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German Pages 354 [381] Year 2018
Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht Band 146 herausgegeben von Rolf Stürner
Ricarda-Charlotte Lorenz
Die Dogmatik des Entschädigungsanspruches aus § 198 GVG Effektiver Rechtsschutz bei überlangen zivilgerichtlichen Verfahren
Mohr Siebeck
Ricarda-Charlotte Lorenz, geboren 1987; Studium der Rechtswissenschaft in Passau, Münster und Exeter (UK); Wiss. Mitarbeiterin an den Universitäten Freiburg und Regensburg; 2017 Promotion. orcid.org/0000-0003-0276-5085
Diese Abhandlung wurde von der Fakultät für Rechtswissenschaft an der Universität Regensburg als Dissertation angenommen.
ISBN 978-3-16-155579-4 / eISBN 978-3-16-155580-0 DOI 10.1628/978-3-16-155580-0 ISSN 0722-7574 / eISSN 2568-7255 (Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.
Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2016/2017 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Regensburg als Dissertation angenommen. Mein besonderer Dank gilt meinem akademischen Lehrer und Doktorvater Herrn Prof. Dr. Christoph Althammer. Er hat mir die Anregung zu diesem Thema gegeben und die Erstellung der Dissertation größtmöglich unterstützt und gefördert. Neben der Forschung konnte ich im Rahmen meiner Mitarbeit an seinen Lehrstühlen in Freiburg und Regensburg wertvolle fachliche Erfahrung sammeln. Herrn Prof. Dr. Herbert Roth danke ich für die Begleitung dieser Arbeit als Zweitgutachter. Für die freundliche Aufnahme in die Schriftenreihe „Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht“ bedanke ich mich bei Herrn Prof. Dr. Dres. h.c. Rolf Stürner, der mir auch während meiner Zeit am Institut für deutsches und ausländisches Zivilprozessrecht, Abt. 1 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hilfreiche Anregungen gegeben hat. Neben Christopher Jud haben meine Geschwister, Freunde und Kollegen in vielfältiger Weise zum Gelingen dieser Dissertation beigetragen. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Von Herzen danken möchte ich schließlich meinen Eltern Ellen und Gernot Lorenz. Sie haben nicht nur meine Dissertation mit ihrem fachlichen Wissen konstruktiv begleitet, sondern mich auf meinem Lebensweg uneingeschränkt unterstützt. Sie sind der Grund, warum ich begeisterte Juristin geworden bin. Ihnen widme ich diese Arbeit. Hannover, im März 2018
Ricarda-Charlotte Lorenz
Inhaltsverzeichnis Vorwort ...................................................................................... VII Abkürzungsverzeichnis .................................................................XXI
Kapitel 1: Einleitung ................................................................... 1 A. Problemaufriss .......................................................................................... 1 B. Gang der Untersuchung ............................................................................ 3 C. Auslegungsmethodik................................................................................. 4 I. Überblick .............................................................................................. 4 II. Völkerrechts- und verfassungskonforme Auslegung ............................ 5
Kapitel 2: Das Recht auf angemessene Verfahrensdauer............. 7 A. Normativer Anknüpfungspunkt................................................................. 7 I. Völkerrecht ........................................................................................... 7 II. Verfassungsrecht ................................................................................. 8 B. Prüfungsmethodik der angemessenen Verfahrensdauer ............................. 9 I. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte .................................................................................... 9 1. Prüfungsmethodik am Beispiel des Rechtsstreits König gegen Deutschland .................................................................................. 10 2. Modifizierung der Prüfungsmethodik ........................................... 12 3. Bewertung .................................................................................... 13 II. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ......................... 15 1. Allgemeines .................................................................................. 15 2. Prüfungsmethodik ......................................................................... 16 3. Bewertung .................................................................................... 17 C. Ergebnis .................................................................................................. 17
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Kapitel 3: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren..... 19 A. Einführung: Primär- und Sekundärrechtsschutz ...................................... 19 B. Normativer Anknüpfungspunkt und Anforderungen an das Rechtsschutzsystem ................................................................................ 21 I. Völkerrechtliche Grundlagen .............................................................. 21 1. Normativer Anknüpfungspunkt ..................................................... 21 2. Anforderungen an das Rechtsschutzsystem bei überlanger Verfahrensdauer ............................................................................ 22 a. Verhältnis zwischen präventiven und kompensatorischen Rechtsbehelfen ...................................................................... 23 b. Die Ausgestaltung präventiver und kompensatorischer Rechtsbehelfe – Grundprinzipien ........................................... 24 c. Präventive Rechtsbehelfe ....................................................... 25 d. Kompensatorische Rechtsbehelfe .......................................... 26 II. Verfassungsrechtliche Grundlagen .................................................... 26 1. Normativer Anknüpfungspunkt ..................................................... 27 2. Allgemeine Anforderungen an ein effektives Rechtsschutzsystem ...................................................................... 28 3. Anforderungen an das Rechtsschutzsystem bei überlanger Verfahrensdauer ............................................................................ 30 a. Verhältnis zwischen präventiven und kompensatorischen Rechtsbehelfen ...................................................................... 30 aa. Effektivität von präventiven Rechtsschutzinstrumenten .. 31 bb. Stellungnahme ................................................................ 32 b. Konkrete Ausgestaltung der Rechtsbehelfe............................ 33 III. Ergebnis ........................................................................................... 36 C. Rechtsschutzmöglichkeiten vor Inkrafttreten des ÜGRG ........................ 37 I. Die Untätigkeitsbeschwerde................................................................ 38 II. Dienstaufsichtsbeschwerde ................................................................ 41 III. Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit ................................ 42 IV. Verfassungsbeschwerde ................................................................... 42 V. Amtshaftungsanspruch bei überlanger Verfahrensdauer nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG .......................................................... 44 1. Amtshaftung wegen verzögerter richterlicher Tätigkeit ................ 45 a. Schuldhafte Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht ..... 45 b. Kausal entstandener Schaden................................................. 46 c. Haftungsausschluss des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB ..................... 47 aa. „Bei dem Urteil in einer Rechtssache“ ............................ 49 bb. Haftungsbeschränkung außerhalb von § 839 Abs. 2 S. 1 BGB ............................................................. 49 cc. Haftungsbeschränkung bei Verfahrensverzögerungen ..... 50
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(1) BGH-Urteil vom 04. November 2010 ......................... 50 (a) Sachverhalt ............................................................. 50 (b) Entscheidungsgründe – Kernaussagen .................... 51 (2) Das Verhältnis von § 839 Abs. 2 S. 1 und S. 2 BGB ... 52 (a) Stellungnahme des Schrifttums zur Entscheidung des BGH................................................................. 52 (b) Bewertung durch das BVerfG ................................ 54 (c) Stellungnahme zur Entscheidung des BVerfG ........ 55 (aa) Beispiel 1 ......................................................... 56 (bb) Beurteilung des Beispiels 1.............................. 57 (d) Schlussfolgerungen ................................................ 57 (3) Die Vertretbarkeitskontrolle des BGH ........................ 58 (a) Stellungnahme zur Entscheidung des BGH ............ 59 (b) Bewertung durch das BVerfG ................................ 60 (c) Stellungnahme zur Entscheidung des BVerfG ........ 60 (aa) Beispiel 2 ........................................................ 60 (bb) Beurteilung des Beispiels 2.............................. 61 (d) Schlussfolgerungen ................................................ 62 (aa) Die Vertretbarkeitskontrolle des BGH im Gewand des BVerfG ........................................ 62 (bb) Das Verhältnis zwischen dem Gebot der richterlichen Unabhängigkeit und der Effektivitätsgarantie ........................................ 63 d. Haftungsausschluss nach § 839 Abs. 3 BGB ......................... 66 2. Amtshaftung wegen Organisationsmängeln .................................. 67 a. Amtshaftung des Haushaltsgesetzgebers ................................ 67 b. Amtshaftung der Justizverwaltungen ..................................... 68 3. Ergebnis........................................................................................ 69 VI. Bewertung des Rechtsschutzsystems ................................................ 70 1. Völkerrechtliche Perspektive ........................................................ 70 a. Sürmeli gegen Deutschland ................................................... 70 b. Stellungnahme ....................................................................... 72 2. Verfassungsrechtliche Perspektive ................................................ 72 VII. Ergebnis und Konsequenzen ........................................................... 74 D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG ........................ 75 I. Einführung .......................................................................................... 75 1. Die Entstehungsgeschichte des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren .................................................................... 75 2. Die Grundkonzeption des ÜGRG .................................................. 77 II. Der Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 GVG ........................ 79 1. Haftungstatbestand ....................................................................... 79 a. Gerichtsverfahren .................................................................. 79
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aa. Der Verfahrensbegriff ..................................................... 80 (1) Meinungsstand............................................................ 80 (2) Stellungnahme ............................................................ 80 (3) Beispiele ..................................................................... 82 (4) Rechtskraftdurchbrechende Verfahren ........................ 83 (5) Prozesskostenhilfeverfahren ....................................... 84 bb. Zeitlicher Umfang des Gerichtsverfahrens ...................... 86 (1) Einleitung des Verfahrens ........................................... 86 (2) (Rechtskräftiger) Abschluss des Verfahrens ............... 87 (3) Zwischenverfahren ..................................................... 89 cc. Bewertung ....................................................................... 89 b. Anspruchsinhaber .................................................................. 90 aa. Allgemeines .................................................................... 90 bb. Der Begriff der Partei und des Beteiligten eines Gerichtsverfahrens .......................................................... 91 cc. Anspruchsberechtigung von Trägern öffentlicher Verwaltung und sonstiger öffentlicher Stellen ................ 93 dd. Bewertung ...................................................................... 93 c. Anspruchsgegner ................................................................... 94 aa. Allgemeines .................................................................... 94 bb. Verzögerungen durch Gerichte unterschiedlicher Rechtsträger .................................................................... 94 cc. Bewertung ....................................................................... 95 d. Die Verzögerungsrüge ........................................................... 95 aa. Rechtliche Einordnung .................................................... 96 bb. Anforderungen an die Erhebung einer Verzögerungsrüge ........................................................... 97 (1) Allgemeines ................................................................ 97 (2) Bezeichnung und Inhalt .............................................. 99 (a) Gegenstand der Rüge.............................................. 99 (b) Abgrenzung zur Bitte um Verfahrensbeschleunigung und zur Dienstaufsichtsbeschwerde ................................... 100 (c) Hinweisobliegenheit nach § 198 Abs. 3 S. 3 GVG ......................................... 101 (d) Ergebnis ............................................................... 102 (3) Form der Erhebung ................................................... 102 (4) Zeitpunkt der Erhebung ............................................ 103 (5) Adressat .................................................................... 105 cc. Mehrmalige Erhebung der Verzögerungsrüge ............... 105 (1) Nochmalige Erhebung der Verzögerungsrüge vor demselben Gericht .................................................... 105
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(2) Erneute Erhebung der Verzögerungsrüge vor einem anderen Gericht .............................................. 107 dd. Die Reaktion des Ausgangsgerichts .............................. 108 ee. Folgen einer fehlenden und fehlerhaft erhobenen Verzögerungsrüge ......................................................... 109 (1) Unterlassen der Erhebung der Verzögerungsrüge ..... 109 (a) Verzögerungsrüge wurde im Ausgangsverfahren gar nicht erhoben .................................................. 109 (b) Verzögerungsrüge wurde nicht in allen erforderlichen Verfahrensstadien erhoben ............ 111 (c) Verzögerungsrüge wurde vor demselben Gericht nicht nochmals erhoben ........................... 112 (2) Verfrühte Verzögerungsrüge..................................... 113 (3) „Verspätete“ Verzögerungsrüge................................ 114 (4) Missachtung der in § 198 Abs. 3 S. 3 GVG normierten Hinweisobliegenheit ............................... 115 ff. Stellungnahme ............................................................... 116 (1) Der Begriff der Verzögerungsrüge ............................ 116 (2) Keine Begründungspflicht der Verzögerungsrüge ..... 117 (3) Der Zeitpunkt der Erhebung der Verzögerungsrüge .. 118 (4) Die präventive Wirkung der Verzögerungsrüge ........ 119 (a) Verfahrensexterne Ursachen ................................. 121 (b) Verfahrensinterne Ursachen ................................. 122 (5) Auswirkungen auf die Richterschaft ......................... 125 gg. Die Verzögerungsrüge aus völkerrechtlicher Perspektive ................................................................... 126 (1) Die Verzögerungsrüge als effektiver präventiver Rechtsbehelf i.S.v. Art. 13 EMRK ............................ 126 (2) Die Verzögerungsrüge als Tatbestandsmerkmal des Geldentschädigungsanspruches........................... 128 hh. Die Verzögerungsrüge aus verfassungsrechtlicher Perspektive ................................................................... 130 (1) Die Verzögerungsrüge als effektiver präventiver Rechtsbehelf ............................................................. 130 (2) Die Verzögerungsrüge als Tatbestandsmerkmal des Geldentschädigungsanspruches........................... 131 ii. Abschließende Bewertung .............................................. 132 e. Die unangemessene Verfahrensdauer eines Gerichtsverfahrens............................................................... 133 aa. Bezugspunkt der Angemessenheit ................................. 134 (1) Gesamtverfahrensdauer als Bezugspunkt der Angemessenheit ........................................................ 134
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(a) Kompensation von Verzögerungen – Meinungsstand ..................................................... 135 (b) Kompensation von Verzögerungen – Stellungnahme...................................................... 136 (c) Ergebnis ............................................................... 137 (2) Bezugspunkt der Angemessenheit bei Haftung unterschiedlicher Rechtsträger .................................. 139 (3) Bezugspunkt der Angemessenheit bei laufendem Ausgangsverfahren ................................................... 140 (4) Einzelner Verfahrensabschnitt als Bezugspunkt für die Angemessenheit ............................................ 141 (5) Ergebnis ................................................................... 143 bb. Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer 143 (1) Absolute Zeitgrenzen ................................................ 144 (2) Zeitgrenzen als Indiz für die Angemessenheit bzw. Unangemessenheit der Verfahrensdauer ................... 145 (a) Relative Zeitgrenzen vor Inkrafttreten des ÜGRG ............................................................ 146 (b) Relative Zeitgrenzen im Rahmen von § 198 Abs. 1 S. 2 GVG ......................................... 146 (c) Stellungnahme ...................................................... 148 (aa) Durchschnittliche Verfahrensdauer ................ 148 (bb) „Die“ Ein-Jahres-Grenze des EGMR ............. 150 (cc) Höchstfristen .................................................. 150 (dd) Rechtsstaatlich hinzunehmende gerichtliche Untätigkeit ................................. 151 (d) Zusammenfassung ................................................ 154 (3) Die Parameter der Prüfungsmethodik im Rahmen von § 198 Abs. 1 GVG ............................................. 154 (a) Einführung ........................................................... 155 (b) Die Untersuchung des Verfahrensverlaufes .......... 156 (c) Die Überlänge des Gerichtsverfahrens.................. 156 (d) Die Verfahrensverzögerung als maßgebliches Prüfungskriterium ................................................ 157 (e) Die Prüfungsperspektive ...................................... 157 (f) Exkurs: „Unangemessene“ Verfahrensverzögerungen ..................................... 159 (g) Ergebnis ............................................................... 160 (4) Die Umstände im Einzelfall ...................................... 160 (a) Schwierigkeit des Verfahrens ............................... 160 (b) Bedeutung des Verfahrens .................................... 161 (c) Verhalten von Verfahrensbeteiligten und Dritten . 163 (aa) Entschädigungskläger .................................... 164
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(bb) Sonstige Verfahrensbeteiligte ........................ 165 (cc) Sachverständige ............................................. 165 (dd) Staatliche Stellen ........................................... 166 (d) Gerichtliche Verfahrensführung ........................... 169 (e) Ergebnis ............................................................... 169 (5) Verfahrensverzögerung – die Abwägungsentscheidung des Entschädigungsgerichtes ........................................... 170 (a) Allgemeines ......................................................... 170 (b) Der Zeitfaktor in der richterlichen Verfahrensführung ............................................... 171 (c) Die richterliche Verfahrensführung im Rahmen der Abwägungsentscheidung ................................ 172 (aa) Übertragung der Rechtsprechung zum Amtshaftungsrecht......................................... 172 (bb) Stellungnahme ............................................... 173 (cc) Schlussfolgerung ............................................ 175 (d) Sonderfall: Verzögerungen durch fehlerhafte Rechtsanwendung ................................................ 176 (e) Ergebnis ............................................................... 179 (6) Die Verfahrensverzögerung im Verhältnis zur Überlänge des Gerichtsverfahrens............................. 179 (a) Kausalität von Verfahrensverzögerungen ............. 180 (b) Abschließende Gesamtbetrachtung ....................... 180 (aa) Einzelne Verfahrensverzögerungen im Verhältnis zur Gesamtverfahrensdauer .......... 181 (bb) Verhalten des Entschädigungsklägers als egalisierender Faktor ..................................... 183 (cc) Unangemessene Verfahrensdauer infolge der Kumulation von Verfahrensverzögerungen .... 184 (dd) Schlussfolgerung ........................................... 185 (7) Zusammenfassung .................................................... 185 cc. Bewertung ..................................................................... 186 f. Kausal entstandener Nachteil ............................................... 188 aa. Der Nachteilsbegriff im Rahmen von § 198 GVG ......... 188 bb. Kausalität ...................................................................... 190 cc. Bewertung ..................................................................... 190 2. Rechtsfolgen des Entschädigungsanspruches nach § 198 Abs. 1 GVG ...................................................................... 191 a. Die angemessene Entschädigung in Geld ............................. 192 aa. Materielle Nachteile ...................................................... 192 (1) Umfang..................................................................... 192 (a) Gesetzeshistorie ................................................... 192
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(b) Schrifttum ............................................................ 194 (c) Stellungnahme ...................................................... 195 (2) Beispiele für materielle Nachteile ............................. 196 (3) Bewertung ................................................................ 197 (a) Die angemessene Entschädigung im Lichte der EMRK ............................................................ 197 (aa) „Restitutio in integrum“ ................................. 197 (bb) Der Entschädigungsumfang nach Art. 41 EMRK ............................................... 198 (cc) Der Entschädigungsumfang nach Art. 13 EMRK ............................................... 199 (dd) Schlussfolgerungen........................................ 200 (b) Die angemessene Entschädigung im Lichte des deutschen Rechtsfolgensystems ..................... 201 (aa) Bewertung durch das Schrifttum .................... 201 (bb) Stellungnahme ............................................... 203 bb. Immaterielle Nachteile .................................................. 205 (1) Wiedergutmachung auf andere Weise ....................... 205 (2) Beispiele für immaterielle Nachteile ......................... 207 (3) Entschädigungshöhe für immaterielle Nachteile ....... 208 (a) Pauschalierung, § 198 Abs. 2 S. 3 GVG ............... 208 (aa) Verzögerungsbegriff ...................................... 208 (bb) Jährliche Berechnung der Entschädigungshöhe ...................................... 208 (cc) Monatliche Berechnung der Entschädigungshöhe ...................................... 209 (dd) Ergebnis ........................................................ 211 (b) Entschädigungssumme im Einzelfall, § 198 Abs. 2 S. 4 GVG ......................................... 212 (c) Die Geltendmachung eines immateriellen Schadens i.S.d. § 253 Abs. 2 BGB ....................... 213 (d) Entschädigung bei Masseverfahren ...................... 213 (aa) Sachverhalt .................................................... 214 (bb) Tatbestandslösung ......................................... 215 (4) Bewertung ................................................................ 216 (a) Angemessene Entschädigung für immaterielle Nachteile .............................................................. 217 (b) Pauschalierung ..................................................... 217 (c) Höhe der angemessenen Entschädigung ............... 219 b. Die Wiedergutmachung auf andere Weise ........................... 220 aa. Formen der Wiedergutmachung .................................... 220 bb. Wiedergutmachung auf andere Weise als ausreichende Kompensationsform................................. 222
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(1) Das Verhältnis zwischen der Geldentschädigung und der Wiedergutmachung auf andere Weise .......... 222 (2) Beurteilungskriterien ................................................ 224 cc. Exkurs: Die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer als subjektives Recht .......................... 226 dd. Die Wiedergutmachung auf andere Weise bei fehlerhaft erhobener Verzögerungsrüge ........................ 228 ee. Das Nebeneinander von Geldentschädigung und Wiedergutmachung auf andere Weise ........................... 228 ff. Bewertung ...................................................................... 229 c. Die Anwendung des § 254 BGB im Rahmen von § 198 GVG ................................................................... 230 3. Übertragung, Vererbung, Verjährung .......................................... 231 4. Übergangsvorschrift ................................................................... 232 a. Anhängige Verfahren........................................................... 233 aa. Art. 23 S. 2 und S. 3 ÜGRG .......................................... 234 (1) Unverzügliche Erhebung der Verzögerungsrüge ....... 234 (2) Eintritt der Präklusionswirkung ................................ 235 (a) Gesetzeshistorie ................................................... 235 (b) Lösung des BGH .................................................. 237 (c) Stellungnahme ...................................................... 238 (3) Umfang der Präklusionswirkung ............................... 238 bb. Art. 23 S. 4 ÜGRG ....................................................... 239 cc. Zusammenfassung ......................................................... 240 b. Abgeschlossene Verfahren .................................................. 241 aa. Zulässigkeit der Individualbeschwerde nach Art. 35 EMRK .............................................................. 241 bb. Sonderbestimmungen des Art. 23 S. 5-6 ÜGRG ........... 243 c. Bewertung ........................................................................... 244 5. Das gerichtliche Entschädigungsverfahren .................................. 245 a. Außergerichtliche Einigung ................................................. 246 b. Klageart............................................................................... 247 aa. Leistungsklage .............................................................. 247 bb. Feststellungsklage ......................................................... 247 cc. Das Verhältnis zwischen Leistungs- und Feststellungsklage ......................................................... 249 dd. Teilklage ....................................................................... 251 (1) Entschädigungsklage vor Abschluss des Ausgangsverfahrens .................................................. 251 (a) Leistungsklage ..................................................... 251 (b) Feststellungsklage ................................................ 253 (2) Begrenzung des Klagebegehrens auf einzelne Verfahrensabschnitte ................................................ 253
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c. Zuständigkeit ....................................................................... 255 d. Streitgegenstand .................................................................. 256 e. Fristen zur klageweisen Geltendmachung des Entschädigungsanspruches .................................................. 257 aa. Wartefrist – frühester Zeitpunkt der Erhebung der Klage ...................................................................... 257 bb. Klagefrist – spätester Zeitpunkt der Erhebung der Klage ...................................................................... 259 f. Verfahrensrechtliche Grundsätze im gerichtlichen Entschädigungsverfahren ..................................................... 261 g. Die Darlegungs- und Beweislast .......................................... 262 aa. Allgemeines .................................................................. 262 bb. Materielle Nachteile...................................................... 263 cc. Immaterielle Nachteile .................................................. 263 h. Die Entscheidung des Entschädigungsgerichtes................... 264 aa. Die Aussetzungsentscheidung gem. § 201 Abs. 3 GVG ........................................................ 264 bb. Die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer ........................................................... 265 cc. Bindungswirkung der Entscheidungen .......................... 266 dd. Exkurs: Bindungswirkung von Entscheidungen des BVerfG ......................................................................... 267 ee. Rechtsmittel .................................................................. 267 i. Kosten des Entschädigungsverfahrens .................................. 268 j. Bewertung ............................................................................ 269 aa. Zuständigkeit ................................................................ 269 (1) „Gerichtszweiglösung“ ............................................. 269 (2) Zuständigkeit nach Haftungsaufteilung ..................... 271 (3) Erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte ................................................... 272 bb. Parallelität von Ausgangs- und Entschädigungsverfahren .............................................. 273 cc. Aussetzungsmöglichkeit gem. § 201 Abs. 3 S. 1 GVG .. 275 dd. Darlegungs- und Beweislast .......................................... 276 ee. Kosten des Entschädigungsverfahrens ........................... 277 III. Das Verhältnis der §§ 198 ff. GVG zu anderen Rechtsschutzinstrumenten .............................................................. 277 1. Die Untätigkeitsbeschwerde........................................................ 278 a. Das Ende der Untätigkeitsbeschwerde ................................. 278 b. Statthaftigkeit der Untätigkeitsbeschwerde .......................... 279 c. Stellungnahme ..................................................................... 280 2. Dienstaufsichtsbeschwerde ......................................................... 282 3. Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit ........................... 282
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4. Die Verfassungsbeschwerde ....................................................... 283 a. Untätigkeitsbeschwerde ....................................................... 284 b. Verzögerungsrüge ............................................................... 284 c. Klageweise Geltendmachung des Entschädigungsanspruches .................................................. 285 aa. Verhältnis zwischen Amtshaftungsklage und Verfassungsbeschwerde ................................................ 285 bb. Verhältnis zwischen Entschädigungsklage und Verfassungsbeschwerde ................................................ 286 (1) Prüfungsumfang ....................................................... 286 (2) Zielrichtung der Rechtsbehelfe ................................. 287 (a) Abgeschlossenes Gerichtsverfahren ..................... 287 (b) Anhängiges Gerichtsverfahren ............................. 287 (aa) Mehrmalige Erhebung der Verzögerungsrüge ......................................... 289 (bb) Zwischenergebnis .......................................... 289 (3) Ergebnis ................................................................... 289 5. Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG ....... 290 a. Einführender Vergleich ....................................................... 290 b. Das Konkurrenzverhältnis zwischen Entschädigungsund Amtshaftungsanspruch .................................................. 291 c. Prüfungsumfang und Prüfungsmaßstab ................................ 292 d. Subsidiaritätsklausel gem. § 839 Abs. 1 S. 2 BGB .............. 293 e. Vorrangiger Primärrechtsschutz gem. § 839 Abs. 3 BGB .... 293 f. Prozessuale Ebene ................................................................ 294 g. Bewertung ........................................................................... 295 6. Zusammenfassung ...................................................................... 295 E. Bewertung des Rechtsschutzsystems ..................................................... 296 I. Erfahrungsbericht ............................................................................. 297 1. Einleitung ................................................................................... 297 2. Inhalt und Grenzen der Evaluierung............................................ 298 3. Ergebnisse für die Zivilgerichtsbarkeit ....................................... 299 4. Bewertung durch die Bundesregierung ....................................... 300 II. Abschließende Effektivitätsbewertung ............................................ 301 1. Primärrechtsschutz...................................................................... 301 a. Verzögerungsrüge................................................................ 302 b. Sonstige Rechtsschutzinstrumente ....................................... 303 c. Ergebnis .............................................................................. 303 2. Sekundärrechtsschutz.................................................................. 304 a. Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG........................................................................... 304 b. Entschädigungsanspruch nach §§ 198 ff. GVG .................... 305 aa. Materiell-rechtliche Ebene ............................................ 305
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(1) Sachlicher und personeller Anwendungsbereich ....... 305 (2) Die Verzögerungsrüge als Tatbestandsmerkmal........ 306 (3) Unangemessene Verfahrensdauer ............................. 306 (4) Nachteil .................................................................... 308 (5) Rechtsfolge ............................................................... 308 (a) Ersatz von materiellen Nachteilen ........................ 308 (b) Ersatz von immateriellen Nachteilen .................... 309 (aa) Verhältnis zwischen Geldentschädigung und Wiedergutmachung auf andere Weise ..... 309 (bb) Subjektives Recht auf Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer ................. 310 (cc) Angemessene Entschädigungshöhe ................ 310 bb. Übergangsvorschrift ..................................................... 310 cc. Prozessuale Ebene ......................................................... 311 (1) Allgemeine Anforderungen an das Rechtsbehelfsverfahren ............................................. 311 (2) Klage auf Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer ....................................................... 312 (3) Erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte und des BGH ............................. 312 (4) Ausschließlichkeit der Zuständigkeitsaufteilung ....... 313 (5) Parallelität von Entschädigungs- und Ausgangsverfahren ................................................... 313 dd. Ergebnis ........................................................................ 314 3. Gesamtergebnis .......................................................................... 314 a. Rechtstatsächliche Bewertung ............................................. 314 b. Effektivitätsbewertung ........................................................ 315
Kapitel 4: Ausblick ................................................................. 318 Rechtsprechungsverzeichnis ...................................................................... 327 Literaturverzeichnis ................................................................................... 339 Sachregister ............................................................................................... 353
Abkürzungsverzeichnis a.A. a.E. a.F. Abs. AEUV AG AGS Anh. Anm. AnwBl AöR AO-StB ArbGG ArbRAktuell ArbRB ArbuR Art. AuA Aufl. BayOblG BbgVerf. Bd. BDVR BeckRS Begr. Beschl. BFH BGB BGBl. BGH BGHZ
andere Auffassung am Ende alte Fassung Absatz Vertrag über die Europäische Union Amtsgericht Anwaltsgebühren spezial Anhang Anmerkung Anwaltsblatt Archiv des öffentlichen Rechts AO-Steuerberater Arbeitsgerichtsgesetz Arbeitsrecht aktuell Arbeitsrechts-Berater Arbeit und Recht Artikel Arbeit und Arbeitsrecht Auflage Bayerisches Oberstes Landesgericht Brandenburgische Verfassung Band Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen Beck Rechtsprechung Begründer Beschluss Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Sammlung der Entscheidungen des BGH in Zivilsachen
XXII BMJV BR BRAK BSG Bsp. bspw. BStMdJ BT BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG bzgl. bzw. ca. DB Diss. DJT DÖV DRB DRiG DRiZ Drs. DS DStR DStZ DVBl ECHR EGGVG EGMR EGV EGZPO EMRK Ent. EuGRZ EWiR f. FamFG
Abkürzungsverzeichnis
Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Bundesrat Bundesrechtsanwaltskammer Bundessozialgericht Beispiel beispielsweise Bayerisches Staatsministerium der Justiz Bundestag Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht bezüglich beziehungsweise circa Der Betrieb Dissertation Deutscher Juristentag Die Öffentliche Verwaltung Deutscher Richterbund Deutsches Richtergesetz Deutsche Richterzeitung Drucksache Der Sachverständige Deutsches Steuerrecht Deutsche Steuerzeitung Deutsches Verwaltungsblatt European Convention on Human Rights Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Gesetz betreffend die Einführung der Zivilprozessordnung Europäische Menschenrechtskonvention Entscheidung Europäische Grundrechte-Zeitschrift Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht folgend Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit
Abkürzungsverzeichnis
FamRB FamRZ ff. FGO Fn. FPR FS gem. GG ggf. GKG GOG Grdz. GVG h.M. Halbs. HessStgh HRRS Hrsg. hrsg. i.d.F. i.H.v. i.S.v. i.V.m. JA JbArbR JR Jura JZ Kap. KG krit. LAG LG LKV LMK LSG mdl. MDR Nachw. Neubearb.
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Familien-Rechtsberater Zeitschrift für das gesamte Familienrecht folgende Finanzgerichtsordnung Fußnote Familie, Partnerschaft, Recht Festschrift gemäß Grundgesetz gegebenenfalls Gerichtskostengesetz Gerichtsorganisationsgesetz Grundsätze Gerichtsverfassungsgesetz herrschende Meinung Halbsatz Hessischer Staatsgerichtshof Höchstrichterrechtliche Rechtsprechung im Strafrecht Herausgeber herausgegeben in der Fassung in Höhe von im Sinne von in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch des Arbeitsrechts Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristenzeitung Kapitel Kammergericht kritisch Landesarbeitsgericht Landgericht Landes- und Kommunalverwaltung Lindenmaier-Möhring. Kommentierte BGH-Rechtsprechung Landessozialgericht mündlich Monatsschrift für Deutsches Recht Nachweis Neubearbeitung
XXIV NJ NJOZ NJW NJWE-FER NJW-RR Nr. NRV NStZ NStZ-RR NVwZ NVwZ-RR NZA NZFam NZS NZWiSt o. Ä. ÖJZ OLG OLG-NL OstEurR OVG RAK RdA RefE RegE RGBl. Rn. Rspr. RVG S. SächsVerf SchlHA SG SGb SGB SGG sog. SozSich
Abkürzungsverzeichnis
Neue Justiz Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift NJW-Entscheidungsdienst Familien- und Erbrecht Neue Juristische Wochenschrift RechtsprechungsReport Zivilrecht Nummer Neue Richtervereinigung Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Strafrecht Rechtsprechungs-Report Strafrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Rechtsprechungs-Report Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Familienrecht Neue Zeitschrift für Sozialrecht Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht oder Ähnliches Österreichische Juristen-Zeitung Oberlandesgericht OLG-Rechtsprechung Neue Länder Osteuropa-Recht Oberverwaltungsgericht Rechtsanwaltskammer Recht der Arbeit Referentenentwurf Regierungsentwurf Reichsgesetzblatt Randnummer Rechtsprechung Gesetz über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte Satz/Seite Sächsische Verfassung Schleswig-Holsteinische Anzeigen Sozialgericht Die Sozialgerichtsbarkeit Sozialgesetzbuch Sozialgerichtsgesetz sogenannt Soziale Sicherheit
Abkürzungsverzeichnis
St. Rspr. StBA StBW SteuK StGB Stgb StPO StrEG StV StVollzG u. u.a. ÜGRG Urt. ÜVerfBeschG v. VBlBW VerfGH VersR vgl. Vorbem. VR VSSR VVDStRL VwGO VwVfG weit. wistra z. zahl. ZaöRV ZAP ZInsO ZKJ
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Ständige Rechtsprechung Statistisches Bundesamt Steuerberater Woche Steuerrecht kurzgefasst Strafgesetzbuch Steuerrechtsberater Strafprozessordnung Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen Strafverteidiger Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung und und andere/unter anderem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren Urteil Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom/von Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg Verfassungsgerichtshof Versicherungsrecht vergleiche Vorbemerkung Verwaltungsrundschau Vierteljahresschrift für Sozialrecht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz weitere Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht zu/zum zahlreich Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Anwaltspraxis Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe
XXVI ZPO ZRP ZStw zugl. ZZP
Abkürzungsverzeichnis
Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zugleich Zeitschrift für Zivilprozessrecht
Kapitel 1
Einleitung 1. Kapitel: Einleitung
A. Problemaufriss A. Problemaufriss
Die Mühlen der Justiz mahlen langsam – zu langsam?! Das Thema „Überlange Gerichtsverfahren“ erhitzt in der Bundesrepublik Deutschland seit Langem die Gemüter.1 Bereits 1952 kritisierte Walter Breithaupt in einem Aufsatz die Situation der niedersächsischen Justiz und sprach vom „Stillstand der Rechtspflege“2. Vielfach ist in der Literatur auf die Gefahren hingewiesen worden, die von einer überlangen Verfahrensdauer ausgehen können.3 Nach über 60 Jahren hat das Thema keinesfalls an Bedeutung und Aktualität eingebüßt. So zeigen Ergebnisse der Evaluation des Rechts- und Justizstandorts Bayern aus dem Jahr 2012, dass etwa 44,3 % der befragten Bürger mit der Dauer von Gerichtsverfahren vor bayerischen Gerichten unzufrieden waren.4 Bei den Unternehmen lag dieser Anteil sogar bei knapp 62 %.5 Dieses Meinungsbild überrascht angesichts von Statistiken, die der deutschen Justiz auch im europäischen Vergleich ein gutes Zeugnis bezüglich der durchschnittlichen Verfahrensdauer ausstellen. So betrug die durchschnittliche Verfahrensdauer im Jahr 2014 vor deutschen Amtsgerichten6 in erster Instanz in Zivilsachen 4,8
1 Zur Klarstellung sei angemerkt, dass der Begriff der „Überlänge“ in der vorliegenden Arbeit synonymisch zur „Unangemessenheit der Verfahrensdauer“ verwendet wird. Zur rechtshistorischen Dimension dieser Diskussion siehe exemplarisch Brett, Verfahrensdauer, S. 21 ff.; Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 17 ff. 2 So die Überschrift bei Breithaupt, DRiZ 1952, 128 (128). 3 Siehe bspw. Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 219 ff.; Gerking, in: Schmidtchen/Weth (Hrsg.), Der Effizienz auf der Spur, S. 38 ff.; Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 50 ff. 4 BStMdJ/RAK München/u.a., Evaluation, http://www.justiz.bayern.de/imperia/md/content/stmj_internet/aktuelles/ergebnisse_evaluation.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 21. 5 BStMdJ/RAK München/u.a., Evaluation, http://www.justiz.bayern.de/imperia/md/content/stmj_internet/aktuelles/ergebnisse_evaluation.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 66. 6 StBA, Fachserie 10 Reihe 2.1, https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Rechtspflege/GerichtePersonal/Zivilgerichte.html, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 26.
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1. Kapitel: Einleitung
Monate; vor Landgerichten7 dauerte ein erstinstanzliches Verfahren durchschnittlich 9,1 Monate. Diese vorbildlichen Werte dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es gleichwohl Gerichtsverfahren gibt, deren Dauer das Maß des zeitlich Angemessenen überschreitet. Da effektive Rechtsschutzinstrumente in der Vergangenheit fehlten, standen betroffene Verfahrensbeteiligte einer unangemessenen Verfahrensdauer oftmals ohnmächtig gegenüber. Der Gang nach Straßburg zum EGMR war für viele die letzte Hoffnung auf der Suche nach Gerechtigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland wurde erstmals im Rechtsstreit König./.Deutschland im Jahre 1978 vom EGMR wegen der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens verurteilt.8 Die sich daran anschließende Feststellung Kloepfers, es bestehe eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Einführung eines Rechtsbehelfs gegen grundrechtswidrige Verfahrensverzögerungen verschallte ungehört.9 Reformbemühungen, welche die Beschleunigung der Gerichtsverfahren zum Ziel hatten, trugen in der Vergangenheit nicht wesentlich zur Verbesserung der Situation bei. Nach unzähligen Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR wegen unangemessen langandauernder Gerichtsverfahren10 war der Gerichtshof im September 2010 mit seiner Geduld endgültig am Ende. In der Entscheidung Rumpf./.Deutschland attestierte der EGMR der Bundesrepublik ein strukturelles Problem bezüglich überlanger Gerichtsverfahren und setzte dem deutschen Gesetzgeber eine Jahresfrist zum Handeln. Deutschland solle endlich seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommen und Rechtsschutzinstrumente schaffen, die es dem Bürger ermöglichen, sich effektiv gegen überlange Gerichtsverfahren zu wehren.11 Dieser Forderung kam der Gesetzgeber mit dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren12 (ÜGRG), welches am 03. Dezember 2011 in Kraft trat, nach und normierte in § 198 Abs. 1 S. 1 GVG einen neuartigen, staatshaftungsrechtlichen Entschädigungsanspruch. Daneben wurde mit der Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 3 7
StBA, Fachserie 10 Reihe 2.1, https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/ Rechtspflege/GerichtePersonal/Zivilgerichte.html, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 56. 8 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 28.06.1978 – Nr. 6232/73 (König./.Deutschland), Hudoc. 9 Kloepfer, JZ 1979, 209 (216). 10 Bis Ende 2013 wurde in 102 Fällen ein Verstoß gegen das Recht auf angemessene Verfahrensdauer festgestellt, EGMR, Violation by Article and by State 1959-2013, http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_violation_1959_2013_ENG.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016. Im Zeitraum von Mitte 2006 bis 2010 hat die Bundesrepublik mehr als eine halbe Million Euro Schadensersatz wegen überlanger Verfahrensdauer an betroffene Verfahrensbeteiligte gezahlt, Kotz, ZRP 2011, 85 (86). 11 EGMR NJW 2010, 3355 (3358, Rn. 73). 12 BGBl. 2011 I, S. 2302.
B. Gang der Untersuchung
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GVG) ein Rechtsschutzinstrument geschaffen, welches den Eintritt einer unangemessenen Verfahrensdauer bereits präventiv verhindern soll. Die langanhaltende Diskussion über unangemessen lange Gerichtsverfahren und die dagegen bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten hat damit einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Aus diesem Anlass beleuchtet die vorliegende Arbeit die grundgesetzlichen und völkerrechtlichen Anforderungen an ein effektives Rechtsschutzsystem im Hinblick auf überlange Gerichtsverfahren und geht der Frage nach, inwiefern die Rechtslage vor und nach Inkrafttreten des ÜGRG diesen gerecht wird. Im Fokus der Untersuchung stehen dabei die durch das ÜGRG geschaffenen Rechtsschutzmöglichkeiten – die Verzögerungsrüge sowie der neu geschaffene Entschädigungsanspruch, dessen Haftungstatbestand, Rechtsfolgen sowie gerichtliche Durchsetzung. In diesem Zusammenhang wird der Schwerpunkt der Darstellung auf gerichtliche Verfahren gelegt, die dem Anwendungsbereich der ZPO unterliegen. Berücksichtigt werden aber ebenso Judikate, die in anderen Gerichtsbarkeiten bezüglich der §§ 198 ff. GVG inzwischen ergangen sind, soweit ihnen über die jeweilige Gerichtsbarkeit hinaus Bedeutung beizumessen ist.
B. Gang der Untersuchung B. Gang der Untersuchung
Da ein Schwerpunkt dieser Arbeit auf der Exegese der Rechtsnormen des ÜGRG liegt, schließt das erste Kapitel mit einem kurzen Überblick über die der Untersuchung zugrunde gelegten Auslegungsmethodik unter besonderer Berücksichtigung der völkerrechts- und verfassungskonformen Auslegung. Das zweite Kapitel skizziert den normativen Anknüpfungspunkt des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer und analysiert, nach welcher Vorgehensweise der EGMR und das BVerfG entscheiden, ob eine unangemessene Verfahrensdauer vorliegt. Kapitel drei widmet sich dem Thema des Rechtsschutzes gegen überlange Gerichtsverfahren. Einführend wird kurz darauf eingegangen, welche Formen des Rechtsschutzes es gibt (A.). Im Anschluss daran wird geklärt, woraus sich der Anspruch auf Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren auf völkerund verfassungsrechtlicher Ebene ableiten lässt, welchen Anforderungen dieser genügen muss (B.) und ob und inwieweit die Rechtsschutzmöglichkeiten vor Inkrafttreten des ÜGRG diesen gerecht geworden sind (C.). Unter Gliederungspunkt D. werden sodann die Rechtsschutzmöglichkeiten nach Inkrafttreten des ÜGRG, schwerpunktmäßig der Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 S. 1 GVG (D. II.), näher analysiert. Im Mittelpunkt stehen dabei der Haftungstatbestand (D. II. 1.), die Rechtsfolgen (D. II. 2.), die Übergangsvorschriften (D. II. 4.) sowie die gerichtliche Durchsetzung des Entschädigungsanspruches (D. II. 5.). Nachfolgend (D. III.) werden die Auswirkungen des ÜGRG auf präventive und sekundäre Rechtsschutzinstrumente, die vor
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1. Kapitel: Einleitung
Inkrafttreten der Regelungen Geltung beansprucht haben, beleuchtet. Im letzten Abschnitt des dritten Kapitels (E.) folgt eine abschließende Bewertung des geltenden Rechtsschutzsystems gegen überlange Gerichtsverfahren. Kapitel vier endet mit einem Ausblick.
C. Auslegungsmethodik C. Auslegungsmethodik
I. Überblick Auslegungsziel ist nach ständiger Rechtsprechung die Ermittlung des objektivierten Willens des Gesetzgebers13, wobei ausgehend vom Wortsinn des Normtextes unter anderem der Bedeutungszusammenhang, der Normzweck sowie die Entstehungsgeschichte der Regelung als Auslegungskriterien nebeneinander Berücksichtigung finden14. Ein festgelegtes Rangverhältnis dieser sich ergänzenden Auslegungskriterien besteht nicht15, dennoch kann den einzelnen Kriterien im Rahmen einer abschließenden Gesamtabwägung unterschiedlich viel Gewicht beigemessen werden16. Da es sich beim ÜGRG um ein „junges“ Gesetz handelt, ist dem in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers – vorausgesetzt er spiegelt sich im Gesetzestext wider17 – bei der vorzunehmenden Gesetzesinterpretation besondere Beachtung zu schenken18. Entscheidend wird dabei das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel sein, mit dem ÜGRG eine gegen völker- und verfassungsrechtliche Anforderungen verstoßende Rechtsschutzlücke bei überlangen Gerichtsverfahren zu schließen.
13 St. Rspr.: BVerfGE 1, 299 (312); 11, 126 (129 ff.); 105, 135 (157); 133, 168 (205); BGHZ 33, 321 (330); 36, 370 (377); 46, 74 (76). Eingehend zur Diskussion über das Ziel der Auslegung Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 137 ff.; Säcker, in: MüKo-BGB, Einleitung, Rn. 123 ff. 14 Siehe ausführlich zu den Auslegungskriterien Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141 ff. 15 BVerfGE 11, 126 (130); 105, 135 (157); 133, 168 (205). 16 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 140 f., 166 f.; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S. 73; a.A. Rüthers/Fischer/u.a., Rechtstheorie, Rn. 725 ff. 17 Vgl. nur BVerfGE 11, 126 (130). Zu Recht hat der Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren des ÜGRG darauf hingewiesen, dass der in der Gesetzesbegründung zutage getretene Wille des Gesetzgebers nicht alleiniger Bewertungsmaßstab bei Auslegung des Gesetzes ist, BT-Drs. 17/3802, S. 35. 18 Vgl. OLG Frankfurt, Urt. v. 10.07.2013 – 4 EntV 3/13, Rn. 65, juris: „[…] dem Willen des Gesetzgebers [ist] vor einem anderweiten teleologischen Auslegungsergebnis der Vorzug zu geben.“; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S. 33, nach dem bei jungen Gesetzen allein die subjektive Theorie gilt.
C. Auslegungsmethodik
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II. Völkerrechts- und verfassungskonforme Auslegung Die Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG zum Recht auf angemessene Verfahrensdauer haben maßgeblich die Entstehung der Normen des ÜGRG beeinflusst. Es wird daher kurz auf die Bindungswirkung der EMRK und des GG sowie der Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG eingegangen. Zudem werden die hieraus abzuleitenden Konsequenzen für die Gesetzesauslegung erörtert. Die EMRK und ihre Zusatzprotokolle sind völkerrechtliche Verträge19, die dem Schutz von Menschenrechten und Grundfreiheiten dienen. Der deutsche Gesetzgeber hat sie mit förmlichem Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG in das deutsche Recht inkorporiert.20 Die Konvention hat im deutschen Rechtssystem den Rang eines einfachen Bundesgesetzes21 und steht somit in der Normenhierarchie unter dem Verfassungsrecht22. Allerdings folgt aus Art. 1 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 59 Abs. 2 GG23 sowie der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG24, dass die EMRK bei Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte sowie der rechtsstaatlichen Grundsätze zu beachten ist und als Auslegungshilfe dient25. Die Gerichtsentscheidungen des EGMR, die den aktuellen Entwicklungsstand der Konvention widerspiegeln, sind im Gegensatz zu Entscheidungen des BVerfG durch die personellen, sachlichen und zeitlichen Grenzen des Streitgegenstandes begrenzt und entfalten somit keine dem § 31 BVerfGG vergleichbare Bindungswirkung26. In Rechtsstreitigkeiten mit deutscher Beteiligung folgt aus der Erteilung des Rechtsanwendungsbefehls der EMRK durch das Zustimmungsgesetz vom 07. August 1952 sowie aus Art. 20 Abs. 3, Art. 59 Abs. 2 GG, dass nicht nur die Bundesrepublik Deutschland als Völkerrechtssubjekt die Entscheidungen des EGMR zu beachten hat, sondern alle Träger
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Meyer-Ladewig, EMRK, Einleitung, Rn. 3; Frowein, in: EMRK, Einführung, Rn. 5; BVerfGE 111, 307 (316); 128, 326 (367). 20 Neubekanntmachung der EMRK vom 04.11.1950 (BGBl. 1952 II, S. 685) in BGBl. 2010 II, S. 1198. 21 St. Rspr.: BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (317, 326); 128, 326 (366); ausführlich hierzu Pfeffer, Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, S. 175 ff. 22 Vgl. BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (317); BVerfG NJW 1997, 2811 (2812). Es wurden unterschiedliche Versuche unternommen, einen Verfassungsrang der EMRK zu begründen. Siehe bspw. Hoffmeister, Der Staat 40 (2001), 349 (349 ff.); Bleckmann, EuGRZ 1994, 149 (152 ff.); Guradze, Anm. z. BVerfG, Beschl. v. 14.1.1960 – 2 BvR 243/60, NJW 1960, 1243 (1244). 23 BVerfGE 111, 307 (329); 128, 326 (369). 24 BVerfGE 111, 307 (317). 25 BVerfGE 111, 307 (317, 329); 128, 326 (366 f.); ähnlich BVerfGE 74, 358 (370); 83, 119 (128). 26 BVerfGE 111, 307 (320).
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1. Kapitel: Einleitung
der deutschen öffentlichen Gewalt27. Entscheidungen des EGMR, die gegen andere Konventionsstaaten ergehen, haben Orientierungsfunktion und müssen zum Anlass genommen werden, die staatliche Rechtsordnung auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK hin zu prüfen.28 Die deutschen Gerichte haben die EMRK und die Entscheidungen des EGMR im Rahmen der methodisch vertretbaren Gesetzesauslegung zu berücksichtigen29 und das nationale Recht im Einklang mit dem Völkerrecht auszulegen30. Die Grenze der völkerrechtsfreundlichen Auslegung ist aber dort zu ziehen, wo sie zur Einschränkung des grundrechtlich gewährten Schutzes führt31. Die im GG enthaltenen Verfassungsnormen entfalten gegenüber rangniedrigeren Gesetzen Geltungsvorrang. Die Entscheidungen des BVerfG als Hüter der Verfassung binden nach § 31 BVerfGG sowohl die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder als auch alle Gerichte und Behörden. Bei mehreren möglichen Gesetzesinterpretationen ist das Prinzip der verfassungskonformen Auslegung zu beachten. Um das Kompetenzgefüge zwischen Legislative und Judikative nicht auszuhöhlen, ist eine Auslegung gegen den erklärten Willen des Gesetzgebers sowie den Wortlaut des Gesetzes aber nicht zulässig32.
27 BVerfGE 111, 307 (322 f.); nur auf das Zustimmungsgesetz abstellend und beschränkend auf die deutschen Gerichte BVerfG NJW 1986, 1425 (1427). Ausführlich zur Verfassungsdogmatik Sauer, ZaöRV 2005, 35 (42 ff.). 28 BVerfGE 111, 307 (320); 128, 326 (368). Umstritten ist die dogmatische Verankerung dieser Orientierungsfunktion, die sich nach einer Auffassung aus Art. 1 EMRK ableitet, Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15 (18); Ress, EuGRZ 1996, 350 (350). 29 BVerfGE 111, 307 (317, 323); 128, 326 (367). 30 BVerfGE 111, 307 (324). 31 BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (317); 128, 326 (371). 32 St. Rspr.: BVerfGE 18, 97 (111); 71, 81 (105); 95, 64 (93); 101, 312 (329); BVerfG NJW 2007, 2977 (2980).
Kapitel 2
Das Recht auf angemessene Verfahrensdauer 2. Kapitel: Das Recht auf angemessene Verfahrensdauer
A. Normativer Anknüpfungspunkt A. Normativer Anknüpfungspunkt
I. Völkerrecht Der Anspruch auf Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit ist auf völkerrechtlicher Ebene in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verbürgt: Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen sind innerhalb einer angemessenen Frist zu verhandeln. Die Auslegung des Vertragstextes erfolgt autonom unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck der Menschenrechtskonvention1, sodass der tatsächliche Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK wesentlich weiter geht, als die deutsche Fassung des Normtextes vermuten lässt2. Als maßgebliches Kriterium stellt der Gerichtshof darauf ab, ob das Ergebnis des Gerichtsverfahrens für zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen unmittelbar entscheidend sein kann.3 So können unter den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK auch solche Streitigkeiten fallen, die nach deutschem Rechtsverständnis öffentlich-rechtlicher Natur sind, vorausgesetzt sie sind nicht dem Kerngebiet des öffentlichen Rechts zuzuordnen4. Die diesbezügliche Rechtsprechung des EGMR entzieht sich jedoch einer systematischen Stringenz und ist nur noch kasuistisch erfassbar. Art. 6 Abs. 1 EMRK ist zudem die Verpflichtung der Vertragsstaaten zu entnehmen, ihr Justizsystem so zu organisieren, dass es den in Art. 6 EMRK normierten Anforderungen gerecht wird.5 1 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 28.06.1978 – Nr. 6232/73 (König./.Deutschland), § 88, Hudoc; EGMR (Große Kammer) EuGRZ 1986, 299 (302, Rn. 34); Meyer-Ladewig, EMRK, Einleitung, Rn. 35 ff.; Frowein, in: EMRK, Einführung, Rn. 8 f.; Peters/Altwicker, EMRK, § 2 Rn. 41. 2 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 4; Guckelberger, DÖV 2012, 289 (290). Zu beachten ist, dass völkerrechtlich nur die englische und die französische Fassung der EMRK bindend sind, siehe Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 180 mit zahl. Nachw. 3 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 14 mit weit. Nachw. 4 Guckelberger, DÖV 2012, 289 (290); ausführlich zur Reichweite des Art. 6 Abs. 1 EMRK Brett, Verfahrensdauer, S. 220 ff.; Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 179 ff.; Stabel, Angemessene Dauer, S. 45 ff. 5 Vgl. nur EGMR, Urt. v. 06.05.1981 – Nr. 7759/77 (Buchholz./.Deutschland), § 51, Hudoc; EGMR, Urt. v. 17.12.1996 – Nr. 20940/92, u.a. (Duclos./.Frankreich), § 55, Hudoc;
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2. Kapitel: Das Recht auf angemessene Verfahrensdauer
Im Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens) leitet der EGMR das Recht auf angemessene Verfahrensdauer unmittelbar aus dieser Vorschrift ab.6 II. Verfassungsrecht Das GG enthält im Gegensatz zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und einigen Länderverfassungen7 keine ausdrückliche Bestimmung darüber, dass ein Gerichtsverfahren in angemessener Zeit abzuschließen ist. Dennoch ist in der Rechtswissenschaft heute unbestritten, dass der Anspruch auf Rechtsschutz innerhalb einer angemessenen Zeit Verfassungsrang hat. Als normativer Anknüpfungspunkt wird das Recht auf effektiven Rechtsschutz herangezogen.8 Prägend ist in diesem Zusammenhang die Feststellung des BVerfG in der sog. Rudolf HeßEntscheidung: „Wirksamer Rechtsschutz bedeutet zumal auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit.“9 Nach ständiger Rechtsprechung wird das Recht auf effektiven Rechtsschutz bei öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten aus Art. 19 Abs. 4 GG hergeleitet, der als rechtsstaatlicher Justizgewährungsanspruch nicht nur den Zugang zu unabhängigen Gerichten verbürgt, sondern auch wirksamen Rechtsschutz gewährleistet.10 In bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten, in denen Art. 19 Abs. 4 GG seinem Wortlaut nach keine Anwendung findet11, wird auf den im EGMR NJW 2001, 213 (213); NJW 2001, 211 (212); EGMR (Große Kammer) NJW 1999, 3545 (3548). 6 Der EGMR prüft in diesen Fällen, ob die Dauer des Gerichtsverfahrens die in Art. 8 Abs. 1 EMRK enthaltende Verfahrensgarantie verletzt, siehe EGMR, Urt. v. 06.11.2008 – Nr. 7548/04 (Bianchi./.Schweiz) = NJW-RR 2007, 1225 (1228 ff.); EGMR, Urt. v. 10.11.2005 – Nr. 40324/98 (Süss./.Deutschland) = NJW 2006, 2241 (2244 f.). Zum Verhältnis zwischen Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 8 Abs. 1 EMRK siehe Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 8 EMRK, Rn. 123 und Art. 6 EMRK, Rn. 258; Heilmann, Kindliches Zeitempfinden, S. 44 ff. 7 Vgl. Art. 78 Abs. 3 S. 1 SächsVerf und Art. 52 Abs. 4 S. 1 BbgVerf. 8 St. Rspr.: BVerfGE 40, 237 (257); 55, 349 (369); 60, 253 (269); 93, 1 (13). Zur h.M. in der Literatur siehe nur Kloepfer, JZ 1979, 209 (211); Hill, JZ 1981, 805 (807); Lerche, ZZP 78 (1965), 1 (17); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 111; Papier, in: HStR VIII 2010, § 176, Rn. 21. 9 BVerfGE 55, 349 (369). 10 St. Rspr.: BVerfGE 35, 263 (274); 40, 237 (257); 55, 349 (369); 60, 253 (269); 61, 82 (110 f.); 93, 1 (13); BVerfG NVwZ 2004, 334 (335). Ebenso ganz h.M. im Schrifttum: Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 229; Kloepfer, JZ 1979, 209 (212); Lerche, ZZP 78 (1965), 1 (19); Krebs, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 19 GG, Rn. 68; Kirchhof, in: FS Doehring 1989, S. 439 (449); Ziekow, DÖV 1998, 941 (941 f.); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 GG, Rn. 91; Huber, in: von Mangoldt/Klein/u.a., GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 379; Sachs, in: Sachs, GG, Art. 19 GG, Rn. 143. 11 Hummer, Justizgewährung und Justizverweigerung, S. 65; im Ergebnis auch Otto, Innerhalb angemessener Zeit, S. 20 f. Für die Anwendung des Art. 19 Abs. 4 GG auch in
B. Prüfungsmethodik der angemessenen Verfahrensdauer
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Rechtsstaatsprinzip verankerten allgemeinen Justizgewährungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) zurückgegriffen12. Ob für das Recht auf angemessene Verfahrensdauer noch weitere normative Anknüpfungspunkte in Betracht kommen13, wurde bereits erschöpfend in der Literatur erörtert und kann für die vorliegende Untersuchung offenbleiben14.
B. Prüfungsmethodik der angemessenen Verfahrensdauer B. Prüfungsmethodik der angemessenen Verfahrensdauer
Die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer kann vor dem BVerfG mit der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) und vor dem EGMR mit der Individualbeschwerde (Art. 34 EMRK) gerügt werden. Vor diesem Hintergrund haben sich beide Gerichte in zahlreichen Entscheidungen mit der Frage auseinandergesetzt, ob das aus Art. 19 Abs. 4 GG sowie Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG bzw. Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Gebot des zeitigen Rechtsschutzes im jeweiligen Einzelfall von den staatlichen Gerichten missachtet wurde. Da die aus § 198 Abs. 1 GVG resultierende Entschädigungspflicht an die Verletzung dieser Verfahrensgarantien anknüpft, mithin zentrales Tatbestandsmerkmal die unangemessene Verfahrensdauer eines Gerichtsverfahrens ist, ist bei Ausfüllung dieses unbestimmten Rechtsbegriffes auf die Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG zurückzugreifen.15 Im Folgenden werden daher die wesentlichen Grundzüge der Rechtsprechung sowie die Prüfungsmethodik des EGMR und des BVerfG betreffend das Recht auf angemessene Verfahrensdauer umrissen, auf die bei der Auslegung des § 198 GVG zurückzukommen sein wird. I. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Nach der ständigen Entscheidungspraxis des EGMR ist die Frage nach der Angemessenheit der Verfahrensdauer anhand der besonderen Umstände im Einzelfall zu beantworten. Insbesondere die Komplexität des Rechtsstreites, das bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten: Bötticher, ZZP 74 (1961), 314 (317); Pawlowski, JZ 1975, 197 (197). 12 BVerfGE 88, 118 (123 f.); 93, 99 (107); BVerfG NJW 1999, 2582 (2583); NJW 2000, 797 (797); NJW 2001, 214 (215); NJW 2004, 3320 (3320); NJW 2008, 503 (503); BVerfG NJW-RR 2010, 207 (208). 13 Diskutiert wird die Herleitung aus Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, dem Sozialstaatsprinzip, den materiellen Grundrechten. 14 Siehe Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 234 ff.; Jaeger, VBlBW 2004, 128 (128 ff.); Kloepfer, JZ 1979, 209 (209); Stöcker, DStZ 1989, 367 (372 ff.); Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer, S. 61 ff.; Schlette, Angemessene Frist, S. 23 ff.; Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 7 ff. 15 Nachweise siehe 3. Kap. Fn. 595.
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2. Kapitel: Das Recht auf angemessene Verfahrensdauer
Verhalten des Beschwerdeführers, der Behörden und Gerichte sowie die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer finden bei der Beurteilung der Angemessenheit Berücksichtigung.16 1. Prüfungsmethodik am Beispiel des Rechtsstreits König gegen Deutschland Vor allem in älteren Entscheidungen lässt sich bei der Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer durch den EGMR ein Grundmuster erkennen17, welches nachfolgend exemplarisch anhand der Angemessenheitsprüfung im Rechtsstreit König./.Deutschland18 dargestellt wird. In diesem Verfahren verurteilte der Gerichtshof die Bundesrepublik Deutschland erstmals wegen einer Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer zu einer Entschädigungszahlung. Der Individualbeschwerde lag folgender Sachverhalt zugrunde19: Der Arzt Dr. König hatte im Jahr 1960 eine Klinik eröffnet, die er selbst betrieb und leitete. Wegen Verstößen gegen Berufspflichten wurde 1967 die Erlaubnis zum Betrieb der Klinik zurückgenommen und 1971 seine Approbation als Arzt widerrufen. Seine hiergegen erhobenen Klagen waren seit November 1967 bzw. Oktober 1971 bei deutschen Gerichten anhängig. Im Juli 1973 legte er beim EGMR Individualbeschwerde ein und rügte die unangemessene Verfahrensdauer der Gerichtsverfahren. Zum Entscheidungszeitpunkt des EGMR im Jahr 1978 waren beide Klageverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen.
Der Gerichtshof stellt den Entscheidungsgründen eine Sachverhaltsdarstellung voran, in der er ausführlich den Verfahrensverlauf beider Klageverfahren vor den nationalen Gerichten schildert. Die Entscheidungsgründe beginnen mit der rechtlichen Bewertung, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar ist, was der Gerichtshof unter Hinweis auf den privatrechtlichen Charakter der streitgegenständlichen Ansprüche bejaht.20 Im Anschluss daran folgt die eigentliche Angemessenheitsprüfung, in der der Gerichtshof im ersten Prüfungsschritt den Beginn und den Abschluss der jeweiligen Gerichtsverfahren bestimmt, um so denjenigen Zeitraum zu ermitteln, der auf seine 16
St. Rspr.: EGMR, Urt. v. 06.05.1981 – Nr. 7759/77 (Buchholz./.Deutschland), § 49, Hudoc; EGMR (Große Kammer), Urt. v. 29.05.1986 – Nr. 9384/81 (Deumeland./.Deutschland), § 78, Hudoc; EGMR, Urt. v. 11.01.2007 – Nr. 20027/02 (Herbst./.Deutschland), § 75, Hudoc; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 250 f.; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 200. Zur Entwicklung der Rechtsprechung siehe Brett, Verfahrensdauer, S. 254 ff. 17 Zur Prüfungsmethodik des EGMR siehe auch Demko, HRRS 2005, 283 (284 ff.); Brett, Verfahrensdauer, S. 247; Gaede, wistra 2004, 166 (168 ff.); Kühne, StV 2001, 529 (529 ff.). 18 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 28.06.1978 – Nr. 6232/73 (König./.Deutschland), Hudoc. 19 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 28.06.1978 – Nr. 6232/73 (König./.Deutschland), § 28-70, Hudoc [Sachverhalt hier stark verkürzt]. 20 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 28.06.1978 – Nr. 6232/73 (König./.Deutschland), § 86-96, Hudoc.
B. Prüfungsmethodik der angemessenen Verfahrensdauer
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Angemessenheit hin zu untersuchen ist.21 Hierbei stellt er auf die jeweilige Gesamtverfahrensdauer der beiden Rechtsstreitigkeiten ab.22 Der zweite Prüfungsschritt wird mit der inzwischen stereotypen Formel eingeleitet, dass sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den besonderen Umständen des Einzelfalles richtet, wobei maßgeblich auf die bereits oben genannten Beurteilungskriterien abzustellen ist.23 Sodann wird anhand dieses Kriterienkataloges der konkrete Sachverhalt untersucht und für beide Klageverfahren herausgearbeitet, wie die Schwierigkeit des jeweiligen Rechtsstreites sowie das Verhalten des Beschwerdeführers im Verhältnis zur Verfahrensdauer zu bewerten sind.24 Ausführlich widmet sich der Gerichtshof unter dem Aspekt des Verhaltens der Gerichte der Analyse, inwiefern durch deren Prozessleitung Verzögerungen im Verfahrensverlauf eingetreten sind.25 Die Angemessenheitsprüfung endet mit einer Gesamtbewertung aller Umstände, in welcher der Gerichtshof zu dem Ergebnis kommt, dass die im Verfahrensverlauf eingetretenen Verzögerungen weder durch die Schwierigkeit der Ermittlungen noch durch das Verhalten des Beschwerdeführers gerechtfertigt sind und die Länge der Verfahren im
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EGMR (Große Kammer), Urt. v. 28.06.1978 – Nr. 6232/73 (König./.Deutschland), § 98, Hudoc: „In order to be able to arrive at a decision, the Court must first specify the period to be taken into account in the application of Article 6 para. 1 (art. 6-1).“. 22 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 28.06.1978 – Nr. 6232/73 (König./.Deutschland), § 105, 111, Hudoc. Siehe auch EGMR, Urt. v. 23.04.1987 – Nr. 9616/81 (Erkner u. Hofauer./.Österreich), § 65, Hudoc; EGMR, Urt. v. 21.02.1997 – Nr. 19632/92 (Guillemin./.Frankreich), § 36, Hudoc; EGMR, Urt. v. 28.06.1990 – Nr. 11761/85 (Obermeier./.Österreich), § 71 f., Hudoc; EGMR (Große Kammer), Urt. v. 29.05.1986 – Nr. 9384/81 (Deumeland./.Deutschland), § 90, Hudoc; EGMR, Urt. v. 06.05.1981 – Nr. 7759/77 (Buchholz./.Deutschland), § 63, Hudoc; EGMR, Urt. v. 24.06.2010 – Nr. 25756/09 (Perschke./.Deutschland), § 21, 27, Hudoc; EGMR, Urt. v. 30.03.2010 – Nr. 46682/07 (Sinkovec./.Deutschland), § 36, Hudoc. Siehe hierzu auch S. 134 ff. 23 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 28.06.1978 – Nr. 6232/73 (König./.Deutschland), § 99, Hudoc. Das Beurteilungskriterium der Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer wurde in diesem Rechtsstreit noch nicht explizit aufgeführt, fand aber dennoch in der Gesamtbewertung (§ 111) Berücksichtigung. Siehe bspw. EGMR, Urt. v. 05.10.2006 – Nr. 75204/01 (Klasen./.Deutschland), § 32, Hudoc: „The Court recalls that the reasonableness of the length of proceedings must be assessed in the light of the circumstances of the case and with reference to the following criteria: the complexity of the case, the conduct of the applicant and the relevant authorities and what was at stake for the applicant in the dispute […]“. Ähnlich auch EGMR, Urt. v. 27.07.2000 – Nr. 33379/96 (Klein./.Deutschland), § 36, Hudoc; EGMR, Urt. v. 25.02.2000 – Nr. 29357/95 (Gast u. Popp./.Deutschland), § 70, Hudoc. 24 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 28.06.1978 – Nr. 6232/73 (König./.Deutschland), § 102-103, 107-108, Hudoc. 25 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 28.06.1978 – Nr. 6232/73 (König./.Deutschland), § 104, 109-110, Hudoc.
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2. Kapitel: Das Recht auf angemessene Verfahrensdauer
Wesentlichen auf die Verfahrensführung der Gerichte zurückzuführen ist.26 Beide Klageverfahren wurden somit nicht in angemessener Frist entschieden. 2. Modifizierung der Prüfungsmethodik Inzwischen ist der EGMR insbesondere bei offensichtlich überlangen Gerichtsverfahren zunehmend dazu übergegangen, den Verfahrensverlauf nicht mehr en détail auf Verfahrensverzögerungen hin zu überprüfen27 und hat einzelne im Verfahrensverlauf festgestellte Verfahrensverzögerungen zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht, eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu bejahen28. Diese Vorgehensweise ist auch darauf zurückzuführen, dass die Mehrzahl aller Verfahren vor dem EGMR Individualbeschwerden wegen überlanger Verfahrensdauer betreffen29, die maßgeblich zu dessen Überlastungssituation beigetragen haben30. Zuweilen untersucht der Gerichtshof den Verfahrensverlauf der Ausgangsverfahren gar nicht mehr und nimmt lediglich eine Gesamtabwägung von allen maßgeblichen Umständen vor31. So heißt es bspw. im Rechtsstreit Obermeier./.Österreich: „In this instance those circumstances call for a global assessment so that the Court does not consider it necessary to consider these 26 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 28.06.1978 – Nr. 6232/73 (König./.Deutschland), § 105, 111, Hudoc. Eingeleitet wird die abschließende Gesamtbewertung in vielen Entscheidungen mit den Worten „in the light of all circumstances“. Siehe bspw. EGMR, Urt. v. 27.07.2000 – Nr. 33379/96 (Klein./.Deutschland), § 48, Hudoc; EGMR, Urt. v. 01.07.1997 – Nr. 20950/92 (Probstmeier./.Deutschland), § 68, Hudoc; EGMR, Urt. v. 31.07.2003 – Nr. 57249/00 (Herbolzheimer./.Deutschland), § 49, Hudoc. 27 Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 250; Peters/Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 54. Bspw. EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2393, Rn. 130 ff.); EGMR, Urt. v. 31.05.2001 – Nr. 3759/97 (Metzger./.Deutschland), § 41 ff., Hudoc; EGMR, Urt. v. 11.06.2009 – Nr. 71972/01 (Mianowicz./.Deutschland), § 46 ff., Hudoc. 28 Siehe bspw. EGMR, Urt. v. 11.06.2009 – Nr. 71972/01 (Mianowicz./.Deutschland), § 46 ff., Hudoc; EGMR, Urt. v. 02.10.2003 – Nr. 41444/98 (Hennig./.Österreich), § 38, Hudoc; EGMR, Urt. v. 25.01.2000 – Nr. 37439/97 (Agga./.Griechenland), § 26, Hudoc; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 70; Demko, HRRS 2005, 283 (292); Gaede, wistra 2004, 166 (172). 29 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 70 sprechen von „Entscheidungsökonomie“. 30 Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 237; Brett, Verfahrensdauer, S. 246; Peters/Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 54; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 68; Grabenwarter, ECHR, Art. 6 ECHR, Rn. 92. 31 Vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 70; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 250; Ress, in: FS Müller-Dietz 2001, S. 627 (637); Thienel, ÖJZ 1993, 473 (480); Meyer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 77. Einen Sonderfall stellen einige Entscheidungen gegen Italien dar, in denen eine Einzelfallprüfung gänzlich fehlt, siehe bspw. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 28.07.1999 – Nr. 34884/97 (Bottazzi./.Italien), § 22 f., Hudoc; EGMR, Urt. v. 28.02.2002 – Nr. 51022/99 (Palmieri./.Italien), § 11 f., Hudoc. Zu den Hintergründen Brett, Verfahrensdauer, S. 257 f.
B. Prüfungsmethodik der angemessenen Verfahrensdauer
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questions in detail.“32 Der Gerichtshof wird aber auch in diesen Entscheidungen nicht müde zu betonen, dass sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles richtet.33 3. Bewertung Im Rechtsstreit König./.Deutschland steht im Fokus der Angemessenheitsprüfung die Untersuchung, in welchem Umfang die Gerichte Verzögerungen im Verfahrensverlauf verursacht haben.34 Bei der anschließenden Gesamtbewertung von allen Faktoren wird im Ergebnis nur zusammengefasst, dass für die Länge der Verfahren vornehmlich die Gerichte verantwortlich sind und die Dauer nicht durch die Komplexität der Rechtsstreitigkeiten gerechtfertigt werden kann.35 Im Vordergrund dieser Angemessenheitsprüfung steht somit nicht die Abwägung der für den Rechtsstreit relevanten Beurteilungskriterien, sondern die Untersuchung des Verfahrensverlaufes nach dem Staat zurechenbaren Verzögerungen. Zu demselben Ergebnis kommt auch Böcker in seiner Analyse der Entscheidungspraxis des EGMR36, wobei er das Vorgehen des Gerichtshofes noch weiter abstrahiert, um es für die Prüfung von § 198 Abs. 1 GVG handhabbar zu machen. Demnach sei eine Verfahrensverzögerung zu bejahen, wenn das nationale Gericht eine Verfahrenshandlung zu einem früheren Zeitpunkt hätte vornehmen können.37 Dies sei anhand der Bedeutung der Rechtssache für den 32 EGMR, Urt. v. 28.06.1990 – Nr. 11761/85 (Obermeier./.Österreich), § 72, Hudoc; EGMR, Urt. v. 16.12.2003 – Nr. 42083/98 (Mianowski./.Polen), § 46, Hudoc; ähnlich EGMR, Urt. v. 19.02.1991 – Nr. 11557/85 (Motta./.Italien), § 17, Hudoc; EGMR, Ent. v. 25.04.2002 – Nr. 55899/00 (Lammersmann./.Deutschland), Hudoc. Ebenfalls auf die Untersuchung des Verfahrensverlaufes verzichtend: EGMR, Urt. v. 27.07.2000 – Nr. 33379/96 (Klein./.Deutschland), § 39 ff., Hudoc; EGMR, Urt. v. 08.01.2004 – Nr. 47169/99 (Voggenreiter./.Deutschland), § 49 f., Hudoc. 33 EGMR, Urt. v. 27.07.2000 – Nr. 33379/96 (Klein./.Deutschland), § 36, 48, Hudoc; EGMR, Urt. v. 08.01.2004 – Nr. 47169/99 (Voggenreiter./.Deutschland), § 48, Hudoc; EGMR (Große Kammer), Urt. v. 28.07.1999 – Nr. 34884/97 (Bottazzi./.Italien), § 23, Hudoc: „The Court has examined the facts of the present case […].“; EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2393, Rn. 128). 34 Ganz deutlich bspw. auch in EGMR (Große Kammer), Urt. v. 29.05.1986 – Nr. 9384/81 (Deumeland./.Deutschland), § 83 ff., Hudoc; EGMR, Urt. v. 06.05.1981 – Nr. 7759/77 (Buchholz./.Deutschland), § 60, Hudoc; für weitere Beispielsfälle siehe auch Böcker, DStR 2011, 2173 (2175, Fn. 22). Gaede, wistra 2004, 166 (170): Verfahrensführung als bedeutsamstes Kriterium. 35 Ähnlich auch Priebe, in: Grundrechtsschutz im nationalen und internationalen Recht 1983, S. 287 (293): Der Gerichtshof stellt in der Gesamtbewertung fest, wo die Hauptursache von Verzögerungen zu suchen ist. 36 Böcker, DStR 2011, 2173 (2174 f.). 37 Siehe hierzu und nachfolgend Böcker, DStR 2011, 2173 (2175); ihm folgend Gercke/Heinisch, NStZ 2012, 300 (301).
