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German Pages 694 [712] Year 1925
Entdeckung der Seele Allgemeine Psychobiologie Von
Dr. med. et phil. Hans Lungwitz Nervenarzt in Charlottenburg
Zweite A u f l a g e
Brücke-Verlag
Kurt
Schmersow,
Kirchbain
N.-L.
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Im Brücke-Verlag Kurt Schmersow, Kirchhain N.-L. erschien ferner:
Erkenntnistherapie für Nervöse Psychobiologie der Krankheit und der Genesung Von Dr. med. et phil. H a n s L u n g w i t z , Nervenarzt in Charlottenburg 188 Seiten broschiert RM. 4.80
Die Psych.-Neurol. Wochenschrift (Oktober 1932) u r t e i l t : Psychoanalyse und Individualpsychologie (vgl. die gründliche Kritik derselben von Fahrenbruch, diese Wochenschrift 1931 Nr. 52 S. 617) haben e n t t ä u s c h t und versagt; sie beanspruchten, den Nervenkranken eine Art Erlösung zu bringen; man spürt nichts davon, aber sieht manche Mißerfolge und Nachteile; den Schlüssel zu dem „ E r k e n n e dich s e l b s t " haben sie nicht gefunden, nicht einmal das Schloß. Lungwitz' „Schule der E r k e n n t n i s " zeigt und öffnet nun endlich mit dem Mittel exakter p s y c h o b i o l o g i s c h e r Forschung den Zugang zu der Unterwelt der seelisch Nervenkranken, der sog. Neurotiker. Aller Dämonismus und wissenschaftlich verkleideter Aberglaube früherer Methoden der Psychotherapie ist vermieden. Kein Schemazwang, keine seelische Selbstzersetzung wird dem Kranken zugemutet. Lungwitz' „ S c h u l e der E r k e n n t n i s " will eine Erlösungs- und Befreiungslehre im besten Sinne des Wortes sein für Nervenkranke sowohl wie f ü r Gesunde, die mühselig und beladen sind, und eine seelische Aufbauschule zugleich. Das Buch bedeutet einen Wendepunkt in der Psychotherapie, die in der letzten Zeit Neues nicht mehr gebracht und sich auf alten Geleisen festgefahren hatte, und eine neue vielversprechende Richtung, und ist zumal in ihrer bewundernswerten Klarheit und Schlichtheit berufen, den größten Segen für die Nervenkranken zu s t i f t e n .
Schule der Erkenntnis
Die Entdeckung der Seele Allgemeine Psychobiologie Von
Dr. med. et phil. Hans Lungkwitz Nervenarzt in Charlottenburg
Zweite Auflage
Motto: Non
Brücke-Verlag
ignoramus
Kurt Schmersow, Kirchhain
N.-L.
Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1925 by Brücke-Verlag Kurt Schmersow, Kirchhain N.-L.
Druck von Hallberg & B&cbting in Leipzig.
Vorwort. Die naive wie die wissenschaftliche Psychologie spricht von psychischen (seelischen) Erscheinungen, Vorgängen, Regungen und Erregungen, Krankheiten usw., kurz von psychischen Bestimmtheiten, wie sie von physischen Erscheinungen usw. spricht. Es besteht die Meinung, daß auch das Psychische oder Psychisches wahrnehmbar sei oder doch „hinter" dem Wahrnehmbaren, dem Physischen existiere, die wahrgenommenen Phänomene bewirke, bedinge, bezwecke, daß man also das Psychische und damit die Psyche auch beschreiben könne, so wie man Physisches beschreibt. Die naive Auffassung geht dahin, daß die Seele im Leibe als ein Wesen im Wesen enthalten sei, daß sie ein separates geheimnisvolles Etwas im Etwas, ein Dämon mit heimlich-unheimlichen Kräften sei, der das Dichten und Trachten, das Tun und Denken des Menschen von sich aus bestimme, der auch „erscheinen", „sich materialisieren" könne usw., und es verschlägt diesem Glauben nichts, daß im Falle der Materialisation die Seele aufhören würde, Seele zu sein, nämlich Materie, Physis werden müßte (s. $ 109). Nicht viel anders denkt die wissenschaftliche Psychologie, auch sie bewegt sich noch so gut wie vollständig im Banne des Motivismus, ja auch die Psychoanalyse, eine so weit entwickelte, eine so „reife" Psychologie hat es trotz mancher zaghafter Ansätze nicht gewagt, diesen Zauberring zu überschreiten. Auch die wissenschaftliche Psychologie behauptet (wenigstens stillschweigend), daß sie Psychisches und Psyche prüfe, erforsche, beschreibe, und unterstellt auch bei ihren Experimenten (wenigstens stillschweigend), daß irgendwo im Körper ein Etwas, ein Wesen, ein Unerklärliches seinen Sitz habe, von dem die beobachteten Äußerungen von Kraft, Wunsch, Willen usw. ausgehen, das den Menschen beherrsche, lenke, leite und ihm die Freiheit gäbe, sich so oder anders zu entscheiden, eine Handlung, eine Wortreihe vorauszudenken und sich auf Grund dieser Überlegung zu entschließen, ob und wie getan, gesprochen werden solle. Der kategorische Imperativ K a n t s , das „Sittengesetz in uns", N i e t z s c h e s „Wille zur Macht", S c h o p e n h a u e r s „Wille", E. v. H a r t m a n n s „Unbewußtes" u. a. philosophische Synonyma f ü r „Seele" oder „ K r a f t " spuken in mancherlei Gestalt auch in der Psychologie, und die F r e u d sehen „psychischen In7
stanzen" (Unbewußtes, Vorbewußtes, Bewußtsein, neuerdings Es, Ich und Über-Ich, letzteres die neue Auflage des Nietzscheschen [infantilen] Übermenschen) erweisen sich auf Schritt und Tritt als dämonischen Geblüts, als Fabelwesen, die nur in der dunstigen Welt der sog. „Metapsychologie" atmen können. Zu diesem Psychischen wird vor allem auch das B e w u ß t s e i n gerechnet; es wird ihm eine Sonderexistenz im Organismus zugeschrieben derart, daß es die übrigen Teile der Psyche sowie die Physis in der Hauptsache oder überhaupt dirigiere und nach Gutdünken in den Dienst seines Willens stelle. „Weil" er Bewußtsein besitze, sei der Mensch f ü r sein Tun und sogar Denken verantwortlich; denn er könne eben als Inhaber dieses Bewußtseins, das nun gar mit Psyche identifiziert wird, sich ja vorher überlegen, wie er handeln oder gar denken solle, und sein Tun und Denken nach diesen Überlegungen einrichten; er sei unter gewöhnlichen Umständen im Besitze der „freien Willensbestimmung", handle, rede, denke also mit Absicht oder müsse oder solle jedenfalls nach Vorbedacht handeln, reden, denken und müsse, wenn er es nicht tue, die Folgen tragen; womit noch weiter fingiert ist, daß es in seiner Macht, seinem (guten oder bösen) Willen liege, mit oder ohne Vorbedacht zu handeln, reden, denken usw. Das Bewußtsein spielt somit auch die Rolle eines Dämons, sogar die des Oberdämons, der ein Gott oder ein Teufel sein kann, je nach seiner immer zweifelhaften Artung seine Untergötter oder Unlerteufel befehligt und auf die „Außenwelt" in der verschiedensten Weise einwirkt — in der Weise nämlich, wie sie sowohl im alltäglichen Verkehr wie auch in den Symbolen und Analogien der ethischen, juridischen, pädagogischen, theologischen, medizinischen, ästhetischen, soziologischen, politischen usw. usw. Formulierungen sich präsentiert. Auch die Wissenschaft, insbesondere natürlich die sog. „angewandte Wissenschaft" ist noch fast durchweg vom „Geiste" des Dämonismus „beseelt". In dem vorliegenden Werke zeige ich, daß die P s y c h o l o g i e e i n e b i o l o g i s c h e W i s s e n s c h a f t ist und nichts anderes sein kann. Psyche ist der anschauungsgemäße Gegensatzpartner zur Physis; Psyche ist das Nichts, ist Endbegriff der weiblichen Entwicklungslinie, die von der Gefühlssphäre bis zur Begriffssphäre verläuft, — im polaren Gegensatz zur Physis, dem Etwas, dem Objekt schlechthin, dem Endbegriff der männlichen Entwicklungslinie. Psyche ist das Nicht-Wahrnehmbare, das Nicht-Seiende in der polaren Beziehung zur Physis, dem Wahrnehmbaren, dem Seienden. Psyche ist das Nicht-Erreichbare (für die Wahrnehmung wie f ü r die Beschreibung), nur das Physische wird wahrgenommen und beschrieben. Psychologie gibt es nur, insofern das Physische wahrgenommen und beschrieben und damit zugleich der polare Gegensatzpartner, die Psyche, das Nichts „gemeint" ist. Psyche ist 8
das Nicht-Objekt, nämlich da» Subjekt; Physis ist das Objekt. Subjekt und Objekt sind wohl zu unterscheiden von Subjekt-Individuum und Objekt-Individuum. Die polare Gegensätzlichkeit, die SubjektObjekt-Beziehung ist wohl zu unterscheiden von der interpolaren Gegensätzlichkeit, dem interindividuellen Verhältnis. Es gibt sonach keine psychischen Phänomene, Instanzen usw. Auch das Bewußtsein, das Denken sind physisch; die Gefühle, die Gegenstände, die Begriffe sind physisch. Der ganze Dämonenzauber fällt in sich zusammen. Es gibt nur e i n Objekt, dieses ist anschauungsgemäß immer anders; die „Objekte" sind Aktualitäten der in den Denkzellen der Hirnrinde liegenden Beziehung. D i e H i r n r i n d e i s t e i n O r g a n f ü r s i c h ; ihre Ganglienzellen sind die Denkzellen, und diese sind in drei Denksphären angeordnet, nämlich in die sensile (Gefühls-), die modale (Gegenstands-) und die idealische (Begriffs-) Sphäre. Diese Gliederung entspricht sowohl dem histologischen Bilde wie der Lokalisationstheorie wie der psychologischen Erfahrung, die ich besonders im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte als Psychotherapeut und Psychoanalytiker und seit langem als Erkenntnistherapeut sammeln konnte. Zur Entdeckung der Seele, der polaren und der interpolaren Gegensätzlichkeit, der Hirnrinde als „Organs f ü r sich" und ihrer Gliederung in die Denksphären, zur Erkennung der Psychologie als einer biologischen Wissenschaft gesellt sich die Erkennung der Denkweisen, die im Gange der menschlichen Entwicklung nacheinander sich ablösen: auf die embryonale (sensitive) Denkweise folgt die infantile, die juvenile (beide motivisch, d. h. kausalisch, konditioneil, teleologisch), die mature (realische) und endlich die senile (involutionistische). Ich werde zeigen, daß der Dämonisrnus mit dem Motivismus zusammenfällt, also mit der Kausalität in ihren Ab- und Ausformungen, daß eben der kausalen (infantilen und juvenilen) Denkweise die Zerlegung des Objekts in Ursache und Wirkung, Grund und Folge, Absicht und Zweck usw., die Deutung und damit der Zweifel, der Zwang, der Zwiespalt in allen seineu Modulationen eigentümlich ist und alles Glück und Unglück, alles Heil und Unheil, alle Furcht und Hoffnung, alle Schuld und Strafe, alle Sünde und Sühne in sich begreift, daß die Kausalität zwar eine Denkweise ist, nicht aber d i e menschliche Anschauung, die nach der fiktionalen Deutung des motivischen Menschen an Raum, Zeit u n d Kausalität „gebunden" ist. Ich nenne das mature oder realische Denken auch das kognitive, das erkennende; der realische Mensch erkennt die Kausalität als Name und Begriff f ü r die Denkweise einer bestimmten biologischen Entwicklungsstufe, nämlich der infantilen und juvenilen, erkennt sie als Fiktion, die allen Zauber, alle Rätsel, alle Wunder, alle Tugenden und Laster des Dämonismus in sich faßt, erkennt sie als Präsentant der e i n z i g e n F r a g e , die der Mensch als Infans und als Juvenis stellt 9
und die das einzige Problem aller (motivischen) Wissenschaft ist: die F r a g e nach dem U r s p r u n g . — Die K a u s a l i t ä t ist die P r o b l e m a t i k der M e n s c h w e r d u n g . Dieses Rätsel und seine Deutung kennzeichnet die Denkweise des Menschen bis zur Maturität (um die vierziger Jahre) hin. Die Maturität hat Grade, und nur wenige Menschen haben bisher einen so hohen Grad der Maturität erreicht, daß sie das Rätsel —- ganz allgemein — nicht nur deuten, sondern lösen konnten — lösen in dem Sinne, daß das Rätsel a l s s o l c h e s erkannt, daß das W e s e n d e s R ä t s e l s e r k a n n t und so das Rätsel eben kein Rätsel mehr ist, daß es nicht mehr existiert, daß die Welt, das Objekt erkannt wird und nicht mehr rätselhaft, zweifelhaft, fragwürdig erscheint. Als ödipus der Sphinx (Muttersymbol) antwortete, stürzte sie sich in den Abgrund; aber ödipus hat das Rätsel bloß gedeutet, nicht gelöst: er nahm seine Mutter Jokaste zum Weibe, zeugte mit ihr, erfuhr sein „Verbrechen", das er als solches auffaßte und sühnte — mit Blendung, mit Entrückung: mit der gleichen Sünde. Er hatte (noch) nicht erkannt; die Sphinx lebte, solange er selber lebte, sie war und ist Darstellung des Mutterproblems, f ü r den motivischen Menschen unsterblich. Erkenntnis, Weisheit eignet erst dem, der das Objekt nicht mehr als Sphinx, als Rätsel anschaut, f ü r den es das Rätsel, die Frage, den Zweifel, den Zwang — die Kausalität nicht mehr gibt (außer als motivisches Denken).
Die Psychobiologie ist die Wissenschaft von der Physis als polarem Gegensatzpartner zur Psyche. Das Objekt wird betrachtet und beschrieben im eigentlichen Sinne der psychologischen Betrachtung und Beschreibung. W i r treiben Biologie im eigentlichen Sinne der Psychologie, d. h. eben: das Objekt wird als polarer Gegensatzpariner zum Subjekt betrachtet und beschrieben. (Psyche, Subjekt, Nichts, Ich und anderseits Physis, Objekt, Etwas, Du sind Synonyma.) In dem vorliegenden Buche sind die a l l g e m e i n e n L i n i e n dieser neuen Wissenschaft aufgezeichnet; an einigen Wegstellen ist auch kurzer Halt gemacht und die Umgegend so überblickt, wie es auf einer Wanderung möglich ist. Die eingehende psychobiologische Beschreibung dieser Etappen ist der s p e z i e l l e n P s y c h o b i o l o g i e vorbehalten. Diese u m f a ß t die Beschreibung der speziellen Formen des Objekts und seiner Änderung, also des Seins und des Werdens und Vergehens (der Bewegung), der Wahrnehmung und des Denkens, des Symbols und der zeiträumlichen Zusammenhänge, der interindividuellen Verhältnisse in ihren verschiedenen Gruppierungen. W i r werden dann eine Psychobiologie der Sprache, der Zahl, der Musik, der Religion, der Ethik, des Rechts, des Charakters, der Pädagogik, der Ästhetik (Kunst), 10
der soziologischen Formen, der medizinischen Disziplinen usw. haben. Alles Verhalten der Individuen, wie es in die einzelnen Erfahrungs- u n d Wissensgebiete, in die einzelnen „Lebensgebiete" eingeordnet u n d abgegrenzt ist, läßt sich psychobiologisch beschreiben, nämlich als zeiträumliches Geschehen, f ü r dessen Ablauf die Kausalität, Konditionalität, Teleologik nicht mehr gilt. Die psychobiologische Betrachtung u n d Beschreibung ist die realische. Die Welt ist bisher so gut wie ausschließlich motivisch betrachtet u n d beschrieben worden. Die Zeit der Realität (in u n serm Sinne) ist gekommen. Die menschliche Anschauung ist im Übergange von der motivischen zur realischen Denkweise begriffen. Die psychoanalytische Denkweise, wie F r e u d u n d seine Schule sie verkörpert, ist ein Zwischenstadium in diesem Umwandlungsprozeß. Meine Broschüre „ Ü b e r P s y c h o a n a l y s e " ist eine kurze Darstellung dieses Denkens, ein Überblick über die psychoanalytischen Tatsachen u n d Theorien, eine Vorbereitung auf die Lektüre des vorliegenden Buches. I m gleichen Sinne habe ich einige — bisher drei — R o m a n e herausgegeben; sie f ü h r e n in psychobiologischer Betrachtung das lebendige Geschehen selber vor Augen, noch nicht übersetzt in die Sprache der abstrakten Wissenschaft. Über kurz oder lang wird auch die Kunst dem realischen Denken Genüge zu leisten haben. Ich gedenke, auch in dieser künstlerischen F o r m weitere Beiträge zur Psychobiologie zu bringen und ferner die wissenschaftlichen Veröffentlichungen fortzusetzen: die „ P s y c h o b i o l o g i e d e s E m b r y o s " liegt bereits im Konzept vor; es wird d a n n die „ P s y c h o b i o l o g i e d e s K i n d e s " und die „ P s y c h o b i o l o g i e d e s E r w a c h s e n e n " , letztere beiden Teile in einer Reihe von Einzeldarstellungen, folgen. Alle Veröffentlichungen kommen unter dem Haupttitel „ S c h u l e d e r E r k e n n t n i s " heraus; Psychobiologie ist Erkenntnislehre. Im Anschluß hieran sei noch auf einen besonders prägnanten Zusammenhang aufmerksam gemacht. Die motivische Periode ist ein Abschnitt der biologischen Entwicklung der Menschheit und des Menschen. Der Mensch ist ein Reflexautomat; er besteht aus Reflexbahnen, d. h. Systemen, deren jedes sich aus dem Ausgangsorgan, der nervösen (und zwar sensibel-motorisch-sekretorischen) Verbindung und dem Endorgan zusammensetzt. Diese Reflexbahnen f ü h r e n über Rückenmark oder Gehirn, auch über die Hirnrinde, und in diese letzteren kann das Bewußtsein eingeschaltet sein. Die Systeme haben n u n einen verschiedenen Entwicklungsrhythmus. Ihre Funktion macht das Verhalten des Individuums aus, u n d je erheblicher die Entwicklungsdifferenzen der Systeme sind, desto mehr weist das Verhalten Besonderheiten auf und desto stärker treten diese hervor; von einem gewissen Grade der Abweichung an nennen wir das Verhalten Krankheit u n d unterscheiden „psychische" u n d „physische" oder „funktionelle" und ,,orI I
gallische" Krankheiten. W i r erkennen aber, d a ß zwischen den sog. psychischen (und nervösen) u n d den physischen Krankheiten kein wesentlicher, sondern lediglich ein gradueller und topographischer Unterschied besteht. Die in der Keimzelle gegebene Organisation des Individuums k o m m t n u n in derjenigen Lebensperiode zur E n t faltung, die mit d e m Zeitalter des Motivismus zusammenfällt. So ist das Zeitalter des Motivismus die Periode der Krankheit. Nicht als ob jeder motivische Mensch, jedes I n f a n s und jeder Juvenis krank wäre; der kausale Mensch kann harmonisch entwickelt sein, braucht keine „abweichenden" Systeme aufzuweisen. Aber jede Krankheit ist das Zeichen einer Dissoziation der Persönlichkeit in dem Sinne, d a ß sich im Verbände des Organismus m e h r oder weniger zahlreiche Systeme vorfinden, die über die embryonale oder infantile Entwicklungsstufe nicht weit hinausgekommen sind; diese Systeme sind stets auch im Sinne einer Perversion d e r sensibelmotorisch-sekrctorischen Verbindung gekennzeichnet. N u r insoweit kann der Mensch erkranken u n d erkrankt er, als er solche Systeme beherbergt, u n d insoweit er solche Systeme aufweist, denkt er in einer dem Grade ihrer Abweichung entsprechenden infantil-motivischen Weise. Andere Systeme sind im Gegensatz zu den „zurückgebliebenen" mehr minder weit über die „normal::" Grenze hinaus entwickelt, und so zeigt sich bei allen Nervösen u n d Neurotikern, bei denen die Abweichungen vorwiegend in der Hirnrinde liegen, in mancher Hinsicht ein besonders hoher Grad von Intelligenz neben Funktionsweisen frühinfantiler Systeme (kindlichem oder, wie man dann sagt, kindischem Gebahren). Eine solche Dissonanz ist typisch f ü r unser Zeitalter, wie o f f e n b a r f ü r alle Zeitalter ausgehender K u l t u r und hereinbrechender Zivilisation, f ü r die Zeitalter der beginnenden und fortschreitenden genitalen I m potenz (in ihren zahlreichen F o r m e n ) ; in diesen Perioden sind die Gehirne weit, aber ungleichmäßig entwickelt, u n d diese Perioden sind gekennzeichnet durch die allgemeine Nervosität, zu der als besondere F o r m e n die Neurosen gehören. Zugleich ist es ein „Zeichen der Zeit", nämlich des werdenden Ausgleichs der E n t wicklungsdifferenzen, d a ß die Erkenntnis sich m e h r t ; es vollzieht sich der Übergang in das realische Denken. Die „ H e r k u n f t des Menschen" wird als das U r - und einzige Problem der motivischen Menschheit, als der eigentliche „Sinn" der Kausalität und diese selbst als die lediglich einer gewissen Entwicklungsstufe eigentümliche Denkweise erkannt, es gibt kein Problem m e h r ; die Fiktion, die das motivische Denken ausmacht, das Rätsel, die Frage, Zwang, Zweifel usw. wird d e m Wesen nach erkannt u n d findet so das Ende; mit der Harmonie der Hirnrinde wächst die Harmonie der Welt aus der Zerrissenheit der kausalen Denkweise heraus. Soweit der Mensch realisch denkt, ist die Entwicklungsfront seiner Systeme einheitlich, kann er nicht erkranken u n d erkrankt er nicht. Die 13
wahre Genesung ist allein die Erkenntnis. Ich werde über dieses Thema, das ich im § Iii kurz gestreift habe, in einem besonderen Buche „ Ü b e r E r k e n n t n i s t h e r a p i e " berichten. Hier nur der Hinweis darauf, d a ß die hier vorgetragene Erkenntnislehre für alle Menschen, die sich in sie vertiefen, die einzige, die eigentliche Erlösung ist. Charlottenbiirg, im Juli 1925. Hans Lungwitz.
Vorwort zur 2. Auflage. In dem nunmehr in 2. Auflage vorliegenden Buche habe ich die allgemeinen Grundlinien der Psychobiologie angegeben. Es handelte sich mir im wesentlichen darum, die d ä m o n i s t i s c h e von der r e a l i s c h e n W e l t a n s c h a u u n g abzugrenzen. „Dämonistisch" habe ich die Weltanschauung genannt, innerhalb deren die Dinge in „sie selber" und ein in ihnen wohnendes rätselhaftes, geheimnisvolles, unheimlich-heimliches „Wirksames" (Dämonen, Seelen, Kräfte, Ursächlichkeit, Zwecklichkeit usw.) zerdeutet werden, und innerhalb deren es keine Möglichkeit gibt, aus den Deutungen und Deutereien hinauszukommen. Die dämonistische Denkweise ist eine lange Periode hindurch die allgemeine: sie wandelt sich aus dem rohprimitiven Dämonismus zu den „ v e r d ü n n t e n " Formen Kausalität, Konditionalität, Finalität, aber noch heute ist z. B. die Psychologie (ganz abgesehen von der Religion), mag sie es zugeben oder nicht, eine rohdämonistische Seelenlehre. — Von dieser dämonistischen Weltanschauung unterscheidet sich scharf die meinige, die r e a l i s c h e . Diese Abgrenzung wurde möglich, nachdem es mir gelungen war, die Frage nach der biologischen Funktion der Hirnrinde als des Organs des Bewußtseins zu lösen. Mit dieser Lösung, d. h. m i t d e r L ö s u n g d e s L e i b - S e e l e P r o b l e m s war die realische W e l t a n s c h a u u n g gegeben. Innerhalb der realischen Weltanschauung ist kein Platz für Dämonen (irgendwelchen Namens), f ü r Fiktionen, Deutungen, Zweifel, Phrasen, Mystik. Die Dinge sind nur „sie selbst", ihr Wesen ist erkannt, sie beherbergen keine Zauberer und Zauberkräfte und sind nicht einem transzendentalen Zauberer oder transzendenten Zauber unterworfen, ihr Sein, ihr So-Sein, ihre Reihe und Ordnung ist aus der S t r u k t u r und Funktion der Hirnrinde vollkommen verständlich. M i t d e r E n t w i c k l u n g der realischen W e l t a n s c h a u u n g und ihrer s y s t e m a t i s c h e n B e s c h r e i b u n g beginnt eine neue Periode des m e n s c h l i c h e n D e n k e n s , und dieser Ü b e r g a n g f i n d e t k e i n e n a d ä q u a t e n V e r g l e i c h in d e r G e s c h i c h t e d e r M e n s c h heit. Die g r u n d s ä t z l i c h e Darstellung mußte von Einzelheiten ausgehen, durfte sich aber nicht in die Einzelheiten ausbreiten. Wer die realische Weltanschauung im Grundsätzlichen erfaßt hat, der weiß,
daß sie nicht bloß für einzelne Tatsachen oder Tatsachengruppen gilt, sondern daß sie überhaupt gilt, daß es keine Tatsache geben kann, die ihr widerspräche, d. h. die nicht innerhalb der realischen Weltanschauung ihren biologischen Ort hätte, — der weiß auch, daß, falls sich eine einzige solche Tatsache fände, die realische Weltanschauung in ihrer Gänze ein Irrtum wäre. Wer die Nach Weisungen im einzelnen haben will, mag sich in das „Lehrbuch der Psychobiologie" vertiefen. Wie im Vorwort zur t . Auflage angekündigt, habe ich mich an die Arbeit gemacht, die Gültigkeit des realischen Denkens für die einzelnen Erlebens- und Wissensgebiete nachzuweisen. Diese spezialisierten Arbeiten wuchsen alsbald zu einem organischen Gesamtwerk zusammen. Ich habe es das „ L e h r b u c h der P s y c h o b i o l o g i e " genannt. Die beiden ersten Bände, betitelt „Die Welt ohne Rätsel", liegen seit mehr als Jahresfrist druckfertig vor; der 3. Band, die „Psychobiologie der Persönlichkeit", wird jetzt verfaßt, der 4. Band wird die psychobiologische Krankheitslehre einschließlich Erkenntnistherapie enthalten. Einstweilen habe ich, dem Drängen meiner Freunde folgend, eine kurze Darstellung der Krankheitslehre unter dem Titel „ E r k e n n t n i s t h e r a p i e f ü r N e r v ö s e " abgefaßt (ebenfalls erschienen im Brücke-Verlag, Kirchhain N.-L.). Die „Entdeckung der Seele" ist, wie üblich, auch der Kritik vorgelegt worden. Es war mir als Kenner der Dinge von vornherein klar, daß es solcher Kritiker, die das Buch ernsthaft durcharbeiten würden, deren Kritik also ernstzunehmen wäre, nicht eben viele geben würde; über das lobende oder tadelnde Geschwätz der „Kritiker" lohnt nicht ein Wort zu verlieren. Ebenso klar war es mir aber, daß meine Lehre hier auf empörte Ablehnung, dort auf begeisterte Zustimmung stoßen würde. Eine neue Weltanschauung tritt vor die Menschen, die allesamt anderer Weltanschauung sind. Das realische Denken tritt vor das dämonistische, das biologische Denken vor das mechanistische, das einfache Denken vor das komplizierte — wie sollten da die Ansichten, Meinungen, Affekte nicht mobil werden! Im Mittelalter wäre mir der offizielle Scheiterhaufen sicher gewesen, heute „verbrennt" man mich in Wort und Schrift oder sucht mich totzuschweigen. Und anderseits findet die neue Lehre bei immer mehr Menschen Anerkennung, und in hundert Jahren wird man Psychobiologie in den Schulen lehren. Noch jeder, der sich ernsthaft und eindringlich genug mit meiner Lehre beschäftigt hat, ist mein Anhänger geworden. Berlin-Charlottenburg, im September 1932. Hans Lungwitz.
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Inhaltsübersicht Vorwort
Seite
7
Inhaltsübersicht
15
I. Teil. Von der Anschauung
19
1. K a p i t e l . Anschauung als Gegensätzlichkeit § 1. Die Anschauung ist anthropoistisch § 2. Die Anschauung ist egoistisch § 3. Anschauung ist Gegensätzlichkeit § 4. Gegensätzlichkeit und Gegengeschlechtlichkeit . . . . § 5. Dualismus § 6. Das Individuum als Zugleichheit von Subjekt und Objekt § 7. Wahrnehmung als weiblich-männliche Beziehung . . § 8. Das Subjekt hat keine Bestimmtheiten § 9. Nichts — Etwas § 10. Pole. Prinzip. Eros § XI. Geschöpf und Schöpfer | 12. Ur-Sache und Ursache § 13. Die Sprache wird motivisch gedeutet § 14. Begriffsbestimmung des Triebes (Eros) § 15. Beziehung und Verhältnis — polare und interpolare Gegensätzlichkeit 2. K a p i t e l . Das Eron § 16. Begriffsbestimmung. Mikrokosmos — Makrokosmos. Symbol als phänomenal-biologische Homogenität § 17. Beziehung und Bewegung § 18. Veränderung ist objektiv § 19. Weiblich-männlich. Weib-Mann § 20. Supermaskulinität, Superfemininität, Sexualkonstitution 3. K a p i t e l . Vom Bewußtsein und vom Denken § 21. Anschauung ist Gegenwart § 22. Bewußtsein sprachlich § 23. Bewußtsein ist physisch § 24. Denken ist Bewegung § 25. Denken als Funktion der Hirnrinde § 26. Von der Spezifität der Denkzellen § 27. Von der Anschauung gehirnloser Wesen § 28. Vom „Sitz" der Seele
21 21 21 22 22 22 23 24 24 25 28 32 35 42 43 48 52 52 56 60 62 66 72 72 73 78 81 83 87 94 97
II. Teil. Von den Denksphären § 29.
103
1. K a p i t e l . Aus der Histologie der Hirnrinde
105
2. K a p i t e l . Die senBile Sphäre § 30. Allgemeines
109 109 i5
§ § § § § § § §
31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38.
Vom Hungergefühl Vom Angstgefühl Vom Schmerzgefühl Vom Trauergefühl Vom Freudegefühl Vom Ekelgefühl Vom Haßgefühl Geiühlsnuancen
3. K a p i t e l . Die modale Sphäre § 39. Phänomenologische Entwicklung des Gegenstandes. . § 40. Spezifität der assoziativen Systeme § 41. Die Gefühligkeit § 42. Von der Art- und der Individualspezifität § 43. Entfaltung in der Pubertät § 44. Ontogenese der Modalität § 45. Fötus-Mutter § 46. Vater-Sohn. Mutter-Sohn § 47. Optische Modalität (Sehgegenstand) § 48. Olfaktorische Modalität (Riechgegenstand) § 49. Akustische Modalität (Hörgegenstand) 4. K a p i t e l . 'Die idealische Sphäre § 50. Begriff als Aktualität § 51. Phänomenologische Entwicklung des Begriffs, dargestellt am akustisohen Begriff § 52. Vom optischen Begriff. Von den Farben § 53. Vom taktilen, vom olfaktorischen und vom gustatorischen Begriff § 54. Von der Lokalisationslehre Von den Denkweisen
III. Teil.
Seite
117 118 121 124 138 141 146 150
153 153 158 160 165 168 173 179 183 187 192 198 208 208 209 215 229 232 247
§ 55.
1. K a p i t e l . Allgemeines über die Denkweisen
24!)
§ 56.
2. K a p i t e l . Von der embryonalen Denkweise
258
3. K a p i t e l . Von der infantilen Denkweise § 57. Vom Wunsch § 58. Erwachen des kausalen Denkens. Entdeckung der Zeit § 59. Männlich oder weiblich? § 60. Familienmitglieder untereinander § 61. Sexualität als Sünde und Sühne. Ethik § 62. Gesohlechts- und Zeugungsreife. Inzest. Pubertätsfeier. Gesetze
285
4. K a p i t e l . Von der juvenilen Denkweise § 63. Begriffsbestimmung § 64. Die motivische Zerlegung des Objekts
297 297 298
i 6
259 259 264 271 274 277
§ § § | § § § § §
65. 66. 67. 68. 69. 70. 71. 72. 73.
Wunsch und Wille als Dämonen Wunsch und Wille als Begriffsreihen Zweifel — Lüge Wunsch und Wille als Begehren Wunsch und Wille als Objektänderung. Wahl. Vergleich Liebeswahl Berufswahl Erziehung Wert
Seite
300 304 311 316 320 326 337 344 351
5. K a p i t e l . Von der maturen Denkweise § 74. Erkenntnis. Wissen und Weisheit. Maturitätsgrade. Phantasie. Logik § 75. Begriffsbestimmung von „Wissen". Tempora. Wissen und Bewußtsein. Triebsituation. Bewußtsein und Sein § 76. Wissen ist objektiv. Ausdrucksdifferenzen. Wissen als Tätigkeit und Zustand, als Transitivum und Intransitivum § 77. Wissen als Gesamtheit des Gewußten. Motivische und realische Wissenschaft. Gewißheit.. Gewissen . . § 78. Weisheit. Wahrheit. Wirklichkeit. Täuschung, Schein, Frage, Zweifel, Glaube, Beweis, Wahrscheinlichkeit § 79. Das Wissen vom Wollen. Realische Wahrscheinlichkeit. Vermutung, Ziel, Zweck, Plan, Absicht, Selbstbeherrschung. Das Wissen vom Wissen (Bewußtsein vom Bewußtsein) § 80. Über Kausalismus § 81. Über Konditionalismus. Über Teleologismus. Fiktion und Hypothese. Reiz Weiteres über Zweck, Plan, Absicht, Ziel § 82. Zweck und Zwang § 83. Von der Frage 6. K a p i t e l . § 84. Von der senilen Denkweise
368 36S 372 377 383 391
407 416 429 445 453 467
IV. Teil. Von der Formspezifität § 85. Symbol. Eron. Mikrokosmos-Makrokosmos. Aktualität. Formbestimmtheit. Symbolanalyse: motivisch, realisch. Kleinster Teil der Physiker (Elektron). Realische Größe der Aktualität. Eron und Eronenkomplex. Erscheinung und Schein. Schein und Fiktion. Schein und Sinnestäuschung § 86. Objekt und Objekte § 87. Motivisohe und realische Beschreibung § 88. Die Erscheinung und ihre Veränderung. Bewegung, Geschwindigkeit nicht Fiktion, sondern Schein. Bewegungsperiode, Rhythmus § 89. Interindividuelles Verhältnis, Veränderung als Aufnahme und Abgabe, Präzision, Entfernung des Geffühls, des Gegenstandes, des Begriffes, Bewegigkeit des Begriffes, Unendlichkeit, Ewigkeit 2 L u n g w i t z , Die Entdeckung der Seele.
471
473 483 487 491
502
§
90.
§ §
91. 92.
J
93.
§
94.
§
96.
§ § §
96. 97. 98.
§ 99. jj 100. § 101. § § § § § § §
102. 103. 104. 105. 106. 107. 108.
§ 109. § 110. §111.
18
Vergleich, Erinnerung, Wiedererkennen, Déjà vu, Räumliches Sehen, Räumliches Tasten, Luft Das Bewegungsgesetz Weiteres über Individuum als Bewegungsperiode, über Beschreibung, über Verhältnis, Anziehung und Abstoßung, Polarisation, Werden und Vergehen, Regression Organisch-anorganisch, Existenz außerhalb der Wahrnehmung, Entstehung der Arten, Problem und Lösung, Problem als Dämon, Herkunft der Eronen Klassifizierung der Eronen. Reflexweg. Aufnahme, Oberfläche, Empfangsapparate. Eronenbewegung im Nervensystem: Umwandlung der Eronen, Reflexsysteme (assoziative Systeme), Kapazität, Plerose, Funktionsablauf, Geschwindigkeit des Eronenstromes (Reflex-, Assoziationszeit), Eronenstauung (Pleonase) , Stauungszellen, „eingeklemmter Affekt", „psychisches Trauma". Eronenabgabe: Drüsen, glatte, quergestreifte Muskeln, Spezifität der Abgabe, Kontraktionswelle der glatten und der quergestreiften Muskeln, konsensuelle Funktion beider Arten (Geburt, Darmentleerung). Übergang, Konstitution, individual-, gruppen-, artspezifisches Erleben der Übergänge, Differenzierung der Ereignisse. Variationen in der Organisation der Reflexsysteme, „psychische und physische", „funktionelle und organische" Krankheiten, Heilung. Anm. I : Aufmerksamkeit, Anm. I I : Gruppenerlebnisse, Epidemien Eronenverkehr im Zellkern. Anschauung als Orgasmus. Zentrales-peripheres Sehen. Binokulares Sehen. Helligkeit des Bewußtseins. Der Fremdling in der Zelle Mann und Weib als Bewegungsperioden Aktualitätenreihe in e i n e r Denkzelle Erklärung und Erkenntnis. Das Jawort an die Welt. Nichts-Etwas als Endbegriffe. Jenseits. Grenze Psyche als Nichts. Grenze der Erkenntnis Weiteres über interpolare Gegensätzlichkeit. Weiteres über Bewußtsein — Sein. Unbewußtes. Es . . Unbewußte Wahrnehmungen, Verhältnisse usw., unbewußter Wunsch, unbewußter Wille, unbewußtes Wissen Innere und äußere Wahrnehmung Anschauung und Denkweise Leben und Tod Erinnerung Prophetie (Hellsehen usw.) Tag und Nacht, Schlaf, Traum Einengung des Bewußtseins, Suggestion, Schreck-, Angststarre Die Masse, Panik, Okkultismus, Spiritismus . . . . Arzt und Patient. Hypnose Autosuggestion. Psychotherapie: ärztliche Suggestion, Psychoanalyse, Erkenntnistherapie
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I. Teil Yon der Anschauung
i.
Kapitel.
Anschauung als Gegensätzlichkeit. S i.
Die A n s c h a u u n g
ist
anthropoistisch.
