Thebenroman - Eneasroman - Trojaroman: Studien zur Rezeption der Antike in der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts 9783110932386, 3484522356, 9783484522350


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German Pages 374 [376] Year 1991

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Table of contents :
DIE ANTIKEN ROMANE ALS PROBLEM DER LITERATURWISSENSCHAFT
Die Gattung
Verfasser, Datierung, Lokalisierung
Die vergleichende Betrachtung
Publikumsinteresse und Publikum
Neuorientierung und Forschungsstand
Methodische Konsequenzen und weitere offene Fragen
DIE ANTIKEN ROMANE
I. Die Gattung und die Texte
Das Gattungskorpus
Handschriften, Überlieferung, Ausgaben
II. Die antiken Stoffe um 1150
Verbreitung der Handschriften und Kenntnis der Stoffe
Explizite Intention der volkssprachlichen Autoren
Die Disposition über den Stoff
III. Die Autoren als Erzähler
Präsenz und Perspektive
Historisches Erzählen
Aufbau
Fortsetzungsstruktur
Standort und Parteilichkeit
IV. Die Inszenierung der Vergangenheit
Die Namen
Die Welt der Personen
Stilistische Mittel der Distanzierung
Die Vergangenheit als antike Vergangenheit
V. Konzepte der neu erzählten Geschichte
Liebe und Liebesglück
Recht und Unrecht
Schuld und Sühne
Gott und Götter - die Frage der Transzendenz
ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN
LITERATURVERZEICHNIS
Ausgaben
Untersuchungen
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Thebenroman - Eneasroman - Trojaroman: Studien zur Rezeption der Antike in der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts
 9783110932386, 3484522356, 9783484522350

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BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR ROMANISCHE PHILOLOGIE BEGRÜNDET VON GUSTAV GRÖBER FORTGEFÜHRT VON WALTHER VON WARTBURG UND KURT BALDINGER HERAUSGEGEBEN VON MAX PFISTER

Band 235

UDO SCHÖNING

ThebenromanEneasroman - Trojaroman Studien zur Rezeption der Antike in der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1991

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Unseren Kindern

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schöning, Udo: Thebenroman - Eneasroman - Trojaroman : Studien zur Rezeption der Antike in der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts / Udo Schöning. - Tübingen : Niemeyer, 1991 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie ; Bd. 235) NE: Zeitschrift für Romanische Philologie / Beihefte ISBN 3-484-52235-6

ISSN 0084-5396

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

DIE ANTIKEN ROMANE ALS PROBLEM DER LITERATURWISSENSCHAFT Die Gattung Verfasser, Datierung, Lokalisierung Die vergleichende Betrachtung Publikumsinteresse und Publikum Neuorientierung und Forschungsstand Methodische Konsequenzen und weitere offene Fragen

i 5 8 17 23 32

DIE ANTIKEN ROMANE I. Die Gattung und die Texte Das Gattungskorpus Handschriften, Überlieferung, Ausgaben

37 37 52

II. Die antiken Stoffe um 1150 Verbreitung der Handschriften und Kenntnis der Stoffe Explizite Intention der volkssprachlichen Autoren Die Disposition über den Stoff

57 57 68 87

III. Die Autoren als Erzähler Präsenz und Perspektive Historisches Erzählen Aufbau Fortsetzungsstruktur Standort und Parteilichkeit

97 98 119 127 138 153

IV. Die Inszenierung der Vergangenheit Die Namen Die Welt der Personen Stilistische Mittel der Distanzierung Die Vergangenheit als antike Vergangenheit

180 181 197 232 247

V. Konzepte der neu erzählten Geschichte Liebe und Liebesglück

250 251

Recht und Unrecht Schuld und Sühne Gott und Götter - die Frage der Transzendenz

284 300 317

ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN

333

LITERATURVERZEICHNIS Ausgaben Untersuchungen

VI

345 349

Die antiken Romane als Problem der Literaturwissenschaft Les trois poemes de Thebes, d'Eneas et de Troie forment un groupe dont l'etude doit servir d'introduction ä l'histoire du roman fran9ais, sinon en etre le premier chapitre. E. Langlois, 1905.

Die Gattung Am Anfang der Geschichte des französischen Romans stehen die oder genannten Romane des 12. Jahrhunderts, die, wie die Überlieferungsgeschichte bezeugt, das mittelalterliche Publikum in Frankreich und über Frankreich hinaus faszinierten, in der Literaturwissenschaft jedoch lange Zeit nur wenig Interesse und noch weniger Anerkennung fanden. Angesichts der mehr als hundertjährigen Beschäftigung mit diesen Werken muß man überdies feststellen, daß die Aussagen der Literaturwissenschaft zwar forschungsgeschichtlich aufschlußreich, im Hinblick auf die antiken Romane aber insgesamt wenig befriedigend sind1. Erst 1985 erschien mit A. Petits Naissances du roman eine Monographie, die den Anspruch erheben kann, für das Verständnis der antiken Romane insoweit grundlegend zu sein, als sie deren Erzähltechnik und Stil umfassend und gründlich analysiert. Daneben gibt es allerdings eine große Anzahl von Studien zu einzelnen Problemen, die die antiken Romane aufwerfen oder die mit diesen verbunden sind. Doch auch die Fülle dieser Arbeiten zusammengenommen wird der geschichtlichen Bedeutung jener Romane nicht gerecht, vielmehr stellt sich das Bild eines lückenhaften Forschungsstandes ein, dessen Ergebnisse teils fragwürdig, teils widersprüchlich sind. Offenbar wird dieser Befund schon bei dem Gattungsproblem. Obwohl die Bezeichnungen oder (antikisierender Roman> - französisch romans antiques, romans d'Antiquite oder romans antiquisants — heute gebräuchlich sind, herrscht keine Klarheit darüber, welche Kriterien dieses so bezeichnete Genus definieren und welche Werke es konstituieren. Geläufig ist die Qualifizierung, die mit dem inzwischen zumeist verwendeten Namen Bereits Mo'ise, Mauere, wollte eine «etude d'ensemble sur les Romans antiques» (ebd., 4) vorlegen, in Wahrheit aber stellt ihre Arbeit eine eklektische Zusammenstellung von längst Bekanntem dar; Angeli, «Eneas», geht es primär um die Beschreibung einer literarischen Reihe von Wace zu Chretien und die Bedeutung, die der RE. darin hat; Petit, Anachronisme, ist einem speziellen Problem und vor allem nur dem Titel nach der Gattung gewidmet, tatsächlich befaßt sich Petit überwiegend und exemplarisch mit dem RTh.

angekündigt und gerechtfertigt. Es ist bemerkenswert, daß es sich dabei um einen historiographischen Topos handelt, der das Auswahl60

Ripley, Genesis, 162. 76

prinzip mit einer ethischen Zielsetzung koordiniert. Er begegnet schon früh, an einem für das Mittelalter wichtigen Ort. Bei Isidor von Sevilla heißt es über die Geschichte: «Haec disciplina ad Grammaticam pertinet, quia quidquid dignum memoria est litteris mandatur»61. Daß der Stoff ein historischer ist, wird auch darin deutlich, daß man das Thema als geste kennzeichnet. oder bedeutet dieser Terminus, und hier meint er vielleicht beides zusammen: Die Familiengeschichte eines Herrscherhauses wird für erinnerungswürdig befunden. Literarischthematisch ausgegrenzt und der geste gegenübergestellt werden dagegen die vilains, die Nichtadeligen, so daß die Auswahl des historischen Romanthemas auch sozialen Kriterien folgt. Der Tatsächlichkeit des zu erzählenden Geschehens trägt auch der Aufbau des zweiten großen Prologteils Rechnung, der, den Erzählstoff resümierend, präzise auf die Fragen wer, was, warum, wo antwortet. Die Perspektive, unter der das Geschehen gesehen wird, in der der sen sich enthüllt, wird in der Antwort auf die Warum-Frage faßbar: «Pour le pechie» (V. 27) - wegen der Sünde ist alles so gekommen. Der Epilog gibt noch einmal einen Überblick über die erzählte Geschichte und faßt die Textintention in einer allgemein gültigen Wahrheit, die als explizite Mahnung an die Zuhörer formuliert wird, zusammen: «ne faites rien contre Nature» (V. 10560). In den Fassungen von fällt auf, daß sich diese Mahnung an männliche, mit seignor angeredete Zuhörer richtet (V. 10559); und S enthalten in einem Vers eine Ergänzung mit zwei wichtigen Schlüsselwörtern: «Par dreit errez et par mesure» (ed. Constans, V. 10228). Das Publikum, an das sich der RTh. wendet, wird im Prolog auf Kleriker und Ritter beschränkt. Und wie die Rolle des Autors mit dem und der Stoff mit dem bestimmt wurde, so wird auch die soziale Eingrenzung des Publikums auf zwei Stände mit dem festgelegt und erläutert. Der Topos ist alt, seine volkssprachliche Verwendung neu. Der onos lyras hat eine lange, in mehreren Studien gut dokumentierte und untersuchte Geschichte62. Sie reicht zurück bis nach Sumer und Ägypten. In der griechischen Antike ist der onos lyras sprichwörtlich, und so wird er von den gebildeten Römern übernommen und vielfach griechisch zitiert. Das tun auch Hieronymus, Martianus Capella und Boethius. Letzterer gilt als der eigentliche Vermittler des Topos an das Mittelalter. In der Consolatio sagt die Philosophie zu ihrem Zuhörer, der sie nicht verstanden zu haben scheint: «Sentisne [...] haec atque animo illabuntur tuo? An ?»63 Das griechische Zitat kennzeichnet die Verwendung des Topos als bildungssprachliches Element. Im Mittelalter wurde er 61

Etym. i, 41, 2; vgl. dazu: Goetz, «Geschichte», 171 und 193. Adolf, ASS; Stauder, Asinus; Vogel, Onos lyras; Hammerstein, Diabolus, 731".; Vitale-Brovarone, Asinus. 6 3 Cons. 1,4. 62

77

als asinus ad lyram verstanden und übersetzt, blieb aber auch hier zunächst auf den Bereich lateinischer Bildung beschränkt: «As a whole, the Boethian tradition looks like being connected with the high culture, practised in a professional way»64. Dann aber findet sich der Esel mit dem Saiteninstrument nicht nur als Topos in der Literatur, sondern auch in Handschriftenilluminationen sowie plastisch an Sakralbauten, in Frankreich z. B. in Aulnay-deSaintonge (Charente-Maritime), Beaune, Brioude (Häute-Loire), Bruyeres (Vosges), Chartres, Cosne (Nievre), Cunault (Maine-et-Loire), Decize (Nievre), Fleury-la-Montagne (Saone-et-Loire), Meillers (Allier), Nantes, Mozac (Puy-de-Dome), Nevers, Saint-Benoit-sur-Loire (Loiret), Saint-Parize-leChätel (Nievre), Toulouse65. Das heißt, wir finden ihn im wesentlichen in Gegenden, die mehr oder weniger längs der Loire und westlich davon liegen. Zur zeitlichen Konzentration schreibt Vitale-Brovarone: «We must observe the wide spreading of this topos as an iconographic theme, mostly in the XII century, so that we can consider it as a commonplace of the romanesque art»66. Wo immer der Topos auftaucht, symbolisiert er eine Unfähigkeit, die in der inadäquaten Kombination von sprichwörtlich dummem Tier und anspruchsvollem Instrument zum Ausdruck kommt. Dem Bild inhärent ist aber folglich auch die mögliche Fähigkeit, da die Inadäquatheit in der Zusammenstellung des Tieres mit dem Instrument einen angemesseneren Gebrauch des Instruments nahelegt. Das Bild veranschaulicht also nicht nur einen schlechten Zustand; es empfiehlt ebenso einen besseren. In dieser Funktion konnte es auch in der Sakralplastik verwendet werden. Es symbolisiert hier den Menschen, der Gottes Botschaft nicht versteht und der Sünde erliegt. «Sein Erscheinen soll eine Warnung vor der Sünde sein», schreibt Stauder. Deshalb sei das Symbol des Esels mit der Harfe an Fassaden, Portalen, Kapitellen und Konsolen sichtbar angebracht worden, an Stellen also, die allen zugänglich waren67. Wenn der im RTh.-Prolog auftaucht, so ist zum ersten wichtig, daß hier ein bildungssprachliches Element aus der Welt der dercs in die Volkssprache übernommen wird. Dieser Vorgang signalisiert, daß Geistesgut, das bislang der lateinischen Kultur vorbehalten war, in eine andere, in die volkssprachliche Kultur vermittelt werden soll. Zweitens wird innerhalb der volkssprachlichen Kultur die differenzierende Funktion des Topos genutzt: Das volkssprachliche Publikum zerfällt gegenüber dem zu vermittelnden geistigen Gut in die Gruppen der Verständnisfähigen und der Verständnisunfähigen. Die Verständnisfähigkeit wird nach sozialen Gesichtspunkten festgelegt: Es entscheidet die Standeszugehörigkeit. Drittens kann 64 65 66 67

Vitale-Brovarone, Asinus, 125. Vgl. die in Anm. 59 genannten Autoren. Vitale-Brovarone, a.a.O., 125. Stauder, Asinus, 32.