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2. Kapitel: Das Recht auf angemessene Verfahrensdauer
Verfahrensbeteiligten sowie der Schwierigkeit des Verfahrens zu beurteilen. Das Verhalten von Verfahrensbeteiligten und Dritten sei dagegen für die Bewertung maßgeblich, ob die Verzögerung dem Staat als Beklagten zugerechnet werden könne. Läge eine Verfahrensverzögerung vor, die dem Staat zugerechnet und nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt werden könne, folge daraus eine unangemessene Verfahrensdauer.38 Die Verfahrensverzögerung als maßgebliches Prüfungskriterium erscheint auf den ersten Blick wesentlich prägnanter und greifbarer als die stereotype Phrase, dass sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalls richtet. Doch die Etablierung der Verfahrensverzögerung als entscheidendes Beurteilungsmerkmal entbindet nicht von einer Abwägung.39 Denn für die Bestimmung, ob eine Verfahrenshandlung durch das Gericht schon früher hätte vorgenommen werden können, ist gerade eine Abwägungsentscheidung im Hinblick auf alle relevanten Umstände in der jeweiligen Verfahrenssituation unabdingbar. Demnach ist die Definition des Begriffes ‚Verfahrensverzögerung‘ nicht weiterführend. Zutreffend resümiert Ott daher, dass das Aufzeigen eines Prüfkriteriums keinen Erkenntnisgewinn für die Frage bringt, ob eine unangemessene Verfahrensdauer vorliegt oder nicht.40 Entgegen Böcker ist zudem eine Verfahrensverzögerung nicht bereits dann zu bejahen, wenn eine Verfahrenshandlung rein faktisch hätte früher vorgenommen werden können41, sondern nur wenn nach Abwägung aller Umstände in der jeweiligen Verfahrenssituation feststeht, dass das Gericht unter zeitlichen Gesichtspunkten eine Verfahrenshandlung zu einem früheren Zeitpunkt hätte vornehmen müssen. Positiv ist aber zu bewerten, dass Böcker herausarbeitet, in welchem funktionalen Zusammenhang die jeweiligen Kriterien zur Verfahrensdauer stehen. Festgehalten werden kann, dass der EGMR bei dieser Form der Angemessenheitsprüfung seinen Blick insbesondere auf die im Verfahrensverlauf eingetretenen Verzögerungen richtet und die sich daran anschließende Gesamtbewertung aller Kriterien als eine Zusammenfassung der herausgearbeiteten Erkenntnisse anmutet. Demgegenüber steht vor allem in neueren Entscheidungen eine Angemessenheitsprüfung, bei der vornehmlich eine Gesamtabwägung von allen relevanten Kriterien erfolgt und der konkrete Verfahrensverlauf nicht auf Verzögerungen untersucht wird. Diese Vorgehensweise lässt jedoch konkrete
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Zu widersprechen ist Böcker, dass das Vorliegen einer Verfahrensverzögerung bereits die Unangemessenheit der (gesamten) Verfahrensdauer begründen könne. Hierzu ausführlich S. 134 ff. 39 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 97. 40 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 98. 41 Vgl. auch BVerfG NJW 1999, 2582 (2583).
B. Prüfungsmethodik der angemessenen Verfahrensdauer
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Prüfungsmaßstäbe vermissen und ist dem Vorwurf der Konturlosigkeit und Beliebigkeit ausgesetzt. Gemeinsam ist diesen Prüfungsmethoden, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer anhand der Umstände im Einzelfall beurteilt wird. Dies ist, wie auch die Lehre aus der Rechtsgeschichte zeigt42, der einzig richtige Weg.43 Art. 6 Abs. 1 EMRK bezweckt den Schutz des Einzelnen vor überlangen Gerichtsverfahren44, sodass nur eine Einzelfallbetrachtung, die den Besonderheiten des jeweiligen Falles Rechnung trägt, diesem Ziel gerecht werden kann. Da die Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK allein die Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer voraussetzt, wird unabhängig von der jeweiligen Prüfungsmethodik in den Entscheidungen nicht thematisiert, um wie viel Zeit die angemessene Verfahrensdauer im streitgegenständlichen Gerichtsverfahren überschritten wurde.45 Nach welcher Vorgehensweise der Gerichtshof die Angemessenheit der Verfahrensdauer beurteilt, entzieht sich einer systematischen Stringenz.46 Zudem wendet der EGMR die dargestellten Prüfungsmethoden nicht sklavisch an, sodass eine trennscharfe Abgrenzung zuweilen nicht erfolgen kann. Vor diesem Hintergrund sollten diese nicht als fixe Prüfungsschemata verstanden werden. II. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Allgemeines Dem GG sind keine festen zeitlichen Vorgaben zu entnehmen, ab wann ein Gerichtsverfahren als unangemessen lang zu beurteilen ist.47 Nach dem BVerfG ist dies im Rahmen einer Abwägung nach den besonderen Umständen im Einzelfall zu bestimmen.48 Dabei orientiert sich das BVerfG inzwischen erkennbar an den Beurteilungsmaßstäben des EGMR49, sodass sich zwischen der Rechtsprechung beider Gerichte eine Harmonisierungstendenz abgezeichnet 42
Ebenso Breuer, Staatshaftung, S. 325 mit weit. Nachw. aus der Rspr. Siehe hierzu ausführlich S. 144 ff. 44 Ress, in: FS Müller-Dietz 2001, S. 627 (634); Gaede, wistra 2004, 166 (172). 45 Kritisch Brett, Verfahrensdauer, S. 277, da für Gerichte keine konkreten Maßstäbe erkennbar seien. 46 Ebenso Kühne, StV 2001, 529 (530). 47 BVerfG NJW 1997, 2811 (2812); NJW 1999, 2582 (2583); NJW 2008, 503 (503); BVerfG NVwZ-RR 2011, 625 (626); BVerfG NVwZ 2013, 789 (790). 48 BVerfGE 55, 349 (369); BVerfG NJW 1997, 2811 (2812); NJW 1999, 2582 (2583); NJW 2001, 214 (215); NJW 2004, 3320 (3320); NJW 2005, 739 (739); NJW 2008, 503 (503); BVerfG NVwZ 2004, 471 (471). 49 Wilfinger, Gebot effektiven Rechtsschutzes, S. 13; Brett, Verfahrensdauer, S. 258 f.; Breuer, Staatshaftung, S. 326. Anders noch BVerfGE 46, 17 (28 f.): offensichtliche Verfahrensverschleppung als Verstoß gegen das Effektivitätsgebot. 43
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2. Kapitel: Das Recht auf angemessene Verfahrensdauer
hat50, auch wenn das BVerfG vereinzelt betont hat, dass der Rechtsprechung des EGMR verbindliche Richtlinien zur Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer nicht entnommen werden können51. Insofern stellt das BVerfG bei Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer unter anderem auf folgende Kriterien ab: die Bedeutung des Rechtsstreits für die Verfahrensbeteiligten, die Auswirkungen des überlangen Verfahrens, die Natur des Verfahrens, die Komplexität des Falles und das Verhalten der Parteien, Gerichte und Dritter.52 2. Prüfungsmethodik Eine stringente Prüfungsmethode kann bei der Angemessenheitsprüfung des BVerfG nicht festgestellt werden.53 In älteren Entscheidungen judizierte das BVerfG zum einen, dass die streitgegenständliche Verfahrensdauer die durchschnittliche bzw. übliche Verfahrensdauer des betreffenden Gerichtszweiges nicht wesentlich überstiegen habe und daher besondere Umstände vorliegen müssten, damit eine unangemessene Verfahrensdauer angenommen werden könne.54 Zum anderen erklärte das Gericht die Zeitspanne eines Rechtsstreits, in dem nach über 14-jähriger Verfahrensdauer eine Entscheidung in erster Instanz noch immer nicht ergangen war, mit dem Hinweis auf die außergewöhnlich lange Verfahrensdauer für unangemessen.55 Demgegenüber finden sich Judikate, in denen das BVerfG die Überlänge der Verfahrensdauer im Wesentlichen auf dem Staat zurechenbaren Verzögerungen stützte, wobei eine Gesamtabwägung der Beurteilungskriterien erkennbar nicht im Vordergrund stand.56 Insbesondere in jüngeren Entscheidungen wurde diese aber zur Grundlage der Angemessenheitsprüfung gemacht.57 50
Breuer, Staatshaftung, S. 327; Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 241. BVerfG NJW 1997, 2811 (2812); BVerfG NJW-RR 2010, 207 (208). 52 Siehe BVerfG NJW 1984, 967 (967); NJW 1992, 2472 (2473); NJW 1993, 3254 (3255); NJW 1997, 2811 (2812); NJW 1999, 2582 (2583); NJW 2001, 214 (215); NJW 2003, 2897 (2897); NJW 2004, 3320 (3320); NJW 2005, 3488 (3489); BVerfG NVwZ 2004, 471 (471). 53 A.A. Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer, S. 79. 54 BVerfG NJW 1992, 1498 (1498); BVerfG NVwZ 2004, 471 (471); in diese Richtung bereits schon BVerfGE 55, 349 (369). Zu demselben Ergebnis kommen auch: Ziekow, DÖV 1998, 941 (942); Jaeger, VBlBW 2004, 128 (131); Klose, NJ 2004, 241 (242); Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 91. 55 BVerfG NJW 2005, 739 (739). 56 BVerfG NJW 1984, 967 (967), wobei in diesem Fall die Fachgerichte bereits die Unangemessenheit der Verfahrensdauer festgestellt hatten. BVerfG NJW 1992, 2472 (2473); NJW 1993, 3254 (3255); BVerfG, Beschl. v. 07.06.2011 – 1 BvR 194/11, Rn. 28 ff., juris. 57 BVerfG NJW 1997, 2811 (2812); NJW 2000, 797 (797); NJW 2003, 2897 (2897): Die Angemessenheit der Verfahrensdauer „bestimmt sich nach den besonderen Umständen des Einzelfalls […], die in einer umfassenden Gesamtwürdigung gegeneinander abgewogen werden müssen […].“. BVerfG, Beschl. v. 17.11.2011 – 1 BvR 3155/09, Rn. 9 ff., juris; BVerfG, Beschl. v. 27.09.2011 – 1 BvR 232/11, Rn. 16 ff., juris; BVerfG, Beschl. v. 51
C. Ergebnis
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Daneben knüpfte das BVerfG die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer auch an die Feststellung an, dass das Ausgangsgericht seiner verfassungsrechtlichen Pflicht, sich mit zunehmender Verfahrensdauer nachhaltig um die Beschleunigung des Rechtsstreits zu bemühen, nicht hinreichend nachgekommen sei.58 Hierbei fällt auch die unterschiedliche Prüfungsdichte des konkreten Verfahrensverlaufes durch das Verfassungsgericht auf. 3. Bewertung Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechungspraxis ist es zu kurz gegriffen, wenn konstatiert wird, dass das BVerfG bei der Angemessenheitsprüfung auf die durchschnittliche bzw. übliche Verfahrensdauer des jeweiligen Gerichtszweiges abstelle. Vielmehr ist eine konsistente Prüfungsmethodik nicht erkennbar. Trotz dieser unterschiedlichen Vorgehensweisen führt das BVerfG aber in seinen Entscheidungen aus, dass es bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer auf die Umstände des Einzelfalles ankomme und orientiert sich hierbei merkbar am Kriterienkatalog des EGMR. Um welche Zeitspanne die angemessene Verfahrensdauer überschritten wurde, stellt das Verfassungsgericht ebenso wie der EGMR nicht fest.
C. Ergebnis C. Ergebnis
Der Anspruch auf Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit ist im Völkerwie im Verfassungsrecht normativ verankert. Sowohl der EGMR als auch das BVerfG beurteilen die unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens nach den Umständen des Einzelfalles, wobei sie unter anderem Kriterien wie die Komplexität des Rechtsstreits, das Verhalten der Verfahrensbeteiligten, den Verfahrensgegenstand sowie die Bedeutung des Verfahrens berücksichtigen. Eine einheitliche Vorgehensweise des EGMR und des BVerfG, wie die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer zu prüfen ist, existiert nicht. Aus der normativen Verbürgung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer können noch keine Rückschlüsse auf dessen Justitiabilität gezogen werden. Dieser Thematik widmet sich das folgende Kapitel und geht der Frage nach, was begrifflich unter Rechtsschutz zu verstehen ist, inwieweit ein 02.12.2011 – 1 BvR 314/11, Rn. 8 ff., juris. So auch die Einschätzung von Böcker, DStR 2011, 2173 (2174, Fn. 10). 58 BVerfG NJW 2005, 739 (739). Hierauf ebenfalls abstellend BVerfG NJW 2001, 214 (215); NJW 2004, 3320 (3320); NJW 2008, 503 (504); BVerfG NJW-RR 2010, 207 (208); BVerfG, Beschl. v. 02.12.2011 – 1 BvR 314/11, Rn. 10, juris; BVerfG, Beschl. v. 05.10.2010 – 1 BvR 772/10, Rn. 12, 15 ff., juris; BVerfG, Beschl. v. 23.06.2010 – 1 BvR 324/10, Rn. 8 ff., juris.
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2. Kapitel: Das Recht auf angemessene Verfahrensdauer
Anspruch auf Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren überhaupt besteht, welchen Anforderungen dieser gerecht werden muss und welche Rechtsschutzmöglichkeiten vor und nach Inkrafttreten des ÜGRG existieren.
Kapitel 3
Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren 3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
A. Einführung: Primär- und Sekundärrechtsschutz A. Einführung: Primär- und Sekundärrechtsschutz
Rechtsschutzinstrumente gegen staatliches Handeln können einerseits darauf gerichtet sein, den rechtswidrigen Zustand aufzuheben und zu beseitigen (sog. Primärrechtsschutz), andererseits können sie darauf abzielen, den Schaden, der durch den unrechtmäßigen staatlichen Akt eingetreten ist, zu kompensieren (sog. Sekundärrechtsschutz).1 Beim Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren ergeben sich aus der zeitlichen Dimension des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer folgende Besonderheiten: Primärrechtsschutz in der Weise, dass der rechtswidrige staatliche Zustand durch Rechtsschutzinstrumente aufgehoben und beseitigt wird2, kann es de facto nicht geben. Denn mit dem endgültigen Eintritt des rechtswidrigen Zustandes, d.h. dem Überschreiten der angemessenen Verfahrensdauer, kann dieser nicht mehr behoben werden; die Zeit ist unwiederbringlich verloren3. Zum einen ist die Wiederholung des Verfahrens in angemessener Zeit offensichtlich kein geeignetes Mittel, diesen rechtswidrigen Zustand zu beheben, denn hierdurch wird die Entscheidung des Rechtsstreites noch weiter hinausgezögert.4 Zum anderen können auch Beschleunigungsrechtsbehelfe den rechtswidrigen Zustand nicht beseitigen, da eine unangemessene Verfahrensdauer erst ab dem Zeitpunkt vorliegen kann, ab dem Verfahrensverzögerungen durch beschleunigende Maßnahmen nicht mehr aufzuholen sind. Auch die Feststellungsklage als Instrument des Primärrechtsschutzes wird in diesem Zusammenhang nur in besonderen Fallkonstellationen den Anforderungen an
1 Axer, DVBl 2001, 1322 (1322); vgl. auch Huber, in: von Mangoldt/Klein/u.a., GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 455 ff. 2 Vgl. Höfling, VVDStRL 61 (2002), 260 (266): Primärrechtsschutz als Rechtsverletzungsreaktionsrecht. 3 Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2007, 177 (178); Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451 (458); Jaeger, VBlBW 2004, 128 (131); Brüning, NJW 2007, 1094 (1095); Schlette, Angemessene Frist, S. 40, 59. 4 BVerfG NJW 2005, 2169 (2170); Jaeger, VBlBW 2004, 128 (131); Schlette, Angemessene Frist, S. 40, 59.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
einen effektiven Rechtsschutz gerecht.5 Im Ergebnis scheidet somit eine Rechtmäßigkeitsrestitution aus. „Primär“-Rechtsschutz kann bei überlangen Gerichtsverfahren nur gewährt werden, wenn die Rechtsschutzinstrumente präventiv ausgestaltet sind, also nicht darauf gerichtet sind, einen rechtswidrigen Zustand aufzuheben und zu beseitigen, sondern einen solchen zu verhindern.6 Es soll also eine Beschleunigung des verzögerten Gerichtsverfahrens bewirkt und damit eine unangemessene Verfahrensdauer vermieden werden. Dieses Rechtsschutzmodell liegt beispielsweise dem österreichischen Rechtssystem zugrunde: Ist das Gericht mit einer Verfahrenshandlung säumig, kann die Partei des Gerichtsverfahrens nach § 91 GOG7 einen Fristsetzungsantrag stellen, der darauf gerichtet ist, dass der übergeordnete Gerichtshof dem säumigen Gericht eine angemessene Frist zur Vornahme der Verfahrenshandlung setzt. Sekundärrechtsschutz ist kompensatorischer Natur, sodass den am Gerichtsverfahren Beteiligten ein Ausgleich für solche Nachteile gewährt wird, die durch die überlange Verfahrensdauer eingetreten sind. In Italien wurde bspw. im Rahmen des sog. Pinto-Gesetzes8 eine schadensersatzrechtliche Norm geschaffen, nach der die Verfahrensbeteiligten eine angemessene Entschädigung für solche Schäden verlangen können. Selbstredend können diese beiden Rechtsschutzmodelle nebeneinander bestehen bzw. einzelne Rechtsschutzelemente miteinander kombiniert werden (sog. Kombinationsmodelle). Dies trifft bspw. auf das spanische Recht zu, welches mit der sog. amparo ein Instrument bereithält, mit dem der Verfahrensbeteiligte das Verfassungsgericht während des laufenden Ausgangsverfahrens anrufen kann, um dessen Beschleunigung zu erreichen. Daneben kann der Betroffene den durch eine unangemessene Verfahrensdauer eingetretenen Schaden vom Staat ersetzt verlangen.9
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Breuer, Staatshaftung, S. 152, 367. Siehe Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 8; Bäcker, in: Grundrechte und Grundfreiheiten 2012, S. 339 (380): Der Anspruch auf angemessene Verfahrensdauer wirkt als Leistungsrecht nur in die Zukunft. 7 Gerichtsorganisationsgesetz i.d.F. von RGBl. Nr. 217/1896, zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 343/1989. 8 Legge Pinto, Nr. 89 vom 24. März 2001. Dieses Gesetz wurde 2012 umfangreich geändert. Siehe hierzu Berth, Rechtsschutz gegen verzögerte Gerichtsverfahren, S. 281 ff. 9 Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 38 ff. 6
B. Normativer Anknüpfungspunkt und Anforderungen an das Rechtsschutzsystem 21
B. Normativer Anknüpfungspunkt und Anforderungen an das Rechtsschutzsystem B. Normativer Anknüpfungspunkt und Anforderungen an das Rechtsschutzsystem
I. Völkerrechtliche Grundlagen 1. Normativer Anknüpfungspunkt In der EMRK ist das Recht auf wirksame Beschwerde ausdrücklich in Art. 13 EMRK normiert. Danach muss jeder Person eine innerstaatliche wirksame Beschwerde gegen die Verletzung von Rechten, die durch die Konvention gewährt werden, zur Verfügung stehen. Diese verfahrensrechtliche Garantie spiegelt den Grundsatz der Subsidiarität wider, nach dem die Kontrolle über die Einhaltung der EMRK grundsätzlich den Unterzeichnerstaaten der Konvention obliegt.10 Auch Art. 35 Abs. 1 EMRK, der in einem engen Verhältnis zu Art. 13 EMRK steht, ist Ausdruck dieses Subsidiaritätsverhältnisses und macht die Erschöpfung aller wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelfe vor Einlegung einer Individualbeschwerde beim EGMR erforderlich. Entgegen seinem Wortlaut setzt Art. 13 EMRK nicht voraus, dass ein Konventionsrecht tatsächlich verletzt worden ist. Verbürgt ist das Recht, überprüfen zu lassen, ob überhaupt eine Konventionsverletzung vorliegt.11 Auch der Begriff der Beschwerde ist in der deutschen Übersetzung missverständlich.12 Erforderlich ist vielmehr, dass grundsätzlich ein Rechtsbehelf zur Verfügung steht, der entweder die drohende Verletzung des Konventionsrechts verhindert oder den eingetretenen Konventionsverstoß zu beenden vermag (Primärrechtsschutz) bzw. für diesen eine angemessene Wiedergutmachung gewährt (Sekundärrechtsschutz).13 Bezüglich des Rechtsschutzes bei überlangen Gerichtsverfahren hat Art. 13 EMRK seine eigentliche Bedeutung erst durch die Rechtsprechungswende des EGMR im Jahre 2000 im Rechtsstreit Kudła./.Polen14 erlangt. Während der EGMR bis zum Jahr 2000 bei überlangen Verfahren sich auf die Prüfung des Art. 6 Abs. 1 EMRK als lex specialis beschränkte15, definierte der Gerichtshof 10
Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 EMRK, Rn. 1, 11. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 EMRK, Rn. 4. 12 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 EMRK, Rn. 2. 13 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 EMRK, Rn. 11. Siehe bspw. EGMR (Große Kammer), Ent. v. 11.09.2002 – Nr. 57220/00 (Mifsud./.Frankreich), § 17, Hudoc; EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2390, Rn. 99); EGMR (Große Kammer) NJW 2007, 1259 (1263, Rn. 183 ff.). 14 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 26.10.2000 – Nr. 30210/96 (Kudła./.Polen) = NJW 2001, 2694 (2694 ff.). 15 Siehe bspw. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 23.09.1982 – Nr. 7151/75 u. Nr. 7152/75 (Sporrong u. Lönnroth./.Schweden), § 88, Hudoc; EGMR, Urt. v. 16.12.1992 – Nr. 12964/87 (Geouffre de la Pradelle./.Frankreich), § 36 ff., Hudoc; EGMR, Urt. v. 26.02.1993 – Nr. 12444/86 (Pizetti./.Italien), § 22, Hudoc; EGMR (Große Kammer), Urt. v. 26.10.2000 – Nr. 11
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
in diesem Rechtsstreit das Verhältnis zwischen Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK mit weitreichenden Folgen neu. Der Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass Art. 13 EMRK nicht von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK absorbiert werde und demnach eigenständige Bedeutung habe.16 Er begründete seinen Rechtsprechungswandel insbesondere mit der besonderen Bedeutung des Grundsatzes der Subsidiarität.17 Seit dieser Entscheidung überprüft der EGMR also einerseits, ob der Rechtsstreit innerhalb einer angemessenen Frist verhandelt worden ist, und andererseits ob im beklagten Staat effektive Rechtsschutzinstrumente gegen überlange Gerichtsverfahren vorhanden sind. 2. Anforderungen an das Rechtsschutzsystem bei überlanger Verfahrensdauer Die Beurteilung des EGMR, ob ein Rechtsschutzsystem effektiv i.S.v. Art. 13 EMRK ist, hängt maßgeblich davon ab, wie das Rechtsschutzmodell konkret ausgestaltet ist und in der Praxis tatsächlich umgesetzt wird.18 In diesem Zusammenhang betont der Gerichtshof in seinen Entscheidungen, dass die einzelnen Unterzeichnerstaaten der EMRK einen gewissen Beurteilungsspielraum bei Ausgestaltung der Rechtsbehelfe haben.19 So kann auch erst eine Zusammenschau der zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe den Effektivitätsanforderungen des Art. 13 EMRK gerecht werden.20 In der Rechtsprechung des EGMR haben sich gewisse Kriterien herauskristallisiert, die maßgeblich für die Beurteilung der Effektivität der Rechtsbehelfe sind und nachfolgend dargestellt werden.21
30210/96 (Kudła./.Polen), § 147, Hudoc; Gundel, DVBl 2004, 17 (18, Fn. 10) hebt einzelne Abweichungen von dieser Rechtsprechung hervor. 16 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 26.10.2000 – Nr. 30210/96 (Kudła./.Polen), § 147 f., Hudoc. 17 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 26.10.2000 – Nr. 30210/96 (Kudła./.Polen), § 152, Hudoc. 18 Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 73, 77. 19 Siehe nur EGMR (Große Kammer) NJW 2001, 2694 (2700, Rn. 54); EGMR (Große Kammer) NJW 2007, 1259 (1263, Rn. 189); EGMR NVwZ 2013, 47 (48, Rn. 41); MeyerLadewig, EMRK, Art. 13 EMRK, Rn. 11. 20 EGMR (Große Kammer) NJW 2001, 2694 (2700, Rn. 157); EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2390, Rn. 98); krit. Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 13 EMRK, Rn. 4, 9. 21 Siehe hierzu ausführlich Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655.
B. Normativer Anknüpfungspunkt und Anforderungen an das Rechtsschutzsystem 23
a. Verhältnis zwischen präventiven und kompensatorischen Rechtsbehelfen Bezüglich des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer hat der EGMR hervorgehoben, dass die Verfahrensbeschleunigung das beste Mittel gegen überlange Gerichtsverfahren ist.22 Können präventive Rechtsschutzinstrumente eine überlange Verfahrensdauer jedoch nicht verhindern, muss das nationale Recht zwingend kompensatorische Rechtsbehelfe vorsehen.23 Im Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK kann aber auch ein bloß kompensatorischer Rechtsbehelf, der während eines laufenden Ausgangsverfahrens eingelegt werden kann, den Effektivitätsanforderungen des Art. 13 EMRK genügen, wie Beispiele aus Frankreich24 und Italien25 zeigen. Somit erfordert ein effektives Rechtsschutzsystem i.S.v. Art. 13 EMRK diesbezüglich nicht das Vorhandensein präventiver Rechtsbehelfe.26 Etwas anderes gilt nach neuester Rechtsprechung des EGMR jedoch dann, wenn sich die Verfahrensdauer eines Gerichtsverfahrens maßgeblich auf das Familienleben auswirken kann, was namentlich bei Sorgerechtsstreitigkeiten und Umgangsrechtsverfahren der Fall ist. Diesen Rechtsprechungswandel hat der Gerichtshof erstmals in Verfahren gegen Tschechien vollzogen. In der Individualbeschwerde Macready./.Tschechien, entschieden am 22. April 2010, ging es um Verzögerungen in einem Verfahren betreffend die Rückführung eines Kindes.27 Der Individualbeschwerde Bergmann./.Tschechien, entschieden am 27. Oktober 2011, lag der Sachverhalt zugrunde, dass eine Mutter dem Beschwerdeführer den Umgang mit dem gemeinsamen Kind über Jahre verweigerte. Das daraufhin geführte Umgangsrechtsverfahren dauerte so lange, dass das Kind in der Zwischenzeit die emotionale Bindung zu seinem Vater verloren 22 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 29.03.2006 – Nr. 64886/01 (Cocchiarella./.Italien), § 74, Hudoc; EGMR (Große Kammer), Urt. v. 29.03.2006 – Nr. 64897/01 (Ernestina Zullo./.Italien), § 76, Hudoc; EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2390, Rn. 100). 23 EGMR (Große Kammer) NJW 2007, 1259 (1263, Rn. 185); Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451 (464); Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 27. 24 EGMR (Große Kammer), Ent. v. 11.09.2002 – Nr. 57220/00 (Mifsud./.Frankreich), § 17, Hudoc. 25 EGMR, Ent. v. 06.09.2001 – Nr. 69789/01 (Brusco./.Italien), Hudoc; EGMR (Große Kammer) NJW 2007, 1259 (1263, Rn. 187). Seit der Änderung des „Pinto-Gesetzes“ im Jahr 2012 kann ein Entschädigungsverfahren erst nach Abschluss des Ausgangsverfahrens eingeleitet werden (Berth, Rechtsschutz gegen verzögerte Gerichtsverfahren, S. 285). Es bleibt abzuwarten, inwieweit der EGMR diese Einschränkung des Rechtsschutzes akzeptieren wird. 26 Kritisch: Gundel, DVBl 2004, 17 (26); Stabel, Angemessene Dauer, S. 113; Richter, in: Dörr/Marauhn/u.a., EMRK/GG, Kap. 20, Rn. 55; Kreutzer, Säumnis, S. 191; Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 103 ff. So auch bereits vor der Mifsud-Entscheidung des EGMR: Matscher, in: FS Fasching 1988, S. 351 (372, Fn. 113); Schoibl, EuGRZ 1989, 535 (536). 27 EGMR, Urt. v. 22.04.2010 – Nr. 4824/06 u. Nr. 15512/08 (Macready./.Tschechien), § 12 ff., Hudoc.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
hatte.28 In derartigen Fällen kann eine überlange Verfahrensdauer also unumkehrbare Nachteile für familiäre Beziehungen zur Folge haben und allein der Zeitablauf zu einer Entscheidung in der Sache führen.29 Der EGMR kam in seinen Entscheidungen zu dem Ergebnis, dass kompensatorischer Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren allein nicht ausreiche, wenn sich die Dauer des Verfahrens maßgeblich auf das Familienleben auswirken könne. Dieses gelte es besonders zu schützen, sodass in den Rechtsordnungen präventive Rechtsbehelfe existieren müssten, mit denen das Gerichtsverfahren aktiv beschleunigt werden könne. Komme ein Nationalstaat dieser Verpflichtung nicht nach, sei Art. 13 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK verletzt.30 Der EGMR hat damit die Wahlfreiheit zwischen präventiven und kompensatorischen Rechtsbehelfen bei Untätigkeit der Gerichte bezüglich solcher Rechtsstreitigkeiten eingeschränkt, die sich auf das Privat- oder Familienleben auswirken können. Er hat somit erstmalig einen strikten Vorrang von Primärgegenüber Sekundärrechtsschutz etabliert. Diese Entscheidungen haben gem. Art. 46 EMRK zunächst nur die Tschechische Republik als die am Rechtsstreit beteiligte Partei gebunden. Gegenüber der Bundesrepublik Deutschland bestätigte der Gerichtshof diesen Grundsatz nunmehr in der Entscheidung Kuppinger./.Deutschland31. b. Die Ausgestaltung präventiver und kompensatorischer Rechtsbehelfe – Grundprinzipien Aus der Entscheidungspraxis des EGMR können für die Ausgestaltung präventiver und kompensatorischer Rechtsbehelfe gemeinsame Grundprinzipien abgeleitet werden, die es bei Schaffung der Rechtsschutzinstrumente zu beachten gilt und auf die im Folgenden eingegangen wird. Die Rechtsbehelfe müssen weder speziell für das Problem überlanger Verfahren konzipiert sein32 noch ist es erforderlich, dass sie im geschriebenen Recht normiert sind, solange sie von den staatlichen Stellen anerkannt und 28
EGMR, Urt. v. 27.10.2011 – Nr. 8857/08 (Bergmann./.Tschechien), Hudoc. Eindrücklich Heilmann, Kindliches Zeitempfinden, S. 24 ff. 30 EGMR, Urt. v. 22.04.2010 – Nr. 4824/06 u. Nr. 15512/08 (Macready./.Tschechien), § 47 ff., Hudoc; EGMR, Urt. v. 27.10.2011 – Nr. 8857/08 (Bergmann./.Tschechien), § 45 f., Hudoc; EGMR, Urt. v. 04.09.2014 – Nr. 68919/10 (Peter./.Deutschland), § 55, Hudoc; Rixe, Anm. z. EGMR, Urt. v. 27.10.2011 – Nr. 8857/08 (Bergmann./.Tschechien), FamRZ 2012, 1124 (1125). 31 EGMR, Urt. v. 15.01.2015 – Nr. 62198/11 (Kuppinger./.Deutschland), § 136 ff., Hudoc. Diese Entscheidungen werden als Zeichen einer Korrektur der für verfehlt gehaltenen Rechtsprechung des EGMR, der sekundäre Rechtsbehelfe auch während eines anhängigen Rechtsstreites als effektiv beurteilt, gesehen. So Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 105 ff. 32 Milej, OstEurR 2006, 337 (340). 29
B. Normativer Anknüpfungspunkt und Anforderungen an das Rechtsschutzsystem 25
hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Rechtsfolgen klar sind33. Bei Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer haben sich die nationalen Stellen an der Einzelfallbetrachtung des EGMR zu orientieren.34 Die Rechtsschutzinstrumente dürfen nicht verschuldensabhängig ausgestaltet sein. Es ist aber erlaubt, deren Geltendmachung gewissen Einschränkungen zu unterwerfen.35 Ihre Erhebung kann demnach zeitlich beschränkt oder von Kosten, die nicht abschreckend wirken dürfen, abhängig gemacht werden. Eine Beschwerde gegen die im Rechtsbehelfsverfahren ablehnende Entscheidung ist nicht erforderlich, wenn diese von einer unabhängigen und unparteilichen Instanz getroffen wurde36. Eine abschließende, unanfechtbare Entscheidung in Verzögerungsangelegenheiten durch den iudex a quo wird dieser Effektivitätsanforderung nicht gerecht37. Dauert das Rechtsschutzverfahren wiederum überlang, wird die Effektivität des Rechtsbehelfs in Abrede gestellt.38 c. Präventive Rechtsbehelfe Die Erhebung eines präventiven Rechtsbehelfs kommt nur in Betracht, wenn das verzögerte Gerichtsverfahren noch andauert und nicht bereits abgeschlossen ist. Effektiv i.S.v. Art. 13 EMRK ist dieser, wenn er geeignet ist, das Verfahren zu beschleunigen und die Konventionsverletzung somit zu verhindern.39 Ist eine unangemessene Verfahrensdauer bereits eingetreten, gewährt ein beschleunigender Rechtsbehelf hingegen keinen effektiven Rechtsschutz mehr.40 Die konkreten Anforderungen an einen solchen Rechtsbehelf sind davon abhängig, ob und in welchem Maße daneben noch weitere Rechtsschutzmöglichkeiten gegen überlange Gerichtsverfahren bestehen.41 Hat der Verfahrensbeteiligte aber keinen Anspruch darauf, dass über sein auf Beschleunigung 33
Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 5 f.; vgl. auch EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2392 Rn. 111). 34 Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 73; Matusche-Beckmann/Kumpf, ZZP 124 (2011), 173 (181). 35 Siehe hierzu und zum Folgenden Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 73 ff. 36 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 EMRK, Rn. 20. 37 Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 85; vgl. Berth, Rechtsschutz gegen verzögerte Gerichtsverfahren, S. 72. A.A. Reich, Beschleunigungspflichten, S. 277 mit Verweis auf die Entscheidung EGMR, Urt. v. 24.02.2005 – Nr. 63214/00 (Ohlen./.Dänemark). In dieser Entscheidung beurteilte der EGMR aber die Effektivität eines kompensatorischen Rechtsbehelfs bei überlangen Strafverfahren, dem nicht vom iudex a quo abgeholfen wird. 38 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 29.03.2006 – Nr. 64897/01 (Ernestina Zullo./.Italien), § 88, 91, Hudoc; EGMR, Urt. v. 06.10.2005 – Nr. 23032/02 (Lukenda./.Slowenien), § 68, Hudoc. 39 EGMR (Große Kammer), Ent. v. 11.09.2002 – Nr. 57220/00 (Mifsud./.Frankreich), § 17, Hudoc; EGMR, Urt. v. 06.10.2005 – Nr. 23032/02 (Lukenda./.Slowenien), § 68, Hudoc; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 EMRK, Rn. 28. 40 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 EMRK, Rn. 28. 41 Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 64.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
gerichtetes Ersuchen entschieden wird, sondern steht es vielmehr im Ermessen der entscheidenden Stelle, überhaupt tätig zu werden, wird die Effektivität des Rechtsschutzinstruments regelmäßig vom EGMR verneint.42 Gleiches gilt, wenn das zur Entscheidung berufene Organ zwar die Vornahme einer verfahrensbeschleunigenden Maßnahme anordnen kann, dieser Anweisung aber keine Bindungswirkung zukommt. Ist es demnach nicht möglich, die Umsetzung von Maßnahmen zu überwachen und im Falle ihrer Nichtbeachtung Sanktionen zu verhängen, muss die Befolgung der Anweisung zumindest in der Praxis tatsächlich erfolgen.43 d. Kompensatorische Rechtsbehelfe Ein kompensatorischer Rechtsbehelf setzt die Anerkennung der Konventionsverletzung durch die staatlichen Behörden voraus.44 Zudem hängt dessen Effektivität maßgeblich von dem Umfang und der Höhe der Ausgleichszahlung ab.45 Insofern muss berücksichtigt werden, dass der EGMR bei einer Konventionsverletzung im Rahmen von Art. 41 EMRK Ersatz für materielle und immaterielle Schäden zuspricht. Der Ersatz von Nichtvermögensschäden („nonpecuniary damages“), die durch die Überlänge der Verfahrensdauer eingetreten sind, muss also möglich sein.46 Die Höhe einer Ausgleichszahlung hat sich dabei regelmäßig an dem case-law des EGMR zu orientieren47, kann aber auch darunter liegen48. Möglich ist auch eine andere Form der Kompensation als in Geld.49 Grundsätzlich können die Regelungen in die Rechtstradition des Staates eingebettet werden.50 Demnach ist es bspw. zulässig, dem Beschwerdeführer die Beweislast bezüglich des Vorliegens und der Höhe etwaiger Schäden aufzuerlegen.51 II. Verfassungsrechtliche Grundlagen Eine Rechtsschutzgarantie bei Verletzung des Anspruchs auf angemessene Verfahrensdauer ist im GG nicht expressis verbis normiert. Ebenso lassen sich aus der Rechtsprechung des BVerfG nur rudimentär Schlussfolgerungen 42
EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2392, Rn. 109 mit weit. Nachw.). Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 66 f., 76 f. 44 EGMR (Große Kammer) NJW 2007, 1259 (1264, Rn. 193). 45 Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 66. 46 EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2392, Rn. 113); Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 EMRK, Rn. 29; Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 61. 47 Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 62; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 EMRK, Rn. 32. 48 EGMR (Große Kammer) NJW 2007, 1259 (1266, Rn. 268). 49 Milej, OstEurR 2006, 337 (342). 50 EGMR (Große Kammer) NJW 2007, 1259 (1263, Rn. 189). 51 Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 63. 43
B. Normativer Anknüpfungspunkt und Anforderungen an das Rechtsschutzsystem 27
hinsichtlich der Anforderungen an ein effektives Rechtsschutzsystem ziehen. Im Folgenden wird daher untersucht, inwieweit das Verfassungsrecht Rechtsschutzinstrumente gegen überlange Gerichtsverfahren gebietet und welche Mindestanforderungen von Verfassung wegen bei Etablierung des Rechtsschutzsystems zu beachten sind. 1. Normativer Anknüpfungspunkt Im Jahr 2003 kam das BVerfG in einer grundlegenden Plenarentscheidung zu dem Ergebnis, dass bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör Rechtsschutz insoweit erforderlich sei, als dass die Einhaltung dieses Verfahrensgrundrechtes zumindest einer einmaligen fachgerichtlichen Kontrolle unterliegen müsse.52 Dieses Recht leite sich aus dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch ab.53 Dabei müsse der Rechtsbehelf in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und dessen Voraussetzungen für den Bürger erkennbar sein, um den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Rechtsmittelklarheit zu genügen.54 Alsbald nach diesem Beschluss mehrten sich die Stimmen, dass diese Grundsätze auch für die Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte, wie bspw. das Recht auf angemessene Verfahrensdauer, Geltung beanspruchen müssten.55 Überzeugend wird argumentiert, dass die effektive Gewährleistung von Grundrechten die Durchsetzbarkeit der verfassungsrechtlich garantierten Rechtspositionen erfordert.56 Andernfalls würde eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung hinsichtlich des Rechtsschutzes bei Verletzung von Verfahrensgrundrechten vorliegen57 und die Nichtbefolgung des Beschleunigungsgebotes sanktionslos bleiben58. Daher lässt sich aus dem verfassungsrechtlichen Justizgewährungsanspruch ein Anspruch auf fachgerichtlichen Rechtsschutz ebenso gegen überlange Gerichtsverfahren ableiten. Für die vorliegende Untersuchung kann dabei offen
52
BVerfG NJW 2003, 1924 (1926). BVerfG NJW 2003, 1924 (1924 f.). 54 BVerfG NJW 2003, 1924 (1928). 55 Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 75; Voßkuhle, NJW 2003, 2193 (2197); Kettinger, ZRP 2006, 152 (152); Britz/Pfeifer, DÖV 2004, 245 (246); Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2007, 177 (177); Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2008, 1783 (1783 f.); Jaeger, VBlBW 2004, 128 (136); Breuer, Staatshaftung, S. 40 ff.; Schenke, NVwZ 2005, 729 (734); so bereits Ziekow, DÖV 1998, 941 (948); Kloepfer, JZ 1979, 209 (214); Schlette, Angemessene Frist, S. 47. 56 Ziekow, DÖV 1998, 941 (945); Ziekow, Rechtsschutzmöglichkeiten bei Untätigkeit, S. 24; Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 75; Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 442; Scheidler, LKV 2012, 260 (261). 57 Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 87. 58 Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, S. 188 f. 53
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
bleiben, ob die dogmatische Grundlage in dem Art. 19 Abs. 4 GG als lex specialis59 oder im allgemeinen Justizgewährungsanspruch60 zu verorten ist61. Dem Justizgewährungsanspruch entspringt demnach nicht nur das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer, sondern eben auch das Recht, diesen Anspruch effektiv durchsetzen zu können, sodass er in diesem konkreten Zusammenhang einen doppelten Gewährleistungsinhalt aufweist.62 2. Allgemeine Anforderungen an ein effektives Rechtsschutzsystem Die Rechtsschutzgarantie verbürgt nicht nur den Zugang zu den Gerichten, sondern auch eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle.63 Sie zielt prinzipaliter auf die Integrität der vom staatlichen Handeln betroffenen Rechte ab64, woraus sich die verfassungsrechtliche Notwendigkeit ergibt, grundsätzlich Primärrechtsschutz zu eröffnen65. Demnach müssen generell Rechtsschutzinstrumente in den Rechtsordnungen existieren, mit denen der Betroffene den staatlichen rechtswidrigen Akt abwehren kann, um dadurch den verfassungsmäßigen Zustand wiederherzustellen. Fehlen derartige Rechtsbehelfe, kann eine Schaffung solcher im Rahmen richterlicher Rechtsfortbildung erforderlich sein66. Diese mögen den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Rechtsmittelklarheit zwar nicht genügen, dennoch steht das Gebot der
59 So bspw. Voßkuhle, NJW 2003, 2193 (2196 f.); Dörr, Jura 2004, 334 (337); Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer, S. 99 f. Hintergrund dieses Meinungsstreites ist die umstrittene Frage, inwiefern Art. 19 Abs. 4 GG Rechtsschutz gegen den Richter gewährt, vgl. hierzu grundlegend Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter. 60 BVerfG NJW 2003, 1924 (1924 f.). Siehe zu den unterschiedlichen Begründungsmodellen den Überblick bei Breuer, Staatshaftung, S. 27 ff. 61 Siehe auch Reich, Beschleunigungspflichten, S. 224 mit weit. Nachw. 62 Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 182. 63 St. Rspr.: BVerfGE 35, 263 (274); 41, 23 (26); 65, 1 (70); 77, 275 (284); 84, 34 (49); 101, 106 (122); 113, 273 (310); 118, 168 (207). 64 Huber, in: von Mangoldt/Klein/u.a., GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 455; vgl. auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 28, 283; Höfling, VVDStRL 61 (2002), 260 (268 ff.). 65 Dörr, DÖV 2001, 1014 (1020); Siegel, DÖV 2007, 237 (240); Ziekow, DÖV 1998, 941 (945 f.); BVerfG NJW 1990, 501 (501) bzgl. des Zuganges zu einem öffentlichen Amt; Schmidt-Aßmann/Schenk, in: Schoch/Schneider/u.a., VwGO, Einleitung, Rn. 231: Abwehr staatlichen Unrechts geht grundsätzlich vor dessen Beseitigung und danach erfolgt erst Kompensation; Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, S. 23; Sachs, in: Sachs, GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 137: Ausschluss von Primärrechtsschutz ist verfassungsrechtlich fraglich; Huber, in: von Mangoldt/Klein/u.a., GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 455, 458. 66 Kloepfer, JZ 1979, 209 (215); Schlette, Angemessene Frist, S. 48; Ziekow, DÖV 1998, 941 (948).
B. Normativer Anknüpfungspunkt und Anforderungen an das Rechtsschutzsystem 29
Rechtsmittelklarheit der Statthaftigkeit richterrechtlich geschaffener Rechtsbehelfe grundsätzlich nicht entgegen67. Auch die Gewährung von Sekundärrechtsschutz ist Teil der Rechtsschutzgarantie.68 Durch die Geltendmachung von Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen wird eine gerichtliche Kontrolle staatlichen Handelns erreicht und „das rechtlich geschützte Interesse durch finanziellen Ausgleich“69 gewahrt. Spätestens seit dem Nassauskiesungsbeschluss des BVerfG70 wird hinsichtlich des Verhältnisses der unterschiedlichen Rechtsschutzansprüche das Dogma des Vorranges des Primärrechtsschutzes gegenüber dem Sekundärrechtsschutz bemüht71. Danach muss zunächst versucht werden, den staatlichen rechtswidrigen Akt abzuwehren, bevor eine Kompensation für die durch die staatliche Maßnahme hervorgetretenen Schäden verlangt werden kann. Die Nichtverfolgung primärer Rechtsschutzmaßnahmen schließt die erfolgreiche Geltendmachung von Entschädigungs- und Schadensersatzansprüchen aus, sodass dem Betroffenen kein originäres Wahlrecht zwischen primären und sekundären Rechtsschutzinstrumenten zusteht.72 Zwar ist umstritten, ob dieser Vorrang verfassungsrechtlich verankert ist oder Primär- und Sekundärrechtsschutz gleichrangig nebeneinander stehen.73 Dieser Diskurs lässt aber die Feststellung unberührt, dass die Rechtsschutzgarantie generell die Eröffnung von Primärrechtsschutz gegen staatliches Handeln erfordert. Der Gesetzgeber darf damit grundsätzlich nicht auf Maßnahmen des Sekundärrechtsschutzes verweisen, mit denen ausschließlich eine Schadlosstellung des Betroffenen erreicht wird. 67 BVerfGE 122, 190 (200 f.); Barczak, AöR 138 (2013), 536 (575); Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 134. 68 Huber, in: von Mangoldt/Klein/u.a., GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 457; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 106; Schmidt-Aßmann/Schenk, in: Schoch/Schneider/u.a., VwGO, Einleitung, Rn. 230; Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, S. 23; Axer, DVBl 2001, 1322 (1322, 1328); Höfling, VVDStRL 61 (2002), 260 (268); Schoch, Die Verwaltung 34 (2001), 261 (275, 288); Bonk/Detterbeck, in: Sachs, GG, Art. 34 GG, Rn. 4. Zunehmend wird ein Anspruch auf Sekundärrechtsschutz direkt aus den Grundrechten abgeleitet, siehe bspw. Grzeszick, Rechte und Ansprüche, S. 186 ff. 69 Axer, DVBl 2001, 1322 (1328). 70 BVerfGE 58, 300. 71 Axer, DVBl 2001, 1322 (1323 f.); Höfling, VVDStRL 61 (2002), 260 (278 f.); SchmidtAßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 28; Huber, in: von Mangoldt/Klein/u.a., GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 458. 72 Axer, DVBl 2001, 1322 (1324). 73 Ausführlich Axer, DVBl 2001, 1322 (1327 ff.), der sich gegen einen verfassungsrechtlich verankerten Vorrang ausspricht. So im Ergebnis auch Höfling, VVDStRL 61 (2002), 260 (279). A.A. Breuer, Staatshaftung, S. 153. Die verschiedenen Auffassungen können auf unterschiedliche Begründungsansätze für die Haftung staatlichen Unrechts zurückgeführt werden, siehe hierzu Breuer, Staatshaftung, S. 138 ff., 150 ff.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Hiergegen kann auch nicht das Argument vorgebracht werden, das deutsche Verfassungsrecht kenne kein Optimierungsgebot, welches die Eröffnung von primären Rechtsschutzmöglichkeiten gebiete.74 Es mag zwar zutreffen, dass aus dem Gebot der Rechtsschutzeffektivität nicht das Recht auf einen Instanzenzug abgeleitet werden kann, weil die Forderung nach effektivem Rechtsschutz nur innerhalb des garantierten Anwendungsbereiches – Prüfung der etwaigen Rechtsverletzung in einem gerichtlichen Verfahren – erhoben werden kann.75 Da aber sowohl Primär- als auch Sekundärrechtsschutz Bestandteile der Rechtsschutzgarantie sind, findet eine Erweiterung des garantierten Anwendungsbereiches eben nicht statt, wenn unter dem Aspekt der Effektivität die Eröffnung von Primärrechtsschutz verlangt wird. Es lässt sich also festhalten, dass die Justizgewährungsgarantie grundsätzlich die Eröffnung von Primärrechtsschutz fordert. 3. Anforderungen an das Rechtsschutzsystem bei überlanger Verfahrensdauer Im Folgenden wird untersucht, inwieweit diese allgemeinen Anforderungen auf den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren übertragen werden können. Denn die Ausgestaltung eines Rechtsschutzsystems hat sich an der Eigenart der jeweiligen Verfahrensgrundrechte zu orientieren, wobei widerstreitende Belange einem Ausgleich zuzuführen sind.76 Dabei obliegt dem Gesetzgeber die konkrete Ausgestaltung des Rechtsschutzsystems.77 a. Verhältnis zwischen präventiven und kompensatorischen Rechtsbehelfen Für die Anforderungen an ein Rechtsschutzsystem gegen überlange Gerichtsverfahren wird aus den vorstehenden allgemeinen Erwägungen zum Teil die Konsequenz gezogen, dass für die Betroffenen Primärrechtsschutz eröffnet werden müsse. Da aufgrund der zeitlichen Dimension des Verfahrensgrundrechtes Rechtsschutzinstrumente bei Überschreiten der angemessenen Verfahrensdauer diesen rechtswidrigen Zustand weder aufheben noch beseitigen könnten, müssten präventiv wirkende Rechtsschutzinstrumente vorhanden sein78. Nur so könne die Integrität des Rechts auf angemessene
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So aber Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 183. Siehe Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 113. 76 Siehe Bäcker, in: Grundrechte und Grundfreiheiten 2012, S. 339 (368 f.); Krebs, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 19 GG, Rn. 69. 77 BVerfG NJW 2003, 1924 (1926); NJW 2007, 2464 (2472); BVerfGE 101, 106 (123); ähnlich auch BVerfG NJW 1993, 1635 (1635); NJW 1995, 3173 (3174); BVerfGE 110, 77 (85). 78 Schlette, Angemessene Frist, S. 46 f.; Stabel, Angemessene Dauer, S. 97; Otto, Innerhalb angemessener Zeit, S. 85; Ziekow, DÖV 1998, 941 (945 f.); Dörr, Jura 2004, 334 (338); Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 51; Kloepfer, JZ 1979, 209 (216); Tiwisina, 75
B. Normativer Anknüpfungspunkt und Anforderungen an das Rechtsschutzsystem 31
Verfahrensdauer gewährleistet werden. „Andernfalls bliebe das verfassungsrechtliche Gebot effektiven, zeitgerechten Rechtsschutzes eben doch theoretisch.“79 Doch die Forderung nach primären Rechtsschutzinstrumenten gilt nicht unbegrenzt, sodass die Diskussion hier nicht stehen bleiben darf.80 Einerseits ist die Rechtsschutzgarantie durch kollidierendes Verfassungsrecht einschränkbar.81 Andererseits steht die Forderung nach primären Rechtsschutzinstrumenten als Ausfluss des Effektivitätsgebotes unter der Bedingung, dass primärer Rechtsschutz ebenso möglich wie wirksam ist.82 Die Untersuchung darf sich also nicht nur darauf beschränken, ob nach dem Verfassungsrecht präventive Rechtsschutzinstrumente zu fordern sind, sondern muss sich auch der Frage zuwenden, ob diese überhaupt effektiv sind. Denn wenn diese eine überlange Verfahrensdauer nicht verhindern können, ist dem Gesetzgeber konsequenterweise nicht nur ein Gestaltungsermessen bezüglich des „Wie“, sondern auch des „Ob“ zuzugestehen.83 Vor diesem Hintergrund wäre es also nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber sich lediglich für die Eröffnung von Sekundärrechtsschutz entscheiden würde. Das verfassungsrechtliche Effektivitätsgebot erfordert nur die Eröffnung wirksamen Rechtsschutzes. Damit verbunden ist das Problem, welcher Maßstab bei der Beurteilung der Effektivität zugrunde zu legen ist. Ist die Effektivität des Rechtsbehelfes allein anhand seiner rechtlichen Ausgestaltung zu beurteilen oder kommt es zusätzlich bzw. ausschließlich darauf an, ob von diesem tatsächlich eine beschleunigende Wirkung auf das verzögerte Gerichtsverfahren ausgeht? aa. Effektivität von präventiven Rechtsschutzinstrumenten Effektiver Primärrechtsschutz erfordert zumindest eine einmalige fachgerichtliche Kontrolle der Einhaltung des Verfahrensgrundrechtes.84 Somit genügt es nicht, wenn es allein im Ermessen der zur Entscheidung berufenen Stelle steht, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer, S. 100, 156; Rixe, Anm. z. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 08.06.2006 – Nr. 75529/01 (Sürmeli./.Deutschland), FamRZ 2007, 1453 (1456 f.); Britz/Pfeifer, DÖV 2004, 245 (246 ff.); Jaeger, VBlBW 2004, 128 (136); Kroppenburg, ZZP 119 (2006), 177 (181 f.); Redeker, NJW 2003, 2956 (2958); Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 287 f. 79 Schlette, Angemessene Frist, S. 47. 80 Ähnlich Bäcker, in: Grundrechte und Grundfreiheiten 2012, S. 339 (383). 81 Huber, in: von Mangoldt/Klein/u.a., GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 374. 82 Siehe BVerfGE 116, 1 (19 ff.); 116, 135 (157 ff.); Siegel, DÖV 2007, 237 (240); Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer, S. 100; Bäcker, in: Grundrechte und Grundfreiheiten 2012, S. 339 (380); Schoch, Die Verwaltung 34 (2001), 261 (275): Sekundärrechtsschutz muss dann eingreifen, wenn Primärrechtsschutz versagt. 83 Siehe zu dieser grundsätzlichen Differenzierung im Rahmen von Art. 19 Abs. 4 GG auch Breuer, Staatshaftung, S. 88. 84 Vgl. BVerfG NJW 2003, 1924 (1926).
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
ob sie auf das Beschleunigungsverlangen reagiert oder nicht. Zu Recht wird daher als Mindestvoraussetzung gefordert, dass dem Verfahrensbeteiligten ein Anspruch auf ihr Tätigwerden eingeräumt werden muss.85 Nur die Einräumung eines subjektiven Rechts kann die Durchsetzung des Rechts wirksam gewährleisten. Die Effektivität eines derartigen präventiven Rechtsbehelfs wird jedoch, insbesondere von Vertretern aus der Praxis, bezweifelt. Ihrer Meinung nach seien diese Rechtsbehelfe grundsätzlich nicht geeignet, Gerichtsverfahren tatsächlich zu beschleunigen.86 Nicht die Untätigkeit von Richtern sei in der Regel für Verzögerungen von Gerichtsverfahren verantwortlich, sondern die Überlastung der Gerichte.87 Daher würden präventive Rechtsbehelfe zu Mehrbelastungen der Gerichte führen, die den Eintritt weiterer Verzögerungen befürchten ließen. Dies konterkariere den Zweck von Beschleunigungsrechtsbehelfen.88 bb. Stellungnahme Bei näherer Betrachtung können diese Bedenken gegen präventive Rechtsbehelfe aber nicht überzeugen. Da aus Art. 19 Abs. 4 GG die Verpflichtung des Staates entspringt, für die Leistungsfähigkeit der Justiz Sorge zu tragen, kann das Argument, ein Beschleunigungsrechtsbehelf könne auf tatsächlicher Ebene nicht wirken, weil die Überlastung der Gerichte zu befürchten sei, nicht den
85 Schlette, Angemessene Frist, S. 46 ff.; Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 343. 86 DRB, Stellungnahme zum RegE BT-Drs. 17/3802, http://www.drb.de/cms/index.php? id=710, zuletzt geprüft am: 03.03.2016, unter Punkt II, 5; Piorreck, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Untätigkeitsbeschwerde in gerichtlichen Verfahren, http://www.gesmat.bundesgerichtshof.de/gesetzesmaterialien/15_wp/untaetigkeitsbeschwerde/St_Piorreck_unbeschwerde.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, unter Punkt I, 1. 87 Piorreck, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Untätigkeitsbeschwerde in gerichtlichen Verfahren, http://www.gesmat.bundesgerichtshof.de/gesetzesmaterialien/15_wp/untaetigkeitsbeschwerde/St_Piorreck_unbeschwerde.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, unter Punkt II. Weitere Nachw. bei Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 278 (Fn. 165), der diesem Argument aber kritisch gegenübersteht. 88 Piorreck, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Untätigkeitsbeschwerde in gerichtlichen Verfahren, http://www.gesmat.bundesgerichtshof.de/gesetzesmaterialien/15_wp/untaetigkeitsbeschwerde/St_Piorreck_unbeschwerde.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, unter Punkt IV; Gimbel, ZRP 2004, 35 (37); Schmidt-Aßmann, EuGRZ 1988, 577 (583); NRV, Stellungnahme zum Entwurf eines Untätigkeitsbeschwerdengesetzes, http://www.gesmat.bundesgerichtshof.de/gesetzesmaterialien/15_wp/untaetigkeitsbeschwerde/stellung_nrv_sept_05.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, unter Punkt 1; ebenfalls kritisch Terhechte, DVBl 2007, 1134 (1142); Vorwerk, JZ 2004, 553 (556); Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 277. Nach Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer, S. 146 hat sich diese Befürchtung in Österreich bzgl. des Fristsetzungsantrages gem. § 91 GOG nicht realisiert.
B. Normativer Anknüpfungspunkt und Anforderungen an das Rechtsschutzsystem 33
Ausschluss bzw. die Einschränkung des Primärrechtsschutzes auf verfassungsrechtlicher Ebene rechtfertigen.89 Zudem ist der Ausschluss jeglichen Primärrechtsschutzes unter Berufung seiner Ineffektivität erst dann überzeugend, wenn die Aufhebung des rechtswidrigen Zustandes durch primäre Rechtsschutzinstrumente nur eine theoretische Möglichkeit und faktisch nicht durchsetzbar wäre.90 Hiervon kann bei präventiven Rechtsschutzinstrumenten gegen überlange Gerichtsverfahren aber nicht die Rede sein. Da die Rechtsschutzgarantie erfordert, dass ein irreparabler Zustand soweit wie möglich auszuschließen ist91, kann die Lösung des Problems daher nicht der gänzliche Ausschluss von Primärrechtsschutz sein, sondern vielmehr darin liegen, ein ausgewogenes Rechtsschutzsystem zu schaffen, in dem Rechtsschutz durch präventive Rechtsbehelfe eröffnet wird und im Falle ihrer Wirkungslosigkeit ein Ausgleich durch eine finanzielle Kompensation erfolgt92. Primär- und Sekundärrechtsschutz stehen somit nicht beziehungslos nebeneinander.93 Der Gesetzgeber hat damit konsequenterweise keinen Gestaltungsspielraum, ob er präventive Rechtsschutzinstrumente zur Verfügung stellt. Aus der Rechtsschutzgarantie folgt, dass er (zumindest) einen verfahrensbeschleunigenden Rechtsbehelf schaffen muss, der den Eintritt einer unangemessenen Verfahrensdauer verhindern kann. Sein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum beschränkt sich (lediglich) auf das „Wie“, also die konkrete rechtliche Ausgestaltung des Rechtsschutzes. b. Konkrete Ausgestaltung der Rechtsbehelfe Im Zusammenhang mit der Beurteilung der Effektivität von präventiven Rechtsschutzinstrumenten wurde bereits festgestellt, dass dem Verfahrensbeteiligten ein Anspruch auf Tätigwerden der zur Entscheidung berufenen Instanz gewährt werden muss. Insofern muss sich die Beschwerdeinstanz zwingend mit dem Beschleunigungsbegehren auseinandersetzen. Zudem darf der gerichtliche Rechtsschutz von formellen Voraussetzungen abhängig gemacht werden, soweit diese den Rechtsschutzsuchenden nicht unverhältnismäßig belasten.94 89 Diesen Widerspruch ebenfalls kritisierend Berth, Rechtsschutz gegen verzögerte Gerichtsverfahren, S. 208 f. 90 Vgl. zum Vergaberecht Siegel, DÖV 2007, 237 (240). 91 Vgl. BVerfG NJW 1990, 501 (501) mit weit. Nachw. 92 Im Ergebnis Rixe, Anm. z. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 08.06.2006 – Nr. 75529/01 (Sürmeli./.Deutschland), FamRZ 2007, 1453 (1457); Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer, S. 100; Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 109; a.A. wohl Breuer, Staatshaftung, S. 90 (Fn. 331), S. 365: ausreichend kann auch bloßer Sekundärrechtsschutz sein; Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 183; Bäcker, in: Grundrechte und Grundfreiheiten 2012, S. 339 (383). 93 Bäcker, in: Grundrechte und Grundfreiheiten 2012, S. 339 (380 f.). 94 BVerfG, Beschl. v. 17.12.2015 – 1 BvR 3164/13, Rn. 26, juris.
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Darüber hinaus lässt das weite Ermessen des Gesetzgebers bei Ausgestaltung der Rechtsbehelfe nur wenige Aussagen hinsichtlich der Anforderungen an ein effektives Rechtsschutzsystem zu. Auch der Rechtsprechung des BVerfG können im Gegensatz zur Jurisdiktion des EGMR keine konkreten Maßstäbe zur Beurteilung der Effektivität von Rechtsschutzinstrumenten bei überlangen Gerichtsverfahren entnommen werden. Bezüglich des Rechtsschutzes bei Verletzung des Anspruches auf rechtliches Gehör kam das Verfassungsgericht in der bereits erwähnten Plenarentscheidung aus dem Jahr 2003 zu dem Ergebnis, dass das Gebot der Rechtsschutzeffektivität weder das Recht auf einen Instanzenzug fordere noch die Überprüfung durch den iudex ad quem. Ausreichend sei ein Rechtsbehelf, der an dasjenige Gericht gerichtet wird, dessen Verfahrenshandlung gerügt werde, sofern auf diese Weise der Mangel effektiv beseitigt werden könne.95 Es sprechen gewichtige Gründe dafür, diese Grundsätze auch auf den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren zu übertragen. Die Wirksamkeit einer Selbstkorrektur durch den iudex a quo wurde im Zusammenhang mit einer Verletzung rechtlichen Gehörs zwar vielfach bezweifelt96. Dementsprechend wird auch bei Untätigkeit der Gerichte gefordert, dass Rechtsschutz zwingend durch den iudex ad quem zu gewähren sei.97 Doch unabhängig von der Frage, wie effektiv das Konzept der Selbstkontrolle grundsätzlich ist, sind die Besonderheiten des jeweiligen Verfahrensgrundrechtes im Blick zu behalten. So können zwar die von präventiven Rechtsbehelfen ausgehende mögliche Mehrbelastung von Gerichten und die damit verbundene Gefahr weiterer Verzögerungen des Ausgangsverfahrens nicht den Ausschluss von Primärrechtsschutz rechtfertigen. Vor dem Hintergrund des Gestaltungsspielraumes des Gesetzgebers bei Ausformung des Rechtsschutzsystems kann aber sehr wohl berücksichtigt werden, dass mit Devolutiveffekt ausgestaltete präventive Rechtsbehelfe weitere Verzögerungen verursachen können, da das Beschwerdegericht zusätzliche Zeit benötigt, um sich in den Sachverhalt einzuarbeiten.98 Darüber hinaus ist ein von präventiven Rechtsbehelfen ausgehender Devolutiveffekt auch im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit problematisch.99 So kann eine konkrete Weisung an das den Rechtsstreit bearbeitende Gericht hinsichtlich einer zu ergreifenden Verfahrensmaßnahme nur im be-
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BVerfG NJW 2003, 1924 (1927). Statt vieler Sangmeister, NJW 2007, 2363 (2369). 97 Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 280 ff. 98 Ebenso Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 164. Vgl. Luczak, Anlage zu BTDrs. 16/7655, S. 77: Hierbei handelt es sich um das Grundproblem von Beschleunigungsrechtsbehelfen. Inwiefern dies also die effektivste Lösung sein soll, bleibt bei Lettau, Beschwerde, S. 103 unklar. 99 Bäcker, in: Grundrechte und Grundfreiheiten 2012, S. 339 (381). 96
B. Normativer Anknüpfungspunkt und Anforderungen an das Rechtsschutzsystem 35
grenzten Umfang erfolgen. Aufforderungen, welche die sachliche Entscheidungsfindung beeinflussen, haben zu unterbleiben.100 Dagegen wird die allgemeine Aufforderung an das Ausgangsgericht für zulässig gehalten, das Verfahren nun zügig zu betreiben bzw. verfahrensfördernde Maßnahmen innerhalb einer bestimmten Frist vorzunehmen101. Über die Effektivität solch begrenzter Anordnungsmöglichkeiten lässt sich gleichwohl trefflich streiten. Die Literatur hält einen allgemeinen Vorhalt nur sehr eingeschränkt für verfahrensbeschleunigend.102 Aus diesem Grund wird diskutiert, die Entscheidungskompetenz bei begründeter Beschleunigungsbeschwerde ganz auf das Beschwerdegericht zu übertragen.103 Diese wohl auch mit Art. 101 GG sowie Art. 97 GG vereinbare Lösung104, hätte jedoch zur Folge, dass sich das Beschwerdegericht vollumfänglich in den Rechtsstreit einarbeiten müsste, was wiederum kaum zur Entscheidungsbeschleunigung beitragen würde. Zudem würde hierdurch eine Rechtsschutzverkürzung durch den Wegfall einer Instanz erfolgen. Aus diesen Gründen ist nicht erkennbar, dass im Hinblick auf die drohende Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer die Entscheidung durch den iudex ad quem gegenüber der Selbstkontrolle durch den iudex a quo besser geeignet ist, den Mangel, d.h. die drohende Überlänge des Verfahrens, zu beheben. Somit kann eine Entscheidung über den Beschleunigungsrechtsbehelf auch vom iudex a quo getroffen werden. Die damit möglicherweise verbundenen Durchsetzungsmängel des Primärrechtsschutzes sind aufgrund der begrenzten Schutzwirkung präventiver Rechtsbehelfe hinnehmbar.105 100 Unter Verweis, dass dem deutschen Verfahrensrecht im Bereich der Revisionsentscheidung durchaus bekannt sei, Einfluss auf das Verfahren des Ausgangsgerichtes zu nehmen, wird die Weisung inhaltlicher Art für zulässig gehalten, Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 300 ff. 101 Lettau, Beschwerde, S. 104; vgl. auch § 198 Abs. 5 S. 2 GVG-Untätigkeitsbeschwerdengesetz-RefE; Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 288; Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 295; Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 165; Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 225 f.; Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer, S. 149. 102 Vgl. Jakob, ZZP 119 (2006), 303 (328); Lettau, Beschwerde, S. 104; Vorwerk, JZ 2004, 553 (556): Es scheint, dass in Österreich nicht der Fristsetzungsantrag nach § 91 GOG zur zügigeren Bearbeitung führe, sondern eher obrigkeitsstaatlicher Druck auf die Richterschaft. 103 Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 77. 104 Ebenso Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 225 f.; Kroppenburg, ZZP 119 (2006), 177 (195). 105 Vgl. Bäcker, in: Grundrechte und Grundfreiheiten 2012, S. 339 (381), der es in der Konsequenz aber für gerechtfertigt hält, bei überlangen Gerichtsverfahren gänzlich auf Primärrechtsschutz zu verzichten, S. 383. Auch das BVerfG lässt anklingen, dass es aus diesem Grund die Verzögerungsrüge auf Ebene des Primärrechtsschutzes für ausreichend erachtet, BVerfG, Beschl. v. 25.04.2015 – 1 BvR 3326/14, Rn. 44, juris. In diese Richtung bereits das BVerwG NVwZ 2003, 869 (869), nach dem eine Untätigkeitsbeschwerde von Verfassung wegen nicht geboten sei.
36
3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Es offenbart sich das Dilemma, dass auf der einen Seite durch die Erhebung eines präventiven Rechtsbehelfs eine gewisse Beschleunigungswirkung eintreten soll, auf der anderen Seite eine solche tatsächlich aber nicht immer gewährleistet werden kann und sogar weitere Verzögerungen eintreten können. Maßgeblich für die Beurteilung der Effektivität von Rechtsschutzinstrumenten kann aber nicht nur deren normative Ausgestaltung sein, sondern auch deren Wirksamkeit in der Rechtspraxis.106 Eine normative Ausgestaltung, die versucht, die Schwächen eines Beschleunigungsrechtsbehelfs auf tatsächlicher Ebene zu minimieren, kann aufgrund des Gestaltungsspielraumes des Gesetzgebers aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht beanstandet werden, wenn und soweit im Falle der Wirkungslosigkeit präventiver Rechtsbehelfe effektiver Sekundärrechtsschutz zur Verfügung steht, durch den die eingetretenen Schäden des Betroffenen ausgeglichen werden können. „Der Gesetzgeber darf […] einen für sich genommen schwachen Primärrechtsschutz durch eine schlagkräftige Entschädigungsregelung ausgleichen.“107 III. Ergebnis Sowohl das Verfassungs- als auch das Völkerrecht gebieten die Existenz von effektiven Rechtsschutzinstrumenten gegen die (drohende) Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer. Unterschiede bestehen jedoch hinsichtlich der Art des garantierten Rechtsschutzes sowie dessen konkreter Ausgestaltung. Aufgrund der Vielzahl der bisherigen Entscheidungen des EGMR können auf völkerrechtlicher Ebene konkrete Aussagen bezüglich der Effektivitätsanforderungen getroffen werden, was im Hinblick auf das Verfassungsrecht nur sehr eingeschränkt möglich ist. Während das GG die Eröffnung von Primärrechtsschutz erfordert, reicht es nach der Rechtsprechung des EGMR für die Erfüllung der Effektivitätskriterien der EMRK aus, wenn den Verfahrensbeteiligten kompensatorische Rechtsbehelfe, die während des noch laufenden Ausgangsverfahrens erhoben werden können, zur Verfügung stehen. Hiervon macht der Gerichtshof nur für solche Rechtsstreitigkeiten eine Ausnahme, die sich maßgeblich auf das Familienleben auswirken können und fordert in diesem Zusammenhang präventive Rechtsschutzinstrumente. Die Effektivität eines Rechtsbehelfs knüpft der EGMR nicht zwingend daran an, dass die Rechtsbehelfe und ihre Voraussetzungen im geschriebenen nationalen Recht verankert sind. Strengere Anforderungen gelten jedoch im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Gebot der Rechtsmittelklarheit. Entgegen den Anforderungen des EGMR ist die ausschließliche Gewährung des Rechtsschutzes durch den iudex a quo grundsätzlich mit dem GG vereinbar.
106 107
Vgl. zum Vergaberecht Siegel, DÖV 2007, 237 (240). Bäcker, in: Grundrechte und Grundfreiheiten 2012, S. 339 (382).
C. Rechtsschutzmöglichkeiten vor Inkrafttreten des ÜGRG
37
Festzuhalten ist, dass der EGMR den einzelnen Unterzeichnerstaaten bei Gestaltung des Rechtsschutzsystems gegen überlange Verfahrensdauer zwar grundsätzlich die Wahlfreiheit einräumt, ob präventiver Rechtsschutz überhaupt zur Verfügung gestellt wird, den Gestaltungsspielraum im Hinblick auf das „Wie“ diesbezüglich aber eingrenzt. Demgegenüber gebietet das GG die Eröffnung von Primärrechtsschutz und geht damit über den Gewährleistungsinhalt der EMRK hinaus. Es räumt dafür dem Gesetzgeber größere Gestaltungsfreiheit bei der Ausgestaltung des Rechtsschutzes ein. Im Ergebnis ist sowohl nach dem GG als auch nach der EMRK den Betroffenen ein ausgewogenes und effektives Rechtsschutzsystem zur Verfügung zu stellen.
C. Rechtsschutzmöglichkeiten vor Inkrafttreten des ÜGRG C. Rechtsschutzmöglichkeiten vor Inkrafttreten des ÜGRG
Vor Inkrafttreten des ÜGRG am 03. Dezember 2011 existierten keine eigens normierten Rechtsschutzinstrumente gegen überlange Gerichtsverfahren. Ob und inwieweit andere Rechtsbehelfe effektiv diese Rechtsschutzlücke zu schließen vermochten, war Gegenstand vieler Diskussionen. Im zivilgerichtlichen Verfahren wurde als präventives Rechtsschutzinstrument neben der Untätigkeits- und der Dienstaufsichtsbeschwerde auch der Antrag auf Ablehnung eines Richters wegen Befangenheit in Erwägung gezogen. Daneben sollte dem Betroffenen die Verfassungsbeschwerde, mit der die unangemessene Verfahrensdauer gerügt und die Verletzung des Verfahrensgrundrechts geltend gemacht werden kann, als präventiver Rechtsbehelf dienen. Auf sekundärer Ebene stand dem Verfahrensbeteiligten bei Überschreiten der angemessenen Verfahrensdauer die Möglichkeit offen, Amtshaftungsansprüche wegen überlanger Verfahrensdauer geltend zu machen.108 Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob diese Rechtsschutzmöglichkeiten den dargelegten Anforderungen an ein effektives Rechtsschutzsystem bezüglich überlanger Gerichtsverfahren vor Inkrafttreten des ÜGRG gerecht wurden. Hierzu werden die Rechtsschutzinstrumente und ihre Voraussetzungen dargestellt und anschließend aus völker- und verfassungsrechtlicher Perspektive bewertet. Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes, die teilweise dem präventiven Rechtsschutz zugeordnet werden, sind von dieser Darstellung bewusst ausgeklammert, da sie keinen Rechtsschutz gegen Verzögerungen im Hauptsacheverfahren gewähren, sondern das Ziel verfolgen, die Rechte des Betroffenen vorläufig zu sichern, um eine Präjudizierung des Verfahrensausganges durch Zeitablauf zu verhindern.109 108 Diskutiert wurde auch die Möglichkeit eines Entschädigungsanspruches aus enteignungsgleichem Eingriff, siehe hierzu Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 186 ff. 109 Siehe nur Breuer, Staatshaftung, S. 344.
