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German Pages [148] Year 1999
VERÖFFENTLICHUNGEN DER H I S T O R I S C H E N K O M M I S S I O N FÜR P O M M E R N herausgegeben von R o d e r i c h S c h m i d t
REIHE V: F O R S C H U N G E N ZUR P O M M E R S C H E N G E S C H I C H T E Band 33
DIE E N T W I C K L U N G DER POMMERSCHEN BEVÖLKERUNG 1701 BIS 1918
von BRAGE BEI DER WIEDEN
§ 1999
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wieden, Brage Bei der: Die Entwicklung der pommerschen Bevölkerung 1701 bis 1918 / von Brage Bei der Wieden. - Köln ; Weimar; Wien : Böhlau 1999 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern : Reihe 5, Forschungen zur pommerschen Geschichte ; Bd. 33) ISBN 3-412-00399-9 © 1999 by Böhlau Verlag GmbH 8c Cie, Köln Alle Rechte vorbehalten Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Druck und Verarbeitung: Strauss Offsetdruck GmbH, Mörlenbach Printed in Germany ISBN 3-412-00399-9
INHALT
Vorbemerkung 1. 1.1 1.2
VII
1.3
Einleitung Wirtschaftsgeographische Grundbedingungen Die Entwicklung der Bevölkerungsstatistik in Preußen und in Pommern Quellen und Quellenkritik
1 1
2. 2.1 2.2 2.3
Die Bevölkerungsentwicklung 1701-1805 Voraussetzungen und allgemeine Tendenzen Die Entwicklung im einzelnen Schwedisch Vorpommern
10 10 12 20
3.
Zwischenspiel: 1801-1815
24
4. 4.1 4.2
Die Bevölkerungsentwicklung 1816-1871 Vorausetzungen und allgemeine Tendenzen Die Entwicklung im einzelnen
27 27 31
5. 5.1 5.2
Die Bevölkerungsentwicklung 1871-1914 Voraussetzungen und allgemeine Tendenzen Die Entwicklung im einzelnen
36 36 37
6. 6.1 6.2
Die Militärbevölkerung Preußisch Pommern Schwedisch Pommern
39 39 43
7. 7.1 7.2 7.3 7.4
Migrationen Die Hugenotten Die Kolonisationen Friedrichs d. Gr Emigrationen im 19. Jahrhundert Die Innere Kolonisation
46 46 48 52 56
8. 8.1 8.2 8.3
Konfessionen Die Katholiken im 18. Jahrhundert Die Juden Die christlichen Konfessionen im 19. Jahrhundert
58 58 61 65
9.
Stadt- und Landbevölkerung
68
3 6
VI
Inhalt
10. Die Verteilung der Geschlechter 10.1 Zum Frauenüberschuß in den Städten
72 72
11. Ethnische Minderheiten 11.1 Die Kaschuben 11.2 Die Polen
77 77 81
12.
85
Rückblick
Tabellen 1. Die Zivilbevölkerung Pommerns bis 1805 2. Die Gesamtbevölkerung nach Regierungsbezirken (1816-1910) 3. Die Entwicklung nach Landkreisen 4. Bevölkerungsdichten der Kreise (1819,1871, 1910) 5. Uberseeische Auswanderung 1871-1914 6. Bevölkerungsbewegung in Preußisch Pommern 1701-1805 7. Bevölkerungsbewegung in der Provinz Pommern 1816-1918 .. 8. Bevölkerungsbewegung im Regierungsbezirk Stralsund 1816-1918 9. Bevölkerungsbewegung im Regierungsbezirk Stettin 1816-1918 10. Bevölkerungsbewegung im Regierungsbezirk Köslin 1816-1918 11. Stadt- und Landbevölkerung in Preußisch Pommern bis 1805 12. Stadt- und Landbevölkerung in Pommern 1816-1910 13. Die Juden in den Städten und ihr Anteil an der Stadtbevölkerung (1782,1784,1791,1798,1816) 14. Die Juden in den Städten und ihr Anteil an der Stadtbevölkerung (1831, 1852, 1861, 1898,1909) 15. Stettiner Roggenpreise (Jahreshöchstpreise) 1701-1726 16. Stettiner Roggenpreise (Martinipreise) 1727-1799 17. Jahresdurchschnittspreise der Provinz Pommern 1816-1865 ....
89
120 122 123 124
Quellen und Literatur
125
91 93 95 96 97 100 104 107 110 113 115 117
VORBEMERKUNG
Die vorliegende Arbeit entstand 1989 im Rahmen des Projekts „Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur im östlichen Mitteleuropa vom Ende des 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg" am Marburger Johann Gottfried Herder-Institut. Den Leitlinien des Projekts entsprechend, lautete die Aufgabe: Zusammenstellung und Auswertung der gedruckten Quellen, Berücksichtigung der Literatur. Es verband sich damit keine tiefergehende Fragestellung als jene nach einem makroskopischen Uberblick; außerdem sollten brauchbare Zahlen geliefert werden. Die Erklärungen verlassen nicht den herkömmlichen Interpretationsrahmen, Gedankenspiele im Hinblick auf Evolutionsbiologie oder Chaostheorie schienen nicht am Platz; man kann die Ergebnisse aber durch mikrohistorische Analysen sicherlich weiter präzisieren und durch mentalitätshistorische Untersuchungen ergänzen. Die generellen Tendenzen scheinen mir allerdings deutlich hervorzutreten. Ich glaube daher auch verantworten zu können, die Arbeit so, wie sie 1989 geschrieben worden ist, in den Druck gehen zu lassen, ohne noch die seither erschienene Literatur zu diskutieren. Um die weitere Forschung zu erleichtern, weise ich diese jedoch im Anhang zum Literaturverzeichnis nach. Dem Vorsitzenden der Historischen Kommission für Pommern, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Roderich Schmidt, danke ich für die Anregung zu dieser Arbeit und dafür, daß er die Drucklegung ermöglicht hat, ferner Frau Dr. Almut Bues, jetzt in Warschau, für ihre so sorgfältige wie kritische Korrektur. Brage Bei der Wieden, im April 1999
1. E I N L E I T U N G
1.1 W i r t s c h a f t s g e o g r a p h i s c h e G r u n d b e d i n g u n g e n Die preußische Provinz Pommern bildete, zwischen 12 V2° und 18° östlicher Länge, zwischen 53° und fast 55° nördlicher Breite gelegen, einen Teil des südlichen Ostseesaumes. Im wesentlichen entsprachen diese Grenzen denen des alten Herzogtums Pommern, dessen regierendes Fürstenhaus 1637 ausgestorben war. Das Land ist von Natur aus wenig begünstigt. 1 Die Vegetationsperiode hält kaum das halbe Jahr an und nach Osten hin wird der Boden immer sandiger, während der Kalkgehalt des untermischten Lehmes reziprok dazu abnimmt. Noch zu Beginn der 19. Jahrhunderts fiel über die Hälfte der Fläche ganz Pommerns in die Kategorie „Ödland, Unland, Wege". 2 In Westpommern überwogen die mittleren Böden: sandiger Lehm, lehmiger Sand, die besonders auf Rügen und beidseits der Tollense gute Erträge lieferten. Daneben aber, auf Darß und Zingst, lagen unfruchtbare Sande. Die vorpommersche Ackerbauregion endete im Osten am Haff und an der Ueckermünder Heide, die in neuerer Zeit vor allem zur Waldwirtschaft taugte. Ostlich der Odersümpfe, bis an die Ihna heran, breitete sich das landwirtschaftlich bevorzugte Gebiet Pommerns aus: der Pyritzer Weizacker. Hinterpommern läßt sich in zwei Zonen scheiden: den pommerschen Höhenrücken, der im Schimmritzberg bis auf 256 m ü. N N ansteigt, steinig, von Seen bedeckt, wenig nutzbar, mit seinem hügeligen Vorland einerseits und andererseits die Küstenlandschaft. Sie hat streckenweise lehmigere Böden, die sich besser als der reine Dünensand für die Getreideproduktion eignen.
1
2
Zu Geographie und Bodenkunde: Administrativ-statistischer Atlas von Preußen, Berlin 1828. Nachdr. ebd. (Kartenwerk z. preuß. Geschichte Lfg. 3). Karte 22 gibt den wohl ersten kartographischen Uberblick über die Bodengüteverteilung in Preußen. Ferner: W . Witt: Wirtschafts- u. verkehrsgeographischer Atlas von Pommern, Stettin 1934; Land- u. Forstwirtschaft im Ostoderland (Hinterpommern, Ostbrandenburg, Grenzmark), Hannover 1947. (Atlas u. Textbd.). H. W . Gf. Finck von Finckenstein: Die Getreidewirtschaft Preußens von 1800 bis 1930 (Vierteljahrshefte f. Konjunkturforschung, Sonderh. 35), Berlin 1934, S. 22.