man annehmen, daß die religiösen Implikationen des Topos, seine spezifisch warnende Funktion, wirken; denn vor der Sünde zu warnen, ist die erklärte Absicht des Textes. Wenn sich diese Warnung nur an diejenigen richtet, die nicht vilains sind, so ist dies eine mittelalterliche Konsequenz aus deren gesellschaftlicher Bedeutung. Die Neubestimmung des Verhältnisses von Autor, Werk und Publikum vollzieht sich damit auf sozialer und literarischer Ebene, die aufeinander bezogen werden, als Korrelation von Verpflichtung des Autors, Dignität des Stoffes und Fähigkeit des Publikums. Mit drei präzise eingesetzten, jeweils den einzelnen Größen des literarischen Kommunikationsprozesses zugeordneten und aufeinander abgestimmten Topoi wird von den clercs anvisiert, was man mit Blick auf die Volkssprache und die chevaliers als kulturellen Aufstieg, mit Blick auf die clercs und ihre Bildung als sozialen Aufstieg bezeichnen könnte. Unter einem neuen Begriff von Bildung sollen beide Stände in diesen Zielen zusammenfinden. Keinen Prolog und keinen Epilog hat der RE., so wie er auf uns gekommen ist. Obwohl auch hier im Fall des Vortrags an die Möglichkeit einer Einführung aus dem Stegreif gedacht werden kann, veranschaulicht das Fehlen jeglicher Hinweise auf die Quelle, auf den Autor oder auf die Textintention, daß wahrscheinlich schon dem RE.-Autor, bestimmt aber den ihm folgenden Bearbeitern der erhaltenen Fassungen solche Angaben nicht wichtig und nicht wünschenswert erschienen. Denn in ihrem Fehlen kommt gleichwohl eine Intention zum Ausdruck, nämlich die, daß der Text für sich allein wirken soll. Möglicherweise folgt der RE. in dem Verzicht auf Prolog und Epilog sowie auf eine Nennung des lateinischen oder französischen Autors auch dem Vorbild der Aeneis, Fest steht, daß der deutsche Bearbeiter in dem abrupten Eingang des RE. eine künstlerische Entscheidung gesehen hat, die er akzeptierte und in einer, wenn auch durch die Publikumsadresse abgemilderten Form beibehielt. Heinrich von Veldeke nennt uns auch nicht den Namen des RE.-Autors, aber durch ihn erfahren wir, wie der RE. gelesen wurde, als die Geschichte nämlich, die die Aeneis erzählt. Denn obwohl Heinrich den Text des RE. übertragen hat, beruft er sich nicht weniger als fünfmal auf Vergil, und obwohl auch der deutsche Eneasroman an modernen Kriterien gemessen eine freie Bearbeitung seiner französischen Vorlage darstellt, behauptet der Epilog doch eine inhaltliche Identität der lateinischen, der französischen und der deutschen Fassungen: daz is genügen kuntlich, als ez da tihte Heinrich, derz üzer welschen buchen las, da ez von latme getihtet was al nach der wärheide. diu buch heizent Eneide, diu Virgiljüs da von screib, von dem uns diu rede bleib, 79

der tot is über manech jär. ne buch her niht, so is ez war, daz Heinrich gemachet hat dernäch. im ne was zer rede nicht so gach, daz her von siner scholde den sin verderben wolde, sint daz her sichs underwant. wand als herz da gescriben vant, also hat herz vor gezogen, daz her anders niht hat gelogen, wand als herz an den buchen las. ob daz gelogen niene was, so wil her unscholdich sin: als is ez welsch und latin äne missewende. hie si der rede ein ende. (V. 13505 f·)

Wie der RTh. hat auch der RTr. einen Prolog und einen Epilog, in denen ein Ich-Erzähler spricht. Und wie der RTh., so beginnt auch der RTr. mit dem Topos, daß Wissen zur Weitergabe verpflichte, und dem daran angeschlossenen Verweis auf das Vorbild der Antike. Anders als im RTh. wird der Topos hier allerdings als Salomon-Zitat ausgewiesen, und, ebenfalls abweichend, werden im RTr.-Prolog antike Autoren nicht namentlich und repräsentativ, sondern die Alten («li ancessor», V. 6) kollektiv als Autoritäten eingeführt. Sie sind «eil qui troverent les parz E les granz livres des set arz, Des philosophies les traitiez» (V. 7 f.). Möglicherweise erinnert der Autor mit dem Begriff ancessor ein Publikum an seine trojanische Abstammung. Auf jeden Fall aber wird ein kulturhistorischer Entwurf zugrundegelegt, in dem die Antike als Vorgeschichte integriert ist, und die Alten als antecessores sind für den Autor beispielgebend, weil sie ihr Wissen nicht verschwiegen haben. Die Bedeutung, die diesem Faktum zugemessen wird, ist den folgenden Versen zu entnehmen, die mit dem Tiervergleich einen Topos der lateinischen Historiographie aufnehmen68: 68

Zum Tiervergleich s. auch die Verse, die Grundmann, Geschichtsschreibung, 72, aus dem Einleitungsgedicht zu einem Geschichtswerk Benzos von Alba nach MG. SS. 5, S. 591 zitiert: «Caruissent ratione homines ut pecora, / nisi eos informassent sex aetatum tempora», oder Heinrich von Huntingdon, im Prolog seiner Historia Anglorum, zit. nach Richter, Geschichtsschreiber, 172: «bruti namque homines et animalia, unde sint, nesciunt, genus suum nesciunt, patriae suae casus et gesta nesciunt, immo nee scire volunt». Zu den nützlichen Kenntnissen zählt Heinrich, wie Richter, ebd., Anm. 13, erwähnt, auch «Begebenheiten aus der antiken Sage». Es ist beachtenswert, daß Heinrich von Huntingdon sich nicht nur in einer erweiterten Fassung der Historia Anglorum uneingeschränkt positiv über den jungen König Heinrich II. und seine Sache äußerte, sondern diesem darüber hinaus sogar zwei Huldigungsgedichte schrieb und beabsichtigte, der Historia ein elftes Buch «de Henrico juniori» hinzuzufügen (vgl. Schirmer/Broich, Studien, 46f., Zitat: 47, Anm. 23). Man wird Heinrich von Huntingdon deshalb sicherlich am königlichen Hof geschätzt und gelesen haben. 80

Se fussent teü, veirement Vesquist li siegles folement: Come bestes eüssons vie; Que fust saveirs ne que folie Ne seussons sol esguarder, Ne Tun de l'autre desevrer.

(^ jr

5

1 1f )

Was herausgestellt wird, ist die Idee einer ungebrochenen Kontinuität, ist die tiefgreifende Bedeutung der Antike für die Gegenwart, die von der Antike abhängig ist, und diese Abhängigkeit wird erstaunlicherweise mit keinem Wort eingeschränkt. Das ist möglich, weil Wissen und Wissenschaft im RTr.Prolog zunächst profan gesehen werden, als Teil von «li siegles». Beides kann daher direkt aus der Antike übernommen werden; denn weltliches Wissen in diesem Sinn ist universales Wissen. Aufgabe des Autors ist, dieses Wissen einem nur volkssprachlichen Publikum weiterzugeben. Der weltlichen Bestimmung von Wissen und Wissenschaft entspricht, daß das Wort sapience, welches durch die Bibel religiös konnotiert ist, hier ganz fehlt und daß weiterhin «science» (V. 19) und «sens» (V. 18) auf die antiken Autoritäten bezogen verwendet werden, sen aber nicht wie im RTh. differenzierend eingesetzt ist. Im Gegenteil: Der mittelalterliche Autor gebraucht das Wort sen für sich nur mit Bezug auf seine Fähigkeit zur Übersetzung, und er gebraucht es in einem konditionalen Nebensatz (V. 36). Mit der Aufwertung der Alten zu Autoritäten, an die der RTr.- Autor sich anschließt, zeigen sich Konturen eines Begriffes von Autorschaft und ein Wandel in der Aufgabe, die der mittelalterliche Autor sich stellt. Hatte der RTh. -Prolog nicht klar ausgesprochen, daß mit der Erinnerung an vermitteltes Wissen auch des vermittelnden Autors gedacht werden würde, und den Akzent vielmehr auf das vom Autor unabhängige Weiterleben des Wissens gelegt, in der Weise, daß die Autorschaft letztlich eine untergeordnete Rolle spielte, so betont der RTr.-Prolog, daß mit dem vermittelten Wissen auch das Gedenken an den Autor besteht (V. 17 f.). Dementsprechend nennt der RTrAutor sowohl sich als auch die Verfasser seiner Vorlagen mit Namen (V. 132, 93, 649 pass.). Die Aufgabe, die der RTr. -Autor sich stellt, charakterisiert er im wesentlichen als die eines Übersetzers: E por 90 me vueil travaillier En une estoire comencier, Que de latin, ou jo la truis, Se j'ai le sen e se jo puis, La voudrai si en romanz metre Que eil qui n'entendent la letre Se puissent deduire el romanz: Mout est l'estoire riche e granz E de grant uevre et de grant fait. 69

Daß Benoit ein Bewußtsein von der Problematik des Übersetzens hatte, geht aus der Chronique, V. 25832^, hervor. 8l

Neben dem hier erwähnten Aspekt der Unterhaltung geht es aber - den antiken Vorbildern folgend - auch darum zu belehren. Das Verb enseignier taucht dreimal auf, zuerst in bezug auf die Alten (V. 10), dann in einer allgemeingültigen Feststellung (V. 21) und zuletzt konsequent auf den Autor des Prologs bezogen (V. 30). Belehrung und Unterhaltung eines lateinunkundigen Publikums soll der RTr. also gewähren. Und dieses Ziel soll erreicht werden, indem eine bedeutsame historische Darstellung in einer auf dieses Publikum abgestellten Weise in die Volkssprache übertragen wird. Um den historischen Anspruch und die diesem gerecht werdende Bedeutung seiner Quellen zu unterstreichen, unterzieht der Autor die Überlieferung vom Trojanischen Krieg einer Kritik, die dem folgt, was bei Dares und Diktys in den vorangestellten fiktiven Briefen zu lesen ist. Homer, obwohl im ÄTr.-Prolog als «clers merveillos E sages e escientos» (V. 45 f.) bezeichnet, wird aus zwei Gründen für unglaubwürdig erklärt: Weil er kein Augenzeuge des Geschehens war und wegen seiner mythologischen Darstellung, die ihm schon die zeitgenössischen Athener als «desverie» (V. 63) vorgeworfen hätten. Sodann schildert der Prolog die Überlieferungsgeschichte der Hauptquelle des Romans, des Dares-Berichts. Dieser sei von einem trojanischen Kämpfer, Daires nämlich, verfaßt. Der habe das Geschehen der Erinnerung bewahren wollen und in einem Tagebuch das festgehalten, was er gesehen habe. Obgleich er Trojaner war, seien seine Aufzeichnungen aus Wahrheitsliebe neutral: «De l'estoire le veir escrist» (V. 116). Das so entstandene Buch sei verloren gegangen und erst lange Zeit später von Sallusts Neffen Cornelius (ein Mißverständnis von Cornelius Nepos) entdeckt worden. Cornelius habe eine Schule in Athen gehabt, dort das Buch im Bücherschrank gefunden und es aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt - «par son sen et par son engin» (V. 122). Dieser unmittelbar vor Ort aufgezeichneten und im folgenden schriftlich überlieferten Darstellung sei mehr zu glauben als Homer: Mout en devons mieuz celui creire E plus tenir s'estoire a veire Que celui qui puis ne fu nez De cent anz o de plus assez, Qui rien n'en sot, 190 savon, Se par olr le dire non. (RTr., V. 123 f.)

Für das Geschehen im Lager der Griechen wird später Diktys als Garant eingeführt: Cil fu defors en l'ost Grezeis, Chevaliers sages e corteis; Les uevres, si come les sot, Mist en escrit come il mieuz pot. (RTr., V. 24401 f.)

82

In der Reihe der die Wahrheit garantierenden Tradition, und die translatio des Wissens vollziehend, steht der 7h-Autor, der über sich, seine Arbeit und die historische Darstellung seiner Vorlage sagt: Ceste estoire n'est pas usee, N'en guaires Heus nen est trovee: Ja retraite ne fust ancore, Mais Beneeiz de Sainte More L'a controve e fait e dit E o sä main les moz escrit, Ensi tailliez, ensi curez, Ensi asis, ensi posez, Que plus ne meins n'i a mestier. (RTr.,V. 129 f.)

Zwei Gründe rechtfertigen den Wahrheitsanspruch dieser Tradition: die Augenzeugenschaft sowie die Schriftlichkeit von Anfang an. Daß er den RTr. selbst geschrieben hat, betont auch Benoit, und er legt Wert darauf, seine schriftstellerische Arbeit als eine persönliche und vollkommene Leistung herauszustellen. Warum er das so nachdrücklich formuliert, wird im Epilog klar, in einer Passage, die ein Licht auf den jener Zeit wirft. Benoit fürchtet den Neid der jongleurs, und er fürchtet, daß man in sein Werk bearbeitend eingreifen könnte: CG que dist Daires et Ditis I avons si retrait e mis Que, s'il plaiseit äs jangleors, Qui de 90 sont encuseors, Qu'as autrui faiz sont reprenant E a trestoz biens enviant, Ne que ja rien n'avra honor Qu'il n'en aient vie et dolor, Cil se porreient mout bien taire De l'uevre blasmer e retraire; Quar teus i voudreit afaitier, Qui tost i porreit empeirier. (Ä7K.V.30303)

Die Behauptung des /?7h-Autors, nichts anderes darzulegen als das, was der lateinische Text biete, hat angesichts des Verhältnisses, in dem die 30316 Verse des Romans zu der knappen Darstellung bei Dares und Diktys stehen, immer wieder Verwunderung hervorgerufen und die Frage aufgeworfen, was unter den bons dits zu verstehen sei, die Benoit nicht unterdrücken will. Ci vueil l'estoire comencier: Le latin sivrai e la letre, Nule autre rien n'i voudrai metre, S'ensi non com jol truis escrit. Ne di mie qu'aucun bon dit N'i mete, se faire le sai, Mais la matire en ensivrai. (RTr.,V. 138 f.)

83

Es empfiehlt sich, zunächst dem Autor Glauben zu schenken und unter du das zu verstehen, was er als eigene Leistung in den Text einbringt, also das, was mit den Verben controver, faire, dire, taillier, eurer, aseeir, poser (V. 133 f.) ausgedrückt wird. Der Autor hatte schon eingangs die artes erwähnt (V. 7 f.), und im Rahmen der artes erinnert die Wortprägung an die Definition der Rhetorik als ars bene dicendi. Aus demselben Bereich ist das Wort matire übernommen, das den Gegenstand oder Stoff bezeichnet. Die Verwendung dieser Begriffe verträgt sich durchaus mit dem historiographischen Anspruch; denn in der Antike galt die historia als genus narrationis, worauf die Vorschriften der Rhetorik folglich angewendet wurden, wie dem Mittelalter durch Isidor von Sevilla bekannt war. Über das mittelalterliche Verständnis von historia schreibt Melville: Signifikanter aber war die Zuordnung zur . Als deckt. Eine Parallel stelle unterstreicht diese Interpretation von bon dit: Et a ce prendre garde doit eil qui lest [le livre] lisanz Que des bons dis quil troeve soil souvent recordanz; Car eil qui äs bons dis quil ot est entendanz Ne puet faillir que il ne s'en soit retraianz? De folie ä la fois et d'autres messeanz7'.

