Die Drittschutzdogmatik im Spiegel des französischen und britischen Verwaltungsgerichtsverfahrens: Eine vergleichende Untersuchung zur öffentlich-rechtlichen Klagebefugnis am Beispiel des Umweltschutzes [1 ed.] 9783428482993, 9783428082995


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Die Drittschutzdogmatik im Spiegel des französischen und britischen Verwaltungsgerichtsverfahrens: Eine vergleichende Untersuchung zur öffentlich-rechtlichen Klagebefugnis am Beispiel des Umweltschutzes [1 ed.]
 9783428482993, 9783428082995

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STEPHAN GERSTNER Die Drittschutzdogmatik im Spiegel des französischen und britischen Verwaltungsgerichtsverfahrens

Schrüten zurnn Prozessrecht Band 122

Die Drittschutzdogmatik im Spiegel des französischen und britischen Verwaltungsgerichtsverfahrens Eine vergleichende Untersuchung zur öffentlich-rechtlichen Klagebefugnis am Beispiel des Umweltschutzes

Von

Stephan Gerstner

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gerstner, Stephan: Die Drittschutzdogmatik im Spiegel des französischen und britischen Verwaltungsgerichtsverfahrens : eine vergleichende Untersuchung zur öffentlich-rechtlichen Klagebefugnis am Beispiel des Umweltschutzes I von Stephan Gerstner. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zum Prozessrecht ; Bd. 122) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08299-0 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-08299-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm für Bibliotheken

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. im Sommersemester 1994 als Dissertation angenommen worden. Für die Veröffentlichung wurden Rechtsprechung und Literatur auf den Stand von November 1994 gebracht. Mein herzlicher Dank gilt an erster Stelle Herrn Prof. Dr. Rainer Wahl, der die Arbeit intensiv betreut hat. Als sein Mitarbeiter habe ich von ihm über Jahre wertvolle Anregungen und stetige Förderung erfahren. Herrn Prof. Dr. Thomas Würtenberger danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Herr Prof. David Hughes, University of Leicester, hat die Zeit gefunden, mit mir ausführlich die Besonderheiten des britischen Verwaltungsgerichtsverfahrens zu besprechen. Herr Präsident des Verwaltungsgerichts Jean-Marie Woehrling, Strasbourg, hat mir zahlreiche Einblicke in die französische Verwaltungsjustiz vermittelt. Den Angesprochenen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Danken möchte ich ferner der Studienstiftung des Deutschen Volkes für die materielle und immaterielle Förderung seit meiner Studienzeit. Ich danke schließlich meiner Frau Sabine Glocker, die trotz größter Inanspruchnahme durch ihren Beruf und unseren Sohn die Kraft gefunden hat, mich zu entlasten und mir so die Fertigstellung der Arbeit zu ermöglichen. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern. Die bedingungslose Unterstützung, mit der sie meinen Lebensweg begleitet haben, ist mir zum Vorbild geworden. Freiburg, im November 1994

Stephan Gerstner

Inhaltsverzeichnis Einleitung

17

§ 1 Untersuchung5gegenstand der Albeit ................................................................................... 17 § 2 Die Bedeutung der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht ........................................ 22

§ 3 Fragestellung und Gang der Untersuchung .......................................................................... 28

Erster Teil

Das geltende Recht des Klageinteresses in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten in Deutschland, Frankreich und Großbritannien

33

Kapitell: Die Rechtslage in Deutschland ..................................................................................... 34 § 4 Die Klageverfahren ....................•..........................................................................•••................. 34 § 5 Die Schutznormtheorie und Belange des Umweltschutzes ................................................ 43

Kapitell: Die Rechtslage in Frankreich ........................................................................................ 54 § 6 Die Klageverfahren ........................................................••••....................................................... 54 § 7 Das interet pour agir und Belange des Umweltschutzes .................................................... 69

Kapitel3: Die Rechtslage in Großbritannien................................................................................ 75 § 8 Die Klageverfahren ...........................................................•..................................•.••................. 75 § 9 Locus standi und Belange des Umweltschutzes ................................................................... 92

Zwischenergebnis .............................................................................................................................. 'rl

10

lnhaltsveneichnis

Zweiter Teil

Funktion und Reichweite der Klagebefugnis und des subjektiven öffentlichen Rechts im Rechtsvergleich

99

Erster Abschnitt

Geschichtliche Grundlagen eines speziftsch öffentlich-rechtlichen Gerichtsverfahrens

100

Kapitell: Die Diskussion um das Verwaltungsrecht und den Aufbau einer Verwaltongsgeric:htsbarkeit in der zweiten Hälfte des 1!1. Jahrhunderts........................... 101 § 10 Der Conseil d'Etat und die Herausbildung des droit administratif in Frankreich ......... 101

§ 11 Die Judicature Acts (1873 -75) und die Auseinandersetzung mit dem Verwaltungs-

recht in Großbritannien ........................................................................................•.................. 111 § 12 Die Entwicklung des Verwaltungsrechts und der Aulbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland .............•...................•.......................•................................................... 120

Kapitell: Dieneueren Entwicklungen ........................................................................................... 135 § 13 Die Schaffung mehrerer Instanzen und KodifiZierungen auf dem Gebiet der Verwaltungsgerichtsbarkeit ..................................................................••..................................•..... 135

Zwistbenergebnis .............................................................................................................................. 144

Zweiter Abschnitt

Die Aussagekraft des Klageinteresses und die Reichweite des subjektiven öffentlichen Rechts im System eines öffentlich-rechtlichen Gerichtsverfahrens

146

Kapitell: Die Aussagekraft des Klagelnteresses.......................................................................... 146 § 14 Das Klageinteresse als Abbild von subjektivem Rechtsschutz und objektivem Kon-

trollverfahren - der unterschiedliche Inhalt nach dem deutschen, französischen und britischen System .........•...•............................................•........................•..............•..•................ 147 § 15 Das Klageinteresse als Abbild der funktionalen Grenzen einer Verwaltungskontrolle- die gemeinsame Aussage im deutschen, französischen und britischen System ... 158

Inhaltsverzeichnis

11

Kapitell: Die Reichweite des subjektiven öß'entlicben Rechts.................................................. 171 § 16 Die Verknüpfung zwischen dem Ziel des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens und dem subjektiven öffentlichen Recht ..............................•........................................................ 171 § 17 Rahmenbedingungen für die Theorie eines materiellen subjektiven öffentlichen

Rechts ....................................................................................................................•.................... 179

Zwistbenergebnis ...........................••••••..................................•..•...................................•••................. 192

Dritter Teil

Das Individuum als Anwalt öffentlicher Belange Möglichkeiten und Grenzen der Drittschutzdogmatik aus rechtsvergleichender Sicht

194

Erster Abschnitt

Die Rechtsposition des einzelnen und die Kritik an der Schutznormtheorie

195

Kapitell: Die Verfestigung des subjektiven öß'entlicbea Rechts durch den Rikkgriß' auf böberrangiges Recht ................................................................................................ 196 § 18 Materielle Grundrechtspositionen .....................................•.............................................•..... 196

§ 19 Das subjektive Recht und die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ...••..••........•..••. 203 Kapitel 2: Die Erweiterung des subjektiven öß'entlicben Rechts durch das Gebot der Rücksichtnahme und das Rechtsverhältnis ..............•................................................. 208 § 20 Rechte und Interessen ........................•..................•.............................................................•.... 208

§ 21 Der einzelne an der Schnittstelle zwischen Öffentlichem Reeht und Privatrecht ..•....... 214

Kapitel3: Die Abkehr vom klassischen subjektive& öß'entlicbea Recht .................................. 223 § 22 Der Repräsentationsgedanke und verwandte Ansätze ....................................................... 223

Zwischenergebnis .............................................................................................................................. 230

12

Inhaltsverzeichnis

Zweiter Abschnitt

Umweltschutz, Klagebefugnis und subjektives Recht - die Bilanz der Rechtsvergleichung

231

§ 23 Umweltschutz und subjektiver Rechtsschutz ........................................................................ 231 § 24 Klagebefugnis und subjektives Recht .................................................................................... 249

Vrerter Teil

Zusammenfassende Betrachtungen - Grundzüge eines europäischen Verwaltungsgerichtsverfahrens

260

§ 25 Zusammenfassung der Ergebnisse ......................................................................................... 260 § 26 Ausblick: Grundzüge eines europäischen Verwaltungsgerichtsverfahrens ...................... 265

Literaturverzeichnis

270

Abkürzungsverzeichnis A.C. AJ.D.A. al. AöR AtomG BauR BayVBI. BBauBI. Bd. BGB BGH BGHZ BlmSchG BRS BVerwG BWVP C.E. Ch. C.LJ. C.M.L.R. CodeTA-CAA concl. C.P.

D.

D.A. DÖV D.S. DuR DVBI. E E.D.C.E. EuR f(t). Fn.

Appeal Cases Actualit6 Juridique- Droit administratif alinea Archiv des öffentlichen Rechts Atomgesetz Baurecht Bayerische Verwaltungsblätter Bundesbaublatt Band Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundes-Immissionsschutzgesetz Baurechtssammlung Bundesverwaltungsgericht Baden-Württembergische Verwaltungspraxis Conseil d'Etat Chancery Division Cambridge Law Journal Common Market Law Reports Code des Tribunaux administratifs et des Cours administratives d'appel conclusions Common Pleas Dalloz Droit administratif Die öffentliche Verwaltung DallozSirey Demokratie und Recht Deutsches Verwaltungsblatt Entscheidungssammlung (des jeweils angegebenen Gerichts) Etudes et documents du Conseil d'Etat Europarecht folgende; following Fußnote

14

GA. Gaz.Pal. GewArch GG GS i.V.m.

J. J.C.P. J.E.L. JöR J.P.E.L. JurA JuS JZ K.B. L. LBOB.-W. L.J. L.M.E.L.R L.Q.R L.R L.S.

m.E. M.L.R M.R

NJW

N.LJ. NuR NVwZ OVG

p(p).

Abkürzungsverzeichnis

Les grands arrits de Ia jurispNdence administrative, ~. par M. Long, P. Weil, G. Braibant, P. Delvolv~, B. Genevois. 9e ~d. Paris 1990. Gazette du palais Gewerbearchiv GNndgesetz Gesetzsammlung für die Königlichen Preußischen Staaten in Verbindung mit Judge Jurisclasseur periodique Journal of environmentallaw Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Journal of planning and environmentallaw Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung King's Bench Division Partie l~gislative (bei französischen Gesetzen) Landesbauordnung Baden-Württemberg Lord Justice Land management and environmentallaw reports Law quarterly review Lawreports Legal Studies meines Erachtens Modem law review Master of the Rolls Neue Juristische Wochenschrift New law joumal Natur und Recht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Oberverwaltungsgericht

Q.C.

page(s) paragrapbe(s) Publiclaw Queen's Bencb Division Queen's Counsel

R

Partie ~glementaire (bei französischen Gesetzen)

para(s) P.L. Q.B.

RabelsZ

Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht

Rdnr.

Randnummer

RD.P. Rec.

Revue du droit public Recueil des d«isions du Conseil d'Etat (der sog. Recueil Lebon)

Abkürzungsverzeichnis RlW/AWD

RJ.E. RSC

s s.

s s(s).

SCA S.C.L.R Slg.

T. T.C. UPR UTR VBIBW

VetwArch VG VGH Vol. VR VVDStRL VwGO WHG W.L.R ZaöRV ZAU ZfBR ZfW ZPO ZRP

15

Recht der internationalen Wirtschaft/Außenwirtschaftsdieost des Betriebsberaters Rewe juridique de l'environnement Rules of the Supreme Court Sirey Seite(n) section suivant(s) Supreme Court Act Southern californian Jaw review Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Tome Tribunal des Conflits Umwelt- und Planungsrecht Umwelt- und Technikrecht Verwaltungsblätter Baden-Württemberg Verwaltungsarchiv Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof Volume Verwaltungsrundschau Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung Wasserhaushaltsgesetz Weekly law reports Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für angewandte Umweltforschung Zeitschrift für deutsches und internationales Baurecht Zeitschrift für Wasserrecht Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik

Hinweis zur Zitierweise französischer und britischer Literatur und Entscheidungen Französische Literatur und Entscheidungen, die in Zeitschriften veröffentlicht sind, werden grundsätzlieb wie in Deutschland zitiert. Ausnahmen bestehen vor allem bei den großen Zeitschriften Dalloz ( = D.), Sirey ( = S) und Dalloz-Sirey (D.S.). Dort steht am Anfang die Jahreszahl, am Ende die Seitenzahl und dazwischen, durch Punkte abgetrennt, der Teil der Zeitschrift, auf den sieb die Seitenzahl bezieht

(z.B. D. 1963Jur.689 = Dalloz Jahrgang 1963, Partie lurisprudence, Seite 689; S 1901.3.73 = Sirey Jahrgang 1901, Partie 111, Seite 73). Die Angabe des Teils ist vonnöten, weil jeder Teil für

sieb neu durchgezählt wird.

Der entscheidende Unterschied in der britischen ZitieiWeise besteht darin, daß die Jahreszahlen in (hier: eckigen) Klammem und gegebenenfalls die Bandangaben der Angabe der Zeitschrift oder Entscheidungssammlung vorangestellt werden (z.B. [1988) P.L. 402 = Public law Jahrgang 1988, Seite 402; [1992) 51 C.LJ. 138 = Cambridge low joumal Jahrgang 1992, Band 51, Seite 138). Eine Ausnahme bildet der Hinweis L.R. ( = Law reports), der zum Teil vor der Bandangabe erscheint, um darauf hinzuweisen, daß die nach der Jahreszahl stehende Abkürzung sich auf eine der Abteilungen der Law reports bezieht (z.B. [1875) L.R. 10 C.P. 379 =lAw reports, Abteilung Commom pleas cases, Jahrgang 1875, Band 10, Seite 379). In der Regel wird diese Abteilung jedoch ohne diesen Hinweis zitiert (z.B. [1982) A.C. 617 = Law reports, Abteilung Appeal cases, Jahrgang 1982, Seite 617). Die halbamtlichen Law reports dürfen nicht mit den privaten All England Law Reports ( = All E.R.) veiWechselt werden.

Einleitung § 1 Untersuchungsgegenstand der Arbeit

Als Ottmar Bühler im Jahre 1914 seine bis heute wirksame Konzeption des subjektiven öffentlichen Rechts vorstellte, fügte er eine eigene Einschätzung über die Reichweite dieser Formel an1: "Diese Definition soll und kann keine Zauberformel sein, mit der all die Schwierigkeiten, welche die Frage nach dem subjektiven öffentlichen Recht der Theorie und noch mehr der Praxis bis jetzt immer bereitet hat, wie mit einem Schlag beseitigt wären.•

Treffender könnte man die Bedenken, die heute gegen die Schutznormtheorie erhoben werden, kaum zusammenfassen. Kritische Äußerungen begleiten die aus der Bühlersehen Formel hervorgegangene Theorie der subjektiven öffentlichen Rechte von Anfang an. Wiederholt ist sie Gegenstand umfangreicherer Arbeiten geworden. Es hat beständig Versuche gegeben, die Schutznormtheorie zu modifizieren oder sie gänzlich aufzugeben. Trotz dieser zum Teil fundamentalen Kritik hat die Dogmatik bis heute nicht von der Figur des subjektiven öffentlichen Rechts als Ausgangs- und Zielpunkt der Schutznormtheorie Abschied genommen. Ein umfangreiches Schrifttum aus neuerer Zeit scheint im Gegenteil den Beweis anzutreten, daß die Beschäftigung mit dem Thema noch nicht abgeschlossen ist, manche Aspekte noch nicht hinreichend beleuchtet sind. Dieser umfangreichen Literatur wird mit der vorliegenden Untersuchung eine weitere Arbeit hinzugefügt. Dieser Versuch soll gemacht werden, weil hier die in Verbindung mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit bisher wenig verwandte Rechtsvergleichung als Erkenntnismethode dienen soll. Der Schwerpunkt der Untersuchung wird daher nicht in der Suche nach inneren Strukturmerkmalen im Rahmen der deutschen Rechtsordnung liegen, sondern darin, mit Blick auf ausländische Problemlösungen den Zugang zu den Aussagen der Schutznormtheorie und dem subjektiven öffentlichen Recht zu fmden. An dieser Stelle sind Präzisierungen angebracht. Wie der Titel der Arbeit deutlich macht, soll der Untersuchungsgegenstand in zwei Richtungen ein1 Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung. Berlin/Stuttgart/Leipzig 1914, S. 224. 2 Gcrstncr

18

Einleitung

gegrenzt werden. Zum ersten soll Ausgangspunkt der Überlegungen zur Drittschutzdogmatik die öffentlich-rechtliche Klagebefugnis sein. Dieser prozessuale, vom Gerichtsverfahren kommende Zugriff auf die Figur des subjektiven öffentlichen Rechts ergibt sich, worauf noch zurückzukommen sein wird, aus der Notwendigkeit, die Fragestellung aus dem nationalen Recht für den Rechtsvergleich nutzbar zu machen. Wie sich zeigen wird, läßt sich ein der materiellen Dimension der subjektiven öffentlichen Rechte vergleichbares Institut in den Rechtsordnungen der Vergleichsländer nicht fmden, wohl aber ein die Funktionen der Klagebefugnis erfüllendes Konstrukt. Der Zugang über die gerichtlichen Verfahren hat darüberhinaus den Vorteil, die Probleme der Drittschutzdogmatik an der Stelle aufzugreifen, wo sie besonders hervortreten, nämlich in der praktischen Handhabung der Formel in konkreten, vor dem Forum der Justiz verhandelten Konfliktlagen. Die zweite vorzunehmende Präzisierung besteht darin, daß die Beispiele aus der Rechtsprechung dem Bereich umweltrechtlicher Nachbarklagen entnommen werden. Denn in diesem Bereich ist - ähnlich wie auf dem Gebiet des öffentlich-rechtlichen Konkurrentenschutzes - die Frage nach der Legitimation der Drittschutzdogmatik besonders intensiv diskutiert worden. Beide Eingrenzungen sind nachfolgend näher zu betrachten. 1. Unter der "Klagebefugnis" im öffentlich-rechtlichen Gerichtsverfahren soll im vorliegenden Zusammenhang die Problematik des § 42 Abs. 2 VwGO verstanden werden. Diese Festlegung soll terminologischen Unklarheiten vorbeugen, die aus dem teilweise voneinander abweichenden Gebrauch der Begriffe "besondere Sachentscheidungsvoraussetzung für die Anfechtungsklage", "Prozeßführungsbefugnis" und ähnlichen Bezeichnungen herrühren. Eine sachliche Vorentscheidung soll damit nicht getroffen werden. Mit der Wahl der Terminologie, die sich weitgehend eingebürgert hat, ist beispielsweise nicht Stellung dazu bezogen, ob das verwaltungsprozessuale Institut den gleichnamigen Sachentscheidungsvoraussetzungen der anderen Prozeßordnungen, insbesondere der ZPO, vergleichbar ist oder nicht. Unter Klagebefugnis soll vielmehr das in § 42 Abs. 2 VwGO formulierte Sachproblem verstanden werden: "Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein."

Wegen der deutschen Systementscheidung für eine bestimmte Form verwaltungsgerichtlichen Schutzes und der daraus resultierenden Fassung des § 42 Abs. 2 VwGO soll die Bezeichnung "Klagebefugnis" auf die genannte Vorschrift, also den spezifisch deutschen Eintrag in die vergleichende Untersuchung, beschränkt bleiben. Die entsprechenden Institute in Frankreich und Großbritannien werden unter der Bezeichnung "Klageinteresse" gefaßt.

Einleitung

19

Dieser Begriff gibt die jeweilige innerstaatliche Terminologie wieder und fmdet in rechtsvergleichenden Arbeiten - auch unter der Bezeichnung interest to sue- immer wieder Verwendun~. Auch darauf ist im einzelnen noch zurückzukommen. Die Klagebefugnis und die mit ihr zusammenhängende Problematik soll aber nicht umfassend und in allen Anwendungsvarianten behandelt werden. Vielmehr bleibt die Untersuchung auf diejenigen Fallkonstellationen beschränkt, die im deutschen Recht als "Drittanfechtungsklagen" bezeichnet werden. Diese Fälle stellen den eigentlichen Anwendungsbereich der Schutznormtheorie dar. Sie sind das Kernstück der Drittschutzdogmatik. Wenn davon die Rede ist, daß die Drittschutzdogmatik am Beispiel des Umweltschutzes untersucht werden soll, dann ist darunter kein klar umrissener Bereich an Gesetzes- und Fallmaterial zu verstehen. Es soll nicht darauf ankommen, ob die zitierten Entscheidungen nach der Begriffsbildung deutscher Dogmatik sich in das Gebiet Umweltrecht einordnen ließen oder nicht. Rechtsvergleichend würde ein solches, dem deutschen Umweltrecht entnommenes Verständnis schon deswegen Schwierigkeiten bereiten, weil die Umweltbegriffe in den drei Vergleichsländern unterschiedlich verstanden werden. So setzt sich nach Art. ler /oi no 76-629 du 10 jui//et 1976 Relative a Ia protection de Ia nature (Art. L. 200-1 Code Rural) Umweltschutz im französischen Naturschutzrecht aus folgenden Elementen zusammen: "La protection des espaces naturels et des paysages, Ia preservation des especes animales et vegetales, Je maintien des equilibres biologiques auxquels ils participent et Ia protection des ressources naturelles contre toute Jes causes de degradation qui Jes menacent ...•

Eine Folge dieses weitgesteckten Rahmens ist, daß in Frankreich neben dem gesamten Bauplanungsrecht beispielsweise auch das Denkmalschutzrecht in die Darstellungen zum Umweltrecht aufgenommen is~. Der Umweltbegriff im deutschen Recht ist an dieser Stelle enger4 • Abgesehen davon ist systemintern eine trennscharfe Abgrenzung auch in Deutschland nicht zu erreichen. Dies ergibt sich aus der Tatsache, daß die ausschließliche Argumentation mit Belangen des Umweltschutzes wegen § 42 Abs. 2 VwGO nicht zum Erfolg führen würde. Die verwaltungsgerichtliche Anfechtungsklage, die sich ausschließlich auf den öffentlichen Belang Umweltschutz beriefe, wäre wegen der zitierten Vorschrift unzulässig. 2 So in der größeren Arbeit von van Dijk, Judicial review of govemmental action and the requirement of an interest to sue. The Hague 1980. 3 4

So bei Prieur, Droit de I'environnement. 2e ed. Paris 1991, paras 869 ss. (pp. 669 ss.) .

Eine klare Trennung existiert hier jedoch auch nicht; vgl. jüngst Kunig/Vogel, Baurecht als Umweltschutzrecht, JurA 1992, S. 311 ff. 2*

20

Einleitung

Daher ist in Deutschland von vorneherein eine Vermischung mit anderen, privaten Belangen gegeben. Mehr Umweltschutz im Sinne der Verhinderung umweltbelastender Tätigkeiten kann das Endziel eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens sein, es muß aber vermittelt werden über die Rechte des Klägers. Daraus ergibt sich, daß mit "Umweltschutz" im Sinne dieser Untersuchung ein tendenziell weiter Begriff verstanden werden soll. Dadurch bedingt sind beispielsweise Fälle aus dem Baurecht, die man nach engerem Verständnis möglicherweise nicht zum Bereich Umweltschutz rechnen würde, aufgenommen worden. 2. Die Verbindung zwischen Drittschutzdogmatik und Umweltschutz ist gewählt worden, weil diese Kombination in Deutschland besonders heftige Diskussion ausgelöst hat. Der 56. Deutsche Juristentag 1986 hat eine ganze Abteilung dem Thema "Ausbau des Individualschutzes gegen Umweltbelastungen als Aufgabe des bürgerlichen und des öffentlichen Rechts" gewidmet. Bezeichnenderweise beschäftigt sich das Gutachten von Macburger trotz der zweigliedeigen Aufgabenstellung zum überwiegenden Teil mit der Frage nach dem Ausbau des öffentlich-rechtlichen Schutzinstrumentariums. Diese Verfahren werden typischerweise von Privatpersonen geführt, die nicht unmittelbar an dem angegriffenen Verwaltungsverhältnis beteiligt sind, sondern die sich gegen die einem anderen erteilte, staatliche Autorisierung einer umweltbelastenden Tätigkeit wenden. Die damit zur Entscheidung gestellten "Dreiecksverhältnisse" bereiten aber der auf Individualrechtsschutz ausgerichteten Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland Schwierigkeiten. Daher hat gerade der Ruf nach effektiverem Umweltschutz in Deutschland die Frage aufgeworfen, ob das subjektive öffentliche Recht noch eine zeitgemäße Konstruktion darstellt oder nicht vielmehr durch andere Figuren ersetzt werden müßte5 • Im Bereich des Umweltschutzes führt die Systementscheidung der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit zu aus der Sicht der betroffenen Bürger unbefriedigenden Ergebnissen. Diese Rechtschutzlücken rückten in dem Maß in den Mittelpunkt des Interesses, in dem die Sensibilität der Bevölkerung für Belange des Umweltschutzes anstieg. In Situationen wie dieser sind die Gerichte immer wieder neu vor die Frage gestellt, in welche Richtung die unsicheren dogmatischen Trennlinien verschoben werden sollen. So sind sie nach anfänglichem Zögern in steigendem

5 Besonders pointiert Sening, Rettung der Umwelt durch Aufgabe der Schutznormtheorie'?, BayVBI. 1982, s . 428 rr.

Einleitung

21

Maß zur Kontrolle der Verwaltungsmaßnahmen übergegangen6• Inzwischen beginnen sich die Vorzeichen wieder umzukehren. Vor allem unter dem Gesichtspunkt der Kontrolldichte wird die Zurücknahme gerichtlicher Überprüfung administrativen Handeins diskutiert. Die Unsicherheiten ergeben sich aus der Vermengung privater und öffentlicher Interessen, die im Umweltschutz unabhängig von der bereits dargestellten, durch § 42 Abs. 2 VwGO bedingten Problematik zu beobachten ist. Der Umweltschutz ist kein rein öffentliches Interesse, ein Interesse der Allgemeinheit, an dem der einzelne nicht individuell beteiligt sein kann. Ab einem gewissen Grad der Beeinträchtigung schlägt der Schutz des Allgemeingutes Umwelt um in den Schutz der Rechte des einzelnen. Typischerweise betroffen sind die Gesundheit oder das Eigentum der betreffenden Person, die grundrechtlich in Art. 2 Abs. 2 bzw. Art. 14 GG abgesichert sind. Strittig ist im Einzelfall nur der Grad, der erreicht sein muß, damit man von einer individuellen Beeinträchtigung sprechen kann. Es ist dieser in der Sache bedingte Gegensatz zwischen privaten und öffentlichen Belangen, der sich innerhalb der Klagebefugnis gemäß § 42 Abs. 2 VwGO wiederfmdet. Der Kläger, der ein rein öffentliches Interesse geltend macht, wird nicht zur Klage zugelassen. Er muß zumindest auch ein privates Interesse vorbringen können. So kommt es, daß die Klagebefugnis die innerhalb des Belanges Umweltschutz konstatierte Dichotomie wieder aufgreift. 3. Hinzu kommt noch ein weiteres. In der Arbeit ist der Versuch gemacht worden, durch die Rechtsvergleichung mit erweitertem Blickwinkel an die über die Klagebefugnis hinauswirkenden Aussagen der Drittschutzdogmatik heranzutreten. Durch die Bedeutung des subjektiven öffentlichen Rechts jenseits der gerichtlichen Verfahren ergibt sich, ausgehend vom Umweltschutz, eine weitergehende Perspektive. Feldman hat das folgendermaßen ausgedrückt': "Differences over questions of standing reflect diverging opinions about the rote of public Iaw, about the distinction between public and private interests, and about whether individuals have a Iegitimale rote in asserting public interests.•

Der Zusammenhang zwischen Drittschutzdogmatik und dem öffentlichen Recht als Rechtsgebiet, die Strukturierungsleistung, die das subjektive öf-

6 Von der Verwaltungsgerichtsbarkeit als der "eigentlich entscheidenden Institution bei der Genehmigung umweltbelastender Anlagen• ~richt daher Blankenagel, Klagefahige Rechtspositionen, Die Verwaltung 26 (1993), S. 1 ff. (S. 1 f.). 7

Feldman, Public lnterest Litigation, [1992] M.L.R 44 (51).

22

Einleitung

fentliche Recht in diesem Zusammenhang vollbringt, weisen über das reine Prozeßrecht hinaus. §

2 Die Bedeutung der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht

1. Die Rechtsvergleichung als Erkenntnismethode ist bisher in größerem Umfang vor allem auf dem Gebiet des Privatrechts zum Einsatz gekommen8. Sie gewinnt aber in zunehmenden Maß auch im öffentlichen Recht an Bedeutung. Die Gründe dafür fmden sich auf mehreren Ebenen. Zunächst erweist sich auch im öffentlichen Recht ein zunehmendes Bedürfnis, für kompliziertere Probleme Lösungsanregungen aus anderen Rechtsordnungen heranzuziehen. Die lange gehegten Bedenken, daß verschiedene Systeme des öffentlichen Rechts wegen ihrer Eingebundenheit in und Verschränkungen mit dem gesamten Staatswesen im Grunde nicht vergleichbar seien, ist gewichen10• Auch im öffentlichen Recht besteht das Bedürfnis, den "Lösungsvorrat" für bestimmte ungeklärte Probleme zu erweitem und, wo es sieb anbietet, aus dem Rechtsvergleich sogar die "bessere" Lösung einer Frage zu gewinnen11 • Zum Teil ist diese Entwicklung, und das wäre ein zweiter Aspekt, erzwungen worden. Denn die Zahl verwaltungsgerichtlicher Fälle, die eine Form von Auslandsbezug aufzuweisen haben, ist angestiegen. Grenznahe und grenzüberschreitende Umweltbelastungen stellen zunehmend die Anforderung an die Gerichte, fremde verwaltungsrechtliche Systematik aufzugreifen und zu verarbeiten. Die Zahl der verwaltungsgerichtlichen Fälle mit Auslandsberührung wächst12• 8 Wegweisend ist das Werk von Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts. 2 Bde. 2. Aufl. Tübingen 1984. 9 Siehe beispielsweise Bullinger, Unbestimmte Gesetzesbegriffe in der neueren deutschen und französischen Verwaltungsrechtsprechung, in: Festschrift für Hermann Jahrreiß. Köln/Berlin/Bonn/München 1«174, S. 19 ff.; Rivero, Vers un droit commun europeen. Nouvelles perspectives en droit administratif, dans: New perspectives for a common law in Europe, ed. by M. Cappelletti. Aorence 1978, pp. 389 ss. 10 So auch Schmidt-Aßmann, Zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts, in: Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche. München 1993, S. 513 ff. (S. 517). 11 Vgl. auch Kaiser, Vergleichung im öffentlichen Recht, ZaöRV 24 (1963), S. 391 ff. (S. 398 ff.). 12 VJd. etwa die Ausführungen bei Beyerlin, Klagebefugnis von Ausländern, ZaöRV 44 (1984), S. 336 ff.; Grawe, Probleme des Umweltschutzes im deutsch-fran2ösischen Grenzgebiet, ZaöRV 34 (1974), S. 299 ff. (S. 305 ff.) und Grotefels, Gemeinsame grenzüberschreitende Regionalplanung, DYBI. 1993, S. 349 ff. Eine genauere Analyse einiger diesbezüglicher Urteile des BVerwG findet sich bei Blümel, Gesetzliche Regelung der Einwendungs-und Klagebefugnis ausländischer Grenznachbarn?, in: Staat und Völkerrechtsordnung. Festschrift für Karl Doehring. Berlin/New York 1989, S. 89 ff. (S. 96 ff.).

Einleitung

23

Neben diesem transnationalen Bezug hat sich in jüngerer Zeit ein anderer Aspekt in den Vordergrund gedrängt, der zunehmend die Verwaltungsrechtsvergleichung und die Internationalisierung der Verwaltungsrechtswissenschaft erforderlich macht. Der supranationale Charakter des Rechts der Europäischen Gemeinschaft und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes gewinnen immer stärkeren Einfluß auch auf das lange vor diesen Einflüssen sicher geglaubte Verwaltungsrecht Inzwischen haben sich auf europäischem Niveau eigene, dogmatisch hinlänglich durchgearbeitete Institute gebildet, die lange als ureigene, nationale Domäne betrachtet worden sind. Wenn sie, wie beispielsweise der verwaltungsrechtliche Vertrauensschutz, dann abweichend vom nationalen Recht ausgestaltet sind, wird der Ruf nach Einflußnahme auf diese Entwicklungen laut. Den Weg zu einer solchen Einflußnahme weist der EuGH bei der Ausbildung der "allgemeinen Rechtsgrundsätze der Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten"13. Im Zuge der Ermittlung dieser Rechtsgrundsätze greift der EuGH immer wieder auf rechtsvergleichende Erkenntnisse zu den in Frage stehenden Instituten zurück14. Im Bereich der Grundrechte, die gewissermaßen praeter conventionem aus diesen allgemeinen Rechtsgrundsätzen entwickelt worden sind, ist dieser Rückgriff besonders augenfällig15. Die Rechtsvergleichung kann verschiedene Funktionen erfüllen. Mit ihrer Hilfe läßt sich auf der einen Seite, als Auslandsrecbtskunde, die Lösung eines bestimmten Sacbproblems in einem anderen Staat darstellen16. Eine solche Auslandsrechtskunde findet sieb im Ersten Teil der vorliegenden Arbeit. In dieser Hinsicht vermittelt sie Denkanstöße für die Diskussion im nationalen Recht, für die dort stattfindende Gesetzesauslegung und riebterliebe Rechtsfortbildung. Auf der anderen Seite läßt sich, gewissermaßen als anderes Extrem, unter Rückgriff auf rechtsvergleichende Erkenntnisse eine transnationale Rechtsvereinheitlichung vorbereiten, wie dies im Zivilrecht im Bereich des Kaufrechts erfolgreich geschehen ist. Sie kann schließlich, als Rechtsvergleichung im engeren Sinn, ausgebend von den ausländischen 13 14

Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 1. Baden-Baden 1988, S. 69 ff., 89 f., 95.

Zu nennen sind beispielsweise das Urteil des EuGH v. 17.12.1970, Slg. 1970, 1125, 1135 Tz. 4 - lfllernalionale Handelsgesellschaft und die ausführlichen Schlußanträge des Generalanwalts im Urteil v. 21.9.1989, Verb. Rs 46/87 und 227/88, Slg. 1989, 2859, 2884 ff. Hoechst; siehe auch Bothe, Die Bedeutung der Rechtsve!Jleichung, ZaöRV 36 (1976), S. 280 ff. und Rodriguez lglesias, Der Gerichtshof der europäiSChen Gemeinschaften als Verfassungsgericht, EuR 1992, S. 225 ff. (S. 228). Zum Ganzen auch Schwarze, Grundzüge und neuere Entwicklungen des Rechtsschutzes im Recht der Europäischen Gemeinschaften, NJW 1992, S. 1065 ff. (S. 1070). 15 Zwischen Wegen der "formalisierten• und der "freien• Rezeption unterscheidet

Sclunidt-Aßmann, Zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts, in: Festschrift

Peter Lerche (Fn. 10), S. 513 ff. (S. 518 f.).

16 Dazu jüngst wieder Großfeld, Grundfragen der Rechtvergleichung, in: Festschrift für Rudolf Lukes. Köln/Berlin/Bonn/München 1989, S. 655 ff. (S. 655).

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Einleitung

Rechtsordnungen bestimmte Strukturen der eigenen und der fremden Rechtsordnungen aufdecken. Auf dieser Grundlage können fremde Lösungsansätze bei struktureller Gleichartigkeit der Rechtssysteme entweder ausdrücklich übertragen oder bei struktureller Andersartigkeit in ihre jeweiligen Systementscheidungen eingebettet und von den anderen Lösungen abgegrenzt werden. Die vorliegenden Untersuchung ist bestrebt, sich diese zuletzt genannte Funktion der Rechtsvergleichung zunutze zu machen. Die Antworten des französischen und des britischen Rechts auf die Frage, welche Argumente ein vor den Verwaltungsgerichten klagendes Individuum vorbringen muß, um mit seiner Klage zugelassen zu werden, sollen auf ihre Übertragbarkeit bzw. Systemgebundenheit untersucht werden. 2. Die Wahl der Vergleichsländer ist für die Frage nach der verwaltungsgerichtlichen Klagebefugnis auf Frankreich und Großbritannien gefallen. Das bat seinen Grund darin, daß diese beiden Rechtsordnungen, zusammen mit der deutschen, die drei großen Systeme verwaltungsgerichtlicher Kontrolle in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union darstellen17• In Deutschland sind eigene Kontrollinstanzen als Gerichte errichtet worden. In Frankreich erfolgt die Kontrolle zwar durch eigene Institutionen, diese zählten aber lange Zeit - im Falle des Conseil d'Etat bis heute - nicht zur Gerichtsbarkeit im engeren Sinn. In Großbritannien ist es hingegen bis heute nicht zur Ausbildung eigener Kontrollinstanzen gekommen. Die Kontrolle erfolgt durch die Gerichte der aus kontinentaler Sicht ordentlichen Gerichtsbarkeit. Alle drei Systeme haben sieb gegenseitig in unterschiedlicher Intensität beeinflußt. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts fand ein für heutige Begriffe intensiver Austausch zwischen Deutschland und Frankreich, Deutschland und Großbritannien, aber auch zwischen Großbritannien und Frankreich statt. Abgesehen davon haben alle drei Rechtsordnungen mit unterschiedlicher Intensität Modell für den Aufbau einer Verwaltungsgerichtsbarkeit in den anderen europäischen Ländern gestanden18• Der Einfluß Frankreichs war besonders stark in Belgien, Griechenland, Luxemburg und Portugal, ohne daß in diesen Ländern insbesondere in institutioneller Hinsicht vollkommene Parallelität mit den französischen Instanzen hergestellt ist. Britisches Gedankengut fmdet sieb vor allem in Irland, aber auch in Dänemark und den Niederlanden. Deutsche Ein17 Schwarze, 18

Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 1 (Fn. 13), S. 96.

Zum fol8.enden sei insbesondere veiWiesen auf Sch!farze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 1 (Fn. 13), S. 123 ff.; rechtsvergleichende Uberlegungen auch bei Fromont, Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich und Italien, in: Die Entwicklung der ÖSterreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der ÖSterreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit Wien/New York 1976, S. 127 ff.

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flüsse sind vor allem in Dänemark und den Niederlanden zu spüren. Schon diese Zusammenstellung zeigt, daß eine Kombination verschiedener Elemente möglich ist und auch stattfmdet. Insbesondere vor dem Hintergrund, daß die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Quelle supranationalen Europarechts aus dem Vergleich der Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten gewonnen werden, kann daher die Aufarbeitung verwaltungsgerichtlicher Institute in Deutschland, Frankreich und Großbritannien eine Art Leitfunktion entwickeln. Aus diesen drei Rechtsordnungen lassen sich möglicherweise erste Grundzüge eines europäischen Verwaltungsgerichtsverfahrens ableiten. 3. Rechtsvergleichendes Arbeiten muß jedoch zwei Gesichtspunkte berücksichtigen: Die Thematik muß sowohl für die Darstellung der Rechtslage in den einzelnen Ländern als auch für die sieb daran ansebliessende Rechtsvergleichung im engeren Sinne nutzbar sein19• Das bedeutet für die vorliegende Untersuchung, daß sowohl der Begriff der Verwaltungsgerichtsbarkeit als auch die in den Verfahren erscheinende Klagebefugnis verallgemeinert werden muß, um auf Frankreich und Großbritannien übertragbar zu sein. Wie angedeutet könnte eine institutionelle Abgrenzung der Verwaltungsgerichtsbarkeit allenfalls auf die Rechtsschutzsysteme in Frankreich und Deutschland angewandt werden. Zumindest für Großbritannien kann auf eine inhaltliche Festlegung dieser Tätigkeit nicht verzichtet werden. Eine solche Festlegung hat • ebenfalls für die Zwecke der Rechtsvergleichung • kürzlich Fleiner-Gerster vorgenommen:ID: "VeiWaltungsgerichtsbarkeit ist die Überprüfung von Maßnahmen, Handlungen, Unterlassungen oder Entscheidungen der Regierung und der VeiWaltung auf ihre Rechtmässigkeit durch ein für das öffentliche Recht zuständiges unabhängiges Gericht in einem unabhängigen Verfahren.•

Dieser Begriff ist, wie sich im einzelnen noch zeigen wird, selbst auf das britische Recht übertragbar, das keine abgegrenzte Gerichtsbarkeit für verwaltungsgerichtliche Klagen kennt. Der Mangel an institutioneller Absonderung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit hat nicht verhindert, daß sich auch in Großbritannien für die Überprüfung der Verwaltung bestimmte Verfahren mit eigenen Regeln gebildet haben.