38
3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Die Relevanz dieser Darstellung erschöpft sich jedoch nicht in einer rechtshistorischen Betrachtung der Rechtsschutzmöglichkeiten. Vielmehr ist sie Ausgangspunkt der Untersuchung, in welchem Nexus die neu geschaffenen zu den bereits vorhandenen Rechtsschutzmöglichkeiten stehen und inwieweit diese auch nach Inkrafttreten des ÜGRG Geltung beanspruchen (siehe hierzu S. 277 ff.). Um die Ergebnisse an dieser Stelle nicht vorwegzunehmen, erfolgt die Darstellung der Rechtslage aus der Perspektive vor Inkrafttreten des ÜGRG. Im Hinblick darauf, dass mit dem ÜGRG in § 198 GVG ein Entschädigungsanspruch für die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer normiert wurde, ist von besonderem Interesse, unter welchen Voraussetzungen vor Inkrafttreten des Gesetzes die Verletzung dieses Verfahrensgrundrechtes kompensiert wurde. Somit setzt die folgende Untersuchung einen Schwerpunkt auf die Analyse des Amtshaftungsanspruches gem. § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG. I. Die Untätigkeitsbeschwerde Das deutsche Rechtsschutzsystem erlaubt nahezu ausschließlich die Überprüfung vorausgegangener gerichtlicher Entscheidungen.110 Einen gesetzlich normierten Rechtsbehelf gegen Untätigkeit sucht man in den Verfahrensordnungen vergeblich.111 In der Vergangenheit wurde daher vertreten, dass infolge dieser Regelungslücke ein Rechtsbehelf gegen gerichtliche Untätigkeit unstatthaft sei.112 Dieser Schlussfolgerung wurde aber zunehmend mit Skepsis begegnet. Einerseits konnte mit keinem Rechtsbehelf eine direkte Beschleunigung des Ausgangsverfahrens erreicht werden113, andererseits hatte sich herauskristallisiert, dass das Fehlen von präventiv ausgestalteten Rechtsschutzinstrumenten bei überlangen Gerichtsverfahren gegen grundgesetzliche Vorgaben verstieß. Somit wurde die Statthaftigkeit eines Rechtsbehelfs gegen gerichtliche Untätigkeit vermehrt bejaht.114 Die Plenarentscheidung des BVerfG vom 30. April 2003, in der das Gericht zu dem Ergebnis kam, dass
110 Häsemeyer, in: FS Michaelis 1972, S. 134 (135); Ziekow, DÖV 1998, 941 (946); Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 133; Jaeger, VBlBW 2004, 128 (132); Kroppenburg, ZZP 119 (2006), 177 (179); Jakob, ZZP 119 (2006), 303 (310); Otto, Innerhalb angemessener Zeit, S. 77; Schlette, Angemessene Frist, S. 45. 111 Häsemeyer, in: FS Michaelis 1972, S. 134 (135): „befremdliche Schwäche unseres gesamten Verfahrensrechts“. 112 Grunsky, in: Stein/Jonas, ZPO, 21. Aufl. 1994, Vor § 567 ZPO, Rn. 19; Häsemeyer, in: FS Michaelis 1972, S. 134 (143 ff.): Untätigkeitsbeschwerde nur de lege ferenda. 113 Jakob, ZZP 119 (2006), 303 (311); Häsemeyer, in: FS Michaelis 1972, S. 134 (139 ff.). 114 Jakob, ZZP 119 (2006), 303 (311); Wulf, in: BeckOK-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 24; Heßler, in: Zöller-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 21.
C. Rechtsschutzmöglichkeiten vor Inkrafttreten des ÜGRG
39
durch richterliche Rechtsfortbildung geschaffene Rechtsbehelfe nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot der Rechtsmittelklarheit genügen115, brachte neuen Wind in die Diskussion um die Statthaftigkeit der Untätigkeitsbeschwerde. Letztendlich geht es darum, den Konflikt zwischen dem effektiven Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und dem Gebot der Rechtsmittelklarheit zu lösen.116 Eine einheitliche Linie hat sich dabei weder in der Literatur noch in der Rechtsprechung abgezeichnet, sodass eine Vielzahl unterschiedlicher Meinungen über die Statthaftigkeit der Untätigkeitsbeschwerde existiert.117 In der Zivilgerichtsbarkeit wird überwiegend dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes Vorrang eingeräumt und die Untätigkeitsbeschwerde weiterhin für statthaft gehalten.118 Demgegenüber soll nach Stimmen in der Literatur die vom Gesetzgeber in § 321a ZPO geschaffene Anhörungsrüge auch bei Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte analog Geltung beanspruchen119, was sich in der Rechtspraxis aber nicht durchgesetzt hat120. Mangels einer gesetzlichen Regelung ist die dogmatische Herleitung eines Rechtsbehelfs gegen gerichtliche Untätigkeit umstritten und die Rechtslage mehr als unübersichtlich. Der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff der „Untätigkeitsbeschwerde“121 bzw. „Beschleunigungsbeschwerde“122 täuscht darüber hinweg, dass ein einheitliches Konstrukt nicht existiert123. Normativer Anknüpfungspunkt und Voraussetzungen sowie Rechtsfolgen des Rechtsbehelfs werden kontrovers diskutiert.
115
Nachweis siehe 3. Kap. Fn. 54. Pointiert Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 114 ff. 117 Vgl. Zuck, ZRP 2008, 44 (47). 118 So ausdrücklich OLG Karlsruhe MDR 2007, 1393 (1393); Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 116. Unter Verweis auf die Gewaltenteilung lehnte das OLG München die Statthaftigkeit einer gesetzlich nicht geregelten Untätigkeitsbeschwerde aber ab, OLG München NJOZ 2007, 45 (45). 119 So etwa Lipp, in: MüKo-ZPO, Vorbem. §§ 567 ZPO ff., Rn. 12 ff.; Kettinger, Die Verfahrensgrundrechtsrüge, S. 295 f., 300 ff. (einschränkend bei gerichtlicher Untätigkeit); Poelzig, ZZP 121 (2008), 233 (237 ff.) hinsichtlich der Vorlagepflicht gem. Art. 234 Abs. 3 EGV; a.A. Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 321a ZPO, Rn. 73 f.; Musielak, in: Musielak/Voit, ZPO, § 321a ZPO, Rn. 6; Zuck, NJW 2005, 1226 (1228); Rensen, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, § 321a ZPO, Rn. 56. 120 Siehe nur BGH NJW-RR 2009, 144 (144); BGH NJW 2008, 2126 (2127). 121 Sangmeister, NJW 1998, 2952 (2952); OLG Karlsruhe NJOZ 2007, 2997 (2999); OLG Düsseldorf NJW 2009, 2388 (2388). 122 Jaeger, VBlBW 2004, 128 (128, 132); Ziekow, DÖV 1998, 941 (948), der aber auch den Begriff der Untätigkeitsbeschwerde verwendet. 123 Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 195. Siehe bspw. die unterschiedlichen Konstruktionen bei Lipp, in: MüKo-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 27 ff. 116
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Eine Vielzahl von Gerichten sieht eine Untätigkeitsbeschwerde als begründet an, wenn die Untätigkeit des Gerichtes auf ein willkürliches Verhalten hinausläuft, welches einer endgültigen Rechtsschutzverweigerung gleichkommt. In diesem Zusammenhang wird die Untätigkeitsbeschwerde entweder als Erscheinungsform der außerordentlichen Beschwerde aufgefasst124 oder aber § 567 ZPO (analog) als Rechtsgrundlage herangezogen125. Vereinzelt werden in Sorge- und Umgangsrechtsverfahren, in denen das Effektivitätsgebot eine besondere Bedeutung spielt, keine derart hohen Anforderungen an die Begründetheit einer Untätigkeitsbeschwerde gestellt. Ausreichend soll sein, dass durch Zeitablauf ein Rechtsverlust in der Hauptsache droht.126 Einen anderen Begründungsweg wählen diejenigen Gerichte, die § 252 ZPO analog anwenden: Ist eine unverzügliche Terminierung von Verhandlungsterminen nach § 216 Abs. 2 ZPO unterblieben, wird dieses Versäumnis in seinen Wirkungen einer Aussetzung des Verfahrens gleichgesetzt, gegen die gemäß § 252 ZPO das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde (§ 567 ZPO) statthaft ist. In entsprechender Anwendung des § 252 ZPO kann sich der Betroffene daher gegen die faktische Aussetzung des Verfahrens zur Wehr setzen.127 Stattzugeben ist der Beschwerde durch die Anordnung an das Ausgangsgericht, dem Verfahren Fortgang zu geben.128 Singulär setzte das Beschwerdegericht eine Frist, innerhalb derer der Fortgang des Verfahrens bzw. die Vornahme bestimmter Handlungen zu erfolgen hatte.129 Neben diesen Rechtsbehelfskonstruktionen wird vereinzelt die Untätigkeit eines Gerichtes mit der Verweigerung der begehrten Sachentscheidung gleich-
124
OLG Karlsruhe NJW 1984, 985 (985); OLG Saarbrücken NJW-RR 1998, 1531 (1532); NJW-RR 1999, 1290 (1290); OLG Düsseldorf MDR 2008, 406 (407). 125 Direkte Anwendung von § 567 ZPO: OLG Düsseldorf NJW 2009, 2388 (2388); OLG Karlsruhe NJOZ 2007, 2997 (2999). Analoge Anwendung: OLG Schleswig NJW-RR 2010, 798 (798 f.). Offen gelassen von Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 567 ZPO, Rn. 9; Koch, in: Saenger, ZPO, § 567 ZPO, Rn. 13; Heßler, in: Zöller-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 21. 126 OLG Karlsruhe FamRZ 2004, 53 (54); OLG Brandenburg FamRZ 2007, 491 (491); OLG Naumburg FamRZ 2007, 2090 (2090). 127 OLG Bremen NJW 1969, 1908 (1909); OLG Schleswig NJW 1981, 691 (692); NJW 1982, 246 (246); OLG Magdeburg MDR 2009, 948 (948 f.); OLG Köln NJW-RR 1999, 290 (290); Hüßtege, in: Thomas/Putzo, ZPO, § 252 ZPO, Rn. 2; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, Vorbem. § 128 ZPO, Rn. 131; Lipp, in: MüKo-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 27; Gehrlein, in: MüKo-ZPO, § 216 ZPO, Rn. 10; Peters, in: FS Schütze 1999, S. 661 (664 ff.); dagegen OLG Karlsruhe NJW 1984, 985 (985); OLG Saarbrücken NJW-RR 1998, 1531 (1532). 128 OLG Naumburg FamRZ 2006, 967 (967); OLG Brandenburg FamRZ 2009, 906 (906); OLG Frankfurt FamRZ 2007, 1030 (1031); OLG Hamburg NJW-RR 1989, 1022 (1023); OLG Karlsruhe NJW 1984, 985 (985); Heßler, in: Zöller-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 21a. 129 KG Berlin NJW-RR 2005, 374 (374); OLG Naumburg NJOZ 2005, 2988 (2989). Ausführlich hierzu Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 200 ff.
C. Rechtsschutzmöglichkeiten vor Inkrafttreten des ÜGRG
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gesetzt, sodass die faktisch ablehnende Sachentscheidung mit den dafür vorgesehenen Rechtsmitteln angefochten werden kann.130 Insofern fungieren die jeweils statthaften Rechtsmittel de facto als Untätigkeitsbeschwerde131, wobei dem Rechtsmittelgericht nach den allgemein geltenden Regeln auch die Kompetenz zufallen soll, eine Sachentscheidung zu treffen132. Festzuhalten ist, dass das Schrifttum und die Rechtsprechung weder die Statthaftigkeit der Untätigkeitsbeschwerde noch deren Voraussetzungen und Rechtsfolgen einheitlich beurteilen. Die unterschiedlichen Lösungsansätze haben jedoch gemeinsam, dass ein dem Ausgangsgericht übergeordnetes Gericht über die Untätigkeitsbeschwerde entscheidet. Voraussetzung hierfür ist aber, dass die im verzögerten Verfahren vorgesehene Endentscheidung selbst einem Rechtsbehelf unterliegt.133 II. Dienstaufsichtsbeschwerde Die Dauer eines Gerichtsverfahrens kann auch zum Gegenstand einer Dienstaufsichtsbeschwerde gemacht werden. Gerichtet ist sie an den Dienstvorgesetzten mit der Anregung, die verzögerte Bearbeitung des Gerichtsverfahrens durch den Richter aus dienstordnungsrechtlicher Sicht zu überprüfen, § 26 Abs. 2 DRiG.134 Umstritten ist, inwieweit die Vorhaltung bzw. Ermahnung zur unverzögerten Erledigung eines konkreten Rechtsstreites zulässig ist. Beispiele aus der Rechtsprechung zeigen, dass zwar die Ermahnung zur beschleunigten Verfahrensführung allgemeiner Art zulässig ist, Einflussnahmen hinsichtlich einzelner Verfahren aber regelmäßig als unzulässiger Eingriff in den geschützten Kernbereich der richterlichen Tätigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) bewertet werden und der Dienstaufsicht entzogen sind.135 130
Siehe hierzu Lipp, in: MüKo-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 28. Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 205. 132 Lipp, in: MüKo-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 28. Dies wird insbesondere in Prozesskostenhilfeverfahren für zulässig erachtet und eine sofortige Beschwerde in analoger Anwendung des § 127 Abs. 2 S. 2 ZPO für statthaft gehalten: OLG Celle MDR 1985, 591 (591 f.); OLG Zweibrücken NJW-RR 2003, 1653 (1654); zustimmend Peters, in: FS Schütze 1999, S. 661 (668). 133 Lipp, in: MüKo-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 29. 134 Wulf, in: BeckOK-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 23; Lipp, in: MüKo-ZPO, Vorbem. §§ 567 ff. ZPO, Rn. 27. 135 Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 53; Breuer, Staatshaftung, S. 346; Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451 (456); Häsemeyer, in: FS Michaelis 1972, S. 134 (141 f.); Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 265; Peters, in: FS Schütze 1999, S. 661 (662); Otto, Innerhalb angemessener Zeit, S. 95 f.; SchmidtRäntsch, DRiG, § 26 DRiG, Rn. 24; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 GG, Rn. 36; Schlette, Angemessene Frist, S. 50. A.A.: Auch ein allgemeiner Vorhalt sei bedenkenswert Rudolph, DRiZ 1985, 351 (352 f.). 131
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
III. Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit § 42 ZPO eröffnet für jede Partei des Gerichtsverfahrens die Möglichkeit, einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Nach Würdigung aller Umstände muss aus Sicht eines Prozessbeteiligten ein Grund vorliegen, der es rechtfertigt, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln.136 Bei verzögerten Gerichtsverfahren bejaht die Rechtsprechung aber nur selten einen Befangenheitsgrund. Nach Ansicht einiger Gerichte ist ein Ablehnungsgesuch nur dann erfolgreich, wenn „besondere Umstände vorliegen, nach denen das prozessuale Vorgehen des Richters den Anschein der Willkür erweckt und sich der dadurch betroffenen Partei der Eindruck einer sachwidrigen, auf Voreingenommenheit beruhenden Benachteiligung aufdrängt“137.
Zum Teil wird auf das Vorliegen grober den Verfahrensbeteiligten nicht mehr zumutbaren Verzögerungen138 oder auf die ungebührliche Verschleppung des Verfahrens ohne sachlichen Grund abgestellt139. IV. Verfassungsbeschwerde Als außerordentlicher (präventiver) Rechtsbehelf steht dem Betroffenen die Verfassungsbeschwerde zur Verfügung, mit der er vor dem BVerfG die Verletzung seines Rechts auf angemessene Verfahrensdauer aus Art. 19 Abs. 4 bzw. Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG geltend machen kann. Regelmäßig richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Untätigkeit des Gerichtes als Akt der öffentlichen Gewalt und wird während des laufenden Verfahrens erhoben.140 Gegenstand der Beschwerde ist damit ein gerichtliches Unterlassen, durch welches sich der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht verletzt sieht.141 Problematisch ist hinsichtlich der Zulässigkeit einer solchen Untätigkeitsverfassungsbeschwerde der Grundsatz der Subsidiarität142, nach dem der Beschwerdeführer neben der Erschöpfung des Rechtsweges gem. § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG alle zur Verfügung stehenden, zumutbaren Möglichkeiten ergreifen muss, um eine Verfassungsverletzung zu verhindern oder ihre Korrektur im 136
BVerfGE 20, 1 (5); 73, 330 (335); 82, 30 (37 f.). OLG Koblenz NJW-RR 1992, 191 (191). Mit ähnlicher Formulierung OVG Münster NJW 1993, 2259 (2259); vgl. auch OLG Köln NJW-RR 1998, 1683 (1683); OLG Karlsruhe FamRZ 1994, 46 (46). 138 BayOblG NJWE-FER 1998, 256 (257). 139 OLG Dresden OLG-NL 2001, 45 (45 f.); OLG Brandenburg OLG-NL 2000, 263 (263); OLG Bamberg FamRZ 2000, 1287 (1287). 140 Gundel, DVBl 2004, 17 (22); Schlette, Angemessene Frist, S. 56; Breuer, Staatshaftung, S. 363; Otto, Innerhalb angemessener Zeit, S. 141 f. 141 Unterlassen als tauglicher Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde: BVerfGE 10, 302 (306); 16, 119 (121); BVerfG NJW 1997, 2811 (2812); NJW 2001, 2707 (2707). 142 Siehe Gundel, DVBl 2004, 17 (23); Huerkamp/Wielpütz, JZ 2011, 139 (140). 137
C. Rechtsschutzmöglichkeiten vor Inkrafttreten des ÜGRG
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fachgerichtlichen Verfahren zu erreichen143. Vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Gebots der Rechtsmittelklarheit wird kontrovers beurteilt, ob dem Beschwerdeführer die Erhebung der gesetzlich nicht normierten Untätigkeitsbeschwerde zumutbar ist. Die Kammerrechtsprechung der beiden Verfassungsgerichtssenate ist hierzu widersprüchlich. Während die 3. Kammer des Zweiten Senats in mehreren Beschlüssen die Erhebung einer Untätigkeitsbeschwerde für erforderlich gehalten hat144, ist die 3. Kammer des Ersten Senats unter Berufung auf die bereits besprochene Plenarentscheidung von 2003145 zu dem Ergebnis gekommen, dass die Erhebung der Untätigkeitsbeschwerde dem Beschwerdeführer nicht zumutbar sei, da die Voraussetzungen der Beschwerdemöglichkeit gesetzlich nicht normiert seien und die Untätigkeitsbeschwerde dem Gebot der Rechtsmittelklarheit nicht gerecht werde146. Aufgrund dieser unklaren Rechtslage wird die Erhebung einer Untätigkeitsbeschwerde weiterhin empfohlen147, um nicht die Verwerfung der Verfassungsbeschwerde als unzulässig wegen Nichtbeachtung des Subsidiaritätsgebotes zu riskieren. Wird der verzögerte Rechtsstreit während des laufenden Verfassungsbeschwerdeverfahrens rechtskräftig abgeschlossen, entfällt grundsätzlich das Rechtsschutzbedürfnis für die Erhebung der Verfassungsbeschwerde148, es sei denn es liegen besondere Umstände vor. So bejahte das BVerfG das Vorliegen des Rechtsschutzbedürfnisses, weil dem Beschwerdeführer aufgrund mehrerer anhängiger Gerichtsverfahren vor demselben offensichtlich überlasteten Gericht die wiederholte Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer drohte149 oder die Verletzung des Effektivitätsgebotes besonders schwerwiegend war150. In derartigen Fällen beschränkt sich das Verfassungsgericht bei Begründetheit der Verfassungsbeschwerde auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Verfahrensdauer im Tenor.151 Von Bedeutung kann eine solche Feststellung bei Geltendmachung etwaiger Amtshaftungsansprüche
143
St. Rspr.: BVerfGE 68, 384 (388 f.); 74, 102 (113); 79, 275 (278 f.); 107, 257 (267); 107, 395 (414); BVerfG NJW 2013, 3506 (3507). 144 BVerfG, Beschl. v. 19.01.2004 – 2 BvR 1904/03, Rn. 7, juris; BVerfG, Beschl. v. 06.11.2006 – 2 BvR 2166/06, Rn. 5, juris; vgl. auch die Entscheidung der 1. Kammer des Zweiten Senats BVerfG, Beschl. v. 27.07.2005 – 2 BvR 282/05, Rn. 4, juris. 145 BVerfG NJW 2003, 1924 (1924 ff.). Siehe hierzu bereits S. 27 f. 146 BVerfG NJW 2008, 503 (503). Von der Deutlichkeit dieser Entscheidung ebenfalls überrascht Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2008, 1783 (1783). In die entgegengesetzte Richtung weist jedoch die Entscheidung BVerfG WM 2010, 822 (823). 147 Huerkamp/Wielpütz, JZ 2011, 139 (141). 148 Siehe BVerfG, Beschl. v. 23.05.2012 – 1 BvR 359/09, Rn. 18, juris. 149 BVerfG, Beschl. v. 24.08.2010 – 1 BvR 331/10, Rn. 15 ff., juris. 150 BVerfG NJW 2013, 3432 (3432). 151 BVerfG, Beschl. v. 24.08.2010 – 1 BvR 331/10, juris; BVerfG NJW 2013, 3432 (3432).
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
durch den Verfahrensbeteiligten sein, da nach § 31 Abs. 1 BVerfGG alle Gerichte an die Entscheidungen des BVerfG gebunden sind.152 Eine Entschädigung für den Grundrechtseingriff darf das BVerfG mangels rechtlicher Kompetenznorm nicht zusprechen. Ist das überlange Gerichtsverfahren noch nicht zum Abschluss gekommen, stellt das BVerfG gem. § 95 Abs. 1 S. 1 BVerfGG ebenfalls die Verfassungswidrigkeit fest. Diese Feststellung ist regelmäßig mit der Aufforderung an das den Rechtsstreit bearbeitende Gericht verbunden, unverzüglich geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um das Verfahren zu einem raschen Abschluss zu bringen.153 V. Amtshaftungsanspruch bei überlanger Verfahrensdauer nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG Konnte der Eintritt einer unangemessenen Verfahrensdauer durch präventive Rechtsschutzinstrumente nicht verhindert werden, kann der Verfahrensbeteiligte einen Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG geltend machen. Dieser Anspruch setzt voraus, dass bei Ausübung eines öffentlichen Amtes durch die vorsätzliche oder fahrlässige Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht ein ersatzfähiger Schaden verursacht wird und keiner der in § 839 Abs. 2 und Abs. 3 BGB normierten Haftungsausschlussgründe eingreift. Da für die Überlänge des Verfahrens verschiedene Amtsträger verantwortlich gemacht werden können, muss zwischen diesen im Folgenden differenziert werden.154
152 Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 145. Zu beachten ist aber, dass die Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer im Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht zwingend zur Annahme einer Amtspflichtverletzung bei § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG führen darf, da Erstere an Erfolgsunrecht, Letztere an Handlungsunrecht anknüpft, siehe dezidiert Breuer, Staatshaftung, S. 329 ff. 153 BVerfG NJW 1997, 2811 (2812); NJW 2000, 797 (797); NJW 2001, 214 (216); BVerfG, Beschl. v. 24.09.2009 – 1 BvR 1304/09, Rn. 31, juris; BVerfG NJW-RR 2010, 207 (209); BVerfG, Beschl. v. 27.09.2011 – 1 BvR 232/11, Rn. 36, juris. Strittig ist, ob das BVerfG dem Ausgangsgericht eine konkrete Frist zur Entscheidung setzen darf. Verneinend: Britz/Pfeifer, DÖV 2004, 245 (249); Schlette, Angemessene Frist, S. 56; Gundel, DVBl 2004, 17 (23); Lansnicker/Schwirtzek, NJW 2001, 1969 (1971). Bejahend: Meyer-Ladewig, NJW 2001, 2679 (2679); Redeker, NJW 2003, 488 (488). Für zulässig wird auch die Verweisung an ein anderes Gericht gehalten Klein, JZ 1963, 591 (592); sich daran anschließend Hummer, Justizgewährung und Justizverweigerung, S. 182; Otto, Innerhalb angemessener Zeit, S. 145; nun auch BVerfG NJW 2001, 2161 (2163); Stabel, Angemessene Dauer, S. 143. 154 Siehe Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451 (458); Breuer, Staatshaftung, S. 334 f.; Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 135 ff.
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1. Amtshaftung wegen verzögerter richterlicher Tätigkeit Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung ist, inwieweit Verzögerungen, die durch richterliches Verhalten eingetreten sind, Anknüpfungspunkt für einen Amtshaftungsanspruch sein können. a. Schuldhafte Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht Richter stehen in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis und unterliegen somit dem im Anwendungsbereich des § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG maßgeblichen haftungsrechtlichen Beamtenbegriff155. Im Rahmen ihrer richterlichen Tätigkeit handeln sie in Ausübung eines öffentlichen Amtes.156 Dabei obliegt ihnen die dem Bürger gegenüber bestehende und aus dem Verfassungsrecht abgeleitete Pflicht zur Justizgewährung157, die es gebietet, Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Frist zu entscheiden. Konkretisiert wird diese Verpflichtung vereinzelt in einfach-gesetzlichen Bestimmungen, die Fristen (§ 310 Abs. 1 S. 2 ZPO), zeitliche Handlungsspielräume (§ 300 Abs. 1 ZPO) oder Beschleunigungsgebote (§ 9 Abs. 1 ArbGG, § 155 Abs. 1 FamFG) normieren und die es bei der Verfahrensleitung zu beachten gilt. Ein Nachweis, dass ein Verstoß gegen eine solche Beschleunigungsvorschrift vorliegt, ist in Übereinstimmung mit der herrschenden Auffassung aber nicht erforderlich.158 Der Richter kann diese ihm obliegende Amtspflicht, deren Erfüllung gerade im Interesse des Bürgers und daher drittbezogen ist159, durch jedes verfahrensverzögernde Verhalten verletzen160. Eine Schadensersatzpflicht tritt grundsätzlich nur ein, wenn dem Beamten die Amtspflichtverletzung individuell vorwerfbar ist, er also vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat, § 839 Abs. 1 S. 1 BGB. Erforderlich ist demnach, dass der mit der Sache befasste Richter den Rechtsstreit in nachlässiger Weise betrieben hat und diesen hätte schneller erledigen
155 Reinert, in: BeckOK-BGB, § 839 BGB, Rn. 4 f.; Papier, in: MüKo-BGB, § 839 BGB, Rn. 130 f.; Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 15; Brüning, NJW 2007, 1094 (1095). 156 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 101; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 34 GG, Rn. 107, 123 ff. 157 Papier, NJW 1990, 8 (9); Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 174. 158 Schlette, Angemessene Frist, S. 64; Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 175; Brüning, NJW 2007, 1094 (1096). A.A. Otto, Innerhalb angemessener Zeit, S. 113 f.; Grunsky, RdA 1974, 201 (204). 159 Schlette, Angemessene Frist, S. 64; Brüning, NJW 2007, 1094 (1096); LG München, Urt. v. 12.01.2005 – 9 O 17286/03, BeckRS 2011, 11982; BGH NJW 2011, 1072 (1073); Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 174; Stabel, Angemessene Dauer, S. 198; Breuer, Staatshaftung, S. 336; Wöstmann, in: Staudinger BGB, § 839 BGB, Rn. 334. 160 Zur Unterscheidung von Nichtstun und überflüssigem Tun siehe S. 52 ff.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
können.161 Anzulegen ist ein verobjektivierter Maßstab, wobei auf Fähigkeiten und Kenntnisse eines pflichtgetreuen Durchschnittsbeamten abzustellen ist.162 Sind Verfahrensverzögerungen auf Missstände in der Justizverwaltung zurückzuführen, die es bspw. unterlassen hat, mit Abhilfemaßnahmen auf eine andauernde Überlastungssituation zügig zu reagieren, kann eine Haftung nur unter dem Gesichtspunkt des Organisationsverschuldens begründet werden (siehe S. 67 ff.).163 Anspruchsgegner ist infolge der Haftungsüberleitung des Art. 34 GG regelmäßig diejenige Körperschaft, die den Richter angestellt hat und ihn besoldet.164 b. Kausal entstandener Schaden Des Weiteren muss dem Verfahrensbeteiligten infolge der unangemessenen Verfahrensdauer ein Schaden entstanden sein. Inhalt und Umfang des Amtshaftungsanspruches richten sich nach den allgemeinen Vorschriften (§§ 249 ff. BGB)165, sodass grundsätzlich sowohl materielle (bspw. Zinsschaden166, Ausfallschaden bei Insolvenz des Klagegegners167) als auch immaterielle (bspw. psychische Belastung168) Schäden ersatzfähig sind. Abweichend von den §§ 249 ff. BGB umfasst der Amtshaftungsanspruch aber keine Naturalrestitution, wenn diese nur durch hoheitliches Handeln bewirkt werden kann.169 In concreto erweist sich die Geltendmachung von Schäden im Falle überlanger Gerichtsverfahren aber regelmäßig als wenig erfolgversprechend. Bei materiellen Schäden ist der vom Kläger zu erbringende Nachweis, dass die rechtsstaatswidrigen Verzögerungen kausal für den Eintritt des Schadens waren, schwierig zu führen. Denn Anknüpfungspunkt ist hierbei die Untätigkeit des Gerichtes, d.h. ein Unterlassen, sodass vom Kläger darzulegen und
161
Brüning, NJW 2007, 1094 (1096). Entgegenzutreten ist damit der Ansicht, nur eine bewusste Verfahrensverzögerung könne zur Amtshaftung führen. In diesem Sinne auch Schlette, Angemessene Frist, S. 65; Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 177 f. Dagegen: Grunsky, RdA 1974, 201 (204). 162 Wöstmann, in: Staudinger BGB, § 839 BGB, Rn. 198; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 34 GG, Rn. 15; Bassenge, in: Palandt, § 839 BGB, Rn. 52. 163 Blomeyer, NJW 1977, 557 (559); Otto, Innerhalb angemessener Zeit, S. 117; Schlette, Angemessene Frist, S. 66; hierzu Brüning, NJW 2007, 1094 (1096 ff.). 164 Papier, in: MüKo-BGB, § 839 BGB, Rn. 361. 165 Vgl. Staudinger, in: HK-BGB, § 839 BGB, Rn. 23; Wöstmann, in: Staudinger BGB, § 839 BGB, Rn. 238; Papier, in: MüKo-BGB, § 839 BGB, Rn. 295. 166 Siehe BGH NJW 2007, 830 (832); Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 182. 167 Zu dieser Fallgestaltung siehe OLG Hamm, Urt. v. 08.01.2010 – 11 U 27/06, BeckRS 2010, 01415 [aufgehoben durch den BGH mit Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, juris]. 168 OLG Celle, Urt. v. 23.06.2011 – 16 U 130/10, BeckRS 2012, 05949. 169 Siehe nur BGH NJW 1981, 675 (675).
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gegebenenfalls zu beweisen ist, dass der Schaden bei angemessener Verfahrensdauer nicht eingetreten wäre170. Dies ist in den meisten Fällen jedoch höchst ungewiss171. Der Ersatz immaterieller Schäden setzt dagegen das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 253 Abs. 2 BGB, eine schwere Beeinträchtigung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) oder die Verletzung der Menschenwürde (Art. 1 GG) voraus. Aus diesem Grund liegt nach deutscher Schadensrechtsdogmatik bei einer überlangen Verfahrensdauer nur in den seltensten Fällen ein ersatzfähiger immaterieller Schaden vor172. c. Haftungsausschluss des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB § 839 Abs. 2 S. 1 BGB statuiert für die spruchrichterliche Tätigkeit einen Haftungsausschluss, nach dem nur dann gehaftet wird, wenn die Amtspflichtverletzung „bei dem Urteil in einer Rechtssache“ in einer Straftat besteht (etwa Rechtsbeugung nach § 339 StGB). Nach § 839 Abs. 2 S. 2 BGB sind davon ausdrücklich die pflichtwidrige Verweigerung und die Verzögerung der Ausübung des Amtes ausgenommen und somit der Haftung nach § 839 Abs. 1 S. 1 BGB unterstellt. So klar die Abgrenzung zwischen diesen beiden Sätzen auf den ersten Blick anmuten mag, so schwierig ist sie im Detail. Die Abgrenzungsproblematik geht mit der Frage nach der Reichweite des Haftungsausschlusses einher, für deren Beantwortung die hinter § 839 Abs. 2 S. 1 BGB stehende ratio legis maßgeblich ist. Diese ist seit jeher umstritten. Es wird vertreten, dass der Haftungsausschluss (vornehmlich) auf den in Art. 97 GG verbürgten Schutz der richterlichen Unabhängigkeit ziele.173 Nach anderer Auffassung bezweckt § 839 Abs. 2 S. 1 BGB die Sicherung der Rechtskraft, indem eine Nachprüfung einer einmal rechtskräftigen Entscheidung im Amtshaftungsprozess allein schon bei angeblicher Unrichtigkeit nicht 170
Jaeger, VBlBW 2004, 128 (134); Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451 (458); Schlette, Angemessene Frist, S. 66; Stabel, Angemessene Dauer, S. 206; Breuer, Staatshaftung, S. 339. Dasselbe Problem stellt sich auch bei Art. 6 Abs. 1, Art. 41 EMRK, siehe Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 647, 651 ff.; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 41 EMRK, Rn. 11 f. Nicht ersatzfähig ist also ein Schaden, der nur möglicherweise durch die Amtspflichtverletzung eingetreten ist, Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 653. 171 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 651. Beispiel aus der Rechtsprechung OLG Celle, Urt. v. 23.06.2011 – 16 U 130/10, BeckRS 2012, 05949. 172 Remus, NJW 2012, 1403 (1408). Siehe auch Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451 (459) und Breuer, Staatshaftung, S. 341 bzgl. einer schweren Beeinträchtigung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts. 173 Grunsky, in: FS Raiser 1974, S. 141 (151 ff.); Leipold, JZ 1967, 737 (739); Schmid, Jura 1990, 225 (228 ff.); BGHZ 50, 14 (19 f.); Tombrink, NJW 2002, 1324 (1325); BGH NJW 2011, 1072 (1073, Rn. 14).
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stattfinden solle.174 Hiergegen wird eingewandt, dass die Rechtskraft als solche von einem Amtshaftungsprozess gar nicht berührt werde.175 Aus diesem Grund gewährleiste das Haftungsprivileg die im Rechtsstaatsprinzip verankerten Prinzipien des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit.176 Gegen die erstgenannte Auffassung bestehen jedoch in verfassungsrechtlicher und rechtsdogmatischer Hinsicht durchgreifende Bedenken. Es erscheint naheliegend, den Gewährleistungsinhalt von Art. 97 GG als betroffen anzusehen, wenn der Richter gem. § 839 BGB für den durch die Amtspflichtverletzung entstandenen Schaden persönlich haften müsste.177 Art. 34 S. 1 GG ordnet zwar insoweit eine Haftungsüberleitung auf den Staat an, lässt aber gem. Art. 34 S. 2 GG einen Rückgriff auf den Amtsträger bei grober Fahrlässigkeit und Vorsatz zu178. Diese durch Art. 34 S. 2 GG eröffnete Rückgriffsmöglichkeit verpflichtet den Staat jedoch nicht, bei judikativem Unrecht Regress zu nehmen und kann demnach nicht als Argument dienen, den Richter zu Lasten des Geschädigten in seiner Haftung zu privilegieren.179 Darüber hinaus vermag der Schutz der richterlichen Unabhängigkeit als Privilegierungsgrund nicht erklären, warum nur die spruchrichterliche und nicht sämtliche Tätigkeit des Richters vom Anwendungsbereich des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB erfasst ist.180 Schließlich findet auch im Instanzenzug eine Kontrolle richterlicher Entscheidungen durch andere Gerichte statt, durch die der Art. 97 GG nicht verletzt wird.181 Aus diesen Gründen ist der Sinn und Zweck des Haftungsausschlusses nicht im Schutz der richterlichen Unabhängigkeit zu sehen. 174
Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 102; Papier, in: MüKo-BGB, § 839 BGB, Rn. 323; Merten, in: FS Wengler 1973, Bd. 2, S. 519 (524 ff.); Hebeler, JA 2011, 719 (719); Schmidt, Staatshaftung für verzögertes Amtshandeln, S. 60; Staudinger, in: HK-BGB, § 839 BGB, Rn. 36; BGHZ 64, 347 (349). 175 Zimmerling, in: jurisPK-BGB, § 839 BGB, Rn. 180. 176 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 102; Papier, in: MüKo-BGB, § 839 BGB, Rn. 323; Staudinger, in: HK-BGB, § 839 BGB, Rn. 36; Breuer, Staatshaftung, S. 188; BVerfG NJW 2013, 3630 (3632); Mayen, in: Erman BGB, § 839 BGB, Rn. 80. Vertreten wird auch, dass das Haftungsprivileg den Schutz sowohl der richterlichen Unabhängigkeit als auch der Rechtskraft bezweckt: Teichmann, in: Jauernig, § 839 BGB, Rn. 27; Remus, NJW 2012, 1403 (1405); in diesem Sinne auch BGHZ 50, 14 (19 f.). Schutz der richterlichen Unabhängigkeit als Nebenwirkung Wöstmann, in: Staudinger BGB, § 839 BGB, Rn. 314. Offen gelassen in BVerfG NJW 2013, 3630 (3632). 177 Breuer, Staatshaftung, S. 179. A.A. Merten, in: FS Wengler 1973, Bd. 2, S. 519 (522). 178 Breuer, Staatshaftung, S. 180 (Fn. 51 mit einem Überblick der einfach-gesetzlichen Rückgriffsmöglichkeiten). 179 Ausführlich Breuer, Staatshaftung, S. 180 f.; Zimmerling, in: jurisPK-BGB, § 839 BGB, Rn. 177. 180 Merten, in: FS Wengler 1973, Bd. 2, S. 519 (523 f.); Papier, in: MüKo-BGB, § 839 BGB, Rn. 322; Zimmerling, in: jurisPK-BGB, § 839 BGB, Rn. 177. 181 Merten, in: FS Wengler 1973, Bd. 2, S. 519 (523); Papier, in: MüKo-BGB, § 839 BGB, Rn. 322; Zimmerling, in: jurisPK-BGB, § 839 BGB, Rn. 177.
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Die beiden anderen Ansichten haben eine gleichartige Stoßrichtung. Richtig ist zwar, dass die formelle Rechtskraft eines Urteils nicht von einem Amtshaftungsprozess tangiert wird. In Einzelfällen mag es aber zu Kollisionen zwischen der materiellen Rechtskraft und der Haftung für judikatives Unrecht kommen.182 Von diesen Sonderkonstellationen abgesehen, bezweckt das Haftungsprivileg in jedem Falle den Schutz der Rechtskraft im weiteren Sinne, d.h. der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens. Der BGH hat sich mit der oben angesprochenen Abgrenzungsproblematik grundlegend in seiner Entscheidung vom 04. November 2010 auseinandergesetzt. Zum besseren Verständnis werden nachfolgend die Eckpunkte des bis dahin entwickelten und in diesem Zusammenhang relevanten Meinungsstandes zur Haftungsbeschränkung bei judikativem Unrecht im Rahmen von § 839 BGB kurz skizziert, bevor auf das Urteil des BGH näher eingegangen wird. aa. „Bei dem Urteil in einer Rechtssache“ Der Begriff des Urteils i.S.v. § 839 Abs. 2 S. 1 BGB ist nicht im prozesstechnischen Sinne zu verstehen, sondern erfasst alle richterlichen Entscheidungen, die ihrem Wesen nach Urteil und somit urteilsvertretende Erkenntnisse sind.183 Voraussetzung ist, dass die Entscheidung das Prozessrechtsverhältnis für die Instanz ganz oder teilweise mit bindender Wirkung beendet.184 Dabei muss die Amtspflichtverletzung nicht durch das Urteil begangen worden sein. Es genügt die Begehung bei dem Urteil in einer Rechtssache, mithin im zur Entscheidung führenden Verfahren.185 Somit fallen auch solche verfahrensleitenden Entscheidungen unter den Anwendungsbereich des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB, die darauf gerichtet sind, die Grundlagen der Sachentscheidung zu gewinnen, wie bspw. der Erlass eines Beweisbeschlusses.186 Sie stehen in einem so engen Zusammenhang zum Urteil, dass diese haftungsmäßig nicht getrennt werden können.187 bb. Haftungsbeschränkung außerhalb von § 839 Abs. 2 S. 1 BGB Für richterliche Tätigkeit, die vom Privilegierungstatbestand nicht erfasst wird, gilt grundsätzlich der Haftungstatbestand des § 839 Abs. 1 S. 1 BGB.188 Doch auch außerhalb des Anwendungsbereiches des Haftungsausschlusses hat der 182 183
Merten, in: FS Wengler 1973, Bd. 2, S. 519 (525 f.); Breuer, Staatshaftung, S. 186 ff. BGHZ 13, 142 (144); 36, 379 (382); 51, 326 (328). Anders noch das RGZ 116, 90
(93). 184
Reinert, in: BeckOK-BGB, § 839 BGB, Rn. 97. Statt vieler Papier, in: MüKo-BGB, § 839 BGB, Rn. 327. 186 BGHZ 50, 14 (16 f.); BGH NJW 2011, 1072 (1073). 187 BGH NJW 2011, 1072 (1074) mit Verweis auf BGH LM Nr. 5 zu § 839 (G) BGB. 188 Breuer, Staatshaftung, S. 231. 185
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BGH die Haftung des Richters mit Hinweis auf die durch Art. 97 GG gewährte richterliche Unabhängigkeit begrenzt. Insofern soll der Richter nur bei „besonders groben Verstößen“189 haften, was im Endeffekt auf eine Haftung für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit hinausläuft190. Daneben soll bei richterlicher Rechtsanwendung eine Überprüfung regelmäßig nur im Hinblick auf ihre Vertretbarkeit hin stattfinden.191 cc. Haftungsbeschränkung bei Verfahrensverzögerungen (1) BGH-Urteil vom 04. November 2010 Der BGH hat in seinem Urteil vom 04. November 2010 geklärt, in welchem Verhältnis Verfahrensverzögerungen zum Haftungsprivileg des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB stehen und inwieweit die soeben beschriebenen Haftungsbeschränkungen, die der BGH für Fallgruppen entwickelt hat, in denen die Rechtsverstöße in der richterlichen Entscheidung selbst lagen, auch bei diesen Geltung beanspruchen.192 Zunächst werden der dem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt sowie die in den Entscheidungsgründen getroffenen Kernaussagen kurz dargestellt (1). Zu diesen wird anschließend unter den Gliederungspunkten (2) und (3) Stellung genommen. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Entscheidung des BVerfG vom 22. August 2013 einzugehen sein, in der das Urteil des BGH aus verfassungsrechtlicher Sicht beurteilt wird. (a) Sachverhalt Der Kläger begehrt vom Land Nordrhein-Westfalen als Anstellungskörperschaft Schadensersatz aus Amtshaftung wegen der unangemessenen Verfahrensdauer eines Zivilprozesses, in dem dieser mit Klage vom Februar 1984 Zahlungsansprüche gegen einen seiner damaligen Vertragspartner geltend machte.193 In diesem Rechtsstreit entschied das LG Detmold im April 1985, dass die Klageforderung des Klägers dem Grunde nach gerechtfertigt sei. Die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten wurde zurückgewiesen, die Revision vom BGH nicht angenommen. Das sich ab Juli 1987 anschließende Betragsverfahren endete in der Berufungsinstanz durch einen zwischen den Parteien geschlossenen Vergleich am 01. März 189 BGH, Beschl. v. 26.04.1990 – III ZR 182/89, Rn. 3, juris; BGH NJW-RR 1992, 919 (919); BGHZ 155, 306 (310); OLG Frankfurt NJW 2001, 3270 (3271). 190 So explizit in BGHZ 155, 306 (310); BGH NJW 2007, 224 (226). Da die Gefahr der persönlichen Haftung des Richters als Argument für eine Haftungsprivilegierung nicht herangezogen werden kann, ist dieser Begründungsansatz der Rechtsprechung wenig überzeugend. Kritisch auch Staudinger, in: HK-BGB, § 839 BGB, Rn. 39; Wollweber, Anm. z. BGH, Urt. v. 03.07.2003 – III ZR 326/02, DVBl 2004, 511 (511). 191 Im Ergebnis bereits BGH VersR 1964, 146 (147); BGH NJW-RR 1992, 919 (919); vgl. auch BGHZ 122, 268 (270 ff.). 192 Breuer, Staatshaftung, S. 235, 333 f. 193 Siehe BGH NJW 2011, 1072 (1072 f.). Sachverhalt wird hier etwas vereinfacht dargestellt.
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2004. In der Zwischenzeit war über das Vermögen des Beklagten im Februar 2002 das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Ein Teil der Forderung wurde im November 2002 durch Zahlung einer vom Beklagten gestellten Prozessbürgschaft zur Abwendung der Zwangsvollstreckung beglichen, während die Durchsetzung der noch verbliebenen Forderung wegen Masseunzulänglichkeit aussichtslos war. Diesen Ausfallschaden verlangt der Kläger im Amtshaftungsprozess vom beklagten Land, da das Ausgangsverfahren von den Richtern nicht hinreichend gefördert worden sei und demnach ein Abschluss des Verfahrens zu einem Zeitpunkt hätte erfolgen können, zu dem der Beklagte noch zahlungsfähig gewesen wäre.
Das LG Dortmund194 wies die Amtshaftungsklage erstinstanzlich ab, wogegen der Kläger Berufung einlegte. Das OLG Hamm195 als Berufungsgericht änderte das klageabweisende Urteil ab und verurteilte das beklagte Land zur Zahlung eines Teiles des vom Kläger begehrten Schadensersatzes. Das hier zu besprechende Urteil des BGH erging auf die Revision des beklagten Landes hin und führte zur Aufhebung und Zurückweisung der Sache an das Berufungsgericht. (b) Entscheidungsgründe – Kernaussagen In diesem Kontext entscheidend sind die Ausführungen des BGH zum Verhältnis von § 839 Abs. 2 S. 1 und S. 2 BGB sowie zum Prüfungsmaßstab, ob der Richter seine Amtspflicht, innerhalb angemessener Dauer zu entscheiden, verletzt hat. Zunächst konstatiert der BGH, dass § 839 Abs. 2 S. 2 BGB nur die Selbstverständlichkeit ausspreche, dass die pflichtwidrige Untätigkeit des Richters keine fehlerhafte Tätigkeit bei einem Urteil sei.196 Danach rekurriert der BGH seine ständige Rechtsprechung, nach der vom Anwendungsbereich des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB („bei einem Urteil“) nicht nur solche Mängel erfasst werden, die in einem Urteil selbst liegen.197 Das Richterspruchprivileg erstrecke sich vielmehr auch auf prozessleitende Maßnahmen, „die objektiv darauf gerichtet sind, die Rechtssache durch Urteil zu entscheiden, also die Grundlagen für die Sachentscheidung zu gewinnen.“198 Könnten also bspw. Verzögerungen auf die Anordnung überflüssiger Beweisaufnahmen zurückgeführt werden, würden diese Verfahrensvorgänge dem Richterspruchprivileg unterliegen und als Anknüpfungspunkt einer Amtshaftung (unter Vorbehalt des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB) ausscheiden.199
194
LG Dortmund, Urt. v. 16.12.2005 – 8 O 36/05, BeckRS 2010, 29257. OLG Hamm, Urt. v. 08.01.2010 – 11 U 27/06, BeckRS 2010, 01415. 196 BGH NJW 2011, 1072 (1073, Rn. 12). Der BGH nimmt Bezug auf Staudinger/Wurm, BGB, Neubearb. 2007, § 839 Rn. 334. Auffassung übernommen von Wöstmann, in: Staudinger BGB, § 839 BGB, Rn. 334. 197 BGH NJW 2011, 1072 (1073, Rn. 13 mit weit. Nachw. zur st. Rspr.). 198 BGH NJW 2011, 1072 (1072, 1. Leitsatz). 199 BGH NJW 2011, 1072 (1073, Rn. 13). 195
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Doch auch außerhalb des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB sei der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit zu berücksichtigen.200 Das Rechtsstaatsprinzip verlange grundsätzlich eine umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes. Insoweit stehe die sachgerechte Führung des Prozesses in der Regel im Ermessen des den Rechtsstreit bearbeitenden Richters. Daraus folge, dass im Rahmen eines Amtshaftungsprozesses die Verfahrensleitung des Richters nicht auf deren Richtigkeit überprüft werden könne, sondern lediglich auf deren Vertretbarkeit, die nur dann zu verneinen sei, „wenn bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Zivilrechtspflege das richterliche Verhalten nicht mehr verständlich ist“201. Der zeitliche Faktor sei in diesem Zusammenhang bei der vorzunehmenden Bewertung zwar zu berücksichtigen, aber nicht alleiniger Maßstab. Diese Grundsätze habe das OLG Hamm bei seiner Entscheidungsfindung nicht hinreichend berücksichtigt, sodass der BGH dessen Urteil aufhob und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das OLG Hamm zurückwies. (2) Das Verhältnis von § 839 Abs. 2 S. 1 und S. 2 BGB Die Kernaussage des BGH zum Verhältnis von § 839 Abs. 2 S. 1 und S. 2 BGB ist folgende: Beruht die Verzögerung des Verfahrens auf der Untätigkeit des Richters, ist der Anwendungsbereich der Amtshaftung eröffnet (§ 839 Abs. 2 S. 2 BGB). Ist dagegen eine der Urteilsfindung dienende Maßnahme zwar zum rechten Zeitpunkt vorgenommen worden, hat diese aber insgesamt zu einer verlängerten Verfahrensdauer geführt, unterliegt diese dem Richterspruchprivileg des Satzes 1. (a) Stellungnahme des Schrifttums zur Entscheidung des BGH Die Gesetzesinterpretation des BGH ist im Schrifttum auf Ablehnung gestoßen, denn es würden sich nur noch wenige Fallgruppen eindeutig unter den Anwendungsbereich des § 839 Abs. 2 S. 2 BGB subsumieren lassen.202 Zudem sei die vom BGH vorgenommene Konturierung zwischen den jeweiligen Anwendungsbereichen unpräzise.203 So sei nach dem BGH die Anordnung einer – nach Auffassung des im Amtshaftungsprozess zur Entscheidung berufenen Gerichtes – überflüssigen Beweisaufnahme dem Bereich der Amtshaftung vorbehaltlich der Grenze des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB entzogen, während die unsorgsame Anleitung eines Sachverständigen im Rahmen der Amtshaftung augenscheinlich auf deren Vertretbarkeit hin überprüft werden könne204. Es sei 200
Siehe hierzu und die folgenden Ausführungen BGH NJW 2011, 1072 (1073, Rn. 14). BGH NJW 2011, 1072 (1073, Rn. 14). 202 Hebeler, JA 2011, 719 (720); Muckel, JA 2014, 398 (399). 203 Wolf, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, LMK 2011, 317778. 204 BGH NJW 2011, 1072 (1074, Rn. 22). 201
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aber naheliegend, auch die Anleitung des Sachverständigen als Maßnahme zu begreifen, die darauf gerichtet sei, Grundlagen für die Entscheidung des Richters, nämlich das Sachverständigengutachten, zu gewinnen.205 Vor diesem Hintergrund ist die Feststellung des BGH, § 839 Abs. 2 S. 2 BGB spreche nur die Selbstverständlichkeit aus, dass in der pflichtwidrigen Untätigkeit des Richters keine unter Satz 1 subsumierbare fehlerhafte Tätigkeit gesehen werden könne, zumindest fragwürdig.206 Der Wortlaut des § 839 Abs. 2 S. 2 BGB spricht von Verweigerung und Verzögerung, nicht von Untätigkeit. Entgegen der Rechtsprechung des BGH wird im Schrifttum daher angenommen, dass der Richter seine Amtspflicht zur zügigen Verfahrensführung sowohl durch Nichtstun als auch durch überflüssiges Tun (sog. qualifizierte Prozessverzögerung) verletzen könne.207 Der Wortlaut des § 839 Abs. 2 S. 2 BGB stelle klar, dass das Spruchrichterprivileg des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB bei Verfahrensverzögerungen nicht gelte.208 § 839 Abs. 2 S. 2 BGB nehme gerade jene pflichtwidrigen richterlichen vorbereitenden Maßnahmen aus der Privilegierung heraus, deren Pflichtwidrigkeit in der Verweigerung oder Verzögerung der richterlichen Tätigkeit bestehe.209 Darüber hinaus bezwecke § 839 Abs. 2 S. 1 BGB den Schutz der Rechtskraft, indem über § 839 Abs. 1 BGB eine „Quasi-Anfechtung“ rechtskräftiger Urteile verhindert werde.210 Die Verfahrensverzögerung als eine Form des Verfahrensfehlers habe aber nur ausnahmsweise Einfluss auf den materiell-rechtlichen Entscheidungsinhalt211, sodass nicht die Entscheidung als solche, sondern der Weg dahin Gegenstand der Prüfung sei und die Durchbrechung der Rechtskraft über § 839 Abs. 1 BGB nicht zu befürchten sei212. Doch auch dieser Lösungsansatz erscheint wenig greifbar und erfasst nur einen Teilaspekt des Problems. Zunächst ist der Begriff des „Nichtstuns“ zu eng. Verfahrensverzögerungen treten nicht nur aufgrund bloßer richterlicher Untätigkeit ein213, sondern auch deswegen, weil die vom Gericht ergriffenen 205 206
Wolf, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, LMK 2011, 317778. Kritisch auch Zuck, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, JZ 2011, 476
(476). 207 Zu dieser Unterscheidung siehe Brüning, NJW 2007, 1094 (1095); Brüning, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, NJW 2011, 1077 (1077); Blomeyer, NJW 1977, 557 (558 f.); Schlette, Angemessene Frist, S. 51, 64 f.; angelegt bereits bei Häsemeyer, in: FS Michaelis 1972, S. 134 (134 f.). 208 Brüning, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, NJW 2011, 1077 (1077). So bereits Blomeyer, NJW 1977, 557 (561); Brüning, NJW 2007, 1094 (1096); Schlette, Angemessene Frist, S. 64 f. 209 Zuck, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, JZ 2011, 476 (476). 210 Blomeyer, NJW 1977, 557 (557); Schlette, Angemessene Frist, S. 64. 211 Schlette, Angemessene Frist, S. 61. 212 Blomeyer, NJW 1977, 557 (557); Schlette, Angemessene Frist, S. 65. 213 So aber offensichtlich Blomeyer, NJW 1977, 557 (558); Breuer, Staatshaftung, S. 333; Schlette, Angemessene Frist, S. 65.
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Maßnahmen nicht (hinreichend) verfahrensfördernd sind. So hat der BGH bspw. in seinem Urteil die unsorgsame Anleitung des Sachverständigen zum Anknüpfungspunkt einer amtspflichtwidrigen Verzögerung gemacht. Dabei war das den Rechtsstreit bearbeitende LG Detmold bei der Anleitung des Sachverständigen keineswegs „untätig“, sondern hatte eine Vielzahl von – letztlich unzureichenden – Maßnahmen getroffen, um den Sachverständigen zur Erstellung des Gutachtens zu bewegen.214 Ebenso bleibt die Bestimmung des „überflüssigen Tuns“ vage. Blomeyer, auf den diese Unterscheidung zurückgeht, schwebten diesbezüglich Situationen vor Augen, in denen der Richter ohne Prüfung der materiellen Erheblichkeit überflüssige Beweisanordnungen trifft, die für die Entscheidungsfindung von vornherein nicht notwendig gewesen wären („Übermaß-Aufklärung“).215 Doch welcher Prüfungsmaßstab wird bei der Beurteilung, ob eine Verfahrensmaßnahme in diesem Sinne entbehrlich ist, zugrunde gelegt? Was ist, wenn der Richter seine Rechtsauffassung im Laufe des Prozesses ändert und für seine Entscheidungsfindung auf einen bereits erhobenen Beweis doch nicht zurückgreifen muss? So gesehen, könnten sich Verfahrensmaßnahmen auch als „überflüssig“ erweisen, wenn im Rahmen des Instanzenzugs das übergeordnete Gericht eine andere Rechtsauffassung vertritt, sodass die bisher angeordneten Maßnahmen obsolet werden.216 Bevor dieser Meinungsstreit einer Entscheidung zugeführt wird, wird sich nachfolgend mit der Bewertung des BVerfG auseinandergesetzt. (b) Bewertung durch das BVerfG Das BVerfG befasste sich mit den verfassungsrechtlichen Fragen dieses Rechtsstreits in einem Kammerbeschluss vom 22. August 2013, nachdem es vom Kläger des Amtshaftungsverfahrens angerufen worden war, der eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG rügte. Der Verfassungsbeschwerde vorausgegangen war zunächst die Zurückweisung der Berufung gegen das klageabweisende landgerichtliche Urteil nach erneuter Verhandlung durch das OLG Hamm217 sowie die Zurückweisung der
214 Siehe hierzu die Sachverhaltsschilderung bei OLG Hamm, Urt. v. 08.01.2010 – 11 U 27/06, BeckRS 2010, 01415. 215 Blomeyer, NJW 1977, 557 (557). 216 Da sich ein dem Richter vorwerfbares, pflichtwidriges Verhalten anhand einer Expost-Analyse nicht begründen lässt, müsste die Beurteilung, ob eine Verfahrensverzögerung in diesem Zusammenhang vorliegt, zwingend aus einer Ex-ante-Sicht zu treffen sein, OLG Hamm, Urt. v. 08.01.2010 – 11 U 27/06, BeckRS 2010, 01415. Zur Frage, inwieweit solche Verzögerungen überhaupt rechtsstaatswidrig sind, siehe S. 176 ff. 217 OLG Hamm, Urt. v. 17.06.2011 – 11 U 27/06, BeckRS 2011, 16744.
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gegen die Nichtzulassung der Revision gerichteten Beschwerde durch den BGH218. Nach Auffassung des BVerfG verstößt die Gesetzesinterpretation des BGH zwar nicht gegen das verfassungsrechtliche Gebot des effektiven Rechtsschutzes.219 Es zeigt jedoch die verfassungsrechtlichen Grenzen dieses Ansatzes auf: Das Richterspruchprivileg bezwecke den Schutz der im Rechtsstaatsprinzip verankerten Grundsätze der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens, weswegen auch solche Maßnahmen vom Richterspruchprivileg erfasst sein können, die objektiv darauf gerichtet seien, die Grundlagen für die Sachentscheidung zu gewinnen.220 Die Erstreckung des Haftungsprivilegs auf vorbereitende Maßnahmen sei aber restriktiv nur soweit zu ziehen, wie dies durch die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens geboten sei.221 Zudem sei im Anwendungsbereich des § 839 Abs. 2 S. 2 BGB zu beachten, dass Verzögerungen, die auf privilegierte und somit nicht überprüfbare Maßnahmen beruhen würden, zur Notwendigkeit der nachhaltigen Bemühung um die Förderung und Beendigung des Rechtsstreites führen können.222 Die Gesetzesinterpretation des BGH erlaube, diese verfassungsrechtlichen Grenzen zu beachten, weswegen ein Verfassungsverstoß diesbezüglich nicht angenommen werden könne. Dagegen sei es dem OLG Hamm bei seiner Rechtsanwendung in seinem erneuten Berufungsurteil nicht gelungen, diese verfassungsrechtlichen Grenzen hinreichend zu berücksichtigen.223 Aus diesem Grund bejahte das BVerfG eine Verletzung des Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG. (c) Stellungnahme zur Entscheidung des BVerfG Analysiert man jedoch, an welche rechtliche Bewertung des OLG Hamm das BVerfG den Verfassungsverstoß unter anderem knüpfte, bekommt man den Eindruck, dass der Vorwurf der Missachtung von Grundrechten letztendlich das falsche Gericht trifft224, wie nachfolgendes Beispiel verdeutlichen soll. Ausgehend von der Verfahrensführung des Ausgangsgerichtes im Vorprozess wird auf die rechtliche Bewertung dieser Verfahrensführung durch das OLG
218
BGH, Beschl. v. 28.03.2012 – III ZR 177/11, BeckRS 2012, 08772. BVerfG NJW 2013, 3630 (3632, Rn. 33). Dass Zweifel an der verfassungsrechtlichen Legitimität dieser Auslegung berechtigt sind, bringt die Wortwahl des BVerfG durchaus zum Ausdruck, siehe Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2014, 1276 (1277). 220 BVerfG NJW 2013, 3630 (3632, Rn. 35). Offen lässt das BVerfG, ob das Haftungsprivileg darüber hinaus auf Art. 97 GG gestützt werden kann. 221 BVerfG NJW 2013, 3630 (3632, Rn. 36). Ähnlich bereits Breuer, Staatshaftung, S. 242 f. 222 BVerfG NJW 2013, 3630 (3632, Rn. 36). 223 BVerfG NJW 2013, 3630 (3633, Rn. 41). 224 So auch die Einschätzung von Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2014, 1276 (1278), nach der das BVerfG den BGH schont. 219
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Hamm (vor und nach Erlass des Revisionsurteils), durch den BGH sowie das BVerfG eingegangen225: (aa) Beispiel 1226 Nach über elfeinhalbjähriger Verfahrensdauer ging am 26. April 1995 das Gutachten des zu diesem Zeitpunkt beauftragten Sachverständigen beim LG Detmold ein, welches das Gericht am selben Tag an die Parteien zwecks Stellungnahme bis zum 31. Mai 1995 weiterleitete. Nach fristgerechtem Eingang der Stellungnahmen der Parteien bestimmte das Gericht am 06. September 1995 einen Termin zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung auf den 10. November 1995.
Das OLG Hamm kam in dem vom BGH aufgehobenen Berufungsurteil bei der Bewertung dieses Verfahrensabschnittes zu folgendem Ergebnis: Unter Berücksichtigung, dass zu diesem Zeitpunkt bereits eine lange Verfahrensdauer vorgelegen habe, sei es nicht nachvollziehbar, warum das Landgericht nicht mit Eingang des Sachverständigengutachtens bereits einen Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt, sondern bis zum 06. September 1995 damit gewartet habe. Es liege damit eine haftungsbegründende Verzögerung von vier Monaten vor.227 Der BGH beurteilte diese Verfahrensführung in seinem Revisionsurteil vom 04. November 2010 unter Anwendung seiner aufgestellten Grundsätze wie folgt: Die Entscheidung des LG Detmold, nach Eingang des Sachverständigengutachtens zunächst den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und im Anschluss daran unter Zugrundelegung der eingegangenen Stellungnahmen die Terminierung der mündlichen Verhandlung zu bestimmen, falle unter den Anwendungsbereich des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB.228 „Von einer pflichtwidrigen Verzögerung von vier Monaten kann deshalb nicht gesprochen werden, zumal nach Eingang der Schriftsätze der Parteien die sachgerechte Weiterbearbeitung des Verfahrens gewisse Zeit in Anspruch nehmen durfte.“229
Nach Zurückweisung der Sache an das OLG Hamm gelangte dieses unter Verweis der Ausführungen des BGH, die es für bindend ansah, zu der Einschätzung, dass keine haftungsrelevante Verzögerung in dem Verfahrensabschnitt vorliege.230 An diese Einschätzung des OLG Hamm knüpfte das BVerfG unter anderem die Bejahung des Verfassungsverstoßes. Es sei zwar verfassungsrechtlich nicht 225
Treffend spricht Steinbeiß-Winkelmann von einem „Rechtsprechungs-Ping-Pong“, Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2014, 1276 (1276). 226 Sachverhaltsschilderung entnommen aus OLG Hamm, Urt. v. 08.01.2010 – 11 U 27/06, BeckRS 2010, 01415. 227 OLG Hamm, Urt. v. 08.01.2010 – 11 U 27/06, BeckRS 2010, 01415. 228 BGH NJW 2011, 1072 (1075, Rn. 25). 229 BGH NJW 2011, 1072 (1075, Rn. 25). 230 OLG Hamm, Urt. v. 17.06.2011 – 11 U 27/06, BeckRS 2011, 16744.
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zu beanstanden, dass den Parteien nach Eingang des Gutachtens eine Frist zur Stellungnahme gesetzt worden sei, um somit die Gewährung rechtlichen Gehörs sicherzustellen.231 Jedoch hätte sich das LG Detmold in Anbetracht der fortgeschrittenen Verfahrensdauer um die nachhaltige Förderung des Rechtsstreits bemühen müssen und daher im Anschluss an den Eingang der Stellungnahmen eine Terminierung vornehmen müssen, was das OLG Hamm bei seiner Bewertung völlig außer Acht gelassen habe. Das Verhalten des LG Detmold könne unter Verweis auf das Richterspruchprivileg daher nicht gerechtfertigt werden. Anders als vom OLG Hamm angenommen, sei in diesem Zusammenhang das Revisionsurteil des BGH nicht bindend gewesen, sondern habe die Möglichkeit eröffnet, das Beschleunigungsgebot zu beachten. (bb) Beurteilung des Beispiels 1 Ob das OLG Hamm in diesem Zusammenhang tatsächlich nicht nach § 563 Abs. 2 ZPO an die Ausführungen des BGH gebunden war, erscheint zumindest zweifelhaft, da der BGH augenscheinlich den gesamten hier beschriebenen Verfahrensvorgang unter den Anwendungsbereich des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB subsumierte.232 Denn nach dessen Auffassung durfte gerade auf Grundlage der Stellungnahmen entschieden werden, wie das weitere Verfahren zu betreiben sei, sodass, wie auch betont wird, dem Gericht nach Eingang der Schriftsätze eine gewisse Zeit für deren Bearbeitung zu gewähren sei.233 Im Gegensatz dazu stellt das BVerfG in seinem Beschluss heraus, dass aufgrund der langen Verfahrensdauer eine Terminierung unmittelbar nach Eingang der (kurzen) Stellungnahmen hätte erfolgen müssen, also eine Verfahrensverzögerung von drei Monaten zu veranschlagen sei234. Es entbehrt nicht einer gewissen (Tragik)Komik, dass ausgerechnet dem OLG Hamm, welches sich offensichtlich in seinem vom BGH aufgehobenen Urteil der Beachtung des verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebotes verschrieben hatte, die Nichtberücksichtigung desselben vorgeworfen wird, nachdem es (vermeintlich) bei Auslegung des § 839 Abs. 2 BGB die Maßstäbe des BGH in seinem erneuten Berufungsurteil anwendete.235 (d) Schlussfolgerungen Nicht zu übersehen ist, dass das Aufzeigen der verfassungsrechtlichen Grenzen vom BVerfG die Gesetzesinterpretation des BGH in ein ganz anderes Licht rückt. Dies wird bereits deutlich, wenn das BVerfG ausführt, dass eine nach 231
Siehe hierzu und im Folgenden BVerfG NJW 2013, 3630 (3633, Rn. 43). Zu diesem Ergebnis ebenfalls kommend Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2014, 1276 (1277 f.). 233 BGH NJW 2011, 1072 (1075, Rn. 25, Hervorhebungen durch die Verfasserin). 234 BVerfG NJW 2013, 3630 (3633, Rn. 43). 235 Siehe auch Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2014, 1276 (1278). 232
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§ 839 Abs. 2 S. 1 BGB privilegierte Maßnahme nachfolgend die Pflicht auslösen könne, sich verstärkt um die Förderung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen, was im Rahmen von § 839 Abs. 2 S. 2 BGB überprüft werden könne.236 Ein solch restriktives Gesetzesverständnis hatte der BGH, wie aufgezeigt, nicht im Sinn.237 Entgegen den Stimmen der Literatur ist dem BGH und dem BVerfG zuzustimmen, dass auch prozessleitende urteilsdienende Maßnahmen dem Haftungsprivileg des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB unterliegen. Das Haftungsprivileg dient dem Schutz der Rechtssicherheit sowie des Rechtsfriedens und bezweckt, dass eine Nachprüfung inhaltlicher Art nach Abschluss des rechtskräftigen Ausgangsverfahrens nur bei Vorliegen einer Straftat erfolgen soll. Ob und inwieweit prozessleitende Maßnahmen für die Entscheidungsfindung notwendig gewesen sind, würde eine Inhaltskontrolle erfordern, die es rechtfertigt, § 839 Abs. 2 S. 1 BGB anzuwenden. Das Verfassungsgericht hat mit seinem restriktiven Ansatz aber deutlich gemacht, dass allein die Entscheidung über das „Ob“ der Nachprüfung im Amtshaftungsprozess entzogen ist, während das „Wann“ und „Wie“ sehr wohl überprüfbar bleiben. (3) Die Vertretbarkeitskontrolle des BGH Der BGH fasst die entscheidenden Aussagen über die Vertretbarkeitskontrolle in seinem zweiten Leitsatz wie folgt zusammen: „Auch außerhalb des Anwendungsbereichs des § 839 Abs. 2 Satz 1 BGB ist der verfassungsrechtliche Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit zu berücksichtigen. Daraus folgt, dass das richterliche Verhalten bei der Prozessführung im Amtshaftungsprozess nur auf seine Vertretbarkeit hin zu überprüfen ist. Bei der Würdigung, ob dem Richter pflichtwidrige Verzögerungen anzulasten sind (§ 839 Abs. 2 Satz 2 BGB), ist zu beachten, dass sich bei zunehmender Verfahrensdauer die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Förderung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen, verdichtet. Der Zeitfaktor ist aber auch bei langer Verfahrensdauer nicht der allein entscheidende Maßstab.“238
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BVerfG NJW 2013, 3630 (3633, Rn. 36). So auch Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2014, 1276 (1278). Ähnlich die Einschätzung von Brüning, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, NJW 2011, 1077 (1077): „Kaum zu übersehen ist, dass der BGH vorrangig bemüht ist, Rechtsfehler in der Beurteilung des OLG zu finden.“ Ganz anders die Bewertung von Fölsing, nach dem der BGH die Argumentation des OLG Hamm weitgehend bestätigt hat, Fölsing, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, EWiR 2011, 145 (145). 238 BGH NJW 2011, 1072 (1072, 2. Leitsatz). 237
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(a) Stellungnahme zur Entscheidung des BGH Dass es bei dieser Problematik letztendlich um das verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen Art. 97 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG geht, lässt der BGH unausgesprochen.239 Sowohl im zweiten Leitsatz als auch in den Urteilsgründen stellt der BGH seinen Ausführungen bezüglich der Vertretbarkeitskontrolle die Bemerkung voran, dass der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit auch außerhalb des Anwendungsbereiches von § 839 Abs. 2 S. 1 BGB zu berücksichtigen sei. Der Schutz der richterlichen Unabhängigkeit dient also als Rechtfertigung für den eingeschränkten Prüfungsmaßstab; statt einer Richtigkeitskontrolle erfolgt eine bloße Vertretbarkeitskontrolle. In diesem Zusammenhang begreift der BGH Art. 97 Abs. 1 GG offenbar als vorrangig zu berücksichtigende Schutznorm zugunsten des Richters und interpretiert das Tatbestandsmerkmal der pflichtwidrigen, haftungsbegründenden Verzögerung in ihrem Lichte, sodass die oben angesprochene Normenkollision im Ergebnis einseitig zu Lasten des Verfahrensbeteiligten und seinem subjektiven Recht auf angemessene Verfahrensdauer gelöst wird.240 Problematisch ist dieser Ansatz jedoch vor dem Hintergrund, dass der Anknüpfungspunkt der Amtspflichtverletzung die Missachtung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer ist, sodass es sachgerecht ist, auch in diesem Zusammenhang die Bewertungsmaßstäbe des EGMR und des BVerfG heranzuziehen. Doch das Gebot der richterlichen Unabhängigkeit spielt bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer in der Entscheidungspraxis beider Gerichte erkennbar keine (tragende) Rolle.241 Es wird nicht als Rechtfertigung für einen eingeschränkten Kontrollmaßstab der richterlichen Verfahrensführung herangezogen. Zuck vertritt daher die Auffassung, dass die Vertretbarkeitskontrolle des BGH dem Verfassungsrecht nicht gerecht werde und im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG nach objektiven Kriterien zu beurteilen sei, ob eine haftungsbegründende Verfahrensverzögerung vorliege.242
239 Siehe auch Zuck, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, JZ 2011, 476 (476 f.): Verortung des Art. 97 Abs. 1 GG durch den BGH ist im Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf angemessene Verfahrensdauer unklar. 240 Zuck, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, JZ 2011, 476 (477 f.); Brüning, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, NJW 2011, 1077 (1077). Dem BGH im Ergebnis zustimmend Wolf, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, LMK 2011, 317778; Remus, NJW 2012, 1403 (1405 f.). Diese Tendenz des BGH auch im Rahmen des Dienstaufsichtsrechtes erkennend Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer, S. 95; Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 266. 241 Ebenso Zuck, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, JZ 2011, 476 (477 f.). 242 Zuck, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, JZ 2011, 476 (477 f.). Kritisch Stahnecker, Entschädigung, Rn. 99.