2
Einleitung
Vor den Zeiten einer „rationellen Landwirtschaft", zu Anfang des 18. Jahrhunderts, herrschte in Pommern durchgehend der Roggenanbau vor. Die Ernte erbrachte den drei- oder vierfachen Ertrag der Aussaat 3 , an einigen Stellen Vorpommerns und im Weizacker wohl auch das fünfte oder sechste Korn. 4 Diese Gegenden konnten selbst in schlechteren Jahren Getreide exportieren; aus Schwedisch Vorpommern wurden Ende des 18. Jahrhunderts gegen 5.000 t Roggen jährlich ausgeführt. 5 Die Viehwirtschaft diente hauptsächlich der Eigenversorgung. Immerhin gab es Schafe genug, um den städtischen Produzenten von Tuchen und Raschen (leichten Wollzeugen) den Rohstoff zu liefern. Die Tuchmacherei, das traditionell städtische Gewerbe neben der Brauerei, ermöglichte denn auch die Existenz der kleineren Städte, vor allem des östlichen Hinterpommerns. Die Brauer durften höchstens in Stolpe auf etwas weiteren Absatz rechnen6; sie brauten im Nebenerwerb und konnten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts der professionalisierten Konkurrenz nicht mehr standhalten. 7 Die größeren pommerschen Städte hatten ihr Aufkommen dem Handel und der Hanse verdankt. Nachdem aber der Zwischenhandel auf der Ostsee relativ an Gewicht verloren hatte und die Holländer sich eindrängten, büßten sie an Bedeutung ein, denn sie konnten sich auf keine eigene Exportproduktion stützen. 8 Merkantilistische Erwartungen äußerten sich 3
4
5
6
7
8
Ch. H . Schweder: Gründliche Nachricht von gericht- und aussergerichtlicher Anschlagung der Güther ..., Frankfurt/O. 2 1717, S. 85 f., vgl. auch E. v. Livonius: Die wirtschaftliche Entwicklung des Rittergutes G r u m b k o w in Pommern 1679-1926 (Wirtschafts- u. Verwaltungsstudien mit besonderer Berücksichtigung Bayerns 75), Leipzig 1927, S. 17. Darauf deutete der Fragebogen der Landvermesser hin, den R. Schilling veröffentlicht hat: Schwedisch-Pommern um 1700. Studien zur Agrarstruktur eines Territoriums extremer Gutsherrschaft, untersucht auf der Grundlage des schwedischen Matrikelwerkes 1692-1698 (Abhandlungen z. Handels- u. Sozialge schichte 27), Weimar 1989, S. 69. Th. H . Gadebusch: Schwedisch-pommersche Staatskunde, Bd. 2, Greifswald 1788, S. 12. P. J. Marperger: Geographische/ Historische und Mercatorische Beschreibung Aller derjenigen Länder und Provintzien/ welche den [!] Königlich Preußischen U n d Chur-Brandenburgischen Scepter in Deutschland unterworffen ..., Berlin 1710, S. 25. W. Diamant: Studien zur Wirtschaftsgeschichte der Städte in Pommern, der Kur- und Neumark unter Friedrich dem Großen und seinen nächsten Nachfolgern bis 1806, Diss. phil. Berlin 1913 (Teilabdruck), S. 16, 25-28. Vgl. H . Hoffmann: Handwerk und Manufaktur in Preußen 1769 (Das Taschenbuch Knyphausen) (Schriften d. Zentralinstituts f. Geschichte 11.10), Berlin 1969, S. 32.
Die Entwicklung der Bevölkerungsstatistik
3
dementsprechend nur im Konditional: Sie [die Stadt Stargard] liegt an der Ihna/ und könte vermittelst derselben noch wohl einen considerablen Handel in Korn thun/ wann ihr Stettin die freye Farth nach der Ostsee nicht disputierte. Oder: Die Schiffart dieses Orts [Kolbergs] zur See ist gering/ könte aber, wann es recht angegriffen würde/ bald grösser werden.9 Sogar in Stettin, das Anfang des 18. Jahrhunderts Stralsund nach Zahl der Einwohner überholte, das doch von der Oderschiffahrt profitierte, scheint Holz, ein nicht oder wenig bearbeitetes Naturprodukt, das wichtigste Umschlaggut gewesen zu sein. Der Anteil gewerblicher Produzenten unter den Erwerbstätigen lag auch in Stettin weit unter dem preußischen Durchschnitt.10
1.2 D i e E n t w i c k l u n g der B e v ö l k e r u n g s s t a t i s t i k in P r e u ß e n und in P o m m e r n Parallel zur Ausbildung von Staaten erwuchs auch das Bedürfnis, sie zu vergleichen. Das konnte jedoch, dem Zustand der Staatsverwaltung entsprechend, nur auf qualitativer Basis geschehen: War ein bestimmtes Merkmal vorhanden oder nicht? Die frühen Staatsbeschreibungen vermerkten also Notitia oder „Staatsmerkwürdigkeiten". Für die Demographie bedeutet dies, daß vor Mitte des 18. Jahrhunderts gewöhnlich nur mit Merkmalskategorien (die Stadt ist groß, ist klein, ist mittelgroß) oder Vergleichen (Stralsund ist größer als Greifswald) zu rechnen ist. Das Interesse der Obrigkeiten und zunehmend des Staates beschränkte sich auf Steuerlisten. Verzeichnisse der Steuerpflichtigen gab es für die verschiedenen Verwaltungseinheiten seit langem, sie wurden allerdings nicht an zentraler Stelle zusammengeführt, um Einsichten in den Zustand des Territoriums zu gewinnen. Für die Bevölkerungsgeschichte, soweit sie an absoluten Zahlen interessiert ist, haben solche Listen der Haus- und Hofstellen wenig Aussagekraft. Seelenzahlen liefert dagegen seit Beginn der Neuzeit die kirchliche Administration. Die Kirchenbücher geben mit ziemlicher Verläßlichkeit die Zahlen der Getauften, Getrauten und Gestorbenen. Als die neuen Erfordernisse der Staatsverwaltung eine Quantifizierung der Staatskräfte verlangten, lag es nahe, sich auf solchermaßen vorhandene Register zu stützen, denn Volkszählungen schienen wegen vorhersehbarer Ungenauigkeiten den Aufwand kaum zu rechtfertigen, zudem bestanden ernstliche 9 10
Marperger (wie Anm. 6), S. 23 f. Hoffmann (wie Anm. 8), S. 41.
4
Einleitung
theologische Bedenken: Davids Volkszählung hatte Gott mit Pestilenz gestraft.11 In Brandenburg erließ der Große Kurfürst 1683 Befehl an das Geistliche Ministerium, eine Liste und Verzeichnis, wieviel Personen in diesem verwichenen Jahre gestorben, wieviel verheiratet und wieviel Kinder geboren worden, einzuschicken. Erhalten hat sich ein solches, dann gedrucktes Verzeichnis der Bevölkerungsbewegung aus dem Jahr 1688.12 Welche Möglichkeiten derartige Populationstabellen der Anthropologie boten, zeigte dann unter dem Einfluß der englischen politischen Arithmetik Johann Peter Süßmilch auf. Dem Physikotheologen war die Bevestigung der grossen Lehre von der göttlichen Vorsehung das hauptsächliche Anliegen.13 Um die weise Ordnung Gottes in der menschlichen Natur aufzuspüren, beschäftigte sich Süßmilch mit Quantifizierungen in bis dahin nicht gekanntem Ausmaß; er begründete damit eine neue Wissenschaft, die Bevölkerungslehre.14 Sein Vertrauen auf das göttliche Gesetz bewahrte ihn dabei vor übereilten Schlüssen und der Beschönigung seiner Ergebnisse. Süßmilch war Dompropst in Berlin; diese Stellung ermöglichte es ihm, von den statistischen Aufstellungen seiner Amtsbrüder ausgiebig Gebrauch zu machen. Dazu traf sein Bemühen auf das erwachte kameralistische Interesse der Regierung, die ihm den Zugang zu den Archiven öffnete, um Aufschlüsse über die brandenburg-preußische Einwohnerschaft zu erhalten. Süßmilch wiederum nutzte das Entgegenkommen, um auf Verbesserungen der Datenerhebung zu dringen. Für seine Berechnungen benutzte er neben Zahlen aus der Mark Brandenburg vor allem solche aus Preußisch Pommern. Seine Werke überliefern auf diese Weise manche sonst verloren gegangene Information und außerdem einige wichtige Hinweise zur Analyse demographischer Krisen. Auch seine Bevölkerungsberechnungen beweisen eine größere Einsicht als die mancher späterer Statistiker. Friedrich d. Gr. veranlaßte in Preußen seit 1748 regelmäßige Volkszählungen. Dennoch blieben Berechnungen der Volkszahl in Gebrauch, aus Bequemlichkeit, aus Mißtrauen gegen die Zuverlässigkeit der Zählungen und endlich, weil von den statistischen Erkenntnissen in Preußen nur wenig an die Öffentlichkeit drang. Jeder, der im Amte steht, ist besonders
11 12
2. Sam. 2 4 , 1 - 1 5 , 1 ; C h r o n . 2 1 , 1 - 1 4 . O . Behre: Geschichte der Statistik in Brandenburg-Preussen bis zur Gründung des Königlichen Statistischen Bureaus, Berlin 1905, S. 132 f.