19 Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 1. Köln/Berlin/Bonn/München 1969, Einleitung XVI.

:ID Fleiner-Gerster, Wem Gott ein Amt gibt, gibt er auch Verstand, in: Das Menschenbild im Recht. Festgabe Universität Freiburg/CU 1990, S. 141 ff. (S. 150).

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Für alle Verfahren muß gefragt werden, inwieweit die Klagebefugnis, wie sie in Deutschland ihre Ausprägung in § 42 Abs. 2 VwGO gefunden hat, verallgemeinert werden kann. Die Antwort ergibt sich aus der Funktion, welche dieses Institut erfülle•. Sie besteht darin, aus einer potentiell unbegrenzten Anzahl von Einzelklägern diejenigen auszusondern, die kein wie auch immer geartetes Interesse an dem gesamten Verfahren nachweisen können22• Die Entscheidung, wer die gerichtliche Kontrolle soll auslösen können, hängt eng mit dem Ziel zusammen, das mit dem angestrengten Verfahren verfolgt wird. Diese Ziele lassen sich nach unterschiedlichen Gesichtspunkten klassifizieren. Für den vorliegenden Rechtsvergleich, der seinen Ausgangspunkt in der Frage nach der Anfechtungslegitimation nimmt, ist die Einteilung in Verfahren des contentieux objectif und des contentieux subjectif, das heißt in objektive Kontrollverfahren und Verfahren des subjektiven Rechtsschutzes, gewählt worden. Diese Unterscheidung, die namentlich von Uon Duguit entwickelt worden ist'\ klassifiZiert die einzelnen Klagearten nach der ihnen zugrundeliegenden Streitfrage24• Geht es darum, die objektive Rechtsmäßigkeit einer Verwaltungsmaßnahme zu überprüfen, handelt es sich um einen contentieux objectif. Ein contentieux subjectif hingegen hat den Schutz subjektiver Rechte zum Ziel: In ihm wird festgestellt, ob es zu einer Verletzung eines Individualrechts gekommen ist und wie diese Verletzung ausgeglichen werden soll. Verfahren nach dem contentieux objectif ließen sich theoretisch als actio popularis ausgestalten. Klageberechtigt wäre schlechthin jedermann. Der Anfechtende müßte sich in keiner Weise legitimieren. Diese Form gerichtlicher Kontrolle ist, wie sich erweisen wird, in keiner der drei Rechtsordnungen verwirklicht. Sie soll an dieser Stelle erwähnt werden, weil sie als Argumentationsfigur immer wieder in der wissenschaftlichen Diskussion zu fmden ist und unterschieden werden muß von der Interessentenklage in einem weiteren Sinn25• Der Interessent muß eine Beziehung zum Verfahren nachweisen, der Popwarkläger nicht. Allein die 21 Zur Funktion als methodischem Richtpunkt der Rechtsvergleichung auch Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung. 2. Aufl. München 1987, S. 25 ff. 22 Als rechtsvergleichend relevante Funktion auch herausgestellt bei van Dijk, Judicial Review (Fn. 2), p. 21. 23

Duguit, Traite de droit constitutionnel, T. 2. 2e ed. Paris 1923, pp. 308 ss. (pp. 324 s.).

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Dazu und zum folgenden Chapus, Droit du contentieux administratif. 3e ed. Paris 1991, para 148 (pp. 126 s.). . 25 Eine Einengung, wie sie bei Skouris (Verletztenklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozeß. Köln/Berlin/Bonn/München 1979, S. 11 f.) vorgenommen wird, nämlich eine Festlegung des Be!P'!ffs der "lnteressentenkla~e· auf diejeni~en Verfahren, bei denen der Kläger ein Interesse mcht nur an einer gerichtheben Entscheidung, sondern auch an der Aufhebung des angegriffenen Aktes hat, soll an dieser Stelle nicht erfolgen. Interessent ist derjenige, der eine irgendwie geartete Verbindung zum Streitgegenstand, die auch tatsächlicher Art sein kann, nachweisen kann.

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Tatsache, daß diese Beziehung des Klägers nicht auf rechtlich geschützten Interessen beruhen muß, macht ihn noch nicht zum quivis ex populo21>. Welcher Art die Interessen sein können und wie sie in Verbindung mit der Systemenscheidung für einen contentieux objectif oder contentieux subjectif gebracht werden, wird sich im Rechtsvergleich erweisen. Verfahren nach dem contentieux subjectif hingegen erscheinen als Verletztenklagen: Es klagt der Gewaltunterworfene, der durch eine Maßnahme der Verwaltung verletzt, das heißt in seinen Rechten betroffen wird27• Diese Grundmodelle sind, wie häufig zu beobachten, in keiner der drei Rechtsordnungen in ihrer Reinform verwirklicht. Sie bieten aber für die vorliegende Arbeit eine wichtige Orientierungshilfe, anband derer die verschiedenen, eine Systementscheidung absichernden Voraussetzungen eingeordnet werden können. Daher wird auf sie immer wieder zurückzugreifen sem. Wie sich erweisen wird, kennt sowohl das französische als auch das britische Verwaltungsgerichtsverfahren mit dem interet pour agir bzw. dem locus standi - auch standing genannt - ein Institut, das die genannte Funktion für das verwaltungsgerichtliche Verfahren erfüllt. In dieser Form läßt sich die an der deutschen Drittschutzdogmatik ansetzende Fragestellung daher auf die fremden Rechtsordnungen übertragen. Ergänzend sei an dieser Stelle angefügt, daß exakterweise die Untersuchung über das britische Recht zumindest das schottische Recht gesondert behandeln müßte. Wollte man das Vereinigte Königreich als ganzes einbeziehen, wäre darüberhinaus Nordirland zu berücksichtigen. Wie sich im weiteren Verlauf jedoch erweisen wird, liegt der Wert des Vergleiches mit der britischen Rechtsordnung in deren prinzipiell anderem Ausgangspunkt. Insofern hätte ein detaillierter Einbezug der genannten Teilrechte den Umfang der Arbeit nur unnötig erweitert28• Abgesehen davon darf man dem englischen Recht innerhalb des Vereinigten Königreichs eine gewisse LeitCunktion zusprechen, die es für die vorliegenden Zwecke erlaubt, die Betrachtungen auf diesen Bereich zu konzentrieren. 4. Die Ausführungen deuten bereits an, daß sich eine Untersuchung in diesem Bereich nicht auf eine der beiden klassischen Methoden der Rechts26 Daher greift es m.E. zu kurz, die Funktion des§ 42 Abs. 2 VwGO allein in der "Abwehr der Popularklage• zu sehen, wie es be~ielsweise bei Neumeyer, Die Klagebefugnis im Verwaltungsprozeß. Berlin 1979, S. 17 gesch1eht.

Z7

Vgl. Slwuris, Verletztenklagen und Interessentenklagen (Fn. 25), S. 10.

28

Eine konzise Darstellung des relevanten schottischen Rechts findet sich bei Supper-

stonejGoudje, Judicial review. London 1992, pp. 401 ff.; umfassend jüngst Tienumn, Gerichtliche Kontrolle der Verwaltung in Schottland. Berlin 1988 (zugl. Diss. Tübingen 1987).

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Vergleichung- Vergleich der Systeme einerseits, Vergleich der Institutionen andererseits - festlegen läßt29 • Der prinzipielle Ansatzpunkt der vorliegenden Arbeit liegt im Vergleich der Institutionen. Das bedingt die Frage nach der Klagebefugnis. Andererseits erlaubt es insbesondere die Vielschichtigkeit eines gerichtlichen Kontrollverfahrens über die Tätigkeit der Verwaltung nicht, auf systematische Hintergründe ganz zu verzichten. Die geschichtliche Entwicklung muß in den hier wesentlichen Aspekten ebenso beleuchtet werden wie die Struktur des öffentlichen Rechts in den Vergleichsländern, um der Gefahr zu entgehen, isoliert die Lösung einer begrenzten Sachfrage auf ein anderes Rechtssystem zu übertragen, ohne die Korrekturen und Konsequenzen an anderer Stelle mitzubedenken. §

3 Fragestellung und Gang der Untersuchung

1. Vor dem Hintergrund der beiden vorangegangenen Paragraphen kann nun die Fragestellung der Arbeit formuliert werden.

Mit Hilfe des Vergleiches der deutschen, französischen und britischen Rechtsordnung soll eine Antwort auf die Frage gegeben werden, ob eine Aufgabe der Drittschutzdogmatik in Deutschland angezeigt ist, weil sie Unzulänglichkeiten beim Schutz von in der Bevölkerung als wichtig angesehenen, öffentlichen Belangen wie dem Umweltschutz aufweist. Diese Fragestellung soll in drei aufeinander aufbauenden Schritten behandelt werden. Zunächst muß geklärt werden, ob überhaupt das Klageinteresse Ausdruck einer bestimmten Systementscheidung ist, denn wenn ein solcher Zusammenhang nicht besteht, bleiben Modifikationen der Schutznormtheorie ohne Rückwirkungen auf die deutsche Systementscheidung und damit weitgehend unbedenklich. Sollte sich ein solcher Zusammenhang jedoch ergeben, wird auf einer zweiten Stufe zu untersuchen sein, ob nicht wenigstens Änderungen in der Schutznormtheorie ohne Auswirkungen auf die materielle Ausgestaltung der Position des einzelnen gegenüber dem Staat und die Systematik des öffentlichen Rechts überhaupt bleiben. Denn dann müßte im Falle einer Modifikation von Drittschutzdogmatik und Systementscheidung nicht die Struktur des gesamten öffentlichen Rechts überdacht werden. Wenn hingegen auch dies zu bejahen ist, muß in einer dritten Stufe eine wertende Betrachtung der Konsequenzen unterschiedlicher Systementscheidungen und der Berührungspunkte der Pole Klagein29 Zu den Methoden ausführlich DavidjGrasmann, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart. 2. dt. Aufl. München 1989, S. 31 ff.; zwischen "Makro-" und "Mikrovergleichung• unterscheidet Rheinstein, Rechtsvergleichung (Fn. 21), S. 31 ff.

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teresse, subjektives öffentliches Recht und Struktur des öffentlichen Rechts als Rechtsgebiet getroffen werden. Der Rechtsvergleich und die Verschränkung der drei verschiedenen Schritte bedingt, daß die beiden ersten Schichten der Fragestellung gemeinsam im Zweiten Teil der Untersuchung aufgearbeitet werden, um die dort gefundenen Ergebnisse in der wertenden Betrachtung und dem Gesamtergebnis des Rechtsvergleichs, die im Dritten Teil erfolgen, berücksichtigen zu können. 2. Im einzelnen gliedern sich die drei Hauptteile der Arbeit wie folgt.

a) Der Erste Teil "Das geltende Recht des Klageinteresses in öffentlichrechtlichen Streitigkeiten in Deutschland, Frankreich und Großbritannien" liefert als darstellender Teil die Grundlage für die Rechtsvergleichung. Aufgezeigt werden soll, ob und inwieweit die Vergleichsländer unterschiedliche Systementscheidungen treffen und wie sich diese Unterschiede auf die Berücksichtigung des öffentlichen Belangs Umweltschutz im Rahmen des Klageinteresses auswirken. Die Darstellung zum deutschen Recht ist dabei etwas knapper gehalten als bei den beiden ausländischen Rechtsordnungen. Um die Vergleichbarkeit zu erleichtern, erfolgt die Aufarbeitung für jedes einzelne Land in einem jeweils eigenen Kapitel und dort in einem Zweischritt. Zunächst sind die grundsätzlich zur Verfügung stehenden Klageverfahren dargestellt, um einen Überblick über das System der Verwaltungskontrolle zu gewinnen. Gleichzeitig wird ermittelt, welches dieser Verfahren für die in Frage stehenden Drittklagen im Umweltschutz am bedeutsamsten ist. In einem zweiten Schritt wird dann das Klageinteresse, das speziell für diese Verfahren gefordert wird, und die Frage danach behandelt, inwieweit in diesem Prüfungspunkt öffentliche Belange ohne Schwierigkeiten berücksichtigt werden können. Es wird sich erweisen, daß die Vergleichsländer nicht nur unterschiedliche Systementscheidungen getroffen haben, sondern daß diese Systementscheidungen auch hinsichtlich der Berücksichtigung öffentlicher Belange zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Damit ergibt sich die Notwendigkeit, die drei Schritte der oben genannten Fragestellung zu bearbeiten. b) Der Zweite Teil "Funktion und Reichweite der Klagebefugnis und des subjektiven öffentlichen Rechts im Rechtsvergleich" behandelt die ersten beiden Schritte. Er gibt die Antwort auf die Fragen, ob das Klageinteresse als Ausdruck einer bestimmten Systementscheidung anzusehen ist und ob sich Aussagen zum Klageinteresse in der materiellen Position des einzelnen gegenüber dem Staat fortsetzen. Diese Analyse bringt es mit sich, daß im

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Zweiten Teil der Arbeit der Bereich des Umweltschutzes vorübergehend verlassen wird, da die Erarbeitung der geschichtlichen und dogmatischen Grundlagen von Klagebefugnis und subjektivem öffentlichen Recht bei einer Einengung auf diesen Bereich notwendigerweise unvollständig bleiben müßte. Auch ist in der Überschrift des Zweiten Teils bewußt der Ausdruck Klagebefugnis gewählt worden, da es im Rechtsvergleich um die Durchleuchtung des spezifisch deutschen Klageinteresses im Verwaltungsgerichtsverfahren gehen soll. Aus der Funktion, die die Klagebefugnis und von ihr ausgehend das subjektive öffentliche Recht hat, soll vor dem Hintergrund des Rechtsvergleichs ermittelt werden, welche Reichweite beide Institute und insbesondere das subjektive öffentliche Recht im System des öffentlichen Rechts haben. Der Zweite Teil der Arbeit zerfällt dabei in einen geschichtlichen Teil, den Ersten Abschnitt "Geschichtliche Grundlagen eines spezifiSch öffentlichrechtlichen Gerichtsverfahrens", und in einen darauf aufbauenden analysierenden Teil, den Zweiten Abschnitt "Die Aussagekraft des Klageinteresses und die Reichweite des subjektiven öffentlichen Rechts im System eines öffentlich-rechtlichen Gerichtsverfahrens". Die Zielsetzung dieser beiden Abschnitte ist näher zu erläutern. Der Erste Abschnitt geht von der These aus, daß alle drei Vergleichsordnungen gewissermaßen zwangsläufig ein vom ordentlichen Gerichtsprozeß verschiedenes Kontrollverfahren zur Überprüfung administrativer Entscheidungen entwickelt haben, weil sie - wenn auch mit unterschiedlicher Zielsetzung- die besondere Stellung der Verwaltung gegenüber dem Privaten erkennen und ihr gerecht werden wollen. Die Befugnis zur Gesetzeskookretisierung und der daraus resultierende Eigenbereich der Verwaltung bedingen diese Entwicklung. Im Kapitel 1 "Die Diskussion um das Verwaltungsrecht und den Aufbau einer Verwaltungsgerichtsbarkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts", das in drei Paragraphen die Entwicklung in Frankreich, Großbritannien und Deutschland behandelt, wird sich zeigen, daß sowohl in Frankreich wie in Deutschland die Diskussion um eine eigene Verwaltungsgerichtsbarkeit und damit zusammenhängend um ein eigenes Verwaltungsrecht vor allem um zwei Pole kreist: Zum einen um die Frage, wo die Besonderheit der Streitigkeiten zwischen Privaten und dem Staat als Exekutive liegt, und zum anderen um die Frage, welche Aufgabe der Judikative bei der Schlichtung dieser genannten Streitigkeiten zukommt. In Großbritannien wehrt man sich zunächst gegen beide Entwicklungen und ist damit für die Klagen gegen die Verwaltung auf andere Wege angewiesen. Wie Kapitel 2 "Die neueren Entwicklungen" jedoch zeigt, findet die Erörte-

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rung der beiden Fragen in Großbritannien dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt. Damit sind die Grundlagen für den Zweiten Abschnitt geschaffen. Er stellt ein Kernstück der Arbeit dar, weil er die Zusammenhänge zwischen Klageinteresse und Systementscheidung - daher "Aussagekraft des Klageinteresses" - und ausgehend von der prozessualen Bedeutung des subjektiven öffentlichen Rechts dessen über den Prozeß hinausreichende Bedeutung - daher "Reichweite des subjektiven öffentlichen Rechts"- aufzuzeigen versucht. Damit beantwortet er in seinem Kapitel 1 "Die Aussagekraft des Klageinteresses" den ersten Schritt der Fragestellung der Arbeit, nämlich die Frage, ob und wie weit das Klageinteresse Ausdruck einer bestimmten Systementscheidung ist. Dabei ergibt sich eine wesentliche Erkenntnis, die durch die weitere Untersuchung bis in das Gesamtergebnis in § 24 fortgetragen wird. Es ergibt sich nämlich, daß contentieux subjectif und contentieux objectif in sehr unterschiedlicher Weise auf die im historischen Teil ermittelte Sachstruktur, die Eigenbereiche der Verwaltung, antworten. Die im deutschen Recht als System eines contentieux subjectif durch die Zielsetzung des Prozesses selbst, den Schutz subjektiver Rechte, bereits beantwortete und daher in der Klagebefugnis nicht mehr problematisierte Frage nach der Kontrollkompetenz der Judikative wird im System des contentieux objectif als eigener Prüfungspunkt im Rahmen des Klageinteresses erst noch aufgeworfen. Ausgehend von dieser prozessualen Betonung der privaten Belange im contentieux subjectif kann dann im Kapitel 2 "Die Reichweite des subjektiven

öffentlichen Rechts" der zweite Schritt der Fragestellung der Arbeit beantwortet werden, nämlich die Frage, ob dem subjektiven öffentlichen Recht über den Prozeß hinaus Bedeutung für die materielle Ausgestaltung der Position des einzelnen gegenüber dem Staat und die Systematik des öffentlichen Rechts überhaupt zukommt. An diesem Punkt wird auch die Abgrenzung der subjektiven öffentlichen Rechte von den subjektiven Privatrechten aufzuwerfen sein. Denn über den Gerichtsbegriff ist die Figur des subjektiven Privatrechts als Vorbild in die Diskussion um den Streitgegenstand des Verwaltungsgerichtsverfahrens hineingebracht worden, ohne jedoch in das - wie sich gezeigt hat - spezifisch öffentlich-rechtliche Gerichtsverfahren vollkommen übertragbar zu sein. c) Vor diesem Hintergrund dringt der Dritte Teil "Das Individuum als Anwalt öffentlicher Belange - Möglichkeiten und Grenzen der Drittschutzdogmatik aus rechtsvergleichender Sicht" zum dritten und entscheidenden Schritt der Fragestellung der Arbeit, nämlich der wertenden Betrachtung

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der unterschiedlichen Konsequenzen eines contentieux subjectif und eines contentieux objectifvor. Denn die hier zu gebende Antwort stellt zugleich die Antwort auf die Frage dar, ob die Forderung, das Individuum solle auch den Anwalt öffentlicher Belange stellen können, die Aufgabe der Drittschutzdogmatik rechtfertigt. Um die aus dem Rechtsvergleich zu gewinnenden Wertungsgesichtspunkte besser vor Augen zu haben, widmet sich dazu der Erste Abschnitt "Die Rechtsposition des einzelnen und die Kritik an der Schutznormtheorie" den Reformvorschlägen zur Drittschutzdogmatik. Er nimmt dazu den im Zweiten Teil der Arbeit zurückgestellten Bereich des Umweltschutzes wieder auf. Die Reformansätze werden insbesondere unter den die Systementscheidung auszeichnenden Gesichtspunkten betrachtet, die sich im Rechtsvergleich aufweisen ließen. Es sind dies neben der Bedeutung der Grundrechte als Umschreibungen der individuellen Rechtssphäre gegenüber dem Staat die Überschneidungsbereiche zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht und schließlich das Problem der Sachwalterklage. Der Zweite Abschnitt "Umweltschutz, Klagebefugnis und subjektives Recht - die Bilanz der Rechtsvergleichung" enthält dann in zwei Paragraphen das Gesamtergebnis der Arbeit. § 23 "Umweltschutz und subjektiver Rechtsschutz" behandelt die Querverbindungen zwischen Systementscheidung und subjektivem öffentlichen Recht und § 24 "Klagebefugnis und subjektives Recht" schließt die Beantwortung der Fragestellung der Arbeit mit Überlegungen zur Einstellung öffentlicher Belange in eine System des contentieux subjectif ab. d) Der Vierte Teil schließlich faßt die Ergebnisse zusammen und enthält einen Ausblick auf Grundzüge eines - aus dem Rechtsvergleich gewonnenen - europäischen Verwaltungsgerichtsverfahrens.

Erster Teil

Das geltende Recht des Klageinteresses in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten in Deutschland, Frankreich und Großbritannien Die Klagebefugnis oder, verallgemeinernd, das Klageinteresse ist kein isotierbares Institut des Verwaltungsprozeßrechts. Die Frage, welche Funktion es erfüllt, und die Frage, welche inhaltlichen Anforderungen an das Klageinteresse zu stellen sind, bedingen sich gegenseitig. Gewissermassen als Klammer zwischen Funktion und Inhalt dient die Systementscheidung, die eine bestimmte Rechtsordnung im Hinblick auf den gerichtlichen Schutz gegen die Exekutive getroffen hat. Die folgende Darstellung soll das Material für die Diskussion dieser wechselseitigen Verschränkungen bereitstellen, indem sie aufweist, daß sich öffentliche Belange ohne Schwierigkeiten nur in objektiven Kontrollverfahren, nicht hingegen in subjektive Rechtsschutzverfahren einbauen lassen. Nur in objektiven Kontrollverfahren kann sich der einzelne zum Anwalt öffentlicher Interessen machen. Um den Vergleich der drei Rechtsordnungen zu erleichtern, wurde versucht, das deutsche, französische und britische System jeweils nach demselben Muster aufzuarbeiten. Im ersten Paragraph jeder Darstellung erfolgt zunächst die Einordnung des Verwaltungsgerichtschutzes in die Grundkategorien subjektiver Rechtsschutz und objektives Kontrollverfahren. Es geht anschließend darum, die generellen Klagevoraussetzungen für die Drittanfechtungsklage und ihre ausländischen Pendants zu betrachten. In einem dritten Schritt ist herauszuarbeiten, wie das Klageinteresse in der für den Umweltbereich wichtigsten Klageart ausgeformt wird. Der zweite Paragraph jeder Darstellung greift die Ergebnisse auf und behandelt zum einen die Frage, wie sich der Umweltschutz als öffentlicher Belang in die ermittelte Systementscheidung integrieren läßt. Zum anderen soll anband einzelner Fälle anschaulich gemacht werden, wann das Klageinteresse bejaht und wann es verneint wird, um ein plastischeres Bild von den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der drei Vergleichsordnungen zu erhalten. 3 Gcrslncr

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1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

Kapitell: Die Rechtslage in Deutschland § 4 Die Klageverfahren

1. Das System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes in Deutschland wird häufig als "weitreichend" oder sogar "lückenlos" beschrieben. Diese Feststellung läßt sich im groben auf drei Grundbedingungen stützen, die in ihrer Kumulation und im Vergleich mit Frankreich und Großbritannien charakteristisch für das deutsche System sind: die verwaltungsgerichtliche Generalklausel (§ 40 VwGO), die Existenz einer Leistungsklage und die (weitgehende) Unabhängigkeit des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes von der Handlungsform der Verwaltung. Alle drei Charakteristika sind auf verschiedenen Ebenen angesiedelt, nähern sich - bildlich gesprochen - schrittweise dem Rechtsschutz suchenden Individuum. Das macht es notwendig, sie in Kürze einzeln zu beleuchten. a) Die Einführung der Generalklausel bedeutete die endgültige Abkehr von den Enumerativsystemen früherer Tage, wie sie in unterschiedlichen Ausformungen in den einzelnen deutschen Staaten existierten. Die Verwaltungsgerichte sind nicht mehr darauf angewiesen, daß ihnen bestimmte Rechtsmaterien ausdrücklich zur Entscheidung zugewiesen sind. Wie die ordentlichen Gerichte vorbehaltlich spezieller Sonderzuweisungen für alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen zuständig sind (§ 13 Gerichtsverfassungsgesetz), entscheiden die Verwaltungsgerichte • wiederum unter Vorbehalt spezieller Sonderzuweisungen - in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art (§ 40 VwGO). Damit lautet die Frage, ob das vom Kläger angerufene Gericht zuständig ist, in beiden Zweigen der Gerichtsbarkeit gleich: Welchem Rechtsgebiet sind die für die Entscheidung maßgeblichen Normen zuzuordnen? Auf dieser Ebene fungiert der Kläger sozusagen nur als Stichwortgeber. Die Prüfung, ob eine Norm dem Privat- bzw. dem Öffentlichen Recht zuzuordnen ist, entscheidet sich unabhängig vom konkreten Rechtsschutzbegehren, genauer: unabhängig von individuell qualifizierten und differenzierten Merkmalen. Die Unterscheidung der beiden Materien, Zivilrecht hier und Verwaltungsrecht da, ist weder gesetzlich normiert1, noch gibt es eine über diese Frage befmdende, eigene Instanz wie das Tribunal des Conflits in Frankreich. Entschieden werden die streitigen Abgrenzungsfragen teils von den Gerichten, teils von der wissenschaftlichen Dogmatik und im Zusam1 Vielmehr hat der historische Gesetzgeber bewußt auf eine Begriffsbestimmung im Rahmen des § 40 VwGO verzichtet; Redekerjv.Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung. Kommentar. 10. Aufl. Stuttgart/Berlin/Köln 1991, § 40 Rdnr. 6.

Kapitel 1: Die Rechtslage in Deutschland

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menspiel beider. Eine Patentlösung ist bisher nicht gefunden, doch ist eine Vertiefung der dogmatischen Feinheiten an dieser Stelle nicht notwendii. Eine Kriterium für die Einstufung als öffentlich-rechtliche Streitigkeit ist nach wie vor das Vorliegen eines Über-Unterordnungs-Verhältnisses, das heißt die Tatsache, daß die Verwaltung Befehl und Zwang ausüben kann (sog. Subjektionstheorie). Fehlt ein eindeutiges Subordinationsverhältnis, dann ist die zugrundeliegende Norm bzw. der das Handeln erfassende Sachbereich zu untersuchen. Berechtigt und verpflichtet er die Verwaltung gerade in ihrer Funktion als Träger öffentlicher Gewalt, dann ist die Streitigkeit öffentlich-rechtlicher Natur (sog. Subjektstheorie)3 • b) Die zweite Besonderheit des deutschen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, die es isoliert betrachtet mit dem britischen System, nicht jedoch mit dem französischen teilt, ist die Existenz einer Leistungsklage, das heißt eines Verfahrens, mit dem die Verwaltung generell zum Handeln, oder - in der Unterform der Verpflichtungsklage - sogar zum Erlaß eines Verwaltungsaktes verurteilt werden kann (§§ 43 Abs. 2 bzw. 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGOt Hinter einer solchen Klageart steht zunächst ein spezielles Verständnis von Gewaltenteilung. Durch den Erlaß eines Verpflichtungsurteils übernimmt die Judikative punktuell exekutivische Funktionen. Die auf ein solches Urteil hin ergehende Entscheidung stammt nur noch formal, nicht jedoch inhaltlich von der Verwaltung. Die Bedeutung der Existenz einer Leistungsklage erschöpft sich aber nicht im skizzierten speziellen Verständnis des Prinzips der Gewaltenteilung. Man kann noch einen Schritt weitergehen. Das ergibt sich aus folgendem: Aus eigener Machtvollkommenheit kann das Gericht trotz der ihm eingeräumten gestalterischen Möglichkeiten nicht tätig werden. Das Gericht kann nicht in der Art einer allgemeinen Rechtsaufsichtsbehörde immer dann eingreifen, wenn es die Verwaltung entgegen einer ihr obliegenden Pflicht unterlassen hat, zu handeln. Zu einem solchen judikativen Eingriff kommt es erst, wenn sich ein Individuum durch die Unterlassung in seineo Rechten verletzt fühlt und sich zum Schutz dieser Rechte an das Gericht wendef. Auf dem Boden 2

Bezeichnenderweise verzichten Redekerjv.Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung (Fn. 1),

§ 40 Rdnr. 6 ff. weitgehend auf generelle Abgrenzungskriterien und gehen bereichsspezifisch

vor.

3 Dazu statt aller Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung. Kommentar. 10. Auf!. München 1994, § 40 Rdnr. 11. 4 Auch Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozeß. Köln/BerlinjBonn/München 1979, S. 2 sieht in der Leistungsklage eine aus rechtsvergleichender Sicht "Eigentümlichkeit" der deutschen Rechtsordnung.

s Schon v. Sarwey, Das öffentliche Recht und die Verwaltungsrechtspflege. Tübingen 1880, S. 78 hat dieses Prinzip beschrieben: "Soweit daher der Einzelne, dessen Rechtssphäre durch die Verwaltung berührt wird, sich hiebei beruhigt, fehlt jeder Anlaß, die Rechtsprechung in Thätigkeit zu sezen [sie), ...• 3*

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1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

dieser These, daß namentlich nicht die Beziehung Exekutive/Judikative und der Wunsch, der Judikative punktuell Macht gegenüber der Exekutive zu verschaffen, sondern das in seinen Rechten beeinträchtigte Individuum am Ende des Hebels Leistungsklage steht, läßt sich auch erklären, warum die nahezu einhellige Meinung in Rechtsprechung und Lehre die streng genommen nur für die Verpflichtungsklage verlangte Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) auf die allgemeine Leistungsklage überträgt6• Die Verschiebung der Gewichte innerhalb der staatlichen Gewalten ist kein Wert an sich, sondern soll nur stattfmden, wenn ein betroffenes Individuum eine Notwendigkeit dafür sieht. Die Leistungsklage führt damit nicht zu einer generellen Gewichtsverlagerung von der Exekutive zur Judikative, sondern setzt die Indivdualbezogenheit der Anfechtungsklage als klassischer verwaltungsgerichtlicher Klageart für Leistungsansprüche gegen die Verwaltung fort. c) Die VwGO sieht noch auf einer dritten Ebene eine Erweiterung der Einwirkungsmöglichkeiten des Individuums vor, die zwar zum Teil mit der allgemeinen Leistungsklage zusammenhängt, aber darüber hinausgehende Bedeutung hat. Die Möglichkeiten für das Individuum, Klage zu führen sprich die ihm abstrakt zustehenden Einwirkungsmöglichkeiten zu nutzen -, hängt nicht mehr ausschließlich von einer bestimmten Handlungsform der Verwaltung ab. Die Verwaltung muß beispielsweise nicht in der Form eines Verwaltungsakts tätig geworden bzw. muß nicht zum Handeln in der Form eines Verwaltungsakts verpflichtet sein, damit gegen sie gerichtlich vorgegangen werden kann. An dieser Stelle sind systembedingte Ergänzungen anzubringen. Denn wenn nicht die Möglichkeit, so hängt doch die Art der Klage von der Handlungsfarm der Verwaltung ab. Die Gestaltungsklage ist nur bei Vorliegen eines Verwaltungsaktes uneingeschränkt möglich: Hier kann der Kläger im Wege der Anfechtungsklage vorgehen (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO). Andere Fälle der Gestaltungsklage bedürfen einer gesetzlichen Grundlage7• Die Feststellungsklage hängt davon ab, daß die Verwaltung zumindest in einer ein Rechtsverhältnis begründenden Weise gehandelt hat. Nur die allgemeine Leistungsklage kann auch auf den Erlaß eines - rechtlich nicht näher spezifizierten - Realakts gerichtet sein. Daß ausgerechnet die allgemeine Gestaltungsklage nach wie vor dem Enumerationsprinzip unterworfen wird, nicht 6 Siehe nur Bosch/Schmidl, Praktische Einführung in das verwaltung;;gerichtliche Verfahren. 5. AuO. Stuttgart/Berlin/Köln 1992, S. 167 f. m.w.N. 7 Dazu, daß für die allgemeine Gestaltung;;klage nach wie vor das Enumerationsprinzip giltEyermann/FröhJer/Konnann, Verwaltung;;gerichtsordnung. Kommentar. 9. AuO. München 1988, § 42 Rdnr. 2; Sclunilt Glaeser, Verwaltung;;prozeßrecht. 13. AuO. Stuttgart/München/Hannover/Berlin 1994, Rdnr. 370.

Kapitell: Die Rechtslage in Deutschland

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hingegen die allgemeine Leistungsklage, ist rechtsvergleichend bemerkenswert. Begründet wird es damit, daß ein unmittelbarer Eingriff der Gerichte in die Rechtsbeziehungen zwischen Bürger und Verwaltung so schwerwiegend sei, daß er nur in gesetzlich vorgesehenen Fällen stattfmden könne. Der Blick auf das französische System wird zeigen, daß dort nicht der unmittelbare Eingriff, insbesondere die Kassation, sondern die Verpflichtung zum Handeln als Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip angesehen wird. Trotz dieser Liberalisierung sind Weiterungen denkbar, die das deutsche Recht nicht kennt: So ist in Frankreich nicht von Belang, ob der angefochtene Akt der Verwaltung eine Einzelmaßnahme oder einen untergesetzlichen Normerlaß darstellt. In Deutschland hingegen sind die Möglichkeiten, exekutivische Normsetzung vor die Verwaltungsgerichte zu bringen, auf§ 47 VwGO begrenzt. Danach können bundesweit nur Satzungen nach dem Baugesetzbuch vom Individuum angegriffen werden. Im übrigen bedarf es eines Landesgesetzes. Damit ist nicht einzig und allein entscheidend, mit welcher Intensität die Verwaltung das Individuum betroffen hat, sondern es bleibt von Bedeutung, welche Mittel sie ergriffen hat. Weitgehend liberalisiert ist nur der Rechtsschutz gegen die an das Individuum gerichteten Maßnahmen. Damit rundet sich das Bild der systematischen Grundentscheidung des deutschen Verwaltungsgerichtsverfahrens ab. Dieses System ist maßgeblich ausgerichtet auf den Schutz subjektiver Rechte des Bürgers. Um diese systematische Grundentscheidung gruppieren sich die aufgezeigten Charakteristika. Die Anfechtungsklage, die im weiteren Verlauf der Untersuchung im Vordergrund stehen wird, ist eine Verletztenklage8• Der Kläger bezieht seine Anfechtungslegitimation gerade aus der Tatsache, daß der angefochtene Akt der Verwaltung möglicherweise "subjektiv'' rechtswidrig ist. Bis zum Abschluß des Prozesses besteht daher die Möglichkeit, daß der Kläger, falls er Empfänger einer belastenden Verfügung ist, an der legitimen Ausübung seiner Rechte zu Unrecht gehindert wird. Diese Wirkung wird dadurch abgemildert, daß die Klage dem Grundsatz nach aufschiebende Wirkung hat (§ 80 Abs. 1 VwGO). Das Gesetz räumt damit dem Recht des einzelnen den Vorrang ein: Er darf sein Recht solange nutzen, wie nicht gerichtlich die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsmaßnahme festgestellt worden ist. Der Zusammenhang zwischen einem System des contentieux subjectif und der grundsätzlichen Einräumung einstweiligen Rechtsschutzes im weiteren Sinne soll an dieser Stelle nur angedeutet werden. Er ist in Verbindung mit der französischen Rechtsordnung, die diesen Grundsatz nicht kennt, und im weiteren Verlauf der Untersuchung zu vertiefen. 8

Zum Begriff Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen (Fn. 4), S. 10 et passim.

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

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2. Trotz ihrer Grundorientierung am Schutz subjektiver Rechte sind die Anforderungen, welche die einzelnen Klageverfahren an das individuelle Vorbringen des Klägers stellen, nicht einheitlich. Die Ursachen dafür sind zunächst systematischer Natur: Da mit der Geltendmachung eines subjektiven Rechts immer auch die objektive Rechtsordnung zur Bewährung steht, bilden die Klagearten je nach Maßgabe des mit ihnen zu erreichenden Zwecks unterschiedliche Bindungen an das Klageinteresse des einzelnen aus. Auch das subjektive Rechtsschutzverfahren hat den Schutz der objektiven Rechtsordnung zum Ziel, nur wird dieser vermittelt über den natürlichen Egoismus der in ihren Rechten betroffenen Kläger. Eine andere Ursache für die unterschiedlichen Anforderungen an das individuelle Vorbringen liegt in der merkwürdigen Verbindung zwischen der Lehre zur allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG und dem Fortleben der Abhängigkeit von der Handlungsform der Verwaltung. Beides ist näher zu beleuchten. a) Eine klare Erleichterung für den Individualkläger stellt das Gesetz für die Klagebefugnis hinsichtlich der Feststellungsklage auf. Im Unterschied zu § 42 Abs. 2 VwGO, der die Geltendmachung einer Verletzung eigener Rechte verlangt, ist in § 43 Abs. 1 VwGO nur von einem berechtigten Interesse die Rede. Dieses Interesse braucht kein rechtliches Interesse zu sein: Es genügt ein schutzwürdiges Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art9 • Bedenkt man den mit den Verfahren implizierten Schutz der objektiven Rechtsordnung, läßt sich die herabgesetzte Hürde erklären: Die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes ist deutlicher als die Vernichtbarkeit durch Anfechtung eine Angelegenheit der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Denn der nichtige Akt gilt nicht, der vernichtbare wird mit Beginn seiner Bestandskraft einem rechtmäßigen vergleichbar10• Ebenso beim Rechtsverhältnis: Den vielfältigen Ursachen, die zu einer solchen Verbindung zwischen Verwaltung und Bürger führen können, ist gemeinsam, daß die Betroffenheit des einzelnen weit schlechter greifbar und weniger intensiv ist, als es beim Erlaß eines Verwaltungsaktes der Fall wäre. Demzufolge erfüllt die Klage auch hier eine punktuell rechtsstaatliche Funktion: Im Vorfeld konkreter Beziehungen zwischen Staat und Bürger und flankierend dazu sollen die rechtlichen Verbindungen zwischen dem einzelnen und der Verwaltung klargestellt werden. Denn unter einem "Rechtsverhältnis" sind die rechtlichen Beziehungen anzusehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt auf Grund einer öffentlich-rechtlichen Regelung für das Verhältnis mehrerer Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache 9

Statt aller Redekerjv.Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung (Fn. 1), § 43 Rdnr. 20.