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(b) Bewertung durch das BVerfG Dieser Ansicht ist das BVerfG in seinem Kammerbeschluss vom 22. August 2013 aber entgegengetreten. Ein Auslegungsfehler des BGH, der auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz beruhe, sei nicht zu erkennen.243 Dass streitige Gerichtsverfahren in angemessener Verfahrensdauer geklärt werden müssen, könne im Rahmen der Vertretbarkeitskontrolle des BGH hinreichend Berücksichtigung finden, sodass diese nicht das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz des Beschwerdeführers verletze.244 Doch auch in diesem Zusammenhang erblickt das BVerfG in der Rechtsanwendung des OLG Hamm einen Grundrechtsverstoß gegen das verfassungsrechtliche Effektivitätsgebot.245 (c) Stellungnahme zur Entscheidung des BVerfG Gleichermaßen soll diesbezüglich ein näherer Blick auf den Anknüpfungspunkt des Verfassungsverstoßes geworfen und der Frage nachgegangen werden, ob der Vorwurf der Missachtung von Grundrechten wiederum das falsche Gericht trifft. (aa) Beispiel 2 Nach über sechzehnjähriger Verfahrensdauer beraumte das zu diesem Zeitpunkt zuständige Gericht (OLG Hamm) am 23. März 2000 einen Termin zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung auf den 09. November 2000 an.246
Im Rahmen des Amtshaftungsprozesses befand das OLG Hamm in seinem ersten Berufungsurteil, dass keine sachlichen Gründe dafür ersichtlich seien, warum eine Terminierung erst so spät erfolgt sei. Dies werde der Verpflichtung nicht gerecht, sich mit zunehmender Verfahrensdauer um die Förderung und Beendigung des Rechtsstreites zu bemühen, sodass diese Art der Verfahrensführung eine pflichtwidrige, haftungsbegründende Verzögerung zur Folge habe.247 Offen ließ das Gericht aber, welche Verzögerungsdauer es diesbezüglich konkret ansetzte. Der BGH kritisierte diese Beurteilung des OLG Hamm im Revisionsurteil als zu pauschal248: Zwar könne die Entscheidung des Gerichtes, wann nach Eintritt der Terminreife die mündliche Verhandlung stattfinde, auf ihre Vertretbarkeit hin überprüft werden. Das OLG Hamm habe die in diesem 243
BVerfG NJW 2013, 3630 (3632, Rn. 37). BVerfG NJW 2013, 3630 (3632, Rn. 37). 245 BVerfG NJW 2013, 3630 (3633, Rn. 41). 246 Ausführliche Sachverhaltsschilderung bei OLG Hamm, Urt. v. 08.01.2010 – 11 U 27/06, BeckRS 2010, 01415. 247 OLG Hamm, Urt. v. 08.01.2010 – 11 U 27/06, BeckRS 2010, 01415. 248 Hierzu und den nachfolgenden Ausführungen BGH NJW 2011, 1072 (1075, Rn. 29). 244
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Verfahrensstadium wesentlichen Umstände für die Beurteilung aber nicht hinreichend herausgearbeitet. So sei bspw. der zu ladende Sachverständige bis zum 18. September 2000 terminlich verhindert gewesen, womit sich das Gericht näher hätte auseinandersetzen müssen. Nach erneuter Verhandlung des OLG Hamm gelangte dieses unter Berücksichtigung der konkreten Verfahrensumstände zu dem Ergebnis, dass die vom Gericht vorgenommene Terminierung nachvollziehbar und verständlich sei, da Bemühungen des Gerichtes um eine frühere Terminierung zwar erkennbar, aber im Ergebnis auch wegen Hinderungsgründen auf Seiten der Parteienvertreter und des Sachverständigen erfolglos gewesen seien.249 Das BVerfG kritisiert in seinem Kammerbeschluss, dass die Bewertung des OLG Hamm nicht berücksichtige, dass sich nach dieser beträchtlichen Verfahrensdauer die Pflicht des Gerichtes geradezu aufdränge, die Förderung und Beendigung des Verfahrens voranzutreiben und es somit nicht ausreiche, den Fall wie einen gewöhnlichen Rechtsstreit zu behandeln.250 Lediglich fünf Terminvorschläge für einen Zeitraum von siebeneinhalb Monaten würden dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot nach über sechzehnjähriger Verfahrensdauer nicht gerecht.251 (bb) Beurteilung des Beispiels 2 Ebenso wie im ersten Beispiel ist es nach dem BVerfG allein dem OLG Hamm nicht gelungen, die mit dem Verfassungsrecht im Einklang stehenden Grundsätze des BGH verfassungsgemäß anzuwenden – ein paradoxes Ergebnis, wenn man bedenkt, dass das OLG Hamm in seinem ersten Berufungsurteil die Verfahrensführung des „eigenen Hauses“ gerade unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebotes rügte. Es kann nicht in Abrede gestellt werden, dass sich das OLG Hamm bei seinem zweiten Versuch (lediglich) an den Ausführungen des Revisionsurteils und der vom BGH vorgegebenen Richtung – Art. 97 Abs. 1 GG als vorrangig zu berücksichtigende Schutznorm zugunsten des Richters – orientierte. Die Ausführungen des BGH, es sei bei der Beurteilung des OLG Hamm unberücksichtigt geblieben, dass der Terminplan des Sachverständigen eine frühere Terminierung zumindest für einen Zeitraum von sechs Monaten nicht möglich gemacht habe, deuten klar in diese Richtung. Zudem führte der BGH an, dass der Senatsvorsitzende im Vorprozess durchaus begründet habe, warum eine frühere Terminierung nicht möglich gewesen sei und somit nicht grundlos ei-
249
OLG Hamm, Urt. v. 17.06.2011 – 11 U 27/06, BeckRS 2011, 16744. BVerfG NJW 2013, 3630 (3633, Rn. 44). 251 BVerfG NJW 2013, 3630 (3633, Rn. 44). Die Missachtung des Beschleunigungsgebotes bei der Bewertung der Vertretbarkeit wurde dem OLG Hamm noch zwei weitere Male vom BVerfG vorgeworfen, siehe BVerfG NJW 2013, 3630 (3633, Rn. 43, 46). 250
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nen derart späten Termin angesetzt habe – ein weiteres Indiz für die Vertretbarkeit der Verfahrensführung. Vor diesem Hintergrund erscheint die neuerliche Bewertung dieses Verfahrensabschnittes durch das OLG Hamm als konsequente Anwendung der Auslegungsmaßstäbe des BGH. Unverständlich ist daher, dass das BVerfG in seinem Kammerbeschluss partout darauf bedacht ist, die Gesetzesinterpretation des BGH aufrechtzuerhalten252, denn im Ergebnis wird hierdurch die Gesetzesauslegung des BGH in einem nicht unerheblichen Maße relativiert.253 (d) Schlussfolgerungen (aa) Die Vertretbarkeitskontrolle des BGH im Gewand des BVerfG Was bleibt also unter Berücksichtigung der vom BVerfG angelegten Maßstäbe von der Vertretbarkeitskontrolle des BGH übrig? Festzuhalten ist, dass im Rahmen der Vertretbarkeitskontrolle eine Abwägungsentscheidung dahingehend erforderlich ist, ob die Verfahrensführung des Gerichtes noch vertretbar, d.h. verständlich, ist. Neben dem Aspekt der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege ist dabei auch der Zeitfaktor zu berücksichtigen. Doch während der BGH in diesem Zusammenhang Art. 97 GG scheinbar als vorrangig zu berücksichtigende Schutzvorschrift begreift, erteilt das BVerfG diesem Ansatz im Ergebnis eine Absage, indem es dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot augenscheinlich einen anderen Stellenwert bei der Beurteilung der Vertretbarkeit einräumt und damit die Vertretbarkeitsprüfung des BGH pervertiert. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang bereits, dass das BVerfG darüber schweigt, ob das verfassungsrechtliche Gebot der richterlichen Unabhängigkeit einen eingeschränkten Kontrollmaßstab gebietet. Dass die Vertretbarkeitskontrolle gerade kein Spezifikum der Haftung bei judikativem Unrecht ist, zeigt auch die Rechtsprechung des BGH, der den Haftungsmaßstab der Vertretbarkeit bei Rechtsanwendungsfragen nicht nur für Richter zugrunde legt.254 Für die Vertretbarkeitsprüfung des BGH bedeuten diese Feststellungen nach hier vertretener Auffassung, dass nach dem Kammerbeschluss des BVerfG von dieser nur noch ihr Name übrigbleibt. Dieser täuscht darüber hinweg, dass die Feststellung der Vertretbarkeit der zeitlichen Verfahrensgestaltung richtigerweise nach dem Kriterienkatalog des EGMR und des BVerfG zu treffen ist.255 252 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch die vom BVerfG gewählte Formulierung, das Gesetzesverständnis des BGH werde den verfassungsrechtlichen Vorgaben „noch gerecht“, BVerfG NJW 2013, 3630 (3632, Rn. 37). Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2014, 1276 (1278) spricht von der „mittelbaren Kritik am BGH“. 253 So auch Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2014, 1276 (1278); Steinbeiß-Winkelmann/ Sporrer, NJW 2014, 177 (179, Fn. 19). 254 Breuer, Staatshaftung, S. 233, 251. 255 Im Ergebnis auch Zuck, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, JZ 2011, 476 (477). Nach Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 54 steht die
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Die Vertretbarkeitsprüfung des BGH ist daher mit der Angemessenheitsprüfung des BVerfG und des EGMR gleichzusetzen. Eine vertretbare Verfahrensführung in diesem Sinne liegt demnach nur vor, wenn die Verfahrensführung dem Anspruch des Rechtsschutzsuchenden auf angemessene Verfahrensdauer gerecht wird, was nach den Umständen des Einzelfalles zu beurteilen ist.256 (bb) Das Verhältnis zwischen dem Gebot der richterlichen Unabhängigkeit und der Effektivitätsgarantie Wie bereits erläutert, lässt sich aus Art. 97 Abs. 1 GG kein eingeschränkter Prüfungsmaßstab bezüglich der Justiziabilität richterlicher Verfahrensführung ableiten. Zu klären bleibt damit, in welchem Maße Art. 97 Abs. 1 GG im Rahmen der Vertretbarkeits- bzw. Angemessenheitsprüfung zu berücksichtigen ist. Das Verhältnis zwischen dem Gebot der richterlichen Unabhängigkeit und der Effektivitätsgarantie hat Zuck zutreffend wie folgt beschrieben: Das Gebot der richterlichen Unabhängigkeit aus Art. 97 Abs. 1 GG ist als „äußerste Grenze“ aufzufassen, die bei der Interpretation und Auslegung des Gebotes des effektiven Rechtsschutzes nicht überschritten werden darf.257 Richtigerweise darf die „äußerste Grenze“ nicht derart verstanden werden, dass demjenigen Richter, der den Rechtsstreit bearbeitet, stets ein zeitlicher Ermessensspielraum als „äußerste Grenze“ verbleibt, die nicht überschritten werden darf. Es bedeutet vielmehr, dass die Frage nach der Angemessenheit der Verfahrensdauer allein anhand der Umstände im Einzelfall zu beurteilen ist und lediglich als „äußerste Grenze“ das Gebot der richterlichen Unabhängigkeit zu beachten ist.258 Sie sagt also etwas zum Stellenwert des Gebotes der richterlichen Unabhängigkeit aus, die damit nicht zum Rechtfertigungspostulat von Verzögerungen gemacht werden darf. So hat das BVerfG in einer Entscheidung hervorgehoben, dass dem Richter gerade dann kein Gestaltungsspielraum mehr zustehe, wenn die Untätigkeit des Gerichtes durch eine übergeordnete Instanz bereits Entscheidung des BGH nicht im grundsätzlichen Widerspruch zur Rechtsprechung des EGMR, sie erhöhe aber die Begründungsanforderungen für das Vorliegen einer unangemessenen Verfahrensdauer. 256 Vgl. Zuck, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, JZ 2011, 476 (477). So ausdrücklich BVerfG NJW 2006, 672 (673). Vgl. auch Roller, DRiZ Beilage Juni 2012, 1 (1): Vertretbarkeit ist Synonym für Angemessenheit. Ähnlich auch Schlette, Angemessene Frist, S. 49: „Der einzelne Richter besitzt zeitbezogenes Ermessen bzgl. der Streitsache folglich nur insoweit, als ihm Art. 19 Abs. 4 GG Spielraum beläßt.“. 257 Zuck, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, JZ 2011, 476 (477). 258 In diese Richtung aber die Interpretation von Dietrich, ZZP 127 (2014), 169 (184) über Zucks These. Meines Erachtens steht Zucks These also nicht im Widerspruch zur Aussage Dietrichs, dass derjenige Richter, der ein „abgesoffenes Dezernat“ übernehme, bestenfalls geringe Gestaltungsspielräume bei der Verfahrensgestaltung habe und somit ein Ermessensspielraum beim Richter als „äußerste Grenze“ gerade nicht verbleibe.
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festgestellt worden sei.259 Dabei bestimmt sich die Reichweite der Unabhängigkeitsgewährleistung nach der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege. In zeitlicher Hinsicht ist dem Gebot der richterlichen Unabhängigkeit also insofern Rechnung zu tragen, als dass bei der Beurteilung der Angemessenheit keine derart zeitlich unangemessenen Anforderungen an die Verfahrensführung des Richters gestellt werden dürfen, welche die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege gefährden oder gar beeinträchtigen würden.260 Demnach geht jeder gerichtlichen Untätigkeit eine Zeitspanne voraus, die als zeitlich angemessen zu beurteilen ist. Es muss folglich den Gerichten ein zeitlicher Rahmen zugestanden werden, damit sie über die Sach- und Rechtslage nachdenken und Entscheidungen treffen können.261 Die beschriebene Grenzfunktion des Art. 97 Abs. 1 GG legt im Ergebnis das bei der Abwägungsentscheidung relevante dogmatische Fundament frei: Der Grund, weswegen nicht jedes verfahrensverzögernde Verhalten zur Annahme einer haftungsbegründenden Verzögerung führt, ist in erster Linie nicht in Art. 97 Abs. 1 GG und einem aus ihm abgeleiteten eingeschränkten Prüfungsmaßstab zu suchen262, sondern der Erkenntnis geschuldet, dass dem Gebot rechtzeitigen Rechtsschutzes Verfassungsgüter entgegenstehen, die eine Verfahrensweise erfordern, die Zeit beansprucht. Aus dem rechtsstaatlichen Justizgewährungsanspruch entspringt die Pflicht der Gerichte, den Streitgegenstand einer umfassenden Prüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu unterziehen.263 Aus Art. 103 Abs. 1 GG leitet sich das Recht des Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör ab. Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verbürgt das Recht auf ein faires Verfahren.264 Fördert der Richter bspw. Vergleichsverhandlungen, die sich verlängernd auf das Verfahren auswirken, ist der Rechtfertigungsgrund hierfür nicht in Art. 97 Abs. 1 GG zu suchen, sondern darin, dass diese Vorgehensweise dem Gebot des Rechtsfriedens, welches im Rechtsstaatsprinzip verankert ist, Rechnung trägt.265 Diese dem Recht auf
259
BVerfG NJW 2005, 3488 (3489). Zuck, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, JZ 2011, 476 (477). 261 Vgl. bspw. BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 39 ff., juris; BVerwG, Urt. v. 26.02.2015 – 5 C 5/14 D, Rn. 42 f., juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 20.12.2013 – L 37 SF 82/12 EK R, Rn. 45, juris. 262 So ist – zumindest in Übereinstimmung mit der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung – der Grund für die Haftungsprivilegierung des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB vornehmlich in den rechtsstaatlichen Prinzipien der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens zu suchen, BVerfG NJW 2013, 3630 (3632) mit weit. Nachw. 263 BVerfGE 54, 277 (291); 84, 366 (369); 85, 337 (345); BVerfG NJW 1997, 2811 (2812); NJW 1999, 2582 (2583). 264 BVerfG NJW 2004, 2887 (2887); NJW 2008, 2243 (2243 f.); NJW 2014, 205 (205). 265 Vgl. auch Germelmann, JbArbR 49 (2012), 41 (46); LSG Erfurt, Urt. v. 26.11.2013 – L 3 SF 1135/12 EK, Rn. 110, juris. 260
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angemessene Verfahrensdauer gegenüberstehenden Verfassungsgüter sind im Wege der praktischen Konkordanz in Ausgleich zu bringen.266 Um die richterliche Ermessensausübung in zeitlicher Hinsicht zu apologetisieren, bedarf es also nicht des Primats der richterlichen Unabhängigkeit. Sie ist vielmehr funktionales Äquivalent zur sachgerechten Erfüllung der Rechtsprechungsaufgabe.267 Rechtfertigung und Schranke der richterlichen Unabhängigkeit sind die Bindung des Richters an Gesetz und Recht (Art. 97 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG).268 Der Richter hat seine Tätigkeit mithin an der Justizgewährleistungspflicht auszurichten269, die Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit garantiert. Die richterliche Unabhängigkeit erlangt also nur insoweit Bedeutung, wie die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege beeinträchtigt bzw. gefährdet wird. Damit wird Art. 97 Abs. 1 GG hinreichend Rechnung getragen, der kein grundrechtliches Abwehrrecht des Richters ist, sondern Rechtsprechung frei von Fremdbeeinflussung gewährleistet.270 Die Überprüfung der richterlichen Ermessensausübung durch das Entschädigungsgericht hat sich demnach nicht an Art. 97 Abs. 1 GG zu orientieren. Hieraus lässt sich kein eingeschränkter Prüfungsmaßstab herleiten. Sicherlich ist streitbar, ob die hier beschriebenen Abwägungsprinzipien nicht gerade Ausdruck einer praktischen Konkordanz aller widerstreitenden Verfassungsgüter sind, sodass sich hinter dem Ansatz, das Gebot der richterlichen Unabhängigkeit als „äußerstes Grenze“ aufzufassen, nichts anderes verbirgt. In Kontrast zum BGH richtet dieser Ansatz aber den Blick weg von der Vorrangstellung der richterlichen Unabhängigkeit hin zu den in der Abwägungsentscheidung maßgeblichen Verfassungsprinzipien. Im Ergebnis ist zu prüfen, ob das Gericht bei seiner Prozessleitung, das Recht auf angemessene Verfahrensdauer in der konkreten prozessualen Situation hinreichend beachtet und fehlerfrei gegen andere verfahrensverlängernde Justiz- und Verfahrensgarantien abgewogen hat.271 Dabei gewinnt das Zeitelement in der Regel erst mit zunehmender Verfahrensdauer an Gewicht bei der Abwägung.272
266
Wilfinger, Gebot effektiven Rechtsschutzes, S. 84 f.; Reich, Beschleunigungspflichten, S. 213. 267 Ähnlich auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 128. 268 BGH NJW 1977, 437 (437). 269 Papier, NJW 2001, 1089 (1090). 270 BGH NJW 1977, 437 (437); Papier, NJW 2001, 1089 (1090). 271 Vgl. zu § 198 GVG BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R, Rn. 36, juris; BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/14 R, Rn. 42, juris. 272 Nachweise siehe 2. Kap. Fn. 58.
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Der Rechtsstreit wurde vom BVerfG erneut an das OLG Hamm verwiesen, welches sich mit dem vorliegenden Rechtsstreit zum dritten Mal auseinandersetzen musste. Auf den Umstand, dass Streitgegenstand des Amtshaftungsverfahrens die überlange Verfahrensdauer eines vorangegangenen Rechtsstreites ist, sei nur hingewiesen. d. Haftungsausschluss nach § 839 Abs. 3 BGB Der Verfahrensbeteiligte kann seinen durch die überlange Verfahrensdauer verursachten Schaden nur dann ersetzt verlangen, wenn er es nicht vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch die Einlegung eines Rechtsmittels abzuwenden, § 839 Abs. 3 BGB. Der Begriff des Rechtsmittels ist untechnisch zu verstehen, also nicht im prozessualen Sinne.273 So hat der Verletzte jeden Rechtsbehelf einzulegen, der sich unmittelbar gegen das amtspflichtwidrige Handeln oder Unterlassen richtet und der dessen Beseitigung oder Berichtigung zum Ziel hat sowie zur Abwendung des Schadens geeignet ist.274 Es gilt daher zu untersuchen, ob die soeben vorgestellten Rechtsbehelfe vom Verfahrensbeteiligten erhoben werden müssen, um einem etwaigen Amtshaftungsanspruch nicht verlustig zu gehen. Die Rechtsprechung legt § 839 Abs. 3 BGB sehr extensiv aus und verlangt in diesem Zusammenhang auch die Einlegung formloser Rechtsbehelfe, wie bspw. die Dienstaufsichtsbeschwerde275. Das Schrifttum begegnet diesem weiten Begriffsverständnis überwiegend kritisch276 und lehnt es bei einer sich abzeichnenden überlangen Verfahrensdauer zutreffend ab, die Erhebung einer Dienstaufsichtsbeschwerde zu verlangen277. Dasselbe muss für das Ablehnungsgesuch wegen Befangenheit des Richters gelten.278 In beiden Fällen kann eine Schadensabwendung nicht erreicht werden. Die Dienstaufsichtsbeschwerde eröffnet dem Dienstvorgesetzten gerade nicht die Möglichkeit, konkret auf ein einzelnes Verfahren Einfluss zu nehmen. Der Antrag wegen Befangenheit des Richters führt durch den Austausch des Richters primär zu weiteren Verzögerungen. 273
Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 95. St. Rspr. BGHZ 28, 104 (106); 123, 1 (7); 137, 11 (23); BGH NJW 1978, 1522 (1523); BGH, Urt. v. 21.03.1963 – III ZR 8/62, BeckRS 1963, 31189395; BGH, Urt. v. 11.03.1980 – VI ZR 91/79, BeckRS 1980, 30388051. 275 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 95 mit weit. Nachw. 276 Siehe nur Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 96; Zimmerling, in: jurisPKBGB, § 839 BGB, Rn. 227. 277 Schlette, Angemessene Frist, S. 65 (Fn. 115); Stabel, Angemessene Dauer, S. 205; Breuer, Staatshaftung, S. 346 f.; Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 184. Dagegen Terhechte, DVBl 2007, 1134 (1143). Zumindest aus „Sicherheitsgründen“ sei die Dienstaufsichtsbeschwerde aber zu erheben, Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 139 f. 278 Breuer, Staatshaftung, S. 349; Reich, Beschleunigungspflichten, S. 678 f. 274
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Zwar kann die ungeschriebene Untätigkeitsbeschwerde unter den weiten Rechtsmittelbegriff des § 839 Abs. 3 BGB subsumiert werden, dennoch ist ihre Erhebung vom Betroffenen nicht zu verlangen. Insofern kann die Argumentation des BVerfG zur Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde fruchtbar gemacht werden, nach der vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde die Erhebung gesetzlich nicht geregelter Rechtsbehelfe wegen des Gebots der Rechtsmittelklarheit nicht zu fordern ist.279 Als außerordentlicher Rechtsbehelf scheidet auch die Verfassungsbeschwerde als vorrangig zu erhebender Rechtsbehelf i.S.v. § 839 Abs. 3 BGB aus.280 Nach dem Vorstehenden muss im Ergebnis also kein Rechtsmittel i.S.v. § 839 Abs. 3 BGB vor Geltendmachung von Amtshaftungsansprüchen wegen richterlicher Untätigkeit erhoben werden. 2. Amtshaftung wegen Organisationsmängeln Als Ursache für überlange Gerichtsverfahren kommen auch strukturelle Organisationsmängel in Betracht, wie bspw. die unzureichende Ausstattung der Gerichte in personeller Hinsicht oder das Nichtergreifen von Abhilfemaßnahmen bei Überlastungssituationen durch die Justizverwaltungen. Differenziert werden muss also, welchem Verantwortungsbereich diese Organisationsmängel zuzuordnen sind. a. Amtshaftung des Haushaltsgesetzgebers Kann eine unangemessene Verfahrensdauer auf eine strukturell bedingte Überlastung eines Gerichtes zurückgeführt werden, für die ein gesetzgeberisches Handeln bzw. Unterlassen verantwortlich gemacht werden kann, stellt sich die Frage, ob dem Betroffenen ein Amtshaftungsanspruch zusteht. Aus Art. 19 Abs. 4 GG als institutionelle Garantie entspringt die Verpflichtung, für die Leistungsfähigkeit der Justiz Sorge zu tragen, um somit einen effektiven, rechtzeitigen Rechtsschutz garantieren zu können.281 Kommt der Gesetzgeber auf Landes- oder Bundesebene dieser Verpflichtung nicht nach, indem bspw. eine hinreichende Zuweisung von Stellen und Mitteln unterlassen wird, kann hierin
279
Breuer, Staatshaftung, S. 356. Im Ergebnis auch Schlette, Angemessene Frist, S. 65; Terhechte, DVBl 2007, 1134 (1143). A.A. Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 184 f. 280 BGHZ 30, 19 (28); Wöstmann, in: Staudinger BGB, § 839 BGB, Rn. 341; Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 96; Breuer, Staatshaftung, S. 364. 281 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 14, 263; Weber-Grellet, NJW 1990, 1777 (1778); Schlette, Angemessene Frist, S. 29, 65 f.; Terhechte, DVBl 2007, 1134 (1134); BGH NJW 2007, 830 (832); BVerfGE 36, 264 (274 f.). Dies entspricht auch der st. Rspr. des EGMR, Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 202.
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ein Anknüpfungspunkt für die Verletzung einer Amtspflicht gesehen werden, da es jedweder Staatsgewalt obliegt, rechtmäßig zu handeln.282 Neuralgischer Punkt im Bereich des legislativen bzw. normativen Unrechts283 ist jedoch die Drittbezogenheit von Amtspflichten, die nach der Rechtsprechung vorliegt, wenn die Amtspflicht zumindest auch den Zweck hat, das Interesse gerade dieses Geschädigten wahrzunehmen.284 Prinzipaliter dienen Amtspflichten öffentlicher Amtsträger jedoch den Interessen der Allgemeinheit, sodass ein individualschützender Charakter nur bei Bestehen besonderer Beziehungen zu einer bestimmten Person bzw. einem Personenkreis angenommen wird.285 Diese liegen bei Erlass abstrakter Rechtssätze nach ständiger Rechtsprechung aber nicht vor, sodass eine Amtshaftung für legislatives bzw. normatives Unrecht regelmäßig ausscheidet.286 b. Amtshaftung der Justizverwaltungen Auch die Justizbehörden trifft in ihrem Verantwortungsbereich die Verpflichtung, für Organisationsstrukturen zu sorgen, die eine rechtzeitige gerichtliche Entscheidung ermöglichen. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung des BGH vom Januar 2007, in der ein Amtshaftungsanspruch wegen verzögerter Grundbucheintragung gegen den Dienstherrn mit der Begründung bejaht wurde, dass den „Zentralstellen“ eine drittgerichtete Amtspflicht zur sachgerechten Mittelverwendung obliege.287 Insofern gab der BGH seine Rechtsprechung auf, nach der lediglich die Personal- und Mittelverwendung durch die „unteren Stellen“ drittschützenden Charakter haben sollte.288
282 Wöstmann, in: Staudinger BGB, § 839 BGB, Rn. 117; Reinert, in: BeckOK-BGB, § 839 BGB, Rn. 35 f.; Detterbeck, JA 1991, 7 (10): Amtspflicht zum Erlass verfassungsgemäßer Gesetze. 283 Zu der Abgrenzung siehe Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 104 ff. 284 St. Rspr.: BGHZ 39, 358 (363); 137, 11 (15); 140, 380 (382); 162, 49 (55); 182, 370 (374, Rn. 14). 285 Reinert, in: BeckOK-BGB, § 839 BGB, Rn. 60. 286 BGHZ 56, 40 (46); 84, 292 (300); 87, 321 (335); 102, 350 (367); 170, 260 (268, Rn. 21). Dagegen Brüning, NJW 2007, 1094 (1097): Bei der Drittbezogenheit sei nicht auf den Erlass der Rechtsnormen abzustellen, sondern vielmehr darauf, welche Grundrechte, die zweifelsohne drittschützenden Charakter haben, der Gesetzgeber bei Erlass der Rechtsnormen zu beachten habe. Würde der Haushaltsgesetzgeber keine ausreichenden Ressourcen zur Verfügung stellen, sei demnach auf die Verletzung des Justizgewährleistungsanspruches als grundrechtliche Schutzpflicht abzustellen. Ebenso Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 141 f. 287 BGH NJW 2007, 830 (830 ff.). Anders noch BGH NJW 1959, 574 (574); BGH VersR 1963, 1080 (1082). 288 BGHZ 111, 272 (274 f.).
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Diese auch auf den Bereich der Judikative übertragbare Rechtsprechung289 führt im Ergebnis zu einer Haftungserweiterung im Bereich der Amtshaftung wegen überlanger Verfahrensdauer, auch wenn Lücken im Haftungssystem verbleiben290. 3. Ergebnis Der Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG eröffnet dem Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, Ersatz für seinen durch die unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens eingetretenen Schaden zu verlangen. Dabei muss im Rahmen der Amtshaftung differenziert werden, welcher Amtsträger für die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer verantwortlich ist. Bereits diese Feststellung kann mit gewissen Schwierigkeiten verbunden sein, da überlange Gerichtsverfahren Folge unterschiedlicher Faktoren sein können und es für den Betroffenen oftmals nur schwer erkennbar ist, aus welchen Gründen das Verfahren nicht hinreichend gefördert wird. Ob der Grund für die Untätigkeit des Gerichtes bspw. dessen Nachlässigkeit oder Folge dessen Überlastung wegen unzureichender Richterstellen ist, entzieht sich regelmäßig der Kenntnis des Verfahrensbeteiligten. Anknüpfungspunkt der Haftung wegen überlanger Verfahrensdauer kann die richterliche Tätigkeit sein. Dem Richter obliegt gegenüber den Verfahrensbeteiligten die Amtspflicht zur Entscheidung innerhalb angemessener Zeit. Der BGH hat diese Haftung beinahe bis zur Bedeutungslosigkeit eingeschränkt, indem er einerseits unter den Haftungsausschluss des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB solche vorbereitenden prozessleitenden Maßnahmen subsumiert, die objektiv darauf gerichtet sind, die Grundlage für die Sachentscheidung zu gewinnen, andererseits aber auch außerhalb des Anwendungsbereiches von § 839 Abs. 2 S. 1 BGB das richterliche Verhalten nur auf dessen Vertretbarkeit hin überprüft. Der vom BGH aufgebaute Schutzwall um die Justiz291 bleibt in der Praxis damit unvermindert hoch. Das BVerfG hält diese Gesetzesauslegung des § 839 BGB zwar für verfassungskonform, hat aber die Beachtung des verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebotes bei Anwendung dieser Grundsätze angemahnt und die dadurch verbundenen Haftungseinschränkungen relativiert. Die ratio legis des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB (Schutz der Rechtskraft im weiteren Sinne) rechtfertigt es, auch prozessleitende urteilsdienende Maßnahmen von der Nachprüfung im Amtshaftungsprozess auszuschließen, sodass die Haftung für Verfahrensverzögerungen, die auf überflüssigem Tun des Richters beruhen, ausgeschlossen 289
Brüning, NJW 2007, 1094 (1096); Terhechte, DVBl 2007, 1134 (1135, 1140); Breuer, Staatshaftung, S. 337; Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 140. 290 Hierzu näher Ossenbühl, Anm. z. BGH, Urt. v. 11.01.2007, JZ 2007, 690 (690 f.). 291 Formulierung nach Blomeyer, NJW 1977, 557 (560).
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
ist. Überprüfbar bleibt aber das „Wann“ und „Wie“ der getroffenen Maßnahme. Dagegen beruht die Vertretbarkeitsprüfung des BGH außerhalb des Anwendungsbereiches von § 839 Abs. 2 S. 1 BGB auf einem nicht zu rechtfertigenden Vorrangverhältnis des Art. 97 GG gegenüber dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot und ist daher abzulehnen. Die Frage nach der Vertretbarkeit des Verhaltens ist damit unter Anwendung der vom EGMR und BVerfG entwickelten Beurteilungsmaßstäbe zu beantworten und das Gebot der richterlichen Unabhängigkeit dabei als äußerste Grenze bei der Interpretation und Auslegung des Effektivitätsgebotes zu beachten. Eine Haftung des Haushaltsgesetzgebers wegen Organisationsmängeln scheidet regelmäßig wegen Fehlens einer drittbezogenen Amtspflicht aus. Demgegenüber können nach neuerer Rechtsprechung Justizverwaltungen als Zentralstellen für Verzögerungen im Verfahrensverlauf haftbar gemacht werden, wenn und soweit feststellbar ist, dass diese ihre Ursache in einer nicht sachgerechten Mittelverwendung haben, die als drittbezogene Amtspflicht gegenüber dem Betroffenen besteht. VI. Bewertung des Rechtsschutzsystems Nachfolgend wird aus völker- und verfassungsrechtlicher Perspektive bewertet, ob die soeben dargestellten Rechtsschutzinstrumente den oben herausgearbeiteten Anforderungen an ein effektives Rechtsschutzsystem gegen überlange Gerichtsverfahren gerecht werden. 1. Völkerrechtliche Perspektive a. Sürmeli gegen Deutschland Für diese in der deutschen Rechtswissenschaft kontrovers geführte Debatte war die Entscheidung des EGMR vom 08. Juni 2006 im Rechtsstreit Sürmeli./.Deutschland292 in völkerrechtlicher Hinsicht richtungsweisend. In der Individualbeschwerde rügte der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 13 EMRK, weil ein von ihm im September 1989 vor dem Landgericht Hannover angestrengtes Klageverfahren zum Zeitpunkt der Einreichung seiner Individualbeschwerde 2001 noch nicht rechtskräftig abgeschlossen war und selbst bei der Urteilsverkündung des EGMR im Jahr 2006 noch immer anhängig war.
Die deutsche Regierung argumentierte im Verfahren, dass eine Verletzung von Art. 13 EMRK nicht vorliege, da dem Betroffenen vier Rechtsbehelfe zur Verfügung stünden, die effektiven Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer gewähren: die Verfassungsbeschwerde, die Dienstaufsichtsbeschwerde, die Untätigkeitsbeschwerde und die Klage auf Schadensersatz nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG. 292
EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2389 ff.).
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Die Große Kammer des EGMR kam in ihrem Urteil zu dem Ergebnis, dass keiner der genannten Rechtsbehelfe den Anforderungen des Art. 13 EMRK gerecht werde.293 Rüge der Betroffene mit der Verfassungsbeschwerde die Dauer des Verfahrens, könne das BVerfG zwar die Feststellung treffen, dass eine Verletzung des Rechts auf rechtzeitige Entscheidung vorliege.294 Es würde aber keine konkreten Anordnungen oder Weisungen an das Untergericht, wie das Verfahren zu beschleunigen wäre, erlassen. Die in den Entscheidungsgründen enthaltene Aufforderung an das Ausgangsgericht, die notwendigen Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens zu ergreifen, könne nur dann beschleunigend wirken, wenn diese umgehend befolgt werden würde, was aber nicht immer der Fall sei, wie Beispiele aus der Rechtspraxis zeigten.295 Daher sei die Verfassungsbeschwerde kein wirksamer Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren. Auch die Dienstaufsichtsbeschwerde sei keine wirksame innerstaatliche Beschwerde nach Art. 13 EMRK, da der Betroffene keinen Anspruch auf Tätigwerden der Dienstaufsichtsbehörden habe.296 Ebenso überzeugte das Argument, die Untätigkeitsbeschwerde vermittle effektiven Rechtsschutz gegen überlange Verfahrensdauer, den Gerichtshof nicht. Da weder Statthaftigkeit noch Zulässigkeit der Untätigkeitsbeschwerde von den deutschen Gerichten einheitlich beurteilt werde und auch die verfassungsrechtliche Rechtmäßigkeit dieses Rechtsbehelfs zweifelhaft sei, könne die Untätigkeitsbeschwerde nicht als wirksam i.S.v. Art. 13 EMRK bewertet werden.297 Dasselbe gelte auch bezüglich der Klage auf Schadensersatz gem. § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG.298 Zweifel an der Wirksamkeit dieses Rechtsbehelfes würden sich insbesondere im Hinblick auf die tatsächliche Durchsetzbarkeit ergeben. Ungeachtet dessen könnten die Gerichte aber auch keinen Ersatz für Nichtvermögensschäden zusprechen, was für einen effektiven kompensatorischen Rechtsbehelf aber erforderlich sei.
293
EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2392, Rn. 115). Siehe hierzu und im Folgenden EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2391, Rn. 105 ff.). 295 Es fehlt an der Pflicht des Ausgangsgerichts, diese Anordnung eins-zu-eins umzusetzen, da eine Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG hier wohl nicht anzunehmen ist. So auch Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 144 f. 296 EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2392, Rn. 109). 297 EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2392, Rn. 110 f.). 298 Siehe hierzu und im Folgenden EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2392, Rn. 113 f.). 294
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
b. Stellungnahme Unter Berücksichtigung oben gefundener Ergebnisse sind die Begründungswege und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen des EGMR zutreffend. Dem Gerichtshof ist uneingeschränkt beizupflichten, dass die im Rechtsstreit Sürmeli./.Deutschland untersuchten Rechtsschutzinstrumente im Hinblick auf Art. 13 EMRK defizitär sind. Das Ablehnungsgesuch als Primärrechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren wurde vom EGMR zwar nicht auf seine Effektivität hin untersucht, da die Bundesregierung dieses in seiner Einlassung zur Individualbeschwerde nicht aufgeführt hatte. Offensichtlich kann das Ablehnungsgesuch aber ebenso wenig den Effektivitätsanforderungen des Art. 13 EMRK genügen, da nicht erkennbar ist, wie durch das Auswechseln des den Rechtsstreit bearbeitenden Richters eine unmittelbare Verfahrensbeschleunigung erreicht werden kann. Dass die deutschen Gerichte im Rahmen von § 839 BGB keinen Ersatz für Nichtvermögensschäden zusprechen können, stimmt in dieser Pauschalität nicht, da wie erörtert von der Rechtsfolge des § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG sehr wohl der Ersatz von immateriellen Schäden erfasst wird.299 Die Ausführungen des EGMR erklären sich aber vor dem Hintergrund, dass der Gerichtshof die Überlänge des Verfahrens als Nichtvermögensschaden anerkennt, für den er eine gerechte Entschädigung gewährt. Nach deutschem Recht kann für derartige Schäden jedoch kein Ersatz verlangt werden.300 Im Ergebnis existieren also weder präventive noch kompensatorische Rechtsschutzinstrumente gegen überlange Gerichtsverfahren, die effektiv i.S.v. Art. 13 EMRK sind. Die vom EGMR getroffene Feststellung, es bestehe aus völkerrechtlicher Perspektive eine Lücke im deutschen Rechtsschutzsystem, ist somit zutreffend und hat mangels gesetzgeberischer Tätigkeit auch bis zum Inkrafttreten des ÜGRG Geltung beansprucht. 2. Verfassungsrechtliche Perspektive Zu untersuchen bleibt, ob die dargestellten Rechtsschutzinstrumente den verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein effektives Rechtsschutzsystem genügen. Das GG verlangt primär das Vorhandensein eines präventiven Rechtsbehelfes, der geeignet ist, den Eintritt einer unangemessenen Verfahrensdauer zu verhindern. Als Ausdruck des zwischen Verfassungsgericht und Fachgerichten geltenden Kompetenzgefüges ist es Aufgabe letzterer, die Grundrechte zu wahren und durchzusetzen, sodass Rechtsschutz durch fachgerichtliche Rechtsbehelfe 299
So auch Remus, NJW 2012, 1403 (1406). Ausführlich Remus, NJW 2012, 1403 (1406 ff.). Aus diesem Grund war es für die Betroffenen gerade attraktiv, eine Individualbeschwerde vor dem EGMR zu beheben, um eine Kompensation für die überlange Verfahrensdauer zu erhalten. 300
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zu gewähren ist.301 Bereits aus diesem Grund ist die Verfassungsbeschwerde als außerordentlicher Rechtsbehelf nicht Teil eines effektiven Rechtsschutzsystems gegen überlange Verfahren.302 Obwohl ihre Erhebung den Ausschlag dafür geben kann, dass ein Gerichtsverfahren zügiger betrieben wird303, entfaltet sie zudem keine unmittelbar beschleunigende Wirkung auf das Ausgangsverfahren.304 Vielmehr ist der Betroffene im Verfassungsbeschwerdeverfahren regelmäßig der langen Verfahrensdauer vor dem BVerfG ausgesetzt. Erwähntermaßen erfordert ein effektiver Primärrechtsbehelf, dass dem Verfahrensbeteiligten ein Anspruch auf Tätigwerden der zur Entscheidung berufenen Instanz eingeräumt wird. Da die Dienstaufsichtsbeschwerde auf eine justizinterne Kontrolle abzielt und ein Anspruch auf Erlass einer dienstrechtlichen Maßnahme nicht besteht305, kann diese Verzögerungen nicht wirksam abhelfen.306 Zudem ist die Dienstaufsichtsbeschwerde nicht auf Beschleunigung, sondern auf Überprüfung des richterlichen Verhaltens aus dienstordnungsrechtlicher Sicht gerichtet. Als Instrument des Individualrechtsschutzes ist sie damit ungeeignet. Die Tatsache, dass die Erhebung einer Dienstaufsichtsbeschwerde bzw. deren Ankündigung den Richter unter Umständen zu beschleunigenden Maßnahmen veranlasst307, erlaubt keine andere rechtliche Bewertung. Denn eine unmittelbar beschleunigende Wirkung auf das verzögerte Gerichtsverfahren geht von ihr nicht aus. Es existiert nur ein loser Zusammenhang zwischen Dienstaufsichtsverfahren und Beschleunigung des Rechtsstreites. Auch ein Befangenheitsverfahren gegen einen untätigen Richter wird den Effektivitätsanforderungen des GG nicht gerecht, denn eine Beschleunigung des Gerichtsverfahrens erfolgt durch das Ablehnungsgesuch primär nicht. Vielmehr kann ein erfolgreicher Befangenheitsantrag nur zum Austausch des den Rechtsstreit bearbeitenden Richters führen und damit zunächst einmal zu weiteren Verzögerungen.308 Die angeblich vom Befangenheitsantrag ausge-
301
Vgl. BVerfG NJW 2003, 1924 (1928). Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 194 f.; Breuer, Staatshaftung, S. 364. 303 Kirchhof, DStZ 1989, 55 (58); Schlette, Angemessene Frist, S. 56 (Fn. 79); Stabel, Angemessene Dauer, S. 142; Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 270. 304 So auch Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 145; Schlette, Angemessene Frist, S. 56. 305 Otto, Innerhalb angemessener Zeit, S. 97 f.; Schlette, Angemessene Frist, S. 49; Hummer, Justizgewährung und Justizverweigerung, S. 146; Weber, NZFam 2015, 337 (339). 306 Schlette, Angemessene Frist, S. 49 f.; Kloepfer, JZ 1979, 209 (209); Ziekow, DÖV 1998, 941 (947); Otto, Innerhalb angemessener Zeit, S. 98. 307 Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 189; Stöcker, DStZ 1989, 367 (372); Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 266 f. 308 Peters, in: FS Schütze 1999, S. 661 (663); Jakob, ZZP 119 (2006), 303 (311, Fn. 32); Rixe, Anm. z. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 08.06.2006 – Nr. 75529/01 (Sürmeli./.Deutschland), FamRZ 2007, 1453 (1455). Der Richterwechsel ist ein maßgeblicher 302
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
hende beschleunigende Wirkung erweist sich damit lediglich als Hoffnungsschimmer des Betroffenen, dass eine zügigere Bearbeitung durch den einzuwechselnden Richter stattfinden bzw. der Befangenheitsantrag den untätigen Richter zu einer schleunigeren Verfahrensführung motivieren wird. Zudem ist aufgrund der hohen Anforderungen an das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes im Zusammenhang mit verzögerten Gerichtsverfahren das Ablehnungsgesuch in vielen Konstellationen erst zu einem Zeitpunkt möglich, zu dem nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine unangemessene Verfahrensdauer bereits eingetreten ist.309 Der Eintritt einer Grundrechtsverletzung kann also nicht wirksam verhindert werden. Als Konsequenz fehlender effektiver Primärrechtsbehelfe wird die Untätigkeitsbeschwerde zumindest in der Zivilgerichtsbarkeit für statthaft gehalten. Sie soll die aufgezeigte Rechtsschutzlücke schließen und wird als wirksamer Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren angesehen.310 Sie genügt aber nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot der Rechtsmittelklarheit, sodass sie nicht als Teil eines effektiven Rechtsschutzsystems angesehen werden kann. Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes fordert die Konstituierung eines ausgewogenen Rechtsschutzsystems: Für den Fall, dass präventiv wirkende Rechtsschutzinstrumente eine unangemessene Verfahrensdauer nicht verhindern können, hat eine finanzielle Kompensation als Ausgleich für das staatliche Unrecht zu erfolgen.311 Die Amtshaftung nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG ist jedoch ausgeschlossen, wenn die unangemessene Verfahrensdauer auf die mangelnde Zuweisung von Haushaltsmitteln durch den Gesetzgeber zurückzuführen ist. In diesem Bereich des legislativen Unrechts existiert mangels drittbezogener Amtspflicht keine Haftungsgrundlage. Ein derart lückenhafter Sekundärrechtsschutz kann also nicht den verfassungsrechtlichen Effektivitätsanforderungen an ein ausgewogenes Rechtsschutzsystem gerecht werden. VII. Ergebnis und Konsequenzen Es ist zu resümieren, dass vor Inkrafttreten des ÜGRG weder präventive noch kompensatorische Rechtsbehelfe in der deutschen Rechtsordnung existierten, welche die völker- und verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein effektives Rechtsschutzsystem gegen überlange Gerichtsverfahren erfüllten. Die Faktor, der zu Verzögerungen im Verfahrensablauf führt, siehe OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub.uni-hamburg.de/epub/volltexte/ 2013/17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 84. 309 Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 190 f. 310 Schlette, Angemessene Frist, S. 46 ff.; Ziekow, DÖV 1998, 941 (948). 311 Vgl. Schoch, Die Verwaltung 34 (2001), 261 (275); Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer, S. 100; Breuer, Staatshaftung, S. 152; Bäcker, in: Grundrechte und Grundfreiheiten 2012, S. 339 (383).
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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Schließung dieser Rechtsschutzlücke bei (drohender) Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer war daher erforderlich und sollte mit dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren erfolgen, welches nachstehend analysiert wird.
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
Die folgenden Ausführungen beleuchten die Rechtsschutzmöglichkeiten gegen überlange Gerichtsverfahren seit Inkrafttreten des ÜGRG am 03. Dezember 2011. Die Einführung skizziert zunächst die Entstehungsgeschichte des ÜGRG sowie dessen Grundkonzeption. Der zweite Abschnitt widmet sich vollumfänglich dem in § 198 GVG normierten Entschädigungsanspruch. Der letzte Passus beschäftigt sich mit der Frage, in welchem Verhältnis die in §§ 198 ff. GVG geschaffenen Rechtsschutzmöglichkeiten zu denjenigen stehen, die vor Inkrafttreten des ÜGRG Geltung beansprucht haben. I. Einführung 1. Die Entstehungsgeschichte des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren Die Entstehungsgeschichte des ÜGRG ist eng mit der Rechtsprechung des EGMR hinsichtlich der unangemessenen Dauer von Gerichtsverfahren verknüpft. So wird denn auch der EGMR als „Motor“ bezüglich der Entwicklung des Rechtsschutzes bei überlanger Verfahrensdauer bezeichnet.312 Diese gewann durch die Rechtsprechungswende des EGMR im Jahr 2000 im Rechtsstreit Kudła./.Polen313 an Dynamik. Das Bundesministerium der Justiz nahm die Kudła-Entscheidung zum Anlass, die Rechtslage in Deutschland hinsichtlich der Effektivität des Rechtsschutzsystems zu überprüfen.314 Auch unter dem Eindruck der Plenarentscheidung des BVerfG vom 30. April 2003 zum fachgerichtlichen Rechtsschutz bei Verstößen gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör315 kam das Bundesministerium der Justiz im Jahr 2004 letztendlich zu dem Ergebnis, dass Handlungsbedarf beim Rechtsschutz gegen überlange Verfahrensdauer bestand316 312 Vierhaus, in: FS Jaeger 2011, S. 719 (720); Hagedorn, SchlHA 2011, 360 (360): EGMR als „Geburtshelfer“ des Entschädigungsanspruches. 313 Siehe hierzu bereits S. 21 f. 314 Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 66 mit einer Darstellung der wesentlichen Ergebnisse. 315 BVerfG NJW 2003, 1924 (1924 ff.). 316 Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 123.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
und präsentierte im August 2005 den Referentenentwurf zum Untätigkeitsbeschwerdengesetz317. Dieser Entwurf sah die Einführung einer Untätigkeitsbeschwerde vor, welche die Parteien und Beteiligten hätten erheben können, wenn das den Rechtsstreit bearbeitende Gericht das Verfahren ohne zureichenden Grund nicht in angemessener Frist gefördert hätte.318 Mitten in der kontrovers geführten Diskussion um den Referentenentwurf attestierte der EGMR im Juni 2006 in der bereits besprochenen Entscheidung Sürmeli./.Deutschland der deutschen Rechtsordnung eine Rechtsschutzlücke bei (drohender) Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer.319 Obwohl der EGMR in der Sürmeli-Entscheidung den Referentenentwurf des Untätigkeitsbeschwerdengesetzes ausdrücklich begrüßte320, wurde das Gesetzesvorhaben nicht weiter verfolgt. Es scheiterte letztendlich am vehementen Widerstand der Richterschaft, welche die richterliche Unabhängigkeit gefährdet sah, und fand auch bei den Regierungsfraktionen im Bundestag keine Mehrheit.321 Nach einer langen Beratungs- und Diskussionsphase stellte das Bundesjustizministerium am 15. März 2010 einen neuen Referentenentwurf vor, der als zentralen Bestandteil eine kompensatorische Regelung bei Vorliegen einer unangemessenen Verfahrensdauer beinhaltete. Mit einigen Änderungen wurde der Regierungsentwurf am 28. August 2010 vom Kabinett beschlossen.322 Der erneute Versuch des Gesetzgebers, den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren effektiv auszugestalten, hielt den EGMR nicht davon ab, im September 2010 deutliche Worte der Missbilligung hinsichtlich der Rechtslage in Deutschland auszusprechen. Im Rechtsstreit Rumpf./.Deutschland323 bescheinigte der Gerichtshof dem deutschen Recht anlässlich der großen Anzahl der anhängigen Beschwerden gegen Deutschland betreffend überlange Gerichtsverfahren ein strukturelles Problem und forderte die Bundesrepublik auf, bis spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten des Urteils effektive Beschwerdemöglichkeiten i.S.v. Art. 13 EMRK zu schaffen. Damit war der zeitliche Rahmen des weiteren Gesetzgebungsverfahrens vorgegeben: Der Aufforderung des EGMR musste bis zum 02. Dezember 2011 nachgekommen werden, nachdem das Urteil am 02. Dezember 2010 endgültig geworden war.324 Am 15. Oktober 2010 erfolgte eine erste Beratung des 317
Entwurf eines Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzungen des Rechts auf ein zügiges gerichtliches Verfahren (Untätigkeitsbeschwerdengesetz), abrufbar unter: BMJV, http://www.gesmat.bundesgerichtshof.de/gesetzesmaterialien/15_wp/untaetigkeitsbeschwe rde/gesetzentwurf_22_08_05.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016. 318 Vgl. § 198 Abs. 1 GVG-Untätigkeitsbeschwerdengesetz-RefE. 319 EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2390 ff., Rn. 97 ff.). 320 EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2394, Rn. 139). 321 Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 188. 322 Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 335. 323 EGMR NJW 2010, 3355 (3358, Rn. 69 ff.). 324 EGMR NJW 2010, 3355 (3355 ff.).
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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Bundesrates, der den Lösungsansatz des Regierungsentwurfs im Grundsatz befürwortete325, einzelne Regelungsansätze aber kritisierte und verschiedene Punkte im weiteren Gesetzgebungsverfahren geprüft wissen wollte326. Am 20. Januar 2011 wurde der Regierungsentwurf nach der ersten Lesung im Bundestag an den federführenden Rechtsausschuss weitergeleitet327, der am 23. März 2011 eine öffentliche Expertenanhörung durchführte. Seine Arbeit schloss der Rechtsausschuss am 28. September 2011 mit einer Beschlussempfehlung ab und riet unter anderem zur Durchführung einer Evaluation des Gesetzes nach zwei Jahren.328 In der vom Rechtsausschuss empfohlenen Fassung beschloss der Deutsche Bundestag den Gesetzesentwurf und den die Evaluation beinhaltenden Entschließungsantrag in zweiter und dritter Lesung am 29. September 2011.329 Die Zustimmung des Bundesrates gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 25, Abs. 2 GG erfolgte am 14. Oktober 2011.330 Die Anrufung des Vermittlungsausschusses, die vom Rechtsausschuss des Bundesrates zuvor empfohlen worden war331, konnte noch abgewendet werden, nachdem auf politischer Ebene Konsens über einzelne Änderungen hinsichtlich verfahrensrechtlicher Punkte erzielt worden war, die alsbald dem Bundestag vorgeschlagen wurden.332 Am 02. Dezember 2011 wurde das „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“ im Bundesgesetzblatt333 verkündet und trat am 03. Dezember 2011 (Art. 24 ÜGRG), und damit einen Tag später als vom EGMR gefordert, in Kraft. Die Änderungen der verfahrensrechtlichen Vorschriften wurden am 06. Dezember 2011 in dem „Gesetz über die Besetzung großer Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften sowie des Bundesdisziplinargesetzes“334 im Bundesgesetzblatt verkündet und traten am 01. Januar 2012 in Kraft (Art. 5 des vorbezeichneten Gesetzes). 2. Die Grundkonzeption des ÜGRG Kernstück des Gesetzes sind Art. 1 und Art. 2 ÜGRG, mit denen die §§ 198201 in das Gerichtsverfassungsgesetz bzw. §§ 97a-97e in das Bundesverfassungsgerichtsgesetz eingefügt worden sind. Im Fokus der Neuregelungen steht 325
Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 341,
343. 326
Siehe im Einzelnen BT-Drs. 17/3802, S. 33 ff. BT-Plenarprotokoll 17/84, S. 9494 C. 328 Siehe BT-Drs. 17/7217. 329 BT-Plenarprotokoll 17/130, S. 15348. 330 BR-Drs. 587/11. 331 BR-Drs. 587/1/11, S. 1. 332 Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 369. 333 BGBl. 2011 I, S. 2302. 334 BGBl. 2011 I, S. 2254. 327
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
ein kompensatorischer Rechtsbehelf. § 198 Abs. 1 S. 1 GVG normiert einen staatshaftungsrechtlichen, verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruch335, der Verfahrensbeteiligten das Recht auf eine angemessene Entschädigung für Nachteile gewährt, die infolge einer unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens eingetreten sind; §§ 198 Abs. 2-6, 200 und 201 GVG enthalten weitere materiell-rechtliche Voraussetzungen sowie ergänzende (Verfahrens-)Vorschriften. § 199 GVG trifft für das strafrechtliche Ermittlungsund Hauptverfahren abweichende Bestimmungen. Verfahrensbeschleunigende und damit präventive Wirkung soll demgegenüber die Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 3 S. 1 GVG) entfalten, mit deren Erhebung der Verfahrensbeteiligte die Missbilligung der Verfahrensdauer zum Ausdruck bringt. Da die Verzögerungsrüge zugleich ein materielles Tatbestandsmerkmal des Geldentschädigungsanspruches aus § 198 Abs. 1 S. 1 GVG ist, kommt ihr eine Doppelfunktion zu. Um dieser Verschränkung und den damit verbundenen Konsequenzen in der rechtlichen Bewertung gerecht zu werden, erfolgt die Darstellung und Analyse der Verzögerungsrüge im Rahmen des Haftungstatbestandes des § 198 GVG. Der Gesetzgeber hat sich entschieden, die Rechtsschutzvorschriften in das Gerichtsverfassungsgesetz einzugliedern, welches nur auf die ordentliche Gerichtsbarkeit unmittelbar Anwendung findet, vgl. § 2 EGGVG. Demnach gelten sie unmittelbar u.a. für bürgerliche und familiengerichtliche Streitigkeiten sowie für Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (vgl. § 13 GVG). Ein Entschädigungsanspruch, der für alle Gerichtsbarkeiten zentral gilt, wurde somit nicht geschaffen. Ebenso hat der Gesetzgeber darauf verzichtet, eigenständige Regelungen hinsichtlich des Rechtsschutzes bei überlangen Gerichtsverfahren in den einzelnen Verfahrensordnungen zu normieren. Das Grundkonzept des ÜGRG sieht vielmehr die Normierung von Verweisungen auf die §§ 198 ff. GVG in den jeweiligen Verfahrensgesetzen vor (vgl. Art. 4, 6-9, 1222 ÜGRG). Somit finden die §§ 198 ff. GVG in anderen Gerichtsbarkeiten nur dann Anwendung, wenn dies ausdrücklich in den jeweiligen Verfahrensordnungen bestimmt worden ist.336 Aufgrund der besonderen Aufgabe und Stellung des BVerfG im deutschen Rechtssystem gilt etwas anderes nur für die Bundesverfassungsgerichtsbarkeit (§§ 97a-97e BVerfGG).337 Nach Auffassung des deutschen Gesetzgebers wird mit Einführung der §§ 198 ff. GVG ein Rechtsschutzmodell in der deutschen Rechtsordnung etabliert, mit dem Verfahrensbeteiligte effektiv überlangen Gerichtsverfahren begegnen
335
BT-Drs. 17/3802, S. 19, 34; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (3); Guckelberger, DÖV 2012, 289 (289). Siehe auch Nachweise im 3. Kap. Fn. 739. 336 Einen Überblick über die Verweisungen in den einzelnen Verfahrensordnungen bietet Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 6. 337 BT-Drs. 17/3802, S. 17, 26.
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können und welches die in diesem Bereich vorhandene Rechtsschutzlücke schließen soll. II. Der Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 GVG Zentraler Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist der in §§ 198 ff. GVG neu geschaffene Entschädigungsanspruch. Zunächst werden dessen materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen (1.) und Rechtsfolgen (2.) analysiert. Es folgt ein Einblick in die Übertragung, Vererbung und Verjährung des Entschädigungsanspruches (3.). Der vierte Abschnitt untersucht die in Art. 23 ÜGRG getroffene Übergangsvorschrift (4.). Im Anschluss daran wird auf die prozessuale Durchsetzung des Entschädigungsanspruches eingegangen (5.). 1. Haftungstatbestand Hat der Verfahrensbeteiligte eines Gerichtsverfahrens gem. § 198 Abs. 3 S. 1 GVG eine Verzögerungsrüge beim zuständigen Gericht erhoben, kann er nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG eine angemessene Entschädigung für solche Nachteile verlangen, die durch die unangemessene Verfahrensdauer des Gerichtsverfahrens eingetreten sind. Im Folgenden wird der Haftungstatbestand dieses Entschädigungsanspruches näher untersucht. Zunächst ist hierbei auf dessen sachlichen (a.) und personellen Anwendungsbereich (b. und c.) einzugehen. Im Anschluss daran stehen die Verzögerungsrüge (d.) sowie das zentrale Tatbestandsmerkmal, die unangemessene Verfahrensdauer (e.), im Fokus der Untersuchung. Abschließend wird ein Blick auf den Nachteilsbegriff des Entschädigungsanspruches geworfen (f.). Es wird hinsichtlich jedes dieser Tatbestandsmerkmale eine Exegese sowie eine Bewertung anhand der zuvor erörterten völker- und verfassungsrechtlichen Effektivitätskriterien vorgenommen. Dabei wird auch auf die im Schrifttum vertretenen Ansichten und die bereits ergangenen Judikate der Entschädigungsgerichte eingegangen. a. Gerichtsverfahren § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG bestimmt den sachlichen Anwendungsbereich des Entschädigungsanspruches und enthält eine Legaldefinition des Gerichtsverfahrens, für dessen Überlänge der Verfahrensbeteiligte entschädigt wird.338 Die Herausforderung liegt jedoch in der Normkonkretisierung, da offen bleibt, was unter den Begriff „Verfahren“ zu subsumieren ist.
338
33.
So auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn.
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aa. Der Verfahrensbegriff (1) Meinungsstand Breitkreuz stellt die Faustregel auf, dass Gerichtsverfahren all jenes sei, „was nicht lediglich in einer prozessleitenden Verfügung, sondern in einer förmlichen (nicht notwendig anfechtbaren) Entscheidung enden muss“339 und hält somit selbst die Beiladung oder die Aussetzung des Verfahrens für Gerichtsverfahren. Danach wäre der Anwendungsbereich des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG sehr umfassend. Diesem Ansatz folgt auch Söhngen, nach dem der Gesetzgeber bei Schaffung der Norm einen weiten Verfahrensbegriff zugrunde legen und lediglich Richtervorlagen nach Art. 100 GG sowie Vorlageverfahren beim EuGH vom Anwendungsbereich ausschließen wollte.340 So sollen unter den Verfahrensbegriff auch Kostenfestsetzungsverfahren, Anhörungsrügen oder Befangenheitsgesuche fallen.341 Dem weiten Verfahrensbegriff wird mehrheitlich kritisch gegenübergestanden und stattdessen vertreten, dass das Gesetz „von einem an der Hauptsache orientierten Verfahrensbegriff“342 ausgehe. (2) Stellungnahme Die von Breitkreuz aufgestellte Faustregel ermöglicht zwar eine klare Abgrenzung, was als Gerichtsverfahren i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG zu qualifizieren ist. Aber nur auf den ersten Blick ist ein weiter Anwendungsbereich auch im Sinne der Rechtsschutzsuchenden. Problematisch erscheint diese extensive Auslegung, wenn mehrere Verfahren in einem akzessorischen Verhältnis zueinander stehen, wie bspw. das Befangenheits-, Aussetzungs- oder Beiladungsverfahren zu einem Hauptsacheverfahren. Das Nebeneinander mehrerer Entschädigungsansprüche und damit mehrerer Entschädigungsverfahren wäre zu befürchten, wenn jedes dieser genannten Verfahren gesondert unter den Anwendungsbereich des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG fallen würde. Zudem bleibt bei Breitkreuz ungeklärt, welche Folgen es hätte, wenn die überlange Verfahrensdauer eines Verfahrens allein auf Verzögerungen beruht, die in einem anderen Verfahren eingetreten sind.343 339
Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 12. Söhngen, NZS 2012, 493 (495). 341 Söhngen, NZS 2012, 493 (495). 342 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 34; ihm folgend OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 35, juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 30.01.2013 – 4 EntV 9/12, Rn. 40, juris; BGH, Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13, Rn. 20, juris; BGH, Urt. v. 13.03.2014 – III ZR 91/13, Rn. 23, juris; BGH, Urt. v. 21.05.2014 – III ZR 355/13, Rn. 11, juris; Wittschier, in: Musielak/Voit, ZPO, § 198 GVG, Rn. 3. 343 Es ist zweifelhaft, dass in beiden Entschädigungsverfahren ein Anspruch auf angemessene Geldentschädigung in voller Höhe begründet wäre, vgl. Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 59. 340
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In kontradiktorischen Gerichtsverfahren ist es für die Rechtsschutzsuchenden maßgeblich, dass das von ihnen verfolgte Rechtsschutzziel in angemessener Zeit erreicht wird und nicht jeder in diesem Zusammenhang stehende gerichtliche Entscheidungsvorgang. Demnach sollte sich die Entscheidung, auf welche gerichtliche Verfahren sich der Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer erstrecken sollte, maßgeblich daran orientieren, aus welchem Grund ein Gerichtsverfahren betrieben wird und nicht allein formale Gründe für diese Entscheidung ausschlaggebend sein.344 Losgelöst von diesem Problemkreis sprechen noch andere Gründe für ein restriktives Begriffsverständnis. Nach § 198 Abs. 6 Nr. 1, Halbs. 3 GVG gilt im eröffneten Insolvenzverfahren die Herbeiführung einer Entscheidung als Gerichtsverfahren.345 Daraus lässt sich schließen, dass die Herbeiführung einer Entscheidung im eröffneten Insolvenzverfahren lediglich fiktiv („gilt“) dem Gerichtsverfahrensbegriff unterstellt wird und damit nicht jeder Vorgang, der in einer förmlichen gerichtlichen Entscheidung mündet, dem Verfahrensbegriff nach § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG unterliegen soll.346 Hierfür spricht ebenfalls, dass nach dem Willen des Gesetzgebers vorläufige Rechtsschutzverfahren und Prozess- oder Verfahrenskostenhilfeverfahren unter den Verfahrensbegriff zu subsumieren sind347 und damit die Verfahren in ihrer prozessualen Gesamtheit Gegenstand eines Entschädigungsverfahrens sind. Zutreffend wird daher von einem an der Hauptsache orientierten Verfahrensbegriff ausgegangen, der gerade verdeutlicht, dass nicht jedes Verfahren, welches notwendigerweise in einer förmlichen Entscheidung des Gerichtes mündet, ein Gerichtsverfahren i.S.d. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG ist. Unklar bleibt dabei aber, nach welchen Kriterien die „Hauptsache“ des Verfahrens zu bestimmen ist und wie eine Abgrenzung zwischen den jeweiligen „Hauptsachen“ zu erfolgen hat. In diesem Zusammenhang kann neben dem Rechtsschutzziel des Verfahrensbeteiligten die rechtliche Selbstständigkeit eines Verfahrens, also ob dessen Einleitung durch die Anhängigkeit eines anderen Verfahrens bedingt ist, ein erstes Indiz bieten. Denn hierdurch wird der Anwendungsbereich des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG sachgerecht eingeschränkt. Einerseits 344 Vgl. auch OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 35, juris. Ähnlich auch OLG Frankfurt, Urt. v. 30.01.2013 – 4 EntV 9/12, Rn. 40, juris, wonach die Zielrichtung des Verfahrens als ein Kriterium herangezogen wird, um die Hauptsache des Verfahrens zu bestimmen. 345 Ausführlich zu der Frage, welche Verfahren hiervon umfasst sind, siehe Zimmer, ZInsO 2011, 2302 (2307 f.). 346 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 34. 347 Siehe BT-Drs. 17/3802, S. 22 f. Zu Recht weist das OLG Frankfurt, Urt. v. 30.01.2013 – 4 EntV 9/12, Rn. 39, juris, in seiner Entscheidung darauf hin, dass dem „einschließlich“ somit eine zeitliche Komponente nicht entnommen werden kann; unklar dagegen LSG Stuttgart, Urt. v. 20.02.2013 – L 2 SF 1495/12, Rn. 38, juris und LSG Stuttgart, Urt. v. 21.11.2012 – L 2 SF 436/12 EK, Rn. 62, juris.
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werden damit solche Verfahren ausgeschlossen, die in erster Linie nur einen Zwischenschritt zur Erreichung des eigentlichen Rechtsschutzzieles darstellen. Andererseits spiegelt sich die Dauer derartiger akzessorischer Verfahren regelmäßig im übergeordneten Hauptsacheverfahren wider, sodass der Verfahrensbeteiligte nicht rechtsschutzlos gestellt wird, sondern vielmehr die Dauer des übergeordneten Verfahrens zum Gegenstand des Entschädigungsverfahrens machen kann. (3) Beispiele Sämtliche Klageverfahren (Leistungs-, Feststellungs-, Gestaltungsklage) einschließlich des gerichtlichen Entschädigungsverfahrens348 nach § 198 ff. GVG fallen unter den Gerichtsverfahrensbegriff des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG. Den Vorschlag des Bundesrates, die Entschädigungsklage vom Anwendungsbereich der §§ 198 ff. GVG auszuschließen, um eine „Endloskette“ an Entschädigungsverfahren zu vermeiden349, hat die Bundesregierung zu Recht mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass dies nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 13 EMRK stehe350. Auch ein vorläufiges Rechtsschutzverfahren, mit dem der Verfahrensbeteiligte die vorläufige Sicherung seiner subjektiven Rechte und damit ein anderes Rechtsschutzziel als in dem Hauptsacheverfahren verfolgt, ist nach § 198 Abs. 6 Nr. 1, Halbs. 1 GVG ein Gerichtsverfahren351. Die beschleunigte Verfahrensdurchführung im Hauptsacheverfahren kann damit die Überschreitung der angemessenen Entscheidungsfrist im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht mehr heilen.352 Ebenfalls vom Hauptsacheverfahren rechtlich selbstständig und ein Gerichtsverfahren i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG ist das Kostenfestsetzungsverfahren353, in dem auf Grundlage der Kostengrundentscheidung die konkreten Kosten des Rechtsstreits festgesetzt werden (§§ 103 ff. ZPO). Dasselbe gilt für das vorprozessuale selbstständige Beweisverfahren (§ 485 Abs. 2 ZPO)354 und
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Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 36. BT-Drs. 17/3802, S. 36. 350 BT-Drs. 17/3802, S. 42. 351 Bsp. Arrestverfahren (§§ 916 ff. ZPO), einstweilige Verfügung (§§ 935 ff. ZPO), einstweilige Anordnung (§§ 49 ff. FamFG). 352 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 41; BGH, Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13, Rn. 22, juris. 353 In diese Richtung LSG Celle, Urt. v. 28.03.2013 – L 15 SF 10/12 EK, Rn. 10, juris; dezidiert BSG, Urt. v. 10.07.2014 – B 10 ÜG 8/13 R, Rn. 15 ff., juris. A.A. vom Stein/Brand, NZA 2014, 113 (114) unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 13.10.2011 – Nr. 41629/07 (M./.Deutschland). 354 So auch das OLG Frankfurt, Urt. v. 30.01.2013 – 4 EntV 9/12, Rn. 40, juris, wenn zwei unterschiedliche „Hauptsachen“ den Verfahren zugrunde liegen; dies bestätigend BGH, 349
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für das Zwangsvollstreckungsverfahren vor dem Vollstreckungsgericht355. Vom Anwendungsbereich erfasst sind ebenfalls Verfahren in Familiensachen (§ 111 FamFG). Weil die Dauer des eröffneten Insolvenzverfahrens nicht primär von Entscheidungen des Insolvenzgerichtes abhängt, ist dieses grundsätzlich vom Anwendungsbereich der §§ 198 ff. GVG ausgenommen.356 Eine Ausnahme gilt jedoch für die Herbeiführung von Amts wegen zu treffenden gerichtlichen Entscheidungen, § 198 Abs. 6 Nr. 1 a.E. GVG. Nach dem oben Gesagten handelt es sich bei einem Befangenheits-, Aussetzungs- und Beiladungsverfahren357 nicht um ein Gerichtsverfahren i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG, da ihre Einleitung von der Durchführung eines Hauptsacheverfahrens abhängig ist. (4) Rechtskraftdurchbrechende Verfahren Umstritten ist, inwieweit rechtskraftdurchbrechende Verfahren unter den Verfahrensbegriff des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG zu subsumieren sind. Die Nichtigkeits- und Restitutionsklage werden zutreffend als eigenständige Gerichtsverfahren und nicht als Teil des Hauptsacheverfahrens, dessen rechtskräftige Entscheidung durchbrochen werden soll, eingeordnet.358 Hierfür bietet ihre rechtliche Selbstständigkeit ein erstes Indiz, nachdem ihre Einleitung nicht durch die Anhängigkeit des Hauptsacheverfahrens bedingt ist, sondern gerade dessen rechtskräftigen Abschluss voraussetzt. Zudem erfolgt in den Grenzen des § 590 Abs. 1 ZPO eine Neuverhandlung, sodass auch eine inhaltliche Anknüpfung an das Altverfahren nicht stattfindet. Berücksichtigt man auch den langen Zeitraum, der zwischen dem Abschluss des Ausgangsverfahrens sowie der Klagen liegen kann (vgl. § 586 Abs. 2 S. 2 ZPO), überzeugt die Qualifizierung dieser rechtskraftdurchbrechenden Rechtsbehelfsverfahren als selbstständige Gerichtsverfahren i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG.
Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13, Rn. 19, 24 ff., juris. Kritisch Riebau, Anm. z. BGH, Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13, JR 2015, 332 (332 f.). 355 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 43 f. Die Erledigung eines Vollstreckungsauftrages durch den Gerichtsvollzieher soll nicht erfasst sein; Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1906). Anders aber Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 22: Analoge Anwendung ist gerechtfertigt, weil insbesondere durch eine zögerliche Zwangsvollstreckung Schäden entstehen können. Bejahend für § 62 ArbGG Germelmann, JbArbR 49 (2012), 41 (43). 356 BT-Drs. 17/3802, S. 23. 357 Anders nur Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 12. Bzgl. des Befangenheitsverfahrens ist auch Söhngen anderer Auffassung, Söhngen, NZS 2012, 493 (495). 358 Germelmann, JbArbR 49 (2012), 41 (47).
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Ohne nähere Begründung wird auch das Anhörungsrügeverfahren als rechtskraftdurchbrechendes Verfahren im Schrifttum als eigenständiges Gerichtsverfahren i.S.d. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG qualifiziert.359 Das hiergegen vorgebrachte Argument, das Anhörungsrügeverfahren sei aufgrund dessen singulären Streitgegenstandes durch eine kurze Verfahrensdauer gekennzeichnet, zu der das Fristenregime des § 198 GVG nicht passe360, überzeugt zwar nicht, wenn man bedenkt, dass der Gesetzgeber ausdrücklich auch vorläufige Rechtsschutzverfahren dem Anwendungsbereich des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG unterstellt hat, die sich ebenfalls durch kürzere Verfahrensdauern auszeichnen. Besonderheiten gegenüber der Nichtigkeits- und Restitutionsklage ergeben sich aber, weil ein enger inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem Hauptsacheverfahren und dem Anhörungsrügeverfahren besteht.361 So wird das Hauptsacheverfahren bei einer zulässigen und begründeten Anhörungsrüge in die Lage zurückversetzt, in der es sich vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung befunden hat, vgl. § 321a Abs. 5 S. 1, S. 2 ZPO; es ist damit Annex zum Hauptsacheverfahren362. In diesem Punkt unterscheidet sich das Anhörungsrügeverfahren, bei dem mit einem Jahr auch die Ausschlussfrist wesentlich kürzer bemessen ist (§ 321a Abs. 2 S. 2 ZPO), von den anderen rechtskraftdurchbrechenden Rechtsbehelfen. Somit handelt es sich bei einem Anhörungsrügeverfahren nach hier vertretener Auffassung nicht um ein selbstständiges Gerichtsverfahren i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG. (5) Prozesskostenhilfeverfahren Nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes ist das Prozess- oder Verfahrenskostenhilfeverfahren ein Gerichtsverfahren i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG. Es soll dem Rechtsschutzsuchenden die Durchsetzung seiner Rechte in einem Hauptsacheverfahren überhaupt erst ermöglichen, sodass beide Verfahren gesondert den §§ 198 ff. GVG unterliegen. Wird der Prozesskostenhilfeantrag jedoch nach Anhängigkeit des Hauptsacheverfahrens gestellt und die weitere Förderung desselben von der Bewilligung der Prozesskostenhilfe abhängig gemacht, wirkt sich eine Verzögerung des Prozesskostenhilfeverfahrens zwangsläufig auf das Hauptsacheverfahren mit der Konsequenz aus, dass für dieselbe Verzögerung zwei selbstständige Entschädigungsansprüche entstehen würden. 359 Guckelberger, DÖV 2012, 289 (294); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 54; Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 12; wohl auch Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 1. 360 Vielmeier, NJW 2013, 346 (348), der u.a. aber daraus ableitet, dass das Anhörungsrügeverfahren gar nicht dem Anwendungsbereich der §§ 198 ff. GVG unterliegt. Diesem Ansatz folgend OLG Dresden, Urt. v. 24.07.2013 – 19 SchH 16/12 EntV, BeckRS 2014, 12320, unter Punkt II. 361 Vielmeier, NJW 2013, 346 (348). 362 Vgl. BGH, Urt. v. 21.05.2014 – III ZR 355/13, Rn. 12, juris zu § 44 FamFG.