Der Mensch ist ein biologischer Typus. Sein Dasein ist spezifisch. Irgendein Verhalten, das nicht innerhalb seiner spezifischen Sphäre sich vollzöge, iat f ü r den Menschen u n e r f a h r b a r u n d undenkbar. Nur von seinem, nämlich vom menschlichen, Standpunkte aus kann er „die Welt" auffassen u n d f a ß t er sie auf, und eine andere Anschauung wie die a n t h r o p o i s t i s c h e gibt es nicht f ü r ihn und kann es f ü r ihn nicht geben. E r kann sich vorstellen, d a ß andere Wesen ein anderes Weltbild haben wie er, aber einmal gehört auch diese Vorstellung zur anthropoistischen Anschauung, sodann vermag der Mensch über die Art u n d Weise, wie ein anderes Wesen die Welt anschauen könnte, über das mögliche Weltbild anderer Wesen keinerlei Auskunft zu geben wie eben eine solche, die zur anthropoistischen Anschauung gehört. F ü r den Menschen existiert nur die menschliche, die anthropoistische Anschauung. S a.
Die A n s c h a u u n g
ist
egoistisch.
Der Mensch u n d seine Welt ist m i t „Anschauung" identisch; der Mensch u n d seine Welt ist seine Anschauung. Er hat nicht Nerven, Muskeln, Sehnen u n d andere Objekte — u n d dazu auch eine Anschauung, mittels deren er „die Welt" e r f a ß t , die ihm als Instrument des Erkennens dient, die ihm Ursache oder Grund oder Bedingung des Erkennens, der Stellungnahme zur Umwelt überhaupt ist, sondern Menschsein u n d (menschliche) Anschauung ist ein u n d dasselbe. Nur das Ich hat eine (seine) Welt, die biologische S u m m e aller Individuen, das Objekt als S j m b o l aller möglichen Objekte. Nur Ich schaut an, nur ich schaue an. Jedes Ich ist ein Anschauendes, hat sein Du, seine Welt sich gegenüber, oder: so viele Ichs, so viele Wellen — auch dieser Satz ist in u n d mit der Anschauung des Ich gegeben. Die Anschauung ist egoistisch. Eine andere Anschauung wie die des Ich existiert nicht, es gibt n u r eine W e l t : die des Ich. Die Welt ist m e i n e Vorstellung (vgl. S c h o p e n h a u e r ) . ai
S 3. A n s c h a u u n g
ist
Gegensätzlichkeit.
Menschsein, anschauen ist dasselbe wie:der Welt gegenüberstehen, ein nov az mère, Mutter, Mär, Märchen; Mamma 27
oder Mama, Memme ( = Muttersöhnchen, dag leicht weint, „am Wasser gebaut h a t " ) , wie die Kleinen mem-mem-mem m&chen; ital. Kinderwort Mommo, Wein, T r a n k ; Manna usw. Selbst „Mann" (s. § 19 Anm. 2) ist „weiblichen Ursprungs" = der vom M und N, vom Meere (Sintflut, wobei nur 2 Menschen, nämlich Mutter und Sohn — der Vater ist den Liebestod gestorben, § 34 — übrig bleiben) und dem Nichts, der Nacht (demChaos) Abstammende. D a s P o d e r B ( P A u n d PU p . 2 0 3 und §57 Anm.), der Phallos, Phanes, Pan, Penis, usw., v ; (Pose vulgär = Männin, Dirne) der Mann, verwandt mit ro storbene wird verzehrt, wie das Spermatozoon verzehrt wird; die Knochen werden beigesetzt, aber auch auf dem F r i e d h o t , Frithof, Freithof, dem Orte des Friedens, der Freude, des Todes, Symbol des weiblichen Genitales, des Mutter-, des Frauenleibes (Mutter Erde), der Gottesacker, wobei Gott = Vater, Mann, Acker = Weib ist. Ein Freier ist der „ G e f r e i t e", der aus der Rekrutenzeit in die Freiheit, in die Geschlechtsreife eintritt, eine neuerliche Pubertät erlebt, die Knöpfe (sexuale Symbole) erhält. Vom Leben wird befreit, wer ein Weib beschläft, er geht hin in Frieden, in den ewigen Frieden ein. Die Freude tötet. Friedhof könnte auch Frauenhof heißen. Frieda, Freia, Fricka, Freyja, Frau, vrouwe und vröude, Freude sind Blutsverwandte. Freyja ist die milde gnädige (gnädige Frau eine Tautologie), die sioh dem Fro oder Froh, dem F r e y r liebend eint. „Friedmund darf ich nicht heißen, Frohwalt möcht' ich wohl sein, doch Wehwalt muß ich mich nennen", sagt Siegmund, der Inzestverbrecher, von sich, ohne zu wissen, daß Wehwalt auch nichts anderes ist wie Frohwalt — nämlich Name für das Kind, das unter Wehen von der Frau geboren wird und damit nach späterer motivischer Deutung das Inzestverbrechen begeht, das, indem es begangen wird, mit dem Tode bestraft wird (wiederum Liebestod). Alle B e f r e i u n g ist ein Übergang in eine andere Sphäre, Übergang schlechthin: das i34
Kind wird im Geburtsakte frei, d. h. froh, sündigt mit der Mutter und „stirbt", der Jüngling, der Bursohe wird bei der Pubertätsweihe frei, sündigt und „stirbt" — hier Sterben symbolisch. Frei ist der Bursch, heißt: er ist geschlechtsreif, und er ist „v o g e 1 f r e i", nämlich Inzestverbrecher und dem Tode verfallen. F r i e d r i c h ist der Friedens-, der Freuden-, der Frauenreiche, der Reiche, der Großbesitzer, der Hochpotente, aber auch er stirbt im Hochgefühl den Liebestod. Schon hier erhellt, daß die von F r e u d streng unterschiedenen „ L e b e n s - u n d T o d e s t r i e b e " , von denen er nur die ersteren als Sexualtriebe, als „Eros" anerkennt, identisch sind — ganz abgesehen davon, daß wir im „Trieb" nicht „einen Drang", eine dämonische Macht, sondern ein Synonym mit Bewegung und im strengeren Sinne mit Anschauung überhaupt erblicken. Die Unterscheidung von Trieben, und gar von Lebens- und Todestrieben ist ebenso fiktional wie die Behauptung F r e u d s , daß Liebe und Haß gegensätzliche Gefühle seien. Hierüber später mehr. A n m e r k u n g 3: Das Weib war ursprünglich das Namenlose, der Mann das Objekt, das Benannte (vgl. § 73, p. 358 ff.). Noch heute verliert die Jungfrau ihren Namen bei der Eheschließung und nimmt des Mannes Namen an; das Weib wird damit wieder zum Unnennbaren, Geheimnisvollen, Urgewaltigen, zum Chaos, zum Nichts, in das der Mann beim ersten (und urzeitlich letzten) Koitus eingeht (vgl. inire, eingehen, eingeweiht werden, initium der Anfang, initiatio Einweihung, Begehung eines Geheimgottesdienstes, Pubertätsfeier; eingehen kann nur das Männliche ins Weibliche, in der Redewendung „zu Gott eingehen" — Margaretens Bruder Valentin: ich gehe durch den Todesschlaf zu Gott ein usw. — ist Gott weiblich); so ist das namenlose Weib Präsentant des höchsten (namenlosen) Glückes und des größten Unglückes, der Wollust und des Todes zugleich (vgl. oben Freiatag, Freitag, an dem man nicht heiraten darf, obwohl er doch gerade der Frauentag, der Hochzeitstag ist, er ist aber damit der Tag des Koitus, also auch des Todes). Der K u l t u s d e s N a m e n s besagt: der Name ist männlich, das Männliche ist dem Tode (in der Lust) verfallen; wer also einen Namen nennt, charakterisiert das Benannte als Männliches, Tötliches = Tötbares, zu Tötendes. Nomen est omen. J a die Nennung des Namens gilt schon als Tötung, wie sich allenthalben an zahlreichen Sitten, Dichtungen, Mythen zeigen läßt. Es sei nur z. B. erwähnt die Bannung des Inoubus (und Succubus), der Luren, Gespenster überhaupt; man bezaubert und behext durch Namensnennung, durch Beschimpfung, durch Anklage, womit immer schon — bei jeder Justiz — die Verurteilung gegeben ist; man hält seinen Namen gern geheim, „stellt" sich nicht gern vor und dann auch nur murmelnderweise, so daß der Name möglichst nicht erkannt wird (vgl. § 70, p. 333); man legt Wert auf einen „bekannten Namen" (Ruhmsucht), d. h. wer erkannt, bekannt ist, ist als Mann anerkannt und darin liegt die höchste Lust und zugleich der Tod, eben der Koitus (wenn — muß heißen: wann — der Leib in Staub zerfallen, lebt der große Name noch; „in Staub zerfallen" und „einen großen Namen haben" koinzidiert). Die Erkennung des Namens, des Mannes entspricht dem Koitus, ist höchste Lust und Tod. Nun wurde späterhin das Namenlose als Weib, als Wesen, als „Fleisch von meinem Fleisch und Bein von meinem Bein" erkannt, der Nimbus (verwandt mit nubo, nuptiae Hochzeit, Beischlaf) schwand, das Namenlose wurde benannt (vgl. § 73, p. 359; dasselbe gilt übrigens auch analogisch für die Ontogenese), aber es erhielt dennoch keinen eigentlichen, keinen „positiven" Namen, es wurde „umschrieben", es erhielt keinen polar-, sondern einen interpolar-gegensätzlichen Namen; die polare i35
Gegensätzlichkeit wiegt zu Anfangs- und Endzeiten der Perioden vor, die interpolare t r i t t erst später, mit Entwicklung des motivischen Denkens stärker hervor (vgl. §§ 52 und 56). So wurde das Namenlose n a c h dem Manne b e n a n n t , nämlich Männin, beide waren männisch, Menschen (§ 2 0 ) . S o m i t blieb und bleibt das Nichts eigentlich unbenannt, vielmehr nichtb e n a n n t , nicht-benennbar, nicht-nennbar, namenlos; ich h a b e schon mehrfach auf die sprachlichen Schwierigkeiten bei der B e s c h r e i b u n g des polaren Gegensatzes des O b j e k t s hingewiesen: wir beschreiben immer nur das O b j e k t , das Positiv zum Negativ, aber sogar negativ und Nichts sind a u s der O b j e k t i t ä t entnommene Ausdrücke. Das W e i b war und ist eben das Namenlose, und sofern m a n es doch bezeichnet, geschieht das m i t o b j e k t i v e n Wörtern und noch dazu m i t einer „heiligen S c h e u " , m i t Mienen und Gesten, die die unheimliche „ D o p p e l n a t u r " des Weibes andeuten, nämlich daß sie Glück und Unglück, höchste Erdenwonne und dabei den T o d , Himmel und Hölle zugleich verkörpert. Dies zeigt sich bei allen Bezeichnungen für den polaren Gegensatzpartner zum Seienden, zum Manne. Ich erwähne hier nur l i n k s u n d r e c h t s . R e c h t s verwandt m i t gerecht, richten, R i c h t e r , R e c h t , R ä c h e r , R a c h e usw., von regere, regieren, R e g e n t , r e x K ö n i g , regulus Häuptling, R e g e l , rectus, gereckt, erectus, erigiert, aufgereckt, aufgerichtet, E r e k t i o n usw., kurz der R e c h t e ist der M A N T H oder MAN, der Phallos, der M a n n ; der „rechte M a n n " — es s t r e i f t für uns der rechte Mann — ist T a u t o l o g i e . Die R e c h t e „ r e i c h t " , f a ß t an, greift an, greift zu, ergreift, e r f a ß t ; lat. d e x t e r von griech. m a n n e n ihr traditionelles Recht der T ö t u n g oder doch der Kastration geltend machten. So entstand der M ä n n e r k a m p f : z u m Nahr u n g s h u n g e r gesellte sich der Liebeshunger u n d b e f e u e r t e die Ausdrucksbewcgungen. Aber dieser K a m p f f a n d erst statt, als die N a h r u n g a n f i n g k n a p p zu werden u n d das „sexuelle B e d ü r f n i s " sich in kurzen Perioden meldete. Da erst begann der K a m p f ums Dasein, der K a m p f u m s Weib. Das Weib hat diese Entwicklung der Haßzellen u n d Ekelzellen erst später u n d in geringerem Maße erlebt. F ü r N a h r u n g sorgte das Weib nicht oder nicht m e h r , der Mann ging auf die Jagdj, Kopf- oder T i e r j a g d , die F r a u saß d a h e i m ; ihr H u n g e r wurde gestillt. Auch u m Liebe brauchte sie sozusagen nicht bange zu sein; d e r Männer gab's genug, u n d ein Koitus brachte (ohne d a ß sie es wußte) die Schwängerung, den Verlust der monatlichen B l u t u n g , deren E i n t r i t t das Zeichen ihrer Geschlechtsfähigkeit war. Die neugeborenen Mädchen wurden zumeist getötet; die K o n k u r r e n z war nicht eben g r o ß . Erst als die Zahl der Weiber sich m e h r t e , „lernte" auch das Weib den H a ß ; hier bestanden u n d bestehen a b e r wieder nicht ursächliche usw. V e r k n ü p f u n g e n der Tatsachen, *) Schlafen, Schlaf ist sprachbiologisch verwandt mit schlaffen, erschlaffen, Erschlaffung usw. Der Kavallerist singt: „Wenn wir bei den Mädchen schlaffen, sind wir unserm König gleich". Der Penis erschlafft nach der Erektion — Symbol des Sterbens. „Schlaf" ist Koinzidenz von Wollust und Tod, ist Synonym mit Liebestod. — Sprachbiologisch ist schlafen, schlaffen mit schaffen (schöpfen, Schöpfer, erschöpfen, Schaff, Schopf usw.) verwandt. i48
sondern lediglich zeiträumliche, biologische Zusammenhänge. Mit der Vermehrung der „Konkurrenz" fiel die Differenzierung der Haßzellen zusammen, Kennzeichen bestimmter Entwicklungsstufen. Die Nahrung wurde knapp, die Liebe wurde knapp — u n d zugleich war der Fleischhunger u n d der Liebeshunger in Zunahme beg r i f f e n , indem die urtümliche Jahresfeier zwar auch noch stattf a n d , aber analoge Feiern (Koitus und Schmause) in der Zwischenzeit mehrere u n d viele begangen wurden. Der Kampf u m Nahrung und Liebe ist also Ausdruck von „Haßeronen", ein Zeichen, d a ß in mehr oder minder großer Zahl Haßzellen sich differenziert haben. Diese sind Speicher von Hungereronen, wie die Ekelzellen Speicher von Sättigungseronen sind; im Verlaufe ihrer Funktionsperiode ergießen sich die „gestauten" Eronen in krampfigen Strömen in die zugeordnete Motilität und Sekretion. F ü r diese Vorgänge gelten wiederum meine A u s f ü h r u n gen über die Spezifität der beteiligten Systeme, die Besonderheiten der sensibel-motorischen-sekretorischen Verbindungen usw., so d a ß die Zahl, der Grad der Differenziertheit der Haßzellen, die Art u n d Ausdehnung der Eronenentladung usw. unübersehbar variabel und variiert sind. Die Auffassung, d a ß der H a ß der Gegensatz zur Liebe sei, wie sie auch noch F r e u d vertritt, ist eine völlige Verkennung der psychobiologischen Tatsachen. Und ebenss ist es Fiktion, zu sagen, die urtümliche Tötung des Mann-Vaters sei eine Aktion des Hasses, der W u t gewesen, die f ü r die Mörder den Sinn gehabt habe, die Mutler sexuell zu gewinnen. Die Söhne hätten sich also ihren „Schlachtplan" zurechtgemacht u n d wären in der Absicht, die Mutter-Braut heimzuführen, über den Alten hergefallen. Dies ist ein Musterbeispiel f ü r die motivische Deutung biologischer Tatsachen; es ist leicht, alle möglichen andern „Motive" in einen Vorgang, in eine Erscheinung hineinzudeuten u n d damit die Tatsachen nach Art des Hendiadyoins, nach Art der Märchenerzähler in Ursache u n d Wirkung, G r u n d und Folge usw. zu zerlegen. Wir werden darauf noch ausführlich zu sprechen kommen. Gewiß haben sich in späteren Kulturzeiten Begriffsreihen eingestellt, die wir mit „Absicht" usw. bezeichnen; aber diese Begriffsreihen haben keinerlei „"Einwirkung" auf den Ablauf der Ausdrucksbewegungen u n d -Sekretionen. Die Söhne töteten den Mann-Vater nicht, „ u m die Frau-Mutter zu besitzen", sondern sie töteten ihn gemäß phylisch-biologischer Überlieferung, gemäß dem biologischen Geschehen, das erst nachträglich gedeutet wurde, indem das motivische Zeitaller anbrach. Der H a ß war u n d ist nicht als dämonistisches „Stimulans" zu einer Tat zu betrachten, sondern ist der Ausdruck von Eronen, die über spezifische Denkzellen abfließen. Und d e r H a ß ist n i c h t d e r G e g e n s a t z zur L i e b e , s o n d e r n i h r a b g e a r t e t e s E x t r e m . Vergl. S 9/i.
Sind Ekel u n d H a ß „normale" Gefühle? Sie sind Kennzeichen gewisser phylischer und ontischer Entwicklungsstufen, damit allgemeingültig, damit normal. Alle Besonderheiten der Organisation, a u c h der sensibel-motorisch-sekretorischen Verbindungen sind normal, wann die Mehrzahl der Zeitgenossen sie aufweisen, mögen sie vom urtümlichen Schema noch so sehr abweichen. Je mehr die K u l t u r und die Zivilisation vorwärtsschreiten, desto mehr n i m m t H a ß und Ekel zu, desto besser „verstehen" die Menschen sich zu hassen und sich zu ekeln. S 38.
Gefühlsnuancen.
Die f ü n f G r u n d g e f ü h l e entsprechen den einzelnen Phasen jedes Ü b e r g a n g e s , als dessen Prototyp wir die Amphimixis, die Begegnung und Vereinigung von Samen- und Eizelle ansehen können. Die Annäherung der beiden Partner entspricht dem Hungergefühl u n d dem Angstgefühl, der Durchtritt des Spermatozoons durch die Pyle, die Ö f f n u n g des Empfängnishügels entspricht den» Schmerz, die Zerstückelung des Spermatozoons der Trauer, die Kopulation des Samen- und des Eikerns der Sättigung, der Freude. A l l e a n d e r n G e f ü h l e s i n d I n t e r f e r e n z e n , die m a n sich als Schnittpunkte der zugleich verlaufenden Gefühlskurven vorstellen mag. Dabei heben sich die interferierenden Gef ü h l e keineswegs auf, nur der „Gefühlston" ändert sich dabei, die Gefühle zeigen sich „nuanciert". Zur ansteigenden Hungerkurve (absteigenden Sättigungs- oder Freudekurve) gehören Gefühle wie Sorge, Sehnsucht, Neid, Ärger, R a c h e d u r s t , E r m ü d u n g s - , E r s c h ö p f u n g s g e f ü h l usw.; zur absteigenden Hungerkurve (ansteigenden Sättigungskurve) Gefühle wie S c h u l d g e f ü h l , B u ß f e r t i g k e i t , D e m u t , aber auch E h r g e f ü h l , Z u f r i e d e n h e i t , Ü b e r l e g e n h e i t , S t o l z , ferner M ü d i g k e i t s g e f ü h l usw.; zur Angst gehören S c h a m , U n s i c h e r h e i t , H e m m u n g s g e f ü h l usw.; zu Schmerz u n d Trauer gehören R e u e , K u m m e r , Niedergeschlagenh e i t (i. e. Gefühl, „niedergeschlagen", entmannt, „unterlegen", getötet, also minderwertig zu sein — vgl. S 73), Z e r k n i r s c h u n g usw. (Vgl. auch S 61.) Genaueres in spezieller Schrift. Man pflegt f e r n e r als „Gefühle" gewisse Aktualitäten zu bezeichnen, die außer sensil auch modal u n d idealisch sind, nämlich diejenigen des T a s t s i n n e s , des M u s k e l - oder L a g e s i n n e s (s. S 89. p- 5o5), des G l e i c h g e w i c h t s - , des W ä r m e - und K ä l t e s i n n e s . Auch das „ T a k t g e f ü h l " (tactus von tangere, berühren, tasten, auch bewegen usw.) gehört zum Tastsinn, hat aber die allgemeine Bedeutung von „rhythmischem Gefühl" gewonnen, womit man aber auch nicht ein eigentliches Gefühl bei5o
zeichnet, sondern die anschauungsgemäße Tatsache, daß die Objektänderung sich in spezifischen Bewegungsperioden vollzieht, worüber später berichtet wird. — Auch über „ F u r c h t " im Unterschied von Angst siehe p. 43g Anm. I n t e r f e r i e r e n können die Gefühle nicht in dem Sinne, daß eine Gefühlsaktualität aus mehreren zugleich bewußten Gefühlen verschmolzen wäre. Die Aktualität ist nur eine und ist immer „rein"; die Aktualität der sensilen Zelle ist also ein reines Gefühl, das spezifische Gefühl dieser Zelle. Während der Aktualität dieses Gefühls passieren aber Eronen j e nach der Situation durch alle Denkzellen; die Objekte aller dieser Beziehungen sind aber unbewußt und wir haben sie daher Vor- und Nachobjekte genannt und sprechen von vor- und nachgegenwärtigen Beziehungen, wohl wissend, daß wir uns in der Symbolanalyse befinden und daß das Objekt immer bewußt und die Beziehung immer gegenwärtig, nämlich gleich Wahrnehmung, Subjekt-Objekt-Beziehung ist; wir können uns aber, wie wiederholt hervorgehoben, nicht präziser ausdrücken, die Wörter fehlen. Das Objekt verändert sich derart, daß eine Aktualität in die andere übergeht, in der auch die vorhergehende symbolisch vertreten ist, so daß die Aktualität immer als „neu", eben als anders, als Verändertheit erscheint. Die letztvorhergegangene und die nächstfolgende Formbestimmtheit liegen zeiträumlich am dichtesten der Aktualität benachbart, der zeiträumliche Weg zur Aktualität ist von allen möglichen Wegen am kürzesten, die Denkzelle des Vor- und des Nachobjekts ist psychobiologisch der aktuellen Zelle am nächsten assoziiert, wie das beim peripheren und zentralen Sehen leicht erkennbar ist. Wann nun z. B. die Hungerkurve verläuft, so ist in einer bestimmten Gegenwart ein bestimmter Hungergrad aktuell, zugleich aber in andern Zellen andere Beziehungen vor- und nachbewußt, also Gefühle, deren Kurve niedriger verläuft als die des aktuellen Hungergefühls, eben so niedrig, daß gerade das Hungergefühl gegenwärtig ist und kein anderes. Die Kurven dieser verschiedenen unbewußten Gefühle, die also noch nicht oder nicht mehr Gefühle sind, daher eigentlicht nicht Gefühle heißen dürfen, sondern V o r g e f ü h l e und N a c h g e f ü h l e , diese Kurven also schneiden sich gegenseitig, schneiden sich auch mit der Hauptkurve, d. h. mit der des aktuellen Gefühls. Die Kurve des nächstfolgenden Gefühls steigt unter all den Kurven am steilsten an, d. h. es sind Eronen in steigender Zahl beteiligt, in größerer Zahl als an den andern Gefühlskurven. Man kann das Auf und Ab in den Denksphären mit dem Wogen der Meereswellen vergleichen: eine ist jeweils die höchste. So ist auch immer nur ein Gefühl bewußt, und dieses Bewußtsein ist als Aktualität einer spezifischen Zelle rein, aber zugleich verlaufen auch die unbewußten Kurven. I5I
Die Gefühlsnuancen sind Interferenzen der verschiedenen Kurven. Die Ordinatenhöhe der Kurven ist Kennzeichen der Zahl der beteiligten Eronen. Es seien jetzt x Hungereronen und y Angsteronen in der Passage durch die zugehörigen sensllen Zellen begriffen u n d x sei größer als y, so ist das (bewußte) Gefühl Hungergefühl, sein Intensitätsgrad durch die Größe (x—y) auszudrücken, die y Hunger- und die y Angsteronen heben sich aber nicht etwa i n dem Sinne auf, d a ß sie gleich o sind, sondern in dem Sinne, d a ß sie unbewußt sind und nur die Differenz bewußt ist; die Gefühlskurven gehen also ungestört voneinander ihren Gang, aber bewußt ist das jeweils höchs'eronige, das stärkste Gefühl, u n d der Inten itätsgrad dieses Gefühls ist gleich der Differenz der Zahl der an diesem G e f ü h l beteiligten Eronen und der nächstgeringeren einer unbewußten Gefühlskurve. Ein heftiger Hunger b ü ß t also an Gefühlsgraden u m so mehr ein, je höher eine zugleich unbewußt bestehende Angst ansteigt, u n d indem diese „Vorangst" einen höheren Grad, als ihn das Hungergefühl einnimmt, erreicht, die Angsteronen zahlreicher als die Hungereronen einströmen, geht das (bewußte) Hungergefühl in das (bewußte) Angstgefühl über. Wir sahen, d a ß die Angstkurve immer während der Hungerkurve a b l ä u f t ; hierbei kann je nach der Zahl der beteiligten Eronen u n d in Übereinstimmung damit je nach der Zahl der beteiligten Denkzellen u n d je nach Besonderheit der sensibel-motorischen Verbindungen bald das eine, bald das andere Gefühl bewußt sein, also das Hungergefühl vom Angstgefühl und dieses wieder vom Hungergefühl abgelöst werden, ferner der jeweils bewußte Gefühlsgrad entsprechend der Mannigfaltigkeit der Interferenzmöglichkeiten höher oder niedriger sein. Man kann „aus lauter Angst" oder „vor lauter Angst" den Hunger „vergessen", oder der Hunger kann so heftig sein, daß er die Angst überflügelt, und endlich kann bald der Hunger, bald das Angstgefühl bewußt sein. Analog verhält sich der Schmerz zum Hunger, in dessen Dauer e r f ä l l t ; je nach der Situation (Zahl der Eronen, Art der sensibelmotorischen Verbindungen usw.) kann der Schmerz den Hunger „betäuben"' oder umgekehrt, und in allen Fällen ist der Grad des bewußten Gefühls gleich der Differenz der Zahl der an den Gef ü h l e n beteiligten Eronen. Ebenso interferiert die Angst- mit der Schmerzkurve, die Trauer- mit der Freudekurve u n d diese mit der bei der Abgabe (Entleerung der Höhle) wieder einsetzenden Iiungerkurve, Angstkurve usw. Die an den Vor- und Nachgefühlen beteiligten Eronen strömen natürlich zu ihren motorischen u n d sekretorischen Gebieten, findet ihre Ausdrücke, die also zur Mimik wie überhaupt zum Gebahren eines Individuums gehören, u n d die der Motiviker zu den „unwillkürlichen" Muskel- und Drüsenfunktionen im Gegensatz zu den „willkürlichen" rechnet, in der Meinung, daß das Bewußtsein eine ordnende, wirkende, wählende, beschließende i5a
K r a f t und Instanz sei; ich komme auf dies© biologisch unhaltbare Auffassung noch zurück. Die Interferenzmöglichkeiten sind u m so zahlreicher, je mehr Gefühlszellen beteiligt sind, je zahlreicher die Höhlen und Ö f f nungen sind, die sensible Eronen zur Gefühlssphäre absenden, je mehr sich auch die andern Denksphären entwickeln. Die Interferenz der Gefühle ist ein Analogon zur Interferenz der „Gesichts-", der „Gehörs-, überhaupt der sog. „Sinneseindrücke", die in der A u f n a h m e spezifischer Eronen in die peripheren Ö f f n u n g e n und Höhlen und dann in die zugehörigen modalen Denkzellen bestehen.
3.
Kapitel.
Die modale Sphäre S 5i. P h ä n o m e n o l o g i s c h e E n t w i c k l u n g Gegenstandes.
des
Die auf die sensile Denksphäre genetisch folgende ist die m o d a l e D e n k s p h ä r e , die S p h ä r e d e s Gegenstandsb e w u ß t s e i n s . Gegen Ende der Embryonalzeit, bei dem einen Individuum f r ü h e r als beim andern, beginnen Zellen dieser Denksphäre sich bis zur (fötalenI) aktuellen Funktion zu entwickeln; bis dahin waren ausschließlich in der Hirnrinde sonsile Zellen aktuell. Übrigens entwickeln sich auch diese weiter, sowohl der Zahl wie der Differenzierung nach; das Gefühl des extrauterinen Menschen ist also i m m e r anders wie das entsprechende Gefühl des Embryos. M o d u s ist Maß, Grenze, Umfang, Größe, Länge usw. Die in der modalen Zelle liegende Aktualität ist d a s O b j e k t n a c h M a ß , G r e n z e , G r ö ß e usw., ist der G e g e n s t a n d . Dem Sprachgebrauch nach ist Objekt und Gegenstand identisch, wir bezeichnen aber mit Objekt den polaren Gegensatzpartner schlechthin, wie wir als Subjekt das Nicht-Seiende bezeichnen. Das Gefühl u n d der Begriff sind auch Objekte, aber ungegenständlich. Der Gegenstand ist das Objekt der modalen Sphäre. In der embryonalen Entwicklung sind die sensilen Zellen, die in der äußeren Schicht der Hirnrinde liegen u n d zu den kleinen Pyramidenzellen gehören, zuerst in Funktion. Der Neurit der sensilen Zelle leitet die Eronen in das zugehörige motorisch-sekretorische Gebiet. Gegen Ende der Embryonalzeit beginnen sich die modalen Zellen (innere Schicht der kleinen u n d äußere der großen Pyramidenzellen) zu differenzieren: der Gegenstand erscheint. Die modale Zelle erhält ihre Eronen unmittelbar aus der sensibeln Nervenbahn oder (und) aus den Kollateralen der sensilen Neuriten. Die sensile Zelle ist also mittels der Seitenäste ihres Neuriten in i53
Verbindung mit modalen Zellen, sie ist mit ihnen assoziiert, es wandern Eronen aus der sensilen Zelle in ihren Neuriten u n d , falls P a ß f o r m e n da sind, n u n nicht oder nur teilweise in das zugehörige motorisch-sekretorische Gebiet, sondern in die assoziierte modale Zelle. Vergl. SS 29, 54. Diese Verbindung der sensilen Zelle ist mehrfältig: so viele Kollateralen der Neurit hat und in so viele Endzweige er sich aufteilt, so viele modale Zellen sind m i t der sensilen Zelle assoziiert. So werden die spezifischen Eronen der sensilen Zelle, d. h. die Eronen, deren Passage durch die sensile Zelle mit dem P h ä n o m e n Gefühl einhergeht — wir wollen sie kurz s e n s i l e E r o n e n nennen —, in assoziierte modale Zellen geleitet, deren Funktion im Laufe der Entwicklung wächst. Die Passage der Eronen durch die modale Sphäre ist die Reihenfolge der Beziehungen, deren Objekt cler Gegenstand ist. Die Eronen sind also sensibel (stammen aus der sensibeln Bahn unmittelbar) oder sensil (kommen aus der sensilen Zelle), je nach ihrer H e r k u n f t u n d der Zahl der beteiligten Eronen ist der Gegenstand unmittelbar da oder ist erst das Gefühl, dann der Gegenstand da, in allen Fällen aber ist der Gegenstand mit dem zugehörigen Gefühl sozusagen „verlötet". Es können nämlich in jede Zelle, gleichgiltig welcher Art sie ist, nur paßrechte Eronen aufgenommen werden. Die Passage der Eronen durch die Zelle besteht in einer Reihe von Veränderungen, wie ja Bewegung mit Veränderung identisch ist. Di® Eronenkomplexe, die aus der sensilen Zelle in die modale überwandern, haben also P a ß f o r m e n , u n d ebenso die aus der sensibeln Bahn direkt a u f g e n o m m e n e n . J e näher n u n genetisch die modalen Zellen den sensilen liegen, desto weniger tritt a m Objekt das Gegenständliche, desto mehr das Gefühlsmäßige hervor. Der Übergang des Gefühls in den Gegenstand erfolgt ganz allmählich; wir d ü r f e n nicht glauben, d a ß das Gefühl wesensverschieden vom Gegenstand oder auch vom Begriff ist. Gefühl, Gegenstand, Begriff gehören zur anschauungsgemäßen Veränderlichkeit des Objekts, sind Objekt, das eine Objekt, das verändert erscheint. Es ist ein sehr erhebliches Mißverständnis, zu sagen, ein Gegenstand sei „affektbetont" oder „affektbesstzt". wenn man, wie das auch F r e u d und seine Schule tut, diese Besetzung so a u f f a ß t , als ob dieser „ A f f e k t " (der ja mit G e f ü h l oder Trieb oder Libido fortwährend identifiziert wird) zu einem Gegenstand hinzugetan oder auch weggenommen („Triebbesetzung", „Affektverschiebung", „Libidofixierung" usw. — siehe die Freudschen Schriften) werden könnte — u n d zwar nach Maßgabe der Wirksamkeit der mystischen oder dämonistischen „psychischen Instanzen", insonderheit des „Ich" oder „Über-Ich" oder des Bewußtseins, das auch noch in der Freudschen Psychologie u n d gar „Metapsychologie" als Zensor u n d Korrektor des menschlichen Verhaltens, a b ein bestimmendes Wesen im Wesen herumspukt. i54
Darnach wäre ja ein „ A f f e k t " oder „der A f f e k t " ein neues „Psychisches" — zu den diversen Sorten von „Psychischem", die uns die psychoanalytische Theorie beschert hat, während die psychoanalytische Praxis uns ganz anders informiert. Der A f f e k t wäre in einer gewissen Quantität „in der Psyche" vorhanden, und die ..psychischen Instanzen" wirtschaften nun mit diesem Quantum, diesen Quanten nach dem F r e u d sehen „ökonomischen Prinzip" herum, d a ß es eine Lust und manchmal eine Unlust ist usw. Diese ziemlich verworrene Spekulation, in die das „psychische T r a u m a " hineinfiktioniert wird, läßt denn die verschiedenen Personen u n d Dinge als mehr minder affektbesetzt erscheinen, wie eben die psychischen Instanzen das Libidoquantum verteilen. Auch Z i e h e n weiß mit den „Gefühlstönen" seiner „ E m p f i n d u n g e n " und „Vorstellungen" nichts Rechtes anzufangen; er stellt diese Gefühlstöne ähnlich wie F r e u d als verschiebbar, übertragjbar hin, sagt aber nicht, was denn nun eigentlich Gefühl oder Gefühlston sei. Ähnlich andere Autoren. Das „Wesen" der Gefühle, Affekte usw. war bisher völlig dunkel. Gefühl ist eine Aktualität, und Gegenstand ist eine andere u n d Begriff wieder eine andere: es sind Veränderthciten des einen Objekts. Man kann sagen: der Gegenstand entwickelt sich aus dem G e f ü h l u n d der Begriff aus dem Gegenstand, d. h. der Gegenstand ist differenziertes Gefühl, der Begriff differenzierter Gegenstand. N a c h , nicht aus der sensilen Zelle entwickelt sich die modale, n a c h , nicht aus der modalen Zelle entwickelt sich die ¡dealische. Umschreiben wir die sensile Zelle mit ihren assoziierten modalen und idealischen Zellen als ein Denksystem, so ist von diesem System genetisch zuerst die sensile Zelle, dann die modale, dann die idealische Zelle in aktueller Funktion. Je mehr modalen Charakter die Zelle a n n i m m t , desto mehr tritt das Gegenständige a m Objekt hervor, nicht als etwas Besonderes, das neben dem Gef ü h l bestünde, sondern als eine Einheit, die G e f ü h l u n d Gegenstand zugleich ist u n d auch vom Subjekt gar nicht in Gefühl u n d Gegenstand zerlegt wird. Zerlegung der modalen Aktualität in Gefühl und Gegenstand ist lediglich begrifflich; das modale Objekt als solches wird niemals in Gefühl und Gegenstand (und Begriff) zerlegt, sondern diese Zerlegung ist Symbolanalyse, diese A u f lösung des Objekts in seine Komponenten ist Denken — und zwar in der begrifflichen Sphäre (s. SS 5o—53). Das Gefühl ist eben nicht an einen Gegenstand „gebunden" u n d neben dem Gegenstand, an den es vermeintlich „gebunden" ist, wahrnehmbar. Man darf auch nicht, wie wir es, bevor wir diese Erkenntnis darstellen konnten, getan haben, das Gefühl als „verlötet" mit einem (seinem) Gegenstand bezeichnen. Die Auffassung, d a ß Gefühl u n d Gegenstand zwei verschiedene, aber zugleich existierende Dinge seien, ist überhaupt abwegig. Es fehlt freilich i55
hier wieder an einem Ausdruck, der den Sachverhalt realisch bezeichnete. Wie sollen wir die Tatsache, d a ß der Gegenstand i m m e r auch zugleich Gefühl i s t , u n d zwar in einem u m so geringeren Grade, je weiter nach innen die entsprechende Denkzelle liegt, mit einem Worte wiedergeben? Diese Tatsache läßt sich mit den gültigen Sprachmitteln nur umschreiben; es wären ja auch zur Kennzeichnung aller möglichen Variationen des homogenen „Mischungsverhältnisses" von Gefühlsmäßigem und Gegenständlichem ebenso viele Wörter notwendig, als Gegenstandszellen in der Hirnrinde vorhanden sind — ein ungeheures Vokabular f ü r sich. Wir müssen uns mit der Erkenntnis begnügen, d a ß die modale Aktualität eine Homogenität ist, deren „Ingredienzien" sich voneinander weder phänomenal noch (vorläufig) phänomenologisch, also beschreibungsm ä ß i g scharf abgrenzen lassen. Zu dem „Gegenstand" gehören in diesem Sinne eo ipso „Gefühlsquantitäten", der „Gegenstand" schließt das zu ihm gehörige Gefühl sozusagen ein, Gegenstand ohne Gefühl gibt es nicht, wohl aber Gefühl ohne Gegenstand. Wer das Wort Gegenstand gebraucht, meint eo ipso das im gemeinten Objekt homogen mit dem „Gegenständlichen" vorhandene Gefühl, meint den Gegenstand als Homogenität von „Gegenständlichem" u n d Gefühlsmäßigem. Das „Gegenstandliche" ist nicht etwa eine besondere Substanz oder die Substanz überhaupt, die neben dem Gefühl existierte, neben der das Gefühl keine oder eine andere Substanz wäre, so d a ß man annehmen könnte, beide Substanzen, beide „Etwasse" mischten sich oder würden gemischt in verschiedenen Legierungsverhältnissen und könnten sich sonach auch wieder entmischen oder in andern Verhältnissen mischen usw. Sondern G e g e n s t a n d ist der a l l g e m e i n e B e g r i f f f ü r die auf dem E n t w i c k l u n g s w e g e vom G e f ü h l zum B e g r i f f liegenden A k t u a l i t ä t e n , diese als Objektpartner der in den modalen Denkzellen gelegenen Beziehungen genommen. Gefühl, Gegenstand und Begriff sind Formbestimmlheiten, u n d zwar ist die Formbestimmtheit, die den Gegenstand darstellt, ein Mittelding zwischen Gefühl u n d Begriff, j e nachdem mehr zum Gefühl hin oder mehr zum Begriff hin gelegen, Aktualität einer näher der sensilen oder näher der begrifflichen Sphäre dei Hirnrinde liegenden Denkzelle. Selbstverständlich ist n u n aber „Gegenstand" nicht etwa ein Durchschnittsprodukt aus Gefühl und Begriff. Ebensowenig ist „Gegenstand" aus dem Gef ü h l hervorgegangen und geht in den Begriff genetisch über in der Weise, daß ein Gefühl als solches zum Gegenstand u n d aus diesem ein Begriff würde: aus der Angst als solcher kann niemals der Gegenstand werden, der Angst homogen in sich begreift, das sog. Angstobjekt, z. B. eine Schlange, und aus diesem Angstobjekt als solchem, hier der Schlange, kann niemals der Begriff Schlange i56
werden. Sondern die in der aktuellen sensilen Denkzelle liegende Aktualität ist das Gefühl, hier Angst, u n d die in der modalen Zelle liegende Aktualität ist der Gegenstand, hier Schlange usw. Passieren (in der jeweiligen Höchstzahl) die spezifischen Eronen ihre sensile Denkzelle, dann ist das Gefühl da; gelangen diese (jetzt zahlreichsten) Eronen, allerdings in ihrer Komplexität verändert, aus der sensilen Zelle in die modale, dann ist der Gegenstand da, u n d bewegt sich der (stärkste) Eronenstrom weiter „nach innen" in modale Denkzellen, dann sind immer die assoziierten Gegenstände nacheinander aktuell, u n d gelangt der Eronenstrom, in beständiger \ e r ä n d e r u n g begriffen, in die idealische Denkzelle, dann erscheint der zugehörige B e g r i f f ; aber ebensowenig wie aus der sensilen Zelle die modale wird, aus der modalen die idealische, ebensowenig wird aus dem Gefühl als solchem der Gegenstand und aus derr- Gegenstand als solchem der Begriff. Diese Phänomene folgen aufeinander u n d schließen sich genetisch aneinander a n : der Gegenstand kann nur erscheinen, nachdem die sensilen Zeller. sich entwickelt haben; diese sind zuerst aktuell, dann die modalen u n d dann die idealischen. Zwar braucht nach Entwicklung der sensilen und modalen Zellen der Eronenstrom zur modalen Zelle nicht jedesmal erst die zum System gehörige sensile Zelle zu passieren, sondern kann unmittelbar aus sensibeln Nerven a u f genommen werden; es braucht also nicht immer erst das Gefühl zu erscheinen u n d dann erst der zugehörige Gegenstand, wohl aber geht genetisch die Funktion der sensilen Zelle der der modalen usw. voraus. Der Weg vom Gefühl als Aktualität der sensilen Zelle zürn Gegenstand a b Aktualität der modalen Zelle ist eine Reihenfolge von Veränderungen der Eronenkomplexe, die u n bewußt verläuft, ist Bewegung, Denken. Während dieser unbewußten Veränderungen, die allenthalben vor sich gehen, verändert sich auch das Bewußte, u n d eine dieser Aktualitäten, die die Veränderung des Symbols ausmachen, ist das Gefühl, dann vielleicht je nach der Triebsituation der zu dem Gefühl assoziativ gehörige Gegenstand oder dieses oder jenes andere assoziierte Gef ü h l usf. Das Gefühl, wie es ist, kann also nicht Gegenstand werden, u n d der Gegenstand, wie er ist, nicht Begriff, sondern die Objekte sind Aktualitäten verschiedener Denkzellen, u n d der Übergang vom Gefühl zum Gegenstand u n d von diesem zum Begriff kann lediglich in dem genetischen Sinne verstanden werden, daß mit der Entwicklung der modalen Denkzellen das Gefühl, sich spezifisch verändernd, mehr u n d mehr in eine Formbestimmtheit aufgeht, die wir Gegenstand nennen, d a n n in eine solche, die wir Begriff nennen, und ebenso daß die Formbestimmtheit Gegenstand mehr und mehr in die Formbestimmtheit aufgeht, die wir Begriff nennen. i5.
