ihm gegenüber übermütig verhalten und die angebotene Freundschaft verschmäht habe. Dass sie nur gut über ihn gesprochen haben, mag Horaz sich ja von Septimius bestätigen lassen. tui mentio: Mentio mit Objektsgenitiv ist Briefsprache (vgl. Cic. fam. 13,24,2: credas mihi … hominem esse neminem qui umquam mentionem tui sine tua summa laude fecerit; Cic. Att. 1,16,10; 5,9,3: Dionysium semper equidem, ut scis, dilexi, sed cottidie pluris facio, et mehercule in primis quod te amat nec tui mentionem intermitti sinit; 16,5,2), vielleicht auch von der Umgangssprache beeinflusst (man denke etwa an Liv. 40,15,1 f.: Quin …? Cur usquam regni tui mentio fit, Demetri? Cur …? Cur …? Solche Fragesatzreihen, die im Grunde Aussagesätze ‚ersetzen‘, scheinen überhaupt der Umgangssprache nahezustehen; vgl. dazu LU, § 66). Mentio tui korrespondiert mit tui … memoria und schließt damit den ersten Teil des Gedankens ab.
35 Danach erst wieder im lateinischen Hirten des Hermas (Herm. sim. 6,5,3: dulcedo enim et voluptas nullam memoriam habent propter stultitiam quae insita est illi [hier aber ohne Objektsgenitiv]) und hier ganz offenbar unter Einfluss der griechischen Vorlage (μνήμας οὐκ ἔχει διὰ τὴν ἀφροσύνην); häufiger erst bei Augustinus, besonders in den Sermones ad populum.
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ἀνθυπερηφανοῦμεν: Das griechische Verb ist, wenn die gemeinhin akzeptierte Konjektur des Nannius zutrifft, ein sonst nirgendwo belegtes Kompositum aus ἀντίund ὑπερηφανέω, belegt einmal bei Homer (Il. 11,694 f.: ὑπερηφανέοντες Ἐπειοὶ| … ὑβρίζοντες; Langholf, LfgrE iv, Art. ὑπερηφανέω, 737,49–56), häufiger im Hellenismus (vgl. LSJ, Art. ὑπερηφανέω, 1864; P.Flor. iii, 367,10–13: ἀλ]λὰ δηλονότι πλούτῳ γαυρωθεὶς [καὶ] πολλῇ χρημάτων περιουσίᾳ ὑπ[ερη]φανεῖς τοὺς φίλους; Fraenkel 1957, 19 mit Anm. 3). Ähnliche so sonst nicht belegte Bildungen finden sich in den Briefen Ciceros (z. B. φαινοπροσωπέω in Cic. Att. 7,21,1; 14,22,2).36 Das Präfix ἀντιbetont die Wechselseitigkeit des von Seiten des Augustus für sich selbst dementierten Übermutes und unterstreicht so die Korresponsion mit tu superbus. 18F] Augustus habe Horaz häufig (saepe) als ‚reinsten Schwanz‘ bezeichnet, es handelt sich also um eine Anrede. Fraenkel meint, dass die Junktur im Brief, da es sich um eine Anrede gehandelt habe, nicht im Akkusativ gestanden haben könne (doch vgl. z. B. 39F,4 [Ad C. Caesarem]: oculi mei requirunt m e u m G a i u m ). Jedenfalls ist die Anrede hier syntaktisch an den Kontext angepasst und es handelt sich somit um eine Paraphrase. Fraenkel nimmt für den Prätext die Vokativ-Form, also (mi) purissime penis, an (vgl. Fraenkel 1957, 19 mit Anm. 4); es wäre jedoch analog zu 39F,2: mi Gai, meus asellus iucundissimus gleichermaßen der Nominativ zu erwägen (zu dem Wechsel vom Vokativ zum Nominativ vgl. Komm. z. St.), dann wäre wohl eine Formulierung wie mi Horati, meus purissimus penis zu vermuten – und am ehesten an den Anfang eines Briefes zu denken. Bezeichnungen für das Membrum virile als Spitznamen begegnen in der griechischen Komödie öfter, man denke an Aristoph. Pax 1300: εἰπέ μοι, ὦ πόσθων, ἐς τὸν σαυτοῦ πατέρ᾽ ᾁδεις;37 außerdem Telecl. frg. 71 PCG: σάθων; Men. frg. 371 PCG: πόσθων; vgl. Bechtel 1917, 482. In eine ähnliche Richtung geht als totum pro parte 39F,2: asellus iucundissimus (vgl. Komm. z. St.; zu derartigen „drastisch obscöne[n]“ Anreden vgl. auch Nehring 1925, 163 f.). Sie werden gegenüber Jüngeren verwendet (vgl. Hsch. σ45: σάθων: ὑποκόρισμα ἐπὶ παιδίων ἀρρένων, ἀπὸ τοῦ αἰδοίου; Fraenkel 1957, 19 mit Anm. 4), Augustus verkehrt hier also das Senioritätsverhältnis zu dem immerhin zwei Jahre älteren Horaz in dessen Gegenteil. Penis ist im Vergleich zu Synonymen nicht sonderlich obszön konnotiert (vgl. die ausführliche Behandlung der Begriffe mit zahlreichen Belegstellen bei Adams 1982, 35 f.), viel obszöner ist mentula (als Anrede/Spitzname für Mamurra bei Catull. 114,1; 115,1 u. 8 [s. u.], außerdem in pompeianischen Graffiti; vgl. dazu Adams ibid., 10 f.). Wenig über-
36 Der ‚code-switch‘ wird in CSRL (ID 1054) hinsichtlich seiner Funktion wenig überzeugend als ‚beschreibend‘ charakterisiert; das Verb beschreibt hier eigenlich nichts. Passender scheint vielleicht die Kategorie ,Referential‘. 37 Üb.: „Sag mir, Schwanz, besingst du deinen Vater?“
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zeugend, jedenfalls nicht zwingend ist Rostagnis (1944, 115) Interpretation des Ausdrucks als Anrede für eine Person mit kurzer Statur;38 Catull. 115,8: non homo, sed vero mentula magna minax scheint die Anrede mentula gerade auf die körperliche Größe Mamurras zu verweisen. Eine andere Frage ist, wie purissimum zu deuten ist. Das Adjektiv purus hat ein recht weites Bedeutungsspektrum (vgl. den Überblick in Funari, ThLL x/2, Art. purus, 2717,25–52). Bei der Beschreibung von Körperteilen ist die Bedeutungen ‚rein‘ oder ‚sauber‘ vorherrschend (etwa wie Catull. 23,19: quod culus tibi purior salillo est; Funari ibid., 2718,48–64); hier würde das bedeuten, dass Horaz als ein Penis bezeichnet wird, der keinen Sex hat, denn der Geschlechtsverkehr wird gerne als ‚schmutzige‘ Angelegenheit bezeichnet, gerade auch im Hinblick auf die involvierten Körperteile (vgl. Plaut. Asin. 807; Adams ibid., 199 mit diesem und weiteren Belegen) – das Gegenteil wäre dann etwa die pediconum mentula merdalea in Priap. 68,8 (vgl. dazu Kloss 1998, 23 f.). Eine Parallele zu Iuv. 9,43 f.: penem| legitimum bestünde dagegen, wenn man purus im Sinne von ‚ganz‘, ‚regelrecht‘, ‚wie er im Buche steht‘, d. h. hier sinngemäß: ‚groß‘ versteht (so ist das Adjektiv zu verstehen bei Iuv. 6,O2828: purum te contendo virum.39 Funari ibid., 2773,46–52, dort auch das hier behandelte Brieffragment). Non liquet. 19F] Homuncio ist Deminutiv zu homo (vgl. Prisc. gramm. GL ii, p. 114,14–18 H; Bock 1993, 19 f.) – hier ergibt sich eine Parallele zu der Anrede an den Enkel Gaius Caesar asellus iucundissimus (39F,2). Anreden mit dem Superlativ lepidissimus sind in der Komödie recht häufig (vgl. v. a. Plaut. Pseud. 323: Euge, homo lepidissume; außerdem Mil. 1382: salve, vir lepidissime; Stich. 660: Euge, Sangarine lepidissume). Der Ausdruck wirkt pleonastisch (Deminutiv und Niedlichkeit ausdrückendes Adjektiv im Superlativ). In der Umgangssprache haben solche Anreden im Deminutiv eine affektive Nuance und bringen etwa Vertrautheit, Mitleid oder Zärtlichkeit zum Ausdruck (vgl. auch LU, § 129; Niedermann 1927, 353). Die Anrede nimmt unstreitig auf das Äußere des Angesprochenen Bezug (vgl. Suet. vita Hor. p. 3*,7 f. Kl: habitu corporis fuit brevis atque obesus. Auch an anderer Stelle thematisiert Augustus dies in einem Brief an Horaz; vgl. 21F,3 f.: sed tibi statura deest, corpusculum non deest). Analog zu 18F: purissimum penem steht auch hier zu vermuten, dass die Anrede aus einem Briefanfang stammt.
38 Er verweist auf Catull. 53,5: di magni, salaputium disertum! (Üb.: „Ihr Götter, was für ein eloquentes Kerlchen!“ Gemeint ist Calvus, der wie Horaz von kleiner Statur gewesen sei; vgl. Kroll 1929, 95). Die Etymologie von salaputium ist jedoch nicht völlig klar: Bickel 1953 erklärt das Substantiv als ein Kompositum aus salax und (prae)putium, dann wörtl. etwa geile Vorhaut, zu verstehen pars pro toto im Sinne von mentula salax, aber dagegen mit Recht Adams 1982, 65. 39 Üb.: „Ich behaupte, dass du ein richtiger Mann bist.“ Das heißt im Kontext: „kein Eunuch!“
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20F 39 M = ELM ii, (151) 65 Suet. vita Hor. p. 2*,20–3*,6 Kl: Scripta quidem eius usque adeo probavit mansuraque perpetuo opinatus est, ut non modo saeculare carmen componendum iniunxerit, sed et Vindelicam victoriam Tiberii Drusique, privignorum suorum, eumque coegerit propter hoc tribus Carminum libris ex longo intervallo quartum addere, post sermones vero quosdam lectos nullam sui mentionem habitam ita sit questus:
Irasci me tibi scito, quod non in plerisque eius modi scriptis mecum potissimum loquaris; an vereris ne apud posteros infame tibi sit, quod videaris familiaris nobis esse?
Expressitque eclogam ad se, cuius initium est: „Cum tot sustineas et tanta negotia solus, res Italas armis tuteris, moribus ornes, legibus emendes, in publica commoda peccem, si longo sermone morer tua tempora, Caesar.“ (Hor. epist. 2,1,1–4)
(Porph. Hor. epist. 2,1 praef.: Apparet hunc librum, ut supra diximus, hortatu Caesaris scriptum esse. Cuius rei etiam Suetonius auctor est. Nam apud eum epistula invenitur Augusti increpantis in Horatium, quod non ad se quoque plurima [suppl. Fraenkel 1957, 1 adn. 2] scribat.)
Üb.: Seine Werke schätzte er so hoch und meinte, sie würden ewig Bestand haben, dass er ihm nicht nur auftrug, das Carmen Saeculare zu dichten, sondern auch (Gedichte über) den Sieg seiner Stiefsöhne Tiberius und Drusus über die Vindelicer; und er zwang ihn deswegen, den drei Odenbüchern nach längerer Unterbrechung ein viertes hinzuzufügen; nachdem er aber einige der Versepisteln gelesen hatte und dort nicht erwähnt worden war, beklagte er sich folgendermaßen: S e i v e r sichert, dass ich sauer auf dich bin, weil du in den vielen Schriften dieser Art nicht in erster Linie mit mir sprichst. O d e r f ü r c h t e s t d u , d a s s e s d i c h b e i d e r N a c h w e l t i n Ve r r u f b r i n g t , w e n n d u m i t m i r v e r t r a u t z u s e i n s c h e i n s t ? Und er presste ihm eine an ihn gerichtete Epistel ab, deren Anfang lautet: „Weil du allein so viele und schwere Aufgaben trägst, Italien mit Waffen beschützt, mit Sitten schmückst, mit Gesetzen besserst, würde ich gegen das öffentliche Wohl sündigen, wenn ich mit einer langen Rede deine Zeit verschwenden würde, Caesar.“ Komm.: Der Zitierkontext dieses Fragments schließt unmittelbar an den der Vorangehenden an – Sueton wechselt jedoch das Thema: Es geht nun um Augustus’ Bewunderung für die Werke des Horaz sowie seinen Einfluss auf deren Produktion. Der Brief folgt offenbar Augustus’ Lektüre bestimmter Schriften des Horaz. Augustus beklagt, dass Horaz in den Schriften „dieser Art“ nicht mit ihm spreche; dies ist wohl so zu verstehen, dass er gerne als Adressat oder Figur in einem Werk des Horaz
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vorkommen würde – also als Dialogfigur in einer Satire oder als Adressat in einer Versepistel. Sueton bezeichnet diese Schriften im Zitierkontext als die Sermones. Dies lässt zunächst an die Satiren denken (so jetzt Stachon 2021, 226 f.), doch hätte diese Identifizierung wenig für sich: Da das erste Buch der Satiren um 35 v. Chr., das zweite Buch 30 v. Chr. veröffentlicht wurde und der Brief auf ein kürzlich verfasstes oder veröffentlichtes Corpus von Gedichten zu verweisen scheint, würde dies eine verhältnismäßig frühe Datierung des Briefes voraussetzen; gegen eine solche Frühdatierung spricht aber, dass Sueton im Anschluss Hor. epist. 2,1 als eine direkte Folge auf Augustus’ Klage interpretiert (das zweite Epistelbuch entstand jedoch erst um 15 v. Chr.). Außerdem fällt auf, dass Sueton in der Bezeichnung der Satiren und Episteln des Horaz überhaupt unsicher zu sein scheint: So nennt er in der Folge Hor. epist. 2,1 eine ecloga (Suet. vita Hor. p. 3*,1 f. Kl: Expressitque eclogam ad se, cuius initium est: „Cum tot sustineas …“; das Substantiv scheint in der antiken Horazkommentierung ein Sammelbegriff für die Werke des Horaz gewesen zu sein; vgl. Rubenbauer, ThLL v/2, Art. ecloga, 49,3–9), und danach verweist er auf die saturae des Horaz, in denen dieser sich selbst als klein und dick beschrieben habe (Suet. vita Hor. p. 3*,7 f. Kl: Habitu corporis fuit brevis atque obesus, qualis et a semet ipso in saturis describitur). Auch hier können wieder kaum (ausschließlich) die Satiren gemeint sein: Zwar kann hier für die brevitas Hor. sat. 2,3,307–309 (Damasippus spricht Horaz an): primum| aedificas hoc est longos imitaris, ab imo| ad summum totus moduli bipedalis40 ins Feld geführt werden, doch zu Suetons Beschreibung passen ebenso gut Hor. epist. 1,4,15: Me pinguem et nitidum bene curata cute vises und epist. 1,20,23: me … corporis exigui und insbesondere epist. 1,4,15 ist für die Selbstbeschreibung des Horaz als obesus eigentlich zwingend vorauszusetzen (vgl. dazu auch Rostagni 1944, 116–118). Insofern dürften mit den Sermones hier kaum die Satiren gemeint sein, sondern vielmehr die Episteln (auch innere Indizien im Brieffragment sprechen eher für eine Schrift epistolischen Charakters, s. u.). In der Regel hat man angenommen, dass sich dahinter konkret der Florusbrief (epist. 2,2) und der Pisonenbrief verbergen (so Kiessling/Heinze 1914, 195; Fraenkel 1957, 383), doch wurde auch das um 20 v. Chr. anzusetzende erste Versepistelbuch ins Spiel gebracht (vgl. Clarke 1972, 159; Wulfram 2008, 305 mit Anm. 349). Die Frage ist nicht abschließend zu klären und es kann sich im Prinzip auch um eine einzelne Epistel oder eine eigens für Augustus zusammengestellte Sammlung gehandelt haben, die mit keinem der uns bekannten libri identisch ist. Irasci me tibi scito: Die direkte Anrede mit einem Imperativ der dritten Person von scire lässt daran denken, dass es sich hier um einen Briefanfang handelt (so beginnen z. B. allein im ersten Buch Ad Atticum drei Briefe; vgl. Cic. Att. 1,2,1: L. Iulio 40 Üb.: „Zunächst baust du, soll heißen: Du ahmst die Großen nach, der du im Ganzen vom Scheitel bis zur Sohle zwei Fuß hoch bist.“
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Caesare C. Marcio Figulo consulibus filiolo me auctum scito, salva Terentia;41 1,3,1; 1,18,1). Zu bedenken ist allerdings, dass Augustus mit in plerisque eius modi scriptis einen recht vagen Einstieg ins Thema wählen würde; sonst scheint er die thematischen Abschnitte seiner Briefe eher mit einem Überschriftenstil zu ‚rubrizieren‘, indem er das folgende Thema klar und unmissverständlich benennt (vgl. 17F: Tui qualem habeam memoriam …; 21F,1: Pertulit ad me Onysius libellum tuum … [gerade so etwas wäre hier zu erwarten!]; 23F,1 f.: Collocutus sum cum Tiberio, ut mandasti, mea Livia, quid nepoti tuo Tiberio faciendum esset ludis Martialibus …; 24F: Tiberium nepotem tuum placere mihi declamantem potuisse peream nisi, mea Livia, admiror …; 29F,1: Nos, mi Tiberi, Quinquatrus satis iucunde egimus …; 34F,1: Ordinem aestivorum tuorum ego vero …; 65F,1 f.: Tiberium adulescentem ego vero, dum tu aberis, cotidie invitabo ad cenam …). Eius modi scriptis scheint auf einen Satz wie „Ich habe dein Epistelbuch, in dem ich mit keiner Silbe erwähnt werde, erhalten/gelesen“ zurückzuverweisen. Darauf deutet auch der Zitierkontext hin: Bei nullam sui mentionem habitam scheint Briefsprache nachzuwirken (vgl. Komm. zu 17F: tui mentio). quod non in plerisque eius modi scriptis mecum potissimum loquaris: Bei den scripta eius modi scheint es sich um Versepisteln zu handeln, bei mecum … loquaris klingt Brieftopik an (vgl. zum Topos ‚der Brief als Gespräch‘ bei Cicero Thraede 1970, 27–38; zur Stelle Brink 1963–1982 iii, 484 mit Anm. 2; Wulfram 2008, 80 mit Anm. 114 u. 166 mit Anm. 506). Die Beschreibung passt jedoch ebenso gut zu epist. 1 (oder einer Auswahl daraus) wie zum Florus- und Pisonenbrief: Was Augustus sich wünscht, ist nicht einfach nur erwähnt, sondern wirklich angeredet zu werden, und das wird er in epist. 1 nicht – im Gegensatz etwa zu seinem Stiefsohn Tiberius (epist. 1,9) und Maecenas (1,1 und 1,19; vgl. dazu Allen et al. 1970, 258–260; zu der bereits in der hellenistischen Dichtung belegten Praxis, Freunden und Gönnern Gedichte und Gedichtbücher durch Apostrophierung zuzueignen vgl. Kroll 1924, 231). Dazu passt, dass das Dreiecksverhältnis Augustus–Maecenas–Horaz von einer gewissen Eifersucht des Augustus auf die enge Freundschaft zwischen Horaz und Maecenas geprägt zu sein scheint (vgl. auch Komm. zu 14F). an vereris ne apud posteros infame tibi sit, quod videaris familiaris nobis esse? Hier berührt sich das Brieffragment in gewisser Weise mit 17F. Wieder geht es um die Distanz, die Horaz zu Augustus wahrt. Der Kaiser äußert hier in Form einer Frage den Verdacht, Horaz sei um sein Ansehen bei der Nachwelt besorgt. Eine feine Beobachtung, denn die Sorge um die eigene Nachwirkung über das Leben hinaus ist durchaus ein prominentes Thema horazischer Dichtung, man denke vor allem an carm. 2,20 u. 3,30 (vgl. dazu Gundlach 2019, 251–258; Willms 2020).
41 Üb.: „Wisse, dass ich im Konsulatsjahr des Lucius Iulius Caesar und des Gaius Marcius Figulus (64 v. Chr.) um ein Söhnlein bereichert wurde; Terentia ist wohlauf.“
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21F 40 M = ELM ii, (151) 66 Suet. vita Hor. p. 3*,7–14 Kl: Habitu corporis fuit brevis atque obesus, qualis et a semet ipso in saturis describitur et ab Augusto hac epistula:
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Pertulit ad me Onysius libellum tuum, quem ego ut excusantem, q u a n t u l u s c u m q u e e s t , b o n i c o n s u l o . Ve r e r i a u t e m m i h i v i d e r i s ne maiores libelli tui sint, quam ipse es; sed tibi statura deest, corpusculum non deest. Itaque licebit in sextariolo scribas, quo circuitus voluminis tui sit ὀγκωδέστατος, sicut est ventriculi tui.
Ad res venereas intemperantior traditur …
1 ut excusantem] Reifferscheid (Ed. Suet. frg. 1860, 47 App.; cf. Porph. Hor. epist. 2,1), ut accusantem codd., ut accusem te Sicco Polenton (Scriptorum illustrium latinae linguae libri xviii, ed. B.L. Ulmann [Rom 1928], 96), ut accusantem suppl. Rostagni 1944, 118 ⸺ 5 quo] Salmasius (De modo usurarum liber [Leiden 1639], 408), cum Fλp, ut ς ⸺ ὀγκωδέστατος] Nannius (ΣΥΜΜΙΚΤΩΝ sive Miscellaneorum decas vna, Leiden 1548, 75), ΟΓΚΩΔΗΣΤΑΤΟΣ F, ΟΤΗΩΑΗΣΤΡΤΟΣ λ, ΟΤΚΩΑΝΣΤΑΤΟΣ p, ὀγκωδέστερος Leo (cf. Fraenkel 1957, 20 adn. 4)
Üb.: Er (d. h. Horaz) war von kurzer und dicklicher Gestalt wie er von sich selbst in den Satiren beschrieben wird und von Augustus in folgendem Brief: Onysius hat mir dein Büchlein gebracht, das ich, so kurz es auch ist, gut finde, weil es sich (dafür) entschuldigt. Du scheinst mir aber zu befürchten, dass deine Bücher größer sind als du es selbst bist. Dir fehlt jedoch der Wuchs, ein Körperchen fehlt dir nicht. Daher kannst du doch auf ein kleines Hohlmaß schreiben, womit der Umfang deines Buches richtig schön aufgebläht ist wie der deines Bäuchleins. Es heißt, er sei in Liebesdingen recht maßlos gewesen … Komm.: Das Brieffragment stammt aus der Rubrik zum Äußeren des Horaz. Dieser sei von kurzem Wuchs und dick gewesen. So habe er sich selbst in seinen Satiren beschrieben (mitgemeint sind hier aber sicher auch Stellen aus den Episteln; vgl. dazu Komm. zu 20F) und außerdem habe ihn Augustus in einem Brief so dargestellt. Dass dieser Brief Horaz zum Adressaten hatte, ist aus dem Inhalt klar ersichtlich. Sowohl der Wortlaut des Zitierkontextes (hac epistula) als auch innere Merkmale des Fragments legen nahe, dass es sich hier um einen bis auf Gruß- und vielleicht Schlussformel vollständigen Brief handeln könnte. Es handelt sich um einen Dankbrief für eine zugesandte Schrift (vergleichbar z. B. Sen. epist. 46; Plin. epist. 9,31). Zu solchen Dankbriefen gehört auch eine lobende oder bisweilen kritischere Beurteilung der Schrift, die bei Augustus hier
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scherzhaft-humorvoll verwirklicht ist (um den Schluss eines derartigen, wenn auch kritischeren Briefes an Maecenas scheint es sich auch bei 13F gehandelt zu haben). 1 f. Pertulit ad me Onysius libellum tuum, quem ego ut excusantem, quantuluscumque est, boni consulo: Bei dem genannten Onysius handelt es sich wahrscheinlich um einen Sklaven oder Freigelassenen des Horaz oder des Augustus, jedenfalls einen Boten, der Augustus einen libellus und vielleicht auch einen Brief von Horaz überbracht hat, auf den hier geantwortet wird (vgl. Rostagni 1944, 118; PIR2 O, Nr. 105).42 Die Nennung des Briefboten deutet vielleicht auf einen Briefanfang hin (ähnlich z. B. Cic. Att. 11,1,1: Accepi a te signatum libellum quem Anteros attulerat). Libellus steht hier für eine (von Augustus als recht kurz empfundene) Schriftrolle, die offenbar ein Gedicht oder mehrere Gedichte enthielt (vgl. Gelsomino 1958c, 330 f.). Augustus hatte sich von Horaz eine an ihn gerichtete Schrift brieflich gewünscht (20F) und nach dem Zeugnis Suetons in Form der AugustusEpistel (epist. 2,1) erhalten. Auch wenn Sueton zwischen dem Zitat aus epist. 2,1 und diesem Fragment das Thema wechselt, schließt der hier zitierte Brief doch unmittelbar an diese Episode an, sodass 20F, Hor. epist. 2,1 und 21F in dieser Reihenfolge einen ‚Briefwechsel‘ zu bilden scheinen (vgl. auch Rostagni ibid.). 1 ut excusantem: Der überlieferte Text (ut accusantem) bereitet erhebliche Schwierigkeiten und ist vermutlich korrupt (wen oder was klagt der libellus an und warum begrüßt Augustus dies?). Tovars (1968, 335 u. 337) Interpretation „as a proof against you“ verlangt accusare zu viel ab und überzeugt auch inhaltlich nicht. Emendationsversuche wie Sicco Polentons ut accusem te oder Rostagnis ut se accusantem ergeben ebenfalls keinen guten Sinn. Falls die Annahme zutrifft, dass mit dem libellus Hor. epist. 2,1 gemeint ist, wäre Reifferscheids auch paläographisch plausible Konjektur excusantem sehr passend: Das poetische Ich entschuldigt sich nämlich zu Beginn der an Augustus gerichteten Epistel (epist. 2,1,1–4) für die Kürze des Werkes cum tot sustineas et tanta negotia solus, res Italas armis tuteris, moribus ornes, legibus emendes, in publica commoda peccem, si longo sermone morer tua tempora, Caesar.43
42 Eine weitergehende Deutung, die in der Forschung vertreten worden ist, besteht darin, den Boten mit dem in Hor. epist. 1,13 adressierten Vinnius Asina zu identifizieren, der Augustus ein Konvolut von Gedichten überbringen solle; vgl. dazu Stachon 2021, 230 f. 43 Üb.: „Weil du allein so viele und schwere Aufgaben trägst, Italien mit Waffen beschützt, mit Sitten schmückst, mit Gesetzen besserst, würde ich gegen das öffentliche Wohl sündigen, wenn ich mit einem langen Gespräch deine Zeit verschwenden würde, Caesar.“
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Die Überlegung ist, dass Augustus hier begründet, warum er das Werk trotz dessen Kürze (quantuluscumque est) als gut erachtet (boni consulo) – nämlich aufgrund dieser Entschuldigung (vgl. auch Gelsomino 1958c, 331 f.; als excusatio werden die ersten vier Verse der Epistel bereits in der antiken Kommentierung aufgefasst; vgl. Porph. Hor. epist. 2,1,1.: ergo hinc principium cum laude imperatoris et ab e x c u s a t i o n e ; Stachon 2021, 231). Der Dichter möchte die wertvolle Zeit des Kaisers nicht überbeanspruchen. Ut ist demnach kausal zu verstehen wie gr. ἅτε (vgl. LSS Synt., § 342 Zus. a). 2 quantuluscumque: Das Deminutivum verdeutlicht, dass es hier um die Kürze geht, d. h. ‚wie klein das Buch auch ist‘ (ähnlich Cic. Att. 6,9,2: hanc … procura, quantulacumque est, Precianam hereditatem; prorsus ille ne attingat44; vgl. auch Sen. epist. 1,5; die Grundform wäre dahingehend unbestimmt; vgl. 39F,8 f.: mihi q u a n t u m c u m q u e superest temporis). Das Deminutivum des relativischen Adjektivs, das in spätrepublikanischer Zeit für altlat. quantusquantus eintritt (doch vgl. noch Cic. Att. 12,23,3: sed quanti quanti bene emitur quod necesse est), ist gleichermaßen sowohl in der Prosa als auch in der Dichtung verbreitet, im Brief neben dieser und der angeführten Cicero-Stelle fünfmal bei Seneca d. J. (epist. 1,5; 77,3; 85,8; 93,5; 119,2), einmal bei Plinius d. J. (epist. 7,26,2), zweimal bei Cyprian (epist. 27,1,1; 58,1,1); eine besondere Vorliebe dafür hat Augustinus, nicht nur, aber auch in den Briefen (vgl. z. B. Aug. epist. 78,6; 110,1; 120,3).45 2 boni consulo heißt laut Quintilian so viel wie bonum iudicare – ‚für gut befinden‘ (vgl. Quint. inst. 1,6,32: sit enim ‚consul‘ a consulendo vel a iudicando: nam et hoc ‚consulere‘ veteres vocaverunt, unde adhuc remanet illud „rogat boni consulas“, id est „bonum iudices.“ Die Wendung scheint umgangssprachlich; vgl. Plaut. Truc. 429: quidquid attulerit, boni consulas; Gelsomino 1958c, 333; passiv konstruiert bei Cato orat. ORF, [8] frg. 58: eane fieri bonis, bono genere gnatis, boni consultis). In Bezug auf libelli begegnet die Wendung auch bei Ovid (vgl. Ov. Pont. 3,8,21–24: hos habet haec calamos, hos haec habet ora libellos … tu tamen haec, quaeso, consule missa boni; vgl. auch Tovar 1968, 336 f.; Cugusi, ELM ii/2, 415). 2 f. Vereri autem mihi videris ne maiores libelli tui sint, quam ipse es: Augustus äußert im Scherz eine Vermutung über den Grund für die Kürze des libellus: Horaz fürchte wohl, seine Werke könnten größer werden als er selbst. Der Witz hat zwei Ebenen: Zum einen und vordergründig spielt Augustus auf Horazens kurze
44 Üb.: „Sorg dafür, dass er an diese Precius-Erbschaft, wie unbedeutend sie auch ist, keinen Finger legt.“ 45 Insgesamt habe ich mithilfe der Datenbank LLT 75 Belege bei ihm gefunden, davon 19 in den Briefen (Suchansatz: Advanced Search; Author: Augustinus Hipponensis; Title: – / Epistulae; Suchbegriff: „quantul*cumque“ [19. 12. 2022]).