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Es wird daher vertreten, dass in einem solchen Fall nicht die Überlänge des Prozesskostenhilfeverfahrens, sondern die des Rechtsstreites selbst Gegenstand des Entschädigungsverfahrens sei.363 Zwar könne das Prozesskostenhilfeverfahren grundsätzlich Gegenstand eines eigenen Entschädigungsanspruches sein. Da aber das Prozesskostenhilfeverfahren in dieser Fallkonstellation ein Zwischenschritt zur Erreichung des eigentlichen Rechtsschutzzieles in der Hauptsache darstelle und sich die Auslegung des Verfahrensbegriffs an der Hauptsache orientiere, sei hier das Hauptsacheverfahren Gegenstand des Entschädigungsverfahrens.364 Diese Argumentation, die nur schwerlich mit dem Wortlaut des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG in Einklang zu bringen ist, vermag aber nicht zu überzeugen, denn sie ließe sich auch auf jene Fälle ausweiten, in denen das Hauptsacheverfahren erst nach Bewilligung des Prozesskostenhilfeantrages rechtshängig gemacht wird. Das Rechtsschutzziel des Prozesskostenhilfeverfahrens – dem Antragsteller die Verfolgung seines Rechtsschutzzieles in der Hauptsache zu ermöglichen365 – besteht nämlich unabhängig davon, wann ein Antrag auf Prozesskostenhilfe gestellt wird. Es stellt immer einen Zwischenschritt im Hinblick auf das eigentlich mit dem Hauptsacheverfahren verfolgte Rechtsschutzziel dar. Der gesetzgeberische Wille, der auch klar erkennbar in § 198 Abs. 6 Nr. 1, Halbs. 1 GVG zum Ausdruck kommt und besagt, dass das Prozesskostenhilfeverfahren dem Rechtsschutz der §§ 198 ff. GVG unabhängig vom Hauptsacheverfahren zu unterstellen ist, darf daher nicht konterkariert werden. Unterschiede würden sich insbesondere bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ergeben. So wäre eine Heilung von Verzögerungen, die im Prozesskostenhilfeverfahren eintreten und kausal zu Verzögerungen im Hauptsacheverfahren führen, selbst dann noch möglich, wenn das Prozesskostenhilfeverfahren längst abgeschlossen wäre. Zudem zählen Prozesskostenhilfeverfahren wegen ihrer Bedeutung für die Betroffenen zu den besonders eilbedürftigen Rechtsangelegenheiten.366 Die überzeugende Lösung dieses Problems ist daher nicht über den Begriff des Gerichtsverfahrens zu suchen, sondern vielmehr auf Rechtsfolgenebene des jeweiligen Entschädigungsanspruches. Eine Korrektur unbilliger Ergebnisse ist über § 198 Abs. 2 S. 2, S. 4, Abs. 4 GVG zu erreichen.367
363 OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 35, juris; im Ergebnis auch LSG Darmstadt, Urt. v. 06.02.2013 – L 6 SF 6/12 EK U, Rn. 76, juris; OLG Naumburg, Urt. v. 30.05.2013 – 1 ESV 4/12, Rn. 20, juris. 364 OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 35, juris. 365 Motzer, in: MüKo-ZPO, § 114 ZPO, Rn. 1. 366 BVerfG NVwZ 2004, 334 (335). 367 Ähnlich auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 59, der wohl nur die Festsetzung eines niedrigeren Entschädigungsbetrages für gerechtfertigt hält.
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bb. Zeitlicher Umfang des Gerichtsverfahrens Nach § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG ist ein Gerichtsverfahren jedes Verfahren von dessen Einleitung bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss. Das Durchlaufen des Instanzenzuges führt dementsprechend nicht dazu, dass unterschiedliche Gerichtsverfahren i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG vorliegen, selbst wenn infolge der Haftungsaufteilung nach § 200 GVG ein einheitlicher Entschädigungsanspruch nicht entsteht oder das Entschädigungsverlangen nur auf die Dauer eines Teiles des Ausgangsverfahrens gestützt wird.368 Die Verfahrensdauer ist für jeden Verfahrensbeteiligten gesondert zu prüfen. Unterschiede ergeben sich bspw. dann, wenn ein Verfahrensbeteiligter dem Verfahren erst später beigetreten ist.369 Der zeitliche Umfang des Gerichtsverfahrens spielt eine maßgebliche Rolle, weil dieser den Bezugspunkt der Angemessenheit bestimmt (siehe S. 134 ff.). (1) Einleitung des Verfahrens Das Verfahren kann sowohl durch Klageerhebung, von Amts wegen oder auf Antrag eingeleitet werden; entscheidend ist das Ingangsetzen des Verfahrens.370 Vereinzelt haben Entschädigungsgerichte den Begriff „einschließlich“ in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG derart verstanden, dass ein Gerichtsverfahren mit der Einleitung des Verfahrens beginne und vorläufige Rechtsschutzverfahren sowie Prozesskostenhilfeverfahren bei der Gesamtverfahrensdauer einschließlich zu berücksichtigen seien.371 Aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt sich aber, dass dem Begriff „einschließlich“ in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG keine zeitliche Komponente innewohnt, sondern vielmehr damit der Anwendungsbereich der Norm konkretisiert werden soll.372 Wie bereits zuvor erörtert, ist die Anwendung der §§ 198 ff. GVG bezüglich dieser beiden Verfahren aufgrund der unterschiedlichen Rechtsschutzziele gerechtfertigt. Demnach ist die Einleitung eines vorläufigen Rechtsschutzverfahrens oder eines Prozess- bzw.
368 Söhngen, NZS 2012, 493 (495); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 52. Dies verkennend u.a. BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 24, juris; OLG Rostock, Urt. v. 22.05.2013 – 1 SchH 2/12, BeckRS 2014, 15590 [richtig aber der BGH in seinem diesbezüglichen Revisionsurteil, BGH, Urt. v. 17.07.2014 – III ZR 228/13, Rn. 19, juris]. 369 Siehe Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 60. Vgl. auch EGMR, Urt. v. 08.02.1996 – Nr. 20826/92 (A. u.a./.Dänemark), § 62, Hudoc. 370 BT-Drs. 17/3802, S. 22. 371 So scheinbar LSG Stuttgart, Urt. v. 20.02.2013 – L 2 SF 1495/12, Rn. 38, juris und LSG Stuttgart, Urt. v. 21.11.2012 – L 2 SF 436/12 EK, Rn. 62, juris. 372 BT-Drs. 17/3802, S. 22 f. So auch das OLG Frankfurt, Urt. v. 30.01.2013 – 4 EntV 9/12, Rn. 39, juris.
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Verfahrenskostenhilfeverfahrens ohne Bedeutung für die Gesamtverfahrensdauer eines Hauptsacheverfahrens. (2) (Rechtskräftiger) Abschluss des Verfahrens Auch wenn der Wortlaut des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG auf den rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens abstellt, müssen nach dem Telos der Vorschrift auch solche Beendigungstatbestände erfasst sein, die der Rechtskraft nicht fähig sind. Abzustellen ist somit auf den endgültigen Abschluss des Verfahrens.373 Dies folgt bereits aus einem systematischen Vergleich zu § 198 Abs. 5 S. 2 GVG, wo im Zusammenhang mit der Klagefrist ausdrücklich die anderweitige Erledigung des Rechtsstreites einer der Rechtskraft fähigen Entscheidung gleichgestellt wird. Insofern handelt es sich offensichtlich um einen gesetzgeberischen redaktionellen Fehler. Demnach fällt unter den Abschluss eines Verfahrens nicht nur das Urteil, sondern bspw. auch die Klagerücknahme, der Vergleich oder die Erledigterklärung.374 Vereinzelt wird die Ansicht vertreten, ein Rechtsstreit sei erst dann endgültig abgeschlossen, wenn das BVerfG über eine etwaige Urteilsverfassungsbeschwerde entschieden habe.375 Da die Verfassungsbeschwerde aber ein Verfahren der Verfassungsgerichtsbarkeit ist, welches mit Schaffung der §§ 97a ff. BVerfGG vom Anwendungsbereich der §§ 198 ff. GVG ausgeschlossen werden sollte, darf diese gesetzgeberische Wertung nicht über die Bestimmung der Verfahrensdauer umgangen werden. Wann ein endgültiger Abschluss des Verfahrens vorliegt, hat sich also am Verfahrensbegriff zu orientieren. Ist die Entscheidung der Rechtskraft fähig, liegt ein rechtskräftiger Abschluss eines Verfahrens vor, wenn eine gerichtliche Entscheidung überhaupt nicht oder nicht mehr angefochten werden kann, vgl. § 705 ZPO, § 19 EGZPO. Der Ablauf etwaiger Rechtsmittelfristen ist daher bei der Gesamtdauer miteinzuberechnen; abzustellen ist auf den Zeitpunkt der formellen Rechtskraft.376 Dagegen erstreckt sich die Dauer des Ausgangsverfahrens nicht auf solche Abschnitte, die dem rechtskräftigen Abschluss zeitlich nachfolgen, wie das Kostenfestsetzungsverfahren oder das Vollstreckungsverfahren.
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BT-Drs. 17/3802, S. 22. Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 54; Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 36; Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 7; bzgl. des Abschlusses eines Verfahrens mittels Vergleichs siehe auch EGMR, Urt. v. 25.05.1991 – Nr. 11890/85 (Caleffi./.Italien), § 14, Hudoc. 375 So aber Söhngen, NZS 2012, 493 (495). 376 LSG Stuttgart, Urt. v. 20.02.2013 – L 2 SF 1495/12, Rn. 38, juris; LSG Stuttgart, Urt. v. 21.11.2012 – L 2 SF 436/12 EK, Rn. 62, juris; BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 16, 19, juris; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 54; Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 12. 374
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Wie oben erörtert, ist es überzeugend, das Hauptsacheverfahren und das Anhörungsrügeverfahren als ein Gerichtsverfahren i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG zu qualifizieren. Hiergegen wird eingewandt, dass das Anhörungsrügeverfahren nicht Teil eines Gerichtsverfahrens sein könne, da der Wortlaut der Norm auf den rechtskräftigen Abschluss eines Verfahrens abstelle, wohingegen die Anhörungsrüge die Rechtskraft einer Entscheidung durchbreche377. Der Anwendungsbereich der §§ 198 ff. GVG ende demnach mit dem rechtskräftigen Urteil, sodass diese bei verzögerten Anhörungsrügeverfahren keine Geltung beanspruchen würden.378 Mangels anderweitiger Rechtsschutzmöglichkeiten stehe dem Verfahrensbeteiligten daher bei verzögerter Bearbeitung der Anhörungsrüge aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung des § 90 Abs. 2 BVerfGG der Verfassungsrechtsweg offen.379 Das angeführte Wortlautargument wiegt jedoch vor dem Hintergrund, dass auch der Rechtskraft nicht fähige Beendigungstatbestände unter § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG fallen, nicht schwer. Aufgrund des engen inhaltlichen Zusammenhanges zwischen dem Hauptsache- und dem Anhörungsrügeverfahren ist das Hauptsacheverfahren erst als endgültig abgeschlossen anzusehen, wenn über das Fortsetzungsverfahren rechtskräftig entschieden wird. Die Anhörungsrüge sowie ein etwaiges Fortsetzungsverfahren sind damit als Teil des Hauptsacheverfahrens i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG anzusehen und deren gesamte Zeitspanne bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer zu berücksichtigen.380 Als entschädigungsrechtliche Einheit können damit auch Verzögerungen, die im vorangegangenen Verfahren eingetreten sind, zum Gegenstand einer Verzögerungsrüge im Anhörungsrügeverfahren gemacht werden.381 In einem solchen Fall wird ein Geldentschädigungsanspruch aber regelmäßig infolge der verspäteten Erhebung der Verzögerungsrüge ausscheiden (siehe hierzu S. 114 f.).
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Zutreffend Vielmeier, NJW 2013, 346 (347). Vielmeier, NJW 2013, 346 (349 f.). Zustimmend OLG Dresden, Urt. v. 24.07.2013 – 19 SchH 16/12 EntV, BeckRS 2014, 12320 [aufgehoben durch BGH, Urt. v. 21.05.2014 – III ZR 355/13, juris]. 379 Vielmeier, NJW 2013, 346 (349). 380 Im Ergebnis auch BGH, Urt. v. 21.05.2014 – III ZR 355/13, Rn. 10, juris; Germelmann, JbArbR 49 (2012), 41 (47). A.A. Guckelberger, DÖV 2012, 289 (294); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 54; Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 12. Beurteilt man das Anhörungsrügeverfahren als Teil des Hauptsacheverfahrens wird auch das Argument, die §§ 198 ff. GVG seien mit ihrem Fristenregime nicht auf die kurze Bearbeitungsdauer des Anhörungsrügeverfahrens zugeschnitten, gegenstandslos. Wie hier BGH, Urt. v. 21.05.2014 – III ZR 355/13, Rn. 15 ff., juris. 381 A.A. BGH, Urt. v. 21.05.2014 – III ZR 355/13, Rn. 16, juris. 378
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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(3) Zwischenverfahren Ob die Zeitspanne eines Zwischenverfahrens für die Verfahrensdauer des Ausgangsverfahrens relevant ist, hängt maßgeblich vom Begriff des Gerichtsverfahrens i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG ab. So ist bspw. die Dauer einer Richtervorlage nach Art. 100 GG nicht in die Zeitspanne der Gesamtverfahrensdauer miteinzubeziehen382, da andernfalls die Wertung des Gesetzgebers, verfassungsgerichtliche Verfahren vom Anwendungsbereich der §§ 198 ff. GVG auszuschließen, durch die Hintertür der Verfahrensdauer umgangen werden würde. Ebenfalls vom Anwendungsbereich ausgeschlossen sind Vorlageverfahren an den EuGH nach Art. 267 AEUV, da diese Verfahren nicht der deutschen Gerichtsbarkeit unterliegen.383 Dagegen ist bspw. die Dauer eines Befangenheitsverfahrens, welches kein eigenständiges Gerichtsverfahren i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG ist, bei der Bestimmung der relevanten Zeitspanne des Ausgangsverfahrens zu berücksichtigen. cc. Bewertung Bereits die Ausgestaltung des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG zeigt exemplarisch, was charakteristisch für das gesamte ÜGRG ist: Regelungen, die teils mehr Fragen beim Normanwender hervorrufen als beantworten. So lässt die Legaldefinition des Gerichtsverfahrens offen, nach welchen Kriterien die Abgrenzung der Verfahren untereinander zu erfolgen hat, sodass der mit ihr verbundene Erkenntniswert gering ist und die Konkretisierung des gesamten Anwendungsbereiches dem Normanwender überlassen bleibt. Wenig hilfreich ist dabei der Widerspruch zwischen dem § 198 Abs. 6 Nr. 1, Halbs. 1 GVG und dem § 198 Abs. 5 S. 2 GVG, die für den Abschluss des Verfahrens auf unterschiedliche Beendigungstatbestände abstellen. Überzeugend hat sich im Schrifttum und in der Rechtsprechung ein an der Hauptsache orientierter Verfahrensbegriff durchgesetzt, mit dem in den allermeisten Fällen eine sachgerechte Abgrenzung erfolgen kann. Problematisch könnte unter dem Gesichtspunkt der Effektivität der Regelung sein, dass der Verfahrensbeteiligte aufgrund des Gerichtsverfahrensbegriffes gegebenenfalls mehrere Entschädigungsverfahren anstrengen muss, obwohl diese im Nexus zueinander stehen und auf einem einheitlichen Sachverhalt beruhen. So verfolgt der EGMR bei Bestimmung der unter Art. 6 Abs. 1 EMRK fallenden Streitigkeiten sowie bei der Festlegung des für die Angemessenheit der Verfahrensdauer in Betracht zu ziehenden Zeitraumes einen wesentlich 382
Klarstellend auch BT-Drs. 17/3802, S. 17, 22. Die Zeitspanne bis zur tatsächlichen Vorlage beim BVerfG ist der Verfahrensdauer des Ausgangsverfahrens hinzuzurechnen, Guckelberger, DÖV 2012, 289 (294). 383 BT-Drs. 17/3802, S. 22. Einschränkend Guckelberger, DÖV 2012, 289 (294 f.), die die Zeit vor dem EuGH dann miteinbeziehen will, wenn die Vorlage rechtsmissbräuchlich war.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
pragmatischeren Ansatz. Die Dauer einer Streitigkeit i.S.v. Art. 6 Abs. 1 EMRK kann danach bereits mit der Erhebung eines Prozesskostenhilfeantrages beginnen384 und unter Umständen die Zeitspanne eines sich daran anschließenden Zwangsvollstreckungsverfahrens umfassen385. Eine derart flexible Handhabung des Verfahrensbegriffes ist jedoch nur schwerlich mit dem komplexen Regelungskonstrukt des § 198 GVG und dessen Fristenregime vereinbar. Insofern ist der bestehende Gestaltungsspielraum der Konventionsstaaten bei Schaffung eines Rechtsschutzsystems zu berücksichtigen. Zudem ist der pragmatische Ansatz des EGMR mit Rechtsunsicherheit verbunden und wird der Interessenlage des Betroffenen insbesondere dann nicht gerecht, wenn zwischen den einzelnen Verfahren, wie dem Hauptsacheverfahren und dem sich daran anschließenden Kostenfestsetzungsverfahren, zeitlich größere Abstände liegen. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass im Gegensatz zu Art. 6 Abs. 1 EMRK in einigen Fällen nach § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG getrennt zu betrachtende Gerichtsverfahren vorliegen, solange diese überhaupt dem Anwendungsbereich der Rechtsschutzvorschriften unterliegen.386 Somit ist im Bereich der Zivilgerichtsbarkeit nicht erkennbar, dass der sachliche Anwendungsbereich des § 198 GVG hinter dem Schutzniveau der EMRK und des GG zurückbleibt. b. Anspruchsinhaber aa. Allgemeines Nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG ist Anspruchsinhaber des staatshaftungsrechtlichen Entschädigungsanspruches der Verfahrensbeteiligte eines Gerichtsverfahrens. Eine Legaldefinition des Verfahrensbeteiligten findet sich in § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG, wonach jede Partei und jeder Beteiligte eines überlangen Gerichtsverfahrens anspruchsberechtigt ist. Ausgenommen sind davon jedoch Verfassungsorgane, Träger der öffentlichen Verwaltung und sonstiger öffentlicher Stellen, soweit diese nicht in Wahrnehmung eines Selbstverwaltungsrechts an einem Verfahren beteiligt sind. Der Entschädigungsanspruch ist personenbezogen. Stehen als Partei oder Beteiligter also mehrere Personen auf 384 Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 239: wenn der Antrag auf Prozesskostenhilfe mit der Klageerhebung verbunden ist und der Antrag vorab zu prüfen ist. 385 EGMR, Urt. v. 02.07.2002 – Nr. 71891/01 (Hałka./.Polen), § 20, Hudoc. Grundsätzlich wird die Dauer eines Zwangsvollstreckungsverfahrens aber nicht mitberechnet, Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 244; ausführlicher Brett, Verfahrensdauer, S. 251. 386 Vgl. EGMR, Urt. v. 29.06.2006 – Nr. 22457 (Božić./.Kroatien), § 32, Hudoc: „In this connection the Court reiterates that a remedy available to a litigant at domestic level for raising a complaint about the length of proceedings is ‘effective’, within the meaning of Article 13 and 35 § 1 of the Convention, only if it is capable of covering all stages of the proceedings complained of and thus, in the same way as a decision given by the Court, of taking into account their overall length […].“.
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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Kläger- und Beklagtenseite, ist jeder einzelne von ihnen anspruchsberechtigt.387 bb. Der Begriff der Partei und des Beteiligten eines Gerichtsverfahrens Für die Anspruchsberechtigung ist maßgeblich, wer Partei und Beteiligter eines Gerichtsverfahrens nach § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG ist. Die Verwendung der Begriffe „Partei“ und „Beteiligte“ in § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG soll dem unterschiedlichen Sprachgebrauch in den Prozessordnungen Rechnung tragen388, sodass für jedes unter § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG fallende Gerichtsverfahren zu klären ist, wer in diesem als Partei bzw. Beteiligter anzusehen ist. Im zivilgerichtlichen Verfahren ist bezüglich der Anspruchsberechtigung daher grundsätzlich auf den Parteibegriff abzustellen, welcher der Zivilprozessordnung zugrunde liegt. Anspruchsinhaber können demnach Kläger und Beklagter sein.389 Im Anwendungsbereich des FamFG findet sich demgegenüber der Beteiligtenbegriff (§ 7 FamFG), wobei für die Anspruchsberechtigung einschränkend eine unmittelbare Betroffenheit verlangt wird.390 Anspruchsberechtigt sind auch Antragsteller und -gegner im einstweiligen Rechtsschutzverfahren sowie im Verfahren zur Bewilligung von Prozess- und Verfahrenskostenhilfe.391 Nach der in ständiger Rechtsprechung und Lehre vertretenen Amtstheorie kommt auch der Partei kraft Amtes eine Parteienstellung zu.392 Da diese in gesetzlicher Prozessstandschaft handelt, also ein fremdes Recht im eigenen Namen geltend macht, steht nicht ihr der Entschädigungsanspruch zu, sondern der durch die Partei kraft Amtes vertretenen Vermögensmasse.393 Umstritten ist, ob der Nebenintervenient im Zivilprozess anspruchsberechtigt ist. Der Gesetzesbegründung kann hierzu nichts entnommen werden. Teilweise wird vertreten, dass der Nebenintervenient de lege lata nicht
387 Ausführlich BVerwG, Urt. v. 27.02.2014 – 5 C 1/13 D, Rn. 37, juris; Ott, in: SteinbeißWinkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 228; einschränkend für klagende Bedarfsgemeinschaften im Bereich des SGB II Wehrhahn, SGb 2013, 61 (66). 388 BT-Drs. 17/3802, S. 23. 389 Siehe zum Parteibegriff Lindacher, in: MüKo-ZPO, Vorbem. §§ 50 ff. ZPO, Rn. 2; Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, Grdz. § 50 ZPO, Rn. 4. Im Falle der Streitgenossenschaft ist jeder Streitgenosse anspruchsberechtigt. Ebenso wohl Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 229. 390 Ausführlich hierzu Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 230. Im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit soll die materielle Beteiligung nicht zur Anspruchsberechtigung genügen, Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (1). 391 BT-Drs. 17/3802, S. 23. 392 Zum Streit- und Meinungsstand bzgl. der Prozessführung durch amtlich bestellte Vermögensverwalter siehe nur Lindacher, in: MüKo-ZPO, Vorbem. §§ 50 ff. ZPO, Rn. 29 ff. 393 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 231.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
anspruchsberechtigt sei, da er keine Partei des Verfahrens ist.394 Dagegen wird vorgebracht, ein Nebenintervenient sei trotz fehlender Parteistellung (zumindest) als Beteiligter i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG zu qualifizieren und daher anspruchsberechtigt.395 Denn der Beteiligtenbegriff gehe grundsätzlich weiter als der enge zweipolige Parteibegriff und qualifiziere all diejenigen als Beteiligte „die am Prozess mit eigenen Verfahrensrechten, insb. dem Recht, Anträge zum Verfahren und zur Sache zu stellen, beteiligt sind“396. Der Wortlaut der Norm ist indifferent, sodass ein Nebeneinander zwischen dem Partei- und Beteiligtenbegriff vorstellbar ist. Hiergegen spricht, dass die im Gesetzestext vorgenommene Differenzierung zwischen „Partei“ und „Beteiligten“ vollständig nivelliert werden würde, da der Parteibegriff im weiter gefassten Beteiligtenbegriff aufgeht. Allerdings liegt nicht allen Verfahrensordnungen, auf welche die §§ 198 ff. GVG unmittelbar Anwendung finden, ein feststehender Partei- oder Beteiligtenbegriff zugrunde (Bsp. StPO, InsO)397, sodass die Bestimmung der Anspruchsberechtigung nicht ausschließlich nach formalen Kriterien erfolgen sollte. Die parallele Verwendung des Partei- und Beteiligtenbegriffs im Gesetzestext soll vor allem zum Ausdruck bringen, dass nicht jeder, der am Verfahren beteiligt ist, wie bspw. Zeugen oder Sachverständige, anspruchsberechtigt ist.398 Da der Nebenintervenient nach § 67 ZPO aktiv auf den Verfahrensablauf Einfluss nehmen kann und über die Interventionswirkung nach § 68 ZPO an das Prozessergebnis des Gerichtsverfahrens gebunden ist, ist dieser auch von einer überlangen Verfahrensdauer unmittelbar betroffen. Zudem ähnelt sich die verfahrensrechtliche Stellung des Nebenintervenienten im Zivilprozess der des einfach Beigeladenen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren399, der als Beteiligter anspruchsberechtigt ist (§ 173 S. 2 VwGO i.V.m. § 198 Abs. 1, Abs. 6
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Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (1); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 229; Stahnecker, Entschädigung, Rn. 17; Reiter, AD LEGENDUM 2015, 151 (155): Anspruchsberechtigung ist zweifelhaft. 395 Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 191; Heine, MDR 2012, 327 (328); Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 10; Dietrich, ZZP 127 (2014), 169 (178); Lückemann, in: Zöller-ZPO, § 198 GVG, Rn. 12. Für das arbeitsgerichtliche Verfahren bejahend Germelmann, JbArbR 49 (2012), 41 (50). 396 Kintz, in: Posser/Wolff, BeckOK-VwGO, § 63 VwGO, Rn. 1. 397 So sollen nach der Gesetzesbegründung im Strafprozess all diejenigen anspruchsberechtigt sein, die final gestaltend auf den Prozessgegenstand einwirken können, siehe BTDrs. 17/3802, S. 23. Zur Anspruchsberechtigung im Bereich insolvenzrechtlicher Verfahren, Zimmer, ZInsO 2011, 2302 (2305 f.). 398 Vgl. auch BT-Drs. 17/3802, S. 23. 399 Siehe Bier, in: Schoch/Schneider/u.a., VwGO, § 65 VwGO, Rn. 2; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, § 30 I 1, S. 288; Stahl, Beiladung und Nebenintervention, S. 117 f.
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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Nr. 2 GVG)400. Beide nehmen als Dritter am gerichtlichen Verfahren teil, haben aufgrund ihrer Verfahrensrechte die Möglichkeit, aktiv am Prozess mitzuwirken und sind über die Interventionswirkung nach § 68 ZPO bzw. die Rechtskrafterstreckung nach § 121 Nr. 1 VwGO von der Überlänge des Ausgangsverfahrens betroffen. Somit ist es gerechtfertigt, beiden gleichermaßen die Anspruchsberechtigung zuzusprechen. cc. Anspruchsberechtigung von Trägern öffentlicher Verwaltung und sonstiger öffentlicher Stellen Die Anspruchsberechtigung von Trägern öffentlicher Verwaltung und sonstiger öffentlicher Stellen ist grundsätzlich ausgeschlossen401, es sei denn sie handeln in Wahrnehmung ihrer Selbstverwaltungsrechte (§ 198 Abs. 6 Nr. 2 a.E. GVG)402. Nur in diesem Fall sind selbstständige Rechtspositionen betroffen, die es rechtfertigen, dass Trägern öffentlicher Verwaltung ein Entschädigungsanspruch gegen den Staat zusteht.403 dd. Bewertung Weder der völker- noch der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung kann entnommen werden, welcher Personenkreis explizit unter den personellen Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG fällt. Entscheidend für die Frage der Anspruchsberechtigung muss sein, ob ein schützenswertes Interesse an einer rechtzeitigen Entscheidung besteht, was immer dann anzunehmen ist, wenn Rechte eines Einzelnen unmittelbar von der Überlänge der Verfahrensdauer betroffen sein können. Das formale Kriterium der Partei- oder Beteiligtenstellung ist daher nur bedingt geeignet, den Kreis 400 Für die Anspruchsberechtigung des Beigeladenen: Guckelberger, DÖV 2012, 289 (295); Schenke, NVwZ 2012, 257 (263); Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 13. Derjenige, der die Hinzuziehung als Beteiligter zu einem Verfahren beantragt, ist bereits als Beteiligter in dem Verfahren, in dem über seinen Antrag entschieden wird, anspruchsberechtigt, Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (1); Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 13. 401 Bsp.: Staatsanwaltschaft, Jugendgerichtshilfe, Vertreter des öffentlichen Interesses, BT-Drs. 17/3802, S. 23. 402 Bsp.: Religionsgemeinschaften, Universitäten, Gemeinden, siehe Guckelberger, DÖV 2012, 289 (295). Die gesetzliche Regelung geht auf den Referentenentwurf zurück, § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG-RefE. Auf Vorschlag des Bundesrates wurde diese Regelung wieder aufgegriffen (BT-Drs. 17/3802, S. 36, 42), nachdem der Regierungsentwurf vorsah, dass jegliche Träger öffentlicher Verwaltung und sonstiger Stellen vom Anspruch ausgeschlossen sein sollten, BT-Drs. 17/3802, S. 23. 403 BT-Drs. 17/3802, S. 36. Umstritten ist, ob Träger öffentlicher Verwaltung anspruchsberechtigt sind, wenn sie sich privatrechtlicher Handlungsformen bedienen. Dagegen Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 233; Wolff, VR 2012, 289 (292).
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der Anspruchsberechtigten zutreffend zu bestimmen. Zwar wird dadurch deutlich, welche Verfahrensbeteiligten keinesfalls anspruchsberechtigt sind. Wie gesehen, erweist sich der Parteienbegriff der ZPO aber als zu eng, der Beteiligtenbegriff des FamFG in einigen Fällen als zu weitgehend. Insofern hätte die Bestimmung der Anspruchsberechtigung besser unabhängig vom Partei- und Beteiligtenbegriff erfolgen sollen. c. Anspruchsgegner aa. Allgemeines § 200 GVG begründet keine neuen Haftungsvoraussetzungen, sondern normiert, wer Anspruchsgegner des Entschädigungsanspruches nach § 198 Abs. 1 GVG ist.404 Ist es bei Gerichten eines Landes zu Verzögerungen gekommen, haftet das jeweilige Land, § 200 S. 1 GVG. Demgegenüber haftet der Bund, wenn ein Bundesgericht für die Verzögerung verantwortlich ist, § 200 S. 2 GVG. Die Haftungsaufteilung orientiert sich daran, welcher Rechtsträger die Verbandskompetenz für die deutsche Gerichtsbarkeit innehat (sog. Rechtsträgerprinzip).405 Der Begriff der Verzögerung in § 200 GVG ist wie in § 198 Abs. 2 S. 3 GVG zu verstehen und meint die Zeitspanne, welche die angemessene Dauer des Verfahrens übersteigt.406 bb. Verzögerungen durch Gerichte unterschiedlicher Rechtsträger Konsequenz dieser Haftungsaufteilung ist, dass bei Verursachung der überlangen Verfahrensdauer durch mehrere Gerichte unterschiedlicher Rechtsträger Entschädigungsansprüche gegen mehrere Schuldner bestehen.407 Demnach muss nicht zwingend ein einheitlicher materiell-rechtlicher Entschädigungsanspruch bezüglich der gesamten überlangen Verfahrensdauer vorliegen. Die Rechtsträger der Gerichte haften also grundsätzlich für diejenigen Nachteile, die aufgrund der Verzögerungen durch diese entstanden sind; für ein Gesamtschuldnerausgleich nach §§ 426 ff. BGB ist daher kein Raum.408 404
Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 200 GVG, Rn. 1. BT-Drs. 17/3802, S. 25. Haben mehrere Länder gemeinsame Gerichte eingerichtet, bspw. Fachobergerichte oder Finanzgerichte, wird die Rechtsprechungsgewalt jeweils nur für eines der Länder ausgeübt, sodass Anspruchsgegner dasjenige Land ist, welches für den Rechtsstreit zuständig gewesen wäre, Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 200 GVG, Rn. 5; a.A. Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 57: ausreichend, dass beide Länder gemeinschaftlich verklagt werden. 406 Siehe hierzu S. 208. 407 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 52, § 200 GVG, Rn. 2. 408 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 200 GVG, Rn. 2; Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 200 GVG, Rn. 2 ff.; Graf, in: BeckOK-StPO, § 200 GVG, Rn. 3. A.A. ist Magnus, nach dem dieser Fall nicht vom Wortlaut des § 200 405
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Treten die Nachteile erst in einem anderen Haftungsabschnitt als die Verzögerungen ein (Bsp.: Verzögerungen vor dem Oberlandesgericht, Uneinbringlichkeit der Forderung wegen Insolvenz des Beklagten während des Revisionsverfahrens vor dem BGH), ist nach dem Wortlaut von § 200 GVG entscheidend, welche Gerichte für die Verzögerungen verantwortlich sind; abzustellen ist damit nicht auf den Zeitpunkt des Eintritts des Nachteils. cc. Bewertung Das Konzept des Referentenentwurfes sah demgegenüber ganz anders aus. Nach § 200 GVG-RefE sollten die beteiligten Rechtsträger gesamtschuldnerisch haften, weil andernfalls zu befürchten sei, dass die Effektivität des kompensatorischen Rechtsbehelfes erheblich eingeschränkt werde, wenn der Betroffene gegen mehrere Rechtsträger vorgehen müsse.409 In der Tat sind diese Zweifel nicht von der Hand zu weisen. Doch solange diese Haftungsaufteilung mit keinen Hindernissen bei der (gerichtlichen) Durchsetzung verbunden ist, kann allein die materiell-rechtliche Ausgestaltung nicht zur Ineffektivität des Rechtsbehelfs führen. Aus diesem Grund wird auf diese Problematik im Zusammenhang mit der (gerichtlichen) Durchsetzung der Entschädigungsansprüche zurückzukommen sein (S. 271 f.). Darüber hinaus eröffnet diese Haftungsaufteilung eine Vielzahl von Problemkreisen, welche die §§ 198 ff. GVG zu einem komplizierten Regelungskonstrukt machen. Denn trotz unterschiedlicher Haftungsbereiche bleibt als Bezugspunkt der Angemessenheit die Gesamtverfahrensdauer (siehe S. 139 f.), sodass das Entschädigungsgericht auch solche Verfahrensabschnitte auf Verzögerungen hin zu untersuchen hat, die nicht in den Haftungsbereich des verklagten Rechtsträgers fallen. Zudem wird den Entschädigungsgerichten abverlangt, exakt den Zeitraum der Verzögerungen zu ermitteln, für den der jeweilige Rechtsträger verantwortlich ist; nur so kann der Haftungsanteil korrekt bestimmt werden.410 d. Die Verzögerungsrüge § 198 Abs. 3 S. 1 GVG normiert als zwingende Voraussetzung des Geldentschädigungsanspruches die Erhebung einer wirksamen Verzögerungsrüge411, mithilfe derer der Verfahrensbeteiligte gegenüber dem Ausgangsgericht zum Ausdruck bringt, dass er die Dauer des Ausgangsverfahrens missbilligt412. GVG erfasst wird und der daher grds. von einer gesamtschuldnerischen Haftung ausgeht, Magnus, ZZP 125 (2012), 75 (83). Ihm folgend Kissel/Mayer, GVG, § 200 GVG, Rn. 4. 409 ÜGRG-RefE vom 15.03.2010, S. 24 f. 410 Siehe auch Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 200 GVG, Rn. 4 ff. Dies ist auch Konsequenz von § 198 Abs. 2 S. 3 GVG. 411 So auch ausdrücklich die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 17/3802, S. 20. 412 BT-Drs. 17/3802, S. 21.
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Nach der Intention des Gesetzgebers verfolgt die Verzögerungsrüge zwei Zielrichtungen: Zum einen soll sie gegenüber dem Gericht im Ausgangsverfahren eine Warnung sein, sodass es nach Erhebung einer (berechtigten) Verzögerungsrüge auf diese mit der Beschleunigung des Verfahrens reagieren und so eine unangemessene Verfahrensdauer verhindern kann (präventive Funktion).413 Zum anderen soll die Verzögerungsrüge dem im Staatshaftungsrecht geltenden Verbot des „Dulde und Liquidiere“ Rechnung tragen (kompensatorische Funktion).414 Danach kann für staatliches Fehlverhalten nur dann Entschädigung verlangt werden, wenn bereits versucht wurde, sich primär gegen dieses zur Wehr zu setzen.415 Die nachfolgenden Ausführungen untersuchen schwerpunktmäßig, welche Voraussetzungen eine Verzögerungsrüge erfüllen muss, um anspruchsbegründend für § 198 Abs. 1 GVG zu sein und welche Fehlerfolgen eintreten, wenn diesen nicht entsprochen wird. Zum Abschluss wird zum Regelungskonstrukt der Verzögerungsrüge Stellung genommen und dieses aus völker- und verfassungsrechtlicher Perspektive bewertet. Aufgrund der doppelten Zielrichtung der Verzögerungsrüge ist dabei sowohl zu evaluieren, ob sie den Anforderungen an einen effektiven Primärrechtsbehelf gegen überlange Verfahrensdauer gerecht wird, als auch, welche Bedeutung die Verzögerungsrüge als materielles Tatbestandsmerkmal hinsichtlich der Effektivität des kompensatorischen Rechtsbehelfs hat. aa. Rechtliche Einordnung Das Ausgangsgericht, gegenüber dem die Verzögerungsrüge erhoben wird, trifft weder eine (förmliche) Bescheidungspflicht416 noch wird mit Erhebung der Verzögerungsrüge ein (Neben-)Verfahren eingeleitet417, in dem über verfahrensbeschleunigende Maßnahmen entschieden wird. Demnach hat der Verfahrensbeteiligte keinen Anspruch darauf, dass sein Beschleunigungsbegehren geprüft wird. Eine fachgerichtliche Kontrolle im Hinblick auf die gerichtliche Untätigkeit findet somit nicht statt, sodass die Einordnung der Verzögerungsrüge als Rechtsbehelf zu Recht abgelehnt wird418. 413
BT-Drs. 17/3802, S. 20 f. BT-Drs. 17/3802, S. 20. 415 Grundlegend BVerfGE 58, 300 (324) [Nassauskiesungsbeschluss]. 416 BT-Drs. 17/3802, S. 16, 20. 417 BT-Drs. 17/3802, S. 20; Guckelberger, DÖV 2012, 289 (292). 418 BT-Drs. 17/3802, S. 21; Rixe, Anm. z. EGMR, Urt. v. 27.10.2011 – Nr. 8857/08 (Bergmann./.Tschechien), FamRZ 2012, 1124 (1124); Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (860); MeyerHolz, in: Keidel, FamFG, Anh. zu § 58 FamFG, Rn. 67; Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 8, 35; Söhngen, NZS 2012, 493 (496); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 175; Guckelberger, DÖV 2012, 289 (292); Scholz, SGb 2012, 19 (24). BVerfG, Beschl. v. 21.12.2011 – 1 BvQ 44/11, Rn. 2, juris, spricht dagegen von der Verzögerungsrüge als Rechtsbehelf. 414
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Da das Ausgangsgericht nach Erhebung einer wirksamen Verzögerungsrüge beschleunigend auf den Prozessablauf einwirken soll419, ist die Verzögerungsrüge auf die Gestaltung des Prozessverlaufes gerichtet und daher als Prozesshandlung zu qualifizieren420. Korrespondierend zur doppelten Zielsetzung ist die wirksame Erhebung der Verzögerungsrüge daneben ein materiell-rechtliches Tatbestandsmerkmal421, von dem die Entstehung des Geldentschädigungsanspruches abhängig ist422. Dabei ist die Verzögerungsrüge als Obliegenheit der Verfahrensbeteiligten ausgestaltet423: Zwar besteht für den Betroffenen bei Verzögerungsgefahr keine Pflicht, im Ausgangsverfahren eine Verzögerungsrüge zu erheben. Unterlässt er aber eine solche, hat er bei Vorliegen einer unangemessenen Verfahrensdauer grundsätzlich keinen Anspruch auf eine angemessene Geldentschädigung, § 198 Abs. 1, Abs. 3 GVG. Somit wirkt sich das Unterlassen dieser Mitwirkungshandlung nicht nachteilig im Ausgangsverfahren, sondern erst im Entschädigungsverfahren aus. bb. Anforderungen an die Erhebung einer Verzögerungsrüge (1) Allgemeines Als Prozesshandlung beurteilt sich die wirksame Erhebung der Verzögerungsrüge nach prozessrechtlichen Grundsätzen. Unter anderem muss bei Erhebung der Verzögerungsrüge Prozess- und Postulationsfähigkeit vorliegen424, sodass im Anwaltsprozess die Erhebung der Verzögerungsrüge durch einen Rechtsanwalt erforderlich ist425. Die Erhebung der Verzögerungsrüge ist 419
Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 106. BT-Drs. 17/3802, S. 43; Meyer-Holz, in: Keidel, FamFG, Anh. zu § 58 FamFG, Rn. 67: „Verfahrenshandlung“; Schenke, NVwZ 2012, 257 (260); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 176; Söhngen, NZS 2012, 493 (496); Wenner, SozSich 2012, 32 (34); Rathmann, in: Saenger, ZPO, § 198 GVG, Rn. 17; Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 32; offen gelassen Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (3); a.A. Scholz, SGb 2012, 19 (24); Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 16. 421 Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 11; Scholz, SGb 2012, 19 (24); Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 104; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 176; Guckelberger, DÖV 2012, 289 (292); Zimmermann ordnet die Verzögerungsrüge als formelle Voraussetzung des Entschädigungsanspruches ein, Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1908). 422 BT-Drs. 17/3802, S. 20; Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1908); Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (858); Heine, MDR 2012, 327 (330). 423 BT-Drs. 17/3802, S. 20, 43; Scholz, SGb 2012, 19 (24); Magnus, ZZP 125 (2012), 75 (88); Söhngen, NZS 2012, 493 (496); Meyer-Holz, in: Keidel, FamFG, Anh. zu § 58 FamFG, Rn. 67; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 171. 424 Vgl. BT-Drs. 17/3802, S. 20. 425 BT-Drs. 17/3802, S. 20; Heine, MDR 2012, 327 (330 f.); OLG Hamm, Beschl. v. 26.09.2012 – 11 Sch H 6/12, I-11 Sch H 6/12, Rn. 10, juris. 420
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bedingungsfeindlich426 und wirkt nur für denjenigen Verfahrensbeteiligten anspruchsbegründend, der sie erhebt.427 Ob ein Widerruf der Verzögerungsrüge zulässig ist, wird unterschiedlich beurteilt. Teilweise heißt es, dass ein Widerruf zwar nicht möglich sei, eine Rücknahme der Verzögerungsrüge aber aus „besserer Einsicht“ erfolgen könne.428 Demgegenüber halten einige im Schrifttum einen Widerruf für möglich, wenn dadurch keine Interessen anderer Beteiligter beeinträchtigt werden.429 Um nicht den Schutzzweck des § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 2 GVG auszuhebeln, darf ein Widerruf in jedem Falle nicht zur Umgehung der Karenzfrist führen.430 Insofern spielt die Problematik, ob ein Widerruf der Verzögerungsrüge zulässig ist oder nicht, nur eine untergeordnete Rolle im Ausgangsprozess. Wenn überhaupt stellt sich die Frage, ob auch eine widerrufene Verzögerungsrüge anspruchsbegründend wirkt. Geht man davon aus, dass die Verzögerungsrüge die Dauer des Gerichtsverfahrens zu demjenigen Zeitpunkt beurteilt, zu dem diese erhoben wird, bringt der Verfahrensbeteiligte mit dem Widerruf einer Verzögerungsrüge letztlich zum Ausdruck, dass nunmehr kein Anlass zur Besorgnis darüber besteht, dass das Verfahren in unangemessener Zeit abgeschlossen wird. Damit verliert die zuvor erhobene Verzögerungsrüge, welche die Verfahrensdauer zu einem früheren Zeitpunkt beurteilt hat, aber nicht ihre Berechtigung, sodass richtigerweise ein Widerruf der Verzögerungsrüge keinen Einfluss auf die Entstehung des Entschädigungsanspruches hat. Treten danach jedoch neue Umstände ein, die wiederum die Verzögerung des Verfahrens befürchten lassen, ist der Verfahrensbeteiligte aufgrund seines Widerrufes gehalten, eine Verzögerungsrüge vor demselben Gericht nochmals zu erheben. Es kann also offenbleiben, ob ein Widerruf der Verzögerungsrüge zulässig ist oder nicht.
426
Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 32; Schenke, NVwZ 2012, 257
(260). 427 Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1908); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 179. 428 Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 32; Germelmann, JbArbR 49 (2012), 41 (49). Unklar ist, worin der Unterschied zwischen dem Widerruf und der Rücknahme zu erblicken ist. Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 59 hält den Widerruf für unzulässig. 429 Schenke, NVwZ 2012, 257 (260); Ohrloff, Rechtsschutz, S. 73. Da eine Verzögerungsrüge nur Wirkung für denjenigen entfaltet, der sie erhebt, ist fraglich, inwiefern der Widerruf der Verzögerungsrüge Interessen anderer Beteiligter beeinträchtigen könnte. 430 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 176.
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(2) Bezeichnung und Inhalt Die Verzögerungsrüge muss bei deren Erhebung nicht als solche bezeichnet werden.431 Vielmehr ist durch Auslegung zu ermitteln, ob eine Verzögerungsrüge vorliegt oder nicht.432 In der Rechtsprechung wurde u.a. eine „Untätigkeitsrüge“433 sowie eine Nachfrage bezüglich des Bearbeitungsstandes434 als Verzögerungsrüge ausgelegt. Es muss sich also der Frage zugewandt werden, durch welchen Inhalt eine Verzögerungsrüge gekennzeichnet ist. (a) Gegenstand der Rüge Nach dem Wortlaut des § 198 Abs. 3 S. 1 GVG muss mit der Verzögerungsrüge die Dauer des Verfahrens gerügt werden („wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat“). Der Betroffene muss also zum Ausdruck bringen, „dass er mit der Verfahrensdauer nicht einverstanden ist.“435 Aus dem Gesetzeswortlaut in § 198 Abs. 3 S. 1 GVG geht nicht klar hervor, wie die „Dauer des Verfahrens“ auszulegen ist. Da vor einem anderen Gericht eine weitere Verzögerungsrüge erhoben werden muss (§ 198 Abs. 3 S. 5 GVG), könnte damit der Zeitabschnitt vor dem jeweils mit der Sache befassten Gericht gemeint sein. In systematischer Auslegung zu § 198 Abs. 1, Abs. 6 GVG, wonach Bezugspunkt der Angemessenheit der Verfahrensdauer das Gesamtverfahren ist, kann Gegenstand der Verzögerungsrüge aber nicht die (zu befürchtende) überlange Dauer einzelner Verfahrensabschnitte sein, sondern vielmehr die gesamte Verfahrenszeit, also der Zeitraum von der Einleitung des Verfahrens bis hin zum aktuellen Verfahrensabschnitt. Der Regelungsgehalt von § 198 Abs. 3 S. 5 GVG erschöpft sich also darin, die präventive Funktion der Verzögerungsrüge zu sichern. Kein Bestandteil einer wirksamen Verzögerungsrüge ist die Ankündigung, bei Vorliegen einer unangemessenen Verfahrensdauer einen Entschädigungsanspruch geltend zu machen.436 Darüber hinaus muss der Verfahrensbeteiligte 431 Siehe Guckelberger, DÖV 2012, 289 (292); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 209; Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 58; BVerfG, Beschl. v. 17.12.2015 – 1 BvR 3164/13, Rn. 31, juris. 432 Schenke, NVwZ 2012, 257 (260); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 209: Heranzuziehen ist § 133 BGB; so auch Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 119. 433 Vgl. OLG Frankfurt, Urt. v. 05.06.2013 – 4 EntV 10/12, Rn. 54, juris: Untätigkeitsrüge in analoger Anwendung des § 152a VwGO i.V.m. § 120 Abs. 1 StVollzG als Verzögerungsrüge. 434 BVerfG, Beschl. v. 16.10.2014 – 2 BvR 437/12, Rn. 14, juris. 435 BT-Drs. 17/3802, S. 21. 436 Guckelberger, DÖV 2012, 289 (293); Wenner, SozSich 2014, 118 (120); a.A. Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 37.
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nicht die Beschleunigung des Verfahrens anmahnen. Zwar hat der Verfahrensbeteiligte nach § 198 Abs. 3 S. 3 GVG auf Umstände hinzuweisen, die für die Frage der Verfahrensförderung maßgeblich sind. Auch die Gesetzesbegründung spricht in diesem Zusammenhang von „dem Verlangen nach Beschleunigung“437. Dennoch lässt sich dem Gesetzestext nicht entnehmen, dass die Bitte um Verfahrensbeschleunigung elementarer Bestandteil der Verzögerungsrüge ist. Vielmehr bringen der Begriff „Verzögerungsrüge“ und der Wortlaut des Gesetzes deutlich zum Ausdruck, dass nur die bisherige Dauer des Verfahrens missbilligt werden muss. (b) Abgrenzung zur Bitte um Verfahrensbeschleunigung und zur Dienstaufsichtsbeschwerde Fraglich ist, ob die bloße Bitte um Beschleunigung des Verfahrens als Verzögerungsrüge ausgelegt werden kann. Um unbillige Ergebnisse zu vermeiden, wird diese Frage von einem Teil des Schrifttums bejaht.438 Zutreffend ist zwar, dass die Verzögerungsrüge ein Verfahrensinstrument ist, welches beschleunigende Wirkung auf das Ausgangsverfahren entfalten soll. Nach dem Wortlaut des Gesetzestextes ist jedoch die Rüge der Verfahrensdauer maßgeblicher Inhalt der Verzögerungsrüge. Demnach beinhaltet diese auch ein zeitliches Element, welches sich auf die bisherige, vergangene Verfahrensdauer bezieht, wohingegen die Bitte auf Verfahrensbeschleunigung allein auf die Zukunft bezogen ist. Der Bezug zur bisherigen Verfahrensdauer soll aber gerade zum Ausdruck bringen, dass der Verfahrensbeteiligte mit der Verfahrensdauer nicht einverstanden ist und das (drohende) staatliche Fehlverhalten nicht duldet. Die Rüge der Verfahrensdauer ist damit dem Verbot des „Duldens und Liquidierens“ geschuldet. Einen solchen Erklärungswert hat die bloße Bitte um Verfahrensbeschleunigung jedoch nicht, sodass es im Ergebnis nicht überzeugen kann, diese als Verzögerungsrüge auszulegen.439
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BT-Drs. 17/3802, S. 21. So Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 209 für den Fall, dass das Vorbringen von nicht anwaltlich vertretenen Personen vorgebracht wird; ebenso Stahnecker, Entschädigung, Rn. 117; Wenner, SozSich 2014, 118 (120); Guckelberger, DÖV 2012, 289 (293) mit dem Hinweis, dass nach der Gesetzesbegründung das Vorbild der Verzögerungsrüge der Widerspruch ist und auch an diesen keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden. Allerdings kann der Gesetzesbegründung lediglich entnommen werden, dass sich an dem Widerspruch nur hinsichtlich der Substantiierungsanforderungen der Verzögerungsrüge orientiert wurde, BT-Drs. 17/3802, S. 21. 439 Im Ergebnis auch Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (3); Schenke, NVwZ 2012, 257 (260); Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 115; Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 20; Rathmann, in: Saenger, ZPO, § 198 GVG, Rn. 17; Ohrloff, Rechtsschutz, S. 71; LSG Neustrelitz, Urt. v. 28.11.2013 – L 11 SF 25/12 EK U, Rn. 38, juris; unklar Graf, in: BeckOK-StPO, § 198 GVG, Rn. 16, 19. 438
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Des Weiteren kann eine Dienstaufsichtsbeschwerde weder als Verzögerungsrüge ausgelegt noch in eine solche umgedeutet werden.440 Sie bezweckt in erster Linie die Herbeiführung einer dienstrechtlichen Maßnahme und ist nicht an das Ausgangsgericht, sondern an den Gerichtspräsidenten adressiert. Die Entscheidung, ob das Vorbringen des Verfahrensbeteiligten als Verzögerungsrüge auszulegen ist, obliegt nicht dem Ausgangsgericht, sondern dem Entschädigungsgericht.441 (c) Hinweisobliegenheit nach § 198 Abs. 3 S. 3 GVG Neben der Rüge der Verfahrensdauer muss die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 S. 3 GVG auf solche Umstände hinweisen, welche für die Verfahrensförderung maßgeblich sind.442 Dadurch soll der präventiven Funktion der Verzögerungsrüge Rechnung getragen werden443: Nur wenn das Ausgangsgericht über alle Umstände informiert ist, die für die Beurteilung der gebotenen Zügigkeit Relevanz besitzen444, kann das Gericht die Angemessenheit der Verfahrensdauer beurteilen und gegebenenfalls geeignete Maßnahmen für die Verfahrensbeschleunigung treffen445. Die Glaubhaftmachung der relevanten Umstände ist nicht erforderlich, da die Wirksamkeit der Erhebung der Verzögerungsrüge erst im Entschädigungsverfahren geprüft wird.446 Richtigerweise besteht die Hinweisobliegenheit nach § 198 Abs. 3 S. 3 GVG nur bezüglich solcher Umstände, die in der Sphäre des Verfahrensbeteiligten wurzeln und sich daher der Kenntnis des Gerichtes entziehen. Ergibt sich bspw. bereits aus dem Gegenstand und der Art des Verfahrens (Bsp. Sorge- und Umgangsrechtsverfahren), dass der Rechtsstreit besonderer Beschleunigung bedarf, muss der Verfahrensbeteiligte hierauf nicht gesondert hinweisen. Ein derartiges Normverständnis legt auch die Gesetzesbegründung nahe, die als Beispiele hinweispflichtiger Umstände einen bevorstehenden Wohnungsverlust oder die drohende Insolvenz des Verfahrensbeteiligten nennt.447
440
Für den umgekehrten Fall siehe Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 178; Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 54; OLG Köln, Urt. v. 31.10.2013 – 7 SchH 7/12, Rn. 53, juris. 441 Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 37. 442 Eine Vielzahl von Beispielen findet sich bei Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 117. 443 BT-Drs. 17/3802, S. 21. 444 Siehe zur diesbezüglichen einschränkenden Auslegung des Wortlautes Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 210 mit Verweis auf BTDrs. 17/3802, S. 21. 445 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 210. 446 BT-Drs. 17/3802, S. 21. 447 BT-Drs. 17/3802, S. 21. Zur Kritik an diesem subjektivierten Verständnis der Verfahrensbedeutung siehe S. 161 ff.
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Die Hinweisobliegenheit erstreckt sich auch nicht auf solche Umstände, die zum Zeitpunkt der Erhebung der Verzögerungsrüge bereits in das Verfahren eingeführt worden sind.448 Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist es aber nicht ausreichend, dass diese gerichtskundig i.S.d. § 291 ZPO sind.449 Dem Wortlaut der Norm kann nicht entnommen werden, dass auf beschleunigungsrelevante Umstände erst mit der Verzögerungsrüge hingewiesen werden darf450, sodass diese auch frühzeitig gegenüber dem Ausgangsgericht kundgetan werden dürfen451. Treten Umstände, die für die Verfahrensförderung maßgeblich sind, erst nach Erhebung der Verzögerungsrüge ein, ist es sinnvoll, eine weitere Verzögerungsrüge zu erheben. Diese muss den Anforderungen des § 198 Abs. 3 S. 3 GVG genügen. Da eine Pflicht zur nochmaligen Erhebung der Verzögerungsrüge in derselben Instanz dem Gesetz aber nicht entnommen werden kann (siehe sogleich S. 105 f.), ist auch eine bloße Mitteilung über die neu eingetretenen beschleunigungsrelevanten Umstände ausreichend. (d) Ergebnis Die Verzögerungsrüge muss zwar als solche nicht bezeichnet werden, mit ihr muss aber die Missbilligung der bisherigen Verfahrensdauer zum Ausdruck gebracht werden. Daneben hat der Verfahrensbeteiligte die sich aus § 198 Abs. 3 S. 3 GVG ergebende Hinweisobliegenheit bezüglich beschleunigungsrelevanter Umstände zu beachten. (3) Form der Erhebung In welcher Form die Erhebung der Verzögerungsrüge zu erfolgen hat, beantwortet der Gesetzestext nicht.452 Grundsätzlich kann eine Prozesshandlung in der mündlichen Verhandlung durch mündliche Erklärung vorgenommen werden. Außerhalb dieser ist die Vornahme der Prozesshandlung durch das Einreichen eines Schriftsatzes oder durch Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle möglich.453 Abweichend hiervon wird wenig überzeugend vertreten, dass die
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Siehe auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 210. 449 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 210. Gerichtskundigkeit für ausreichend haltend Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 38. 450 So aber Böcker, DStR 2011, 2173 (2176); Ohrloff, Rechtsschutz, S. 96. 451 Zutreffend Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 210. 452 Wenig aufschlussreich heißt es in der Gesetzesbegründung, dass die Erhebung in mündlicher und schriftlicher Form erfolgen kann, BT-Drs. 17/3802, S. 22. 453 Allgemein hierzu vgl. nur Greger, in: Zöller-ZPO, Vorbem. § 128 ZPO, Rn. 17; Rau-
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Verzögerungsrüge aus Beweisgründen in jedem Falle der Schriftform bedarf.454 Dass aber keine allzu hohen Anforderungen an die Form der Erhebung zu stellen sind, legt auch ein Umkehrschluss zu § 97b Abs. 1 S. 3 BVerfGG nahe, der für die Verzögerungsrüge bei Verfahren vor dem BVerfG ausdrücklich die Schriftform vorschreibt.455 Da es sich bei der Verzögerungsrüge nicht um einen Rechtsbehelf, sondern um eine Obliegenheit des Verfahrensbeteiligten handelt, sind keine hohen Anforderungen an die Substantiierung der Verzögerungsrüge zu stellen.456 Eine Begründung, warum der Verfahrensbeteiligte die Unangemessenheit der Verfahrensdauer befürchtet bzw. diese vorliegt, ist daher nicht erforderlich.457 (4) Zeitpunkt der Erhebung § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 1 GVG bestimmt den frühesten Zeitpunkt, zu dem die Verzögerungsrüge wirksam erhoben werden kann458: Demnach muss Anlass zur Besorgnis bestehen, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird. Diese Bestimmung dient in zweierlei Hinsicht der präventiven Funktion der Verzögerungsrüge. Einerseits soll dadurch sichergestellt werden, dass die Verzögerungsrüge nicht bereits zu Beginn des Gerichtsverfahrens rein vorsorglich erhoben wird und damit lediglich eine Formalie des Entschädigungsanspruches darstellt.459 Andererseits ist die Besorgnis einer Verzögerung ausreichend für die Erhebung der Verzögerungsrüge, da ansonsten die Verzögerungsrüge ihre präventive Wirkung verfehlen würde, wenn für ihre Erhebung bereits eine unangemessene Verfahrensdauer vorliegen müsste.460 scher, in: MüKo-ZPO, Einleitung, Rn. 402. Eine mündliche Erklärung gegenüber dem zuständigen Richter am Telefon kommt somit von vornherein nicht in Betracht, Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 111; Germelmann, JbArbR 49 (2012), 41 (48). 454 Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1908); nach Breitkreuz ist wohl ebenfalls eine mündliche Erhebung in der Verhandlung nicht möglich, Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 37. 455 So auch Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 111. 456 BT-Drs. 17/3802, S. 21: Vorbild der Regelung sind die Substantiierungsanforderungen des Widerspruchs; vgl. auch Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (3); Guckelberger, DÖV 2012, 289 (293); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 208. 457 BT-Drs. 17/3802, S. 21; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 208; Guckelberger, DÖV 2012, 289 (293): ergibt sich auch aus § 97b Abs. 1 S. 3 BVerfGG e contrario; anders Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 38, die eine „schlüssige Begründung“ fordern. 458 So auch deutlich die BT-Drs. 17/3802, S. 20. 459 BT-Drs. 17/3802, S. 20. Formularmäßig erhobene Verzögerungsrügen scheiden daher aus, Deeg, ArbRAktuell 2012, 415 (415). 460 BT-Drs. 17/3802, S. 20.
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Genauso wie in § 198 Abs. 3 S. 1 GVG ist in Satz 2, Halbs. 1 der gesamte Zeitabschnitt von der erstinstanzlichen Einleitung bis hin zum aktuellen Verfahrensabschnitt Bezugspunkt für die Frage, ob Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird. Wann aber hierzu Anlass zur Besorgnis besteht, sagt der Gesetzestext nicht. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang die Umstände des Einzelfalles. Die Gesetzesbegründung spricht diesbezüglich von der konkreten Möglichkeit der Verzögerung des Verfahrens.461 Anknüpfend an die Rechtsprechungspraxis zur Besorgnis der Befangenheit eines Richters (§ 42 Abs. 1 a.E. ZPO) kann ein rein subjektives Empfinden des Verfahrensbeteiligten nicht maßgebend sein.462 Vielmehr müssen objektive Gründe vorliegen, die bei vernünftiger Betrachtungsweise geeignet sind, zu einer unangemessenen Verfahrensdauer zu führen.463 Hierunter fallen bspw. der Richterwechsel in einer komplexen Sache464, Überlastungsanzeigen des Gerichtes465 oder die Nichtförderung des Verfahrens durch das Gericht466. § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 1 GVG normiert den Zeitpunkt, ab dem die Verzögerungsrüge frühestens erhoben werden kann. Ein Zeitpunkt, bis zu dem die Verzögerungsrüge spätestens erhoben werden muss, wurde nicht ausdrücklich im Gesetz normiert. Da aber nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG die Rüge bei dem mit der Sache befassten Gericht zu erheben ist und nach § 198 Abs. 3 S. 5 GVG die Verzögerungsrüge erneut erhoben werden muss, wenn sich das Verfahren vor einem anderen Gericht weiter verzögert, ergibt sich daraus im Umkehrschluss, dass mit der Erhebung der Verzögerungsrüge nicht bis zum Abschluss des Gesamtverfahrens gewartet werden kann. Vielmehr kann die Verzögerungsrüge, um anspruchsbegründend zu wirken, nur solange erhoben werden, wie das Verfahren vor demjenigen Gericht anhängig ist, in dem der Eintritt der
461 BT-Drs. 17/3802, S. 20. Dezidiert zu den Begriffen „Anlass“ und „Besorgnis“ Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 34 f. 462 Guckelberger, DÖV 2012, 289 (293); Söhngen, NZS 2012, 493 (496 f.); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 188; vom Stein/Brand, NZA 2014, 113 (116); im Ergebnis auch Scholz, SGb 2012, 19 (24); vgl. zur Besorgnis der Befangenheit, Gehrlein, in: MüKo-ZPO, § 42 ZPO, Rn. 4 ff. 463 Guckelberger, DÖV 2012, 289 (293); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 188; Scholz, SGb 2012, 19 (24); Söhngen, NZS 2012, 493 (496 f.); Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1908). In Anlehnung an die Rechtsprechung zur Untätigkeitsbeschwerde ist die Erhebung einer Verzögerungsrüge jedenfalls dann berechtigt, wenn die Untätigkeit faktisch einer Sachentscheidung oder einer Rechtsverweigerung gleichkommt, Kretz, in: Jürgens, Betreuungsrecht, § 58 FamFG, Rn. 20. 464 Söhngen, NZS 2012, 493 (497). 465 Söhngen, NZS 2012, 493 (497). 466 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 190.
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unangemessenen Verfahrensdauer droht (siehe dazu auch S. 111 f.).467 Eine Erhebung der Verzögerungsrüge zwischen diesem Zeitpunkt und dem in § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 1 GVG normierten ist aber, anders als noch im Referentenentwurf468, grundsätzlich unschädlich für die Entstehung des Entschädigungsanspruches.469 (5) Adressat Adressat der Verzögerungsrüge ist das Ausgangsgericht, bei dem das verzögerte Verfahren anhängig ist, vgl. § 198 Abs. 3 S. 1 GVG („mit der Sache befassten Gericht“). Bei Zwischenverfahren, die kein Gerichtsverfahren i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG sind, ist der Adressat der Verzögerungsrüge nicht in jedem Fall das Gericht der Hauptsache.470 Eine Verzögerungsrüge, die gegenüber dem Gerichtspräsidenten erhoben wird, entfaltet keine Wirksamkeit.471 Der Rügeschriftsatz ist dem Prozessgegner formlos mitzuteilen.472 cc. Mehrmalige Erhebung der Verzögerungsrüge Sowohl § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 2 GVG als auch § 198 Abs. 3 S. 5 GVG beschäftigen sich mit der nochmaligen Erhebung der Verzögerungsrüge. Dabei erfassen die beiden Vorschriften unterschiedliche Konstellationen: Während im ersten Fall der Adressat der Verzögerungsrüge dasselbe Gericht ist, gegenüber dem bereits zuvor eine Verzögerungsrüge erhoben worden ist, behandelt der zweite Fall die nochmalige Erhebung einer Verzögerungsrüge vor einem anderen Gericht. (1) Nochmalige Erhebung der Verzögerungsrüge vor demselben Gericht Nach § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 2 GVG ist eine Wiederholung einer Verzögerungsrüge vor demselben Gericht nach einer sechsmonatigen Sperrfrist möglich. Die einmalige wirksame Erhebung der Verzögerungsrüge innerhalb einer
467 Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 20. Im Ergebnis auch: Schenke, NVwZ 2012, 257 (261); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 191. 468 Nach dem Referentenentwurf sollte nur eine zum Rügezeitpunkt erhobene Verzögerungsrüge den Entschädigungsanspruch im vollständigen Umfang wahren, vgl. ÜGRG-RefE vom 15.03.2010, S. 18. 469 Vgl. auch BT-Drs. 17/3802, S. 21. A.A. Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 49: entschädigungspflichtige Verzögerungszeit frühestens mit Eingang der Verzögerungsrüge. 470 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 215. 471 Anders wohl Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 215: es empfiehlt sich, die Verzögerungsrüge nicht beim Gerichtspräsidenten einzureichen. 472 Zimmermann, FPR 2012, 556 (558).
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Instanz ist nach dem Wortlaut des § 198 Abs. 3 S. 1, S. 5 GVG für die Entstehung des Entschädigungsanspruches jedoch ausreichend.473 Damit wird der Warnfunktion der Verzögerungsrüge in der Regel hinreichend Rechnung getragen474. Insoweit kommt dem § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 2 GVG insbesondere Klarstellungsfunktion zu, dass die nochmalige Erhebung der Verzögerungsrüge vor ein und demselben Gericht möglich ist. Die Erhebung einer weiteren Verzögerungsrüge bietet sich an, wenn die Wirksamkeit der zuvor erhobenen Verzögerungsrüge unsicher ist oder Umstände vorliegen, welche die nochmalige Erhebung der Verzögerungsrüge als zweckmäßig erscheinen lassen, wie bspw. bei einem Richterwechsel475. Offen lässt der Gesetzestext, ab wann die sechsmonatige Sperrfrist zu laufen beginnt.476 Aus dem Regelungszweck und der Gesetzessystematik ergibt sich, dass auf den Zeitpunkt der Erhebung und nicht einer etwaigen Reaktion des Gerichtes abzustellen ist. Die sechsmonatige Sperrfrist soll das Ausgangsgericht vor der permanenten Erhebung von Verzögerungsrügen schützen, mit denen wiederholt die Verfahrensdauer gerügt wird (sog. Kettenrügen).477 Effektiv kann dieses Ziel nur erreicht werden, wenn einerseits die Erhebung einer unwirksamen Verzögerungsrüge die Sperrfrist des § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 2 GVG auslöst478 und andererseits diese erneut zu laufen beginnt, sobald die Erhebung der Verzögerungsrüge wiederholt wird479. Aus diesem Grund gilt die Sperrfrist selbst dann, wenn ein anwaltlich nicht vertretener Verfahrensbeteiligter zunächst eine unwirksame Verzögerungsrüge erhoben hat.480 Hierfür spricht auch, dass das Ausgangsgericht gar nicht überprüft, ob die Erhebung der Verzögerungsrüge wirksam erfolgt ist. Ausnahmsweise kann eine Verzögerungsrüge aber auch vor Ablauf der Sechs-Monatsfrist nochmals erhoben werden, § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 2 a.E. GVG. Nach der Gesetzesbegründung soll eine Verkürzung der Frist in Betracht kommen, „um unbillige Ergebnisse zu vermeiden“481. Um den Anwendungsbereich der Ausnahmeregelung aber nicht zu sehr auszuweiten und 473
Vgl. auch BT-Drs. 17/3802, S. 21. BT-Drs. 17/3802, S. 21. 475 Siehe BT-Drs. 17/3802, S. 21. 476 Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 39; ebenso Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 66. 477 BT-Drs. 17/3802, S. 21. 478 Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (3); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 201; Scholz, SGb 2012, 19 (24); a.A. Mack/Wollweber, Stgb 2012, 7 (8). 479 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 201. 480 A.A. Guckelberger, DÖV 2012, 289 (294); Stahnecker, Entschädigung, Rn. 128, wobei er einschränkend verlangt, dass der Zeitpunkt der Erhebung der vorherigen Verzögerungsrüge zumindest verständlich erscheint. 481 BT-Drs. 17/3802, S. 21. 474
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die Gerichte hinreichend vor Kettenrügen zu schützen, kann die Unwirksamkeit der Verzögerungsrüge grundsätzlich nicht zur Folge haben, dass der Ablauf der Sperrfrist nicht abgewartet werden muss. Etwas anderes muss aber gelten, wenn zu befürchten ist, dass vor Ablauf der sechsmonatigen Sperrfrist das Verfahren beendet wird und der Verfahrensbeteiligte sonst nicht die Möglichkeit hätte, eine wirksame Verzögerungsrüge zu erheben. Daneben ist die Anwendung der Ausnahmeregelung sachgerecht, wenn die wiederholte Erhebung der Verzögerungsrüge vor Ablauf der Sperrfrist im besonderen Maße der Warnfunktion der Verzögerungsrüge dient. Zu nennen ist hier bspw. die nochmalige Erhebung einer Verzögerungsrüge nach einem Richterwechsel, um den mit der Sache neu betrauten Richter auf die Verzögerung des Verfahrens aufmerksam zu machen.482 Dasselbe muss gelten, wenn neue Umstände eintreten, die für die Verfahrensförderung maßgeblich sind und auf die der Verfahrensbeteiligte aufmerksam machen möchte.483 (2) Erneute Erhebung der Verzögerungsrüge vor einem anderen Gericht Nach § 198 Abs. 3 S. 5 GVG ist erneut eine Verzögerungsrüge zu erheben, wenn sich das Verfahren bei einem anderen Gericht weiter verzögert. Als anderes Gericht ist ein solches anzusehen, welches zum Zeitpunkt der Erhebung der letzten Verzögerungsrüge noch nicht mit der Sache betraut war, wie bspw. das Rechtsmittelgericht oder ein anderer Spruchkörper des Ausgangsgerichts nach Zurückweisung des Rechtsstreites.484 Unklar ist, ab wann eine erneute Verzögerungsrüge vor einem anderen Gericht zu erheben ist. Nach dem Wortlaut des § 198 Abs. 3 S. 5 GVG ist es erforderlich, dass das Verfahren sich „weiter verzögert“. Die Gesetzesbegründung spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die nochmalige Erhebung erforderlich sei, wenn es vor dem anderen Gericht „nochmals zu einer weiteren unangemessenen Verzögerung kommt“485. Gesetzestext und Gesetzesbegründung sind an dieser Stelle ungenau. Die Tatsache, dass eine Verzögerungsrüge in einem früheren Verfahrensstadium vor einem anderen Gericht erhoben worden ist, muss nicht zur Folge haben, dass tatsächlich eine (unangemessene) Verzögerung eingetreten ist. Ebenso kann es nicht überzeugen, dass der Verfahrensbeteiligte den Eintritt einer unangemessenen Verfahrensdauer (Verzögerung) abwarten muss, bevor er eine 482 Nach Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 41 kann die Ausnahmeregelung auch bei eilbedürftigen Rechtsangelegenheiten Anwendung finden. 483 Ebenso Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 24. 484 BT-Drs. 17/3802, S. 21. Strittig ist, ob im Falle von §§ 361, 362 ZPO ein „anderes Gericht“ handelt. Dagegen Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 205; Stahnecker, Entschädigung, Rn. 125. Dafür: Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 42. 485 BT-Drs. 17/3802, S. 21.
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Verzögerungsrüge vor dem anderen Gericht erheben darf. Ein solches Gesetzesverständnis würde in einem klaren Widerspruch zur eigentlichen Intention der Verzögerungsrüge stehen. Letztendlich ist § 198 Abs. 3 S. 5 GVG aus systematischen und teleologischen Gründen unter Berücksichtigung von § 198 Abs. 3 S. 2 GVG auszulegen, sodass eine erneute Verzögerungsrüge vor einem anderen Gericht zu erheben ist, wenn neue Umstände vorliegen, die Anlass zur Besorgnis geben, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird bzw. sich die Zeitspanne der bereits eingetretenen unangemessenen Verfahrensdauer weiter verlängert486. dd. Die Reaktion des Ausgangsgerichts Es steht im Ermessen des Ausgangsgerichtes, ob und gegebenenfalls mit welchen (beschleunigenden) Maßnahmen es auf die Verzögerungsrüge reagiert. Da die Verzögerungsrüge nicht als Rechtsbehelf ausgestaltet ist, besteht keine Pflicht, diese förmlich zu bescheiden.487 Eine Bescheidungs- oder Mitteilungspflicht kann dem Gesetzestext nicht entnommen werden488, sodass das Gericht auf die Verzögerungsrüge selbst dann nicht reagieren muss, wenn die Gefahr einer konkreten Verzögerung des Verfahrens besteht. Dadurch soll verhindert werden, dass das Ausgangsgericht (noch weiter) belastet wird und (weitere) Verfahrensverzögerungen eintreten.489 Die Frage der Begründetheit einer Verzögerungsrüge stellt sich im Ausgangsprozess demnach nicht. Das Ausgangsgericht kann der Verzögerungsrüge – egal ob wirksam oder unwirksam – aber abhelfen, indem es verfahrensbeschleunigende Maßnahmen einleitet.490 Vereinzelt haben Ausgangsgerichte die Verzögerungsrüge in Form eines Beschlusses als unwirksam zurückgewiesen.491 Da es gem. § 201 Abs. 1 GVG aber Aufgabe der Entschädigungs- und nicht der Ausgangsgerichte ist, über das Vorliegen eines Entschädigungsanspruches und in dessen Rahmen über die Wirksamkeit der Verzögerungsrüge zu entscheiden, geht ein solcher Beschluss des Ausgangsgerichtes ins Leere und ist nicht bindend.492 Er kann zwar als (bloße) Nichtabhilfeentscheidung ausgelegt werden, eine sofortige Beschwerde gegen diesen ist aber unstatthaft, da kein Rechtsmittel bzw. keine 486
So auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn.
206. 487 Söhngen, NZS 2012, 493 (496); Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 45; Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 62. Sehr kritisch Sommer, StV 2012, 107 (109). 488 BT-Drs. 17/3802, S. 20; siehe auch Söhngen, NZS 2012, 493 (496); Ott, in: SteinbeißWinkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 175. 489 BT-Drs. 17/3802, S. 16. 490 BT-Drs. 17/3802, S. 16, 20. 491 Vgl. SG Chemnitz, Beschl. v. 17.07.2012 – S12 AS 5755/11 [unveröffentlicht]; LG Rostock, Beschl. v. 24.04.2012 – 12 StVK 1626/11 -1 [unveröffentlicht]. 492 LSG Chemnitz, Beschl. v. 08.10.2012 – L 7 AS 822/12 B, Rn. 20 f., juris.