Der entgegengesetzte Antrag, nämlich daß ein Verwaltungsakt rechtmäßig bzw. bestandskräftig ist, kann hingegen nicht gestellt werden. Beim Rechtsverhältnis ist das anders. 10

Kapitel 1: Die Rechtslage in Deutschland

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ergeben11 • Es muß sich auch nicht um ein Rechtsverhältnis handeln, an dem der Kläger beteiligt ist12• b) Für die vorliegende Untersuchung bedeutsam sind außerdem die Fälle herabgesetzter Anforderungen an das Klageinteresse, die sich aus einer bestimmten Interpretation der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG ergeben. In der Praxis der Gerichte und auch in der wissenschaftlichen Diskussion hat die Interpretation des Bundesverfassungsgerichts, wonach Art. 2 Abs. 1 GG dem einzelnen ein Recht darauf gäbe, nicht mit einem Nachteil belastet zu werden, der nicht mit der Rechtsordnung im Einklang steht, dazu geführt, daß die Klage des Adressaten eines Verwaltungsaktes hinsichtlich des Klageinteresses nicht problematisch ist. Da das Kriterium der Belastung in eigenen Rechten durch die Adressatenstellung bereits erfüllt ist, muß der Verwaltungsakt objektiv rechtmäßig sein, wenn er Bestand haben soll. Jeder Verstoß gegen eine gesetzliche Vorschrift führt gewissermaßen automatisch zu einer Verletzung der eigenen Rechte des Adressaten. Der Rückbezug auf Art. 2 Abs. 1 GG versagt jedoch bei den "Drittanfechtungsklagen". Zwar ist nach heutigem Verständnis nicht mehr ausgeschlossen, daß ein Betroffener, der nicht Adressat eines Verwaltungsaktes ist, diesen trotzdem anfechten kann. Bloß ist für einen solchen Fall das Verständnis des Art. 2 Abs. 1 GG zu eng. Die Berufung darauf, daß er nicht objektiv unrechtmäßig belastet werden dürfe, steht dem Dritten nicht zu. Denn "belastet" im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG ist nur derjenige, an den die Verwaltung einen Verwaltungsakt gerichtet hat. Das ist im Grunde der Eingriff klassischen Zuschnitts, von dem sich die Grundrechtsdogmatik in den speziellen Grundrechtsverbürgungen bereits gelöst hat. Für die Grundrechtsdogmatik ist dieses Vorgehen nur eine Verschiebung der Gewichte: Die Ausweitung des Schutzbereichs auf die Freiheit von unrechtmäßigem Zwang bedingt, daß notwendige Konkretisierungen über den Eingriff laufen müssen. Für das verwaltungsgerichtliche Verfahren hingegen ist der Unterschied fundamental: Da der Eingriff in das Grundrecht nur über einen an den Kläger gerichteten Verwaltungsakt stattfmden kann, dieser aber beim Drittkläger gerade fehlt, steht diesem auch der Schutz des Art. 2 Abs.1 GG nicht mehr zu Verfügung. Überspitzt formuliert könnte man sagen, daß verwaltungsprozessual Art. 2 Abs.1 GG mehr verspricht, als er halten kann. 11 BVeJWG, Urteil v. 8.6.1962, E 14, 23S (236); Urteil v. 14.5.1963, E 16, 92 (93); Urteil v. 20.2.1987, NJW 1987, 2389; auffallig die nahezu identische Formulierung des BGH im Urteil v. 28.4.1952, BGHZ 5, 385 (387); zum Ganzen auch Redekerjv.Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung (Fn. 1), § 43 Rdnr. 3. 12 Redekerjv.Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung (Fn. 1}, § 43 Rdnr. 10 mit Beispielen aus der Rechtsprechung.

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

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Der Dritte muß demnach nicht nur glaubhaft machen, daß die Verwaltung rechtswidrig gehandelt hat, sondern auch, daß dieses Handeln ihn in seinen Rechten verletzt. Im Bereich dieser Klagen besitzt die Schutznormlehre mit Hilfe derer die möglicherweise betroffenen subjektiven öffentlichen Rechte ermittelt werden - ihre eigentliche Bedeutung. Die Leistungsklage kennt die skizzierte Unterscheidung nicht. Das liegt zum einen daran, daß die Parallele zur Drittanfechtung - eine Drittverpflichtung - in der Praxis eine untergeordnete Rolle spielt. Zum anderen führt der Eingriff in den Bereich der Exekutive, den jede vom Gericht an die Verwaltung ausgeprochene Verpflichtung darstellt, dazu, daß alle Formen einer solchen Verpflichtung auf einheitlicher Grundlage stehen müssen. Demnach ist das eigentlich nur für Verpflichtungsklagen geltende Erfordernis, daß der Kläger die Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechts geltend machen muß, sprich: einen Anspruch bat, auch auf die allgemeine Leistungsklage ausgedehnt worden. In beiden Fällen wird wieder auf die Schutznormlehre zurückgegriffen. Einen anderen Weg geht die Feststellungsklage. Nachdem feststeht, daß zwischen dem Kläger und der Verwaltung eine rechtliche Beziehung besteht, kommt es im Rahmen der Klagebefugnis nur auf die Frage an, ob er ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat (§ 43 Abs. 1 VwGO). Dafür kommt, wie erwähnt, jedes schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher und ideeller Art in Betrache3 • Anders als in der durch die Schutznormlehre bestimmten Klagebefugnis muß der Kläger nicht glaubhaft machen, daß das festzustellende Rechtsverhältnis besteht oder nicht besteht, also nicht die Begründetheit in die Zulässigkeitsprüfung vorziehen. Noch deutlicher wird dies, wenn es um die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes geht: Der Kläger muß nicht glaubhaft machen, daß er durch die Nichtigkeit des Verwaltungsaktes in seinem Interesse verletzt ise4 • Im Vordergrund der Zulässigkeitsprüfung steht bei der Feststellungsklage somit die Erwägung, ob die Frage des Bestehens oder Nichtbesteheus eines Rechtsverhältnisses bzw. der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes einer gerichtlichen Klärung bedarf. Damit stößt man auf eine Frage, die generell im Zusammenhang mit Interessentenklagen von Bedeutung wird, nämlich die Frage, ob in einem bestimmten Streit mit der Verwaltung überhaupt gerichtlicher Schutz zur Verfügung stehen soll. Diese Frage wird bei der Dis13

14

Redekerjv.Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung (Fn. 1), § 43 Rdnr. 20.

Allerdings kommt das BVerwG, Beschluß v. 9.12.1981, DÖV 1982, 411 über dem Umweg des § 43 Abs. 1 VwGO doch im Ergebnis zu einer Anwendung von § 42 Abs. 2 VwGO auf die Nichtigkeitsfeststellungsklage. Aus dem Gesetz ergibt sich das freilich nicht; zum Problem jüngst Laubinger, Feststellungsklage und Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO), VerwArch 82 (1991), s. 459 ff.

Kapitel 1: Die Rechtslage in Deutschland

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kussion der französischen und britischen Rechtsordnung eingehend erörtert werden. c) Aus der Sicht der Schutznormtheorie lassen sich die Klagearten mit ihren verschiedenen Anforderungen an die Klagebefugnis damit in zwei Gruppen einteilen. Die Gestaltungs- und Leistungsklagen einerseits und die Feststellungsklage andererseits. Nur in der ersten Gruppe kommt es auf subjektive öffentliche Rechte des Klägers an, wobei die Fälle der Anfechtungsklage des Adressaten eines belastenden Verwaltungsaktes aufgrund des herrschenden Verständnisses des Art. 2 Abs. 1 GG unproblematisch sind. Das für die zweite Gruppe verlangte Feststellungsinteresse geht eigene Wege. 3. Die Abhängigkeit der verschiedenen Klagearten von der Handlungsform der Verwaltung, die oben aufgezeigt wurde, läßt vermuten, daß im Bereich des Umweltschutzes nicht alle Verfahren die gleiche Bedeutung besitzen. Dementsprechend ist die in diesem Bereich wichtigste Ausformung des Klageinteresses zu ermitteln. a) Das deutsche Umweltrecht ist in weiten Bereichen durch das Institut der vorherigen behördlichen Autorisierung geprägt. Ein Großteil umweltbelastender Tätigkeiten, sei es die Errichtung einer Anlage oder die Vornahme einzelner Tätigkeiten wie z.B. die Einleitung von Abwasser in einen Fluß, ist nur nach behördlicher Eröffnungskontrolle zulässigts. Die Akte der Autorisierung reichen vom Planfeststellungsbeschluß über Erlaubnis und Bewilligung bis zur Genehmigung. Gemeinsam ist allen diesen Instituten, daß sie in der Regel einen Verwaltungsakt darstellen. In dieser Struktur ist die Bedeutung der Anfechtungsklage im deutschen Umweltrecht angelegt. Gelingt es einem um die Belange des Umweltschutzes bemühten Dritten, die behördliche Genehmigung zu beseitigen, dann muß die umweltbelastende Tätigkeit eingestellt werden. Dieser Schutz setzt zeitlich eher an und ist daher wirksamer als der Versuch, die Behörden über die Leistungsklage zum Eingreifen zu bewegen. Außerdem bedürfen solche Eingriffe der Verwaltung, da sie ein grundsätzlich erlaubtes - meist sogar grundrechtlich geschütztes - Verhalten beschränken, einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage16• Diese ist, wenn sie aus Gründen des Um15 Dami~ soll nicht gesagt sein, daß das deutsche Umweltrecht andere Formen der behördlichen Uberwachung, wie Anzeige- oder Anmeldepflichten, nicht kennt. Nur spielen diese Instrumente bisher eine eher untergeordnete Rolle. Allerdings gibt es auch in diesem Bereich neuere Entwicklungen, die wie im Gentechnik-Recht durch die EG oder wie im Straßenbau durch die Beschleunigungsdiskussion ausgelöst worden sind. 16 So ausdrücklich WahljMasing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, S. 553 ff. in Ablehnung von VGH Kassel, Beschluß v. 6.11.1989, NJW 1990, 336.

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1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

weltschutzes normiert wurde, meist im öffentlichen Interesse erlassen, so daß der Nachweis, es handele sich um einen subjektiven öffentlichen Leistungsanspruch, schwer fallen wird. Schließlich sieht sich ein Anspruch auf behördliches Einschreiten stets dem generellen Bedenken gegenüber, daß Leistungsansprüche gegen den Staat einer zusätzlichen Legitimation bedürfen17. Die Wirkung der Entscheidung im Anfechtungsprozeß, die Kassation einer behördlichen Autorisieruog, läßt die Anfechtungsklage auch geeigneter erscheinen als die Feststellungsklage, mit der allenfalls erreicht werden kann, daß die Unrechtmäßigkeit eines umweltbelastenden Zustandes festgestellt wird. b) Der aufgezeigte Zusammenhang zwischen Anfechtungsklagen und den Belangen des Umweltschutzes erlaubt es, Erörterungen zur Klagebefugnis im weiteren Verlauf der Untersuchung auf die Schutznormlehre und die subjektiven öffentlichen Rechte zu beschränken. Die gängige Formel der Schutznormlehre lautet: Dem Kläger steht ein subjektives öffentliches Recht zu, wenn er sich auf eine Norm berufen kann, die zumindest auch in seinem Interesse erlassen worden ist, ihn also nicht lediglich faktisch begünstigt, sondern ihm das Recht verleiht, von der Verwaltung etwas zu verlangen oder ihr gegenüber etwas tun zu können 18•

Ob und inwieweit eine bestimmte Norm den Anforderungen der Schutznormlehre genügt, geht in den allerwenigsten Fällen aus dem Wortlaut selber hervor. Formulierungen wie in§ 6 Abs. 5 Satz 3 LBO Ba.-Wü., in dem es heißt: "Nachbarschützende Wirkung kommt nur der halben Tiefe der Abstandsflächen nach Satz 1, mindestens jedoch einer Tiefe von 2,5 m, zu" haben Seltenheitswert. In der Regel fmdet sich in der Norm selber keine Aussage über den drittschützenden Gehalt. In einem solchen Fall muß der Schutzgehalt einer Norm durch Auslegung ermittelt werden. Zurückgegriffen wird dabei auf die herkömmlichen Methoden der grammatikalischen, systematischen, historischen und teleologischen Interpretation. Mit ihrer Hilfe muß sich zum einen der "zu schützende Personenkreis", zum anderen "das individuell geschützte Interesse und die Art seiner Verletzung, gegen die Schutz gewährt werden soll" ermitteln lassen19• Zur näheren Bestimmung des Personenkreises kommt es darauf an, daß sich aus 17 Zum Problem jüngst Samighausen, Zum Nachbaranspruch auf baubehördliches Einschreiten, NJW 1993, S. 1623 ff. 18 Siehe beispielsweise BVerwG, Urteil v. 16.3.1989, E 81, 329 (334); aus dogmatischer Sicht siehe beispielsweise Erichsen, Das Ve!Waltungshandeln, in: ErichsenfMartens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht. 9. Auß. Berlin/New York Im, S. 179 ff., Rdnr. 52 ff. 19

St. Rspr., z.B. BVerwG, Urteil v. 1.12.1982, E 66, 307 (308)- Dünnsäure.

Kapitell: Die Rechtslage in Deutschland

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individualisierenden Tatbestandsmerkmalen der Norm ein Personenkreis entnehmen läßt, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet20• §

5 Die Schutznomztheorie und Belange des Umweltschutzes

1. Die Systematik der verwaltungsgerichtlichen Klagearten in Deutschland, die um den Schutz subjektiver Rechte zentriert ist, kann prinzipiell die Geltendmachung öffentlicher Belange nicht vollständig aufnehmen. Daher hat die Schutznormtheorie im Zusammenhang mit Klagen, welche die Einhaltung umweltschützender Normen zum Ziel haben, einerseits zu grob formulierten Kategorien, andererseits zu einer umfangreichen Kasuistik der Gerichte geführt. Mit den groben Kategorien wird eine Art Vorauswahl getroffen, die Einzelfallentscheidungen ermitteln vor dem Hintergrund dieser Vorauswahl den konkreten Drittschutzgehalt der verletzten Norm. Der Ansatz ist dabei auf die Schutznormtheorie zurückzuführen: Es geht darum, die Normen, die nur an die Allgemeinheit gerichtet und im öffentlichen loteresse erlassen sind und daher keine subjektiven öffentlichen Rechte vermitteln und die Normen, die auch das betroffene Individuum in ihren Schutz einbeziehen, zu unterscheideo21 •

a) Die Aufgabe der angesprochenen groben Kategorien bestand für das Umweltrecht darin, die öffentliche und die private Komponente des Belangs "Umweltschutz" zu erarbeiten. Darin liegt die besondere Schwierigkeit dieser Fälle: Es läßt sich keine eindeutige Zuordnung für den Umweltschutz fmdeo. Die Umwelt und die natürlichen Lebensgrundlagen für die gegenwärtige und für die künftigen Generationen zu erhalten, ist eben keine von den Rechtsgütern des einzelneo losgelöste Aufgabe, deren nicht rechtmässige Ausführung das Individuum in keiner Form betreffen könnte. Das Recht auf Leben und körperliche Uoversehrtheit, das verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG abgesichert ist, bedarf einer zumindest nicht schädlichen Umwelt als Bedingung seiner Ausübung. Auf andere Weise wird auch das Recht auf Eigentum (Art. 14 GG) betroffen: Die Verschmutzung der Umwelt kann ein Ausmaß erreichen, welches das Recht auf Nutzung der eigenen Sachgüter nahezu wertlos macht oder doch erheblich beeinträchtigt. Um die Trennung zwischen Individual- und Allgemeinbezug zu bewerkstelligen, haben Rechtsprechung und Lehre auf eine vordergründig plausible 20 BVerwG, Urteil v. 15.7.1987, E 78, 40 (43); Schmidt-Aßnumn, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz. München (Loseblattsammlung), Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 140. 21 Ein ausführlicher Überblick findet sich bei Marburger, Ausbau des Individualschutzes gegen Umweltbelastungen als Aufgabe des bürgerlichen und des öffentlichen Rechts. Verhandlungen des 56. Deutschen Juristentages, Bd. 1. Teil C. München 1986, C 51 ff.

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

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Unterscheidung zurückgegriffen. Namentlich sollen Normen, deren Einhaltung die gesamte Bevölkerung gleich betreffen, keinen Drittschutz vermitteln. Demgegenüber stehen Normen, mit denen ein bestimmter Schutzstandard individualisiert und damit auf den einzelnen bezogen wird. Sie können zu subjektiven öffentlichen Rechten des Betroffenen führen. So ist die Trennung in zwei Hauptgruppen zustande gekommen. Die erste Gruppe stellen Normen dar, die Vorsorgemaßnahmen auferlegen. Ihr Ziel ist es, jenseits der Gefahrenabwehr Umweltbelastungen, die nach Maßgabe der praktischen Vernunft vorhersehbar und vermeidbar sind, tatsächlich zu vermeiden. Der Regelungszweck solcher Vorschriften, so die Rechtsprechung, liegt ausschließlich im öffentlichen Interesse. Daß er auch Individuen zugute kommt, ist ein bloßer Reflex und daher nicht tauglich, subjektive öffentliche Rechte zu vermitteln22• Die andere Gruppe stellen Normen dar, die der Gefahrenabwehr dienen. Ihre Intention ist neben dem Schutz der Allgemeinheit auch der Schutz des Individuums, das damit - je nach Regelungszusammenbang - ein subjektives öffentliches Recht auf Einhaltung der Norm vermittelt bekommt. Diese Einteilung in das bloße Bevölkerungsrisiko betreffende Vorsorgenormen und in das Individualrisiko betreffende Gefahrenabwehrnormen durchzieht mit geringen Modifikationen den verwaltungsgerichtlieben Rechtsschutz im Umweltbereicb. b) Die konkrete Zuordnung einer verletzten Vorschrift ist Sache der Gerichte geblieben. Auch auf der Ebene der Kasuistik bat sieb jedoch eine Besonderheit der Materie Umweltschutz gezeigt, die zu einem im Vergleich zu anderen Bereichen stärkeren Gewicht der einfachrechtlichen Bestimmungen geführt bat. Wegen der Doppelschichtigkeit des Umweltschutzes als Belang mit gleichzeitig öffentlichem und privatem Bezug gestaltet sieb das Verhältnis zwischen Grundrechten und einfachem Recht besonders problematisch23• Die diffuseren Ursache-Wirkungs-Beziehungen lockern den Zusammenbang zwischen der Tätigkeit der vornehmlieb Eröffnungskontrolle ausübenden Verwaltung und dem einzelnen. Hinzu kommt, daß der Umweltscbutz wegen seiner Doppelnatur nur punktuell in den Grundrechten abgesichert werden kann. Das bat die Entscheidung im Fall Geretsried gezeigt"'. 22 Zur Trennung in drittschützende Gefahrenabwehr-und nicht drittschützende Vorsorgenormen Jarass, Drittschutz im Urnweltrecht, in: Festschrift für Rudolf Lukes. Köln/Berlin/Bonn/München 1989, S. 57 ff. (S. 60 ff.). 23 Vgl. auch Kloepfer, Urnweltrecht. München 1989, § 5 Rdnr. 21. Differenzierte Darstellung der Bedeutung der Grundrechte bei HoppejBeckmann, Urnweltrecht. München 1989, § 4 Rdnr. 31 ff.

2A

BVerwG, Urteil v. 29.7.1977, E 54, 211.

Kapitell: Die Rechtslage in Deutschland

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Die Stadt München betrieb ein Bauplanungsverfahren, mit dem im Ortsteil Geretsried eine noch unter Landschaftsschutz stehende Fläche gewerblich genutzt werden sollte und hatte im Vorgriff auf diesen Bebauungsplan ein gewerbliches Bauvorhaben genehmigt. Die Kläger, ein Naturschutzverband und zwei Bewohner der Stadt München, wollten sowohl die Fortsetzung des Bauplanungsverfahrens verhindern als auch gegen die erteilte Genehmigung vorgehen. Ihre Argumentation lief darauf hinaus, daß der Verstoß gegen die Landschaftsschutzvorschriften zur Rechtswidrigkeit von Planungsverfahren und Genehmigung führe. Auf einfachrechtliche Schutznormen konnten sie sich nicht berufen, da die Vorschriften des Naturschutz- und Landschaftspflegerechts keine subjektiven Rechte vermitteln25• Daher stützten sie sich, mangels einschlägiger spezieller Grundrechte, auf Art. 2 Abs. 1 GG. Dazu das BVerwG26: "Für die Zusammenhänge, die hier in Rede stehen, und zugleich für die Nachbarklage ganz allgemein schafft nicht Art. 2 Abs. 1 GG die für eine gerichtliche Kontrolle unerläßliche rechtliche Beziehung zwischen dem Kläger und der von ihm begehrten Kontrolle, sondern Art. 2 Abs. 1 GG setzt voraus, daß sich eine solche Beziehung aus der sonstigen Rechtsordnung ergibt. Erst wenn das zutrifft, wenn also eine bestimmte (gesetzliche) Berechtigung besteht, kann sich fragen, ob diese Berechtigung dem Rechtsträger in einer solchen Weise zugeordnet ist, daß sie als Bestandteil seiner "Persönlichkeit" auch dem verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG untersteht. •

Diese Argumentation fußt auf der These, daß Allgemeingüter wie die Umwelt und darauf bezogene Interessen des Einzelnen für sich genommen nicht "persönlichkeitsbezogen" sind und daher nicht von vorneherein unter den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG fallen. Erst wenn diese Interessen eine rechtliche Absicherung erhalten haben, könne ein Schutz über Art. 2 Abs. 1 GG in Betracht kommen. Dazu nochmals das BVerwG27: "Ein die Anträge der Kläger deckendes "Umweltgrundrecht" gibt es nicht. Sofern nicht ... bestimmte Grundrechtsartikel zugunsten der durch sie geschützten Rechtsgüter eingreifen, führt auch der Gesichtspunkt des "Umweltschutzes• oder "Umweltgrundrechts" nicht weiter."28

Interessanterweise hat sich das OVG Berlin diesbezüglich anders entschieden. Unter Hinweis auf die Insellage Berlins und unter Heranziehung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Bestimmungen des BundesNaturschutzgesetzes und des Bundes-Waldgesetzes hat es einen Abwehran-

25 Statt aller Soell, Naturschutz- und Landschaftspflegerecht, in: Salzwedel (Hrsg.): Grundzüge des Umweltrechts. Berlin 1982, S. 481 ff. (S. 493).

26

BVerwG, Urteil v. 29.7.1977, E 54, 211 (221).

BVerwG, Urteil v. 29.7.1977, E 54, 211 (219). 28 So auch schon BVerwG, Beschluß v. 25.6.1975, Buchholz 11 Art. 1 GG Nr. 6 S. 1 f. 27

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spruch gegen einen besonders schwerwiegenden Eingriff in ein Waldgebiet abgeleitet29• Die Zurückdrängung der Grundrechte ist aber nicht auf Art. 2 Abs. 1 GG beschränkt geblieben. Auch der unmittelbar aus Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG30 abgeleitete Abwehranspruch hat keine durchschlagende Bedeutung in Umweltschutzverfahren erlangt. Das hat seinen Grund in der Struktur der umweltrechtlichen Nachbarstreitigkeiten: Nicht der Staat selber greift in das Recht auf Eigentum oder Gesundheit ein, sondern ein Privater. Der Staat ist an diesem Verhältnis nur insofern beteiligt, als er die umweltbelastende Tätigkeit gestattet hat oder nicht dagegen vorgeht. Diese Art von "Eingriff' hat eine andere Qualität als wenn die Behörde selber die Versehrnutzung vornähme31 • Gefragt ist damit nicht so sehr die klassische Funktion der Grundrechte als subjektive Abwehrrechte gegen staatliches Handeln, sondern die davon zu trennende Ausformung als objektiv-rechtliches Schutzgebot Dieses entfaltet grundsätzlich lediglich Anforderungen an staatliches Handeln, die vom Einzelnen nicht eingefordert werden können. Hinzu kommt - zumindest hinsichtlich Art. 14 GG - daß der Gesetzgeber zur Konkretisierung des Eigentums ausdrücklich berufen ist (Art. 14 Abs. 2 GG)32• Auf diese Zusammenhänge wird im einzelnen noch zurückzukommen sein. Vor diesem Hintergrund läßt sich auch nachvollziehen, warum die Rechtsprechung den unmittelbaren Rückgriff auf Grundrechte von bestimmten Kriterien abhängig macht. Zwar stellt sie auf die Qualität des Eingriffs ab33 und differenziert danach, ob er "unmittelbar"oder "mittelbar" in das Grundrecht eingreiff4. Die Schlußfolgerungen aber, die sie daraus zieht, lassen sich - eine Ebene höher - auch damit begründen, daß die Nichterfüllung einer Schutzpflicht erst zum Eingriff wird, wenn den Staat eine Art Ga29 OVG Berlin, Urteil v. 25.1977, DVBI. 1977, 901; die Entscheidun~etraf jedoch die Antragsbefugnis im Normenkontrollverfahren (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO . Dazu Dageförde, Zum "Nachbar"recht, NuR 1980, S. 150 ff.; ders., Zum Abwehrrecht, Bay I. 1979, S. 490 f. (S. 490). Anders hinge~en das VG Berlin, Beschluß v. 3.8.1984, GewArch 1985, 228, wonach das Interesse der Berhner Bürger an der Erhaltung der Berliner Wälder grundsätzlich kein subjektives Recht im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO sei. 30

Vgl. dazu Marburger, Ausbau des Individualschutzes (Fn. 21), C 52.

31

Anders hinsichtlich der Risiken der Technik Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik. Berlin 1985, insbes. S. 190 ff., 216 ff.; ders., Entschädigung für immissionsbedingte Waldschäden, NVwZ 1986, S. 611 ff. (S. 613).. Dagegen Sclunidt, Staatshaftung, ZRP 1987, S. 345 ff. (S. 347); vgl. dazu auch BGH, Urte1l v. 10.12.1987, NJW 1988, 478 (479 f.). 32

HoppejBeckmann, Umweltrecht (Fn. 23), § 4 Rdnr. 44.

33

BVerfG, Beschluß v. 20.12.1979, E 53, 30 (57) - Mülheim-Kärlich; BVerfG, Beschluß v. 14.1.1981, E 56, 54 (73) - Fluglänn zur objektiv-rechtlichen Schutzpflicht des Staates; auch BGH, Urteil v. 10.12.1987, NJW 1988, 478 (481). 34

Dazu die Darstellung bei Hoppe/Beclanann, Umweltrecht (Fn. 23), § 4 Rdnr. 36 ff.

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rantenstellung triffr'. Die Rechtsprechung argumentiert dabei wie folgt: Handelt es sich um einen "unmittelbaren" Eingriff der Verwaltung- wie z.B. die im Wege einer Planfeststellung vorzunehmende Enteignung- dann kann der Betroffene auch öffentliche Belange wie z.B. des Landschaftsschutzes gegen den Planfeststellungsbeschluß vorbringen. Genauer betrachtet handelt es sich bei dieser Art von Klagen nur um eine Unterform der Adressatenklage. Mit ihr kann, wie erwähnt, in der Sache ein objektives Rechtsschutzverfahren angestrengt werden, so daß die Rechtsprechung mit ihrer Argumentation ganz im Rahmen der herkömmlichen Auffassung bleibt. Schwierigkeiten bereiten erst die Drittklagen. Gegenüber diesen "mittelbaren" Beeinträchtigungen muß die Rechtsprechung ein schwieriges Gleichgewicht fmden. Einerseits darf sie der Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers nicht zu weit vorgreifen. Die Gewichtung eines öffentlichen Belangs wie des Umweltschutzes ist vordringlich die Aufgabe der Legislative, Art. 19 Abs. 4 GG gibt einen Justizgewährungsanspruch nur für subjektive Rechte. Andererseits dürfen die Gerichte nicht die hohe Bedeutung der Grundrechte verkennen36• Daher behelfen sie sich mit einer Formel, die aus dem Recht der Enteignung bekannt ist und dem BVerwG lange zur Abgrenzung von entschädigunspflichtigen Enteignungen und hinzunehmenden Inhalts- und Schrankenbestimmungen diente. Die Formel lautet: Ein gegen mittelbare Beeinträchtigungen gerichteter Abwehranspruch soll nur gegeben sein, wenn als Folge der nachhaltigen Veränderung der Grundstückssituation das Eigentum "schwer und unerträglich" getroffen wird37• Völlige Klarheit ist mit dieser Formel freilich auch noch nicht erreicht. Das BVerwG hat nur entschieden, daß "zumindest" für den Fall des unmittelbaren Eingriffs eine umfassende Prüfung der Rechtmäßigkeit des belastenden Aktes geboten isfS. Das schließt nicht von vomeherein aus, daß die "Übertragung auf andere Beeinträchtigungsformen möglich isf9. Wie schwierig der Umgang mit den genannten Grundsätzen ist, zeigt das vielzitierte Krabbenfischer- oder auch Dünnsäure-Urtei140• Der Kläger, ein Berufsfischer, wandte sich gegen eine nach Art. 2 Abs. 2 EinbrG erteilte Erlaubnis zur "Verklappung" von Dünnsäure in der Nordsee. Über die 35

HoppejBeckmann, Umweltrecht (Fn. 23), § 4 Rdnr. 42.

36

Das Dilemma zum Ausdruck bringt auch Kloepfer, Umweltrecht (Fn. 23), § 5 Rdnr. 21.

37

BVerwG, Urteil v. 26.3.1976, E 50, 282 (287). Zur Unterscheidung mittelbarer und unmittelbarer Eigentumsein~ffe HoppejBeckmann, Grundeigentumsschutz bei heranrükkendem Bergbau. Köln/Berhn/Bonn;München 1988, .$. 100 ff.; zur Kritik am grundrechtliehen Nachbarschutz in der Rechtsprechung Wasmuth, Uberlegungen, NVwZ 1988, S. 322 ff. 38

BVerwG, Urteil v. 27.5.1983, NJW 1984, 73.

39

OVG Berlin, Urteil v. 17.1.1986, DÖV 1986, 388.

40

BVerwG, Urteil v. 1.12.1982, E 66, 307.

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

48

Frage, welche Normen drittschützend seien und dem Kläger daher die Klagebefugnis vermitteln können, urteilten die drei beteiligten Instanzen dreimal unterschiedlich. Das VG Harnburg hielt die Passage in § 2 Abs. 2 EinbrG, in der von "sonstigen rechtmäßigen Nutzungen des Meeres" die Rede ist, für einen Hinweis darauf, daß das Gesetz auch zum Schutz dieser Nutzer bestimmt und insofern drittschützend sei41 • Das OVG Harnburg als Berufungsinstanz hingegen lehnte diese Verleihung von Drittschutz unmittelbar an alle Berufsfischer ab, erkannte im Wortlaut des§ 2 Abs. 2 EinbrG jedoch ein objektives Gebot der Rücksicbtnahme42• Dieses habe sieb, so das OVG, im Falle des Klägers zu einem subjektiven Gebot verdichtet, weil er einer qualifiziert und individualisiert betroffenen Gruppe angeböre43 • Das BVerwG kam in letzter Instanz zu dem Schluß, daß weder Art. 2 Abs. 2 EinbrG drittschützend sei noch ein Eingriff in das von Art. 14 GG geschützte Eigentum vorliege. Ausschlaggebend in den Augen des Gerichtes war vielmehr, daß die im Fischreichtum der betroffenen Fanggründe liegende Erwerbschance objektivrechtlieb geschützt sei. Der Fischer habe darauf seinen Gewerbebetrieb aufgebaut und die dadurch geschaffenen Verdienstmöglichkeiten dürfe ihm die Verwaltung nicht durch rechtswidrige Maßnahmen entziehen, wenn der Gewerbebetrieb des Fischers "in schwerer und unerträglicher Weise" betroffen würde44 • Dogmatisch herleiten ließe sich der Ansatz des Gerichts damit, daß es nicht um rechtliche, sondern um faktische Beeinträchtigungen durch Handeln der Verwaltung gebt. Ein dadurch verletztes absolutes Recht des Klägers kann nur zur Klage berechtigen, wenn es sieb um einen qualifizierten Eingriff handelt. Daher muß eine bestimmte Schwelle der Beeinträchtigung erreicht sein45• Die letztinstanzliebe Entscheidung im Dünnsäure-Fall ist kritisiert worden46 und weckt Zweifel insbesondere binsichtlich der Methode, mit der die Klagebefugnis bergeleitet wird: Denn wenn eine Norm - wie hier Art. 2 Abs. 2 EinbrG - nicht den grundrechtlich gebotenen Drittschutz vermittelt, so ist sie entweder verfassungskonform auszulegen oder, wo dies nicht mög-

41

VG Hamburg, Zwischenurteil v. 4.7.1980, DVBI. 1981, 269 (270) m. Anm. Peters.

42

OVG Hamburg, Urteil v. 195.1981, JZ 1981, 701.

Wobei in der Begründung des OVG nicht deutlich wird, ob damit alle Berufsfischer oder nur so massiv betroffene wie der Kläger gemeint sind; vgl. OVG Hamburg, Urteil v. 43

195.1981, JZ 1981,701 (703). 44

BVerwG, Urteil v. 1.12.1982, E 66, 307 (309).

Diesen Hintergrund zeigt auf Jarass, Drittschutz im Umweltrecht, in: Festschrift Rudolf Lukes (Fn. 22), S. 57 ff. (S. 61); näher ders., Die Gemeinde als "Drittbetroffene•, DVBI. 1976, S. 732 ff. (S. 734 f.). 45

46

KJoepfer, Rechtsschutz im Umweltrecht, VerwArch 76 (1985), S. 371 ff. (S. 384).

Kapitell: Die Rechtslage in Deutschland

49

lieh ist, verfassungswidrig47• Das BVerwG selbst hat allerdings den Ausnahmecharakter des Urteils betont und späteren Entscheidungen die Schutznormtheorie wieder ohne Ausnahme zugrunde gelegt48• Bezüglich Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergeben sieb- gegenüber Art. 14 GGnoch zwei weitere Schwierigkeiten. Zum einen läßt sieb der Schutzbereich "Leben und Gesundheit" noch weniger klar abgrenzen als das Eigentum49 • Denn konstruktiv ist das Eigentum ein - normativ erst auszuformender Rechtsbegriff, während das Rechtsgut "Leben und Gesundheit" auf tatsächlicher Grundlage basiert. Zum anderen erwächst nach Ansicht des BVerfG aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht die Rechtsmacht, die Verletzung gleichgerichteter objektiver Belange zu rügen50• Den Gedanken, daß eine bestimmte Schwelle der Beeinträchtigung erreicht sein muß, bat das BVerwG zum Teil auf Normen übertragen, deren drittschützender Charakter anerkannt isf1• Offen geblieben ist dabei, welche Normen - abgesehen von §§ 34, 35 Abs. 2 Baugesetzbuch - eine derartige Einschränkung verlangen52• Entscheidend ist, daß vor diesem Hintergrund die Feststellung, daß eine Norm drittschützend ist, nicht mehr genügt. Hinzu kommt die Frage, gegen welche Beeinträchtigungen sie Schutz gewähren will53• 2. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen soll im folgenden ein Überblick über die einzelnen Bereiche des Umweltschutzrechts gegeben werden, welche die Rechtsprechung als Fallgruppen herausgearbeitet bat. a) Der Drittschutz im Bereich des Baunachbtmechts hat sich im Laufe der Zeit vor allem um die Figur des Rücksichtnahmegebots gruppiert. Dieses 47 So auch Jarass, Drittschutz im Umweltrecht, in: Festschrift Rudolf Lukes (Fn. 22), S. 57 ff. (S. 65).

48 BVerwG, Urteil v. 30.9.1983, E 68, 58 (59); BVerwG, Urteil v. 30.9.1983, NJW 1984, 2174. Keine Abkehr von der Schutznormtheorie sieht auch Marburger, Ausbau des Individualschutzes (Fn. 21), C 53. 49 BVerwG, Urteil v. 29.7.1977, E 54, 211 (223) - Geretsried; dazu Battis, Bau- und immissionsschutzrechtliches Planungsrecht, DVBI. 1978, S. 577 ff. (S. 582). Zu Anwendungsproblemen des Art. 2 Abs. 2 GG im Immissionsschutzrecht Schmidt-Aßmann, Anwendungsprobleme, AöR 106 (1981), S. 205 ff.; zum Drittschutz aus Art. 2 Abs. 2 GG auch Schwerdtfeger, Grundrechtlicher Drittschutz, NVwZ 1982, S. 5 ff. (S. 9 f.); Hennecke, Landwirtschaft und Naturschutz. Heidelberg 1986 (zugl. Diss Kiel1985), S. 83 ff. 50

BVerfG, Beschluß v. 9.6.1987, UPR 1987,343.

51

BVerwG, Urteil v. 19.9.1986, DVBI. 1987,476 (477).

52

Jarass, Drittschutz im Umweltrecht, in: Festschrift Rudolf Lukes (Fn. 22), S. 57 ff. (S.

53

Jarass, Drittschutz im Umweltrecht, in: Festschrift Rudolf Lukes (Fn. 22), S. 57 ff. (S.

61). 61).

4 Gcrstncr

50

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

Gebot, dessen Implikationen weiter unten noch zu besprechen sind, besagt, daß einer Norm drittschützende Wirkung zukommen kann, wenn sie dem Ausgleich der Interessen zwischen Baunachbar und Bauherrn dient. Dieses objektive Gebot der Rücksichtnahme muß im Normtext zum Ausdruck kommen. Ein generelles Gebot der Rücksichtnahme, das dem gesamten öffentlichen Baurecht zugrunde läge, wird verneint. Die Verletzung einer Norm, in der das objektive Gebot der Rücksichtnahme festgeschrieben ist, führt jedoch nicht in jedem Fall zur Verletzung eigener Rechte des Baunachbarn. Erforderlich ist darüberhinaus, daß er im Einzelfall "qualifiziert und individualisiert" von der Verletzung betroffen wird. Damit läßt es die Rechtsprechung nicht bei der Zielrichtung der Norm, der rechtlichen Betroffenheit des einzelnen und der vielzitierten Prärogative des Gesetzgebers bewenden, sondern fragt auch nach den tatsächlichen Auswirkungen des behördlichen Handelns. Es ist fraglich, ob diese Ergebnisse nicht auch durch die Anwendung der Schutznormtheorie auf die Norm und die Frage nach den konkreten Einwirkungsformen, vor denen die Vorschrift schützen soll, zu bewerkstelligen wäre. Darauf ist noch zurückzukommen. Die Anwendung der Schutznormlehre im Immissionsschutzrechf4 führt dazu, daß nur die Verletzung des der Gefahrenabwehr dienenden§ 5 Abs. 1 Nr. 1 BlmSchG einen Dritten zur Klage befugt, während ein Verstoß gegen den Vorsorge gebietenden§ 5 Abs. 1 Nr. 2 BlmSchG nicht eingeklagt werden kann. § 5 Abs. 1 Nr. 1 BlmSchG legt dem Anlagenbelreiber auf, er habe Anlagen so zu errichten und zu betreiben, daß "schädliche Umwelteinwirkungen und sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile und erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit und die Nachbarschaft nicht hervorgerufen werden können".

§ 5 Abs. 1 Nr. 2 BlmSchG hingegen verlangt von ihm, daß "Vorsorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen getroffen wird, insbesondere durch die dem Stand der Wissenschaft und Technik entsprechenden Maßnahmen der Emissionsbegrenzung".

Schon der Wortlaut von§ 5 Abs. 1 Nr. 1 BlmSchG deutet darauf hin, daß die Norm drittschützend sein könnte. Im Gegensatz zur Nr. 2 ist in Nr. 1 die "Nachbarschaft" ausdrücklich erwähnt. Entscheidend ist dann, daß Nr. 1 der Gefahrenabwehr, Nr. 2 hingegen der Vorsorge dient. Wie oben angedeutet, vermittelt nur die erste Kategorie Drittschutz. Umgesetzt auf den Kreis der von einer Anlage betroffenen Nachbarn bedeutet das, daß der Dritte ein subjektives öffentliches Recht gegen die Behörde auf Einhaltung der Immissionswerte hat, mit denen die Schädlichkeilsschwelle für Schadstoffe konkretisiert wird. Die Festlegung von Emissionswerten hingegen verfolgt nicht 54

Dazu jüngst Bier, Immissionsschutzrechtlicher Nachbarschutz, ZfBR 1992, S. 15 ff.