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Statur an (deswegen wird der Brief bei Sueton zitiert), zum anderen liegt hier nach meinem Eindruck aber auch eine Anspielung auf Hor. epist. 2,1, genauer gesagt auf den Schluss der Epistel, vor: Ab Vers 245 spricht das poetische Ich Augustus wieder direkt an und lobt dessen Entschluss, Vergil und Varius als ‚seine Dichter‘ für die Abfassung eines Helden-Epos erwählt zu haben, sowie deren Fähigkeiten. Für sich selbst lehnt er solche Dichtung ab: Hor. epist. 2,1,250–259: … Nec sermones ego mallem repentis per humum quam res componere gestas terrarumque situs et flumina dicere et arces montibus inpositas et barbara regna tuisque auspiciis totum confecta duella per orbem claustraque custodem pacis cohibentia Ianum et formidatam Parthis te principe Romam, si quantum cuperem possem quoque; sed neque parvom carmen maiestas recipit tua nec meus audet rem temptare pudor quam vires ferre recusent.46
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Es handelt sich hier um eine typische, etwas ironische recusatio, denn im Grunde sind die Verse 250–259 natürlich ein Epos en miniature über die Leistungen des Augustus bzw. ein Überblick über die Themen, die so ein Epos haben könnte. Die Ablehnung im übertragenden Sinne ‚langer‘, d. h. epischer Dichtung nach homerischem Vorbild, zu Gunsten von ‚kurzer‘ Dichtung begegnet bereits im frühen Hellenismus; schon Kallimachos lässt sich im Aitien-Prolog von den Telchinen vorwerfen, kein ἄεισμα διηνεκὲς verfasst zu haben, was er mit der Aufforderung Apolls begründet, er möge mit seinem „Wagen“ keine ausgefahrenen Spuren, sondern „unberührte Wege“ befahren (Call. frg. 1,1–3 u. 25–28 Pf; vgl. dazu Asper 1997, 147– 151). Diese auch sonst für Horaz vielfach belegte Ablehnung ‚langer‘ Dichtung (vgl. z. B. Hor. carm. 4,2,27–32; dazu auch Brink 1963–1982 iii, 258) zieht Augustus nun ins Lächerliche, indem er sie mit außerliterarischen Eigenschaften des Horaz verbindet (so bereits Ohst 2020, 83–86).
46 Üb.: „Auch ich möchte nicht lieber Gedichte im Gesprächston, die über den Boden kriechen, als Gedichte über große Taten verfassen, künden von fernen Ländern, Flüssen, Burgen auf Bergen, barbarischen Reichen, die unter deinen Auspizien auf der ganzen Welt beendeten Kriege, die geschlossenen Tore des Friedens, Janus den Wächter (255) und das bei den Parthern gefürchtete Rom, weil du der Prinzeps bist – wenn ich’s nur so sehr könnte wie ich’s will. Aber deine Majestät akzeptiert kein kleines Gedicht und meine Scham wagt es nicht, eine Sache zu versuchen, die meine Kräfte zu bewältigen sich weigern.“
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Die Empathie ausdrückende Phrase vereri videris ist in der zweiten Person, von einem Beleg in einer Caesar in den Mund gelegten Rede im pseudo-caesarianischen Bellum Alexandrinum (15,3) abgesehen, nur in den Briefen Ciceros belegt: Dort dreimal in Briefen an Atticus (Cic. Att. 9,9,1; 11,22,1; 12,30,1), einmal an den Bruder Quintus (Cic. Q. fr. 2,9,2) und einmal an Marcus Fadius Gallus, der ebenfalls ein enger Vertrauter Ciceros gewesen zu sein scheint (Cic. fam. 7,25,1). 3 f. sed tibi statura deest, corpusculum non deest: Horaz fehle es nämlich an Wuchs, nicht aber an einem „Körperchen“: Mit corpusculum ist im Gegensatz zu statura (‚Körperhöhe‘) der Körperumfang gemeint. Auf die Gedichte bezogen heißt das: Mögen deine Gedichte auch kurz sein, weil du klein bist – hier klingt Horazens Devise parvum parva decent an (Hor. epist. 1,7,44) – beherrschst du dennoch den ‚aufgeblasenen‘ Stil der Epik (s. u.), was Horaz ja in der recusatio demonstriert hat. Deutlich wird dies vor allem durch die offenkundige Imitation eines Verses aus Ciceros Epos De consulatu suo (Cic. carm. frg. 12 FPL4): o fortunatam natam me consule Romam in Vers 256: et formidatam Parthis te principe Romam (vgl. Brink 1963–1982 iii, 257; Rudd 1989, 119 f.; Wulfram 2013, 275). Das Deminutiv corpusculum unterstreicht wie die anderen Deminutive, von denen das Brieffragment in auffälliger Weise durchsetzt ist (libellum, quantuluscumque, sextariolo, ventriculi), den scherzhaft-humorvollen Unterton (diese affektivische Verwendung des Deminutivs ist ein für Augustus typisches Merkmal der Umgangssprache; vgl. Gelsomino 1958c, 333; Komm. zu 19F: homuncionem lepidissimum; 39F,2: asellus iucundissimus). 4–6 Itaque licebit in sextariolo scribas, quo circuitus voluminis tui sit ὀγκωδέστατος, sicut est ventriculi tui: Mit dem Begriff sextari(ol)us bzw. -um haben sich die Interpreten schwergetan (vgl. die Übersicht über die unterschiedlichen Interpretationsvorschläge in der älteren Forschung, die hier nicht im Einzelnen referiert werden sollen, bei Tovar 1968, 337–341). Ein sextarius/-um47 ist eine Volumen-Maßeinheit bzw. ein breites, zylindrisches Hohlmaß des entsprechenden Volumens.
47 Das Genus des Substantivs schwankt in der lateinischen Literatur zwischen dem Maskulinum und dem Neutrum; vgl. die oft nicht eindeutigen Belege in OLD, Art. sextarium/sextarius, 1930. Peter Rothenhöfer macht mich per litteras darauf aufmerksam, dass in Inschriften die maskuline Form in der Regel für die Maßeinheit, das Neutrum hingegen für das entsprechende Hohlmaß stehe. Das Deminutivum ist (für Gefäße) neben dem Augustus-Brief noch ein weiteres Mal belegt, nämlich in der Epistula Alexandri ad Aristotelem de miraculis Indiae (Epist. Alex. p. 193,16 K; vgl. zu dieser Schrift P. L. Schmidt, HLL, § 640,3), dort eindeutig im Neutrum (sextariola, falsch Cugusi 1972, 160). Das stünde mit diesem Kriterium im Einklang. Dagegen spricht jedoch ein Zitat aus Varros De populi Romani bei Nonius (p. 875 L [p. 545,23 f. M]): item erant vasa vinaria: sini, cymbia … sextarii …, wo klar das Maskulinum für ein Gefäß verwendet wird.
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Abb. 4: Bronzenes römisches Hohlmaß mit Inschrift: [se]xtarium exsac{ia}tum le(gionis) iii, 3. Jh. n. Chr., Privatsammlung; vgl. dazu Rothenhöfer 2016.
Auf so einen Messbecher mag Horaz seine Gedichte schreiben, wenn diese eine bestimmte Verszahl nicht überschreiten sollen, aber dennoch epischen Stilidealen entsprechen. Diese Interpretation wird auch durch das griechische Adjektiv ὀγκώδης gestützt: Das dazugehörige Substantiv ὄγκος bedeutet in Bezug auf den Körper von Lebewesen ‚massig‘, ‚aufgedunsen‘ oder ‚voluminös‘ (vgl. etwa Arist. PA 694a,11 f.: τοῖς δὲ μὴ πτητικοῖς τοὐναντίον τὰ σώματα ὀγκώδη, διὸ βαρέα ἐστίν48). Es dient Aristoteles aber auch zur Beschreibung des epischen Versmaßes, also des Hexameters (vgl. Arist. Po. 1459b,34 f.: τὸ γὰρ ἡρωικὸν στασιμώτατον καὶ ὀγκωδέστατον τῶν μέτρων ἐστίν49). Es wird auch allgemeiner für den gehobenen Stil sprachlicher Äußerungen gebraucht (vgl. etwa Demetr. Eloc. 36 u. 77), durchaus auch mit negativer Konnotation (vgl. etwa Phld. Po.5 8,12–14 [= P.Herc. 1425,8,12–14]; Demetr. Eloc. 247; Ps.-Longin. 3,4) – dem entspricht im Lateinischen tumor (vgl. Rhet. Her. 4,15; Quint. inst. 12,10,73; vgl. dazu auch Mangoni, Ed. Phld. Po.5 1993, 207 f.). Augustus’ Scherz besteht in einem Spiel mit diesen beiden Bedeutungsebenen: Horaz weigert sich, ‚lange Gedichte‘ (das heißt Epen) zu verfassen, weil er klein sei. Dabei verfügt er über die Fähigkeiten, derer es dazu bedarf; das hat er selbst in der recusatio auf kleinem Raum bewiesen. Und überhaupt sei die Begründung nur
48 Üb.: „Die schlecht fliegenden Tiere haben massige Körper, wegen derer sie schwer sind.“ 49 Üb.: „Das heroische Versmaß ist bedächtigste und vollste aller Versmaße.“ Insofern ist die Funktionsbeschreibung ‚Evokation der Griechischen Kultursphäre (Medizin)‘ bei CSRL (ID 1053; dazu Komm. zu 11F, S. 116 Anm. 12) nicht recht überzeugend; es handelt sich weniger um medizinische als um poetologische Terminologie.
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eine Ausflucht, was man schon Horazens Körperbau erkennen könne: denn auch wenn Horaz klein ist, ist er dafür ja dick. Insofern wäre es konsequent, wenn Horaz seine ‚kurzen‘, aber in ihrer Kürze durchaus epischen Gedichte nicht mehr auf einer (im zusammengerollten Zustand) schmalen Papyrusrolle verfasste, sondern ein dickeres Medium wählen würde, um die Kürze zu kompensieren (vgl. Ohst 2020, 86). Mit dem Scherz ist der Dankbrief abgeschlossen; insofern hindert nichts, hier einen Briefschluss bzw. allenfalls ein nicht mitzitiertes vale oder dergleichen anzunehmen. 5 quo ist Salmasius’ Konjektur, die Handschriften bieten überwiegend cum/ quum (Fλp), außerdem ut (ς) – beide Lesarten sind korrupt (ut vielleicht eine Glosse zu cum; vgl. Stachon 2021, 232), quo dagegen paläographisch plausibel und inhaltlich passend (zu verstehen als Relativpronomen im Sinne von ‚wodurch‘ oder ‚womit‘; vgl. Steffen 1960, 21). 5 ὀγκωδέστατος: Nannius hat mit ὀγκωδέστατος die richtige Form aus der hier nur leicht gestörten Überlieferung rekonstruiert. Friedrich Leo erwog möglicherweise eine Emendation zum Komparativ (eine entsprechende Randbemerkung findet sich in seiner Ausgabe der Sueton-Fragmente von Reifferscheid, er hat diese Konjektur jedoch nie selbst publiziert; dazu zustimmend Fraenkel 1957, 20 mit Anm. 4) – man müsste quo (s. u.) dann final auffassen –, doch würde dies den Vergleich mit sicut ins Leere laufen lassen (vgl. dazu Gelsomino 1958c, 334 f.; Steffen 1960, 21). 5 f. sicut est ventriculi tui: Ein typischer Fall von briefsprachlicher brevitas ist der sylleptische Vergleichssatz, in dem circuitus nochmals mitzudenken ist.
9 Ad Liviam Drusillam uxorem (22–24) Livia Drusilla (58 v. Chr.–29 n. Chr.) war seit 38 v. Chr. die dritte Ehefrau des Octavian bzw. Augustus und die Mutter des Tiberius, der aus ihrer vorherigen Ehe mit Tiberius Claudius Nero hervorgegangen war (vgl. PIR2 L, Nr. 301; Valeri 2022). Mit der aus Sicht der Zeitgenossen als skandalös empfundenen Eheschließung – Livia war zu dem Zeitpunkt mit ihrem zweiten Sohn Drusus schwanger, sodass dafür eine Sondererlaubnis durch die pontifices vonnöten war – verband sich vordergründig das machtpolitische Ziel, die gens Iulia mit der gens Claudia zu verbinden. Damit wurden zum einen zwei der wichtigsten Personenverbände der ausgehenden Republik zu einer Doppeldynastie zu vereint und zum anderen ein Ausgleich zwischen ‚Caesarianern‘ und der prorepublikanischen Senatsaristokratie erzielt; daneben mögen auch emotional-erotische Beweggründe eine Rolle gespielt haben (vgl. Syme 1956, 228 f.; Bleicken 1999, 207–209; Eck 2009, 24 f.; Dahlheim 2010, 96; Valeri ibid., 71 f.). Die politischen Motive hinter der Eheschließung bedingten in der
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Folge einen erheblichen Einfluss Livias auf Politik und Familienangelegenheiten (vgl. Suet. Aug. 84,2; Syme ibid., 414; Dahlheim ibid., 228–233; Valeri ibid., 71: „Livia ist die erste Frau in der Geschichte Roms, der eine eigene politische Vision zugeschrieben wurde.“). Insbesondere Familienangelegenheiten, die den claudischen Zweig der Familie betrafen, musste Augustus zunächst mit ihr aushandeln – dies schlägt sich in den Überresten ihrer Korrespondenz nieder (23F).50 Von den Briefen an Livia besitzen wir drei Fragmente, die alle bei Sueton überliefert sind; für ein weiteres Briefzitat bei Sueton (65F) ist eine Adressierung an Livia in den älteren Ausgaben angenommen worden, scheint mir jedoch nicht ausreichend begründbar. 22F× 4 M = ELM ii, (151) 122 Suet. Aug. 40: (3) Magni praeterea existimans sincerum atque ab omni colluvione peregrini ac servilis sanguinis incorruptum servare populum et civitates Romanas parcissime dedit et manumittendi modum terminavit. Tiberio pro cliente Graeco petenti rescripsit non aliter se daturum, quam si praesens sibi persuasisset, quam (quasi Kaster) iustas petendi causas haberet.(26F) Et Liviae pro quodam tributario Gallo roganti civitatem negavit, immunitatem optulit affirmans
facilius se passurum fisco detrahi aliquid, quam civitatis Romanae vulgari honorem.
(4) Servos non contentus multis difficultatibus a libertate et multo pluribus a libertate iusta removisse …
Üb.: Weil er es für wichtig hielt, das römische Volk rein und unverdorben von aller Vermischung mit fremdem oder sklavischen Blut zu erhalten, verlieh er das römische Bürgerrecht nur sparsam und setzte eine Obergrenze für Freilassungen fest. Als Tiberius sich für einen griechischen Klienten einsetzte, antwortete er ihm, er werde ihm (das Bürgerrecht) nur verleihen, wenn dieser ihn persönlich überzeugte, welch gerechte Gründe er für die Bitte habe. Und Livia, die das Bürgerrecht für einen tributpflichtigen Gallier erbat, schlug er es ab, bot jedoch eine Befreiung von den Abgaben an und versicherte, er werde es leichter ertragen, wenn der Staatskasse etwas entzogen werde, als dass die Ehre des römischen Bürgerrechts überall hin verbreitet werde. Er war nicht damit zufrieden, die Sklaven durch viele Hindernisse von der Freilassung und durch noch viel mehr Hindernisse von der rechtlichförmlichen Freilassung abzuhalten … Komm.: Im Zusammenhang mit der Schilderung von Augustus’ Zurückhaltung hinsichtlich der Verleihung des römischen Bürgerrechts und der Freilassung von Sklaven paraphrasiert Sueton zwei (briefliche) Äußerungen, zunächst gegenüber
50 Zu den ‚Ehebriefen‘ Ciceros und des jüngeren Plinius vgl. jetzt Häger 2021.
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Tiberius (26F) und dann gegenüber Livia: Diese habe für einen tributpflichtigen Gallier die Verleihung des römischen Bürgerrechts erbeten, was Augustus abgelehnt habe. Stattdessen habe er aber angeboten, den Gallier von Abgaben zu befreien. Der briefliche Ursprung der folgenden Paraphrase ist hier nicht gesichert (vgl. Bringmann/Wiegandt 2008, 37), doch wäre es sehr plausibel, in Analogie zu 26F hinter et Liviae pro quodam tributario Gallo roganti ein Empfehlungsschreiben der Livia zu vermuten, auf das Augustus brieflich antwortet.51 facilius se passurum fisco detrahi aliquid, quam civitatis Romanae vulgari honorem: Während Sueton die Ablehnung von Livias Gesuch und Augustus’ Vorschlag, den Gallier von seinen Abgaben zu befreien, nur allgemein konstatiert, wechselt er für die sentenzartig wirkende Bekräftigung der gefällten Entscheidung in die Oratio obliqua. Die Wiedergabe dürfte sich also vom Wortlaut des Prätextes nicht allzu sehr unterscheiden. 23–24F 1 u. 3 M = ELM ii, (151) 98 u. 100 Suet. Claud. 3–4: (3,2) Mater Antonia portentum eum (sc. Claudium) hominis dictitabat nec absolutum a natura sed tantum incohatum, ac si quem socordiae argueret, stultiorem aiebat filio suo Claudio. Avia Augusta pro despectissimo semper habuit, non affari nisi rarissime, non monere nisi acerbo et brevi scripto aut per internuntios solita. Soror Livilla cum audisset quandoque imperaturum, tam iniquam et tam indignam sortem p. R. palam et clare detestata est. Nam avunculus maior Augustus quid de eo in utramque partem opinatus sit quo certius cognoscatur, capita ex ipsius epistulis posui:
51 Diese beiden Zeugnisse stellen Grenzfälle in meinem Corpus dar, da zumindest Augustus in den zugrundeliegenden Briefwechseln primär in einer amtlichen Rolle auftritt: Nur in dieser ist er schließlich dazu in der Lage, die Petitionen seiner Ehefrau bzw. seines Stiefsohnes zu bescheiden. Gleichwohl habe ich mich für die Aufnahme entschieden, weil die epistolaren Rollen in solchen Briefwechseln sich einer klaren Zuordnung oft entziehen: Das konkrete Anliegen wird zwar an die Amtsträger-Persona des Adressaten gerichtet (‚bitte tu Person XY diesen oder jenen Gefallen‘), aber die Begründungen für die Bitte richten sich oft an den Adressaten als Privatperson (‚wir sind schon so lange befreundet‘) und haben auch eine Funktion innerhalb der privaten Beziehung zwischen Sender und Adressat. Eine Sammlung von Empfehlungsschreiben Ciceros findet sich im sogenannten 13. Buch Ad familiares; auch im plinianischen Briefcorpus finden sich solche Schreiben, z. B. epist. 2,13. Mit den hier in Rede stehenden Briefwechseln inhaltlich gut vergleichbar sind vielleicht besonders Plin. epist. 10,5 u. 6 (Plinius erbittet das alexandrinische und das römische Bürgerrecht für seinen Arzt Harpocrates und zwei weitere Freigelassene) u. 7 (Traian gewährt die Bitte) – freilich wird die Bitte hier abschlägig beschieden. Vgl. zu diesem Brieftyp auch Cugusi 1983, 111–114; Rees 2007; Rollinger 2014, 220–246.
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23F: (4,1) C o l l o c u t u s s u m c u m T i b e r i o , u t m a n d a s t i , m e a L i v i a , quid nepoti tuo Tiberio faciendum esset ludis Martialibus. Consentit autem uterque nostrum semel nobis esse statuend u m q u o d c o n s i l i u m i n i l l o s e q u a m u r. N a m s i e s t ἄ ρ τ ι ο ς < e t > , ut ita dicam, ὁλόκληρος – Quid est quod dubitemus, quin per eosdem articulos et gradus producendus sit per quos frater e i u s p r o d u c t u s s i t ? (2) S i n a u t e m ἠ λ α τ τ ῶ σ θ α ι s e n t i m u s e u m et βεβλάφθαι καὶ εἰς τὴν τοῦ σώματος καὶ εἰς τὴν τῆς ψυχῆς ἀρτιότητα, praebenda materia deridendi et illum et nos non e s t h o m i n i b u s τ ὰ τ ο ι α ῦ τ α σ κ ώ π τ ε ι ν κ α ὶ μ υ κ τ η ρ ί ζ ε ι ν ε ἰ ω θ ό σ ι ν. Nam semper aestuabimus, si de singulis articulis temporum d e l i b e r a b i m u s μ ὴ π ρ ο ϋ π ο κ ε ι μ έ ν ο υ ἡ μ ῖ ν, p o s s e a r b i t r e m u r e u m gerere honores necne. (3) I n p r a e s e n t i a t a m e n , q u i b u s d e r e b u s c o n s u l i s , c u r a r e e u m ludis Martialibus triclinium sacerdotum non displicet nobis, si est passurus se ab Silvani filio homine sibi affini admoneri ne quid faciat quod conspici et derideri possit. Spectare eum circenses ex pulvinari non placet nobis, expositus enim in f r o n t e p r i m a s p e c t a c u l o r u m c o n s p i c i e t u r. I n A l b a n u m m o n t e m ire eum non placet nobis aut esse Romae Latinarum diebus. Cur enim non praeficitur urbi, si potest sequi fratrem suum in m o n t e m ? (4) H a b e s n o s t r a s , m e a L i v i a , s e n t e n t i a s , q u i b u s p l a c e t semel de tota re aliquid constitui, ne semper inter spem et m e t u m f l u c t u e m u r. L i c e b i t a u t e m , s i v o l e s , A n t o n i a e q u o q u e nostrae des hanc partem epistulae huius legendam.
25 (5) Rursus aliis litteris, Tiberium adulescentem ego vero, dum tu aberis, cotidie invitabo ad cenam, ne solus cenet cum suo Sulpicio et Athenodoro. Qui, vellem, diligentius et minus μετεώρως deligeret sibi aliquem cuius motum et habitum et incessum imitaretur. Misellus ἀτυχεῖ: Nam ἐν τοῖς σπουδαίοις, ubi non aberravit eius animus, satis apparet ἡ τῆς ψυχῆς αὐτοῦ εὐγένεια.(65F) Item tertiis litteris,
24F: (6) T i b e r i u m n e p o t e m t u u m p l a c e r e m i h i d e c l a m a n t e m p o t u i s s e p e r e a m n i s i , m e a L i v i a , a d m i r o r. N a m , q u i t a m ἀ σ α φ ῶ ς l o q u a t u r, q u i p o s s i t c u m d e c l a m a t σ α φ ῶ ς d i c e r e q u a e d i c e n d a sunt, non video.
(7) Nec dubium est, quid post haec Augustus constituerit, ut reliquerit eum nullo praeter auguralis sacerdotii honore …
23F: 4 ἄρτιος] χ, artius ω, artios Kaster ⸺ suppl. Beroaldus (Commentationes conditae a Philippo Beroaldo in Suetonium Tranquillum [Bologna 1506], 185) ⸺ 5 ὁλόκληρος] χ, holocleros ω, ὁλοκλήρως Smilda (Ed. Suet. Claud. 1896, 18) ⸺ 7 ἠλαττῶσθαι] χ, ΕΛΑΤΤΩΣΘΑΙ ω ⸺ 8 f. ψυχῆς ἀρτιότητα] χ, ΨΧΗΣ ΑΡΡΟΤΗΤΑ ω ⸺ 10 σκώπτειν] Grec. χ, ΣΚΩΤΙΓΕΙΝ ω ⸺ εἰωθόσιν] χ, ΕΗΙΩΘΟΣΙΝ ω
Üb.: Seine Mutter Antonia sagte immer wieder, er (Claudius) sei ein Ungeheuer von einem Menschen, das von der Natur nicht vollendet, sondern nur begonnen worden sei, und wenn sie jemandem Einfalt vorwarf, sagte sie, er sei dümmer als ihr Sohn
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Claudius. Seine Großmutter, die Augusta, hielt ihn immer in größter Geringschätzung, sprach ihn gewöhnlich nur selten an und mahnte ihn nur mit kurzen, scharfen schriftlichen Hinweisen oder über Boten. Als seine Schwester Livilla hörte, dass er einst herrschen würde, verwahrte sie sich öffentlich dagegen, dass dem römischen Volk ein so ungerechtes und unwürdiges Los zufallen sollte. Damit man besser erkennt, was sein Großonkel Augustus einerseits und anderseits von ihm dachte, habe ich ein paar Abschnitte aus seinen Briefen zitiert: Wie du mir aufgetragen hast, liebe Livia, habe ich mit Tibe rius gesprochen, was mit deinem Enkel Tiberius (d. h. Claudius) an den Marsspielen anzustellen ist. Wir stimmen beide darin überein, dass wir ein für alle Mal festlegen müssen, welchem Ratschluss wir im Hinblick auf ihn folgen müssen. Denn, wenn er von geradem Wuchs und sozusagen ganz und gar unversehrt i s t – w a r u m z w e i f e l n w i r, o b e r d u r c h d i e s e l b e n A n l ä s s e u n d Ämter geführt werden muss, durch die sein Bruder geführt w o r d e n i s t ? We n n w i r a b e r m e i n e n , e r s e i u n v o l l k o m m e n u n d behindert im Hinblick auf die Geradwüchsigkeit des Körpers und der Seele, dann dürfen wir den Menschen keinen Anlass geben ihn und uns zu verspotten, denn die sind es ja gewohnt über sowas Witze zu reißen und die Nase zu rümpfen. Wir werden nämlich immer hin und her schwanken, wenn wir uns im Hinblick auf einzelne Anlässe beraten und von uns nicht vorher festgelegt wurde, ob wir meinen, dass er Ehrenämter ausüben könne oder nicht. Für die Gegenwart, danach fragst du ja, missfällt es uns nicht, wenn er während der Marsspiele im Esszimmer der Priester aufwartet, sofern er bereit ist, sich vom Sohn des Silvanus, mit dem er verwandt ist, beaufsichtigen zu lassen, damit er nichts tut, was Aufsehen erregt oder zu Gelächter führt. Wir lehnen es ab, dass er die Spiele aus der Kaiserloge verfolgt, denn herausgehoben in der ersten Zuschauerreihe wird er Aufsehen erregen. Wir lehnen es ab, dass er auf den Albanerberg geht oder während der Tage des Latinerfestes in Rom ist. Denn warum dient er dann nicht als Stadtpräfekt, wenn er seinem Bruder auf den Berg folgen kann? Du hast nun, liebe Livia, unseren Standpunkt: Wir meinen, wir müssen einmal in der Sache einen Beschluss fassen, damit wir nicht ständig zwischen Hoffnung und Furcht schwanken. Du kannst a b e r, w e n n d u m a g s t , d e r l i e b e n A n t o n i a d i e s e n Te i l d e s B r i e f e s zu lesen geben.
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In einem anderen Brief heißt es dagegen: … (siehe Üb. zu 65F) … Ebenso in einem dritten Brief: Ich möge zugrunde gehen, wenn ich mich nicht wundere, liebe Livia, dass dein Enkel Claudius mir gefallen konnte, als er eine Übungsrede hielt. Denn ich verstehe nicht, wie einer so unverständlich spricht und (dennoch) verständlich sagen kann, was gesagt werden muss, wenn er deklamiert. Und es besteht kein Zweifel daran, was Augustus danach festlegte, weil er ihm kein Amt außer der auguralen Priesterschaft übertrug … Komm.: Sueton führt in diesem Abschnitt der Claudiusvita aus, wie der junge Claudius (10 v. Chr.–54 n. Chr., Ks. 41–54) aufgrund seiner körperlichen und geistigen Defizite von den anderen Mitgliedern der kaiserlichen Familie verachtet worden sei. Claudius’ Mutter Antonia, dessen Großmutter Livia und die Schwester Livilla hätten ihn in vielfältiger Weise öffentlich herabgesetzt. Die, wie sich dann zeigt, eher ambivalente Haltung des Augustus gegenüber seinem Großneffen stellt er dar, indem er Abschnitte (capita; vgl. Cic. fam. 3,8,2: duo capita epistulae; Schröder 1999, 104) aus drei Briefen des Augustus zitiert: Zwei von diesen Briefen sind sicher an seine Ehefrau Livia, die Großmutter des Claudius, gerichtet. Bei dem die Mittelstelle einnehmenden Zitat (Tiberium adulescentem … εὐγένεια) ist dies zwar ebenfalls vorstellbar, aber keineswegs sicher, weswegen ich es gegen die älteren Ausgaben den Fragmenten der Briefe an unbekannte Empfänger zuordne (dazu ausführlicher Komm. zu 65F). Im ersten Briefzitat (23F) geht es um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Claudius bei bestimmten Ereignissen in der Öffentlichkeit auftreten darf; hier äußert sich Augustus eher ablehnend. In den beiden anderen Briefzitaten (65F und 24F) finden sich aber deutlich differenziertere Beurteilungen des Claudius. Sueton stellt 23F den beiden anderen Briefzitaten auch sprachlich klar gegenüber ([23F] … r u r s u s alteris litteris … [65F] … i t e m tertiis litteris … [24F]; vgl. Scherberich 1995, 83). 23F] Es handelt sich um das längste erhaltene Fragment eines Privatbriefes des Augustus. Das Schreiben beantwortet einen Brief Livias, in dem sie ihren Ehemann darum gebeten hatte (mandasti), die Frage mit Tiberius zu besprechen, ob und wie Claudius (er wird im Brief mit seinem Praenomen Tiberius genannt, im Folgenden der Einfachheit halber Claudius) in das Zeremoniell der bevorstehenden Marsspiele eingebunden werden soll. Augustus referiert seine und des Tiberius Antwort, wobei er zunächst nicht die erbetene Einzelfallentscheidung trifft, sondern die Notwendigkeit einer Grundsatzentscheidung erläutert, ohne sie zu treffen. Vielmehr wird in einem zweiten Gliederungsabschnitt zunächst doch die erbetene Einzelfallentscheidung formuliert
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und es wird auch gleich noch eine Regelung für ein weiteres Fest, die feriae Latinae, getroffen. Eine Grobgliederung könnte so aussehen: 0. 1. 2.
3.
Vielleicht Briefanfang, Paraphrase der Bitte, auf die geantwortet wird (1 f.) Die Notwendigkeit einer Grundsatzentscheidung (2–13) Die Einzelfallentscheidungen (14–22) 2.1 Die Marsspiele (14–19) 2.2 Die feriae Latinae (19–22) Zusammenfassung, nochmalige Betonung der Wichtigkeit einer Grundsatzentscheidung,vielleicht Überleitung zum Briefschluss (22–25)
Bemerkenswert ist gerade auf sprachlicher Ebene die Zäsur zwischen den Abschnitten 1 und 2: Ist der Ton zunächst trotz des ernsten Gegenstandes sehr familiär (stark parataktisch gestellte Sätze, Auflösungen der Satzstruktur, viel Griechisch, tendenziell schwächere Rhythmisierung52), gestaltet sich die Sprache, wenn es um die Einzelfallentscheidungen geht, auf einmal sehr förmlich, schlicht und geschäftsmäßig. Erst zum Ende wird klar, dass dies daran liegt, dass Augustus für diesen Teil des Briefes neben Livia eine weitere, mittelbare Adressatin annimmt. Der Brief ist mit recht hoher Wahrscheinlichkeit in den Frühling des Jahres 12 n. Chr. zu datieren, weil innere Indizien dafürsprechen, dass Claudius’ Stiefbruder Germanicus zur Zeit der Abfassung des Briefes Konsul gewesen ist und die Marsspiele im Mai noch bevorstehen (vgl. Kierdorf 1992, 80; Scherberich 1995, 79; Bringmann/Wiegandt 2008, 34 f.; Brandt 2021, 169 Anm. 571). 1 Collocutus sum cum Tiberio kann sich sowohl auf ein Gespräch als auch auf einen Briefwechsel mit Tiberius beziehen (colloqui legt zwar ein mündliches Gespräch nahe und in 41F: ne moleste scribas aut loquaris unterscheidet Augustus dezidiert zwischen geschriebener und gesprochener Sprache, indem er die Verben scribere und loqui in diesem Sinne als Gegensatzpaar verwendet. Allerdings gibt es zumindest für das Simplex loqui auch Belege in Bezug auf Briefe; vgl. z. B. Cic. Att. 1,16,8: non enim mihi videor insolenter gloriari cum de me apud te loquor, in ea praesertim epistula quam nolo aliis legi; Plepelits, ThLL vii, Art. loquor, 1660,49–52). 1 ut mandasti, mea Livia: Es könnte sich aufgrund des Verweises auf den Brief Livias, der hier offenkundig beantwortet wird, um einen Briefanfang handeln.