S ho.
Spezifität
der a s s o z i a t i v e n
Systeme.
Die sensile Denkzelle assoziiert sich im Laufe der Entwicklung mit modalen Zellen, deren Aktualität der Gegenstand ist. Welche Zellen das sind, die sich genetisch mit der sensilen Zelle zu einem assoziativen System verbinden, ist ,,Sache" der Entwicklung, genauer „Sache" der Formspezifität. Wir können nur den Tatbestand am Objekt erheben, daß die Verbindungen so und nicht anders gelagert sind; die Frage, warum die Verbindungen bei dem einen Individuum so, beim andern anders verlaufen, ist durchaus unbiologisch, sie ist motivisch, ist — wie die Frage überhaupt — ihre Antwort zugleich; sie ist eine in einer bestimmten Anordnung erfolgende Ausdrucksbewegung, nichts weiter. Wir können nur einen Zusammenhang beschreiben, vielmehr der Zusammenhang ist die Beschreibung; den oder einen Grund oder die oder eine Ursache, diese Begriffe motivisch aufgefaßt, können wir niemals innerhalb der menschlichen Anschauung ausfindig machen. Wir betrachten die Tatsache, daß hier die assoziative Verbindung sc und nicht anders verläuft, als Kennzeichen der F o r m s p e z i f i t ä t , der Individualität, deren Herleitung das wesentliche Thema der Erbbiologie ist. In die sensile Zelle — wie in jede andere Zelle — werden nur Eronen und Eronenkomplexe mit Paßformen aufgenommen; sie verändern sich während der Passage durch die Zelle und gelangen so in den Neuriten, der ja lediglich eine Fortsetzung (ein Fortsatz) des Zelleibes ist (wie übrigens natürlich die Dendriten auch). Je nach der Formspezifität bewegen sie sich in das motorisch-sekretorischc Gebiet oder fließen in eine Nebenbahn, in eine Kollaterale ein und gelangen so in andere Zellen, die Paßformen haben. Über das B e w e g u n g s g e s e t z werden wir uns noch im Abschnitt über die Formspezifität unterhalten. Keinesfalls ist der Zutritt eines Eron oder Eronenkomplexes in eine Zelle oder sonstwohin möglich, die nicht Paßformen hat, d. h. wo nicht die Anordnung des Gegenständlichen auf der einen Seite gehöhlt oder eingewölbt oder eingebuchtet, auf der andern vorgestreckt, vorgewölbt, vorgebuchtet ist, und zwar ist diese Anordnung stets spezifisch. In dieser Weise verstehen wir die Besonderheiten der sensibel-motorischen wie auch der interzellulären (und natürlich auch intrazellulären) Verbindungen, und ebenso unkontrollierbar, etwa vom prüfenden Verstand, Bewußtsein oder dgl., ebenso unerklärlich nach bedinglichen oder ursächlichen oder zwecklichen Gesichtspunkten ist die eine wie die andere. Es ist also lediglich entwicklungsgeschichtlich zu verstehen, daß diese assoziativen Systeme und auch wieder die Verbindungen dieser Systeme bei dem einen so, beim andern anders gelagert sind, daß also der eine auf diesen, der andere auf einen andern Gegenstand! „Wert legt", daß, wie man sagt, de gustibus non est disputandum. i58
Das System der Gegenstände, in die ein bestimmtes G e f ü h l , z. B. die Angst, eingeht, ist individualspezifisch, und es gibt keine Möglichkeit, jemanden zu veranlassen, d a ß er „willentlich" oder „wissentlich" diese Systeme u m b a u t . Die Vorstellung, d a ß dieser U m bau auf Bewußtseinsbeschluß stattfinden könne, ist spätinfantil und juvenil. Dagegen entwickeln sich die Systeme, bauen sich aus, der assoziative Kreis erweitert sich bis in das sechste Jahrzehnt hinein, u n d diese Entwicklung kaiui z. B. so verlaufen, d a ß solche sensile, modale oder idealische Zellen, die bis-her Zentralen eines assoziativen Systems waren, in die die zufließenden Eronen der Spezifität entsprechend zum größten Teile einströmten, durch andere Zellen ersetzt werden, ja in hohem Maße veröden; hierbei veröden natürlich auch die Dendriten u n d der Neurit, sowie die sensibeln (zuleitenden) Bahnen u n d die bisherigen, besonders lebhaften motorischen u n d sekretorischen Ausdrücke werden schwächer oder unterbleiben ganz. Diese Entwicklung ist aber auch nicht etwa ,,gewollt" oder sonstwie bedinglich oder ursächlich oder zwecklich herbeigeführt, sondern — ist eben Entwicklung. Wir können „aus eigner K r a f t " , „aus eignem Willen" u n d wie die motivischen Phrasen alle heißen, nichts dazu u n d nichts davon t u n , sondern lediglich die Tatsache des erfolgten Umbaues des Systems erkennen und anerkennen. Was m a n da von „Selbstbeherrschung", von „Willensanspannung", die zu „stärken" angeblich „Aufgabe" der Erziehung, der „Willenstherapie" wie überhaupt der motivisch a u f gefaßten Psychotherapie einschließlich der mißverstandenen Psychoanalyse sei, zusammenfabelt, ist nichts weiter als motivische Phrase — ein Zeugnis von der Entwicklungsstufe der zeitgenössischen Gehirne. Sind zwischen zwei Individuen hinreichend viele P a ß f o r m e n da, so „ h i l f t " der eine dem a n d e r n ; die von dem einen übergehenden Eronen werden (beschreibungsgemäß) in diesem Falle vom Partner aufgenommen, je nach der Formspezifität in die zentralen Nervenzellen weitergeleitet, d. h. sie bewegen sich dahin, passieren die sich „ n e u " differenzierenden und funktionierenden Zellen und gehen in die zugehörige Motilität u n d Sekretion aus — das ist alles. Wo nur wenige, zu wenige P a ß f o r m e n da sind, gibt es keine Möglichkeit, das interindividuelle Verhältnis hinreichend herzustellen oder zu erhallen, nicht-paßrechte Eronen in das partnerische Individuum hineinzubringen — alle erzieherischen, ärztlichen „Bemühungen" sind d a n n erfolglos: der Erzieher, der Arzt usw. „taugt" nichts, „kann nichts" usw. Erst das Individuum m i t P a ß f o r m e n gewinnt „ E i n f l u ß " (kann Eronen e i n f l i e ß e n lassen, oder genauer: seine E r o n e n fließen ein, werden a u f g e n o m m e n ) — der ist dann der „tüchtige" (taugliche, tugendliche) Mensch usw. In der Formspezifität liegen die Möglichkeiten aller interindividuellen Gegenseitigkeit. Da wäre also der Erzieher, der Arzt usw. überflüssig? Wie k a n n m a n mich nur so mißverstehen 1 Der 109
Partner mit den Passeronen ist ja eben die „notwendige" Ergänzung des andern, er ist also unentbehrlich, er ist vor allen Dingen d a , und daß er da ist, zeigt, d a ß er nicht nicht-da ist, daß e r „notwendig" ist, die Not wendet. Wäre er nicht da, so wäre er nicht „notwendig", könnte man sich fiktioneil ausdrücken. Nur erkenne man, daß er „nichts d a f ü r kann", daß sein „Bewußtsein", sein „Wille" und dgl. nicht f ü r den „ E r f o l g " oder „Mißerfolg" seiner „Bemühungen" verantwortlich gemacht werden darf — genau so wenig wie m a n jemandem einen Vorwurf daraus machen darf, d a ß er krank, lahm ist, nur zwei u n d nicht drei Arme hat, den Kopf oben und nicht unter dem Arme trägt, oder jemanden loben darf, daß er gesund usw. ist. Niemand „kann f ü r " sich oder oder den andern und niemand kann seiner Länge eine Elle zusetzen, ob er gleich d a r u m sorge. (Vergl. SS 72, 110.) S hi.
Die Gef iihligkeit.
Der Gegenstand ist immer zugleich mit Gefühl da — in dem im S 3g besprochenen Sinne; es kann also nicht erst ein Gegenstand da sein u n d dann Gefühl ( „ W e r t " ) darauf gelegt werden, sondern der Gegenstand u n d „sein W e r t " , d. h. das mit ihm u n d in ihm gegebene Gefühl, das mit dem „Gegenständigen" in Homogenität den Gegenstand ausmacht, ist zugleich, eben als Homogenität da. Die Gegenstände existieren ja lediglich als die partnerischen Eronen, die an der in der modalen Denkzelle liegenden Beziehung als Objekt teilhaben; ob sonst irgend etwas außerdem, außer der in den Denkzellen objektischen Welt existiert oder nicht existiert, kann uns weder interessieren noch ist f ü r den Menschen je erfahrbar. Die infantile u n d motivische Auffassung ist aber so gestaltet, als ob die Welt außerhalb meines Gehirns existiere und die Möglichkeit bestünde, daß ich m i r aus dieser Welt das aussuche, was mir „ p a ß t " , also auf den einen Gegenstand „ W e r t " legen, den andern verschmähen könne. Wir erkennen: jeder Gegenstand stellt so viel Gefühl dar, wie der E n t f e r n u n g der Denkzelle von der sensilen Sphäre entspricht*). Jeder Gegenstand i s t so viel Gefühl, wie dieser E n t f e r n u n g entspricht. Die „Gefühlsquote", die in u n d mit dem Gegenstand gegeben ist, nenne ich die G e f ü h l i g k e i t des Gegenstandes; die Gegenstände sind also verschieden gefühlig. Einen Gegenstand, der nicht zugleich in Homogenität G e f ü h l wäre, gibt es nicht. Das Gefühl (der Wert) kann also nicht „darauf gelegt werden", es liegt auch nicht darauf, sondern ist mit u n d in dem Gegenstand homogen gegeben. Das Gefühl kann auch von einem Gegenstand nicht weg*) „ E n t f e r n u n g " in diesem Zusammenhange immer n i c h t s o w o h l im ö r t l i c h e n a l s im g e n e t i s c h - f u n k t i o n e l l e n S i n n e gemeint. 160
genommen werden, es ist ja der Gegenstand selber und kann nur „verschwinden" mit dem Gegenstand, der es ist. Der Gegenstand ist da, heißt: es besteht diese (mit dem Gegenstande identische) Aktualität in einer modalen Denkzelle; und weiterhin: die Gegenstände wechseln, heißt: das (modale) Objekt verändert sich, die Formbestimmtheit als Symbol entwickelt sich, wickelt sich auf, es erscheinen ihre Komponenten, die selber wieder Symbol sind. Wann also der eine Gegenstand jetzt da ist, jetzt nicht mehr (oder noch nicht) da ist, so hat nicht irgendeine „psychische Instanz" „in mir" motivisch gewirkt usw., sondern es ist eine Änderung der Aktualität eingetreten, es ist jetzt diese, jetzt jene Denkzelle in Funktion, es wird jetzt diese, jetzt jene Denkzelle von „ihrem" Eronenstrom passiert, und dieser Eronenstrom ist unter allen andern gleichzeitig sich in Denkzellen bewegenden der stärkste, führt die größte Eronenzahl. Die Aktualität Gegenstand kann in einer von der sensilen Sphäre ferneren oder ihr näheren Zelle liegen, und die Aktualitätenreihe bedeutet ein fortwährendes Auf und Ab des Bewußten in den Denksphären. Es kann also auf einen „gefühlsarmen" Gegenstand ein „gefühlsrcicher" folgen — hier haben wir die „ W e r t s k a l a " (vergl. S 73). Die motivische Ausdeutung der Wertskala sieht in dem Aktualitätsweclisel eine von mir (oder einem andern) gewollte, verursachte, bedingte usw. Veränderung der Außenwelt, die Wirkung meiner „Energie", die Folge meines Entschlusses, so oder so zu handeln. Die Differenz an Gefühl, das mit und in dem Gegenstand homogen gegeben ist, gehört wesentlich zur Unterschiedlichkeit der Gegenstände. Das ist nicht so zu verstehen, als ob das Subjekt das mit dem Gegenstand homogene Gefühl separat vom Gegenstand wahrnähme und (auch) an diesem „Gefühlsgehalt" die Dinge unterschiede; sondern die Vorstellung, hier der Gegenstand ist zugleich und homogen Gefühl, und die Gegenstände unterscheiden, d. h. überhaupt wahrnehmen, heißt: auch die Differenz ihrer Entfernung von der sensilen Sphäre modaliter ermessen, heißt: die Gegenstände als in dieser Entfernung befindlich wahrnehmen, die Gegenstände als Darstellungen der Differenzen der Entfernung der entsprechenden aktuellen Denkzellen von der zugehörigen sensilen Zelle wahrnehmen. Dies ist aber nicht ein besonderer „Wahrnehmungsakt", sondern die Wahrnehmung „Gegenstand" ist zugleich Wahrnehmung dieser Differenz. Wann ich einen Gegenstand überhaupt wahrnehme, nehme ich ihn zugleich mit oder als Präsentant dieser Differenz wahr, und je geringer diese Differenz ist, desto gefühliger erscheint das Objekt, je größer die Differenz, desto weniger gefühlig erscheint das Objekt gegenüber dem Vorobjekt. Das Objekt, das nicht mehr reines Gefühl ist, nennen wir Gegenstand; je weniger ein Objekt Gefühl ist, desto schärfer tritt das „Gegenständige" hervor. Der Formspezifität der Eronen 11 L u n g w i t z , Die Entdeckung der Seele.
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entsprich! das G e f ü h l , der Gegenstand u n d der B e g r i f f , d. h. j e nachdem E r o n e n in die (und zwar i n diese) sensile Zelle oder in die (diese) modale oder die (diese) begriffliche Denkzelle gelangen, erscheint (dieses) G e f ü h l oder (dieser) Gegenstand oder (dieser) B e g r i f f ; welches G e f ü h l , welcher Gegenstand, welcher B e g r i f f erscheint, bewußt ist, ist weder vom „ W i l l e n " noch vom „ B e w u ß t s e i n " oder sog. „psychischen Instanzen" zu bestimmen, sondern zeigt lediglich an, daß diese u n d nicht eine andere Denkzelle in F u n k t i o n ist, von paßrechten E r o n e n passiert wird. Und i n d e m die E r o n e n und E r o n e n k o m p l e x e entsprechend ihrer F o r m s p e z i f i t ä t sich bewegen, gelangen sie in Zellen (oder sonst wohin) m i t P a ß f o r m e n , z. B . aus der sensilen Zelle in die zugehörigen modalen oder idealischen Zellen, und j e nach der Denkzelle, die von der größten Anzahl E r o n e n durchströmt wird, ist ein bestimmtes Gefühl oder ein bestimmter Gegenstand oder ein bestimmter B e g r i f f bewußt. Die Wertskala ist sonach nicht „Beweis" f ü r die Existenz eines autokratischen „freien W i l l e n s " oder irgendeiner andern psychischen oder physischen „ I n s t a n z " , die wählen, überlegen, beschließen, die Ausführung überwachen, so oder anders lenken könne usw. Die Wertskala ist lediglich Bezeichnung f ü r die Tatsache der D i f f e r e n z der E n t f e r n u n g der jeweils aktuellen Gegenstands- oder Begriffszellen von der sensilen S p h ä r e . Demnach stellt j e d e r Gegenstand und j e d e r B e g r i f f in dem genannten S i n n e auch ein bestimmtes G e f ü h l dar, und der „ G r a d " des Gefühls, das m i t und in dem Gegenstand erscheint, die Gefühligkeit, kennzeichnet die E n t f e r n u n g der Aktualität von der sensilen Sphäre. Die Aktualitäten, die in der Symbolanalyse als zeiträumliche Unterschiede erscheinen, k ö n n e n (besohreibungsgemäß) nach dem m i t und in ihnen erscheinenden G e f ü h l als Homogenitäten geordnet werden und liegen so in einer K u r v e , deren einzelne Punkte die E n t f e r n u n g der aktuellen Zelle von der sensilen S p h ä r e angeben. Selbstverständlich ist diese Kurve nicht mit den Gefühlskurven zu verwechseln, die die Unlust-Lustgrade eines G e f ü h l s a b l a u f e s wiedergeben. J e n e Kurve s t i m m t mit der Wertskala überein, zeigt also den „ G r a d " der Gegenständigkeit u n d damit der Gefühligkeit der Objekte an, damit zugleich den „ G r a d " des m i t u n d in dem O b j e k t als Homogenität gegebenen Gefühls. E b e n s o sind nach diesem Gesichtspunkt die B e g r i f f e k u r v e n m ä ß i g zu ordnen, die j a alle auch gefühlig sind, d. h. Aktualitäten von Denkzellen, die in einer gewissen geringeren oder größeren E n t f e r n u n g von der sensilen Sphäre liegen u n d von spezifischen E r o n e n passiert werden, deren F o r m b e s t i m m t h e i t e n P a ß f o r m e n , und zwar Homogenitäten i m genannten S i n n e sind. Das B e w u ß t e ist ein P u n k t e i n e r dieser verschiedenen Kurven, die übrigen Teile der K u r v e , in der das Bewußte liegt, wie die vollständigen andern K u r v e n sind unbewußt. 162
Die Aktualität liegt jetzt in dieser, jetzt in jener Denkzelle, u n d jede Aktualität ist somit ein P u n k t der Denkkurve, die die möglichen Aktualitäten, die Vor- und Nachaktualitäten aufzeichnet. Nur freilich verändern sich diese Kurven ununterbrochen. Die Aktualität weder noch gar die Vor- u n d Nachaktualitäten sind mathematische, sondern biologische „Größen". Die Denkzelle lebt: nie t r e f f e n zwei Eronenkomplexe die biologisch identische Zelle, nie sind zwei Eronenkomplexe biologisch identisch. Das Individ u u m ist immer nur mit sich selbst identisch. Mathematisch gesprochen m ü ß t e jeder Gegenstand, jeder Begriff unter allen Umständen das eine Gefühl darstellen, nämlich das in u n d mit ihm gegebene, „sein" Gefühl; die Denkzelle m ü ß t e ihre E n t f e r n u n g von der sensilen Sphäre nicht im geringsten ändern, ihre Aktualität immer dieselbe sein usw. Indes erscheint dasselbe Gefühl, derselbe Gegenstand, derselbe Begriff niemals zweimal oder mehrmals; jede Aktualität, auch wenn sie vermeintlich dasselbe Gefühl, derselbe Gegenstand, derselbe Begriff ist, erscheint verschieden —• sie wird ja als zweite Erscheinung (Analogie) des gleichen Objekts erkannt. Es würde die Aufhebung der menschlichen Anschauung bedeuten, würde man behaupten, dieses Haus sei jetzt u n d jetzt und jetzt identisch, die anschauungsgemäße Veränderlichkeit des Objekts, die „Symbolnatur" der Formbestimmtheit würde mit dieser Behauptung gestrichen und damit die Anschauung überhaupt. Die anschauungsgemäße Veränderlichkeit, das Immer-anders des Objekts ist das Leben. Die Physis lebt, die Psyche ist nichtlebendig. Indem die Denkzelle sich unablässig verändert u n d niemals von dem identischen Eronenstrom passiert wird, indem ihre Entfernung von der sensilen Sphäre niemals zweimal identisch ist, sind die Gegenstände wie die Begriffe immer „neu", verändert, unterscheidbar und unterschieden, stellen immer wieder andere „Gefühlsquanten" dar. Niemals begehren wir einen Gegenstand zweimal mit derselben Intensität, niemals legen wir, motivisch gesprochen, auf denselben Gegenstand zweimal denselben Wert. Diese Unterschiede gehen von feinsten Abtönungen bis zu gröbsten Dissonanzen, u n d niemand weiß, „warum" ihn dieser Mensch, dieser Gegenstand, dem er vor kurzem oder langem noch stürmische Gefühle weihte, jetzt „kalt l ä ß t " : nun, die Denkzellen haben sich verändert, von den vom Individuum (beschreibungsgemäß) ausgehenden Eronenkomplexen, die sich ebenfalls (in differenter Weise) geändert haben, finden da, wo die f r ü h e r e n reichlich aufgenommen worden sind, nur wenige jetzt P a ß f o r m e n : die wenigen „reichen aus", das Individuum überhaupt wahrzunehmen, aber die Aktualität ist jetzt eine andere, ihre Gefühligkeit ist geringer. Und so kommen wir auf einen andern Weg zum Verständnis der S c h w a n k u n g e n d e r G e f ü h l i g k e i t , des mit u n d in 11
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d e m Gegenstand gegebenen Gefühls (der damit natürlich jedesmal ein anderer, ein analogischer ist). J e nach der Formspezifität wandern die Eronen über die sensile Sphäre in die modale oder idealische ein, wobei also zuerst das Gefühl erscheint, dann der assoziierte Gegenstand, dann der assoziierte Begriff. Oder die Eronen wandern sogleich aus der sensibeln Bahn in die modale Zelle ein, u n d die Aktualität ist nicht erst das Gefühl, sondern gleich der Gegenstand. (Die Begriffszelle ist im allgemeinen n u r über die Gegenstandszelle erreichbar; es m u ß dahingestellt bleiben, ob nicht doch in gewissen Hirnrindenabschnitten die Begriffszellen — wenigstens zum Teil — doch auch unmittelbare Verbindungen mit zuleitenden [sensibeln] Nerven haben.) Zwar braucht an sich das in einem Gegenstand dargestellte Gefühl nicht als mehr oder weniger lebhaft bemerkt zu werden, wann die Eronen jetzt über die sensile Zelle, dann direkt aus der sensibeln Bahn einwandern; die modale Zelle kann sich unterdes nur wenig verändert haben. Indes kommt hier wieder die Interferenz in Betracht — derart, d a ß bei Mobilisierung der sensilen Sphäre (Gemütsbewegungen) die „Wogen der Erregung", d. h. die Abläufe der Gefühlskurven auch dann noch unbewußt im Gange bleiben, wann, gewissermaßen aus dem Schwall aufspritzend, ein Eronengischt bis in die modale und idealische Ferne hinreicht und so der Gegenstand oder Begriff inmitten der Gefühlswallungen erscheint, zwar als solcher f ü r sich und allein bewußt, aber von heftigen Gefühlen umrahmt u n d abgelöst; die Gefühligkeit des (analogen) Gegenstandes oder Begriffes ist dann tatsächlich oder vermeintlich höher. Endlich kann (sozusagen) der Gegenstand als Aktualität der gleichen Zelle „seine Gefühlsquote" verändern im Gange der Entwicklung des assoziativen Systems: der Gegenstand stellt als Aktualität einer der sensilen Sphäre nächst- oder näherliegenden Denkzellen ein stärkeres Gefühl dar denn als Aktualität einer weiter von der sensilen Sphäre e n t f e r n t liegenden Zelle. Baut sich n u n das assoziative System aus, so kann die der sensilen Sphäre näher liegende Denkzelle mehr minder weitgehend ausgeschaltet werden, der Eronenstrom gelangt gar nicht oder es gelangen nur schmale Rinnsale zu der vorher ausschließlich oder vorwiegend durchströmten Denkzelle, deren Aktualität n u n m e h r weniger gefühlig ist als vorher; dabei ist aber auch der Gegenstand ein anderer als vorher. Diese Aktualität erscheint aber nur dann, wann dieser an sich schwache Eronenstrom dennoch jetzt unter allen in der Hirnrinde verkehrenden der stärkste ist. Eine solche Veränderung der K a p a z i t ä t (Funktionsamplitude) der einzelnen Zellen ist eine entwicklungsgeschichtliche Tatsache, u n d die entsprechend veränderte (verringerte) „Gefühlsquote" des nunmehr erscheinenden analogischen Gegenstandes ist somit biologisch zu verstehen. Vgl. S 94. I64
S 4a. V o n d e r A r t - u n d d e r
Individualspezifität.
Muß es nach alledem hervorgehoben werden, daß alle diese evolutionistischen (und involutionistischen) Vorgänge , a r t - u n d i n d i v i d u a l s p e z i ü i s c h sind, daß kein einziges Individuum mit dem andern noch —• als Objekt zu „seinem" Subjekt — mit sich selber auch nur den kleinsten Teil einer Sekunde übereinstimmt, daß somit jeder Mensch in seiner eignen und einzigen Welt lebt und daß diese einzige Welt sich unablässig verändert? Die Denkzellen verändern sich, und damit verändert sich die Welt; die Veränderung ist Evolution und Involution, Aufnahme und Abgabe. Werden und Vergehen, und diese Veränderung ist in allen ihren geringsten und größten Einzelheiten art- und individualspezifisch. Die sensil-modal-idealischen Systeme sind bei jedem Individuum verschieden und in beständiger Verändex-ung begriffen, also auch innerhalb der Individuums verschieden. Die Gegenstände, die der eine „hochschätzt", gelten vielleicht dem andern nicht eben viel, und sie wechseln obendrein ihre „Gefühlsquote" und damit selbst; die Veränderung des Gegenstandes bedeutet immer auch die Veränderung seiner Gefühligkeit. Daß ich auf den Gegenstand einen „hohen Wert lege", der vielleicht von allen oder den meisten andern als „zu hoch" angesehen wird, zeigt an, daß in diesem meinem sensil-modalen System diese Gegenstandszelle der sensilen Sphäre dicht benachbart war und auch in späterer Zeit geblieben ist. Daß ich diesen Gegenstand als Angstgegenstand oder als Schmerzgegenstand usw. wahrnehme, der andere denselben Gegenstand als „Träger" eines anderen Gefühls oder, wann des gleichen, so eines stärkeren oder schwächeren Gefühlsquantums anschaut, ja daß es nicht zwei Menschen gibt, die denselben Gegenstand mit gleichen Gefühlsquoten ausgestattet anschauen, ja daß nicht einmal ich selber einen Gegenstand auch nur eine kurze Spanne Zeit „mit denselben Augen" anschaue, das alles verstehen wir jetzt als Variationen der Individualität, hier an der Veränderlichkeit der Denkzellen, an ihrem Entwicklungsgrad und ihrem Entwicklungsrhythmus sich offenbarend. Im allgemeinen freilich stimmen die Vorstellungen, die Objekte gleichartiger oder verwandter Individuen überein. Alle Menschen „haben" Hunger, Angst, Schmerz usw., alle sehen ein Haus als Haus und einen Baum als einen Baum usw. an, alle verstehen unter Tugend, Frömmigkeit, Torheit usw. sowie unter den der Modalität näherliegenden Begriffen wie Holz, Metall, Art, Technik usw... endlich auch unter den Begriffen, die mit den Bezeichnungen, den Namen der einzelnen Gegenstände übereinstimmen, in einem weiteren Sinne ein und dasselbe, in einem engeren Sinne aber Verschiedenes. Das heißt: die Denkzellen — wie auch die andern Zellen •— der Menschen sind „im ganzen und großen" gleichartig, i65
u n d auch viele Tierspezies verfügen über Denkzellen., die f ü r menschliche oder andere tierische Eronenkomplexe P a ß f o r m e n a u f weisen, so d a ß eine Verständigung möglich ist. Mit Bezug auf die Denkzellen, die in diesem Sinne gleichartig sind, gehören die sich Verständigenden einer Gruppe, Familie, Art an. Soweit der H u n d den Menschen versteht, ist er menschlich; soweit das P f e r d dem menschlichen P f i f f , dem menschlichen W o r t , den menschlichen „Reithilfen" gehorcht, hat es P a ß f o r m e n f ü r menschliche Eronenkomplexe. Nicht umgekehrt ist der Mensch, soweit er den H u n d , das P f e r d , die Tiere, Pflanzen, Steine versteht, tierisch, pflanzlich, mineralisch, sondern immer menschlich: der Mensch hat P a ß f o r m e n f ü r alle Individuen, es gibt innerhalb der menschlichen Anschauung n u r Individuen, f ü r deren Eronenkomplexe er P a ß f o r m e n hat. Andere Individuen „kennt" er nicht, m a n kann auch gar nicht, von „Individuen" sprechen als von — ja von was? als von solchen „Wesen", die weder existieren, noch nicht existieren, dio keine Individuen sind, innerhalb der menschlichen Anschauung weder erscheinen noch nicht erscheinen, weder Subjekt noch Objekt sind, keine P a ß f o r m e n f ü r den Menschen haben. Alle Individuen haben P a ß f o r m e n f ü r das Subjekt-Individuum, das IchIndividuum, sind ja Verändertheiten des Objekts, und die Annahme der Existenz eines „Etwas", das im Symbol weder (homogen) enthalten noch nicht enthalten wäre, ist eine Fiktion. Der Stein existiert, ist zu beschreiben: er sendet Eronenkomplexe aus, die der Mensch a u f n i m m t , u n d alle Menschen nehmen den Stein a b solchen wahr, wann seine P a ß f o r m e n eindringen (durchs Auge, durchs Ohr, durch den Mund, durch die Hautporen usw.). Der Gegenstand — u n d auch der Begriff — „Stein" ist artspezifisch, ist Aktualität einer menschlichen modalen u n d idealischen Denkzelle; ebensowenig aber wie die Beschaffenheit dieser Zellen bei den einzelnen Menschen identisch ist, ebensowenig wie sie von der sensilen Sphäre gleichweit e n t f e r n t sind, ebensowenig besteht Einmütigkeit in der „Beurteilung", in der „ B e w e r t u n g " des Steines, präsentiert dieses Exemplar Stein f ü r verschiedene Menschen dieselbe Gefühligkeit. Der „Liebhaber" wird f ü r das Exemplar einen hohen „Gegenwert" hingeben, die Denkzelle, in der diese Aktualität liegt, ist der sensilen Zelle dicht benachbart. Der andere „versteht" nicht, daß j e m a n d einen großen Betrag f ü r dieses Exemplar Stein ausgeben kann; bei ihm liegt die Denkzelle mit dieser Aktualität weiter ab von der sensilen Sphäre, u n d vielleicht sind die Zuleitungswege aus der zugehörigen sensilen Zelle obendrein schwach entwickelt. Wir verstehen so die individuellen Besonderheiten in d e r Bewertung von Gegenständen; sie erscheinen bei geringen Variationen der Gefühlsquote als „normal", bei stärkeren Variationen als a u f f ä l l i g oder schließlich als k r a n k h a f t . Die Stärke der 16G
Bewertung, die ein Gegenstand „ e r f ä h r t " , genauer die Gefühlsquote, die ein Gegenstand darstellt, ist Zeichen d a f ü r , in welcher Entfernung von der sensilen Sphäre die modale Zelle liegt, deren Aktualität der Gegenstand ist. Einzelne Teile der Hirnrinde, einzelne assoziative System können aber einen besonderen Entwicklungsrhythmus haben, also z. B. im Verhältnis zu den übrigen Systemen ,.zurückgeblieben" sein. Die daselbst aktuellen Gegenstände stellen eine a u f f a l l e n d hohe Gefühlsquote dar, die aber nicht etwa hingelegt u n d weggenommen werden kann, sondern die mit und in dem Gegenstand gegeben ist, die sich n u r ändern kann, indem sich der Gegenstand ändert, die genauer als Gefühligkeit bezeichnet wird. Ist z. B. ein Angstsystem oder mehrere embryonal oder infantil geblieben, so sind auch noch i m erwachsenen Alter die zu diesen Systemen gehörigen Gegenstände besonders stark angstgefühlig. Die Situation wird dann immer auch kompliziert von Besonderheiten (Perversionen) der sensibel-motorischen Verbindungen. Wir haben dann eine Angstkrankheit *), die je nach der Zahl der beteiligten Systeme leichter oder schwerer erscheint, als Neurose, Hysterie oder Psychose (als Teilerscheinung der Melancholie). Analog können Hunger-, Schmerz-, Trauer-, Freudesysteme relativ „zurückgeblieben" sein; die zugehörigen Gegenstände sind relativ stark gefühlig, so d a ß der Unterschied der Bewertung derselben Gegenstände von der allgemein gütigen Bewertung als k r a n k h a f t bezeichnet wird. Bei Besonderheiten der sensibel-motorischen Verbindungen sind auch solche Gegenstände spezifisch gefühlig, denen nach allgemeiner Auffassung diese Gefühle nicht zukommen, sondern andere, u n d sind die Ausdrücke der über diese Systeme verlaufenden Eronenströme (Reflexe) ,,zu" heftig oder besonders angeordnet oder sonst abweichend —• in einem die übliche Abweichungsbreite überschreitenden Maße. Diese „zurückgebliebenen" Systeme liegen nun aber nicht leblos in der Hirnrinde; sie verändern sich ebenfalls, sie entwickeln sich i m m e r aber in einer Differenz von der allgemeinen Entwicklungsf r o n t des Individuums. Der Assoziationskreis erweitert sich, aber das System, der Systemkomplex bleibt dennoch verkümmert — einem kranken Bäumchen vergleichbar, das zwar mit steigendem Alter eine gewisse der gesunden F o r m entsprechende Ausgestaltung erlebt, aber doch im Ausbau, in der Verbindung seiner S a f t bahnen, in der Struktur seiner Zellen, in seinem Habitus, kurz in *) Die Angstsymptome können auch Ausdruck dafür sein, daß die Angstzellen besonders zahlreich sind, ferner in gewissen Fällen, z. B. Angstpsychose dafür, daß eine „Einengung des Bewußtseins", wobei vorwiegend die sensile Sphäre und zwar eben die Angstzellen in aktueller Funktion sind, besteht. Vergl. § 94. 167
der Anordnung seiner Eronenkomplexe von der allgemeinen Konstitution mehr oder minder beträchtlich abweicht. Über die Ausgestaltung der sensil-modalen Systeme bringe ich in den nächsten Paragraphen einige nähere Mitteilungen, die auch schon in die Besprechung der Denkweisen einführen. S k3.