13
J . P. Süßmilch: Die Göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, besonders im T o d e . D u r c h einige neue Beweißthümer bestätiget und gegen des ... H e r r n von Justi Erinnerungen gerettet, Berlin 1756, S. 4.
Wirtschaftsgeographische Grundbedingungen
5
verpflichtet, das silentium collegii gegen jedermann zu beobachten, und am wenigsten an Ausländer etwas mitzuteilen, erklärte 1777 ein Beamter." So liegen, abgesehen von dem, was Behre aus den Akten ermittelt hat, für das 18. Jahrhundert nur verstreute Nachrichten über die Bevölkerung Pommerns vor, die jeweils nach ihrer Zuverlässigkeit befragt werden müssen. Daß sie vorliegen, hängt wesentlich mit einer Neuorientierung der Universitätsstatistik zusammen, die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts von der traditionellen Kameralistik, der Verwaltungswissenschaft, ab- und wirtschaftlichen Fragen zuwandte. Deren Behandlung verlangte nach Zahlen. Eine Öffentlichkeit statistischer Diskussion bildete sich, denn „wenn eine entwickelte, gute und leistungsstarke Ökonomie eine wichtige Grundlage der Entfaltung der allgemeinen Staatskräfte war, entsprach es geradezu der Pflicht des publizistisch wirksamen Patrioten und Aufklärers sowie dem Ethos des Universitätslehrers, deren Geschichte, Entwicklung und Zustand zu erforschen, zu beschreiben und darüber zu räsonieren."16 Aus diesem Geist heraus verfaßten Brüggemann, Gadebusch und Wutstrack ihre pommerschen Landeskunden.17 Süßmilchs mathematisch-anthropologischen Ansatz rezipierte erst wieder das 19. Jahrhundert, z. B. Carl Wilhelm Dieterici. Dieses, das 19. Jahrhundert, nannte der erste Direktor des Königlich Preußischen Statistischen Büros, Johann Gottfried Hoffmann, schon 1860 das statistische Jahrhundert."8 1805 hatte der König ein statistisches Büro einrichten lassen; Hoffmann bemühte sich, die Datenerhebungen allen Zweigen der Staatsverwaltung nutzbar zu machen. Die Fülle des Materials 14
Vgl. J . H e c h t : J o h a n n Peter Sussmilch - point alpha ou oméga de la science
15
U e b e r den Geist der Verschwiegenheit in den Preußischen Staten, in: A . L .
démographique naive? In: Annales de Démographie historique 1979, S. 133. Schlözers Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts, Teil 2, G ö t tingen 1777, S. 16. 16
K. H . Kaufhold, W . Sachse: Die Göttinger „Universitätsstatistik" und ihre Bedeutung für die Wirtschaftsgeschichte, in: Anfänge Göttinger sozialwissenschaftlicher Methoden, Inhalte und sozialer Prozesse im 18. und 19. J a h r h u n dert, hrsg. v. H . - G . Herrlitz, H . Kern (Göttinger Universitätsschriften A 4), Göttingen 1987, S. 83.
17
L . W . Brüggemann: Ausführliche Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes des H e r z o g t h u m s V o r - und H i n t e r - P o m m e r n , Bd. 1 u. 2, Stettin 1779 u. 1784; Th. H . Gadebusch: Schwedisch-pommersche Staatskunde, Bd. 1 u. 2, Greifswald 1786 u. 1788; C h . F . Wutstrack: Kurze historisch-geographisch-statistische Beschreibung von dem königl.-preussischen H e r z o g t h u m e V o r - und H i n t e r pommern, Stettin 1793.
18
So der Titel eines Aufsatzes in der Zeitschrift des Königl. Preuß. Statist. Bureau's, Jg. 1 2 ( 1 8 6 0 ) .
6
Einleitung
wuchs. Nachdem schließlich 1844 Karl Friedrich Wilhelm Dieterici, der fleißige Sammler und Publizist, Hoffmanns Nachfolge angetreten hatte, schien es den Zeitgenossen, als gäbe es kaum eine Frage öffentlichen Interesses, zu deren Beantwortung nicht amtliche Zahlen vorlägen. Ernst Engel, seit 1860 dritter Direktor des Statistischen Büros, vermißte an Dietericis Arbeiten freilich jede Durchdringung des Stoffes. Von der bloßen Paraphrase beigegebener Tabellen wandte er sich endgültig ab. Adolphe Quetelet, der Vater der Sozialstatistik, gab ihm das Vorbild: „Fort und fort war er bemüht, allen seinen Arbeiten die naturwissenschaftlichen Methoden der Forschung und des Nachweises der Ursächlichkeit, der Erklärung und der Darstellung zu Grunde zu legen." 19 Auch in der Datenerhebung führte Engel heute noch brauchbare Standards ein. Die ihm nachfolgten, taten das auf neuer Grundlage.
1.3 Q u e l l e n und Q u e l l e n k r i t i k Eine verläßliche Grundlage bieten der Analyse letzlich nur Zählungen. Eine erste allgemeine Volkszählung wurde in Preußen 1725 angeordnet und 1728 in Pommern durchgeführt; damals lebten 182.504 Seelen auf dem platten Land, also etwa 252.000 in der Provinz. 20 Für das Jahr 1740 gibt Friedrich Nicolai eine Gesamtzahl der preußischen Untertanen Pommerns „laut den Zählungslisten." 21 Aufgrund einer Kabinettsordre vom 19.3.1742 wurden seit 1748 regelmäßig Zählungen durchgeführt 22 , und zwar nach Stadt und Land getrennt, „die städtische Bevölkerung mußten die Steuerräte, die ländliche die Landräte angeben." 23 Ende des 18. Jahrhunderts kursierten allerdings zwei Tabellen; von der zweiten, höherzahligen, berichtet erstmals Büsching. Es war ihm gelun19
20
21
22
23
[E.] Blenck in: A D B 48 (1904), S. 364. Der Artikel in der N D B , Bd. 4 (1959) gibt nicht mehr als eine Paraphrase Blencks. L. F. Brüggemann: Beiträge zu der ausführlichen Beschreibung des Königl. Preußischen Herzogthums Vor- und Hinterpommern, Bd. 1, Stettin 1800, S. 367. [F. Nicolai:] Freymüthige Anmerkungen über des Herrn von Zimmermann Fragmente über Friedrich den Großen ..., Abt. 2, Berlin u. Stettin 1792, S. 40, Anm. [K. F. W.] Dieterici: Uber die Vermehrung der Bevölkerung in Europa seit dem Ende oder der Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts, in: Abhandlungen d. K ö niglichen Akademie d. Wissenschaften z. Berlin. Aus d. Jahre 1850, Berlin 1852. Philolog. u. histor. Abhandlungen, S. 76; Behre (wie Anm. 12), S. 180. Dieterici s. o.
Quellen und Quellenkritik
7
gen, nahezu vollständige Bevölkerungslisten für die preußische Monarchie zusammenzustellen, als ein ungenannter Minister ihm Zahlen zukommen ließ, die erheblich über den sonst bekannten lagen. Auf Büschings Nachfrage erklärte der Minister, die Differenz entstehe durch Mitberücksichtigung des Militärstandes. Büsching machte eine Uberschlagsrechnung und stellte sich zufrieden. 24 Otto Behre benutzte dann die sog. Ministertabelle, um die Stärke der Militärbevölkerung zu berechnen.25 Schon Reinhold Koser hatte allerdings am Beispiel Schlesiens aufgezeigt, daß die Differenz sich auf diese Weise nicht erklären läßt, daß sie, auf die Provinzen umgerechnet, viel zu groß ist. Eine Erklärung dafür fand er nicht.26 Auch für Pommern haben Kosers Zweifel zu gelten. Der größeren Liste zufolge betrug die Bevölkerung Preußisch Pommerns 1782 462.970 Einwohner; der Soldatenstand aber zählte 1784 mit Frauen und Kindern 31.084 Menschen. 462.970 minus 31.084 sind gleich 431.886; die Listen des Statistischen Büros vermerken lediglich 420.801. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, daß zumindest im Falle Pommerns die Ministertabelle nicht auf Zählung, sondern auf Berechnung beruht. Der Quotient größere Liste durch kleinere ergibt für die Jahre 1767 bis 1778 ohne Ausnahme 1.10, d. h. zur Zahl der kleineren Liste sind durchweg 10 % addiert worden. Möglicherweise geschah das wirklich in dem Glauben, auf diese Weise die Militärbevölkerung mitzuerfassen und gleichzeitig Fehler der Erhebung auszugleichen. Wie dem auch sei: Die Ministertabelle, deren Zahlen im 18. Jahrhundert verschiedentlich nachgedruckt wurden (z. B. von Wutstrack), ist unbrauchbar. Gleichzeitig erweckt dieser Fall grundsätzliches Mißtrauen gegen Bevölkerungsangaben des 18. Jahrhunderts, denn wer schließt die Möglichkeit aus, daß die Korrelation zwischen beiden Zahlen nicht auf einem bloß verschieden gewählten Faktor, die kleinere Zahl also auch auf Berechnung beruht? Da jedoch keine Beziehung zur jeweiligen Zahl der Gestorbenen nachgewiesen werden kann, der vergleichsweise sichersten Basis einer Volkszahlberechnung, möge hier das Mißtrauen ruhen.