52 Im ersten Teil enden nur zwei von fünf Satzschlüssen vor schwerer Interpunktion auf eine Klausel: 2: Martialibus (Hypodochmius) und 4: -o sequamur (trochäische Dipodie). Dagegen im zweiten Teil immerhin fünf von acht: 15: displicet nobis, 18: non placet nobis (jeweils kretisch-trochäische Dipodie), 20: -rum diebus (trochäische Dipodie), 21: -em suum in montem (kretisch-trochäische Dipodie), 23: fluctuemur (trochäische Dipodie).
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Auch die Anrede mea Livia ist ein Indiz dafür: Eine solche namentliche Anrede kann analog etwa zu mi Gai in 39F,2 den Briefanfang markieren, aber auch analog zu Cic. fam. 14,1,5: Quod ad me, mea Terentia, scribis … einfach einen neuen Sinnabschnitt im Antwortschreiben anzeigen. Augustus verwendet diese Anrede in einem Fall sogar am Briefschluss; vgl. 42F,4 f.: Valebis, mea Agrippina, et dabis operam, ut valens pervenias ad Germanicum tuum. Die Anrede im Vokativ mit dem Possessivpronomen der ersten Person ist Briefstil und kommt ursprünglich vor allem bei Adressaten aus dem Kreis der engsten Familienmitglieder und Freunde des Schreibers vor. Cicero verwendet sie vornehmlich in den Briefen an seinen Bruder Quintus (z. B. Cic. Q. fr. 1,4,1: amabo te, mi frater), an Atticus (z. B. Cic. Att. 16,2,2: sed amabo te, mi Attice) und an seine Frau Terentia (s. o.; vgl. Häger 2021, 522 f.), zumindest vor der Ehescheidung. Plinius d. J. verwendet diese Anrede so nicht, dafür aber immer (außer in den Amtsbriefen an Traian im sogenannten zehnten Buch) das Possessivpronomen der dritten Person in der Grußformel nach dem Muster Plin. epist. 1,3: C. Plinius Caninio Rufo suo s(alutem dicit). Ein Fehlen des Possessivpronomens kann Distanz, aber auch Respekt ausdrücken: Plinius redet Traian nie mit mi an, umgekehrt, z. B. in Traian. Plin. epist. 10,55: mi Secunde carissime, geschieht dies hingegen sehr häufig (vgl. Babl 1893, 20; Adams 1978, 162 f.; Dickey 2002, 215–224). Ob sich Augustus an das ciceronianische Muster gehalten hat, ist anhand der Fragmente nicht mehr sicher zu beurteilen; alle Belege für diese Anrede stammen zwar aus Briefen an enge Familienmitglieder (neben dieser Stelle an Livia: 24F; an Tiberius: 27F; 28F,1; 29F,1; 30F; 33F; 34F,1; an den Enkel Gaius Caesar: 39F,2; an die Enkelin Agrippina: 42F,4), doch sind die Briefe an diese Adressaten deutlich besser dokumentiert als die an Außenstehende. 2 nepoti tuo Tiberio ist analog zu Plaut. Pseud. 1316: Quid ego huic homini faciam?53 Ter. Andr. 112: Quid hic mihi faciet patri?54 oder Cic. Att. 7,3,2: Quid enim tibi faciam, qui illos libros devorasti?55 mittelbares Objekt zu faciendum esset, wobei – in einem Brief sicherlich denkbar – vielleicht ein elliptisch ausgefallenes nobis mitzudenken ist (vgl. KSt, § 76,7; zu übersetzen ist also entweder: „was [wir] mit deinem Enkel Tiberius [Claudius] anstellen sollen“ oder „was mit deinem Enkel Tiberius [Claudius] angestellt werden soll“, so fassen es auch Rolfe 1913–1914 ii, 9 und Blank-Sangmeister 2015b, 13 auf). Ein Dativus [in]commodi erscheint unplausibel (dafür plädiert Hurley 2001, 75, aber was sollte das hier heißen?). Die meisten Übersetzungen scheinen mir einen – intuitiv durchaus naheliegenden – Dativus auctoris anzunehmen (so z. B. Martinet 2014, 547; Bringmann/Wiegandt 2008,
53 Üb.: „Was stellʼ ich mit diesem Menschen an?“ 54 Üb.: „Was wird der mit mir anstellen?“ 55 Üb.: „Was stell ich mit dir an, der du diese Bücher verschlungen hast?“
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33; sehr frei L. Möller 2014, 233: „was Dein Enkel … bei den Marsspielen verloren hat“), aber die Bedeutung „was dein Enkel Tiberius (Claudius) tun muss“ würde hier ins Leere laufen: Es geht im Folgenden schließlich weniger darum, dass Claudius bestimmte öffentliche Aufgaben aufgetragen bekommt, sondern eher darum, dass der aus Augustus, Livia und Tiberius bestehende „Familienrat“ – so bezeichnen ihn Bringmann/Wiegandt 2008, 34 zu Recht – eine Grundsatzentscheidung bezüglich Claudius’ öffentlichen Auftritten zu treffen hat (s. u.). Der Familienrat ist Agens, Claudius ist Patiens (vgl. auch weiter unten: quod consilium in illo [sc. Claudio] sequamur). 2 ludis Martialibus: Die Marsspiele fanden zweimal im Jahr, im Mai und im August, statt und wurden erstmals im Jahr 2 v. Chr. durch Augustus während dessen 13. Konsulat ausgerichtet (vgl. R. Gest. div. Aug. 22,2: consul (tertiumdecimum) ludos Mar[tia]les pr[imus fec]i). Da später im Brief noch von den feriae Latinae die Rede ist (19–22), sind hier sehr wahrscheinlich die Spiele im Mai gemeint (vgl. Kierdorf 1992, 80). 3 f. Consentit autem uterque nostrum semel nobis esse statuendum quod consilium in illo sequamur: Augustus und Tiberius stimmen darin überein, dass ein für alle Mal festgelegt werden müsse, welchem Ratschluss man künftig in Bezug auf Claudius zu folgen habe. Eine solche endgültige Entscheidung wird dann aber in diesem Brief bzw. Brieffragment nicht getroffen, sondern nur gefordert bzw. in Aussicht gestellt. 4 quod consilium in illo sequamur: In illo hat hier limitative Bedeutung („in Bezug auf jenen“; vgl. KSt, § 107,3b). Der indirekte Fragesatz quod consilium in illo sequamur dient gewissermaßen als Überschrift für das Folgende, nämlich eine Darlegung dieses Ratschlusses; sequamur dürfte sich sowohl auf Tiberius und Augustus, als auch auf Livia beziehen. 4–7 Nam, si … sin autem …: Es gibt zwei Möglichkeiten, die durch zwei antithetisch gestellte Konditionalsätze ausgedrückt werden: Entweder Claudius ist gesund; dann kann er dieselben Funktionen übernehmen wie sein älterer Bruder Germanicus. Ist er es aber nicht, so darf dies nicht dazu führen, dass er Anlass zu Spott liefert. 4 f. si est ἄρτιος et, ut ita dicam, ὁλόκληρος: Überliefert ist die Schreibweise artius … holocleros; ich folge den Chrysoloras-Glossen (vgl. Rollo 2020, 159 f.; siehe Kap. iii.3.2, S. 93, Abb. 3), interpretiere beide Begriffe als Adjektive und drucke sie mit griechischen Buchstaben. Artius ist als lateinisch flektiertes Adjektiv sonst erst bei Martianus Capella belegt (vgl. Mart. Cap. 9,949; Vollmer, ThLL ii, Art. artius, 707,50–57. Kasters Konjektur artios geht insofern in die richtige Richtung, ist aber typographisch inkonsequent; vgl. dazu Ohst 2017, 1047 f.), holocleros so sonst überhaupt nicht. Für die Schreibweise mit griechischen Buchstaben spricht auch, dass die beiden griechischen Adjektive in den beiden antithetisch gestellten Konditionalsätzen auffällig mit den beiden – sicher griechisch geschriebenen! – Infinitiven
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ἠλαττῶσθαι und βεβλάφθαι bei der Nennung der zweiten Alternative korrespondieren: si est ἄρτιος Sin autem ἠλαττῶσθαι sentimus eum
, et
ut ita dicam, ὁλόκληρος, … βεβλάφθαι
Aus holocleros sollte entsprechend das Adjektiv rekonstruiert werden, nicht etwa das Adverb ὁλοκλήρως, wie es Smilda aufgefasst hat (so auch Gelsomino 1959, 125; Sblendorio 1973, 58; Cugusi, ELM ii/2, 435). Freilich macht dies Beroaldus’ Ergänzung et notwendig (eine Haplographie bei et ut ist ohne weiteres plausibel). Ἄρτιος (eigt. ‚gerade‘) kann ‚gesund‘, sowohl in körperlicher als auch in geistiger Hinsicht bedeuten. Das Adjektiv bezieht sich aber in der zweiten Bedeutung selten wie hier auf den Menschen selbst, sondern jeweils auf den νοῦς, die φρήν usw., die nicht gesund sind (vgl. z. B. Thgn. IEG i, 153 f. = Sol. IEG ii, frg. 6,3 f.: ἀνθρώπῳ … ὅτῳ μὴ νόος ἄρτιος ᾖ; E. Tr. 417: οὐ γὰρ ἀρτίας ἔχεις φρένας; DGE iii, Art. ἄρτιος, 532 [i2] – von Menschen beutet es zumeist ,bereit‘ oder ,willig‘ [i3]). Es dürfte hier also ‚(körperlich) gesund‘ oder genauer ‚von geradem Wuchs‘ bedeuten. Ὁλόκληρος bedeutet ‚vollständig‘, ‚ganz‘ oder ‚vollkommen‘ und bildet vielleicht im Sinne von geistiger Gesundheit ein Komplement zu ὑγιής bzw. hier ἄρτιος (vgl. Pl. Ti. 44b–c: ἂν μὲν οὖν δὴ καὶ συνεπιλαμβάνηταί τις ὀρθὴ τροφὴ παιδεύσεως, ὁλόκληρος ὑγιής τε παντελῶς … γίγνεται;56 LSJ, Art. ὁλόκληρος, 121757). Augustus verwendet die griechischen Adjektive hier, genauso wie die längeren griechischen Passagen im Folgenden, in der Sorge, sich unangemessen auszudrücken: Wie aus dem Folgenden überdeutlich wird, ist Claudius ja weder ἄρτιος noch ὁλόκληρος. Es ist ihm daher unangenehm, überhaupt davon zu sprechen oder zu schreiben, weil es zum einen um das Thema ‚Krankheit‘ und zum anderen um ein im Besonderen für die Adressatin problematisches Thema geht (vgl. Cugusi 1972, 151; Wenskus 2001, 223). Der Wechsel ins Griechische baut in diesem Sinne eine gewisse Distanz zum Gesagten auf, demselben Zweck dient hier auch ut ita dicam (richtig Fedriani/Molinelli 2013, 81 f.; wenig überzeugend dagegen Elder/Mullen 2019, 266 f., die eine Parallele in Ciceros Gebrauch von philosophischer Terminologie sehen wollen). In der Sache mildern die Graeca das Gesagte keineswegs ab (anders Cugusi, ELM ii/2, 435). 4–7 nam, si … quid est quod dubitemus quin per eosdem articulos et gradus producendus sit per quos frater eius productus sit: Eine rhetorische Frage, auf
56 Üb.: „Wenn dann auch noch eine richtige Nahrung der Ausbildung zu Hilfe kommt, wird er … ganz und vollständig gesund.“ 57 Das dazugehörende Substantiv ὁλοκληρία wird in späteren Briefen (belegt in Papyri ab dem dritten Jahrhundert n. Chr.) im Sinne von ὑγεῖα Teil der griechischen Briefphraseologie (vgl. Koskenniemi 1956, 71), doch hat das Adjektiv hier eher noch nicht diesen Bedeutungsverlust erlitten.
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die eine verneinende Antwort zu erwarten ist, daher hier die Konjunktion quin (vgl. KSt, § 191c). Hier und im Folgenden (sentimus … aestuabimus … deliberabimus … arbitremur) steht das Prädikat jeweils in der ersten Person Plural; Augustus legt so nicht nur Tiberius’ und seine eigene Einschätzung dar, sondern unterstellt geschickt, dass Livia diese selbstverständlich teilt. Nam und quid sind durch den Konditionalsatz gesperrt und können daher kaum im Sinne von quidnam gemeinsam die Frage einleiten (nam quis, nam quid usw. ist häufig in der Dichtersprache und vor allem in der Komödie, aber für eine Sperrung wie hier findet sich sonst kein Beleg; vgl. KSt, § 170,7). Nam si entspricht hier gr. καὶ δή und zwischen ὁλόκληρος und quid liegt eine Art Aposiopese vor: Nam deutet auf eine Apodosis voraus, die dann nicht realisiert, sondern durch eine parataktisch gestellte rhetorische Frage substituiert wird (‚denn, wenn … – warum …?‘ Ähnlich z. B. A. Eu. 894: καὶ δὴ δέδηγμαι – τίς δέ μοι τιμὴ μένει; dort dient καὶ δή zur Markierung einer imaginären Annahme [vgl. Denniston 1954, 253], was einem Konditionalsatz vom Sinn her nicht fern liegt. Üb.: „Und wenn ich sie nähme – welche Ehre bliebe mir?“). Bei parataktisch gestellten Fragesätzen mit quid est quod könnte es sich um umgangssprachliches Kolorit handeln; sie begegnen oft in der Komödie, aber auch in Ciceros Reden und Briefen sowie bei Ciceros Briefpartnern; vgl. Lebek 1970, 119; Bagordo 2001, 55 f. Mit den articuli sind konkrete Anlässe wie die Marsspiele gemeint, bei denen ein Mitglied der kaiserlichen Familie bestimmte Funktionen zu übernehmen hat (vgl. Bannier, ThLL ii, Art. articulus, 693,78–694,45; Kierdorf 1992, 81), mit den gradus dagegen Ämter; vgl. Knoche, ThLL, vi, Art. gradus, 2148,59–2149,67. Vielleicht ist auch hier (s. o. zu nepoti tuo Tiberio) ein elliptisch ausgefallenes nobis mitzudenken. 6 f. per quos frater eius productus sit: Gemeint ist Claudius’ älterer Bruder Germanicus, der zum wahrscheinlichen Zeitpunkt des Briefes bereits die Quästur bekleidet hatte, Mitglied im Kollegium der Auguren geworden war, den Rang eines Prätors erhalten hatte und gegenwärtig den Konsulat bekleidete (vgl. Kierdorf 1992, 81; Kienast 1996, 80). Auffällig ist der Parallelismus zum vorangegangenen quin-Satz (per eosdem … producendus sit | per quos … productus sit), der den Gedanken der absoluten Gleichbehandlung beider Brüder, im genannten Fall, sprachlich untermalt. 7 Sin autem: Zur konditionalen Konjunktion erstarrte Aposiopese entsprechend gr. εἰ δὲ μή – ‚widrigenfalls‘ (vgl. Svennung 1932, 122; LSS Synt., § 262d), hier zu verstehen im Sinne von ‚wenn hingegen‘, womit das si im vorigen Satz wiederaufgenommen wird (vgl. auch Neue/Wagener 1892–1905 ii, 972). 7 f. ἠλαττῶσθαι sentimus eum et βεβλάφθαι: Auch bei der Nennung der zweiten Alternative – nämlich, dass Claudius nicht gesund sei – bedient sich Augustus des Griechischen. Diesmal hängen – bis auf den Subjektsakkusativ eum – zwei rein griechische Accusativi cum infinitvo von sin autem … sentimus (Üb.: „Wenn wir
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aber den Eindruck haben, dass …“) ab. Ἠλαττῶσθαι ist der Infinitiv Perfekt Mediopassiv von ἐλαττόω (‚verringern‘) und fungiert hier als das Gegenteil von ὁλόκληρος, also ‚unvollkommen‘ oder ‚unvollständig sein‘ (in Bezug auf eine körperliche Beeinträchtigung ist das Verb auch belegt bei Plb. 18,4,3: ὁ Φαινέας, ἠλαττωμένος τοῖς ὄμμασιν ἐπὶ πλεῖον; vgl. auch DGE vii, Art. ἐλασσόω, 1432 [i]). Βεβλάφθαι bedeutet als Infinitiv Perfekt Passiv zu βλάπτω ‚geschädigt‘, ‚beschädigt‘ oder ‚behindert sein‘ und negiert hier ἄρτιος. 8 f. καὶ εἰς τὴν τοῦ σώματος καὶ εἰς τὴν τῆς ψυχῆς ἀρτιότητα: Der griechische Text ist hier so in den Handschriften bis τῆς richtig überliefert; lediglich die letzten zwei Worte sind korrupt, aber leicht zu verbessern: hinter ΨΧΗΣ ΑΡΠΟΤΗΤΑ (M) bzw. ΑΡΡΟΤΗΤΑ (G) steckt ψυχῆς (Υ ist wohl wegen der Ähnlichkeit mit Ψ als eine Art Haplographie ausgefallen) ἀρτιότητα.
Abb. 5: Hs. Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Cod. Guelf. 268 Gud. lat. (G), fol. 101r.
Die zweifache Präposition εἰς hat hier jeweils limitative Bedeutung (vgl. KG, § 432,1). Ἀρτιότης ist das Substantiv zu ἄρτιος und bedeutet ‚Gesundheit‘ (vgl. DGE iii, Art. ἀρτιότης, 532 [1]); gemeint ist hier explizit die Gesundheit an Körper und Seele. 9 f. praebenda materia deridendi et illum et nos non est hominibus τὰ τοιαῦτα σκώπτειν καὶ μυκτηρίζειν εἰωθόσιν: Wenn Claudius physisch oder psychisch nicht gesund ist, darf den Leuten kein Grund gegeben werden, über ihn selbst (hier illum statt eum, wohl um einen stärkeren Kontrast zu nos zu erzielen; vgl. Adams 2016, 196) oder die kaiserliche Familie (nos) zu lachen. Auffällig ist die kausal aufzufassende griechische Partizipialkonstruktion: Den Leuten darf kein Grund zum Lachen gegeben werden, weil sie es gewohnt sind (εἰωθόσιν), über derartige Dinge Witze zu reißen (σκώπτειν; die Verbesserung des überlieferten ΣΚΩΤΙΓΕΙΝ, entstanden durch Verschreibung von -ΠΤ- zu -ΤΙΓ-, ist trivial) und die Nase zu rümpfen (μυκτηρίζειν; vgl. Cugusi, ELM ii/2, 436; der einzige Beleg für das Verb im ‚klassischen‘ Griechisch ist ein Lysias-Fragment [Lys. frg. 500 C]; sonst begegnet es erst spät, etwa in häufig in der Septuaginta). Der Sprachwechsel ins Griechische ist einerseits im Zusammenhang mit den vorangegangenen griechischen Passagen zu sehen: Die Angelegenheit ist äußerst heikel und für Augustus offensichtlich sehr unangenehm. Allerdings liegt das Problem hier weniger bei den psychischen und physischen Schwächen des Claudius selbst, sondern vor allem bei der von Augustus antizipierten Reaktion der Öffentlichkeit darauf: Mit deridere und σκώπτειν bedient
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er sich hier zweier im Grunde synonymer Verben des Spotts aus der Komödie (mit deridere übersetzen die lateinischen Komiker σκώπτειν in ihren griechischen Vorlagen; vgl. Bagordo 2001, 123). Der bloße Gedanke an das einfache Volk, das einen Makel in der Außendarstellung der kaiserlichen Familie entdecken, darüber spotten und Claudius damit gewissermaßen zu einer Komödienfigur machen könnte, verlangt geradezu nach einer Abschwächung des Gesagten. 11–13 Nam semper aestuabimus, si de singulis articulis temporum deliberabimus, μὴ προϋποκειμένου ἡμῖν posse arbitremur eum gerere honores necne: Dieses Konditionalgefüge, mit dem Augustus die Notwendigkeit einer Grundsatzentscheidung, die er bereits gefordert hat (semel nobis esse statuendum), nochmals begründet, ist syntaktisch nicht ganz einfach, gerade wegen des griechischen Genitivus absolutus in der Protasis (μὴ προϋποκειμένου ἡμῖν muss wegen der Verneinung mit μὴ als Teil der Protasis aufgefasst werden; vgl. KG, § 510,4b u. § 513). Von dieser hängt dann wieder eine indirekte disjunktive Doppelfrage ab, der allerdings ein Fragewort wie utrum fehlt und bei der das Verb nicht wiederholt wird – eine Erscheinung, für die es jedoch in der Komödie und im Brief auch andere Belege gibt (vgl. z. B. Ter. Heaut. 95: nunc habeam necne incertumst; Cic. fam. 2,17,3: Parthi transierint necne praeter te video dubitare neminem; KSt, § 235,1). Aestuare (eigentlich ‚lodern‘, ‚kochen‘ oder ‚wogen‘) im Sinne von ‚zweifeln‘ oder ‚sich im Zweifel befinden‘ wirkt kühn (vielleicht trifft die Übersetzung „ins Schwitzen kommen“ [Blank-Sangmeister 2015b, 13] das Richtige); für Cicero bedarf das Verb in diesem Sinne gebraucht jedenfalls einer Präzisierung (Cic. Verr. 2,2,74: itaque aestuabat d u b i t a t i o n e ; Bannier, ThLL i, Art. aestuo, 1113,77–1114,82). Zu singulis articulis s. o. Das Verb προϋπόκειμαι dient als Perfekt passiv zu προϋποτίθημι und bedeutet daher etwa ‚vorher vorhanden sein‘, im vorliegenden Kontext wohl ‚vorher festgelegt sein‘ (vgl. LSJ, Art. προϋπόκειμαι, 1538). Der griechische Genitivus absolutus dient einem etwas anderen Zweck als die vorangegangenen griechischen Passagen in diesem Brieffragment: Augustus bedient sich hier bewusst eines Verbums der philosophischen und naturwissenschaftlichen Fachsprache, in der es die Präexistenz einer Sache, eine Vorfestlegung oder eine Feststellung ausdrückt (vgl. z. B. Arist. frg. 19 [p. 33,14–16 R]: ἅπασι τοῖς φθορὰν ἐνδεχομένοις αἰτίαι διτταὶ τῆς ἀπωλείας ἡ μὲν ἐντὸς ἡ δὲ ἐκτὸς προυπόκεινται58 [dies, soweit ich sehe, früheste Beleg für das Doppelkompositum]; S.E. M. 9,324: τὸ γὰρ πρόσθεσιν ἐπιδεχόμενον προϋποκεῖσθαι δεῖ τῆς προσθέσεως;59 Gal. in Pl. Tim. frg. 2 [p. 11,9–11 Schr]: προϋποκειμένου γὰρ τοῦ τὴν ψυχὴν ἀρχὴν εἶναι κινήσεως, ὁμολογουμένου δὲ καὶ τοῦ τὰ φυτὰ τὴν ἀρχὴν κινήσεως ἔχειν ἐν ἑαυτοῖς, ἔμψυχα 58 Üb.: „Für alle Dinge, die das Vergehen auf sich nehmen, existieren schon vorher zwei Ursachen für den Untergang, eine innere und eine äußere.“ 59 Üb.: „Das, was eine Hinzufügung erhält, muss vor der Hinzufügung existieren.“
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προσηκόντως ὀνομασθήσεται60). Augustus unterstreicht so noch einmal, dass ihm eine einmalige und unumstößliche Entscheidung in Bezug auf Claudius vorschwebt, und stellt einen Gegensatz zu dem bisherigen Umgang mit dem Problem her (vgl. Elder/Mullen 2019, 267). Bemerkenswert ist, dass diese dann nicht folgt, sondern im weiteren Verlauf nur als wünschenswert in Aussicht gestellt wird. 14 In praesentia tamen, quibus de rebus consulis: Hier wird zu einem neuen thematischen Abschnitt übergeleitet; dies wird durch die Anrede in der zweiten Person markiert. Es geht nun anders als im vorigen Abschnitt, wo die Notwendigkeit einer Grundsatzentscheidung begründet wurde, um Einzelfallentscheidungen für die Gegenwart, verdeutlicht durch die rubrizierende Prolepse in praesentia tamen (siehe dazu Komm. 20F: Irasci me tibi scito). 14–17 In praesentia tamen quibus de rebus consulis, curare eum ludis Martialibus triclinium sacerdotum non displicet nobis, si est passurus se ab Silvani filio homine sibi affini admoneri ne quid faciat quod conspici et derideri possit: Augustus geht nun auf den von Livia erfragten, konkreten Fall ein (im Folgenden dann allerdings auch noch auf die feriae Latinae, die wohl ebenfalls in naher Zukunft liegen): Es missfällt Augustus und Tiberius (die erste Person Plural ist hier und im Folgenden wohl auf beide zu beziehen, auch wenn Augustus gelegentlich in den Briefen den soziativen Plural verwendet; siehe dazu Komm. zu 14F: Horatium nostrum …) nicht, dass Claudius dem Priesterkollegium beim Essen aufwartet (so ist triclinium curare zu verstehen), unter der Bedingung, dass er bereit ist, sich vom Sohn des Silvanus, einem Verwandten (gemeint ist vermutlich Marcus Plautius Silvanus, Sohn des gleichnamigen Konsuls von 2 v. Chr. und 24 n. Chr. selbst Prätor; vgl. PIR2 P, Nr. 479 [196]; Kierdorf 1992, 81), anleiten zu lassen, damit nichts geschieht, was Aufsehen erregt (conspici) oder zu Gelächter führt (derideri). Das Verb conspicere wird im Folgenden nochmals wiederholt, deridere begegnete bereits; indem Augustus diese beiden Verben jeweils wiederholt, unterstreicht er nochmals seine beiden hauptsächlichen Befürchtungen: Dass Claudius Aufsehen erregen oder Anlass zu Gelächter liefern könnte. Non displicet nobis ist nicht gerade ein direkter Befehl, sondern eher eine widerwillig erteilte und abgemilderte Erlaubnis (Litotes), was durch die folgende Einschränkung im si-Satz nochmals deutlich unterstrichen wird. 15–20 non displicet nobis … non placet nobis … non placet nobis: Die Entscheidungen, die er gemeinsam mit Tiberius getroffen habe, formuliert Augustus mit dem jeweils verneinten Verb placere bzw. displicere. Insbesondere ersteres erinnert an das Formular von Edikten der späten Republik und der Kaiserzeit, so
60 Üb.: „Weil festgestellt wurde, dass die Seele die Ursache der Bewegung ist, und weil man übereingekommen ist, dass die Lebewesen die Ursache der Bewegung in sich haben, werden sie passenderweise beseelt genannt.“
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z. B. an das bei Sueton und Gellius überlieferte Edikt der Zensoren Gnaeus Domitius Ahenobarbus und Lucius Licinius Crassus aus dem Jahr 92 v. Chr., in dem beide ihr Missfallen über die in Rom neuen Rhetorik-Schulen zum Ausdruck bringen; vgl. Edict. Cens. de rhet. Suet. rhet. 25,2 = Gell. 15,11,2: haec nova … neque placent neque recta videntur. Quapropter et iis … et iis … visum est faciundum, ut ostenderemus nostram sententiam: nobis non placere (vgl. z. B. auch CIL x, Nr. 4842; Benner 1975, 38; Menge/Schönberger 2007, 23). Mit diesem amtssprachlichen Tonfall (man beachte auch den gesteigerten Grad von Rhythmisierung, s. o., S. 152 Anm. 52) unterstreicht Augustus die Verbindlichkeit der gemeinsam mit Tiberius getroffenen Entscheidung; nicht nur gegenüber Livia, sondern auch gegenüber Claudius’ Mutter Antonia, die für diesen Teil des Briefes als Mitadressatin fungiert (s. u., zu Licebit autem, si voles …). 17–19 Spectare eum circenses ex pulvinari non placet nobis, expositus enim in fronte prima spectaculorum conspicietur: Dass Claudius die Spiele (es geht hier sicherlich noch um die Marsspiele) vom pulvinar aus betrachtet, untersagen Augustus und Tiberius hingegen, weil er dort in besonders herausgehobener Position Aufsehen erregen würde. Das pulvinar war ein sich im Circus Maximus auf der Seite zum Palatin hin befindender Tempel, den Augustus selbst errichtet hatte, der als Loge für ihn und die kaiserliche Familie diente, aber auch eine religiöse Funktion hatte (vgl. R. Gest. div. Aug. 19: pulvinar ad circum maximum … feci. || ναὸν πρὸς τῷ μεγάλῳ ἱπποδρόμῳ … ἐπόησα. Humphrey 1986, 78–83; Kierdorf 1992, 81; van den Berg 2008, 258–266; Cooley 2009, 187 f.). In fronte prima spectaculorum bedeutet etwa ‚ganz vorne an der Stirnseite der Zuschauerränge‘ wie bei Vitr. 3,2,2: in antis erit aedes, cum habebit in fronte antas parietum61; spectacula in der Bedeutung ,Zuschauerränge‘ ist schon seit der Komödie belegt (vgl. z. B. Plaut. Curc. 647: spectacla ibi ruont; Cic. Sest. 124: tantus est ex omnibus spectaculis … plausus excitatus; Ov. met. 10,668: resonant spectacula plausu). Eine Lokalisierung des pulvinar ist auf archäologischer Grundlage bisher nicht gelungen; der Wortlaut des Briefes lässt jedoch vermuten, dass das pulvinar so in die Tribüne auf der Palatin-Seite hineingebaut gewesen ist, dass die kaiserliche Familie auf der Höhe der ersten Zuschauerreihe saß und so von allen Seiten zu sehen war (vgl. Scherberich 1995, 81). Claudius wäre dort dann also wirklich expositus gewesen. 19–22 In Albanum montem ire eum non placet nobis aut esse Romae Latinarum diebus. Cur enim non praeficitur urbi, si potest sequi fratrem suum in montem? Ebenso schließen es Augustus und Tiberius aus, dass Claudius an den
61 Üb.: „Einen Tempel nennt man ‚in antis‘, wenn er an der Stirnseite der Mauern Viereckpfeiler hat.“
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feriae Latinae – nach den Marsspielen, von denen bisher die Rede war, wohl das zeitlich nächste wichtige Fest – an der Opferprozession zum mons Albanus teilnimmt oder sich überhaupt in Rom befindet. Die Begründung wird in Form einer rhetorischen Frage geliefert: Wenn Claudius zusammen mit seinem Bruder Germanicus, dem amtierenden Konsul, an der Prozession teilnehmen würde, was spräche dann noch dagegen, dass er die zeremonielle Rolle des praefectus urbi feriarum Latinarum causa ausübt (vgl. zu den feriae Latinae Kierdorf 1992, 81 f.; Bringmann/ Wiegandt 2008, 35)? Genau das will Augustus aber nicht, denn in dieser Funktion könnte Claudius, auch wenn es hier unausgesprochen bleibt, natürlich wieder Aufsehen erregen und Anlass zu Gelächter liefern. 22–24 Habes nostras, mea Livia, sententias, quibus placet semel de tota re aliquid constitui, ne semper inter spem et metum fluctuemur: Augustus fasst das Gesagte zusammen: Livia habe nun seine und des Tiberius Entscheidungen bezüglich Claudius mitgeteilt bekommen; gleichwohl plädieren sie dafür, in der Sache noch einmal einen Grundsatzbeschluss zu treffen, damit man in Zukunft nicht mehr zwischen Hoffnung und Furcht schwanke, also zu entscheiden, ob Claudius überhaupt für Ämter infrage kommt. Mit der namentlichen Anrede Livias (habes nostras, mea Livia, sententias) wird also gleichermaßen der Unterabschnitt (in praesentia tamen …) abgeschlossen und ein Rahmen mit dem (wahrscheinlichen) Briefanfang gebildet, ähnlich etwa Cic. Att. 1,16,1–6: quaeris ex me quid acciderit de iudicio quod tam praeter opinionem omnium factum sit … Itaque si causam quaris absolutionis … h a b e s , ut brevissime potui, genus iudicii et causam absolutionis und Plin. epist. 2,11,1–25: Solet esse gaudio tibi, si quid acti est in senatu dignum ordine illo … Habes res urbanas. 24 f. Licebit autem, si voles, Antoniae quoque nostrae des hanc partem epistulae huius legendam: Abschließend erteilt Augustus Livia die Erlaubnis, Antonia, ihrer Schwiegertochter und Mutter des Claudius, diesen Abschnitt des Briefes (hanc partem epistulae) zum Lesen zu geben. Damit ist wahrscheinlich nur der zweite Teil des Brieffragments gemeint, in dem die konkreten Einzelfallentscheidungen getroffen werden; unabhängig davon ist nicht auszuschließen, dass der Brief noch weitere thematische Abschnitte umfasst haben könnte – immerhin bezeichnet Sueton die einzelnen Zitate in diesem Zitatnest ausdrücklich als capita ex epistulis. 24F] In diesem Brieffragment berichtet Augustus Livia davon, dass er Claudius beim Deklamieren zugehört habe und von dessen Vortrag offenbar äußerst positiv überrascht gewesen sei. Er bringt hier genauso wie in 65F und im Gegensatz zu 23F eine ambivalente Beurteilung des Claudius zum Ausdruck. Tiberium nepotem tuum placere mihi declamantem potuisse peream nisi, mea Livia, admiror: Wenn es sich hier nicht um einen Briefanfang handelt, dann um den Anfang eines neuen Gliederungsabschnitts im Brief, sonst müsste Claudius hier nicht so ausführlich ‚vorgestellt‘ werden. Dass der Accusativus cum infinitivo
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vor die Anrede der Adressatin gerückt wird, lässt ihn wie eine Überschrift für das Folgende wirken. Augustus schreibt Livia, er sei überrascht, dass deren Enkel Claudius ihm beim Halten einer Übungsrede gefallen konnte. Placere mihi ist amtlicher Stil und erinnert an die Sprache in Edikten (vgl. Komm. zu 23F: non displicet nobis … non placet nobis … non placet nobis). Augustus bekräftigt sein Urteil damit zusätzlich, vielleicht einen möglichen Widerspruch antizipierend. peream nisi: Die Beteuerungsformel („wenn [nicht], möge es mit mir aus sein“) wirkt umgangssprachlich und ist auch in den Cicero-Korrespondenzen – allerdings nur bei Ciceros Briefpartnern, nicht bei ihm selbst – belegt (vgl. Cael. Cic. fam. 8,15,2; Brut. Cic. fam. 11,23,2; Cass. Cic. fam. 15,19,4; auch sonst oft in kolloquialen Kontexten; vgl. LU, § 39; Hillen, ThLL x/1, Art. pereo, 1332,14–26; Kierdorf 1992, 82 u. v. a. Adams 2016, 141 u. 194. Allgemein zu Beteuerungsformeln Klauser, RAC ii, Art. Beteuerungsformeln, 219–222). Sehr ähnlich auch 36F,2: di me perdant, nisi wobei ein häufiger Gebrauch von Beteuerungsformeln überhaupt ein Charakteristikum der Privatbriefe des Augustus gewesen zu sein scheint (33F: ita sim felix; 35F,2 u. 39F,2 f.: medius Fidius). Nam, qui tam ἀσαφῶς loquatur, qui possit cum declamat σαφῶς dicere quae dicenda sunt, non video: Die Konstruktion ist wohl am besten als videre (hier im Sinne von ‚verstehen‘; vgl. OLD, Art. video, 2270 [14a]) mit indirektem Fragesatz zu erklären (vgl. OLD, ebd. [14c]). Qui als Interrogativpronomen mit instrumentaler Bedeutung (‚wie einer … kann‘) ist sonst vor allem in der Komödie belegt und vielleicht umgangssprachlich; vgl. Adams 2016, 194 f. Die anaphorisch gestellten indirekten Fragesätze dienen der Hervorhebung des Gegensatzes von ἀσαφῶς und σαφῶς (vgl. dazu LSS Stil., § 3a). Es handelt sich nur um ein eingeschränktes Lob, denn es bleibt dabei, dass Claudius (normalerweise) ἀσαφῶς spricht. Die griechischen Adverbien ἀσαφῶς bzw. σαφῶς (von [ἀ]σαφής), die hier wie auch häufig in den Briefen Ciceros eine metalinguistische Funktion haben (vgl. dazu Adams 2003a, 323–339 [mit zahlreichen Beispielen]), sind in ihrer genauen Bedeutung an dieser Stelle nicht klar: Einerseits können sie ‚(Un-)Deutlichkeit‘ in Bezug auf die Aussprache ausdrücken (so z. B. Hp. Epid. 1,27,13: τετάρτῃ, γλῶσσα ἀσαφὴς ἦν62), anderseits ‚(Un-)Klarheit‘ in Bezug auf den Ausdruck (so z. B. Pl. Cra. 427d: … ὥστε με μὴ δύνασθαι εἰδέναι πότερον ἑκὼν ἢ ἄκων οὕτως ἀσαφῶς ἑκάστοτε περὶ αὐτῶν λέγει;63 vgl. DGE iii, Art. ἀσαφής, 549; LSJ, Art. σαφής, 1586 f. [1]). Bringmann/Wiegandt 2008, 37 bringen die Stelle mit der fragmentarisch überlieferten Rede des Claudius über die Aufnahme gal62 Üb.: „Am vierten Tag: Die Aussprache war undeutlich.“ 63 Üb.: „… sodass ich nicht einmal weiß, ob er absichtlich oder unabsichtlich jedesmal so unklar davon spricht.“
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lischer Adliger in den Senat aus dem Jahr 48 (CIL xiii, Nr. 1668) in Verbindung, die mit einigen rhetorischen Unzulänglichkeiten behaftet sei („fahrige[r] Redeweise, zahlreiche[n] Abschweifungen, gelehrte[r] Pedanterie und schlecht strukturierte[n] Schachtelsätze[n]“), und nehmen an, Augustus sei daher von der rhetorischen Qualität der Deklamationsrede so überrascht gewesen. Das passt aber nicht besonders gut zum Wortlaut des Briefes: Augustus vergleicht nicht verschiedene Reden des Claudius, sondern setzt die Deklamation in einen Gegensatz zu Claudius’ sonstiger alltäglicher Sprechweise (vgl. auch Rollo 2020, 167). Insofern kann hier genauso gut von der fehlerfreien Aussprache des Claudius die Rede sein, die Augustus positiv überrascht hat.