Entfaltung
in der
Pubertät.
Einen kräftigen Schub der Entwicklung beobachten wir in der Zeit der G e s c h l e c h t s r e i f e . Die Genitalhöhlen gewinnen an Volumen, die Hungereronen werden in raschem Anstieg zahlreicher, die mit dem Genitale verbundenen Denkzellen, zunächst wieder die sensilen, dann die modalen differenzieren sich zu ihrer endgültigen Verfassung heraus. Das Liebesgefühl, seit früher Embryonalzeit in niedrigen, dann im Gange der Entwicklung zunehmenden Graden verweilend, schwillt in steiler Kurve an, die Gegenstände dieser wie anderer Systeme gewinnen an Klarheit und Verbindung, die Welt der Begriffe, längst schon in seinen Grenzzonen erforscht, erschließt seine Geheimnisse in überwältigender Fülle. An diesem Entwicklungsschub nehme alle Systeme teil, der ganze Organismus. Die jeweilige Entwicklungsfront ist aber nicht eine gerade Linie, sie verläuft in den mannigfachsten Ein- und Ausbuchtungen, Wölbungen und Ecken, ist eine bunt gestaltete Kurve, deren einzelne Staffeln das jeweilige Entwicklungsende des zugehörigen Systems sind. Ist der Verlauf der Kurve ziemlich glatt und wohlgefügt, so sprechen wir von harmonischer Entwicklung; liegen die Punkte der Entwicklungsfront nach Höhe oder Tiefe weil voneinander entfernt, verläuft die Kurve gar in bizarren Aufsteilungen und Abstürzen, so sprechen wir von mehr oder minder ausgeprägten Entwicklungsstörungen, von Absonderlichkeiten oder von Krankheiten. Und nun bedeutet die Pubertät ein gewaltiges Vorschieben der Front, ein Verschieben seiner Abschnitte, eine Umgruppierung innerhalb des organischen Gefüge3 — in Übereinstimmung mit der Reifung der Zeugungsorgane. In der Pubertät kommen alle Besonderheiten zur Entfaltung; die Individualität gewinnt ihre endgültigen Umrisse. Auch zurückgebliebene Systeme wachsen zu reicheren Formen aus, ihre Eigentümlichkeiten treten schärfer hervor, ihre Ausdrücke präzisieren sich, ihre Abweichungen vom Allgemeingiltigen, das wir Norm nennen, werden nach und nach zu Symptomen. Die infantile Periode bis zur Geschlechtsreife ist ein Analogon zur embryonalen Periode bis zur Geburtsreife, und die P u b e r t ä t i s t s o e i n e z w e i t e G e b u r t . Die Analogie liegt nicht bloß im kurvenmäßigen Verlauf beider Parteien, sondern auch in den Enderscheinungen, gekennzeichnet durch die „fertige" Ausgestaltung bestimmter Höhlen, damals besonders der Mund- und Magenhöhle, 168
jetzt der Genitalhöhlen, und im Zusammenhange damit durch die „fertige" Ausgestaltung bestimmter Denksphären, damals der sensilen, jetzt der modalen. Wieder erfolgt die Ablösung von der Mutter (Geburt, Abnabelung): damals waren die Formbestimmtheiten des Foetus weit genug differenziert, nämlich zu Paßformen f ü r die Bestimmtheiten der extrauterinen Welt, zur Außenwelt, in der freilich die Mutter zunächst immer noch die Hauptrolle spielt — f ü r Knabe wie f ü r Mädchen. Das Heranwachsen im Mutterleibe war ja nichts weiter als eine solche Differenzierung. Und nun ist das Heranwachsen zur Pubertät wiederum eine Differenzierungslinie, ein neuerlicher Ablösungsweg, der aus dem mütterlichen (elterlichen, familiären) Bannkreise führt. Mehr und mehr „entfremden" sich Mutter (Eltern) und Kind, die Entfernung zwischen Mutter (Eltern) und Kind wächst in Übereinstimmung mit der Zahl der Paßformen f ü r „fremde" Individuen. Nicht Verbot und Gebot, die nach motivischer Auffassung die Erziehung ausmachen —• das „Gefühlselement" ist in Verbot und Gebot einbegriffen — , „bilden" das Kind, führen es von der Mutter, der Familie weg, bestimmen sein Verhalten, sondern das Wachstum des Kindes ist ein biologischer Vorgang, und das jeweilige Verhalten des Kindes Kennzeichen der biologischen Entwicklungsstufe, die in keinerlei kausalem oder konditionalem oder finalem, sondern lediglich in tatsächlichem Zusammenhang mit der Umwelt steht: das Kind ist da, die Umwelt (Gefühl und Gegenstand und Begriff) ist da, „seine" Umwelt ist da, die Anzahl der Gegenstände, die mehr minder gefühlig sind, die Aktualitäten seiner modalen Denkzellen, die Objekte als Partner der polaren (Subjekt-Objekt-) Beziehung und der interpolaren Verhältnisse, in fortwährender Veränderung befindlich, — und diese Veränderung wird motivisch als Ursache und Wirkung gedeutet, während sie realiter lediglich tatsächlich, zeiträumlich vor sich geht. Die Pubertät als Zeitpunkt der ersten Menstruation, der ersten Ejakulation ist das Zeichen, daß der Bannkreis der Mutter durchbrochen ist: das Weib erscheint. F ü r den Sohn wird die Mutter zum Weibe, f ü r die Tochter zur Rivalin. Erinnern wir uns wieder phylischer Vergangenheit. Der Mann-Vater starb zu Urzeiten im Koitus. Der Sohn, herangewachsen, sah den leiblichen Vater nicht. Verwandtschaftsgrade waren noch unbekannt. Die erste geschlechtliche Begegnung mit der Frau-Mutter trug dem Sohne das Mannes-, das Vaterschicksal ein. Die Mädchen wurden bei der Geburt meist getötet, auch viele Knaben. Trotzdem wuchs die Menschenzahl, die Familie wurde zur Herde, zur Horde. Der Geschlechtsverkehr konnte nur inzestuös sein; der B e g r i f f „Inzest" war freilich noch unbekannt, unbekannt auch, daß das, was man später Inzest nannte und als Verbrechen und Strafe deutete, Verbrechen und Strafe war: es gafc ja keine andern Menschen, mit denen sich die Familien169
mitglieder hätten vereinigen können, außer diesen Mitgliedern selbst. Die Gesellschaftsordnung formte sich mit steigender Zahl der Horden-, Sippen-, Stammesgenossen um, ohne daß die Urbeziehung anders geworden wäre als — männlich-weiblich. Die Beziehung blieb männlich-weiblich, auch als nach langer Periode der Mann das Weib überwältigte und unversehrt den Thron bestieg. Mutter und Tochter waren nach wie vor Rivalinnen, Mutter und Sohn Liebespartner. Der nun aus dem Kastratentum zum Herrn emporgestiegene Mann verfügte über alles Weibliche seiner Horde, gleich ob Mutter oder Tochter. War er den Söhnen schon als kastrierter Leib-Wächter als Hindernis auf dem Wege zur Mutter-Frau erschienen, so war er jetzt als unversehrter Mann das vollpotente Oberhaupt, das alle Weiber f ü r sich beanspruchte und diesen Anspruch gesetzlich festlegte. Und er brauchte zu seiner Befriedigung mehrere, viele Weiber; die Brunst, die in Urzeiten einmal im Jahre (Frühling) wild und gewaltig, mit tödlicher Wucht aufgeflammt, war schon zu häufigeren und schwächeren Eruptionen herabgesunken: entsprechend der Mehrung der Menschenzahl; es gab schon viele Weiber, und jedes nicht-schwangere war alle Monde begehrlich und begehrt. Aber den Söhnen blieb das Weib, das Weib-Vorbild, die Mutter tabu. Haßzellen differenzierten sich. Nun geschah, was in Vorzeiten immer geschehen war: der Vater wurde getötet; es gab jetzt freilich einen Männerkampf, der Vater war Held, nicht entmannt, war wehrhaft: besiegte er die Empörer so kostete es ihren K o p f , wurde er besiegt, so den seinen. Und dann fand die Hochzeit statt mit dem Festschmaus, den der Getötete mit seinem Leib und Blut bestritt. Und weiter änderten sich die Formen. Gesetze bildeten sich aus der Zeit heraus, die den Mord und seine Ausführung bestraften; die Väter waren nun im Besitze der Macht (potentia, potestas), die Leidenschaften, noch stark genug, waren abgedämpft; und Gesetze waren da, — nicht gemacht, sondern, wie immer, Kennzeichen ihrer Zeit, die in ihnen ihren besonderen, nämlich juridischen Ausdruck fand. Vom Liebestode war übrig geblieben die P u b e r t ä t s f e i e r , bei der in den verschiedensten Arten der Sohn symbolisch getötet, entmannt wurde — und wird, bei der in diesem „ O p f e r " die Tötung des Vaters vorgeführt und zugleich „gesühnt" wird. Der Rhythmus: erst der Vater, dann der Sohn — schwingt weiter, und die Auffassung, daß der Mann als Vater und Sohn zugleich auftritt, kommt in allen Arten der Initialriten, der Opfer klar zutage. Die Pubertätsfeier besagt: der Sohn hat sein „Ziel" erreicht, er ist Mann (Geschlechtspartner) der Mutter-Frau und stirbt, wie der Vorgänger, der „Ältere" (Eiter), der Vater gestorben ist. (Vater wird ja auch heute noch — ebenso wie Mutter — f ü r den bzw. die „Eiter" gesetzt, also f ü r die Eltern, 170
Älteren ganz allgemein, nicht b l o ß f ü r die leiblichen Eltern; und die F r a g e : wer ist der V a t e r ? d. h. der leibliche Vater, der Erzeuger, ist erst eine rein rechtliche; ursprünglich war eben jeder Ältere Vater und jede Ältere Mutter, la recherche de la paternité ist ein Kennzeichen weitfortgeschrittener K u l t u r . ) Die Pubertätsfeier (Beschneidung, Verstümmelung, Marterung bis fast zum Tode oder zum Tode, K r e u z i g u n g usf., oder die modernen Formen der K o n f i r m a t i o n mit dem ersten Abendmahl, bei dem Leib und B l u t des Herrn verzehrt wird usw. usw.) besagt nicht, daß der Inzest v e r h ü t e t werden soll, sondern daß er geschehen ist; nicht will sich der Vater vor dem Sexualanspruch des Sohnes auf die MutterFrau s c h ü t z e n , will sich selber schützen und erläßt deshalb allerlei Gesetze, sondern das „Verbrechen'' ist geschehen, d e r „ I n z e s t " h a t s t a t t g e f u n d e n , der Sohn ist geschlechtsreif, ist Mann, Vater-Erbe, und hat dem Symbol nach das Mutter-Weib beschlafen, Sexualgemeinschaft gehabt — und m u ß nun symbolisch sterben, wie jeder sterben m u ß und stirbt, der das Weib berührt, das „verschleierte Bild" erkannt hat. Die F r e u d sehe Deutung der Pubertätsfeiern, die er in seinem Buche „ T o t e m und T a b u " gibt, ist ein Mißverständnis *) ; er meint motivisch, die Väter wollten den Inzest verhüten, der Vatermord solle gesühnt werden durch den symbolischen Tod des reifen Sohnes; aber Freud hat die letzten Ursprünge dieser Sitte nicht g e f u n d e n , sie liegen in matriarchalischer Urzeit und sämtliche Gesetze, welcher Art sie immer sein mögen, besonders deutlich die Sexualgesetze (Ehegesetze) sind Entfaltungen jenes urzeitlichen Erlebnisses des Liebestodes des Mannes. Nun freilich war mit steigender K u l t u r „ d e r T o d besiegt"; der Liebestod wandelte sich über die Etappe der Kastration in eine weitere Milderung: eine Zeremonie, die aber i m m e r den Liebestod selber darstellt und genau innegehalten werden m u ß , auch wann man ihre U r f o r m längst vergessen hat. Und noch einer wichtigen Tatsache m u ß hier gedacht werden: der Tatsache, daß das Kind eine lange Periode hindurch sich in der (Gebär-) Mutter befunden hat, d a ß es aus ihrem Genitale geboren worden, d a ß das Band *) F r e u d führt nicht bloß die Fiktionen, die Deutungen vor, die jene frühen Menschen ihren Handlungen untergelegt haben können oder müssen, sondern seine Auffassung ist die, daß die von ihm gefundenen „Motive" tatsächlich die rituellen Handlungen verursacht oder begründet hätten, daß also in diesen Gebräuchen eine Absicht verwirklicht worden sei, daß die Deutung Ursache der gedeuteten Handlung gewesen sei, daß jene Primitiven tatsächlich so gehandelt hätten, wie sie gehandelt haben, weil sie durch ihre fiktionalen Vorstellungen dazu veranlaßt worden wären. Und so bleibt eben Freud in der Fiktion befangen; er erkennt noch nicht, daß jene Deutungen der Pubertätsfeier usw., die ja übrigens sicher primitiver waren als die Freudschen Auslegungen, eben Deutungen, Begriffsreihen waren, nicht aber Ursachen sein konnten und können. 171
zwischen Mutter u n d Kind bei der Geburt zerrissen oder zerschnitten, die Nabelschnur d u r c h t r e n n t worden ist. Eine innigere Gemeinschaft zwischen zwei Menschen kann es nicht geben als die des Foetus mit der Mutter. Dieser „Inzest", diese „Kastration" (die Abnabelung) ist ebenso wie die Analogie in Gestalt der Beschneidung nach der Geburt, der Taufe usw. eine deutliche Parallele zu den Pubertätsriten: beidemale wird „gestorben" (abgenabelt, beschnitten), wird ein Novize in die Gemeinschaft von Schicksalsgefährten aufgenommen, beidemale ist das Verbrechen die tödliche Vereinigung mit dem Weibe. D a ß die Vereinigung mit dem Weibe ein Verbrechen u n d der gleichzeitige Tod die Sühne, die Strafe sei, ist eine spätere fiktionale E r f i n d u n g , entspricht der motivischen Denkweise, die schon in f r ü h e r phylischer wie ontischer Kindheit einsetzt u n d das Objekt in Ursache u n d Wirkung, Wunsch und E r f ü l l u n g , Schuld u n d Strafe usw. zerlegt. Der Liebestod, auch später noch o f t genug in urtümlicher Roheit und Reinheit, im allgemeinen aber symbolisch-analogisch begangen, findet die motivische Ausdeutung nach folgendem Schema: der Tod fällt mit dem Koitus zusammen; der Tod ist. eine Strafe, ergo m u ß der Koitus eine Todsünde, d i e Todsünde sein (nur beim Koitus starb ursprünglich der Mann); alle Sünde und alle Sühne ist sozusagen auf das weibliche Genitale konzentriert, da ,,sitzt" die Sünde u n d ihre Strafe, also ist alle Sexualität Sünde und Strafe zugleich, demnach auch die Geburt als Koitus in größtem Ausmaße; n u n werden die jungen Leute geschlechtsreif, also sündig u n d strafbar, also müssen sie tatsächlich oder symbolisch getötet werden, sterben — wie ja eben mit dem Koitus der Tod zusammenfällt. Diese Fiktionen finden sich bei den einzelnen Volksstämmen als vielfältige Variationen zum gleichen Leitthema, als reiche Entfaltungen der einen u n d einzigen Melodie. Die Geburt ist (hier abgesehen von den späteren analogischen Deutungen der damals noch nicht bekannten intrauterinen Vorgänge, wie Verzehren der Mutter, deren Blut der Embryo trinkt — vgl. Wallfischmärchen usw.) das im individualen Leben „erste" (der Zeit u n d Schwere nach) Verbrechen: die Vereinigung des Kindes mit dem Genitale der Mutter, das mit dem Sterben (Übergang) zusammenfällt, worauf die Abnabelung, Zerstückelung, Kastration als neue Sünde u n d S t r a f e folgt, wie das „von A n f a n g an" biologisch geschah. Dies Schicksal t r i f f t Knaben wie Mädchen: im Mutterleibe (Venusberg usw.) waren sie alle, abgenabeltgetötet, kastriert werden sie alle, u n d so ist es zu verstehen, d a ß alle Menschen, beiderlei Geschlechts, den sog. „ K a s t r a t i o n s k o m p l e x " der Psychoanalytiker in dem Bestände ihrer Fiktionen aufweisen.
172
S 44-
Ontogenese
der
Modalität.
Das Verhalten von Mann und Weib, Eltern und Kindern wird uns weiterhin verständlich werden, indem wir die o n t i s c h e Entwicklung der modalen oder Gegenstandss p h ä r e von der embryonalen Zeit her in großen Zügen überblicken Die „Anlage" der Denkzellen ist ja eigentlich schon mit der Keimzelle gegeben. Mit der Entwicklung des Gehirns differenzieren sich die Denkzellen heraus und sind entsprechend der jeweiligen Entwicklungsstufe in Funktion. Die sensilen Zellen sind die ersten, deren Funktion bis zur Aktualität ansteigt, so daß Gefühlsvorstellungen erscheinen. Gegen Ende der Intrauterinzeit — bei dem einen früher als beim andern — hebt sich auch die Funktion modaler Zellen bis zum Erscheinen des Objekts als Gegenstandes. Zwar sind die Augenlider noch geschlossen, die Ohrhöhlen mit Flüssigkeit gefüllt, aber die psychobiologische Forschung bestätigt immer wieder, daß der ältere Foetus gewisse modale Erscheinungen hat. Es d ü r f t e auch ausgeschlossen sein, daß die modale Sphäre, z. B. das Seh- und das Hörorgan mit den nervösen Apparaten plötzlich erst im Moment der Geburt zu funktionieren beginnen sollte. Jedes Organ funktioniert entsprechend seiner Entwicklungsstufe, und so steigt die Funktion der modalen Denkzellen allmählich bis zu der Höhe der Aktualität an, die zunächst traumh a f t verschwommen ist; diese Art Aktualität erlebt auch schon der ältere Foetus. Die primitiven Gegenstände sind: der Foetus selbst, Nabelschnur und die Uterushöhle; diese tastet der ältere Foetus — je nach der Formspezifität f r ü h e r oder später —• mindestens ab, er riecht aber auch den spezifischen D u f t , er schmeckt das Fruchtwasser, das ihm als Getränk dient, und hört den mütterlichen Puls, Darmgeräusche usw. Er beginnt zu träumen, zu erwachen. Die Geburt beendet das Erwachen. Die modale Sphäre entwickelt sich nun in raschem Tempo: die Umwelt erscheint, unklar, undeutlich, „verschwommen", differenziert nur nach dem Vorbild Foetus-Nabelschnur-Uterus (Geburtskanal), d. h. G e s t r e c k t e s - G e h ö h l t e s , das später als m ä n n l i c h - w e i b l i c h bezeichnet wird. Die Reflexe, die über die sensile u n d noch junge modale Sphäre verlaufen, finden ihren Ausdruck in Bewegungen, die Entdeckungsreisen bedeuten, die nächstliegende Objektwelt, den eigenen Körper mit seinen Buchten u n d Vorragungen erforschen, dann darüber hinaus zu gewölbten und gestreckten Gegenständen vordringen; und die Reflexe finden ferner ihren Ausdruck in den mannigfachen Sekretionen, deren P a ß f o r m e n in die Sinnesorgane einströmen, die Höhlen füllen, in die sensilen Zellen gelangen, dort als Gefühl bewußt werden und alsbald auch in assoziierte modale Zellen überwandern, wo sie als noch stark gefühliger Gegenstand erscheinen. I73
Von allen Seiten strömen im übrigen Eronen ein und scheiden nach Absolvierung der Reflexbahn wieder aus, mannigfach verändert im Gange des Stoffwechsels. Die Eronenkomplexe sind, insofern sie eindringen, aufgenommen werden, männlich; sie sind es auch als Objekt-Partner der sensilen Beziehungen und sind es auch als Gegenstände. Zunächst erscheint aber das Gefühl als solches, der Gegenstand als solcher, d. h. ohne als „männlich" erkannt zu werden. Die Gegenstände unterscheiden sich lediglich nach der Anordnung: als gestreckt oder gewölbt, und zu den Gegenständen gehören natürlich auch die Personen, d. h. die anschauungsgemäße Objektänderung besteht in einer Reihenfolge von Aktualitäten verschiedener Denkzellen, in raumzeitlichen Gruppierungen, deren Spezifität das Individuum ausmacht. Ein männliches Individuum weist relativ mehr Eckiges, Vorragendes auf, d. h. ein solches Individuum nennen wir Mann; Weib wird ein Individuum genannt, das relativ mehr Gewölbtes, mehr Buchten und Höhlen aufweist; die Benennung geht aus vom Penis, wie wir gesehen haben (SS 19 und 20). Eine verschiedene männliche und weibliche „Substanz" gibt es nicht. Das Verhältnis des „Männlichen" zum „Weiblichen" ist also beim Manne ein anderes wie beim Weibe; ich nenne daher den Mann s u p e r m a s k u l i n , das Weib s u p e r f e m i n i n . Es ist dabei bedacht, daß der Mann nicht bloß den Penis, sondern viele Ecken, Kanten, Vorragungen hat — mehr als das Weib, das außer der Genitalhöhle vorwiegend Gewölbtes, Gerundetes aufweist. Dieses Verhältnis des Männlichen zum Weiblichen, die Sexualkonstitution, ist bei jedem Individuum verschieden, ist individualspezifisch; es ist aber nicht dasselbe in allen Teilen, deren Gesamtheit das Individuum ausmacht, das wir als Aggregat von Eronenkomplexen bereits erkannt haben; die Eronenkomplexe des Mannes sind also nicht alle und nicht alle gleichmäßig supermaskulin, die des Weibes nicht alle und nicht alle gleichmäßig superfeminin, wohl aber ist jeder Eronenkomplex Symbol des Ganzen und das Ganze Symbol seiner Teile. Der Eronenverkehr findet so statt, daß nur Paßformen aufgenommen werden. Die Tatsache, daß ein Individuum einen Eronenkomplex aufnimmt, besagt, daß dieser paßrecht ist, d. h. daß die Anordnung .des Gegenständlichen gegensätzlich zu der des einheimischen Eronenkomplexes paßt. Grundsätzlich paßt ein supermaskuliner Eronenkomplex zu einem superfemininen; wir vergessen dabei aber nicht, daß beide Komplexe nicht wesentlich, sondern lediglich formal, physisch voneinander unterschieden, daß supermaskulin und superfeminin nur Bezeichnungen f ü r unterschiedliche Anordnung des Gegenständlichen, des Physischen, also des Männlichen sind, daß „weiblich" nur Bezeichnung f ü r eine besondere Anordnung des Männlichen ist. Ich hob schon hervor, daß die Eronenkomplexe des Mannes nicht 17/t
alle supermaskulin, die des Weibes nicht alle superfeminin sind. Die A n o r d n u n g des Gegenständlichen ist vielmehr innerhalb des Individuums verschieden: der Mann weist größere oder kleinere superfeminine Partien seines Organismus a u f , das Weib supermaskuline. Insgesamt ist freilich der Mann supermaskulin, das Weib superfeminin, aber die Anordnung des Gegenständlichen ist regionär verschieden. Es gehen also beschreibungsgemäß vom Marine auch superfeminine, vom Weibe auch supermaskuline Eronenkomplexe aus — und werden von Individuen mit P a ß f o r m e n aufgenommen. Ich nenne die individualspezifische Anordnung des Gegenständlichen die S e x u a l k o n s t i t u t i o n . Es ist klar, daß die Variationen der Sexualkonstitution zunächst ebenso zahlreich sind wie die Individuen selbst, darüber hinaus aber sich ins Unabsehbare mehren, indem mit der Entwicklung des Individuums sich die Anordnung des Gegenständlichen spezifisch verändert. Versuchen wir immerhin, in der Fülle der Erscheinungen Grundlinien zu erkennen. Das junge Kind hat n u r wenige, der sensilen Sphäre dicht benachbarte modale Zellen entwickelt, u n d diese sind noch nicht scharf differenziert. Die wenigen Gegenstände sind stark gefühlig. I m übrigen verläuft der Verkehr mit der Außenwelt über das Rückenmark u n d die subkortikalen Hirnzentren sowie über die sensile Sphäre. Je mehr modale Zellen sich entwickeln, desto zahlreicher sind die Gegenstände, u n d je weiter entfernt von der sensilen Zone die modalen Zellen liegen, desto weniger gefühlig sind die Gegenstände. Die Sexualkonstitution der Familienmitglieder ä u ß e r t sich in ihrem gegenseitigen Verhalten. Supermaskuline Regionen nehmen superfeminine Eronenkomplexe auf und umgekehrt. Die Mundregion ist bei Knaben u n d Mädchen, bei Vater u n d Mutter exquisit superfeminin; der Säugling n i m m t hier Eronen a u f , die als Gegensatzpartner in der modalen Zelle ein supermaskuliner Gegenstand sind, die Mutterbrust, die Flasche, den Finger usw.; diese Gegenstände erscheinen also vorragend. Die Hautoberfläche ist zum Teil superfeminin, zum Teil supermaskulin konstituiert; der Knabe n i m m t also mehr Eronen von der Mutter, weniger vom Vater a u f . das Mädchen umgekehrt. Die Anordnung der Regionen, das sexualkonstitutionelle Bild ist individualspezifisch. Gelangen die durch die Haut usw. a u f g e n o m m e n e n Eronen in modale Zellen, so sind die Gegenstände je nach der Sexualkonstitution der a u f n e h m e n d e n Region vorragend oder gewölbt, supermaskulin oder superfeminin. Analog liegen die Verhältnisse in der Augen-, Ohr-, Nasenregion. Indem Mutter u n d Tochter, das Weib überhaupt mehr superfeminine als supermaskuline, Vater und Sohn, der Mann überhaupt mehr supermaskuline als superfeminine Regionen aufweist, ist das Verhalten der Familienmitglieder, der Individuen überhaupt aus „Zuneigung" u n d „Abneigung", „Anziehung" u n d „Abi75
stoßung" zusammengesetzt, Begriffe, die wir erst psychobiologisch verstehen können. Zwischen Vater und Sohn gibt es weniger Paßformen a b zwischen Mutter und Sohn oder Vater und Tochter, zwischen Mann und Weib. Die vom Vater „ausgedrückten" supermaskulinen Eronenkomplexe finden Aufnahme in den superfemininen Regionen der Individuen mit Paßformen, also zunächst der Familienmitglieder, der männlichen wie der weiblichen; soweit der Knabe superfeminin ist, nimmt er P a ß f o r m e n des Vaters auf, ist der Gegenstand der modalen Zellen, die diese Paßformen aufnehmen, derjenige, der alsbald mit Papa oder Vater bezeichnet wird, und der je nach der Entfernung der aktuellen modalen Zelle von der sensilen Sphäre mehr oder minder gefühlig ist. Zahlreicher sind die superfemininen Paßformen, die der Sohn von Vater und Mutter aufnimmt; diese präsentieren also auch den Vater (sofern er superfeminin ist), dann die Mutter, von der die meisten Paßformen ausgehen, die also dem Vater „vorgezogen" wird. Ebenso verhalten sich die Geschwister, bei denen freilich der geringe Altersunterschied, d. h. die geringere Differenzierung der Formen gewisse Modifikationen der Beziehungen ausmacht. Im gleichen Sinne „zieht" die Tochter im allgemeinen den Vater „ v o r " ; es bestenen zwischen beiden mehr Paßformen als zwischen Sohn und Vater, zwischen Tochter und Mutter. Mit fortschreitender Entwicklung der Genitalhöhlen treten diese Besonderheiten des interindividuellen Verhaltens deutlicher hervor. Entschiedener als bisher wendet sich das Weib dem Manne zu. also das Mädchen dem Vater und den Brüdern, der Sohn der Mutter, den Schwestern, die Mutter den Söhnen, der Vater den Töchtern. Die Spielarten dieser Beziehungen sind unübersehbar: sie alle sind Kennzeichen der individualspezifischen Sexualkonstitulion. F ü r viele ein Beispiel; ausführlicher kann das Thema hier nicht besprochen werden. Der Vater streichelt den Sohn. Das Streicheln ist einmal Ausdrucksbewegung, und zwar eines mäßigen Hungergefühls, genauer Ausdruck der Eronen, die die zugehörigen Hungerzellen passiert haben. Es besteht also ein mäßiger Leerzustand einer Höhle. Demnach kann das Streicheln die Vorstufe zum Schlagen, Erschlagen, Verzehren oder die Vorstufe eines Liebesaktes sein usw., jedenfalls ist es Einleitung einer Aufnahme, einer Sättigung (Nahrungsaufnahme, Aufnahme von Blut in die Corpora cavernosa); in unserm Beispiele ist es Vorbereitung der Nahrungsaufnahme, des Schlagens, Ergreifens. Die Annäherung der Finger bedeutet also Abgabe von supermaskulinen Hungereronen; diese werden von den Poren der superfemininen Region des Knaben aufgenommen: der Porenhunger, das Bedürfnis nach Berührung steigt an in Interferenz mit der Angstkurve. Je näher die väterlichen Finger rücken, 176
desto schärfer tritt beim Knaben die Angst auf (Berührungsangst), desto größer ist die Zahl der Angsteronen. Die Berührung selbst ist Tasten, vielleicht mit Anstieg zum Kitzel- oder Schmerzgefühl; letzteres ist ein selbständiges, die Aufnahme begleitendes Gefühl, ersteres entspricht einem Grade der Freude-(Sättigungs-)Kurve; das Trauergefühl tritt hierbei noch nicht hervor. Ob und in welchem Grade das eine oder andere Gefühl aktuell ist, hängl ab von der Zahl der beteiligten Eronen, der beteiligten Zellen, ihrer Formspezifität, und davon hängt auch ab der Ausdruck, der auf das väterliche Streicheln folgt; der Ausdruck zeigt ferner an die spezifische sensibel-motorisch-sekretorische Verbindung. Nun m u ß aber berücksichtigt werden, daß zu gleicher Zeit mit der Berührung (beschreibungsgemäß) noch zahllose andere Verhältnisse bestehen und daß die Ausdrücke dieser Eronenstxöme synchron mit dem Ausdruck des Berührungserlebnisses erfolgen, so daß das Verhalten der Partner psychologisch äußerst kompliziert ist und erst analytisch bis zu einem gewissen Grade klargestellt werden kann, welcher Anteil des Ausdrucks zu dem Vorgange des Streicheins gehört. Hier kann es nur Wahrscheinlichkeit geben. Vor allem liegt in dem Ausdruck der Anteil, der mit den über Augen und Ohren und die zugehörigen Nervenzentren verlaufenden Reflexen zusammenhängt. Schon von frühester Zeit an „reagiert" der Knabe verschieden auf die Berührung der Mutter und auf die des Vaters: zur Mutter bestehen im Ganzen mehr Paßformen als zum Vater, die mütterlichen Eronen werden zahlreicher aufgenommen, auch in die sensilen Zellen, die Gefühlsintensität ist größer als die (kurz gesagt) vom Vater herrührende, die Ausdrucksbewegungen sind derart, daß der Sohn sich vom Vater ab- und der Mutter zuwendet. Woher die stärksten Eroneriströme kommen, dahin richten sich die Ausdrucksbewegungen (die aber auch sog. „Abwehrbewegungen" sein können); je nach der individuellen sensibel-motorischen ,,Weichenstellung'' modifiziert sich diese Bewegung; bei hinreichender Perversion der sensibel-motorischen Verbindungen kann sich der Ausdruck von Eronen, die von mütterlicher Seite stammen, z. B. zum Vater richten und umgekehrt. Hier sind wieder unzählbare Variationen möglich. Die Variabilität wird noch größer mit der Entwicklung der modalen Sphäre, mit der stärkeren Einschaltung der Seh-, Hörsysteme usw. Die Ausdrucksbewegungen komplizieren sich, indem die Sinnesorgane da- und dorthin gerichtet werden und von da und dort Eronen aufnehmen, die neue Ausdrücke finden. Der streichelnde Vater wird gesehen, gehört, gerochen, der Unterschied von der Mutter wird präziser, er wird als Gegenstand schärfer umrissen. Je nach der Sexualkonstitution wird das Kind sich in diesem Augenblick dem Vater, im nächsten der Mutter zuwenden. 12 L u n g w i t z , Die Entdeckung der Seele.
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im Ganzen aber nimmt der Knabe von der Mutter mehr Paßformen auf als vom Vater. Der Vater, der den Sohn streichelt, gibt also Eronen ab, er nimmt aber zugleich Eronen a u f ; die Finger sind supermaskulin, die Handfläche superfeminin. Die Öffnungen der Handfläche füllen sich mit supermaskulinen Eronenkomplexen, die der Sohn abgibt. Zugleich nehmen Auge, Ohr, Nase, Mund usw. Eronen vom Sohne und der übrigen Umgebung a u f ; sie passieren als paßrecht die zugehörigen Denkzellen. Das Objekt ist Symbol der Umwelt; die jeweils aktuelle Formbestimmtheit ist Präsentanz der Individualspezifität wie der Triebsituation. Die Eronenströme bewegen sich entsprechend der Spezifität, und in der Zelle, die von der relativ größten Zahl Eronen durchströmt wird, liegt jeweils das Bewußte. Ist hier das Bewußte der Gegenstand Sohn, so ist die Gefühligkeit dieses Gegenstandes Kennzeichen der beiderseitigen Sexualkonstitution, der Anzahl der vom Sohn aufgenommenen Paßformen; diese Anzahl ist aber dann die relativ größte unter den Eronenmengen, die die übrigen Denkzellen passieren, es wäre sonst ein anderer Gegenstand bewußt. Wir haben das Streicheln als Ausdruck von Hungereronen aufgefaßt; die Aufnahme von Eronen mag Sättigung sein. Je nach der Art und dem Leeregrad der Höhle und je nach der Individualspezifität ist eine größere oder kleinere Zahl von Eronen zur Füllung erforderlich. Das Auge, das Ohr, die Nase, die Hautporen sind relativ rasch befriedigt, der Mund und Magen weniger rasch: hierzu ist die Aufnahme des Gegenstandes selbst erforderlich. Ich erinnere an die urzeitlichen Verhältnisse, die durch die Sitte des Kannibalismus gekennzeichnet ist; der Mann wurde getötet, in späterer Zeit, als das Patriarchat bereits bestand, der Haß und der Ekel zu den Menschen gekommen waren, ermordet, im Zweikampf gefällt, dann verzehrt; aber auch das Weib wurde gelegentlich nicht verschmäht. Der Mord wurde zum Opfer, das Menschenopfer durch das Tieropfer ersetzt, Fleischnahrung wurde gewöhnter Genuß: das Tier wurde nicht mehr bloß den Göttern, sondern auch den Menschen geschlachtet. Und das Streicheln, das Schlagen ist ein Vorspiel der urzeitlichen Tötung; es ist das Abtasten als P r ü f u n g auf Schlachtreife, auf Kastrationsfähigkeit. Streichelt der Vater die Tochter, dann tritt im Gefühlskomplex der Liebeshunger in den Vordergrund. Die Gefühle, die zum Streicheln des Kindes gehören, verlaufen in geringen Kurven, entsprechend dem Alter des Kindes, das in früher Zeit weniger Eronen aufnehmen und abgeben kann als in späterer. Die Tatsache des Streicheins ist Zeichen dafür, daß ein bestimmter Eronenaustausch stattfindet, Abgabe und Aufnahme auf beiden Seiten, nicht etwa „willkürlich" ausgeübt, sondern in allen Einzelheiten reflektorisch verlaufend: die gestreichelte Partie ist nicht „willkürlich" ausgesucht, sondern 178
ist die Stelle des jeweils stärksten Eronenaustausches, und wann das Bewußtsein beteiligt ist, dann eben lediglich als Phänomen der über die Hirnrindenzellen gehenden Reflexe, nicht als bestimmende Macht. S 45.
Fötus —
Mutter.