Kapitel 1: Die Rechtslage in Deutschland

51

das Ziel, einem individualisierbaren Kreis Dritter risikolosere oder angenehmere Lebensverhältnisse zu verschaffen, sondern dient den Interessen der Allgemeinheif5. Ein Teil der Lehre sieht den Bezug auf die Belange der Allgemeinheit darin, daß die Vorschrift bezwecke, Freiräume als künftige Lebensräume oder für künftige Industrieansiedlungen zu erhalten oder - in stark belasteten Gebieten - wiederzugewinnen, die sogenannte Freiraumthese56• Einem anderen, klassischeren Verständnis zufolge ist die Vorschrift ein Mittel zur Gewährleistung eines ausreichenden Sicherheitsabstandes, der unterhalb der Schädlichkeitsschwelle liegf7. Die für den vorliegenden Zusammenhang entscheidende Gemeinsamkeit beider Auffassungen liegt darin, daß sie die Vorsorge in einem Bereich ansiedeln, in dem Gefahren noch nicht erkennbar sind. Diese Unterscheidung hängt nur vordergründig von der Anzahl der potentiell von der Anlage betroffenen Nachbarn ab. Moderne Anlagen haben einen so weiten Wirkungskreis, daß der Kreis der Immissionsbetroffenen nicht mehr eindeutig quantitativ oder qualitativ begrenzbar ist. Als Kerngehalt bleibt daher die Feststellung, daß dem Dritten Einwirkungsmöglichkeiten durch Klagen im Bereich des Immissionsschutzrechts nur zustehen, soweit es um Gefahrenabwehr geht. Nur bezüglich dieser klassisch polizeirechtlichen Funktion des BimSchG kann er behördliche Akte angreifen58• Diese Unterscheidung strahlt in die weiteren Grundpflichten des Belreibers in § 5 Abs. 1 BimSchG aus. Nr. 3 enthält zum einen das Reststoffvermeidungs- und Reststoffverwertungsgebot. Es dient der Verminderung des Abfallaufkommens und damit grundsätzlich der Vorsorge. Als solche ist die Pflicht daher nicht drittschützend59• Andererseits statuiert Nr. 3 auch die Pflicht zur Abfallbeseitigung. Da es sich meist um gefährliche Substanzen handelt, ist die Pflicht eine spezielle Ausprägung des Schutzgrundsatzes. Sie gibt dem betroffenen Nachbar daher das Recht, gegen eine diese Pflicht verletzende Behandlung der Abfälle vorzugehen60 • Die Aufspaltung der ss BVetwG, Urteil v. 185.1982, E 65, 313 (320). Feldhaus, Zum Inhalt und zur Anwendung des Standes der Technik, DVBI. 1981, S. 165 ff. (S. 170); weitere Literaturhinweise bei Marburger, Ausbau des Individualschutzes (Fn. 21), C 58 Fn. 245. 56

57 Die verschiedenen Nuancen dieser Auffassung sind erläutert bei Marburger, Ausbau des Individualschutzes (Fn. 21), C 59.

58 Dazu Jarass, Drittschutz im Umweltrecht, in: Festschrift Rudolf Lukes (Fn. 22), S. 57 ff. (S. 62). 59

Nachweise bei Marburger, Ausbau des Individualschutzes (Fn. 21), C 63 Fn. 277.

Zum Inhalt der Abfallbeseitigungspflicht VGH Bad.-Württ., Beschluß v. 20.12.1984, NVwZ 1985,433. 60

4*

52

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

Nr. 3 in einen dritt- und einen nicht drittschützenden Teil belegt gleichzeitig, welche untergeordnete Rolle der Wortlaut einer Vorschrift bei der Ermittlung subjektiver öffentlicher Rechte spielt. § 5 Abs. 1 Nr. 4 BlmSchG bezweckt, mit Hilfe der Abwärmenutzung den Einsatz fossiler Brennstoffe zur Energiegewinnung zu nutzen und so die allgemeine Luftbelastung zu verringern61. Als Konkretisierung des Vorsorgegebots ist die Vorschrift daher nicht drittschützend62• Die dargestellte Unterscheidung der verschiedenen Grundpflichten ist die Basis für die weitere Behandlung der subjektiven öffentlichen Rechte im Immissionsschutzrecht Klagt ein Dritter auf Erlaß einer nachträglichen Anordnung gemäߧ 17 Abs. 1 BlmSchG, ist der Antrag nur zulässig, wenn mit der Anordnung die Einhaltung der Pflicht aus § 5 Abs. 1 Nr. 1 BlmSchG erreicht werden soll63• Ein Durchgriff auf die Grundpflichten aus § 5 BlmSchG kommt zwar bei den nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen nicht in Betracht. § 22 Abs. 1 Nr. 1, 2 BlmSchG zielen aber auf die Verhinderung vermeidbarer und die möglichst weitgehende Beschränkung unvermeidbarer Umwelteinwirkungen ab. Umwelteinwirkungen sind wiederum die Immissionen, hinter denen die Gefahrenabwehr steht. Der drittschützende Charakter von§ 22 Abs. 1 Nr. 1, 2 BlmSchG ist daher weitgehend unbestritten64 • Schadensvorsorge einerseits und Gefahrenabwehr andererseits bilden die grundsätzliche Trennlinie auch im Atom- und Strahlenschutzrecht. Unter den Genehmigungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 2 Nr. 1 - 6 AtomG sind aus Sicht des Umweltschutzes bedeutsam das Gebot der Schadensvorsorge, der erforderliche Schutz gegen Störmaßnahmen und das Gebot der umweltverträglichen Standortwahl (§ 7 Abs. 2 Nr. 3, 5 und 6 AtomG). Der Pflicht zur umweltverträglichen Standortwahl (§ 7 Abs. 2 Nr. 6 AtomG) fehlt der Bezug zu unmittelbar bevorstehenden bzw. bereits eingetretenen Schäden. Daher entsteht aus ihr kein subjektives öffentliches Recht65• Umgekehrt verpflichtet§ 7 Abs. 2 Nr. 5 AtomG den Betreiber, die erforderlichen Schutzmaßnahmen gegen Störungen durch Dritte vorzunehmen, hat also deutlichen Bezug zu Gefahren und ist damit drittschützend66. Eine Besonderheit bildet hingegen § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG. Dem 61

Feldhaus, Die Novellierung, UPR 1985, S. 385 ff. (S. 387).

62

Marburger, Ausbau des Individualschutzes (Fn. 21), C 64.

63

Nachweise bei Marburger, Ausbau des Individualschutzes (Fn. 21), C 67 Fn. 294.

64

Nachweise bei Marburger, Ausbau des Individualschutzes (Fn. 21), C 70 Fn. 309.

65

BVerwG, Urteil v. 19.12.19&5, DVBI. 1986, 190 (192).

66 Marburger, Ausbau des Individualschutzes (Fn. 21), C n.

Kapitell: Die Rechtslage in Deutschland

53

Wortlaut nach handelt es sich um eine reine Vorsorgenorm: Die Genehmigung darf nur erteilt werden wenn "die nach dem Stand der Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist".

Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung ist jedoch in dieses Vorsorgegebot die klassische Gefahrenabwehr als auf jeden Fall enthalten hineinzulesen67• Entstanden ist dadurch die "gefahrenabwehrende Vorsorge", die - wegen des Bezugs zu bevorstehenden oder eingetretenen Schäden - drittschützend ist. Daher führt eine Überschreitung der Dosisgrenzwerte aus § 45 Strablenschutzverordnung, die Ausdruck einer Immissionbegrenzung sind, zur Klagebefugnis, nicht dagegen die Nichteinhaltung des Strablenminimierungsgebots aus §§ 28 Abs. 1 Nr. 2, 45 Satz 1, 46 Abs. 1 Nr. 2 Strablenschutzverordnung, denen der Gedanke der Emissionsbegrenzung zugrunde liegt68• Nicht drittschützend ist schließlich das Versagungsermessen in § 7 Abs. 2 AtomG, so daß Dritte durch Ermessensfehler nicht in ihren Rechten verletzt sein können69• Weder die Berufung auf die Energiebedarfssituation noch die Behauptung, die Entsorgungsvorsorge (§ 9a AtomG)70 sei nicht gewährleistet, vermag Dritten also einen Genehmigungsabwehranspruch zu gewähren. Denn beide Argumente werden nur im Rahmen des Ermessens berücksichtigt, ohne Genehmigungsvoraussetzung zu sein. Im Wasse"echt beginnt der Nachbarstreit eine ähnliche Entwicklung zu nehmen wie im Baunachbarrecht Zunehmend verlagern sich ursprünglich rein zivilrechtlich geprägte Regelungsmodelle in das öffentliche Reche1• Die Frage nach subjektiven öffentlichen Rechten taucht insbesondere bei der Erteilung von Bewilligungen und Erlaubnissen auf72• Wie schon der Wortlaut der Vorschriften deutlich macht, kommt den Voraussetzungen einer Bewilligung in § 8 Abs. 3 und 4 WHG drittschüt67

BVetwG, Urteil v. 19.12.1985, E 72, 300 (314 ff.)- U)'hl.

BVetwG, Urteil v. 22.12.1980, E 61, 256 (264 ff.)- Stade; BVetwG, Urteil v. 19.12.1985, E 72, 300 (319) - U}lhl; Hess. VGH, Beschluß v. 23.7.1985, NVwZ 1985, 765; OVG Lüneburg, Urteil v. 29.12.1983, DVBI. 1984, 887 (890). Den Bezug zu den Immissions- und Emissionsbegrenzungen stellt her Jarass, Drittschutz im Umweltrecht, in: Festschrift Rudolf Lukes (Fn. 22}, S. 57 ff. (S. 62). Weitere Literaturhinweise bei Marburger, Ausbau des Individualschutzes (Fn. 21}, C 77 Fn. 341. 68

69

BVetwG, Urteil v. 19.12.1985, E 72,300 (318}- Whyl.

70

Dazu Marburger, Ausbau des Individualschutzes (Fn. 21}, C 74 f., 79.

71

Marburger, Ausbau des Individualschutzes (Fn. 21}, C 81.

72

Leiturteil zum Drittschutz hier BVerwG, Urteil v. 11.11.1970, E 36, 248 (251); dazu

Preu, Subjektivrechtliche Grundlagen des öffentlichrechtlichen Drittschutzes. Berlin 1990, S. 159.

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

54

zende Wirkung zu73• Bezüglich der Erlaubnisse geht das WHG anders vor. Es enthält gar keine drittschützenden Normen, mittels derer ein Nachbar gegen die Erlaubnis vorgehen könnte, sondern geht davon aus, daß der Betroffene seine Ansprüche gegen den Erlaubnisempfänger im Zivilrechtsweg geltend machen kann74• Wie weit die kategorische Einteilung in Bevölkerungs- und Individualrisiko die Diskussion im Umweltbereich beeinflussen kann, zeigt sich im Natur- und Landschaftspflegerecht. Hier vertritt die Rechtsprechung seit längerem die Meinung, daß dieses Normenmaterial ausschließlich öffentlichen Interessen dient und daher grundsätzlich keine subjektiven öffentlichen Rechte vermittelf5 • Nur für die besondere Lage Berlins ist das OVG Berlin von dieser Meinung abgewichen76• Die Entscheidung ist deswegen interessant, weil sie zeigt, daß eine unausgesprochene Voraussetzung der Rechtsprechung für die Einräumung von Drittschutz die Begrenzbarkeit des Personenkreises ist. b) Zurückhaltend ist das BVerwG im Umweltrecht auch in der Frage, ob der Betroffene im Einzelfall ein subjektives Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung hat. Schon generell ist ein solches Recht nur gegeben, wenn die zugrunde liegende Ermessensnorm selbst subjektivrechtliche Positionen des Dritten berührt. Bei der atomrechtlichen Genehmigung hat das Gericht aber eine drittschützende Wirkung der Ermessensausübung sogar abgelehnt, obwohl die Genehmigungsvoraussetzungen zum Teil subjektive öffentliche Rechte vermitteln77• Entsprechendes wird man annehmen müssen für nachträgliche Maßnahmen, die im Ermessen der Behörde stehen78• Kapitel 2: Die Rechtslage in Frankreich §

6 Die Klageverfahren

1. Im französischen Recht sind die Möglichkeiten, die Verwaltung durch eine weitere Instanz überprüfen zu lassen, ebensowenig auf gerichtliche 73 Statt vieler Bender/DohJe, Nachbarschutz im Zivil- und Vetwaltungsrecht. München 1972, Rdnr. 315; Breuer, Wasserrecht, in: Handbuch für die öffentliche Vetwaltung, Bd. 2. Neuwied 1984, Rdnr. 172 ff. 74

Marburger, Ausbau des Individualschutzes (Fn. 21), C 83.

15

Dazu statt aller Soell, Naturschutz- und Landschaftspnegerecht, in: Salzwedel (Hrsg.): Grundzüge des Umweltrechts. Berlin 1982, S. 481 ff. (S. 493). 76

OVG Berlin, Urteil v. 2.5.19TI, DVBI. 19TI, 901.

77

BVerwG, Urteil v. 19.12.19&5, E 72, 300 (318)- Whyl.

78

Jara.ss, Drittschutz im Umweltrecht, in: Festschrift Rudolf Lukes (Fn. 22), S. 57 ff. (S.

63).

Kapitel 2: Die Rechtslage in Frankreich

55

Verfahren beschränkt wie in Deutschland. Außergerichtlich kann der Beschwerdeführer im Wege des recours administratif vorgehen, das heißt sich an eine höhere, einer Rechtsaufsichtsbehörde vergleichbare Instanz wenden79. Er kann, ebenfalls außergerichtlich, das Verfahren vor dem sogenannten Vermittler (recours au mediateur) anstrengen80• Die in dieser groben Einteilung zweite Möglichkeit ist der dem deutschen Verwaltungsgerichtsverfahren vergleichbare recours contentieux'1• Beide Zweige - der aussergeriebtliehe und der gerichtliche - sind anders als im deutschen Recht voneinander unabhängig. Daher setzt der Rechtsweg vor den Verwaltungsgerichten nicht voraus, daß vorher die betroffene Behörde oder eine andere verwaltungsinterne Stelle Gelegenheit gehabt hat, die streitige Sache nochmals zu prüfen82• Der Grund für diese Parallelität der Rechtsbehelfe hängt mit der Entstehungsgeschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit zusammen: Ursprünglich war der Weg zu den "Gerichten" eine Kontrolle innerhalb der Exekutive selbst, der Conseil d'Etat eine Verwaltungsbehörde. Das Kontrollverfahren war also, wenn man so will, Vorverfahren und gerichtliche Kontrolle in einem. Darauf wird noch näher einzugehen sein. Für den hier zu behandelnden Zusammenhang genügt es, das verwaltungsgerichtliche Verfahren, den recours contentieux oder genauer: den contentieux administratif zu behandeln. Er erfüllt in Frankreich die Funktionen, die in Deutschland von der Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgeübt werden. Zum besseren Verständnis sollen an dieser Stelle die Grundzüge der französischen Systematik umfassender als im deutschen Teil erläutert werden. a) Der gerichtliche Rechtsschutz gegenüber der Verwaltung in Frankreich ist geprägt durch die zentrale Rolle des Conseil d'Etat. Er war lange Zeit erst- und letztinstanzliebes "Gericht" für öffentlich-rechtliche Klagen83• Erst 79

Dazu Chapus, Droit du contentieux administratif. 3e ed. Paris 1991, para 379 (p. 257).

Zu dieser, am schwedischen ombudsman orientierten Institution näher LaubaderefVeneziajGaudemet, Traitc! de droit administratif, T. 1. 11e c!d. Paris 1990, para 88 (pp. 78 ss.). 80

ff.

81

Vgl. auch Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 1. Baden-Baden 1988, S. 104

82 So ausdrücklich Chapus, Contentieux (Fn. 79), para 379 (t>. 257) (HeJVorhebung im Original): "En principe, iJ est toujours possible, mais iJ n 'est jamazs obligatoire, de faire prc!cc!der l'exercice du recours juridictionnel par celui d'un recours administratif. • 83 Fromont, Le systeme fran~is de protection juridictionnelle du citoyen contre l'administration, in: System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes. Festschrift für Christian-Friedrich Menger. Köln/Berlin/Bonn/München 1985, S. 887 ff. (S. 887). Zur geschichtlichen Entwicklung eingehend Chevallier, L'c!laboration historique du principe de sc!paration de Ia juridiction administrative et de l'administration active. Paris 1970, pp. 102 ss.; ausführliche Darstellungen zum Conseil d'Etat bei Müller, Der Conseil d'Etat, AöR 117 (1992), S. 337 ff. und bei Reinhard, Der Staatsrat in Frankreich, JöR 30 (1981), S. 73 ff. Die einzelnen Fälle, in denen der Conseil d'Etat zum Teil nicht erste Instanz im engeren Sinne war, die bei Otto Mayer, Theorie des französischen Verwaltungsrechts. Straßburg 1886, S. 119 ff. und bei v.

56

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

1953 wurden die Tribunaux administratifs eingerichtet84, die als allgemeine Verwaltungsgerichte erster Instanz grundsätzlich für alle verwaltungsgerichtlichen Streitigkeiten zuständig sind (Art. L. 3 Code des tribunaux administratifs et des cours administratives d'appel; im folgenden: Code TACAA)as. Seit 1990 existieren außerdem fünf Cours administratives d'appel, die mit einigen Ausnahmen- recours en appreciation de /egalite, litiges re/atifs aux elections municipales et cantonales, recours pour exces de pouvoir forme contre /es actes reglementaires - als verwaltungsgerichtliche Berufungsinstanz angerufen werden können (Art. ler loi no 87-1127 du 31 decembre 1987 Portant reforme du contentieux administratif). Festzuhalten ist allerdings, daß in bestimmten Fällen der Conseil d'Etat nach wie vor die erste und letzte Instanz für den recours pour exces de pouvoir, also das wichtigste verwaltungsgerichtliche Verfahren, darstellt86• Diese Fälle sind Verfahren im recours pour exces de pouvoir forme contre /es decrets reglementaires ou individue/ (Art. ler decret n° 53-934 du 30 septembre 1953 Portant reforme du contentieux administratif). Grundsätzlich ist die Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines Verwaltungshandeins ausschließlich Sache der Verwaltungsgerichte87. Der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten ist nur gegeben für privatrechtliches Handeln der Verwaltung sowie für bestimmte Verwaltungsstreitigkeiten, die spezialgesetzlich den ordentlichen Gerichten zugewiesen sind. Abgesehen davon müssen die Zivilgerichte die Verfahren aussetzen und im Wege des recours en appreciation de Ia Iegalite eine Entscheidung der Verwaltungsgerichte einholen, wenn die zivilrechtliche Entscheidung von der Rechtmäßigkeit einer Verwaltungsmaßnahme abhängt. Insgesamt läßt sich daher die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte in Frankreich der deutschen Regelung mit ihrer Generalklausel in § 40 VwGO vergleichen. Sollte es zu Kompetenzkonflikten zwischen den ordentlichen Gerichten und der Verwaltungsgerichtsbarkeit kommen, so entscheidet ein

Sarwey, Das öffentliche Recht und die Verwaltungsrechtspflege. Tübingen 1880, S. 193 ff. dargestellt sind, können hier vernachlässigt werden.

84 Decret n• 53-934 du 30 septembre 1953 Portant reforme du contentiewc administratif. Zur EntwicklungAubyjDrago, Traite de contentieux administratif, T. 1. 3e ed. Paris 1984, paras 221 ss. (pp. 268 ss.). &S

Dazu auch Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 1 (Fn. 81), S. 104.

86

Chapus, Contentieux, (Fn. 79), para 167 (S. 139).

87 LaubaderejVenezia/Gaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 80), para 577 (p. 341): "Le principe general est que les tribunaux civils ne peuvent pas apprecier eux-memes Ia legalite des actes administratifs, ...• Ausnahmen, die hier nicht zu vert1efen sind, bei Auby/Fromont, Les recours contre les actes administratifs dans les pays de Ia Communaute Economique europeenne. Paris 1971, pp. 274 ss.

Kapitel 2: Die Rechtslage in Frankreich

57

eigenes Gericht, das Tribunal des conflits (Art. 12, 17 decret du 26 octobre 1849 Reglant les fonnes de proceder du Tribunal des conflits). b) Herkömmlicherweise werden die Klagearten nach dem Umfang der richterlichen Befugnisse klassifiZiert88• Dieses Kriterium ist maßgeblich von Edouard Laferriere entwickelt worden, der damit Ende des 19. Jahrhunderts die bis dahin unsystematische Theorie des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens strukturierte89• Mit diesem Kriterium lassen sich zwei große Gruppen trennen: Auf der einen Seite diejenigen Verfahren, in denen der Richter der Verwaltung eine Geldleistung auferlegen oder einen acte administratif ganz oder teilweise ändern kann. Wegen dieser umfangreichen Kompetenz faßt man diese Verfahren in den contentieux de pleine juridiction zusammen. Unter sie fallen vor allem der recours en indemnite contractuelle ou quasi delictuelle90, aber auch der recours en matiere electorale91 • Die zweite große Gruppe stellen die Verfahren im contentieux de /'annulation (Aufhebungsstreitigkeiten) dar, in denen der Richter den angegriffenen Akt der Verwaltung kassieren kann. Die mit Abstand wichtigste Klageart der Aufhebungsstreitigkeiten ist der recours pour exces de pouvoir, eine Klage, mit der ein rechtswidriger acte administratif angefochten werden kann. Der recours pour exces de pouvoir ist das klassische verwaltungsgerichtliche Verfahren in Frankreich und entspricht seiner Funktion nach der Anfechtungsklage des deutschen Rechts. Neben diesen zwei wichtigsten Gruppen lassen sich, nimmt man die richterlichen Befugnisse als Richtlinie, weitere Verfahren unterscheiden. Es sind dies einmal der contentieux de l'interpretation (Auslegungstreitigkeiten), in denen der Richter eine Festeilung entweder über die Rechtmäßigkeit eines acte administratif oder dessen Auslegung trifft. Eine solche Entscheidung ergeht wie erwähnt auf Vorlage eines ordentlichen Gerichts, das nicht selbst über die /egalite einer Verwaltungshandlung befmden kann. Es bleiben schließlich die contentieux de Ia repression (Öffentliche

.. 88 LaubaderefVeneziajGaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 80), paras 621 ss. (pp. 379 ss.). Einen Uberblick über die verschiedenen Einteilungskriterien geben Debbasch/Rkci, Contentieux administratif. Se ed. Paris 1990, {laras 727 ss. (pp. 711 ss.). Zu neueren, die klassische Einteilung in Frage stellenden Entwicklungen Doumbe-Bille, Recours pour exces de pouvoir et recours de plein contentieux, AJ.DA. 1993, pp. 3 ss. 89 Laferriere, Traite de Ia juridiction administrative et des recours contentieux, T. 2. Paris 1888, pp. 111 ss. Zum Ganzen Chapus, Contentieux (Fn. 79), para 147 (p. 125).

90 So z.B. in den Fällen C.E. v. 27.4.1988, Mbakam, Rec. 172; C.E. v. 23.4.1971, Sauvage, Rec. 978. 91 So z.B. im Fall C.E. v. 13.1.1967, Elections municipales d'Aix-en-Provence, Rec. 16. Weitere Verfahren im Rahmen des contenieux de pleine juridiction bei DebbaschjRicci, Contentieux (Fn. 88), para 729 (p. 713).

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

58

Unterlassungsklage), mit denen Beeinträchtigungen der domaine public angegangen werden können. Einer Verpflichtungsklage hingegen steht das französische Verständnis des Gewaltentrennungsprinzips entgegen92• Spätestens seit der heute noch gültige /oi des 16 et 24 aoat 1790 war es den juges judiciaires - den Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit - untersagt, Handlungsgebote an die Verwaltung zu richten. Dort heißt es in Art. 13: "Les fonctions judiciaires sont distinctes et demeureront toujour.; separees des fonctions administratives. Les juges ne pourront, a peine de forfaiture, troubler de quelque maniere que ce soit, les operations des corps administratifs, ni citer devant eux les administrateur.; pour raison de leur.; fonctions. •

Diese Vorschrift ist Ausdruck des generellen Prinzips, nach dem exekutivische und judikative Befugnisse gegeneinander abgegrenzt werden, und es übertrug sich ab dem Moment, in dem die Verwaltungskontrollinstanzen eine den ordentlichen Gerichten näherkommende Unabhängigkeit erhielten, auch auf diesen Zweig der Judikative. Es hat sich in der Rechtsprechung des Conseil d'Etat so gefestigt, daß es als Bestandteil des ordre public gilt93• Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen können die Gerichte die Verwaltung zu einer konkreten Handlung verpflichten. Einen Umweg hat die Rechtsprechung allerdings gefunden, um über den recours pour exces de pouvoir wenigstens teilweise die Wirkungen einer Verpflichtungs- bzw. allgemeinen Leistungsklage zu erreichen. Wird nämlich dem Bürger von der Verwaltung eine Leistung vorenthalten, auf die er einen Anspruch zu haben glaubt, dann wird nach dem Ablauf von vier Monaten die Untätigkeit der Verwaltung als ausdrückliche Ablehnung des Begehrens gedeutet. Diese fmgierte Ablehnung stellt einen acte administratif dar, gegen den der Bürger mit dem recours pour exces de pouvoir vorgehen kann. Erreichen wird er allerdings maximal, daher die oben gemachte Einschränkung, daß das Gericht die Ablehnung für rechtswidrig erachtet. Ein Verpflichtungs- oder auch Bescheidungsurteil deutscher Prägung, mit dem der Verwaltung zumindest eine erneute Entscheidung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts auferlegt wird, bleibt dem Rechtssuchenden auch hier versagt94• Das Gericht kann nicht die Verwaltungsentscheidung an 92 Woehrling, Die französische Verwaltun~gerichtsbarkeit im Vergleich mit der deutschen, NVwZ 19&5, S..21 ff. (S. 22). Bedenkt man die Entstehun~geschichte der französischen Verwaltun~gerichte aus einer verwaltungsinternen Kontrolle heraus, dann ist es nicht ganz exakt, hier von Gewaltentrennung zu ~rechen. Eine genauere Analyse dieser herkömmlich gegebenen Begründung ist jedoch an d1eser Stelle nicht nötig.

93

Dazu kritisch Di Qual, Anmerkung zu C.E. 17.4.1%3, D. 1963Jur.689.

Krumpholz, Der Gleichheitssatz im französischen Recht. Frankfurt a.M./Bem/New York/Paris 1989 (zugl. Diss Freiburg 1988), S. 239; Tomuschat, Gerichtlicher Rechtsschutz 94

Kapitel 2: Die Rechtslage in Frankreich

59

sich ziehen. Kommt die Verwaltung ihrer Pflicht weiterhin nicht nach, kann der Bürger lediglich im Wege eines contentieux de pleine juridiction eine Verurteilung zum Schadensersatz erreichen. Die Parallele zu der römischrechtlichen Vorstellung, wonach die Nichterfüllung einer Pflicht nur zum Schadensersatz, nicht aber zum Erfüllungsanspruch führt, drängt sich auf. Sie fmdet sich heute noch in Art. 1142 Code civil, in dem es heißt: "Toute obligation de faire ou de ne pas faire se resout en dommages et interets, en cas d'inexecution de Ia part du debiteur. •

c) Neben diesen allgemeinen verwaltungsgerichtlichen Verfahren gibt es noch einige spezialgesetzliche geregelten Klagearten. Für das Umweltrecht besonders bedeutsam ist dabei die in Art. 14 der loi du 19 juillet 1976 Relative aux installations classees pour Ia protection de l'environnement normierte besondere Umweltschutzklage95• Nach diesem Gesetz muß jede umweltbeeinträchtigende und in der sogenannten nomenclature - die den Aufzählungen der zum deutschen BlmSchG erlassenen Rechtsverordnungen vergleichbar ist - "klassifizierte" Anlage einer staatlichen Eröffnungskontrolle unterzogen werden (Art. 2). Anlagen, die eine erhebliche Gefahr oder Beeinträchtigung darstellen (graves dangers ou inconvenients), bedürfen der Genehmigung (autorisation) (Art. 3 al. 1 und 2). Für alle anderen Anlagen ist der Behörde eine Anmeldung vorzulegen (declaration) (Art. 3 al. 3). Die Befugnisse des Richters in diesem besonderen Verfahren gehen über die dargelegten Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsprozeßrechts hinaus96• Er muß sich nicht damit begnügen, eine erteilte Genehmigung zu kassieren, sondern er kann die ergangenen Verwaltungsentscheidungen auch abändern. Er kann beispielsweise dem Betrieb im Interesse des Nachbarschutzes weitere Auflagen erteilen97• Dem Richter steht in Ausübung dieser Befugnisse echtes richterliches Ermessen zu: Er darf die Zweckmässigkeit der angefochtenen Entscheidung überprüfen, insbesondere Alternativen in die Beurteilung mit einbeziehen. Die Grenzen dieses Ermessens sind diejenigen des Verwaltungsermessens, das heißt der Richter darf insbesondere nur Auflagen erteilen, deren Durchfühdes Einzelnen gegen die Untätigkeit der vollziehenden Gewalt, in: Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 3. Köln/Berlin/Bonn/München 1971, S. 79 ff. (S. 83). 95 Dazu Fromont, Rechtsschutz im französischen Umweltrecht, UPR 1983, S. 186 ff. (S. 189 f.). Die Dezeichung "Umweltschutzklage" ist insofern nicht ganz korrekt, als gemäß Art. 14 auch derBetreibergegen die Entscheidungen vorgehen kann und diese Klagen meist die Beseitigung von umweltschützenden Maßnahmen zum Ziel haben. Für den vorliegenden Zusammenhang, in dem es nur um Drittklagen geht, stimmt die Bezeichnung "Umweltschutzklage" hingegen und soll daher beibehalten werden.

96

Fromont, Rechtsschutz im französischen Umweltrecht, UPR 1983, S. 186 ff. (S. 190).

C.E. v. 3.2.1967, Societe des forges de Chelle, Rec. 825; C.E. v. 20.1.1978, Bounaix, DA. 1978, n° 66. 97

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

60

rung rechtlich und tatsächlich möglich ist98• Der Gesetzgeber hat, das wird bereits aus diesem kurzen Überblick deutlich, mit der Umweltschutzklage einen Prozeß geschaffen, der halb Verwaltungs- und halb Gerichtsverfahren ist, in dem der Richter mit der Verwaltung zusammenarbeitet, um eine grundsätzlich dem Richter vorbehaltene Aufgabe zu erfüllen99 • Grundsätzlich können neben dieser speziellen Umweltschutzklage alle anderen verwaltungsgerichtlichen Verfahren angestrengt werden. Ein Verhältnis der Exklusivität oder der Rangfolge gibt es nicht"10• Angesichts der weitreichenden Befugnisse des Richters nach Art. 14 der loi du 19 juil/et 1976 haben diese Klagemöglichkeiten allerdings in der Praxis kaum eine Bedeutung101 • d) Ausgehend von der Klassifizierung Lafenieres läßt sich die Systementscheidung des französischen Verwaltungsgerichtsverfahrens im Sinne der eingangs erwähnten Grundprizipien contentieux objectif und contentieux subjectif ermitteln. Das Pendant zur deutschen Anfechtungsklage, der recours pour exces de pouvoir, stellt ein objektives Kontrollverfahren dar102• Gegenstand dieser Klageart ist die legalite eines acte administratif, ohne daß nach den Auswirkungen der Rechtswidrigkeit gefragt würde. Die Maßnahme der Verwaltung wird daraufhin überprüft, ob sie mit der objektiven Rechtsordnung vereinbar ist. Ist sie es nicht, wird sie vom Gericht aufgehoben. Individualrechte spielen in Frankreich in verwaltungsgerichtlichen Verfahren vor allem in den Schadensersatzprozessen gegen die Verwaltung eine Rolle, also den Verfahren, die unter die Gruppe der contentieux de pleine juridiction fallen. Nur dort ist die Überprüfung der Rechtmäßigkeit verbunden mit der Frage, inwieweit dadurch die Rechte des einzelnen verletzt worden sind. Es deutet sich an dieser Stelle ein Zusammenhang an, der weiter unten noch zu vertiefen ist. Es zeigt sich nämlich, daß die Frage, welches Ziel mit einem gerichtlichen Verfahren gegen die Verwaltung verfolgt wird, nicht getrennt von den richterlichen Befugnissen, den möglichen Urteilsfolgen betrachtet werden kann. Das französische Recht kennt auch den durch die Verwaltung in seinen Rechten verletzten Kläger. Nur erscheint dieser Klä98 C.E. v. 16.10.1957, Soc. ''Les lanlleries de Ia Seine", Rec. 532; Fromont, Rechtsschutz im fra02ösischen Umweltrecht, UPR 1983, S. 186 ff. (S. 190). 99

Jegouzo, dans: Urbanisme. Paris 1992, n• 5089.

100

Jegouzo, dans: Urbanisme (Fn. 99), n• 5095.

101

Jegouzo, dans: Urbanisme (Fn. 99), n• 5096.

Dazu auch Lampue, La distinction des contentieux, dans: La technique et les principes du droit public. Etudes en l'honneur de Georges Scelle, T. 1. Paris 1950, pp. 285 ss. (pp. 304 ss.). 102

Kapitel 2: Die Rechtslage in Frankreich

61

ger nicht in den speziellen Aufhebungsverfahren, sondern vor allem in den auf Schadensersatz ausgerichteten Verfahren. e) Bevor auf die einzelnen Zulässigkeitsvoraussetzungen speziell des recours pour exces de pouvoir näher eingegangen wird, ist noch eine Besonderheit des französischen Verwaltungsgerichtsverfahrens hervorzuheben: Klagen haben grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung, das heißt der Begünstigte kann sich solange auf den acte administratif berufen, bis rechtskräftig dessen Unwirksamkeit festgestellt ist103• Das gilt sowohl für die Tribunaux administratifs (Art. R. 118 Code TA-CAA) wie für die Cours administratives d'appel (Art. R. 125 Code TA-CAA) und den Conseil d'Etat (Art. 48 ordonnance n• 45-1708 du 31 juil/et 1945 Sur /e Conseil d'Etat). Das grundsätzliche Fehlen eines Suspensiveffekts steht im Zusammenhang mit der Funktion als contentieux objectif, als objektives Kontrollverfahren: In einem solchen Verfahren überwiegt das Interesse an der Effektivität des Verwaltungsverfahrens, so daß eine Entscheidung solange Gültigkeit haben soll, wie ihre Rechtswidrigkeit nicht gerichtlich festgestellt ist. Einen übergeordneten Gesichtspunkt, nach dem die Wirkungen der Maßnahme zunächst nicht eintreten sollen, gibt es niche 04 • Solange nur objektiv rechtmäßige Zustände herrschen sollen, ist der Zeitpunkt, zu dem diese objektive Rechtmäßigkeit hergestellt wird, sekundär. Der Aspekt, daß der Schutz der subjektiven Rechte eines Einzelnen die grundsätzliche Aussetzung der behördlichen Entscheidung verlangt, kommt in einem solchen Ansatz nicht zum Tragen. Nur unter engen Voraussetzungen kann die Aussetzung der Vollziehung der Verwaltungsentscheidung (sursis a execution) beantragt werden (art R. 120 Code TA-CAA für die tribunaux administratifs; Art. R. 126 i.V.m. R. 120 Code TA-CAA für die cours administratives d'appel; Art. 54 decret n• 63-766 du 30 juillet 1963 Portant reglement d'administration publique pour l'application de l'ordonnance n• 45-1708 du 31 jui/let 1945 et relatif a l'organisation et au fonctionnement du Conseil d'Etat für den Conseil d'Etat). Danach kann der Richter die Aussetzung der Vollziehung beschließen105, "si l'execution de Ia decision attaquee risque d'entrainer des consequences difficilement reparables et si les moyens enonces dans Ia requete paraissent, en l'etat de l'instruction, serieux et de nature ajustifier l'annulation de Ia decision attaquee". 103

Dazu Skouris, Dervorläufige Rechtsschutz, Die Vetwaltung 14 (1981), S. 35 ff.

Bezeichnend ist die Äußerung von Hostiou in der Anmerkung zur Entscheidung C.E. v. 9.1.1981, Comite Jnterassociation pour l'environnement de Nancy, AJ.DA. 1981, 3n (379) (Hervorhebung hinzugefügt). "En realite, Je juge n'accorde Je sursis [sc. die aufschiebende Wirkung] que si un interet supbieur invoque par Je requerant merite que soit temporairement differee l'execution de cette decision.• 104

105 Art. 54 al. 4 Decret n• 63-766 du 30 juillet 1963 für den Conseil d'Etat. Ausführlich zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen Chapus, Contentieux (Fn. 79), paras 1152 ss. (pp. 865 ss.).

62

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

Damit müssen zwei Voraussetzungen erfüUt sein: Zum einen muß ein Schaden zu befürchten sein, der die vorläufige Hinnahme der Vollziehbarkeit nicht gerechtfertigt erscheinen läßt (consequences difficilement reparables); zum anderen muß nach summarischer Prüfung die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme möglich erscheinen (die sogenannten moyens serieux). Der Conseil d'Etat interpretiert diese beiden Voraussetzungen restriktiY06. Selbst wenn die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens groß sind, kann er den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung aus Gründen der Zweckmäßigkeit ablehnen107• Für zwei umweltrelevante Bereiche ist der vorläufige Rechtsschutz abweichend geregelt. Nach Art. 2 al. 2 loi du 10 juillet 1976 Relative a Ia protection de Ia nature, müssen sich Anträge auf Genehmigung von umweltgefährdenden Bauvorhaben und Anlagen auf eine Umweltverträglichkeitsprüfung (etude d'impact) stützen. Fehlt sie, ist der Richter verpflichtet, dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung, der sich auf die Rechtswidrigkeit der Zulassung wegen fehlender Umweltverträglichkeitsprüfung stützt, stattzugeben (Art. 2 al. 11). Diese Regelung wurde in der Praxis häufig dadurch umgangen, daß ein Gutachten vorgelegt wurde, das zwar mangelhaft war, den Antrag auf Vonzugsaussetzung aber zu entkräften vermochte108• Inzwischen sind das Wissen um die Anforderungen an eine Umweltverträglichkeitsprüfung und dementsprechend die Nachprüfbarkeit im verwaltungsgerichtlichen Verfahren jedoch gestiegen, so daß die Umgehungschancen geringer geworden sind. Eine weitere Sonderregelung enthält Art. 6 loi du 12 juillet 1983 Relative a Ia democratisation des enquetes publiques et aIa protection de l'environnement. Nach diesem Gesetz muß vor allen öffentlichen oder privaten Arbeiten, die umweltbeeinträchtigend wirken können, ein Verfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung (enquete publique) durchgeführt werden. Wird nach so einem Verfahren dennoch eine ungünstige Entscheidung getroffen, so haben die Verwaltungsgerichte die Vollziehung auszusetzen,

106 Fromont, Rechtsschutz im französischen Umweltrecht, UPR 1983, S. 186 ff. (S. 190). Zu den Unwägbarkeilen der Handhabung des sursis durch den Conseil d'Etal siehe Caballero, Le Conseil d'Etat, RJ.E. 1984, pp. 3 ss. (pp. 21 ss.).

a

C.E. v. 13.2.1976, Association de sauvegarde du quartier Notre-Dame Versailles, Rec. Revue Administrative 1976, 381 concl. Morisot. Im Fall C.E. v. 21.11.1990, Societe SA.P.O.D. Audic et Commune de Theix, Rec. 924 genügte allerdings der voraussichtliche Erfolg des recours pour de pouvoir im Hauptsacheverfahren für die Anordnung des sursis, soweit die Kriterien der Rechtswidrigkeit a officio zu prüfen waren. Ein weiteres Beispiel für die grundsätzlich flexible Handhabung des Prozeßrechts durch die französischen Gerichte. 107

100

=

exces

108 Fromont, Rechtsschutz im französischen Umweltrecht, UPR 1983, S. 186 ff. (S. 190). In Deutschland fehlt es in einem solchen Fall bereits an der Klagebefugnis; vgl. etwa VGH München, Urteil v. 26.1.1993, NVwZ 1993, 906.

Kapitel 2: Die Rechtslage in Frankreich

63

"si l'un des moyens invoques dans Ia requete parait, en l'etat de l'instruction, serieux et de nature a justifier l'annulation".