10 Ad Ti. Claudium Neronem privignum (25–36) Durch die Heirat seiner Mutter Livia Drusilla mit Octavian im Jahr 38 v. Chr. wurde Tiberius (42 v. Chr.–37 n. Chr.) gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Drusus Stiefsohn des ersten römischen Kaisers. In dessen Nachfolgeregelung spielte er zunächst nur eine nachgeordnete Rolle hinter Marcellus und (nach dessen Tod 23 v. Chr.) hinter Agrippa. Erst mit Agrippas Tod 12 v. Chr. konnte Tiberius aufrücken, musste dazu jedoch Augustus’ Tochter Iulia heiraten (vgl. Kienast 2014, 122 f.). Dies und der Umstand, dass Tiberius als Nachfolger vielleicht nur ein Platzhalter für Augustus’ noch zu junge Enkel Gaius und Lucius Caesar sein sollte, scheint zu einem Zerwürfnis zwischen ihm und dem Kaiser geführt zu haben. 6 v. Chr. verließ Tiberius Rom und begab sich in eine Art freiwilliges Exil auf Rhodos.64 Im Jahr 2. v. Chr. ließ er sich
64 In diesem Kontext hat Lana 1975, 446 neben den von Malcovati und Cugusi (ELM) berücksichtigten Stellen bei Sueton noch eine weitere Paraphrase als mögliches Fragment eines Briefes von Augustus an Tiberius vorgeschlagen: Suet. Tib. 11,5–12,1: Transacto autem tribuniciae potestatis tempore, confessus tandem, nihil aliud secessu devitasse sequam aemulationis cum C. Lucioque suspicionem, petit ut sibi securo iam ab hac parte, conroboratis his et secundum locum facile tutantibus, permitteretur revisere necessitudines, quarum desiderio teneretur. Sed neque impetravit ultroque etiam admonitus est: d i m i t t e r e t o m n e m c u r a m s u o r u m , q u o s t a m c u p i d e r e l i q u i s s e t . Remansit igitur Rhodi contra voluntatem, vix per matrem consecutus, ut ad velandam ignominiam quasi legatus Augusto abesset. In dieser Passage der Tiberiusvita berichtet Sueton von Tiberius’ Zeit im freiwilligen Exil auf Rhodos: Als dort die Zeit seiner tribunicia potestas abgelaufen war, habe er (wohl Augustus gegenüber) eingestanden, dass sein Weggang nur den Sinn gehabt habe, nicht in den Verdacht der Nebenbuhlerschaft zu Gaius und Lucius Caesar zu geraten, und darum gebeten, nun, da in dieser Hinsicht
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von Iulia scheiden und kehrte erst 2 n. Chr. nach Rom zurück. Der Tod der beiden Augustus-Enkel in den Jahren 2 und 4 führte mittelbar zu Tiberius’ Reintegration in die kaiserliche Nachfolge: Er wurde von Augustus adoptiert, fungierte fortan als Mitregent und scheint in den letzten Lebensjahren des Augustus bereits weitgehend selbst regiert zu haben (ausführlicher zu all dem Kienast ibid., 128–136; Kunst 2014). Das Verhältnis zwischen Augustus und Tiberius zerfällt also gewissermaßen in drei sehr unterschiedliche Phasen: Die erste Phase bildet die Zeit zwischen 24 v. Chr. und 5 v. Chr., in der Tiberius über den Rang des zweiten Nachfolgers nicht hinausgekommen bzw. zum Schluss wohl nur als Platzhalter zum ersten Nachfolger des Augustus geworden ist. Es ist möglich, dass dies auf eine gewisse zwischenmenschliche Distanz zwischen ihm und Augustus in dieser Zeit hindeutet bzw. eine solche bedingt hat. Die zweite Phase (5 v. Chr.–4 n. Chr.) bilden Tiberius’ Rhodos-Aufenthalt, der Ausdruck eines tiefen Zerwürfnisses zwischen Augustus und Tiberius gewesen ist, und die Zeit unmittelbar nach seiner Rückkehr. In der dritten Phase nach der Adoption des Tiberius durch Augustus wird ihr Verhältnis auf offizieller Ebene kollegial, und auch von einer Entspannung des privat-zwischenmenschlichen Verhältnisses darf wohl ausgegangen werden. Augustus’ Korrespondenz mit Tiberius ist die mit Abstand am besten dokumentierte, was aber nicht zwingend darauf hindeutet, dass sie in einem größeren Umfang publiziert worden sein muss als die übrigen Korrespondenzen, sondern vielmehr dem Umstand geschuldet sein dürfte, dass sowohl Augustus als auch Tiberius ‚Protagonisten‘ einer Kaiservita Suetons gewesen sind. Die Briefe des Augustus an Tiberius könnten deswegen ‚überrepräsentiert‘ sein. Fast alle Fragmente von Briefen an Tiberius sind bei Sueton überliefert, lediglich ein Fragment (25F) geht (durch indirekte Vermittlung) auf den Kaiser Hadrian, zurück, der es in seinen Sermones zitiert hat.
keine Gefahr mehr bestehe, weil die beiden mittlerweile sicher den zweiten Platz im Reich behaupteten, seine Verwandten wiedersehen zu dürfen, die er vermisse. Damit habe er aber keinen Erfolg gehabt und sich außerdem die Ermahnung eingehandelt, er möge doch von der Sorge um seine Verwandten, die er so gerne zurückgelassen habe, ablassen. So sei er widerwillig auf Rhodos geblieben und habe lediglich über seine Mutter erreicht, den Titel eines Gesandten des Augustus führen zu dürfen, um die Schande zu verbergen. Die Annahme, dass der oben unterstrichenen Paraphrase ein Brief des Augustus als Prätext zugrunde gelegen haben könnte (das scheint auch Kornemann 1966, 37 f. bereits implizit angenommen zu haben), hat einiges für sich: Jedenfalls wird Tiberius hier mit der Spitze der iulisch-claudischen Familie korrespondiert haben. Allerdings ist auch an Livia Drusilla zu denken, die im Folgesatz genannt wird und als Korrespondentin ebenfalls infrage kommt. Es handelt sich hier um ein Problem der mit Sueton befassten Quellenforschung, weniger um einen klaren Fall von Sekundärüberlieferung, zumal Augustus in dem ganzen Passus nirgendwo namentlich genannt wird.
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25F 18 M = ELM ii, (151) 94 Char. gramm. p. 271,10–23 B: „Obiter“ divus Hadrianus sermonum libro i quaerit an Latinum sit: „quamquam“ inquit „apud Laberium haec vox esse dicatur.“ Et, cum Scaurus Latinum esse neget, addit, quia veteres „eadem“ soliti sint dicere, non addentes „via“, ut sit κατὰ ἔλλειψιν, ut Plautus inquit, „eadem biberis eadem dedero tibi ubi biberis savium“. Quamquam Divus Augustus reprehendens Ti. Claudium ita loquitur: scribis enim perviam ἀντὶ τοῦ obiter. Sed divus Hadrianus, „tametsi“, inquit, „Augustus non pereruditus homo fuerit, ut id adverbium ex usu potius quam lectione protulerit.“ Si quis autem eius rei vellet rationem penitus invisere, (Schenkeveld 2004, 31) De consortio praepositionum, quem adaeque sub titulo Ἀφορμῶν dedimus, legere non gravetur.
Üb.: Im ersten Buch der Sermones untersucht Kaiser Hadrian, ob obiter ein lateinisches (Adverb) sei: „Freilich sagt man, dass es dieses Wort bei Laberius gebe.“ Und weil Scaurus verneint, dass es ein lateinisches (Adverb) sei, fügt er hinzu, dass die Alten gepflegt hätten eadem zu sagen, ohne via hinzuzufügen, sodass es in Ellipse stehe, wenn Plautus sagt: „Da, wo du trinkst, werde ich dir einen Kuss geben, wo du trinkst. (siehe Komm.)“ Zwar tadelt der vergöttlichte Augustus Tiberius und sagt: Du schreibst nämlich „perviam“ anstelle von „obiter“. Doch sagt Hadrian: „Augustus war gleichwohl kein sehr gebildeter Mann, da er dieses Adverb eher aus der Umgangssprache als aus der Literatur entnommen hat.“ Wenn aber jemand das Prinzip dieser Angelegenheit genau verstehen will, möge er sich nicht sträuben, in dem Buch über die Begleiter der Präpositionen nachzulesen, das ich ebenfalls unter dem Titel Ἀφορμαί herausgegeben habe. Komm.: Das Charisius-Lemma, aus dem dieses Zitat stammt, ist allem Anschein nach ein weitgehend wörtliches Exzerpt aus den Ἀφορμαί des Iulius Romanus – genauer gesagt, aus dem Abschnitt über die Adverbien (gegen Ende der Passage bezeichnet sich der auctor als der Autor der Ἀφορμαί; vgl. dazu auch Tolkiehn, RE x, Art. Iulius [433], 788 f.; Kaster 1988, 424 f.). Quelle für Iulius Romanus sind wiederum die Sermones des Kaisers Hadrian (siehe dazu Kap. ii.3.1).65 Die Frage lautete dort, ob obiter lateinisch sei; in solchen normativ-grammatischen Kontexten geht es
65 Garcea 2021, 66 f. gibt zu bedenken, ob das Augustus-Zitat nicht auf das Werk Sermo dubius des älteren Plinius (dazu Kapitel ii.2.5) zurückgehen könnte; dass Hadrian das Briefzitat aus diesem Werk kannte, ist nicht auszuschließen, und dass der ältere Plinius die Briefe des Augustus in diesem Werk zitiert hat, ist auch in mindestens einem anderen Fall (8F) bezeugt. Aber Charisius bzw. Iulius Romanus haben dieses Werk (hier) nicht unmittelbar benutzt: Die Strukturvorlage für die hier referierte Diskussion ist Hadrian.
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dabei nicht darum, ob das Wort schlechthin lateinisch ist, sondern ob es ausweislich des sermo älterer Autoritäten der gehobenen Literatursprache angehört (vgl. Kroll 1924, 88–93; Adams 2013, 13). Es hat den Anschein, als sei die Diskussion in Form eines Dialogs zwischen Hadrian und dem Grammatiker Quintus Terentius Scaurus ausgeführt gewesen. Charisius’ bzw. Iulius Romanus’ Paraphrase der Diskussion ist recht verwickelt und bleibt letztlich dunkel (teilweise stark divergierende Rekonstruktionen der Dialoghandlung finden sich bei Kroll ibid., 93; Pascucci 1970, 158 f.; Deufert 2002, 211 f.; Adams 2003b, 569; Panayotakis 2010, 448 f.): Klar ist lediglich, dass Scaurus obiter als Adverb abgelehnt hat (et cum Scaurus Latinum esse neget) – Hadrian scheint die Gegenposition jedoch allenfalls zögerlich vertreten zu haben: Er bringt zunächst (in sehr distanzierter Form!) den Mimendichter Laberius (105–43 v. Chr.) als ‚Autorität‘ ins Spiel (quamquam, inquit, apud Laberium haec vox esse dicatur). Scaurus’ Skepsis hält er eine – allerdings ganz unpassende! – Analogie, nämlich die angebliche Verwendung von eadem als Adverb durch eine Ellipse von via bei Plautus (Bacch. 49, doch vgl. dazu Deufert ibid.), entgegen (dass Adams ibid. dieses Argument Scaurus in den Mund legen möchte, vermag nicht zu überzeugen). Als weitere Autorität nennt Hadrian nun eine sehr wahrscheinlich briefliche Äußerung des Augustus gegenüber Tiberius, in der er ihm vorwirft perviam anstelle von obiter geschrieben zu haben, schränkt das Gewicht dieses Belegs jedoch sogleich ein, indem er bemerkt, Augustus sei natürlich kein sehr gebildeter Mann gewesen und habe dieses Adverb nicht der Literatursprache, der lectio, sondern der Umgangssprache, dem usus, entnommen. Auch wenn dies im Kontext nicht explizit gemacht wird, stammt das Zitat sehr wahrscheinlich aus einem Brief: Die Wendung scribis enim ist sehr häufig in Briefen belegt, wenn Äußerungen des Adressaten zitiert oder paraphrasiert werden (vgl. z. B. Cic. Att. 4,16,9; 6,1,20; 14,13,5; 16,6,2; fam. 3,5,1; 6,17,2; 10,26,1; ad Brut. 1,2a,2; Q. fr. 2,15,1; Aug. epist. 1,3). Über den Ursprungskontext des Briefes lässt sich nichts mit Sicherheit sagen, außer eben, dass Augustus allem Anschein nach auf einen Brief des Tiberius antwortet, in dem dieser das nirgendwo sonst belegte Adverb perviam im Sinne von obiter gebraucht hat. scribis enim perviam ἀντὶ τοῦ obiter: Das Adverb obiter ist streng etymologisch wohl kein Kompositum aus ob und iter wie antike Grammtiker meinten (etwa Prisc. gramm. GL iii, p. 77,6 H: obiter … compositum est ab ob et iter; vgl. Wieland, ThLL ix/2, Art. obiter, 67,25 f.), sondern vielmehr die reguläre Bildung eines Adverbs aus einer Präposition mit -(i)ter wie circiter aus circa oder subter aus sub (vgl. Haase in: Reisig 1839, 204 Anm. 241; LLF, § 387b; Deufert 2002, 211 f.).66 Gleichwohl scheint
66 Eine alternative Erklärung vertritt Martzloff 2012, 609–618, der eine Verwandtschaft mit dem südpikenischen oftorim annimmt.
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es, als sei das „adverbium notionis non satis dilucidae“ (Wieland ibid.) in der Antike und auch hier von Augustus in diesem Sinne verstanden worden, denn es dient in der Regel der Charakterisierung einer Verbalhandlung als Nebenhandlung, entweder in einem temporalen oder in einem modalen Sinn, so z. B. Petron. 31,4: ac ne in hoc quidem tam molesto tacebant officio, sed obiter cantabant (temporal: „sondern sie sangen währenddessen“). Eher ein Modaladverb ist es dagegen in CIL iii, Nr. 12396 = CE, Nr. 1879,1: tu viator qui transis rist(a) leg(e) tit(ulum) obiter, etwa: „… lies die Inschrift nebenbei“ (ähnlich auch AE 1951, Nr. 30: obiter stas et repausas perlege tituum; vgl. auch Adams 2003b, 568). Zur Beschreibung einer Nebenhandlung scheint Tiberius nun das nirgendwo sonst sicher belegte Adverb perviam gebildet zu haben (vgl. Flury, ThLL x/1, Art. perviam, 1866,47–51; in Plaut. Aul. 438 und Pseud. 760 ist es varia lectio für pervium), womit er bei Augustus Anstoß erregt hat; perviam kann hier unmöglich eine Form von pervius, -a, -um (‚zugänglich‘, ‚offen‘) sein, weil obiter das nicht bedeutet. Vielmehr scheint die Bildung eines zusammengesetzten Adverbs analog z. B. zu dem häufig belegten obviam (ob + via) vorzuliegen (vgl. Reisig 1839, 203; Neue/Wagener 1892–1905 ii, 670 f.) und Augustus scheint diese Neubildung als gleichbeutend mit obiter aufgefasst zu haben. Die Beleglage spricht dafür, dass es sich bei obiter um ein eher umgangssprachliches Adverb gehandelt hat: Es ist bezeugt für den Mimus (jedenfalls schreibt es Hadrian Laberius zu) und belegt bei Petron (s. o.), Plinius d. Ä. und in Briefen (neben der hier besprochenen Stelle bei Plin. epist. 10,8,5 [nicht in einem der eher literarischen Briefbücher 1–9, sondern im sogenannten zehnten Buch!] und in den Vindolanda-Tafeln; vgl. T.Vindol. iii, 642,ii,6; dazu Pascucci 1970, 172; Adams 2003b, 568 f.). Demnach scheint Augustus seinem Stiefsohn hier den Vorwurf zu machen, in pedantischer Weise einen Neologismus zu bilden, um einen umgangssprachlichen Ausdruck zu vermeiden (vgl. Gutiérrez González 2012, 121), obwohl dieser nach Augustusʼ Empfinden für einen Brief doch angemessen wäre – eine ähnliche Stilkritik ist gegenüber dem Enkel Gaius Caesar belegt (vgl. 40F). Zu dieser Auffassung passt, dass Augustus Tiberius mit der griechischen Präpositionalphrase ἀντὶ τοῦ (ironisch?) den Tonfall des ‚pedantischen grammaticus‘ gewissermaßen in den Mund legt; lateinische Gelehrte verwenden ähnliche Präpositionalphrasen mit griechischer Präposition und griechischem Artikel häufig (z. B. ἀπὸ τοῦ, ἐκ τοῦ, παρὰ τοῦ), wenn auch in der Regel zur etymologischen Erklärung von vor allem griechischen Namen, Substantiven und Verben (vgl. z. B. Hyg. fab. 89,4: … qui postea Priamus est appellatus ἀ π ὸ τ ο ῦ πρίασθαι); ἀντὶ τοῦ ist bei ihnen entsprechend nicht belegt, doch bei griechischen Grammatikern begegnet es häufig (vgl. Gelsomino 1959, 121 ohne Belege), ganz besonders in Dichterscholien (vgl. etwa für Homerscholien exempli gratia Schol. Il. 1,61 [i, p. 28,56 E]: ἀ ν τ ὶ τ ο ῦ καὶ γάρ; 1,128 [i, p. 46,86 E]: ἀ ν τ ὶ τ ο ῦ τριπλῶς oder die zahlreichen, bei Arrighetti et al. 1991 i, 79–82 gesammelten Belege in den Pindarscholien).
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26F 19 M = ELM ii, (151) 81 Suet. Aug. 40: (3) Magni praeterea existimans sincerum atque ab omni colluvione peregrini ac servilis sanguinis incorruptum servare populum, et civitates Romanas parcissime dedit et manumittendi modum terminavit. Tiberio pro cliente Graeco petenti rescripsit
non aliter se daturum, quam si praesens sibi persuasisset, quam iustas petendi causas haberet.
Et Liviae pro quodam tributario Gallo roganti civitatem negavit, immunitatem optulit affirmans facilius se passurum fisco detrahi aliquid, quam civitatis Romanae vulgari honorem.(22F) quam iustas] ω, quod iustas Bentley (cf. Kaster, Ed. Suet. 2016, xlvi adn. 72), quasi iustas Kaster
Üb.: Siehe Üb. zu 22F. Komm.: In dieser Passage der Augustusvita beschreibt Sueton Augustus’ Zurückhaltung in der Verleihung des römischen Bürgerrechts (ausführlicher zum Kontext Komm. zu 22F). persuasisset: Subjekt zu persuasisset ist nicht der cliens graecus, sondern Tiberius, denn er ist der petens (Tiberio … petenti); einen inhaltlich ähnlichen Briefwechsel kennen wir von Kaiser Traian und Plinius (siehe Komm. zu 22F). Ob hier eine Paraphrase des gesamten Briefes vorliegt, die das Schreiben zusammenfasst und dem ursprünglichen Wortlaut eher fernsteht, oder ob hier ein Satz aus dem Brief in Oratio obliqua beinahe wörtlich wiedergegeben wird (vielleicht etwa non aliter civitatem ei dabo, quam si praesens mihi persuaseris, quam iustas petendi causas habeas), vermag ich nicht sicher zu entscheiden (zu Prätextnähe von Briefparaphrasen bei Sueton siehe Kap. ii.2.2, S. 46 f.). Insgesamt scheint Augustus’ Reaktion auf die Bitte des Tiberius aber recht schroff ausgefallen zu sein. Die schriftliche Fürbitte des Tiberius für seinen Klienten scheint bei Augustus kein erhebliches Gewicht zu haben. Möglich scheint mir, dass der Brief eigentlich weniger (oder jedenfalls nicht nur) Augustus’ Zurückhaltung in der Verleihung des Bürgerrechts dokumentiert, sondern vielmehr eine gewisse Reserviertheit gegenüber der Person des Tiberius zum Ausdruck bringt. Vielleicht wäre eine Datierung des Briefes in die Zeit von Tiberius’ Rhodos-Aufenthalt, der zum zwischenzeitlichen Zerwürfnis mit Augustus führte und sehr gut die Fürsprache für einen (griechischen!) Klienten per Brief erklärt, zu erwägen. quam iustas: Kasters Emendation des überlieferten Textes von quam iustas zu quasi iustas (vgl. dazu Kaster 2016, 105) überzeugt nicht und wurde hier daher nicht übernommen, ebenso wie Bentleys quod iustas: Bei quam iustas petendi causas haberet handelt es sich nicht um einen Objektsatz („noun clause“, Kaster ibid.), sondern um einen indirekten Fragesatz, in dem quam mit einem Adjektiv (iustas) unbedenklich ist (vgl. dazu ausführlicher Ohst 2017, 1046 f.; Chassignet 2017, 250).
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27F 8 M = ELM ii, (151) 82 Suet. Aug.: (51,2) Quadam vero cognitione, cum Aemilio Aeliano Cordubensi inter cetera crimina vel maxime obiceretur quod male opinari de Caesare soleret, conversus ad accusatorem commotoque similis: „Velim“, inquit, „hoc mihi probes; faciam sciat Aelianus et me linguam habere, plura enim de eo loquar.“ (Dicta imp. Aug. 37 M) Nec quicquam ultra aut statim aut postea inquisiit. (3) Tiberio quoque de eadem re, sed violentius [Vc, sedulo lentius ω, sedulo violentius α2] apud se per epistulam conquerenti ita rescripsit:
Aetati tuae, mi Tiberi, noli in hac re indulgere et nimium indignari quemquam esse, qui de me male loquatur; satis est enim, si hoc habemus, ne quis nobis male facere possit.
(52) Templa quamvis sciret etiam proconsulibus decerni solere …
Aetati] ω, iaetati MAC, pietati ς17 et Bentley (cf. Kaster, Ed. Suet. 2016, xlvi adn. 72)
Üb.: In einer Gerichtsverhandlung, in der man Aemilius Aelianus aus Cordoba unter anderem besonders vorgeworfen hatte, dass er eine schlechte Meinung über den Kaiser habe, wandte er sich zum Ankläger um und sprach wie ein Aufgebrachter: „Ich wünsche, dass du mir das beweist; ich werde dafür sorgen, dass Aelianus merkt, dass ich auch eine Zunge habe; ich werde nämlich noch mehr über ihn reden.“ Danach hat er weder sofort noch später etwas (in dieser Angelegenheit) ermittelt. Auch dem Tiberius, der sich über dieselbe Sache, aber recht heftig, brieflich bei ihm beschwerte, schrieb er zurück: G i b d e i n e m A l t e r, l i e b e r T i b e r i u s , i n d i e s e r S a c h e n i c h t nach und ärger’ dich nicht, dass es jemanden gibt, der übel über mich redet; es genügt nämlich, wenn wir das haben: Dass uns niemand übel mitspielen kann. Obwohl er wusste, dass es üblich war, sogar für Prokonsuln Tempelbauten zu beschließen … Komm.: Das Zitat stammt aus der Rubrik zur clementia Augusti: Ein Beispiel dafür, auf das Sueton näher eingeht, ist der Fall des sonst unbekannten, aber offenkundig aus Cordoba stammenden Aemilius Aelianus (vgl. PIR2 A, Nr. 329; Wardle 2014, 370), dem neben anderen Anklagen vorgeworfen worden war, eine schlechte Meinung über den Kaiser zu haben (male opinari de Caesare). Augustus habe sich an den Ankläger gewandt und ihn aufgefordert, dies zu beweisen (velim, inquit, hoc mihi probes), sei der Sache sonst aber nicht weiter nachgegangen. Sueton zitiert dann aus einem Brief an Tiberius, der sich in einem Brief über dieselbe Angelegenheit recht heftig beschwert habe. Der Brief des Tiberius muss Sueton nicht zwangsläufig vorgelegen haben, er dürfte aus dem Brief des Augustus für ihn erschließbar gewesen sein.