Die embryonale sensile Sphäre ist gegen Ende der Intrauterinzeit maximal entwickelt, auch gewisse modale Zellen sind schon differenziert. Der motorische Ausdruck der über das Zentralnervensystem, auch über die sensile u n d modale Sphäre laufenden Eronenströme sind die K i n d s b e w e g u n g e n . Sie werden u m so heftiger, je mehr sich der Fötus der Geburtsreife nähert, je mehr die Intensität der Gefühle zunimmt. Die Höhlen füllen sich mehr und mehr mit Hungereronen, deren Zahl zwar kurvenmäßig a u f - u n d absteigt, im ganzen aber doch sich erhöht; besonders die Nahrung reicht sozusagen nicht mehr aus, auch die Lungen haben sich weit entfaltet und reifen der extrauterinen Atmung entgegen Die Kindsbewegungen sind schon etwa vom vierten Monat der Schwangerschaft an bemerkbar. Nun sich modale Zellen entwickelt haben, „entdeckt" der Fötus den Gegenstand. Mit Händen u n d F ü ß e n tastet er die Umgebung ab, stößt an die Uteruswand, an die Nabelschnur, an den eigenen Körper. Nichts „Zufälliges" ist dieses Entdecken, sondern Austausch von P a ß f o r m e n , „Anziehung" paßreehter Formbestimmtheiten bis zur Berührung und Ergreifung. Die hierbei aufgenommenen Eronen passieren auch modale Zellen: „verschwommen" erscheint der Gegenstand u n d differenziert sich alsbald in Vorragendes u n d Gerundetes: die Finger gleiten glatte, hohle Flächen entlang u n d umgreifen die schlanke, langgestreckte, pulsierende Nabelschnur*). Es sind zunächst Hungerbewegungen, die der Fötus ausführt, u n d gewiß gehen von allen berührten Stellen Angst- u n d Schmerz(als l'ast-) eronen aus, die, aufgenommen, die sensilen Zellen des zugehörigen Systems passieren u n d als verschiedengradige u n d verschiedenartige Gefühle erscheinen oder unbewußt verlaufen, ebenso auch in die zugehörigen modalen Zellen gelangen u n d als spezifischer Gegenstand erscheinen können. Aber von dem Vor*) Die Greifbewegungen werden offenbar schon in früher Fötalzeit ausgeführt. Das Neugeborene kann passende Gegenstände umgreifen, vielfach schon festhalten, alsbald so fest, daß es einige Mühe machen kann, die Fäustchen zu lösen. Der „feste Griff" (später der feste Händedruck beim Gruße; grüßen = angreifen) ist eine rudimentäre Entwicklungsform aus der phylogenetischen Frühzeit, in der das Junge auch nach der Abnabelung noch tatsächlich „an der Mutter hing" (wie das u. a. auch die Affenkinder tun). 12*
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ragenden, das u m f a ß t wird, wird ein© weitaus größere Zahl von Eronen aufgenommen als von den glatten Flächen, die nur von den Spitzen betastet werden, während die Nabelschnur von der Hohlhand u m g r i f f e n und der Finger in den Mund gesteckt wird. Die Hungerausdrucksbewegungen befördern den ergriffenen Gegenstand zur Ö f f n u n g . Übrigens werden Fruchtwasser und feste Schwimmstoffe (Kot, Haare, Hautteilchen) geschluckt. Schon die Tatsache des Ergreifens — als Ausdrucksbewegung — , noch mehr das Heranbringen an und Einführen oder Eindringen des Gegenstandes in die Ö f f n u n g geht, auch wann der Gegenstand noch nicht zerkaut und verschluckt wird, mit der Aufnahme von Schmerz-, Trauer- und Sättigungseronen einher, so daß die in den zugehörigen modalen Zellen liegende Aktualität ein vorragender Gegenstand ist. Dieser Gegenstand kann also zwar auch hunger-, angst- und schmerzgefühlig sein, ist aber doch stärker trauer- oder freudegefühlig als der gehöhlte Gegenstand, der eher hunger- und angstgefühlig ist — je nachdem die Aktualität in der einen oder andern modalen Zelle liegt. Die Unterschiede an Schmerzgefühligkeit sind nicht prägnant f ü r gestreckt oder gehöhlt; sowohl der eine wie der andere Gegenstand ist schmerzgefühlig; hiervon später mehr. Es sei hervorgehoben, daß die Mutter vom Embryo natürlich auch zahlreiche Eronen aufnimmt, beide Individuen in lebhaftestem Eronenaustausch stehen. Die Differenzierung des Gegenständlichen in gestreckt und gewölbt entspricht also einer fötalen Entwicklungsstufe; selbstverständlich weiß der Fötus nicht, daß man die eine Anordnung des Gegenständlichen gestreckt, die andere gehöhlt nennt, aber er sondert diese Anordnungen tatsächlich, er hat modale Zellen, deren Aktualität ein Gestrecktes, und andere, deren Aktualität ein Gewölbtes ist, und zwar in fötaler Helligkeit. Der maximale Anstieg der Hunger- und (oder) Angstkurve fällt zusammen mit dem Beginn der G e b u r t ; der Durchtritt des Kindes durch den engen Geburtskanal, durch die enge Ö f f n u n g , die in die Außenwelt führt, über eine Schwelle, die die bisherige von der neuen Lebenssphäre abgrenzt, präsentiert sich in der sensilen Zone als gewaltiges Anschwellen des Schmerzgefühls. Speziell die Einpressung des Kopfes in den knöchernen Beckenring, die zumeist mit mehr oder minder deutlichen Deformierungen des Schädels einhergeht, bedeutet Aufnahme der Höchstzahl von Schmerzeronen, die in die (demnach bereits entwickelten) zugehörigen sensilen und modalen Zellen einwandern und dort als Schmerzgefühl oder als schmerzgefühliger Gegenstand bewußt sind (Wehen!). Dieser Gegenstand ist also sowohl kantig, hart, vorragend (z. B. Promonturium des Kreuzbeins) — nur die Umrandung des Kanals, nicht das „ L u m e n " drückt und preßt — , wie auch gerundet, gewölbt — die Umrandung ist j a eben das Gegen180
ständliche der Öffnung *). Auf die Einzelheiten des Geburtsvorganges berichte ich in besonderer Schrift; hier nur der Hinweis, daß die eine wie die andere Anordnung des Gegenständlichen schmerzgefühlig ist. Auch sofern man das Kind als Ganzes einen gestreckten, den Geburtskanal einen gewölbten Gegenstand nennen muß, kommt der Schmerz beiden Anordnungen zu. E r ist das Gefühl, das dem Durchtritt des Gestreckten durch die Öffnung entspricht. Übrigens interferiert die Schmerzkurve, wie wir wissen, mit der Angst- und anderseits mit der Trauerkurve. Nach der Aufnahme des Kindes in die Lichtwelt erfolgt — analog der Aufnahme des Spermatozoons in die Eizelle — die Zerstückelung: das Durchtrennen der Nabelschnur, die Abschneidung des in das mütterliche Genitale hineinragenden Gestreckten, entsprechend das Trauergefühl. Und dann der erste Schrei, oft ein wehes Wimmern, stets motorischer Ausdruck des Schmerzes und der Trauer, zugleich Beginn der Sättigung der Lunge mit Luft, des Magens mit Nahrung (zuerst Tee = Fruchtwasserersatz) usw., Beginn der Aufnahme der Freudeeronen, die im „Stillen" ihren Fortgang nimmt. Mit seinem Eintritt in die Lichtwelt wird das Kind in eine neue Lebenssphäre aufgenommen, und wir sehen hier die gleiche Reihenfolge der Gefühle, wie sie bei jeder Aufnahme zu konstatieren ist, wo nicht ohne weiteres, so auf dem Wege der Analyse. Wir verstehen auch, daß und wie die „Urgegenstände" vom Fötus als gestreckt und gehöhlt unterschieden werden und welche Gefühligkeit diese Gegenstände darstellen; diese Gefühligkeit, die mit einem bestimmt, nämlich gestreckt oder gewölbt angeordneten Gegenständlichen homogen ist, zeigt also an, zu welcher der beiden grundsätzlichen Klassen von Gegenständen, ob zur männlichen oder weiblichen, der jeweils bewußte gehört. Der Zerstückelung des Spermatozoons entspricht die Durchtrennung der Nabelschnur und die Beschneidung kurz nach der Geburt oder zur Pubertätszeit sowie ihre mannigfachen Modifikationen; so ist alles Vorragende schmerz- und trauergefühlig, und der motorische Ausdruck der über diese Modalzellen verlaufenden Eronen, um so heftiger, j e näher die Gegenstandszelle der sensilen Sphäre liegt, ist die Reihe von Bewegungen, die wir schlagen, schneiden, stechen, bohren, brechen, reißen usw. in zahlreichen Nuancen benennen. Zugleich ist das Vorragende freudegefühlig, der motorische *) Das Kind, das als durchtretend immer männlich ist, wird „rasiert" und „rasiert" seinerseits (rädere scharren, kratzen, an etwas vorbeistreichen), indem es die Öffnung passiert; die Nabelschnur wird „abrasiert" — wie alles Vorragende (Haare!) abrasiert wird zum Zeichen der „Entmannung". Rasieren somit = töten, womit die Koinzidenz des Geburtsvorganges mit dem Sterben verständlich wird. Vgl. auch §§ 61, 62 u. a. I8J
Ausdruck dieser Eronen das Küssen, Saugen, Lutschen, Rauchen, kurz das Einverleiben in die verschiedenen Höhlen. Der sekretorische Ausdruck der Trauer und der Freude ist eng verwandt (Tränen). Mit diesem Einverleiben ist aber der Ausdruck anderer Eronen verbunden, z. B. von Eronen des Hungers, der als Gegenstandsgefühl Appetit auftreten kann. Wohlverstanden: es handelt sich hier nicht um die reinen Gefühle, sondern um die Gegenstände, die wir als gefühlig erkannt haben. Das Gestreckte ist aufnahmefähig, „dient" zur Sättigung, ist also mit Freude homogen; indem es aber abzuschneiden usw. ist, ist es mit Schmerz und Trauer homogen. Die Ö f f n u n g , die Höhle — als Anordnung von Gegenständlichem — ist mit Hunger, Angst und Schmerz homogen, führt sozusagen diese Gefühle gegenständlich vor Augen. Die modale Zelle oder Zellgruppe, in der die das Gehöhlte darstellende Aktualitätenfolge liegt, ist genetisch assoziiert vorwiegend mit den Hunger-, Angstund Schmerzzellen. Die modale Zelle oder Zellgruppe, in der die das Gestreckte darstellende Aktualitätenfolge liegt, ist genetisch verbunden vorwiegend mit den Schmerz-, Trauer- und Freudezellen. Dazu bestehen aber Assoziationen auch zu den andern sensilen Zellen sowie zwischen den verschiedenen Gegenstandszellen, so daß z. B. sensile Eronen, die eine Hungerzelle passiert haben, auf dem Wege des zugehörigen Neuriten und eines Seitenastes in eine modale Zelle gelangen können, deren Aktualität ein Gestrecktes ist. Hier finden wir wieder eine Fülle von Variationen — entsprechend der Sexualkonstitution, der Besonderheiten der sensibelmotorischen Verbindungen usw. Beim Weibe ist die sensile Sphäre im Verhältnis zu den übrigen Denksphären stärker entwickelt als beim Manne, ebenso die der sensilen Sphäre benachbarten modalen Zellen; die Gegenstände des Weibes sind im allgemeinen gefühliger als die des Mannes, dessen modale Sphäre sich mehr nach der begrifflichen hin entwickelt und dessen begriffliche Sphäre stärker ausgebildet ist. Dem Manne aber, der relativ viele oder ausgedehnte superfeminine Regionen aufweist, kommt auch die diesen Regionen entsprechende more feminae entwickelte Denksphäre zu; anderseits denkt das Weib u m so „männlicher", je mehr supermaskuline Regionen es hat. Beim Weibe sind fernerhin innerhalb der sensilen Sphäre die Trauer- und Freudezellen zahlreicher als die Hunger-, Angst- und Schmerzzellen, die Gegenstände des Weibes sind also mehr gestreckt als gehöhlt, es ist auf das Männliche „eingestellt", es sieht, hört, riecht, schmeckt, fühlt mehr Männliches als Weibliches. Umgekehrt der Mann. Aber die sind nur Grundlinien; die Zahl der Variationen ist unübersehbar, sie umfassen den ganzen Kreis des möglichen Verhaltens der Geschlechter (des „normalen" und des „abnormalen"), und dieser Kreis ist schon im Kindesalter sehr groß, erweitert sich aber gegen 182
die Pubertätszeit und späterhin bis in weit vorgeschrittene Altersstufen beträchtlich. S 46.
Vater — Sohn.
Mutter — Sohn.
Wir beschreiben die weitere Entwicklung am Beispiel des Verhältnisses Vater—Sohn*). Der Vater ist „eigentlich", d. h. der Phylogenese entsprechend, nicht mehr da, er ist gestorben, getötet, aufgegessen, ins Mundloch, in die Ö f f n u n g , die Höhle, ins Nichts verschwunden, ins „Jenseits" entrückt, zu den Göttern oder zu Gott, ins Paradies, in den Himmel versetzt, selbst Gott (Vater unser) geworden. Nun ist aber ein „älterer" Mann, der als Erzeuger auftritt, da: aber nur der Vertreter Gottes, des eigentlichen Vaters, der ja eben selbstverständlich gestorben ist; der „Familienroman" der Psychoanalytiker (das Kind stammt von Gott, einem König, einem Zauberer, ist Prinz, Prinzessin, verstoßen, wird eines Tages in einer goldenen Karosse geholt, fährt gen Himmel — Elias, Jesus —, usw. usw.) wird somit erst verständlich ebenso wie zahlreiche Märchen, Mythen, Dichtungen, Sitten und Gebräuche (z. B. bei gewissen afrikanischen Stämmen wird die Frau nicht vom Manne, sondern vom Orischa, dem Familienvater, dem Familiengott, geschwängert, der Gott Zeus usw. usw. befruchtet viele Frauen, wie die Götter vielfach hochpotent sind, zahlreiche Kinder haben, und wie der monotheistische Gott Vater aller Menschen, der Schöpfer [Erschaffer, Erzeuger] des Weltalls ist). Mit diesem Vertreter des eigentlichen Vaters und diesem selbst eint den Sohn das gleiche Geschick: auch er hat „gesündigt" und sündigt und stirbt ungezählte Tode; auch er war bei, in der Mutter und hat d a f ü r mit dem Verlust des Urgegenstandes (Nabelschnur) gebüßt, dem der Penis**) entspricht; und auch dieser ist nach der Sitte vieler Völker verstümmelt (zum Stummel gemacht) oder an seiner Stelle ein anderes Vorragendes, oder die Verstümmelung ist doch wenigstens als schicksäliger Zwang in eine Zeremonie eingegangen, die zwar nicht verstanden, aber gemäß den spezifischen Reflexabläufen mit „peinlicher Gewissenhaftigkeit" (dies die motivische Deutung der Reflexe) innegehalten wird. Alles Vorragende („.männlich" angeordnete Gegenständliche wie Mutterbrust, Finger, alles, was in den Mund oder eine andere Ö f f n u n g gesteckt werden kann) ist eine Vorstellung, zu der die Ausdrucksbewegungen sägen, schlagen, ziehen, schneiden, reißen, zerstückeln, töten usw. gehören ***). Das eigne Genitale des Mannes ist ein solcher Gegen*) Siehe auch §§ 34, 60, 62. **) Vielfach trifft man die Fiktion, daß ursprünglich zwei Penisse (Nabelschnur und Phallos) dagewesen seien. ***) Die berufliche Tätigkeit gibt stets Aufschluß über die spezifische i83
stand; das Spielen damit, die Onanie, die Fellatio, der Koitus sind Ausdrucksbewegungen auch von Eronenströmen, die über die Trauer- und Freudezellen verlaufen, und sind mehr minder deutlich ein Abreißen, Abklemmen, Kastrieren, Zerstückeln (wofür im Folklore zahlreiche Beispiele). Je näher die beteiligten modalen Zellen der sensilen Sphäre liegen, desto deutlicher ist der „eigentliche" Charakter der Ausdrucksbewegungen und -Sekretionen zu erkennen, desto „gefühliger" ist der Verlauf der Ausdrücke. Wir verstehen sie als Enderscheinung von Reflexen, mögen diese Reflexe auch über Denkzellen gehen, in deren einer das jeweils Bewußte liegt; und diese Reflexe — wie alle andern — verstehen wir als zur menschlichen Formspezifität gehörige, deren jeweilige Bestimmtheiten wir als gleichsinnige (analogische) Bestimmtheiten früherer Entwicklungsstufen auffassen. So erscheint auch dem Sohne der Vater wie jeder andere Mann, wie jedes andere männliche Individuum, wie alles Männliche überhaupt fiktional als das „Etwas, das überwunden werden muß", und er ist sich selber Objekt, er sieht sich selbst als männlich, dann als Mann (geschlechtsreif), d. h. als etwas, das „überwunden" werden muß. Das Vorragende ist vorwiegend schmerz-, trauer- und freudegefühlig, und die Ausdrücke dieser Gefühle sind Bewegungen und Sekretionen, die zum (symbolischen und tatsächlichen) Töten und Einverleiben gehören, und zwar beim Manne wie beim Weibe. Das Feste, Harte, Starke usw. „ m u ß " zerrissen, heruntergerissen werden, das Hervorragende heruntergemacht, niedergemacht, „verrissen", vernichtet werden, „es liebt die Welt, das Strahlende (Leuchtende, Weiße, S 52) zu schwärzen (schwarz = Nichts, Nacht, Weib, s. S 02) und das Erhabene ( = Erhobene, Erigierte, p. 289) in den Staub ( = Erde) zu ziehen (also eine zweimalige Paraphrase des Liebestodes). Das „muß" besagt: der Gegenstand ist in dem angegebenen Sinne gefühlig, die Gegenstandszelle ist mit sensilen Zellen genetisch verbunden, deren Ausdruck die geschilderten Bewegungen und Sekretionen sind. Diese Bewegungen und Sekretionen werden nun motivisch gedeutet, wie im III. Teil geschildert werden wird. Und noch eine Besonderheit erkennen wir an dem Verhältnis Vater-Sohn. Der Sohn lebt in seiner Welt, der infantilen, der Vater in der juvenilen; beide verstehen sich nur, soweit Paßformen vorhanden sind, soweit diese beiden Welten sich berühren oder schneiden. Im übrigen existiert der eine in der Welt des andern überhaupt nicht. Und diese je nach der beiderseitigen Sexualkonstitution verschieden zahlreichen Paßformen lassen den Vater als Fremdling erscheinen, der sich aus einer jenseitigen Welt sozusagen materialisiert, der aber jener Welt eigentlich angehört, Deutung des biologischen Geschehens, worüber in spezieller Schrift Genaueres. 184
dahin zurückkehren wird; als Fremdling, dem gegenüber der „Erbe" des Besitzes, auch des Weibes (das „besessen" wird), der Gegenwärtige. der nun an die Reihe Kommende, der Thronfolger und schon Throminhaber alle Rechte hat. Und analogisch sieht der Vater im Sohn den Phallosträger, der ihn im Besitze des Weibes, der sonstigen Habe ablöst, dem er, wie es von Anbeginn und in der natürlichen Ordnung war, weichen m u ß und weichen wird, ja dem er schon gewichen ist, indem die Entstehung des Sohnes im Mutterleibe u n d die Geburt „Inzest" ist, indem der Sohn schon als Foetus den Vater vom Weibe verdrängte und d a f ü r ja auch, wie es auch hier in der Ordnung war, die Todesstrafe, die Entmannung, die Zerstückelung f r ü h e r tatsächlich, heute symbolisch erlitt; oder der Sohn ist der wiedergekommene Großvater, oder dessen, nicht des Vaters Sohn, nur von „unbefleckter Mutter *) geboren", „im Auftrage" gezeugt, ein Abgesandter des Himmels, die Rache des Getöteten auszuüben (der Moses als Verkünder der Gesetze) oder den (die) Sünder mit jenem zu versöhnen, das Sohnesverhältnis wiederherzustellen (der Messias als Verkünder der Gnade). Vergl. auch S 34 Anm. i . Man versteht, ich will hier nur das tatsächliche Vater-SohnVerhältnis an einigen mehr andeutenden Belegen als Entfaltung, als Ausgestaltung urzeitlicher Primitivität (und Motivität) nachweisen, als die der jeweiligen Entwicklungsstufe des Gehirns, der jeweiligen Triebsituation entsprechende Variation der Urformel, die sonach jederzeit gilt, deren Erkenntnis uns erst das VaterSohn-Verhältnis verstehen läßt. Und diese Urformel, diese Formel überhaupt lautet: der Vater stirbt den Liebestod — von selbst oder durch das Weib oder durch den Sohn (die Söhne), der älteste Sohn ist Erbe der Mutter-Frau, der Schwestern, des ganzen Besitzes. Le roi est mort, vive le roil Und der König heißt Caesar (Zar, Kaiser), d. h. der erschlägt und erschlagen wird (von caedo)"). *) d. h. ohne Sexualhandlung: der leibliche Vater ist ja (beim Koitus, von dem aber das Kind noch nichts weiß) gestorben, also hat der VaterGott das Kind erzeugt, als gestorben aber ohne Koitus, als Wind (Darmgase), Wehen, Hauch, Stimme, Odem usw., der ins Ohr dringt, eingeblasen wird usf. (Siehe § 57 Anm.) — Übrigens sind Sohn — Sünde — Sühne sprachbiologisch engverwandt, vergl. auoh § 59 Anm. **) Hiermit verwandt die Deutung des „ C a e s a r " als des ,.aus dem Leibe Geschnittenen". Diese „Geburt aus der Wand" (Bauchwand — Kaiserschnitt, Buddhageburt), also unter Vermeidung des („sündigen") natürlichen Geburtsweges, soll ein Vorrecht der Könige gewesen sein, die eben danach „Caesar" genannt wurden. Diese Auffassung gehört zu dem Mythus von der „unbefleckten Empfängnis", der die „unbefleckte Geburt" folgt, womit der Caesar als Gottes-Sohn und Gott selber „bezeugt", wird, als „unschuldig", als „heilig", tabu, untötbar, unsterblich usf. Und gerade dieser Unsterbliche, Göttliche heißt Caesar, der Töter (Täter — Tod, tot und Tat sprach biologisch nächstverwandt: die Tat i85
Das Verhältnis zwischen den B r ü d e r n ist prinzipiell das gleiche wie das zwischen Vater u n d Sohn. Die Anzahl der P a ß f o r m e n entspricht der Sexualkonstitution. Das Verhältnis des S o h n e s z u r M u t t e r ist in seinen Grundzügen aus dem bisher Gesagten leicht abzuleiten, ebenso das Verhältnis zwischen V a t e r u n d T o c h t e r (Töchtern, von denen immer eine den „Vorzug", d. h. die meisten P a ß f o r m e n hat) u n d der Töchter untereinander u n d zu Brüdern — wie das Verhältnis der Menschen überhaupt zueinander. Aller Verkehr der Menschen miteinander u n d mit allen andern Individuen ihrer Welt ist anschauungsgemäß Änderung des Objekts, die wir als Austausch von paßrechten Eronenkomplexen beschreiben; und immer nur p a ß t ein supermaskuliner zu einem superfemininen Eronenkomplex. Demnach ist das Verhalten der Menschen Ausdruck ihrer Sexualkonstitution, die art- und individualspezifisch ist. Es gibt also eine „echte" H o m o s e x u a l i t ä t nicht, d. h. ein Verhältnis weiblich:weiblich oder männlich:männlich. Sofern zwei Männer oder supermaskuline Individuen sich lieben, haben sie entsprechend ihrer Sexualkonslitution zueinander P a ß f o r m e n : der eine weist superfeminine Regionen a u f , die zu den supermaskulinen Eronen des andern P a ß f o r m e n haben, diese aufnehmen, so d a ß sie über die sensibel-motorischen Verbindungen (Reflexbahnen) des Zentralnervensystems (also des Rückenmarks u n d des Gehirns) in individualspezif¡scher Weise zu den Endorganen wandern u n d daselbst „ausgedrückt" werden. Und anderseits weist der eine supermaskuline Regionen a u f , zu denen der andere superfeminine P a ß f o r m e n „ausdrückt". Die paßrechten Regionen können klein oder groß sein, vereinzelt oder zahlreich; die Sexualkonstitution läßt sich in ihren feineren Nuancen nicht unmittelbar erkennen wie die gröberen „Geschlechtsmerkmale", sondern mittelbar i m Wege der Symbolanalyse. Das Verhalten der Menschen ist allein Ausgangspunkt der Analyse, u n d n u r die Analyse ist das Verständnis der Phänomene u n d ihrer Zusammenhänge. Die Beziehung und das Verhältnis ist stets männlich-weiblich. Die sog. „Homosexualität" ist ebenso „angeboren" wie die Sexualkonstitution, und sie ändert sich mit dieser; sie ist mit der „Heterosexualität" völlig wesensgleich, nämlich männlich-weibliche Beziehung, männlich-weibliches Verhältnis, u n d die Unterscheidung ist der Tod) und Todeswürdige, der „für alle", „ f ü r " die Mitglieder der Familie, des Stammes, des Volkes, „ f ü r " die Menschheit stirbt —• ein Recht und eine Pflicht, die dem Prinzeps, dem Oberhaupt, dem pater patriae, dem Gottessohn, dem Vater zustehen: das Recht und die Pflicht, das Weib zu begatten und dabei zu sterben, das Recht und die Pflicht, die aus dem Erleben des Liebestodes herausgedeutet werden. „Caesar" ist ein Beispiel für die Identität von Recht und Pflicht, von Sünde und Sühne, Schuld und Strafe —• für die motische Deutung der Erscheinung und ihrer Veränderung überhaupt (s. §§ 61, 78, 80 u. a.). 186
der H o m o - u n d der Heterosexualität ist lediglich klinisch, nicht biologisch u n d nicht psychobiologisch —- u n d vor allen Dingen nicht juridisch. (Die Phrase vom „widernatürlichen Sexualverkehr" und seine F o r m u l i e r u n g zu dem § 175 des deutschen Strafgesetzbuches gehört zu einer sehr f r ü h e n Entwicklungsstufe des motivischen Denkens.) Vgl. auch die §§ 58, 5g. §47-
Optische
Modalität.
Wir haben bisher vielleicht, noch nicht erkennbar genug hervorgehoben, d a ß die modale Sphäre sich ebenso wie die sensile u n d die begriffliche auf sämtliche den verschiedenen Sinnesorganen zugeordneten Hirnrindenbezirke erstreckt. Der Gegenstand ist also nicht n u r das Sichtbare, sondern auch das Hör-, Riech-, Schmeck-, Tast-, mit einem Worte das Wahrnehmbare, soweit es in der modalen Sphäre als Aktualität liegt, modale Aktualität ist. Das Gefühl ist sensile, der Begriff idealische Aktualität. Das Sicht- und das Fühlbare gilt als der Gegenstand schlechthin, das „Körperliche", das Physische, die Substanz; auch das Schmeckbare ist dem naiven Verstände ein Substantielles. Die Gegenständlichkeit des Hör- u n d Riechbaren, des Lautes u n d des Duftes ist hingegen nicht ohne weiteres plausibel. Ich meine mit der Gegenständlichkeit des Riechbaren nicht etwa die Vorstellung (den Begriff) z. B. des Veilchens bei bestimmtem Geruchseindruck oder mit der Gegenständlichkeit des Hörbaren nicht die Vorstellung z. B. einer Violine bei bestimmten Gehörseindrücken; das Veilchen, die Violine m u ß ich erst über das Auge oder die Tastkörperchen der Haut kennengelernt haben; diese Gegenstände müssen Aktualität der spezifischen zur Seh- oder Tastsphäre gehörigen modalen Zelle gewesen sein, u n d diese Zellen müssen mit den entsprechenden zur Riech- u n d zur Hörsphäre gehörigen begrifflichen Zellen assoziiert sein, ehe ich mit einem bestimmten D u f t eine bestimmte Pflanze, mit einem bestimmten Laut ein bestimmtes Instrument in meiner Vorstellung verbinden kann. Mit Hörbarem als „Lautgegenstand" und mit Riechbarem als „Duftgegenstand" meine ich vielmehr den Laut, den D u f t selber als Objektpartner der in der modalen Hör-, Geruchszelle liegenden Beziehung. Dasselbe gilt f ü r Laut u n d D u f t als sensile u n d als begriffliche Aktualität. Übrigens ist auch das Schmeckbare nicht zu verwechseln mit dem Gegenstand, den ich i m Munde habe, dessen Anwesenheit im Munde ich mit der Zunge usw. taste; auch wann ein solcher Gegenstand nicht i m Munde ist, kann ich sehr wohl modale Geschmacksvorstellungen haben, also Aktualitäten der zugehörigen sensilen oder modalen oder begrifflichen Zellen. Die Anlagen d e r verschiedenen Ö f f n u n g e n u n d Höhlen sind in frühester Embryonalzeit schon da, sie differenzieren sich im 187
Laufe der Entwicklung, d. h. weisen Paßformen f ü r spezifische Eronenkomplexe auf, die immer entsprechend der jeweiligen Entwicklungsstufe zur Verfügung stehen und über die in gleichem Rhythmus wie die zugehörigen Höhlen entwickelten sensibel-motorischen Verbindungen zu den Endorganen fließen. Niemals entwickelt sich eine Formbestimmtheit ohne die gegensätzliche Paßform, niemals existiert eine Formbestimmtheit ohne ihren Partner. Die Tatsache, daß die Öffnungen und Höhlen sowie die zugehörigen nervösen und Ausdrucksorgane sich in embryonaler Zeit entwickeln, zeigt an, daß alle diese Systeme in der ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe entsprechenden Weise funktionieren, daß also die Gegensatzpartner da sind. Das embryonale A u g e ist frühzeitig angelegt, d. h. es funktioniert in einer dem jeweiligen Entwicklungsstande entsprechenden Weise. Die optischen Zellen nehmen Eronen auf; die Passage dieser Eronen verläuft zunächst unbewußt, unaktuell, von einer gewissen Entwicklungsstufe an aber erscheint das optische Gefühl und im weiteren Verlaufe der Intrauterinzeit auch der optische Gegenstand. Neben den Denkzellen, die bis zur aktuellen Funktion (also der Funktion, die mit der Subjekt-Objekt-Beziehung, mit dem Erscheinen des Objekts, der Aktualität, des Bewußter, einhergeht) differenziert sind, gibt es andere, die noch unaktuell fungieren, in der Seh- wie in allen andern Sphären. Mit der ersten optischen modalen Aktualität taucht aus dem Nichts die Farbe auf, und zwar aus dem Schwarz das Purpur (Rot und Violett). Das Schwarz wird also nicht wahrgenommen, es ist Name und Begriff f ü r das Nichts, die Nacht, f ü r die Wrelt abgesehen von den optischen modalen Aktualitäten, ohne diese optischen Aktualitäten, f ü r die Welt, wie sie bei unaktueller Funktion der modalen Sehzellen erscheint. Die primitive optische modale Aktualität erscheint farbig und zwar rot bis violett. Die Funktion der optischen modalen Sphäre („Lichtempfindlichkeit") setzt nicht mit einem Schlage bei der Geburt ein, sondern diese Zellen haben sich wie andere Denkzellen auch während der Intrauterinzeit entwickelt, haben also in gewissem Grade fungiert, und bei der psychobiologischen Analyse erkennen wir immer wieder, daß diese Funktion auch bis zur Aktualität angestiegen ist. Die sog. „beruhigende Wirkung" gewisser Lichtarten (z. B . die sog. „einschläfernde Wirkung" des sog. „roten Lichtes") ist so zu verstehen: spezifische Eronen strömen in spezifische Sehzellen ein und sind dort als „rot" aktuell, d. h. es sind Zellen in Funktion,, die auch in embryonaler Zeit aktuell funktionierten; ist „rot" bewußt, so nichts anderes, und so lange rot bewußt ist, befindet man sich im farbpsychologischen Sinne in einer der embryonalen analogischen Umgebung — und der Embryo schlief, der Foetus träumte. Das rote Licht mit 800 Wellenlänge ist übrigens 188
den Wärmestrahlen nächstverwandt. Im roten Licht befindet man sich in einer analogischen Situation wie z. B. im Bett, in dem man in der Haltung des Embryo liegt, das einen wärmt, das man sich wohl auch über den Kopf zieht, in das das junge Kind Harn und Kot ausscheidet wie im Mutterleibe, während der ältere Mensch statt dessen vielfach mehr minder profuse Schweißausbrüche hat („wie aus dem Wasser gezogen"), in dem man ferner schläft und träumt und „wie neugeboren" erwacht. Das Verhalten des Menschen beim Schlafengehen, bei der Bettruhe (oder -unruhe), beim Aufstehen ist eine analogische Wiedergabe seines Verhaltens im Mutterleibe und bei der Geburt. Wie denn überhaupt jede Einzelheit des Verhaltens der Individuen nur verstanden werden kann als auch in der Entfaltung fortdauernder embryonaler Mechanismus (nicht aber, wie Freud will, als „Regression", und zwar obendrein als Regression nur zu infantilen Mechanismen, nicht zu embryonalen, während ich sage, daß die embryonalen Mechanismen stets erhalten bleiben und auch auf höheren Entwicklungsstufen analogisch ablaufen). Der Foetus hat rote und violette Farbvorstellungen, und zwar sind die Urgegenstände purpurfarbig (vergl. S 5a), so d a ß er subjektiv im Blute, im roten Meere, in der „purpurnen Tiefe" usw. schwimmt und im Fruchtwasser außer seinem eignen Harn das Blut der Mutter trinkt*). Die Auffassung der F r e u d s c h u l e , daß der Mensch erst bei der Geburt, deren „Einwirkung" überhaupt stark überschätzt wird, mit dem mütterlichen Blute in Berührung komme, t r i f f t wohl vom Standpunkte des extrauterinen Menschen zu, nicht aber vom Standpunkte des Foetus; bei der Geburt braucht kein oder ganz wenig Blut zu fließen, und obendrein erst bei der Ablösung der Nachgeburt, nachdem also das Kind die Mutter verlassen hat, so daß es mit dem mütterlichen Blute überhaupt nicht in Berührung zu kommen braucht und sicherlich zu urtümlichen Zeiten niemals kam — und doch gab und gibt es allgemein die rote Farbe und gab und gibt es einen Blutdurst, nämlich den Durst des Embryos, den er mit Fruchtwasser, alias Blut löschte, und der beim Extrauterinen noch da ist — als Durst nach Harn (Tee, helles Bier, Weißwein, Wasser usw.) und nach Blut (Kaffee, dunkles Bier, Rotwein, Tierblut — in Verbindung mit der ersten Nahrung, dem Kot, als Blutwurst — usw.). Der Marsch der Kinder Israel durch das Rote Meer ist nicht bloß Symbol des Geburtsaktes, sondern der ganze Auszug aus Ägypten — Analogie zur Paradiessage — ist die Darstellung der Gestation u n d Geburt, und das Rote Meer versinnbildlicht das Fruchtwasser, das eben dem Fötus rot erscheint, nicht das Blut, das bei der Geburt gar nicht oder nur schwach, und *) Der Farbstoff der Netzhaut, das Sehrot, der Sehpurpur bleicht bekanntlich im weißen Lichte und stellt sich im Dunkeln wieder her. Die Pigmentschicht der Retina ist schon in fötaler Zeit entwickelt. 189
n u r in besonderen (Krankheits-) Fällen stärker zu fließen braucht, jedenfalls nicht als „Meer", in dem sechshundert Reisige mit Roß u n d Wagen ersaufen. (Weiteres hierüber in besonderer Schrift). Gegen Ende der Fötalzeit entwickeln sich weitere modale Zellen auch in der Sehsphäre. Die Augenlider sind kein absolutes Hindernis f ü r die A u f n a h m e von optischen Eronen. Die „entoptischen Erscheinungen" des Extrauterinen (Farben- u n d Figurensehen bei geschlossenen Augen) sind Aktualitäten modaler Sehzellen. Modale Zellen der taktilen Sphäre assoziieren sich mit solchen der optischen u n d natürlich auch der akustischen, olfaktorischen, gustatorischen Sphäre, so d a ß das Vorragende u n d das Gehöhlte in t r a u m h a f t verschwommener Weise getastet, gesehen, gehört, gerochen und geschmeckt wird. Und nach der Geburt gewinnen die Gegenstände an Zahl u n d an Präzision entsprechend der Entwicklung der Zahl der Denkzellen u n d ihrer Assoziationen, wie auch der Veränderung der Denkzellen selber im Sinne der Dif ferenzierung. Dem Leerezustand der Augenhöhle entspricht das Hungergefühl der Sehsphäre, der Sehhunger, der Hunger nach „Gesichtseindrücken''; wir beschreiben, es werden Hungereronen in die spezifischen sensilen Zellen aufgenommen, der Gegenstand, von dem die Eronen ausgehen, der aber noch unsichtbar ist, ist relativ weit e n t f e r n t . Sein Näherrücken entspricht der A u f n a h m e von Angsteronen, genauer: ist die Aktualität von Angstzellen der Sehsphäre: wir sprechen, wie gesagt, von sensilen Aktualitäten, der Gegenstand ist also noch nicht erschienen, sondern n u r das Gefühl. Die Aufnahme der sensilen (Gefühls-) Eronen ist mehr minder deutlich schmerzhaft. („Es tut mir in der Seele weh, d a ß ich dich in der Gesellschaft seh.") Nun folgt ein mehr minder deutliches Trauergefühl, und dann hat man sich „satt" gesehen und schließt ermüdet oder gar übersättigt die Augen. Nun fließen freilich sensile Eronen auch von andern Ausgangspunkten her in die sensile optische Sphäre ein (siehe S. f . ) , u n d es ist äußerst schwierig, die in. solchen Fällen bei gewissen Gelegenheiten auftretenden Gefühle als optisch analytisch nachzuweisen. I m allgemeinen sind die modalen Sehzellen beteiligt, erscheint der Gegenstand als gefühlig. Die E n t f e r n u n g des Gegenstandes stimmt mit seiner Gefühligkeit überein, also mit der E n t f e r n u n g der aktuellen modalen Sehzelle von der zugehörigen sensilen Zelle, je gefühliger ein Gegenstand, desto näher erscheint er, je weniger gefühlig, desto entfernter. „Der Horizont" erweitert sich beim heranwachsenden Menschen, das heißt: die Zahl der modalen Zellen u n d ihrer Assoziationen n i m m t zu, die Zahl der Gegenstände wächst u n d damit auch die Differenzierung ihrer E n t f e r n u n g — entsprechend der Distanz der modalen Zellen von der sensilen Sphäre. Das Auge verändert sich u. a. ini Sinne einer Abflachung der Linse, die Gegenstände 190
„rücken weiter ab", Anfangs der vierziger Jahre stellt sich im allgemeinen die Presbyopie ein. Aus der Uterushöhle, auf deren Räumlichkeit die stark gewölbte Linse des Fötus eingerichtet ist (alle Wesen, die in der Nähe sehen, wie z. B. die Fische, haben eine stark gewölbte Linse), wird die weite Welt, die der Forschungsreisende, der K a u f m a n n , der Seefahrer usw. genau so durchkreuzt wie der Fötus seine Welt, aus dem Fruchtwasser wird der „große" Teich", das Meer, der Okeanos, der Styx, die Sintflut usw., aus d e m Nabelstrang wird der Penis, die Strippe als Spielzeug, die Schnur, die den Drachen hält, die Hundeleine, das Tau, an dem das Schiff hängt, die Schlinge f ü r den Delinquenten usf. u n d aus der eben ertastbaren, d a n n aber allenthalben bekannten Uteruswand wird die Höhle, der hohle Baum, das Haus, das Gewölbe, der Helm, d e r Hut usw. usw., wird der Horizont, das ferne Land, dessen Existenz allen Völkern märchenhaft, aber sicher war, und das sie alle a u f f a n d e n , gemeinsam als Nomaden (Völkerwanderung, die nie a u f h ö r t ) oder einzeln als kühne Entdecker wandernd oder f a h r e n d . (Vgl. - indonesische Kulturreste, die F r o b e n i u s am Westrand Afrikas fand, A u f f i n d u n g Amerikas durch holländische u n d englische Seefahrer lange vor C o 1 u m b u s , Wikingerfahrten nach Sizilien und Unteritalien, Römerfahrten nach Britannien. Griechenfahrten nach der Ostseeküste, wo sie Bernstein einhandelten usw. usw., sowie zahlreiche Mythen u n d Dichtungen.) Die Gegenstände werden zunächst als vorragend und gehöhlt unterschieden, später als männlich u n d weiblich. Diess Differenzierung t r i f f t auch f ü r die Farben zu. Diese sind ja nicht „an sich" da, d. h. abgelöst von den Gegenständen, sondern in und mit ihnen gegeben, als Homogenität genau wie die Gefühligkeit. Der Gegenstand ist Präsentant einer (seiner) Farbe. Es ist demnach klar, d a ß die Farben analog den Gegenständen klassifiziert werden, nämlich in männlich und weiblich, wobei der Geschlechtscharakter ebenso wie der der Gegenstände der Bezeichnung nach unsicher (interpolar u n d polar) ist; ich komme hierauf im! § 52 eingehender zu sprechen. Wir unterscheiden Farbenqualitäten mit eignen Namen, aber die Farbenintensitäten bezeichnen wir metaphorisch, u n d zwar k o m m t der weibliche Geschlechtscharakter einer Farbe in Bezeichnungen wie matt, sanft, zart, lieblich, bescheiden, der m ä n n liche Geschlechtscharakter in Bezeichnungen wie stechend, schreiend, grell, vordringlich, aufdringlich zum Ausdruck. Die Farben werden auch ihrerseits metaphorisch zur Kennzeichung des einen oder des andern Geschlechts verwendet, so indem das W e i ß die weibliche und die männliche Unschuld, das Blau die Treue (Männertreu, Vergißmeinnicht), die Bescheidenheit (Veilchen, das im Verborgenen blüht) usw., das G r ü n die H o f f n u n g , die Unreife (Chlorose, grüner Junge usw.), das Rot den roten Mann, den Rotbart, den Teufel, Loki, die Lohe, das Feuer u n d in direktem Übergang ins Weib191
liehe die Höhle, die Hölle, Frau Holle, das rote Weib, die Hexe, Teufelsbuhlerin, das Rotkäppchen usw. kennzeichnet, das Weib, dem die Schamröte so wohl ansteht, während das Blut überhaupt rot ist und die „Angst vorm Blute" die embryonale Angst darstellt, die Knabe und Mädchen erleben. Die optischen Gegenstände sind bei Menschen wie bei den Augentieren im allgemeinen am zahlreichsten, am prägnantesten umrissen unter allen Gegenständen, unter den Objekten überhaupt, d. h. die Veränderung des Objekts vollzieht sich vorwiegend in der optischen Sphäre. Demnächst kommen die akustischen Gegenstände, die Laute und ihre Komplexe, die Wörter, Zahlen, Melodien. Diese beiden Denksphären sind am weitesten entwickelt, weisen die meisten Zellen auf. So viele modale Zellen, so viele Gegenstände. Auch die taktile Sphäre ist hochentwickelt, viel weniger die olfaktorische und die gustatorische Sphäre. Alle Denksphären sind miteinander vielfältig assoziiert. Hiermit ist freilich nur das allgemeine Schema gegeben; im übrigen ist der Entwicklungsrhythmus und -grad der einzelnen Denksphären art- und individualspezifisch, bei dem einen Individuum sind diese, beim andern jene Denkzellen vor den andern entwickelt usw., und ebenso sind die Assoziationen wie die sensibelmotorischen Verbindungen (die ich zu den Assoziationen rechne) unübersehbar variabel und variiert. Für jede Denksphäre treffen unsere allgemeinen Ausführungen zu; der Beschreibung der Einzelheiten wird ein spezielles Buch gewidmet werden. Ich gebe also im folgenden nur noch eine kurze Darstellung der Psychobiologie der Riechsphäre — als Beleg f ü r die Allgemeingültigkeit unserer Auffassung, sodann eine Darstellung der Psychobiologie der akustischen Sphäre, soweit die Kenntnis dieser speziellen Verhältnisse zu unserm Thema gehört. S 48. O l f a k t o r i s c h e
Modalität.