24
25 26
A. F. Büsching: Zuverläßige Beyträge zu der Regierungs-Geschichte Königs Friedrich II. von Preußen, vornehmlich in Ansehung der Volksmenge, des Handels, der Finanzen und des Kriegsheers. Mit einem historischen Anhange, Hamburg 1790, S. 164 f. Behre (wie Anm. 12), S. 201. R. Koser: Zur Bevölkerungsstatistik des preußischen Staats von 1756-1786, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 16.2 (1903), S. 243.
8
Einleitung
Ganz allgemein muß beachtet werden, was Büsching 1790 schrieb: Daß diese Zählungen, und alle neueren, vollkommen genau und richtig seyn sollten, ist nicht zu vermuthen. Ausser der Unrichtigkeit, die durch menschliche Trägheit und Unvorsichtigkeit entsteht, ist in dieser und jener Gegend, insonderheit in den Ländern des westphälischen Kreises, zuweilen zur Zeit der Zählung die ungegründete Furcht entstanden, daß sie auf Anwerbung zum Soldatenstande abziele, und es haben sich viele junge Leu[t]en entweder entfernet, oder sind verschwiegen worden.27 Wie unvollständig zudem die Zählungen durchgeführt wurden, zeigt der überraschende Anstieg der Jahre 1752 und 1753, für Pommern eindeutig damit zu begründen, „dass seit diser Zeit auf die accurate Designirung der Leute [Adel, Beamte, Förster, Geistliche] gedrungen worden sei. "2S Georg von Viebahn weiß zu berichten, daß im selben Jahr 1752 erstmals die ritterschaftlichen Untertanen der Herrschaften Lauenburg und Bütow Berücksichtigung fanden, die man zuvor vergessen hatte.29 Für die Jahre vor 1740 hat Otto Behre Zahlen errechnet, indem er, von 1740 ausgehend, den jeweiligen Geburtenüberschuß abzog. Er kam so aus den Zahlen, die er im Anhang nennt, ist das freilich nicht abzuleiten auf 184.530 Einwohner 1713 in Hinterpommern und 114.806 1688. Allerdings bleibt oft unklar, auf welches Gebiet sich die gesammelten Verzeichnisse der Getauften und Beerdigten bezogen, insbesondere seit wann der preußische Teil Vorpommerns Berücksichtigung fand. Süßmilch bemerkt, vor dem Jahre 1746 seien die Populationslisten für Pommern nicht immer vollständig gewesen, zuweilen fehlten fünf oder mehr Diözesen.30 Wenngleich Behre außerdem auch die Migrationen nicht berücksichtigt, so stimmt seine Zahl doch ganz gut zu Süßmilchs Berechnungen, der für 1714 auf 185.256 Einwohner kommt. Süßmilch multiplizierte dabei die gemittelten Totenzahlen nichtepidemischer Jahre mit 36; die Stellen hinter dem Komma vernachlässigte er einfach. Er lag damit sicherlich richtiger als Dieterici, der später den Faktor 37 verwandte.31 Nach der Süßmilch27
Büsching (wie A n m . 24), S. 160.
28
R. B ö c k h : D i e geschichtliche Entwicklung der amtlichen Statistik des preußischen Staates, Berlin 1863, S. 6.
29
G. v. Viehbahn: Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutschlands, Bd. 2, Berlin 1862, S. 29.
30
J. P. Süßmilch: Die göttliche O r d n u n g in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem T o d e und der Fortpflanzung desselben erwiesen, Bd. 1, Berlin 2 1 7 6 1 , S . 141.
31
Ueber die frühere und gegenwärtige Bevölkerung der jetzigen Provinzen Preußen, Pommern, Posen, Schlesien, Westphalen und Rhein, in: Mittheilungen des statistischen Bureau's in Berlin, Jg. 4 (1851) S. 230. Vgl. ebenso den Aufsatz Anm. 22.
Quellen und Quellenkritik
9
sehen Methode hätte Schwedisch Pommern 1753 84.000 Einwohner besessen.32 Um die Bevölkerungsentwicklung richtig interpretieren zu können, kann neben der Einwohnerzahl nicht auf die Verzeichnisse der Geborenen und Gestorbenen verzichtet werden. Diese Zahlen lieferte die Kirche aus den Tauf- und Sterberegistern. Jedoch sind die Daten, wie bereits bemerkt, anfangs des Jahrhunderts nicht immer vollständig erhoben worden. Preußisch Vorpommern scheint man in Berlin seit 1715 hinzugerechnet zu haben, ohne daß die Zahlen hierfür einen eindeutigen Beweis lieferten.33 Für die Herrschaften Lauenburg und Bütow existierten eigene Verzeichnisse. Differenzen zwischen den veröffentlichten Zahlen ergeben sich daraus, daß die kirchliche Statistik ihre Listen mit dem Kirchenjahr, d. h. dem ersten Advent, beginnen ließ, während die Regierungsstellen ihre Daten zum 1. Januar von den Pastoren einforderten.34 Erst die Verordnung vom 18.9.1799 bestimmte auch für die Kirche das Kalenderjahr zum Erhebungszeitraum. 35 Ferner ist zu bemerken, daß die Totgeborenen gewöhnlich unter den Beerdigten, nicht aber unter den Getauften erscheinen. Diesem Mißstand half eine Verordnung vom 3.7.1776 ab, die bestimmte, die Totgeborenen nicht nur unter die Todesfälle, sondern ebenso unter die Geborenen aufzunehmen.36 Behre addierte zur Zahl der Getauften in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts 4 % Totgeburten; ähnlich rechnete Süßmilch. 37 Auch im 19. Jahrhundert, vor allem seiner ersten Hälfte, gab es Unzulänglichkeiten bei der Erfassung von Einwohnern und Bevölkerungsbewegung - an entsprechender Stelle wird davon zu reden sein - , doch hatte das staatliche Interesse da bereits grundsätzliche Verbesserungen bewirkt, die die auftretenden Probleme zu zähltechnischen Details degradierten. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts konnten die preußischen Behörden mit weit größerer Sicherheit Angaben zu Bevölkerungsstand und -bewegung machen als bundesrepublikanische Stellen heutigentags. Bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus muß man jedoch die Ursachen sonst unerklärlicher Phänomene in Erhebungsfehlern suchen.
32
Berechnet nach J. C. Dähnerts Pommerscher Bibliothek, Bd. 2, Stück 2 (Feb.)
33
Vgl. C. Abel: Preußische und Brandenburgische Reichs und Staats-Geogra-
(1753), S. 61 f., Bd. 3, Stück 1 (Jan.) (1754), S. 14 f. phie ..., Teil 1, Leipzig u. Gardelegen 2 1735, S. 144. 34
Schlözers Briefwechsel, Teil 8 (1781), Göttingen 1781, S. 272.
35
Behre (wie Anm. 12), S. 148.
36
Ebd., S. 146.
37
Süßmilch (wie Anm. 13), S. 58: 4 - 5 % , ders. (wie Anm. 30), S. 166: 3 % .
2. DIE B E V Ö L K E R U N G S E N T W I C K U N G
1701-1805
2.1 V o r a u s s e t z u n g e n u n d a l l g e m e i n e T e n d e n z e n In das Herzogtum Pommern teilten sich seit dem Westfälischen Frieden Brandenburg-Preußen und Schweden. Der brandenburgische Anteil umfaßte Hinterpommern: das Gebiet östlich der Oder. Dazu kamen im Bromberger Vertrag 1657 die polnischen Pfandschaften Lauenburg und Bütow. Vorpommern wurde schwedisch. Durch den Nordischen Krieg verlor Schweden 1713 Vorpommern bis zur Peene; der Friede von Stockholm 1720 bestätigte diese Abtretung, Preußen gewann so 4.500 km 2 zu seiner Provinz Pommern hinzu. Das 18. Jahrhundert hindurch blieben diese Grenzen unverändert: Schwedisch Pommern maß 4.013 km 2 (72,9 geogr. M 2 ), Preußisch Pommern Leopold Krug zufolge (1799/1800) 442 geogr. M 2 (24.334,9 km2).38 In Hinterpommern mögen 1701 acht Menschen auf dem Quadratkilometer gelebt haben39, für Pommern westlich der Oder möchte Carl Arndt 1720 112.000 Einwohner errechnen, das wären 13 Einwohner auf den Quadratkilometer (gegenüber 10 Einwohnern zur gleichen Zeit in Hinterpommern). 40 Ein dünnbesiedeltes Land mithin, das noch schwer an den Folgen des Dreißigjährigen Krieges trug.