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Auch wenn nicht auszuschließen ist, dass hier ein bis auf Präskript und Schlussformel vollständiger, wenn auch dann sehr kurzer Brief vorliegt (so kurze Briefe gibt es durchaus, man denke beispielsweise an Cic. fam. 6,15), erscheint dies doch unwahrscheinlich (s. u.). Die Herkunft des Aemilius Aelianus und – sofern aetati richtig überliefert ist – der Verweis auf das junge Alter des Tiberius sprechen dafür, dass sich der von Sueton beschriebene Verratsprozess während Augustus’ erstem Aufenthalt in Spanien 26–25 v. Chr. zugetragen hat und dass der Brief in diese Zeit zu datieren ist (vgl. Bardon 1968, 35). Aetati tuae … noli in hac re indulgere: Aetati ist der in beinahe allen Handschriften überlieferte Text, doch hat ein Codex recentior (ς17 = Paris, Bibl. nationale de France, Lat. 5804 [14. Jh.]) pietati, das hier auch von Bentley konjiziert wurde. Eine Stütze dafür lässt sich vielleicht in der Handschrift M finden, die ante correctionem die Lesart ietati bietet. Ich drucke hier dennoch mit Kaster aetati, weil sich für aetati indulgere im Gegensatz zu pietati indulgere zumindest eine gute Parallele bei Sueton findet (vgl. Suet. Claud. 16,1: aetatulae indulgeret). Aetas kann für jeden Lebensabschnitt stehen (vgl. Kempf, ThLL i, Art. aetas, 1127,23–1131,50), doch ist die mit violentia assoziierte aetas in der Regel die Jugend und das frühe Erwachsenenalter (vgl. z. B. Tac. Agr. 4,3). Der verneinte Imperativ mit noli und Infinitiv ist in den Briefen von und an Cicero häufig belegt (vor allem das beinahe stereotype noli putare; vgl. z. B. Att. 5,2,3; 6,1,3; 1,8; 6,6,1 u. ö.); bei Plinius d. J. begegnet er hingegen nur ein einziges Mal, und dort in einem Gedichtzitat (epist. 4,27,4); in den Fronto-Korrespondenzen fehlt er völlig. Häufiger ist die Konstruktion dann wieder bei späteren Briefschreibern (vgl. Ambr. epist. 36,1; 64,8 u. ö.; Aug. epist. 9,4; 36,32 u. ö.; bei Cyprian nur in Bibelzitaten, z. B. epist. 13,2,2). mi Tiberi: Die direkte Anrede scheint hier keinen Briefanfang, sondern eher den Übergang zu einem neuen Sinnabschnitt zu markieren, da mit in hac re auf etwas Vorangegangenes zurückverwiesen wird (ähnlich 23F,22: habes nostras, mea Livia, sententias …; 42F,4: Valebis, mea Agrippina … und sehr wahrscheinlich auch 28F,1: cenavi …, mi Tiberi, cum isdem). male loquatur … male facere possit: Beide Junkturen sollten getrennt geschrieben werden (vgl. dazu Ritschl 1850, 580–582), auch wenn male-facere in dem Thesaurus-Artikel male-facio an dieser Stelle als Kompositum aufgefasst zu werden scheint (vgl. Brink, ThLL viii, Art. malefacio, 173,42 f.). Male loqui (bzw. male dicere) und male facere sind in der Komödie unzählige Male belegt, ähnlich scheint v. a. Plaut. Persa 210: Quid male facio aut quoi male dico? (vgl. dazu auch Cugusi 1972, 148 f.). Male loqui und male facere sind gedanklich parallelisiert; dies wird vielleicht auch dadurch verdeutlicht, dass beide Satzschlüsse identisch rhythmisiert sind (male loquatur und facere possit bilden jeweils eine trochäische Dipodie mit Auflösung der ersten Länge).
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satis est … si: Solche Konstruktionen mit unpersönlichen Verben sind meist nur mit einem Demonstrativpronomen oder unus, solus u. dgl. belegt (vgl. z. B. Catull. 68,147 f.: quare i l l u d satis est, si nobis is datur unis| quem lapide illa dies candidiore notat; [Verg.] catal. 4,11: quare i l l u d satis est, si te permittis amari; LSS Synt., § 366c), vereinzelt lassen sich aber auch Belege für die Konstruktion ohne Demonstrativum o. ä. finden (vgl. Afran. com. 276 CRF: tu senecionem hunc satis est si servas, anus; Hor. sat. 1,4,116–119: mi satis est, si traditum ab antiquis morem servare … possum; Ov. Pont. 1,5,56: hanc messem satis est si mea reddit humus; nachklassisch häufiger). si hoc habemus, ne …: Es handelt sich bei hoc um einen proleptischen Akkusativ, zu dem der ne-Satz als notwendige Ergänzung hinzutritt; die Konstruktion ist vor allem im Altlatein häufig anzutreffen, in den Briefen Ciceros jedoch nur selten (Belege in LU, § 105). Habere mit ut oder ne ist sonst fast nur von unbelebten oder abstrakten Subjekten belegt (vgl. z. B. Pacuv. trag. 179 f. TRF: habet hoc s e n e c t u s in sese [sese Ribbeck, se codd.], ipsa cum pigrast,| spisse ut videantur omnia ei confieri; Cic. Cluent. 82: haec autem r e s habet hoc certe ut nihil possit neque additum neque detractum de re familiari latere; für weitere Belege vgl. Bulhart, ThLL vi, Art. habeo, 2419,13–20), vergleichbar mit dieser Stelle ist allenfalls Cic. leg. 3,16: nam illud quidem ipsum quod in iure positum est h a b e t c o n s u l , ut ei reliqui magistratus omnes pareant, excepto tribuno, aber auch dort ist mit consul wohl eher das Amt als solches und weniger eine konkrete, lebende Person gemeint. 28–29F 6 f. M = ELM ii, (151) 83 f. Suet. Aug. 71: (1) Aleae rumorem nullo modo expavit lusitque simpliciter et palam oblectamenti causa etiam senex ac praeterquam Decembri mense aliis quoque festis et profestis diebus. (2) Nec id dubium est. Autographa quadam epistula, 28F: c e n a v i , ait, m i T i b e r i , c u m i s d e m . A c c e s s e r u n t c o n v i v a e V i n i -
c i u s e t S i l i u s p a t e r. et hodie; talis enim miserat, in singulos rebat, quos tollebat
5 (3) Et rursus aliis litteris:
5
Inter cenam lusimus γεροντικῶς et heri iactatis, ut quisque canem aut senionem talos singulos denarios in medium confeu n i v e r s o s , q u i Ve n e r e m i e c e r a t .
29F: N o s , m i T i b e r i , Q u i n q u a t r u s s a t i s i u c u n d e e g i m u s : l u s i m u s enim per omnis dies forumque aleatorum calfecimus. Frater tuus magnis clamoribus rem gessit; ad summam tamen perdidit non multum, sed ex magnis detrimentis praeter spem paulatim †retractum† est. Ego perdidi viginti milia nummum meo nomine, sed cum effuse in lusu liberalis fuissem, ut soleo plerumque. Nam si quas manus remisi cuique exegissem aut
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retinuissem, quod cuique donavi, vicissem vel quinquaginta milia. Sed hoc malo: benignitas enim mea me ad caelestem gloriam efferet.
10 (4) Scribit ad filiam: … (37F)
28F: 2 γεροντικῶς] lectio vulgata, geronticos ω ⸺ 29F: 5 retractum] (retractatum M), retractus α2
Üb.: Vor dem Ruf, er sei ein Spieler, hatte er keine Angst und auch als alter Mann spielte er noch offen und unverholen um des Vergügens willen und außer im Monat Dezember auch an anderen Feier- und Werktagen. Daran besteht kein Zweifel. In einem von eigener Hand geschriebenen Brief sagt er: Ich habe, mein Tiberius, mit denselben Leuten zu Abend gegessen. Als Tischgäste kamen Vinicius und der ältere Silius h i n z u . Wä h r e n d d e s E s s e n s s p i e l t e n w i r n a c h G r e i s e n a r t gestern und heute; die Würfel wurden nämlich so geworfen, dass wer einen ‚Hund‘ oder einen ‚Sechser‘ warf, für jeden einzelnen Würfel einzelne Denare in die Mitte legte, die alle d e r j e n i g e a u f n a h m , d e r e i n e ‚Ve n u s ‘ g e w o r f e n h a t t e . Und nochmals in einem anderen Brief: W i r h a b e n , m e i n T i b e r i u s , die Quinquatren recht schön zugebracht: Wir haben nämlich die ganzen Tage hindurch gespielt und das Würfelbrett zum Glühen gebracht. Dein Bruder hat die Sache mit großem Geschrei betrieben; schließlich verlor er dennoch nicht viel, s o n d e r n ( m a n / e s / e r ? ) w u r d e a u s g r o ß e n Ve r l u s t e n u n e r w a r t e t wieder zurückgeholt. Ich habe 20.000 Sesterzen in meinem Namen verloren, aber (nur) deswegen, weil ich im Spiel überm ä ß i g f r e i g i e b i g w a r, w i e i c h e s i m m e r h a l t e . D e n n , w e n n i c h die Würfe, auf die ich verzichtet habe, eingefordert hätte oder einbehalten hätte, was ich Einzelnen geschenkt habe, hätte ich wahrscheinlich fünfzigtausend Sesterzen gewonnen. Aber so ist es mir lieber: Denn meine Großzügigkeit wird mich zu himmlischem Ruhm führen. Er schrieb seiner Tochter: … Komm.: Die beiden Briefzitate stammen aus einem Abschnitt der Augustusvita Suetons, in dem es um Augustus’ Verhältnis zum Würfelspiel um Geldeinsätze geht (alea ist in der Regel das Spiel um Geld; vgl. Ihm, ThLL i, Art. alea, 1521,24–1522,2). Dem Biographen geht es primär um zweierlei: Augustus habe oblectamenti causa, d. h. zum Zeitvertreib und nicht primär des möglichen Geldgewinns wegen gespielt, und zwar nicht nur im Dezember (d. h. nicht nur an den Saturnalien, wo dies erlaubt
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war), sondern auch anlässlich anderer Festtage, also unter Missachtung römischer Gesetze, die das Glücksspiel, zumindest um höhere Geldsummen, außerhalb der Saturnalien, untersagten (Belege für solche leges aleariae finden sich bei Plaut. Miles 164 f.; Cic. Phil. 2,56; Hor. carm. 3,24,58; Ps.-Ascon. div. in Caec. [24] p. 194,11–13 St; vgl. auch Kuryłowicz 1985, 193–200). Ersteres wird mit dem ersten (28F), letzteres mit dem zweiten Briefzitat belegt (29F). Bei dem Zitat aus einem Brief an die Tochter Iulia (37F), das auch in diesen Zusammenhang gehört, ist nicht klar, welche Funktion es für Suetons Argumentation erfüllt – vielleicht geht es wieder um ludere oblectamenti causa (vgl. dazu Komm. zu 37F). Hinsichtlich des ersten Briefzitats (28F) hebt Sueton hervor, er zitiere einen originalen, handschriftlich verfassten Brief (autographa quadam epistula, doch vgl. dazu Kap. ii.2.2, S. 39–43). Es ist gut möglich, dass die ganze Rubrik eine Zweitverwertung von Material ist, das Sueton bereits in einem nicht überlieferten Werk über das Würfelspiel verwendet hat – jedenfalls war er an dem Thema auch unabhängig von den Kaiserviten interessiert (infrage kommen die bei Gell. 9,7,3 bezeugte Historia ludicra, die bei Serv. Aen. 5,602 bezeugte Schrift De puerorum lusibus oder das in der Suda [Τράγκυλλος, iv, p. 581,19 A] bezeugte Werk Περὶ τῶν παρ’ Ἕλλησι παιδιῶν βιβλίον α’; vgl. dazu Sallmann/P. L. Schmidt, HLL, § 404 [21 f. u. 40 f.], zu den Beziehungen zwischen diesen Werken und ihrer möglichen Identität vgl. Wardle 1993, 92–96). 28F] Augustus berichtet von einem Abendessen, das am Vortag stattgefunden hat und bei dem er mit seinen Gästen Würfel gespielt habe; genannt werden ein gewisser Vinicius (sehr wahrscheinlich Marcus Vinicius, der Suffektkonsul des Jahres 19 v. Chr.; vgl. PIR2 V, Nr. 660 [346]) und ein gewisser Silius (vielleicht Publius Silius Nerva, Konsul des Jahres 20 v. Chr.; für diese Identifizierungen vgl. Nagl, RE iiia, Art. [21] P. Silius Nerva, 95; Bringmann/Wiegandt 2008, 39; Wardle 2014, 450). Vielleicht wäre daher eine Datierung in die Zeit der Saturnalien 20 v. Chr. zu erwägen, als diese beiden Männer – der eine noch amtierender Konsul, der andere für das nächste Jahr als Suffektkonsul wahrscheinlich schon designiert – auf dem Höhepunkt ihrer jeweiligen Ämterlaufbahn angekommen und somit hinsichtlich ihres sozialen Ranges passende Tischgäste für den princeps waren (vgl. Brandt 2021, 83). 1 Cenavi …, mi Tiberi, cum isdem: Also trotz der direkten Anrede des Adressaten kein Briefanfang; es dürfte ein Abschnitt vorangegangen sein, in dem die Personen genannt wurden, die bereits vor dem Abendessen da waren, doch beginnt hier ein neuer Unterabschnitt, in dem die Regeln eines Würfelspiels im Vordergrund stehen. 1 f. Accesserunt convivae Vinicius et Silius pater: Die beiden sind als weitere Gäste zum Abendessen dazugekommen, doch sind die offenbar vorher aufgezählten, nicht namentlich bekannten Gäste weiterhin anwesend und dürften ebenfalls
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an dem Würfelspiel teilgenommen haben. Silius pater offenbar zur Unterscheidung von dessen Söhnen, am ehesten Publius Silius (Suffektkonsul im Jahr 3 n. Chr.; vgl. dazu Nagl, RE iiia, Art. P. Silius [9], 72 f.), der in etwa in Tiberius’ Alter gewesen sein dürfte; dies macht Präzisierung aus Augustus’ Perspektive vielleicht nötig. 2 inter cenam: Inter ist hier temporal zu verstehen, aber nicht im Sinne von ,zwischen den Gängen‘ (falsch Bringmann/Wiegandt 2008, 38), sondern im Sinne von ,während‘ wie z. B. Cic. Q. fr. 3,1,19: hoc inter cenam Tironi dictavi, so auch 37F: inter cenam … ludere. 2 lusimus γεροντικῶς: Das Adverb ist griechisch flektiert und wird hier deswegen auch mit griechischen Buchstaben gedruckt (siehe dazu Kap. iii.3.2, S. 94 f.; vgl. auch Cic. Att. 12,1,2: sed quod scribis „igniculum matutinum “, γεροντικώτερον est memoriola vacillare); es scheint sich hier um den frühesten Beleg für das Adverb überhaupt zu handeln (in der griechischen Literatur erst Plu. Mor.46 639c [QConv. 2,5,1]). Griechische Adverbien begegnen in den Briefen Ciceros sehr häufig, zumeist mit metalinguistischer Funktion (z. B. Cic. Att. 5,11,7: valde scripta est συμπαθῶς; 6,1,8: ego ἀφελῶς scripsi; diese und viele weitere Beispiele bei Adams 2003a, 323–325; auch bei Augustus ist dieser Gebrauch nachweisbar; vgl. 24F; 65F,3). 2 f. et heri et hodie: Das Abendessen hat also tags zuvor stattgefunden, das Würfelspiel sich allerdings noch an dem Tag fortgesetzt, an dem der Brief geschrieben wurde. Quintilian bezeichnet die Form heri statt here mit Verweis auf die Komödie (wohl namentlich Ter. Phorm. 36: heri ad me venit) und handschriftliche Briefe des Augustus als altertümlich (vgl. Quint. inst. 1,7,22 = 52F: Here nunc e littera terminamus: at veterum comicorum adhuc libris invenio „heri ad me venit“, quod idem in epistulis Augusti, quas sua manu scripsit aut emendavit, deprenditur). Es ist nicht zu beweisen aber auch nicht auszuschließen, dass Quintilian sich dort auf eben diesen Brief bezieht, den auch Sueton aus einem Autograph zitiert haben will; im Übrigen ist heri in den erhaltenen Augustus-Briefen auch noch ein weiteres Mal belegt (42F,2) und mag auch sonst noch häufig vorgekommen sein. 3–5 talis enim iactatis, ut quisque canem aut senionem miserat, in singulos talos singulos denarios in medium conferebat, quos tollebat universos, qui Venerem iecerat …: Augustus erläutert die offenbar unüblichen Spielregeln und liefert somit (enim) auch die Begründung dafür, warum das Spiel γεροντικῶς ist. Bei den verwendeten Würfeln handelt es sich um vier tali (gr. ἀστράγαλοι). Ein talus ist ein vierseitiger Knöchel aus dem Sprunggelenk einer Ziege oder eines Schafes, wobei es bereits in der Antike künstliche Nachbildungen gegeben zu haben scheint; die vier Seiten haben im Würfelspiel die Zahlenwerte 1, 3, 4 und 6 (vgl. Lamer, RE xiii, Art. Lusoria tabula, 1933–1935). Anders als beim Spiel mit dem heute gebräuchlichen sechsseitigen Würfel zählt die Seite, auf welcher der Würfel zum
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Liegen kommt. Da der Knöchel zwei Schmal- und zwei Breitseiten hat, sind die Wahrscheinlichkeiten für die einzelnen Zahlenwerte ungleich: In ca. drei von vier Fällen fällt ein talus auf eine der Breitseiten (3 oder 4), nur in einem von vier auf eine der Schmalseiten (1 oder 6; vgl. dazu Schädler 1996, 63 f. mit Anm. 13). Der canis (‚Hund‘) ist der Wurf mit dem geringsten Spielwert, also 1–1–1–1 (vgl. Meister, ThLL iii, Art. canis, 258,67–72), der senio ist die Sechs auf einem einzelnen Würfel (vgl. OLD, Art. senio, 1912), die Venus ist der bestmögliche Wurf und besteht darin, dass die vier geworfenen Würfel alle vier unterschiedlichen Zahlwerte, also z. B. 1–3– 4–6, zeigen (vgl. OLD, Art. Venus, 2239 [2b]). Aus diesen Angaben und dem Wortlaut des Briefes lassen sich die Spielregeln gut rekonstruieren: Die Spieler werfen reihum vier Würfel. Wenn ein Spieler einen canis wirft, muss er vier Denare in die Mitte legen, sonst für jeden senio einen Denar (einzelne Einsen werden offenbar nicht ‚bestraft‘). Sobald ein Spieler eine Venus wirft, erhält er alle bis dahin in die Mitte gelegten Denare und das Spiel geht von vorne los. Bei einem solchen Spiel mit nicht-variablen Einsätzen und auf die Dauer annähernd gleichen Gewinnchancen für alle Beteiligten ist das Risiko eines großen Geldverlustes (bzw. die Möglichkeit eines hohen Gewinnes) bei längerer Spieldauer eher gering. Die Wahrscheinlichkeit eines oben beschriebenen Venus-Wurfs berechnet sich, angenommen, die Wahrscheinlichkeit für eine 1 oder 6 liegt wie von Schädler ermittelt jeweils näherungsweise bei 0,125 und die Wahrscheinlichkeit für eine 3 oder 4 jeweils bei 0,375, wie folgt: 0,125 × 0,125 × 0,375 × 0,375) x 24 ≈ 0,053. Eine Venus kommt statistisch also etwa alle achtzehn bis neunzehn Würfe vor. Die Anzahl der in die Mitte zu legenden Denare für den einzelnen Spieler zwischen zwei Venus-Würfen steigt also nicht allzu sehr an und die Gewinne und Verluste zwischen den Spielern sollten sich im Normalfall schnell ausgleichen. Hinzu kommt, dass der schlechteste Wurf, der canis (und der Wurf 6–6–6–6, der für das Spiel de facto dieselbe Konsequenz hat), sehr selten ist und stochastisch gesehen bei zehntausend Würfen nur zwei- bis dreimal zu erwarten ist (0,1254 ≈ 0,00024). Augustus spielt hier folglich mit seinen Gästen ein eher risikoarmes, eigentlich recht langweiliges Spiel. Die Regeln wurden vielleicht wirklich zu diesem Zweck spontan festgelegt (er muss sie Tiberius offenbar erklären), selbstredend ohne ausgefeilte stochastische Berechnungen wie oben durchzuführen, sondern mit der Intuition des geübten Würfelspielers. 3–5 iactatis … miserat … iecerat: Zu diesen drei Verben, die hier alle das Werfen von Würfeln bedeuten vgl. Adams 2016, 195 f. 29F] Der Terminus ante quem für die Datierung des Briefes ist das Jahr 9 v. Chr., in dem Drusus, der Bruder des Tiberius, gestorben ist (vgl. Malcovati 1977, 189 mit Anm. 11). Das Briefzitat weist eine ausgeprägte innere Geschlossenheit ohne den zitierten Text transzendierende Vor- und Rückverweise auf; der Anfang des Zitats kann ein Briefanfang sein (mi Tiberi), das Ende wirkt klauselhaft, sowohl inhaltlich
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als auch prosodisch. Insofern könnte hier ein vollständiger Brief ohne Präskript und gegebenenfalls ohne Schlussformel vorliegen. 1 Nos: Hier nicht als soziativer, sondern als eigentlicher Plural aufzufassen (vgl. Komm. zu 16F: Horatium nostrum …). Neben Augustus ist nur ein weiterer Teilnehmer an den Festivitäten identifizierbar, nämlich Tiberius’ jüngerer Bruder Drusus); s. u.; vgl. Kienast 1996, 68 f. 1 mi Tiberi: Zur Anrede vgl. Komm. zu 23F,1: mea Livia. 1 Quinquatrus: Die großen Quinquatrus, um die es sich hier handeln muss, da von mehreren Tagen die Rede ist, waren ein Fest zu Ehren der Minerva, das jährlich vom 19. bis zum 23. März stattfand (vgl. OLD, Art. quinquatrus, 1714 [a]; Wardle 2014, 451). Somit erbringt Sueton mit diesem Briefzitat den Nachweis für die Behauptung, dass Augustus tatsächlich nicht nur an den Saturnalien gespielt habe, was nach den zeitgenössischen Vorstellungen sowohl legal als auch ‚sozialadäquat‘ gewesen wäre, sondern auch anlässlich anderer Festtage. 1 satis iucunde: Satis ist hier zur elativen Steigerung von iucunde gebraucht (vgl. dazu Wölfflin 1879, 23; Löfstedt 1911, 73 f.). Dieser steigernde Gebrauch von Adverbien ist womöglich ein Zug der Umgangssprache (vgl. dazu LU, § 69). 2 forumque aleatorum calfecimus: Beim forum/forus aleatorum handelt es sich um ein Würfelbrett (vgl. Vollmer, ThLL vi, Art. forus, 1209,55–59: „instrumentum lusorium, de quo sane non constat an masc. an neutrius fuerit generis“). Augustus und seine Mitspieler haben so lange und heftig gespielt, dass das Würfelbrett sprichwörtlich ‚heiß‘ wurde – calefacere ist in dieser übertragenen Bedeutung häufig, vor allem im Brief (s. u.). Augustus verwendet hier die (umgangssprachliche) synkopierte Form – für solche Synkopen (jedenfalls im Brief) plädiert Augustus andernorts gegenüber seinem Enkel Gaius Caesar), dem er tadelnd caldus statt calidus empfiehlt (vgl. 40F; zur Schreibung von calefacere mit und ohne Synkope vgl. Gudeman, ThLL iii, Art. cal[e]facio, 145,3–23; zur Bedeutung und für entsprechende Belege ibid., 146,28–40; vgl. außerdem T.Vindol. iii, 645,ii,18; Ax 2011, 262). 2 f. Frater tuus magnis clamoribus rem gessit: Auch das Geschrei des Drusus deutet auf ein sehr risikoreiches und somit nervenaufreibendes Spiel hin. Wir wissen von dem Spiel nur, dass ein Spielbrett oder -tisch zum Einsatz gekommen ist; vielleicht hat es sich um ein Würfelspiel mit variablen Einsätzen gehandelt, sodass hohe Gewinne oder Verluste möglich waren (vgl. Schädler 1996, 69 f.).67
67 Die Darstellung von emotionalen, impulsiven, ja gewalttätigen Verhaltensweisen junger Leute beim Würfelspiel ist in der antiken Literatur ein Topos; man denke etwa an die Ermordung des Kleitonymos durch Patroklos beim Würfelspiel (Il. 23,85–89; Apollod. 3,176) oder Sokrates’ Erzählung vom jungen Alkibiades, der seine Mitspieler beim Würfeln lautstark des Betrugs bezichtigt habe; vgl. Pl. Alc.1 110b; dazu auch Schädler 1996, 70 mit Anm. 39.
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3 Rem gessit: Rem gerere begegnet auch in 33F, dort als Aufforderung an Tiberius (ähnlich vielleicht auch 3F [Paraphrase eines Briefes des Octavian an Cicero]): velle se r e m a g e r e per senatum). Die etwas stereotyp wirkende Junktur ist, wie Cugusi 1972, 134 zwar zu Recht bemerkt hat, inflationär häufig bei Livius, besonders in militärischen Kontexten (ebenso übrigens auch bei Caesar) und in den pseudocaesarianischen Schriften, allerdings (relativ zu der erhaltenen Textmenge) mindestens genauso häufig bei Plautus, wo ich 33 Belege gefunden habe. Die Junktur hat also eine gleichermaßen komische, vielleicht umgangssprachliche, aber auch eine militärsprachliche Färbung. 5 †retractum† est: Obwohl im Grunde recht klar ist, was gemeint ist, bereitet der überlieferte Text dennoch Schwierigkeiten. Retraho ist hier dem Anschein nach im Sinne von „restituere in statum priorem“ gebraucht (Wick, ThLL, Art. retraho68) und Augustus drückt damit aus, dass Drusus bzw. dessen Spielbörse sich nach großen zwischenzeitlichen Verlusten doch noch wider Erwarten (praeter spem) und Stück für Stück (paulatim) erholen konnte. Gleichwohl ist die syntaktische Realisierung des Gedankens nicht klar: Die in der großen Mehrzahl der Handschriften bezeugte Lesart retractum, die Ihm und Kaster in ihren Sueton-Ausgaben gedruckt haben (ebenso Malcovati, Ed. Imp. Aug. 1969; Cugusi, ELM ii), wird in der Regel als unpersönliches Passiv erklärt (vgl. Cugusi, ELM ii/2, 427; Giordano 2000, 42; Wardle 2014, 451; man hätte sich eine Besprechung der Stelle in Kaster 2016 sehr gewünscht); doch ist dies für retraho, ein transitives, mit dem Akkusativ konstruiertes Verb schwer zu rechtfertigen (vgl. zum unpersönlichen Passiv KSt, § 27,2; Pinkster 1992, 162–166; OLS, § 5,21). Eher wäre zu erwägen, ob multum hier durch ein mitzudenkendes id oder hoc wieder aufgegriffen wird (retraho dann in der Bedeutung zurückgewinnen, so verstanden in OLD, Art. retraho, 1812 [4] – dort jedoch mit nur einem weiteren Beleg: Papir. Dig. 50,8,11,2). Nur ist der Subjektwechsel dann recht hart und bringt das neue Problem mit sich, wie ex magnis detrimentis zu verstehen wäre; ein detrimentum bezieht sich eher auf die Person oder Sache, die eine Minderung oder einen Verlust erleidet und weniger auf die verlorene Sache selbst. Entsprechend übersetzt Rolfe 1913–1914 i, 234 f., der retractum gedruckt und diesem Sinne verstanden zu haben scheint, dann auch sehr frei: „for after losing heavily, he unexpectedly and little by little got back a good deal“). Die mit retractum verbundenen Probleme scheinen den Kopisten von α2 zu einer Emendation veranlasst zu haben: Die Handschriften, die auf diesen Hyparchetyp zurückgehen bieten retractus. Im Nominativ lässt sich das Partizip gut auf Drusus beziehen (retraho hieße dann etwa retten, so auch Nep. Epam. 8,3 f.: Epaminondas … morte 68 Ich bedanke mich hiermit ganz herzlich bei Frau Dr. Claudia Wick für zahlreiche Gespräche und Korrespondenz zu diesem Problem sowie die Zusendung einer Vorab-Fassung ihres noch nicht publizierten Thesaurus-Artikels.
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multatus est, quod … quodque uno proelio … Thebas ab interitu r e t r a x i t . Vielleicht Hor. ars 468 f.: nec semel hoc fecit nec, si r e t r a c t u s e r i t , iam| fiet homo et ponet famosae mortis amorem; vgl. OLD, Art. retraho, 1811 f. [1 u. 2]; dieser Möglichkeit geben den Vorzug die Sueton-Ausgaben von Roth und Preud’Homme; L. Möller 2014, 114 übersetzt in diesem Sinne: „wurde … wieder befreit“), doch ist es für ein persönliches Passiv etwas irritierend, dass das Agens der Verbalhandlung nicht ausgedrückt wird. Am besten ließe sich dies vielleicht damit erklären, dass das Passiv hier autokausativ bzw. medial ist, Drusus also gleichzeitig agens und patiens ist; so übersetzt Schmitz (2010, 115: „sondern hat sich von den großen Verlusten … erholt“), der jedoch retractum druckt (etwa so auch Wittstock 1993, 153; De Biasi/Ferrero 2003, 266; Bringmann/Wiegandt 2008, 39. Zu den verschiedenen Funktionen des Passiv vgl. OLS, § 5,2). Non liquet. 5–7 Ego perdidi viginti milia nummum meo nomine, sed cum effuse in lusu liberalis fuissem, ut soleo plerumque: Augustus selbst hat weniger Glück und verliert 20000 nummi, d. h. Sesterze. Der müßige Versuch einer Umrechnung in einen heutigen Geldwert soll hier unterbleiben, doch legen zeitgenössische Äußerungen nahe, dass es sich um eine erhebliche Summe gehandelt hat.69 Den Grund für diesen hohen Verlust sieht er in seiner Freigiebigkeit, die ihm Gewohnheit sei. 6 effuse … liberalis: Das Adverb qualifiziert hier (vielleicht etwas pleonastisch) das Adjektiv, hat also wahrscheinlich eine elativ-steigernde Funktion und dürfte etwa gleichbedeutend mit dem ähnlich gebrauchten Adverbien copiose, large oder auch abunde sein, d. h. etwa ‚reichlich‘ (wie Sall. Iug. 1,3: abunde pollens potensque; 14,18: abunde magna praesidia) oder sogar ‚übermäßig freigiebig‘ bedeuten (vgl. LSS Synt., § 101b; Leumann, ThLL v/2, Art. effuse, 227,27–33). Siehe auch Komm. zu satis iucunde. 7–9 Nam si quas manus remisi cuique exegissem aut retinuissem, quod cuique donavi, vicissem vel quinquaginta milia: Denn, wenn er die Verluste, die er seinen Mitspielern erlassen habe (manus remittere heißt hier wohl etwas wie ‚Würfe ignorieren‘ in dem Sinne, dass auf den Gewinn verzichtet wird), eingefordert oder das Geld, das er seinen Mitspielern zum Spielen geschenkt habe, behalten hätte, hätte er sogar 50000 Sesterzen gewonnen.
69 So berichtet Tacitus (ann. 1,17,4 f.) von einer Meuterei der einfachen Legionäre in Pannonien im Jahr 14 n. Chr.: Die Soldaten hätten lediglich einen Tagessold von 10 asses (d. h. 2 ½ Sesterzen) erhalten, von dem sie auch noch ihre eigene Ausrüstung zu bezahlen gehabt hätten, und daher eine Erhöhung auf einen Denar (d. h. 4 Sesterzen oder 16 asses) verlangt, die sie dann auch erhalten hätten. Mögliche Inflationseffekte und Unterschiede zwischen der Besoldung der Legionäre in unterschiedlichen Teilen des Reiches einmal außer Acht gelassen, hätte Augustus hier in etwa das Fünftausendfache des (erhöhten) Tagessoldes eines einfachen Legionärs verjubelt – also zehn bis fünfzehn Jahresgehälter.