Wie weit die durch die bons dits eingeräumte Freiheit des mittelalterlichen Autors geht, zeigt der Vergleich zwischen dem RTr. und seinen Vorlagen. Daß sich der Autor diese Freiheit nimmt und trotzdem von Übersetzung spricht, wirft ein Licht auf den mittelalterlichen Übersetzungsbegriff, dem es weniger auf eine mit welchen Mitteln auch immer zu erreichende Nähe zum Original ankommt, als auf eine bestimmte, mit der Übersetzung zu erzielende Wirkung beim Publikum. Das Ziel dieser Wirkung wird im RTr. als Unterhaltung und Belehrung beschrieben, aber sonst nicht präzisiert, ebensowenig wird das Publikum differenziert, jedoch ist klar, daß es sich grundsätzlich um illitterati handelt. Die Darbietungsform ist mit den Verben reconter, conter, parier, retraire und dire, der Rezeptionsmodus als oi'r gekennzeichnet (V. 145, 149, 178, 185, 312, 664 70

Melville, Geschichte, 106; zur vermittelnden Rolle Isidors von Sevilla: Goetz, «Geschichte», 172. ZU. nach Joly (ed.), Benoit, 1,391. 84

pass.). Im Prolog selbst wird über den Stoff nicht gesprochen. Es folgt ihm aber ein ausführliches Resümee: die «faiz» (V. 146). Im Verhältnis von Autor, Werk und Publikum erscheint der Autor des RTr. somit als sprachlicher Vermittler, der ein volkssprachliches Publikum unterhalten und belehren will, indem er eine für wahr erkannte lateinische Darstellung vom Untergang Trojas zugänglich macht. Mit der Weitergabe seines Wissens stellt sich der ÄTh-Autor nicht nur in eine Reihe mit den antiken Autoren; er bewirkt darüber hinaus, daß das Wissen nicht nur auf den Kreis der litterati beschränkt bleibt und insofern ein Zustand hergestellt wird, der in der Antike selbstverständlich war. Denn weder bei Saluste noch bei Daires vergißt der RTr.-Autor darauf hinzuweisen, daß nicht nur jeder ein clerc merveillos, sondern der eine gleichzeitig auch reich und von hoher Geburt (V. 77 f.) und der andere ein tapferer Kämpfer (V. 93 f.) war. Ebenso heißt es von Ditis: Riches chevaliers fu Ditis E clers sages e bien apris E scientos de grant memoire: [...] (Ä7K,V.24397f.)

Aus der Reihe der drei antiken Romane schert der RE. insoweit aus, als kein Prolog und kein Epilog überliefert sind. Das heißt, der RE., so wie er auf uns gekommen ist, bedurfte keiner expliziten Intention. Verstanden wurde er als französische Übertragung der Aeneis. Der RTh. und der RTr. weisen sowohl einen Prolog als auch einen Epilog auf. Der Prolog ist in beiden Romanen in der Weise äußerlich parallel angelegt, daß zunächst das Verhältnis zur Antike und die Rolle des mittelalterlichen Autors von einem Ich-Erzähler erklärt werden. In einem Übergangsteil werden sodann die wesentlichen Fakten des zu erzählenden Stoffs angeführt, bevor - jeweils deutlich abgesetzt - die eigentliche Erzählung beginnt. In beiden Prologen kommt zum Ausdruck, daß man aus der Antike Erkenntnisse beziehen kann. Im RTh. ist allerdings eine Differenz zwischen antikem Wissen und dem Wissen, welches der Autor für sich reklamiert, zu bemerken. Das Wort sapience wird zwar sowohl auf die antiken als auch auf den mittelalterlichen Autor verwandt und macht so deutlich, daß Weisheit immer göttlichen Ursprungs ist, jedoch wird durch die gezielte Setzung der Possessivpronomina und den Begriff sen ein Unterschied markiert: Sen beansprucht der mittelalterliche Autor für sich allein als Fähigkeit zur Erkenntnis, die von der göttlichen Offenbarung abhängig und nur vom christlichen Standpunkt aus möglich ist. Daher ist der Autor des RTh. in der Lage, die Sünde als ursächlich für den Untergang Thebens zu erkennen. Indem an dieser Stelle der Begriff der Sünde eingeführt wird, ist dem Publikum ein deutliches Signal gegeben, wie das Folgende verstanden werden soll, nämlich auf der Basis der christlichen Lehre. Diese ist damit als universal ausgewiesen, und die mit der Erzählung des antiken Geschehens verbundene Textintention kann folglich im Epilog explizit als Warnung an das Publikum formuliert werden. Die Geschichte wird so zum Exempel. In 85

diesen Überlegungen ist wiederzuerkennen, was in der gelehrten Diskussion um die Rezeption der Antike gesagt wurde. Der RTh.-Autor beruft sich implizit auf die Position derjenigen, die behaupten, daß auch in den Werken der Alten eine allgemeingültige Wahrheit enthalten sei, die die moderni aufgrund ihrer höheren, im wesentlichen christlichen Warte entdecken können und nutzen sollen. Der Autor des RTr. indessen stützt sich auf den Ruf, den Dares unter den Gelehrten des Mittelalters als Historiker hatte. Er gebraucht die Begriffe sen und science nicht, um zwischen antikem und mittelalterlichem Wissen zu unterscheiden, vielmehr unterscheidet er, der die Kontinuität einer Tradition postuliert, zwischen wahrer und falscher historischer Überlieferung. Sein ausdrückliches Ziel ist, die wahre Geschichte vom Untergang Trojas wiederzugeben. Dementsprechend sieht sich Benoit als Autor nicht in der Rolle desjenigen, der einen enthaltenen sen aufdeckt, sondern in der Rolle des Übersetzers einer als wahr erkannten estoire. Anderssprachige Bearbeiter des Stoffes, die Benoit vielfach folgen und sich dennoch auf Dares und Diktys berufen, wie es Guido de Columnis ausschließlich tut, erkennen diese Rolle offensichtlich als erfüllt an. Benoits Konzept von Übersetzung beruhte dennoch nicht auf einer wörtlichen Nähe zu den Vorlagen, sondern darauf, den Stoff so zu erzählen, daß er richtig wirkt. Darin sieht er eine schriftstellerische Leistung, die er mit seinem Namen verbunden wissen will. Bei Benoit tritt erstmals in der Reihe der antiken Romane ein Bewußtsein von Autorschaft hervor, das von späteren Redaktoren immerhin insoweit anerkannt wurde, als sein Name von ihnen überliefert wurde. Benoit als Autor stellt auch besonders die Schriftlichkeit in der Tradition, die er fortsetzt, heraus und setzt sich von den Jongleurs ab. Er präsentiert sich als Verfasser eines Buches, «nostre livre» (V. 30302). Von späteren Generationen wird Benoit zusammen mit Chretien und anderen als menestrel bezeichnet72. Beide Prologe machen klar, daß ein historisches Geschehen erzählt wird; der RTr. aber untermauert die Historizität der Darstellung durch die Überlieferungskritik, die sich an dem im Mittelalter maßgeblichen Kriterium der Augenzeugenschaft und dem der Schriftlichkeit orientiert. Der historiographische Anspruch des Romans wird mit dem im Prolog mehrmals auftauchenden Wort estoire unterstrichen. Und der Wert dieser aufgezeichneten Geschichte ist so, daß sie der Textintention, nämlich zu unterhalten und zu belehren, allein genügt73. Diese literarische Nutzung entspricht seinem profanen Wissens- und Bildungsbegriff. Das in den Prologen des RTh. und des RTr. verweist jeweils auf einen Autor von gelehrter Bildung, einer Bildung, die das Wissen der Antike mit 72

Vgl. Miracle d'une none tresoriere, V. i if., zit. nach Französische Literarästhetik, ed. Molk, 75; Roman de Troie en prose, vgl. Anm. 74. 73 Schriftlichkeit, Augenzeugenschaft, Belehrung und Unterhaltung sind wesentliche Kriterien des mittelalterlichen Begriffs von historia oder estoire; vgl. Götz, «Geschichte», insbes. i8of. u.

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umfaßt. Beiden Autoren - und obwohl es ungesagt bleibt, sicherlich auch dem RE.-Autor - ist daran gelegen, dieser Bildung auch eine volkssprachliche Basis zu geben. Sie treten daher als Vermittler auf zwischen der lateinischen Kultur des Mittelalters und einem volkssprachlichen Publikum, das im Fall des RTh. ständisch differenziert wird. Dieser Absicht entsprechend muß der jeweilige historische Stoff, der in der antiken Vergangenheit so geformt wurde, daß er eine allgemeine, dem derc bewußte Bedeutung hat, in einer Weise dargeboten werden, daß diese Bedeutung einem mittelalterlichen Publikum ersichtlich wird.

Die Disposition über den Stoff Wenn wir auch nicht genau wissen, wie die Handschriften aussahen, die den mittelalterlichen Autoren vorlagen, und welche Textgestalt die antiken Romane in ihrer ersten Fassung hatten, läßt sich doch sagen, daß den volkssprachlichen Autoren sowie manchen der ihnen folgenden Redaktoren Handschriften der Thebais, der Aeneis bzw. der Historia des Dares und der Ephemeris des Diktys vorlagen. Sowohl die Textgeschichte als auch die Wirkungsgeschichte bezeugen, daß in den antiken Romanen immer Bearbeitungen, und sogar im Prinzip adäquate Bearbeitungen, der antiken Quellen gesehen wurden. Erst im 13. Jahrhundert, als man generell zu bezweifeln begann, daß die Wahrheit in Versen ausgedrückt werden könne, wird eine dementsprechende Kritik auch gegen den antiken Roman laut, was aber seine Verbreitung noch lange nicht beeinträchtigte74. Grundsätzlich wurde die Adäquatheit in der Bearbeitung der antiken Romane erst bestritten, als man anfing, sich wissenschaftlich mit ihnen zu beschäftigen. In vielen vergleichenden Untersuchungen wurde immer wieder und zumeist negativ registriert, wo die antiken Romane von den lateinischen Vorlagen abweichen, daß sie auf andere als auf ihre primären Quellen zurückgreifen und offenbar auch selbständige Veränderungen aufweisen. Die Disposition über den Stoff ist daher gut dokumentiert und in neueren Studien auch gut analysiert75. Im folgenden soll sie nach Bezugsebenen und Tendenzen zusammengefaßt vorgeführt werden: Wir unterscheiden im Hinblick auf den Erzähler, die Handlung, die Motivierung und die Inszenierung der Handlung. 74

75

«[...] je la [la veraie estoire de Troie] translatai en frangois et non pas par rime ne par vers, ou il covient par fine force avoir maintes menchoignes com font ces menestriez qui de lor lengues font mainte fois rois et amis solacier de quoi il font sovent lor profit et autrui domage, mais par droit conte selonc ce que je la trovai [...].» (Roman de Troie en prose, Epilog, ed. Williams, in: Williams, Laodamas, 148.) Vgl. die Einleitungen der Herausgeber sowie vor allem Cormier, Heart, 8if.; Donovan, Recherches, lyf.; Petit, Naissances, I, 24f. pass.; zu den weiteren vergleichenden Aufsätzen s. Bibliographie.

8?

In allen drei antiken Romanen gibt es einen Ich-Erzähler, der auf den jeweiligen Autor verweist, bzw., solange ein Begriff von Autorschaft nicht ausgeprägt war, auch auf die verschiedenen Bearbeiter verweist. Der im RTh. und im RTr. in der expliziten Textintention sichtbar werdenden Rolle des Autors als eines Vermittlers entspricht erzähltechnisch die Funktion dieses , das erzählt, perspektiviert, erklärt, kommentiert, wertet und Partei ergreift. Indem das auf den französischen Autor verweist und nicht auf den Autor oder Erzähler der lateinischen Vorlage, erscheint der französische Roman als neu erzählter Text. Äußerungen des lateinischen Autors oder Erzählers, wie z. B. Prologe, Epiloge oder Musenanrufe und Kommentare entfallen. Sämtliche Erzählerkommentare sind als Äußerungen des französischen Erzählers zu verstehen. Nie suggeriert das in den französischen Texten eine Identität mit dem in der jeweiligen lateinischen Quelle (wie es in einer modernen Übersetzung der Fall wäre), sondern es ist je nach Intention des Autors und seinem Verhältnis zur Quelle in unterschiedlichem Maß, aber immer deutlich, von diesem abgesetzt, am deutlichsten dort, wo der lateinische Autor genannt wird. Das geschieht im RE. nie und im RTh. nur dreimal, wobei zwei dieser drei in den Text eingestreuten Erwähnungen des Statius (an prominenter Stelle, wie dem Prolog oder dem Epilog, wird er bezeichnenderweise nicht genannt) zur Rechtfertigung einer Interpolation dienen (V. 2739 u. 8905). Benoit aber beruft sich 54 Male auf Dares oder Diktys76. Im Vergleich mit den anderen beiden Romanen ist auch die -Präsenz im RE. auffällig gering. Das tritt hier erstmals im V. 100 in Erscheinung. Weil im RE. darauf verzichtet wird, die Rolle des Autors, den Ich-Erzähler und die Beziehung zur Quelle hervorzuheben, erscheint der Roman weniger als subjektive mittelalterliche Gestaltung eines überlieferten Geschehens, aber auch nicht als Text Vergils in französischer Sprache, sondern zunächst als selbstreferentieller Text von objektiver Bedeutung. Und wie wir durch Heinrich von Veldeke wissen, konnte diese Bedeutung als Bedeutung der Aeneis verstanden werden. Hingegen will der Autor des RTh. seine Darstellung des Geschehens geben, und der des RTr. will aufgezeichnetes Geschehen, die Geschichte, weitergeben. Indem aber alle Erzähler in den antiken Romanen auf die mittelalterlichen Autoren verweisen, wird die intendierte Vermittlung zwischen Quelle und Publikum, wird das Erzählen des Romans zu einem Problem, dessen jeweilige Lösung erkennbar macht, wie und inwiefern die einzelnen tradierten Werke für ein mittelalterliches Publikum von Bedeutung sein können. In dem Geschehen aller antiken Romane, in all ihren Versionen, ist das Geschehen der jeweiligen Vorlage wiederzuerkennen. Dennoch ist in den Romanen in jeweils unterschiedlichem Umfang die Handlung der Vorlagen modifiziert. Es gibt Hinzufügungen und Streichungen, Umstellungen, Wei76