Hat ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung Erfolg, ist die Verwaltung gehalten, den ausgesetzten Akt nicht zu vollziehen. Dieses Gebot richtet sich zunächst nur an die Behörden, nicht aber an den durch die Entscheidung begünstigten Privaten. Manche Gesetze sehen für diese Fälle gesonderte Regelungen vor. Die Nutzung einer Baugenehmigung beispielsweise, deren Vollzug ausgesetzt wurde, verhindern Art. L. 480-2 al. 10 und L. 480-3 Code de l'urbanisme dadurch, daß sie den Bürgermeister anweisen, die Nutzung der Baugenehmigung durch den Bauherrn unter Androhung von Strafe zu untersagen109• 2. Für die Zulässigkeil (recevabilite) des recours pour exces de pouvoir kommt es vor allem auf drei Punkte an. a) Zunächst ist von Bedeutung, ob es sich bei der angegriffenen Maßnahme um einen acte administratif handelt110• Dieser Prüfungspunkt ist vergleichbar mit der Frage, ob eine mit der Anfechtungsklage angegriffene Handlung einen Verwaltungsakt darstellt. Allerdings ist der acte administratif jede decision faisant grief, das heißt jede Entscheidung der Verwaltung, die eine nachteilige Wirkung für den Kläger erzeugt. Daher können anders als im deutschen Recht mit der Anfechtungsklage - auch Rechtsverordnungen mit dem recours pour exces de pouvoir angegriffen werden111 • Das hängt mit dem Charakter des recours pour exces de pouvoir als Verfahren im Dienste der tega/ite zusammen: Jedes Handeln der Verwaltung soll vor den Gerichten überprüfbar sein112• Weiterhin ist von Bedeutung, ob der Kläger Form und Frist eingehalten hat113• Die Formvorschriften finden sich in Art. R. 87 ff. Code TA-C4A. Im Rahmen dieser Untersuchung bedeutsame Besonderheiten gegenüber dem deutschen Recht ergeben sich dabei nicht. Vorschriften über die Klagefrist, die in der Regel zwei Monate ab der notification oder der pub/ication der 109

Dazu Chapus, Contentieux (Fn. 79), para 1166 (p. 880).

C.E. A!>s. v. 17.2.1950, Dme Lomotte, Rec. 110 = RD.P. 1951, 478, concl. Delvolve, note Waline. 110

111 Fromont, Rechtsschutz im französischen Umweltrecht, UPR 1983, S. 186 ff. (S. 188); ders., La protection juridictionnelle du particulier contre le pouvoir executif en France, in: Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 1. Köln/Berlin/Bonn/München 1969, S. 221 ff. (S.

250).

112

Chapus, Contentieux (Fn. 79), para 165 (p. 138).

Dazu näher Chapus, Contentieux (Fn. 79), paras 467 ss. resp. 522 ss. (pp. 322 ss. resp. 373 ss.). 113

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

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angegriffenen Entscheidung beträgt, fmden sich in Art. R. 102 ff. Code TAC4A.

Schließlich ist zu prüfen, ob der Kläger die Voraussetzungen des interet pour agir erfüllt. Diese ungeschriebene Zulässigkeitsvoraussetzung dient

dem Zweck, den Kreis der Kläger, die ein Interesse an der gerichtlichen Entscheidung einer Streitfrage haben und deren Klagen daher zulässig sein sollen, von dem Kreis der nicht klage"interessierten" Antragsteller abzugrenzen. Sie entspricht daher der Klagebefugnis des deutschen Verwaltungsprozesses und ist im folgenden eingehender zu behandeln.

b) Bereits die Bezeichung der Klagevoraussetzung - interet pour agir macht deutlich, daß sie anderen Anforderungen unterliegt als die Klagebefugnis aus § 42 Abs. 2 VwGO. So kommt es insbesondere nicht darauf an, daß der Kläger eine Verletzung in eigenen Rechten rügen kann. Die Figur des subjektiven öffentlichen Rechts spielt im verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsverfahren in Frankreich keine Rolle. Der recours pour exces de pouvoir dient nicht dazu, die Rechte des einzelnen vor unzulässigen Eingriffen durch die Verwaltung zu schützen. Sein Ziel ist es, anläßtich einer Klage die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandeins überhaupt zu prüfen. Die konkrete Beeinträchtigung des Klägers gibt somit nur den Anstoß zu einem Verfahren, in dem die Gerichte sicherzustellen haben, daß die Verwaltung rechtmäßig handelt114• Der Kläger ist in diesem Sinne bloßer "Informant" der Gerichte. Dieses Verständnis des recours pour exces de pouvoir zieht die Frage nach sich, warum das Individuum überhaupt ein irgendwie geartetes Interesse nachweisen muß, um zur Klage zugelassen zu werden. Die Tatsache, daß die illegalite eines acte administratif möglich erscheint, müßte für die Ausübung der richterlichen Kontrollbefugnis genügen. Jede weitere Einschränkung ist aus dogmatischer Sicht systemwidrig115• Der Grund für die Einschränkung ist dann auch rein pragmatischer Natur. Üblicherweise erscheint als Argument, daß mit der Beschränkung der Klagebefugnis auf den "Interessierten" verhindert werden soll, daß es zu einer Überflutung der Gerichte (un afflux des recours) kommt116• Der Kläger muß ein Interesse an der gerichtlichen Entscheidung vorbringen können, das nicht das eines jeden Bürgers sein könnte. Eine Popularklage im engeren Sinn, das heißt eine Klage, die von 114 Fromont, Rechtsschutz im französischen Umweltrecht, UPR 1983, S. 186 ff. (S. 187); Woehrling, Die französische Verwaltungsgerich~barkeit im Vergleich mit der deutschen, NVwZ 1985, S. 21 ff. (S. 23). Kritisch zu einer Uberbetonung der Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Rechtskontrolle allerdings Vedei/Delvolve, Droit administratif, T. 2. lle ed. Paris 1990, p. 242. 115 Bleclanann, Das Ziel des gerichtlichen Rechtsschutzes, in: Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 3. Köln/Berlin/Bonn/München 1971, S. 21 ff. (S. 42). 116

Chapus, Contentieux (Fn. 79), para 166 (p. 139).

Kapitel 2: Die Rechtslage in Frankreich

65

einem beliebigen Bürger unabhängig von seiner Beziehung zum Streitgegenstand geführt werden kann117, kennt daher auch das französische Recht nicht118• 3. Die Darstellung deutet darauf hin, daß nicht alle Klagen aus der Sicht von Dritten die gleiche Bedeutung haben. Schon generell spielt unter allen Streitigkeiten der recours pour exces de pouvoir die bedeutsamste Rolle. Die Struktur des französischen Umweltrechts, die auf staatlicher Eröffnungskontrolle basiert und in den meisten Fällen auf ein Genehmigungserfordernis hinausläuft119, bedingt, daß auch im Bereich des Umweltschutzes die Anfechtung solcher behördlicher Zulassungsakte mittels des recours pour exces de pouvoir im Vordergrund steht. Die weitere Darstellung beschränkt sich daher auf dieses Verfahren. Mit einzubeziehen ist weiterhin die erwähnte Umweltschutzklage, ein Verfahren, das in dieser Form in Deutschland keine Parallele hat. Betrachtet man die verschiedenen Kriterien, die zur Begründung eines interet pour agir angeführt werden, bedarf die oben gemachte Aussage einer Relativierung. Die Klagebefugnis ist so flexibel ausgestaltet, daß sie in vielen Punkten nahe an eine actio popularis herankomme 20• Ähnlich dem deutschen Recht hat die Rechtsprechung in Frankreich eine weitgefächerte und differenzierte Kasuistik geschaffen, die sich nur bedingt systematisieren läße21 • Als Grundsatz läßt sich festhalten, daß der Conseil d'Etat neben dem interet materiet auch ein interet moral und neben dem interet individuel auch ein interet collectif anerkannt hae 22• Darauf ist näher einzugehen. a) Die erste vom deutschen Recht abweichende Gruppe stellen Tatbestände dar, in denen der Kläger ein bloßes immaterielles, ideelles Interesse an der Entscheidung hat (interet purement moral) 1Z3. So kann beispielsweise der Gläubige in seiner Eigenschaft als bloßer Kirchgänger gegen Be117 Bleckmann, Das Ziel des gerichtlichen Rechtsschut2es, in: Gerichtsschutt gegen die Exekutive, Bd. 3 (Fn. 115), S. 21 ff. (S. 21). 118 Chapus, Contentieux (Fn. 79), para 166 (pp. 138 s.); LaubaderejVenezia/Gaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 80), para 686 (p. 422). 119 Dazu LaubaderejVenezia, Traite de droit administratif, T. 3. 4e ed. Paris 1990, para 281 (pp. 265 ss.).

120

Chapus, Contentieux (Fn. 79), para 166 (p. 139)

121

Chapus, Contentieux (Fn. 79), para 429 (p. 295).

LaubaderejVeneziajGaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 80), para 686 (p. 423); eine ältere deutsche Darstellung findet sich bei Bleckmann, Das schutzwürdige Interesse, VerwArch 49 (1958), s. 213 ff. 122

1Z3

St. Rspr.; dazu und zum folgenden Chapus, Contentieux (Fn. 79), para 430 (pp. 296 s.).

5 Gcrstncr

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

66

schränkungen der Religionsfreiheit vorgehen124• Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, ein ehemaliger Frontkämpfer kann die Aufbebung einer reglementation verlangen, die es gestattet, eine caTte d'ancien combattant an Personen auszugeben, die nicht an militärischen Operationen teilgenommen haben125• Um dasselbe Ergebnis in Deutschland zu erzielen, müßte die Regelung über die Verteilung der Ausweise allen Kombattanten nicht nur einen Anspruch auf einen Ausweis geben, sondern auch ein Recht darauf vermitteln, daß die Verwaltung alle Ausgaben an Nicht-Kombattanten unterläßt. Eine Konsequenz, die mit den Aussagen der Schutznormtheorie, wonach dieses Interesse insbesondere ein rechtlich geschütztes sein müßte, nicht zu erreichen wäre. b) Die zweite Besonderheit des französischen gegenüber dem deutschen Recht sind die Fälle des interet collectif. So kann eine Kommune gegen die Baugenehmigungen vorgehen, die für Vorhaben auf ihrem Gebiet126 oder sogar das der Nachbargemeinde127 erteilt worden sind. Andere juristische Personen als Kommunen erhalten auf diesem Weg die Möglichkeit der egoistischen Verbandsklage: Der Verband kann geltend machen, durch die angegriffene Regelung in seinem Bestand, seinem Vermögen oder seiner satzungsgemäßen Organisation beeinträchtigt zu sein128• Die Bedeutung des interet collectif geht aber noch darüber hinaus129• Über diese Figur ließ sich in Frankreich die altruistische Verbandsklage, die in Deutschland nicht generell, sondern nur in gesetzlich gesondert normierten Fällen zulässig ist130, ohne spezielle Regelung konstruieren. Denn die Klagebefugnis ist auch gegeben, wenn die Beeinträchtigung von objektiven Interessen oder von Gütern der Allgemeinheit geltend gemacht wird131 • Der Verband muß nicht in irgendeiner Weise rechtlich verfaßt sein, es genügt die bloße association de fait. Voraussetzung ist lediglich, daß die Interessen 124 So die grundlegende Entscheidung C.E. v. 8.2.1908, Abbe Deliard, S 1908.3.49 (53), concl. Chardenet, note Hauriou. 125

C.E. v. 135.1949,BoutXoin, Rec. 214.

C.E. v. 10.3.1978, Comm. de Roquefort-les-Pins, Rec. 126; C.E. v. 14.12.1981, Sari European Homes, Rec. 467. 126 127

C.E. v. 17.6.1987, Vllle de Boulogne-Billancourt, Rec. 218.

C.E. v. 24.7.1981, Synd. national des impots CFDT, Rec. 320. Dazu Chapus, Contentieux (Fn. 79), para 430 (p. 296) i.V.m. para 445 (p. 307). 128

129

Dazu LaubaderejVenezia/Gaudemet, Trait6, T. 1 (Fn. 80), para 688 (p. 423 ss.).

130

Im Wirtschaftsrecht in § 13 UWG.

Grundlegend C.E. v. 28.12.1906, Synd. des patrons-coiffeurs de Limoges, Rec. 9n, concl. Romieu. Instruktiv außerdem C.E. v. 13.1.1975, Da Silva et CFDT, Rec. 16; C.E. Ass. v. 21.1.19n, CFDT et CGT, Rec. 39, concl Denoix de Saint Mare; C.E. Ass. v. 8.12.1978, GISTI, Rec. 493, concl. Dondoux. Ausführlich zur Verbandsklage im französischen Umweltrecht Raymond, En matiere de defense de l'environnement, RJ.E. 1991, pp. 453 ss. 131

Kapitel 2: Die Rechtslage in Frankreich

67

einen Bezug zu den Statuten oder der Tätigkeit des Verbandes haben132• Besonders Umweltverbände haben sich diese Klagemöglichkeit zunutze gemacht und genießen zum Teil, wie die VereinigungAlsace-Nature, wegen ihrer profunden Kenntnisse und Sachkunde bei den Verwaltungsgerichten einen guten Ruf133• c) Eine völlige Freigabe der Klagebefugnis hat aber in Frankreich nicht stattgefunden. Die Rechtsprechung hat den Kreis der möglichen Kläger vor aJJem durch die Forderung einzuschränken versucht, es müsse sich um ein interet personnel et direct handeln134• Das Kriterium des interet personnel dient dazu, den Kreis der Klagebefugten abzugrenzen von denjenigen Personen, die aJJein zum Schutze der /egalite einen Prozeß anstrengen. Dies ist die Abgrenzung des Interessenten vom quivis ex populo. Hier zeigt sich wieder die bereits erwähnte Systemwidrigkeit, denn speziell der recours pour exces de pouvoir fungiert stets als Paradebeispiel eines contentieux objectif. So rechtfertigt die bloße Eigenschaft, citoyen zu sein, für sich nicht das interet pour agir'35• Eine restlos befriedigende Formel dafür, wann ein interet personnel gegeben ist, gibt es nicht. Annäherungsweise läßt es sich jedenfaJJs dann feststellen, wenn der Kläger seine Zugehörigkeit zu einem cercle d'interet geltend machen kann136, eine Formulierung, die an eine auf das Interesse bezogene Schutznormlehre erinnert. Wie schwankend der Boden ist, auf dem die Rechtsprechung in diesem Bereich judiziert, zeigen die Fälle der contribuab/es, das heißt der Steuerund Abgabepflichtigen. Ein interet personnel können jeweils nachweisen: der contribuable communal gegen Maßnahmen, die das kommunale Budget belasten137; der contribuable departemental gegen die fmanzpolitischen Entscheidungen des Conseil genera/138; und der contribuable colonial gegen 132 C.E. Sect. v. 26.4.1985, Vllle de Tarbes, Rec. 119, concl. Lasserre; C.E. v. 28.10.1987, Association pour Ia defense des sites et paysages, Rec. 328; C.E. v. 29.1.1988, Association Segustero, Rec. 947. 133 Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Präsidenten des Verwaltungsgerichtes Jean-Marie Woehrling, Strasbourg. 134 Ausführlich Chapus, Contentieux (Fn. 79), paras 436 ss. (pp. 300 ss.); auch LaubaderejVeneziajGaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 80), para 689 (pp. 425 ss.).

135 C.E. v. 6.10.1965, Marcy, Rec. 493; C.E. v. 23.9.1983, Lepetit, Rec. 372; C.E. v. 27.10.1989, Seghers, Rec. 835. 136 C.E. v. 10.2.1950, Gicquel, Rec. 100, concl. Chenot; auch LaubaderejVeneziajGaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 80), para 689 (p. 426). 137 C.E. v. 29.3.1901, Casanova, S 1901.3.73, note Hauriou; C.E. v. 29.12.1905, Petit, S 1906.3.49 note Hauriou. 138

s•

C.E. v. 27.1.1911, Rkhemond, S 1913.3.92, concl. Helbronner.

68

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

Maßnahmen der jeweiligen Kolonialverwaltung139• Der contribuable d'Etat hingegen hat keine Klagebefugnis gegen die fmanzpolitischen Maßnahmen der Zentralgewale40• Hintergrund dieser Auffassung ist, daß der recours pour exces de pouvoir sonst zu einer actio popularis würde, also dasselbe - systemwidrige - Argument, mit dem die Klage des bloßen citoyen abgewiesen wird141.

Ein anderes Beispiel für ein mangelndes interet personnel zeigt, daß der Conseil d'Etat abgesehen von dieser Einschränkung bereichsspezi.ftsch argumentiert. Eine Kinogesellschaft kann nicht mit dem Argument, ihr erwachse aus der Baugenehmigung, die einer Konkurrenzgesellschaft rechtswidrig erteilt worden ist, ein geschäftlicher Nachteil, gegen diese Baugenehmigung vorgehen142• Auch im Hinblick auf solche Fälle taucht eine Formulierung auf, die an die Schutznormtheorie erinnert. Es kommt nämlich darauf an, daß der Kläger ein interet geltend macht, daß mit dem vom Gesetz intendierten Zweck übereinstimmt und daß die verletzte Norm nicht nur im Interesse der Verwaltung, sondern auch im Interesse der Bürger erlassen wurde143• Problematisch geworden ist die Frage vor allem bei Klagen von Beamten, im verwaltungsinternen Streit und bei Verfahren von Benutzern des service publique144• Die Anforderungen an das interet direct hingegen werden meist negativ gefaßt: Es ist gegeben, wenn es nicht exagerement indirecte ise4S. Daher war die Klage der Ligue nationale contre l'alcoolisme gegen Maßnahmen, die den Schnapsbrennereien zugute kommen soßten, zulässig146• Zu indirekt hingegen waren die Wirkungen von Steuererleichterungen, die Arbeitnehmern zur Bildung von Grundeigentum gewährt wurden, für die Unternehmer, bei denen die Arbeitnehmer beschäftigt waren, obwohl die Unter-

139

C.E. v. 24.6.1932, Galandiou Diouf, D. 1933.3.14.

° C.E. v. 13.2.1930, Dufour, Rec. 176; auch C.E. v. 14.5.1965, Jacquier, RD.P. 1966, 164,

14

concl. Lavondes. 141

LaubaderejVenezi4/Gaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 80), para 689 (p. 426).

142

C.E. v. 13.3.1987, Ste albigeoise de spectacles et Ste Castres Spectacles, Rec. 97 = D.S. 1988Jur.66, note Thouroude; ebenso TA. Qennont-Ferrand v. 19.10.1990, Soc. Puy Besseau, Gaz.Pal. du 23 fCvrier 1991, 23. 143

LaubaderejVeneziä/Gaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 80), para 690 (p. 427).

144

Nachweise bei LaubaderefVenezia/Gaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 80), paras 691 ss. (pp. 427 ss.). Zahlreiche Nachweise zu anderen Fällen auch bei Clwpus, Contentieux (Fn. 79), para 440 (pp. 302 s.), der es interet pertinent ou adequat nennt. 145

Clwpus, Contentieux (Fn. 79), para 441 (p. 303).

146

C.E. v. 25.4.1934, Ligue nationale contre l'alcoolisme, Rec. 493.

Kapitel 2: Die Rechtslage in Frankreich

69

nehmer aufgrund der Erleichterungen nachteilige Entwicklungen ihrer Ertragslage befürchten mußten147• d) Eine eigene, umfassende Regelung der Klagebefugnis enthält die erwähnte loi du 19 juillet 1976 Relative aux installations classees pour Ia protection de l'environnement in Art. 14 al. 1 no 2. Dort heißt es: "Les decisions prises [sc. vor allem die Genehmigungen bzw. die einer Anmeldung folgenden Bedingungen, Auflagen etc.] ... peuvent etre deferees a Ia juridicition administrative: ...

2• Par les tiers, personnes physiques ou morales, ... en raisons des inconvenients ou des dangers que Je fonctionnement de l'installation presente pour les intetits vises a l'article 1er ...•.

Die erwähnten interets des Art. 1er sind: •... Ia commodite du voisinage, ... Ia sante, Ia securite, Ia salubrite publiques, ... l'agriculture, ... Ia protection de Ia nature et de l'environnement, ... Ia conservation des sites et des monuments.•

Jeder Dritte kann daher die Gefahren oder Unannehmlichkeiten geltend machen, die aufgrund der geplanten Anlage für den öffentlichen Belang Umweltschutz im weiteren Sinn entstehen können. Ausgeschlossen sind nach dem Gesetz nur diejenigen Nachbarn, die erst nach der Bekanntgabe der Genehmigung gebaut oder gemietet haben {Art. 14 al. 2), ein Gedanke, der aus dem Städtebaurecht stammt (vgl. Art. L. 122-16 Code de Ia construction et d'habitat) 148• Die Praxis hat gezeigt, daß die Gerichte den speziellen Umweltschutzklagen einen großzügigen Begriff des interet pour agir zugrunde legen149• §

7 Das interet pour agir und Belange des Umweltschutzes

1. Die Darstellung der Kriterien, die ein interet pour agir stützen, deutet an, daß die Aufnahme des Umweltschutzes in die Klagebefugnis m Frankreich auf keine größeren Schwierigkeiten stieß150•

Zum einen kommt es nicht darauf an, daß Rechte oder rechtlich geschützte Interessen auf dem Spiel stehen. Damit ist ein wesentliches Hin147 C.E. v. 7.3.1962, Synd. professionnel du bfitiment et des travaux publies du Loiret, Rec. 1058; anderes Beispiel für mangelndesinteret direct: C.E. v. 22.2.1957, de Chardon et autres, Rec.123. 148 Kurze Darstellung auch bei Fromont, Rechtsschutz im französischen Umweltrecht, UPR 1983, S. 186 ff. (S. 190). 149

Jegouzo, dans: Urbanisme (Fn. 99), n• 5092.

Eine frühe Auseinandersetzung mit dem Umweltschutz und dem Verwaltungsgerichtsverfahren, allerdings unter Betonung des Schadensersatzes, findet sich bei Despax, La defense juridique de l'environnement, J.C.P. 1970.1.2359. 150

70

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

dernis, dem sich Umweltschutzklagen in Deutschland gegenübersehen, beseitigt. Darüberhinaus braucht der Kläger sich nicht darauf zu beschränken, einen privaten Belang oder doch zumindest einen Bezug zu privaten Belangen geltend zu machen. Es genügt die Beeinträchtigung eines öffentlichen Belangs. Man kann sogar einen Schritt weitergehen und danach fragen, ob die Einteilung in öffentliche und private Belange aus der Sicht eines contentieux objectif überhaupt angezeigt ist. Darauf wird noch einzugehen sein, doch soll an dieser Stelle angedeutet werden, daß sich eine gewisse Verbindung zwischen der Eingrenzung des Rechtsgebietes "Öffentliches Recht" und der Systematik des Verwaltungsgerichtsverfahrens ausmachen läßt. Überspitzt formuliert spielen das Ziel des Gesetzgebers und der Ordnungszusammenhang einer Norm - die Kriterien also, mit denen in Deutschland die Zugehörigkeit zum Öffentlichen Recht ermittelt wird - in einem Verfahren, in dem wie in Frankreich die bloße Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorschriften überprüft wird, eine weitgehend untergeordnete Rolle. Die Verwaltung hat sich an die ihre Tätigkeit regelnden Gesetze zu halten, so lautet die Botschaft151 • Die öffentlichen Belange kann zum einen der einzelne geltend machen. Ein Beispiel ist die Klage des Meeresforschers Yves Cousteau, der - in Paris wohnend - neben anderen Klägern gegen die Erteilung einer Errichtungsund Betriebsgenehmigung für das Atomkraftwerk Creys-Malville (Isere) in den französischen Alpen klagte152• Die Klage Cousteaus scheiterte nicht daran, daß er lediglich Belange des Umweltschutzes ins Feld führte. Im Gegenteil sprach die Tatsache, daß er auf dem Feld der Ökologie eine anerkannte Persönlichkeit ist, für ihn. Abgewiesen wurde er deswegen, weil der Conseil d'Etat ähnlich den deutschen Gerichten auf die Entfernung der Kläger von der Anlage abstellte153• Im Ergebnis ergibt sich damit kein Unterschied zum deutschen Recht. Doch zeigt sich der unterschiedliche Ansatzpunkt der Auffassung des Conseil d'Etat: Grund für die Abweisung der Klage ist nicht, daß der Kläger sich nicht auf den geltend gemachten Belang berufen kann, sondern der pragmatische Gesichtspunkt, daß bei einer unbe-

151 Eine empirische Untersuchung zur "Umweltfeindlichkeit" des Conseil d'Etat unternimmt Caballero, Le Conseil d'Etat, RJ.E. 1984, pp. 3 ss. 152 C.E. v. 45.1979, Departement de Ia Savoie et autres, Rec. 185 (Klage gegen die erste Errichtungs- und Betriebsgenehmigung) und wieder C.E. v. 275.1991, Vule de Geneve et autres, AJ.D.A. 1991, 733 (Klage ge~en die Genehmigung der Wiederinbetriebnahme, nachdem der Reaktorwegen eines Lecks tm Kühlsystem vorübergehend stillgelegt werden mußte).

153 Zur Übertra~ng der regle du rayon de 50 ki/ometres, die normalerweise nur für die declaration d'utilite publique verwendet wird, auf die permis de construire Lepa~e-Jessua, Grenzüberschreitende Umweltbelastungen aus der Sicht der Praxis, in: Botheft'neurfRess (Hrsg.), Rechtsfragen grenzüberschreitender Umweltbelastungen. Berlin 1984, S. 67 ff. (S. 69).

Kapitel 2: Die Rechtslage in Frankreich

71

grenzten Zulassung von Klagen gegen Atomkraftwerke die Gerichte überlastet wären1S4. Der Conseil d'Etat hat mit der Zulassung der action corporalive darüberhinaus auch Verbänden die Möglichkeit eingeräumt, ein beliebiges Ziel ihrer Tätigkeit festzulegen und auf dem Umweg über dieses Ziel das Handeln der Verwaltung vor den Gerichten überprüfen zu lassen. Chapus schätzt diese Entscheidung des Conseil d'Etat folgendermaßen ein155:

"Ce faisant, Je Conseil d'Etat n'a pas seulement ouvert Je recours pour exca de pouvoir a des organismes qui peuvent etre des gardiens de Ia legalite plus vigilants, plus resolus et mieux armes que des "simples particuliers". II a aussi donne aux administres et aux citoyens un moyen de defendre tout interet de leur choix: il leur suffit de se constituer en association (et deux personnes y suffisent) et de lui assigner pour mission Ia sauvegarde de ce qui Jeur tient a Coeur.0

Damit scheint dieser Rechtszustand von einer actio popularis nur noch durch das praktische Hindernis getrennt, daß ein Verband gegründet werden muß, bevor die Klage einer jeden Person offensteht. Ein dogmatisches Hindernis der Art, daß eine solche Klage mit der Systematik des contentieux administratif nicht vereinbar se~ existiert nicht. Für eben diese Fälle hat die Rechtsprechung jedoch Grenzen gezogen, um der zu erwartenden Flut von Klagen ausdrücklich oder implizit einen Riegel vorzuschieben156• Zwei Überlegungen führen zu der Furcht vor der Popularklage: Einerseits die Anzahl der potentiellen Kläger, andererseits die Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die sie über ihre Klagen beeinflussen könnten157• 2. Übertragen auf den Umweltbereich bedeutet das, daß Klagen gegen die behördliche Konzession für ein umweltbelastendes Verhalten zumindest nicht am Mangel rechtlicher Betroffenheit scheitern können. Der Großteil der Drittklagen, das heißt Klagen von Personen, die in die rechtlichen Beziehungen der durch die Gesetze vorstrukturierten Behördentätigkeit nicht einbezogen sind, muß anband anderer Kriterien behandelt werden als in Deutschland. Es fehlt sogar von vomeherein das Kriterium für die Unterscheidung zwischen Adressatenstellung und Drittposition. Denn der indiviIS4 Ein anderes Beispiel ist die Klage gegen das Atomkraftwerk Fessenheim, C.E. v. 25.2.1975, Herr et autres, Rec. 162.

155

Chapus, Contentieux (Fn. 79), para 431 (p. 297).

Chapus, Contentieux (Fn. 79), para 454 (p. 312): "Le nombre des recours possibles fait obstacle a leur recevabilite dans Je cas ou il est tel que l'exercice du recours pour exces de pouvoir se confondrait, a peu de choses pres, avec celui d'une "action populaire", que n'importe quelle personne pourrait former contre n'importe quelle decision.• 156

IS7

Chapus, Contentieux (Fn. 79), para 455 (pp. 312 s.).

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

72

dualbezogene Verwaltungsakt, der in Deutschland das formale Abgrenzungskriterium bildet, vollbringt in Frankreich keine vergleichbare Strukturierungsleistung. Auch Rechtsverordnungen, denen ein spezifizierter Adressat fehlt, können im Wege des recours pour exces de pouvoir angegriffen werden. Das würde bedeuten, daß im Bereich des Umweltschutzes der Großteil aller Klagen zulässig sein müßte. Völlig freigegeben sind die Klagemöglichkeiten aber auch in diesem Bereich nicht. Wenn jedoch das Argument, der Kläger könne sich nicht auf öffentliche Belange berufen, keine Bedeutung hat, nach welchen Kriterien verneint dann der Conseil d'Etat die Klagebefugnis? Die folgende Zusammenstellung der Fälle, in denen das interet pour agir bejaht und in welchen es verneint worden ist, soll darüber Aufschluß geben. a) Ebenso wie das deutsche kennt auch das französische Umweltrecht die tatsächliche Konstellation der Dritt- oder Nachbarklage. Sie stellt in Deutschland, wie dargestellt, den eigentlichen Anwendungsbereich der Schutznormtheorie dar. Ein solcher prinzipieller Unterschied zwischen der Adressaten- und der Drittklage besteht in Frankreich nicht. Denn die Argumente, die ein interet pour agir rechtfertigen können, bedürfen keiner normativen Absicherung, lassen sich also unabhängig von der vorgegebenen Konstellation verwenden. Ganz ähnlich wie die deutschen Gerichte nimmt jedoch der Conseil d'Etat für sich in Anspruch, stets nach den circonstances de l'espece zu entscheiden. Das verringert die Vorhersagbarkeil des Ergebnisses, wobei allerdings hinzuzufügen ist, daß die Gerichte in Zweifelsfällen wenig geneigt sind, eine Klage am interet pour agir scheitern zu lassen. Um ein Beispiel für die Bejahung des interet pour agir zu nennen: Der Eigentümer eines Ferienhauses, der sich gegen eine Baugenehmigung wehrt, ist klagebefugt, obwohl er 800 m von der geplanten Baustelle entfernt wohnt, weil es sich um eine Feriensiedlung handele58• Desgleichen, wenn außerhalb einer Feriensiedlung - in dieser Entfernung ein größeres Einkaufszentrum errichtet werden soll159• Nach deutscher Dogmatik müßte zunächst die Norm untersucht werden, gegen die mutmaßlich verstoßen worden ist, bevor möglicherweise die Entfernung zum geplanten Bauvorhaben als Argument für die Bejahung der Klagebefugnis herangezogen werden könnte. Für sich allein genommen spielt sie in der Regel keine Rolle. Bei einer Entfernung von 800 m dürfte Drittschutz mangels einer Stellung als "Nachbar" regelmäßig ausgeschlossen sein. Im Unterschied zum deutschen Nachbarrecht kommt es darüberhinaus nicht darauf an, ob der Kläger 158

C.E. v. 15.4.1983, Comm. de Menet, Rec. 154

159 C.E. v. 24.6.1991,

Soc. Scaex Inter Provence Cote d'Azur, Rec. 1110.

Kapitel 2: Die Rechtslage in Frankreich

73

Eigentümer oder lediglich Mieter des benachbarten Wohnraums ist'60• Das erklärt sich aus der Funktion des recours pour exces de pouvoir. Nicht der Schutz bestimmter Rechte soll erreicht werden, so daß nicht gefragt werden muß, ob ein Mieter oder anderer obligatorisch Berechtigter rechtlich der Position des Eigentümers vergleichbar ist; entscheidend ist alleine, inwieweit die Tatsache, ein Haus in der Nähe des Bauvorhabens zu bewohnen, die nötige Sachnähe im Hinblick auf die rechtliche Streitfrage vermittelt. Nicht die rechtliche Position des Klägers, sondern seine tatsächliche entscheidet. Die oben erwähnte Möglichkeit, durch Gründung eines Verbandes den Schutz öffentlicher Belange in das verwaltungsgerichtliche Verfahren einzubringen, ist zum mit Abstand wichtigsten Instrument der gerichtlichen Kontrolle der Verwaltung im Umweltbereich geworden. Es kommt, wie oben ausgeführt, darauf an, welchen Zielen sich der Verband in seiner Satzung verschrieben hat und seine Arbeit tatsächlich widmet. Dabei läßt sich kein zuverlässiges Maß für die Konkretisierung fmden, das die Satzung dem Zweck des Verbandes gibt. So war beispielsweise die Klage eines Umweltschutzverbandes zulässig, der sich gegen Baugenehmigung für ein Atomkraftwerk wandte und sich in seiner Satzung sehr weit gesteckte Ziele gegeben hatte, weil die betreffende Entscheidung d'importance nationale sei161 • Darauf, daß der klagende Verband nach Art. L. 160-1 Code de l'Urbanisme anerkannt ist, kommt es für die Klagebefugnis nicht an162• Er braucht, wie erwähnt, nicht einmal rechtlich verfaßt sein. b) Der Conseil d'Etat überträgt die Argumentation, mit der er die Klagen von contribuables d'Etat abweist, auf das Nachbarrecht, indem er die bloße qualite d'habitants nicht gelten läßt'c.J. Wie unscharf die Ränder der Interessen bei Nachbarklagen sind, zeigt sich darin, daß bei einer Entfernung von 200 m die Klagebefugnis "wegen der Umstände des Einzelfalles" verneint worden ist164, während wie dargestellt selbst 800 m das interet pour agir begründen können. In einem anderen Fall hat der Conseil d'Etat eine ganze

160 C.E. v. 17.6.1991, Dme Renauld, Rec. 1110. Anderer Fall aus dem Baunachbarrecht: C.E. v. 26.3.1982, Chabroux, Rec. 138. 161 C.E. v. 20.6.1984, Assoc. Les Amis de Ia Terre, Rec. 233. Instruktiv zu den Möglichkeiten, selbst über weit gesteckte Ziele ein interet pour agir zu rechtfertigen C.E. v. 28.10.1987, Assoc. pour Ia defense des sites et paysages, Rec. 328.

162 C.E. v. 31.10.1990, Union reg. pour Ia de(ense de l'er.vironnement, de Ia nature, de Ia vie et de Ia qualite de vie en Franche-Comte, D.S. 199I.Somm.267.

1c.J C.E. v. 25.3.1981, Lochet, Rec. 164; C.E. v. 22.10. 1986, Reynaud, Rec. 652; C.E. v. 30.9.1988, Soc. nat. Antenne 2, Rec. 324. 164

C.E. v. 30.9.1988, Soc. nat. Antenne 2, Rec. 324.

74

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

Reihe von Argumenten aufgestellt, die aus seiner Sicht ein interet pour agir des Nachbarn nicht rechtfertigen können165: •... ni Ia qualite de simple habitant de Ia Ville de Valence, mSme desireux de faire preseiVer Je caractere estbetique de celle-ci et d'assurer Je respect du plan d'occupation des sols dont elle est dotee, ni celle de client eventuel du magasin reconstruit, ni celle d'automobiliste ou de pieton susceptible d'utiliser Ia voie publique ou se trouve situe ce magasin, ni celle de proprietaire de parcelles constructibles sur Je territoire de Ia commune des lors que ces parcelles ne sont pas a proximite de Ia construction en cause ou sont sans Iien, en fait ou en droit, avec elle, ni celle de contribuable communal, ne constituent des titres de nature a conterer ... un interet ... donnant qualite pour demander l'annulation du permis dont il s'agit."

Interessanterweise hat speziell die oben angeführte Einschränkung der Klagebefugnis mittels der Forderung, es müsse sich um ein interet pertinent ou adequat handeln, im Bereich des Umweltschutzes immer wieder eine Rolle gespielt166• Um der Gefahr zu entgehen, daß über die Gründung der verschiedensten Verbände sich nahezu unbegrenzte Klagemöglichkeiten eröffnen, hat die Rechtsprechung Klagen abgewiesen, in denen das vom Verband ins Feld geführte interet collectif im Hinblick auf den Streitgegenstand zu weit gefaßt war. Eine Gesellschaft hatte sich dem Umweltschutz in einem Gebiet, das vier departements umfaßte, verschrieben. Der Conseil d'Etat hielt das für ein objet trop vaste, um das interet pour agir gegen die Erteilung einer Baugenehmigung in einer Kommune zu rechtfertigen167• Der fragliche Verband hatte eine Baugenehmigung anfechten wollen und sich in seiner Satzung der Beschäftigung mit "tous les problemes relatifs a l'urbanisme et a l'equipement dans Ia region"

verschrieben168• Die Rechtsprechung hinsichtlich des objet trop vaste hat dazu geführt, daß die Verbandsklagen in der Regel von Vereinigungen geführt werden, die sich einer bestimmten geographische Region widmen. Klagen von landesweit tätigen Vereinen sind dagegen seltener, jedoch nicht von vomeherein ausgeschlossen. Entscheidend ist immer auch die Ernsthaftigkeit, mit der die betreffenden Argumente vorgebracht werden, der Wille, nicht eine bloße Verhinderungstaktik zu betreiben.

165

C.E. v. 8.4.1987, Fourel, D.S. 1988Jur.67.

166

Pittard, dans: Urbanisme. Paris 1992, n• 6652.

167

C.E. V. 26.7.1985, Union reg. pour Ia defense de l'environnement, de Ia nature, de Ia vie et de Ia qualite de vie en Franche-Comte, Rec. 251. Ebenso C.E. v. 29.1.1988, Assoc. Segustero, Rec. 947; C.E. v. 255.1990, Bauret, R.D.P. 1991, 858. 168 C.E. V. 26.7.1985, Union regionale pour Ia defense de l'environnement, de Ia nature, de Ia vie et de Ia qualite de Ia vie en Franche-Comte, Rec. 251.

Kapitel 3: Die Rechtslage in Großbritannien

75

Kapitel 3: Die Rechtslage in Großbritannien §

8 Die Klageverfahren

1. Wie für die beiden anderen Vergleichsländer soll auch für Großbritannien zunächst ein Überblick über die Systematik der Klagearten gegen die Verwaltung und die Einordnung dieser Klagearten in die Kategorien contentieux objectif und contentieux subjectif gegeben werden. Das britische Recht birgt, wie sich zeigen wird, einige Eigenheiten. a) Der auffälligste Unterschied zwischen dem britischen System einerseits und dem französischen und deutschen andererseits ist die Tatsache, daß im britischen Recht ein geschlossener und geschichtlich gewachsener Begriff des öffentlichen Rechts fehlt. Das hat seinen Grund unter anderem darin, daß in einer Zeit, in der nach Frankreich auch Deutschland mit der Ausbildung eines eigenen Rechtsgebietes "Öffentliches Recht" begann, in Großbritannien das französische droit administratif eher abschreckend wirkte. Bezeichnend für die damalige Denkweise sind die Äußerungen eines der einfußreichsten Theoretiker des öffentlichen Rechts in Großbritannien A. V. Dicey(l.l. Für Dicey bedeutete der Begriff eines Verwaltungsrechts willkürliche und rechtsstaatswidrige Zustände, so daß es seine Herausbildung im britischen Rechtsstaatssystem unbedingt zu vermeiden gaie70: "Droit administratif, as it exists in France, is not the sum of the powers possessed or of the functions discharged by the administration; it is rather the sum of the principles which govem the relation between French citizens, as individuals, and the administration as the representatives of the State. Here we touch upon the fundamental difference between the English and the French ideas. In England the powers of the Crown and its servants may from time to time be increased as they may also be diminished. But these powers, whatever they are, must be exercised in accordance with the ordinary common law principles which govem the relation of one Englishman to another.•

Die Einschätzung dieses einflußreichen Mannes haben die Entwicklung des öffentlichen Rechts in Großbritannien für lange Zeit bestimme71 • Die britische Rechtsordnung ist deswegen auch als diejenige europäische Verwaltungsrechtsordnung bezeichnet worden, die wegen ihres verfassungstheoretischen Ausgangspunktes - der Negation jeglicher öffentlicher Gewalt und Staatlichkeil überhaupt - der deutschen Verwaltungsrechtsord1(1} Dicey, lntroduction to the Study of the Law of the Constitution. 9th ed. (reprint) London 1952, pp. 328 ff. 170

Dicey, Law of the Constitution (Fn. 169), p. 387 (Hervorhebung im Original).

Zum Einfluß und zur Denkweise Diceys auch Johnson, Dicey and bis influence on public law, [1985] P.L. 717. 171

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

76

nung wohl am fernsten stehe72• Noch 1963 konnte Lord Reid die Feststellung treffen113: "We do not have a developed system of administrative law- perhaps because until fairly recently we did not need it."