Wenden wir uns einer kurzen Besprechung der Psychobiologie der R i e c h s p h ä r e zu. Der Embryo riecht also in seiner Weise den Duft seiner Umgebung, er nimmt Dufteronen auf und die Veränderung dieser Eronenkomplexe, die der Veränderung des olfaktorischen Systems entspricht, macht die Veränderung aus, die die Duftvorstellung als Gefühl wie später als Gegenstand und noch später als Begriff erfährt. Ebenso entspricht die Verschiedenheit der Dufteronen der Differenziertheit der Riechzellen und ihrer Reflexsysteme. Die Organisation des Riechorgans, seiner sensibel-motorisch-sekretorischen Verbindungen sind art- und individualspezifisch. Die gleichen Riechzellen, die gleichen zugehörigen sensilen und modalen Zellen wie in fötaler Zeit sind im allgemeinen, entwicklumgs19a
gemäß verändert, in extrauteriner Zeit vorhanden — außer anderen, die sich im L a u f e der Evolution noch differenziert haben; es können aber auch umgekehrt Riechsysteme verkümmern, wie j a überhaupt der relativ große „Riechlappen", das embryonale Riechzentrum, sich frühzeitig zurückbildet. I m allgemeinen aber finden sich P a ß f o r m e n f ü r die „Urgerüche" auch in der späteren Lebenszeit vor u n d spielen keine geringe Rolle. Jedes Individuum hat seinen spezifischen Geruch, d. h. n i m m t spezifische Dufteroneri auf und gibt spezifische D u f t e r o n e n ab, u n d die olfaktorischen Beziehungen machen einen wichtigen Teil des interindividuellcn Verhaltens aus. Der A u f n a h m e von Dufteronen entspricht, wie wir an Tieren (Nasentieren) deutlicher noch als am Menschen, der zu den „Augentieren" *) (T h. Z e l l ) gehört, beobachten, ebenfalls die bekannte Reihenfolge der Gefühle: Hunger, Angst, Schmerz, Trauer, Freude in allen möglichen Nuancen. In die Nasenhöhle werden wie in jede andere Höhle Hungereronen, hier also Dufthungereronen aufgenommen, die in den sensilen Zellen als Bedürfnis nach Sättigung mit D u f t erscheinen, in der zugehörigen modalen Zelle als Duftgegenstand, f ü r den wir aber keine besonderen Bezeichnungen haben, sondern den wir nach dem mit dem speziellen Riechsystem assoziierten optischen System benennen. (Ein assoziatives „System" ist die theoretische Einheit, die aus der sensilen u n d den genetisch verbundenen modalen u n d begrifflichen Zellen sowie ihren Fortsätzen besteht.) Beim Fötus u n d beim jungen Kind ist der Hörapparat noch nicht so weit entwickelt, d a ß die Laute zum Namen koordiniert werden; es gibt in dieser Zeit keine Bezeichnungen f ü r D ü f t e , sondern n u r diese selbst als Gefühl u n d als Gegenstand, als Aktualität sensiler u n d modaler Zellen, als Objekt, das in der olfaktorischen Sphäre liegt. Der Duftgegenstand, der in der an die sensilen olfaktorischen Hungerzellen genetisch angeschlossenen modalen Zelle liegt, ist also der D u f t als solcher, nicht als optischer Gegenstand, der (später) mit dem olfaktorischen Gegenstand assoziiert ist. Die Eronen der Riechsphäre brauchen — wie alle übrigen Eronen aller übrigen Ö f f n u n g e n u n d Höhlen — die Hirnrinde nicht zu erreichen, sondern können über die subkortikalen Zentren verlaufen. Wir besprechen aber hier die Hirnrinden-Phänomene. Die Dufthungereronen werden bewußt als Riechbedürfnis, ihr Reflexweg kann aber auch u n b e w u ß t bleiben, u n d in gewissen Bewegungen oder Sekretionen Ausdruck werden, der n u n wieder bewußt oder unbewußt sein kann. Erreichen die Hungereronen die sensile Zelle u n d sind am zahlreichsten von allen andern, *) Wir sprechen demnach von „Anschauung", von „wissen' = gesehen haben, von Vorsehung usw. und beziehen populär die Wahrnehmung auf die Augenfunktion ausschließlich (s. § 75). 13 L u n g w i t z , Die Entdeokung der Seele.
zugleich in der H i r n r i n d e sich bewegenden Eronen, so ist das Gefühl „Riechhunger" bewußt. Dieses Gefühl kann gefolgt werden von dem Riechgegenstand, dem Objekt der zur sensilen Zelle genetisch gehörigen modalen Zelle, oder es kann eine andere Riechzelle vom stärksten Eronenstrom passiert werden, also der Riechhunger andauern, modifiziert werden, von anderm Bewußten abgelöst werden — kurz die Veränderungen sind unberechenbar. Nun ist freilich, wie gesagt, beim Menschen die Riechsphäre nicht besonders entwickelt, die Riechgefühle sind wie die andern Gefühle auch im allgemeinen als „rein" dem extrauterinen Menschen nur selten bewußt. Indes zeigen sich unter bestimmten Umständen, d. h. bei bestimmter Triebsituation doch die Gefühle auch in der Riechsphäre deutlich; der Hunger nach D u f t kann einen ziemlichen Grad erreichen, das Angstgefühl kann sehr wohl von Dufteronen gespeist werden, die A u f n a h m e von D u f t kann mit Schmerz verbunden sein oder mit Trauer oder mit Freude oder mit Ekel usf. U n d mit den verschiedenen sensilen Iliechzellen sind modale Zellen assoziiert, deren Aktualität, nämlich der D u f t selbst entsprechend (d. h. nach Alt und Intensität) verschieden gefühlig ist. Es gibt Menschen mit relativ sehr gering entwickelter Riechsphäre und solche, die es an „Riechvermögen" mit einem Nasentier a u f n e h m e n können; ein guter Chemiker analysiert auch mit der Nase, d i i „Riechprobe" ist f ü r die Gestaltung der interindividuellen Verhältnisse von größerer oder geringerer Bedeutung. Man sagt: ich kann den Kerl nicht riechen; m a n m u ß sich erst beriechen, er steckt seine Nase überall hin usw. usw. Die Variabilität der sensibel-motorisch-sekretorischen Verbindungen k o m m t auch hier in Betracht. Hungereronen, die vom Genitale ausgehen, können ihren Ausdruck in der Nasenregion finden, also in Bewegungen u n d Sekretionen, die anmuten, als hätte dieser Mensch das Genitale mit der Nase verwechselt; nun gewiß, i m Sinne einer Perversion der sensibel-motorischen Verbindungen stimmt das ja auch, nicht aber in dem Sinne, daß dieser Mensch „absichtlich" oder „willentlich" die Nase als Genitale gebrauchte u n d von dieser „schlechten Angewohnheit" durch moralische Vorhaltungen abgebracht werden könnte. Eine Fülle nervöser und hysterischer Symptome, leichter u n d grober Art, auch bis zur klinisch ausgeprägten „psychosexuellen Perversion" gesteigert, findet so erst das Verständnis. Hier interferiert die Tatsache, daß die Nase als vorragend männlichen, als gehöhlt weiblichen Sexualcharakter hat, mit der Tatsache, d a ß sie Geruchsorgan ist. J e nachdem k a n n der Mann u n d ebenso das Weib die eigne oder die f r e m d e Nase als gestreckt oder gehöhlt betrachten, „behandeln" (mit der Hand berühren, reiben usw.) oder „befingern" (in der Ö f f n u n g bohren, wofür ein Ersatz die akute oder chronische Schwellung der Nasen194
Schleimhaut oder der Schwellkörper der Nasenmuscheln — mit Assoziation zu Schwangerschaft usw.), verstecken (verschleiern) oder o f f e n zeigen (die Nase hochtragen), abschneiden (wie m a n im „Scherz" sagt: ich schneide dir die Nase ab, und symbolisch tut, indem die Daumenspitze zwischen Zeige- und Mittelfinger gesteckt wird, eine obszöne Gebärde, fica, Feige, Ficke genannt; ferner orientalische Strafe f ü r gewisse Vergehen als Kastrationsersatz usw.) oder anschwellen lassen (akut oder chronisch, mit Rötung, als Erektion usw.). Hierbei sind o f t Geruchsvorstellungen beteiligt: Dufteronen gehen statt in die Motilität und Sekretion des Genitales in die der Nase aus; z. B . Dufteronen, die wir als weiblich bezeichnen, strömen zwar in die Nase und in die Riechsphäre ein, gelangen aber nicht in die zum Erektionszentrum des Lendenmarks hinführenden motorischen und sekretorischen Neurone, sondern in die der Nase oder des Ohrs oder der Lunge usw., so daß im ersteren Falle die Nase sich erigiert, entzündet und Schleim sezerniert, im zweiten das Ohr sich verstopft und reichlicher (verdünntes) Schmalz (Ersatz f ü r Menses) abscheidet, im dritten z. B . ein Asthmaanfall erscheint*). Die zahlreichen Variationen können hier nicht angeführt werden. Allgemein ist zu sagen: die Kenntnis der sensibel-motorisch-sekretorischen „Weichenstell u n g " , des Weges, den der eintretende Eronenstrom bis zu seinem Ausdrucksorgan zurücklegt, gibt uns das Verständnis des Verhaltens der Individuen zueinander, mag man es als normal oder als krankhaft, als „organisch" krankhaft oder als „psychisch" abnorm (neurotisch oder psychotisch) bezeichnen. Der Ausdruck des Duftes besteht auch in mimischen Aktionen, Weg- oder Zuwenden des Gesichts, in Feuchtwerden der Augen bis zur Tränensekretion, in Speichelsekretion (mir läuft das Wasser im Munde zusammen, was es aber auch bei andern Gelegenheiten tut), in beschränkten oder umfangreicheren Bewegungen oder Abscheidungen, j e nach der Zahl und Art der aufgenommenen Dufteronen und der zugleich über andere sensibel-motorische Verbindungen verlaufenden Reflexe. Der „ U r d u f t " ist der des Mutterleibes; von der frühesten Entwicklungsstufe an e m p f ä n g t das Riechorgan diese Dufteronen, die also paßrecht sind. Dieser D u f t bleibt „unvergessen", die embryonalen Riechzellen sind (wenigstens zum Teil) auch im extrauterinen Leben noch da, u n d j e nachdem wie sich das Riechsystem entfaltet, je nach der Zahl der sich weiterhin differenzierenden Riechzellen spielen jene U r d ü f t e eine mehr oder minder ausgeprägte Rolle. Nach der Geburt wird der Genitalduft der Mutter abgelöst von dem zarteren, aber nicht weniger spezifischen D u f t des mütterlichen Körpers oder seines Ersatzes, vom D u f t der Nahrung, vom *) Diese Symptome können (zugleich) auch Enderscheinungen anderer Reflexe sein, vergl. § 94 letzten Abschnitt. 13
D u f t des eignen Körpers (der Exkremente), dem des Vaters usw. Und weiterhin gesellen sich so viele Düfte hinzu, wie spezifische Riechzellen im nervösen Riechzentrum vorhanden sind. Je nach der spezifischen Beschaffenheit dieser Zellen hat der eine diese, der andere jene Paßformen überhaupt oder in der Mehrzahl, „bevorzugt" also diesen oder jenen D u f t . Ist das Riechzentrum über die embryonale Stufe wenig hinausdifferenziert, so wird von beiden Geschlechtern entschieden der weibliche Genitalduft bevorzugt, wofür die Sexualbeziehungen bei Mensch und Tier deutlich genug Zeugnis ablegen. Im übrigen sind die Dufteronen des Weibes P a ß formen f ü r den Mann und umgekehrt, und zwar ist der „Lieblingsd u f t " des Weibes immer der D u f t des Vaters oder eine Nuance, der „Lieblingsduft" des Mannes immer der D u f t der Mutter oder eine Nuance, wovon freilich der Mensch im allgemeinen nichts weiß. Die Düfte haben zwar keine eignen Bezeichnungen, sondern werden nach optischen Gegenständen benannt, doch unterscheiden wir scharf zwischen männlichem und weiblichem D u f t , ohne die Unterschiede — eben mangels besonderer Bezeichnungen — beschreiben zu können. Indem das Riechzentrum mit dem Sehzenlrum des Gehirns assoziiert ist, wird das Bewußte, das ein D u f t ist, sogleich abgelöst von dem Bewußten, das ein optischer Gegenstand ist, man sagt: der D u f t wird auf einen Gegenstand bezogen, von dem der D u f t ausgehe. So sprechen wir von dein spezifischen D u f t der Menschen, Tiere, Pflanzen, chemischer Substanzen. Welcher D u f t einem Individuum zugeschrieben wird, hängt davon ab, mit welcher optischen Gegenstandszelle die olfaktorische sensile oder modale oder begriffliche Zelle assoziiert ist. D a ß die Rose so und nicht anders duftet, ist nicht eine „Eigenschaft" der Rose, abgesehen davon, daß der optische oder taktile Gegenstand Rose mit der spezifischen olfaktorischen (Duft-) Zelle assoziiert ist, sondern eben diese Tatsache dieser Assoziation verbindet die Rose mit dem D u f t , und je nachdem wie bei den einzelnen Individuen diese Assoziationen gelagert sind, erscheinen die Gegenstände so oder anders duftend; die Rose also „an sich", als optischer Gegenstand, duftet nicht, sondern beide, die optische und die olfaktorische Zelle sind miteinander assoziiert, und so erscheint dieser D u f t als mit der Rose „verbunden" und die Rose „strömt", sagt man, eben diesen D u f t aus. Ist aber mit der optischen Zelle, deren Aktualität Rose ist, eine andere olfaktorische Zelle assoziiert, z. B. die, deren Aktualität ein D u f t ist, den wir allgemein mit Gestank bezeichnen, nun so stinkt eben die Rose, und entsprechend ist der Ausdruck des Eronenstromes: duftet die Rose, so wird man sich ihr im allgemeinen nähern, sie ergreifen usw., stinkt die Rose, so wird man sich abwenden. Die Variabilität der sensibel-motorischen Verbindungen wird vermehrt, indem die Assoziationen zwischen der Riech- und Sehsphäre wie 196
überhaupt zwischen den einzelnen Hirnrindenzentren individualspezifisch sind. Auch hier ist ein Zugang zum Verständnis m a n cher Besonderheiten des individuellen Verhaltens, die sich mehr oder weniger weit von der „normalen" Linie entfernen u n d dann zu neurotischen Symptomen gerechnet werden. Alle D ü f t e leiten sich ab vom U r d u f t , dem D u f t des Mutterleibes, den wir mangels besonderer Namen als spezifisch weiblich bezeichnen, zu dem sich erst sekundär, bei der extrauterinen E n t wicklung der Riechsphäre der „männliche" D u f t hinzugesellt. Die weiteren Nuancen sind sämtlich in die Klasse des weiblichen u n d in die des männlichen Duftes einzuordnen, mag auch ihre Entf e r n u n g von diesen „ U r d ü f t e n " noch so groß sein, d. h. die Entf e r n u n g der modalen Riechzellen von den sensilen Riechzellen, die ursprünglich allein entwickelt waren. Diese Nuancen sind entsprechend der relativ geringen Entwicklung der Riechsphäre nicht eben zahlreich; wir sprechen von lieblichen, zarten, wohligen usw. D ü f t e n und anderseits von stechenden, abstoßenden, ekelhaften usw. D ü f t e n , die wir wohl eher „Gerüche" oder Gestank nennen; u n d diese Nuancen finden sich auf der weiblichen wie männlichen Seite. Welcher D u f t als anziehend u n d welcher als abstoßend gilt, u n d in welchem Grade, also d i e Gefühligkeit der D ü f t e ist individualspezifisch. Je weniger eine Riechsphäre entwickelt ist, desto näher stehen die als angenehm geltenden D ü f t e dem U r d u f t des Mutterleibes oder dem väterlichen U r d u f t ; je schärfer u n d zahlreicher sich die Riechzellen der Hirnrinde differenziert haben, desto „verfeinerter" sind die olfaktorischen Gefühle, Gegenstände u n d Begriffe, desto zahlreicher sind die D ü f t e , desto eher sind gewisse entsprechend differenzierte olfaktorische Denkzellen gesättigt bis zum Ekel (§ 36), insbesondere von solchen Dufteronen, die als von optischen o d e r taktilen Urgegenständen ausgehend a u f g e f a ß t werden u n d die mit besonderer Lebhaftigkeit —• von zahlreichen P a ß f o r m e n der Ekelzellen — aufgenommen werden. Hierbei werden also zahlreiche Dufteronen mit P a ß f o r m e n f ü r die den sensilen Duftzellen nächstliegenden Duftgegenstandszellen aufgenommen, diese sind assoziiert mit den optischen u n d taktilen modalen Zellen, deren Aktualität die Urgegenstände u n d ihre nächstliegenden „Verwandten" sind, also erscheinen Genital-, Darm-, Harnu n d Kotdüfte usw. Ist n u n die Riechsphäre primitiv oder nahezu primitiv geblieben, so wird e i n größeres Quantum dieser Eronen aufgenommen als von hochdifferenzierten Riechsphären, die je nach ihrer Spezifität mehr von andern Dufteronen a u f n e h m e n und von jenen „primitiven" Dufteronen je nach der Zahl der Ekelzellen mehr minder rasch gesättigt u n d übersättigt sind. Die Tatsache, d a ß eine Übersättigung der Riechsphäre mit diesen primitiven Dufteronen möglich ist, der olfaktorische Ekel in Assoziation mit d e m optischen u n d taktilen Ekel a u f t r i t t , diese Tat!97
sache zeigt an, daß dieser primitiven Dufteronen so viele wie irgend möglich in die Ekelzellen aufgenommen werden, daß also, motivisch gesprochen, eine große Gier nach diesen Eronen da ist, eine „Gier", die u m so größer ist, je näher der primitiven Stufe das Riechorgan und seine Ekelzellen noch stehen. Anderseits kann ein im übrigen hochdifferenziertes Individuum eine mehr minder ausgeprägte Vorliebe f ü r primitive Düfte haben: die Riechsphäre ist dann infantil geblieben, Ekelzellen weniger differenziert. Die Ablehnung der primitiven Düfte ist also nicht, wie noch die psychoanalytische Schule will, eine Wirkung oder konditionale Folge von Verboten oder Geboten, ein motivischer „Erfolg" der Erziehung oder gar eine „Verdrängung" (womit gemeint ist, daß das Bewußtsein den „Trieb" zur taktilen, olfaktorischen usw. Beschäftigung mit diesen Gegenständen „unterdrücke", „ins Unbewußte verdränge"), und ebensowenig ist die Vorliebe f ü r solche Düfte ein Durchbrechen der „verdrängten Triebkomponenten", die hierbei im Kampfe mit dem „Ich" oder „Über-lch" obsiegen usw. usw., sondern das Verhalten des Individuums den Düften gegenüber ist Kennzeichen der biologischen Verfassung seiner Riechsphäre f ü r sich wie im Vergleich mit den andern Denksphären. Die Düfte sind Objekte wie andere Objekte auch, Aktualitäten spezifischer Denkzellen, und zwar sensiler, modaler und idealischer Denkzellen, also bewußt als Aktualität und unbewußt als Vorund Nachaktualität, und die Reihenfolge der Aktualitäten — dieser wie aller — ist weder bedingt noch verursacht noch bezweckt, sondern anschauungsgemäß zeiträumlich. Die Dufteronen, die in die olfaktorischen Denkzellen einströmen, also Paßformen daselbst haben, sind die Düfte; ein Duft erscheint, heißt: es besteht in einer olfaktorischen modalen Zelle die Beziehung, deren Objektpartner dieser Duft ist. Es existieren also nur die Düfte, f ü r die die Riechzellen Paßformen haben, f ü r die überhaupt Riechzellen da sind; je nach der spezifischen Differenzierung der Riechsphäre erscheint bei dem einen der, beim andern jener Duft als Aktualität — eine biologische und nur biologisch zu verstehende Tatsache, die das motivische Denken ausdeutet, als ob der eine den, der andere jenen Duft „gewählt" hätte, bei welcher „Wahl" erzieherische Einflüsse, Anstandsgründe, Selbslzucht, Entschluß oder ähnlicher Zauber mitgewirkt hätten. § /19. A k u s t i s c h e M o d a l i t ä t . Das embryonale H ö r o r g a n ist mit Flüssigkeit gefüllt; erst nach der Geburt wird diese resorbiert, wobei aus der Rachenhöhle durch die Tube Luft ins Mittelohr eindringt. Die fötalen Hörwahrnehmungen sind natürlich spezifisch verschieden von den extrauterinen. Die Knochenleitung ist von besonderer Bedeutung. Die sensibeln Endigungen des Hörnerven empfangen also ihre 198
spezifischen Eronen aus der Flüssigkeit der Hohlräume des innern Ohrs, die Schallwellen aus dem Fruchtwasser übernimmt. Die aufgenommenen „Lauteronen" gelangen zu den sensilen Zellen der Hörsphäre; wir sprechen von Hörhunger, Hörangst, Hörschmerz. Hörtrauer, Hörfreude, Hörekel usw., Gefühle, die beim Hören von Geräuschen, Tönen, Klängen, also Musik, besonders deutlich hervortreten. Wir müssen also annehmen, d a ß beim Embryo auch die sensile Hörsphäre in Funktion ist, u n d d a ß sich in späterer Fötalzeit modale Hörzellen entwickeln. Es erscheint dann der Hörgegenstand, zunächst ein Rauschen u n d Sausen unbestimmter Art. rhythmisch a u f - u n d abschwellend, indem der mütterliche und der fötale Puls sich in die Flüssigkeit der Eiblase u n d der Hörhöhlen f o r t p f l a n z t . Das Rauschen des Waldes, des Meeres, das Lispeln der Blätter, das Sausen oder Säuseln des Windes usw. entspricht jenem primitiven Geräusch (Geräusch ist ja Intensivum von Rauschen). Vernehmen wir dieses Rauschen oder Sausen, so befinden wir uns in der Situation analog der des Fötus im MutterIeibe, also iri einem träumerischen, t r a u m h a f t e n Zustande; das Rauschen ist wie alle primitiven Gegenstände stark gefühlig, u n d zwar je nach der individualspezifischen Verfassung der Hörsphäre hunger- (sehnsucht- usw.), angst-, schmerz-, trauer- oder freudegefühlig. Die Lauteronen, die wir Rauschen nennen, haben ihre P a ß f o r m e n in modalen Hörzellen, die der sensilen Ilörsphäre dicht benachbart sind; liegt die Aktualität in einer dieser Zellen, die ja natürlich auch in extrauteriner Zeit, wenn gleich verändert, noch da sind, so ist die Situation embryonal — analog dem Aufenthalte in einem roten Zimmer, sofern wir die Röte der Umgebung wahrnehmen. Hierbei handelt es sich nicht etwa u m eine „Regression"', sondern u m die Aktualität frühmodaler Hörzellen, die sich auch beim Extrauterinen noch vorfinden. Sind diese Zellen relativ zahlreich, d a n n bekundet das Individuum eine besondere Vorliebe f ü r das Meeres- oder Waldes- oder Windesrauschen u n d „leidet" wohl auch an Ohrensausen oder Rauschen, Klingen usw. im Ohr. Das Auftreten eines solchen „Leidens" ist auch nicht Regression zu einem embryonalen Stadium — man regrediert nicht zu etwas, das vorhanden ist —, sondern kürzer oder länger dauernde Aktualität f r ü h m o d a l e r Hörzellen, die erhalten sind; in solchen Fällen weist die Hörsphäre ihre entwicklungsgeschichtlichen Besonderheiten a u f , z. B. derart, daß Gruppen embryonaler Hörzellen sich unter bestimmten Umständen, über die wir nur analytisch eine gewisse Auskunft erhalten können, lebhafter entwickeln als andere Gruppen von Hörzellen, so d a ß die Aktualität, sofern sie überhaupt in der Hörsphäre, vorwiegend in jenen in einem Entwicklungsschub befindlichen Zellen liegt*). Aber auch wo das Ohrensausen usw. *) „Und es wallet und siedet und brauset und zischt" könnte eine Beschreibung der Geräusche sein, die der Foetus hört. 199
Involutionserscheinung ist, können wir nicht von Regression sprechen, d. h. von Rückwärts-Wenden, Rückentwicklung, sozusagen vom Rückwärtsgehen des „Rades der Entwicklung", eine gänzlich unbiologische Vorstellung, sondern vom Vergehen als der auf die Erreichung der spezifischen Wachstumsgrenze folgenden absteigenden Entwicklung. Die Involution f ü h r t also nicht rückwärts, sondern abwärts u n d vorwärts. In der späteren fötalen Zeit heben sich von dem Rauschen gewisse Laute ab: das rhythmische Pochen des mütterlichen Pulses, vielleicht auch des fötalen Pulses, der anderseits in der Nabelschnur getastet wird u n d der doppelt so rasch schlägt wie der mütterliche Puls; f e r n e r dringen bestimmtere Geräusche aus der näheren U m gebung ins fötale Ohr: aus dem Darm (Heulen der Winde, Grollen des Donners usw. — s. auch § 56), der Blase und H a r n r ö h r e (Zischen, Gurgeln), der Vagina, von der — beim Sexualverkehr — rhythmische Erschütterungen (des Fruchtwassers) ausgehen, die gefühlt u n d vielleicht auch gehört werden. Bei der Geburt gewinnen die Geräusche an Mannigfaltigkeit: die Fruchtblase platzt, der Durchtritt des Kindes durch den Genitalkanal geht einher mit Knirschen, Reiben, Krachen, Geräusche, die manch einer sein Leben lang nicht vergißt (ich habe sie u n d ihr Vorbild schon o f t in der psychoanalytischen oder — wie ich die von mir modifizierte Methode genannt habe — erkenntnistherapeutischen Behandlung nachweisen können). Die ersten extrauterinen Geräusche gehen von den Hantierungen der Beteiligten aus, sind die Stimmen der Menschen, der eigne Schrei des Kindes. Vielleicht ist es zu kühn anzunehmen, d a ß der ältere Fötus bereits die Stimme der Mutter als ein aus weiter Ferne stammendes leises Tönen vernimmt, als ein Flüstergeräusch, das der Neugeborene („Luftleitung") deutlicher h ö r t ; allerdings sind die modalen Hörzellen noch in geringer Zahl u n d wenig differenziert, noch wenige Lauteronen werden aufgenommen, grelle, „laute" Laute existieren noch nicht f ü r den jungen Erdenbürger, alle Laute sind Geräusche, Flüstern, noch verschwommen, gedämpft, aber doch schon m e h r als vordem unterschieden. Überdies pflegen die Menschen bei feierlichen Ereignissen (Geburt, Tod, Liebesverkehr) sich flüsternd zu unterhalten; sie weilen hierbei in der Nähe des Mysteriums: in der Nähe des Mutterleibes, der der Leib der Geliebten ist, dessen Besitz den Tod bedeutet, der das Grab der Liebe, d. h. des Liebenden ist; so flüstert man, wie m a n einstmals bei der eignen Geburt dais Flüstern vernahm. Wir sahen, die Situation, in der m a n später das Rauschen, Brausen, Sausen wahrnimmt, ist der intrauterinen analog; jetzt *) Diese Auffassung entspricht der Theorie von der Organminderweitigkeit A l f r e d A d l e r s (siehe Studien über Minderwertigkeit der Organe, Berlin 1907); ich lehne aber durchaus ab, den Wertbegriff in die Biologie hineinzutragen oder ihn in der Biologie gelten zu lassen. 200
sehen wir, die Situation, in der man das Flüstern hört, ist der geburtlichen (vielleicht auch der embryonalen) analog. Wann in späterer Zeit das Rauschen u n d das Flüstern, noch dazu vertrauter Stimmen, bewußt ist, so sind jene sensilen und modalen Zellen in analoger Funktion, die damals funktionierten, als der Mensch noch im „Paradiese" oder ihm doch nahe war, als er nach der Ausstoßung, die doch eine Erlösung aus Angst und Schmerz *) bedeutete, nach dem trauergefühligen Verlust der Nabelschnur die Mutterbrust, die Mutterwärme f a n d und damit Freude und Sättigung. Das Flüstern „wirkt" also nicht beruhigend, einschläfernd usw., es „wirkt" überhaupt nicht, sondern es besteht die Aktualität frühinfantiler modaler Zellen, die natürlich auch in späterer Zeit, wenn auch verändert, noch erhalten sind, wie ich das bereits oben dargelegt habe. Das behagliche (oder auch unbehagliche) Hindämmern am Meere oder beim Flüstern der Winde im Walde ist der mit der Aktualität jener Hörzellen koinzidierende Zustand, dem träumerischen Dämmerzustand des älteren Fötus und des jungen Kindes gleich. Diesen „bewirkt" aber nicht das Flüstern, sondern das Flüstern ist ja Objekt der spezifischen Zellen, ist der Zustand selber; während der Aktualität „Flüstern" (hier als Geräusch genommen, nicht als Name oder Begriff) ist keine andere Aktualität da, es ist überhaupt nur das Flüstern da, nicht, was wirken oder worauf gewirkt werden usw. könnte. Die Differenzierung modaler Hörzellen schreitet nun vorwärts: das Flüstern bleibt aber noch immer „beliebt". Das Liebesgeflüster der Eltern, mit denen meistens das junge Kind das Schlafzimmer teilt, das Flüstern und Singen der Mutter, die das Kind in Schlaf wiegt (wie sich das Kind nämlich im Uterus gewiegt hat, in den „Wellen" des Fruchtwassers, nachher des Badewassers, des Seewassers usw.), das Geräusch des Saugens, des Harnlassens, auch wohl Musik, die das Kind leise wahrnimmt, das Knistern des Bettes usw. kennzeichnen f ü r alle Zeit die Situation von besonderer Gefühligkeit. Der Laut ist die akustische Wahrnehmung des Bewegten, genauer das akustisch Bewegte, das akustische Objekt, das Objekt akustisch wahrgenommen. Alle Bewegung erfolgt rhythmisch, ist der Rhythmus. Rhythmus ist —• wie Bewegung — Formspezifität (s. IV. Teil dieses Buches). Eronenkomplexe sind formspezifisch, heißt: sie bewegen sich in dieser und nicht in einer andern Richtung (Polarisation), Geschwindigkeit, Takt (Wellenlänge). Bewegung ist Verhältnis Wechsel; Beziehung wie Verhältnis ist männlich-weiblich, nur P a ß f o r m e n stehen im Verhältnis; Bewegung, Verhältniswechsel ist Werden und Vergehen, Vermehrung und Ver*) Ein Vers aus dem evangel. Gesangbuch: „Gott wird dich aus der Höhle, da dich der Kummer plagt, mit großer Gnade rücken; erwarte nur die Zeit, so wirst du schon erblicken die Sonn', die dich erfreut." 20I
minderung der Zahl der zu einem Individuum gehörigen Eronenkomplexe, Vermehrung und Verminderung der Paßformen, wobei diese innerhalb ihrer Beziehung zum polaren Gegensatzpartner, die nicht trennbar ist, verbleiben. Die Aggregierung von Eronen zu Individuen „höherer Ordnung" und deren Wachstum ist nicht so zu verstehen, daß sich erst die eine, dann die andere Paßform entwickelt, daß die eine Paßform da ist und nun erst die andere sucht und findet oder nicht findet (und dann allein weiterbesteht), sondern so, daß mit der Existenz des einen Gegensatzpartners der andere zugleich da ist. Mit dem Subjekt ist immer zugleich das Objekt da, weder das eine noch das andere kann f ü r sich existieren, beider Beziehung kann nicht gelöst werden — oder die menschliche Anschauung müßte aufgehoben sein; die interpolaren Partner gehen ineinander über (§ 100). Alle Veränderung ist objektiv, sie ist das Werden und Vergehen, wobei das Vor- und Nachobjekt nicht etwa aus der Beziehung zu „seinem" Subjekt heraustritt, sondern die Vor- und Nachbeziehungen als Symbolkomponenten in der (aktuellen) Beziehung enthalten sind. Lediglich die Anordnung des Physischen, das Verhältnis ändert sich, keinesfalls die Beziehung Physis: Psyche; und es kommt auch keine Beziehung Physis:Physis (und Psyche: Psyche) bei diesem Werden und Vergehen vor, sondern nur Veränderung des Physischen als des polaren Gegensatzes zum Psychischen. (Der Ausdruck „Anordnung des Physischen" könnte mißverstanden werden; das Physische ist mit seiner Anordnung, mit der Form identisch; es gibt nicht eine Form und dazu ein Etwas, das geformt, angeordnet wäre; das Physische ist nicht geformt, sondern die Form selber.) Wann eine Stimmgabel schwingt, so höre ich je nachdem tiefere oder höhere Töne, d. h. es gehen (sozusagen) von der Stimmgabel größere oder kleinere Eronenkomplexe aus, erstere bewegen sich („schwingen") in längeren, letztere in kürzeren Wellen. Eine Welle ist — beim Schall, beim Licht usw., bei der Eronenbewegung überhaupt — eine Periode des Werdens und Vergehens, der Evolution und Involution, deren „Grenzpunkt" ich die spezifische Wachstumsgrenze nenne; ist diese erreicht, beginnt der Zerfall, die Involution. Die angeschlagene Stimmgabel gibt also je nachdem größere oder kleinere Eronenkomplexe ab, die bis zu ihrer spezifischen Wachstumsgrenze Paßformen zu dem Schwingungsmedium entwickeln, dann sich teilen, wieder anwachsen usf. und sich so „fortpflanzen" im eigentlichen Sinne des Wortes, indem Teilung oder Zerfall dasselbe ist wie Entstehung „neuer" oder „junger" Eronenkomplexe. Nun gelangen diese spezifischen Eronenkomplexe an das Trommelfell, das als (trichterförmiges) Filter aufzufassen ist: es läßt nur Eronenkomplexe bestimmter Größe durch (nämlich solche, 202
deren Schwingungszahl*) zwischen 3o und 3 o o o o bis 4oooo liegt), und diese auch nur in einer bestimmten Phase ihrer Bewegung, Die Aufnahme und Abgabe der Eronenkomplexe erscheint als Schwingung des Trommelfells wie auch der Gehörknöchelchen, die den Schall „weiterleiten"; die Schwingung der „Massenteilchen" ist stets zugleich (mehr minder deutlich) Schwingung der „Masse", die aus den Teilchen zusammengesetzt ist. Die Eronen gelangen so in das Labyrinth und werden j e nach der P a ß f o r m von den dort angeordneten Nervenendigungen aufgenommen, die Töne i m sog. Cortischen Organ von den in den Haarzellen endigenden sensibeln Nerven; von hier aus strömen in der beschriebenen Art die Eronen in das subkortikale und kortikale Hörzentrum. (Auf weitere Einzelheiten soll hier nicht eingegangen werden.) Die Aufnahme von Eronen geschieht also nicht perpetuierlich, sondern „stoßweise", periodisch, indem eben das Trommelfell als Filter funktioniert und die Eronenbewegung mit Rhythmus identisch ist. Dasselbe gilt übrigens f ü r alle Aufnahme und Abgabe, also auch f ü r die Funktion der andern Sinnesorgane, f ü r die Eronenbewegung überhaupt. In der akustischen Sphäre ist indes der Rhythmus besonders prägnant, er heißt hier Takt, was j a eigentlich nicht anders wie „ B e r ü h r u n g " heißt; Takt ist auch sinnidentisch mit Puls, pulsus, Antrieb, Stoß, Eindruck, Bewegung (vergl. Anm. zu § 10). Der erste „ T a k t " des F ö t ist der Puls der Nabelschnur. Auch die Geräusche sind nicht „taktlos"; es gibt keine Bewegung ohne Takt, ohne Rhythmus, dieser ist j a die Bewegung selber, und jeder Eronenkomplex hat seinen spezifischen Takt, Rhythmus, seine spezifische Bewegung, dies eben macht seine Spezifität aus. Die extrauterinen Laute sind ebenfalls rhythmisch; die Veränderung des Hörobjekts — wie des Objekts überhaupt — ist j a eben der Rhythmus, das Einströmen der Eronen in die Denkzellen geht wie alle Bewegung rhythmisch vor sich, in (zeiträumlichen) Intervallen. Auf die Konsonanten, die im wesentlichen die Geräusche, das Flüstern, das Rauschen ausmachen, folgen alsbald die Vokale, deren Einordnung zwischen die Konsonanten den Rhythmus deutlicher hervortreten läßt. Der erste Schrei des Kindes, Ausdruck der Schmerz- und Trauereronen, ist zugleich Abgabe von spezifischen Lauteronen, die nun in die modalen Hörzellen gelangen und als Vokale aktuell sind. Diese Eronen gehen auch von der Umgebung aus, doch wird diese zunächst lautlich nicht unterschieden. Die aufgenommenen Lauteronen finden ihren Ausdruck vornehmlich in der Motilität der Sprechmuskeln, es erscheinen die rhythmisch wiederholten „ U r worte": uä, am, ma, ta, hu, bu, ör, rö, ar, pu, pa, po, pi, ua, *) Schwingungszahl ist die Zahl der in der Sekunde erfolgenden Schwingungen.