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Beschwerdemöglichkeit eröffnet ist.493 Insofern ist ein Beschluss des Ausgangsgerichts über die Wirksamkeit der Verzögerungsrüge weder sinnvoll noch wirkungsvoll, sodass auch im Interesse der Verfahrensbeteiligten eine Bescheidung der Verzögerungsrüge nicht erfolgen sollte.494 Anders als im Schrifttum mit Verweis auf den Grundsatz des fairen Verfahrens vorgeschlagen wird495, sollte aus dem gleichen Grund auch ein Hinweis des Richters, er halte die Verzögerungsrüge für unbegründet, nicht erfolgen. Eine Reaktion des Gerichtes auf die Verzögerungsrüge mag jedoch für ein gutes Verhandlungsklima zweckmäßig sein.496 ee. Folgen einer fehlenden und fehlerhaft erhobenen Verzögerungsrüge Der Verfahrensbeteiligte kann bei Vorliegen einer unangemessenen Verfahrensdauer Zahlung einer angemessenen Entschädigung nur dann verlangen, wenn er im Ausgangsverfahren in allen erforderlichen Verfahrensstadien eine wirksame Verzögerungsrüge erhoben hat. Kommt er dieser Obliegenheit nicht nach, steht es im Ermessen des Entschädigungsgerichtes, im Urteil die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer auszusprechen, § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG. Vorliegen und Wirksamkeit der Verzögerungsrüge sind von Amts wegen im Entschädigungsprozess durch das Entschädigungsgericht zu prüfen.497 Als materielle Voraussetzung des Entschädigungsanspruches ist das Fehlen oder die fehlerhafte Erhebung einer Verzögerungsrüge im Rahmen der Begründetheit der Klage zu prüfen.498 (1) Unterlassen der Erhebung der Verzögerungsrüge (a) Verzögerungsrüge wurde im Ausgangsverfahren gar nicht erhoben Erhebt der Verfahrensbeteiligte im Ausgangsverfahren gem. § 198 Abs. 3 S. 1 GVG keine wirksame Verzögerungsrüge, hat er grundsätzlich keinen Anspruch auf eine angemessene Geldentschädigung. Von diesem Grundsatz normiert die Übergangsvorschrift zwei gesetzliche Ausnahmen in Art. 23 S. 4, S. 5 ÜGRG (siehe hierzu S. 232 ff.). Überdies ist die Erhebung der Verzögerungsrüge ausnahmsweise nicht erforderlich, wenn der Zeitraum zwischen der Einleitung des Verfahrens und dem Eintritt der unangemessenen Verfahrensdauer derart kurz ist, dass selbst die Erhebung der Verzögerungsrüge zum frühestmöglichen Zeitpunkt nicht 493 OLG Rostock, Beschl. v. 25.07.2012 – I WS 176/12, Rn. 13, juris. Vgl. BT-Drs. 17/3802, S. 16. 494 Vgl. auch Söhngen, NZS 2012, 493 (496); Zimmermann, FPR 2012, 556 (558). 495 Germelmann, JbArbR 49 (2012), 41 (52); vom Stein/Brand, NZA 2014, 113 (117). 496 So auch Söhngen, NZS 2012, 493 (497). 497 BT-Drs. 17/3802, S. 20. 498 BGH, Urt. v. 17.07.2014 – III ZR 228/13, Rn. 14, juris.
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den Eintritt von Nachteilen infolge der nicht rechtzeitigen gerichtlichen Entscheidung hätte verhindern können (Bsp. Eilrechtsschutzverfahren bei kurzfristigem Versammlungsverbot).499 In derartigen Fällen ist die Bestimmung des frühestmöglichen Rügezeitpunktes infolge der kurzen Zeitspanne einerseits kaum möglich.500 Andererseits bedarf es in Eilrechtsschutzverfahren kurz nach Antragstellung keiner Warnung in Gestalt einer Verzögerungsrüge gegenüber dem Gericht, da die Eilbedürftigkeit des Verfahrens mit Antragstellung offen zu Tage tritt. Wäre in diesen Fällen eine Verzögerungsrüge erforderlich, wäre diese bloße Förmelei des Entschädigungsanspruches501, von der keinerlei präventive Wirkung ausgehen könnte – ein mit Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht zu vereinbarender Zustand502. Infolgedessen ist in diesen Fällen der § 198 Abs. 3 S. 1 GVG teleologisch zu reduzieren und der Geldentschädigungsanspruch trotz unterbliebener Verzögerungsrüge entstanden.503 Dabei handelt es sich aber um seltene Ausnahmefälle. Die Problematik, dass die Klagefrist des § 198 Abs. 5 S. 1 GVG an die Erhebung einer Verzögerungsrüge anknüpft, wird im Zusammenhang mit der gerichtlichen Geltendmachung des Entschädigungsanspruches thematisiert (S. 257 ff.). Aus den vorstehenden Überlegungen lässt sich aber nicht ableiten, dass eine teleologische Reduktion des § 198 Abs. 3 S. 1 GVG bereits in den Fällen begründet ist, in denen lediglich zu befürchten ist, dass die Erhebung einer Verzögerungsrüge nicht den Eintritt von Nachteilen infolge einer unangemessenen Verfahrensdauer verhindern kann, bspw. bei Überlastungsanzeigen des Gerichtes, die eine Verfahrensbeschleunigung als unwahrscheinlich erscheinen lassen. Denn eine derart weitgehende Reduktion der Norm steht im Widerspruch zu dem gesetzgeberischen Willen, dass für die Geltendmachung eines Entschädigungsanspruches in Geld die Erhebung einer Verzögerungsrüge erforderlich ist. Umstritten ist, ob das Entschädigungsgericht nach § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer aussprechen kann, wenn die Erhebung einer (wirksamen) Verzögerungsrüge im gesamten Gerichtsverfahren unterlassen wurde. Hiergegen wird eingewandt, dass ein Feststellungsausspruch in diesem Fall nicht in Frage komme, da § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG grundsätzlich nur bei einer verfrühten oder verspäteten
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Schenke, NVwZ 2012, 257 (261); Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 18; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 180. 500 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 180. 501 Schenke, NVwZ 2012, 257 (261); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 180. 502 Schenke, NVwZ 2012, 257 (261). 503 Schenke, NVwZ 2012, 257 (265); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 180.
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Erhebung der Verzögerungsrüge gelte.504 Diese Ansicht kann sich auf den Wortlaut des § 198 Abs. 5 S. 1 GVG stützen, nach dem eine Klage zur Durchsetzung des Anspruchs nach § 198 Abs. 1 GVG frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden kann. Dem Wortlaut von § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG kann diese einschränkende Auslegung aber nicht entnommen werden. Dieser Paragraph normiert ausdrücklich, dass das Entschädigungsgericht die Unangemessenheit der Verfahrensdauer feststellen kann, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des § 198 Abs. 3 GVG nicht erfüllt sind. Dass hierunter auch derjenige Fall subsumiert werden kann, in dem eine Verzögerungsrüge gar nicht erhoben worden ist, stellt auch die diesbezügliche Gesetzesbegründung klar, in der es heißt, dass eine Feststellung getroffen werden kann, wenn eine Verzögerungsrüge gar nicht erhoben wurde.505 Dieses Ergebnis wird auch von teleologischen Erwägungen gestützt: Die Nichterhebung einer Verzögerungsrüge sagt nichts darüber aus, ob der Betroffene schutzwürdig ist oder nicht. So mag eine Verzögerungsrüge deswegen nicht vorliegen, weil der Betroffene im Gerichtsverfahren lediglich um die Beschleunigung des Verfahrens gebeten hat, die nicht als Verzögerungsrüge auszulegen ist. In diesen Fällen ist es nicht sachgerecht, dem Betroffenen von vornherein die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer zu versagen, sodass § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG anwendbar ist. Es steht demnach im Ermessen des Entschädigungsgerichtes, die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer auszusprechen. (b) Verzögerungsrüge wurde nicht in allen erforderlichen Verfahrensstadien erhoben Es sind zwei Szenarien vorstellbar, in denen der Verfahrensbeteiligte nicht in allen erforderlichen Verfahrensstadien eine Verzögerungsrüge erhoben hat: 1. Der Verfahrensbeteiligte hat es unterlassen, die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 S. 5 GVG erneut zu erheben oder 2. der Verfahrensbeteiligte erhebt die Verzögerungsrüge erstmalig gegenüber einem Gericht, obwohl in einem früheren Verfahrensstadium bei einem anderen Gericht ebenfalls eine Verzögerungsrüge hätte erhoben werden müssen. Für die erste Fallkonstellation folgt aus § 198 Abs. 3 S. 5 GVG, dass sich die Wirksamkeit der Verzögerungsrüge bei einem anderen Gericht nicht fortsetzt.506 Eine angemessene Entschädigung in Geld kann demnach nur für Verzögerungen in einem Verfahrensabschnitt verlangt werden, wenn in diesem eine Verzögerungsrüge erhoben worden ist;507 nur insoweit entsteht der Geldentschädigungsanspruch. Aus diesem 504
Heine, MDR 2013, 1081 (1082). BT-Drs. 17/3802, S. 22. 506 Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 42; unklar Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 66, 69. 507 Vgl. BT-Drs. 17/3802, S. 20. 505
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Grund entsteht der Entschädigungsanspruch bei der zweiten Fallgestaltung erst für den Verfahrensabschnitt, in dem eine Verzögerungsrüge erhoben worden ist. Gegen diesen Umkehrschluss könnte man einwenden, dass der Gesetzgeber nach der Gesetzesbegründung die Geduld der Verfahrensbeteiligten, mit der Erhebung der Verzögerungsrüge zu warten, gerade nicht bestrafen wollte.508 Für die Entstehung des Entschädigungsanspruches könnte es daher unschädlich sein, wenn sich die unangemessene Verfahrensdauer zwar in einer Instanz abgezeichnet hat, der Verfahrensbeteiligte eine Verzögerungsrüge aber erst in der nachfolgenden Instanz erhoben hat. Ein solches Gesetzesverständnis führt jedoch zu einem Wertungswiderspruch mit § 198 Abs. 3 S. 5 GVG. Insofern würde nämlich derjenige, der die Erhebung einer Verzögerungsrüge in einer Instanz gänzlich unterlassen hat und diese erst in der nachfolgenden Instanz vornimmt, besser stehen als derjenige, der in einer Instanz die Verzögerungsrüge erhoben hat, seiner erneuten Rügeobliegenheit nach § 198 Abs. 3 S. 5 GVG aber nicht nachgekommen ist. In der ersten Fallkonstellation würde der Entschädigungsanspruch für die gesamte Verfahrensdauer entstehen, in letzterer jedoch nur für denjenigen Verfahrensabschnitt, in dem eine Verzögerungsrüge erhoben wurde. Es würde also „belohnt“ werden, wer die Verzögerungsrüge möglichst spät erhebt. Der Hinweis in der Gesetzesbegründung, die Geduld der Verfahrensbeteiligten solle nicht bestraft werden, ist also vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die Entstehung des Geldentschädigungsanspruches im Referentenentwurf noch an den Zeitpunkt der Erhebung der Verzögerungsrüge gekoppelt war509 und im Regierungsentwurf von diesem Regelungskonzept Abstand genommen wurde. Aus diesen Gründen kann eine angemessene Entschädigung in Geld demnach nur für Verzögerungen in einem Verfahrensabschnitt verlangt werden, wenn in diesem eine Verzögerungsrüge erhoben worden ist. Ist eine Verzögerungsrüge in einem Verfahrensabschnitt demnach unterblieben, kann hinsichtlich dieses Verfahrensabschnittes nach § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG die unangemessene Verfahrensdauer im Urteil festgestellt werden. Dass der Betroffene nur für einen Teil der Verfahrensdauer entschädigungsberechtigt ist, ändert nichts daran, dass sich die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer nach der Gesamtdauer des Verfahrens richtet (siehe hierzu S. 141 ff.). (c) Verzögerungsrüge wurde vor demselben Gericht nicht nochmals erhoben Nach § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 2 GVG kann eine Verzögerungsrüge vor demselben Gericht nochmals erhoben werden. Eine Obliegenheit zur nochmaligen Erhebung der Verzögerungsrüge wie in § 198 Abs. 3 S. 5 GVG besteht dagegen 508 509
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nicht. In solchen Fällen, in denen sich die Wiederholung einer Verzögerungsrüge aufdrängt und der Verfahrensbeteiligte ihre Erhebung unterlässt, kann es nach der Gesetzesbegründung aber gerechtfertigt sein, von dem Pauschalbetrag des § 198 Abs. 2 S. 3 GVG abzuweichen.510 Diese Konsequenz hat sich zwar im Gesetzestext nicht ausdrücklich niedergeschlagen, ist aber vom Gesetzeswortlaut des § 198 Abs. 2 S. 4 GVG erfasst, nach dem die Umstände des Einzelfalles über die Unbilligkeit des Entschädigungsbetrages entscheiden und gegebenenfalls die Herabsetzung des Pauschalbetrages rechtfertigen. Insofern kann auch berücksichtigt werden, inwieweit der Verfahrensbeteiligte die Missbilligung der Verfahrensdauer mit dem Ausgangsgericht kommuniziert hat. Dieser Umstand kann auch bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer an Bedeutung gewinnen. Ob diese Kommunikation aber durch die Erhebung einer nochmaligen Verzögerungsrüge erfolgt oder durch die bloße Bitte um Verfahrensbeschleunigung, kann für die Bemessung der Entschädigungshöhe keinen Unterschied machen, da andernfalls dem Verfahrensbeteiligten eine „Quasi-Obliegenheit“ zur wiederholten Erhebung der Verzögerungsrüge auferlegt werden würde, die so keine Grundlage im Gesetz findet. (2) Verfrühte Verzögerungsrüge Wird die Verzögerungsrüge vor dem in § 198 Abs. 3 S. 2 GVG beschriebenen Zeitpunkt erhoben, geht sie „ins Leere“511. Der Geldentschädigungsanspruch entsteht also nicht für den betreffenden Verfahrensabschnitt512, selbst wenn später tatsächlich eine unangemessene Verfahrensdauer eintritt513. Möglich bleibt aber die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer gem. § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG. Bei einer verfrühten, d.h. unwirksamen Erhebung der Verzögerungsrüge besteht keine Hinweispflicht des Ausgangsgerichtes nach § 139 Abs. 2 und Abs. 3 ZPO514, da die Prüfung der Wirksamkeit nicht dem Ausgangsgericht, sondern dem Entschädigungsgericht obliegt. Dem Betroffenen wird damit das vollständige Prognoserisiko hinsichtlich der Erhebung der Verzögerungsrüge zum richtigen Zeitpunkt auferlegt.515 510
BT-Drs. 17/3802, S. 21. BT-Drs. 17/3802, S. 20. 512 Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (3); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 193. 513 Siehe Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 193. 514 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 177; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (3); Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 19. Ebenfalls nicht anwendbar ist § 86 Abs. 3 VwGO, Guckelberger, DÖV 2012, 289 (294). 515 Scholz, SGb 2012, 19 (24); Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 38. 511
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(3) „Verspätete“ Verzögerungsrüge § 198 Abs. 3 S. 2 GVG normiert den Zeitpunkt, ab wann frühestens eine wirksame Verzögerungsrüge erhoben werden kann. Die Erhebung der Verzögerungsrüge nach diesem Zeitpunkt ist für die Entstehung des Entschädigungsanspruches unschädlich, solange sie bis zum Abschluss der jeweiligen Instanz, in der die konkrete Möglichkeit der Verzögerung eingetreten ist, erfolgt. Die Geduld der Verfahrensbeteiligten, mit der Erhebung der Verzögerungsrüge innerhalb einer Instanz zu warten, soll danach nicht bestraft werden.516 Von einer „verspäteten“ Verzögerungsrüge kann nach hier vertretener Auffassung also streng genommen nur gesprochen werden, wenn eine Verzögerungsrüge zu spät, d.h. in einem nachfolgenden Verfahrensabschnitt vor einem anderen Gericht, erhoben wird. Ein solches Verhalten hat, wie zuvor erörtert, zur Konsequenz, dass ein Geldentschädigungsanspruch hinsichtlich dieses Verfahrensabschnittes nicht entsteht. Demgegenüber versteht das Schrifttum unter einer „verspäteten“ Verzögerungsrüge in Anlehnung an die Gesetzesbegründung517, dass der Verfahrensbeteiligte die Verzögerungsrüge derart spät erhebt, dass von dieser keine beschleunigende Wirkung mehr ausgehen kann und sein Verhalten damit gegen das staatshaftungsrechtliche Verbot des „Duldens und Liquidierens“ verstößt.518 Nachdem die Entstehung des Geldentschädigungsanspruches nun nicht mehr an den Zeitpunkt der Erhebung der Verzögerungsrüge gekoppelt ist, ist fraglich, welche Folgen ein solches Verhalten hat. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu, dass es dem Entschädigungsgericht offensteht, diesen Umstand sowohl im Rahmen der Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer als auch bei der Frage, ob die Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist, zu berücksichtigen.519 Wenngleich nicht explizit geregelt, ist diese Folge auch vom Gesetzeswortlaut erfasst, da bezüglich beider Punkte eine umfassende Abwägung aller Umstände im Einzelfall erfolgt, die es erlaubt, ein derartiges Verhalten zu berücksichtigen. Bei der Beurteilung, ob das Verhalten des Verfahrensbeteiligten ein unzulässiges Dulden des (drohenden) rechtswidrigen Zustandes ist, dürfen aber nicht allzu strenge Maßstäbe angesetzt werden. Denn die gesetzgeberische Wertung, die Geduld der Verfahrensbeteiligten nicht zu bestrafen, darf nicht durch die Hintertür umgangen werden. Zudem sollte Berücksichtigung finden, dass die Ermittlung des „richtigen“ Rügezeitpunktes sehr wohl mit Schwierigkeiten behaftet ist.520 516
Vgl. BT-Drs. 17/3802, S. 21. BT-Drs. 17/3802, S. 21. 518 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 193; vgl. auch Schenke, NVwZ 2012, 257 (263); Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1908). 519 BT-Drs. 17/3802, S. 21. Zu Recht kritisch Sommer, StV 2012, 107 (110). 520 So auch Stahnecker, Entschädigung, Rn. 127. 517
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(4) Missachtung der in § 198 Abs. 3 S. 3 GVG normierten Hinweisobliegenheit Sind Umstände, die bekannt und für die Verfahrensförderung maßgeblich sind, noch nicht in das Verfahren eingeführt worden, muss die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 S. 3 GVG auf diese hinweisen. Erfolgt ein solcher Hinweis nicht, darf das Entschädigungsgericht diese bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer nicht berücksichtigen, § 198 Abs. 3 S. 4 GVG. Der Verfahrensbeteiligte ist mit seinem Vorbringen präkludiert.521 Die Vorschrift des § 198 Abs. 3 S. 4 GVG eröffnet eine Reihe von diffizilen Auslegungsfragen. Problematisch ist, dass die Präklusionswirkung nach dem Gesetz an die Erhebung der Verzögerungsrüge statt an die Kenntniserlangung des Gerichtes anknüpft. Der Gesetzgeber missachtet aber dabei, dass die Hinweisobliegenheit nach § 198 Abs. 3 S. 3 GVG nur bezüglich solcher Umstände besteht, die im Verantwortungsbereich des Verfahrensbeteiligten liegen und sich daher der Kenntnis des Gerichtes entziehen. Für die Beurteilung, ob das Gerichtsverfahren in angemessener Dauer entschieden worden ist, kann aber nur auf solche Umstände abgestellt werden, die dem Gericht bekannt sind. Eröffnet der Gesetzgeber die Möglichkeit, bei der Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer auch subjektive Umstände, die außerhalb des eigentlichen Verfahrens und ausschließlich in der Sphäre des Verfahrensbeteiligten liegen, zu berücksichtigen522, kann ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot auf Seiten des Staates bereits aus Gründen der „Waffengleichheit“ nur bei Kenntnis dieser Umstände bejaht werden. Dieser Kerngedanke liegt letztendlich auch der Präklusionswirkung zugrunde. Da nach dem Vorstehenden in einem solchen Fall bereits die Verletzung des Verfahrensgrundrechtes tatbestandlich ausgeschlossen ist, verstößt diese Sichtweise auch nicht gegen das Prinzip, dass die Kompensation eines solchen Verstoßes nicht verschuldensabhängig ausgestaltet sein darf. Anders als im Gesetz geregelt, muss die Präklusionswirkung also zwingend auf den Zeitpunkt der Kenntniserlangung des Gerichtes abstellen. Im Gegensatz zur Verzögerungsrüge, die auch für solche Zeiträume anspruchsbegründend wirkt, die vor ihrer Erhebung liegen, kann dies für Hinweise auf beschleunigungsrelevante Umstände also nicht gelten. Umgekehrt ist die Annahme der Präklusionswirkung nur solange gerechtfertigt, wie das Ausgangsgericht keine Kenntnis von diesen hatte. Teilt also der Verfahrensbeteiligte dem Gericht erst nach Erhebung der Verzögerungsrüge beschleunigungsrelevante Umstände mit, können diese ab diesem Zeitpunkt sehr wohl bei der Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer berücksichtigt werden. Letzterer Fall kann überzeugend über eine teleologische Reduktion von § 198 Abs. 3 S. 4 GVG gelöst werden. Darüber hinaus lässt der Gesetzeswortlaut im Rahmen von § 198 Abs. 3 S. 4 GVG aber keinen Raum dafür, die vorstehenden 521 522
Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 212. Kritisch Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 328. Siehe hierzu S. 161 ff.
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Erwägungen zu berücksichtigen, sodass diese letztendlich im Rahmen der Angemessenheitsprüfung Beachtung finden müssen. Wie bereits mehrfach erwähnt, kann nach § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer ausgesprochen werden, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des § 198 Abs. 3 GVG nicht erfüllt sind. Fraglich ist, in welchem Verhältnis diese Fehlerfolge mit der des § 198 Abs. 3 S. 4 GVG steht. Nach dem Wortlaut des Gesetzes könnte die Fehlerfolge des § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG neben § 198 Abs. 3 S. 4 GVG anwendbar sein, wenn der Verfahrensbeteiligte seiner Hinweisobliegenheit nicht nachgekommen ist. Gelangt das Entschädigungsgericht zu der Überzeugung, dass trotz der Präklusion nach § 198 Abs. 3 S. 4 GVG eine unangemessene Verfahrensdauer vorliegt, ist es aber nicht gerechtfertigt, den Verfahrensbeteiligten auf die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer nach § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG zu verweisen. Da sich sein Verstoß gegen die Hinweisobliegenheit wegen der Präklusion nicht mehr in der Beurteilung der unangemessenen Verfahrensdauer niederschlägt, ist dem Verfahrensbeteiligten eine angemessene Geldentschädigung zu gewähren. Somit sperrt § 198 Abs. 3 S. 4 GVG die Anwendung des § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG. Nach den vorstehenden Ausführungen liegt im umgekehrten Fall (Entschädigungsgericht bewertet die Verfahrensdauer infolge der Präklusion als angemessen) tatbestandlich keine unangemessene Verfahrensdauer vor, sodass § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG bereits aus diesem Grund keine Anwendung findet. ff. Stellungnahme Im Schrifttum wird die Verzögerungsrüge sowohl als präventives Rechtsschutzinstrument als auch als materielles Tatbestandsmerkmal des Entschädigungsanspruches überwiegend kritisch beurteilt. Im Folgenden wird sich mit den einzelnen Kritikpunkten auseinandergesetzt und abschließend untersucht, inwiefern die Verzögerungsrüge den Effektivitätsanforderungen des GG und der EMRK gerecht wird. (1) Der Begriff der Verzögerungsrüge Bereits die Bezeichnung „Verzögerungsrüge“ wird in der Literatur missbilligt, da dieser Begriff ein richterliches Fehlverhalten im Hinblick auf die Verzögerung des Verfahrens impliziere523 und den Eindruck erwecke, es handele sich 523
Lückemann, in: Zöller-ZPO, § 198 GVG, Rn. 9; DRB, Stellungnahme zum RegE BTDrs. 17/3802, http://www.drb.de/cms/index.php?id=710, zuletzt geprüft am: 03.03.2016, unter Punkt 4; Greger, AnwBl 2015, 536 (539, Fn. 46).
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um einen förmlichen Rechtsbehelf (vgl. bspw. die Anhörungsrüge, § 321a ZPO)524. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens wurde vom Deutschen Richterbund eine neutralere Formulierung empfohlen, mit der auch das Verhältnis zwischen der Unangemessenheit der Verfahrensdauer und deren Beanstandung deutlicher herausgestellt werden sollte. Der Vorschlag lautet wie folgt: „Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nur, wenn er das mit der Sache befasste Gericht rechtzeitig auf seine Besorgnis hingewiesen hat, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird, und alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten genutzt hat, das Verfahren zu beschleunigen.“525
Die vorgebrachte Kritik ist teilweise berechtigt. In der Tat verschleiert der Begriff der Verzögerungsrüge, dass das Ausgangsgericht in keiner Weise auf die Erhebung der Verzögerungsrüge reagieren muss und es sich im Ergebnis um ein materiell-rechtliches Tatbestandsmerkmal handelt. Ein fehlerhaftes Verhalten des Gerichtes ist mit dem Begriff der Verzögerungsrüge jedoch nicht impliziert. Unglücklich formuliert ist aber, dass Inhalt der Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG lediglich die Beanstandung der Dauer des bisherigen Verfahrens ist, während erst die Bestimmung des Rügezeitpunktes in Satz 2 den Bezug zur unangemessenen Verfahrensdauer nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG herstellt. (2) Keine Begründungspflicht der Verzögerungsrüge Das fehlende Begründungserfordernis wurde vereinzelt kritisch und im Hinblick auf die präventive Wirkung der Verzögerungsrüge für abträglich gesehen.526 Um der Gefahr vorzubeugen, dass die Verzögerungsrüge als reine Formalie vom Gericht wahrgenommen werde, sei es konstruktiver, wenn der Verfahrensbeteiligte begründen müsste, warum aus seiner Sicht der Eintritt einer unangemessenen Verfahrensdauer drohe.527 524
Scholz, SGb 2012, 19 (24). Im Ergebnis auch Ohrloff, Rechtsschutz, S. 92 f. DRB, Stellungnahme zum RegE BT-Drs. 17/3802, http://www.drb.de/cms/index. php?id=710, zuletzt geprüft am: 03.03.2016, unter Punkt 4. 526 Scholz, Wortprotokoll 17/43 des Rechtsausschusses, Öffentliche Anhörung zum Regierungsentwurf BT-Drs. 17/3802, http://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Bibliothek/Gesetzesmaterialien/17_wp/Rechtsschutz_ueberlang/wortproto.pdf? __blob=publicationFile, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 37 f.; Ohrloff, Rechtsschutz, S. 95 f., der insbesondere den Widerspruch zum Begründungserfordernis vor dem BVerfG gem. § 97b Abs. 1 S. 3 BVerfGG kritisiert. 527 Scholz, Wortprotokoll 17/43 des Rechtsausschusses, Öffentliche Anhörung zum Regierungsentwurf BT-Drs. 17/3802, http://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Bibliothek/Gesetzesmaterialien/17_wp/Rechtsschutz_ueberlang/wortproto.pdf? __blob=publicationFile, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 37 f.; Ohrloff, Rechtsschutz, S. 95 f. 525
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Eine (kurze) Begründung der Verzögerungsrüge ist in der Praxis in jedem Falle ratsam.528 Einerseits muss der Verfahrensbeteiligte im Entschädigungsverfahren ohnehin darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass eine wirksame Verzögerungsrüge erhoben wurde. Andererseits kann die Erklärung, warum die Verfahrensdauer beanstandet wird, die Kommunikation zwischen dem Gericht und dem Verfahrensbeteiligten besser fördern als die bloße Erhebung einer Verzögerungsrüge. Zudem erleichtert eine Begründung auch die Abgrenzung zu anderen Erklärungen, wie bspw. die (bloße) Bitte um Verfahrensbeschleunigung.529 Dennoch ist es zu begrüßen, dass ein zwingendes Begründungserfordernis nicht normiert worden ist. Vor dem Hintergrund, dass eine Reaktions- und Bescheidungspflicht des Ausgangsgerichtes nicht besteht, würde das Erfordernis, die Verzögerungsrüge begründen zu müssen, die Prozessparteien und deren Anwaltschaft unnötig belasten.530 (3) Der Zeitpunkt der Erhebung der Verzögerungsrüge Nach der Konzeption des Gesetzes besteht das Risiko, dass bei einer verfrühten Erhebung der Verzögerungsrüge der Entschädigungsanspruch in Geld nicht entsteht und bei einer „verspäteten“ Erhebung der Anspruch gegebenenfalls gekürzt wird. Der Betroffene trägt damit das vollständige Prognoserisiko, die Verzögerungsrüge weder zu früh noch zu spät zu erheben. Dieses Regelungskonstrukt ist im Ergebnis alternativlos. Zum einen ist die Normierung eines konkreten Zeitpunktes, zu dem sich die Gefahr einer überlangen Verfahrensdauer verdichtet und die Verzögerungsrüge zu erheben wäre, wegen der Andersartigkeit eines jeden Verfahrens nicht möglich. Zum anderen ist die Bestimmung einer konkreten Sperrfrist, nach der die Verzögerungsrüge frühestens erhoben werden dürfte, wenig hilfreich. Ohrloff schlägt in diesem Zusammenhang bspw. eine Sechs-Monatsfrist vor, um den Verfahrensbeteiligten eine Richtungsweisung hinsichtlich des Rügezeitpunktes an die Hand zu geben.531 Unabhängig davon, dass in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle eine Sechs-Monatsfrist deutlich zu kurz bemessen und somit für das jeweilige Verfahren gar nicht aussagekräftig ist, wäre zu befürchten, dass von einer derartigen Regelung eine unzutreffende Signalwirkung hinsichtlich des „richtigen“ Rügezeitpunktes ausgehen könnte. Die Möglichkeit, eine wirksame Verzögerungsrüge zu jeder Zeit erheben zu können, hätte dagegen zur Folge, dass 528
Deeg, ArbRAktuell 2012, 415 (416); Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 116; Heine, MDR 2012, 327 (331). 529 Vgl. auch Guckelberger, DÖV 2012, 289 (293): Fehlendes Begründungserfordernis führt zu Abgrenzungsschwierigkeiten bei anderen Erklärungen. 530 So auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 208. 531 Ohrloff, Rechtsschutz, S. 89, 111 f.
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die Verzögerungsrüge völlig ihren Zweck verfehlt und als reine Förmelei letztendlich ein nicht zu rechtfertigendes Hindernis bei der Geltendmachung des Entschädigungsanspruches dargestellt hätte. Berechtigt ist aber die Kritik dahingehend, dass im Gesetz nicht klar geregelt ist, dass in jedem Verfahrensabschnitt vor einem anderen Gericht eine Verzögerungsrüge zu erheben ist, sobald der Rügezeitpunkt i.S.v. § 198 Abs. 3 S. 2 GVG überschritten ist. Ebenso sagt das Gesetz nichts über die Folgen einer nicht zum Zeitpunkt des § 198 Abs. 3 S. 2 GVG erhobenen Verzögerungsrüge.532 Hierzu wäre eine Klarstellung im Gesetzestext wünschenswert gewesen. Die von einigen heraufbeschworene Regressfalle533 kann aber dadurch vermieden werden, dass der Verfahrensbeteiligte eine Verzögerungsrüge nochmals zu einem späteren Zeitpunkt erhebt534 und an die Kürzung des Entschädigungsanspruches wegen Rechtsmissbrauchs erhöhte Anforderungen zu stellen sind535. Die wiederholte Erhebung der Verzögerungsrüge belastet zudem weder das Gericht noch die Verfahrensbeteiligten in einem unzumutbaren Maße, da eine Bescheidungs- und Reaktionspflicht des Gerichtes gerade nicht besteht.536 (4) Die präventive Wirkung der Verzögerungsrüge Im Mittelpunkt der Kritik steht, dass die Verzögerungsrüge entgegen der gesetzgeberischen Konzeption keine präventive Wirkung entfalte. Dies wird vor allem damit begründet, dass die Verzögerungsrüge weder devolutiv ausgestaltet ist noch vom Ausgangsgericht beschieden werden muss. Insofern unterscheide sie sich nicht wesentlich von einer Sachstandsanfrage verbunden mit der Bitte um Verfahrensbeschleunigung.537 So ist gar die Rede von der 532
So auch der Bundesrat in BT-Drs. 17/3802, S. 35. Sich der Kritik anschließend, BRAK, Stellungnahme der BRAK zum Reg-Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, http://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmenpdf/stellungnahmen-deutschland/2011/maerz/stellungnahme-der-brak-2011-18.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 9 f. 533 Dies befürchtend: Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (858); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 181; Söhngen, NZS 2012, 493 (497): neue Haftungsrisiken für Bevollmächtigte; Zimmermann, FPR 2012, 556 (558): gefährliche Unsicherheiten. 534 Befürwortend Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 65, 67; Greger, AnwBl 2015, 536 (540); Lettau, Beschwerde, S. 92 f.; Lückemann, in: Zöller-ZPO, § 198 GVG, Rn. 9. 535 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 196: Anspruchskürzung nur in Ausnahmefällen. Im Ergebnis auch Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (3). 536 Ebenso die Einschätzung von Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 181. 537 Magnus, ZZP 125 (2012), 75 (88); Althammer, JZ 2011, 446 (452); Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (859 f.); Zimmermann, FPR 2012, 556 (556). Vor Inkrafttreten des Gesetzes war
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Verzögerungsrüge als „symbolische Nutzlosigkeit“ und „Karikatur einer wirksamen Beschwerde“538. Eingebüßt hat die präventive Wirkung der Verzögerungsrüge ganz erheblich dadurch, dass die Entstehung des Geldentschädigungsanspruches nicht mehr an den Zeitpunkt der Erhebung der Verzögerungsrüge gekoppelt ist, wie dies ursprünglich noch im Referentenentwurf539 vorgesehen war.540 Dieser Regelungsmechanismus, der wohl sichergestellt hätte, dass eine Verzögerungsrüge frühzeitig erhoben worden wäre, um des Entschädigungsanspruches nicht verlustig zu gehen, wurde im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens aufgehoben. Der nun Gesetz gewordene Regelungsmechanismus birgt dagegen die Gefahr, dass die Erhebung der Verzögerungsrüge zwar im richtigen Verfahrensabschnitt, aber dermaßen spät erfolgt, dass das Gericht keine bzw. nur noch sehr eingeschränkt beschleunigende Maßnahmen treffen kann, um eine unangemessene Verfahrensdauer zu verhindern. Somit könnte der Betroffene das (drohende) rechtswidrige Verhalten des Staates billigend in Kauf nehmen, anstatt sich mit dem Instrument der Verzögerungsrüge gegen dieses zu wehren, und dennoch den daraus resultierenden Schaden liquidieren, da ein solches Verhalten zumindest nicht die Entstehung des Entschädigungsanspruches beeinflusst. Paradox ist daran, dass nach der Intention des Gesetzgebers die Verzögerungsrüge gerade die Möglichkeit des „Duldens und Liquidierens“ ausschließen sollte.541 Der Gesetzgeber stand vor dem Dilemma, die Verzögerungsrüge als präventives Rechtsschutzinstrument möglichst wirkungsvoll auszugestalten und dabei den sekundären Rechtsschutz gegen überlange Verfahrensdauer nicht wesentlich zu erschweren. Zu Recht wurde im Interesse des Rechtsschutzsuchenden von der im Referentenentwurf vorgesehenen Regelung Abstand genommen542: Die Hürde, den „richtigen“ Rügezeitpunkt zu bestimmen, wäre wegen der schwierigen Subsumtionsarbeit unter die unbestimmten Rechtsbegriffe des § 198 Abs. 3 S. 2 GVG zu groß gewesen.543 Insofern ist die Erhebung der Verzögerungsrüge in einem späten Verfahrensstadium vorbehaltlich der Grenzen des Rechtsmissbrauchs unschädlich, während die verfrühte Erhebung der die formlose Bitte der Verfahrensbeschleunigung kaum erfolgversprechend, siehe Schlette, Angemessene Frist, S. 44. 538 Sommer, StV 2012, 107 (109 f.). 539 ÜGRG-RefE vom 15.03.2010, S. 18. 540 So auch die Einschätzung von Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (3). 541 BT-Drs. 17/3802, S. 20. 542 A.A. Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 196. 543 Vgl. Kämpfer, Wortprotokoll 17/43 des Rechtsausschusses, Öffentliche Anhörung zum Reg-E BT-Drs. 17/3802, http://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Downloads/ DE/Bibliothek/Gesetzesmaterialien/17_wp/Rechtsschutz_ueberlang/wortproto. pdf?__blob =publicationFile, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 9.
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Verzögerungsrüge einen Entschädigungsanspruch nicht entstehen lässt. Somit ist davon auszugehen, dass in der Praxis mit der Erhebung der Verzögerungsrüge gewartet wird.544 Inwiefern die Kritik begründet ist, dass die Verzögerungsrüge aufgrund ihrer rechtlichen Ausgestaltung keine präventive Wirkung entfaltet, wird im Rahmen der konventions- und grundrechtlichen Bewertung der Verzögerungsrüge erörtert. Nachfolgend wird der Frage nachgegangen, ob die Hoffnung des Gesetzgebers berechtigt ist, dass die Gerichte auf die Erhebung einer Verzögerungsrüge tatsächlich mit der Beschleunigung des Verfahrens reagieren. Wenngleich eine aussagekräftige empirische Untersuchung noch fehlt, wird eine Prognose ausgehend von der Prämisse gewagt, dass eine Korrelation zwischen der beschleunigenden Wirkung einer Verzögerungsrüge und den Ursachen einer überlangen Verfahrensdauer besteht. (a) Verfahrensexterne Ursachen Wirkungslos wird die Verzögerungsrüge wohl bei Verzögerungen sein, deren Ursachen außerhalb des Verantwortungsbereiches des Gerichtes liegen, wie bspw. bei Überlastung der Gerichte infolge mangelnder personeller und sachlicher Ausstattung.545 Dies kann sich u.a. durch eine fehlende Verfahrensförderung des Gerichtes bemerkbar machen, die eine wesentliche Ursache für überlange Verfahrensdauer darstellt.546 In diesen Fällen wird eine Beschleunigung der Verfahren durch Erhebung einer Verzögerungsrüge wohl nicht zu 544 Böcker, DStR 2011, 2173 (2176); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 196. 545 DRB, Stellungnahme zum RegE BT-Drs. 17/3802, http://www.drb.de/cms/index. php?id=710, zuletzt geprüft am: 03.03.2016, unter Punkt 4; Lückemann, Wortprotokoll 17/43 des Rechtsausschusses, Öffentliche Anhörung zum RegE BT-Drs. 17/3802, http://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Bibliothek/Gesetzesmaterialien/17_wp/Rechtsschutz_ueberlang/wortproto.pdf?__blob=publicationFile, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 20; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (2 f., 7); Stahnecker, Entschädigung, Rn. 8, 112; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 184. OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub.uni-hamburg.de/epub/volltexte/2013/17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 195: So sind etwa 38 % der befragten Richter der Meinung, dass die regelmäßige Arbeitszeit zur Bewältigung der Geschäftsaufgaben in der Regel nicht ausreicht. 546 OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub. uni-hamburg.de/epub/volltexte/2013/17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 99: So gab es in 26 % der untersuchten Verfahren, die vor den Amtsgerichten geführt wurden, zwei Fälle mangelnder Verfahrensförderung, was einer Nichtförderung des Verfahrens von insgesamt sechs Monaten entspricht. Hervorzuheben ist aber, dass die Ursachen mangelnder Verfahrensförderung in der Studie nicht herausgearbeitet wurden.
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erreichen sein, ohne dass gleichzeitig andere Verfahren ungerechtfertigt benachteiligt werden.547 Dasselbe gilt auch für Richterwechsel in einem Verfahren, die ebenfalls spürbar zur Verlängerung von Rechtsstreitigkeiten beitragen.548 Die Erhebung einer Verzögerungsrüge kann in diesen Fällen wohl nur bedingt zur Beschleunigung führen, da Verzögerungen mit der notwendigen Einarbeitungszeit des neu eingewechselten Richters sowie etwaigen weiteren Beweisaufnahmen oder Sachvorträgen aufgrund einer anderen rechtlichen Bewertung zu erklären sind, die es dem Richter aber erst ermöglichen, in der Sache zu entscheiden.549 (b) Verfahrensinterne Ursachen Anders mag die Bewertung bei verfahrensbezogenen Verzögerungen ausfallen, auf die das Gericht durch seine Verfahrensleitung in einem größeren Maße reagieren kann. Die Durchführung eines Sachverständigenbeweises konnte in einer vom Oberlandesgericht Hamm und Nürnberg sowie vom Kammer- und Oberlandesgericht Jena durchgeführten empirischen Untersuchung zu langandauernden Zivilverfahren als ein maßgeblicher Grund für Verzögerungen im Verfahrensverlauf ausfindig gemacht werden. So betrug die durchschnittliche Dauer eines vollständig durchgeführten Sachverständigenbeweises bei den untersuchten Verfahren 15,4 Monate und war damit länger als die durchschnittliche Dauer aller Verfahren im Jahre 2009, die mit einem streitigen Urteil endeten.550 Da dem mit der Sache befassten Gericht nach der ZPO die Anordnung verschiedener Maßnahmen möglich ist, welche die zügige Erstattung des Sachverständigengutachtens bezwecken, könnte eine Erhebung einer Verzögerungsrüge das Gericht veranlassen, diese zu beschließen und somit das Verfahren zu beschleunigen. In diesem Zusammenhang werden regelmäßig die Möglichkeit der Fristsetzung zur Erstellung des Gutachtens gem. § 411 Abs. 1 ZPO sowie die Anordnung von Zwangsmaßnahmen nach § 411 Abs. 2 ZPO genannt. Wie 547
Vgl. Böcker, DStR 2011, 2173 (2178); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 182. „Die Erhebung der Verzögerungsrüge sei vielfach für Spruchkörper Anlass, die Verfahren ‚vorzuziehen‘.“, so der BDVR in seiner Stellungnahme zur Evaluation des ÜGRG, BT-Drs. 18/2950, S. 30 f. 548 Pro Richterwechsel kann durchschnittlich von einer Verlängerung des Verfahrens um 3,8 Monate ausgegangen werden, OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub.uni-hamburg.de/epub/volltexte/2013/17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 84. 549 OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub. uni-hamburg.de/epub/volltexte/2013/17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 84. 550 OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub. uni-hamburg.de/epub/volltexte/2013/17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 137.
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die durchgeführte empirische Untersuchung zeigt, führte aber das Setzen einer Frist nach § 411 Abs. 1 ZPO allein nicht dazu, dass die Mehrzahl der Sachverständigengutachten schneller angefertigt wurde. In drei Viertel der untersuchten Fälle wurde die vom Gericht gesetzte Frist – durchschnittlich um 3,2 Monate für Hauptgutachten551 – von Sachverständigen überschritten552. Die Ergebnisse lassen vermuten, dass von den Gerichten überwiegend eine zu kurze Frist gesetzt wurde.553 Denn die Dauer der Gutachtenerstellung unterschied sich in Verfahren ohne Fristsetzung (6,4 Monate) nicht wesentlich von denjenigen, in denen eine Fristsetzung zwar erfolgte, aber überschritten wurde, ohne dass dies von Seiten des Gerichtes sanktioniert wurde (6,7 Monate)554. Im Vergleich dazu war die Erstelldauer eines Sachverständigengutachtens mit durchschnittlich 10,3 Monaten auffällig lang, wenn dem Sachverständigen eine Frist gesetzt und diese von ihm nicht eingehalten wurde, worauf das Gericht mit einer Sachstandsanfrage oder mit Maßnahmen nach § 411 Abs. 2 ZPO reagierte. Zu erklären ist dieser deutliche Anstieg der Erstelldauer wohl damit, dass eine gerichtliche Reaktion erst bei erheblicher Fristüberschreitung erfolgte.555 In nur jedem zweiten untersuchten Fall wurde überhaupt vom Gericht auf eine Fristüberschreitung reagiert, sodass konstatiert wird: „Eine Frist dürfte vielfach nur dann die Dauer der Gutachtenerstellung beeinflussen, wenn ihre Einhaltung konsequent überwacht wird.“556 Doch genau gegen eine solche „Überwachung“ sprachen sich im Ergebnis ca. 36 % der Richter, die im Rahmen der Untersuchung an einer Onlineumfrage teilnahmen557, aus, da sie den Einsatz von Ordnungsmitteln bei 551 OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub. uni-hamburg.de/epub/volltexte/2013/17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 162. 552 OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub. https://www.facebook.com/events/146167606044382/uni-hamburg.de/epub/volltexte/2013/ 17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 164. 553 OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub. uni-hamburg.de/epub/volltexte/2013/17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 166. 554 OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub. uni-hamburg.de/epub/volltexte/2013/17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 163. 555 OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub. uni-hamburg.de/epub/volltexte/2013/17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 166. 556 OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub. uni-hamburg.de/epub/volltexte/2013/17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 166, 202. 557 Teilgenommen haben insgesamt 617 Zivilrichter, OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub.uni-hamburg.de/epub/volltexte/2013/ 17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 15.
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Fristüberschreitungen nur selten für sinnvoll hielten. Knapp 41 % der Befragten hielten den Ordnungsmitteleinsatz für manchmal sinnvoll. Die Gründe hierfür sind wohl, dass die Androhung bzw. Verhängung von Zwangsgeldern für die Zusammenarbeit zwischen Sachverständigen und Gericht häufig als nicht förderlich angesehen wird und dazu führen kann, dass sich der bestellte Sachverständige endgültig der Fertigstellung versagt und die Bestellung eines neuen Gutachters erforderlich wird, was den Rechtsstreit noch weiter verzögert.558 Das Ergreifen von vermeintlichen Beschleunigungsmaßnahmen muss nicht zwingend den effektiveren Weg darstellen. Ob die Erhebung einer Verzögerungsrüge anlässlich dieser Zahlen also tatsächlich dazu führen kann, dass Maßnahmen nach § 411 ZPO vom Gericht veranlasst werden, kann daher bezweifelt werden. Zumindest wäre hierfür ein Umdenken bei der Richterschaft erforderlich. Die Entscheidung des LG Bad Mainz559, in der das Gericht gegen den Sachverständigen wegen zögerlicher Gutachtenerstellung ein Ordnungsgeld i.H.v. 500 Euro verhängte, kann als Zeichen eines solchen Umdenkens gedeutet werden, wenn auch der Beschluss durch das OLG Koblenz wieder aufgehoben wurde.560 Neue Bewegung in diese Diskussion bringt der Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Sachverständigenrechts.561 Danach soll u.a. die Fristsetzung für den Richter nach § 411 Abs. 1 ZPO verpflichtend werden und die Kann-Vorschrift des § 411 Abs. 2 ZPO durch eine Soll-Vorschrift mit dem Ziel ersetzt werden, dass nur noch in Ausnahmefällen von einer Verhängung eines Ordnungsgeldes bei Fristversäumnis durch den Sachverständigen abgesehen wird.562 Der Sachverständigenbeweis ist jedoch nur eine mögliche Ursache verfahrensinterner Verzögerungen, sodass hieran die Durchschlagskraft der Verzögerungsrüge allein nicht gemessen werden kann. Ein weiterer Grund für Verzögerungen kann auch eine von der Richterschaft nicht ganz ausgewogene Priorisierung der Verfahren sein. Diese Vermutung legt zumindest die empirische Studie nahe, in der die Mehrheit der befragten Richter angab, einzelne 558 OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub. uni-hamburg.de/epub/volltexte/2013/17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 169 f. Aus diesem Grund hat das OLG Frankfurt bspw. verneint, dass eine Verzögerung kausal zur Überlänge geführt hat, da dem Gericht keine realistische Alternative zur Verfahrensbeschleunigung zur Verfügung gestanden hätte, OLG Frankfurt, Urt. v. 30.01.2013 – 4 EntV 9/12, Rn. 74, juris. 559 LG Bad Mainz, Beschl. v. 05.11.2013 – 9 O 376/06 [unveröffentlicht]. 560 OLG Koblenz, Beschl. v. 20.01.2014 – 3 W 695/13, BeckRS 2014, 01742. 561 BT-Drs. 18/6985. 562 BT-Drs. 18/6985, S. 7. Die obligatorische Fristsetzung begrüßend Lüblinghoff, ZRP 2016, 45 (46). Kritisch: Blendiger, DS 2015, 211 (213 f.); der Bundesrat in seiner Stellungnahme BT-Drs. 18/6985, S. 23 f.
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schwierigere Verfahren nachrangig zugunsten höherer Erledigungszahlen zu behandeln.563 Hier ist es durchaus vorstellbar, dass die Verzögerungsrüge die ihr zugedachte beschleunigende Wirkung entfalten kann. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass verlässliche Angaben über die tatsächliche beschleunigende Wirkung der Verzögerungsrüge erst nach empirischen Untersuchungen gemacht werden können. Erste Erfahrungsberichte lassen darauf schließen, dass der Verzögerungsrüge eine Beschleunigungswirkung zumindest nicht gänzlich abgesprochen werden kann und die Befürchtungen, die Verzögerungsrüge würde von der Richterschaft lediglich nur abgeheftet werden, überspitzt und in der Sache nicht zutreffend sind.564 (5) Auswirkungen auf die Richterschaft Ob die bloße Existenz bzw. die Erhebung einer Verzögerungsrüge beschleunigend auf den Verfahrensverlauf wirkt, hängt unter anderem davon ab, welches Druckpotential sie gegenüber der Richterschaft entfaltet. Hierbei sind verschiedene Faktoren maßgeblich. Neben der Persönlichkeit565 und der Arbeitsweise des zuständigen Richters spielt auch die rechtliche Ausgestaltung der Verzögerungsrüge eine Rolle. Teilweise wird der Verzögerungsrüge ein zusätzliches Druckpotential gegenüber einer bloßen Beanstandung der Verfahrensdauer abgesprochen, da eine Bescheidungspflicht des Gerichtes gerade nicht bestehe und die Entschädigungsverfahren in der Mehrheit der Fälle erst Jahre später nach Erhebung der Verzögerungsrüge stattfinden würden.566 Im Gegensatz dazu heißt es im Zusammenhang mit dem österreichischen Fristsetzungsantrag gem. § 91 GOG, dass es vielen Richtern peinlich sei, mit einem Fristsetzungsantrag gem. § 91 GOG konfrontiert zu werden und sie sich daher von vornherein bemühen würden, überlange Verfahren zu vermeiden.567 Da der Fristsetzungsantrag aber im Gegensatz zur Verzögerungsrüge devolutiv ausgestaltet ist, also eine höhere Instanz sich mit dem Antrag bei ablehnender Entscheidung des Ausgangsgerichtes befassen muss, ist das Druckpotential wesentlich größer als bei der Verzögerungsrüge, von deren Erhebung ein Instanzgericht zunächst einmal keine 563 OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub. uni-hamburg.de/epub/volltexte/2013/17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 196. Die Erledigungszahlen im Rahmen der Dienstaufsicht spielen aktuell eine große Rolle. Siehe hierzu instruktiv Wittreck, NJW 2012, 3287 (3287 ff.). 564 Kirchberg, DVBl 2015, 675 (678). Siehe auch BVerfG, Beschl. v. 25.04.2015 – 1 BvR 3326/14, Rn. 44, juris. 565 Vgl. zur Dienstaufsichtsbeschwerde Pickenpack, Verfahrensgrundrechte und Untätigkeit der Gerichte, S. 189. 566 Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (860); Ohrloff, Rechtsschutz, S. 93. 567 Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 280.
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Kenntnis erlangt. Die beiden Rechtsschutzinstrumente sind insofern nicht miteinander vergleichbar. Im Gegensatz zur bloßen Beanstandung der Verfahrensdauer kann die Verzögerungsrüge aber immerhin Gegenstand eines Entschädigungsverfahrens sein. In der Praxis wird zuweilen die Verzögerungsrüge in Durchschrift an den Gerichtspräsidenten gesendet. Insofern ist nicht ausgeschlossen, dass die Gerichtsleitungen im Hinblick auf die ihnen obliegende Dienstaufsicht die Entschädigungsklagen in ihrem Verantwortungsbereich aufmerksam beobachten werden.568 Somit ist das Druckpotential der Verzögerungsrüge höher als bei der bloßen Beanstandung der Verfahrensdauer, allerdings immer noch überschaubar. Unter keinem Gesichtspunkt ist sie jedoch geeignet, die richterliche Unabhängigkeit erheblich zu beeinträchtigen, gar in verfassungswidriger Weise diese zu verletzen.569 Wie die Richterschaft auf die Verzögerungsrüge reagieren wird, hängt wohl auch davon ab, wie die Anwaltschaft und die Prozessparteien mit dem Rügeinstrument umgehen werden. Ist die Erhebung der Verzögerungsrüge Ausdruck querulatorischen Verhaltens, wird sie die Richterschaft wohl unbeeindruckt lassen, wohingegen der umsichtige Umgang mit der Erhebung der Verzögerungsrüge die Richter für das Thema wohl mehr sensibilisieren wird. Ersten Einschätzungen zufolge ist wohl Letzteres der Fall.570 gg. Die Verzögerungsrüge aus völkerrechtlicher Perspektive (1) Die Verzögerungsrüge als effektiver präventiver Rechtsbehelf i.S.v. Art. 13 EMRK Ein wirksamer präventiver Rechtsbehelf setzt nach der Rechtsprechung des EGMR grundsätzlich voraus, dass dieser geeignet ist, das Verfahren zu beschleunigen und die Konventionsverletzung zu verhindern.571 Insofern verlangt der EGMR, dass über die auf Beschleunigung gerichtete Beschwerde zwingend entschieden werden muss. Da das Ausgangsgericht aber weder auf die Verzögerungsrüge reagieren noch dieser abhelfen muss und der Verfahrensbeteiligte in einem solchen Falle lediglich auf die Geltendmachung eines Entschädigungsanspruches verwiesen wird, genügt die Verzögerungsrüge als präventiver
568 So die Äußerung der Bundesregierung im Zusammenhang mit dem ursprünglich vorgesehenen Ausschluss der Gerichtspräsidenten von den Spruchkörpern der Entschädigungsgerichte, BT-Drs. 17/3802, S. 42. 569 So auch Ohrloff, Rechtsschutz, S. 126 ff. 570 Scholz, DRiZ 2014, 136 (136); DRB, Stellungnahme des DRB zur Evaluation des ÜGRG vom 24.11.2011, http://www.drb.de/cms/index.php?id=844, zuletzt geprüft am: 03.03.2016, unter Punkt 1; dies ebenfalls prognostizierend Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 181. Gegenteilige Einschätzung Ohrloff, Rechtsschutz, S. 99 f. 571 Siehe hierzu S. 25 f.
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Rechtsbehelf nicht den Wirksamkeitsanforderungen des Art. 13 EMRK.572 Insofern kann auch eine Parallele zur Dienstaufsichtsbeschwerde gezogen werden, die ebenfalls kein präventiver wirksamer Rechtsbehelf i.S.v. Art. 13 EMRK ist, da der Verfahrensbeteiligte eine dienstrechtliche Maßnahme nicht erzwingen kann.573 Die Hoffnung des Gesetzgebers, das Ausgangsgericht werde bei Erhebung einer berechtigten Verzögerungsrüge mit geeigneten Maßnahmen Abhilfe schaffen, erlaubt demnach keine andere Bewertung.574 Unabhängig davon darf nach völkerrechtlichen Effektivitätsmaßstäben dem iudex a quo bei der Beschwerde nicht die Letztentscheidungskompetenz zukommen, sodass vor diesem Hintergrund der fehlende Devolutiveffekt der Verzögerungsrüge kritisch zu beurteilen ist. Dieser Befund ist bezüglich solcher Verfahren problematisch, deren Dauer sich maßgeblich auf das Familienleben auswirken kann, namentlich bei Sorgeund Umgangsverfahren. Wie erörtert, verlangt der EGMR nach neuester Rechtsprechung im Anwendungsbereich des Art. 13 EMRK i.V.m. Art. 8 Abs. 1 EMRK während des laufenden Gerichtsverfahrens das Bestehen eines effektiven präventiven Rechtsbehelfes, mit dem der Rechtsstreit aktiv beschleunigt werden kann und Verfahrensverzögerungen verhindert und beendet werden können. Zwar wird vertreten, dass die neuere Rechtsprechung des EGMR die Tendenz erkennen lasse, dass auch im Anwendungsbereich von Art. 13 EMRK i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EMRK bei anhängigen Rechtsstreitigkeiten den Verfahrensbeteiligten wirksame präventive Rechtsschutzinstrumente zur Verfügung stehen müssten. Gegen eine Rechtsprechungsänderung im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK sprechen jedoch die nach Inkrafttreten des ÜGRG getroffenen Entscheidungen des EGMR, die erkennbar zwischen einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 8 Abs. 1 EMRK differenzieren. So wies der Gerichtshof Individualbeschwerden, in denen die Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 13 EMRK rügten, als unzulässig im Hinblick auf Art. 35 Abs. 1 EMRK zurück, wenn die Beschwerdeführer die durch das ÜGRG zur Verfügung gestellten Rechtsschutzmöglichkeiten vorher nicht ausgeschöpft hatten. Der EGMR unterschied dabei nicht, ob der Rechtsstreit zum Zeitpunkt der Erhebung der Individualbeschwerde noch anhängig war oder nicht.575 Da Art. 35 Abs. 1 EMRK nur die Erschöpfung aller wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelfe vor Erhebung einer Individualbeschwerde gebietet, 572
EGMR, Urt. v. 15.01.2015 – Nr. 62198/11 (Kuppinger./.Deutschland), § 140 f., Hudoc; siehe auch Guckelberger, DÖV 2012, 289 (293). 573 EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2392, Rn. 109). 574 Vgl. auch Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (860): Es fehlt jede realistische Begründung, warum von der Verzögerungsrüge präventive Wirkung ausgehen soll. 575 Entscheidungen, in denen das Ausgangsverfahren bereits abgeschlossen war: EGMR, Ent. v. 29.05.2012 – Nr. 19488/09 (Garcia Cancio./.Deutschland), § 47, Hudoc; EGMR, Urt. v. 04.09.2014 – Nr. 68919/10 (Peter./.Deutschland), § 56 ff., Hudoc. Entscheidungen, in
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lässt sich hieraus ableiten, dass der EGMR den Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 GVG auch bei laufenden Verfahren als wirksamen Rechtsbehelf i.S.v. Art. 13 EMRK ansieht.576 Demgegenüber hielt der Gerichtshof bei laufenden Ausgangsverfahren, die dem Anwendungsbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK unterfielen, die Geltendmachung des Entschädigungsanspruches im Hinblick auf Art. 35 EMRK nicht für erforderlich und bejahte in Abgrenzung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK eine Verletzung von Art. 13 EMRK i.V.m. Art. 8 Abs. 1 EMRK, weil nach dem ÜGRG dem Betroffenen während des laufenden Ausgangsverfahrens keine präventiven Rechtsbehelfe zur Verfügung stünden. Insofern wird deutlich, dass der EGMR eine Rechtsprechungsänderung im Hinblick auf Art. 13 EMRK i.V.m. Art. 6 EMRK nicht vollzogen hat. Als Zwischenfazit ist zu konstatieren, dass die Verzögerungsrüge als präventives Rechtsschutzinstrument den Effektivitätsanforderungen der EMRK nicht gerecht wird. Im Anwendungsbereich des Art. 13 EMRK i.V.m. Art. 8 Abs. 1 EMRK führt dies zu einer Rechtsschutzlücke.577 Insofern drängt sich die Frage auf, ob die bereits bestehenden Rechtsschutzinstrumente diese Rechtsschutzlücke zu schließen vermögen (siehe S. 277 ff.). Im Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist das Fehlen eines wirksamen präventiven Rechtsbehelfs jedoch dann nicht zu beanstanden, wenn der in § 198 Abs. 1 GVG normierte Entschädigungsanspruch effektiven Sekundärrechtsschutz verbürgt. Dieses Ergebnis ist enttäuschend, wird ein präventiver Rechtsbehelf vom EGMR doch als bestes Instrumentarium gegen überlange Verfahrensdauer angesehen. Dennoch spiegelt die vom Gesetzgeber gefundene Lösung die Realität in vielen Unterzeichnerstaaten der EMRK wider, die in ihren Rechtssystemen ausschließlich kompensatorischen Rechtsschutz vorhalten.578 (2) Die Verzögerungsrüge als Tatbestandsmerkmal des Geldentschädigungsanspruches Ist die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen lang und erleidet der Verfahrensbeteiligte hierdurch einen Nachteil, kann er nur dann eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen, wenn er eine wirksame Verzögerungsrüge im Ausgangsverfahren erhoben hat. Damit hat der Gesetzgeber der
denen das Ausgangsverfahren noch anhängig war: EGMR NVwZ 2013, 47 (48, Rn. 40 ff.); EGMR, Ent. v. 22.01.2013 – Nr. 41394/11 (Bandelin./.Deutschland), BeckRS 2014, 81689. 576 Vgl. nur Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451 (464). 577 Ebenso Reiter, NJW 2015, 2554 (2555); Steinbeiß-Winkelmann, Anm. z. EGMR, Urt. v. 15.01.2015 – Nr. 62198/11 (Kuppinger./.Deutschland), NJW 2015, 1437 (1437 f.). 578 Ausschließlich kompensatorischer Rechtsschutz wird u.a. gewährt in: Italien, Frankreich, Dänemark, Portugal (mit Ausnahme für den Strafprozess), siehe Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 11 ff.
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Verzögerungsrüge Vorrang gegenüber dem Entschädigungsanspruch eingeräumt und beide Rechtsschutzinstrumente miteinander verknüpft. Da der EGMR präventive Rechtsschutzinstrumente als effektivstes Mittel gegen überlange Verfahren ansieht, ist gegen ein derartiges Vorrangverhältnis grundsätzlich nichts einzuwenden. Etwas anderes könnte jedoch aufgrund der Tatsache gelten, dass die Verzögerungsrüge nicht den völkerrechtlichen Anforderungen an einen präventiven wirksamen Rechtsbehelf genügt. Die zwingende Erhebung derselben als Voraussetzung für den Geldentschädigungsanspruch könnte somit ein nicht zu rechtfertigendes Erschwernis des kompensatorischen Rechtsschutzes darstellen. In diesem Zusammenhang sollte nochmals rekurriert werden, dass der EGMR den einzelnen Unterzeichnerstaaten der EMRK einen gewissen Spielraum bei Ausgestaltung der Rechtsbehelfe zubilligt und auch erst eine Zusammenschau der zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe den Effektivitätsanforderungen genügen kann. Dies im Blick habend, kann die Effektivität eines kompensatorischen Rechtsbehelfs, dessen erfolgreiche Geltendmachung von der Erhebung eines präventiven Rechtsschutzinstrumentes abhängig ist, richtigerweise nur dann verneint werden, wenn sich dessen Zweck allein in der Erschwerung des kompensatorischen Rechtsschutzes erschöpft. Andernfalls kann nicht beanstandet werden, dass der nationale Gesetzgeber präventive Rechtsschutzinstrumente schafft und ihnen Vorrang vor kompensatorischen Rechtsbehelfen einräumt, selbst wenn diese nicht den Effektivitätsanforderungen des EGMR gerecht werden. Zwar heißt es im Schrifttum, das Hauptziel der Verzögerungsrüge sei die Haftungsbegrenzung des Staates.579 Diese kritische Einschätzung wird der Verzögerungsrüge jedoch nicht gerecht, da von ihr verfahrensbeschleunigende Wirkung ausgehen kann und sie anders als bspw. die Dienstaufsichtsbeschwerde nicht verfahrensfern ist. Ihr Zweck kann somit nicht ausschließlich in der Erschwerung des kompensatorischen Rechtsschutzes gesehen werden, sodass dem Verfahrensbeteiligten, bevor er eine Geldentschädigung für die überlange Verfahrensdauer verlangt, die Erhebung der Verzögerungsrüge zugemutet werden kann. Darüber hinaus kann das Entschädigungsgericht im Falle eines Obliegenheitsverstoßes die Überlänge der Verfahrensdauer feststellen (§ 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG), sodass der Verfahrensbeteiligte nicht vollständig rechtsschutzlos gestellt ist, wenn er eine (wirksame) Verzögerungsrüge nicht erhoben hat. Richtigerweise begegnet die Verknüpfung von Verzögerungsrüge und Entschädigungsanspruch aus völkerrechtlicher Perspektive also keinen durchgreifenden Bedenken. In diese Richtung können auch die oben bereits 579 Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 30. Lakonisch heißt es in Rn. 42: „Der Staat ist schon immer ein besonders schwieriger Schuldner […]“. Ähnlich Sommer, StV 2012, 107 (109).
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angesprochenen Entscheidungen des EGMR gedeutet werden, der seit Inkrafttreten des ÜGRG vor Erhebung einer Individualbeschwerde wegen überlanger Gerichtsverfahren verlangt, dass im Hinblick auf Art. 35 Abs. 1 EMRK der Beschwerdeführer die durch das ÜGRG zur Verfügung gestellten Rechtsschutzmöglichkeiten ausschöpfen muss. hh. Die Verzögerungsrüge aus verfassungsrechtlicher Perspektive (1) Die Verzögerungsrüge als effektiver präventiver Rechtsbehelf Nach dem GG ist die Eröffnung primärer Rechtsschutzinstrumente bei langandauernden Gerichtsverfahren erforderlich, sodass der Gesetzgeber keinen Gestaltungsspielraum hat, ob er beschleunigende Rechtsbehelfe in seinem Rechtsschutzsystem etabliert.580 Hierbei muss dem Verfahrensbeteiligten ein Anspruch auf Tätigwerden der zur Entscheidung berufenen Instanz gewährt werden. Nur so ist eine fachgerichtliche Kontrolle der Einhaltung des Verfahrensgrundrechtes möglich.581 Insofern genügt die Verzögerungsrüge, auf deren Erhebung das Ausgangsgericht noch nicht einmal reagieren muss, auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht den Anforderungen an einen effektiven Primärrechtsbehelf.582 Zu widersprechen ist den zahlreichen Kritikern der Verzögerungsrüge aber darin, dass ihr fehlender Devolutiveffekt verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar sei.583 Diese mehrheitlich von Anhängern der Untätigkeitsbeschwerde-Lösung geäußerte Rechtsauffassung schränkt den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in unzulässiger Weise ein, der bei Ausgestaltung des Rechtsschutzsystems auch die Schwächen eines Beschleunigungsrechtsbehelfs (weitere Verzögerungen, eingeschränkte Entscheidungskompetenz) berücksichtigen darf. Aufgrund dieser begrenzten Schutzwirkung präventiver Rechtsbehelfe im Zusammenhang mit überlangen Gerichtsverfahren kann nicht beanstandet werden, dass eine Entscheidung über den Beschleunigungsrechtsbehelf vom iudex a quo getroffen wird.
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Siehe hierzu S. 28 ff. Vgl. BVerfG NJW 2003, 1924 (1926). 582 Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (860 f.); Ohrloff, Rechtsschutz, S. 130; Rixe, Anm. z. EGMR, Urt. v. 27.10.2011 – Nr. 8857/08 (Bergmann./.Tschechien), FamRZ 2012, 1124 (1124); bzgl. Kindschaftssachen: Heilmann, in: MüKo-FamFG, § 155 FamFG, Rn. 77 mit Verweis darauf, dass das BVerfG mehrfach die Zulässigkeit und Begründetheit einer Untätigkeitsbeschwerde für erforderlich erachtet hat, siehe BVerfG NJW 2001, 961 (961). 583 Siehe nur Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 280 ff.; Ohrloff, Rechtsschutz, S. 92, der die Effektivität eines Rechtsbehelfs u.a. an dessen Devolutiveffekt misst. 581
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(2) Die Verzögerungsrüge als Tatbestandsmerkmal des Geldentschädigungsanspruches Bei der Verzögerungsrüge handelt es sich um ein „eigentümliches prozessuales Instrument“584. Denn als prozessuale Obliegenheit ausgestaltet, entfaltet eine nicht erhobene bzw. unwirksame Verzögerungsrüge keine Nachteile im verzögerten Ausgangsverfahren, sondern erst beim materiell-rechtlichen Entschädigungsanspruch. Aufgrund des Gewaltmonopols des Staates, dessen Pflicht es ist, das Rechtssystem dergestalt zu organisieren, dass Gerichtsverfahren in angemessener Zeit abgeschlossen werden können, könnte diese Verknüpfung jedoch problematisch sein, da letztendlich der Betroffene die Bürde dafür trägt, dass der Staat seinem Rechtsschutzauftrag nicht nachkommt.585 Es ist aber aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht zu beanstanden, Sekundärrechtsschutz von der Einlegung primärer Rechtsbehelfe abhängig zu machen.586 So kann ein durch staatliches Unrecht eingetretener Schaden grundsätzlich nur liquidiert werden, wenn zuvor versucht worden ist, diesen abzuwenden.587 Das Dulden eines rechtswidrigen Zustandes ohne Inanspruchnahme von Primärrechtsschutzmaßnahmen schließt die Liquidation des dadurch eingetretenen Schadens also aus. Vereinzelt wird die Ansicht vertreten, dass das Regelungskonstrukt des ÜGRG das überholte Prinzip vom „Dulden und Liquidieren“ gerade wieder zum Leben erwecke.588 Denn mangels einer verbindlichen Beschleunigungswirkung der Verzögerungsrüge könne von einem echten Primärrechtsschutz nicht gesprochen werden.589 Der Verfahrensbeteiligte erhalte gerade keinen Rechtsbehelf an die Hand, sondern werde auf die Liquidation des eingetretenen Schadens verwiesen. In diesem Zusammenhang können aber die bei der völkerrechtlichen Bewertung angeführten Argumente fruchtbar gemacht werden. 584
Wenner, SozSich 2012, 32 (34). Ebenfalls kritisch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 171: Die mit der Obliegenheit verbundene Prozessverantwortung lässt sich nur schwer in das Gefüge von Rechten und Pflichten des Prozessrechtsverhältnisses einordnen. 586 Axer, DVBl 2001, 1322 (1329); Breuer, Staatshaftung, S. 150 ff.; Bäcker, in: Grundrechte und Grundfreiheiten 2012, S. 339 (383). 587 Vgl. BVerfGE 58, 300 (324): „Wer von den ihm durch das Grundgesetz eingeräumten Möglichkeit, sein Recht auf Herstellung des verfassungsmäßigen Zustandes zu wahren, keinen Gebrauch macht, kann wegen eines etwaigen, von ihm selbst herbeigeführten Rechtsverlustes nicht anschließend von der öffentlichen Hand Geldersatz verlangen.“. BGHZ 56, 57 (63): „Es soll nicht erlaubt sein, den Schaden entstehen oder größer werden zu lassen, um ihn schließlich, gewissermaßen als Lohn für die eigene Untätigkeit, dem Beamten oder dem Staat in Rechnung zu stellen.“. 588 So die klare Beurteilung von Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (860); Zimmer, ZInsO 2011, 2302 (2303). 589 Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (860); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 174. Ähnlich Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 343. 585
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Allein die Tatsache, dass es sich bei der Verzögerungsrüge um keinen Rechtsbehelf handelt, rechtfertigt nicht die Annahme, dass ihre obligatorische Erhebung den sekundären Rechtsschutz in unzumutbarer Weise erschwert. Einerseits sind die Anforderungen an die Erhebung der Verzögerungsrüge sehr gering, wenn man bedenkt, dass weder Kosten anfallen (siehe S. 268) noch eine Begründung oder eine besondere Form erforderlich ist. Andererseits besteht nicht nur eine entfernte, theoretische Möglichkeit, dass das Ausgangsgericht mit verfahrensbeschleunigenden Maßnahmen auf die Verzögerungsrüge reagiert, denn sie richtet sich, anders als der Befangenheitsantrag oder die Dienstaufsichtsbeschwerde, gerade gegen die drohende Überlänge des Verfahrens und ist beim Ausgangsgericht zu erheben. Als mögliches Instrument der Schadensabwehr trägt sie damit auch dem Verbot des venire contra factum proprium Rechnung. Aus diesen Gründen beeinträchtigt die Verzögerungsrüge als Tatbestandsmerkmal des Geldentschädigungsanspruches nicht die Effektivität des sekundären Rechtsbehelfs.590 ii. Abschließende Bewertung Der Gesetzgeber hat das bereits beschriebene Dilemma, dass auf der einen Seite die normative Ausgestaltung eines präventiven Rechtsbehelfes den Eintritt einer gewissen Beschleunigungswirkung zwar sicherstellen sollte, auf der anderen Seite aber weitere Verzögerungen dadurch nicht ausgeschlossen werden können, zu lösen versucht, indem er sich gegen die Normierung einer Reaktionspflicht entschieden und die Anordnung beschleunigender Maßnahmen in das Ermessen des Ausgangsgerichtes gestellt hat. So mag es nicht überraschen, dass die Verzögerungsrüge als präventives Rechtsschutzinstrument statt an prominenter Stelle im dritten Absatz der Entschädigungsnorm geregelt ist.591 Diese Minimallösung wird jedoch weder den völker- noch den verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen effektiven Primärrechtsbehelf gerecht. Aus diesem Blickwinkel kann von der Verzögerungsrüge als „zahnlosem Tiger“ noch nicht einmal gesprochen werden. Die Generalkritik, welche die Verzögerungsrüge erfahren hat, ist jedoch nicht berechtigt. Denn als Tatbestandsmerkmal des Geldentschädigungsanspruchs hat sie sehr wohl ihre Berechtigung. Zwar hat die Untersuchung gezeigt, dass die konkrete rechtliche Ausgestaltung an vielen Stellen kompliziert ist und der Gesetzestext deutlicher die Fehlerfolgen einer nicht richtig erhobenen Verzögerungsrüge hätte benennen können. Demnach könnte sich die Verzögerungsrüge für den Verfahrensbeteiligten als Stolperstein auf dem Weg zum effektiven Rechtsschutz erweisen. Die im Rahmen des Evaluierungsberichtes der Bundesregierung erhobenen Zahlen können diese Befürchtung aber nur auf den ersten Blick bestätigen (siehe ausführlich S. 297 ff.). So sind zwar 590 591
A.A. Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 344. Vgl. Sommer, StV 2012, 107 (109).