Petit, Naissances, II, 798. 88

terführungen, Zusammenfassungen77. Als bedeutungsvollste Modifikation im RTh. und im RE. ist zu nennen, daß die Götterwelt keine eigene, der irdischen parallel geordnete Handlungsebene mehr darstellt, obgleich - zumal im RE. - vom Handeln der Götter dennoch die Rede ist. Im RTr. dagegen ist alles Handeln Handeln von Personen. Benoit kann aber in diesem Punkt seiner Vorlage folgen und stellte eben diesen Umstand als Kriterium für die historische Authentizität der Vorlage heraus. Zu den wichtigsten Hinzufügungen im RTh. zählen der Ödipus-Vorspann und die vollständige Zerstörung Thebens durch Theseüs, den Herzog von Athen, am Schluß; die Monflor-Episode; die Verproviantierungsepisode; die Malpertus-Episode; der Rat der Barone, der Jocastes Friedensmission vorbereitet; die Daire-Episode, in der Salemandre als wichtige Figur neu eingeführt wird, sowie die Liebe von Parthenopieus und Anthigone. Ausgeführt wird das Liebesverhältnis von Athes und Ysmaine, welches bei Statius nur angedeutet ist. Gestrichen werden zahlreiche Namen von Personen und Orten, kultische Veranstaltungen und Praktiken sowie Begebenheiten, die sich bei Statius um die Haupthandlung ranken. Der RE. gibt zu Beginn eine knappe Zusammenfassung vom Untergang Trojas und fügt die Erzählung des Paris-Urteils als nachgeholte, in der Aeneis nicht enthaltene Vorgeschichte hinzu. Eine weitere Zutat des französischen Romans stellt die Mars-Venus-Episode dar. Nicht übertragen werden die Irrfahrten (Aen. III), stark gekürzt wird das fünfte Buch der Aeneis. Zahlreiche Eigennamen und Riten, wie zum Beispiel die Orakel, entfallen. Von einigen Personen, so von Anchises und Creusa, bleiben praktisch nur die Namen. Die Ausgestaltung und Weiterführung der Liebe zwischen Eneas und Lavine zum Schluß des Romans ist die auffälligste Ergänzung des französischen Autors. Auch im RTr. sind Hinzufügungen festzustellen: die Liebesbeziehung zwischen Tro'ilus, Brise'ida und Diomedes, ebenso die Episode mit dem Saietaire; die Gefangennahme des Thoas in der vierten Schlacht mit dem anschließenden Austausch gegen Antenor sowie das ritterliche Verhalten des Theseüs gegenüber Hector in der zweiten Schlacht mit seinen Folgen; der Argonautenzug, das Paris-Urteil und der Bericht über die Brüder Telemacus und Telegonus am Schluß des Romans. Nicht alle Eigennamen werden übernommen, teilweise werden neue erfunden. Allein durch den Umstand, daß der Göttersphäre im RTh. und im RE. keine eigene Handlungsebene mehr entspricht, die durchgehend in Beziehung zur Handlungsebene der Personen gesetzt ist, werden in diesen Romanen neue Begründungszusammenhänge nötig. An die Stelle der mythologisch begründeten Motivierung, oder, sofern diese noch rudimentär vorhanden ist, auch neben diese, können im RTh. und im RE. Motivierungen Zum RTh. s. die Synopse bei Petit, Naissances, I, 28f.; zum RE.: die Synopse bei Salverda de Grave (ed.), RE. Texte critique, XXXVII f.; zum RTr.: Constans (ed.), /?7r.,VI,2 34 f.

unterschiedlicher Art treten, die auf der Handlungsebene der Personen liegen. Das kann auch, wie im Fall der über die Griechen hereinbrechenden Dürrekatastrophe (RTh., V. 2113 f.), ein Zufall sein statt des Eingreifens des Bacchus (Theb. IV, V. 652 f.). Ebenso führt nicht Allecto (Aen. VII, V. 479 f.), sondern gleichfalls ein Zufall Ascamus zu dem zahmen Hirsch (RE., V. 3584 f.). In der Mehrzahl der Fälle aber sind die Ummotivierungen oder auch die zusätzlichen Motivierungen aus dem innermenschlich-psychologischen und dem zwischenmenschlich-gesellschaftlichen Bereich bezogen. Im RE. haben die Götter keinen Anteil an Camiles Tod; ihre «coveitise» (V. 7190) läßt sie zu einem leichten Opfer des Arranz werden. Nicht luturna, die Quellgottheit und Schwester des Turnus (Aen. XII, V. 222 f.), die es im Roman, in dem Turnus überhaupt keine göttliche Verwandtschaft hat, nicht gibt, sondern ein latinischer Ritter überredet seine Landsleute zum Vertragsbruch (RE., V. 9405). Eneas wird nicht durch das Eingreifen der Venus geheilt (Aen. XII, V. 411 f.), sondern durch den Arzt, der das Wunderkraut «ditan» selber kennt (RE., V. 9559f.)· Nicht ein von luno nach Absprache mit luppiter gesandtes Trugbild läßt Turnus sich vom Schlachtfeld entfernen (Aen. X, V. 606 f.), vielmehr ist es ein Bogenschütze, der ihn angeschossen hat, den er darum auf ein Schiff verfolgt, um ihn dort zu erschlagen, und weil der Anker bricht (zufällig und ohne lunos Zutun), trägt das Schiff schließlich den verzweifelten Rutuler davon. Amata, nicht luno entfesselt den Krieg in Italien (Aen. VII, V. 286 f.; RE., V. 3361 f.), und wie Thiel gesehen hat78, liegt das Vorbild für Amatas Monolog in den Worten der luno. Die Verbindung zwischen Eneas und Lavine ist im RE. mehr als ein Ergebnis des Zweikampfes zwischen Turnus und Eneas und auch nicht nur Erfüllung eines Weltenplanes. Sie wird als entstehende Liebe psychologisch motiviert und von Eneas (RE., V. 9347f.) als rechtens begründet. Im RTh. werden die Spiele nicht als Leichenspiele, sondern aus Freude über den Tod der Schlange abgehalten (Theb. VI, V. 249f.; RTh., V. 2587 f.)79. Nicht der von luppiter entsandte Mars schürt den Kampf (Theb. VII, V. i f.), vielmehr ist es ein Bote, der bei Adrastus auftaucht (RTh., V. 2851). Das Erscheinen des Kriegsgottes, wie es in der Thebais (VIII, V. 383 f.) geschildert ist, unterbleibt ebenfalls: der Wille zum Kampf ist auf beiden Seiten vorhanden (RTh., V. 5390f.). «C'est done la psychologic collective qui remplace la mythologie», kommentiert Petit diese Modifikation80. Dri'as hilft seinem König nicht, weil Mars es veranlaßt (Theb. IX, V. 841 f.), sondern aus Vasallentreue (RTh., V. 8621 f.). Bei Statius (Theb. IX, V. 144f.) taucht Tisiphone mitten im Kampfgetümmel in der Gestalt des Danaers Halys neben dem dennoch entsetzten Hippomedon auf, um ihn aus dem Kampf 78 79 80

Thiel, Eneasroman, 234. Die Passage ist interpoliert. Petit, Naissances, I, 223.

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zu locken; im RTh. (V. 6680 f.) übernimmt eine von Ethüocles geschickte Geisel diese Aufgabe. Und Ypomedons Tod im Fluß ist nicht Ergebnis des Kampfes mit einer wütenden Gottheit (Theb. IX, V. 462 f.), sondern Folge der Erschöpfung seines Pferdes (RTh., V. 8573 f.). Während bei Statius die kollektive eheliche Unlust, die allgemeine Zerrüttung der Ehen und schließlich der Männermord auf Lemnos darauf zurückgehen, daß man der Venus nicht opferte (Theb. V, V. 49 f.), ist dieselbe schreckliche Tat im RTh. eine «merveille», die als «outrage» der Lemnierinnen charakterisiert wird (V. 2323 f.). Zur Tötung der Schlange brechen die Griechen erst auf, als die Königin einen Anspruch auf Genugtuung geltend macht (RTh., V. 2587 f.). Und Jocastes Friedensmission wird möglich und notwendig, weil ein vorangehender Rat sich als handlungsunfähig erweist (RTh., V. 3745 f.). Die Vorbereitung und die Durchführung dieser Mission ist nicht emotional als Eingreifen einer verzweifelten alten Mutter (Theb. VII, V. 470f.), sondern als Auftritt einer Königin, die mit einem Rechtsauftrag handelt, inszeniert und motiviert (RTh., V. 4O37f.). Die rechtliche Aporie auf dem Rat über Daire löst ebenfalls Jocaste, indem sie Ethüocles die Ehe mit Daires Tochter Salemandre vorschlägt (RTh., V. 8033 f.). Überhaupt spielen die zahlreichen Ratszenen, die sich nur zum Teil in den Vorlagen finden81, in allen antiken Romanen eine wichtige Rolle, so daß man sagen kann, daß sie dazu beitragen, die Erzählung kategorial zu strukturieren. So wird in der Thebais die Entscheidung darüber, welcher der Brüder als erster den Thron besteigen soll, dem Los überlassen (I, V. 164). Im RTh. ist es eine juristische Entscheidung, die auf einem Rat gefällt wird (V. 573 f.), und als in Monflor Rat gehalten wird, zeigt sich, daß die Lösung der thebanischen Erbfolge für die Vasallen ein feudalrechtliches Problem darstellt (RTh., V. 3031 f.). Ebenso wird im RE. im Verlauf einer Ratsversammlung die Rivalität von Eneas und Turnus als Rechtskonflikt vorgeführt (V. 4107 f.); Eneas läßt auch die Weisungen der Venus, wie die, Troja zu verlassen, oder die, zu Euander zu gehen, durch einen Rat billigen (RE., V. 61 f. u. 4562 f.). Auch Benoit macht häufig von der Möglichkeit Gebrauch, die bei Dares und Diktys gegebenen Fakten durch einen Rat zu motivieren. Die Griechen halten zum Beispiel vor der ersten Zerstörung Trojas einen Rat (RTr., V. 2224 f.), die Trojaner nach der Zerstörung (RTr., V. 2978f.) und nach dem Wiederaufbau der Stadt einen weiteren (RTr., V. 3197 f.), auf dem beschlossen wird, von den Griechen die Herausgabe der verschleppten Königsschwester zu verlangen. Vor dem Angriff, der die zehnjährige Belagerung Trojas einleitet, legt Agamemnon die verfahrene Schuldsituation dar: «Tort ont eü, e nos greignor» (RTr., V. 6169) und fordert, man möge einen Boten zu Priant schicken, der Heleine zurückverlangen soll, damit man sich nicht ins Unrecht setze82. 81 82

Vgl. Petit, Naissances, II, iioSf. Diese Szene sowie die V. agySf. nimmt Petit nicht in seine Zusammenstellung auf.

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Das Handeln der Helden im Kampf wird vielfach persönlich motiviert, indem der Tod eines Helden die Rache eines anderen, der ihm nahestand, provoziert, so daß es zu einer Art Kettenreaktion kommen kann: Archilogus veit e entent Qu'Ector li a mort son parent E son ami, que mout amot: Tel aleüre come il pot Traire del destrier de Castele, Le vait ferir soz la mamele. (RTr.,V. 10849 f.)

Häufig fordern sich die Kämpfer mit provokativen Reden heraus, und dabei, wie auch in anderen Zusammenhängen, signalisiert die Metapher lo comparer stets, daß Taten oder Worte ihre Folgen haben. Persönliche Bindungen werden immer wieder hervorgehoben. Vasallität ist in allen Romanen eine handlungsbestimmende Kategorie. Aber auch Gefühle wie Liebe oder Freundschaft, Haß oder Abneigung können zur treibenden Kraft werden: Anthigone und Ysmaine im RTh., Dido und Lavine im RE., Medea, Brise'ida oder auch Penthesilee im RTr. sprechen und handeln als Liebende. Über die maisnie des Eth'iocles heißt es im RTh.: Chascuns couvoite por s'amie pris de faire chevalerie; (

., V. 1153 f.)

Thideüs übernimmt den gefährlichen Botengang zu Eth'iocles «pour l'amour de son compaingnon», Pollinicos (RTh., V. 1213). Nisus tritt aus «bone amor» (RE., V. 5233) für Eurialus ein. Achilles vertraut sich Antilogus, einem Freund und Verwandten an, nachdem er Ecubas Aufforderung, heimlich in den Apollotempel zu kommen, erhalten hat; dort sterben beide in der Falle, die die trojanische Königin vorbereitet hat. Die mittelalterlichen Autoren erlauben sich auch Retuschen an den Personen oder an deren Rolle. Im RTr. ist Hector deutlich herausgehoben, obwohl er, analog zur Beschreibung bei Dares, äußerlich nicht makellos ist: Er stottert und schielt ein wenig, jedoch steht ihm das, wie der Erzähler versichert, nicht übel (V. 533of.). Tydeus ist in der Thebais eher eine ambivalente Figur, charakterisiert durch Maßlosigkeit und Zorn (I, 41 f.); im RTh. ist Thideüs einer der besten Ritter. Auch Athes', Adrastus' oder Pollinices' Rollen erfahren sichtbare Veränderungen. Tydeus' grausiger, von Tisiphone geschürter Leichenfraß am Ende des achten Buches der Thebais wird nicht aufgenommen. Als im RTh. Thideüs Athes, der Eth'iocles aus Liebe zu dessen Schwester dient (V. 3748) und ein Bild von einem jugendlichen Ritter ist, unabsichtlich getötet hat (weil der ebenso stolze wie übermütige Jüngling ungerüstet war, wollte Thideüs den Kampf nicht), da beklagt der Ritter den Toten und weint (V. 5831 f.). Die Wandlung des Pollinices kommt ebenfalls in der Sterbeszene am eindringlichsten zum Ausdruck: Mitleid ergreift ihn ange92

sichts des soeben tödlich verwundeten Bruders (RTh., V. 9779); er nimmt ihn in den Arm und küßt ihm Augen und Gesicht. Als jener die Gelegenheit nutzt, um ihn umzubringen, spricht Pollinices: Frere[...] por coi m'as mort? Ce saches que fet l'as a tort; pour la pitie que j'oi de toi descendi ge em bonne foi. (

., V. 9799 f·)