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9 f. Sed hoc malo: benignitas enim mea me ad caelestem gloriam efferet: Hier offenbart sich das eigentliche Motiv für den Bericht: Es geht Augustus darum, ein Exemplum für die ‚richtige‘ Art des Würfelspielens zu bieten: Was er 28F γεροντικῶς ludere genannt hat, ist auch hier das Leitbild, wenngleich mit anderer Schwerpunktsetzung: Beim Spiel geht es um Geselligkeit, nicht um Gewinn; dem können ‚harmlose‘ Spielregeln dienen (etwa die in 28F beschriebenen) oder wie hier das Verhalten des Spielers, wobei die eigene benignitas der Sache zuträglicher ist als der clamor des Drusus, der nur ein Ausdruck von Gewinnstreben ist. Der Schlusssatz hat Klauselcharakter: Nicht nur bringt er das Gesagte auf den Punkt und ist durch den Chiasmus benignitas … mea me … efferet entsprechend stark betont, sondern der Satzschluss glori(am) efferet bildet als Hypodochmius (‒ ⏑ ‒ ⏑ ×) auch eine Klausel in prosodischem Sinne – in dem sonst kaum rhythmisierten Briefzitat immerhin eine Auffälligkeit. Insofern kann hier bereits der Briefschluss vorliegen oder zumindest vorbereitet werden (vgl. Cugusi 1972, 135). Die gloria caelestis ist im Lichte dessen vor allem textimmanent als das Resultat des eigenen modus ludendi zu verstehen, wenn auch vielleicht mit einem augenzwinkernd-selbstironischen Seitenblick auf die Verehrung als Gott, die Augustus schon zu Lebzeiten zuteil geworden ist (vgl. dazu Clauss 1996; Kienast 2014, 244–260)70; in erster Linie ist ad caelestem gloriam effere ein positives Gegenbild zu dem ex magnis detremtis retrahi, das Drusus zuteil geworden ist. 30F 11 M = ELM ii, (151) 85 Suet. Aug. 76: (1) Cibi – nam ne haec quidem omiserim – minimi erat atque vulgaris fere. Secundarium panem et pisciculos minutos et caseum bibulum manu pressum et ficos virides biferas maxime appetebat; vescebaturque et ante cenam quocumque tempore et loco stomachus desiderasset. Verba ipsius ex epistulis sunt: Nos in essedo panem et palmulas gustavimus(53F). (2) Et iterum: Dum lectica ex regia domum redeo, panis unciam cum paucis acinis uvae duracinae comedi(54F). Et rursus:
Ne Iudaeus quidem, mi Tiberi, tam diligenter sabbatis ieiunium servat quam ego hodie servavi, qui in balneo demum post horam primam noctis duas buccas manducavi, prius quam ungui inciperem.
Ex hac inobservantia nonnumquam vel ante initum vel post dimissum convivium solus cenitabat, cum pleno convivio nihil tangeret. 2 balneo] MPCGα2D, balineo MACVRη
70 Dass Augustus in diesem gänzlich profanen Kontext jedoch ernsthaft die eigene Divinisierung im Blick gehabt haben sollte (so dachte offenbar Wilamowitz-Moellendorff 1907, 1106) erscheint unglaubhaft (richtig Latte 1960, § 106).
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Üb.: Er aß – damit ich auch das nicht auslasse – sehr wenig und gewöhnlich. Zweitklassiges Brot, kleine Fische, handgepressten Käse mit Löchern und grüne Feigen, die zweimal im Jahr geerntet werden, mochte er am liebsten. Er aß auch vor der Abendessenszeit, wann und wo der Magen es verlangte. Worte aus seinen eigenen Briefen lauten: … (siehe Üb. zu 53F f.) … und in einem weiteren Brief: N i c h t e i n m a l e i n J u d e , l i e b e r T i b e r i u s , h ä l t d a s Fa s t e n a m Sabbat so genau wie ich es heute gehalten habe, der ich erst im Bad nach der ersten Nachtstunde zwei Bissen gekaut habe, bevor ich begann, mich salben zu lassen. Aufgrund dieser Nachlässigkeit speiste er oft vor der Essenszeit oder, nachdem die Tafel aufgehoben worden war, allein, während er am vollbesetzten Tisch nichts anrührte. Komm.: Sueton beschreibt in diesem Kapitel die Essgewohnheiten des Augustus. Dieser habe lediglich einfache Kost in geringen Mengen zu sich genommen und dies nicht zu den üblichen Mahlzeiten, sondern wann immer er gerade Hunger gehabt habe. Dies belegt Sueton mit drei Zitaten aus Briefen des Augustus. Das letzte Zitat stammt eindeutig aus einem Brief an Tiberius, weil er dort wird Namen angeredet wird, doch ordnen Rutgers, Weichert und Malcovati gleich alle drei Fragmente den Briefen an Tiberius zu; dies wäre eigentlich nur dann statthaft, wenn es wenigstens Indizien dafür gäbe, dass alle drei Zitate aus ein und demselben Brief stammen, doch ist dies nicht der Fall (richtig Lana 1975, 451). Malcovatis nicht näher begründeter Verweis auf den angeblich ähnlichen Ton der Zitate und die Art und Weise, wie Sueton sie präsentiere (Malcovati 1977, 188 f. gegen Lana), vermag kaum zu überzeugen. Auch Cugusi, der sie mit Recht der Rubrik Ad incertos zugeordnet hat, unterlässt es im Kommentar nicht, die in den Vorgängerausgaben angenommene Adressierung der Briefe an Tiberius als „verisimile“ zu bezeichnen (vgl. Cugusi, ELM ii/2, 441). Die Ausgaben von De Biasi/Ferrero und Bringmann/Wiegandt folgen hier wie sonst auch Malcovati; erstere immerhin mit einer letztlich aporetischen Diskussion der Frage im Kommentar (vgl. De Biasi/Ferrero 2003, 294), letztere ohne von dem Problem an sich überhaupt Notiz zu nehmen. Sicherlich ist Tiberius für die zwei ersten Fragmente ein möglicher Adressat – es liegen jedoch keinerlei belastbare Indizien vor, die diese Zuordnung gegenüber anderen denkbaren Möglichkeiten besonders wahrscheinlich oder gar zwingend erscheinen ließen, wenn man von der ‚Nachbarschaft‘ zu einem Zitat aus einem eindeutig an Tiberius gerichteten Brief absieht (doch beweist dies nichts, da Sueton in größeren Zitatnestern durchaus auch Briefe an unterschiedliche Adressaten bieten kann; vgl. Suet. Aug. 71,2–4 [28F f. u. 37F]: zwei Briefe an Tiberius, einer an Iulia). Hier wird daher nur das dritte Fragment behandelt, die ersten beiden dort, wo ihr Platz ist: unter den fragmenta epistularum ad incertos (siehe Komm. zu 53F f.).
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Es liegt hier, wie im Folgenden ausgeführt wird, sehr wahrscheinlich der Anfang eines Briefes vor, in dem Augustus dem als Adressaten namentlich genannten Tiberius einen Bericht über den Ablauf des vergangenen Tages bietet (Anhaltspunkte für eine Datierung sind nicht ersichtlich). Ne Iudaeus quidem, mi Tiberi, tam diligenter sabbatis ieiunium servat quam ego hodie servavi, qui … Der Anfang des Brieffragments ähnelt stark den in der plautinischen Komödie häufig begegnenden komparativischen Gesprächsbzw. Monologeröffnungen wie z. B. Plaut. Stich. 274 f.: Mercurius, Iovis qui nuntius perhibetur, numquam aeque patri| suo nuntium lepidum attulit quam ego nunc meae erae nuntiabo (vgl. dazu – mit vielen weiteren Beispielen – Fraenkel 1922, 8–22). Dieser Umstand ist in dreierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum einen deutet er (neben der Anrede mi Tiberi; vgl. dazu Komm. zu 23F) darauf hin, dass es sich hier um einen Briefanfang handeln könnte. Zum anderen ist er ein gutes Beispiel dafür wie stark die Briefe des Augustus sich sprachlich mit der Komödie überschneiden, und zwar auch dort, wo diese nicht unbedingt Umgangssprache imitiert (die komparativischen Gesprächsanfänge werden zumeist in Langversen vorgetragen und diese weisen insgesamt eine weniger kolloquiale sprachliche Färbung auf als die Partien in iambischen Senaren; vgl. Happ 1967, 80–82). Umgangssprachlicher Einfluss scheint dagegen bei duas buccas manducavi vorzuliegen. Außerdem wird hier deutlich, dass es in dem Brief sehr wahrscheinlich nicht tatsächlich um die Beachtung einer religiösen Fastenvorschrift durch Augustus gegangen ist: Vielmehr dienen diese oft in die Welt der Mythologie verweisenden Vergleiche in der Komödie dazu, das Handeln des Sprechers komisch zu überhöhen und ihm einen skurrilen Zug zu verleihen, was hier möglicherweise ebenfalls intendiert ist: Die Briefe an Tiberius sind schließlich auch sonst nicht frei von gelegentlichen Zügen von Selbstironie (vgl. etwa Komm. zu 28F,2: inter cenam lusimus γεροντικῶς; 29F,9 f.: benignitas enim mea me ad caelestem gloriam efferet). sabbatis ieiunium servat … servavi: Augustus hält den jüdischen Sabbat für einen Fastentag, eine bei griechischen und römischen Autoren zwar verbreitete, jedoch irrtümliche Auffassung, die mit den für den Sabbat geltenden Mahlbräuchen und Fastenverboten geradezu im Widerspruch steht (vgl. Doering, RAC xxix, Art. Sabbat, 264 u. 272 f.).71 Der Begriff ieiunium drückt grundsätzlich genauso wie das griechische Substantiv νηστεία sowohl den Zustand des Hungrig- oder Nüchternseins, als auch die intentionale Enthaltsamkeit von Speise oder Trank aus kultischen, asketischen oder medizinischen Gründen aus. Die Junktur ieiunium servare (zum Simplex s. u.) bezeichnet allerdings eigentlich immer das Einhalten von kultischen 71 Der jüdische Kultus kennt seit der Zeit des babylonischen Exils freilich bestimmte Fastentage, vor allem den Versöhnungstag (Jom Kippur) und bestimmte dies nefasti; vgl. Arbesmann, RAC vii, Art. Fasttage, 502 f.
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Fastengeboten (vgl. Bulhart, ThLL vii/1, Art. ieiunium, 248,71–249,1; Arbesmann, RAC vii, Art. Fasten, 447–449). Ieiunium steht hier ἀπὸ κοινοῦ zu Iudaeus … servat und zu servavi; das heißt, dass man die Stelle so auffassen könnte, als würde Augustus hier seine Enthaltsamkeit mit dem für Juden angeblich am Sabbat üblichen Fasten vergleichen. Ieiunium … servavi ist hier aber nur metaphorisch gemeint: Augustus hat, ohne dass wir den Grund erfahren, den Tag über nichts gegessen und stilisiert diesen Umstand über den Vergleich mit dem am Sabbat angeblich fastenden Juden zur asketischen Leistung hoch. Servare kann hier als simplex pro composito aufgefasst werden, anders Varro ling. 6,14: Quinquatrus: hic dies unus ab nominis errore o b s e r v a t u r proinde ut sint quinque (weitere Belege für dies etc. observare bei Lumpe/Szantyr, ThLL ix/2, Art. observare, 211,24–47). Auch dies eher kein typisches Merkmal von Umgangssprache. balneo: Kaster bevorzugt die unter anderem in V überlieferte Form balineo, doch ist auch die synkopierte Form gut bezeugt, etwa in allen Handschriften, die auf den Hyparchetyp α2 zurückgehen (zur Verteilung der Formen im Allgemeinen vgl. Ihm, ThLL ii, Art. balneum, 1704,74–1705,21). Ich folge letzterer Lesart, da Augustus eine Vorliebe für solche synkopierten Formen zu haben scheint (vgl. 29F,2: calfecimus u. v. a. 40F: Sed Augustus quoque in epistulis ad C. Caesarem scriptis emendat, quod is calidum dicere quam caldum malit …). duas buccas manducavi: Bucca ist eigentlich die Wange, steht umgangssprachlich aber auch für den Mund und bedeutet in Bezug auf Nahrungsmittel etwa einen Mundvoll oder einen Bissen (vgl. Münscher, ThLL ii, Art. bucca, 2226,28–33; Adams 2016, 194). Auch manducare (eigtl. ,kauen‘) scheint in der Bedeutung ,essen‘ umgangssprachlich verwendet zu sein, wobei es sich hier um den frühesten Beleg für das Verb in dieser Bedeutung handelt (vgl. Cavallin, ThLL viii, Art. manduco, 273,5–15; Cugusi, ELM ii/2, 428 f.; Adams ibid.). 31F× ELM ii, (151) 124 Suet. Aug. 86,2: Sed nec Tiberio parcit ut (Bentley, et ω; cf. Kaster 2016, 121)
exoletas interdum et reconditas voces aucupanti.
M. quidem Antonium ut insanum increpat …
Üb.: Aber auch Tiberius schont er nicht als jemanden, der altertümliche und entlegene Begriffe verwendet. Marcus Antonius verhöhnt er als einen Verrückten … Komm.: Zum Kontext siehe Kap. iii.1, S. 79–82 u. Komm. zu 15F. Für die Brieflichkeit spricht neben der Nennung des Tiberius als Adressaten der Äußerung vor allem, dass sich das Beschriebene – dass Augustus Tiberius
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für seine Wortwahl tadelt – anderswo in einem sehr wahrscheinlich brieflichen Fragment belegt ist (25F: scribis enim perviam ἀντὶ τοῦ obiter). Dass Sueton sich hier auch auf denselben Brief bezieht, ist nicht zu beweisen (vgl. Komm. zu 25F), aber die Möglichkeit, dass Augustus dort mehrere Eigenheiten des tiberianischen Stils kritisch kommentiert haben könnte und der Briefinhalt hier sehr verknappt wiedergegeben wird, ist reizvoll. 32F 20 M = ELM ii, (151) 86 Suet. Aug.: (92,2) Observabat et dies quosdam, ne aut postridie nundinas quoquam proficisceretur aut Nonis quicquam rei seriae incoharet nihil in hoc quidem aliud devitans, ut ad Tiberium scribit, quam δυσφημίαν nominis. (93) Peregrinarum caerimoniarum sicut veteres ac praeceptas reverentissime coluit, ita ceteras contemptui habuit. δυσφημίαν] χ, ΔΥΣΦΕΛΛΙΑΝ ω
Üb.: Er beachtete auch bestimmte Tage, sodass er weder am Tag nach den Nundinen (Markttagen) irgendwohin aufbrach noch an den Nonen irgendeine wichtige Angelegenheit in Angriff nahm; dabei jedenfalls fürchtete er, wie er an Tiberius schreibt, nichts anderes als den unheilvollen Klang der Tagesbezeichnung. Von den fremden Feierlichkeiten beging er die alten und bewährten so ehrfürchtig, wie er die anderen geringschätzte. Komm.: Die Passage stammt aus Suetons Schilderung von Augustus’ Observanz von Omina, Auspizien und Vorzeichen. So habe er bestimmte Tage beachtet, indem er z. B. darauf geachtet habe, am Tag nach den Nundinen nicht zu reisen und an den Nonen mit keinen wichtigen Angelegenheiten zu beginnen. Letzteres (in hoc quidem bezeichnet das Näherliegende und ist insofern wohl auch nicht Teil der Paraphrase, sondern eine einschränkende Formulierung des Zitierenden) belegt Sueton mit einem Verweis auf eine briefliche Äußerung des Augustus gegenüber Tiberius: Er hüte sich dabei vor nichts Anderem als dem Übles verheißenden Klang des Namens. Während all die anderen von Sueton geschilderten Gewohnheiten des Augustus im Hinblick auf Omina u. ä. mit symbolisch aufgeladener, frommer Selbstinszenierung erklärt werden können, handelt es sich hier – jedenfalls laut Sueton – nur um eine mit dem Klang des Tagesnamens ‚Nonen‘ verbundene ‚Marotte‘. Die Korrespondenzsituation ist vielleicht so zu denken: Augustus antwortet auf einen Brief, in dem Tiberius ihn um etwas gebeten hat, das er offenbar an den Nonen hätte in Angriff nehmen müssen. Augustus lehnt diese Bitte nun mit Verweis auf die δυσφημία nominis ab.
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IV Edition, Übersetzung und Kommentar
Nihil … aliud devitans … quam δυσφημίαν nominis: Malcovati fasst dies als Paraphrase auf, Cugusi (ELM) wertet zumindest δυσφημίαν als wörtliches Zitat. Streng genommen ist Malcovati hier zuzustimmen, da die gesamte Äußerung syntaktisch als Participium coniunctum in die Aussage der Erzählerpersona eingebettet ist. Cugusi hat jedoch dahingehend recht, dass zumindest das griechische Substantiv sehr wahrscheinlich aus dem paraphrasierten Prätext stammt: Es gibt in Suetons Kaiserviten fast keine griechische Stelle, die nicht zumindest als indirektes Zitat erklärbar wäre; selbstständig scheint Sueton griechische Begriffe oder Wendungen zumindest in De vita Caesarum kaum zu verwenden (eine mögliche Ausnahme wäre lediglich Suet. Claud. 39,1, doch hier betont Sueton dies fast entschuldigend: et oblivionem et inconsiderantiam, vel u t G r a e c e d i c a m , μετεωρίαν et ἀβλεψίαν)72. Sueton verwendet zwar viele Gräzismen, was für einen Biographen oder Geschichtsschreiber schon untypisch genug ist, aber diese sind in der Formenbildung an das Lateinische angepasst wie z. B. das Substantiv citharoedus (der Kitharasänger) in Suet. Nero 20,1 u. 21,1, das im Übrigen so auch bei Cic. Mur. 29; de orat. 2,325 u. Tusc. 5,116 belegt ist (vgl. Townend 1960, 99; Wallace-Hadrill 1995, 20 mit Anm. 30). Unter den nicht oder nurmehr sekundärüberlieferten Werken Suetons gibt es zwei Schriften, die möglicherweise auf Griechisch verfasst wurden, aber auch das ist nicht sicher (vgl. Wardle 1993, bes. 91 u. 99). Es spricht einiges dafür, dass δυσφημία im Brief ebenfalls im Akkusativ gestanden hat, wo es entweder Objekt eines Verbs des Meidens, Scheuens oder sich Hütens gewesen ist ([de-] vitare, fugere, vereri und auch cavere stehen in den genannten Bedeutungen stets oder fast immer mit einem Akkusativobjekt; vgl. Bögel, ThLL v/1, Art. devito, 865,74– 866,40; Rubenbauer, ThLL vi, Art. fugio, 1493,70–1494,8; OLD, Art. vereor, 2244 [2] [nachklassisch scheint hier aber auch der Genitiv möglich]; Poeschel, ThLL iii, Art. caveo, 631,39–633,9) oder von einer Präposition wie propter abhing (es wäre allerdings auch δυσφημίας causa/gratia bzw. ἕνεκα denkbar). δυσφημία bedeutet entweder allgemein ‚schlechtes Omen‘ (so das Adjektiv entweder im Sinne von ‚unheilvoll‘ oder als entsprechendes Epitheton bei Hes. Op. 735: ἀπὸ δυσφήμοιο τάφου; vgl. dazu Harder, LfgrE ii, Art. δύσφημος, 368,11–20) oder bezeichnet konkret einen unheilvollen Laut (so z. B. S. Ph. 9–11: … ἀλλ̉ ἀγρίαις| κατεῖχ̉ ἀεὶ πᾶν στρατόπεδον δ υ σ φ η μ ί α ι ς ,| βοῶν, ἰύζων …;73 DGE vi, Art. δυσφημία, 1210 [i.1]; Schein 2013, 119) bzw. ein Wort mit unheilvoller Bedeutung; eher im letzteren Sinne ist es hier zu verstehen (vgl. DGE ibid. [ii1]). Die δυσφημία
72 Hier könnte jedoch das ebenfalls in der Claudiusvita zitierte Augustusbrieffragment 65F (μετεώρως!) ‚nachwirken‘. 73 Üb.: „Ständig erfüllte er das ganze Lager mit wilden Äußerungen von schlechter Vorbedeutung, indem er schrie und heulte.“
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besteht darin, dass die nonae das Wort non (‚nicht‘, ‚nein‘) enthält, vielleicht auch wie non est oder non is klingt (vgl. Fabricius, Ed. Imp. Aug. 1727, 148 Anm. l; Rolfe 1913–1914 i, 262 Anm. b.; Latte 1960, § 106 Anm. 3; Wardle 2014, 506; Elder/ Mullen 2019, 26074; Rollo 2020, 138). Hier ist m. E. nicht unbedingt mitgegeben, dass Augustus wirklich an eine entsprechende Etymologie geglaubt hat – sonst spräche er wohl eher von significatio oder vis nominis. Es geht nur um den unheilvollen Klang. 33–36F 12–17 M = ELM ii, (151) 87–93 Suet. Tib.: (21,2) Scio vulgo persuasum quasi egresso post secretum sermonem Tiberio vox Augusti per cubicularios excepta sit: „miserum populum R., qui sub tam lentis maxillis erit!“ (Dicta imp. Aug. 45 M) Ne illud quidem ignoro aliquos tradidisse, Augustum palam nec dissimulanter morum eius diritatem adeo improbasse, ut nonnumquam remissiores hilariosque sermones superveniente eo abrumperet; sed expugnatum precibus uxoris adoptionem non abnuisse, vel etiam ambitione tractum, ut tali successore desiderabilior ipse quandoque fieret. (3) Adduci tamen nequeo quin existimem, circumspectissimum et prudentissimum principem in tanto praesertim negotio nihil temere fecisse; sed vitiis Tiberi virtutibusque perpensis potiores duxisse virtutes, praesertim cum et rei p. causa adoptare se eum pro contentione iuraverit et epistulis aliquot ut peritissimum rei militaris utque unicum p. R. praesidium prosequatur. Ex quibus in exemplum pauca hinc inde subieci: 33F: (4) Va l e , i u c u n d i s s i m e T i b e r i , e t f e l i c i t e r r e m g e r e , ἐ μ ο ὶ κ α ὶ
τ α ῖ ς Μ ο ύ σ α ι ς σ τ ρ α τ η γ ῶ ν. I u c u n d i s s i m e e t , i t a s i m f e l i x , v i r fortissime et dux νομιμώτατε, vale.
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34F: (5) O r d i n e m a e s t i v o r u m t u o r u m e g o v e r o < l a u d o > , m i T i b e r i , et inter tot rerum difficultates καὶ τοσαύτην ἀποθυμίαν τῶν στρατευομένων non potuisse quemquam prudentius gerere se quam tu gesseris existimo. Ii quoque, qui tecum fuerunt, omnes confitentur versum illum in te posse dici: u n u s h o m o n o b i s v i g i l a n d o r e s t i t u i t r e m . (≈ Enn. ann. 363 Sk) 35F: (6) S i v e q u i d i n c i d i t , d e q u o s i t c o g i t a n d u m d i l i g e n t i u s , s i v e q u i d s t o m a c h o r, v a l d e m e d i u s F i d i u s T i b e r i u m m e u m d e s i d e r o succurritque versus ille Homericus: τούτου γʼ ἑσπομένοιο καὶ ἐκ πυρὸς αἰθομένοιο ἄ μ φ ω ν ο σ τ ή σ α ι μ ε ν, ἐ π ε ὶ π ε ρ ί ο ι δ ε ν ο ῆ σ α ι .(Il. 10,246 f.)
74 Die Funktion des ‚code-switch‘ scheint mir mit ‚Wortspiel‘ (CSRL, ID 1038) jedoch nicht richtig beschrieben, passender erscheint mir die Kategorie ‚Evokation der griechischen Kultursphäre (Religion)‘.
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36F: (7) A t t e n u a t u m t e e s s e c o n t i n u a t i o n e l a b o r u m c u m a u d i o e t lego, di me perdant, nisi cohorrescit corpus meum; teque oro ut parcas tibi, ne si te languere audierimus, et ego et mater tua e x p i r e m u s e t s u m m a i m p e r i s u i p o p u l u s R . p e r i c l i t e t u r. N i h i l interest valeam ipse necne, si tu non valebis. Deos obsecro, ut t e n o b i s c o n s e r v e n t e t v a l e r e n u n c e t s e m p e r p a t i a n t u r, s i n o n p. R. perosi sunt.
(22) Excessum Augusti non prius palam fecit quam Agrippa iuvene interempto.
33F: 2 Μούσαις στρατηγῶν] χ, ΜΟΥΙΣΑΣΔIΣTΕΤΡΑΤΗΓΩΝ ω (cf. rollo 2018, 614), Μούσαις συστρατηγῶν Ihm dubitanter (Ed. Suet. 1907, 131 App.; probante Malcovati), ἐμοῖς ἀσίοις οἰωνοῖς στρατηῶν Shaw-Smith 1971, ἐμαῖς σαῖς τε στρατηγῶν Birch 1981, 157–159, Μούσαις ᾆδε στρατηγῶν Powell 1990 (probante Kaster), Μούσαις διστρατηγῶν aut δὶς στρατηγῶν Rollo 2018, 614, alii priores aliter –– 3 νομιμώτατε] Ed. Suet. Venedig 1480, unpag.; ΝΟΜΙΜΩΜΑΤΕ ω, γονιμώτατε aut μονιμώτατε Casaubon (Ed. Suet. 1595, Animadversiones 211 f.) –– 34F: 1 laudo] suppl. Birch 1981, 159 et Kaster (mi Tiberi, Ed. Suet. Paris 1543, non vidi) –– 2 ἀποθυμίαν] Lipsius (cf. P. Scriverium, Ed. Suet. 1596, 370), ΑΠΟΘΥMΕΙΑΝ ω, ῥαθυμίαν χ –– 35F: 4 f. versus Homerici habent aliquot errores in codd. perfacile corrigendos
Üb.: Ich weiß, dass man allgemein der Überzeugung ist, als sei, nachdem Tiberius das Zimmer nach der Unterredung verlassen hatte, von den Dienern folgende Bemerkung des Augustus vernommen worden: „Armes römisches Volk, das zwischen so schwache Kiefer geraten wird!“ Nicht einmal das übergehe ich, dass bestimmte Leute behaupten, Augustus habe dessen grauenvolle Sitten offen und unverhüllt so sehr missbilligt, dass er oft lockere und heitere Gespräche abbrach, sobald Tiberius dazu kam. Der Adoption habe er überwältigt von den Bitten seiner Frau zugestimmt oder auch vom Ehrgeiz geleitet, damit er selbst bei so einem Nachfoger eines Tages umso mehr vermisst werde. Ich kann mich nicht dazu bringen, zu glauben, dass dieser so umsichtige und weise Kaiser gerade in einer so großen Angelegenheit irgendetwas unbedacht getan haben soll, sondern vielmehr hat er, nachdem er die Fehler und Tugenden des Tiberius gegeneinander abgewogen hatte, die Tugenden für stäker gehalten, zumal er vor der Volksversammlung geschworen hat, er werde ihn zum Wohle des Staates adoptieren, und ihn in einigen Briefen als sehr fähig in militärischen Angelegenheiten und als den einzigen Schutz des römischen Volkes beschreibt. Zum Beweis habe ich einige davon von hier und dort hinzugesetzt: Leb wohl, mein liebster Tiberius, und führ die Angelegenh e i t g l ü c k l i c h , i n d e m d u e i n Fe l d h e r r b i s t f ü r m i c h u n d d i e Musen. Du liebster und, sowahr ich glücklich sein möge, standh a f t e s t e r M a n n u n d F e l d h e r r, w i e e r i m B u c h e s t e h t , l e b w o h l . Ich lobe den Zustand deines Sommerfeldzugs, lieber Tiberius, und meine, dass unter so schwierigen Umständen und
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einer derartigen Mutlosigkeit der Soldaten niemand sich hätte klüger verhalten können als du dich verhalten hast. Auch diejenigen, die bei dir waren, bekennen alle, dass man diesen Ve r s a u f d i c h a n w e n d e n k a n n : „ E i n M a n n a l l e i n h a t u n s d u r c h s e i n e Wa c h s a m k e i t d e n S t a a t g e r e t t e t . “ Sei es, dass etwas passiert, worüber man genauer nachdenken muss, sei es, dass ich mich ärgere; heftig, der treue Gott sei mein Zeuge, vermisse ich (dann) meinen Tiberius und m i r k o m m t d i e s e r h o m e r i s c h e Ve r s i n d e n S i n n : „We n n d e r m i r f o l g t , ko m m e n w i r b e i d e a u c h a u s l o d e r n d e m Fe u e r z u r ü c k , weil er so gut zu planen versteht.“ We n n i c h h ö r e u n d l e s e , d a s s d u g e s c h w ä c h t b i s t v o n d e r Fo r t d a u e r d e r M ü h e n , s o l l e n d i e G ö t t e r m i c h v e r d e r b e n , w e n n (dann) mein Körper nicht erschaudert. Und ich bitte dich, d a s s d u d i c h s c h o n s t , d a m i t w i r, i c h u n d d e i n e M u t t e r, w e n n wir hören, dass du schlaff bist, nicht sterben und das römis c h e Vo l k d e r S p i t z e s e i n e s R e i c h e s b e r a u b t w i r d . E s m a c h t keinen Unterschied, ob ich gesund bin oder nicht, wenn du n i c h t g e s u n d s e i n w i r s t . I c h b i t t e d i e G ö t t e r, d a s s s i e d i c h u n s erhalten und jetzt und immerdar gesund sein lassen, wenn sie d e m r ö m i s c h e n Vo l k g e g e n ü b e r n i c h t f e i n d s e l i g s i n d . Den Tod des Augustus gab er erst bekannt, nachdem der junge Agrippa beseitigt worden war. Komm.: Die vier Briefzitate stammen aus dem Abschnitt der Tiberiusvita, in dem sich Sueton mit den Umständen der Adoption des Tiberius durch Augustus beschäftigt. Tiberius habe eine Reise nach Illyrien abgebrochen, um sich zu dem im Sterben liegenden Augustus zu begeben und sich noch einmal mit ihm unter vier Augen zu besprechen. Sueton gibt danach einige für Tiberius ungünstige Gerüchte über das Verhältnis zwischen Augustus und Tiberius wieder, die er jedoch allesamt für unzutreffend hält: Augustus könne unmöglich etwas Bedeutendes wie die Adoption des Tiberius ohne Überlegung getan haben. Er habe Tiberius’ Vorzüge für größer gehalten als dessen Fehler und vor der Volksversammlung geschworen, er adoptiere Tiberius um des Staates willen. Außerdem habe er ihn in einigen Briefen als fähigen Militär und einzigen Schutz des römischen Volkes (peritissimus rei militaris … unicum p. R. praesidium) dargestellt. Aus diesen Briefen, die alle Tiberius zum Adressaten haben, zitiert er dann einige Stellen als Beispiele. Die an dieser Stelle überlieferten Brieffragmente werfen eine Vielzahl von Schwierigkeiten auf: Neben den zum Teil sehr schlecht überlieferten griechischen Passagen stellt sich auf der Makroebene vor allem das Problem, dass Sueton die
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einzelnen Zitate hier nicht wie sonst oft durch Formulierungen wie et rursus oder et iterum voneinander abgrenzt, sondern sie ohne ein Signal der Abgrenzung aneinanderreiht (vgl. Birch 1981, 156). Eine Herausforderung bei der Kommentierung dieser Stelle besteht also nicht zuletzt darin, herauszufinden, um wie viele Fragmente es sich hier überhaupt handelt. Bei einem Vergleich der Ausgaben Weicherts, Malcovatis und Cugusis (ELM) fällt auf, dass die drei Herausgeber den Zitatblock immer weiter in Einzelzitate aufgegliedert haben. Dies sei an dieser Stelle in Form einer Tabelle dargestellt: Weichert
Malcovati
ELM ii, (191)
10: Vale … vale. 11: Ordinem … rem. 12: Sive … νοῆσαι. 13: Attenuatum … sunt.
12: Vale … vale. 13: Ordinem … rem. 14: Sive … νοῆσαι. 15: Attenuatum … periclitetur. 16: Nihil … valebis. 17: Deos … sunt.