38
39
40
Jahrbücher d. Preußischen Monarchie 1 (1799), S. 217; L. Krug: Topographischstatistisch-geographisches Wörterbuch der sämmtlichen preussischen Staaten ..., Bd. 9, Halle/S. 1800, S. 179. Nach Dieterici (wie Anm. 22), S. 235: 465,075 M 2 (25.579 km 2 ). Dem entspricht die Annahme von G. Schmoller, Pommern habe um 1700 eine Bevölkerungsdichte von 420-450/M 2 besessen. (Schmollers Jahrbuch 8 (1884) S. 1013). Die Zahlen für Hinterpommern sind nach der Süßmilchschen Methode errechnet. Arndts Berechnungen für Vorpommern gehen von einem in vorindustrieller Zeit etwa konstanten Verhältnis zwischen Stadt- und Landbevölkerung aus. Das Verfahren ist allerdings einigermaßen fragwürdig, insbesondere für 1720 ist die Annahme, die Kriegsverwüstungen hätten mehr das Land als die Stadt getroffen, nicht zu halten (Stettin!). Immerhin gibt dieser doch originelle Versuch die einzige Möglichkeit, überhaupt für Vorpommern Angaben machen zu können. (C. Arndt: Die Einwohnerzahlen der niederdeutschen Städte von 1550 bis 1816, Diss. phil. Hamburg 1946).
Voraussetzungen und allgemeine Tendenzen
11
Günther Franz nimmt an, der Dreißigjährige Krieg habe Pommern zwei Drittel seiner Einwohnerschaft gekostet. 41 Ganz fraglos hat Pommern, hat vor allem die Odermündung als Basis der schwedischen Invasion mehr gelitten als andere deutsche Landschaften. Kirchenbücher in Anklam und Grimmen weisen für die Zeit vor dem Krieg mehr als doppelt soviele Trauungen im Jahr aus als in den Jahrzehnten danach.42 Diese Bevölkerungsverminderung veranlaßte in Pommern wie in Mecklenburg durchgreifende ökonomische und soziale Veränderungen. Die Herren schlugen verlassenes Bauernland ihren Gütern zu; um die Mehrarbeit bewältigen zu können, belasteten sie die verbliebenen Kolone immer stärker mit Diensten und verhinderten ihre Abwanderung. 43 In der Folge lösten sich die kleinen Bauerndörfer auf, schon damals entstand eine breite Schicht „landarmer Produzenten": des Gesindes und der Tagelöhner. 44 Trotzdem wuchs die Bevölkerung stetig, wenngleich in Schwedisch Pommern wohl langsamer als im preußischen Landesteil. Robert Malthus, der so einflußreiche Bevölkerungstheoretiker, konnte 1798 die Behauptung aufstellen, die Zunahme einer menschlichen Population erfolge, sofern ungehindert, in geometrischer Progression, d. h. die Einwohnerzahl verdoppele sich mit jedem Vierteljahrhundert. Tatsächlich kamen auf jede neugeschlossene Ehe in Preußisch Pommern 1688-1756 durchschnittlich annähernd vier (3,86) Taufen - da Malthus seine These u. a. mit den pommerschen Zahlen stützt, kann das nicht verwundern. Wenn sich die Bevölkerung nun im angegebenen Zeitraum nicht verdoppele, liege das, so Malthus, an Migrationsbewegungen, Familienplanung oder es wirken exogene Faktoren, von denen er Pest, Hunger und Krieg als die
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43 44
G. Franz: Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk. Untersuchungen zur Bevölkerungs- u. Agrargeschichte (Quellen u. Forschungen z. Agrargesch. 7), Stuttgart 4 1979, S. 22. Franz' Zahlen greift pauschal, doch ohne zu überzeugen S. H . Steinberg an (Der Dreißigjährige Krieg und der Kampf um die Vorherrschaft in Europa 1600-1660, Göttingen 1967, S. 154, 128-132). F. Schubert: Zur Bevölkerungsentwicklung des Landes Mecklenburg-Schwerin im 18. Jahrhundert, in: Mecklenburgische Jahrbücher 106 (1987), S. 91. Franz (wie Anm. 41), S. 104. J. Peters: Ostelbische Landarmut - Statistisches über landlose und landarme Agrarproduzenten im Spätfeudalismus (Schwedisch-Pommern und Sachsen), in: Jahrbuch f. Wirtschaftsgeschichte 1 (1970), S. 108; H . Haack: Ländliche Bevölkerung und Siedlung in Mecklenburg-Schwerin und preußischen Ämtern Vorpommerns im 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 7 (1983), S. 368.
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Die Bevölkerungsentwicklung 1701-1805
wichtigsten bezeichnet.45 Zumindest für das 18. Jahrhundert muß dieses Erklärungsmodell beachtet werden. Krieg, Hunger und Seuchen beeinflussen einander: Krieg läßt die Getreidepreise steigen, mangelernährt sterben die Menschen an rasch sich ausbreitenden Krankheiten. Auch während des 18. Jahrhunderts setzte ein Krieg die wichtigste demographische Zäsur: Der Siebenjährige Krieg und seine Folgen dezimierten die Bevölkerung im preußischen Teil Pommerns um fast 20 %. Nach zehn Jahren, in denen die Einwohnerzahl doppelt so stark wuchs wie vor dem Krieg, war der Verlust ausgeglichen. Die Zuwachsrate schwächte sich ab, gegen Ende des Jahrhunderts häuften sich demographische Krisen: Die Grenzen des Nahrungsspielraumes scheinen erreicht.
2.2 D i e E n t w i c k l u n g im e i n z e l n e n Die Pest 1709-1711 war die letzte, die Mitteleuropa heimsuchte. Sie hatte in Ostpreußen und in Polen gewütet, allein durch die östliche Lage mußte Stargard schon im Januar 1709 erhebliche Handelseinbußen hinnehmen - „alles Getreide schlug den Weg nach Stettin ein." 46 Im Oktober überschritt ein schwedischer Heerhaufen, aus Polen kommend und von der Seuche infiziert, ohne Erlaubnis der preußischen Regierung die Grenze bei Kailies. Als die Schweden Richtung Stettin marschierten, verbreiteten sie die Pest unter der pommerschen Bevölkerung. Nachdem Stargard, Bahn und auch Prenzlow befallen waren, verbot die Stettiner Regierung jeden Handel Vorpommerns mit Hinterpommern und der Mark. 47 Die preußische Regierung ihrerseits unterband, um die Seuche einzudämmen, den Getreideimport aus Polen, wodurch eine Hungersnot entstand.48 1709 grassierte die Pest in Usedom und Altdamm, dort raffte sie 480 Menschen 45
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Th. R. Malthus: An Essay on the Principle of Population ..., L o n d o n 1798. Dt. v. Ch. M. Barth, München 1977. W. Naude: Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Brandenburg-Preußens bis 1740 (Acta Borussica, Getreidehandelspolitik II), Berlin 1901, S. 174. Verordnung vom 11.8.1710: J. C . Dähnert: Sammlung gemeiner und besonderer Pommerscher und Rügischer Landes-Urkunden, Privilegien, Verträge Constitutionen und Ordnungen ... insonderheit des Königlich-Schwedischen LandesTheils, Bd. 3, Stralsund 1769, S. 912 f. N a u d e (wie Anm. 46), S. 182; W. Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis, Hamburg u. Berlin 1974, S. 172 f.