Adrastus, der den Zweikampf der Brüder nicht verhindern kann, flieht bei Statius (Theb. XI, V. 424f.) und spielt im weiteren keine Rolle mehr. Im RTh. dagegen setzt der König den Kampf fort (V. 9817 f.). Im RE. ist Eneas gewählter Führer der trojanischen Flüchtlinge von Anfang an; als Sohn des Anchises und Mann der Creusa tritt er aber kaum in Erscheinung, und im Unterschied zur Aeneis wird er nicht fortwährend durch seine pietas charakterisiert. Latinus, der noch im zwölften Buch der Aeneis als eindrucksvolle Herrschergestalt auftaucht - «ingenti mole Latinus / quadriiugo vehitur curru, cui tempora circum / aurati bis sex radii fulgentia cingunt» (V. 161 f.) - schrumpft im RE. zu einem alternden Herrscher, der Ärger mit seiner Frau hat und die von ihm gewünschte Erbfolge weder bei dieser noch gegenüber seinen Vasallen durchsetzen kann. Als auch aus dem beschlossenen Zweikampf zwischen Eneas und Turnus nichts wird, weil ein latinischer Ritter die Seinen wieder zum Kampf aufstachelt, flieht der geplagte König mitsamt den von ihm herbeigeschafften Götterstatuen (RE., V. 9439 f.). Von den ekelerregenden Grausamkeiten, die Mezzentius bei Vergil zugeschrieben werden (Aen. VIII, 483 f.), ist im RE. nicht mehr die Rede. Die antiken Romane berichten nicht von einem Geschehen, sondern sie inszenieren es in der Regel und verfahren dabei weitgehend unabhängig von ihren Quellen. Am augenfälligsten ist das beim RTr., der, von den dürren Fakten bei Dares und Diktys ausgehend, eine Welt entwirft, in der Personen motiviert handeln und auf diese Weise Fakten schaffen. Was beim RTr. schon allein aufgrund der Differenz im Umfang zwischen Quelle und Roman hervorsticht, ist aber im Prinzip auch in den beiden anderen antiken Romanen der Fall. Die Namen der Handlungsorte, der wichtigen und auch einiger weniger wichtigen Personen, ebenso die Namen antiker Götter und die Kenntnis bestimmter Bräuche und Gegebenheiten sind aus den Vorlagen übernommen oder aus anderen Quellen ergänzt. Jedoch findet sich auch manche Zutat, die wohl allein auf das Konto der mittelalterlichen Dichter geht. Abweichend von jeder bekannten Vorlage werden gelegentlich Schauplätze und Bauwerke beschrieben, wobei vielfach eine wunderbare Pracht oder auch prächtige Wunder hervortreten. Beispiele sind Karthago mit Didos Palast im RE. (V. 407 f.); das wiederaufgebaute Troja mit dem Palast des Priant (V. 2999 f.) und insbesondere der «Chambre de Beautez» im RTr.; das siebentorige Theben (V. 5399 f.) oder Adrastus' Zelt mit der Weltkarte (V. 4217 f.) 93

im RTh. Grabmale sind häufiger Gegenstand von Beschreibungen. Der RTr. enthält eine ausführliche Geographie des Orients (V. 23i27f.)83. Wichtige Personen werden nicht nur äußerlich dargestellt, wobei auch die Kleidung besonders berücksichtigt werden kann (der RE. stellt hier in bezug auf Eneas und Lavine, deren Äußeres nicht geschildert wird, eine Ausnahme dar), sondern wir erfahren darüber hinaus, was sie denken oder fühlen und wie sie sich gesellschaftlich verhalten. In allen antiken Romanen gibt es Porträts von Personen, die funktional in die Erzählung eingefügt sind: Im RTh. zum Beispiel von Pollinices und Thideüs (V. 757 f.), Athes (V. 5767 f.), von Adrastus' Töchtern (V. 951 f.), Jocaste mit ihren Töchtern (V. 4040 f.) oder von Salemandre (V. 8000 f.). Im RE. von der zur Jagd aufbrechenden Dido (V. 1466 f.) oder - ganz ausführlich - von Camile (V. 3987 f.) und im RTr. von Medea (V. 1213 f.) oder Brise'ida (V. 5275 f.). Die Porträtliste im RTr. (V. 5093 f.) lehnt sich an Dares (XII) an, wobei einiges geändert oder ausgeführt wird84. Beispielsweise werden bei Helena Details wie «cruribus optimis» und «ore pusillo» (Dares XII, 15 f.) weggelassen, und es wird der Akzent auf die allgemeine Feststellung gelegt, daß die Griechin die schönste Frau überhaupt sei (RTr., V. 51 igf.). Die Auftritte der Personen werden vielfach als Dialoge oder Monologe inszeniert, und in allen antiken Romanen finden sich planctus. Neben der Außenwelt wird auf diese Weise auch die menschliche Innenwelt dargestellt. Im sozialen Verhalten gibt es neue Werte: Die Personen können cortois sein und handeln sowie einen gewissen Lebensstil pflegen. Das zeigt sich zum Beispiel bei Mahlzeiten und Festen. So heißt es über die Hochzeit des Edyppus mit Jocaste, seiner Mutter: Les noces font a grant baudor: la oissiez meint jugleor, meinte chanson viez et novele meinte gigue, meinte viele, harpes, salterions et rotes, rostruenges, sonnez et notes. (

., V. 477f.)

In den bekannten möglichen Vorlagen wird das Ereignis so nicht geschildert85. Während des Festes bei Euander - in der Aeneis eine divina res (VIII, V. 306) - lädt der König zum Essen: Haec ubi dicta, dapes iubet et sublata reponi pocula gramineoque viros locat ipse sedili praecipuumque toro et villosi pelle leonis accipit Aenean solioque invitat acerno. (Aen. VIII, V. 175 f.) "3 Vgl. Constans (ed.), RTr., VI, 2521". 84 Vgl. Constans (ed.), RTr., VI, 237f.; zu den Porträts allgemein: Petit, Naissances, I, 50of., und speziell im RTh.: Donovan, Recherches, . 85 Zu den möglichen Vorlagen: Donovan, Recherches, 4if.

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Im RE. geht es kultivierter und anschließend auch geselliger zu: Li rois a l'eve demandee, an bacins d'or fu aportee; Eneas lava et sä gent, puis mangierent molt richement. Ne sai conte dire des mes qui sovent vindrent et espes, ne des bons vins et des herbez, mais il an orent tuit asez. Eneas leva del mengier et apela un chevalier, se fist venir ses tumbeors, ses geus et ses anchanteors; devant lo roi, qui ot grant joie, lor fist fere les geus de Troie. (RE., V. 4771 f.)

Im RTr. werden ebenso das Verhalten und die Lebensart des Königs Priant hervorgehoben: Mout par esteit bons chevaliers, E matin manjot volentiers. Onques nul jor ne s'esmaia, Ne onques losengier n'ama. De sä parole ert venders E de jostise dreituriers. Contes e fables e chan9ons E estrumenz e noveaus sons Oeit: sovent s'i delitot, E Chevaliers mout honorot. Onques nus reis plus riches dons Ne sot doner a ses barons. (Ä7K,V.53oif.)

Zum geschilderten sozialen Verhalten der Personen zählen auch eine Reihe von Gesten wie das Überreichen eines Handschuhs (RTh., V. 2681 f.), das Führen des Pferdes der Freundin (RTr., V. 134261".; 4815^; 48461".) oder das Tragen eines von der Freundin überreichten Zeichens im Kampf (RTh., V. 4679f.; RE., V. 9329f.; RTr., V. 15176f.). Die siegreichen Helden nehmen oft die im Reiterkampf eroberten Pferde an sich oder schicken sie sogar wie Diomedes oder Parthonopieus der Freundin (RTh., V. 4591 f.; RTr., V. 14292 f.). Diese Reiterkämpfe, die es in den Quellen nicht gibt, sind ein Hinweis darauf, daß auch die militärischen Auseinandersetzungen im Hinblick auf Ausrüstung und Kampftechnik weitgehend von den Vorlagen abweichend inszeniert sind86. Es sind Ritterheere, die in den antiken Romanen 86

Es ist typisch, daß der Faustkampf, den sich Tydeus und Polinices in der Thebais liefern (I, 4i2f.: «turn vero erectus uterque / exsertare umeros nudamque lacessere pugnam»), im RTh., V. 749, zu einem Kampf mit Schwertern wird: «Venuz en sont a l'escremie». Zu der Inszenierung der Kämpfe allgemein: Constans (ed.), RTr., VI, 246f.; Petit, Anachronisme, 4if.; Petit, Naissances, I, 26if., 296f., 334f. 95

gegeneinander antreten, und zwischen Rittern und der gelde wird im RTh. und RTr. unterschieden. Gleichfalls wird eine differenzierte Gesellschaftsordnung vorgeführt: Es gibt Könige, Herzöge, Grafen, Barone, Bischöfe oder anders bezeichnete Kleriker und Bürger. Die mehr oder weniger weitgehende Entmythologisierung in den ersten beiden Romanen und das Zurückweisen mythologischen Erzählens im letzten bedeuten nicht, daß die dargestellte Welt eine Welt ohne Transzendenz wäre. In den antiken Romanen ist von Gott und den Göttern die Rede, von Fortune, vom Fatum, von einer destinee oder providence. Das Verhältnis dieser Instanzen untereinander, ihre Bedeutung für das Geschehen und die Beurteilung der Personen aber sind bisher ungeklärt. Neben der transzendentalen Dimension ist in den antiken Romanen auch das irdische Wunderbare vertreten; es begegnet in Sachen, bei Tieren, Menschen oder Wesen, die dazwischen liegen, wie dem Saietaire (RTr., V. 12353 f.), bei Gegenständen, Bauwerken. Es können Hexen, Feen oder Teufel auftauchen oder erwähnt werden87. Zusammenfassend ist festzustellen: Die Rezeption der antiken Stoffe im französischen Roman des 12. Jahrhunderts erfolgt programmatisch als Hinwendung zur antiken Vergangenheit, wie sie Bestandteil der lateinischen Kultur des Mittelalters war. Sie ist daher zunächst und vor allem eine Vermittlung zwischen dieser mittellateinischen Kultur und der volkssprachlichen. Ist sie als solche schon wegen der ständischen Verteilung der sprachlich-literarischen Kompetenz ein sozialer Vorgang, so lassen die materiell-finanziellen Voraussetzungen, die man sowohl für die Produktion als auch für die Rezeption solch umfangreicher Werke annehmen muß, weiterhin vermuten, daß für die Vermittlung nur ein Teil des volkssprachlichen Publikums in Frage kommt. Clercs und chevaliers werden im RTh. als Träger der neuen Gattung genannt. Die Autoren treten, wo sie sich äußern, als Vermittler auf. Sie stützen sich nicht nur auf den Text ihrer primären Quelle (wie immer die im Einzelfall ausgesehen haben mag), sondern bringen auch zusätzliche Kenntnisse, vor deren Hintergrund sie die Quelle für ihr Publikum interpretieren, den Inhalt auf das für sie wesentliche Geschehen reduzieren und gleichzeitig ergänzen oder abrunden. Letzteres zeigt sich besonders beim RTh. und beim RE., die beide eine Vorgeschichte am Anfang hinzufügen und vor allem mit immer größer werdender Freiheit die Geschichte einem eigenen Ende zuführen. Der .-Autor nimmt sich hier weniger Freiheit, muß aber, wo Dares und Diktys voneinander abweichen, zwischen den verschiedenen Versionen des Geschehens abwägen oder diese kombinieren88.

87 88

Joly (ed.), Benoit, I, 224f.; Dreßler, Einfluß, 54f.; Thiel, Eneasroman, 304!".; Frappier, Remarques, 24; Petit, Naissances, 1,221,434f., 436f., 5281"., 535 pass. Vgl. Joly (ed.), Benoit, 1,219; Constans (ed.), RTr., VI, 258. 96

Donovan und Petit haben mit Blick auf den RTh. aufgedeckt, was sich in bezug auf die Veränderungen in allen antiken Romanen sagen läßt: «Vraisemblance, rationalisation, clarification»89 bzw. ein «realisme plausible»90 seien die Prinzipien des Autors gewesen. Das ist sicherlich so richtig, und das ist auch nichts Ungewöhnliches. Es stellt sich aber angesichts der Texte, denen in der Forschung doch stets aufs neue die Verletzung dieser Prinzipien nachgesagt wurde, noch dringlicher und noch deutlicher die Frage nach dem der Vermittlung zugrundeliegenden spezifisch mittelalterlichen Verständnis der zitierten Begriffe. Der vermittelnden Intention der Autoren entspricht im Text die Funktion des Erzählers, der als Ich-Erzähler auftritt und das übernommene Geschehen so erzählt, daß es zu einer Geschichte wird. Das Problem, das der Text aufwirft, ist daher: Wie und unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen wird hier Geschehen zur neu erzählten Geschichte und welche Absicht wird damit verfolgt? Die Disposition über den Stoff, die wegen ihrer Eigenart immer wieder Erstaunen, wo nicht gar Entsetzen hervorgerufen hat, läßt erkennen, daß die Modifikationen in den französischen Romanen bestimmten Ebenen zuzuordnen sind: Sie betrafen zum einen den Erzähler, zum anderen die Motivierung und Inszenierung. Die Art der Modifikation auf den verschiedenen Ebenen ließ erkennen, daß sie bestimmten Konzepten folgt, die durch die Auffassung vom literarisch tradierten Geschehen und vom eigenen Erzählen sowie durch eine Vorstellung von der Vergangenheit, vom Individuum und der Gesellschaft bedingt sind und in Begriffen von Liebe, Recht, Schuld und Transzendenz konkret werden.

III. Die Autoren als Erzähler Die antiken Romane erzählen ein historisches Geschehen, das dem lateinischen Mittelalter in der handschriftlich tradierten, jeweiligen literarischen Form, die ihm in der Antike gegeben wurde, bekannt war, und ihre Autoren gestalten das Geschehen zu einer Geschichte, weil sie für das Mittelalter von Bedeutung ist - einer Bedeutung, die ihrem Verständnis der Vorlagen entspricht. Indem die mittelalterlichen Autoren dies tun, verändern sie die lateinischen Vorlagen, aber sie übernehmen auch vieles daraus. Doch weil sie die Geschichte aufs neue erzählen, ist es prinzipiell so, daß auch solche narrativen Elemente, die sie scheinbar unverändert aus ihren Vorlagen übernehmen, im Kontext der neuerzählten Geschichte eine andere Bedeutung entfalten,

89 90

Petit, Naissances, 1,249. Donovan, Recherches, 45. 97

als sie in ihrer Quelle hatten. Die antiken Romane sind auch in diesem Sinn Werke der französischen Literatur und als solche zu verstehen.

Präsenz und Perspektive Die Autoren äußern sich explizit nur im RTh. und im RTr. In allen drei antiken Romanen aber gibt es einen Ich-Erzähler, der auf den französischen Autor verweist oder mit dem sich auch Bearbeiter identifizieren konnten. Im RE. fällt jedoch auf, daß der Erzähler sich nicht mit der Häufigkeit nennt und sich auch nicht so oft direkt an das Publikum wendet, wie das im RTh. oder besonders im RTr. der Fall ist. Der Erzähler des RE. beginnt mit einer Vorgeschichte, die der Flucht des Eneas als Bericht vorangestellt ist. In dieser taucht er überhaupt nicht auf. Er nennt sich erstmals im V. 100, und das an einer Stelle, die einen erklärenden Einschub einleitet, der sich in der Aeneis nicht findet. Zum Urteil des Paris heißt es dort: L'acheison de cel jugemant voil reconter asez briemant. (Ä£.,V.99f.)

Aus gleichem Anlaß und mit demselben Begriff lautet es später: l'acheison de cel maltalant voil demostrer asez briemant. (RE., V. 4353 f.)