87: Vale … στρατηγῶν. 88: Iucundissime … vale. 89: Ordinem … rem. 90: Sive … νοῆσαι. 91: Attenuatum … periclitetur. 92: Nihil … valebis. 93: Deos … sunt.
Der methodisch sicherste Weg scheint mir zu sein, im Zweifel von unnötigen Zerteilungen des Zitatblocks abzusehen und Trennungen nur da vorzunehmen, wo klare inhaltliche Brüche oder formale Sachverhalte die Trennung unmissverständlich gebieten oder zumindest nahelegen. Hierbei ist stets zu bedenken, dass Sueton mit jedem der Zitate Tiberius entweder als peritissimus rei militaris oder als unicum p(opuli) R(omani) praesidium (oder beides) darstellen möchte und somit jedes Einzelzitat für sich dieser inhaltlichen Anforderung noch genügen muss. Im Ergebnis scheint mir gerade deswegen die in der Tabelle dargestellte Entwicklung in den bisherigen Ausgaben problematisch. Dies wird im Kommentar an den entsprechenden Stellen zu besprechen sein. Vorweggenommen sei bereits hier, dass ich im Ergebnis zu der Einteilung Weicherts zurückkehre. 33F] In jedem Fall handelt es sich bei beiden Sätzen um Bestandteile eines Briefschlusses). Das doppelte vale nimmt Cugusi offenbar zum Anlass, die Sätze als zwei getrennte Fragmente zu betrachten, explizit begründet wird diese Entscheidung durch ihn jedoch nicht (wenig überzeugend argumentieren in diese Richtung auch Giordano 1999, 235 f.; Blank-Sangmeister 2015a, Anm. 118). Eine Trennung ist m. E. nicht nur unnötig, sondern vielmehr regelrecht unplausibel: Zunächst einmal ist mehrfaches vale am Briefschluss recht üblich (vgl. z. B. Cic. fam. 16,4,4: Vale, mi Tiro, vale, vale et salve; Fronto p. 31,23 f. vdH: Vale, Caesar, decus patriae et Romani nominis. Vale, domine. Zu den lateinischen Briefschlussformeln im Allgemeinen vgl. Babl 1893, 26–36; zu Cicero Albrecht 2003, 62 f.). Zum anderen wäre der erste Satz, als einzelnes Zitat betrachtet, gar nicht geeignet, Tiberius im Sinne des Zitier-
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kontextes als peritissimus rei militaris oder unicum p(opuli) R(omani) praesidium darzustellen, was jedoch der Kontext fordert (s. o.). Es würde sich im Grunde nur um die Aufforderung an Tiberius handeln, einen erfolgreichen Feldzug zu führen, nicht unbedingt um ein Lob seiner Feldherrenfähigkeit; erst der zweite Satz, in dem Augustus Tiberius als vir iucundissimus und fortissmus und dux νομιμώτατος bezeichnet, bringt das Lob zum Ausdruck. Wenn die beiden Sätze zusammen einen Briefschluss bilden, folgt daraus, dass nach dem zweiten vale das erste Briefzitat endet. Bringmann/Wiegandt 2008, 41 datieren den Brief auf den Zeitraum des Pannonischen Aufstandes 6–9 n. Chr. oder den Nachgang der Schlacht im Teutoburger Wald im Jahr 9 n. Chr. Das doppelte vale vermittelt neben der Häufung von Superlativen im Vokativ (iucundissime … iucundissime … fortissime … νομιμώτατε) den Eindruck starker Emphase. Die Häufung von Superlativen ist im Brief das Mittel der Wahl, um den ‚abgegriffenen‘ Charakter des Superlativs in der Anrede zu kompensieren (vgl. dazu im Speziellen Dickey 2002, 130–147, bes. 139–141; zu dem Phänomen der Abschwächung ‚starker‘ Ausdrücke in der Umgangssprache vgl. Happ 1967, 76). Es dürfte sich daher um den Schluss eines außerordentlich wichtigen Briefes gehandelt haben. Vale, iucundissime Tiberi: Die Anrede mit dem Superlativ von iucundus und ohne mi(hi) ist hier erstmals in einem Brief belegt (zuvor lediglich Catull. 14,2: iocundissime Calve), im Corpus der Cicero-Briefe findet sich lediglich einmal mi iucundissime Cicero (Dolab. Cic. fam. 9,9,3). Ähnlich, aber doch nicht völlig gleich ist 39F,2: mi Gai, meus asellus iucundissimus; außerdem ist an die beiden für die Briefe an Horaz bezeugten Anreden purissimus penis und homuncio lepidissimus zu denken (vgl. 18F u. 19F). Im Brief taucht diese Anrede so sonst erst im Widmungsbrief der Naturalis historia des älteren Plinius an den Kaiser Vespasian auf, also eher in einem Sonderfall der Textgattung ‚Brief‘ (vgl. Plin. nat. praef. 1: iucundissime Imperator; Mart. 10,47,2.: iucundissime Martialis); T.Vindol. iii, 629,ii,2 ist iucundissme Adverb; erst in den Briefen des Marc Aurel an Fronto begegnet in der Schlussformel häufig das fast schon stereotype vale, mi iucundissime magister, ohne mi jedoch lediglich Aur. Fronto p. 27,21 f. vdH.: Igitur vale, decus eloquentiae Romanae … homo iucundissime …; p. 86,19 vdH.: iucundissime magister. Um ein Merkmal von Briefsprache handelt es sich bei der Anrede also nicht unbedingt, auch wenn das Adjektiv eher in informeller Sprache begegnet (vgl. Adams 2016, 258). rem gere: Siehe Komm. zu 29F,3: rem gessit. ταῖς Μούσαις στρατηγῶν: So die vermutlich auf Manuel Chrysoloras zurückgehende lectio vulgata, die so auch von Kaster mit Verweis auf die Interpretation Powells gedruckt wurde (vgl. Kaster, Ed. Suet. 2016, 163 App. [s. u.]; Rollo 2020, 146 f.); die Handschriften bieten lediglich im Großen und Ganzen ähnliche griechische Buchstabenfolgen (M und V und somit sehr wahrscheinlich der Archetyp ΜΟΥΙΣΑΣΔΙΣΤΕΤΡΑΤΗΓΩΝ; vgl. Rollo 2018, 614 f.), aus denen sich aber jeweils
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relativ gut die Wörter Μούσαις und στρατηγῶν rekonstruieren lassen. Ich lasse im Folgenden weitergehende, z. T. sogar Änderungen am vorangehenden und gut überlieferten ἐμοὶ καὶ ταῖς voraussetzende Konjekturen wie ἐμοῖς ἀσίοις οἰωνοῖς στρατηῶν (Shaw-Smith)75 oder (ἐμοὶ καὶ ταῖς) ἐμαῖς σαῖς τε στρατηγῶν (Birch) außer Acht. Alternativ zur lectio vulgata, die -ΑΣΔΙΣ- als Dittographie behandelt, wurden Vorschläge gemacht, die eine weitere Silbe zwischen Μούσαις und στρατηγῶν voraussetzen. Hier ist zunächst zu nennen Ihms Konjektur Μούσαις συστρατηγῶν. Ihm formuliert diesen Vorschlag lediglich im kritischen Apparat seiner editio maior (im Text setzt er eine crux), in der editio minor von 1908 taucht er bereits nicht mehr auf; Malcovati folgt diesem Vorschlag dann jedoch in ihrer Ausgabe der AugustusFragmente und begründet ihn andernorts ausführlicher (s. u.). Paläographisch ungemein reizvoll sind Rollos Konjekturen Μούσαις διστρατηγῶν (διστρατηγέω wäre jedoch ein ἅπαξ λεγόμενον!) oder vorsichtiger Μούσαις δὶς στρατηγῶν (vgl. Rollo 2018, 614), die jedoch dem Sinn nach nicht so recht zu überzeugen vermögen (s. u.). Die Schlüsselfrage lautet: Was bedeutet es, Feldherr für die Musen zu sein? Malcovati 1972, 387 f. nimmt an, dass Augustus hier auf Hor. carm. 4,14 Bezug genommen habe: In dieser Ode besingt das poetische Ich den Sieg der beiden Stiefsöhne des Prinzeps, Tiberius und Drusus, über die Räter und Vindeliker im Jahr 15 v. Chr. Das vierte Odenbuch des Horaz ist 13 v. Chr. erschienen, aber Malcovati geht davon aus, dass es schon vor der Publikation dem Kaiser vorgetragen wurde, sodass Augustus das Buch schon eher gekannt haben könne. Augustus schreibe dem noch immer in den Alpen weilenden Tiberius und fordere ihn auf, das Heer für ihn, d. h. unter seinen Auspizien, und mit der Gunst der Musen, die in der poetischen Würdigung seiner Erfolge durch Horaz zum Ausdruck gekommen sei, zu führen. Für das Kompositum συστρατηγῶν spricht, so Malcovati, dass es mit dem doppelten Dativus commodi einen besseren Sinn ergäbe als das Simplex. Eine ähnliche Interpretation, d. h. einer „double militancy“ (im militärischen und poetischen Bereich?), die nicht weiter präzisiert wird, scheint Rollos Konjekturen zugrunde zu liegen. Er führt als „parallel expression“ Plu. Phoc. 7,6 (Archil. IEG i, frg. 1): καὶ γὰρ τῶν ἀνδρῶν ἐκείνων ἕκαστος ἐφαίνετο κατὰ τὸν Ἀρχίλοχον ἀμφότερον, ‒ ⏑ ⏑ ‒ „θεράπων μὲν Ἐνυαλίοιο θεοῖο καὶ Μουσέων ἐρατᾶν δῶρον ἐπιστάμενος“76
75 Siehe dazu Powell 1990, 579 f. 76 Im ersten Vers ist hier dem Sinne nach εἶναι zu ergänzen – bei Ath. 627d, wo das Distichon vollständig zitiert ist, beginnt der Vers mit εἰμὶ δʼ ἐγὼ, was Plutarch so nicht mitzitieren kann; dass ἀμφότερον sich schön in den Hexameter fügt, ist, wenn beabsichtigt, eine elegante Lösung dieses
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an. Doch kann mit ἐμοὶ (sc. Augusto) καὶ ταῖς Μούσαις στρατηγεῖν hier wirklich dasselbe gemeint sein wie mit ἐπίστασθαι ἐρατᾶν δῶρον Ἐνυαλίοιο καὶ Μουσέων? Zum einen würde dies voraussetzen, dass Augustus sich hier selbst zur Personifizierung des Kriegs analog zur Personifizierung der Dichtkunst durch die Musen macht, was psychologisch doch sehr unwahrscheinlich erscheint (pax Augusta). Zum anderen geht es in dem Archilochos-Distichon um zwar im Lebensvollzug der genannten Personen vereinigte, aber dennoch voneinander geschiedene Fähigkeiten auf zwei Gebieten, während Augustus den Tiberius für genau eine Angelegenheit (rem) Glück wünscht, die gleichermaßen ihm selbst und den Musen zugutekommen soll. Die wohl in der Tat beste Erklärung liefert Powell 1990, 580, der annimmt, dass hinter der griechischen Sentenz eine Redewendung steht, die ähnlich auch in Cic. Brut. 187: Quare tibicen Antigenidas dixerit discipulo sane frigenti ad populum: „Mihi cane et Musis“ zu finden ist (Val. Max. 3,7 ext. 2 hängt möglicherweise von der Cicero-Stelle ab, könnte aber auch darauf hindeuten, dass die Anekdote bekannt war und das Antigenidas-Zitat Sprichwortcharakter gehabt haben mag; vgl. dazu Jahn/Kroll 1964, 128). Powell versteht den Ausspruch des Antigenidas so, dass dieser den Schüler auffordere, zum einen für ihn, den Lehrer, zu singen und zum anderen für die Musen, was so viel bedeute wie „for the satisfaction of doing the job properly“. Augustus verwende die Formulierung hier als eine Art Sprichwort in genau derselben Bedeutung und füge das Partizip στρατηγῶν an, um jeden direkten Zusammenhang mit Literatur und Musik auszuschließen. Kaster schließt sich Powells Interpretation der Stelle an, wobei er sicher zu Recht auf Powells ᾆδε verzichtet – ἀείδειν bzw. canere ist hier passend zum militärischen Kontext durch στρατηγεῖν substituiert – und ταῖς Μούσαις στρατηγῶν druckt. Zu überlegen ist bei dieser Interpretation nun noch, warum hier ins Griechische gewechselt wird: In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass Cicero das Antigenidas-Zitat in einem Dialog anbringt und Sprachwechsel nach den Gattungskonventionen des Dialogs im Sinne eines sermo purus streng reglementiert zu sein scheinen (Cicero verwendet das Griechische im Brutus nur dann, wenn er Fachbegriffe benutzt, die er wohl für unübersetzbar hält, und dann meist auch mit Zusätzen, die das Fremdwort als solches kennzeichnen; vgl. etwa Cic. Brut. 59: Πειθὼ quam vocant Graeci …; 141: σχήματα enim quae vocant Graeci; vgl. dazu jetzt auch Kurowsky/Wittig 2022, 51–54). Im Privatbrief zwischen Mitgliedern des
Problems durch Plutarch; den richtigen Archilochos-Text bietet aber mit Sicherheit Athenaios. Üb.: „Von diesen Männern (d. h. Perikles, Aristeides und Solon im Gegensatz zu anderen Männern, die nur auf einem Gebiet kompetent gewesen seien) schien ein jeder – gemäß dem Archilochos – sich auf beides ‚zu verstehen, ein Diener des Gottes Enyalios zu sein und das Geschenk der Musen zu lieben.‘“
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römischen Senatorenstandes stellt sich dieses Problem nicht und Augustus kann griechisch auf das sprichwörtliche Antigenidas-Zitat anspielen (vgl. Ohst 2017, 1044 f. mit Anm. 15–17).77 iucundissime et, ita sim felix, vir fortissime et dux νομιμώτατε, vale: Augustus nimmt die Anrede iucundissime wieder auf und baut sie zu einem Trikolon aus. Vir fortissime wird dabei gesteigert durch die Beteuerungsformel ita sim felix (nicht unähnlich T.Vindol. ii,291,ii,12–14.: vale soror anima mea ita valeam karissima et have). Auch dies spricht dagegen, hier mit Cugusi ein neues Zitat anzunehmen (s. o.). dux νομιμώτατε: Überliefert ist ΝΟΜΙΜΩΜΑΤΕ; die zumeist akzeptierte Verbesserung νομιμώτατε ist erstmals in einer venezianischen Inkunabel von 1480 nachweisbar; Casaubon schlägt hingegen Verbesserung zu μονιμώτατε vor, was als Bezeichnung eines dux naheliegend aber auch erheblich blasser wäre – immerhin suggeriert die Beteuerungsformel ita sim felix (s. o.) doch irgendeine Steigerung (μόνιμος bedeutet etwa ‚standhaft‘ oder ‚ausdauernd‘ und wäre etwa gleichbedeutend mit fortis; vgl. LSJ, Art. μόνιμος, 1143); νόμιμος bedeutet dagegen ‚gesetzmäßig‘ oder ‚gemäß den Gepflogenheiten‘ (vgl. LSJ, Art. νόμιμος, 1179) und hier vielleicht wie lat. legitimus im weiteren Sinne ‚vorbildlich‘ (Blank-Sangmeister 2015a, 41), ‚gut‘, ‚richtig‘ oder dergleichen (vgl. Hübner, ThLL vii/2, Art. legitimus, 1112,82– 1114,24) – in diesem Sinne bei Gal. Comp. Med. Loc. p. 577,6 K: ἰατροῦ νομίμου; Hipp. Art. p. 416,12 K: νομίμην ἐπίδεσιν.78 34F] Alle bisherigen Ausgaben behandeln die Passage zu Recht als ein zusammenhängendes Briefzitat. Dadurch, dass 34F unstreitig ein Briefschluss ist, muss mit ordinem ein neues Zitat beginnen. Da ich vermute, dass 35F ein Briefanfang ist, und zwischen 35F und 36F ein offenkundiger inhaltlicher Bruch besteht, muss das Zitat mit rem enden. Die Anrede mi Tiberi deutet auf einen Briefanfang oder zumindest den Beginn eines neuen Sinnabschnitts im Brief hin; vielleicht handelt es sich sogar um einen, bis auf die Datierung, Gruß- und Schlussformel, vollständigen Brief (s. u.). Bringmann/Wiegandt 2008, 42 datieren den Brief in das Jahr 9 n. Chr., in dem Tiberius den Pannonischen Aufstand beendete (vgl. auch Birch 1981, 160). 1 Ordinem aestivorum tuorum ego vero , mi Tiberi: Diejenigen Herausgeber, die den in den Handschriften überlieferten Text halten wollen, inter77 Für die Annahme, dass hier ein Literaturzitat vorliegt (so Elder/Mullen 2019, 256; CSRL, ID 1055), spricht hingegen nichts. 78 Die Annahme, dass hier indirekt auf das zwischenzeitliche Zerwürfnis zwischen Adressat und Absender angespielt wird, indem Augustus die Legitimität des Tiberius eigens betont (so Birch 1981, 158; zustimmend Elder/Mullen 2019, 264), erscheint im Lichte dessen als eine starke Überinterpretation.
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pretieren ordinem aestivorum tuorum als einen Akkusativ des Ausrufs und druckten hinter tuorum ein Ausrufezeichen (so in den Sueton-Ausgaben von Roth [1865] und Ihm [1907]; auch Malcovati, Ed. Imp. Aug. 1969; Cugusi, ELM ii/1, 360: „nulla lacuna: omnes [sc. emendationes] praeter necessitatem“). Dagegen spricht allerdings, dass solche Ausrufe in der Regel ein das Substantiv qualifizierendes Adjektiv zu verlangen scheinen (vgl. die Beispiele in LSS Synt., § 49bβ; Ausnahmen gelten allenfalls für Substantive, die eine klar positive oder negative Konnotation haben in Fällen wie Ter. Ad. 228: O scelera!; Phorm. 360: O audaciam!; Catull. 42,13: o lutum, lupanar). Die Gegenposition vertreten folglich Herausgeber, die ein ausgefallenes Verbum probandi bzw. admirandi annehmen, zu dem ordinem dann Objekt wäre. Schon in einer Pariser Sueton-Ausgabe von 1543 wird laudo nach Tiberi ergänzt, dem folgt Preud’homme (Ed. Suet. 1906). Kaster setzt laudo zwischen vero und mi Tiberi (vgl. dazu auch Kaster 2016, 136; zu der Position der möglichen Lücke außerdem Birch 1981, 159). Es wäre auch möglich, ego vero anzuzweifeln, das sonst zumeist am Satzanfang oder nach Sprecherwechsel, seltener nach leichter Interpunktion und fast nie so ‚freischwebend‘ im Satz steht wie hier steht79 und zu überlegen, ob ego vero eine Korruptel ist, hinter der sich eine Verbform wie gaudeo, miror oder veneror verbergen könnte. Doch auch gegen diesen Ansatz lässt sich ein gewichti79 ,Ich gebe die Werte an, die ich für einige Beispielautoren und -werke mithilfe der Datenbank LLT ermittelt habe (Suchansatz: Advanced Search; Author u. Title entsprechend; Suchbegriff: „ego vero“ [19. 12. 2022]). Autor
Nach schwerer Nach leichter Interpunktion Interpunktion
Sonstige Fälle | steht für einen Satzanfang oder Sprecherwechsel
Plaut. Ter.
6 7
0 1
Cic. Att. Cic. fam. Liv. Sen. epist.
21 8 3 11
7 4 0 0
Plin. epist.
5
0
1: |immo ego vero (Truc. 957) 2: |in loco ego vero (Heaut. 537), |quin ego vero (Heaut. 944) 0 0 0 1: |Commentarios, quos desideras, diligenter ordinatos et in angustum coactos ego vero conponam (39,1) 2: jeweils |quare ego vero (3,8,4; 4,17,11)
gesamt
61 (77,2 %)
12 (15,2 %)
6 (7,6 %)
In den wenigen Fällen, in denen ego vero nicht unmittelbar auf schwere Interpunktion/Sprecherwechsel oder leichte Interpunktion folgt, geht in der Regel lediglich eine Konjunktion oder Partikel voran. Lediglich die Seneca-Stelle (epist. 39,1) ist mit der hier in Rede stehenden Stelle insoweit vergleichbar, dass ein ganzes Satzglied vorangeht.
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IV Edition, Übersetzung und Kommentar
ger Einwand erheben: Einer der außerordentlich seltenen Fälle, in denen ego vero sich an ein vollwertiges Satzglied anschließt, findet sich just in den Fragmenten der Augustus-Briefe (65F,1 f.: Tiberium adulescentem ego vero … cotidie invitabo ad cenam), sodass es sich bei dieser Auffälligkeit auch um eine Eigenheit des AugustusBriefstils gehandelt haben könnte. Non liquet. 2–4 et inter tot rerum difficultates καὶ τοσαύτην ἀποθυμίαν τῶν στρατευομένων non potuisse quemquam prudentius gerere se quam tu gesseris, existimo: Augustus lobt Tiberius nicht einfach nur, sondern stellt dessen Leistung als herausragend dar: Niemand (man beachte die Litotes non quemquam, dazu LU, § 134), so meint er, hätte sich in Anbetracht so schwieriger Umstände und einer solchen Demoralisierung der Soldaten klüger verhalten können. Damit transzendiert er das bereits formulierte Lob: Tiberius verfügt nicht nur über umfassende, aber von einem Feldherrn im Prinzip zu erwartende taktisch-strategische Kompetenzen, sondern er besitzt auch Fähigkeiten, die ihn von (allen) anderen Feldherren unterscheiden. Er kann auch mit schwerwiegenden Widrigkeiten wie der Demoralisierung bzw. Angst der eigenen Truppen umgehen. Rerum difficultates anstatt res difficiles und ἀποθυμία τῶν στρατευομένων an Stelle von ἄ(πο)θυμοι στρατευόμενοι sind Beispiele für den Genitivus inversus. Bei dieser Sonderform der Periphrase wird ein Adjektiv durch ein abstraktes Substantiv ersetzt und ein Genitiv ersetzt das Bezugswort. Die Figur kann entweder stilistisch motiviert sein, um das Hinzutreten mehrerer syntaktisch gleichwertiger Attribute zu einem Substantiv zu vermeiden (z. B. Prop. 3,16,17: saeva canum rabies statt saevi canes rabidi), oder inhaltlich, um eine Nebenhandlung in den Vordergrund zu rücken: Dabei kann das abstrakte Substantiv einen quasi-kausalen oder quasi-konzessiven Nebensinn erhalten. So ist Cic. div. 2,148: superstitio … hominum imbecillitatem occupavit viel prägnanter als etwa superstitio homines imbecillos occupavit, denn die Schwäche ist ja als Ursache für den Aberglauben gedacht. In dieser Verwendung dient die Figur also der Aufwertung eines Attributs (vgl. dazu v. a. Riesenweber 2007, 77 f. [von dort die Beispiele]; außerdem Nägelsbach 1905, 303–305; LSS Synt., § 89 Zus. γ). So auch hier: Augustus rückt die difficultates und die ἀποθυμία, die Tiberius bewältigt habe, in den Vordergrund. Verstärkt wird dies zusätzlich durch die chiastische Wortstellung rerum difficultates καὶ τοσαύτην ἀποθυμίαν τῶν στρατευομένων, die die beiden Abstrakta ins Zentrum rückt. Der Genitivus inversus kommt in der lateinischen Briefsprache auch sonst gelegentlich vor; vgl. z. B. Cic. Att. 2,5,1: ab hac hominum satietate nostri; 8,12,5: tristitiam illorum temporum. Augustus scheint eine gewisse Vorliebe für dieses Stilmittel zu haben und verwendet es – gerne auch in griechischen Einsprengseln – an Stellen mit besonderer Emphase; vgl. neben der hier besprochenen Stelle 23F,8 f.: εἰς τὴν τοῦ σώματος καὶ εἰς τὴν τῆς ψυχῆς ἀρτιότητα; 36F,1: continuatione laborum; 65F,6: ἡ τῆς ψυχῆς αὐτοῦ εὐγένεια. Sehr häufig ist die Konstruktion dann später in den
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Briefen Cyprians; vgl. z. B. epist. 40,3: in consessus nostri honore; 74,9,2: vetustas erroris. Für weitere Beispiele vgl. Schrijnen/Mohrmann 1936–1937 i, 86 f.; Cugusi, ELM ii/2, 398 u. 430. Auch in der Dichtersprache nimmt die Häufigkeit in der Spätantike zu (vgl. Riesenweber ibid., 77 f.). 2 ἀποθυμίαν: In den Handschriften überliefert ist ΑΠΟΘΥΜΕΙΑΝ; ἀποθυμίαν ist eine von den Herausgebern gemeinhin akzeptierte, leichte Konjektur80 des Lipisius; in jedem Fall handelt es sich um ein ἅπαξ λεγόμενον (nicht zu verwechseln mit dem gut bezeugten Adjektiv ἀποθύμιος). Cugusi (ELM ii/2, 430) hält es für synonym mit ἀθυμία (‚Mutlosigkeit‘, ‚Verzagtheit‘, ‚Feigheit‘; vgl. DGE i2, Art. ἀθυμία, 90 f.), doch ist das Präfix ἀπο- in negierender Bedeutung streng logisch nicht privativ, sondern drückt vielmehr das Gegenteil des Simplex aus (vgl. GG i, 444 f.); zu verstehen wäre hier also nicht nur ‚Mutlosigkeit‘, sondern sogar ‚Angst‘. Eine Demoralisierung der von Tiberius befehligten Truppen ist für das Jahr 9 n. Chr. bei Cassius Dio belegt (vgl. D.C. 56,12,1 f.; H. Lindsay 1995, 104); darauf bezogen würde der Ausdruck gut passen. Chrysoloras’ paläographisch weniger plausible Rekonstruktion ῥᾳθυμίαν (‚Leichtfertigkeit‘; vgl. Rollo 2020, 148) würde geradezu auf das Gegenteil hinauslaufen. Der Wechsel ins Griechische an dieser Stelle scheint in dem Bedürfnis begründet zu liegen, die Äußerung über die Mutlosigkeit der Soldaten euphemistisch abzuschwächen (vgl. Adams 2003a, 330–335; Rollinger 2015, 141 f.). Hier ist eher nicht daran zu denken, dass Augustus befürchtet habe, der Briefinhalt könne anderen Offizieren im Heer des Tiberius hinterbracht werden; eine allzu harte Kritik an den Soldaten könnte vielmehr auch als Infragestellung der Führungsqualitäten des Tiberius verstanden werden und damit die lobende Absicht des Briefes durchkreuzen. 4–6 Ii quoque, qui tecum fuerunt, omnes confitentur, versum illum in te posse dici: unus homo nobis vigilando restituit rem: Bei dem Vers handelt es sich um den Ennius-Vers unus homo nobis cunctando restituit rem (Enn. ann. 363 Sk), wobei cunctando durch vigilando ersetzt wurde.81 Es handelt sich formal (nach den Kriterien Behrendts) um ein vollständiges, d. h. eine eigene Sinneinheit bildendes, semantisch modifiziertes Zitat, das Augustus zumindest teilweise Dritten (den
80 Das Schwanken zwischen -ΕΙ- und -Ι- ist für die Graeca in lateinischen Handschriften ganz gewöhnlich. Welche Schreibweise die ursprünglich authentische ist, ist schlechterdings nicht zu entscheiden; vgl. dazu KBl, § 26 (131 f.); Kaster, Ed. Macr. Sat. 2011, xxxv; Holford-Strevens, Ed. Gell. 2020, xli f. mit Anm. 74 u. Holford-Strevens 2020, 12. 81 Jüngere Studien zu Dichterzitaten im römischen Privatbrief, die die Bedeutung der Intertextualität für die Funktionen der Zitate betonen, sind zu Cicero Behrendt 2013, bes. 59–194 (dazu auch die Rezension Tischer 2014), zu Plinius d. J. Schwerdtner 2015 und zu Hieronymus Revellio 2022. Vgl. für Augustus auch das Homer-Zitat in 35F. Zu dem verwandten Phänomen der Einlage (eigener) metrischer Partien in Briefe im Sinne einer Gattungskreuzung vgl. Neger 2018b.
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ii, qui tecum fuerunt) in den Mund legt, bzw. dessen ‚Beglaubigung‘ durch diese Dritten er behauptet. Die semantische Modifizierung dürfte beabsichtigt sein: Bei Ennius bezieht sich der Vers auf den römischen Diktator Quintus Fabius Maximus Verrucosus Cunctator, der in der Zeit des Zweiten Punischen Krieges durch eine Verzögerungstaktik (cunctando) nach der Schlacht am Trasimenischen See 217 v. Chr. weitere militärische Katastrophen verhinderte (vgl. Münzer, RE vi, Art. Q. Fabius Maximus Verrucosus [116], 1819–1821). Im Brief hat der Vers die Funktion, die Leistung des Tiberius (wie die des Cunctators bei Ennius) als Einzelleistung (unus homo) hervorzuheben und sie zu qualifizieren (vigilando): Tiberius’ Wachsamkeit ist die dritte Qualität, die Augustus lobt, nachdem bereits dessen taktische Kenntnisse und seine Fähigkeit zur Überwindung der Demoralisierung unter den eigenen Truppen angesprochen wurden. Die ‚Beglaubigung‘ des Zitats durch weitere, nicht namentlich genannte Personen dient der Aufwertung des Lobs, gerade weil Augustus im Gegensatz zu jenen selbst ja gar nicht zugegen gewesen ist. Das Lob der Lageranordnung und der abgewandelte Ennius-Vers bilden einen schönen Rahmen um das von Augustus ausgedrückte Lob für die Leistung des Tiberius. Es ist immerhin möglich, dass es sich hier um ein Belobigungsschreiben handelt, von dem lediglich die Datierung, die Gruß- und die Schlussformel fehlt. 35F] In diesem Fragment drückt Augustus ein noch weiter ausgreifendes Lob des Tiberius aus, das sich nicht auf Militärisches beschränkt, es aber natürlich miteinschließt: Augustus hebt hier Tiberius’ Rolle als im Grunde unersetzbarer politischer Berater hervor, den er immer vermisst, wenn eine wichtige Entscheidung ansteht oder wenn er über etwas Unmut empfindet. Die Datierung des Briefes auf die letzten Regierungsjahre des Augustus, in denen Tiberius bereits maßgeblich an der Regierung des Reiches beteiligt war, ist sehr wahrscheinlich (vgl. Bringmann/ Wiegandt 2008, 43). Lana 1975, 451 bezweifelt für dieses Fragment die Adressierung an Tiberius, da dieser nicht direkt angesprochen, sondern nur im Akkusativ genannt werde (Tiberium meum desidero); aber die Anrede des Adressaten in der dritten Person ist in einem ähnlichen Kontext auch in einem anderen Fragment zweifelsfrei belegt (vgl. 39F,2–4: Ave, mi Gai … quem semper medius Fidius desidero … oculi mei requirunt m e u m G a i u m ), sodass ich hier den älteren Fragmentausgaben folge. 2 stomachor: Während das gr. Verb στομαχέω ausschließlich in der eigentlichen Bedeutung (‚Magenschmerzen haben‘) verwendet wird, ist lat. stomachari nur in der metonymischen Bedeutung ‚unmutig sein‘, ‚ärgerlich sein‘ oder ‚sich ärgern‘ belegt (seit Terenz) wie auch hier (vgl. OLD, Art. stomachor, 2012; Fedriani 2016, 132). Das Verb ist im Brief sehr häufig belegt (vgl. z. B. Cic. Att. 14,21,3; 16,16f,1[17]; fam. 10,26,1; 15,16,3; Hor. epist. 1,1,104; Sen. epist. 12,2; Hoffer 2007; Weilbach 2020, 210 f. mit Anm. 687).