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
133
im Berichtszeitraum in der ordentlichen Gerichtsbarkeit 18 von insgesamt 26 zulässigen, aber unbegründeten Entschädigungsklagen u.a. wegen Verletzung der Rügeobliegenheit als unbegründet zurückgewiesen worden; in zehn Fällen war die Verzögerungsrüge verfrüht erhoben, in sieben Fällen fehlte eine Verzögerungsrüge.592 Da aber die Entschädigungsgerichte bei 21 der 26 unbegründeten Klagen zu dem Ergebnis kamen, dass eine unangemessene Verfahrensdauer gar nicht vorlag, ist das Hindernis bei der Geltendmachung des Entschädigungsanspruches eher bei diesem Tatbestandsmerkmal zu suchen. Mit der Schaffung der Verzögerungsrüge wird die Problematik der überlangen Gerichtsverfahren nicht nur in den Entschädigungsverfahren thematisiert, sondern auch die Ausgangsgerichte sowie die jeweiligen Geschäftsstellen werden durch die Erhebung einer Verzögerungsrüge im Ausgangsverfahren mit dem Thema konfrontiert und möglicherweise sensibilisiert. Selbst wenn die Verzögerungsrüge also in den konkreten Verfahren keine verfahrensbeschleunigende Wirkung entfaltet, kann die vermehrte Erhebung von Verzögerungsrügen an einem Gericht insofern steuernde Wirkung entfalten, als dass hierauf mit entsprechenden Maßnahmen von Seiten der Geschäftsstelle bzw. des Haushaltsgesetzgebers reagiert werden kann und auch muss. e. Die unangemessene Verfahrensdauer eines Gerichtsverfahrens Haftungsgrund des Entschädigungsanspruches aus § 198 Abs. 1 GVG ist die Verletzung des im GG und in der EMRK verbürgten Anspruchs auf Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit.593 Aus haftungsrechtlicher Sicht knüpft die Verwirklichung des Tatbestandes des § 198 GVG also an Erfolgsunrecht an.594 Demnach ist zentrales Tatbestandsmerkmal des staatshaftungsrechtlichen Entschädigungsanspruches die unangemessene Verfahrensdauer eines Gerichtsverfahrens. Die Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffes hat sich an den vom BVerfG und EGMR entwickelten Maßstäben zu Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK zu orientieren.595 Die Anknüpfung an diese Rechtsprechungspraxis ist dem Gesetzestext aufgrund der Wiedergabe des von beiden Gerichten zur Beurteilung der
592
BT-Drs. 18/2950, S. 11. BT-Drs. 17/3802, S. 2, 18; BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 25, juris; BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 47, juris; BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 38, juris; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 63; Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 5; Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 13. 594 Vgl. Breuer, Staatshaftung, S. 331 ff. 595 BT-Drs. 17/3802, S. 18; BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 29, juris; BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 38, juris; BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 25, juris; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 71; Barthe, in: KK-StPO, § 198 GVG, Rn. 2. Rechtsstaatliche Bedenken 593
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Angemessenheit der Verfahrensdauer herangezogenen Kriterienkataloges erkennbar zu entnehmen596 und entspricht dem in den Gesetzesmaterialien klar zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers597. Danach erfolgt die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer anhand der Umstände des Einzelfalles, wobei sich in § 198 Abs. 1 S. 2 GVG eine beispielhafte, nicht abschließende Aufzählung („insbesondere“) von relevanten Umständen findet598. Demzufolge können insbesondere die Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens als auch das Verhalten von Verfahrensbeteiligten und Dritten eine Rolle bei der Beurteilung der Angemessenheit spielen. Bevor näher darauf eingegangen wird, nach welcher Methode die Angemessenheit der Verfahrensdauer in concreto zu bestimmen ist, wird im Folgenden der Bezugspunkt der Angemessenheit genauer in den Blick genommen. aa. Bezugspunkt der Angemessenheit (1) Gesamtverfahrensdauer als Bezugspunkt der Angemessenheit Aus dem Wortlaut von § 198 Abs. 6 Nr. 1, Abs. 1 S. 1 GVG sowie aus den Gesetzesmaterialien folgt, dass die Dauer des gesamten Gerichtsverfahrens, also die Zeitspanne von dessen Einleitung bis zu dessen (rechtskräftigem) Abschluss, für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer maßgeblich ist.599 Die Gesamtverfahrensdauer als Bezugspunkt der Angemessenheit trägt der Tatsache Rechnung, dass es für die Beurteilung der Angemessenheit entscheidend darauf ankommen muss, dass über das Rechtsschutzbegehren des Verfahrensbeteiligten insgesamt in angemessener Zeit entschieden wurde.600
hinsichtlich der Verwendung des unbestimmten Rechtsbegriffes bestehen daher nicht, Guckelberger, DÖV 2012, 289 (295). 596 Vgl. auch BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 29, juris; BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 38, juris; Böcker, DStR 2011, 2173 (2174), der aber nur auf die Rechtsprechung des EGMR mit dem – zu kurz gegriffenen – Hinweis zurückgreifen will, dass das BVerfG hinsichtlich Art. 19 Abs. 4 GG inzwischen die Rechtsprechung des EGMR zugrunde legt. 597 BT-Drs. 17/3802, S. 18. 598 Vgl. BT-Drs. 17/3802, S. 18. 599 Siehe auch BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 17, juris; OLG Braunschweig, Urt. v. 08.02.2013 – 4 SchH 1/12, Rn. 123, juris; LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, Rn. 203, juris; BT-Drs. 17/3802, S. 18; Ott, in: SteinbeißWinkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 78. A.A. LSG Neustrelitz, Urt. v. 13.02.2013 – L 12 SF 3/12 EK AL, Rn. 44, juris: überlange Verfahrensdauer ist Instanz bezogen festzustellen; LSG Neustrelitz, Urt. v. 22.07.2014 – L 12 SF 47/13 EK U WA, Rn. 35, juris [das hierzu ergangene Revisionsurteil des BSG, Urt. v. 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R, juris, nimmt hierzu keine Stellung, geht aber wohl von der Gesamtverfahrensdauer als Bezugspunkt der Angemessenheit aus]; Stahnecker, Entschädigung, Rn. 66. 600 OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 50, juris.
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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Unerheblich ist also, ob in einzelnen Verfahrensstadien nicht zu rechtfertigende Verzögerungen eingetreten sind. (a) Kompensation von Verzögerungen – Meinungsstand Fraglich ist, ob die Gesamtverfahrensdauer als Bezugspunkt der Angemessenheit zur Folge hat, dass Verzögerungen im Verfahrensverlauf durch eine beschleunigte Verfahrensführung kompensiert werden können. Entgegen der Rechtsprechungslinie des BGH in Strafsachen601 wurde vor Inkrafttreten des ÜGRG von Teilen des Schrifttums abgelehnt, dass die Gesamtverfahrensdauer als Bezugspunkt der Angemessenheit als Rechtfertigung dafür dienen könne, dass Verzögerungen in einem späteren Verfahrensstadium geheilt werden können602. Zum einen habe sich der EGMR hierfür nicht ausgesprochen.603 Dieser lasse einzelne Verzögerungen ausreichen, um die Verfahrensdauer insgesamt für unangemessen zu erklären.604 Zum anderen sei entscheidend, ob der Staat in jedem Verfahrensabschnitt dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gerecht geworden sei605 und das Gericht unter Berücksichtigung der bisherigen Verfahrensdauer und des Verfahrensgeschehens in zeitlicher Hinsicht angemessen gehandelt habe. Insofern seien unangemessene Verzögerungen im Verfahrensverlauf durchaus vorstellbar, die, wenn einmal eingetreten, konsequenterweise nicht durch eine beschleunigte Verfahrensführung kompensiert werden könnten. Denn eine angemessene Gesamtverfahrensdauer trotz einer festgestellten unangemessenen Verzögerung in einem Verfahrensabschnitt könne nicht vorliegen.606 Aus denselben Gründen soll auch eine Kompensation von Verzögerungen nicht möglich sein, wenn das Verfahren vor Eintritt der Verzögerungen zügig betrieben worden ist. Für die betroffene staatliche Stelle sei der weitere Verfahrensverlauf nicht vorhersehbar. Sie könne deswegen nicht beurteilen, 601
Siehe statt vieler BGH NStZ 2004, 504 (504); NStZ 2005, 582 (582 f.). Gaede, wistra 2004, 166 (171 f.); Demko, HRRS 2005, 283 (292 f.); Burhoff, HRRS 2005, 52 (54); Krehl/Eidam, NStZ 2006, 1 (4) mit Bezug auf EGMR, Urt. v. 29.07.2004 – Nr. 49746/99 (Cevizovic./.Deutschland). 603 Demko, HRRS 2005, 283 (292); Burhoff, HRRS 2005, 52 (54). 604 Gaede, wistra 2004, 166 (172); Demko, HRRS 2005, 283 (292); Grabenwarter/Pabel, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 70. In diese Richtung auch Dietrich, ZZP 127 (2014), 169 (185, Fn. 98). 605 Vgl. Gaede, wistra 2004, 166 (172); Krehl/Eidam, NStZ 2006, 1 (4). 606 Bezweifelnd ebenfalls Demko, HRRS 2005, 283 (293). Unklar Gaede, wistra 2004, 166 (172), der zwar die angemessene Verfahrensdauer auf die Fortführungsentscheidungen in den einzelnen Verfahrensstadien beziehen will, dennoch eine Heilung von Verzögerungen für möglich hält, soweit sie durch zusätzliche und ihren Effekt entsprechenden Maßnahmen ausgeglichen werden. Für die Möglichkeit der Heilung trotz Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 19 Abs. 4 GG: LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, Rn. 206, juris. 602
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
welche Verfahrensdauer als angemessen zu bewerten sei.607 Zudem würden hierdurch gerade noch vertretbare Höchstfristen für Gerichtsverfahren etabliert werden.608 Es sei vielmehr auf die angemessene Beschleunigung in den einzelnen Verfahrensabschnitten abzustellen.609 Nach dieser Auffassung ist ein rechtswidriger Zustand eingetreten, der nicht durch eine abschließende Gesamtbewertung beseitigt werden kann. Konsequenz dieser Prüfungsperspektive ist, dass die in den jeweiligen Verfahrensabschnitten tätigen staatlichen Stellen stärker in die Pflicht genommen werden, dem Gebot des rechtzeitigen Rechtsschutzes gerecht zu werden.610 Insofern kann auch ein Teil eines Verfahrens Bezugspunkt der Angemessenheit sein. (b) Kompensation von Verzögerungen – Stellungnahme Anders als im Schrifttum behauptet, ergibt die Judikatur des EGMR diesbezüglich kein einheitliches Bild.611 Zwar ist es zutreffend, dass der Gerichtshof einerseits einzelne Verfahrensverzögerungen hat ausreichen lassen, um eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu bejahen. Andererseits hat er in einer Vielzahl von Entscheidungen die Gesamtverfahrensdauer als Bezugspunkt der Angemessenheit gewählt.612 Vereinzelt hat er sogar festgestellt, dass ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK deswegen nicht vorliege, weil der Rechtsstreit in einem späteren Verfahrensstadium in relativ kurzer Zeit abgeschlossen worden sei. Daher sei die Gesamtverfahrensdauer nicht als unangemessen zu bewerten.613 Teilweise hat der Gerichtshof die Unangemessenheit der Verfahrensdauer auch erst mit der Summe der festgestellten Verzögerungen begründet.614
607
Krehl/Eidam, NStZ 2006, 1 (4); Gaede, wistra 2004, 166 (172). Siehe Demko, HRRS 2005, 283 (293), wobei dieser Umstand nach Meinung von Demko auch gegen eine Heilung von Verzögerungen in einem späteren Verfahrensstadium spricht. Gaede, wistra 2004, 166 (172). 609 Siehe Krehl/Eidam, NStZ 2006, 1 (4); Gaede, wistra 2004, 166 (172); Demko, HRRS 2005, 283 (293). 610 Demko, HRRS 2005, 283 (293). 611 Zutreffend OVG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – OVG 3 A 1.12, Rn. 33 f., juris. Siehe hierzu auch S. 9 ff. 612 Nachweise siehe 2. Kap. Fn. 22. 613 EGMR, Urt. v. 07.01.2010 – Nr. 40009/04 (Koester./.Deutschland), § 151, Hudoc; EGMR, Ent. v. 20.03.2003 – Nr. 75379/01 (Dürig./.Deutschland), Hudoc. In anderen Entscheidungen hat der EGMR hervorgehoben, dass Verzögerungen in einzelnen Verfahrensstadien toleriert werden könnten, wenn die Gesamtlänge nicht unangemessen sei, siehe EGMR, Urt. v. 15.07.2005 – Nr. 57019/00 (Çaplik./.Türkei), § 38, Hudoc; EGMR, Urt. v. 04.02.2010 – Nr. 13791/06 (Gromzig./.Deutschland), § 85, Hudoc; EGMR, Urt. v. 27.06.2000 – Nr. 32842/96 (Nuutinen./.Finnland), § 110, Hudoc. 614 EGMR, Urt. v. 23.04.1987 – Nr. 9616/81 (Erkner u. Hofauer./.Österreich), § 69 f., Hudoc; vgl. auch EGMR (Große Kammer), Urt. v. 29.05.1986 – Nr. 9384/81 (Deume608
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Zu einem ähnlich uneindeutigen Ergebnis gelangt man bei einer Rechtsprechungsanalyse von Entscheidungen des BVerfG.615 Einerseits hat das Verfassungsgericht mehrmals einen Verstoß gegen das Effektivitätsgebot unter Verweis der unangemessenen Verfahrensdauer in einer einzelnen Instanz angenommen und teils darauf hingewiesen, dass eine überlange Verfahrensdauer in anderen Verfahrensstadien nicht vorliege.616 Andererseits finden sich vereinzelt auch Entscheidungen, in denen die Gesamtverfahrensdauer Bezugspunkt der Angemessenheit ist.617 Aus dieser heterogenen Entscheidungspraxis lassen sich demnach keine Maßstäbe für die vorliegende Problematik gewinnen. Zumindest kann aus dieser nicht abgeleitet werden, dass bei Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer allein auf die Fortsetzungsentscheidungen in den einzelnen Verfahrensstadien abzustellen ist. (c) Ergebnis In Anbetracht des eindeutigen Wortlautes von § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG, dass Bezugspunkt der Angemessenheit die Gesamtverfahrensdauer ist, halten es Rechtsprechung618 und Schrifttum619 zutreffend für möglich, dass Verzögerungen durch eine beschleunigte Verfahrensführung in einem späteren Verfahrensstadium kompensiert werden können. Diese Möglichkeit der land./.Deutschland), § 90, Hudoc; EGMR, Urt. v. 10.02.2005 – Nr. 64387/01 (Uhl./.Deutschland), § 33, Hudoc. 615 Zutreffend OVG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – OVG 3 A 1.12, Rn. 33, 35 ff., juris. 616 BVerfG, Beschl. v. 07.06.2011 – 1 BvR 194/11, Rn. 29 ff., juris; BVerfG, Beschl. v. 02.12.2011 – 1 BvR 314/11, Rn. 8, 11, juris. Demgegenüber bezieht sich das BVerfG in Rn. 9 wieder auf die Gesamtverfahrensdauer: „Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Gesamtdauer des Verfahrens…“. Unklar auch in BVerfG, Beschl. v. 14.12.2010 – 1 BvR 404/10, Rn. 16 ff., juris: Zwar sei die Länge des Verfahrens vor dem Sozialgericht nicht verfassungswidrig, die Gesamtverfahrensdauer verstoße aber gegen das Effektivitätsgebot. 617 BVerfG NJW-RR 2010, 207 (209); BVerfG, Beschl. v. 02.12.2011 – 1 BvR 314/11, Rn. 9, juris; BVerfG NJW 1993, 3254 (3255). 618 BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 30, juris; BGH, Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13, Rn. 41, juris; BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 37/13, Rn. 37, juris; BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 17, 44, juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 30.01.2013 – 4 EntV 9/12, Rn. 57, juris; OLG Braunschweig, Urt. v. 08.02.2013 – 4 SchH 1/12, Rn. 130, juris; LSG Potsdam, Urt. v. 13.09.2012 – L 38 SF 73/12 EK AS, Rn. 28, juris; LSG Darmstadt, Urt. v. 06.02.2013 – L 6 SF 6/12 EK U, Rn. 59, juris. Zurückführen lässt sich dieser Ansatz insbesondere auf die Rechtsprechung der Strafsenate des BGH vor Inkrafttreten des ÜGRG. Siehe bspw. BGH NStZ 1999, 313 (313); NStZ 2003, 384 (384); NStZ 2004, 504 (504); BGH NStZ-RR 2006, 50 (51). 619 Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 13; Heine, MDR 2012, 327 (328); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 100 f.; Graf, in: BeckOKStPO, § 198 GVG, Rn. 6a; a.A. Wehrhahn, SGb 2013, 61 (62); wohl auch Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 45.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Kompensierung spiegelt sich auch in der Verzögerungsrüge wider, die bei berechtigter Erhebung eine Beschleunigung des Gerichtsverfahrens bezwecken soll, um so eine unangemessene Verfahrensdauer zu verhindern.620 Vor dem Hintergrund, dass die Haftung des § 198 GVG an Erfolgsunrecht anknüpft, kann es außerdem keinen Unterschied machen, ob Verzögerungen nach oder vor deren Eintritt durch eine zügige Verfahrensführung kompensiert werden, solange die Verfahrensdauer insgesamt angemessen ist.621 Aus diesem Grund muss auch die Kompensation von Verzögerungen möglich sein, wenn das Verfahren vor deren Eintritt zügig betrieben worden ist.622 Inwiefern die Verfahrensführung als derart zügig zu bewerten ist, dass hierdurch Verfahrensverzögerungen kompensiert werden können, obliegt dem Entschädigungsgericht und ist konsequenterweise nach den Umständen des Einzelfalles zu beurteilen. Richtigerweise ist es für die Annahme einer Kompensation von Verzögerungen nicht ausreichend, dass in einem späteren Verfahrensstadium keine weiteren Verzögerungen mehr eingetreten sind.623 Obgleich nach dem Vorstehenden die Gesamtverfahrensdauer maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung der Angemessenheit ist, steht die Regelungssystematik des Gesetzes hierzu scheinbar im Widerspruch. So spricht die Haftungs- und Zuständigkeitsregelung der § 200 GVG i.V.m. § 201 Abs. 1 GVG dafür, dass sich die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer durch das Entschädigungsgericht nur auf den Abschnitt zu beschränken hat, für den der in Anspruch genommene Rechtsträger auch tatsächlich haftet. Daneben ist es nach § 198 Abs. 5 S. 1 GVG möglich, eine Entschädigungsklage bereits vor Abschluss des Ausgangsverfahrens zu erheben. Welcher Bezugspunkt in diesen beiden Fällen für die Angemessenheitsbeurteilung maßgeblich ist und 620
Hierauf ebenfalls hinweisend Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 101. 621 Berücksichtigt man bei Beurteilung einer Verfahrensverzögerung die vorangegangene Verfahrensdauer (siehe unten S. 157 f.), so kann sich die zügige Verfahrensführung in einem frühen Verfahrensstadium dahingehend auswirken, dass nach Abwägung aller Umstände eine Verfahrensverzögerung in einem späteren Verfahrensstadium gerade nicht vorliegt. Insofern ist im Rahmen der Gesamtabwägung die „Heilung“ einer Verzögerung durch die zügige Verfahrensführung in einem früheren Verfahrensstadium nicht gesondert zu berücksichtigen. 622 Graf, in: BeckOK-StPO, § 198 GVG, Rn. 6a; Barthe, in: KK-StPO, § 198 GVG, Rn. 2; Roller, DRiZ Beilage Juni 2012, 1 (7); BVerwG, Urt. v. 27.02.2014 – 5 C 1/13 D, Rn. 30, juris; widersprüchlich Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 101, der zum einen darauf hinweist, dass eine Kompensation nur dadurch stattfinden kann, dass das Verfahren in derselben oder in einer höheren Instanz besonders zügig betrieben wird, zum anderen es aber für möglich hält, dass ein unangemessen langandauernder Verfahrensabschnitt durch einen vorausgegangenen zügig durchgeführten Verfahrensabschnitt geheilt werden kann. 623 Gaede, wistra 2004, 166 (172).
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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ob ein Entschädigungsanspruch auch darauf gestützt werden kann, dass ein einzelner Verfahrensabschnitt unangemessen lang ist, ist im Folgenden Gegenstand der Untersuchung. (2) Bezugspunkt der Angemessenheit bei Haftung unterschiedlicher Rechtsträger § 200 GVG regelt nach dessen Wortlaut lediglich die Haftungsaufteilung zwischen Bund und Ländern bei überlangen Gerichtsverfahren und sagt nichts darüber aus, dass statt der Gesamtverfahrensdauer der jeweilige Haftungsabschnitt Bezugspunkt der Angemessenheit ist. Fernliegend ist diese Annahme aber nicht: Der materiell-rechtlichen Haftungsaufteilung des § 200 GVG entsprechend regelt der § 201 Abs. 1 GVG die Zuständigkeitsverteilung. Für Klagen gegen ein Land ist das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk das streitgegenständliche Verfahren durchgeführt wurde, zuständig; für Klagen gegen den Bund der Bundesgerichtshof. Wäre hinsichtlich beider Entschädigungsansprüche das gesamte Verfahren Bezugspunkt der Angemessenheit, müssten Oberlandesgericht und Bundesgerichtshof die Angemessenheit auch derjenigen Verfahrensabschnitte beurteilen, die gar nicht in den Haftungsbereich des jeweiligen Rechtsträgers fallen würden. Auch die Gesetzesbegründung legt nahe, dass Bezugspunkt der Angemessenheit lediglich derjenige Verfahrensabschnitt ist, für den der Rechtsträger tatsächlich haftet: „Bezugspunkt für die Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer ist grundsätzlich das Gesamtverfahren, soweit es – je nach geltend gemachtem Anspruch – in die Haftungsverantwortung des in Anspruch genommenen Rechtsträgers fällt.“624
Von den Entschädigungsgerichten wurde diese Gesetzesinterpretation (zumindest im Ergebnis) vom BSG aufgegriffen. In einem Entschädigungsverfahren beantragte der Kläger für die unangemessene Verfahrensdauer eines Nichtzulassungsverfahrens vor dem BSG eine angemessene Geldentschädigung.625 Das BSG kam zu dem Ergebnis, dass das Gerichtsverfahren mit der Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde vor dem BSG eingeleitet worden sei626, sodass es ausschließlich die Angemessenheit der Verfahrensdauer des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens beurteilte.627 Gegen dieses Gesetzesverständnis spricht jedoch der klare Wortlaut des § 198 Abs. 6 Nr. 1, Abs. 1 S. 1 GVG sowie die systematische Auslegung des Gesetzes. § 200 GVG normiert gerade keine von § 198 GVG abweichenden 624
BT-Drs. 17/3802, S. 18. Zustimmend Wehrhahn, SGb 2013, 61 (62); Lückemann, in: Zöller-ZPO, § 198 GVG, Rn. 5; Reich, Beschleunigungspflichten, S. 550 f. 625 BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 5, juris. 626 BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 24, juris. 627 BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 24, 38 ff., juris.
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Haftungsvoraussetzungen, sondern bestimmt (lediglich) den Anspruchsgegner des nach den Voraussetzungen des § 198 GVG entstandenen Entschädigungsanspruches. Demnach ist Bezugspunkt der Angemessenheit selbst dann die Gesamtverfahrensdauer, wenn aufgrund der Haftungsaufteilung mehrere Entschädigungsansprüche vorliegen, die klageweise vor unterschiedlichen Gerichten durchgesetzt werden müssen. Entscheidend muss sein, ob über das Rechtsschutzbegehren des Verfahrensbeteiligten insgesamt in angemessener Zeit verhandelt worden ist. So muss Berücksichtigung finden, dass Verzögerungen, die bei Gerichten des Landes eingetreten sind, möglicherweise durch eine zügige Bearbeitung des Verfahrens vor einem Bundesgericht kompensiert worden sind oder, dass eine Verfahrensbeschleunigung trotz langer Verfahrensdauer in den vorangegangenen Instanzen nicht stattgefunden hat und deswegen die Verfahrensdauer insgesamt als unangemessen zu bewerten ist. Demnach ist ungeachtet der unterschiedlichen Haftungsaufteilung die Gesamtverfahrensdauer Bezugspunkt der Angemessenheit.628 Welche Konsequenzen dies für die Prüfungskompetenz der zur Entscheidung berufenen Gerichte hat, wird im Abschnitt über die gerichtliche Geltendmachung des Entschädigungsanspruches zu diskutieren sein.629 (3) Bezugspunkt der Angemessenheit bei laufendem Ausgangsverfahren Da das Recht auf rechtzeitigen gerichtlichen Rechtsschutz bereits vor Abschluss des Ausgangsverfahrens verletzt sein kann, eröffnet § 198 Abs. 5 S. 1 GVG die Möglichkeit, auch während des laufenden Ausgangsverfahrens eine Entschädigungsklage zu erheben, mit welcher der entstandene Entschädigungsanspruch gerichtlich durchgesetzt werden kann.630 Zweifelhaft ist, welcher Bezugspunkt für die Angemessenheit zu wählen ist, da das Verfahren, auf dessen gesamte Dauer abzustellen ist, noch gar nicht abgeschlossen ist. Insofern könnte § 198 Abs. 5 S. 1 GVG eine Durchbrechung vom Grundsatz sein, dass die Gesamtverfahrensdauer Bezugspunkt der Angemessenheit ist. Doch bereits der Wortlaut des § 198 Abs. 5 S. 1 GVG („zur Durchsetzung eines Anspruchs nach Absatz 1“) verdeutlicht, dass sich der Regelungsgehalt der Norm darin erschöpft, klarzustellen, dass die Erhebung einer Entschädigungsklage auch während des noch laufenden Ausgangsverfahrens möglich ist. Das Vorliegen eines Entschädigungsanspruches gem. § 198 Abs. 1 GVG beurteilt sich also nach den allgemeinen Tatbestandsvoraussetzungen, die
628 Im Ergebnis auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 52 (Fn. 67), Rn. 80. 629 Siehe S. 266. 630 BT-Drs. 17/3802, S. 22.
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vollständig vorliegen müssen.631 Eine Modifizierung der materiell-rechtlichen Voraussetzungen enthält § 198 Abs. 5 S. 1 GVG nicht. Daraus folgt, dass eine angemessene Entschädigung für eine überlange Verfahrensdauer vor Abschluss des Ausgangsverfahrens nur dann verlangt werden kann, wenn zum Entscheidungszeitpunkt des Entschädigungsverfahrens die Dauer des Ausgangsverfahrens die Schwelle der Unangemessenheit bereits überschritten hat und dadurch ein endgültiger Nachteil beim Verfahrensbeteiligten eingetreten ist.632 Dies setzt voraus, dass die eingetretenen Verzögerungen in einem späteren Verfahrensabschnitt nicht mehr durch die beschleunigte Verfahrensführung ausgeglichen werden können, also irreparabel sind.633 Dies macht eine prognostische Gesamtwürdigung des noch abzuschließenden Verfahrens erforderlich.634 Im Ergebnis ist also das Ausgangsverfahren von dessen Einleitung bis hin zur letzten mündlichen Verhandlung des Entschädigungsverfahrens auf Verfahrensverzögerungen zu untersuchen. Danach ist anhand einer prognostischen Gesamtwürdigung bezogen auf die Gesamtverfahrensdauer zu beurteilen, ob die Verzögerungen bereits zu einer unangemessenen Verfahrensdauer des Ausgangsverfahrens geführt haben. Auch im Anwendungsbereich von § 198 Abs. 5 S. 1 GVG ist also letztendlich die Gesamtverfahrensdauer Anknüpfungspunkt für die Beurteilung der Angemessenheit. (4) Einzelner Verfahrensabschnitt als Bezugspunkt für die Angemessenheit Wie gesehen, normiert das Gesetz keine Ausnahme von dem Grundsatz, dass Anknüpfungspunkt der Angemessenheit die Gesamtverfahrensdauer ist. Unbeantwortet bleibt damit aber die Frage, ob der Verfahrensbeteiligte den Entschädigungsanspruch auf die unangemessene Dauer lediglich eines Verfahrensabschnittes stützen kann. Zur Verdeutlichung dieser Problematik wird hier ein Entschädigungsverfahren vorgestellt, welches vom OVG Berlin entschieden wurde635: Der Entschädigungskläger erhob im Ausgangsverfahren im Jahr 2003 Anfechtungsklage gegen einen Rückforderungsbescheid des Studentenwerkes vor dem Verwaltungsgericht, welches die Klage nach fast 7-jähriger Verfahrensdauer als unzulässig und unbegründet abwies. 631 BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 37/13, Rn. 29, juris; so auch der eindeutige Gesetzgeberwille BT-Drs. 17/3802, S. 22. 632 BT-Drs. 17/3802, S. 22; so auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 254; BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 37/13, Rn. 30, juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 10.07.2013 – 4 EntV 3/13, Rn. 26 ff., 52, juris. 633 BT-Drs. 17/3802, S. 22; OLG Frankfurt, Urt. v. 10.07.2013 – 4 EntV 3/13, Rn. 37, juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 68, juris; Ott, in: SteinbeißWinkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 254. 634 OLG Frankfurt, Urt. v. 10.07.2013 – 4 EntV 3/13, Rn. 37, juris. 635 Sachverhalt hier stark verkürzt, siehe ausführlich OVG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – OVG 3 A 1.12, Rn. 2-5, juris [aufgehoben durch BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, juris].
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Auf die Berufung des Klägers hin wurde das erstinstanzliche Urteil durch das OVG Berlin nach knapp 2-jähriger Verfahrensdauer Anfang 2012 geändert und der Rückforderungsbescheid zugunsten des Klägers aufgehoben. In seiner im Dezember 2011 erhobenen Entschädigungsklage begehrte der Kläger eine angemessene Entschädigungszahlung sowie die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer bezogen auf das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht. Nach einem richterlichen Hinweis änderte der Kläger seinen Vortrag und stützte seine Anträge hilfsweise auf die Unangemessenheit der gesamten Verfahrensdauer.636
Zu unterscheiden ist hier zwischen der materiell-rechtlichen und der prozessualen Ebene.637 In Bezug auf Erstere stellt sich die Frage, ob der Entschädigungsanspruch auf einen Teil der Verfahrensdauer in der Weise beschränkt werden kann, dass dieser Verfahrensabschnitt maßgeblicher Bezugspunkt der Angemessenheit ist. Auf prozessualer Ebene ist zu klären, ob der Entschädigungskläger sein Klagebegehren auf die unangemessene Verfahrensdauer eines bestimmten Verfahrensabschnittes beschränken kann, obwohl das Ausgangsverfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen wurde. Dieses Problem wird im Rahmen der verfahrensrechtlichen Besonderheiten untersucht (S. 251 ff.). Das erstinstanzlich zuständige OVG Berlin hob in seiner Entscheidung hervor, dass mehrere Anhaltspunkte dafür sprechen würden, den Entschädigungsanspruch in materieller Hinsicht auf die Verfahrensdauer einzelner Rechtsstufen beschränken zu können.638 Somit wäre im Ergebnis die Dauer der einzelnen Rechtsstufen Bezugspunkt der Angemessenheit. Neben der Tatsache, dass eine Entschädigung bereits vor Abschluss des Ausgangsverfahrens verlangt werden könne (§ 198 Abs. 5 S. 1 GVG), spreche auch die Gesetzesbegründung zu § 198 Abs. 3 S. 1 und S. 5 GVG für diese Ansicht.639 Danach sei zum einen die erneute Erhebung einer Verzögerungsrüge erforderlich, wenn das Verfahren vor einem anderen Gericht weiter verzögert werde. Zum anderen müsse der Betroffene in dem Verfahren, für dessen Überlänge er entschädigt werden möchte, eine Verzögerungsrüge erheben. Diese Aspekte würden für die Geltendmachung eines Entschädigungsanspruches auch hinsichtlich einzelner Rechtsstufen sprechen.640 Zudem könne die Betrachtung der Gesamtdauer das Bild der Unangemessenheit verfälschen, wenn man davon ausginge, dass die unangemessene Verfahrensdauer in einer Rechtsstufe und der damit 636
OVG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – OVG 3 A 1.12, Rn. 29, juris. Vgl. BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 18, juris; BVerwG, Urt. v. 27.02.2014 – 5 C 1/13 D, Rn. 12, juris. Zu Recht weist Michl, Anm. z. BVerwG, Urt. v. 27.02.2014 – 5 C 1/13 D u. Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, DVBl 2014, 999 (1001) in diesem Zusammenhang auf die dogmatischen Ungenauigkeiten in den Entscheidungsgründen des BVerwG hin. 638 OVG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – OVG 3 A 1.12, Rn. 30, 41, juris. Befürwortend Heine, MDR 2013, 1081 (1084); Wehrhahn, SGb 2013, 61 (62). 639 OVG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – OVG 3 A 1.12, Rn. 32, juris. 640 OVG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – OVG 3 A 1.12, Rn. 32, juris. 637
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einhergehende Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 19 Abs. 4 GG überhaupt nicht kompensiert werden könne.641 Diesen Überlegungen ist aber aus den oben dargelegten Gründen eine Absage zu erteilen.642 Die Beurteilung, ob die Verfahrensdauer angemessen ist oder nicht, hat sich am Rechtsschutzziel des Verfahrensbeteiligten zu orientieren. Maßgeblich ist, ob über dieses Rechtsschutzziel in angemessener Zeit entschieden worden ist. Demnach kann Bezugspunkt der Angemessenheit nicht ein Teil eines Verfahrens sein, wie auch der Wortlaut des § 198 Abs. 6 Nr. 1, Abs. 1 GVG deutlich macht. Denn hierdurch würde das Bild der Unangemessenheit verfälscht werden. Wie gesehen, kann auch § 198 Abs. 5 S. 1 GVG nichts Gegenteiliges entnommen werden. Zudem kann die Gesetzesbegründung zu § 198 Abs. 3 S. 1 und S. 5 GVG nicht derart verstanden werden, dass einzelne Verfahrensabschnitte Bezugspunkt der Angemessenheit beim Entschädigungsanspruch sein können. Diese Regelungen dienen insbesondere der Warnfunktion der Verzögerungsrüge und sagen nichts über den Bezugspunkt der Angemessenheit aus. Selbst dann, wenn der Entschädigungskläger den Entschädigungsanspruch prozessual auf die unangemessene Dauer eines Verfahrensabschnittes stützt, bleibt in materiell-rechtlicher Hinsicht die Gesamtverfahrensdauer Bezugspunkt für die Frage der Angemessenheit. (5) Ergebnis Die vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung, die Gesamtverfahrensdauer als Bezugspunkt der Angemessenheit zu wählen, bietet einen schlüssigen Lösungsansatz, der sich maßgeblich am Rechtsschutzziel des Verfahrensbeteiligten orientiert und hierin einen legitimen Rechtfertigungsgrund findet. Insofern können Verzögerungen durch eine beschleunigte Verfahrensführung kompensiert werden. Ausnahmen von dieser Gesamtbetrachtung des Verfahrensverlaufes lassen sich dem Gesetz nicht entnehmen. bb. Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer Nachdem festgestellt worden ist, dass die Gesamtverfahrensdauer Bezugspunkt der Angemessenheit ist, soll im Folgenden analysiert werden, nach welcher Methode die Angemessenheit der Verfahrensdauer zu bestimmen ist. Zunächst wird der Frage nachgegangen, inwiefern bei der Prüfung auf absolute
641 OVG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – OVG 3 A 1.12, Rn. 32, juris. In einer späteren Entscheidung hat das OVG Berlin entschieden, dass zumindest in denjenigen Fällen auf die Gesamtverfahrensdauer abgestellt werden müsse, in denen der Verfahrensbeteiligte die Verfahrensdauer der Rechtsmittelinstanz rüge, OVG Berlin, Urt. v. 12.09.2012 – OVG 3 A 2.12, Rn. 23, juris [aufgehoben durch BVerwG, Urt. v. 27.02.2014 – 5 C 1/13 D, juris]. 642 Im Ergebnis auch BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 17, 61, juris.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
oder relative Zeitgrenzen abgestellt werden kann. Danach werden einzelne Parameter herausgearbeitet, anhand derer sich die Angemessenheitsprüfung im Rahmen von § 198 GVG zu orientieren hat und die letztendlich die Prüfungsmethodik bestimmen. (1) Absolute Zeitgrenzen Der Gesetzgeber hat der Beurteilung der Angemessenheit anhand fester Zeitgrenzen, ab deren Überschreiten eine unangemessene Verfahrensdauer anzunehmen ist, durch den deutlichen Gesetzeswortlaut in § 198 Abs. 1 S. 2 GVG eine klare Absage erteilt.643 Maßgeblich sind die Umstände im Einzelfall, sodass ein abstrakt-genereller Maßstab nicht zur Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer herangezogen werden kann.644 Eine solche Herangehensweise würde zwar ein gewisses Maß an Rechtssicherheit bieten, da bei Festlegung genereller zeitlicher Grenzen die Unangemessenheit der Verfahrensdauer problemlos bestimmt und die Abwicklung von Entschädigungsverfahren hierdurch vereinfacht werden könnte.645 Allerdings ist zu befürchten, dass die Überschreitung der festgelegten Zeitgrenzen regelrecht zur Erhebung von Entschädigungsklagen einladen würde646 und sich die Gerichte für die Entscheidung im Rechtsstreit bis zum Erreichen der Höchstdauer Zeit lassen würden647. Zudem kann die Bestimmung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer aufgrund der Andersartigkeit der prozessualen
643
BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 28, juris; BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 26, juris; BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 25, juris. 644 BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 28, juris; BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 26, juris; BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 25, juris; BFH, Urt. v. 17.04.2013 – X K 3/12, Rn. 40 f., juris; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 68; Schenke, NVwZ 2012, 257 (258); Scholz, SGb 2012, 19 (21). 645 Otto, Innerhalb angemessener Zeit, S. 173; vgl. Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205 (207). Auch im Gesetzgebungsverfahren wurde der Wunsch nach klareren Konturen der Angemessenheitsbestimmung erfolglos geäußert, siehe Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 68. Deutlich bereits Vollkommer, ZZP 81 (1968), 102 (110): Gesetzliche Normierung von Zeitgrenzen ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. 646 Vgl. Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205 (207); Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (2); Graf, in: BeckOK-StPO, Vorbem. zu §§ 198 ff. GVG, Rn. 5. 647 Vollkommer, ZZP 81 (1968), 102 (111); Schlette, Angemessene Frist, S. 29; Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 239; Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer, S. 79; Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 90; BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 31, juris.
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Situationen in den Gerichtsverfahren nicht abstrakt erfolgen.648 Eine Festlegung von Zeitgrenzen wäre letztendlich willkürlich649. Auch in dogmatisch-methodischer Hinsicht ist ein genereller Maßstab nicht zu rechtfertigen, denn das Recht auf effektiven Rechtsschutz gewährt den Adressaten einen individuellen Anspruch auf eine zeitlich angemessene Durchführung eines Gerichtsverfahrens650, sodass nur eine Einzelfallbetrachtung der jeweiligen Umstände diesem Individualcharakter gerecht wird. Darüber hinaus lassen sich weder der EMRK noch dem GG feste Zeitvorgaben entnehmen, innerhalb derer ein Verfahren abgeschlossen sein muss. Die Dauer eines Gerichtsverfahrens ist kein absoluter Wert, sondern steht vielmehr in einem immanenten Spannungsverhältnis zu anderen völker- und verfassungsrechtlichen Geboten, die der Forderung nach materieller Gerechtigkeit Rechnung tragen651. Aus diesen Gründen kann die Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer im Rahmen von § 198 Abs. 1 GVG nicht im Wege einer abstraktgenerellen Betrachtung erfolgen.652 (2) Zeitgrenzen als Indiz für die Angemessenheit bzw. Unangemessenheit der Verfahrensdauer Unterschiedlich wird dagegen beurteilt, ob bei Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffes im Rahmen von § 198 Abs. 1 GVG auf Zeitgrenzen abgestellt werden kann, bei deren Über- oder Unterschreiten gewöhnlich von einer unangemessenen oder angemessenen Verfahrensdauer ausgegangen werden kann (relative Zeitgrenzen).
648 BVerfG NJW 2001, 214 (215); BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 26, juris; im Ergebnis auch Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 220; Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205 (207); Graf, in: BeckOK-StPO, § 198 GVG, Rn. 6; Schlette, Angemessene Frist, S. 28 f.: völlig impraktikabel; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 262; Matscher, in: FS Fasching 1988, S. 351 (356); ebenfalls darauf hinweisend BTDrs. 17/3802, S. 18. 649 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 69. 650 OLG Frankfurt, Urt. v. 30.01.2013 – 4 EntV 9/12, Rn. 52, juris. 651 Siehe Kirchhof, DStZ 1989, 55 (55); Kloepfer, JZ 1979, 209 (210); Jaeger, VBlBW 2004, 128 (131); Steger, Überlange Verfahrensdauer, S. 26; Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, S. 29; Hill, JZ 1981, 805 (807); Vollkommer, ZZP 81 (1968), 102 (108); Otto, Innerhalb angemessener Zeit, S. 38; Thienel, ÖJZ 1993, 473 (480). 652 Vor Inkrafttreten des Gesetzes haben dies Lansnicker/Schwirtzek, NJW 2001, 1969 (1970) mit Verweis auf die Entscheidung des EGMR NJW 1997, 2809 (2809 ff.) befürwortet, in der jedoch eine Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer anhand der Einzelfallumstände erfolgt ist, EGMR NJW 1997, 2809 (2810); Waßmer, ZStw 118 (2006), 159 (192): Aufstellung absoluter zeitlicher Grenzen zur Feststellung eines Verfahrenshindernisses.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
(a) Relative Zeitgrenzen vor Inkrafttreten des ÜGRG Ihren Ausgangspunkt hat die Bejahung einer Indizwirkung von gewissen Zeitgrenzen in der Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR. Wie bereits kurz dargestellt, finden sich Entscheidungen des BVerfG, in denen bei der Angemessenheitsprüfung vereinzelt auf die übliche Verfahrensdauer des betreffenden Gerichtszweiges abgestellt wurde.653 Diese Rechtsprechung wurde vor Inkrafttreten insbesondere von der Sozialgerichtsbarkeit aufgegriffen: Übersteige die Verfahrensdauer des Rechtsstreits die „übliche“ Dauer in der Sozialgerichtsbarkeit von drei Jahren je Instanz, sei zu vermuten, dass die Verfahrensdauer unangemessen sei.654 In einigen Entscheidungen des EGMR findet sich der Satz, dass die Dauer eines Jahres pro Instanz gewöhnlich als angemessen zu beurteilen sei („one year per instance may be a rough rule of thumb in Article 6 § 1 cases“655). Teilweise wurde im Schrifttum unter Berufung auf die tatsächliche Entscheidungspraxis des EGMR eine Zwei-Jahres-Grenze vorgeschlagen.656 (b) Relative Zeitgrenzen im Rahmen von § 198 Abs. 1 S. 2 GVG Von Rechtsprechung und Literatur werden auch nach Inkrafttreten des ÜGRG verschiedentlich relative Zeitgrenzen bei Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer zugrunde gelegt, wobei betont wird, dass (dennoch) die Umstände des Einzelfalles maßgeblich bleiben würden. So wird zum Teil auf die Ein-Jahres-Grenze des EGMR mit der Prämisse abgestellt, dass grundsätzlich nur bei Überschreiten dieser Jahresgrenze, der Verfahrensverlauf nach Verzögerungen zu untersuchen sei.657 Ebenfalls mit Verweis auf die Rechtsprechungspraxis des EGMR wird im Schrifttum die Ansicht vertreten, dass bei Überschreiten einer Höchstdauer, die bei acht bis zehn Jahren anzusetzen sei, die Unangemessenheit der Verfahrensdauer regelmäßig
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Nachweise siehe 2. Kap. Fn. 54. Vgl. BSG, Beschl. v. 13.12.2005 – B 4 RA 220/04 B, Rn. 50 f., juris; BSG, Beschl. v. 22.12.2006 – B 2 U 65/06 B, Rn. 11, juris. Kritisch Meyer-Ladewig, Anm. z. BSG, Beschl. v. 13.12.2005 – B 4 RA 220/04 B, SGb 2006, 559 (559 f.). 655 EGMR, Urt. v. 09.10.2008 – Nr. 62936/00 (Moiseyev./.Russland), § 160, Hudoc; EGMR, Urt. v. 08.11.2005 – Nr. 6847/02 (Khudoyorov./.Russland), § 193, Hudoc; EGMR, Urt. v. 20.02.2003 – Nr. 50272/99 (Hutchison Reid./.Großbritannien), § 79, Hudoc; ähnlich EGMR, Urt. v. 26.11.2009 – Nr. 13591/05 (Nazarov./.Russland), § 126, Hudoc. 656 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 199; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 249: 1 ½ bis 2 Jahre; vgl. auch LG Aachen, Urt. v. 05.12.2011 – 71 Ns-1 Js 218/08-61/11, Rn. 100, juris. 657 Böcker, DStR 2011, 2173 (2175); Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 25, 38; LSG Neustrelitz, Urt. v. 13.02.2013 – L 12 SF 3/12 EK AL, Rn. 50, juris; Lückemann, in: Zöller-ZPO, § 198 GVG, Rn. 3: Überlange Verfahrensdauer liegt fern, solange die Zeit von zwei Jahren pro Instanz nicht überschritten ist. 654
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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zu bejahen sei und darüber hinaus die pauschale Betrachtung des gesamten Verfahrens für die Beurteilung der Angemessenheit ausreiche.658 Des Weiteren soll nach Stimmen im Schrifttum der durchschnittlichen Verfahrensdauer bei der Beurteilung der Angemessenheit Bedeutung zukommen.659 In dieselbe Richtung gehen auch einige Entscheidungen von Landessozialgerichten, die an die Rechtsprechung des BSG vor Inkrafttreten des ÜGRG anknüpften.660 So heißt es bspw. in einem Urteil des LSG Mainz: „Bei der Beurteilung der Dauer eines Verfahrens kann von Bedeutung sein, in welcher Zeit vergleichbare Verfahren erledigt werden, sofern die betreffenden statistischen Zahlen nicht eine im Durchschnitt überlange Verfahrensdauer widerspiegeln […]“.661
Das BSG greift seine vorherige Rechtsprechung jedoch nicht auf und geht einen anderen Weg. Die Gewährleistung von Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit hinsichtlich des Anspruchs auf rechtzeitigen Rechtsschutz gebiete es, bei solchen sozialgerichtlichen Rechtsstreitigkeiten, die aufgrund ihrer Struktur und Bearbeitung ähnlich gelagert sind, zeitraumbezogene Konkretisierungen vorzunehmen.662 Eine Verfahrensdauer von zwölf Monaten je Instanz sei regelmäßig als angemessen anzusehen. Dies gelte selbst dann, wenn – vorbehaltlich der Umstände im Einzelfall – in diesem Zeitraum keine konkreten Verfahrensförderungsschritte feststellbar seien, da den Gerichten eine ausreichende Vorbereitungs- und Bedenkzeit einzuräumen sei. Ähnlichkeiten hierzu weist die Rechtsprechung des BFH auf. Der BFH prüft die Angemessenheit der Verfahrensdauer unter Verweis auf die homogene Fallstruktur sowie die einheitliche Bearbeitungsweise der finanzgerichtlichen Klageverfahren nach einem sog. Drei-Phasen-Modell.663 Die erste Phase kennzeichne sich durch die Sammlung des Prozessstoffes, in der vorbereitende Schriftsätze durch die Beteiligten ausgetauscht würden. Es schließe sich die zweite Phase an, in der der Rechtsstreit wegen der Bearbeitung anderer Verfahren nicht gefördert werden könne. Die dritte Phase werde durch Maßnah-
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Böcker, DStR 2011, 2173 (2175); Mack/Wollweber, Stgb 2012, 7 (8). Söhngen, NZS 2012, 493 (494): Pauschalierend kann angenommen werden, dass eine Verfahrensdauer von drei Jahren pro Instanz regelmäßig unangemessen ist. Ebenfalls auf die übliche Verfahrensdauer als angemessene Verfahrensdauer abstellend Roller, DRiZ Beilage Juni 2012, 1 (3 ff.). Ähnlich Grotmann-Höfling, ArbuR 2012, 346 (349 f.). 660 LSG Potsdam, Urt. v. 13.09.2012 – L 38 SF 73/12 EK AS, Rn. 23, juris; LSG Mainz, Urt. v. 25.09.2013 – L 4 SF 40/12 EK AS, Rn. 38, juris [aufgehoben durch BSG, Urt. v. 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R, juris]. 661 LSG Mainz, Urt. v. 25.09.2013 – L 4 SF 40/12 EK AS, Rn. 38, juris. 662 Hierzu und im Folgenden BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R, Rn. 45 ff., juris; BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/14 R, Rn. 46 ff., juris; BSG, Urt. v. 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R, Rn. 26, 33, juris. 663 Siehe hierzu und im Folgenden BFH, Urt. v. 07.11.2013 – X K 13/12, Rn. 67 ff., juris. Zum Drei-Phasen-Modell siehe ausführlich auch Nöcker, AO-StB 2015, 271 (274 f.). 659
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
men eingeleitet, die den Rechtsstreit einer Entscheidung zuführen sollten. Zeitliche Konkretisierungen könnten insbesondere für die zweite Phase getroffen werden, da diese gerichtsorganisatorisch bedingt sei. Insofern spreche bei finanzgerichtlichen Klageverfahren, die keine wesentlichen Besonderheiten aufweisen würden, eine Vermutung dafür, dass die Dauer des Verfahrens angemessen sei, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage die dritte Phase einleite und diese nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen werde, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet ließe.664 Auch in der Verwaltungsgerichtsbarkeit wurden vereinzelt Zeitgrenzen zur Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer herangezogen. Das OVG Berlin-Brandenburg entschied, dass nach Eintritt der Entscheidungsreife des Rechtsstreites den Gerichten ein Zeitraum von zwei Jahren zuzubilligen sei, innerhalb dessen der Rechtsstreit zu entscheiden sei. „Bei Hinzurechnung einer aus Sicht des Klägers unerfreulichen, jedoch noch nicht gegen die vom EGMR zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK entwickelten Maßstäbe verstoßenden Verfahrensdauer von weiteren zwei Jahren erschließt sich, dass die Verfahrensdauer bis September angemessen und von Oktober 2006 bis Januar 2010 […] unangemessen ist.“665
Dieser Rechtsprechungstendenz ist das BVerwG jedoch im Unterschied zum BSG und BFH entgegengetreten.666 (c) Stellungnahme Die Ansicht, dass bei der Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer auf Zeitgrenzen als Indiz bzw. Prüfungsschritt abzustellen ist, ist aus mehreren Gründen abzulehnen. Dabei ist bei der Argumentation zwischen den unterschiedlichen Begründungsmodellen der vertretenen Zeitgrenzen zu differenzieren. (aa) Durchschnittliche Verfahrensdauer Die durchschnittliche bzw. übliche Verfahrensdauer, die in Korrelation zu sachlichen und personellen Ressourcen eines Gerichtes steht667, wurde als Zeitgrenze/Indiz für die Angemessenheit der Verfahrensdauer bereits vor
664 BFH, Urt. v. 07.11.2013 – X K 13/12, Rn. 69, juris; ähnlich bereits BFH, Urt. v. 17.04.2013 – X K 3/12, Rn. 40 ff., juris, mit Bezug auf BVerfG, Beschl. v. 13.08.2012 – 1 BvR 1098/11, juris; BFH, Urt. v. 18.03.2014 – X K 4/13, Rn. 23, juris. 665 OVG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – OVG 3 A 1.12, Rn. 50, juris [aufgehoben durch BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, juris]. Ähnlich auch OVG Bautzen, Urt. v. 15.01.2013 – 11 F 1/12, Rn. 27, juris, welches dem Gericht nach Entscheidungsreife im Regelfall einen Zeitraum von einem Jahr für die Bearbeitung des Verfahrens zubilligt. 666 Siehe nur BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, juris. 667 Ziekow, DÖV 1998, 941 (942).
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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Inkrafttreten des ÜGRG zu Recht als problematisch angesehen.668 Denn der Justizgewährleistungsanspruch darf nicht von der faktischen Ausstattung der Justiz abhängig gemacht werden.669 So zeigen die Statistiken zur durchschnittlichen Verfahrensdauer in Deutschland bereits deutlich, dass nicht nur in den einzelnen Gerichtszweigen, sondern auch in den Bundesländern ganz erhebliche Unterschiede bezüglich der durchschnittlichen Dauer von Gerichtsverfahren bestehen. So dauerte im Jahr 2014 in Bayern ein erstinstanzliches Verfahren beim Amtsgericht, welches mit einem streitigen Urteil endete, durchschnittlich 6,0 Monate, in Bremen 10,6 Monate.670 Die durchschnittliche Dauer eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens 2014 betrug in Rheinland-Pfalz 5,5 Monate, in Mecklenburg-Vorpommern 18,1 Monate.671 Des Weiteren ist unklar, nach welchen Kriterien eine Vergleichsgruppe zu bestimmen ist.672 Zählen hierzu bereits alle Rechtsstreitigkeiten mit einem vergleichbaren Verfahrensgegenstand oder ist innerhalb dieser Gruppe noch einmal danach zu differenzieren, ob das Verfahren als (offensichtlich) unzulässig oder unbegründet abgewiesen wurde? Inwiefern also die durchschnittliche Verfahrensdauer ein (nützlicher) Anhaltspunkt dafür sein soll, die Angemessenheit der Verfahrensdauer zu bestimmen, ist nicht ersichtlich.673 Auch nach der Rechtsprechung des EGMR kann die Dauer eines Gerichtsverfahrens nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass diese innerhalb der europäischen Durchschnittswerte liegt.674
668 Wilfinger, Gebot effektiven Rechtsschutzes, S. 13, 60 f.; BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 34, juris. 669 BVerfGE 36, 264 (275); BVerfG, Beschl. v. 02.07.2003 – 2 BvR 273/03, Rn. 13, juris; BVerfG NJW 2000, 797 (797); NJW 2006, 668 (671). 670 StBA, Fachserie 10 Reihe 2.1, https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Rechtspflege/GerichtePersonal/Zivilgerichte.html, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 26 f. 671 StBA, Fachserie 10 Reihe 2.4, https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Rechtspflege/GerichtePersonal/Verwaltungsgerichte.html, zuletzt geprüft am: 28.07. 2016, S. 25 f. 672 Siehe hierzu auch Ulmer, Anm. z. BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 1/12 KL, SGb 2013, 532 (533). 673 BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 26, juris; BGH, Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13, Rn. 38, juris; BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 29, juris; BVerwG, Urt. v. 26.02.2015 – 5 C 5/14 D, Rn. 28, juris; vom Stein/Brand, NZA 2014, 113 (114); a.A. Ziekow, DÖV 1998, 941 (942), nach dessen Auffassung der unbestimmte Rechtsbegriff dadurch justiziabel gemacht wird; vgl. auch Otto, Innerhalb angemessener Zeit, S. 143 f.; einschränkend Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 87: durchschnittliche Verfahrensdauer bietet allenfalls vergleichenden Rahmen. 674 EGMR, Urt. v. 26.10.1988 – Nr. 11371/85 (Martins Moreira./.Portugal), § 54, Hudoc.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
(bb) „Die“ Ein-Jahres-Grenze des EGMR Der Rekurs auf „die“ Ein-Jahres-Grenze des EGMR hilft bei der Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ebenfalls nicht weiter. Bei der oben zitierten Faustformel des EGMR handelt es sich um ein die Entscheidungen nicht tragendes obiter675, in denen der Gerichtshof über eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK und nicht von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu entscheiden hatte. Vollständig lautet die oben zitierte Faustformel nämlich: „While one year per instance may be a rough rule of thumb in Article 6 § 1 cases, Article 5 § 4, concerning issues of liberty, requires particular expedition.“676
In diesem Zusammenhang soll die Nennung der Ein-Jahres-Grenze wohl vor allem verdeutlichen, dass bei Art. 5 Abs. 4 EMRK andere Maßstäbe als bei Art. 6 Abs. 1 EMRK gelten. Ein Hinweis auf die Ein-Jahres-Grenze bei der Prüfung von Art. 6 Abs. 1 EMRK ist soweit ersichtlich nur in einer Entscheidung des EGMR zu finden, sodass von einem verbindlichen, allgemein gültigen Maßstab nicht ausgegangen werden kann. Zudem relativiert der Gerichtshof in dieser Entscheidung die Ein-Jahres-Regel, indem er betont, dass die Gesamtverfahrensdauer Bezugspunkt der Angemessenheit ist: „While often a year per instance may be taken as reasonable, the overall length of time must be taken into account.“677
Diesen Judikaten kann eine Abkehr von der Einzelfallprüfung nicht entnommen werden, sodass die Umstände des Einzelfalles für die Angemessenheitsprüfung maßgeblich bleiben. Hieraus folgt, dass selbst wenn die Jahresgrenze unterschritten ist, die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Hinblick auf die Einzelfallumstände zu untersuchen ist. Etwas anderes steht weder mit dem Gesetzestext des § 198 Abs. 1 S. 2 GVG noch mit dem Willen des Gesetzgebers im Einklang.678 (cc) Höchstfristen Dieselben Erwägungen beanspruchen auch im Hinblick auf Höchstfristen Geltung, ab deren Überschreiten eine unangemessene Verfahrensdauer vermutet werden soll. So ist freilich zutreffend, dass vom EGMR eine Verletzung des
675
BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 30, juris; vgl. auch OVG Berlin, Urt. v. 12.09.2012 – OVG 3 A 2.12, Rn. 25, juris. 676 EGMR, Urt. v. 20.02.2003 – Nr. 50272/99 (Hutchison Reid./.Großbritannien), § 79, Hudoc. 677 EGMR, Urt. v. 16.01.2003 – Nr. 50034/99 (Obasa./.Großbritannien), § 35, Hudoc. 678 OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2013 – 23 SchH 4/12 EntV, Rn. 73, juris; BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 29, juris; im Ergebnis auch Zimmermann, FPR 2012, 556 (557); Graf, in: BeckOK-StPO, § 198 GVG, Rn. 6.
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Rechts auf angemessene Verfahrensdauer typischerweise679 nach Ablauf dieser Zeitspanne bejaht wird680 und seine Angemessenheitsprüfung in diesen Fällen eher pauschal ausfällt. Dieser empirische Befund kann jedoch nicht zur Grundlage gemacht werden, bei Überschreiten bestimmter Zeitgrenzen im Rahmen von § 198 Abs. 1 GVG auf die Einzelfallprüfung zu verzichten. Denn eine Abkehr von dieser ist den entsprechenden Entscheidungen des EGMR nicht zu entnehmen.681 Zudem – und das ist hier zu betonen – hat der EGMR in seinen Judikaten gerade keine absoluten Zeitgrenzen etabliert.682 Diese lassen sich allein aus der Vielzahl der ergangenen Entscheidungen ableiten und stellen somit keine verbindlichen Leitlinien dar. Auch der Rechtsprechung des BVerfG können keine zulässigen Höchstfristen von Verfahren entnommen werden.683 So hat das BVerfG selbst bei einem 22 Jahre andauernden Rechtsstreit die Umstände des Einzelfalles für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer in den Blick genommen.684 Dementsprechend kann das Überschreiten gewisser Zeitgrenzen nicht dazu führen, dass auf eine Einzelfallprüfung verzichtet wird.685 (dd) Rechtsstaatlich hinzunehmende gerichtliche Untätigkeit Die soeben erörterten Zeitgrenzen werden als Indiz oder Hilfskriterium bei der Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer angesehen. Sie sollen dem Rechtsanwender eine erste Tendenz aufzeigen, ob die Verfahrensdauer als angemessen oder unangemessen zu beurteilen ist, ohne den Blick auf den konkreten Verfahrensverlauf richten zu müssen.
679
So die Formulierung bei Breuer, Staatshaftung, S. 326. Brett, Verfahrensdauer, S. 253; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 249: „Verfahrensdauern von 10 und mehr Jahren werden grundsätzlich als nicht angemessen bewertet.“. Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer, S. 36; Matscher, in: FS Fasching 1988, S. 351 (357); Stabel, Angemessene Dauer, S. 84; Schlette, Angemessene Frist, S. 38; Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 125: Verfahrensdauer von sieben Jahren. 681 Siehe bereits S. 12 ff. 682 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 199; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 249; Gaede, wistra 2004, 166 (169); Breuer, Staatshaftung, S. 325 f.; Brett, Verfahrensdauer, S. 252 f.; Waßmer, ZStw 118 (2006), 159 (173); BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 27, juris. 683 BVerfG NJW 1997, 2811 (2812); NJW 2001, 214 (215); NJW 2013, 3630 (3631). 684 BVerfG NJW-RR 2010, 207 (208). 685 Siehe auch BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 26, juris; OVG Berlin, Urt. v. 12.09.2012 – OVG 3 A 2.12, Rn. 25, juris; LSG Stuttgart, Urt. v. 21.11.2012 – L 2 SF 436/12 EK, Rn. 81, juris; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 88 f.; BFH, Urt. v. 07.11.2013 – X K 13/12, Rn. 61, juris. 680
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Im Gegensatz dazu erreichen die vom BSG und BFH etablierten Zeitgrenzen eine neue Dimension. Sie definieren losgelöst vom konkreten Einzelfall Zeitspannen, in denen die Untätigkeit des Gerichtes aus rechtsstaatlichen Gründen regelmäßig hinzunehmen ist. Der BFH stellt dabei darauf ab, dass aus gerichtsorganisatorischen Gründen die gleichzeitige Bearbeitung aller Fälle gar nicht möglich sei, sodass wegen der Erledigung anderer Verfahren Ruhezeiten im jeweiligen Rechtsstreit hinzunehmen seien. Das BSG knüpft vordergründig an die rechtsstaatlich gebotene Vorbereitungs- und Bedenkzeit an, die dem Gericht bei Bearbeitung des Verfahrens zu gewähren ist. Ein näherer Blick offenbart aber, dass es dem Gericht ebenfalls um die Gewährung nicht zu beanstandender Liegezeiten eines Verfahrens geht, in denen dieses nicht bearbeitet werden muss. So heißt es in einem Urteil des BSG, dass die Ausstattung der Sozialgerichte und die Organisation der Gerichtsgeschäfte dergestalt sein muss, „dass ein Richter oder Spruchkörper die inhaltliche Bearbeitung und Auseinandersetzung mit der Sache wegen anderweitig anhängiger gegebenenfalls älterer oder vorrangiger Verfahren im Regelfall nicht länger als zwölf Monate zurückzustellen braucht.“686
Gänzlich unklar ist, mit welcher Begründung das OVG Berlin-Brandenburg dem Gericht nach Entscheidungsreife einen Zeitraum von pauschal zwei Jahren zubilligt, innerhalb dessen der Rechtsstreit zu entscheiden ist. Zustimmung verdient das Argument, dass dem Ausgangsgericht zweifelsfrei ausreichende Vorbereitungs- und Bedenkzeit zugebilligt werden muss, um eine gerichtliche Maßnahme treffen zu können. Zudem haben die Verfahrensbeteiligten keinen Anspruch darauf, dass sich das Gericht sofort mit ihrer Angelegenheit befasst, sodass sich daraus zwangsläufig gewisse Wartezeiten ergeben.687 Die angemessene Zeitspanne, die dem Gericht für die Vornahme einer Maßnahme zuzugestehen ist, ist aber unter Berücksichtigung dieser beiden Gesichtspunkte (Bearbeitungs- und Wartezeit) anhand der konkreten Maßnahme des konkreten Einzelfalles sowie der bisherigen Dauer des konkreten Verfahrens zu bestimmen und kann nicht pauschal gewährt werden. Dies missachtet das BSG, wenn es ausführt: „Die Vorbereitungs- und Bedenkzeit kann vielmehr auch am Ende der jeweiligen Instanz liegen und in mehrere, insgesamt zwölf Monate nicht übersteigende Abschnitte unterteilt sein.“688
Zudem kann diese Auffassung mit dem verfassungsrechtlichen Gebot, dass sich das zuständige Gericht mit zunehmender Verfahrensdauer nachhaltig um die Förderung und Beendigung des Verfahrens bemühen muss, nur schwerlich
686 BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R, Rn. 45, juris. Ähnlich auch BFH, Urt. v. 07.11.2013 – X K 13/12, Rn. 68, juris. 687 BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R, Rn. 44, juris. 688 BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 12/13 R, Rn. 54, juris.
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in Einklang gebracht werden.689 Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK sind Individualrechte, die hinsichtlich eines konkreten Einzelfalles für jeden Verfahrensbeteiligten gelten. So macht es für die Verfahrensbeteiligten einen Unterschied, ob das Gericht sechs Monate für die Weiterleitung eines Sachverständigengutachtens an die Parteien oder für die Erstellung des Urteils nach Eintritt der Entscheidungsreife benötigt. Zudem kommt es darauf an, zu welchem Zeitpunkt im Verfahrensverlauf diese Maßnahmen getroffen werden. Insofern wird das Zugeständnis einer pauschalen, nicht zu beanstandenden Zeitspanne für gerichtliche Untätigkeit nicht der völker- und verfassungsrechtlich gebotenen Einzelfallbetrachtung gerecht. Es kann auch nicht mit dem Argument gerechtfertigt werden, dass die Zwölf-Monats-Regel Ausdruck davon sei, dass ein Verstoß gegen die Verfahrensgarantie erst bei einer gewissen Erheblichkeit vorliege. Ein solches Gesetzesverständnis ist mit dem Wortlaut des § 198 Abs. 1 S. 2 GVG nicht vereinbar und findet auch in der Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG keine Entsprechung.690 Sowohl das BSG als auch der BFH betonen in ihren Judikaten, dass trotz der von ihnen gewählten Prüfungsmethodik die Umstände des Einzelfalles Maßstab der Angemessenheitsprüfung bleiben. So führt das BSG aus, dass die Zwölf-Monats-Regel den Vorrang der Einzelfallbetrachtung nicht streitig mache und lediglich die sachlichen Anforderungen an die Verfahrensförderung entlang zeitlicher Grenzen verschiebe.691 Dass es sich hierbei aber um eine Prüfungsmethodik handelt, die weder dogmatisch nachvollziehbar noch rechtsstaatlich gerechtfertigt ist, zeigen letztendlich auch die willkürlich herausgegriffenen Zahlen von 12 Monaten in der Sozialgerichtsbarkeit und 24 Monaten in der Finanzgerichtsbarkeit, die sich auch nicht durch unterschiedliche Verfahrensgegenstände oder -situationen rechtfertigen lassen. Darüber hinaus muss man sich fragen, welchen Mehrwert sich die Gerichte von ihrer Vorgehensweise versprechen. Sie verweisen darauf, dass diese der Vorhersehbarkeit sowie der Rechtssicherheit geschuldet sei, relativieren aber ihren Nutzen und ihre Handhabung, indem sie einzelfallgerecht zunächst untersuchen, ob der von ihnen formulierte „Normalfall“, der zur Anwendung der Regelsätze berechtigt, überhaupt vorliegt.692
689
Ebenso Roller, VSSR 2015, 65 (76). So auch das Revisionsurteil des BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 36, juris, zur Entscheidung des OVG Berlin-Brandenburg. Ebenfalls kritisch Steinbeiß-Winkelmann, Anm. z. BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R, SGb 2015, 405 (407 ff.); Böcker, DB 2013, 1930 (1931); Wenner, SozSich 2014, 118 (119). 691 BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 12/13 R, Rn. 56, juris. 692 Siehe Roller, VSSR 2015, 65 (71) bspw. zu den Einschränkungen der Zwölfmonatsregel des BSG. Er sieht den Nutzen dieser zeitlichen Konkretisierungen insbesondere im Bereich der Prozesskostenhilfeverfahren (S. 78). 690
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
(d) Zusammenfassung Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut von § 198 Abs. 1 S. 2 GVG richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles. Diesbezüglich haben sich in den unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten ganz verschiedene Prüfungsmethodiken entwickelt.693 Das Überschreiten gewisser Zeitgrenzen, egal an welchen Tatbestand sie anknüpfen, darf nicht dazu führen, dass auf eine Einzelfallprüfung verzichtet wird.694 Solange dies berücksichtigt wird, kann es zwar nicht als unzulässig bezeichnet werden, zeitliche Grenzen als Indiz, Hilfskriterium oder ersten groben Anhaltspunkt bei der Angemessenheitsprüfung heranzuziehen.695 Fragwürdig ist aber der damit bezweckte Nutzen. Infolge der Vielfalt unterschiedlicher Fallgestaltungen haben derartige Zeitgrenzen nur einen begrenzten Aussagegehalt. Aus diesem Grund tragen sie weder der Rechtssicherheit noch der Vorhersehbarkeit Rechnung. Vielmehr können solche Grenzen den Betroffenen, die vor der Entscheidung stehen, einen Entschädigungsanspruch gerichtlich geltend zu machen, trügerischen Anreiz zur Klageerhebung geben.696 Bei Zugrundelegung von Zeitgrenzen besteht zudem die Gefahr, die Umstände des Einzelfalles bei der Frage der Angemessenheit eben doch nicht hinreichend zu würdigen und dadurch der Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG nicht gerecht zu werden.697 Die Auffassung, gerichtliche Untätigkeit für eine bestimmte, pauschal bemessende Zeitspanne als rechtsstaatlich unbedenklich und unvermeidbar anzusehen, steht jedoch nicht im Einklang mit der völker- und verfassungsrechtlich gebotenen Einzelfallbetrachtung, die im Rahmen von § 198 Abs. 1 GVG vorzunehmen ist. Dieser Ansatz ist daher gänzlich abzulehnen. (3) Die Parameter der Prüfungsmethodik im Rahmen von § 198 Abs. 1 GVG Nach den vorausgehenden Ausführungen eignen sich weder absolute noch relative Zeitgrenzen zur Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer. Vor diesem Hintergrund ist Ziel des folgenden Abschnittes, die 693
Ebenso die Einschätzung der Bundesregierung in ihrem Evaluationsbericht, BT-Drs. 18/2950, S. 32. 694 Siehe auch BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 26, juris; OVG Berlin, Urt. v. 12.09.2012 – OVG 3 A 2.12, Rn. 25, juris; LSG Stuttgart, Urt. v. 21.11.2012 – L 2 SF 436/12 EK, Rn. 81, juris; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 88 f.; BFH, Urt. v. 07.11.2013 – X K 13/12, Rn. 61, juris. 695 Diese Methode anwendend: Rathmann, in: Saenger, ZPO, § 198 GVG, Rn. 11; Schenke, NVwZ 2012, 257 (258); Böcker, DStR 2011, 2173 (2175); Roller, DRiZ Beilage Juni 2012, 1 (6 f.); Graf, in: BeckOK-StPO, Vorbem. zu §§ 198 ff. GVG, Rn. 5; Heine, MDR 2013, 1081 (1084 f.); Stahnecker, Entschädigung, Rn. 75. A.A. BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 29, juris. 696 Ebenso Stotz, jurisPR-SozR 10/2015, Anm. 1. 697 BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 31, juris.
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Grundparameter jeder Angemessenheitsprüfung im Rahmen von § 198 Abs. 1 GVG zu analysieren. (a) Einführung Für die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 19 Abs. 4 GG bzw. Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG ist es nicht erforderlich, zu untersuchen, um wie viel Zeit die angemessene Verfahrensdauer überschritten wurde. Wie erörtert, machen daher weder der EGMR noch das BVerfG in ihren Entscheidungen Ausführungen dazu, wie lange die Zeitspanne der Unangemessenheit der Verfahrensdauer ist. Insofern wird in ihrer Angemessenheitsprüfung nicht immer der konkrete Verfahrensverlauf in den Blick genommen, sondern es erfolgt lediglich eine umfassende Gesamtbetrachtung der einzelnen Umstände. Diese ist ausreichend, um feststellen zu können, ob eine Verletzung dieser Verfahrensgarantie vorliegt. Im Gegensatz dazu spielt die Dauer der Überlänge nach dem ÜGRG eine wichtige Rolle, da nach ihr die Entschädigungshöhe für immaterielle Nachteile nach § 198 Abs. 2 S. 3 GVG berechnet wird. Ebenso kann diese dafür ausschlaggebend sein, ob die Wiedergutmachung auf andere Weise als Kompensationsform für ausreichend erachtet wird, § 198 Abs. 2 S. 2 GVG.698 Da bei Verzögerungen unter einem Jahr eine anteilige Berechnung der Entschädigungshöhe erfolgt699, ist im Prinzip eine monatsgenaue Feststellung der Dauer der Überlänge erforderlich. Infolgedessen muss die Angemessenheitsprüfung bei § 198 GVG nicht nur das Ziel verfolgen, festzustellen, ob das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer verletzt wurde, sondern eben auch, um welche Zeitspanne die angemessene Verfahrensdauer überschritten wurde, um so die konkrete Dauer der Überlänge bestimmen zu können. Einer Übertragung der zudem divergierenden Prüfungsmethoden des BVerfG und des EGMR auf die Angemessenheitsprüfung im Rahmen des § 198 Abs. 1 GVG ist deswegen mit Vorsicht zu begegnen. Nach dem zuvor Gesagten ist zumindest offenkundig, dass mit einer bloßen Gesamtabwägung aller maßgeblicher Faktoren des jeweiligen Verfahrens einzelfallgerecht nicht festgestellt werden kann, wie lange die Dauer der Überlänge ist. Bereits in diesem Zusammenhang kann also konstatiert werden, dass eine solche Prüfungsmethode den hiesigen Vorgaben nicht gerecht wird. Daher werden nachfolgend die Grundparameter für die Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer herausgearbeitet, anhand derer sich eine Prüfungsmethodik bei § 198 Abs. 1 GVG zu orientieren hat. Entscheidend ist hierbei auch, dass Klarheit in das Begriffsdickicht rund um die Angemessenheitsprüfung gebracht wird. Dabei geht es nicht um die Erarbeitung von 698 699
Siehe hierzu ausführlich S. 220 ff. Zum Meinungsstand siehe S. 208 f.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Definitionen, deren Erkenntnisgewinn auch zweifelhaft wäre, sondern vielmehr um das allgemeine Begriffsverständnis und dessen Konkretisierung. (b) Die Untersuchung des Verfahrensverlaufes Um bestimmen zu können, wie lange die Zeitspanne der Überlänge des jeweiligen Gerichtsverfahrens ist, muss notwendigerweise der Blick auf den konkreten Verfahrensverlauf gerichtet werden700. Da der Bezugspunkt der Angemessenheit die Gesamtverfahrensdauer ist, muss auch der Verfahrensverlauf in seiner Gesamtheit untersucht werden, also von der Einleitung des Gerichtsverfahrens bis hin zu dessen (rechtskräftigem) Abschluss (§ 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG). Dies gilt selbst dann, wenn sich das Gerichtsverfahren über mehrere Instanzen erstreckt und die Verfahrensdauer verschiedene Haftungsbereiche nach § 200 GVG berührt.701 Insoweit kann sich an derjenigen Prüfungsmethodik des EGMR orientiert werden, die am Beispiel des Rechtsstreits König./.Deutschland aufgezeigt wurde: Zu Beginn einer jeden Angemessenheitsprüfung ist die zu untersuchende Zeitspanne zu bestimmen. Im Anschluss daran ist der gesamte Verfahrensverlauf in den Blick zu nehmen. (c) Die Überlänge des Gerichtsverfahrens Die Zeitspanne, um welche die angemessene Verfahrensdauer überschritten wird, wird im Folgenden mit dem Begriff der Überlänge beschrieben. Um der Gefahr von Missverständnissen vorzubeugen, wird diesbezüglich bewusst nicht auf den Begriff der Verzögerung zurückgegriffen, welchen der Gesetzgeber in diesem Kontext bei § 198 Abs. 2 S. 3 GVG und § 200 GVG verwendet702, die Entschädigungsgerichte703 und das Schrifttum704 aber mehrheitlich gebrauchen, um einzelne Phasen der Nichtförderung des Verfahrens zu beschreiben.