Die Entwicklung im einzelnen
13
hinweg, 1709/10 griff sie auf Pasewalk (2/3 der Einwohner), Anklam, Belgard, Stettin (2.000 Tote) und Kammin über, 1710/11 auf Stralsund (3.609 Tote), Treptow/T., Wolgast (2/5 der Einwohner) und Wollin, 1711 herrschte sie in Greifswald.49 Eine zeitgenössische Aufzeichnung aus Stettin berichtet, es sei im August 1709 gewesen, da das Sterben im Damm hatt angefangen unnd bey die 500 Menschen dahiengeraffet. Auch hatt das Sterben auff etzliche Dorff er sich auch bewiesen, in Stettin hatt es von Augustimonat 1709 biß 1711 im Februarymonat, da es sich mit Gott geläget.50 Wutstrack berichtet, 1709 seien in Bütow viele Menschen an der Pest gestorben, welche aus Danzig verschleppt worden sei.51 Aufs Ganze gesehen, machten sich allerdings die Jahre 1709-1711 nicht außerordentlich bemerkbar. Die Zahl der Gestorbenen erhöhte sich nur leicht, zugleich ging jedoch die Zahl der Getauften zurück. Das hing damit zusammen, daß 1709 angesichts des Sterbens die Zahl der Eheschließungen sich deutlich vermindert hatte und außerdem viele nicht getaufte Säuglinge der Krankheit zum Opfer fielen. 1709 sind zudem für Stralsund Pocken belegt, damals eine ausgesprochene Kinderkrankheit, an der 600 Menschen starben. Während nun die Pest trotz der tiefen Ängste, die sie beschwor, zwar die Bevölkerung Vorpommerns und vor allem der vorpommerschen Städte dezimierte, die Gesamtzahl der durchschnittlichen Todesfälle dagegen nicht wesentlich erhöhte, so hinterließ seit 1713 der Krieg deutlichere Spuren. Im Mittel der fünf vorangegangenen Jahre starben in Hinterpommern 4.537 Menschen - 1713 waren es 6.390, 1714 6.131. Entsprechend betrug das arithmetische Mittel der Totenzahl aus vier früheren Jahren für die Herrschaften Lauenburg und Bütow 417; 1713 wurden 542 Menschen beerdigt, 1714 512.52 Vorpommern trafen die Jahre 1713 und 1714, als eine russisch-sächsische Koalitionsarmee einfiel und im September 1713 nach längerer Belagerung Stettin einnahm. Bis zur Peene übergaben die Verbündeten das Land Friedrich Wilhelm I., König in Preußen; der Friede von Stockholm bestätigte 1720 diese Gebietsveränderung. Unklar ist, seit wann die Populationslisten, die jährlich nach Berlin geschickt wurden, das neugewonne-
49
Angaben nach dem Deutschen Städtebuch, hrsg. v. E . Keyser, Bd. 1, Stuttgart 1939; H . Ewe: Das alte Stralsund. Kulturgeschichte einer Ostseestadt, W e i m a r 1994, S. 200.
50
N a c h [G.] von Bülow: Kleine Mittheilungen zur Geschichte Stettins, in: Baltische Studien 3 5 (1885), S. 263.
51
Wutstrack (wie A n m . 17), S. 725.
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N a c h Süßmilch (wie A n m . 30), Anhang.
14
Die Bevölkerungsentwicklung 1701-1805
ne Territorium mitberücksichtigten. Es kann also nicht gesagt werden, ob oder in welcher Weise der BevölkerungsVerlust, den Stettin während der Belagerung erlitt, sich auf die Gesamtbilanz auswirkte. Das Beispiel der napoleonischen Kriege läßt eher massenhafte Flucht als Kriegsverluste vermuten. Von Seuchen schweigen die Quellen und der Roggenpreis blieb stabil, so daß es keine Anzeichen für eine Hungersnot gibt. In den folgenden Jahren zeigt die Mortalitätsrate keine auffälligen Spitzen. Der überraschende Anstieg der Geburten von 8.552 1725 auf 11.811 1726 hat seinen Grund wohl in einer vollständigeren Erfassung; erst von 1746 an, urteilt Süßmilch, sind die Pommerschen Listen nicht nur vollständig, sondern sie haben auch die schönste Einrichtung und sind daher brauchbarer als alle andre..." Lokale Krisen - die schwarzen Pocken 1717 in Plathe, ein merklicher Anstieg des Getreidepreises 1728 in Stettin können die allgemeine Bevölkerungsvermehrung nicht hemmen, die zudem der König durch erste Peuplierungsmaßnahmen noch unterstützte.54 1732 starben 11.032 Menschen - das Mittel der fünf vorangegangenen Jahren hatte 7.828 betragen - hier wie für 1737,1741,1746 führt Süßmilch Seuchen, so grösten Theils in bößartigen Pocken bestanden an.55 In diesen drei Jahren überwog erstmals seit 1688 die Zahl der Beerdigten die der Getauften (1737-722,1741-1095,1746-519). Man wird dafür jedoch nicht allein Pockenepidemien verantwortlich machen, sondern Subsistenzkrisen vermuten: verbreitete Nahrungsmittelknappheit, die ganz allgemein die Anfälligkeit für Infektionskrankheiten verstärkte. Die Jahre 1737 und 1746 zeigen Maxima des Stettiner Roggenpreises. 1746/47 grassierte zudem eine Viehseuche. 1740 bis 1756 litt vor allem Hinterpommern an den Folgen einer ganzen Reihe von Mißernten. Auf Vorstellungen der Landräte des stolpischen, schlawischen, rummelsburgischen und greifenbergischen Kreises befahl die Regierung im Mai 1741, Erkundigungen einzuziehen, ob es wahr sei, daß theils Unterthanen fast bis auf die Hälfte Kleien, Kaff und Hülsen unter ihr Brodgetreide aus Noth mahlen und das Brod davon essen, einige auch aus Mangel nahrhaften Brods schon in tödtliche Krankheiten verfallen sein.'6 Die Ernte des Jahres 1744 mißriet er-
53 54
55 56
Ebd., S. 94 f. 1724 wurden 200 Wollarbeiter in pommerschen Städten angesiedelt. C. H i n richs: D i e Wollindustrie in Preußen unter Friedrich Wilhelm I. (Acta Borussica, Wollindustrie), Berlin 1933, S. 264 f. Ebd., S. 95. W. N a u d e , A. Skalweit: D i e Getreidehandelspolitik und die Kriegsmagazinverwaltung Preußens 1740-1756 (Acta Borussica, Getreidehandelspolitik III), Berlin 1910, S. 359.
Die Entwicklung im einzelnen
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neut, bald herrschte Getreidemangel in der Gegend von Tempelburg und Neustettin 57 ; sicherlich flohen auch hier wie im benachbarten Kreis Dramburg die Menschen nach Polen.58 Der Miß wachs 1746 führte eine Teuerung herbei, die wiederum besonders Hinterpommern bedrückte. 59 1754 fiel die Ernte in Pommern so schlecht aus, daß der König den hinterpommerschen Städten und Amtern sowie der Stadt Stettin - allen merkantilistischen Grundsätzen zum Trotz - die Einfuhr von 16.692 Wispeln Getreide (c. 15.300 t) aus Polen und Mecklenburg gestattete.60 1755 verregnete die Ernte, im folgenden Jahr mußte, wie schon häufiger, die Getreideausfuhr aus Hinterpommern untersagt werden, um die Untertanen am Leben zu erhalten.61 - „Schon im Januar [1756] war aus Hinterpommern nach Berlin berichtet worden, daß der Brotmangel die ,Armuth' nötige, Blüten vom Haselstrauch und Baumknospen zu trocknen und mit Mehl zu vermengen, um ihren Hunger zu stillen."62 Wenngleich differenzierende Zahlen nicht vorliegen, kann man annehmen, daß die demographischen Krisen, die in den Jahren 1741, 1746 und dann in den Siebenjährigen Krieg hinein kumulierten, besonders Hinterpommern heimsuchten. (Für Lauenburg-Bütow liegen allerdings die Maxima der Mortalität, soweit Daten überliefert sind, in den Jahren 1752, 1753,1757, 1758.) Daß die aufgeführten Mißernten nicht noch verheerendere Folgen zeitigten, hatte man der staatlichen Magazinierung zu danken. Andererseits verschärften die Importverbote des merkantilistischen Staates oft den Nahrungsmangel. Die besonderen Schwierigkeiten des östlichen Pommerns wird man nicht, wie Friedrich der Große, im schlechten Haushalten der Pommern suchen, sondern in der sozial-ökonomischen Struktur begründet sehen. Neben den Tagelöhnern hungerte, was in den Städten zum „inneren Rand der Armut" gehörte. Das waren die Wollweber und Raschmacher der hinterpommerschen Landstädte, die der reale Lohnverfall seit Anfang des 18. Jahrhunderts, veranlaßt nicht zuletzt durch die staatliche geförderten Manufakturen, an die Grenze des Exi-
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59 60 61 62
Ebd., S. 63, 385-389. Vgl. E. Utke: Die Abwanderung von Untertanen aus dem Dramburger Kreise nach Polen im Jahre 1745, in: Archiv f. Sippenforschung u. alle verwandten Gebiete 20.11 (1943), S. 225-227. Acta Borussica (wie Anm. 55), S. 137, 246-248. Ebd., S. 75. Ebd., S. 118,258. Ebd., S. 261.