Inzwischen hat sich das Bild allerdings gewandelt. Zwar ist dies mit einigen wichtigen Ausnahmen, die noch zu behandeln sind, nicht primär auf kodiflkatorische Bemühungen zurückzuführen. So fehlt in Großbritannien nach wie vor eine gesetzliche Regelung des Verwaltungsverfahrensrechts. Doch hat auch in Großbritannien die Zahl der Fälle, in denen gegen Entscheidungen von Verwaltungsbehörden geklagt wurde, beständig zugenommen174. Die richterliche Spruchpraxis mußte sich auf die speziellen Anforderungen dieser Sachverhalte einstellen und allmählich Kriterien für ihre Behandlung entwickeln175• Das ist im einzelnen weiter unten darzustellen. An dieser Stelle genügt es festzuhalten, daß auch Großbritannien inzwischen auf ein differenziertes System des Verwaltungsrechtsschutzes und des öffentlichen Rechts überhaupt verweisen kann176• Charakteristisch ist dazu die Äußerung von Lord Diplock, einem der gegenwärtig einflußreichsten Richter am House of Lords, der maßgeblich zur Herausbildung dieses neuen Rechtsgebietes beigetragen hat. Er spricht von einem 177 •... progress towards a comprehensive system of administrative law that I regard as having been the greatest achievement of the English courts in my judiciallifetime.•

Diese Bemerkung bezieht sich allerdings nur auf die Entwicklung eines materiellen Verwaltungsrechts. Zur Herausbildung einer eigenen Verwaltungsgerichtsbarkeit mit speziell für das öffentliche Recht zuständigen Gerichten ist es bis heute nicht gekommen. Nicht einmal der jüngste der in Großbritannien einflußreichen Law Reports118 hat eine solche eigene Ge172

Spoerr, Verwaltungsrechtsschutz in Großbritannien, VerwArch 82 (1991), S. 25 ff. (S. 25

113

Ridge v. Baldwin, (1964) A.C. 40 (72).

f.).

Einen guten Überblick über die Einteilung der Rechtsbehelfe in supetVisory jurisdiction, die auf Common Law beruht, und appellaJe jurisdiction, die gesetzlich niedergelegt ist, geben Emery/Smythe, Judicial Review. London 1986, pp. 37 ff., 56 ff. 174

175 Die vor allem auf Richterrecht zurückzuführende Natur des englischen Verwaltungsrechts betont auch Spoerr, Verwaltungsrechtsschutz in Großbritannien, VerwArch 82 (1991), S. 25 ff. (S. 26). 176 Zu dieser Einschätzung kommt auch Spoerr, Verwaltungsrechtsschutz in Großbritannien, VerwArch 82 (1991), S. 25 ff. (S. 29); Kriterien, auf die sich die Entwicklung in näherer Zukunft konzentrieren sollte, bei Lord Scarman, The development of administrative law, (1990) P.L 490.

177 R v. Inland Revenue Commissioners, ex p. National Federation of Self-Employed and Small Businesses Lid., (1982) A.C. 617 (641 C). 178 Administrative lustice: Some necessary reforms (Report of the Committee of the JUSTICE-AII Souls Review of Administrative Law in the United Kingdom), Oxford 1988.

Kapitel 3: Die Rechtslage in Großbritannien

n

richtsbarkeit vorgeschlagen. Er zieht abermals den Vergleich mit der Rechtslage in Frankreich, insbesondere mit dem Conseil d'Etat und kommt zu dem Ergebnis, daß die Anpassungsfähigkeit der bestehenden Gerichtsbarkeit, insbesondere nach Einführung der application for judicial review, den Unwägbarkeiten und den zu erwartenden Abgrenzungsproblemen bei der Einführung eines eigenen Gerichtszweiges vorzuziehen sei119• Das neue Rechtsgebiet hat sich - auch das eine im Grundsatz noch immer gültige Besonderheit des britischen Rechtssystems - maßgeblich an den besonderen Klagearten gebildet, die als Rechtsbehelfe gegen Handlungen der Verwaltungsbehörden entwickelt worden sind180• Dazu zählten aus der Reihe der prerogative orders 181 die order of certiorari, die order of mandamus und die order of prohibition und aus der Reihe der ordentlichen Rechtsbehelfe die Klagearten der injunction und declaration. Die Funktion dieser Rechtsbehelfe, deren Anwendungsbereich nicht gesetzlich normiert ist, läßt sich in Kürze wie folgt umschreiben182: Die order of certiorari dient dazu, eine rechtswidrige Verwaltungsentscheidung aufzuheben, ohne daß das Gericht die kassierte Entscheidung durch eine eigene ersetzen könnte. Diese Klageform erfüllt somit die Funktion der Anfechtungsklage des deutschen Rechts. Mit der order of mandamus hingegen kann eine Verwaltungsbebörde dazu verklagt werden, eine ihr obliegende Rechtspflicht zu erfüllen. Das entspricht der Verpflichtungsklage des deutschen Rechts. Dieorder of prohibition schließlich dient dazu, eine drohende Befugnisüberschreitung eine Handeln ultra vires - von seiten einer Verwaltungsbehörde zu verhindern. Aus Sicht der deutschen Systematik kommt eine vorbeugende Feststellungs-/Unterlassungsklage dieser Figur am nähesten183• Mit einer injunction als dem ersten der beiden ordentlichen Rechtsbehelfe kann ein be119 JUSfiCE-All Souls Report (Fn. 178), p. 169: "In practice, though not in name, there is already a functional segregatton of admimstrative law cases and they are generally tried by specialist judges. There seems to us to be no need to amend the Judtcature Acts so as to replace the flexibility of the present system with the rigidity of a separate division. For much the same reasons we find ourselves opposed to the introduction of anything in the lines of a Conseil d'Etat. • 180 Auf die klassische Gruppierung des britischen Rechts um die Rechtsmittel, die reme· dies, herum weisen hin Al/an, Pragmatism, (1988) 104 L.Q.R. 422 (422); Cane, Standing, (1981) P.L. 322 (325). Zu den außergerichtlichen Verfahren der kurze Abriß bei Hüffer, Rechtsschutzmöglichkeiten, BayVBI. 1987, S. 232 ff. 181 Ursprünglich als writs ausgestaltet wurden diese Rechtsbehelfe zu orders umgestaltet durch den Administration of lustice (Miscellaneous Provisions) Act 1938. Damit ist das Verfahren zwar in der Sache nicht verändert, aber seine Einleitung und Durchführung sind vereinfacht worden.

182 Dazu beispielsweise die Darstellung. bei Emery/Smythe, Judicial Review (Fn. 174), pp. 38 f.; vgl. auch den rechtsvergleichenden Uberblick bei van Dijk, Judicial Review of govemmental action and the requirement of an interest to sue. The Hague 1980, pp. 43 ff.

183 Die genannten Parallelen zum deutschen Recht zieht auch Batstone, Verwaltungsrechtsschutz, in: Dokumentation zum Achten Deutschen Verwaltungsrichtertag. Stuttgart/München/Hannover 1987, S. 271 ff. (S. 272).

78

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

stimmtes Tun oder Unterlassen gerichtlich angeordnet werden, wenn andernfalls eine privatrechtliche unerlaubte Handlung (tort) begangen würde184. Darin liegt der Unterschied zu mandamus, wo es auf eine Rechtspflicht zum Handeln, nicht auf die drohende Beeinträchtigung von private law rights ankommt. Mit Hilfe der declaration als dem zweiten der ordentlichen Rechtsbehelfe schließlich kann eine Verpflichtung der Behörde gerichtlich festgestellt werden. Sie ist der einzige Rechtsbehelf, der gegen die Krone185 gegeben ise86• Somit standen dem Kläger bis in die siebziger Jahre dieses Jahrhunderts hinein fünf verschiedene Klageanträge zur Verfügung, mit denen der das mutmaßlich rechtswidrige Vorgehen der Behörden vor Gericht angreifen konnte. Die parallele Existenz der fünf hatte für den Antragsteller den entscheidenden Nachteil, daß er stets nur ein Klageziel verfolgen konnte187. Stellte sich im Laufe des Verfahrens heraus, daß er das falsche remedy gewählt hatte, mußte er den Prozeß -soweit die Fristen zur Einlegung eines anderen Rechtsmittels nicht inzwischen verstrichen waren - von vorne beginneo188. Überdies verhinderte die unterschiedliche Herkunft der Rechtsbehelfe - darauf ist noch zurückzukommen - eine einheitliche Funktionszuweisung an die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung: Die prerogative remedies tendierten, da aus der königlichen Kontrollbefugnis über die Gerichte abgeleitet, eher zu einer Einordnung in den contentieux objectif; injunction und declaration hingegen fielen als ordentliche Rechtsbehelfe eher in den Bereich des contentieux subjectif. b) Diesen unbefriedigende Zustand hat die Reform der Order 53 Ru/es of the Supreme Court von 1977 ( = RSC), die 1981 durch die Änderung der s 31 Supreme Court Act abgesichert wurde, beseitigt189. Die neugefaßten Regeln 184 Spoerr, Verwaltungsrechtsschutz in Großbritannien, VerwArch 82 (1991), S. 25 ff. (S.

40).

185 Unter der Krone ist nicht nur der jeweilige Regent zu verstehen, sondern vor allem auch die allgemeine Regierungstätigkeit der Minister. Wichtigstes Anwendungsbeispiel der Tätigkeit der Crown ist die Ausführung von Gesetzen durch die Ministerien. Das ist der Grund, weswegen im Fall Factaname Ltd. v. Secretary of State for Transpon, (1990) 2 A.C. 85 zunächst keine (interim) injunction gegen die vorläufige Nichteintragung der Schiffe der Klär;er in das neue Handelsschiffregister zu erreichen war, denn eine injunction gegen die Krone ISt nicht möglich. 186 Vgl. nur Emery/Smythe, Judicial Review (Fn. 174), p. 81; zu den Besonderheiten des schottischen Rechts Spoerr, Verwaltungsrechtsschutz "in Großbritannien, VerwArch 82 (1991), S. 25 ff. (S. 41 f.); zu den Befugnissen der Krone im Uberblick Emery/Smythe, Judicial Review (Fn. 174), pp. 12 ff.

187 JUSilCE-All Souls Report (Fn. 178), p. 143; auch Supperstone/Goudie, Judicial review. London 1992, p. 4.

188 Emery/Smythe, Judicial Review (Fn. 174), p. 251. 189 Z u den Gründen für die Reform auch Beatson, "Public" and "Private", (1987) 103 L.Q.R

34 (37). Zur Bedeutung der Reform für das britische Verwaltungsrecht Elias, Remedies, (1978) C.LJ. 205 ff.; Wade, Reform, (1978) 94 L.Q.R 179 ff.; ders., Public Law, [1983) 99

Kapitel 3: Die Rechtslage in Großbritannien

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gehen zurück auf die Vorschläge eines in den 70er Jahren erarbeiteten law report190• Die fünf genannten Klageanträge können nunmehr mit einer einheitlichen application for judicial review geltend gemacht werden191 • Der Kläger muß also nicht mehr spezifiZieren, welchen Ausspruch er bei Gericht beantragt bzw. es schadet ihm nicht, wenn er einen anderen Antrag als den gewählt hat, den das Gericht nach der rechtlichen Prüfung des Falles für zutreffend erachtet. Die Befugnisse des Gerichts sind somit gleich geblieben, doch gibt es im Grunde nur noch einen, einheitlichen Antrag auf "gerichtliche Überprüfung" der Behördentätigkeit Insofern ist das britische Recht aus Sicht des Klägers sogar einfacher zu handhaben als die deutsche Systematik. Die Einführung der neuen Order 53 RSC hat wegen dieser Vereinfachungen zu einem gewaltigen Zuwachs an verwaltungsgerichtlichen Streitverfahren geführt192• Die Tatsache, daß alle fünf Anträge zusammengefaßt wurden, zog darüberhinaus die Notwendigkeit nach sich, die Voraussetzungen zur Klageerhebung zu vereinheitlichen. Bis zur Reform 1977 bestand der Unterschied zwischen den public law und den private law remedies unter anderem darin, daß nur für die zweite Gruppe, die ordinary writs, direkter Zugang zu den Gerichten bestand. Stellte der Kläger einen Antrag auf einen der drei prerogative remedies, mußte, bevor der eigentliche Sachantrag gestellt werden konnte, zunächst die gerichtliche Zulassung der Klage (leave) erreicht werden193• Diese Anforderung ist für die application for judicial reviewinsgesamt beibehalten worden194• Darauf ist noch zurückzukommen. Bevor auf die Kriterien, unter denen leave gewährt wird, eingegangen wird, sind noch einige allgemeine Charakteristika des englischen Verwaltungsgerichtsverfahrens festzuhalten. Prinzipiell gilt für alle gerichtlichen Verfahren und damit auch für die application for judicial review, daß formelle Gesetze wegen der rechtlich unbeschränkten Parlamentssouveränität nicht der Kontrolle unterworfen sind. In dieser Hinsicht ist das britische dem französischen Recht vergleichbar. Den Befugnissen des PariaL.Q.R 166 ff. Gründe für die Absicherung im Supreme Court Act bei Cane, Standing, (1981] P.L. 322 (329 Fn. 34). 190 Zu den Hintergründen der Erarbeitung Emery/Smythe, Judicial Review (Fn. 174), p. 252. Eine Besprechung der wichti~ten precedents findet sich bei Bagnall, Judicial review. London 1985, pp. 10 ff. 191

Vgl. auch Bagnall, Judicial review (Fn. 190), p. 9.

192

So sind 1981 bereits 533 Anträge eingegangen, 1984 waren es dann 931 und bis Mitte 1985 hatte die Zahl schon die der gesamten Anträge des Vorjahres erreicht; vgl. JUSTICB-All Souls Report (Fn. 178), p. 2. Von 1991 bis Ende Män 1992 smd 2089, von April1992 bis Män 1993 bereits 2682 Klagen anhängig gemacht worden; vgl. (1993] The Times, July 19, p. 5. 193 194

Im einzelnen Bagnall, Judicial review (Fn. 190), pp. 65 ff. Dazu JUSTICE-All Souls Report (Fn. 178), p. 146.

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1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

ments ist keine rechtliche Grenze gesetzt195. Liegt daher der Grund für die Rechtswidrigkeit der Verwaltungsmaßnahme im zugrundeliegenden Gesetz, kann die Maßnahme nicht aufgehoben werden196. Eine Möglichkeit, das Gesetz selbst etwa im Wege eines der konkreten Normenkontrolle entsprechenden Verfahrens auf seine Gültigkeit überprüfen zu lassen, gibt es niche97• Desweiteren ist es prinzipiell nicht möglich,prerogative remedies gegen die Krone zu beantragen. Denn formell ist die Krone selbst der Antragsteller, das klagende Individuum löst diese Klage lediglich aus198. Die Bezeichnung der Parteien in den entsprechenden Fällen macht dies deutlich: Es heißt stets "R. v. ... " für Rex bzw. Regina, "ex p." oder auch "ex parte" für die klagende Einzelperson. Formelle Klägerin ist also stets die Krone, der eigentlich durch die rechtswidrige Handlung betroffene Bürger klagt nur als "Prozeßstandschafter". Das gerichtliche Verfahren hat grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung199. Die Verwaltungsmaßnahme ist bis zum Erlaß der abschließenden Gerichtsentscheidung gülti~. Allerdings sieht Order 53 rule 3 RSC die Möglichkeit einer gerichtlichen Anordnung einstweiliger Maßnahmen vor. Dort heißt es in Bezug auf den hier relevanten Antrag auf certiorari: "(10) Where leave to apply for judicial review is granted, then(a) if the relief sought is an order of prohibition or certiorari and the Court so directs, the grant shall operate as a stay of the proceedings to which the application relates until the detennination of the application or until the Court otherwise orders...•

Die Grundsätze, wann unter Anwendung dieser Vorschrift die Klage aufschiebende Wirkung entfaltet - und damit zunächst nur die in Deutsch195 EmeryjSmythe, Judicial Review (Fn. 174), p. 5. 196 Cheney v. Cann, [1968) 1 W.L.R 242 (247) per

Ungaed-Thomas J.:"What the statute itself enacts cannot be unlawful, because what the statute says and provides is itself the law, and the highest fonn of law that is known in this country. lt is the law which prevails over every other fonn of law, and it is not for the court to say that a parliamentary enactment, the highest law in this country, is illegal.• Ebenso jüngst R. v. Secretary af State Jar the Horne Department, exp. Brind, [1991)1 A.C. 696 (715) per Lord Danaldsan ofLymingtan MR. 197 Spam, Verwaltungsrechtsschutz in Großbritannien, VerwArch 82 (1991), S. 25 ff. (S. 29 f.)m.w.N.

198 Cane, Standing, [1981) P.L. 322 (326). Näher zu der Frage, in welchem Umfang Klageanträge gegen die Krone und ihre Bediensteten möglich sind Gardan, Judicial Review: Law and procedure. London 1985, pp. 58 f.

199 Ob die Entscheidung des EuGH im Fall Factaname daran etwas geändert hat, läßt sich soweit noch nicht überblicken. Das Urteil des EuGH v. 195.1990, Slg. 1990, 2433 ist ergangen aufgrund eines Ersuchens um Vorabentscheidung des britischen Hause of Lords im Fall Factaname Ltd. v. Secre~f~!Y af State far Transpan, 119901 2 A.C. 85; dazu Feldman [1992) M.L.R 44 (56); Tath, [1990] C.M.L.R 573 (582 ff.). Herrn l>rofessor David Hughes, Leicester, verdanke ich den Hinweis, daß es für Fälle ohne europarechtlichen Bezug tendenziell beim Verbot der Anordnung einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Krone bleiben wird. 200

Al/an, Pragmatism, [1988)104 L.Q.R 422 (445).

Kapitel 3: Die Rechtslage in Großbritannien

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land als gesetzlicher Regelfall vorgesehene Lage hergestellt wird - sind noch nicht gefestigt, tendieren jedoch zu einer eher restriktiven Handhabun~1 • Ursprünglich wurde für den vom Gericht anzulegenden Prüfungsmaßstab unterschieden, ob die Behörde, deren Akt angegriffen wurde, eine judicial function ausübt oder nicht. Nur wenn es sich um eine judicial function handelte, konnte die Maßnahme im Wege eines Antrags auf certiorari oder mandamus angegangen werden202• Die Gerichte haben jedoch schon früh damit begonnen, den Begriff judicial function weit auszulegen203• So kam es, daß diese Sichtweise nach und nach aufgegeben worden ist, nicht zuletzt deswegen, weil die Grenze zwischen judicial und non-judicial. function schwer zu ziehen war. Daher kann de Smith zu dem Schluß kommen204: "The scope of judicial review is more likely to turn on the wording of the grant of power, the subject-matter and the context than on the question whether the function is analytically administrative or judicial. The current tendency is for the courts to review all questions of law but to show self-restraint in reviewing findings of fact. •

Es gibt drei Gründe, aufgrundderer eine Entscheidung der Verwaltungsbehörden aufzuheben ist: illegality, i"ationality und procedural impropriety205• Über die Anerkennung eines vierten Authebungsgrundes, der eine Art Parallelität zu den französischen cas d'ouverture herstellen würde, der proportionality, wird gerade diskutiert206• Den Inhalt dieser Aufhebungsgründe hat Lord Diplock näher erläutert207: 201 Dazu Supperstone/Goudie, Judicial review (Fn. 187), pp. 363 ff. Ein Beispiel für die Abwägung im Rahmen der Anordpung aufschiebender Wirkung ist der vergebliche Versuch von Greenpeace, die Nutzung der Anderungsgenehmigung für die atomare Aufbereitungsanlage Sellafield zu verhindern, R. v. Jnspectorale of Pollution, ex p. Greenpeace Lid., (1994]1 W.L.R 570. 202 Diese klassische Regel ist aufgestellt worden von Atkin LJ. im Fall R. v. Eleclricity Commissioners, ex p. London Eleclricity Joint Commillee Co. (1920) Ltd., (1924) 1 K.B. 171 (205). 203 Vgl. die Einschätzung bei Wade, Administrative Law. 6th ed. Oxford 1988, p. 631: "But 'jurisdiction' bad become synonymaus with 'power', and in fact certiorari and prohibition were used to cantrot all kinds of irregular administrative acts, from those of justices to those of ministers.• 204

de SmilhjEvans, Judicial Review of administrative action. 4th ed. London 1980, p. 108.

205

Einen Überblick gibt Bagnall, Judicial review (Fn. 190), p. 2 f. und auch Al/an, Pragmatism, (1988) 104 L.Q.R 422 (429); ausführlich Emery/Smylhe, Judicial Review (Fn. 174), pp. 93 ff. Bei Gordon, Judicial Review (Fn. 198), p. 15 heißen die genannten Gründe "abuse of jurisdiction•, "abuse of discretion• und "violation of the rules of natural justice•. 206 Scannan, The development of administrative law, (19901 P.L. 490 (490); dazu jüngst die Entscheidungen Councü of Civü Services v. Minister for lhe Civü Service (; G.C.H.Q. case), [1985] A.C. 374 (410) per Lord Diplock; R. v. Secretary of State for lhe Horne Department, ex p. lJrind, (1991]1 A.C. 6tJ6 (723 f.) per Lord Donaldson ofLymington MR. 207 Council ofCivil Service Unions v. Minister for lhe Civü Service ( = G.C.H.Q. case), (1985] A.C. 374 (410 f.).

6 GcrsLncr

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1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses "By "illegality" as a ground for judicial review I mean that the decision maker must understand directly the law that regulates bis decision making power and must give effect to it...

By "irrationality" I mean what can by now be succintly referred to as "Wednesbury unreasonableness• (see AssociaJed Provincial Picture Hauses Lid. v. Wednesbury Corporation~. lt applies to a decision which is so outrageaus in its defiance of logic or of accepted moral standards that no sensible person who bad applied bis mind to the question tobe decided could have arrived at it... I have described the third head as "procedural impropriety" rather than failure to observe basic rules of natural justice or failing to act with the procedural faimess towards the person who will be affected by the decision. This is because acceptability to judicial review under this head covers also the failure by an administrative tribunal to observe procedural rules that are expressly laid down in the legislative instrument by which its jurisdiction is conferred, even where such failure does not involve any denial of natural justice.•

Unter die im letzten Grund angesprochene natural justice fallen herkömmlicherweise zwei Regeln: Zum einen nemo judex in causa sua, zum anderen audi alteram paTtemD. Die im Sinne der genannten drei Aufhebungsgründe eingeschränkte Kontrolldichte im Rahmen der application for judicial review wird üblicherweise dahin beschrieben, daß zwischen den merits des Verwaltungshandeins und der legality unterschieden wird. Nur die /egality- das heißt die Frage, ob die Verwaltung ultra vires gehandelt hae10 wird im gerichtlichen Verfahren untersuche11 • Schließlich ist im Rahmen der application for judicial review die Möglichkeit, zu den Untersuchungsmitteln der discovery, inte"ogatories und cross-examination zu greifen, eingeschränke12• c) Der Instanzenzug führt vom High Court of Justice, und zwar in der Regel der Queen's Bench Division, zunächst zum Court ofAppeal. Diese beiden Gerichte bilden zusammen den Supreme Court of Judicature. Letzte Instanz und oberstes Gericht ist das House of Lords.

208 (1948) 1 K.B. 223 (229): •... a person entrusted with a discretion must, so to speak, direct bimself properly in law. He must call bis own attention to the matters which he is bound to consider. He must exclude from his consideration matters which are irrelevant to what he has to consider. lf he does not obey those rules, he may truly be said, and often is said, to be acting "unreasonable". Similarly, there may be something so absurd tbat no sensible person could ever dream that it lay within the powers of the autbority.• 2m

Statt aller SupperstonejGoudie, Judicial review (Fn. 187), pp. 152 ff.; eingehend

210

Spoerr, Verwaltungsrechtsschutz in Großbritannien, VerwArch 82 (1991), S. 25 ff. (S.

211

Al/an, Pragmatism, (1988) 104 L.Q.R. 422 (423).

212

Dazu kritisch JUSTICE-All Souls Report (Fn. 178), p. 157.

Marsha/1, Natural justice. l..ondon 1959. 44).

Kapitel 3: Die Rechtslage in Großbritannien

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d) Obwohl betont worden ist, daß die Reform von 1977 keine Änderung des materiellen Rechts bewirken konnte213, bat sich der Rechtsbehelf der application for judicial review zunehmend verselbständigt. Zwei Fälle waren wegweisend: Der Fall R. v. Inland Revenue Commissioners, ex p. National Federation of the Self-Employed and Small Businesses Ltd. 214 und der Fall O'Reilly v. Mackman21S. Im Fall National Federation of the Self-Employed ging es um folgenden Sachverhale16: Bei den Zeitungsverlagen in der Fleet Street waren ca. 6 000 freie Mitarbeiter beschäftigt, die alle in Lohnlisten eingetragen wurden, um ihre Bezahlung beziehen zu können. Zum Teil wurden bei dieser Gelegenheit jedoch mit Wissen der Arbeitgeber falsche oder frei erfundene Namen angegeben, um die Steuerbehörden an der Einziehung der fälligen Steuern und Abgaben zu hindern. Der Verlust für die öffentliche Kasse belief sich auf ca. 1 Mio. englische Pfund im Jahr. Nachdem diese Umstände bekannt geworden waren, traf die Steuerbehörde, die Inland Revenue, mit den Arbeitgebern und den Gewerkschaften eine spezielle Vereinbarung, derzufolge für die Zukunft eine direkte Abführung der Steuern zu erfolgen habe, dafür aber die Steuerverluste, die mehr als zwei Jahre zurücklagen, nicht weiter verfolgt werden sollten. Die National Federation of Self-Employed and Sma/1 Businesses Ltd. sah in dieser Vereinbarung einen deutlichen Verstoß gegen die sonst üblichen Untersuchungen über Steuerverluste. Vor allem aber meinte sie, daß die Inland Revenue keine Befugnis habe, eine Steuererhebung schlichtweg zu unterlassen. Daher legte sie eine application for judicial reviewmit dem Ziel ein, daß zum einen die Unrechtmäßigkeit der Vereinbarung festzustellen, zum anderen die Inland Revenue zur Festsetzung und Eintreibung der unterbliebenen Steuerzahlungen zu verpflichten sei. Die Klage wurde schließlich auf der Stufe der application for leave abgewiesene, weil die Federation im Rahmen des locus standi nicht die Rechtswidrigkeit des Handeins der Inland Revenue glaubhaft machen konnte. Begründet hat das Gericht seine Entscheidung damit, daß der Steuerbehörde bei der Einziehung von Abgaben sehr weites, gerichtlich nicht überprüfbares Ermessen eingeräumt sei. Damit war die National Federation zwar im Ergebnis erfolglos. Ihre Klage hat allerdings die Entwicklung der application for judicial review zu einem Verfahren der objektiven Recbtmäßigkeitskontrolle einge213 R v. Inland Revenue Commissioners, ~ p. National Federation of Self-Employed and Sma/1 Businesses Ltd., [1982) AC. 617 (647) per Lord Scarman. 214

[1982) A.C. 617.

215

[1983) 2 AC. 237; fortgeführt im Fall Codes v. Thanet Distriel Council, [1983) 2 AC. 286.

216

Als "leading case on the law of standing" auch bezeichnet bei SupperstonejGoudie, Judicial review (Fn. 187), p. 332. Besprechung des Falles bei Feldman, Standing, [1982] 45 M .L.R 92; zur Bedeutung hinsichtlich locus standi auch Emery/Smythe, Judicial Review (Fn. 174), pp. 276 ff.; Gordon, Judicial Review (Fn. 198), pp. 43 ff. 6*

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

84

leitet217• Nachdem schon die oben angeführten Klagegründe die Verletzung subjektiver Rechte ausblenden, wurde die systematische Entscheidung zugunsten eines contentieux objectif auf die Anforderungen des locus standi übertragen. Dem Fall O'Reilly v. Maclcman lag folgender Sachverhalt zugrunde: O'Reilly und drei weitere Insassen des Hull Prison waren vom board of visitors des Gefängnisses zu Disziplinarstrafen verurteilt worden. Das board of visitors ist ein in jedem Gefängnis eingesetztes, in Teilen unabhängiges Gremium, welches die ordentliche Leitung und Verwaltung der Anstalt zu kontrollieren hat. Gegen die Maßnahmen dieses Gremiums legten die Gefangenen ordentliche Rechtsbehelfe bei der Queen's Bench Division mit dem Ziel ein, daß die Rechtswidrigkeit und Nichtigkeit der Maßnahmen des board of visitors festgestellt würden. Alle drei Klagen wurden in letzter Instanz als unzulässig abgewiesen, weil sie einen abuse of the process of the court darstellten: Das House of Lords war der Ansicht, daß der richtige Klageweg für eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit wie die vorliegende die application for judicial review und nur dieses Verfahren gewesen sei. Es ließ sich in seiner Entscheidung auch nicht dadurch beirren, daß die Fristen zur Einlegung dieses Rechtsbehelfs bereits abgelaufen waren. In dieser Entscheidung hat sich insbesondere Lord Diplock für die Einordnung der application for judicial review als öffentlich-rechtliches Streitverfahren eingesetzt218. Ein Element zur Beantwortung der Frage, ob das Verfahren als öffentlich-rechtliches einzuordnen sei, war dabei nach Lord Diplock die Tatsache, daß es um die Iegitimale expectation der Kläger und damit um einen Aspekt der natural justice gin~19. Den Klägern kam es nicht auf die Erstattung von damages an220• Vielmehr machten sie die Verletzung öffentlichrechtlich geschützter "Rechte" geltend. Für solche Verletzungen aber, so das Urteil, sei die applicationfor judicial reviewder einzige Rechtsbehelf21. Daraus läßt sich der Inhalt eines public law right ableiten222: Sobald eine Behörde die ihr obliegenden rechtlichen Pflichten nicht erfüllt, wird dem Kläger das Recht gegeben, diese ultra vires erfolgte Handlung vor ein Gericht zu bringen. Damit erschöpft sich die Funktion des Rechtes. Für den 217 218

Vgl. auch SupperstonejGoudie, Judicial review (Fn. 187), p. 335.

Dieser Ansatz wird fort~eführt in dem Fall Coclcs v. Thanet District Councü, (1983) 2 A.C. 286. Weitere Beispielebet Bagnall, Judicial review (Fn. 190), pp. 36 ff. 219

O'Reilly v. Mackman, (1983)2 A.C. 237 (275).

220

Emery, Farewell to "Public Law"?, (1988) P.L. 495 (498 f.).

221 So auch Batstone, Verwaltungsrechtsschutz in Großbritannien, in: Dokumentation 8. Verwaltungsrichtertag (Fn. 183), S. 271 ff. (S. 272). Zu den durch die Entscheidung aufgeworfenen Abgrenzungsproblemen näher Emery, Collateral attack, (1993) 56 M.L.R 643. 222

Zum folgenden Sunkin, Judicial Review, (1983)46 M.L.R 645 (649).

Kapitel 3: Die Rechtslage in Großbritannien

85

Fort- und Ausgang des Verfahrens spielt es keine Rolle mehr. Darauf wird im einzelnen zurückzukommen sein. Zwar ist an der Entscheidung in neuerer Zeit Kritik geübt worden223• Diese betrifft jedoch nicht die Frage, wie ein public law right zu bestimmen wäre, sondern das Problem, ob nicht der Bereich, in dem es auch um private rights und damit die ordentlichen Rechtsbehelfe geht, die Trennlinie zur application for judicial review wieder aufweiche. An den Versuchen, die spezifisch öffentlich-rechtliche Klageposition des einzelnen zu bestimmen, wenn sie denn vorliegt, ändert sie daher nichts. e) Beide Fälle ergeben in ihrer Kombination die Systementscheidung des britischen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes. Immer unter dem Vorbehalt, daß sich die Ergebnisse eines maßgeblich im case law gefundenen Rechts nur bedingt systematisieren lassen, läßt sich feststellen: Die application for judicial review stellt das gerichtliche Kontrollverfahren im Rahmen des public law dar - das ist die Aussage aus O'Reilly v. Mademan - und dieses Kontrollverfahren hat die Funktion, die objektive Rechtmäßigkeit der Behördentätigkeit zu überprüfen - das ist die Aussage aus dem Fall National Federation. Auch Großbritannien läßt sich damit grundsätzlich der Systematik eines contentieu.x objectif zuordnen. Die seit Anfang der achtziger Jahre entbrannte Diskussion, ob es in Großbritannien überhaupt ein gesondertes Gebiet des öffentlichen Rechts gäbe und wie es gegebenenfalls zu charakterisieren se~ ist bis heute nicht abgeschlossen. Die folgenden Kriterien können daher nur eine Art Leitlinie abgeben224: - Die Sache ist nur dann ein öffentlich-rechtliches Verfahren auf Seiten des Beklagten, wenn sowohl dessen Eigenschaft als auch die konkret in Frage stehende Pflicht als öffentlich-rechtlich zu verstehen ist; - falls ausschließlich eine Verletzung von public law rights vorliegt, ist die application for judicial review die einzig verfügbare Klageart; - eine Klage wegen der Verletzung von private law rights kann nicht im Wege der application for judicial reviewgesucht werden; - wenn die Verwaltungsmaßnahme nicht unmittelbar angegriffen wird, weil sie beipielsweise hingenommen wird oder nur inzident zu prüfen ist, bleibt der Weg zu den Klagen des Privatrechts offen. 2. Näher zu beleuchten ist nun die Frage, welche Argumente der Kläger vorbringen muß, um mit der application for leave erfolgreich zu sein. Wie 223

224

Alder, Hunting the chimera, (1993]13 L.S. 183.

Grubb, Judicial Review, [1984) C.LJ. 16 (18 f.) (mit Hinweisen auf weitere einschlägige Entscheidungen).

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

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bereits erwähnt, ist dieser Antrag die erste Stufe der application for judicial review. Die Funktion des leave ist folgendermaßen umschrieben worden225: "lts purpose is to prevent the time of the court being wasted by busybodies with misguided or trivial complaints of administrative error, and to remove the uncertainty in which public officers and authorities might be left as to whether they could safely proceed with administrative action while proceedings for judicial review of it were actually pending even though misconceived."

Das Gericht beurteilt daher im Rahmen der Entscheidung, ob leave zu gewähren sei, ob es im öffentlichen Interesse liege, daß ein Gericht in den Konflikt zwischen dem Individuum und der Verwaltung eingreift226• Zugespitzt formuliert könnte man sagen, daß das Gericht zunächst entscheidet, ob es entscheiden soll, eine Fragestellung, wie sie im deutschen Recht in dieser Schärfe nicht auftaucht. a) Welches Gewicht es dabei den einzelnen Faktoren gibt, ist eine Frage gerichtlichen Ermessens (judicial discretion)m. Lehnt eines der unteren Gerichte, insbesondere also die Queen's Bench Division am High Court of Justice, es ab, leave zu gewähren, kann sich der Anlagsteller an den Court of Appeal und in letzter Instanz an das House of Lords halten. Man kann daher mit allen Vorbehalten die application for leave mit einer gesonderten Entscheidung über die Zulässigkeil der Klage vergleichen. Welche Richtung die Überlegungen nehmen können und welche Belange das Gericht in die "Abwägung" einstellen kann, macht beispielhaft s 31(6) Supreme Court Act 1981 ( = SCA) deutlich. Die Vorschrift betrifft die Frage, inwieweit die Richter ihr Ermessen ausüben dürfen, wenn der Antragsteller sich einen undue delay hat zuschulden kommen lassen. Dabei heißt es, daß das Gericht leave versagen kann, "if it considers that the granting of the relief sought would be likely to cause substantial hardship to, or subtantially prejudice the rights of, any person or would be detrimental to good adminirtration."(Hervorhebung hinzugefügt)

Eine klare Trennung zwischen privaten und öffentlichen Belangen findet in dieser Gegenüberstellung nicht statt. Bemerkenswert ist insbesondere, daß der Belang good administration in dieser Pauschalität aufgenommen und auch nicht weiter spezifiZiert wird. Die Vorschrift verdeutlicht exemplarisch die noch nicht gefestigte Festlegung der application for judicial review auf eines der beiden Systeme, contentieux objectif oder contentieux 225 R. v. Inland Revenue Commissioners, a p. National Federation of Self-Employed and Sma/1 Businesses Ltd., (1982) AC. 617 (642 f.) per Lord Diplock. 226

O'Reilly v. Mackman, (1983) 2 A.C. 237 (280) per Lord Diplock.

m Zum Begriff vgl. auch Bingham, Should public law remedies be discretionary?, (1991)

P.L. 64 (67).

Kapitel 3: Die Rechtslage in Großbritannien

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subjectif. Überlegungen aus beiden Richtungen können dazu führen, daß die Kontrolle der Verwaltungtrotz mutmaßlicher Rechtswidrigkeit ihres Handeins unterbleibt. Die Zahl der Fälle, in denen die Klage am Erfordernis des leave scheitert, ist beträchtlich228• b) Trotz dieser Unsicherheiten soll im folgenden eine Ordnung der einzelnen Elemente versucht werden. Als zwei große Gruppen lassen sich einerseits Kriterien unterscheiden, die unabhängig vom Vorbringen des Klägers in allen Fällen mehr oder weniger gleich ausfallen und andererseits Gesichtspunkte ausmachen, die von Fall zu Fall von der vorgebrachten Rüge abhängen. Die erste Gruppe, eine Art objektive Kriterien, umfaßt im groben die Klagevoraussetzungen, die das deutsche Recht außerhalb des § 42 Abs. 2 VwGO ansiedelt. Erstens gilt der Grundsatz "he who seeks equity must come with clean hands" auch für die prerogative remedies und damit für die application for judicial review219• Daher darf der Antragsteller nicht unmeritorious oder unreasonable gehandelt haben230• Ein zweites objektives Element ist der Grundsatz "equity will not act in vain". Das bedeutet, daß beispielsweise eine Klage gegen einen Akt, der den Kläger nicht mehr beschwert, abgewiesen werden kann231 • Drittens schließlich ist zu fragen, ob dem Kläger ein gleich effektives, weniger aufwendiges Verfahren zu Verfügung steht, das er gleichfalls einschlagen kann232• Dazu gehört auch, ob die erforderliche Klagefrist eingehalten ist. Die zweite Gruppe, die man als subjektive Elemente bezeichnen könnte, wird durch die neue Order 53 (7) RSC und s 31 (3) SCA als sufficient interest umschrieben. Order 53 (7) RSC lautet: "Tbc Court shall not grant leave unless it considers that the applicant has a sufficient interest in the matter to which the application relates. •

228

Vgl. JUSflCE-All Souls Report (Fn. 178), p. 152.

Eine Übersicht über die verschiedenen Aspekte der judicial discretion geben Emery/Smythe, Judicial Review (Fn. 174), pp. 280 ff. 229

230 R. v. Secretary of State for the Horne Department, a p. Puttick, [1981) 1 Q.B. 767; außerdem der Fall R. v. Secretary of Slaie for Education & Science, a p. Birmmgham D.C., [1984) The Times, July 18, p. 12, in dem ein dem deutschen Recht vergleichbares venire contra facrum proprium vorlag. 231

Emery/Smythe, Judicial Review (Fn. 174), p. 282.