m o , m i usw.*) und die der Entwicklung modaler Zellen entsprechenden Lautkombinationen**). Die Hörzellen sind mit optischen Zellen assoziiert, und mit der D i f f e r e n z i e r u n g weiterer Zellen, bilden sich auch die Assoziationssysteme aus. So wird aa oder päpä mit dem Kot, pipi mit dem Harn, eiei und mama mit d e r Mutter, papa mit dem Vater (vergl. auch $ 109) assoziiert usw., derart, d a ß auf die Aktualität der Sehzelle die der assoziierten H ö r zelle erscheint und der Eronenstrom auch in die Motilität des Sprachorgans ausgeht. Hierbei haben die optischen wie die akustischen Zellen ihre eignen motorisch-sekretorischen Endorgane; die Assoziationsfasern sind Seitenäste der Neuriten, die sich in der beschriebenen Weise aufbüscheln und so in Kontaktverbindung mit Dendriten von Nervenzellen oder diesen selbst stehen. Indessen werden die Assoziationsbahnen nicht immer beschritten, sondern —• je nach der Spezifität der wandernden Eronen — f o l g t a u f die Aktualität der Hörzelle sogleich der Ausdruck, z. B . das W o r t oder eine andere Muskelaktion, oder die Aktualität einer optischen Zelle und dann erst der Ausdruck. Die Assoziationen gehen auch zu den andern Denksphären, so daß auf einen Höreindruck ( A u f nahme von Lauteronen) die Aktualität einer modalen oder b e g r i f f lichen Riech- oder Schmeckzelle usw. folgen kann, bevor der Ausdruck stattfindet. Das Sprechenlernen des Kindes bedeutet also Entwicklung von modalen Hörzellen u n d ihren Assoziationen. Je mehr modale Hörzellen d i f f e r e n z i e r t sind, desto mehr motorisch-sekretorische Nerven f ü h r e n zu ihren Endorganen, desto mehr Wörter werden gesprochen, desto mehr wächst die verbale „Ausdrucksfähigkeit". Und je mehr Assoziationen sich ausbilden, desto zahlreicher sind die Gegenstände, die mit den Wörtern verbunden werden, desto sicherer wird der Gegenstand „benannt", desto rascher und präziser f l i e ß t die koordinierte Rede. Bei dieser Entwicklung sind n u n wieder unübersehbar viele Variationen möglich; die Besonderheiten der sensibel-motorischen Verbindungen können sich innerhalb der als normal geltenden Variationsbreite befinden, oder außerhalb dieser Grenze liegen (abweichende Bezeichnung von Gegenständen, Zwangsreden, Vorbeireden, Aphasie in ihren verschiedenen F o r m e n usw.). Auch der motorische Ausdruck, den wir „schreiben" nennen, *) Hier ist die Quelle des Reims, der Alliteration, der Wiederholung (besonders in der hebräischen Poesie üblich). **) Das Kind, der Mensch überhaupt schreit nicht, „weil" oder „wenn" es (er) Hunger oder Schmerz oder Trauer empfindet, wie die motivische Formel lautet, das Schreien ist nicht Wirkung einer Ursache, Folge eines Grundes usf., sondern steht in zeiträumlichem Zusammenhang mit gewissen zentralnervösen Vorgängen, in die Schmerz oder Trauer — als Bewußtes, als aktuelles Gefühl — eingeschaltet sein kann und meist ist. So oft das Kind, der Mensch schreit, erlebt es (er) die nachgeburtliche Situation in Analogie. 20-'|
kann Besonderheiten bis zu stärksten Abweichungen (Paragraphie usw.) aufweisen und uns so entsprechende Besonderheiten der sensibeln-motorischen Verbindungen der akustischen, optischen usw. Sphäre erkennen lehren. Das Sprechenlernen — wie alles „Lernen" — ist nicht etwa „Nachahmung" im motivischen Sinne, sondern ein Zeichen, d a ß die spezifischen Denkzellen differenziert sind, die n u n hoch f u n k tionieren, von spezifischen Eronenkomplexen passiert werden; das Sprechen selbst ist Ausdruck dieser Eronen, motorisch als Muskelbewegung, sekretorisch als „Sprudeln", „fließende Rede" (womit noch andere Bedeutungen interferieren) usw. Niemals kann jemand sprechen oder sonst etwas lernen, der die spezifischen Denkzellen nicht besitzt. „Nachahmung" ist motivische Bezeichnung f ü r einen (mißverstandenen) biologischen Vorgang; m a n meint damit, es könne jemand eine ihm vorgeführte Bewegung usw. als solche erkennen u n d n u n willentlich, mit Absicht, mit „bewußter Anspannung seiner Energie" usw. diese Bewegung nun auch auszuf ü h r e n versuchen u n d „durch" fleißige Übung auch auszuführen lernen, vielleicht angetrieben durch allerhand Vorhaltungen, E r mahnungen usw. Dies ist motivische Phraseologie. Realiter finden Reflexe statt, nichts weiter. Diese Reflexe sind die Passage spezifischer Eronen durch die sensibel-motorische Bahn, in die die zentrale Nervenzelle eingeschaltet ist. Wo keine sensibel-motorische Bahn, gibt's auch keine „Nachahmung"; da „nützen" alle guten Ratschläge nichts: entweder werden sie selber nicht verstanden (mangels P a ß f o r m e n ) oder können „beim besten Willen" nicht befolgt werden, der biologische Mechanismus fehlt. Die Hörgegenstände (Laute, Töne, Klänge, Geräusche) sind mehr minder gefühlig, je nach der E n t f e r n u n g der aktuellen modalen Zelle von der sensilen Sphäre. Die Klänge, Geräusche, wie sie die Musik bilden, die den Takt a m sinnfälligsten darstellt, sind am stärksten gefühlig; sie sind Aktualitäten von modalen Zellen, die bereits in embryonaler Zeit differenziert waren u n d solchen, die ihnen dichtbenachbart sind, also auch der sensilen Sphäre. Der Takt ist der Puls der Nabelschnur; seine Veränderungen „Abkömmlinge" des Pulses, mit der Differenzierung der modalen Hörzellen, der Vermehrung der aufnehmbaren P a ß f o r m e n (Lauteronen) gegeben. Die tiefen Töne haben männlichen, die höheren weiblichen Charakter; erstere sind größere Eronenkomplexe, letztere kleinere, die größeren Lauteronenkomplexe wären demnach supermaskulin, die kleineren superfeminin; sofern sie aufgenommen werden, sind sie natürlich alle männlich, d. h. ihr Gegenständliches ist so angeordnet, d a ß die eindringenden Teile gestreckt sind, im übrigen aber ist ihre Sexualkonstitution derart, daß die einen vorwiegend gehöhlt, die andern vorwiegend gestreckt sind. ao5
Die Sprachlaute sind Klänge, Geräusche, Aktualitäten besonderer Hörzellen, und auch diese unterscheiden wir als männlich und weiblich, je nach ihrer Klanghöhe, -färbe, kurz je nach ihrer Spezifität. W i r sehen z. B . das Objekt sich in der Weiss verändern, die wir Lippenbewegung nennen, und in diese Veränderung hinein fällt, die jeweilige Aktualität ablösend, der Sprachlaut, das W o r t . Späterhin ist der Anblick der Lippe des Sprechenden, also die Aktualität der modalen optischen Zelle nicht immer mit der akustischen Aktualität assoziiert: man sagt, wir hören jemand sprechen, ohne ihn zu sehen. An der Spezifität der Laute erkennen wir, ob wer spricht ein Mann oder ein Weib hinsichtlich der Sprache ist, weiterhin auch, wer von einer möglichen Anzahl von Individuen spricht, erkennen also den Sprecher an seiner Stimme. Das alles heißt: die Eronenkomplexe sind spezifisch, die modalen Hörzellen sind in mehr minder hoher Zahl d i f f e r e n ziert. Aber auch in den höchstdifferenzierten, d. h. in den von der sensilen Sphäre am weitesten entfernten modalen Zellen ist die männliche von der weiblichen Aktualität verschieden, die Anordnung des Ilörgegenslandcs gestreckt oder gehöhlt. Die E n t f e r n u n g , in die die Lautquelle „gelegt" wird, d. h. die Entfernung des Hörgegenstandes, des Tones, Klanges, der Sprache usw. ist mit der Spezifität des Gegenstandes gegeben, wie wir das f ü r die optischen Gegenstände oben kurz ausgeführt haben und noch besonders ausführen werden (s. § 89). J e weiter die aktuelle modale Zelle von der sensilen Sphäre entfernt ist, j e weniger gefühlig die Aktualität ist, desto weiter liegt der Gegenstand ab. J e mehr uns der Ton, das Wort „rührt'' (nahe geht, ans Herz g r e i f t usw.), j e gefühliger Ton oder Wort ist, desto näher liegt Ton und Wort, desto näher liegt die aktuelle modale Zelle der sensilen Sphäre — im genetisch-funktionellen Sinne (s. § '11 Fußnote). In den modalen Zellen liegen nicht etwa „Wortklangbilder" oder „Wortengramme" aufgespeichert, sondern die Zellen sind spezifisch und nehmen nur P a ß f o r m e n a u f , so daß die Zelle und ihre Punktion immer die gleiche bleibt, — nicht aber dieselbe, in Hinblick auf die im Gange der Evolution und Involution eintretenden Veränderungen. Das Wort ist als Hörgegenstand Aktualität einer modalen Zelle, und zwar immer der gleichen, und es ist insofern gleichgiltig, ob der Eronenstrom, wie wir sagen, von dem SubjektIndividuum oder dem Objekt-Individuum ausgeht. Alle Zellen sind während des Wachzustandes in hoher Funktion; die Aktualität, das Bewußte hier als Hörgegenstand, liegt in derjenigen Zelle, die vom relativ stärksten Eronenstrom passiert wird. Welche Zelle das jeweils gewesen ist, kann lediglich am Ausdruck erkannt werden, aber auch nur mit einem Grade von Wahrscheinlichkeit, der höher wird, wann wir analysieren. Indem des Objekt im Gange 206
der anschauungsgemäßen Veränderung so und so o f t die gleiche (nicht identische) Formbestimmtheit ist, sprechen wir von Erfahrung, von Wahrscheinlichkeitsrechnung. Indem wir die Veränderung des Objekts als Eronenbewegung, als Werden und Vergehen, Evolution und Involution, Apposition (Aufnahme) und Dislokation (Aufgabe) von Eronen und Eronenkomplexen beschreiben, ist Erfahrung Name und Begriff f ü r die relative Häufigkeit der gleichen Aktualität, also gleichmäßiger Abläufe der Eronenbewegung, und Wahrscheinlichkeitsrechnung ist Erfahrung als Zahl, als Mathematik. Die Größe der Erfahrung entspricht also dem Grade der Wahrscheinlichkeit (dargestellt als mathematische Größe), daß diese und nicht eine andere Formbestimmtheit aktuell sein, d a ß eine bestimmte und nicht eine andere Eronenbewegung sich vollziehen wird. Die hundertprozentige Wahrscheinlichkeit findet sich nicht in der Bewegung vor, sondern, ist die Subjekt-Objekt-Beziehung, die Gewißheit, die Wahrheit. Innerhalb der Symbolanalyse können wir also nicht mehr als einen Grad von Wahrscheinlichkeit erreichen. Wie sich die Eronenbewegung inner- und inierindividuell abspielt, welche Zelle der Hirnrinde jeweils vom stärksten Eronenstrom passiert wird oder gar werden könnte, wie jemand z. B. auf ein Wort, eine Rede, eine andere Tat „reagieren" könnte, ist nur mit einer Wahrscheinlichkeit zu errechnen, deren Grad proportional der Erfahrung ist. Die bisherige Auffassung, daß in den zentralen Hörzellen Wortklangbilder aufbewahrt und „durch" einen adäquaten „Reiz" „ekphoriert" werden, ist realiter so zu verstehen: die modalen Hörzellen — wie alle andern Zellen — sind spezifische Eronenkomplexe (beschreibungsgemäß Aggregate von solchen, also rela'.iv große Eronenkomplexe), nehmen spezifische Eronenkomplexe (Paßformen) und nur solche auf (funktionieren), und wann der relativ stärkste Eronenstrom diese oder jene Zelle passiert, dann liegt in dieser oder jener Zelle des Bewußte, hier also der Hörgegenstand. „Reiz" ist also lediglich Bezeichnung f ü r die Aufnahme von P a ß formen; eine ursächliche oder bedingliche Bedeutung des „Reizes" können wir realiter nicht anerkennen. Indem der „Reiz" motivisch gedeutet wird, f a ß t man die Wahrscheinlichkeit als Gewißheit oder legt ihr einen höheren Grad bei, als ihr realiter zukommt. (Der „Reiz" m u ß „wirken", sonst ist es kein Reiz — oder zwei Phänomene folgen aufeinander, ergo ist das erste Reiz f ü r das zweite, dieses ist Ergebnis, Folge des Reizes usw. Vgl. hierzu SS 8 0 , 8 1 . )
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Kapitel.
Die idealische Sphäre. S 5o. B e g r i f f a l s
Aktualität.
An die modale Sphäre schließt sich genetisch die b e g r i f f l i c h e oder i d e a l i s c h e a n ; wir identifizieren sie mit der Schicht der polymorphen Nervenzellen, die in der Hirnrinde am weitesten nach innen liegt. Sie beginnt sich schon in der i n f a n tilen Zeit zu entwickeln, lebhafter in der juvenilen Periode u n d erreicht ihre volle Entfaltung im Verlaufe dieser Periode, beim einen f r ü h e r als beim andern, im allgemeinen gegen Ende der dreißiger Jahre, ein Zeitpunkt, mit dem die mature Periode beginnt; indes braucht damit die Entwicklung weder der begrifflichen noch der gegenständlichen Denksphäre abgeschlossen zu sein, sie können sich vielmehr — und namentlich die begriffliche Sphäre — bis in das f ü n f t e und sechste Jahrzehnt hinein erweitern, länger beim männlichen als beim weiblichen Geschlecht. Die Schicht der Polymorphen fällt zusammen mit der Zone des interradiären Flechtwerks; die interzellulären Verbindungen sind hier also besonders zahlreich. Es finden sich hier —• wie übrigens auch in andern Schichten der Rinde — a u ß e r den Polymorphen viele sog. Golgi-Zellen, deren Neuriten sich nach den verschiedensten Richtungen wenden, auch bis zur Molekularschicht a u f steigen können und in einem reichen Geäst von Fäserchen enden; o f f e n b a r spielen diese Zellen im „Verbindungsdienst" der Nervenzellen eine wichtige Rolle, indem sie Eronen aus sensibeln Nerven oder aus Kollateralen a u f n e h m e n u n d über ihre Neuriten u n d deren Seitenäste innerhalb der Rindenschichten an assoziierte Zellen weilergeben. Der Begriff ist die Aktualität, die in einer polymorphen Denkzelle liegt, sagen wir kurz: d e r B e g r i f f i s t d i e A k t u a l i t ä t einer Denkzelle der innersten Hirnrindens c h i c h t. Der Begriff ist also Objekt, physisch, genau so wie das Gefühl u n d der Gegenstand. E r ist die Formbestimmtheit, die der Nicht-Formbestimmtheit, dem Subjekt, der Psyche, dem Ich gegenübersteht. In der Beziehung, die in der Begriffszelle liegt, ist der Begriff z. B. Tugend Objektpartner zum Subjekt NichtBegriff (polarer Gegensatz). Das Verhältnis besteht zwischen dem fremden Eronenkomplex als männlich u n d dem einheimischen als weiblich, wobei es sich u m die Apposition eines vorragenden Physischen an das paßrechte gehöhlte Physische handelt — als interpolaren Gegensatz. Wie die andern Denksphären ist auch die begriffliche verschieden entwickelt, beim einen mehr, beim andern weniger; auch verändert sich diese wie jene Denksphären im Gange der Evolution u n d 208
der Involution; ferner kann die begriffliche Sphäre im Verhältnis zu den übrigen Sphären stärker oder schwächer entwickelt sein, und endlich können die einzelnen Bezirke der begrifflichen im Verhältnis zueinander und zu den einzelnen Bezirken der andern Denksphären verschieden entwickelt sein. Hierbei nehme ich an, daß die begriffliche Sphäre ebenso wie die andern Sphären entsprechend dem histologischen Bilde über die ganze bewußtseinsfähige Hirnrinde hin sich vorfindet. Je nach der Entwicklungsstufe der einzelnen Denksphären und je nach den genannten Relationen lebt der Mensch mehr in der „Welt" der Gefühle oder der Gegenstände oder der Begriffe; er lebt als Fötus fast ausschließlich in der „Welt" der Gefühle, als Extrauteriner in einer „Welt", die fortwährend an Gegenständen und Begriffen gewinnt, bis die Involution ihre besonderen Veränderungen schafft. Im allgemeinen setzt sich die Denkweise des Extrauterinen aus der Funktion aller drei Sphären zusammen, wobei das Bewußte jeweils in der einen oder andern Denksphäre liegt. Indes findet man nicht selten eine auffällig geringe Entwicklung der einen oder der andern Denksphäre, der allerdings eine größere Entwicklung der übrigen Denksphären oder einer derselben gegenüberstehen kann. Zieht man noch die Variabilität der sensibel-motorischen wie überhaupt der assoziativen Verbindungen in Betracht, so ist es wohl zu verstehen, daß die Zahl der Möglichkeiten unübersehbar ist, daß jedes Wesen individualspezifisch ist und auch als Individuum sich fortwährend verändert.
S 51. P h ä n o m e n o l o g i s c h e E n t w - i c k l u n g des B e g r i f f e s , d a r g e s t e l l t am a k u s t i s c h e n Begriff. Ebenso wie sich die modale Sphäre genetisch an die sensile anschließt, so schließt sich die idealische an die modale an. Wir sahen, daß „der Gegenstand" ab Objekt der modalen Zelle „gefühlig" ist, d. h. eine gewisse Gefühlsqualität und -quantität präsentiert, je nach der Art der zugehörigen sensilen Zelle und der Entfernung der modalen Zelle von der sensilen Sphäre. Wir sahen ferner, daß diese Gefühlsquote nicht ein Besonderes, dem Gegenstand abgesehen von seiner Gegenständlichkeit Anhaftendes ist, das vom Gegenstand weggenommen oder hinzugetan werden kann, sondern daß die Gefühlsquote, der „Affektwert" in und mit dem Gegenstand gegeben ist, daß beide Gegenstand und zugehöriges Gefühl eine Homogenität sind und daß mit der Gefühligkeit. sich immer auch der Gegenstand ändert. Je näher die modale Zelle, deren Aktualität der gegenwärtige Gegenstand ist, der sensilen Sphäre liegt, desto gefühliger ist dieser, d. h. desto näher steht diese Aktualität dem „reinen" Gefühl. In diesem — aber nur in diesem — Sinne kann man sagen, der Gegenstand gehe 14 L u n g w i t z , Die Entdeckung der Seele.
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aus dem Gefühl hervor, das Objekt, das in der sensilen Zelle Gefühl sei, zeige sich in der modalen Zelle a b Gegenstand, beide seien sozusagen ein und dasselbe, nur unterschieden hinsichtlich des Ortes der Aktualität, das Gefühl als Aktualität der sensilen Zelle gehe in den Gegenstand als Aktualität der modalen Zelle über. Beide Sphären sind derart verbunden, daß ein Eronenkomplex, der jetzt die Aktualität der sensilen Zelle ausmacht, je nach der Formspezifität sich verändernd in die paßrechte modale Zelle wandert; die Aktualität der sensilen Zelle erlischt, wird abgelöst von der Aktualität der modalen Zelle, die von dem veränderten Eronenkomplex passiert wird. Und ebenso verhält es sich, wann die Zellen überhaupt funktionieren, also auch wann sie nicht aktuell sind, d. h. das Bewußte „beherbergen". Die Eronenkomplexc bewegen sich, heißt sie verändern, sich; das Gefühl verändert sich nicht in einen Gegenstand derart, daß die Aktualität einer Zelle jetzt Gefühl, dann Gegenstand sein könnte; das Gefühl ist lediglich als Aktualität einer sensilen Zelle da; sowie der Gegenstand erscheint, ist eine andere, nämlich modale Zelle aktuell, der Gegenstand ist sozusagen ein Umwandlungsprodukt des Gefühls. aber ein solches, dessen Umwandlung allmählich vor sich geht, von Zelle zu Zelle als solcher erkennbarer wird, so etwa wie ein chemisches Reaktionsprodukt erst am Ende eines synthetischen oder auch analytischen Prozesses erscheint, mehrfach umkristallisiert wird und dann erst den möglichen Grad von „Reinheit" erreicht (ganz stimmt der Vergleich natürlich nicht). Der jeweils noch in und mit dem Gegenstand vorhandene „Gefühlsrest" ist das, was ich G e f ü h l i g k e i t genannt habe. Zu bemerken ist, daß der Gegenstand nicht wieder reines Gefühl werden kann, d. h. daß der Eronenkomplex sich nicht aus der modalen Zelle in die sensile Zelle zurückbewegt; die Stromrichtung geht von der Oberfläche nach innen. (Nur bisweilen biegt der Neurit einer kleinen Pyramidenzelle in Richtung Oberfläche um; es mag dahingestellt sein, ob es sich bei diesen Zellen u m sensile oder um modale oder assoziatorische Zellen handelt.) In analoger Weise schließt sich die Begriffssphäre an die modale an: so wie der Gegenstand als Aktualität der modalen Zelle gefühlig ist, so ist der Begriff als Aktualität der polymorphen Zelle g e g e n s t ä n d i g und insoweit auch gefühlig. Der Gegenstand „geht" in demselben Sinne in den B e g r i f f über wie das Gefühl in den Gegenstand, und ebenso wie der Gegenstand mit dem in und mit ihm gegebenen „Gefühlsrest" eine Homogenität bildet, ist der Begriff eine Homogenität mit dem in und mit ihm gegebenen „Gegenstandsrest", von diesem „Rest" untrennbar. 80 geht auch die Gefühligkeit des Gegenstandes in den zugehörigen B e g r i f f ein, allerdings nicht derart, daß der Gegenstand mit seiner Gefühligkeit nun Begriff wird, sondern so daß der Begriff sozu210
sagen Umwandlungsprodukt des Gegenstandes und damit auch des in und mit ihm gegebenen „Gefühlsrestes" ist, diese Umwandlung aber die Veränderung des Eronenkomplexes, seine Bewegung aus der modalen zur begrifflichen (idealischen) Zelle ist. Man kann also von einem Begriff die in und mit ihm gegebene Gegenständigkeit (einschließlich Gefühligkeit) ebensowenig wegnehmen oder zu ihm hinzutun wie vom (zum) Gegenstand die mit und in ihm gegebene Gefühligkeit — wie vom (zum) Objekt die Objektivität. Auch kann der Begriff niemals Gegenstand werden, also z. B. der Begriff Tugend der Gegenstand, den man tugendlich oder tauglich nennt, der Begriff Gott der Gegenstand Gott (der Gott „verkörpert", göttlich ist) usw.; die Aktualität der idealischen Zelle wird abgelöst von der einer sensilen oder modalen oder andern idealischen Zelle, aber der idealische Eronkomplex, der jetzt aktuell ist, kann nicht in die modale oder gar sensile Zelle zurückgelangen, von der er ausgegangen ist; die Bewegung ist nicht „rückläufig". J e weiter die Begriffszelle von der Gegenstandszelle entfernt liegt, desto geringer ist die Gegenständigkeit und Gefühligkeit des Begriffs, und man kann hiernach ein S y s t e m d e r B e g r i f f e aufstellen, wie man ein S y s t e m d e r G e g e n s t ä n d e nach ihrer Gefühligkeit aufstellen kann. Letzteres würde in seinen primären Stufen die Gegenstände aufweisen, die mit den Urgegenständen, die wir als vorragend (Nabelschnur) und gehöhlt (Uteruswölbung) bezeichnen, am nächsten verwandt sind, genauer: die ihre Verwandtschaft mit diesen Urgegenständen am erkennbarsten zeigen, d. h. die „ausgeprägt" männlich oder weiblich sind, z. B. Penis, Nase, Arme, Beine, wie überhaupt die gestreckten Körperteile, anderseits die Öffnungen, also Nabel, Mund, Ohr-, Nasen-, Vaginaleingang, After, Harnröhrenöffnung, Hautporen und die dazugehörigen Höhlen usw. In der zweiten Gruppe wären die nach der Körperlichkeit gebildeten und vom Infans zunächst entdeckten Gegenstände der Umgebung vertreten wie z. B. geformte Fäces, Flasche, Löffel, gestreckte Spielgeräte, Stock usw., anderseits breiige Fäces, Steckkissen, Bett, Wiege, Wagen, Windeln, Kleidungsstücke, runde Spielsachen usw. In eine dritte Gruppe wären Gegenstände wie Federhalter, Stift, Nagel, Türklinke, Uhrpendel, Schlüssel, Schwanz der Tiere, Wurst usw., anderseits Tintenfaß, Buch, Tafel, Loch, Tür und Tor, Uhrgehäuse, Maul der Tiere, Kuchen, Brei usw. aufzunehmen und in weitere Gruppen solch« Gegenstände, die sich mehr minder weit, aber so weit von ihrem Vorbild entfernt haben, daß sie als Abkömmlinge nur noch dem analytischen Blick kenntlich sind. Das Gleiche gilt für die akustischen, taktilen, olfaktorischen, gustatorischen Gegenstände, die freilich für das „Augentier" Mensch weniger leicht als Abkömmlinge von vorragend (z. B. voller Ton) und gehöhlt (hohler 14
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Ton) differenzierbar sind. Es kommt hinzu, daß alle Gegenstände bisexuell sind, einmal also supermaskulin oder superfeminin, sodann je nach der Frontalseite entweder gestreckt (als Patrize) oder gehöhlt (als Matrize) erscheinen. So kann der tiefe Ton „ h o h l " klingen (manche Altstimme), der hohe die noch unbeschreibbare „Klangfarbe" des Männlichen haben (Tenor) usw. Je nach der Sexualkonstitution werden die gleichen Gegenstände von verschiedenen Individuen verschieden rubriziert. Nicht anders verhält es sich in der Begriffssphäre, am deutlichsten in der akustischen. W i r können e i n e e r s t e Z o n e aufstellen, die der Gegenstandssphäre am dichtesten benachbart, die am meisten gegenständig ist; in diese Gruppe gehören die Namen der Gegenstände, nicht die gesprochenen Namen, die Wörter, sondern die „gedachten", nicht die Ausdrücke der über das Sprachzentrum usw. abgehenden Eronen, die wir als modale akustische Aktualitätenreihen, akustische Gegenstände wahrnehmen, sondern die Objekte als Partner der in Begriffszellen liegenden Beziehung, also die Wortbegriffe: der Mann, die Trau, das Kind, das Haus, die Wolke usw. Sie sind Aktualität idealischer Zellen, die den modalen Zellen am dichtesten benachbart, am engsten assoziiert sind. Der Lautbegriff „der Mann" ist nicht das W o r t (der akustische Gegenstand) "der Mann", auch nicht der optische Gegenstand, mit dem der akustische Gegenstand assoziiert ist, also ein bestimmtes Individuum, das wir als „den Mann" bezeichnen, sondern — ja eben die begriffliche Vorstellung des Lautgegenstandes, die so deutlich sein kann, daß wir „das Wort noch in den Ohren klingen hören", daß „es uns ist, als hörten wir noch" usw. Die sog. „Deutlichkeit" des akustischen (wie des optischen usw.) Begriffes ist seine Gegenständigkeit, und die Gegenständigkeit ist um so größer, je näher die Begriffszelle der zugehörigen (assoziierten) Gegenstandszelle liegt, je kürzer der Weg ist, den der Eronenkomplex von der modalen zur idealischen Zelle zurücklegt und je geringer die Veränderung dieses Komplexes ist. In die z w e i t e Z o n e der akustischen Begriffe rangieren wir die Vorstellungen ein, die wohl einem einzelnen Lautgegenstand entsprechen, aber diesen nicht in seiner Einmaligkeit, sondern als Exemplar einer Gattung „wiedergeben", z. B. Mann, Weib, Kind, Haus, Wolke usw. Vom Wort-Individuum ist „abstrahiert"; gewiß: das Wort „der Mann" usw. „klingt nach", aber die Gegenständigkeit ist so sehr „verblaßt", daß wir nicht mehr beinahe noch das Wort hören, sondern nur die allgemeine Vorstellung eines „Lauthaften" haben. (Bitte den akustischen Begriff nicht mit dem optischen zu verwechseln.) Hiermit ist eine schärfere Präzision des Begriffs als solchen, der B e g r i f f i g k e i t der Vorstellung, der Aktualität gegeben; sie tritt um so klarer hervor, je geringer die gegenständliche Präzision ist, d. h. je geringer die Gegenständigkeit ist, 212
die in u n d mit dem Begriff gegeben, je größer die E n t f e r n u n g der Begriffs- von der Gegenstandszelle. Dieser akustische Begriff „Mann" ist sozusagen ein „Überrest", genauer ein Umwandlungsprodukt des gegenständigeren Begriffes „der Mann", damit ein Kollektivum, in dem von assoziierten gegenständigeren Begriffen das f ü r alle Gütige, das allen Gemeinsame dargestellt ist, das also im gegenständlichen Sinne weniger präzis, dagegen als Begriff schärfer u m schrieben ist. (Die Unterscheidung „der Mann" u n d „Mann" ist hier lediglich darstellerisch gemeint, hebt das Einzelne vom Allgemeinen ab; selbstverständlich kann auch „der Mann" Begriff der zweiten Gruppe sein.) Der Lautbegriff „der Mann" oder „Mann" kann also der modalen Hörzelle nahe liegen u n d ist dann begrifflicher Name eines Gegenstandes, Begriff eines Wortes usw., das einen optischen, olfaktorischen, taktilen, gustatorischen Gegenstand bezeichnet, d. h. das, selbst Lautgegenstand, mit den Gegenständen der übrigen Zentren assoziiert ist; das (gesprochene) Wort kann sich nicht selbst bezeichnen, sondern i m m e r n u r andere Gegenstände. Der Lautbegriff „der Mann" oder „Mann" kann aber auch Aktualität einer von der modalen Hörsphäre entfernter liegenden Begriffszelle sein, er ist dann, als weniger gegenständig, Begriff, in den, wie man sagt, alle diejenigen einzelnen Gegenstände eingehen, deren Name (als Begriff) Aktualität der zum assoziativen Sys'em gehörigen, der modalen Hörzelle näher liegenden Begriffszelle ist. Der „Oberbegriff" begreift also die zugehörigen „Unterbegriffe" in sich; „der Mann" oder „Mann" als Oberbegriff ist Begriff f ü r „alle Männer", f ü r „Mann überhaupt" oder „Mann schlechthin". „Das Holz" ist als Bezeichnung f ü r das Einzelstück, z. B. Holzscheit einmal Wort, also Hörgegenstand, sodann Hörbegriff als (begrifflicher) Name f ü r das Einzelstück, endlich Begriff f ü r „Holz überhaupt". Die verschiedenen Hörzellen sind mit korrespondierenden Zellen anderer Denkzentren assoziiert. Je nach der Formspezifität k a n n sich also der Eronenkomplex aus der Begriffszelle der ersten Zone in die der zweiten bewegen, und diese Bewegung ist Veränderung, womit eben die Verschiedenheit der Aktualität der einzelnen Begriffszellen gegeben ist. Je weiter der Eronenkomplex in der Begriffssphäre nach innen wandert, desto mehr verliert er an Gegenständigkeit u n d an Gefühligkeit, desto mehr tritt „das Begriffliche" oder genauer „das Begriffige" hervor. In der i n n e r s t e n Z o n e der Begriffszellen liegen die „abstrakten" Begriffe, z. B. Psyche, Physis, Raum, Zeit, Gegensätzlichkeit, Gegengeschlecht lichkeit, Tugend, Frömmigkeit, Lasterhaftigkeit, Glaube, Kunst, Weisheit usw. Ich nenne diese Begriffe E n d b e g r i f f e . Dieser Teil der Begriffssphäre ist durchschnittlich am wenigsten entwickelt; im allgemeinen findet sich die Aktualität der Begriffssphäre in den mehr nach außen, der Oberfläche zu gelegenen Zonen, also in der Zone der ersten oder 213
zweiten Begriffsgruppe, zu denen auch die den Eigenschafts- u n d Zeitwörtern entsprechenden Begriffe gehören. Die Begriffsphäre ist bei den meisten Menschen überhaupt nicht hoch entwickelt; sie „wissen" mit den Begriffen nichts anzufangen, verstehen sie nicht, sind nicht d a f ü r empfänglich, sind sog. „Tatsachenmenschen", d. h. ihre begriffliche Welt ist stark gegenständig ( i . idealische Zone); sie sind wohl auch Wisser, auf Einzelheiten „eingestellt", ohne in ihrem Denken die „große Linie" zu haben, ohne die Einzelheiten „unter einen höheren B e g r i f f " bringen zu können, der das Allgemeingültige der Erscheinungen u m f a ß t , ohne den Sinn f ü r das „Wesen der Dinge" aufzuweisen, dessen Besitz den Weisen kennzeichnet. Aber auch diese abstraktesten Begriffe sind noch spurenweise gegenständig u n d gefühlig; Begriffe ohne Gegenständigkeit u n d Gefühligkeit gibt es nicht. Das „Sprachgefühl" (das G e f ü h l f ü r die „Richtigkeit" des sprachlichen oder schriftlichen Ausdrucks), das logische, ästhetische, verstehliche, moralische usw. Gefühl gehören in die Begriffssphäre, u n d je feiner diese „ G e f ü h l e " sind, desto schärfer ist die Begriffszelle differenziert. Auch weist jeder Begriff eine Spur Gegenständigkeit a u f , selbst die Endbegriffe, d. h. in und mit dem Begriff ist immer noch ein „Rest" Gegenständliches homogen mit dem „Rest" Gefühl u n d homogen mit der „Begriffigkeit", dem Spezifischen, das sozusagen als „Eigentliches" an der Homogenität „ B e g r i f f " teilhat, gegeben. Der R h y t h m u s ( d i e G e s c h w i n d i g k e i t ) d e r O b j e k t ä n d e r u n g ist in der B e g r i f f s sp h ä r e l a n g s a m e r als in der modalen, er entspricht dem der sensilen Sphäre; u n d in der Begriffssphäre ist die Geschwindigkeit u m so geringer, je weiter nach innen zu, je weiter e n t f e r n t von der modalen Sphäre die idealische Zelle liegt. So o f t also die Aktualität der gleichen Begriffszelle da ist, stellt sie eine so weitgehend ähnliche Analogie zu den vorigen Aktualitäten dar, d a ß man fast von Identität sprechen kann; diese gilt besonders f ü r die Endbegriffe. Schon der Begriff der ersten Zone, z. B. „Mann" ist viel langsamer veränderlich, viel beständiger als der Gegenstand „Mann"; die modale Zelle verändert sich biologischer rascher als die idealische. Der Begriff der ersten Zone „Objekt" ist beständiger als das gegenständliche Objekt. Noch beständiger ist der Begriff „Mann überhaupt", „Objekt überhaupt", „das Männliche", „das Objektive" usw. Und am beständigsten sind die Endbegriffe wie „Männlichkeit", „Objektität", „Subjektität", „Sein", „Nicht-Sein", „Psyche", „Physis" usw. In der Begriffswelt tritt also die interpolare Gegensätzlichkeit, die Objektänderung sozusagen zurück, die polare Gegensätzlichkeit, die zwischen Subjekt u n d Objekt besteht, ist erkennbarer, indem eben das Objekt sich viel langsamer verändert als in der modalen u n d sensilen Sphäre. Es erscheinen die E n d b e g r i f f e 214
als fast unveränderliche Präsentanten der polaren Gegensätzlichkeit; Psyche und Physis, Subjekt und Objekt usw. sind Begriffe, die in Obereinstimmung mit ihrer geringen Bewegungsgeschwindigkeit die raumzeitliche „Unendlichkeit" vorstellen. Indes darf diese Spezifität der Begriffe, von der noch ausführlicher die Rede sein wird, nicht derart gedeutet werden, daß die polare Gegensätzlichkeit nur in der idealischen Sphäre, die interpolare nur in der modalen und sensilen Sphäre gelte; beide Arten von Gegensätzlichkeit gehören vielmehr zu Anschauung, wobei die interpolare Gegensätzlichkeit ja nur das beschreibungsgemäße Verhältnis der aufeinanderfolgenden Aktualitäten ist, also lediglich in der Objektität üegt. D«r Unterschied zwischen B e g r i f f und S y m b o l ist wohl klar. Der Begriff ist die Aktualität der idealischen Zelle, geht in dem beschriebenen Sinne aus der modalen Aktualität oder Unaktualität, aus dem modalen Eronenkomplex oder auch direkt aus dem sensilen Eronenkomplex hervor und „begreift" die zu seinem assoziativen System gehörigen Aktualitäten in sich in dem Sinne, daß diese Aktualitäten, diese Eronenkomplexe genetische Vorstufen des Begriffes sind. Abgesehen von dieser entwicklungsgeschichtlichen Zusammengehörigkeit ist der Begriff auch Symbol der zu seinem assoziativen System gehörigen, darüber hinaus aber weiterer und aller möglichen Aktualitäten überhaupt. Und dies ist das Wesen des Symbols: es ist die biologisch-phänomenale Homogenität aller möglichen Aktualitäten, der kosmischen oder Triebsituation überhaupt; unter diesen Vor- und Nach-Aktualitäten stehen die aufeinanderfolgenden Aktualitäten sich (sozusagen) am nächsten, und ipdem jede Aktualität (Vorstellung, Formbestimmtheit, Objekt, Erscheinung —• alles Synonyma) Symbol ist, geht die Symbolanalyse, die Veränderung immer erst über gewisse Aktualitäten, die wir als dem Symbol zunächstliegend beschreiben, die eine gemeinsame Bewegungsperiode (ein Individuum) höherer Ordnung ausmachen, so daß wir sagen, diese Aktualitäten gehörten am engsten zu jenem Symbol, das Ausgangspunkt der Reihe war. Hierüber mehr im Abschnitt über die Formspezifität. Der Begriff ist Aktualität einer idealischen Denkzelle; Symbol aber ist jede Aktualität (damit natürlich auch der Begriff).