Weitere Belege der -Präsenz, wie V. 1878: «ne mervoil mie», V. 1969: «ce m'est avis», V. 2597: «ne m'en mervoil», V. 3955: «Ne sai que acontasse plus», V. 4001 f.: «Que diroie de sä bialte? / An tot lo plus lonc jor d'este / ne diroie ce qu'en estoit», V. 4500: «ce quit», V. 4775: «Ne sai conte dire des mes», V. 9433: «Ge ne puis mie tot nomer», haben insgesamt eher rhetorischtopischen Charakter, erwecken aber mit Versen wie 4775 oder 9433 auch den Eindruck, daß der Erzähler einem vorliegenden Geschehen gegenübersteht, und lassen ab Vers 3955 zuweilen eine eigene gestaltende Aufgabe erkennen. Vor allem jedoch unterstreichen sie weder die vermittelnde Funktion des Erzählers noch heben sie die Rolle des französischen Autors oder seine Beziehung zum lateinischen hervor. Diese planmäßige Zurückhaltung des wird noch klarer erkennbar in dem Faktum, daß der Erzähler im RE. gern zu unpersönlichen Ausdrücken wie «enuiz seroit» (V. 518, 828, 9492) oder «Molt sereit fort tot a nomer [...]»(V. 5641) greift, um sich zu äußern, in diesem Fall, um Beschreibungen einzuschränken. Entsprechend diesen Beobachtungen sind auch direkte Publikumsanreden kaum vorhanden. Wir finden eine im V. 3908: «vos sai ge bien nomer les nons.» Im RE. liegt somit eine unpersönliche, um Objektivierung bemühte Erzählhaltung vor. Diese Feststellung gewinnt an Kontur, wenn man den Roman mit den beiden anderen Repräsentanten der Gattung vergleicht. 98

Im RTh. und vor allem im RTr. ist das des Erzählers allgegenwärtig. Im RTh. nicht nur in mehr oder weniger rhetorisch-topischen Wendungen (V. 801, 1163, 2052, 2572, 3282, 3464, 4063, 5565), wie sie ebenso im RE. begegnen, sondern auch in persönlichen Äußerungen. Der Erzähler des RTh. macht von Anfang an klar, wer was erzählt: «ma reson veul conmencier», heißt es nach dem Prolog (V. 35), der die «geste» zweier Brüder als Gegenstand der Erzählung ankündigte, in allen Fassungen. Er verfolgt bestimmte ästhetische Vorstellungen, die er auch mitteilt, so daß der Eindruck eigenen programmatischen Erzählens entsteht: «Des mes ne vos quier fere fable» (V. 931); «par cele foi que je vos doi» (V. 8409); «dire vous doi» (V. 4043, vgl. V. 4949). Dazu zählt auch der gelegentlich ausgedrückte Wille zur Kürze: «Ne vos en quier fere lonc plet» (V. 6881; vgl. V. 6757, 3165). Der Erzähler gesteht auch eine Unkenntnis ein: «Aconsuit en barons de pris, / je ne sai pas ou nuef ou dis» (V. 1645 f.), und er bekennt sogar eigene Vorlieben: «Ce est coleur qui mout m'agree» (V. 5777). Immer wieder spricht er nicht nur in dieser Weise das Publikum an, sondern er greift zu diesem Zweck auch auf die Imperativisch oder konjunktivisch eingesetzten Verben oir, escouter, veoir oder savoir zurück1. Die Berufungen auf die Quelle im RTh. hat Petit in einem nach den Handschriften unterteilten Schema zusammengestellt, aus dem hervorgeht, daß der konservative Textzeuge S, von dem Petit sagt, daß er die älteste Redaktion des RTh. repräsentiere2, sich mit Abstand am wenigsten auf eine Quelle und überhaupt nicht auf die estoire beruft. Erkennt man darüber hinaus, daß von den sieben Quellenreferenzen, die Petit für C geltend macht, eine (V. 1059) auf einem Mißverständnis des Textes beruht und vier weitere (darunter die einzige mit dem Begriff estoire) interpoliert sind, so wird offensichtlich, daß die Berufungen auf die Quelle einer Tendenz späterer Bearbeiter folgen3. Der erste Satz nach dem Prolog im RTr. beginnt mit den Worten «Dirai vos done» (V. 145). Mit solchen oder variierenden Formulierungen wie «orreiz dire e conter» (V. 178), «orreiz parier» (V. 205), «porreiz o'ir conter» (V. 491), «vos sera toz contez e diz» (V. 619), «vos m'orreiz retraire» (V. 14434) usw., mit der Bitte, zuhören oder -sehen zu wollen und Wissen aufzunehmen, wendet sich der Erzähler fortlaufend an sein Publikum4, das er gelegentlich mit «Seignor» (V. 25714, 29219) anredet. Zweimal spricht er mit Bezug auf sein Werk von einer chanson. Beide Male im Zusammenhang mit der Erzählung von der ersten Zerstörung Trojas, und zwar je einmal am

1 2 3 4

S. Petit, Naissances, II, 758f. A.a.O.,II, 1186. Vgl. Petit, Naissances, II, 802; im Epilog von P wird «estore» später zum Schlüsselbegriff. S. Petit, Naissances, II, 759f.

99

Anfang und am Ende dieser Episode. Jedesmal werden dabei die Begriffe uevre und chanfon zusammengeführt: Mais qui or veut o'ir chanfon De la plus haute uevre que seit [...] (RTr.,V. 2068 f.)

und L'uevre e la chanson vos ai dite, Si com jo l'ai trovee escrite, (RTr.,V. 2827 f.)

Das historische Unternehmen (hier wie auch sonst häufig: uevre) und dessen literarische Darstellung (hier: chanfori) werden einander gegenübergestellt, und es ist auffällig, daß Benoit nur diese, der Thematik der Chanson de geste entsprechende und in sich geschlossene Episode, in der von nichts anderem als von der ersten Zerstörung Trojas die Rede ist, mit dem Terminus chanfon bezeichnet, obwohl er die Vortragsart gleichzeitig als dire beschreibt. Offenbar wählt Benoit den Gattungsnamen, um die von ihm erzählte Episode für sein Publikum historisch-inhaltlich sowie als Handlungsteil zu charakterisieren. Chanfon wird hier metaphorisch verwendet, wie auch chanter Metapher sein kann, die z. B. der Verfasser des Partonopeu de Blois gern verwendet (V. 507 pass.). Gemäß der vom Autor dargelegten Absicht beruft sich der Erzähler im RTr. ständig auf seine Quellen - 210 solcher Belege hat Petit gezählt5. Denn diese Quellen sind wahr. Sie sind es, weil sowohl Daires als auch Ditis Augenzeugen sind (V. 18970, 27047), und wahrhaftig ist der Erzähler, der ihnen folgt: «Solonc l'Autor en dirai veir» (V. 18877). Allerdings fällt auf, daß der Erzähler der Optik des Ditis offensichtlich weniger uneingeschränkt vertraut als der des Daires, von dem es in variierenden Formulierungen immer wieder wie im folgenden heißt: «Co dit Daires, qui pas ne ment.» (V. 15200) Indessen wird nie von Ditis allein behauptet, daß er die Wahrheit dargestellt habe, und das folgende Zitat zeigt die spürbare Skepsis, die der Erzähler gegenüber Ditis hegt. Über einen Kämpfer heißt es: A Troie vint, 90 fu la veire, E si me fait Ditis a creire Qu'il s'i combati par cine jors, [...] (RTr., V. 28229 f.)

Schon in dem Augenblick, als der Erzähler den Autor seiner neuen Quelle vorstellt, wird der Vorbehalt deutlich; denn, so wird gesagt, Ditis war ein Ritter im griechischen Heer, und: «Les uevres, si come les sot, Mist en escrit 5 A. a. O., II, 797. 100

come il mieuz pot.» (V. 24403 f.) Ditis schreibt, was er sieht, und sein Bericht ist insofern wahr, aber er sieht das Geschehen aus griechischer Perspektive. Deshalb ist der Erzähler ihm gegenüber zurückhaltender, und das läßt er erkennen. Der Erzähler wird seinem Publikum auf diese Weise zum Garanten einer historischen Wahrheit, was er mit Wendungen wie «c'est la verte» (V. 21663), «£os puis bien dire senz mentir» (V. 4772) oder «jol vos plevis» (V. 19219) u. ä. gern unterstreicht. Daher will er auch nicht über seine Quellen hinausgehen; denn von ihnen hängt ab, was er weiß und was nicht. Autre gent ot a Troie assez, Riches, sages e renomez, Dont n'est ci faite mention Ne recontee lor fa9on: El Livre n'en truis plus escrit, Ne de nul Daires plus n'en dit. (Ä7r.,V. 55 77f.)

Und manchmal heißt es dann auch: «[. . .] jo n'en sai plus.» (V. 19094 pass.) Oder: Mais ceus des lor qu'il i tramistrent Ne sai nomer: nel truis escrit, Ne l'Estoire pas nel me dit. (RTr.,V.

Weil der Erzähler ein solches Bild von sich entwirft, kann estoire im RTr. sowohl die Quelle (wie im Zitat) als auch den Roman als deren Wiedergabe bezeichnen. Und wenn der Erzähler seinem Publikum gesteht: «Ne vos puis dire chose certe» (V. 24729), dann bedeutet das, daß es im Prinzip eine Gewißheit des Faktischen gibt, bloß ist sie in diesem Fall nicht zugänglich. Häufig und angesichts des Werkumfangs erstaunlich sind andererseits die zahlreichen Bekundungen, die den Willen zur Kürze ausdrücken6, wobei im folgenden Fall auch an das Publikum gedacht wird: Ne puis tot dire n'aconter, Qu'enuiz sereit de l'escouter, £o que chascuns fist endreit sei. (Ä7r.,V.i2 3 37f.)

Wenn es an anderer Stelle ähnlich heißt: «N'est mie lieus de tot retraire» (V. 6517) oder «Ne puis toz les respons retraire» (V. 10551), wird in solchen selbstauferlegten Beschränkungen deutlich, daß der Erzähler einer historischen Totalität gegenübersteht. Da er aber auch stets seine vollkommene Abhängigkeit von Dares und Diktys betont und die von diesen vermittelten Fakten gleichzeitig nur als Elemente für seine Darstellung des Geschehens benutzt, wird klar, daß dem Autor die historische Totalität durch die Berichte der Augenzeugen Dares und Diktys weitgehend rekonstruierbar erscheint. A.a.O., II, 770f.

Wie aus den Äußerungen des Erzählers hervorgeht, wird im RTr. die Rückkopplung von Autor und Erzähler immer wieder vollzogen. Ganz besonders deutlich aber wird das im folgenden Zitat: Dreiz fust e biens, 90 m'est a vis, Que cestes terres vos nomasse E que les choses devisasse Dont ci est faite mencion; Mais n'est or lieus ne ne poon: Trop grant estuide i covendreit, Qui de trestot parier voudreit. Tant par en est grant la matire Que, quil comencereit a dire, Ne sereit pas sempres a fin: Trop i covendreit parchemin. Ici covient que jo m'en taise, [...] (/?7>.,V.23i92f.)

Anschließend sagt Benoit, welches Werk er gern schreiben möchte. Solche Bekundungen belegen auch, daß im RTr. programmatisch erzählt wird. Eine ästhetische Reflexion zeigt sich ebenfalls, wenn der Erzähler angesichts der Dramatik des Geschehens ausruft: Ne sai com seit par mei contee, Ne sai com nus la puisse o'ir. (RTr., V. 15240f.)

Dort, wo das Erzähler- in den antiken Romanen auftaucht, verweist es auf die mittelalterlichen Autoren bzw. Redaktoren und läßt erkennen, daß ein vorliegendes Geschehen vermittelt wird, wobei im RTh. und besonders im RTr. die Tatsächlichkeit des Geschehens von Anfang an beansprucht wird. Das gibt die Erzählung als seine Geschichte, wie im RTh., als eine Geschichte, wie im RE., oder als die Geschichte, wie im RTr., aus. Im RTh. und im RTr. wendet sich dieses häufig an ein Publikum, das es in der zweiten Person Plural anspricht, und es ist zu vermuten, daß diese werkimmanent aufgebaute Kommunikationssituation der realen Erzählsituation zur Zeit des Erscheinens der Romane und noch lange Zeit danach als Regelfall entsprochen hat. Solange Literatur vorgetragen wurde, konnte die Funktion des Erzähler-Ichs von einem Vortragenden verkörpert werden. Weiterhin kann man davon ausgehen, daß Autoren und Redaktoren die Erzählfunktion des zunächst im eigenen Vortrag selbst realisiert haben. Unter Berücksichtigung der raschen und weiten Verbreitung der antiken Romane aber muß man gleichfalls in Betracht ziehen, daß die Rolle des Erzählers ebenso von anderen Vorlesern werden konnte, so wie in dem (im 12. Jahrhundert sicherlich seltenen) Fall der individuellen Lektüre eine Kommunikation zwischen Erzähler und Publikum auch von einem Leser nachvollzogen werden konnte und kann. Benoit hat als erster ausdrücklich die Figur des Erzählers mit seiner Lei102

stung als Autor und auch mit seinem Namen verknüpft, sich so einem Publikum präsentiert und sich so einen Namen gemacht. Denn diese Verknüpfung ist in der Textgeschichte immer bewahrt worden, obwohl sie nur in der ersten Phase der Rezeptionsgeschichte der realen literarischen Kommunikation entsprochen hat. Ist aber - und das betrifft im Grunde alle Romane - die Personalunion von Autor und Vortragendem nicht mehr gegeben, wird das im Roman doppelt funktional, indem es zum einen auf den Autor verweist und zum anderen den Erzähler repräsentiert, dessen Funktion von einem Vortragenden realisiert wird7. Die Doppelfunktionalität markiert eine literarhistorische Entwicklung und ist ein Charakteristikum der neuen Gattung. Sie ist Ausdruck von deren Schriftlichkeit von Anfang an, die das Buch zum materiellen Träger der literarischen Kommunikation hat. Diese Art der literarischen Kommunikation bewirkt einen Bewußtseinswandel, der als neues literarisch-soziales Phänomen einen Begriff von Autorschaft hervorbringt, wie er in der Reihe der antiken Romane im RTr. erstmals explizit dargelegt wird und im RTh. seine Wirkung im Prolog von y zeitigt. Bezeichnenderweise verbindet der Erzähler im Yvain (V. 5366) die Feststellung, daß jemand «un romanz» liest, schon mit dem Kommentar: «ne sai de cui». Die ersten volkssprachlichen Autoren, die wir mit Namen kennen, sind Benoit, der Verfasser von Brendans Seefahrt, Philippe de Thaon, Alberic und Wace. Von Alberic wissen wir nur durch seinen deutschen Bearbeiter Lamprecht. Die übrigen Autoren stehen alle in einer Beziehung zum englischen Königshaus und seinem Mäzenatentum. Benoit de Sainte-Maure reiht sich hier ein. Wenn sich die Autoren des RTh. und des RE. nicht namentlich nennen, so könnte dies ein Hinweis darauf sein, daß die Romane keiner Person oder keinem bestimmten Hof direkt zugedacht waren. Wenn aber der RE. ebensowenig Vergil erwähnt und die Berufungen auf die Quelle im RTh. erkennbar einer Tendenz späterer Bearbeiter folgen, so dürfte das - wie schon gesagt - zu einem Teil daran liegen, daß ein Begriff von Autorschaft noch nicht allgemein ausgebildet war, zu einem anderen, gleichwohl mit dieser Feststellung zusammenhängend, auch an der Selbstauffassung der Autoren, wie sie in der werkimmanent aufgebauten Kommunikationssituation faßbar wird. Im RTr. läßt sich diese Kommunikation in dem Satz 3080, 3083 pass.). Der RTr. greift das Motiv des «terre querre» wieder auf (V. 27373), und das folgende Zitat bezieht sich sehr wahrscheinlich auf den RE.: E Eneas s'en fu alez, Ensi com vos avez, Par mainte mer o sä navie, Tant qu'il remest en Lombardie. (RTr., V. 28253f.) 2

nimmt an ihr teil, wenn hier im Stil der vision avec erzählt wird. Eneas aber ist orientierungslos, verzweifelt ruft er im Seesturm: Por coi ne m'ocistrent li Greu? En grant he m'ont coilli li deu; ne puis an terre converser et noauz ai an ceste mer; molt lunguemant m'ont travaillie, si n'ont de moi nule pitie. Promise m'ont ne sai quel terre, ne sai ou ge la puisse querre; (RE.,V. 2i9f.)