R v. Metropolitan Police Commissioner, a p. Blackburn, [1968) 2 Q.B. 118 (149) per Edmund Davies LJ.; van Dijk, Judicial Review (Fn. 182), p. 70. 232

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

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Damit ist die Frage nach dem standing bzw. locus standi des Antragstellers aufgeworfen233• Hier wird gefragt, ob der individuelle Kläger mit seinem Vorbringen ein ausreichendes Klageinteresse vorbringen kann. Die Funktion dieses Prüfungspunktes entspricht der Klagebefugnis aus § 42 Abs. 2 VwGO. Daher ist er näher darzustellen. 3. Die leading authority zu der Frage, wann ein sufficient interest vorliegt, ist der oben dargestellte Fall National Federation ofthe Self-Employed234• Er hat für die Frage nach dem locus standi im Rahmen der application for judicial review vorerst die Maßstäbe gesetzt. a) Der Fall lag insofern besonders schwierig, als die Klage gegen die

Revenue geführt wurde und damit die prinzipielle Frage, ob dieser Bereich überhaupt dem judicial review geöffnet werden solle, mitzuentscheiden war. In Frankreich ist der Bereich der nationalen Finanzen, wie gezeigt, von der Rechtsprechung aus den verwaltungsgerichtlichen Streitverfahren ausgenommen worden. Lord Diplock geht in seiner Argumentation interessanterweise genau aus der anderen Richtung vor235• Nachdem er festgestellt hat, daß im Rahmen des judicial review die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandeins zur Prüfung steht, kommt er zu dem Schluß236:

"lt would, in my view, be a grave lacuna in our system of public law if a pressure group, like the federation, or even a single public-spirited taxpayer, were prevented by outdated technical rules of locus standi from bringing the matter to the attention of the court to vindicate the rule of law and get the unlawful conduct stopped... lt is not, in my view, a sufficient answer to say that judicial review of the actions of officers or departments of centrat govemment is unnecessary because they are accountable to Parliament for the way in which they carry out their functions. They are accountable to Parliament for what they do so far as regards efficiency and policy, and of that Parliament is the only judge; they are responsible to a court of justice for the lawfulness of what they do, and ofthat the court is the only judge.•

Auf einen einfachen Nenner gebracht läßt sich die Aussage dahin zusammenfassen, daß der National Federation deswegen das Klageinteresse zuerkannt wird, weil ansonsten niemand die behauptete Unrechtmässigkeit der Inland Revenue zur Aufmerksamkeit der Gerichte bringen könnte. Das sei mit der rule of law nicht zu vereinbaren. Diese Auffassung der Funk233

Einen konzisen Überblick über die gegenwärti~e Rechtslage zu locus standi gibt

JUSTICE-AII Souls Report (Fn. 178}, pp. 178 ff; zur Einordnung des standing in die Klagevoraussetzungen van Dijk, Judicial Review (Fn. 182), p. 72.

234 R. v. Inland Revenue Commissioners, a p. National Federation of SelfEmployed and Small Businesses Ud., (1982) A.C. 617. 235 R. v. Inland Revenue Commissioners, a p. National Federation of Self-Employed and Small Businesses Ud., (1982) A.C. 617 (642 ff.). 236 R. v. Inland Revenue Commissioners, a p. National Federation of Self-Employed and Small Businesses Ud., (1982) A.C. 617 (644).

Kapitel 3: Die Rechtslage in Großbritannien

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tion von locus standi hat Konsequenzen in zwei Richtungen: Auf der einen Seite sind damit die Regeln für die Klagebefugnis weitgehend liberalisiert worden. Die Einschätzungen gehen soweit, daß mit dem Fall National Federation of the Self-Employed eine Art actio popularis in das englische Recht eingeführt worden istm. Der Gefahr, daß die Gerichte durch diese Entscheidung mit Klagen überschwemmt werden könnten, wird mit dem Argument begegnet238: "'lbe 'busybody' argument did not impress this House in the Ende's case (Arsenal Football Club Ltd. v. Ende [1979] A.C. 1], wbere the potential number of ratepayers that could be involved was over three million. Taxpayers such as the appellants, with a genuine grievance, should have access to the courts.•

Auf der anderen Seite mußte nach dem Wegfall der alten technical ru/es ein neues Filterkriterium gefunden werden, um den Weg für bloße busybodies zu versperren. Die Rechtsprechung griff dazu auf eine Konstruktion zurück, die formal- wegen des Vorgriffs auf die Begründetheit- auch dem Gedanken des § 42 Abs. 2 VwGO entspricht: Um ein sufficient interest nachweisen zu können, muß der Kläger hinreichend substantüeren, daß das angegriffene Verhalten der Behörde unlawful gewesen ist239• Der Hauptvorwurf an diese Konstruktion ist, daß damit die unterschiedlichen Funktionen der application for leave und der eigentlichen Entscheidung in der Sache aufgehoben werden. Die Klagebefugnis sei ein Aspekt des leave, nicht der Begründetheit und dürfe daher Fragen nach der Rechtswidrigkeit des Aktes nicht beinhalten240• Darüberhinaus machen die Richter in dem Urteil Andeutungen, daß die Zusammenfassung der ehemals fünf getrennten Klageanträge zu einer Vereinheitlichung der Kriterien des locus standi führt241 • Abschließend kann diese Entwicklung aber - wie typischerweise in einem case /aw-System - nicht beurteilt werden242• b) Das zeigt nicht zuletzt eine jüngere Entscheidung, in der die weitgehende Liberalisierung des locus standi wieder etwas zurückgenommen wor137

Griffiths, Mickey Mouse, [1982] C.LJ. 6 (8).

238

R v. Inland Revenue Commissioners, et p. NlllionaJ Federation of Sei{-Employed and

Small Businesses Ltd., [1982] A.C. 617 (627) per Jon Harvey Q.C. and Stephan Silman.

239 Kritik an dieser summarischen Betrachtung der Begründetheil bei JUSTICE-All Souls Report (Fn. 178), p. 196 f.; vgl. auch Spoerr, Verwaltungsrechtsschutz in Großbritannien, VerwArch 82 (1991), S. 25 ff. (S. 43).

240

JUSTICE-All Souls Report (Fn. 178), p. 154 f.

R v. Inland Revenue Commissioners, et p. National Federation of SelfEmployed and Small Businesses Lid., [1982] A.C. 617 (638). 241

242 Zurückhaltend auch Gordon, Judicial Review (Fn. 198), pp. 49 f. Allerdings führt die Entscheidung R v. Secretary of State for the Environment, ex p. Ward, (1984]1 W.L.R 834 die Linie weiter.

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

90

den ist243• Der betreffenden Entscheidung R. v. Secretary of State for the Environment, a p. Rose Theatre Trust Co.244 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Zuge von Bauarbeiten im Zentrum Londons wurde Reste des historisch bedeutsamen Rose Theatre entdeckt. Die zum Schutze dieser Stätte gegründete Rose Theatre Trust Co. stellte beim Secretary for the Environment den Antrag, die Überreste des Theaters in die Liste der schützenswerten Monumente aufzunehmen (s 1 Ancient Monuments and Archaeo/ogica/ Areas Act 1979). Die Aufnahme in die Liste hätte zur Folge gehabt, daß alle das Monument beschädigenden Tätigkeiten, die nicht ein spezielles Genehmigungsverfahren durchlaufen haben, eine Ordnungswidrigkeit (offence) darstellen würden (s 2(1) des Ancient Monuments and Archaeological Areas Act 1979). Der Secretary for the Environment erkannte zwar die Bedeutung der Stätte an, lehnte eine Eintragung in die Liste aber ab. Die Rose Theatre Trust Co. legte gegen diese Entscheidung eine application for judicial review ein. Der Antrag scheiterte am mangelnden /ocus standi der Trust Co. Zunächst stellt Schiemann J. fest, daß die Tatsache, daß mehrere Individuen sich zu einem Interessenverband zusammenschließen, nicht dazu führen kann, daß dieser Verband ein sufficient interest haben könne, wo keines der assoziierten Individuen ein sufficient interest vorzuweisen habe. Sodann untersucht er, ob ein Individuum gegen die Nichteintragung in die Liste hätte klagen können. Diesbezüglich kommt er zu dem Ergebnis245: •... it seems to me that the decision not to schedule is one of those govemmental decisions in respect of which the ordinary citizen does not have a sufficient interest to entitle him to obtain leave to move for judicial review... ... the law does not see it as the function of the courts to be there for every individual who is interested in having the legality of an administrative action litigated. Parliament could have given such a wide right of access to the court but it has not done so... The court will Iook at the matter to which the application relates ... and the statute under which the decision was taken ... and decide whether that statute gives that individual expressly or impliedly a greater right or expectation than any other citizen of this country to have that decision taken lawfully.•

c) Ein kurzer Exkurs läßt sich an dieser Stelle anschließen: In der Argumentation von Schieman J. im Fall Rose Theatre klang bereits an, daß Ver243 Generell zu jüngeren Fallen, in denen die application for judicial review wieder restriktiver gehandhabt wurde JUsnCE-AII Souls Report (Fn. 178), p. 147.

244

(1990) 2 W.L.R..186.

R v. Secretary of Suue for the Environment, ex p. Rose TheaJre Trust Co., (1990) 2 W.L.R 186 (202); kritisch dazu die Anmerkung von Lewis, (1990) C.LJ. 189 und Cane, Statutes, stan2AS

ding and representation, [1990) P.L. 307. Zur Entscheidung aus verfassungsrechtlicher Sicht

Feldman, Public lnterest Litigation, [1992) M.L.R 44 (52). Kritik an dieser Rechtsprechung,

die in gewissen Bereichen zur Unüberprüfbarkeit von Verwaltungsmaßnahmen führt, bei

SupperstonejGoudie, Judicial review (Fn. 187), pp. 339 f.

Kapitel 3: Die Rechtslage in Großbritannien

91

bandsklagen in Großbritannien keinen besonderen Voraussetzungen unterliegen. Im Unterschied zu Frankreich, wo nur Verbände, nicht aber Individualkläger, ein interet collectif geltend machen können, führt in Großbritannien die Zusammenfassung mehrerer Einzelpersonen per se noch nicht zu einem über das Interesse der Einzelnen hinausgehenden Interesse. Zumindest müßten zunächst die im Fall Rose Theatre gehegten Bedenken gegen eine solche Erweiterung der Klagebefugnis ausgeräumt werden246• Darüberhinaus läßt sich in den meisten Fällen das Interesse meist soweit individualisieren, daß auf die Problematik eines Verbandsinteresses nicht mehr eingegangen werden muß247• Der Kläger, der mangels sufficient interest nicht zugelassen wird, hat aber noch eine dem britischen Recht eigene Möglichkeit, seine Angelegenheit vor ein Gericht zu bringen: das re/ator proceeding. Für den Fall, daß der Streit ausschließlich öffentliche Belange berührt, kann der einzelne Kläger einen Antrag beim Attomey General mit dem Ziel stellen, daß dieser die Angelegenheit vor Gericht bringt248• Der Attomey General ist eine Art Staatsanwalt, allerdings nicht beschränkt auf Strafverfahren, sondern in jeglichen Angelegenheiten, die öffentliche Interessen berühren. Er ist sowohl Regierungsbeamter mit politischer Verantwortung als auch ein Mitglied des House of Commons249• Der Individualkläger hat allerdings kein durchsetzbares Recht darauf, daß der Attomey General die Sache übernimmfSO. Er braucht die Zustimmung (fiat) des Attomey General'151• Dieser entscheidet nach Ermessen, und seine Entscheidung ist unanfechtb~2• Eine Ausnahme könnte allenfalls bestehen in Fällen, in denen das öffentliche Wohl in einem besonders gravierendem Maß bedroht ist2S3.

246 Vorschläge in diese Richtung machen SupperstonejGoudie, Judicial review (Fn. 187), pp. 340 f.; das dort angeführte Argument zeigt die aus kontinentaler Sicht unbekümmertere Vergehensweise im britischen Recht (Hervorhebung hinzugefügt): "A ... more limited proposition is that il is undesireable that where a public body acts unlawfully there should be nobody at all in a position to seek a remedy. •

247

van Dijk, Judicial Review (Fn. 182), pp. 71 f.

248

So zum Beispiel im FaiiAttomey General v. Crayford Urban Distriel Council, (1962) Ch.

249

van Dijk, Judicial Review (Fn. 182), pp. 212 f.

575.

250

Ein Versuch, dieses Ermessen zu umgehen, lag vor im Fall Gouriet v. Union of Post Office Workers, (1977] Q.B. 729 (CA.); (1978) A.C. 435 (H.L.). 251

JUSTIC&AII Souls Report (Fn. 178), p. 186.

'1Sl Gouriet v. Union of Post Office Workers, (1977) Q .B. 729 (CA.); (1978) A.C. 435 (H.L.); ebenfalls van Dijk, Judicial Review (Fn. 182), p. 59. 253

van Dijk, Judicial Review (Fn. 182), p. 62 mit Nachweisen zur Rechtsprechung.

92

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

§ 9 Locus standi und Belange des Umweltschutzes

1. Um die Bedeutung von locus standi im britischen Umweltrecht richtig einschätzen zu können, ist wie in den beiden anderen Vergleichsländern auch hier ein Blick auf die Struktur dieses Rechtsgebietes nötig.

a) Das britische Umweltrecht ist wie die vergleichbaren Gebiete in Deutschland und Frankreich nicht systematisch entwickelt worden, sondern nach und nach durch vereinzelte rechtliche Regelungen entstanden2S4. Das Umweltministerium, welches 1970 gebildet wurde, war eine Zusammenfassung verschiedenster Kompetenzen aus den Ministry of Housing and Local Govemment, Transport und Public Building and Works 255 • Der Begriff "Umweltrecht" hat sich in der wissenschaftlichen Literatur noch nicht in dem Maße durchgesetzt wie in Deutschland oder Frankreich256• Noch in der größten Gesetzessammlung, den Halsbury's Laws of England, stehen die den Umweltschutz betreffenden Vorschriften nicht in einem eigenen Kapitel, sondern firmieren unter der Überschrift Public Health . Wichtige Gesetze mit Bedeutung für die Umwelt sind der Clean Air Act 1956, der Public Health Act 1936 mit seinen Ergänzungen von 1961 und 1969 und der Control of Pollution Act 1974257• Zu nennen ist weiter der Town and Country Planning Act 1932. Zwar zielt er nicht ausdrücklich auf den Schutz der Umwelt ab. Doch dadurch, daß die Raumplanung zwingend Maßnahmen zur Verbesserung der Umwelt vorsehen muß, und dadurch, daß die Einhaltung der Pläne durch ein Genehmigungsinstrumentarium durchgesetzt wird, hat sich auch dieses Gesetz als ein wichtiges Mittel zum Schutz der Umwelt erwiesen2S8. Zum Teil reichen die Wurzeln des Umweltrechts, historisch unter anderer Bezeichnung, in Großbritannien jedoch weiter zurück. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten gesetzgeberische Bemühungen entlang zweier verschiedener Entwicklungslinien zu den Anfängen eines Umweltschutzrechts: Die eine Stoßrichtung zielte auf den Schutz der ländlichen Gebiete und deren Erholungswert, die andere hatte zum Ziel, die Lebensbedingungen in den großen Städten anzuheben, insbesondere hinsichtlich der Verbesserung der Luft- und der Wasserqualität Erst später kam der 2S4 Bothe/Gündün~, Neuere Tendenzen des Umweltrechts im internationalen Vergleich. Berlin 1990, S. 42 memen, es sei ein "gesetzgeberischer Flickenteppich". 255

Emery/Smythe, Judicial Review. London 1986, p. 6.

Macrory, The United Kingdom, in: Smith/Kromarek, Understanding US and European Environmental Law. London/Dordrecht/Boston 1989, p. 31 ff. (p. 36). 256

257

Bothe/Gündling, Neuere Tendenzen (Fn. 254), S. 43.

2S8 Bothe/Gündling, Neuere Tendenzen (Fn. 254), S. 45.

Kapitel 3: Die Rechtslage in Großbritannien

93

dritte Zweig, die öffentliche Kontrolle der Raumplanung, hinzu259• Daß sich das Rechtsgebiets trotz der weit zurückreichenden Wurzeln nur allmählich entwickelt bat, liegt daran, daß die Handhabung des gesetzlichen Instrumentariums lange Zeit geprägt war durch einen großzügigen Gebrauch behördlichen Ermessens und Pragmatismus260• Vor allem das britische Pendant zur deutschen Figur des "Standes von Wissenschaft und Technik", die best practical means, haben den Entscheidungsspielraum der Behörden immer offen gehalten261 • Denn in der Auswahl der Bereiche, aus denen die Kriterien für die Einschätzung der "besten" Mittel stammen sollten, und beim Grad der Optimierung, der mit diesen Mitteln zu erreichen sein soll, sind die Behörden weitgehend ungebunden. Abgesehen davon war lange Zeit und ist zum Teil immer noch die Tendenz zu beobachten, daß Belange der Umwelt erst vor die Gerichte gelangen, wenn konkrete oder offensichtliche Rechtsbrüche vorliegen262• In diesen Fällen spielen drei Instrumente die Hauptrolle: criminal offences, civil remedies und administrative sanctions263• Die strafrechtlichen und zivilrechtliehen Reaktionsmöglichkeiten entsprechen weitgehend den aus dem deutschen Recht bekannten und sollen in dieser Untersuchung nicht vertieft werden. Die administrative sanctions lassen sich in vier Gruppen einteilen264: Erstens in Instrumente der Eröffnungskontrolle, d.h. vor allem Genehmigungserfordernisse; zweitens in Instrumente der direkten Verhaltenssteuerung, beispielsweise nachträgliche Anordnungen; drittens in die Schaffung spezieller schützenswerter Gebiete, wie einer smoke control area (s 11(2) Clean Air Act 1956); viertens schließlich in spezielle "vertikale" Gesetzgebung zur Regelung bestimmter umweltbelastender Tätigkeiten wie beispielsweise der Abfallentsorgung (s 30(1) Control of Pollution Act 1974). Die Aufzählung zeigt, daß die Struktur des britischen Umweltrechts sich von der der beiden anderen Vergleichsländer nicht grundsätzlich unterscheidet. Das Handeln der mit Umweltschutz beauftragten Behörden kann auf verschiedenen Wegen kontrolliert werden265: An außergerichtlichen Rechtsbehelfen stehen die Beschwerde an das britische Pendant zum skandinavischen Ombudsman - das heißt auf nationaler Ebene an den Parlia259

Macrory, The United Kingdom, in: Smith/Kromarek (Fn. 256), p. 31 ff. (p. 36).

260

Macrory, The United Kingdom, in: Smith/Kromarek (Fn. 256), p. 31 ff. (p. 31).

261

}..facrory, The United Kingdom, in: Smith/Kromarek (Fn. 256), p. 31 ff. (p. 41) mit einem Uberblick über die reported cases in diesem Bereich. 262

Macrory, The United Kingdom, in: Smith/Kromarek (Fn. 256), p. 31 ff. (p. 40).

263

Macrory, The United Kingdom, in: Smith/Kromarek (Fn. 256), p. 31 ff. (p. 39).

264

Dazu Waile, Les sanctions penales, RJ.E. 1990, p. 149 ff. (pp. 162 ff.); ders., Criminal and Administrative Sanctions, (1~9) 1 L.M.E.L.R 38, 74 (74 ff.). 265

Dazu Waite, Criminal and Administrative Sanctions, (1989) 1 L.M.E.L.R 38, 74 (77 f.).

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

94

mentary Commissioner und auf lokaler Ebene an den Commissioner of Local Administration - und ministerielle Kontrollbefugnisse (z.B. s 97 Control of Pollution Act 1974) zur Verfügung. Bei den gerichtlichen Rechtsbehelfen steht die application for judicial review im Vordergrund266• Die beiden wichtigsten statutory remedies im Umweltrecht stellen die Klagerechte einer person aggrieved nach s 245 Town and Country Planning Act 1971 und nach s 34 Control of Pollution Act 1974 da?'7 • Deutlicher als für die beiden anderen Vergleichsordnungen ist jedoch für das britische Verwaltungsgerichtsverfahren zu betonen, daß das Kostenrisiko hoch ist und ein verlorener Prozeß sehr teuer werden kann268•

b) Die Frage, wie das verwaltungsgerichtliche Verfahren im allgemeinen und das Klageinteresse des "Drittbetroffenen" im besonderen den Umweltschutz in die Systematik der Verwaltungsgerichtskontrolle einbauen konnte, wäre ähnlich wie für Frankreich zu beantworten gewesen, wenn sich in Großbritannien eine klare Entscheidung für das objektive Kontrollverfahren hätte ermitteln lassen. Eine konsequente Weiterentwicklung des Falles National Federation of the Self-Employed'NR hätte auch bei Verstößen gegen Umweltgesetze unabhängig von der formalen Stellung des Individualklägers als Adressat oder Drittbetroffenem ein Klageinteresse vermittelt, wenn die Rechtswidrigkeit der behördlichen Tätigkeit glaubhaft vorgetragen worden ist. Nach der Darstellung im vorangegangenen Paragraph läßt sich eine solche Tendenz aber nicht eindeutig feststellen. Schon der Fall Rose Theatrem hat gezeigt, daß nicht jeder öffentliche Belang gleichgewichtig an der Wahrung der rule of law teilnimmt. In einer ersten, oberflächlichen Analyse läßt sich festhalten, daß im Fall Rose Theatre die Tatsache, daß der Kläger "lediglich" das nationale Kulturerbe betreffende Belange vorbringen konnte, dazu führte, daß die behauptete Rechtswidrigkeit kein Klageinteresse des klagenden Verbandes nach sich zog. Dabei wird diese Einschränkung nicht mit rechtlichen Überlegungen begründet: Ausschlaggebend ist nicht, daß der Verband keine rechtliche Betroffenheit nachweisen kann. Vielmehr stößt man an dieser Stelle wieder auf die pragmatischen Erwägungen, die auch in Frankreich auszumachen 266 Zur Bedeutung der injunction im Umweltrecht, die auch dem vorläufigen Rechtsschutz dienen kann Be/off, The roJe of the injunction, (1992) N.LJ. 428 (428 f.). 267 Cameron, Environmental Public Ioterest Litigation, in: Vaughan (Ed.), EC environment and planning law. London/Dublin/Edinburgh/Munich 1991, p. 279 ff. (p. 288). 268 Cameron, Environmental Public Ioterest Litigation, in: Vaughan (Ed.) (Fn. 267), p. 279 ff. (p. 289). '1m R. v. Inland Revenue Commissioners, a p. National Federalion of Self-Employed and Sma/1 Businesses Ltd., (1982) A.C. 617.

7:10

186.

R. v. Secretary of State for the Environment, a p. Rose Theatre Trust Co., (1990)2 W.L.R

Kapitel 3: Die Rechtslage in Großbritannien

95

waren und in denen unterschwellig die Notwendigkeit enthalten ist, den Kreis der Kläger nicht auf potentiell jedes Mitglied der Gesellschaft auszudehnen. 2. Trotz alledem trifft die Feststellung zu, daß grundsätzlich die oben dargelegten Regeln zur application for judicial review unverändert auch im Bereich des Umweltrechts Anwendung fmden271 • Im Rahmen der application for leave sind dieselben objektiven Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Die Frist muß eingehalten sein, es darf keine gleich wirksame, einfacher zu erlangende Abhilfe zur Verfügung stehen. Eine jüngere Entscheidung deutet an, daß das Vorliegen eines speziellen gesetzlichen Rechtsbehelfs nicht notwendig zum Ausschluß der application for judicial review führt272• Um locus standi zu haben, muß der Kläger ein sufficient interest nachweisen. Insbesondere die Grundsätze aus den Fällen National Federation of the Self-Employed213 und Rose Theatre Trust Co. 214 sind wie erwähnt zu übertragen275• Die Entscheidungen müssen aber mit den Vorbehalten interpretiert werden, die im case-law System Großbritanniens angebracht sind. Denkbar ist daher, daß der Fall Rose Theatre Trust Co. einengend nur auf die Fälle angewandt werden wird, in denen Verbände, nicht aber Einzelpersonen, eine application for judicial review einlegen276• Denkbar ist aber auch, daß in Zukunft klarere Aussagen des Gesetzes zu fordern sind277• Nicht eindeutig zu beantworten ist derzeit auch noch die Frage, ob die Behauptung, environmental rights seien verletzt, die von der Entscheidung National Federation of the Self-Employed geforderte Verbindung von locus standi und merits begründen kann278• Die Inanspruchnahme der rights as a parent jedenfalls genügten in einem Fall279•

271 Einen konzisen Überblick über die Anwendung der application for judicial review im Umweltrecht gibt Hughes, Environmental Law. 2nd ed. London 1992, p. 148.

212 R v. Secretary of State for the Environment, ex p. Ward, [1984) 1 W.L.R 834; anders noch Pasmore v. Oswaldtwistle UDC, (1898] A.C. 387 (397) per Lord Macnaghten (kein prerogative remedy neben der Rechtsschutzmöglichkeit aus dem Public Health Act). 273

[1982) A.C. 617.

274

(1990) 2 W.L.R 186.

215

Waue, Criminal and Administrative Sanctions, (1989) 1 L.M.E.L.R 38,74 (77).

Cameron, Environmental Public lnterest Litigation, in: Vaughan (Ed.) (Fn. 267), p. 279 ff. (p. 287). 276

277 Cameron, Environmental Public lnterest Litigation, in: Vaughan (Ed.) (Fn. 267), p. 279 ff. (pp. 287 f.).

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

96

Hinsichtlich der speziellen Umweltgesetzgebung und der diese verletzenden Verwaltungstätigkeit sind die Regeln zur Klagebefugnis bisher vor allem im Planungsrecht vor die Gerichte gekommen2.110. Ganz generell hat die Rechtsprechung zu Drittklagen im Umweltrecht in Großbritannien bei weitem nicht den Umfang wie in Deutschland oder auch Frankreich281 • Ein Beispiel ist ein Fall aus dem Naturschutzrecht282• Es ging um folgenden Sachverhalt: Das Poole Borough Council wollte innerhalb seines Gebietes eine planning pennission für die Bebauung eines Grundstücks erteilen, doch war dieses Gebiet sechs Monate vor dem entsprechenden Beschluß vom Nature Conservancy Council (NCC) als Schutzgebiet (Site of Special Scientific Interest = SSSI) nach s 28 Wildlife and Countryside Act 1981 ausgewiesen worden. Die planning pennission wurde gegen die Bedenken des NCC erteilt. Daraufbin klagten der Worldwide Fund for Nature (WWF) und die British Herpetological Society (BHS) im Wege der application for judicial review gegen die Genehmigung. Zuallererst stellte sich die Frage nach locus standi der beiden Vereinigungen. Schiemann J., also derselbe Richter, der im Fall Rose Theatre Trust Co. gegen die Klagebefugnis des dort klagenden Verbandes argumentiert hatte283, gestand sowohl der BHS als auch dem WWF standing zu284• Die BHS konnte unter zwei Gesichtspunkten ein sufficient interest nachweisen: Zum einen hatte sie sich bereits lange Zeit um das Gebiet gekümmert, zum anderen hatte der Poole Borough Council in einer Nebenbestimmung zur Genehmigung vorgesehen, daß die BHS während der Erschließung des Landes bestimmte seltene dort lebende Arten fangen und umsiedeln könne. Der WWF hingegen hätte für den Fall, daß nur er Klage eingelegt hätte, kein standing zugestanden bekommen. Da er sich aber bereit erklärt hatte, alle die BHS treffenden Verfahrenskosten zu übernehmen, gestand Schiemann J. auch ihm /ocus standi zu28S.

278 Cameron, Environmental Public Interest Litigation, in: Vaughan (Ed.) (Fn. 267), p. 279 ff. (p. 287 Fn. 4).

279

Gi/liek v. West Norfo/k & WISbechArea HealthAutlwrity, (1986] A.C. 112.

So in den Fällen R v. Westminster City Council, ex p. Monahan, (1989]3 W.L.R 408 und R v. Torfaen B.C., ex p. Iones, [19861 J.P.L. 686; vgl. auch Waite, Criminal and Administrative Sanctions, [1989) 1 L.M.E.L.R 38, 74 (77). 2.80

281

Das stellt auch fest Macrory, The United Kingdom, in: Smith/Kromarek (Fn. 256), p. 31

282

R v. Poole B.C., ex p. Beebee, (1991)3 L.M.E.L.R 60.

283

R v. Secretary of State for the Environment, ex p. Rose Theatre Trust Co., [1990) 2 W.L.R

ff. (p. 41).

186. 284

[1991) 3 L.M.E.L.R 60 (61).

Zwischenergebnis

97

Der Fall zeigt deutlich den Unterschied auch der britischen Auffassung zu einer Dogmatik, die beim Schutz subjektiver Rechte ansetzt. Zum einen sind die Kriterien sehr flexibel, nach denen über das Klageinteresse des Antragstellers zu befmden ist: Der WWF konnte im Grunde überhaupt kein eigenes Interesse nachweisen, sondern wurde nur deswegen zugelassen, damit die BHS, die ein Interesse geltend machen konnte, nicht aus fmanziellen Gründen mit ihrer Klage scheitern würde. Zum anderen kommt es für die Stellung als Interessenten nicht darauf an, in irgendeiner Form auf materielle Positionen verweisen zu können. Ein Interesse kann sich gerade auch daraus ergeben, daß der Kläger am Verfahren hätte beteiligt werden müssen oder, wie in diesem Fall, sonst in einer Weise mit zu berücksichtigen gewesen wäre. Zwischenergebnis Die im ersten Teil gefundenen Ergebnisse lassen sich in Kürze wie folgt zusammenfassen: Die deutsche Rechtsordnung hat sich im Grundsatz für ein System des subjektiven Rechtsschutzes entschieden. Klagen im Verwaltungsgerichtsverfahren in Deutschland sind prinzipiell Verletztenklagen. Das trifft insbesondere zu für die Drittanfechtungsklagen, die für die Kontrolle der Verwaltung im Umweltbereich die bedeutsamste Rolle spielen. Wegen des dadurch bedingten Bezugs zu den Rechten des einzelnen fällt die Intergration des Umweltschutzes als "Fernziel" einer Anfechtung nicht immer leicht. Der einzelne kann sich grundsätzlich nicht zum Anwalt öffentlicher Belange machen. Das macht die bereichspezifiSche Untersuchung der richterlichen Kasuistik deutlich. Die französische Rechtsordnung geht im Grundsatz von der dem deutschen System entgegengesetzten Position aus. Ziel des recours pour exces de pouvoir, des der Anfechtungsklage vergleichbaren Verfahrens, ist es, aus Anlaß einer Individualklage die Rechtmäßigkeit der Behördenmaßnahme zu überprüfen. Der recours pour exces de pouvoir ist damit prinzipiell eine Interessentenklage. Das erforderliche Klageinteresse, das interet pour agir, muß aus diesem Grund nicht in Rechten des einzelnen abgesichert sein. Es kommen verschiedenste Erwägungen in Betracht. Ein Überblick über die richterliche Spruchpraxis ergibt, daß sich dadurch bedingt die Ergebnisse nur eingeschränkt vorhersagen lassen, der Katalog von Zulassungs- und Ablehnungsgründen offen ist. Sie ergibt auch, daß der Umweltschutz als öffentlicher Belang prinzipiell gleichwertig mit anderen Belangen ist und als 285 Ein Beispiel für eine zivilrechtliche Umweltschutzklage ist der Fall Allen v. Gulf Oil Rejining Ltd., (1981)2 W.L.R 188 (H.L.). 7 Gcrstncr

98

1. Teil: Das geltende Recht des Klageinteresses

Basis für ein interet pour agir ohne Modifikationen übernommen werden kann. Die Situation in Großbritannien ist schwerer zu beurteilen als diejenige in Deutschland und Frankreich. Die Diskussion um die Eigenart und Eigenständigkeit des Verwaltungsrechts und spezifisch verwaltungsgerichtlicher Kontrollinstrumente ist in Großbritannien erst in den letzten Jahrzehnten intensiv geführt worden. Es lassen sich jedoch Tendenzen feststellen. Die aus traditionsreichen Klageformeln entwikkelten Verfahrensarten, die in der application for judicial review aufgegangen sind, erlauben grundsätzlich die Herausbildung einer Interessentenklage. Das Klageinteresse, das im Prüfungspunkt locus standi abgearbeitet wird, nähert sich - ausgelöst durch den leading case National Federation - der Prüfung rein tatsächlicher Elemente an, muß daher ebensowenig wie in Frankreich in den Rechten des einzelnen abgesichert werden. Die Anforderungen an das Maß des tatsächlichen Vorbeingens schwanken hingegen noch, wie sich im Fall Rose theatre gezeigt hat.

Zweiter Teil

Funktion und Reichweite der Klagebefugnis und des subjektiven ölTentliehen Rechts im Rechtsvergleich Die Darstellung im Ersten Teil hat ergeben, daß sich der Typus des objektiven Kontrollverfahrens vom Typus des subjektiven Rechtsschutzverfahrens vor allem dadurch unterscheidet, daß im ersteren Fall die Aufnahme von öffentlichen Belangen in das Klageinteresse ohne weiteres möglich ist, im letzteren Fall dagegen nicht. Beide Typen prägen das durch das Individuum angestoßene Gerichtsverfahren und die Überprüfbarkeil von Verstößen gegen öffentliche Belange unterschiedlich aus. Damit kann der Rechtsvergleich das Kontrastmaterial auf dem Weg zur Beantwortung der Ausgangsfrage liefern, nämlich der Frage, ob die Schutznormtheorie wegen ihrer Lückeohaftigkeit beim Schutz von Belangen der Allgemeinheit aufgegeben werden sollte. Um diese Frage nicht mit einer reinen Auflistung der Argumente dafür und dagegen zu beanworteo, sollen im Zweiten Teil der Arbeit die Abwägungskriterieo für die Gegenüberstellung beider Systeme herausgearbeitet werden. Modifikationen im Rahmen der Klagebefugnis erhielten nämlich dann ein besonderes Gewicht, wenn sie sowohl in prozessualer Hinsicht zu Änderungen in der Systemeotscbeidung führen wie auch in materieller Hinsicht zu einer Neubestimmung der Position des einzelneo gegenüber dem Staat zwingen. Daher soll im folgenden untersucht werden, ob erstens das in den Vergleichsländern ausgebildete Klageinteresse die jeweils getroffene Systementscheidung wiedergibt und ob zweitens das allein in Deutschland angetroffene Institut des subjektiven öffentlichen Rechts jenseits seiner prozessualen Bedeutung eine materielle Dimension besitzt, das heißt Rückwirkungen auf die Struktur des öffentlichen Rechts insgesamt bat. Beiden Fragen wird in zwei Abschnitten nachgegangen. Der Erste Abschnitt soll mit dem geschichtlichen Rückblick ermitteln, warum sieb in allen drei Vergleichsländern überhaupt eigene Kontrollverfahren für die Überprüfung der Administration entwickelt haben. Denn von diesen Entstehungsbedingungen wird abhängen, warum im contentieux objectif das in7*

100

2. Teil, 1. Abschnitt: Geschichtliche Grundlagen

dividuelle Vorbringen nur im Rahmen des Klageinteresses eine Rolle spielt, im contentieux subjectif hingegen darüber hinauswirkt. Der Zweite Abschnitt wird darauf aufbauend zunächst die Verbindung zwischen Klageinteresse und Systementscheidung und anschließend die materielle Bedeutung des subjektiven öffentlichen Rechts zu ermitteln versuchen. Der Nachweis spezifisch öffentlich-rechtlicher Gerichtsverfahren in allen drei Ländern soll die bereits in der Einleitung aufgeworfene Problematik konturieren helfen, nämlich wie und an welcher Stelle die jeweiligen Systeme entscheiden, ob überhaupt ein Gericht mit der mutmaßlichen Rechtswidrigkeit befaßt werden soll. Es wird sich zeigen, daß das deutsche System diese Entscheidung gewissermaßen im Vorfeld trifft und deswegen in der Klagebefugnis nicht erneut problematisiert, wohingegen das französische und das britische System die Entscheidung mit der Zulassung des Individualklägers zum Prozeß verknüpfen. Die Suche nach den im Rechtsvergleich hervortretenden historischen und dogmatischen Grundlagen von Klagebefugnis und subjektivem öffentlichen Recht bedingt, daß für den Zweiten Teil der Arbeit der Bereich des Umweltschutzes vorübergehend verlassen wird, da beide Institute in einen grösseren Rahmen eingebettet werden müssen.

Erster Abschnitt Geschichtliche Grundlagen eines spezifisch ölTendich-rechtlichen Gerichtsverfahrens

Die Grundthese des geschichtlichen Rückblicks ist, daß gerichtliche Verfahren gegen die Verwaltung gewissermaßen zwangsläufig von der ordentlichen Gerichtsbarkeit abweichende Regeln für sich in Anspruch nehmen. Alle drei Vergleichsländer erkennen im Laufe der Entwicklung die Eigenheiten der Verwaltung als gesetzeskonkretisierende, mit einem nicht justiziablen Eigenbereich ausgestattete Stelle an. In Frankreich und Deutschland wird diese Diskussion, mit unterschiedlichem Ergebnis, in der zweiten Hälfte des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts intensiv geführt. In Großbritannien stößt insbesondere die französische Auffassung zunächst auf Ablehnung. Die Entwicklung in jüngerer Zeit zeigt dann aber starke Parallelen zu den beiden anderen Vergleichsordnungen.

Kapitell: Zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts

101

Der vergleichende geschichtliche Rückblick soll außerdem Aufschluß darüber geben, ob die Herausbildung des subjektiven öffentlichen Rechts, wie sie im contentieux subjectif Deutschlands zu finden ist, gewissermaßen zufällig erfolgte oder ob sich der contentieux objectif, insbesondere in Frankreich, durchaus mit der Figur auseinandergesetzt, sie aus systematischen Erwägungen aber wieder aufgegeben hat. Damit wird die Grundlage für die Diskussion im Zweiten Abschnitt geschaffen, der klären soll, warum contentieux objectif und contentieux subjectif die Institute Klageinteresse und subjektives öffentliches Recht verschieden ausbilden und worin sich die Unterschiede manifestieren. Kapitell: Die Diskussion um das Verwaltungsrecht und den Aufbau einer Verwaltungsgerichtsbarkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Die Darstellung der geschichtlichen Gesamtproblematik um die gerichtliche Kontrolle der Exekutive würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Daher sind im Dienste des Vergleichs und der Vergleichbarkeit drei Punkte ausgewählt worden, die für die weitere Untersuchung von besonderer Bedeutung sind. Sie fmden sich in den jeweils eine nationale Ordnung behandelnden Paragraphen wieder. Zunächst wird gefragt, wer nach nationaler Systematik zur Entscheidung über eine Streitigkeit zwischen Bürger und Verwaltung berufen sein soll. Daranschließt sich die Frage an, wie die Materie, die in den Verfahren behandelt wird, von den anderen, üblicherweise den ordentlichen Gerichten zugeordneten Rechtsgebieten abgegrenzt wird. Schließlich geht es darum, inwieweit die jeweilige Rechtsordnung versucht, die gefundene Systementscheidung schlüssig auszugestalten. § 10 Der Conseil d'Etat und die Herausbildung

des droit administratif in Frankreich

1. Charakteristisch für die Entwicklung eines spezifisch öffentlich-rechtlichen Gerichtsverfahrens in Frankreich ist die Tatsache, daß der juge judiciaire, das heißt der Richter an den ordentlichen Gerichten, zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte über die Handlungen der Exekutivgewalt Recht sprechen durftet. Dieses Verbot gilt heute noch: Hängt eine Entscheidung 1 Vgl. nur Fromont, La protection juridictionnelle du particulier contre Je pouvoir executif en France, in: Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 1. Köln/Berlin/BonnfMünchen 1969, S. 221 ff. (S. 223).