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Die Bevölkerungsentwicklung 1701-1805
stenzminimums gedrängt hatte.63 Jeder Preisansteig der Grundnahrungsmittel mußte sie empfindlich treffen. Anders als mit diesen letztlich strukturbedingten Krisen verhielt es sich mit der erhöhten Sterblichkeit der Jahre 1751 und 1752 (11.404 bzw. 11.950 Todesfälle bei einem arithmetischen Mittel der vier vorangegangenen Jahre von 9.399). Sie konnte Süßmilch einleuchtend monokausal begründen: mit einer Pockenepidemie. Die Einrichtung der pommerschen Sterbelisten ermöglichte ihm eine Altersanalyse; dabei stellte er fest, daß 1751-1752 11.255 Kinder unter sieben Jahren gestorben waren (ohne Lauenburg-Bütow), während in zwei Normaljahren mit etwa 6.000 Toten in dieser Altersgruppe zu rechnen gewesen wäre. Hier mußte demnach eine Kinderseuche gewütet haben, als welche damals nur die Pocken in Frage kamen.64 Wie bereits bemerkt, leitete eine Hungersnot über in die Schreckenszeit des Siebenjährigen Krieges. Der Stettiner Roggenpreis nahm von 1755 auf 1756 um ein Drittel zu, schon seit 1750 war er kontinuierlich gestiegen. 1757 erhöhte sich drastisch die Zahl der Todesfälle. Dieses Sterben, das 1758 seinen Höchststand erreichte (16.891 Tote gegenüber einem Schnitt von 10.250 in den Jahren 1752-1756, dazu verringerte sich die Zahl der Geburten), untersuchte Süßmilch, veranlaßt durch eine Aufforderung in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen. Er erkannte, daß die erhöhte Sterblichkeit alle Altersgruppen betraf und ihre Ursache auch noch kaum in militärischen Aktionen haben konnte. Statt dessen bemerkte er ein allgemeines Ansteigen unterschiedlicher Krankheiten, die er aus der Teuerung herleitete. Er analysierte die vermehrte Sterblichkeit somit völlig korrekt als Subsistenzkrise, als Krise alten Typs. Es ist, erklärte er, unter den Herrn Aertzten, und aus der Geschichte der Natur mehr als zu bekannt, was die Hungers-Noth für Uebel nach sich ziehen kann, welche man daher unter dem eignen Nahmen des Morbi pauperum, der Armen Kranckheit, zu begreiffen pfleget.6' Der Rezensent der Göttingischen Anzeigen 63
Vgl. auch K. Hinze: Die Arbeiterfrage zu Beginn des modernen Kapitalismus in Brandenburg-Preußen 1 6 8 5 - 1 8 0 6 (Veröffentlichungen d. Histor. Kommission z. Berlin 9), Berlin 2 1 9 6 3 , der S. 146 f. darauf hinweist, daß es den Wollwebern zur Ausweitung ihrer Betriebe an der Zulieferung von Gespinst mangelte.
64
Süßmilch (wie A n m . 13), S. 56.
65
J. P. Süßmilch: Gedancken von den epidemischen Krankheiten und dem grösseren Sterben des 1757ten Jahres ..., Berlin 1758, S. 50. Fotomechanischer N a c h druck, kommentiert von H . Dreitzel, in: U r s p r ü n g e der Demographie in Deutschland. Leben und W e r k J o h a n n Peter Süßmilchs ( 1 7 0 7 - 1 7 6 7 ) , hrsg. v. Herwig Birg (Forschung des IBS Universität Bielefeld 11), Frankfurt/M. u. N e w Y o r k 1986, S. 2 5 9 - 3 9 9 .
Die Entwicklung im einzelnen
17
setzte hinzu: Pommern hat von dem Sterben am meisten gelitten, und wo wir nicht irren, hat dis Land schon Pfingsten 1756, also früher als andere Länder grossen Mangel gespüret.66 In Lauenburg-Bütow hatte die Hungersnot 1757/58 verheerende Auswirkungen, in Hinterpommern forderte das Jahr 1758, in Vorpommern das Jahr 1759, als die Schweden zum dritten Mal ins Land einfielen, die meisten Opfer. Von 1761 an muß man auch für Hinterpommern den Krieg direkt in Rechnung stellen. Russische Truppen eroberten Kolberg, das sie 1758 und 1760 vergeblich belagert hatten. Kolberg hatte 1740 5.027 Einwohner gezählt, vierzig Jahre später, 1782, waren es noch immer nicht mehr als 4.006.67 Im Winter 1761 auf 62 nahmen die Russen in Pommern Winterquartier; 1762 kostete die Zivilbevölkerung die meisten Tote dieses Krieges, am schlimmsten erging es Hinterpommern. Die preußischen Truppen hatte der Krieg auf 60.000 Mann dezimiert, die Hälfte des früheren Standes. Daß sich unter den Gefallenen nicht wenige Pommern befanden, versteht sich von selbst. Aber nicht die Gefallenen verursachten einen Bevölkerungseinbruch dieses Ausmaßes. Seit 1759 war der Roggenpreis in Stettin steil gestiegen. Wenngleich das zum Teil auf die Inflation zurückging, die das Eindringen schlechter sächsischer Münze, 1763 der leichten brandenburgischen Taler hervorrief: Es beeinträchtigte die Ernährungssituation der unteren Schichten.68 Martini 1762 mußte man in Stettin für den Wispel Roggen 112 Taler bezahlen, 348 % mehr als 1759! 1763 galt der Wispel 32 Taler; das Jahr 1763 kann auch wieder mit einer ansehnlichen Bevölkerungszunahme aufwarten. Die Verluste, die Krieg und Teuerung zu zollen waren, konnten - vor allem durch die hohen Geburtenüberschüsse 1764,1765, 1766 - bis 1771 ausgeglichen werden. 1772 überstieg die Zahl der Beerdigten die der Getauften um 1589. Dieses Jahr war nicht nur in Usedom ein Hungerjahr69; in ganz Europa zogen die Getreidepreise an. Bereits das Jahr 1770 hatte Pommern eine Mißernte gebracht, in Stettin kletterte der Roggenpreis 1771 auf 50 Taler gegenüber 16 Groschen 1769. Kornaufkäufe und Spekulation erschwerten die Situation in den kleineren Städten. Große Überschwemmungen taten das ihre. Baumann hat wohl Beispiele aus der Kurmark vor Augen, wenn er berichtet: Es sind dadurch an vielen Orten gute Wiesen mit unfruchtbarem San66
Göttingische Anzeigen v. Gelehrten Sachen, Bd. 2 (1758), S. 773.
57
F. G. Leonharde Erdbeschreibung der Preußischen Monarchie, Bd. 3.2, Halle/S.
68
J. C. C. Oelrich: Entwurf einer Pommerschen vermischten Bibliothek ..., Berlin
69
Städtebuch (wie Anm. 49).
1794. 1771, S. 89.
18
Die Bevölkerungsentwicklung 1701—1805
de so bedeckt worden, daß sie weiter nicht zu nutzen sind. Es ist dadurch häufiges Viehsterben verursacht worden, da die Weiden zu lange unter Wasser gewesen, ja an manchen Orten eine fingersdicke Decke von Wassermoos, so durch die Sonne so trocken und fest wie wollene Watte geworden, zurückgeblieben, die den Anwachs des Grases verhinderte, und wo noch Gras hervorgekommen, da mußte es dem Vieh wegen des Schlammes tödtlich werden. Hiermit war Mißwachs und Theurung verbunden, sonderlich 1772, wo die allgemeine Theurung in manchen Gegenden fast bis zur Hungersnoth gegangen ...70 Nicht nur fast: In Pommern herrschte Hungersnot. In diesen Jahren setzte sich der Kartoffelanbau in der Provinz durch, den bis dahin nicht die Ignoranz der Landleute, sondern die Qualität der damaligen Sorten mit ihrem kratzigen Geschmack, die Biologie dieser tropischen Pflanze und die hergebrachte bäuerliche Wirtschaftsform verhindert hatten.71 In der Kartoffel gewann gerade Pommern eine ungemein wichtige Stütze der Volksernährung. 1778, als die Volkszahl weniger als gewohnt zunahm und offensichtlich viele Pommern die Provinz verließen, hatten sich Pocken und Masern vereint, um die Bevölkerung zu dezimieren: Mehr als 23 % der Toten starben an diesen beiden Krankheiten;72 unter 347 Beerdigten in Stralsund waren 200 Kinder.73 1781 drückte eine neue Subsistenzkrise das ganze Land: Mehr Todesfälle als 1781 hatte es seit dem Krieg nicht gegeben. Wieder mißriet die Ernte, wieder verhinderte die merkantilistische Wirtschaftspolitik den rechtzeitigen Import.74 Alle Krankheiten forderten vermehrt Opfer, Ruhr und Pocken grassierten.75 1789 müssen viele - durch Not veranlaßt - das Land verlassen haben, jedenfalls ging die Bevölkerungszahl bei positiver Geburtenbilanz zurück. Eine Pockenepidemie wirkte sich, von Ost nach West ziehend, vor allem in den Städten aus. Viele Kinder raffte die Seuche 1791 und 1794 in Pasewalk hinweg: Wann wird doch einmal
70
J. P. Süßmilch (wie A n m . 30), Bd. 3, hrsg. v. C h . J. Baumann, Berlin
21787,
71
Vgl. U . K ö r b e r - G r o h n e : Nutzpflanzen in Deutschland. Kulturgeschichte und
72
Brüggemann (wie A n m . 20), Stettin 1800, S. 382.