Erst allmählich und etappenweise wird ihm die terre promise durch den wiederholten Götterbefehl in Karthago, durch die Traumerscheinung seines Vaters und schließlich durch dessen Worte in der Hölle genauer offenbart. Da aber der Erzähler an keiner Stelle die Prophezeiung bestätigt und das Ende des Romans vorwegnimmt, ist die Spannung im RE. grundsätzlich doppelter Natur: Sie beruht auf der Frage, ob die Prophezeiung Wirklichkeit wird und, wenn ja, wie sie Wirklichkeit wird. Ist die jeweilige Spannung in den Romanen erst einmal grundlegend gesichert, bleibt sie prinzipiell auch solange bestehen, bis das Ende der Erzählung erreicht ist, und die Aufteilung in Erzählabschnitte wirkt in sich schon spannungsfördernd, da das Ende eines Abschnitts immer nur ein vorläufiges ist und die Unterbrechung der Erzählung stets die Frage aufwirft: Wie geht es weiter? Der Erzähler kann dieses Moment akzentuieren. Wo sie vorhanden sind, tun die Vorausdeutungen und Vorgriffe der Erzähler ein weiteres, um das Interesse am Fortgang der Handlung konstant wachzuhalten. Dieses wird besonders deutlich, wenn sie zu diesem Zweck an den Übergängen zwischen den Erzählabschnitten eingesetzt sind. Im RTh. ist das zwischen dem ersten und dem zweiten sowie zwischen dem zweiten und dem dritten Abschnitt der Fall. Funktional präzise plaziert findet sich hier beide Male am Schluß eines Abschnittes eine Vorausdeutung. Der erste Abschnitt endet mit den Versen: Droit a Thebes pranent lor voie, les destroiz passent de Nemoie et le regne Lygurge al roi ou il durent morir de soi. (RTh.,V. 2io9f.)62 Der zweite: Si firent il: ainz qu'il fust nuit, en morurent soissante et uit. Pour neant et pour legerie coumen9a le jour la folie. (RTh., V. 45o7f.) 62

S und y fügen vier bzw. zwei verdeutlichende Verse hinzu. 148

Im RE. ist das nur einmal und nicht sehr detailliert der Fall. Zum Ende des zweiten Abschnittes heißt es: Cele parolle creanterent tuit li baron qui iluec erent, par main les iront asaillir; ja n'i cuident a tens venir, que li Troi'en ne s'en fuient, mais molt sont fol quant il lo cuident: issi ne s'an iront il pas. (RE., V. 4237f.)

Offenbar kann der Erzähler dieses Romans auf solche spannungsfördernden Eingriffe verzichten, weil hier einsträngig erzählt wird und die grundlegende Ob- und Wie-Spannung bestehen bleibt, solange Eneas nicht am Ziel ist, so wie im episodisch erzählten RTh. die einschlägigen Eingriffe mit dem Beginn der Kriegshandlungen vor Theben aussetzen, also von dem Augenblick an, wo die Beziehung des Darzustellenden zum angekündigten Ende evident ist. Den systematischsten Gebrauch der abschnittspezifisch spannungsfördernden Vorausdeutung, in Form von Erinnerungen an das Ende, Ankündigungen oder Vorwegnahmen, finden wir im RTr. Der Erzähler macht davon am Ende folgender Abschnitte Gebrauch: I, II, III, IV, V, VI, VIII, X, XI, XII, XIII, XIV. Im neunten Abschnitt wirkt die betonte Vorläufigkeit des Endes allein spannungsfordernd; in den letzten Abschnitten werden einzelne Handlungsstränge zu Ende geführt. Eine weitere für die Fortsetzungsstruktur typische Technik, die darauf abzielt, das Interesse eines Publikums nicht abbrechen zu lassen, wird ebenfalls vom Erzähler des RTr. genutzt. Da seine Erzählung mehrsträngig angelegt ist, besteht für ihn die Möglichkeit, einzelne Handlungsstränge oder Phasen davon in einem Abschnitt zu Ende zu führen, andere dagegen zu unterbrechen und über mehr als einen Abschnitt zu verteilen. Die Verteilung der Handlungssegmente auf die Erzählabschnitte macht deutlich, daß vor allem mit den Liebesbeziehungen so verfahren wird. Zur Fortsetzungstechnik gehört neben der möglichst effektvoll auf weiteres Interesse zielenden Unterbrechung der Erzählung auch ein bestimmtes Verfahren ihrer Wiederaufnahme, das zur Orientierung des Rezipienten dient und vielleicht auch seine Neugier auf den neuen Abschnitt weckt. Den zweiten Erzählabschnitt beginnt der RTh. mit einer zeitlichen Angabe und einem knappen Rückgriff auf bereits Erzähltes: «En cel termine que l'ost mut / tarda un mois c'onques ne plut [...]» (V. 21 ißf.), den dritten mit einer örtlichen Bestimmung und einem die Spannung wiederbelebenden Hinweis: En la vile une guivre avoit, souz ciel sä per hom ne savoit. O'ir em pouez grant merveille;

(

., V. 45 n f.) 149

Der vierte Abschnitt knüpft mit einer knappen Zeitangabe an den vorangehenden an: «L'endemain apres relevee» (V. 6199), und der letzte tut das ebenfalls mit einem Hinweis auf das bisherige Geschehen und dessen Dauer: Cil dedenz et eil dehors sont grant piece qu'il ne se forfont, et neporquant pas ne s'entraiment, mout fort se heent et se craiment. (RTh.,V. 8163f.)

Im RE. beginnt der zweite Abschnitt mit einer Angabe über den Ort, an dem sich die Hauptperson des Romans derzeit befindet; damit verbunden ist eine knappe Erinnerung an die queste: Eneas est an haute mer, qui nen a soing de retorner; ne voit terre nule partie; aler an velt an Lonbardie, (RE.,V. 2i45f.)

Das hier verwendete Präsens dient dazu, die Szene, die den Wiedereinstieg in das Geschehen bildet, zu vergegenwärtigen. Der dritte Erzählabschnitt fängt mit einer knappen Erinnerung an das im vorhergehenden Erzählte an, die als Information über den Kenntnisstand der auch hier namentlich genannten Hauptperson gestaltet ist: Bien avoit Eneas que Turnus asanblot sä gent; (Äe.,V.4244f.)

Der vermutete vierte Abschnitt beginnt wiederum mit einer indirekten Erinnerung an Vorangehendes und enthält eine Zeitangabe. En l'ost n'orent pas lor seignor; en l'andemain matin al jor li conte et li due s'asenblerent [...] (RE., V. 5999f.)

Der Einstieg in den letzten Abschnitt enthält einen Rückgriff und einen Vorgriff: Buenes triues et seürte ot antre £als de la cite et 9als defors de l'autre part; nus d'aus n'a de l'autre regart que il lo coit ne qu'il l'asaille desi qu'al jor de la bataille. (RE., V. 8o25f.)

Verfahren der Wiederaufnahme der Erzählung sind in verschiedener und unterschiedlich markanter Gestaltung auch im RTr. zu beobachten, der auch in diesem Punkt an einigen Stellen eine gewisse Perfektion erkennen läßt. Zu

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Anfang des zweiten Erzählabschnitts wird in der Form eines indirekt wiedergegebenen Personenberichts schon Erzähltes wiederholt (V. 20791".). Anschließend wird mit einer ausdrücklich an das Publikum gerichteten Vorausdeutung und einem Quellenverweis auf den Gegenstand des neuen Erzähltages übergeleitet: Si com reconte li Escriz, Mut le damage et tot l'afaire Que vos orreiz hui mais retraire. (RTr.,V. 2io6f.)

Der erste Vers im dritten Abschnitt signalisiert den Eintritt in eine neue Phase des Geschehens mit einer lyrisch stilisierten Zeitangabe; es handelt sich bezeichnenderweise um den Raub der Helena, der so eingeleitet wird: «El meis que chantent li oisel» (V. 4167). Der vierte Abschnitt beginnt mit einer Publikumsanrede, die eine Wahrheitsbeteuerung enthält, und knüpft inhaltlich an den dritten an (V. 5703^). Der fünfte setzt ebenfalls die Erzählung fort und beginnt mit einem neuen Tag (V. 7641 f.). Der sechste Abschnitt beginnt mit einer knappen Wiederholung (V. ioi87f.) und der siebte mit einem neuen Tag (V. 11995). Abschnitt VIII setzt ohne besondere Einleitung abrupt mit der Fortführung des mit Brise'ida verbundenen Handlungsstranges ein (V. I326if.). Zu Anfang des neunten wird ebenfalls abrupt Andromacha als Hectors Frau aufs neue vorgestellt (V. 15263^; sie wurde bereits Vers 55i9f. porträtiert und beweinte ihren Mann schon im Vers 10233^ Der zehnte Abschnitt hat eine ausführliche Einleitung mit einer Zeitangabe im ersten Vers und einer Erinnerung an den Verlust Hectors im zweiten: «Quant icil anz fu acompliz Qu'Ector fu morz e seveliz» (V. I7489f.). Es folgt eine knappe Darstellung der Feierlichkeiten zum Todestag, die Überleitungscharakter hat. Darin ist ein Hinweis auf die noch bevorstehende Einnahme Trojas untergebracht (V. 17510) und gleichfalls die direkt an das Publikum gerichtete Ankündigung der Liebe des Achilles als neuen Erzählgegenstandes für einen neuen Tag, die mit einer Vorausdeutung verbunden wird: Veüe i a Polixenain Apertement en mi la chiere: C'est l'acheison e la maniere Par qu'il sera getez de vie E Tarne de son cors partie. Oez com fait destinement! Hui mais orreiz com faitement II fu destreiz por fine amor: Mar vit one ajorner le jor.

(RTr.,V. I754of.) Der elfte Abschnitt beginnt: Des or porreiz our hui mais La trezime bataille apres: Beneeiz, qui l'Estoire dite, Oez queinement l'a escrite. (RTr., V. 192051·.)

Der zwölfte verbindet eine Zeitangabe mit einer Vorausdeutung: Le jor de cest assemblement I ot mout grant torneiement: De ceus dedenz i fu la flor E li plus riche e li meillor, Baut e haitie. £o m'est a vis, Poi dotent mais lor enemis: Laidiz les ont e desconfiz Par set feiees o par diz. (RTr., V. 2o883f.)

Abschnitt XIII fängt mit einer Zeitangabe an: Es ist Juni (V. 22599). Der Beginn des vierzehnten Abschnitts ist besonders markant: Ditis, Autor der von jetzt an benutzten Hauptquelle, wird vorgestellt, und es werden die Fakten vorweggenommen, die Ditis folgend erzählt werden sollen (V. 24397^). An das Publikum gewandt, heißt es: «Des ore i feit buen escouter» (V. 24424). Abschnitt XV bietet eine Synchronisierung am Anfang (V. 25945); XVI beginnt mit der Ankündigung des neuen Themas, der Heimkehr der Griechen (V. 27548^), was mit dem Versuch verbunden wird, das Publikum für einen neuen Erzähltag in gespannte Erwartung zu versetzen: Horn qui vive n'orra ja mais A nule gent 90 avenir, Que vos porreiz hui mais oi'r. (RTr., V. 27558f.)

Dem letzten Abschnitt ist eine Einleitung gegeben, die eine Ankündigung und eine Synchronisierung enthält: Des or voudrons retraire apres Coment li fiz dant Achilles Erra, qu'il fist ne qu'il devint. En dementres que 90 avint, Que del peril fu eschapez Qui ariere vos est contez, Si vint a port [...] (JWK,V.29079f.)

In diesen Einleitungen der einzelnen Abschnitte werden immer wieder der Standort des Erzählers, sein Anspruch auf Wahrheit, seine Quellen und seine historische Perspektive betont. Insgesamt können wir festhalten, daß die Technik der Überleitung als Element der Fortsetzungsstruktur, das für den Rezipienten eine Orientierungshilfe ist und sein Interesse konstant wachhält oder neu weckt sowie auch lenkt, bei Benoit am weitesten entwickelt ist. Die antiken Romane lassen alle eine Fortsetzungsstruktur erkennen, im RTr. jedoch findet sie ihre perfektionierteste Ausprägung. Alle Romane erzählen chronologisch eine Geschichte. Sie haben eine oder mehrere Hauptfiguren, die im Zentrum der Geschichte stehen und durchgehend oder in mehreren Abschnitten präsent sind. Es gibt Nebenpersonen, bei denen das nicht der Fall ist. Der RTh. erzählt die Geschichte episodisch-sukzessiv, der RE. 152

einsträngig-sukzessiv und der RTr. mehrsträngig-sukzessiv. Diese Anordnung der Handlung läßt Abschnitte entstehen, die einerseits relativ geschlossen sind und eigene Höhepunkte haben. Sie bringen die Handlung jeweils ein Stück vorwärts, doch mit Ausnahme des letzten Abschnitts nicht zu ihrem Ende. Indem die Romane so aufgebaut sind, tragen sie unterschiedlichen Rezeptionsweisen Rechnung. Im Prinzip kann jeder Leser die Romane lesen, wie er will. Das ist immer so. Dennoch steht jeder Leser, ob es ihm bewußt ist oder nicht, unter der Wirkung, die mit literarischen Mitteln im Text angelegt ist, und diese Mittel sind abgestellt auf bestimmte Rezeptionssituationen. Alle Romane sind so gestaltet, daß sie ein Publikum vom ersten bis zum letzten Vers fesseln sollen. Die Romane lassen aber Abschnitte erkennen, die der Text als Leseeinheiten nahelegt und die zumindest im 12. Jahrhundert als Vortragseinheiten wahrscheinlich sind. So konnte auch jemand, der nicht Gelegenheit hatte, einem sich auf fünf oder gar über siebzehn Tage erstrekkenden Vortrag zu folgen, an dem Hören einzelner Abschnitte seine Freude haben, zumal wenn ihm die Geschichte in Grundzügen bekannt war und er wissen möchte, wie sich ein Teil davon in Einzelheiten abspielt oder er aus einem anderen Grund erleben möchte, wie ein Teil davon erzählt wird, vielleicht um ein packendes Kampfgeschehen, eine Liebesszene, einen amüsanten Dialog oder die interessante Darstellung von innermenschlichen Vorgängen zu genießen. Vorstellbar ist auch der Vortrag in Auszügen als unterhaltende Einlage bei einem Fest, sei es eines Abschnitts oder eines besonderen Handlungsteils daraus, der in irgendeiner Weise ein literarisches Glanzstück darstellt. Und natürlich ist unabhängig von der jeweiligen Art der Rezeption ein grundsätzliches Interesse an dieser Literatur und literarisch-geselliger Unterhaltung anzunehmen: eine Freude am Erzählen und ein Interesse an der Darstellung der Vergangenheit. Die Sicht der Vergangenheit aber ist standortgebunden, und, wie A. Döblin über die Verbindung von Literatur und Geschichte sagt, «mit Geschichte will man etwas»63.