S 52.
Vom optischen
Begriff.
Von den
Farben.
Was f ü r die akustische Begriffssphäre gilt, t r i f f t in analogischer Weise f ü r die übrigen Begriffssphären, also f ü r die optische, taklile, olfaktorische und gustatorische Begriffssphäre zu. Die Aktualität der optischen modalen Zelle ist der optische Gegenstand; die Aktualitäten der diesen modalen Zellen nächst2l5
benachbarten optischen Begriffszellen sind stärker gegenständig (und gefühlig) als die der weiter von der optischen Gegenstandssphäre entfernt liegenden Begriffszellen. Der optische Begriff „Haus" ist sozusagen ein mehr minder deutlicher „Schatten" des optischen Gegenstandes „Haus". Der Eronenkomplex, der in der modalen optischen Zelle als Haus erscheint, wandert, sich in der beschriebenen Weise verändernd, in die assoziierte Begriffszelle; deren Aktualität ist nun nicht mehr das Haus, wie es als Gegenstand war, sondern eben eine begriffliche Erscheinung, die je nach der Entfernung der Begriffszelle von der modalen Zelle mehr minder deutlich, d. h. gegenständig sein kann, mit Minderung der Gegenständigkeit aber an begrifflicher Präzision, an Begriffigkeit gewinnt. Man kann die Begriffe als „Schatten" im Sinne von Idea, Idee, bezeichnen, in Anlehnung an die Ideenlehre P 1 a t o s ; iIOV Schlafzimmer und Friedhof und viele andere synonyme Bezeichnungen für den Liebestod, der Analogon zur Geburt („Inzest") ist. 269
größerung der Entfernung des Objekts vom Subjekt wird die Schwelle zur Trennungslinie des Hier vom Da, des Unerreichbaren vom Erreichbaren, des Unerfüllbaren vom Erfüllbaren, wiederum noch nicht als B e g r i f f , sondern als modale Tatsache. Und wer die Welt geschaffen, wer sie gewünscht, verursacht, wer sie somit „verschuldet" hat, wer die Schuld am Sein trägt, trägt auch die Schuld am Werden: das Kind selbst ist schuld, daß die Dinge sich bewegen, ergreifen lassen oder nicht, sich verändern, werden und vergehen, leben und sterben. Das Kind selbst ist schuld daran, daß es geschaffen wurde, es schuf sich selbst, stammt von sich selber ab, hat sich selbst gezeugt, es selbst ist Ur-Sache, Ursache und Schuld, daß es in jener Höhle im Wasser, im Blutbade lag, das Blut der Mutter trank, die Mutter so verzehrte und dann mit höchster Angst, mit schwersten Schmerzen ausgestoßen und „von der (bisherigen) Welt" abgeschnitten, verstümmelt wurde, also aus dem paradiesischen Dasein ausschied und in ein „neues" Dasein eintrat, das es mit tiefer Trauer begrüßte (irdisches Jammertal). Das Kind selbst ist schuld an seinem Über- und Untergang, an seinem Übergang, der zugleich ein Untergang ist. So m u ß denn der Aufenthalt bei der Mutter eine S c h u l d , ein V e r b r e c h e n , eine S ü n d e und die Ausstoßung eino S t r a f e , eine S ü h n e sein. Und die Umwelt, die j a das Kind geschaffen hat, die von ihm ausgestoßen wurde, wie es von der Mutter ausgestoßen wurde, in der es Wesen erkennt, die ihm gleichen, hat ebenfalls gesündigt und m u ß f ü r ihre Schuld büßen: die ganze Welt ist sündig und verworfen, das Dasein eine Kette von Schuld und Sühne. Die Sühne wird zum O p f e r : man gibt, was man hat, Harn, Kot, Tränen, Geschenke usw., wie man erst die Nabelschnur, das Vorragende gab, als Sühne f ü r das „Urverbrechen", das man später m i t den B e g r i f f e n Schande, BlutSchande, Inzest verbindet. Dieses „ U r v e r b r e c h e n " ist der Aufenthalt des Fötus im Mutterleibe, nichts anderes; dies ist ein „ I n z e s t " , der mit der Vertreibung, der Ausstoßung, der Aussetzung, der Verstümmelung, dem „ T o d e " bestraft wird. Dieser erste Inzest ist die „ E r b s ü n d e " — zusammen mit der vom Spiel mit der Nabelschnur herrührenden Onanie; und mit dieser wird jenes Urverbrechen immer wieder begangen und immer wieder bestraft. Und der Sexualverkehr ist, infantil betrachtet, die „erwachsene" Form des Aufenthaltes im Mutterleibe, demnach schändlich, strafbar, todeswürdig (wie das denn auch der Mann der Urzeit gewissermaßen demonstrierte, indem er der Wollust erlag und aufgegessen, einverleibt wurde — gleich dem Spermatozoon, das vom Ei „einverleibt" wird. Die psychoanalytische Deutung des Koitus aber als Sehnsucht oder Tendenz des Mannes, in den Mutterleib zurückzukehren, ist ein Mißverständnis). Die S ü h n e , das O p f e r kann nur das Verbrechen „wieder270
holen", das gesühnt werden soll, genauer: d e m V e r b r e c h e n g l e i c h e n . Ist der Wunsch sündhaft, frevlerisch, so kann die Sühne nur ein Wunsch sein. Die Motilität und Sekretion, die den Wunsch darstellt, ist Schuld und Sühne zugleich, Sühne f ü r „vergangene" und zugleich „neue" Schuld, die wiederum gleiche Sühne heischt. Die Abgabe des Harnes, des Kotes, der Haare, des Schweißes, später des Samens und des (Menstrual- usw.) Blutes, des Geldes, des Besitzes usf. ist Teilung, „Verstümmelung" als Sühne f ü r das „Urverbrechen" und seine Entfaltungen, und diese Sühne ist, wie deutlich ersichtlich, zugleich neue Straftat, die der gesühnten entspricht. O p f e r t a t i s t i m m e r z u g l e i c h S t r a f t a t , d e m S i n n e n a c h I n z e s t , nicht Rückkehr in den Mutterleib und nicht Sehnsucht nach dieser Rückkehr, sondern Analogie zum Aufenthalt im Mutterleibe, nicht „Wunsch" (im motivischen Sinne), sondern „Wunsch" und „Befriedigung". Auch der Opfertod hat keine andere Bedeutung, in welcher Form er auch vollzogen werden mag; jeder, der stirbt, „opfert" sich, sühnt seine oder der Welt Sünde, indem er sie von neuem begeht. Noch immer und überall ragt der „Baum der Erkenntnis", Symbol der Gegengeschlechllichkeit, und immer und überall essen die Menschen davon und befinden sich dabei analogisch-symbolisch im Paradiese, im Mutterleibe, werden sündig und nun ausgestoßen in die kalte, rauhe Welt der Arbeit und der Mühsale; „denn welches Tages ihr davon esset, werdet ihr des Todes sterben". Und immer und überall „verführt" den Mann das Weib, d. h. der Mann vereint sich mit dem Weibe und haucht in ihren Armen, das Urverbrechen analogisch begehend und sühnend, sein Leben aus, in frühester Urzeit tatsächlich, in späteren Entwicklungsperioden symbolisch. S 5g. M ä n n l i c h o d e r
weiblich?
So ist mit der „Entdeckung" der Zeit (im genannten Sinne) Sünde und Sühne, Schuld und Strafe, Leben und Tod in die Welt gekommen, wie sich überhaupt die interpolaren Gegensätze mehren, indem das Sein als Symbol des Werdens angeschaut wird — noch nicht endbegrifflich, aber primitiv-erkenntnismäßig. Die Aktualität wird als geworden angeschaut, sie ist immer anders, die gegenwärtige aus der vorgegenwärtigen hervorgegangen, von ihr verursacht oder •— später — bedingt oder bezweckt. Das Einfach-Seiende wird zerlegt in zeiträumliche Unterschiede, in Mehreres, das auf einander und durch einander folgt, das von einander abhängig ist, das nicht mehr bloß gestreckt oder gehöhlt, sondern nun auch männlich und weiblich heißt. Nun wird Lebendiges vom Toten, Unschuldiges von Sündigem, die Schafe von den Böcken getrennt. Die Erscheinung wird aufgeteilt in Ursache und Wirkung, sie wird zur Präsentanz der Tat, der Ver271
änderung und hiermit auch zum Symbol moralischer Zusammenhänge. Wahl, Wert, Ziel, Absicht, Zweck, Nutzen und Schaden, Not und Hilfe usw. stellen sich als Tatsachen und bald auch als Begriffe ein. Und je mehr sich in Übereinstimmung mit der allgemeinen Entwicklung die Genitalssphäre ausbildet, desto schärfer nehmen die Wünsche genitalen Charakter an, desto schärfer stehen sich die Vertreter des Zweifels, der Unsicherheit, die hunger- und angstgefühligen und die trauer- und freudegefühligen Gegenstände gegenüber, und die F r a g e n reißen ihre nimmersatten Mäuler auf. Sie alle, die Fragen, sind Variationen des Themas: was bin ich: männlich oder weiblich? Aber diese „Urfrage", die alle Orakel lösen sollten und niemals lösten, ist wie alle Fragen mit der „eigentlichen" Antwort identisch, ist eine spezielle Formulierung der Tatsache der Bisexualität alles Seienden. Die Frage: „bin ich männlich?" erkennt die Tatsache der Männlichkeit, der Existenz des Gegenständlichen als des Gestreckten an, die Frage: „bin ich weiblich?" erkennt die Tatsache der Weiblichkeit, der Existenz des Gegenständlichen als des Gehöhlten an, und die Frage: „bin ich männlich oder weiblich?" die Tatsache der Bisexualität. Die „eigentliche" Antwort ist in und mit der Frage gegeben, und die sogenannte Antwort, die auf die Frage folgt., ist lediglich eine Aktualitätenreihe, die die gleiche Tatsache oder eine mit ihr assoziierte wiedergibt. Hierüber später mehr. Hier soll nur betont werden, daß Frage und Antwort die gleiche, nämlich motivische Zerlegung des Tatsächlichen ist wie Schuld und Sühne, Tod und Leben, Ursache und Wirkung, Grund und Folge, Wunsch und Erfüllung — realiter: Weib und Mann. Indem das Seiende als geworden, als aus einem vorgegenwärtigen Sein hervorgegangen und in ein nachgegenwärtiges Sein übergehend, also im Übergange befindlich angeschaut wird, ist die Einheit aufgeteilt und erscheint motivisch als Schuld, auf die die Sühno folgt, als Leben, das vom Tode gefolgt ist, als Wirkung der Ursache, als Folge des Grundes, als Erfüllung des Wunsches, als Antwort auf die Frage, als Erfolg des Willens, als Ergebnis der Wahl usw., als Gegenwärtiges, das auf ein entsprechendes Nicht-mehr-Gegenwärtiges (Schuld folgt auf Sühne, Wirkung auf Ursache, Leben auf Tod usw.) gefolgt, realiter: als Männliches, das aus dem Weiblichen hervorgegangen ist. Das Seiende ist das Lebendige, das Noch-nicht- und das Nicht-mehr-Daseiende ist das Unlebendige, das „Tote", das „wieder" lebendig wird, das aus einer früheren Sphäre in die Gegenwart eintritt und aus dieser in eine andere Sphäre ausscheidet. Daher denn Vater und Mutter und alle andern Personen nur so lange „leben", wie sie da, d. h. dem Kinde gegenwärtig sind: die Mutter (das Weib) viel länger als der Vater, der sogar während seiner Anwesenheit nur sein 37a
eigner Vertreter ist und als eigentlich gestorben betrachtet wird. U n d auch a n diese Anwesenheit des Vaters k n ü p f e n sich Fragen. Die Erscheinung ist Wunschobjekt, geschaffen vom Kinde, u n d auch ihre Vergänglichkeit, n u n schon kausal gefaßt, ist wunschgemäß. Also verdankt der Vater dem Kinde sein Leben — und seinen T o d ? Man kann seinen „Geist" beschwören, aber die Nähe des Getöteten ist gefährlich: wer die lösende Formel nicht kennt, ist selbst dem Tode verfallen, der Tötung, die immer der Vater, der Mann (Priester, Opferpriester, Medizinmann usw.) am Kinde vollzieht, mit der er den Inzest bestraft, wie er ihn damals, bei der Geburt, bestrafte — als Unbekannter, einer fremden Welt Angehörender, der — im Auftrage der Mutler-Frau — das Kind, die ganze Welt zur Verantwortung zieht. Man kann wohl sogleich sterben, wann der hochtabuierte Herr, der Gott-Mensch, der Gott, der große, der heilige Geist, der Teufel einem erscheint. Und er erscheint n u r „auf Wunsch", die Wünsche sind das Instrument, mit dem das Kind die Welt beherrscht, sie wandeln sich später in Willen, aber das Kind hat noch allmächtige Wünsche: es kann alles, was es wünscht, wie der Erwachsene alles kann, was er will. Freilich hat „die Zeit" (als tatsächliches Erleben der Objektänderung) die Allmacht beschränkt, aber mächtig genug sind die Wünsch« doch noch — so mächtig, d a ß „der Geist" beschworen u n d entlassen werden kann. So mächtig auch, daß das Kind den Tod des Vaters verschuldet; und n u n ist die an ihm einst vollzogene „Tötung", Verstümmelung die Strafe f ü r den Vatermord, der, ebenfalls immer neu begangen, immer neu gesühnt (und damit wieder begangen) wird. Und jede Sühne ist „Versöhnung", Wiederherstellung des Sohnesverhällnisses zum Vater, ein Verhältnis, das ja den V a t e r m o r d in sich begreift. So ist die Tatsache zu verstehen, d a ß d a s K i n d fingiert, es wünsche d e m V a t e r d e n T o d (s. auch § i o 4 ) : der Vater ist als Mann trauergefühlig, er wird als tötbar, abreißbar, herunterreißbar, vernichtbar betrachtet wie alles Gestreckte, Männliche, das man ja se-lbst hat hergeben müssen — Knabe wie Mädchen; das Gestreckte gehört in die Ö f f n u n g , in die Höhle, ins Nichts, wie ja das Kind sich aus seinem Jenseits (Mutterleib) durqh die Ö f f n u n g in die Höhle des irdischen Lebens begeben hat, u n d in der Geburt ist das Kind, insofern es die Ö f f n u n g passiert, männlich, gestreckt. Diese Tatsache des „Inzests" lebt weiter als Schuld, die der Vater, als sein eigner Stellvertreter, als Geschöpf des Sohnes, als Sohn des Sohnes bestrafte, sich rächend f ü r die Wünsche, mit denen m a n ihn wegzauberte u n d doch beschwor; wie gesagt, ist dieses Wegzaubern u n d Beschwören frühmotivLsc'ne Deutung der Ab- u n d Anwesenheit des Vaters (auch der Mutter), wie überhaupt der Vergänglichkeit, der Verändertheit des Objekts.
18 L u n g w i t z , Die Entdeckung der Seele.
Anmerkung. 1. S ü h n e ( S ü h n u n g , V e r s ö h n u n g ) , got. saun Lösegeld, u s s a u n j a n erlösen, ahd. s u o n a , s u a n a , suene; sühnen ahd. s u a n ( n ) a n , s u o n n a n , m h d . suoenen, süenen, aoenen. V e r w a n d t m i t lat. s a n a r e , sanus, griech. oiiog, mra; heil, anixo; kräftig, tjn>£u> r e t t e , heile, aoirr/n R e t t e r , B e f r e i e r , „ H e i l a n d ' " , Wurzelsilbe S A (sacer, sanctus, vielleicht zu sanskr. s ä h j a s kräftig, s ä h j a m Gesundheit). — 2. S ü n d e , ahd. s u n t a , mhd. sünde, l a t . son(t)s schuldig, sträflich, dazu griech. htoe wahr, tritCto prüfe, s a n s k r . s a t j a s wahr, e c h t , s a t j a m W a h r h e i t , zend. h a i t h y a wirklich, a l t s . , ags. s ö t h ( = sanths), a l t n . s a n n r wahr. I m sanskr. P a r t i z i p s a t ( f ü r s a n t = [ a ] s a n t , lat. prae-sent) t r i t t schon die B e d e u t u n g „ w a h r " , „ e c h t " h e r v o r , es heißt zugleich „ s e i e n d " , „ g u t " ; hierzu: s a t v a m W e s e n , a n i m a l (hv/uoi), svastis Wohlsein, P r a e f . su- = fi'-, ferner äsmi sum, ästi est, asus L e b e n s h a u c h , asuras lebendig, äs, äsan Mund, lat. os. Zu äsmi griech. ttfj-l (äol. f'uui = taut,), f i taiu'i Wohlsein, >- E v a ) : eine B e s c h r e i b u n g der G e b u r t , einsetzend m i t dem „ W e h e n " (den W e h e n , dem W e h ) , endend mit dem Sein des G e b o r e n e n , des „ S o h n e s " , der als „ s e i e n d " einerseits wahr, e c h t , wirklich, anderseits „schuldig, s t r a f b a r , s ü n d i g " (sons!) und zugleich der „ S ü h n e n d e " ( s a n u s ! ) , Gesunde, Heile ist. Der „ S e i e n d e " i s t der, der „es gewesen i s t " , und d a m i t zugleich der S ü h n e n d e ; das Sein ist Sünde und S ü h n e zugleich, auch der E t y m o l o g i e n a c h . — 3. Von der sanskr. Wurzel S U ( H U ) s t a m m t auch das W o r t S o h n : sfi ( s ä v ä m i , hunäini) zeugen, gebären, auspressen, sutas, sunus, zend. h u n u , filius, got. sunus, ahd. s u n u , m h d . su(o)n. D e r S o h n ist der S ü n d e r und S ü h n e r , „ S o h n " hier als K i n d , das geboren wird ( G e b u r t = K o i t u s größten Stils, I n z e s t ) . — 4. F e r n e r gehört zjir Wurzel S U die S o n n e : sanskr. svar H i m m e l , suar leuchten, scheinen, süras Sonne, zend. h v a r e S o n n e , g a r e t h a Glanz; griech. an'nius (Sirius, H u n d s s t e r n ) heiß, brennend, ottQu'tm leuchten, brennen, atiniuaig S o n n e n b r a n d , aeXui Glanz, utlr/rri M o n d ; lat. serenus heiter, hell, klar, sol S o n n e ; got. sauil, altn. söl. Dazu Wurzel U S brennen, leuchten ( m e t a thesiertes s) in lat. Auselius, Ausosa = A u r o r a , griech. ißwe S o n n e usw. — Hiernach ist der S o h n der Seiende, der Schuldige und der „ W a h r e " , der sons und sanus, der Sünder und S ü h n e r zugleich, die (aufgehende) S o n n e , der ( S o n n e n - ) G o t t , der G o t t schlechthin, der alle Sünden t r ä g t und zugleich s ü h n t , der größte Sünder und S ü h n e r , also G o t t und Teufel zugleich ist (vgl. § 62 p. 2 9 4 , F u ß n o t e , ferner die v e r a l t e t e Bezeichnung des Täuflings als „ G o t t " , „ G o t e " , „ G o t h e " , auch „ G o t t - S o h n " , nämlich „ S o h n " des [der] T a u f z e u g e n [ z e u g e n ! ] , des T a u f v a t e r s — P a t e zu pater, V a t e r — , der also G o t t - V a t e r i s t und auch „ G o t t " g e n a n n t wurde, der den u n b e k a n n t e n „ l e i b l i c h e n " V a t e r ersetzt, v e r t r i t t , der p a t r u u s , Onkel, der bei vielen V ö l k e r n noch t a t s ä c h l i c h das V a t e r r e c h t und die V a t e r p f l i c h t i n n e h a t ; vgl. § 8 0 A n m . ) . „ S c h u l d und S t r a f e " s. p. 6 7 0 . S ü n d e und S ü h n e leiten sich also v o n e i n e r sprachlichen Wurzel a b , die G e b u r t und K o i t u s (den L i e b e s t o d ) beschreibt und sich späterhin zu F o r m e n e n t w i c k e l t h a t , die den „ Ü b e r g a n g " , die Ü b e r g ä n g e überh a u p t (§ 9 4 ) in m o t i v i s c h e r D e a t u n g beschreiben.
S 6o.
F a m i l i e n m i t g l i e d e r
u n t e r e i n a n d e r .
Ich wies schon darauf hin, daß das Verhalten der Familienmitglieder wie überhaupt der Individuen untereinander der individuellen Sexualkonstitution entspricht (vergl. auch SS 45, 46). 274
Diese prägt sich in Übereinstimmung mit der E n t w i c k l u n g d e r G e n i t a l i e n schärfer aus. Die Differenz der „Einstellung" des Knaben und des Mädchens zu Vater und Mutter wird allmählich deutlicher. Die „Wünsche", nun schon Dämonen, Kräfte geworden, sind beim Knaben anders wie beim Mädchen insofern, als der Knabe lieber den Vater weg- und die Mutter herbeizaubert, das Mädchen umgekehrt. Der Sexualkonstitution der Beteiligten entsprechen die Wünsche. Die Schuld ist gleichermaßen der Inzest ,,mit" der Mutter; Knabe und Mädchen waren im Mutlerleibe, beide sind vom Vater dafür bestraft worden, das Mädchen sogar härter als der Knabe, der j a wenigstens einen längeren „Stummel" behalten hat als das Mädchen mit dem „Kirschkern", der „Kaffeebohne", der „Perle" und wie die Synonyma f ü r Klitoris heißen mögen. Aber die „Todeswünsche" sehen bei Knabe und Mädchen verschieden aus: der Knabe „reißt." den Vater herunter, kastriert ihn, tötet ihn, da9 Mädchen tötet ihn auch, aber indem es ihn „aufnimmt", in die Öffnung eindringen läßt und den Eindringling verzehrt, vernichtet. Der Knabe nimmt vom Vater „weniger" wahr als die Tochter, dagegen mehr von der Mutter als jene. Das Erscheinen des Vaters ist natürlich auch immer „Wunscherfüllung", aber diese ist beim Sohne weniger intensiv, die Paßformen sind geringer an Zahl zwischen Sohn und Vater als zwischen Tochter und Vater; umgekehrt zwischen Sohn und Mutter und Tochter und Mutter. Das Mädchen ist „befriedigter" beim Anblick des Vaters als der Sohn, dieser „befriedigter" beim Anblick der Mutter als die Tochter. Und den Eltern geht es nicht anders. Alle möglichen Variationen des Verhaltens entsprechen der Variabilität der Sexualkonstitution, die individualspezifisch ist und auch individuell sich ändert. Die Zeit der Anwesenheit, die immer im rhythmischen Wechsel mit der Abwesenheit stattfindet, ist die Zeit des lebhaftesten Eronenaustausches zwischen den Beteiligten. J e nach der Zahl der Paßformen — eben j e nach der Sexualkonstitution — tritt die Sättigung rascher oder langsamer ein, geht die „zärtliche Stimrung" rascher oder langsamer vorüber. Ist das Auge gesättigt, schließt es sich oder das Individuum kehrt sich ab; ist das Ohr gefüllt von dem einen Lautgegenstand, treten andere Lauteronen ein, wofür Paßformen vorhanden; sind die Liebeshöhlen gefüllt, entfernen sich die Individuen voneinander, trennen sich, scheiden voneinander, und es kommt ganz auf die relative Entwicklung der Öffnungen und Höhlen und der sensibel-motorisch-sekretorischen Verbindungen an, wie die Vereinigung und Trennung verläuft. „Leer" sind freilich die Öffnungen und Höhlen niemals, „freiflottierende" ( F r e u d ) Affekte oder Affinitäten gibt es nicht; nur sind die füllenden Eronen verschieden zahlreich und verschieden komplex, und entsprechend sind die nervösen Emp18*
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fangsstationen, die sensibeln Nervenendigungen, auch die Oberflächenzellen als solche, die direkt Paßformen aufnehmen, beschaffen: alles Seiende ist immer-anders, aber immer Paßform, immer Gegensatzpartner, und zwar in der polaren wie in der interpolaren Gegensätzlichkeit. Es gibt keinen Gegensatzpartner, keine Formbestimmtheit ,,an und f ü r sich", also „ f r e i " , ohne den paßrechten Beziehungs- und Verhältnisteilnehmer, und ebensowenig gibt es einen „leeren Raum" innerhalb der menschlichen Anschauung. Die Bewegungen der Individuen untereinander nennt man „ W a h l " , versteht aber unter Wahl gemeinhin, d. h. als Infans oder Juvenis, einen „bewußten Akt", derart, daß man sich entschließen könne, so oder auch anders zu wählen, sich nach freiem Willen oder Ermessen dem einen zu nähern und vom andern zu entfernen. F r e u d spricht von „Objektwahl" im Sinne der Entscheidung des Kindes f ü r den einen oder andern Elter, B l e u l e r von „Ambivalenz" im Sinne des Schwankens der „Gefühle" oder „Affekte" zwischen den möglichen Objekten. Man darf dem Kinde keine Motive unterschieben, die Wahl erfolgt realiter keineswegs derart, daß das „Bewußtsein" (hier im bisherigen Sinne, d. h. als psychische Oberinstanz gebraucht) Beschlüsse faßt und diesen entsprechend wählt oder sonst etwas tut oder tun läßt usw., sondern die Wahl ist die Bewegung, die mit dem Werden und Vergehen, mit Wachstum und Teilung identisch ist und niemals anders als zwischen Paßformen verlaufen kann. Diese Tatsache, daß immer nur Paßformen das Aneinander bilden, wird motivisch so gedeutet, als ob eine wissentliche und willentliche Wahl stattgefunden halte. Wir haben auch den Wunsch als Bewegung erkannt, als Abgabe und Aufnahme von Eronen, und realiter besteht auch zwischen Wunsch und Wahl kein Unterschied. Wir kommen hierauf noch zurück (§§ 6g—71). Auch nach der Entdeckung der Zeit und damit der Beschränkung seiner Schöpferherrlichkeit hat das Kind zu seinen Wünschen noch ein großes Zutrauen neben den mehr und mehr aufkeimenden Zweifeln an ihrer Allmacht. Der Wunsch ist schon Dämon geworden; „alle Räder stehen still, wenn mein starker Arm es will", d. h. mein Wunsch, mein Wille beherrscht das Weltgetriebe. Die Stärke des Armes wird gewissermaßen personifiziert, der Wunsch wird selbständig, ist nicht mehr Muskelbewegung, Drüsensekretion oder sonstige Ausscheidung, sondern ein Wesen f ü r sich, mit eigner Macht begabt. Und diese Macht kann sich nunmehr — nach der Zerlegung der Aktualität in interpolare Gegensätze — als gut oder böse erweisen, das Kind schuldig, sündhaft und wiederum entsühnt werden, und es wird ihm keineswegs bewußt, daß die Sühne die neuerliche Begehung des Verbrechens darstellt, das gesühnt werden soll und ja auch gesühnt wird. So 276
wird auch die Bewegung, die man Wahl nennt, frühmotivisch personifiziert und dem Bewußtsein, dem Wunsch und Willen attachiert. Das Bewußtsein, der Wunsch t r i f f t nun eine Wahl, verursacht die Wahl, der gute oder böse Wille kommt in der Wahl zum Ausdruck, die nun ihrerseits die Handlung, den Gedanken bestimmt usw. Auch die Wahl ist sündhaft oder sühnhaft, das gewählte Objekt ist Verkörperung der Sünde oder der Sühne, wobei immer auf das eine das andere Objekt folgt, der Wählende selbst ist ein Sünder und ein Büßer, minder- oder mehrwertig. S 61.
Sexualität
als S ü n d e und Sühne.
Ethik.
Das „Urverbrechen" ist der „Inzest", als welcher auch der Aufenthalt im Mutterleibe gedeutet wird, die „Urstrafe" der im „Inzest" erlittene Tod. So ist Schuld und Sühne unlösbar mit der S e x u a l i t ä t verknüpft, und so wird auch Wunsch und Wahl, die mit zunehmender Entwicklung der Genitalsphäre mehr und mehr „genitalen" Charakter gewinnen, zu gut und böse distrahiert. Der Inzest ist Sünde, also verboten; von wem? — nun, natürlich vom Rächer, der die Strafe vollzog und immer von neuem vollzieht (Tadel, Beschämung, Schläge), und dieser Rächer ist ja der Vertreter des eigentlichen „Vaters im Himmel", und indem er so betrachtet wird, ist er erhöht und erniedrigt zugleich, in den Himmel versetzt (getötet) und seiner „eigentlichen" Macht beraubt —• als irdischer Mann, als Mensch wie alle, der noch dazu selber mit dem Weibe sündigt, in ihrem Auftrage die Strafe vollzieht, selbst ein Sünder, mit erborgter Macht. Die Sexualität ist Sünde, die Wahl des Sexualobjekts, das als solches nunmehr erkannt wird, ebenso Sünde wie die Beschäftigung mit den eignen Genitalien, zu denen man doch immer wieder hingezogen wird. Wie der Foetus im Mutterleibe mit der Nabelschnur „spielt", den rhythmischen Puls verspürt, so spielt das junge und ältere Kind mit Penis und Klitoris — und wieder erscheint der Puls, der Rhythmus: in der Hin- und Herbewegung, in der Ejakulation, im „ K l o p f e n " der Klitoris. Die Bewegung der Hand führt zu gestreckt und gehöhlt; die Nabelschnur ist verschwunden, eine tiefe Wunde, ein Stummel an ihre Stelle getreten; ist der Eronenaustausch zwischen Finger oder Hand und den getasteten Stellen zu Ende, trennen sich die Partner und finden sich zu gegebener Zeit, d. h. wann die von den Höhlen ausgehenden Eronenströme in der entsprechenden Motilität ihren Ausdruck finden, immer wieder. Die O n a n i e ist eine Reflexbewegung, stammt vom intrauterinen Spiel mit der Nabelschnur und ist die physiologische Vorbereitung zum Sexualverkehr. Niemand kommt zum Weibe oder zum Manne, er hätte denn onaniert. Aber f ü r das Infans und den Juvenis ist Onanie wie überhaupt die Beschäftigung mit den Genitalien Sünde, das 277
Genitale selbst ein Denkmal des Urverbrechens und seiner Sühne, alles Gestreckte, der Penis, die Klitoris (die oft mehrere Zentimeter lang ist) ist vorwiegend trauer-, aber auch freudegefühlig, die Nabelbucht, die Vulva, vorwiegend hunger-, aber auch angstund schmerzgefühlig. Das Hinfassen, die Berührung, die Betrachtung, ja die Bedenkung ist Sünde, Erbsünde, aber zugleich Sühne: das Glied wird abgerissen, gerieben, gequetscht, mißhandelt — bis zum Orgasmus, bis zum höchsten Freudegefühl (optimale Füllung der Genitalhöhlen einschließlich der Genitalnervenkörperchen mit Freudeeronen, Bewegung der Eronen über die sensile Sphäre — Freudezellen — in die Motilität und Se- und Exkretion des Orgasmus). Diese „Lust", die wie alle Gefühle in auf- und absteigender Kurve, einer Unlust- und Luststrecke verläuft, deren Anstieg also Unlust, deren Abstieg Lust ist, diese „Wollust", die zu Urzeiten „rein", hundertprozentig und für den Mann tödlich war, mit zunehmender Entwicklung der Menschheit aber mit andern Gefühlskurven interferiert und an sich in Übereinstimmung mit der verhältnismäßig starken Differenzierung der modalen und der idealischen Denksphäre sich gemindert hat, diese Lust, oft nur noch ein Lüstchen, ist nun neue Sünde („böse Lust") — und Buße zugleich: sie koinzidiert mit der Abgabe, Teilung, wiederum Zerstückelung, Verstümmelung, Eronen strömen ab wie sonst nie, der Penis, die Klitoris schrumpfen zusammen, später vervollständigt die Ejakulation des Spermas, des Uterin- und Scheidensekrets den „Verlust". Anmerkung. Es sei gleich hier der Gefühlsablauf beim Koitus beschrieben. Der K o i t u s d e r f r i i i e s t e n U r z e i t verlief folgendermaßen: Anstieg des Liebeshungers bis zur Erektion (des Penis, der Klitoris), also Anstieg der Unlust, der „Spannung"; Begegnung zwischen Mann und Weib; hierbei Ablauf der Angstkurve bis zum Moment der Einführung des Penis, die für Mann und F r a u schmerzhaft war (Defloration), die Angstkurve wird also von der Schmerzkurve abgelöst; mit der Akme der Schmerzkurve fällt die der Hungerkurve zusammen, also die höchste Unlust, mit deren Erleben die Hungerkurve abzufallen beginnt, während die Trauerkurve einsetzt: die Einführung des Penis ist schon Zerstückelung, Abklemmen, Abquetschen des Penis (vulgär für Vulva: Schwanzklemme, gewissermaßen die Scheere, mit der der Schwanz abgeschnitten, koupiert wird usw.), Analogon zum Abschneiden der Nabelschnur, in späterer Zeit des Penis, den man in jener Urperiode noch nicht kürzte. Mit absteigender Hungerkurve steigt die Sättigungskurve an, bis deren Akme erreicht wird: der Orgasmus, der mit der Ejakulation zusammenfällt und zu jener Urzeit mit dem Tode des Mannes und dem „Todesschlafe" des Weibes zusammenfiel. Mit dem Erlöschen der Lust erlosch auch das Leben, die Hirnrinde erreichte und überschritt ihre spezifische Teilungsgrenze, das Individuum löste sich auf — und wurde nun verspeist (vgl. Analoga in der heutigen Tierwelt: Spinne, Gottesanbeterin usw. und siehe § 34, Anm. 1). Grundsätzlich verläuft der Koitus auch heute noch so. nur ist das Angst-, Schmerz- und Trauergefühl im allgemeinen weniger stark ausgeprägt und stirbt der Mann nicht mehr, sondern verfällt bloß noch in einen Zustand höchster Ermattung, in einen tiefen, 278
„todesähnlichen" Schlaf wie auch das Weib von jeher (der Koitus gilt als „bestes Schlafmittel" usw.). Die Erschlaffung des Penis symbolisiert den Verlust, den Tod. Die sexuelle „Befriedigung" ist Analogon zum „Frieden" des Todes, den man im Grabe (Graben, Grube, Fossa, weibliches Genitale), in der Mutter Erde findet; und das Grab liegt auf dem Friedhof, dem Gottesacker (Acker = Symbol des weiblichen Genitales, Gott = Vater, also Gottesacker auch Mutter = Erde), siehe auch § 34, Anm. 2. Bei sehr vielen Menschen sind aber die Angst-, Schmerz- und Trauergefühle, wie auch Todesideen in Verbindung mit dem Koitus noch recht deutlich vorhanden, wie die psychologische Analyse ergibt. Vielfach ist die Angst vor dem Koitus, vor dem Weibe stärker als der Liebeshunger, und die Erektion bleibt aus oder ist nur schwach oder vergeht im Momente der Immissio (auch die Ejakulatio praekox wie gewisse andere Formen der Impotenz gehören hierher), womit zugleich die Abschneidung symbolisiert oder analogisiert ist (Schmerz) und die Trauer eingeleitet wird, die auch sonst post coitum allgemein, wenn auch nur mehr oder minder angedeutet, eintritt. Übrigens interferieren die Gefühlskurven. Der Koitus verläuft also in Analogie zur Amphimixis, zum Geburtsakt, wie zu allen Übergängen, auch (bei den Gehirnwesen) hinsichtlich der begleitenden Gefühle. Übrigens sei darauf aufmerksam gemacht, daß mit dieser Darstellung. nur ein Schema gegeben ist. Die Gesamtkurve des Koitus ist höchstkompliziert, ein „Übergang erster Ordnung". Es sind nicht nur die Genitalien beteiligt. Wohl aber stehen die genitalen Prozesse im Vordergrunde, sind am auffälligsten. Und auch die „genitale Kurve" ist schon hoch kompliziert. So ist das Einströmen des Blutes in die genitalen Hohlräume (Erektion des Penis und der Klitoris) eine „Sättigung" (