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2 valde begegnet in klassischer Zeit vor allem in den Briefen Ciceros und seiner Korrespondenten und ist vielleicht umgangs-, jedenfalls briefsprachlich (vgl. dazu Abbot 1896, 462 f.; T.Vindol. iii, 648,i,3). 2 medius Fidius Tiberium meum desidero: Die Wendung medius Fidius ist eine verkürzte Beteuerungsformel (im Sinne von ita medius Fidius iuvet)82 etwa mit der Bedeutung ‚der treue Gott sei mein Zeuge‘; vgl. Klauser, RAC ii, Art. Beteuerungsformeln, 221. Dius Fidius ist eine Gottheit, vielleicht Iuppiter in seiner Funktion als der Gott der Eide; vgl. dazu Hickson 1993, 131. Die Formel begegnet auch in 39F,2 f.: Ave, mi Gai, meus asellus iucundissimus, quem semper m e d i u s F i d i u s desidero, cum a me abes und überhaupt oft im Brief; vielleicht ist sie beeinflusst durch die Umgangssprache (vgl. z. B. Cic. fam. 5,21,1: unum me dius fidius tecum diem libentius posuerim quam …; Plin. epist. 4,3,5: Non medius fidius ipsas Athenas tam Atticas dixerim; dazu Hickson ibid.; Coleman 2012, 231). Die Tatsache, dass diese Beteuerungsformel in F39 im gleichen Kontext, dem Ausdruck der Sehnsucht nach dem Adressaten, den Briefanfang bildet, könnte ein Hinweis darauf sein, dass es sich hier ebenfalls um einen Briefanfang handelt, von dem lediglich das Präskript fehlt. 3–5 succurritque versus ille Homericus: τούτου γʼ ἑσπομένοιο καὶ ἐκ πυρὸς αἰθομένοιο| ἄμφω νοστήσαιμεν, ἐπεὶ περίοιδε νοῆσαι: Wann immer Augustus den Tiberius vermisst, kommen ihm die zwei zitierten Verse aus dem zehnten Buch der Ilias in den Sinn. Das Zitat ist (wenn man die kleineren, leicht zu verbessernden Fehler in der Sueton-Überlieferung außer Acht lässt) wortgetreu und ohne Auslassungen oder Modifizierungen. Es entfaltet seine ganze Tragweite erst, wenn man den Kontext, dessen Kenntnis Augustus bei Tiberius sicherlich voraussetzt, in die Interpretation miteinbezieht (vgl. auch Elder/Mullen 2019, 261 f.): Im zehnten Buch der Ilias beschließen die Achaier, nachdem sie zuvor schwere Rückschläge erlitten haben und am Rande der endgültigen Niederlage stehen, in einer Ratsversammlung, einen Späher ins Lager der Troianer zu schicken. Diomedes meldet sich freiwillig und schlägt vor, dass ihn noch jemand begleite. Nachdem viele Helden sich angeboten haben, fordert Agamemnon den Diomedes auf, sich einen Begleiter selbst zu wählen (vgl. Il. 10,194–239). Daraufhin erwählt Diomedes sich Odysseus als
82 Die Schreibweise dieser Beteuerungsformel schwankt in den Ausgaben stark (mediusfidius, medius fidius, me dius fidius [z. T. mit Großschreibungen]); auch der Thesaurus liefert an den zwei Stellen, wo auf den (nie realisierten) Artikel Fidius im Onomasticon vorverwiesen wird, – in den Bänden vi (Fraenkels Art. Fidius, 694,62: „me Dius Fidius“) und viii (Bulharts Art. medius Fidius, 581,71) – nur insofern eine klare ‚Vorgabe‘, dass für eine Trennung zwischen dius und Fidius sowie eine Großschreibung von letzterem plädiert wird. Ich folge in meiner Ausgabe der von Bulhart präferierten Schreibweise, d. h. Zusammenschreibung von medius analog zu Beteuerungen wie mecastor oder mehercule.
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Begleiter, was er ausführlich begründet; aus dieser Rede stammen die von Augustus zitierten Verse (ibid., 242–247): εἰ μὲν δὴ ἕταρόν γε κελεύετέ μ᾽ αὐτὸν ἑλέσθαι, πῶς ἂν ἔπειτ᾽ Ὀδυσῆος ἐγὼ θείοιο λαθοίμην, οὗ πέρι μὲν πρόφρων κραδίη καὶ θυμὸς ἀγήνωρ ἐν πάντεσσι πόνοισι, φιλεῖ δέ ἑ Παλλὰς Ἀθήνη. Τούτου γ᾽ ἑσπομένοιο καὶ ἐκ πυρὸς αἰθομένοιο ἄμφω νοστήσαιμεν, ἐπεὶ περίοιδε νοῆσαι.83
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Nicht nur wird Tiberius mit Odysseus verglichen, was an sich schon als ein Lob erster Klasse gelten kann, es geht noch weiter: Es gibt für Augustus, wenn denn Tiberius bei ihm ist, nichts mehr zu fürchten, nicht einmal militärische Katastrophen von dem Ausmaß der Niederlagen der Achaier im achten Buch der Ilias. Mit Tiberius werde er immer einen Ausweg finden, wie gefahrvoll er auch sei. Es wäre, wenn diese auf den Kontext in der Ilias bezogene Deutung überzeugend ist, sicherlich nicht abwegig, den Odysseus-Vergleich im Allgemeinen auf Tiberiusʼ Stellung als faktischen Mitregenten zu beziehen (so Elder/Mullen ibid., 262), im Speziellen vielleicht auf die Zeit nach einer schweren militärischen Niederlage wie etwa der in der Schlacht im Teutoburger Wald (9 n. Chr.). Der Datierung Bringmanns und Wiegandts widerspräche das nicht (s. o).84 36F] Nachdem Weichert die ganze Passage noch als ein Fragment betrachtet hatte, haben Malcovati und Cugusi Zitatgrenzen zwischen periclitetur und nihil sowie zwischen valebis und deos angenommen. Diese Trennungen überzeugen aus zwei Gründen nicht: Zum einen sind sie durch keinerlei inhaltliche Brüche oder formale Indizien wie mögliche Briefanfänge oder -schlüsse zwingend. Die drei Sätze lesen sich sehr gut als zusammenhängendes Zitat aus einem Brief, in dem Augustus seine Sorge über die Gesundheit des Tiberius ausdrückt und betont, wie wichtig sie für den römischen Staat sei. Hinzu kommt, dass wenigstens der Satz nihil … valebis für sich allein genommen gar kein explizites Lob der militärischen oder politischen Fähigkeiten des Tiberius beinhaltet, was notwendig ist, damit ein einzelnes Zitat an dieser Stelle für die Argumentation Suetons überhaupt einen Sinn ergibt (s. o. zum Kontext). Da der Satz für sich allein lediglich eine allgemeine Äußerung der Neigung zu und Sorge für Tiberius darstellt, kann nur eine Trennung der Passage, 83 Üb.: „Wenn ihr mich meinen Gefährten selbst auswählen heißt, wie könnte ich nicht an den göttlichen Odysseus denken? Er ist im Hinblick auf sein Herz ein entschlossener und mutiger Held in jeder Notlage und Pallas Athene liebt ihn. Wenn der mir folgt, kommen wir beide auch aus loderndem Feuer zurück, weil er so gut zu planen versteht.“ 84 Vgl. zu einem offenbar recht ähnlich funktionierenden Homerzitat (Il. 1,174 f.) in Cic. fam. 3,7,6 Behrendt 2013, 144–148; Rollinger 2015, 139–141.
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entweder zwischen periclitetur und nihil oder zwischen valebis und deos, ernsthaft zur Debatte stehen; aber auch dafür fehlen die klaren Indizien. Vielmehr besteht auch hier wieder die Möglichkeit, dass es sich um einen bis auf Datierung, Grußund Schlussformel vollständigen Brief handeln könnte, der allein die Sorge um die Gesundheit des Adressaten Tiberius zum Ausdruck bringt (ähnlich z. B. Cic. fam. 16,4 [ad Tironem]). 1 f. Attenuatum te esse continuatione laborum cum audio et lego: Bemerkenswert ist die Wortstellung des Nebensatzes: Der Accusativus cum infinitivo, in dem der Adressat direkt angesprochen wird, ist vor die Konjunktion cum gezogen wie, um ihn zur thematischen ‚Überschrift‘ des Folgenden zu machen. Es scheint sich daher entweder um einen Briefanfang oder zumindest um den Anfang eines neuen Sinnabschnitts innerhalb des Briefes zu handeln. Dafür könnte auch sprechen, dass audio et lego vielleicht auf einen oder mehrere Briefe des Tiberius bezogen ist, den oder die Augustus hier beantwortet. 2 di me perdant, nisi cohorrescit corpus meum: Jedesmal, wenn Augustus davon hört oder spricht, dass Tiberius durch die fortgesetzte Mühsal seiner Aufgaben geschwächt ist, erschaudert sein ganzer Körper (sehr eindringlich formuliert durch die Alliteration cohorrescit corpus). Vielleicht befindet sich Tiberius gerade auf einem Feldzug, der ihm einiges abverlangt (vgl. Birch 1981, 160). Di me perdant nisi ist wieder eine Beteuerungsformel („die Götter mögen mich vernichten, wenn nicht …“; siehe dazu Komm. zu 24F: peream nisi). 2–4 teque oro ut parcas tibi, ne si te languere audierimus, et ego et mater tua expiremus et summa imperi sui populus R. periclitetur: Dieser Satz beinhaltet die für Sueton zentrale Aussage: Tiberius bildet zusammen mit Augustus und dessen Frau bzw. seiner Mutter Livia die summa imperi populi Romani. Die Formulierung läuft darauf hinaus, dass Augustus den Tiberius als einzigen denkbaren Nachfolger für die Zeit nach seinem eigenen Tod bezeichnet. Das Lob wirkt verglichen mit den Äußerungen in 35F und 36F zunächst relativ schwach, weil Tiberius hier in seiner Bedeutung auf die Rolle des Nachfolgers beschränkt wird. Aber die implizite Aussage, dass es für die Fortführung des von Augustus installierten politischen Systems zu Tiberius keine Alternative gebe, kann schon auch als Würdigung seiner Fähigkeiten als Staatsmann und Heerführer verstanden werden;85 da hier jedoch die Gesundheit des Tiberius im Vordergrund steht, geht Augustus nicht näher ins Detail (vgl. Birch 1981, 161). Der Satz deutet auch darauf hin, dass der Brief wohl in die späten Lebensjahre des Augustus, der offenbar mit der Möglichkeit eines baldigen Ablebens rechnet, zu datieren ist (vgl. Birch ibid., 160).
85 Denn ‚alternativlos‘ ist diese Nachfolge mitnichten gewesen; vgl. Kunst 2014, 167–169.
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4 f. Nihil interest valeam ipse necne, si tu non valebis: Der vorhergehende Gedanke wird hier noch einmal kurz zusammengefasst: Augustusʼ eigenes Lebenswerk hängt letztlich davon ab, ob Tiberius es fortführen kann. 5 f. valeam … valebis … valere: Vielleicht bilden die beiden letzten Sätze bereits den Briefschluss, zumindest scheint Augustus durch die dreimalige Verwendung des typischen ‚Briefschluss-Verbs‘ valere den Briefschluss vorzubereiten. 5–7 Deos obsecro, ut te nobis conservent et valere nunc et semper patiantur, si non p. R. perosi sunt: Mit einem Gebet (obsecro) schließt Augustus den Gedanken – und vielleicht auch den Brief – ab. Der Brief weist von hier an ein gehobenes Stilniveau auf, man beachte die Alliteration patiantur, si non p(opulum) R(omanum) perosi sunt. Perosus, -a, -um ist wahrscheinlich Dichtersprache: Das Kompositum ist in dieser aktiven Bedeutung, die einem Partizip Präsens entspricht (vgl. Keulen, ThLL x/1, Art. perosus, 1607,63–1608,46), erstmals belegt bei Verg. Aen. 6,435 (der Augustus-Brief ist sicherlich später zu datieren): lucemque perosi u. 9,141 f.: non genus omne perosos| femineum, doch vermutet Norden 21916, 246 mit guten Gründen, dass die Bildung nicht erst von Vergil geprägt, sondern bereits älter sei86 (vgl. auch Horsfall 2013, 328); ähnlich scheint Imp. Aug. De vita sua FRH, (60) F15: pertaesus … morum perversitatem eius (vgl. Vestergaard, ThLL x/1, Art. pertaedeo, 1775,70–1776,17). 6 Nunc et semper ist erstmals hier belegt und kommt sonst erst bei christlichen Schriftstellern (z. B. Tert. adv. Prax. 2 [p. 229,1 Kr]: et semper et nunc) und in der lateinischen Fassung des Gloria Patri vor (Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto, sicut erat in principio e t n u n c e t s e m p e r et in saecula saeculorum, amen), die Wendung weist insofern ebenfalls sakralsprachliches Kolorit auf und passt gut in das Gebet, was ich in der Übersetzung mit „jetzt und immerdar“ auszudrücken versucht habe.
11 Ad Iuliam filiam (37) Iulia (39 v. Chr.–14 n. Chr.) war die Tochter des Augustus von dessen zweiter Ehefrau Scribonia und dessen einziges leibliches Kind, von dem wir wissen. Sie scheint zentraler Gegenstand einer intensiven Heiratspolitik des Prinzeps gewesen zu sein, und wurde zunächst während des Bürgerkriegs mit einem Sohn des Marcus Antonius verlobt und später nacheinander mit mehreren präsumtiven Nachfolgern des
86 In der ersten Auflage seines Kommentars zum sechsten Buch der Aeneis (11901, 240) war Norden gar so weit gegangen, eine Herkunft des Kompositums aus der archaischen Poesie zu behaupten; in der zweiten Auflage äußert er sich vorsichtiger.
11 Ad Iuliam filiam (37)
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Augustus verheiratet: Marcellus (25–23 v. Chr.), Agrippa (21–12 v. Chr.) und Tiberius (12–2 v. Chr.; vgl. zu Iulias Bedeutung für die Nachfolgepolitik des Augustus Kunst 2014, 160–165). Aufgrund angeblicher sexueller Ausschweifungen in Verbindung mit einer Verschwörung gegen den Kaiser (vgl. Plin. nat. 7,149) wurde sie 2 v. Chr. auf die Insel Pandateria (Ventotene), ab 5 n. Chr. nach Rhegion (Reggio Calabria) verbannt, wo sie im selben Jahr wie ihr Vater starb (vgl. Kienast 1996, 70 f.). Von den Briefen des Augustus an dessen Tochter besitzen wir ein Fragment, das mit Sicherheit in die Zeit vor der Verbannung gehört, aber sonst nicht näher datierbar ist. 37F 5 M = ELM ii, (151) 96 Suet. Aug.: (71,4) Scribit ad filiam:
Misi tibi denarios ducentos quinquaginta, quos singulis convivis dederam, si vellent inter se inter cenam vel talis vel par impar ludere.
(72,1) In ceteris partibus vitae contentissimum constat ac sine suspicione ullius vitii.
2 inter se del. Torrentius (In C. Suetonii Tranquilli xii Caesares commentarii [Antwerpen 1578], 176)
Üb.: Er schrieb seiner Tochter: I c h h a b e d i r d i e 2 5 0 D e n a r e g e s c h i c k t , die ich auch einzelnen Tischgästen gegeben hatte, wann immer sie untereinander während des Essens entweder mit Würfeln oder „Gerade-Ungerade“ spielen wollten. Dass er in den anderen Bereichen des Lebens maßvoll gewesen ist und nicht im Verdacht irgendeines Lasters gestanden hat, steht fest. Komm.: Zum Kontext vgl. Komm. zu 28F f. Das Zitat stammt vermutlich aus einem Brief, in dem Augustus Iulia von einer Tischgesellschaft berichtet, an der sie selbst nicht teilgenommen hat. Misi tibi ist vermutlich so zu verstehen, dass das Geld dem Brief beilag oder mit dem Brief überbracht wurde. Das Perfekt ist hier mit dem briefspezifischen Tempusgebrauch bei Verben des Schickens zu erklären (siehe dazu Kap. v.A.4.2). denarios ducentos quinquaginta: Ein hoher Betrag (vgl. Komm. zu 29F: Ego perdidi viginti milia nummum …). Die genaue Angabe des Betrags mag pedantisch wirken, sollte aber der Empfängerin vielleicht dazu dienen, zu kontrollieren, ob der Bote das Geld vollständig überbracht hat, ohne etwas davon in die eigene Tasche zu stecken. quos singulis convivis dederam, si vellent: Eine gewisse Schwierigkeit bereitet das Verständnis von singulis: Hat Augustus ,jedem einzelnen Gast‘ oder ,ein-
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zelnen Gästen‘ die 250 Denare gegeben (vgl. OLD, Art. singuli, 1950 [1b u. 3c])? Für gewöhnlich wird die Stelle in der ersten Weise übersetzt (vgl. Rolfe 1913–1914 i, 235: „the sum which I gave each of my guests“; Martinet 2014, 265: „so viel habe ich auch jedem meiner Gäste gegeben …“; L. Möller 2014, 114: „wie ich sie jedem einzelnen Gast gegeben habe“), doch fassen diese Übersetzungen den folgenden si-Satz falsch auf: si vellent ist kein eigentlicher Konditionalsatz (der gleichzeitige Irrealis wäre hier schwer zu rechtfertigen), sondern es liegt iteratives si mit Konjunktiv vor wie z. B. Caes. civ. 3,110,4: quorum siquis a domino prehenderetur, consensu militum eripiebatur (vgl. LSS Synt., § 363; OLD, Art. si, 1931 [2b]). Augustus hat also nicht einmal pauschal allen Gästen je 250 Denare in die Hand gedrückt, sondern dies immer dann getan, wenn einzelne Gäste miteinander spielen wollten (richtig verstanden hat den si-Satz Schmitz 2010, 115: „die ich jedem einzelnen Gast jeweils gegeben habe, wenn …“). Offenbar geht er davon aus, dass auch Iulia, wenn sie denn bei dem Abendessen dabei gewesen wäre, am Würfelspiel teilgenommen hätte, vielleicht sogar mit ihrem Vater selbst. Dass das Fragment auf eine gemeinsame Vorliebe von Vater und Tochter für das Würfelspiel hindeutet, vermutet bereits Cugusi (ELM ii/2, 433); nur so fügt es sich im Übrigen in den Kontext bei Sueton ein. inter se inter cenam: Torrentius hat inter se getilgt, vielleicht in der Annahme einer Dittographie (inter s e inter c e -), vielleicht, weil er inter se … ludere für redundant gehalten hat (oder beides), aber solche etwas pleonastischen Formulierungen mit inter se kommen durchaus vor (vgl. z. B. Sall. hist. frg. 1,55,19 R: manus conserentis inter se Romanos exercitus; Dict. 5,14: Ulixes cum Aiace summa vi contendere inter se). Mit inter se betont Augustus außerdem, dass er (wie Iulia) selbst nicht mitgespielt hat; die besondere Betonung kann insofern auch addressatenbezogen verstanden werden (s. o.). Zu inter cenam vgl. Komm. zu 28F,2. vel talis vel par impar ludere: Augustus unterscheidet hier wohl zwischen Spielen, in denen Astragale (tali) als Würfel verwendet wurden und dem Spiel par impar, das zu zweit gespielt wurde und bei dem ein Spieler erraten musste, ob die Anzahl der Astragale in der geschlossenen Hand des Mitspielers gerade oder ungerade ist (vgl. Schädler 1996, 62; Augustus beschreibt die Regeln eines Würfelspiels in einem Brief an Tiberius; vgl. 28F; zu anderen Spielvarianten vgl. Schädler ibid., 62–70; Hurschmann, DNP xii/2, Art. Würfelspiel[e], 577 f.).
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12 Ad C. Caesarem nepotem (38–40) Gaius Caesar (20 v. Chr.–4 n. Chr.) war der älteste Sohn der Iulia aus deren zweiter Ehe mit Agrippa und somit der älteste Enkel des Augustus (PIR2 I, Nr. 216). Obwohl Iulia nach dem Tod des Agrippa mit Tiberius verheiratet worden war, um diesen wenigstens zwischenzeitlich zum Nachfolger des Augustus zu designieren, scheint es Gaius Caesar gewesen zu sein, der neben seinem jüngeren Bruder Lucius Caesar auf längere Sicht dafür vorgesehen war: Bereits 17 v. Chr. wurde er von Augustus adoptiert, 5 v. Chr. nach Annahme der toga virilis zum princeps iuventutis ernannt sowie zum Konsul designiert und 1 v. Chr., mit einem imperium proconsulare ausgestattet, auf eine diplomatische Reise in den Osten des Mittelmeerraums entsandt. Im Folgejahr bekleidete er dort den Konsulat; im Herbst des Jahres 3 n. Chr. wurde er während der Belagerung von Artagira verwundet und starb – wohl infolgedessen – am 21. Februar 4 im Limyra (vgl. Kienast 1996, 73 f.; 2014, 136 f.; Kunst 2014, 162–166). Die Briefe des Augustus an Gaius Caesar lagen nach dem Zeugnis des Gellius in einer publizierten Sammlung vom Umfange eines Buches vor, die bereits Quintilian und vielleicht auch Sueton vorlag (ausführlicher dazu Kap. ii.2.1). 38T× 24 M = ELM ii, (151) 121 Suet. Aug. 93: At contra non modo in peragranda Aegypto paulo deflectere ad visendum Apin supersedit sed et Gaium nepotem, quod Iudaeam praetervehens apud Hierosolyma non supplicasset, conlaudavit.
Üb.: Dagegen verzichtete er nicht nur darauf, auf der Reise durch Ägypten ein wenig vom Weg abzuweichen, um den Apis zu besuchen, sondern er lobte auch seinen Enkel Gaius, weil dieser, als er an Judaea vorbeisegelt, in Jerusalem kein Dankgebet dargebracht habe. Komm.: Siehe Kap. ii.2.1, S. 38 Anm. 98. 39F 22 M = ELM ii, (151) 73 Gell. 15,7: (1) Observatum in multa hominum memoria expertumque est senioribus plerisque omnibus sexagesimum tertium vitae annum cum periculo et clade aliqua venire aut corporis (suppl. Holford-Strevens) morbique gravioris aut vitae interitus aut animi aegritudinis. (2) Propterea, qui rerum verborumque istiusmodi studio tenentur, eum aetatis annum appellant κλιμακτηρικόν. (3) Nocte quoque ista proxima superiore, cum librum epistularum divi Augusti quas
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ad Gaium nepotem suum scripsit, legeremus, duceremurque elegantia orationis neque morosa neque anxia, sed facili hercle et simplici, id ipsum in quadam epistula super eodem anno scriptum offendimus; eiusque epistulae exemplum hoc est: viiii. K a l . O c t o b r i s
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Av e , m i G a i , m e u s a s e l l u s i u c u n d i s s i m u s , q u e m s e m p e r m e d i u s Fidius desidero, cum a me abes, set praecipue diebus talibus qualis est hodiernus. Oculi mei requirunt meum Gaium, quem, ubicumque hoc die fuisti, spero laetum et bene valentem celebrasse quartum et sexagesimum natalem meum. Nam, ut vides, κλιμακτῆρα communem seniorum omnium tertium et sexagesimum annum evasimus. Deos autem oro, ut mihi quantumcumque superest temporis id salvis nobis traducere liceat in statu reipublicae felicissimo ἀνδραγαθούντων ὑμῶν καὶ διαδεχομένων stationem meam.
3 set] Et QPC ⸺ 8 mihi om. δ ⸺ 9 nobis] Xδη vobis FoπNτ
Üb.: Seit langem Menschengedenken hat man beobachtet und erfahren, dass für die allermeisten Alten das 63. Lebensjahr mit einer Gefahr oder einem Unheil einhergeht, entweder eines körperlichen Leidens und einer schweren Krankheit oder des Todes oder der Geisteskrankheit. Daher nennen diejenigen, die sich mit dem Studium solcher Angelegenheiten und Begriffe beschäftigen, dieses Lebensjahr stufenhaft. Als ich in der vorletzten Nacht das Buch mit den Briefen des vergöttlichten Augustus, die er an seinen Enkel Gaius geschrieben hat, gelesen habe und bewegt war von der Eleganz seines Stils, der weder ängstlich noch vorsichtig ist, sondern – bei Herkules! – leicht und einfach, habe ich genau das in einem Brief über dasselbe Jahr geschrieben gefunden; dies ist eine Abschrift dieses Briefes: 23. September Sei gegrüßt, lieber Gaius, mein liebster kleiner Esel, den i c h i m m e r, d e r t r e u e G o t t s e i m e i n Z e u g e , v e r m i s s e , w e n n d u von mir fort bist, aber ganz besonders an solchen Tagen wie d e m h e u t i g e n . M e i n e A u g e n v e r m i s s e n m e i n e n G a i u s , d e r, w o immer du an diesem Tag gewesen bist, wie ich hoffe meinen 64. (63.) Geburtstag froh und bei guter Gesundheit gefeiert hat. Denn, wie du siehst, bin ich der gemeinsamen Leiterstufe a l l e r a l t e n M ä n n e r, d e m 6 3 . L e b e n s j a h r, e n t k o m m e n . I c h b i t t e d i e G ö t t e r, d a s s w i r, w i e v i e l Z e i t m i r a u c h b l e i b t , d i e s e g e s u n d v e r b r i n g e n d ü r f e n u n t e r g l ü c k l i c h s t e n p o l i t i s c h e n Ve r h ä l t nissen, während ihr euch als Männer erweist und mich auf meinem Posten ablöst.
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Komm.: Gellius zitiert im Kontext einer kurzen Abhandlung über das sogenannte ‚Stufenjahr‘ (κλιμακτηρικὸς ἐνιαυτός), das 63. Lebensjahr, welches nach altem Glauben mit besonderen Gefahren für Leben und Gesundheit verbunden sei, einen Brief des Augustus an dessen Enkel anlässlich seines eigenen 64., nach unserer Zählung 63., Geburtstags. Es besteht eigentlich kein Anlass, zu bezweifeln, dass der Brief hier vollständig zitiert ist: Gellius spricht von einem exemplum epistulae, also einer Abschrift (vgl. Kapp/Meyer, ThLL v, Art. exemplum, 1349,39–1350,12), nicht etwa von einem caput epistulae oder dergleichen; das Zitat beginnt mit einer Datierung und einem (unkonventionellen) Gruß und endet mit einer schönen Schlusssentenz. 1 viiii. Kal. Octobris: Aufgrund der Tatsache, dass Augustus den Brief an seinem – nach unserer Zählung – 63. Geburtstag geschrieben hat, lässt er sich taggenau datieren, also auf den 23. September 1 n. Chr. (vgl. Bringmann/Wiegandt 2008, 46). Gaius Caesar befand sich zu dieser Zeit auf seiner diplomatischen Reise im Osten des Reiches und bekleidete den Konsulat. 2 Ave: Der Gruß (h)ave + Vokativ am Briefanfang ist hier erstmalig belegt, zuvor ist er lediglich als Briefschluss eines von Sallust (Catil. 35,6 = ELM ii, [13] frg. 1: haveto [aveto var. lect.]) zitierten Briefes des Catilina nachweisbar87 und auch in späterer Zeit nur selten, etwa im Briefwechsel zwischen Fronto und Marc Aurel (fast immer handelt es sich dabei um Briefe Marc Aurels an Fronto; vgl. z. B. Fronto p. 38,5 vdH: Have domine; Aur. Fronto p. 38,11 vdH: Have mi Fronto carissime; p. 249,1 vdH: Have mi magister optume; vgl. auch T.Vindol. ii, 291,ii,14). Der Gruß ist vom phönizisch-punischen Gruß ( חוהẖve) abgeleitet und somit etwas ‚exotisch‘: Im plautinischen Poenulus grüßt der Punier Hanno mit der Pluralform avo den Agorastocles und dessen Sklaven Milphio, der etwas punisch kann und für seinen Herrn – im Folgenden mehr schlecht als recht – übersetzt; vgl. Plaut. Poen. 998: HAN. Avo! MIL. Salutat (vgl. zur Etymologie Thurneysen, ThLL ii, Art. ave, 1300,40 f.; Ax 2011, 261). Er ist fast immer Teil dialogischer Partien (vgl. z. B. Petron. 74,7: subiit igitur alia classis [sc. servorum], et illi quidem exclamavere: „vale Gai“, hi autem „ave Gai.“ Bekannt ist Suet. Claud. 21,6: proclamantibus naumachiariis „have imperator, morituri te salutant!“ respondisset „aut non.“ Viele weitere Belege bei Vollmer, ThLL
87 Doch ist hier Vorsicht angebracht: Sallust verändert den Wortlaut von authentischen Briefen, die er zitiert, möglicherweise sehr stark, wie das Problem des Lentulus-Briefes (ELM ii, [14] frg. 2) zeigt: Der Brief des Lentulus Sura, der als Beweisstück bei der Überführung der Verschwörer um Catilina gedient hat, wird sowohl von Cicero (Catil. 3,12) als auch von Sallust (Catil. 44,5) zitiert, jedoch in im Detail stark divergierenden Fassungen. Nach der (m. E. plausiblen) Mehrheitsmeinung kennt Sallust den Brief von Cicero und adaptiert ihn (Cairns 2012, 79 mit Anm 6), doch wird vereinzelt auch die Möglichkeit diskutiert, dass Sallust den Brief unabhängig von Cicero habe kennen können und ihn vielleicht sogar genauer zitiert (so Gejrot 2005).
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ii, Art. ave, 1300,60–1301,59) und Augustus verwendet ihn vermutlich bewusst, um dem Brief einen besonders kolloquialen Charakter zu verleihen (vgl. Giordano 1999, 234), im Briefformular etabliert sind solche lapidaren Grußformeln (allerdings selten [h]ave und sehr viel häufiger salve) erst ab dem zweiten Jahrhundert (zu Fronto s. o.; für ‚nicht-literarische‘ Briefe vgl. Koskenniemi 1956, 164–167; Sarri 2018, 49 mit Anm. 215). Bemerkenswert ist der Kontrast zwischen dem umgangssprachlichen Briefanfang und der stilistischen Höhe, die der Brief im weiteren Verlauf aufweist (s. u.). 2 mi Gai: Siehe Komm. zu 23F,1: ut mandasti, mea Livia. 2 meus asellus iucundissimus: Der Nominativ ist prädikativ zum Vokativ mi Gai zu verstehen (eigentlich: mein Gaius, der du mein liebstes Eselchen bist). Dieser prädikative Gebrauch des Nominativs anstelle des Vokativs scheint umgangssprachlich zu sein: Er begegnet häufiger in der Komödie und in Graffiti; vgl. z. B. Plaut. Cas. 134–138: mi animule, mi Olympio,| mea vita, mea mellilla, mea festivitas … voluptas mea … m e u s f e s t u s d i e s , | m e u s p u l l u s p a s s e r , mea columba, mi lepus; CIL iv, Nr. 5399: ACTI DOMINUS SCAENICORUM VA(LE). Die Konstruktion liegt in dem Bedürfnis begründet, den Vokativ auf einen einzelnen Begriff zu konzentrieren (vgl. Löfstedt 1942, 97–102; LSS Synt., § 37bε). Die Bezeichnung eines Menschen als asinus oder asellus ist überwiegend sexuell, teilweise dabei abwertend konnotiert (so z. B. von einem Mann, der sich einen Fächer in der Hand haltend lächerlich macht Ter. Eun. 598: flabell