Standort und Parteilichkeit Dem Überblick des auf die mittelalterlichen Autoren verweisenden Erzählers über das literarisch tradierte Geschehen der Vergangenheit entspricht eine historische Perspektive mit einem publikumsbezüglich zeitgenössischen, mittelalterlichen Standort, der um so deutlicher hervortritt, je höher die Präsenz des Erzähler-Ichs im Roman, je akzentuierter die Differenz zwischen Geschehenshorizont und Berichtshorizont ist. Diese Differenz bildet die Basis, auf der die Erzählerkommentare erfolgen. Während das szenische Erzählen 63

A. Döblin, Der historische Roman und wir, in: ders., Aufsätze zur Literatur, ed. W. Muschg, Ölten u. Freiburg 1963,173. 153

die Vergegenwärtigung des Geschehenshorizontes und damit die Objektivierung der Darstellung bewirkt, erfolgen die Erzählerkommentare aus dem Berichtshorizont heraus. Sie dienen zum einen der Strukturierung der Erzählung und so auch der Orientierung eines Publikums. Sie können weiterhin das Geschehen oder dessen Wiedergabe erläutern sowie Besonderheiten der dargestellten Welt betreffen und, der vermittelnden Rolle der Autoren entsprechend, instruktiven Charakters sein. Bei Benoit nehmen sie mit der Beschreibung der Welt und des Amazonenreichs die Gestalt eines Exkurses an. Erzählerkommentare der erläuternden und instruierenden Art sind Bestandteil der Inszenierung der Vergangenheit und der deutenden Ordnung des Geschehens. Daneben aber gibt es Erzählerkommentare, die zur Handlung und zu den Personen wertend Stellung nehmen und es daher erlauben, den Erzählerstandort inhaltlich genauer zu fassen. Im RTh. werden die wichtigen Personen durchaus unterschiedlich bewertet. Edyppus ist ein «jouvenciaux» (V. 226), von ihm heißt es: «preuz fu et genz, sages et granz» (V. 138; P hat: «Dont fu ml't biaus», A: «Ml't estoit biaus et apparans», ed. Constans, V. 142). In y folgen 22 Verse, in denen Edyppus auch «courtois» genannt wird (ed. Constans, App. III, V. 349). «Edyppus fu cortois et prouz», sagt der Erzähler (V. 309; S: «fu sages», A: «fu vaillans», ed. Constans, V. 271). Diese Charakterisierung wird im V. 403 wiederholt, wobei y hier «sages» statt «proz» bietet, in allen Handschriften aber steht «cortois» an dieser Stelle im Reim (ed. Constans, V. 359). «Nobles» und «cortois» erscheint Edyppus auch den Thebanern (V. 373; «nobles» steht nur in x, in allen Fassungen jedoch steht «cortois» im Reim, ed. Constans, V. 331) und ebenso wirkt der «danzel» (V. 407) auf Jocaste, die daraus auf eine hohe Abkunft schließt, mit der fatalen Folge, daß sie ihm ihre Zuneigung schenkt: cortois le vit et gent et bei; bien semble houme de grant parage, mout li plest bien en son corage. (RTh., V. 4o8f.)64

Über Jocaste hören wir zu Anfang wenig. Doch kommentiert der Erzähler ihren schnellen, mit einer mittelalterlichen Rechtsgeste ausgedrückten Verzicht auf Rache an demjenigen, der ihren ersten Mann tötete und ihr zweiter werden wird, mit der verallgemeinernden Feststellung: «car fame est tost menee avant, / qu'en em puet fere son talent.» (V. 44if.) Später aber lautet es über sie in allen Handschriften ähnlich «mout ert bone dame Jocaste / et bonne aumosniere et bien chaste» (V. 8o67f.), wobei «chaste» an die «iocunditas casta» erinnert, die Jocaste im Pseudo-Fulgentius darstellt65. Die Köni-

64 65

Im zweiten Teil des V. 408 bieten A «et asses bei», die übrigen Handschriften «sage e bei». Fulgentius, Super Theb., in: Opera, 182. Dieser Kommentar ist sehr wahrscheinlich

154

gin wird so gelobt, nachdem sie ihrem Sohn Eth'iocles auf dem Rat über Daire folgende Rede gehalten hat: «Filz, fet ele, n'as droit en toi ne n'as droit en chevalerie se de ceste ne fes t'amie. Ve'is onques tant bele chose, ne flor de lis ne flor de rose? Ve'is onques tant bele touse? Filz, car me croi, s'en fai t'espouse; tant mar i fu qu'ele est ploreuse, ne marrie ne doulereuse; rent lui son pere et soit t'amie, si feras mout grant cortoisie.» (RTh., V. 8o34f.)

Dieser Vorschlag löst zum einen das Problem, und zum anderen beruht die Lösung auf einer Argumentation, in der «chevalerie» und «amie» sowie «amie» und «cortoisie» in programmatischer Weise zusammengeführt werden66. Ausdrücklich hält der Erzähler die gute Absicht der Königin fest: «Daire veut delivrer de mort, / qui l'en blameroit s'avroit tort» (V. 8o69f). Diese eindeutige Stellungnahme des Erzählers ist wichtig; denn der Vorgang ist umstritten. Creon verurteilt die von Eth'iocles akzeptierte Lösung mit den Worten: «mout est fous senz de bacheler» (V. 8098). Othon jedoch ist gegenteiliger Ansicht, und seine Antwort basiert auf derselben programmatischen Grundlage wie Jocastes Argumentation: [. . .] «Si vet d'amie, d'amors et de chevalerie; se le tenez a vilannie, nous le tenons a cortoisie.» . 8nif.)

Diese Worte sind in allen Versionen wiederzufinden, allerdings hat nur die Antinomie vilannie - cortoisie. Die anderen Fassungen bieten «folie» statt «vilannie» (ed. Constans, V. 8547^). Die Kinder des inzestuösen Paares werden vom Erzähler eklatant ungleich behandelt. Schon im Prolog fällt auf, daß nur die Söhne vom Inzest gezeichnet sind. Doch obwohl sie hier beide «felons» und «enragie» genannt werden (V. 28), sind sie im folgenden sehr verschieden dargestellt. Vor allem in der Sterbeszene zeigt sich der Unterschied zwischen den Brüdern: Hier ist nur Eth'iocles «plains de felonnie» (V. 9791). Zu dem Konflikt zwischen den Brüdern nimmt Jocaste auf einem Rat eindeutig Stellung. Sie warnt Eth'iocles vor dem, was er dann doch nicht lassen kann:

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dem Fabius Fulgentius Planciades fälschlicherweise zugeschrieben worden. Hölzel, Commentaire, 225, legt nahe, daß er im 12. Jahrhundert «dans une des ecoles de la philosophic scolastique», deren meiste in Frankreich waren, verfaßt wurde. Die vier Begriffe stehen im Reim aller Fassungen. 155

«Par mi tout ce tu li juras; se tu onques de toi cure as ne te parjurer pas por terre ne pour couvoitier d'avoir querre.» (RTh.,V. 38351".)

Von Eth'iocles sagt der Erzähler, er sei «viguereux» (P: «trop vigrous», ed. Constans, V. 9203) und «mout chevalereux» (V. 8679^), und im Vers 1141 heißt es von ihm: «Mout fu li rois sages et prouz» (P: «Li reis fu et larges et proz», ed. Constans, V. 1155). Diese Feststellung - das ist entscheidend bezieht sich auf den Umstand, daß der König einem Rat seiner Vertrauten folgt. Dieser Rat (V. insf.) hat den Charakter eines Fürstenspiegels für die entsprechende Situation. Der König soll sich von allen Seiten Hilfe besorgen, Frieden mit den Feinden schließen, Rat bei Freunden holen, die Stadt befestigen, Gerechtigkeit wahren, zu allen gut und vor allem larges sein und weder Gold noch Silber für sich behalten: A tes houmes donne ton or, car souz ciel n'a meillor tresor; et quant tu n'avras que donner, si vas o eus rire et jouer, promet ce que lores n'avras et donne leur quant tu l'avras. S'ainsi ne fez, tu as perdu, et nos te verrons confondu.» (RTh.,V. H3if.)

Eth'iocles sichert ausdrücklich zu, diesen Rat der Vertrauten in die Tat umzusetzen. Darin erweist er sich als «sages et prouz». Infolgedessen hat er eine maisnie um sich, von der der Erzähler sagt, daß niemand bei einem König oder einem Kaiser eine bessere gesehen habe (V. i i47f.): Tuit sunt noble houme de parage, mil en ve'issiez d'un linage; que de bachelers que d'enfanz, touz li plus viex n'ot que trente anz. Chascuns couvoite por s'amie pris de faire chevalerie; maudient trives que tant durent et dient tuit que mär i furent, quant por dormir et por mengier sont jouste tant bon chevalier.

(RTh.,\. ii49f.) Diese Passage, in der der Wert der adeligen Herkunft und der Jugend in Verbindung mit chevalerie und amor so eindringlich hervorgehoben wird, findet sich mit nur leichten Abweichungen in allen Versionen. Pollinices wird ausführlicher und im ganzen vorteilhafter als sein Bruder beschrieben. Der Erzähler gibt von ihm ein Porträt, von dem er selbst sagt: «riens n'ot en lui mesavenant» (V. 764). Anschließend heißt es: «Jouvenciax 156

ert, n'ot pas trente anz; / chevaliers fu preuz et vaillanz» (V. 765f.)6?. Im V. 4335 wird ihm, und hier weicht keine Lesart ab, höfisches Handeln nachgesagt wegen der Art, wie er sich seiner Mutter gegenüber verhält, als diese zu den Griechen kommt: Pollinices que cortois fist, que sä mere par la main prist, la la mena ou li rois sist. (RTh V schuldig62? Die Königin selbst beschreibt nach dem Tod ihres Mannes ihre Situation: «Lasse, dist ele, doulereuse! Or sui ge veuve sanz seignor, si n'ai enfant qui gart m'anor. Se besoingne me sort ou guerre, ne pourrai pas tenir ma terre.» (RTh., V. 258f.) Die Lage einer schutzlosen Herrscherwitwe wird als prekär dargestellt. Wir finden dafür im RTh. noch ein Beispiel: In der Thebais trägt der sterbende Parthenopaeus Dorceus nur auf, seine, des Parthenopaeus, Mutter schonend vom Tod des Sohnes zu unterrichten und sie zu trösten (IX, 885f). Im RTh. bittet er ihn darüber hinaus, seiner Mutter zu sagen, sie möge sich bald wieder verheiraten, weil sonst Land und Lehen von Krieg, Plünderung und Verwüstung überzogen würden (RTh., V. 8793^). Hat man das Problem, das Jocaste in vier Versen für ein mittelalterliches Publikum angesichts der feudalgesellschaftlichen Realität offenbar sehr plausibel umreißt, erkannt, wird man dies berücksichtigen, wenn man Jocaste motivgeschichtlich in die Reihe der , London 1972. Davies, C. B.: «L'Uevre Salemun» (Eneas, Marie de France etc.), in: MAevum XXIX (1960)173-183. Demats, P.: Fabula. Trois etudes de mythographie antique et medievale, Geneve 1973. Denecke, L.: Ritterdichter und Heidengötter (i 150-1220), Leipzig 1930. Dernedde, R.: Über die den altfranzösischen Dichtern bekannten epischen Stoffe aus dem Altertum, Erlangen 1887. Deschaux, R.: La decouverte de Carthage. Etude litteraire des vers 373 ä 548 du «Roman d'Eneas», in: Inf. litt. XXXVIII (1986) 30-34. - De la Theba'ide de Stace au Roman de Thebes, in: RTG 3 (1971) i -6. Dinzelbacher, P.: Über die Entdeckung der Liebe im Hochmittelalter, in: Saeculum 32 (1981)185-208. - Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, Stuttgart 1981. Dittrich, M.-L.: Die «Eneide» Heinrichs von Veldeke. I, Quellenkritischer Vergleich mit dem Roman d'Eneas und Vergils Aeneis, Wiesbaden 1966 [mehr nicht erschienen]. - und in Heinrichs von Veldeke Eneide, in: ZfdA 90 (1960/1961) 85-122; 198-240; 274-302. Donovan, L. G.: Recherches sur «Le Roman de Thebes», Paris 1975. Doren, A.: Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance, in: Vorträge der Bibl. Warburg, ed. F. Saxl, II. Vorträge 1922-1923/1. Teil, 71 -144. Dreßler, A.: Der Einfluß des altfranzösischen Eneas-Romanes, Leipzig 1907. Dubruck, E.: La rhetorique du desir: Didon et la Chatelaine de Vergi, in: Relire le «Roman d'Eneas», 25-42. Düchting, R.: Die mittellateinische Literatur, in: H. Krauß (ed.), Europäisches Hochmittelalter, 487-512. Dufournet, J.: «La Thebai'de» de Stace et le «Roman de Thebes» (ä propos du livre de L.-G. Donovan), in: RLaR LXXXII (1976) 139-160. - (ed.), Relire le «Roman d'Eneas», Paris 1985. Duggan, J. J.: Virgilian Inspiration in the «Roman d'Eneas» and the «Chanson de Roland», in: Medieval Epic to the , London 1972.

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