73
P o m m . Magazin, Teil 5 (1779), S. 2 3 9 f.
S. 177. Biologie, Stuttgart 2 1988, S. 143 f.
74
A. Skalweit: Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung P r e u ßens 1 7 5 6 - 1 8 0 6 (Acta Borussica, Getreidehandelspolitik IV), Berlin
1931,
S. 35. 75
Brüggemann (wie A n m . 72). D e m Städtebuch (wie A n m . 4 9 ) zufolge wütete in Greifenhagen die Ruhr.
Die Entwicklung im einzelnen
der Blatternwuth werden?!
Einhalt geschehen,
wann wird diese Pest
schrieb Johann Jakob Seil dazu.
19
ausgerottet
76
Die Krise 1794/95 traf aufgrund der ungünstigen Besitzstruktur die adligen Orte in Hinterpommern; die Seelenzahl dort betrug 1795 177.731,1796 177.620. Auf den vorpommerschen adligen Gütern deutet sich ein Einbruch schon 1794 an, doch fehlen die Vergleichszahlen. Grundsätzlich wuchs zu Ende des 18. Jahrhunderts die Einwohnerschaft nirgends zögernder als auf den vorpommerschen Gütern (durchschnittliche jährliche Wachstumsrate 1788-97 0,24 % gegen 0,43 % in den hinterpommerschen adligen Orten und 0,57 % im Durchschnitt der ganzen Provinz). 77 Die königlichen und städtischen Besitzungen zeigen keine demographische Krise. August Skalweit meint, die Teuerung dieser Jahre hätten Pommern und die Neumark besonders gefühlt: „Einmal war hier die Ernte besonders schlecht geraten, und zweitens litten diese Provinzen unter der Einfuhrsperre, die zu den benachbarten Gebieten West- und Süßpreußens alte Verkehrsbeziehungen unterbrochen hatte. Am schlechtesten ging es den kleinen Tucherstädten in der Neumark und Hinterpommern ... Wenn der Tuchabsatz, so wie damals, stockte und noch Brotteuerung hinzukam, dann waren diese kleinen Industrieorte dem Untergang nahe." 7 8 Unverkennbar ging 1794 in einzelnen Städten die Einwohnerzahl zurück, am deutlichsten in den Städten nördlich Stargards, in Jakobshagen (-2,45 % ) , Zachan (-2,78 % ) und Freienwalde (-3,31 %). 7 9 Der Hunger führte weiter dazu, in die 1793 im Petersburger Vertrag neugewonnene Provinz Südpreußen abzuwandern. Schon 1793 hatten ausweislich der Migrationsbilanz mehrere Tausend, legal oder illegal, diesen Weg eingeschlagen, nicht wenige folgten 1794 nach. Die vorpommerschen Häfen und Umschlagplätze konnten dagegen seit dem Basler Frieden 1795 am englisch-französischen Seekrieg verdienen: Stepenitz, Jasenitz, Ziegenort, Altwarp nennt 1798 ein Anonymus und
fährt fort: Besonders befinden sich Anklam und Demmin in einem blühenden Zustande; sie sind nach der Hauptstadt die reichsten Städte der Provinz. In Anklam vermehrte sich die Bevölkerung von 1795 auf 1797 um 6,71 % , in Demmin sogar um 15,14 %. 8 0 76
J. J. Seil: Briefe über Stettin und die umliegende Gegend auf einer Reise dahin im
77
N a c h den Jahrbüchern d. Preußischen Monarchie 1 (1799), S. 216.
78
Skalweit (wie A n m . 74), S. 185. Z u r Stagnation des Textilgewerbes s. K. H .
Sommer 1797 geschrieben, Berlin 1800, S. 87.
Kaufhold: Das Gewerbe in Preußen u m 1800 (Göttinger Beiträge z. Wirtschaftsu. Sozialgeschichte 2), Göttingen 1978, S. 121 f. 79
N a c h Wutstrack (wie A n m . 17).
80
U b e r die Schiffahrt und den Schiffbau Pommerns, im Jahr 1797, in: Jahrbücher der preußischen Monarchie 2 (1798), S. 2 6 0 - 2 6 4 .
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Die Bevölkerungsentwicklung 1 7 0 1 - 1 8 0 5
Wir haben, stand 1805 in den Annalen der Preußischen Staatswirthschaft und Statistik, seit 1787 kein einziges außerordentlich fruchtbares Jahr und viele mittelmäßige und schlechte Ernten gehabt. Indessen haben die steigenden Preise doch eine beträchtliche Erweiterung der Acker-Cultur veranlaßt.81 Als wichtiger wohl erwies sich die Einführung der Kartoffel, deren Anbau ein Sterben wie zuletzt 1772 abwendete. Die große Teuerung 1804/0582, eine Krise europäischen Ausmasses, scheint merkwürdigerweise nur die männliche Landbevölkerung betroffen zu haben. Eine militärischen Erfordernissen entsprechend veränderte Zählweise kann 1805 jedenfalls noch kaum der Grund des Phänomens gewesen sein.
2.3 Schwedisch V o r p o m m e r n 1760 bediente sich die Regierung in Greifswald der kirchlichen Administration, um die Bevölkerungszahl des Landes vor dem Siebenjährigen Krieg festzustellen. Eine zweite Volkszählung fand 1764-1766 statt; damals sollen in Schwedisch Vorpommern 60.702 Menschen auf dem platten Land gelebt haben.83 Die Ergebnisse beider Zählungen blieben unveröffentlicht, doch trug Johann Carl Dähnert in privater Initiative und sehr mühselig die Einwohnerzahlen sämtlicher Orte für 1767 zusammen. Aus der Addition seiner Angaben ergeben sich 59.936 Landbewohner.84 Ausweislich des Deutschen Städtebuchs zählten 1766/67 die schwedischvorpommerschen Städte 27.000 Einwohner, so daß man insgesamt mit 87.000-87.700 Personen zu rechnen hat. Von 1779 an wurden dann alljährlich Zählungen durchgeführt und publiziert. Schwedisch Vorpommern steht in dem Ruf, diejenige Gegend des Deutschen Reiches gewesen zu sein, in der seit etwa 1780 am ungehindertsten ein neues Bauernlegen Platz griff. Die schwedische Regierung gewährte eine weitgehende Autonomie der inneren Verwaltung, so daß der Adel seinen Vorteil unbeschränkt wahrnehmen konnte; auch die Städte und die Universität Greifswald nutzen die günstige Agrarkonjunktur, um auf Kosten der Bauern scheinbar rationellere Großbetriebe zu schaffen. Zwar verbot ein königliches Handschreiben 1778 auf den Domänen die 81
Bd. 2, 1805, S. 175. Eine Mißernte mit anschließendem strengen Winter gab es etwa 1798. Vgl. Skalweit (wie Anm. 74), S. 585.
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Zu dieser Krise: G. H . Heinse: Geist und Critik der neuesten über die Theurung der ersten Lebensbedürfnisse erschienenen Schriften; oder gesammelte und eigene Vorschläge diese Volksnoth in Zukunft sicher abzuwenden, Zeitz 1806.
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Peters (wie Anm. 44), S. 104 f.
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Schwedisch Vorpommern
Vernichtung von Bauernstellen, doch was bedeutete das, wenn gerade 26,5 % der Landbevölkerung zur Domanialherrschaft gehörten? Die Auf-
klärer klagten: Eine Menge Dörfer, worin vormals 6, 8, 10, 12 und mehr Bauern wohnten, sind, nachdem von Zeit zu Zeit durch linke Staats- und Hauswirthe das „veteres migrate coloni" über sie ausgesprochen worden, jetzt einzelne Höfe.85 Dieser Prozeß hatte jedoch seinen Anfang schon lange vorher genommen, neu war die Umstrukturierung der Gutswirtschaft, die sich immer weniger auf bäuerliche Frondienste und statt dessen auf bezahlte Tagelöhner stützte. „Unter dem beispiellosen feudalen Druck", so meint Jan Peters, „... vollzog sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weniger eine quantitative Vergrößerung der Zahl der Landarmut als eine Verschiebung der Anteilverhältnisse und eine Nivellierung zwischen ihren Gruppen. Der steigende Bedarf an Tagelohnarbeit und der sinkende Bedarf an Frondiensten ließen den Anteil des Gesindes an der Landarmut geringer werden.t