102

2. Teil, 1. Abschnitt: Geschichtliche Grundlagen

der ordentlichen Gerichte von der Jegalite einer Verwaltungsmaßnahme ab, muß das betreffende Gericht das Verfahren aussetzen und die Frage im Wege des contentieux de l'interpretation dem Verwaltungsgericht vorlegen. Das wurde bereits dargestellt. Die Wurzeln des Verbots reichen zurück bis in dasAncien Regime2• Im Edit de Saint Gennain vom Februar 1641 hieß es3: "Nous avons declare que notre dit Parlement de Paris et toutes les autres Cours n'ont ete etablis que pour rendre Ia justice a nos sujets; leur faisons expresses defenses et inhibitions, non seulement de prendre a l'avenir connaissance d'autres affaires semblables a celles qui sont ci-devant enoncees, mais generalement de toutes celles qui peuvent concemer I'Etat, administration ou gouvemement d'i celui.•

Diese justice retenue, die dem König vorbehaltene Rechtsprechung, war als Gegengewicht zur justice deleguee der sich souverän gebärdenden parlements konzipiert4• Nachdem somit der gesamte Bereich verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten den Gerichten entzogen war, mußten eigene Instanzen geschaffen werden, welche die Verwaltung zu kontrollieren hatten. So kam es unter anderem zur Einsetzung des Conseil du Roi, dem Vorläufer des Conseil d'Etar. Die französische Revolution brach zwar mit der Begründung für die Regel, daß die Gerichte nicht über Verwaltungssachen zu entscheiden hätten: Nicht mehr die absolute Machtfülle des Königs aus dem Ancien Regime sollte die Verwaltung vor einem Urteil zugunsten eines geschädigten Bürgers schützen, sondern der Grundsatz der Gewaltentrennung (separation des pouvoirs), der sich mit der Revolution Bahn brach6• Inhaltlich blieb das Verbot aber erhalten, wobei das Mißtrauen vieler Aktivisten der Revolution gegenüber denparlements, also den Gerichten desAncien Regime, eine bedeutende Rolle spielte'. Die Gerichte sollten nicht von Neuern zur Stütze 2 Die Entwicklun~ skizziert kun Benoil, Les fondements de Ia justice administrative, dans: Le juge et le dr01t administratif. Melanges Marcel Waline, T. 2. Paris 1974, pp. 283 ff. (p. 284). Dort heißt es auf S. 286: "II faut donc bien l'admettre: ce ne sont ni Locke, ni Montesquieu, ni Ia separation des pouvoirs qui ont engendre Ia separation des autorites administratives et judiciaires et Ia dualite de nos juridictions; celles-ci sont l'oeuvre de Ia monarchie fran~aise, continuee, dans le meme esprit, et pour les memes raisons, par les hommes de 1789." 3 Zitiert bei Fromont, La protection juridictionnelle, in: Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 1 (Fn. 1), S. 221 ff. (S. 223). 4

Degen, Klageverfahren und Klagegründe, Die Verwaltung 14 (1981), S. 157 ff. (S. 157).

Fromont, La protection juridictionnelle, in: Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 1 (Fn. 1), S. 221 ff. (S. 223). 5

6 Kritisch zur Überbetonung des Gewaltenteilungsarguments Benoit, Les fondements de Ia justice administrative, dans: Melanges Marcel Waline (Fn. 2), pp. 283 ff. (p. 2&5). 7 Jarass, Besonderheiten des französischen Verwaltungsrechts, DÖV 1981, S. 813 ff. (S. 813); vgl. auch Fleiner-Gerster, Wem Gott ein Amt ~bt, gibt er auch Verstand, in: Das Menschenbild im Recht. Festgabe Universität FreiburgjCH 1990, S. 141 ff. (S. 162).

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feudaler Rechte und Standesansprüche werden8 • Ausdrücklich formuliert wurde dieser Vorbehalt zugunsten der Verwaltung im heute noch geltenden Art. 13/oi des 16 et 24 aoat 1790, der oben bereits erwähnt wurde. Des Zusammenhangs wegen soll er an dieser Stelle nochmals zitiert werden: "Les fonctions judiciaires sont distinctes et demeureront toujours ~parees des fonctions administratives. Les juges ne pourront, a peine de forfaiture, troubler, de quelque maniere que ce soit, les op6rations des corps administratifs, ni citer devant eux les administrateurs pour raison de leur fonction. •

Dieser scharfen Trennung zwischen Verwaltung und Rechtsprechung liegen zwei Voraussetzungen zugrunde: Zum ersten, daß es Rechtsprechung nur in der Form der juridiction judiciaire geben kann. Die Diskussion um die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung dreht sich stets um die Frage, ob die ordentlichen Gerichte über die öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten entscheiden sollen oder nicht. Zu keinem Zeitpunkt ist in nennenswertem Umfang davon die Rede, daß alternativ auch eine eigene Verwaltungsgerichtsbarkeit aufgebaut werden könnte. Bildlich gesprochen fand die Auseinandersetzung zwischen v. Gneist und Bähr in Frankreich nicht statt. Zum zweiten geht die Theorie davon aus, daß es sich bei der Rechtsprechung über Verwaltungsangelegenheiten nicht um Rechtsprechung, sondern um Verwaltung handelt: "Juger l'administration c'est aussi administrer'9 • Ein Richter, gleich welcher Gerichtsbarkeit er angehört, kann gar nicht Richter über die Verwaltung sein, weil er dann verwalten würde, also einer Aufgabe nachginge, die ihm als Vertreter der Judikative nicht zukommt. So war in der Tat die Verwaltung während der Revolution ihr eigener Richter10• Diese zweite Voraussetzung ist gewissermaßen eine Ergänzung der ersten: Der Richter hat Recht zu sprechen, nicht zu verwalten; Recht über die Verwaltung zu sprechen würde jedoch bedeuten, zu verwalten; daher ist die Verwaltungsrechtsprechung dem Richter untersagt11 • Bei dieser völlig unkontrollierten und unkontrollierbaren Verwaltung ist es jedoch nicht geblieben12• Als Nachfolger des Conseil du Roi schuf 8 v. Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland. 3. Auf!. (Nachdruck) Darmstadt 1958, S. 169. 9 Die Bedeutung dieses Grundsatzes hat dargestellt Sandevoir, Etudes sur Je recours de pleine juridiction. Paris 1964, pp. 266 ss.; geschichtliche Hintergründe bei Chevalüer, Velaboration historique du principe de ~paration de Ia juridiction administrative et de l'administration active. Paris 1970, pp. 97 ss.; vgl. dazu auch Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozeß. Köln/Berlin/Bonn/München 1979, S. 36.

° Fromont, La protection juridictionnelle, in: Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 1

1

(Fn. 1), s. 221 rr. (S. 224).

11 Vgl. auch Auby/Fromont, Les recours contre les actes administratifs dans les pays de Ia Communaute Economique Europeenne. Paris 1971, p. 190.

12 Ein kurzer Abriß der Entwicklung findet sich auch bei Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 1. Baden-Baden 1988, S. 97 f.

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2. Teil, 1. Abschnitt: Geschichtliche Grundlagen

Napoleon den Conseil d'Etat (Art. 52 der Konsulatsverfassung vom 22. frimaire An VIII - das heißt dem 13. Dezember 1799) bzw. die Conseils de prefecture als Organe mit einer gewissen Unabhängigkeit. Da sie nach wie vor der justice retenue zugeordnet waren, bestand ihre Hauptaufgabe darin, das Staatsoberhaupt - im Falle des Conseil d'Etat - bzw. die Präfekten - im Falle der Conseils de prefecture - rechtlich zu beraten13• Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde der Mangel einer gerichtlichen Kontrolle der Verwaltung wiederholt kritisiert, teilweise wurden auch einige Materien per Gesetz den ordentlichen Gerichten zur Entscheidung zugewiesen (z.B. Fragen der Staatsangehörigkeit und der Bereich der Enteignungen) 14• Doch zur Schaffung eines eigenen Verwaltungsgerichtsverfahrens kam es nicht. Ihren Abschluß fand die Entwicklung in der loi du 24 mai 1872 Sur L'organisation du Conseil d'Etat, mit der die section du contentieu.x, die den bestehenden sections consultatives des Conseil d'Etat beigordnet war, dauerhaft eingerichtet wurde15• Das Gesetz markiert das Ende der justice retenue. In Art. 9 des Gesetzes heißt es: "Le Conseil d'Etat statue souverainement sur les recours en matiere contentieuse administrative, et sur les demandes d'annulation pour exces de pouvoir formees contre les actes des diverses autorites administratives.•

Mit dem Gesetz von 1872 werden die bis dorthin nur faktisch verbindlichen Entscheidungen des Conseil d'Etat rechtlich verbindlich16• Es hat dann allerdings knapp 80 Jahre gedauert, bis dem Conseil d'Etat untere Instanzen beigeordnet wurden, die zu den Gerichten im engeren Sinn gezählt werden können. Bis 1953 ist der Conseil d'Etat die grundsätzlich erste und letzte Instanz der gerichtlichen Kontrolle der Verwaltung geblieben. 2. Nachdem solchermaßen eine eigene "gerichtliche" Instanz für die Kontrolle der Verwaltung geschaffen worden war, stellte sich die Frage nach der Abgrenzung der Kompetenzen von Conseil d'Etat und der juridiction judiciaire. Für solche Fälle war in demselben Gesetz, mit dem die section du 13 Degen, Klageverfahren und Klagegriinde, Die Verwaltung 14 (1981), S. 157 ff. (S. 158); van Dijk, Judicial Review of govemmental action and the requirement of an interest to sue. The Hague 1980,2.: 118; Fromont, La protection juridictionnelle, in: Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 1 {l'"n. 1), S. 221 ff. (S. 224).

14 Fromont, La protection juridictionnelle, in: Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 1 (Fn. 1), S. 221 ff. (S. 224). 15 Das Gesetz ist abgedruckt bei D. 1872.4.88. Weitere grundlegende normative Bestimmungen über den Conseü d'Etat sind die ordonnance n• 45-1708 du 13 juillet 1945 Sur le Conseil d'Etat und das decret n• 63-766 du 30 juület 1963 Portant reglement d'administration publique pour l'application de l'ordonnance n• 45-1708 du 31 juillet 1945 et relatif a l'organisation et au {onctionnement du Conseü d'Etat. Konziser Abriß der historischen Entwicklung bei Auby/Fromont, Les recours contre les actes administratifs (Fn. 11), pp. 192 ss. 16

814).

Jarass, Besonderheiten des französischen Verwaltungsrechts, DÖV 1981, S. 813 ff. (S.

Kapitell: Zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts

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contentieux des Conseil d'Etat dauerhaft eingerichtet worden war, die Bildung des Tribunal des Conflits vorgesehen17• Die weitere Entwicklung der

Trennung zwischen verwaltungsgerichtlichen Streitigkeiten und Streitigkeiten, die von den ordentlichen Gerichten zu entscheiden sind, ist mangels gesetzlicher Grundlagen maßgeblich durch die Rechtsprechung sowohl des Tribunal des Conflits wie des Conseil d'Etat bestimmt gewesen.

Um ihre Kompetenz abzustecken, mußte die juridiction administrative die genauen Grenzen der von ihr zu entscheidenden Rechtsmaterie bestimmen18. Zugespitzt formuliert könnte man daher sagen, daß nicht das Vorliegen einer besonderen Rechtsmaterie "Verwaltungsrecht" zur Gründung einer besonderen Gerichtsbarkeit geführt hat, sondern daß umgekehrt diese besondere Materie für das dafür vorhandene Organ, den Conseil d'Etat, geschaffen wurde19. Darin liegt eine eigene Art aktionenrechtlichen Denkens: Die gesamte Materie "Verwaltungsrecht" ist zwar nicht über spezielle Streitverfahren, aber doch über das Bestehen einer bestimmten Gerichtsbarkeit an sich entwickelt worden. Zwischen den verwaltungsrechtlichen Prinzipien und ihren Folgen für das gerichtliche Verfahren gab es ständig Wechselwirkungen20• Das französische Verwaltungsrecht ist aus diesem Grund in besonderem Maße prozessual ausgerichtet21 . Beinahe alle bedeutenden verwaltungsrechtlichen Institute hängen mit der Abgrenzung der Kompetenz der Verwaltungsgerichte gegenüber der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte zusammen22• Folglich sind auch die Regeln dieses Rechtsgebietes maßgeblich über die Gerichte ausgeformt wordenZl. 17 Art. 25 f. der loi du 24 mai 1872 Sur l'organisation du Conseü d'Etat; zur Einschätzung dieses Tribunals durch Dicey auch E"era, Dicey and French Administrative Law, (19&5] P.L

695 (701).

18 LaubaderejVeneziajGaudemet, Traite de droit administratif, T. 1. lle ed. Paris 1990, para 30 (p. 31).

19 So Jarass, Besonderheiten des französischen Verwaltun~rechts, DÖV 1981, S. 813 ff. (S. 814); bezeichnend auch die Einschätzung bei LaubaderejVeneziajGaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 18), para 30 (p. 31): "Ainsi Ia recherche d'un critere general du regime administratif a ete menee historiquement de fa~;on paradoxale.•

20 So schreibt LaubaderejVenezia/Gaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 18), para 31 (p. 32) den Kompetenzkonflikten zwischen Verwaltun~- und ordentlichen Gerichten folgende Wirkung zu: •... retablissant ainsi une ligne logique entre une definition d'ensemble du regime administratif et ses consequences contentieuses.•

21

Schwarze,

Europäisches Verwaltun~recht, Bd. 1 (Fn. 12), S. 99.

Was sich darin zeigt, daß die Institute als Gegensatzpaare durch die Adjektive •... public" bzw. •... prive" gekennzeichnet werden, z.B. "domaine public" und "domaine l!rive•, "travaux publics" und ..•travaux prives•; dazu auch Jarass, Besonderheiten des französiSChen Verwaltun~rechts, DOV 1981, S. 813 ff. (S. 814). 22

Zl Benoit, Les fondements de Ia justice administrative, dans: Melanges Marcel Waline (Fn. 2), pp. 283 ff. (p. 291); Schwarze, Europäisches Verwaltun~recht, Bd. 1 (Fn. 12), S. 99. Einen Abriß zur Entwicklung und Bedeutung des Conseü d'Etat gibt Fromont, Der französische Staatsrat, DVBI. 1978, S. 89 ff.

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2. Teil, 1. Abschnitt: Geschichtliche Grundlagen

Wegweisend für die Charakterisierung und Begriffsbildung des droit administratifwar dabei die Entscheidung Blanco des Tribunal des Conflits"'.

Vordergründig ging es bei dem Fall nur um eine sehr begrenzte Fragestellung: Die Tochter des Klägers Blanco war von einem Transportwaggon der staatlichen Tabakmanufaktur angefahren und dabei verletzt worden. Ihr Vater strengte einen Prozeß auf zivilrechtliehen Schadensersatz gegen den Staat an. Das Tribunal des Conflits entschied, daß in diesem Fall nicht die ordentlichen Gerichte, sondern ausschließlich die autorite administrative zur Streitentscheidung zuständig wäre. Von grundlegender Bedeutung ist dabei die Begründung für diese Zuweisung an das verwaltungsgerichtliche Rekursverfahren. In der den französischen Gerichtsurteilen eigenen Kürze heißt es: "...; Considerant que Ia responsabilite, qui peut incomber a l'Etat pour les dommages causc!s aux particuliers par Je fait des personnes qu'il emploie dans Je service public, ne peut etre regie par les principes qui sont etablis dans Je code civil, pour les rappotts de particulier particulier, ...•

a

Diese Entscheidung führt mit dem Begriff service public dasjenige Kriterium ein, welches den Beginn der modernen Theorie eines droit administratif in Frankreich markiere5• Das Kriterium ist in der Wissenschaft aufgegriffen worden. Herausragend war in diesem Zusammenhang das Werk von Edouard Laferriere26• Sein "Traite" ist als die "Bibel des Verwaltungsrechts" bezeichnet worden27, das allgemeine Verwaltungsrecht Frankreichs kann im wesentlichen als sein Werk angesehen werden28• In der Folge von Laferriere haben mehrere namhafte Autoren wie Duguit29, Jeze30 und Bonnard31 ihre Dogmatik des Verwaltungsrechts ausschließlich um den Begriff des service pub/ic gruppiere2• Das Kriterium ist später ausdrücklich in der "' T.C. v. 8.2.1873, Rec. 1er suppt. 61, concl. David = GA. n• 1. Von Bedeutung waren die Entscheidungen T.C; v. 30.7.1873, PeUetier, Rec. 1er SUJ?PI:._117, col!cl.. David = GA. n 2 und C.E. v. 19.2.1815,Princ:e Napoleon, Rec. 155, concl.David- GA. n 3, vgl. auch Errera, Dicey and French Administrative Law, (1985) P.L. 695 (697 f.). weiter~in

25 Zur Bedeutung der Entscheidung auch AubyjFromont, Les recours contre les actes administratifs (Fn. 11), p. 194; von der "Epoche machenden Entscheidung "Blanco"" spricht Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 1 (Fn. 12), S. 98. 26 Traite de Ia juridiction administrative et des recours contentieux, in erster Auflage erschienen 1887.

27 R. Drago, so zitiert bei Langrod, France, in: Heyen (Hrsg.), Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft in Europa. Frankfurt a.M. 1982, S. 67 ff. (71).

28

Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 1 (Fn. 12), S. 99.

29

Traitc! de droit'constitutionnel (4 Bände), 2c c!d. 1921 und folgende; dazu Grimm, Solidarität als Rechtsprinzip. Frankfurt a.M. 1973, S. 73 ff. 30

31 32

Principes gc!nc!raux du droit administratif, T. 2. 3e c!d. Paris 1930. Precis de droit administratif, 7e ed. 1943, pp. 181 ss. Nachweise bei LAubaderejVenezia/Gaudemet, Traitc!, T . 1 (Fn. 18), para 36 (p. 36).

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Rechtsprechung bestätigt worden33• Der Begriff kann wie folgt definiert werden34: "On appelle service public toute activite d'une collectivite publique visant ä satisfaire un besoin d'interet general: Ia defense nationale, les transport par ehernins de fer, Ia tenue de l'etat civil sont des services publics.•

Orientierungspunkt des Öffentlichen Rechts ist damit das Gemeinwohl: Normen, welche die Interessen des Gemeinwesens zum Ziel haben, sind Normen des öffentlichen Rechts. Übertragen auf die deutsche Dogmatik läßt sich diese Auffassung am ehesten mit der Interessentheorie vergleichen. Der Begriff des service public bildet den vorläufigen Endpunkt einer ganzen Reihe von Kriterien, die seit dem Gesetz von 1790 zur Abgrenzung von Verwaltungsrecht und "sonstigem" Recht entwickelt worden sind35• Zunächst wurde die Abgrenzung, das legte der Wortlaut des Gesetzes nahe, rein formal danach getroffen, ob der betreffende Akt von einer öffentlichen Behörde stammte oder nicht. Im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt sich dann die Einsicht durch, daß die Verwaltung zum Teil Handlungen vornimmt, die sich von denen der Privatpersonen nicht unterscheiden und daher nicht dem speziellen verwaltungsrechtlichen Regime zu unterstellen seien. So wird ein materielles, gegenüber dem formalen einschränkendes Kriterium für die Abgrenzung entwickelt: Kennzeichen des Verwaltungsrechts sei es danach, daß es die Tätigkeiten der puissance publique erfasse36, eine Art Subjektionstheorie. Daraus folgt die Unterscheidung zwischen den actes d'autorite und den actes de gestion. Unter den actes d'autorite, und alleine diese seien dem Verwaltungsrecht zuzurechnen, versteht man diejenigen Anordnungen und Verfügungen, die mit dem Willen zur autoritären Regelung erlassen werden37• Mit dieser Art von Handlung verläßt die Verwaltung den Bereich des droit commun, denn Privatpersonen können untereinander keine derartigen Handlungen erlassen38• Mehrere bekannte Autoren des 19. Jahrhunderts hatten sich der Theorie von der puis-

33 So vom Regierungskommissar Romieu in seinen Schlußanträgen zu C.E. v. 6.2.1903, Terrier, S 1903.3.25, note Hauriou. 34

LaubaderefVenezia/Gaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 18), para 35 (p. 35).

Zum folgenden die Übersicht bei LaubaderefVenezia/Gaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 18), paras 31 ss. (pp. 32 ss.). 35

36 Zur Diskussion um diese Kernbegriffe Geffroy, Service public et prerogatives de puissance publique, R.D.P. 1987, pp. 49 ss.; allgemeiner zur Entwicklung des Verwaltungsrechts Rivero, Droit administratif. 10e ed. Paris 1983, pp. 31 ss. 37 LaubaderefVenezia/Gaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 18), para 32 (p. 33): •... manifestent une volonte de commandement. • (Hervorhebung im Original).

38

Bertltelemy, Traite elementaire de droit administratif. 13e ed. Paris 1933, pp. 55 s.

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2. Teil, 1. Abschnitt: Geschichtliche Grundlagen

sance publique angeschlossen39, unter ihnen Ducrocq40• Die Schwäche dieser Theorie bestand darin, daß sie all diejenigen Aktivitäten der Verwaltung, die nicht auf einseitigem Befehl gegründet waren und dennoch eine besondere rechtliche Behandlung verlangten, nicht erfassen konnte41• So kam es Ende des 19. Jahrhunderts zur Ablösung der Theorie der puissance publique durch die des service public. Über die Jahre hat sich zwar zwischen der theoretischen Konstruktion des service public und seiner Handhabung durch die Gerichte eine immer breiter werdende Kluft aufgetan. Das hat zu einer teilweise herben Kritik an der Theorie geführt42• Dieneueren Ansätze versuchen zum Teil, mit den inhaltlichen Kriterien der utilite publique oder dem interet generat zu arbeiten43• Zum Teil greifen sie auch auf den älteren Gesichtspunkt der puissance publique zurück, indem sie Verwaltungsrecht durch eine Reihe von hoheitlichen Merkmalen wie die Möglichkeit zum Zwang oder Vorrechte und Privilegien kennzeichnen44 • An der grundsätzlichen Gültigkeit der Theorie des service public hat die Diskussion bisher jedoch nichts geändert. 3. Nach dieser Darstellung der allgemeinen Kriterien eines um die Zuständigkeit bestimmter Entscheidungsinstanzen herum gruppierten Verwaltungsrechts stellt sich nun die Frage, wie diese Kriterien sich in der Entwicklung der spezifischen Streitverfahren in der Verwaltungsjurisdiktion niedergeschlagen haben. Dabei soll sieb die Untersuchung auf den recours pour exces de pouvoir beschränken. Dies nicht nur, weil der Rahmen der Arbeit sich auf die Parallelen zu deutschen Anfechtungsverfahren zu konzentrieren hat, sondern auch, weil der recours pour exces de pouvoir das klassische verwaltungsgerichtliche Verfahren in Frankreich darstellt.

Der recours pour exces de pouvoir hat seine Wurzeln in der Aufsichtsbeschwerde wegen Zuständigkeitsüberschreitung, wie sie loi du 22 decembre 1789, Sekt. 111, Art. 2 erstmals normierte4S. Die Entwicklung des recours pour exces de pouvoir orientierte sich am zivilprozessualen recours en cassa39

Ltmbadere(Venezia/Gaudemet, Trait~, T. 1 (Fn. 18), para 33 (p. 34).

40

Cours de droit administratif. 2 Vol. Paris 1881.

41

Laubadere(VeneziajGaudemet, Trait~, T. 1 (Fn. 18), para 34 (p. 34).

42 Vgl. z.B. Chenot, nach dem der service publique "n'est qu'une formule employ~e par Je juge pour comporter les con~quences juridiques qu'il trouve bon." (zit. nach Laubadere(VeneziajGaudemet, Trait~, T. 1 (Fn. 18), para 40 (p. 39)). 43

Nachweise bei LaubaderejVenezia/Gaudemel, Trait~, T. 1 (Fn. 18), para 42 (p. 40).

44

Nachweise bei Ltmbadere(Venezia/Gaudemet, Trait~, T. 1 (Fn. 18), para 43 (p. 41).

4S Zur Entwicklung des recours pour exces

de pouvoir auch Degen, Klageverfahren und Klagegriinde, Die Verwaltung 14 (1981), S. 157 ff. (S. 167).

Kapitell: Zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts

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tion. Daraus ergab sich, daß auch für den recours pour exces de pouvoir parallel zu den Revisionsgründen des zivilrechtliehen Kassationsverfahrens bestimmte Klagegründe entwickelt wurden, die cas d'ouverture. Dieser Einfluß blieb auch erhalten, nachdem der Conseil d'Etat den recours pour exces de pouvoir im Laufe des 19. Jahrhunderts mit dem recours pour violation de Ia loi verbunden hatte, der an sich kein zivilrechtliches Verfahren, sondern einen contentieux (subjectif) de pleine juridiction darstellte46• Diese Klagegründe haben im Laufe der Zeit eine interessante Wandlung erfahren. Die Geschichte der cas d'ouverture ist durch deren zunehmende Extensivierung gekennzeichnet47• Ursprünglich, in der /oi des 7- 13 octobre 1790, war der Rechtsbehelf nur gegeben im Falle der incompetence (Unzuständigkeit) der handelnden Behörde. Es traten im weiteren Verlauf die Klagegründe vice de fonne (Verletzung von Formvorschriften) und detoumement de pouvoir hinzu. Ein detoumement de pouvoir liegt vor, wenn die Behörde mit ihrem ansonsten rechtmäßigen Akt ein Ziel verfolgt, welches im Gesetz nicht vorgesehen ist48• Was bis dorthin fehlte, war daher eine Kontrolle des Inhalts des Aktes selbst. Mit den Klagegründen der incompetence und dem vice de fonne konnte nur die formelle, gewissermaßen "außerhalb" der Handlung liegende Rechtmäßigkeit des Aktes überprüft werden. Daher wird ihre Prüfung unter der Bezeichnung Iegalite externe zusammengefaßt49. Mit dem Klagegrund detoumement de pouvoir wird zwar diese rein auf formelle Aspekte gerichtete Prüfung verlassen, doch zum eigentlichen Inhalt der Entscheidung konnten die Gerichte auch in diesen Fällen nicht vordringenso. Somit blieb der wichtigste Grund für eine Aufhebung, die Verletzung von zugrundeliegendem Recht bzw. eine fehlerhafte Begründung der Maßnahme, im Rahmen des recours pour exces de pouvoir unüberprüfbar. Vielmehr konnte dieser Mangel nur in einem anderen, ebenfalls verwaltungsgerichtlichen Verfahren geltend gemacht werden, dem recours pour violation de Ia loi et des droits acqui?1• Wie der Name dieses Rechtsbehelfes aber bereits andeutet, mußte der Kläger für dieses Verfahren die Verletzung eines eigenen, subjektiven Rechts geltend machen: Er 46

Degen, Klageverfahren und Klagegründe, Die Verwaltung 14 (1981), S. 157 ff. (S. 167).

47

Zum folgenden LaubaderefVeneziajGaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 18), para 706 (p. 439).

48

LaubaderefVeneziajGaudemet, Traite, T . 1 (Fn. 18), para 719 (p. 444).

49 Statt aller Degen, Klageverfahren und Klagegründe, Die Verwaltung 14 (1981), S. 157 ff. (S. 168); eingehender Rmnpf, Das "detournement de pouvoir", JöR 38 (1989), S. 211 ff. so Dementsprechend schwankt die Einordnung des detoumement de pouvoir zwischen legalite externe und tegalite interne; vgl. einerseits LaubaderefVeneziajGaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 18), para 706 (p. 439) (legalue externe) und andererseits Degen, Klageverfahren und Klagegründe, Die Verwaltung 14 (1981), S. 157 ff. (S. 169) (legalite interne). 51

LaubaderefVenezia/Gaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 18), para 706 (p. 439).

110

2. Teil, 1. Abschnitt: Geschichtliche Grundlagen

war nur klagebefugt, wenn wenn er ein droit subjectif vio/e und nicht ein bloßes interet froisse vorbringen konntes2• Dieses Nebeneinander von Interesse und Recht wurde in der Literatur zu der theorie des droits subjectifs des administres a Ia legalite verarbeitet. Man versuchte, das Wesen des Verwaltungsprozesses in dem Schutz der subjektiven Rechte der Einzelperson anzusiedeln53• Die deutsche Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht hat in diesem Zusammenhang in Frankreich Beachtung gefunden54• Im Jahre 1864 wurde das Verfahren für den recours pour exces de pouvoir vereinfacht. Um die violation de Ia loi ebenfalls mit dieser Vereinfachung zu erfassen, wurde sie unter der tegalite interne als vierter cas d'ouveTture aufgenommenss. Das zog allerdings die Frage nach sich, wie die droits acquis in das rein objektiven Verfahren, welches der recours pour exces de pouvoir zum damaligen Zeitpunkt bereits darstellte, aufzunehmen seien. Die Unklarheiten, wie dieses Problem zu lösen se~ währten an die 40 Jahre56• Erst in der Entscheidung Lot aus dem Jahr 190357 und endgültig im Verfahren Alcindor aus dem Jahr 190658 vollzog der Conseil d'Etat die konsequente Durchführung der Prinzipien des recours pour exces de pouvoir auch für den als letztes hinzugetretenen Klagegrund59• Das Erfordernis der Geltendmachung eines droit subjectif viole fiel weg. Seit diesem Zeitpunkt gelten auch für die violation de Ia loi die allgemeinen Anforderungen an die Klagebefugnis, für welche die Geltendmachung eines bloßen interet pour agir ausreicht.

s2 LaubadirejVeneziajGaudemet, Traite, T . 1 (Fn. 18), para 706 (p. 439). 53

Eine eingehende Auseinandersetzung mit Bühler findet sich bei Bonnard, Les droits publies subjectifs des administres. Paris 1932, pp. 16 ss. 54 Der Ansatz ist insbesondere ausgeführt in Bonnard, Les droits publies subjectifs des administres, R.D.P. 1932, pp. 695 ss.

ss LaubadirejVenezia/Gaudemet, Traite, T. 1 (Fn. 18), para 706 (p. 439). Noch in der Entscheidung C.E. v. 11.11.1887, 0 ebvre, D. 1888.3.121 concl. Gauwain, wurde eine Klage mangels Geltendmachung eines subJektiven Rechts abgewiesen. Bezeichnend auch die Bemerkung bei IA[erriere, Traite de Ia juridiction administrative et des recours contentieux, T. 2. Paris 1888, p. 506 (Hervorhebung im Original): •... Ia violation de Ia loi n'est un moyen d'annulation que si elle constitue en meme temps une alteinte a un droit. • lAfenibe war zum damaligen Zeitpunkt Vizepräsident des Conseil d'Etat. 56

= S 1904.3.113 note Hauriou = GA. n• 13.

57

C.E. v. 11.12.1903, Lot, Rec. 780

58

C.E. v. 1.6.1906,Alcindoret autres, Rec. 516.

Die Bedeutung dieser Entscheidungen heben hervor LaubadirejVenezia/Gaudemet, Traite, T . 1 (Fn. 18), para 706 (p. 439). 59

Kapitel 1: Zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts

111

§ 11 Die Judicature Acts ( 1873- 75) und die Auseinandersetzung

mit dem Verwaltungsrecht in Großbritannien

1. Auch in Großbritannien brachte die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutende Änderungen des bestehenden Rechtssystems mit sich. So gelten die ludicature Acts (1873 - 75) als der Beginn der modernen britischen Rechtsentwicklung60• Aus Sicht der kontinentalen Rechtsordnungen beseitigte allerdings die durch diese Gesetze einsetzende Vereinheitlichung der Rechtsquellen lediglich eine Besonderheit des anglo-amerikanischen Rechtskreises, die sich in dieser Form in Frankreich und Deutschland nie manifestiert hatte: Die ludicature Acts konstituierten mit dem High Court of Justice zum ersten Mal in der britischen Rechtsgeschichte eine Gericht, das über die beiden bis dorthin getrennten Rechtsmaterien des common law und der equity entschied. Diese Trennung der Rechtsquellen bis in die dafür zuständigen Gerichte hinein, die über Jahrhunderte aufrecht erhalten worden war, gilt es zu berücksichtigen, wenn die Entwicklung in Großbritannien mit der Auseinandersetzung um spezifische Zweige des einheitlich begründeten Rechts auf dem Kontinent verglichen wird. a) Bis zu den Judicature Acts waren für die zwei unterschiedlichen Rechtsquellen jeweils eigene Gerichte zuständig. Zusammen mit der charakteristischen Ausrichtung des britischen Rechts an prozessualen Gesichtspunkten, vornehmlich bestimmten Klagearten, hat diese Aufteilung eine Systematisierung des britischen Rechts nach kontinentalem Muster erheblich erschwert61 • Entscheidend für die Zuständigkeit eines bestimmten Gerichtszweiges war nicht die Zugehörigkeit der Streitsache zu einem bestimmten Rechtsgebiet, ein Kriterium, wie es beispielsweise das französische und das deutsche Recht verwendete62• Entscheidend war, ob die gewählte Klageformel aus dem streng formgebundenen common law oder der zum Ausgleich von Härten im Einzelfall konzipierten equity herzuleiten war. Mit dieser Abhängigkeit von einer bestimmten Klageformel oder, allgemeiner, von einem 60 Zu einem Bruch mit den bestebenden Traditionen ist es dabei nicht gekommen, vgl. v. Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsttericbte in Deutschland. 3. Aufl. (Nachdruck) Dannstadt 1958, S. 64: "..., so liegt doch für d1e Erkenntnis der Natur des Rechtsstaates der Hauptwerth in dem englischen Staatswesen vor der Reform Bill." 61 Einen weiteren Grund für die Betonung der Verfahrensregeln sieht in der engeren Verbindung von Recht und Sachverhalt Fleiner-Gerster, Wem Gott ein Amt gibt, gibt er auch Verstand, in: Das Menschenbild im Recht. Festgabe Universität FreiburgiCH 1990, S. 141 ff. (S. 147).

62 Sehr früh setzt v. Gneist die Verselbständigung der britischen Entwicklung an: "Der Rechtsstaat in England hat sich an karolingische Grundeinrichtungen angeknüpft ... [und] hatte ungefähr denselben Gang genommen wie in Deutschland, als diese Entwicklung durch die normannische Eroberung unterbrochen wurde." (v. Gneist, Der Rechtsstaat (Fn. 60), S. 38).

2. Teil, 1. Abschnitt: Geschichtliche Grundlagen

112

bestimmten Rechtsbehelf, erübrigte sich die KJassifizierung nach materiellen Kriterien: ubi remedium, ibi ius. Recht gab es, wo es einen Rechtsbehelf gab. Und umgekehrt: Eine gerichtliche Abhilfe konnte aufgrund systematischer Überlegungen nicht verneint werden, wenn ein Rechtsbehelf für die betreffende Streitigkeit existierte. Mit anderen Worten: War ein Rechtsbehelfs gegeben, dann gab es für das Argument, die streitige Frage gehöre einer den Gerichten entzogenen Materie an, grundsätzlich keinen Raum mehr. Einer Diskussion, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland geführt wurde, nämlich einer Diskussion um die Frage, ob bestimmte Verfahren wegen ihrer besonderen "öffentlich-rechtlichen" Natur den ordentlichen Gerichten zu entziehen seien, war damit weitgehend der Boden entzogen. Damit deutet sich eine weitere Besonderheit des britischen Rechts an: Wenn in Bezug auf common law und equity von Rechtsquellen die Rede ist, bedeutet dies nicht eine vornehmlich materielle Grundlage in Gesetzen und Verordnungen, wie sie sich in Frankreich Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Code Napoleon und im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland mit der Ablösung der actio durch den Anspruch durchgesetzt hat. Gesetzesrecht und gesetztes Recht hat in Großbritannien größere Bedeutung erst mit der Ausweitung des Wohlfahrtstaates erlangt61• Ziel des gerichtlichen Verfahrens war nicht, die in Gesetzen zum Ausdruck kommende Staatsraison oder das öffentlichen Interesse zu ermitteln und zum Tragen zu bringen; der Richter stand nicht hierarchisch über den Parteien, sondern sorgte im Wege eines fair trial für ein gerechtes Urteil. Nach angelsächsischer Überzeugung ist der gerechte Inhalt eines Urteils nicht primär eine Folge des materiellen Rechts, sondern des guten Verfahrensrechts64. Eine Ausnahme stellte diesbezüglich bis zu einem gewissen Grad nur die Tätigkeit der star chamber dar, einer gerichtsähnlichen Behörde, die speziell zur Entscheidung von "Verwaltungsrechtsstreitigkeiten" eingesetzt worden war, also über einen bestimmten Sachbereich als Ausschnitt des objektiven Rechts zu befinden hatte. Doch war diese Behörde, ähnlich wie die bereits erwähnten parlements in Frankreich, durch ihre mißbräuchliche Urteilspraxis in Verruf geraten und abgeschafft worden65• Nach der Auflösung der star chamber ging die Zuständigkeit für diese Fälle an die ordentlichen Gerichte über. Bezeichnend für die nicht weiter 61 Doch hat der Gesetzgeber im common law den Richter nie völlig verdrängt; dazu Fleiner-Gerster, Wem Gott ein Amt gibt, in: Festgabe Universität FreiburgfeH (Fn. 61), S. 141

ff. (S. 155).

64 Fleiner-Gerster, Wem Gott ein Amt gibt, in: Festgabe Universität Freiburg/CH (Fn. 61),

S. 141 ff. (S. 142 f.). 65

Zur Entwicklung in Küne auch v. Gneist, Der Rechtsstaat (Fn. 60), S. 49.

Kapitell: Zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts

113

ausdifferenzierte Behandlung der verschiedenen Rechtsmaterien durch die britischen Gerichte ist die Einschätzung Rudolf v. Gneists, der die Funktion, welche die /(jng's Bench im 17. Jahrhundert ausübte, mit der eines "Oberverwaltungsgerichts" verglichen hat66• Er hielt die britische Rechtsprechung über die aus kontinentaler Sicht als "verwaltungsrechtliche Streitigkeiten" einzustufenden Verfahren für vergleichbar mit den in Deutschland zur Zeit v. Gneists bereits praktizierenden besonderen "öffentlich-rechtlichen" Gerichten. Der Vergleich darf allerdings nicht ideengeschichtlich gesehen werden: Die Entwicklung eines gerichtlichen Rechtsschutzes gegen die Exekutive in Großbritannien erfolgte innerhalb des common law-Systems. Dieses System bedingte, daß eine Rezeption der französischen oder deutschen Verwaltungsgerichtskontrolle allenfalls als theoretisches Gegenmodell erörtert werden konnte, wie Dicey es mit dem französischen Recht tat. Eine institutionelle Übernahme etwa eines eigenen Gerichts für die Verwaltungssachen kam wegen des Aktionendenkens zum damaligen Zeitpunkt kaum in Betracht67• b) Damit beantwortet sich die Frage, wer in Großbritannien über die Streitigkeiten verwaltungsrechtlicher Natur zu entscheiden hat, in beiden Gesichtspunkten. Da den Gerichten eine bestimmte Rechtsmaterie nicht mit der Begründung, sie sei öffentlicher-rechtlicher Natur, entzogen werden konnte, schied eine verwaltungsinterne Kontrolle nach französischem Muster aus. Da es darüberhinaus keinen durch das Sachgebiet bedingten Grund gab, für bestimmte gerichtlich zu entscheidende Fälle eigene Judikativorgane zu schaffen, blieb es bei der Zuständigkeit der aus kontinentaler Sicht "ordentlichen" Gerichte. Daß heute, über hundert Jahre später, in Großbritannien über die Errichtung eigener Verwaltungsgerichte immerhin nachgedacht werden kann, geht bezeichnenderweise mit der materiellen Ausgestaltung des Rechtsgebietes administrative law einher, die wie erwähnt Lord Diplock als eine der größten Errungenschaften während seiner Zeit als Richter betrachtet68• 2. Dieser Befund soll jedoch nicht verhindern, eine Betrachtung der Fälle vorzunehmen, die nach kontinentaleuropäischen Gesichtspunkten zur Materie des öffentlichen Rechts gezählt würden. Aus prozessualer Sicht sind 66 So wiedergegeben bei de SmithfEvans, Judicial Review of administrative action. 4th ed. London 1980, p. 590.

67 Vgl. auch Bradley, Judicial Protection of the Individual against the Executive in Great Britain, in: Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 1. Köln/Berlin/Bonn/München 1969, S. 327 ff. (S. 327). 68 R v. Inland Revenue Commissioners, a p. National Federation of Self-Employed and Sma/1 Businesses Ltd., (1982] A.C. 617 (641 C).

X Gcrstncr

114

2. Teil, 1. Abschnitt: Geschichtliche Grundlagen

dies vor allem die Fälle, die oben als Verfahren im Wege der prerogative

orders beschrieben worden sind.

a) Der historische Grund für diese Bezeichnung und die Absonderung dieser Klageformen ist folgender: Wollte der Bürger gegen die königlichen Beamten in ihrer Funktion als servants of the crown vorgehen, mußte der König zunächst auf sein Privileg, nicht angeklagt werden zu können, verzichten. Er mußte dem klagenden Bürger eine besondere Vorzugsstellung (prerogative) einräumenntentieux administratif. Se ed. Paris 1990. Degen, Manfred: Klageverfahren und Klagegründe im französischen Verwaltungsprozeß, Die Verwaltung 14 (1981), S. 157 ff.

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