700 Siehe bspw. OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2013 – 23 SchH 4/12 EntV, Rn. 73, juris: konkrete Betrachtung der einzelnen Verfahrensabschnitte; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 97: Chronologie der Verfahrensabläufe; OLG Frankfurt, Urt. v. 10.07.2013 – 4 EntV 3/13, Rn. 37, juris: Prüfung der einzelnen Verfahrensabschnitte; Bub, DRiZ 2014, 94 (94). 701 Siehe bereits S. 139 f. 702 Siehe hierzu S. 94 und S. 208. 703 Siehe bspw. OLG Celle, Urt. v. 24.10.2012 – 23 SchH 3/12, Rn. 21, juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 30.01.2013 – 4 EntV 9/12, Rn. 56, juris; BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 35, 40, juris; BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 30, juris; OLG Braunschweig, Urt. v. 08.02.2013 – 4 SchH 1/12, Rn. 130, juris. 704 Böcker, DStR 2011, 2173 (2175); Deeg, ArbRAktuell 2012, 415 (417).
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(d) Die Verfahrensverzögerung als maßgebliches Prüfungskriterium Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung ist der Verfahrensverlauf nach Verfahrensverzögerungen zu untersuchen.705 Es ist zu prüfen, ob verfahrensbeschleunigende Maßnahmen durch staatliche Stellen früher hätten ergriffen werden müssen.706 Dass diese Beurteilung eine Abwägung von allen in der jeweiligen Verfahrenssituation relevanten Umstände erfordert und somit der Begriff der Verfahrensverzögerung beliebig austauschbar ist, wurde bereits oben aufgezeigt.707 Nichtsdestotrotz wird aus Klarstellungsgründen an diesem festgehalten und im Folgenden als Synonym für das Ergebnis der dahinter stehenden Abwägungsentscheidung verstanden. Die Untersuchung des Verfahrensverlaufes nach Verzögerungen ermöglicht es, der Eigenart des jeweiligen Gerichtsverfahrens Rechnung zu tragen und insbesondere diejenigen Verfahrensabschnitte herauszufiltern, die wesentlich zur (Über-)Länge des Rechtsstreites beigetragen haben. Dabei sind für jeden Verfahrensabschnitt die jeweiligen maßgeblichen Umstände herauszuarbeiten und eine Abwägung dahingehend vorzunehmen, ob eine dem Staat zurechenbare Verfahrensverzögerung vorliegt oder nicht. Diese Vorgehensweise kann als erster Schritt dafür angesehen werden, die Dauer der Überlänge für jedes Verfahren zu bestimmen. Mit dem Prüfkriterium der Verfahrensverzögerung werden jedoch solche Verzögerungen nicht sachgerecht erfasst, die auf eine fehlerhafte Rechtsanwendung des Gerichtes zurückführbar sind. Denn diese beruhen nicht darauf, dass das Verfahren zu wenig oder gar nicht gefördert worden ist, sondern darauf, dass das Gericht falsch entschieden hat. Inwieweit diese Verzögerungen Anknüpfungspunkt einer Haftung nach § 198 Abs. 1 GVG sein können, wird demnach gesondert zu untersuchen sein (siehe hierzu S. 176 ff.). (e) Die Prüfungsperspektive Die Untersuchung, ob in einzelnen Verfahrensabschnitten Verzögerungen eingetreten sind, wirft unweigerlich die Frage auf, welche Prüfungsperspektive
705 So auch OLG Frankfurt, Urt. v. 30.01.2013 – 4 EntV 9/12, Rn. 56, juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 42, juris; OLG Celle, Urt. v. 24.10.2012 – 23 SchH 3/12, Rn. 21 ff., juris; BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 35, 40, juris; OLG Braunschweig, Urt. v. 08.02.2013 – 4 SchH 1/12, Rn. 144, juris; OVG Bautzen, Urt. v. 15.01.2013 – 11 F 1/12, Rn. 26, juris. Aus der Literatur: Böcker, DStR 2011, 2173 (2174 f.). 706 Siehe bereits S. 13 ff. 707 So wird auch vorgeschlagen, den Verfahrensverlauf dahingehend zu untersuchen, ob Phasen mangelnder Beschleunigung vorgelegen haben bzw. für Phasen der Untätigkeit keine Rechtfertigungsgründe vorliegen, siehe Nachw. Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 98.
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hierbei zugrunde zu legen ist. Ist bei der Entscheidung, ob eine Verfahrensverzögerung vorliegt, die bisherige Verfahrensdauer zu berücksichtigen oder ist jeder Verfahrensabschnitt isoliert zu betrachten? Entscheidungen des EGMR weisen darauf hin, dass der Gerichtshof letztere Prüfungsperspektive zugrunde legt708, indem er für jeden Verfahrensabschnitt isoliert untersucht, inwiefern es zu Verfahrensverzögerungen gekommen ist. Problematisch ist eine gänzlich isolierte Betrachtungsweise aber vor dem Hintergrund, dass ein Gerichtsverfahren ein dynamischer Prozess ist, bei dem die Verfahrensförderung des Gerichtes in Relation zur bisherigen Verfahrensdauer sowie zu ergriffenen Verfahrensmaßnahmen und -ergebnissen steht.709 Insofern behilft sich der EGMR zuweilen mit dem „Kunstgriff“ der Kumulation einzelner festgestellter Verfahrensverzögerungen im Rahmen einer Gesamtbetrachtung, durch die er die Unangemessenheit der Verfahrensdauer begründet. Das BVerfG hingegen betont, dass sich das Gericht mit zunehmender Verfahrensdauer nachhaltig um die Förderung und Beendigung des Verfahrens bemühen muss.710 Dies lässt darauf schließen, dass die bisherige Verfahrensdauer bei der Beurteilung, ob eine Verfahrensverzögerung vorliegt, zu berücksichtigen ist. So ist eine vom Gericht eingeräumte Stellungnahmefrist von acht Wochen zu Beginn des Gerichtsverfahrens grundsätzlich kein Grund zur Annahme einer Verfahrensverzögerung, während die Gewährung dieser Frist nach über zehnjähriger Verfahrensdauer Zweifel aufkommen lässt, ob das Gericht seiner Beschleunigungspflicht hinreichend nachgekommen ist.711 Es ist daher bei der Abwägungsentscheidung zu berücksichtigen, dass sich mit zunehmender Verfahrensdauer der zeitliche Ermessensspielraum des Gerichtes bei der Gestaltung des Verfahrens reduziert. Um diesem Umstand gerecht zu werden, ist aus der Perspektive der bisherigen Verfahrensdauer zu beurteilen, ob eine Verfahrensverzögerung vorliegt oder nicht. Dabei ist vom Entschädigungsgericht ein Ex-ante-Maßstab zugrunde zu legen, d.h. wie das Ausgangsgericht die Sach- und Rechtslage zum jeweiligen Zeitpunkt einschätzen durfte.712 Nachträglich eingetretene Umstände haben daher außer Betracht zu bleiben, denn die Zurechnung einer
708
So bspw. in EGMR, Urt. v. 06.05.1981 – Nr. 7759/77 (Buchholz./.Deutschland), § 5263, Hudoc; EGMR (Große Kammer), Urt. v. 29.05.1986 – Nr. 9384/81 (Deumeland./.Deutschland), § 81-89, Hudoc; EGMR, Urt. v. 23.04.1987 – Nr. 9616/81 (Erkner u. Hofauer./.Österreich), § 69, Hudoc. 709 Vgl. Vollkommer, ZZP 81 (1968), 102 (102). 710 BVerfG NJW 1999, 2582 (2583); NJW 2001, 214 (215); NJW 2004, 3320 (3320); NJW 2008, 503 (504); BVerfG, Beschl. v. 14.12.2010 – 1 BvR 404/10, Rn. 11, juris. 711 Vgl. auch Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 34 f. 712 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 81; BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 41, juris; BGH, Urt. v. 13.02.2014 – III ZR 311/13, Rn. 47, juris; BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/14 R, Rn. 33, juris. Vgl. auch
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Verfahrensverzögerung muss ausscheiden, wenn sich erst im Rahmen einer Expost Betrachtung ergibt, dass sich die vom Gericht ergriffenen Verfahrensmaßnahmen als nicht verfahrensfördernd erwiesen haben. (f) Exkurs: „Unangemessene“ Verfahrensverzögerungen Eine Verfahrensverzögerung ist zu bejahen, wenn nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalles das zur Entscheidung berufene Gericht in der konkreten Verfahrenssituation eine verfahrensfördernde Handlung zu einem früheren Zeitpunkt hätte vornehmen müssen. Zwar ist eine derart festgestellte Verfahrensverzögerung grundsätzlich geeignet, einen Entschädigungsanspruch zu begründen, von einer „unangemessenen“ Verfahrensverzögerung sollte in diesem Zusammenhang aber nicht gesprochen werden. Denn trotz der Prüfungsmethodik, einzelne Verfahrensverzögerungen im Verfahrensverlauf ausfindig zu machen, die potentiell einen Entschädigungsanspruch begründen können, bleibt bei § 198 Abs. 1 GVG die Gesamtverfahrensdauer der Bezugspunkt der Angemessenheit.713 Insofern können Verzögerungen in einem Rechtsstreit eintreten, ohne dass dadurch das Gerichtsverfahren als überlang zu bewerten ist, weil diese bspw. durch eine beschleunigte Verfahrensweise kompensiert wurden. Daher ist es weder zutreffend, die Überlänge mit der Summe aller festgestellten Verzögerungen im Verfahrensverlauf gleichzusetzen714, noch von (einzelnen) „unangemessenen“ Verzögerungen im Verfahrensverlauf zu sprechen715. Aus Klarstellungsgründen sollte daher nur von sachwidrigen Verfahrensverzögerungen gesprochen werden, welche die Unangemessenheit der Gesamtverfahrensdauer begründen können, aber nicht müssen. BVerfG NJW 2013, 3630 (3633). Siehe zur Notwendigkeit einer Ex-post Betrachtung, S. 179 f. 713 Dies berücksichtigend spricht auch nichts dagegen, den Verfahrensverlauf nach einzelnen Verfahrensverzögerungen hin zu untersuchen, vgl. auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 79. 714 So dezidiert auch BGH, Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13, Rn. 41, juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 30.01.2013 – 4 EntV 9/12, Rn. 57, juris; Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 24. Anders im Ergebnis aber OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2013 – 23 SchH 4/12 EntV, Rn. 84 ff., juris: Das OLG Karlsruhe überprüft, ob in einzelnen Verfahrensabschnitten unangemessene Verzögerungen aufgetreten sind. Stellt das Gericht mehrere unangemessene Verzögerungen in einzelnen Verfahrensabschnitten fest, werden diese addiert und ergeben die Dauer der Überlänge (Rn. 111); ebenso OVG Magdeburg, Urt. v. 25.07.2012 – 7 KE 1/11, Rn. 64 ff., juris; wohl auch BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 41 f., juris. 715 So aber Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 99; Heine, MDR 2013, 1081 (1085); OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2013 – 23 SchH 4/12 EntV, Rn. 75 ff., juris; OVG Magdeburg, Urt. v. 25.07.2012 – 7 KE 1/11, Rn. 66, juris; Böcker, DStR 2011, 2173 (2175); OLG Braunschweig, Urt. v. 08.02.2013 – 4 SchH 1/12, Rn. 130, juris; OLG Celle, Urt. v. 24.10.2012 – 23 SchH 3/12, Rn. 22, juris; ähnlich Heine, MDR 2012, 327 (328).
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(g) Ergebnis Der Begriff der Verfahrensverzögerung ist unterschiedlich konnotiert. Der Gesetzestext bezeichnet damit die Zeitspanne, um welche die angemessene Verfahrensdauer überschritten wird. Mehrheitlich werden mit dem Begriff der (Verfahrens-)Verzögerung jedoch Phasen der unzureichenden gerichtlichen Verfahrensförderung beschrieben, nach denen der Verfahrensverlauf zu untersuchen ist. Die Beurteilung, ob eine Verfahrensverzögerung als maßgebliches Prüfungskriterium der Angemessenheitsprüfung vorliegt, erfordert es, alle Umstände des Einzelfalles in der jeweiligen Verfahrenssituation in Relation zueinander zu setzen und abzuwägen. Beim Abwägungsvorgang darf die bisherige Verfahrensdauer nicht außer Betracht gelassen werden. (4) Die Umstände im Einzelfall Nachdem die Grundparameter der Angemessenheitsprüfung näher konkretisiert worden sind, bleibt zu erörtern, welche Kriterien bei der Beurteilung, ob eine Verfahrensverzögerung vorliegt, eine Rolle spielen. Wie gesehen, ist die Feststellung von Verfahrensverzögerungen der erste Schritt zur Bestimmung der (un-)angemessenen Verfahrensdauer. Da sich nach dem Gesetzeswortlaut des § 198 Abs. 1 S. 2 GVG die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles richtet, gilt dies gleichfalls für die Abwägungsentscheidung im Hinblick auf das Vorliegen einer Verfahrensverzögerung. In § 198 Abs. 1 S. 2 GVG findet sich eine beispielhafte, nicht abschließende Aufzählung von relevanten Umständen. Demzufolge können insbesondere die Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens als auch das Verhalten von Verfahrensbeteiligten und Dritten eine Rolle bei der Beurteilung der Angemessenheit spielen. Hierbei sind – um auf Böckers Analyse zurückzukommen716 – die Bedeutung des Rechtsstreits sowie die Schwierigkeit des Verfahrens maßgeblich für die Beurteilung, ob eine Verfahrensverzögerung vorliegt. Das Verhalten von Verfahrensbeteiligten und Dritten entscheidet darüber, wem die Verfahrensverzögerung zugerechnet werden kann. Die folgenden Ausführungen veranschaulichen anhand von Beispielen die vorbezeichneten Kriterien, wenngleich eine Darstellung in allen Einzelheiten der Kommentarliteratur vorbehalten bleibt. (a) Schwierigkeit des Verfahrens Sowohl tatsächliche als auch rechtliche Umstände können Grund für die Schwierigkeit eines Rechtsstreites sein. Als schwierig gelten regelmäßig Streitigkeiten mit mehreren Beteiligten, einem komplexen Sachverhalt, umfangreichen Beweisaufnahmen, Auslandsbezug, wiederholten Änderungen 716
Siehe S. 13 ff.
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des Streitgegenstandes und ungeklärten Rechtsfragen.717 Letztendlich verbieten sich jedoch diesbezügliche Pauschalierungen; es ist auf den Einzelfall abzustellen. Insofern ist auch die Kategorisierung von unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen nicht gewinnbringend.718 Für die Beurteilung, ob eine Verfahrensverzögerung vorliegt, spielt die Schwierigkeit des Verfahrens nur eine untergeordnete Bedeutung. Sie vermag im Ergebnis nur erklären, dass schwierige Verfahren regelmäßig zeitintensiver sind als einfach gelagerte Rechtsstreitigkeiten. Bezüglich der Bestimmung einer Verfahrensverzögerung spielt vielmehr eine Rolle, wie die Schwierigkeit der jeweiligen Verfahrenssituation zu beurteilen ist. Zwar legt der Wortlaut des § 198 Abs. 1 S. 2 GVG nahe, dass die Kriterien der Schwierigkeit und der Bedeutung auf den Gesamtkontext des Verfahrens zu beziehen sind und nicht auf einzelne Verfahrensabschnitte. Da es sich dabei aber um eine beispielhafte Aufzählung handelt, spricht nichts dagegen, auch die Schwierigkeit einzelner Verfahrenshandlungen zu berücksichtigen. So kann es sich zwar um einen insgesamt komplexen und rechtlich anspruchsvollen Rechtsstreit handeln, einzelne Verfahrensabschnitte können jedoch in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht einfach gelagert sein. Diese Vorgehensweise, die eine viel differenziertere Analyse der Umstände des Einzelfalls gewährleistet, steht somit weder im Widerspruch zum Wortlaut noch zur Intention des Gesetzes, welches gerade eine einzelfallabhängige Prüfung im Blick hat. So ist die Prüfung von schwer verständlichen und sehr umfangreichen Vorträgen des Rechtsschutzsuchenden schwierig und regelmäßig zeitintensiv719, während die Weiterleitung eines Sachverständigengutachtens unabhängig von der Rechtsmaterie des Verfahrens unkompliziert ist. (b) Bedeutung des Verfahrens Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist auch die Bedeutung des Verfahrens zu berücksichtigen. Bedeutsam ist ein Verfahren dann, wenn ein Interesse an einer baldigen Entscheidung besteht.720 Offen bleibt nach dem Gesetzeswortlaut, auf welches Bezugsobjekt hierbei abzustellen ist. In Anlehnung an die Gesetzesbegründung721 wird vertreten, dass nicht nur auf die Bedeutung des Rechtsstreits für den Verfahrensbeteiligten abzustellen sei, sondern auch inwieweit das Verfahren für die Allgemeinheit von Relevanz
717
Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 110. So aber in Anlehnung an den EGMR OVG Magdeburg, Urt. v. 25.07.2012 – 7 KE 1/11, Rn. 39 ff., juris. Wie hier Wehrhahn, SGb 2013, 61 (64). 719 Siehe hierzu LSG Stuttgart, Urt. v. 21.11.2012 – L 2 SF 436/12 EK, Rn. 84, juris. 720 Schenke, NVwZ 2012, 257 (259). 721 BT-Drs. 17/3802, S. 18. 718
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sei722. Diese wohl auch im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR stehende Auffassung723 widerspricht jedoch dem dogmatischen Grundgefüge des Entschädigungsanspruches, der die Missachtung des individuellen grund- und völkerrechtlichen Anspruchs auf rechtzeitigen Rechtsschutz sanktioniert.724 Die Bedeutung des Verfahrens erhöht sich für den Rechtsschutzsuchenden nicht deswegen, weil es sich um ein Musterverfahren handelt, welches auch für andere Klagen Geltung beansprucht.725 Wollte man dennoch die Bedeutung des Verfahrens für die Allgemeinheit berücksichtigen, wäre dieser Tatsache zumindest auf Rechtsfolgenseite hinreichend Rechnung zu tragen. Darüber hinaus ist umstritten, ob die Bedeutung für den Verfahrensbeteiligten allein nach objektiven Kriterien zu bestimmen ist oder ob auch individuelle Umstände aus der Sphäre des Verfahrensbeteiligten, wie bspw. dessen bevorstehende Insolvenz, zu berücksichtigen sind. Gegen die Beachtung solch subjektiver Faktoren wird eingewandt, dass alle Rechtsschutzsuchenden gleichermaßen einen Anspruch auf rechtzeitige Entscheidung haben, unabhängig davon, ob und wie sie es verstehen würden, die aus ihrer Sicht bestehende Dringlichkeit geltend zu machen.726 Umstände, die dem allgemeinen Lebensrisiko zuzuordnen seien, könnten grundsätzlich keine Bevorzugung von Rechtsstreitigkeiten gegenüber anderen Verfahren begründen.727 So seien für die Beurteilung der Bedeutung des Verfahrens allein Umstände objektiver Art maßgeblich, die sich aus der Heranziehung des Akteninhalts ergeben würden.728 Sowohl die in § 198 Abs. 3 S. 3 GVG normierte Hinweisobliegenheit des Verfahrensbeteiligten als auch die Gesetzesbegründung729 sprechen dafür, dass für die Bedeutung des Verfahrens auch solche Faktoren maßgeblich sein können, die außerhalb des eigentlichen Verfahrens liegen. Wie bereits erörtert, können diese bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer jedoch nur Berücksichtigung finden, wenn das Gericht von diesen Kenntnis hatte.730 Den vorgebrachten Argumenten kann entgegengehalten werden, dass 722 Schenke, NVwZ 2012, 257 (259); Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (2); Deeg, ArbRAktuell 2012, 415 (417); Reich, Beschleunigungspflichten, S. 544. Ablehnend Roller, DRiZ Beilage Juni 2012, 1 (10). 723 So zumindest EGMR, Urt. v. 27.07.2000 – Nr. 33379/96 (Klein./.Deutschland), § 46, Hudoc. Beschwerdegegenstand dieser Individualbeschwerde war jedoch die Verfahrensdauer in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren, in dem fundamentale für eine Vielzahl von Personen relevante Rechtsfragen entschieden wurden. 724 Kritisch bereits zur EGMR-Rechtsprechung Brett, Verfahrensdauer, S. 271 f. 725 So das OVG Berlin, Urt. v. 26.02.2013 – OVG 3 A 6.12, Rn. 27, juris. 726 Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 328. 727 Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 328. 728 Offen bleibt bei Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 328, ob diese Ansicht de lege lata oder de lege ferenda Geltung beanspruchen soll. 729 BT-Drs. 17/3802, S. 21. 730 Siehe S. 115 f.
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das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer ein subjektives Recht eines jeden Einzelnen ist, sodass die Werteentscheidung des Gesetzgebers, auch Umstände individueller Art bei der Angemessenheitsprüfung zu berücksichtigen, nicht zu beanstanden ist. Zudem kann aus der objektiven Bedeutsamkeit eines Verfahrens nicht zwingend geschlussfolgert werden, welchen Stellenwert der Rechtsstreit für den Verfahrensbeteiligten hat. Steht das Verhalten des Entschädigungsklägers bspw. im Widerspruch zur alsbaldigen Erledigung des Rechtsstreits, können hieraus durchaus Rückschlüsse für sein Interesse an einer baldigen Entscheidung gezogen werden.731 Im Ergebnis ist es daher überzeugend, neben objektiven Faktoren auch individuelle Umstände aus der Sphäre des Verfahrensbeteiligten zu berücksichtigen. Die Bedeutung eines Verfahrens bemisst sich insbesondere an den Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer und der damit verbundenen Schwebelage.732 Abzustellen ist dabei auf die Sichtweise eines verständigen Betroffenen.733 Sie hängt eng mit dem Gegenstand und der Art des Verfahrens zusammen. Rechtsstreitigkeiten aus dem Bereich des Sorge- und Umgangsrechts weisen regelmäßig eine besondere Bedeutung für die Verfahrensbeteiligten auf, denn hier besteht die Gefahr, dass allein durch die fortschreitende Verfahrensdauer eine faktische Entscheidung in der Sache herbeigeführt wird (bspw. durch die Entfremdung zwischen Eltern und Kind).734 Gleiches gilt für arbeitsrechtliche Fälle735, insbesondere wenn es um das berufliche Fortkommen des Betroffenen geht. Hängt vom Ausgang des Rechtsstreites die wirtschaftliche Existenz ab736 oder ist der Eintritt irreparabler Nachteile zu befürchten737, spricht dies ebenfalls für die Bedeutsamkeit des Verfahrens. Aus der Tatsache, dass der Betroffene keinen einstweiligen Rechtsschutz in Anspruch genommen hat, kann nicht geschlussfolgert werden, dass ein Interesse an einer alsbaldigen Entscheidung nicht besteht. Dies ergibt sich bereits aus den unterschiedlichen Rechtsschutzzielen beider Verfahren. (c) Verhalten von Verfahrensbeteiligten und Dritten Ein Verstoß gegen das völker- und verfassungsrechtlich verankerte Recht auf angemessene Verfahrensdauer kann nur bejaht werden, wenn dieser dem Staat 731 LSG Stuttgart, Beschl. v. 28.11.2012 – L 2 SF 1495/12 EK, Rn. 23, juris; LSG Stuttgart, Urt. v. 20.02.2013 – L 2 SF 1495/12, Rn. 62, juris. 732 Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (2). 733 BT-Drs. 17/3802, S. 18. 734 BGH, Urt. v. 13.03.2014 – III ZR 91/13, Rn. 41, juris. In welchem Maße eine Förderungspflicht in diesen Fällen besteht, hängt entscheidend vom Alter des Kindes ab. 735 Siehe auch das arbeitsgerichtliche Beschleunigungsgebot in §§ 9 Abs. 1, 61a Abs. 1 ArbGG. 736 EGMR NJW 2010, 3355 (3356, Rn. 45). 737 LSG Stuttgart, Urt. v. 21.11.2012 – L 2 SF 436/12 EK, Rn. 89, juris.
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zurechenbar ist, also seiner Verantwortungssphäre zugeordnet werden kann738. Das Vorliegen eines schuldhaften Verhaltens setzt der Haftungstatbestand des § 198 GVG aber nicht voraus.739 Eine Risikohaftung in dem Sinne, dass der Staat als Träger des Gewaltmonopols für sämtliche Verzögerungen haftet, die nicht im Verantwortungsbereich des Entschädigungsklägers liegen, existiert nicht.740 Lässt sich eine Verzögerung demnach nicht der staatlichen Sphäre zurechnen, verlängert sich in der Konsequenz die angemessene Verfahrensdauer um diese Zeitspanne.741 Nach § 198 Abs. 1 S. 2 GVG ist jedes Verhalten, d.h. jedes Tun und Unterlassen742, von Verfahrensbeteiligten und Dritten für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer maßgeblich. Der Begriff der Verfahrensbeteiligten ist in § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG legal definiert, sodass im Umkehrschluss Dritter derjenige ist, der im konkreten Gerichtsverfahren kein Verfahrensbeteiligter ist.743 Inwieweit das Verhalten von Dritten und Verfahrensbeteiligten der staatlichen Verantwortungssphäre zugerechnet werden kann, muss im Einzelfall geprüft werden und ist Gegenstand folgender Untersuchung, die sich aber darauf beschränkt, die in diesem Bereich neuralgischen Punkte zu beleuchten. (aa) Entschädigungskläger Verzögerungen, die durch das Verhalten des Entschädigungsklägers im Ausgangsverfahren verursacht worden sind, führen nicht zur Annahme einer dem Staat zurechenbaren, sachwidrigen Verzögerung.744 Vielmehr haben diese bei
738 Priebe, in: Grundrechtsschutz im nationalen und internationalen Recht 1983, S. 287 (303); Schlette, Angemessene Frist, S. 36; vgl. auch st. Rspr. BVerfG NVwZ-RR 2011, 625 (626); BVerfG NVwZ 2004, 334 (335); BVerfG NZS 2010, 381 (382); BVerfG, Beschl. v. 02.09.2009 – 1 BvR 3171/08, Rn. 22, juris; BVerfG, Beschl. v. 14.12.2010 – 1 BvR 404/10, Rn. 11, juris. 739 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 126; OVG Magdeburg, Urt. v. 25.07.2012 – 7 KE 1/11, Rn. 62, juris; Böcker, DStR 2011, 2173 (2174). Bezogen auf das richterliche Verhalten: BT-Drs. 17/3802, S. 19; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (2); a.A. Magnus, ZZP 125 (2012), 75 (80 ff.): Abgrenzung nach Verantwortungsbereichen kommt im Kern einer Verschuldensprüfung gleich. 740 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 114. 741 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 115; LSG Potsdam, Urt. v. 13.09.2012 – L 38 SF 73/12 EK AS, Rn. 24, juris. 742 Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 8. 743 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 113; Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 7. 744 OLG Frankfurt, Urt. v. 10.07.2013 – 4 EntV 3/13, Rn. 35, juris; BGH, Urt. v. 13.02.2014 – III ZR 311/13, Rn. 42, juris; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (2); Beispiele von Verhaltensweisen, die in die Verantwortungssphäre des Entschädigungsklägers fallen bei Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 117; Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 33.
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der Frage der Angemessenheit außer Betracht zu bleiben, sind also „neutral“.745 Dem Entschädigungskläger sind auch Verzögerungen, die durch das Verhalten seines Vertreters eingetreten sind, zuzurechnen.746 Auf eine Prozessverschleppungsabsicht bzw. missbräuchliches Verhalten des Verfahrensbeteiligten kommt es demnach nicht an.747 Fraglich ist, inwieweit bei der Abwägungsentscheidung Berücksichtigung finden kann, dass der Verfahrensbeteiligte nicht aktiv auf die Beschleunigung des Verfahrens hingewirkt hat, indem er bspw. Sachstandsanfragen bei Gericht eingereicht hat. Insbesondere im Hinblick auf die im Zivilprozess geltende Parteimaxime könnte argumentiert werden, dass es vornehmlich im Verantwortungsbereich der Parteien liege, die Beschleunigung des Rechtsstreites voranzutreiben. Ein solcher Ausgangspunkt ist für die Frage der Zurechenbarkeit von Verzögerungen aber nicht weiterführend, da trotz vorherrschender Parteimaxime das Gericht nicht von seiner Pflicht zur zügigen Verfahrensführung befreit wird.748 Somit muss im Einzelfall geprüft werden, in welchen Verantwortungsbereich die Verzögerung des Verfahrens fällt. (bb) Sonstige Verfahrensbeteiligte Verzögerndes Verhalten von sonstigen Verfahrensbeteiligten fällt grundsätzlich nicht in den Verantwortungsbereich des Staates. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Gericht es im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten unterlassen hat, Abhilfe zu schaffen.749 (cc) Sachverständige Im Zusammenhang mit der präventiven Wirkung der Verzögerungsrüge wurde bereits erörtert, dass die Einholung von Sachverständigengutachten in vielen Rechtsstreitigkeiten eine maßgebliche Ursache für eine lange Verfahrensdauer ist.750 Da der Sachverständige aber Dritter i.S.v. § 198 Abs. 1 S. 2 GVG ist, kann sein Verhalten nicht ohne Weiteres dem Staat zugerechnet werden. 745
OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 56, juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 05.06.2013 – 4 EntV 10/12, Rn. 72, juris. 746 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 124. 747 BGH, Urt. v. 13.02.2014 – III ZR 311/13, Rn. 42, juris; BGH, Urt. v. 13.03.2014 – III ZR 91/13, Rn. 43, juris. 748 EGMR, Urt. v. 06.05.1981 – Nr. 7759/77 (Buchholz./.Deutschland), § 50, Hudoc; EGMR, Urt. v. 11.01.2007 – Nr. 20027/02 (Herbst./.Deutschland), § 78, Hudoc; EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2393, Rn. 129); EGMR, Urt. v. 04.04.2002 – Nr. 45181/99 (Volkwein./.Deutschland), § 36, Hudoc; Dietrich, ZZP 127 (2014), 169 (181); Reiter, AD LEGENDUM 2015, 151 (154). 749 Exemplarisch hierfür BVerfG NJW 1997, 2811 (2812). 750 OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub. uni-hamburg.de/epub/volltexte/2013/17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 137 ff., 180.
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Insofern ist von erheblicher Bedeutung und praktischer Relevanz, inwieweit Verzögerungen, die durch den Sachverständigen verursacht worden sind, in den staatlichen Verantwortungsbereich fallen. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass das den Rechtsstreit bearbeitende Gericht mit den ihm offenstehenden prozessualen Mitteln auf eine zügige Arbeit des Sachverständigen hinwirken muss. Ergreift es diese nicht, kann das gerichtliche Verhalten Anknüpfungspunkt rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen sein.751 Die ZPO eröffnet in diesem Zusammenhang mehrere Möglichkeiten: Zum einen soll das Gericht die Beauftragung eines Sachverständigen mit der Fristsetzung der Gutachtenerstellung verbinden (§ 411 Abs. 1 ZPO). Zum anderen können Zwangsmaßnahmen (bspw. Ordnungsgeld, § 411 Abs. 2 S. 1 ZPO) angeordnet werden, um die Erstattung des Gutachtens innerhalb angemessener Zeit zu erreichen. Drängt sich ein Wechsel des Sachverständigen auf und ordnet das Gericht diesen nicht an, können die hierdurch entstandenen Verfahrensverzögerungen ebenfalls der staatlichen Verantwortungssphäre zugerechnet werden. Dasselbe gilt, wenn das mit der Sache befasste Gericht bestehende Handlungsalternativen bei der Auswahl der Sachverständigen unberücksichtigt gelassen hat.752 In diesem Zusammenhang ist die Feststellung des Entschädigungsgerichtes ausreichend, dass verfahrensbeschleunigende Maßnahmen zur Verfügung gestanden haben, diese aber nicht ergriffen worden sind.753 (dd) Staatliche Stellen Nach der Legaldefinition des § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG sind staatliche Stellen keine Verfahrensbeteiligte, selbst wenn diese als Partei oder Beteiligte in einem Rechtsstreit auftreten, sodass sie Dritte i.S.v. § 198 Abs. 1 S. 2 GVG sind.754 Der EGMR rechnet dem staatlichen Verantwortungsbereich Verzögerungen zu, die sowohl durch staatliche Stellen als Partei des Rechtsstreits als auch durch staatliche im gerichtlichen Verfahren beteiligte Behörden verursacht worden sind.755 Im Rahmen von § 198 GVG wird dagegen vertreten, dass eine 751 BVerfG, Beschl. v. 23.05.2012 – 1 BvR 359/09, Rn. 11, juris; BVerfG NJW 1999, 2582 (2583); NJW 2008, 503 (504); NJW 2001, 214 (215); BVerfG, Beschl. v. 02.09.2009 – 1 BvR 3171/08, Rn. 35, juris; EGMR, Urt. v. 16.07.2009 – Nr. 1126/05 (D.E./.Deutschland), § 69, Hudoc; EGMR, Urt. v. 04.04.2002 – Nr. 45181/99 (Volkwein./.Deutschland), § 39, Hudoc; EGMR, Urt. v. 26.10.1988 – Nr. 11371/85 (Martins Moreira./.Portugal), § 60, Hudoc; EGMR, Urt. v. 24.06.2010 – Nr. 17384/06 (Kuchejda./.Deutschland), § 52 f., Hudoc. 752 BT-Drs. 17/3802, S. 18. 753 Vgl. BVerfG NJW 2001, 214 (215); BVerfG NJW-RR 2010, 207 (209, Rn. 29). 754 BT-Drs. 17/3802, S. 18. 755 Thienel, ÖJZ 1993, 473 (484); Niesler, Angemessene Verfahrensdauer, S. 122; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 253; EGMR, Urt. v. 26.10.1988 – Nr. 11371/85 (Martins Moreira./.Portugal), § 60, Hudoc.
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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Zurechnung von Verzögerungen nur stattfinde, wenn dem Gericht Abhilfemaßnahmen zur Verfügung gestanden hätten, es diese aber nicht ergriffen habe756. Denn das ÜGRG verfolge einen eingeschränkten Regelungsansatz, nach dem eine Haftung nur für gerichtliche Versäumnisse in Frage komme.757 Außerdem habe das BVerfG in einer Verfassungsbeschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer eine 17-monatige Verzögerung des beklagten Landes in dem Ausgangsverfahren nicht zum Anknüpfungspunkt eines Verstoßes gegen das Effektivitätsgebot gemacht.758 In der Tat heißt es in der Gesetzesbegründung, dass die Unangemessenheit der Verfahrensdauer nicht an ein Verhalten eines Dritten angeknüpft werden könne, soweit das Gericht hierauf keinen Einfluss habe nehmen können.759 Ein solch restriktives Gesetzesverständnis erscheint aber wenig plausibel und nach dem maßgeblichen Gesetzeswortlaut nicht zwingend. Im Rahmen von § 198 GVG sind auch solche Verzögerungen beachtlich, die in die Sphäre der Justizverwaltungen fallen, bspw. wiederholte Richterwechsel in einem Rechtsstreit760 oder eine ungleichmäßige Geschäftsverteilung761. Weiterhin bieten Verzögerungen, die auf die Überlastung der Gerichte zurückführbar sind, anerkanntermaßen keine Rechtfertigung für die Überlänge eines Gerichtsverfahrens.762 Etwas anderes gilt nach der Jurisdiktion des EGMR nur, wenn die Überlastungssituation unvorhersehbar war und geeignete Abhilfemaßnahmen 756 LSG Stuttgart, Urt. v. 21.11.2012 – L 2 SF 436/12 EK, Rn. 93, 95, juris; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 121; OLG Braunschweig, Urt. v. 08.02.2013 – 4 SchH 1/12, Rn. 139, juris. Unklar BVerfG, Beschl. v. 14.12.2010 – 1 BvR 404/10, Rn. 15, juris; Schenke, NVwZ 2012, 257 (259 f.); Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 12, 15; Gehm, NZWiSt 2013, 441 (444). A.A. Böcker, DStR 2011, 2173 (2174); wohl auch Guckelberger, DÖV 2012, 289 (295). 757 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 121. 758 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 121 mit Verweis auf BVerfG, Beschl. v. 14.12.2010 – 1 BvR 404/10, juris. 759 BT-Drs. 17/3802, S. 18. 760 Böcker, DStR 2011, 2173 (2174). Richterwechsel führen regelmäßig zu längeren Verfahrenszeiten, OLG Hamm/OLG Nürnberg/u.a., Langandauernde Zivilverfahren, http://epub.sub.uni-hamburg.de/epub/volltexte/2013/17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 84. Ob Verzögerungen durch Richterwechsel eine unangemessene Verfahrensdauer begründen, hängt von Umständen wie der Häufigkeit und dem Zeitpunkt ab. 761 Schenke, NVwZ 2012, 257 (259). Zur Frage, inwieweit die Erkrankung oder der Tod des Richters Verzögerungen rechtfertigt, siehe Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 16; EGMR, Urt. v. 16.07.2009 – Nr. 8453/04 (Bayer./.Deutschland), § 53, Hudoc; OVG Magdeburg, Urt. v. 25.07.2012 – 7 KE 1/11, Rn. 67, juris [bestätigt vom BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 27/12 D, Rn. 44, juris]. 762 BVerfG NJW 2005, 3488 (3489); BVerfG, Beschl. v. 02.07.2003 – 2 BvR 273/03, BeckRS 2003, 24461; vgl. auch BVerfG NJW 1974, 307 (308); OLG Schleswig, Urt. v. 08.04.2013 – 18 SchH 3/13, Rn. 15, juris. Ausführlicher Stahnecker, Entschädigung, Rn. 80 ff.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
zügig getroffen wurden.763 Nach alledem greift die Haftung nach § 198 GVG nicht nur bei gerichtlichen Versäumnissen ein, sondern eben auch, wenn andere staatliche Träger die Verzögerungen zu verantworten haben. Zwar beschränken sich diese Beispiele vornehmlich auf Missstände im Justizsystem und knüpfen an die Verletzung der aus dem Justizgewährungsanspruch sowie aus Art. 6 Abs. 1 EMRK entspringenden Pflicht des Staates, seine Gerichte derart auszustatten, dass Gerichtsverfahren in angemessener Zeit entschieden werden können.764 Es wird jedoch weder der EMRK noch dem GG gerecht, die Haftung des Staates im Anwendungsbereich des § 198 GVG auf solche Umstände zu beschränken. So bindet die EMRK den unterzeichnenden Vertragsstaat insgesamt zur Einhaltung und Beachtung der darin verbürgten Menschenrechte. Für eine etwaige Haftung kann es somit nicht darauf ankommen, in welcher Beziehung das für die Verzögerung verantwortliche staatliche Organ zum Rechtsstreit steht, solange dessen Verhalten kausal zur Verfahrensüberlänge beigetragen hat.765 Auch das GG verpflichtet alle Träger hoheitlicher Gewalt, die Grundrechte des Einzelnen und somit auch seine Verfahrensgrundrechte zu achten.766 Etwas anderes kann auch nicht der oben angesprochenen Entscheidung des BVerfG entnommen werden, da Gegenstand der Verfassungsbeschwerde allein die Untätigkeit des Gerichtes war.767 § 198 GVG eröffnet diesbezüglich jedoch eine weitergehende Prüfungsperspektive der Verletzung des Verfahrensgrundrechtes und ermöglicht somit sämtliches staatliches Verhalten bei der Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer zu berücksichtigen. Aus diesem Grund sind auch solche Verzögerungen beachtlich, die zwar nicht auf gerichtliche Versäumnisse zurückgeführt werden können, dem staatlichen Verantwortungsbereich aber zurechenbar sind.768
763
St. Rspr.: EGMR, Urt. v. 06.05.1981 – Nr. 7759/77 (Buchholz./.Deutschland), § 61, Hudoc; EGMR (Große Kammer), Urt. v. 29.05.1986 – Nr. 9384/81 (Deumeland./.Deutschland), § 82, Hudoc; EGMR, Urt. v. 07.07.1989 – Nr. 11681/85 (Unión Alimentaria Sanders S.A./.Spanien), § 40, Hudoc; EGMR, Urt. v. 10.07.1984 – Nr. 8990/80 (Guincho./.Portugal), § 40, Hudoc; EGMR, Urt. v. 07.02.2006 – Nr. 34539/02 (Debono./.Malta), § 40, Hudoc. 764 St. Rspr.: EGMR NJW 1997, 2809 (2810); NJW 2001, 211 (212); NJW 2002, 2856 (2857); EGMR, Urt. v. 22.01.2009 – Nr. 45749, Nr. 51115/06 (Kaemena u. Thöneböhn./.Deutschland), § 64, Hudoc; BVerfG NJW 1974, 307 (309); NJW 2000, 797 (797). 765 EGMR, Urt. v. 26.10.1988 – Nr. 11371/85 (Martins Moreira./.Portugal), § 60, Hudoc; vgl. EGMR, Urt. v. 10.07.1984 – Nr. 8990/80 (Guincho./.Portugal), § 38, Hudoc. 766 Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 15; vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 263: Beschleunigungsgebot gilt für alle staatlichen Funktionsträger. 767 BVerfG, Beschl. v. 14.12.2010 – 1 BvR 404/10, Rn. 8, juris. 768 Diese Ansicht kann dazu führen, dass für Verzögerungen nicht derjenige Rechtsträger haftet, der für die staatliche Stelle verantwortlich ist, Böcker, DStR 2011, 2173 (2178).
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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(d) Gerichtliche Verfahrensführung Die Notwendigkeit die Dauer der Überlänge konkret zu bestimmen, erfordert die Untersuchung des Verfahrensverlaufes nach Verzögerungen. Somit rückt die gerichtliche Verfahrensführung als ein dem Staat zurechenbares Verhalten zwangsläufig in den Fokus der Angemessenheitsprüfung. Sie ist beim Abwägungsvorgang von besonderer Relevanz. Die nach § 198 Abs. 1 S. 2 GVG maßgeblichen Kriterien sind dabei in Bezug zur Verfahrensleitung zu setzen: Es ist zu prüfen, ob die Verfahrensleitung des Gerichtes den Umständen des Einzelfalls in der konkreten Verfahrenssituation gerecht geworden ist769. Insofern heißt es teilweise auch, dass die Verfahrensleitung des Gerichtes zentrales Prüfungskriterium der Angemessenheit der Verfahrensdauer sei.770 Eine Verfahrensverzögerung kann durch Untätigkeit oder die vom Gericht gewählte Verfahrensweise eintreten. Zu nennen sind bspw. die Wiedervorlage von Akten, ohne verfahrensfördernde Maßnahmen zu treffen, die Aussetzung von Verfahren771, die unzureichende Anleitung von Sachverständigen oder die Gewährung zu langer Fristen. Ebenso kann die fehlerhafte Rechtsanwendung zu Verzögerungen im Verfahrensverlauf führen.772 Diese gerichtlichen Handlungsweisen können grundsätzlich Anknüpfungspunkte für sachwidrige Verfahrensverzögerungen sein. Inwieweit bei dieser Abwägungsentscheidung der richterlichen Unabhängigkeit Rechnung zu tragen ist, wird im nächsten Abschnitt erörtert. (e) Ergebnis In diesem Abschnitt wurde näher beleuchtet, welche Kriterien bei der Beurteilung, ob eine Verfahrensverzögerung vorliegt, maßgeblich sein können. Dies ist neben der Schwierigkeit der Verfahrenssituation, die auf tatsächlichen und rechtlichen Umständen beruhen kann, die Bedeutung des Verfahrens für den Verfahrensbeteiligten, die sich nach seinem Interesse an einer alsbaldigen 769
BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 41, juris; BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 25, 32, juris; BGH, Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13, Rn. 43, juris; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 127. 770 Zur Bedeutung des Kriteriums der Verfahrensleitung: OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 43, juris: „zentraler Umstand“; BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 25, 32, juris: „bedeutsames Kriterium“; BGH, Urt. v. 13.03.2014 – III ZR 91/13, Rn. 27, juris; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 127. 771 Die Voraussetzungen von § 148 ZPO müssen hierfür nicht vorliegen, siehe BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, Rn. 33, juris. 772 Hierunter ist auch die Beweiserhebung über unbestrittene Tatsachen zu subsumieren, die nach zutreffender Ansicht unzulässig, d.h. rechtsfehlerhaft ist. Blomeyer, NJW 1977, 557 (559) mit Verweis auf den Grundsatz der Verfahrensökonomie; Schneider, Anm. z. OLG Frankfurt, Urt. v. 24.10.1968 – 15 U 94/68, MDR 1969, 580 (580); mit Einschränkung Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, § 40 II 2, S. 416.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
gerichtlichen Entscheidung richtet. Dabei können sowohl objektive Umstände (Bsp. Art und Gegenstand des Verfahrens) als auch subjektive Umstände (Bsp. drohende Insolvenz) Berücksichtigung finden. Die Bedeutung des Verfahrens für die Allgemeinheit hat bei der Abwägung dagegen außer Betracht zu bleiben. Dieses Kriterium steht im Widerspruch zum Individualcharakter des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer. Der Staat kann nur für solche Verfahrensverzögerungen haftbar gemacht werden, die in seine Verantwortungssphäre fallen. Insofern ist das Verhalten vom Entschädigungskläger ohne Belang für die Bestimmung der Überlänge der Verfahrensdauer. Verzögerungen, die durch sonstige Verfahrensbeteiligte und Dritte verursacht worden sind, sind nur dann haftungsbegründend, wenn dem Gericht Möglichkeiten zur Verfahrensbeschleunigung offen gestanden haben und es diese nicht ergriffen hat. Diese Einschränkung gilt jedoch nicht, wenn Verzögerungen auf staatliches Verhalten zurückführbar sind. In diesem Fall kommt eine Haftung nach § 198 Abs. 1 GVG in Betracht, da sich dessen Haftungsgrund nach verfassungs- und völkerrechtskonformer Auslegung nicht auf gerichtliche Versäumnisse beschränkt. Die Prüfung, ob eine verfahrensbeschleunigende Maßnahme hätte früher vorgenommen werden müssen, hat zur Folge, dass bei der diesbezüglich vorzunehmenden Abwägungsentscheidung, die gerichtliche Verfahrensführung von zentraler Bedeutung ist. (5) Verfahrensverzögerung – die Abwägungsentscheidung des Entschädigungsgerichtes Die Entscheidung, ob eine Verfahrensverzögerung vorliegt, erfordert eine Abwägung der soeben erörterten Umstände des Einzelfalles. Auf diesen Abwägungsvorgang des Entschädigungsgerichtes wird im Folgenden ein näherer Blick geworfen. Zwar können abstrakte Zeitgrenzen, wann eine Verfahrensverzögerung zu bejahen ist, nicht bestimmt werden. Dennoch lassen sich in diesem Kontext Leitlinien formulieren, anhand derer sich der Abwägungsvorgang zu orientieren hat. Der Fokus ist hierbei auf Verfahrensverzögerungen gerichtet, die auf gerichtliche Versäumnisse zurückführbar sind. In diesem Zusammenhang wird insbesondere auf das neuralgische Verhältnis zwischen dem Gebot der richterlichen Unabhängigkeit und der Effektivitätsgarantie eingegangen. Denn wie zuvor bereits festgestellt, kommt dem Kriterium der Verfahrensleitung des Gerichtes beim Abwägungsvorgang besondere Bedeutung zu. Aus diesem Grund stellt sich wie im Rahmen der Amtshaftung die Frage nach der Justiziabilität richterlicher Verfahrensführung. (a) Allgemeines Das Entschädigungsgericht hat die Entscheidung, ob eine Verfahrensverzögerung vorliegt, nicht danach zu treffen, wie es selbst den Rechtsstreit betrieben
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hätte. Vielmehr steht im Fokus der Untersuchung, ob durch den konkreten Verfahrensverlauf der Anspruch auf rechtzeitigen Rechtsschutz verletzt worden ist. Der Haftungstatbestand des § 198 Abs. 1 GVG knüpft also an die Verletzung der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK. Somit kann nicht jede Abweichung von der optimalen Verfahrensführung zur Bejahung einer Verfahrensverzögerung führen.773 Ein Idealprozess ist nicht geschuldet.774 Die Missachtung von einfach-gesetzlichen Handlungsfristen begründet daher nicht zwingend eine entschädigungsrelevante Verfahrensverzögerung.775 Dass eine Verfahrenshandlung tatsächlich hätte früher vorgenommen werden können, kann somit nicht ausschlaggebend für das Vorliegen einer entschädigungsrelevanten Verfahrensverzögerung sein776, denn es wird nicht sanktioniert, dass das Verfahren hätte schneller beendet werden können777. Dies folgt bereits aus dem Umstand, dass ein Gericht für die Leitung einer Vielzahl von Verfahren zuständig ist, die oftmals nicht gleichzeitig bearbeitet werden können. Es muss somit eine zeitliche Reihenfolge für deren Bearbeitung festgelegt werden, wodurch unvermeidlich Verzögerungen im Verfahrensverlauf eintreten.778 (b) Der Zeitfaktor in der richterlichen Verfahrensführung Die zügige Bearbeitung eines Rechtsstreits ist kein Selbstzweck.779 Sie entfaltet ihre Wirkung erst im Kontext mit anderen möglicherweise der Schnelligkeit widerstrebenden Verfahrensprinzipien.780 Hierbei gilt es den „goldenen Schnitt“ zwischen größtmöglicher Schnelligkeit und maximaler Richtigkeit zu finden.781 Aus dem rechtsstaatlichen Justizgewährungsanspruch entspringt die Verpflichtung der Gerichte, den Streitgegenstand einer umfassenden Prüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu unterziehen782, sodass dem Gericht 773 BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 26, juris; BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 39, juris; BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 31, juris; BVerfG, Beschl. v. 14.12.2010 – 1 BvR 404/10, Rn. 16, juris; vgl. auch Neff, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, § 198 GVG, Rn. 3; Wilfinger, Gebot effektiven Rechtsschutzes, S. 17. 774 Dietrich, ZZP 127 (2014), 169 (182). 775 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 136; Dietrich, ZZP 127 (2014), 169 (183); Unger, in: Schulte-Bunert/Weinreich, FamFG, § 58 FamFG, Rn. 62d. 776 Siehe hierzu bereits S. 13 ff. 777 Siehe Roller, DRiZ Beilage Juni 2012, 1 (2). 778 Vgl. BVerfG NJW 1999, 2582 (2583). 779 BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 33, juris; BGH, Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13, Rn. 44, juris. 780 DRB, Stellungnahme zum ÜGRG-RefE vom Mai 2010, http://www.drb.de/cms/index. php?id=650, zuletzt geprüft am: 03.03.2016. 781 Kloepfer, JZ 1979, 209 (211). 782 Nachweise zur Rechtsprechung des BVerfG siehe 3. Kap. Fn. 263. Hierauf hinweisend
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eine gewisse Bearbeitungszeit zugestanden werden muss.783 Von mehreren möglichen Handlungsalternativen muss nicht diejenige ausgewählt werden, die am wenigsten Zeit beansprucht, denn die Verfahrensgestaltung hat sich nicht nur am zeitlichen Faktor auszurichten. Ein Anspruch auf optimale Verfahrensförderung besteht gerade nicht. Zu beachten ist aber, dass sich mit zunehmender Verfahrensdauer die Pflicht verdichtet, sich nachhaltig um die Förderung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen.784 (c) Die richterliche Verfahrensführung im Rahmen der Abwägungsentscheidung Bereits aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass nicht jedes verfahrensverlängernde Verhalten des Gerichtes Anknüpfungspunkt einer entschädigungsrelevanten Verfahrensverzögerung sein kann. Fraglich ist jedoch, inwieweit diesbezüglich die Prüfungs- und Kontrollkompetenz der Entschädigungsgerichte geht. (aa) Übertragung der Rechtsprechung zum Amtshaftungsrecht Der BGH leitet aus dem verfassungsrechtlichen Gebot der richterlichen Unabhängigkeit einen eingeschränkten Kontrollmaßstab ab und zieht eine Parallele zum Amtshaftungsrecht. Auf Entschädigungsprozesse nach §§ 198 ff. GVG könne der Kontrollmaßstab richterlicher Verfahrensführung außerhalb des Anwendungsbereiches des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB übertragen werden.785 Denn selbst wenn das Entschädigungsgericht nicht zu prüfen habe, ob dem Ausgangsgericht ein Schuldvorwurf hinsichtlich einer Verfahrensverzögerung gemacht werden könne, ginge es – wie auch im Amtshaftungsrecht – um das Spannungsverhältnis zwischen dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes und auch folgende Entschädigungsgerichte: OLG Frankfurt, Urt. v. 10.07.2013 – 4 EntV 3/13, Rn. 35, juris; BVerwG, Urt. v. 26.02.2015 – 5 C 5/14 D, Rn. 43, juris; BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 12/13 R, Rn. 46, juris; BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 33, juris. 783 BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 33, juris; BGH, Urt. v. 13.03.2014 – III ZR 91/13, Rn. 34, juris. 784 Nachweise siehe 3. Kap. Fn. 710. Plastisch auch VerfGH Berlin, Beschl. v. 16.01.2015 – 84/13, Rn. 8, juris: „Auch in diesen Fällen kann das Gericht zu einer erhöhten Förderung des Verfahrens bis hin zu einer größtmöglichen Beschleunigung unter konsequenter Nutzung sämtlicher zur Verfügung stehenden Möglichkeiten verpflichtet sein, etwa der strikten Überwachung zeitnahen, fristgebundenen Bearbeitung von Gutachten sowie dem Bemühen um gerichtsinterne Entlastungsmaßnahmen […]“. 785 BGH, Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13, Rn. 45 f., juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 44, juris; OLG Naumburg, Urt. v. 30.05.2013 – 1 ESV 4/12, Rn. 20, 25, juris; im Ergebnis auch Reiter, NJW 2015, 2554 (2558); Reiter, AD LEGENDUM 2015, 151 (152); Roller, DRiZ Beilage Juni 2012, 1 (4 ff.); Rathmann, in: Saenger, ZPO, § 198 GVG, Rn. 15; Stahnecker, Entschädigung, Rn. 97.
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der richterlichen Unabhängigkeit, sodass ein Gleichlauf der Prüfungsmaßstäbe sachgerecht erscheine.786 Daher sei die Verfahrensleitung des Ausgangsgerichtes nicht auf ihre Richtigkeit, sondern auf ihre bloße Vertretbarkeit hin zu überprüfen, die nur dann zu verneinen sei, wenn bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Zivilrechtspflege das richterliche Verhalten nicht mehr verständlich sei.787 (bb) Stellungnahme In der Literatur ist die Übertragung der amtshaftungsrechtlichen Maßstäbe auf die §§ 198 ff. GVG auf Kritik gestoßen. Befürchtet wird, dass der Vertretbarkeitsmaßstab – ähnlich wie bei § 839 BGB – letztlich zur Bedeutungslosigkeit des § 198 GVG führe.788 Doch nur selten finden sich Ausführungen dazu, warum die vom BGH gezogene Parallele nicht tragen sollte. Als Anknüpfungspunkt wird diesbezüglich auf die dogmatischen Unterschiede zwischen der Amtshaftung und der Haftung nach §§ 198 ff. GVG verwiesen, die eine Übertragung des Vertretbarkeitsmaßstabes nicht rechtfertigen würden.789 Zutreffend an dieser Ansicht ist, dass § 839 BGB und § 198 GVG Unterschiede im Hinblick auf ihre Dogmatik aufweisen. Denn der Haftungstatbestand des § 839 BGB sanktioniert in erster Linie Handlungsunrecht, wohingegen der Verstoß gegen das Effektivitätsgebot an Erfolgsunrecht anknüpft.790 Im Fokus der Untersuchung steht bei § 839 BGB demnach, ob dem Richter eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorgeworfen werden kann, er also eine verhaltensbezogene Dienstpflicht verletzt hat. Im Gegensatz dazu ist es für die Bejahung der Grundrechtsverletzung ausreichend, festzustellen, dass das Effektivitätsgebot im Ergebnis missachtet worden ist. Somit kann bei der Prüfung des Grundrechtsverstoßes auf die zuweilen schwierige Differenzierung der Verantwortungsbereiche verzichtet werden, solange nur feststeht, dass die Verzögerung auf staatliche Versäumnisse zurückführbar ist. Aus diesem 786
BGH, Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13, Rn. 45 f., juris. BGH, Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13, Rn. 45 f., juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 44 f., juris; BGH, Urt. v. 13.03.2014 – III ZR 91/13, Rn. 34, juris. 788 Heinisch, Anm. z. BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, NJW 2014, 224 (224): Gefahr, dass sich der Entschädigungsanspruch aus § 198 GVG zu einem „zahnlosen Tiger“ entwickelt; Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2014, 1276 (1278): zweifelhafte Übertragung; wohl auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 128 (Fn. 258), der die Gleichsetzung der Unangemessenheit mit der objektiven Pflichtwidrigkeit nach § 839 Abs. 2 S. 2 BGB als zu weitgehend kritisiert. So aber Remus, NJW 2012, 1403 (1409). Die Übertragung der Grundsätze begrüßend: Heine, MDR 2012, 327 (329); Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 20, 46; Roller, DRiZ Beilage Juni 2012, 1 (5). 789 Reich, Beschleunigungspflichten, S. 568 f. 790 Siehe zu dieser Differenzierung im Ganzen Breuer, Staatshaftung, S. 329 ff. 787
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Grund kann von einer Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer im Rahmen eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens nicht zwingend auf eine Amtspflichtverletzung des Richters geschlossen werden.791 Doch diese einfach-rechtlichen dogmatischen Divergenzen haben bei genauerer Betrachtung nur einen unterschiedlichen Prüfungsumfang zur Folge, rechtfertigen aber keinen unterschiedlichen Prüfungsmaßstab bei der Beurteilung, ob die richterliche Verfahrensführung gegen das Beschleunigungsgebot verstoßen hat. Denn in beiden Fällen geht es um das Verhältnis zwischen dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes und der richterlichen Unabhängigkeit. In diesem Punkt ist dem BGH also zuzustimmen: Aufgrund des identischen verfassungsrechtlichen Spannungsverhältnisses ist gleichermaßen zu beurteilen, ob durch dieselbe (!) richterliche Verfahrensführung das Recht des Verfahrensbeteiligten auf angemessene Verfahrensdauer – einerseits als Grundrecht, andererseits als drittbezogene Amtspflicht – verletzt worden ist.792 Es wäre widersprüchlich, bei ersterer die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer zu bejahen, bei letzterer mit Verweis auf die richterliche Unabhängigkeit und den eingeschränkten Prüfungsmaßstab zu verneinen. Greifbar wird dieser Widerspruch, wenn man sich Judikate des BVerfG anschaut, in denen sich das Verfassungsgericht gerade nicht darauf beschränkt hat, bloß eine Verletzung des Effektivitätsgebotes festzustellen. So heißt es beispielsweise in einer Entscheidung des BVerfG: „Das AG ist zwar nicht untätig geblieben, sondern hat durch eine Fülle von Aufforderungen und Anberaumungen immer wieder neuer Termine zur mündlichen Verhandlung seinem Willen Ausdruck verliehen, das Verfahren zu fördern. Da mit dieser Vorgehensweise aber erkennbar die Blockadehaltung der Mutter nicht beseitigt werden konnte, wäre das AG verpflichtet gewesen, auch schwerwiegendere Maßnahmen bis hin zur Entziehung des Sorgerechts über einen befristeten Zeitraum zwecks Begutachtung der Kinder in Erwägung zu ziehen, um die auf andere Weise nicht erreichbare tatsächliche Entscheidungsgrundlage zu schaffen [...].“793
Ähnlich deutlich ist auch die Feststellung des BVerfG in einer Entscheidung aus dem Jahr 2010, in der das Verfassungsgericht anhand einzelner Beispiele aufzeigt, dass dem Gericht die von Verfassung wegen gebotene Beschleunigung des Verfahrens sehr wohl möglich gewesen wäre.794 791
Breuer, Staatshaftung, S. 332. A.A. Reich, Beschleunigungspflichten, S. 568 f. 793 BVerfG NJW 1997, 2811 (2812). 794 BVerfG NJW-RR 2010, 207 (209). Ebenso BVerfG, Beschl. v. 02.09.2009 – 1 BvR 3171/08, Rn. 30 f., juris: „Dieser Verfahrensabschnitt hätte trotz des Wechsels in der Berichterstattung erheblich beschleunigt werden können, wenn eine Terminierung noch in der alten Kammerbesetzung auf einen näheren Termin erfolgt und das Gutachten bereits in diesem Zeitpunkt in Auftrag gegeben worden wäre oder wenn nach Übernahme des Verfahrens durch den neuen Berichterstatter zugleich mit der Terminierung das Ergänzungsgutachten zur Vorbereitung des Termins in Auftrag gegeben worden wäre.“. 792
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„Dieses [Gutachten] hätte es jedenfalls unverzüglich nach Eingang des ersten Gutachtens einholen, wenn nicht schon parallel in Auftrag geben müssen.“795
In beiden Beispielsfällen knüpft das BVerfG den Verfassungsverstoß erkennbar nicht an die Untätigkeit, sondern an die konkrete Verfahrensführung des Gerichtes an, das zwar tätig geworden ist, aber das Verfahren nicht hinreichend beschleunigt hat. Wäre das richterliche Verhalten in den dargestellten Beispielsfällen also im Rahmen eines Amtshaftungsprozesses zu überprüfen gewesen, hätte das Ergebnis ebenso lauten müssen, dass der Richter durch seine Verfahrensführung das Gebot des effektiven Rechtsschutzes verletzt hat und der Tatbestand der Amtspflichtverletzung erfüllt ist. Denn trotz unterschiedlicher Anknüpfungspunkte der staatlichen Unrechtshaftung ist gleichermaßen Ausgangsfrage, ob durch die richterliche Verfahrensführung das Effektivitätsgebot verletzt worden ist. Der identische Prüfungsmaßstab führt jedoch nicht zu einem identischen Prüfungsumfang, der aufgrund der unterschiedlichen Anknüpfungspunkte des staatlichen Unrechts differiert. Insofern berührt die Feststellung der Verletzung des Effektivitätsgebotes nicht die vom Amtshaftungsgericht zu untersuchende Frage, inwieweit dem Richter die Missachtung des Beschleunigungsgebotes individuell vorwerfbar ist, er also schuldhaft gehandelt hat, was Voraussetzung für das Vorliegen eines Amtshaftungsanspruches nach § 839 BGB ist. Zudem ist bei der Amtshaftung zwingend erforderlich, konkret festzustellen, welches Verhalten des Gerichtes zu welcher Verzögerung beitragen hat, während diese Feststellung bei der Grundrechtsprüfung unterbleiben kann, aber nicht muss.796 (cc) Schlussfolgerung Es lässt sich festhalten, dass die im Rahmen der Amtshaftung gefundenen Ergebnisse hinsichtlich des Prüfungsmaßstabes bei Verfahrensverzögerungen auf die §§ 198 ff. GVG zu übertragen sind. Es geht um dasselbe verfassungsrechtliche Spannungsverhältnis, was einen einheitlichen Prüfungsmaßstab erfordert. Insoweit überzeugt die vom BGH gezogene Parallele. Nach hier vertretener Auffassung hat sich die Vertretbarkeitskontrolle jedoch an den Maßstäben der Angemessenheitsprüfung des BVerfG und des EGMR zu orientieren797, sodass eine vertretbare Verfahrensführung nur eine solche sein kann, die den Anspruch des Verfahrensbeteiligten auf eine angemessene Verfahrensdauer hinreichend berücksichtigt. Das Entschädigungsgericht hat demnach zu untersuchen, ob das Ausgangsgericht bei Leitung des Verfahrens der Tragweite und Bedeutung der Verfahrensgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG bzw. Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK hinreichend Rechnung 795
BVerfG NJW-RR 2010, 207 (209, Rn. 30). Breuer, Staatshaftung, S. 332 f. 797 Siehe hierzu S. 62 ff. 796
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getragen hat und zutreffend gegen andere Justiz- und Verfahrensgarantien abgewogen hat.798 Bei dieser Entscheidung sind auch die betroffenen Grundrechte des Beschwerdeführers zu beachten.799 Wie im Rahmen der Amtshaftung ausgeführt, bietet die richterliche Unabhängigkeit keine Rechtfertigung für einen eingeschränkten Prüfungsmaßstab. Vielmehr ist Art. 97 Abs. 1 GG bei der vorzunehmenden Abwägungsentscheidung als „äußerste Grenze“ zu berücksichtigen, die bei der Interpretation und Auslegung des Gebotes des effektiven Rechtsschutzes nicht überschritten werden darf und die an der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege auszurichten ist800. (d) Sonderfall: Verzögerungen durch fehlerhafte Rechtsanwendung Verzögerungen in einem Rechtsstreit können nicht nur durch die Verfahrensführung des Richters eintreten, sondern ihre Ursache auch in einer fehlerhaften Rechtsanwendung haben. Da eine Haftungsprivilegierung wie in § 839 Abs. 2 S. 1 BGB fehlt, kann zumindest aus einfach-gesetzlichen Normen eine eingeschränkte Prüfungskompetenz der Entschädigungsgerichte im Hinblick auf richterliches Handeln nicht abgeleitet werden. Für eine analoge Anwendung des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB fehlt es offensichtlich an einer planwidrigen Regelungslücke. In Bezug auf Verfahrensverzögerungen durch Rechtsanwendungsfehler sind zwei Fallkonstellationen denkbar: Entweder wird der Instanzenzug vom Rechtsschutzsuchenden beschritten, um die Korrektur von Rechts- und Verfahrensfehlern zu erreichen, oder vom Gericht vorgenommene Verfahrenshandlungen erweisen sich aufgrund von Rechts- und Verfahrensfehlern als überflüssig.801 Es stellt sich die Frage, ob derartige Verzögerungen überhaupt zu einer Verletzung des Effektivitätsgebotes führen können. In diesem Zusammenhang lassen sich in der Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR für die oben beschriebenen Fallgruppen Beispiele finden. So vertrat das BVerfG in Bezug auf Strafprozesse den Standpunkt, dass Fehler bei der Anwendung des Rechts, die zur Durchführung eines Revisionsverfahrens führen, grundsätzlich keine überlange Verfahrensdauer
798 BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 12/13 R, Rn. 43, juris, wobei das BSG nur darauf abstellen möchte, ob das Recht auf angemessene Verfahrensdauer fehlerfrei gegen das Ziel einer möglichst richtigen Entscheidung abgewogen wurde. 799 BVerfG, Beschl. v. 24.07.2008 – 1 BvR 547/06, Rn. 39, juris. 800 Zuck, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, JZ 2011, 476 (477). Siehe hierzu bereits S. 63 ff. 801 Eher selten wird der Fall eintreten, dass das Gericht rechtsirrig annimmt, es sei zur Verfahrensförderung nicht verpflichtet, siehe die Fallkonstellation in BVerfG NJW-RR 2010, 207 (208 f., Rn. 26).
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begründen würden, da dies der rechtsstaatlichen Ausgestaltung des Rechtsmittelverfahrens geschuldet sei.802 Eine Ausnahme sei hiervon nur zu machen, wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers diene.803 Anderer Meinung war das Verfassungsgericht nur in einer Entscheidung aus dem Jahr 2005, in der es eine dem Staat anzulastende Verfahrensverzögerung bereits deshalb bejahte, weil es infolge eines fehlerhaft ergangenen Urteils zur Aufhebung und erneuten Verhandlung gekommen war.804 Im Rechtsstreit Kindereit./.Deutschland nahm der EGMR eine dem Staat anzulastende Verzögerung mit der Begründung an, dass das den Rechtsstreit bearbeitende Gericht zwei Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben hätte, die sich aus rechtlichen Gründen aber letztlich als überflüssig erwiesen hätten.805 Dem Ausgangsverfahren lag dabei folgender Sachverhalt zugrunde: Es war streitig, inwiefern die Kläger Rückabwicklung des zwischen den Klageparteien zustande gekommenen Rechtsgeschäftes verlangen konnten. Während das Gericht in erster und zweiter Instanz Sachverständigengutachten einholte, um beurteilen zu können, wie eine Rückabwicklung des Rechtsgeschäftes betragsmäßig zu erfolgen habe, hob der BGH als Revisionsgericht das Berufungsurteil auf und wies das Verfahren zur erneuten Verhandlung an das Berufungsgericht zurück, da nicht hinreichend berücksichtigt worden sei, ob die Kläger überhaupt die Rückabwicklung des Vertrages verlangen könnten. Nach erneuter Verhandlung kam das Berufungsgericht zu dem Ergebnis, dass ein Recht auf Rückabwicklung des Vertrages gar nicht bestanden habe. Insofern wurden die zuvor eingeholten Sachverständigengutachten für die Entscheidung gegenstandslos, was den EGMR veranlasste, eine konventionswidrige Verzögerung zu bejahen.
Auf den ersten Blick erscheint die Annahme plausibel, dass Verzögerungen, die auf einer fehlerhaften Rechtsanwendung des Gerichtes beruhen, die Unangemessenheit der Verfahrensdauer begründen (können). Sie fallen offensichtlich in den Verantwortungsbereich des Staates. Bei näherer Betrachtung wird
802 BVerfG NJW 2003, 2228 (2228 f.); NJW 2003, 2897 (2898). Ebenso BGH NStZ 2001, 106 (106 f.); BGH NJW 2005, 1813 (1814). 803 BVerfG NJW 2003, 2897 (2898); NJW 2006, 672 (673); so auch der EGMR NJW 2002, 2856 (2857). Der BGH verlangt einschränkend, dass ein eklatanter Verfahrensfehler vorliegen muss (BGH NJW 2006, 1529 (1532)), hält wohl aber auch einen eklatanten Rechtsfehler für geeignet, eine überlange Verfahrensdauer zu begründen (BGH, Beschl. v. 01.07.2004 – 3 StR 206/04, juris). 804 BVerfG NStZ 2005, 456 (457). Diese Entscheidung war Gegenstand heftiger Kritik und veranlasste bspw. einen BGH-Richter a.D. zu der Annahme, dass die Überlastung des BVerfG enorm sein müsse, da andernfalls es nicht zu erklären sei, dass die Bundesverfassungsrichter solche Elaborate von wissenschaftlichen Mitarbeitern unterzeichnen würden, Foth, Anm. z. BVerfG, Beschl. v. 22.02.2005 – 2 BvR 109/05, NStZ 2005, 457 (458); BVerfG NJW 2005, 3485 (3487) verweist zwar auf die vorgenannte Entscheidung, schränkt diesen Grundsatz wohl aber wieder auf offensichtliche Verfahrensfehler ein. 805 EGMR, Urt. v. 08.10.2009 – Nr. 37820/06 (Kindereit./.Deutschland), § 50, Hudoc.
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aber deutlich, dass hierdurch „die Grenze zwischen Angemessenheit der Verfahrensdauer und Richtigkeit der Rechtsanwendung verwischt [wird].“806 Denn in dem Bewusstsein, dass richterliche Entscheidungen fehlerhaft sein können, stellen die Verfahrensordnungen dem Rechtsschutzsuchenden gerade Rechtsmittel zur Verfügung, die der Überprüfung und Korrektur von Entscheidungen dienen.807 Der mit der Durchführung dieser Verfahren verbundene Zeitaufwand kann daher grundsätzlich nicht mit einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung gleichgesetzt werden. Der zusätzliche Zeitaufwand ist vielmehr als Ausfluss der rechtsstaatlichen Ausgestaltung des Rechtsmittelsystems hinzunehmen. „Andernfalls unterläge schon die gesetzliche Ausgestaltung […] als solche verfassungsrechtlichen Bedenken.“808 Zudem ist zu berücksichtigen, dass eine richterliche Entscheidung nicht selten das Ergebnis eines Bewertungs- und Abwägungsprozesses ist, das je nach Gewichtung einzelner Kriterien anders ausfallen kann. Aus diesem Grund stellt nicht jedes tatrichterliche Verhalten oder Entscheiden, welches für rechtsfehlerhaft gehalten wird, eine Verletzung der Verfahrensgarantie dar.809 Es würde indes zu kurz greifen, wenn Verzögerungen infolge fehlerhafter Rechtsanwendung bei der Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer gänzlich ausgeklammert werden würden. Dies würde das Recht des Verfahrensbeteiligten auf rechtzeitigen Rechtsschutz zu sehr verkürzen. Insofern ist es in Anknüpfung an die Rechtsprechung der Strafsenate des BGH überzeugend, dass die Tragweite des Fehlers ausschlaggebend für die Annahme einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung sein muss. Danach liegt eine Verzögerung nur vor, wenn sie auf eklatanten Verfahrens- oder Rechtsfehlern aus einer Exante-Perspektive beruht, also unter keinem Gesichtspunkt mehr zu rechtfertigen bzw. verständlich ist.810 Diese Betrachtungsweise zugrunde gelegt, ist der Standpunkt des EGMR, wie im Rechtsstreit Kindereit./.Deutschland vertreten,
806 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 132. Vgl. auch BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/14 R, Rn. 42, juris: Entschädigungsverfahren eröffnet keine weitere Instanz mit der Möglichkeit einer rechtlichen Vollkontrolle. 807 BGH NJW 2006, 1529 (1532). 808 BGH NJW 2006, 1529 (1532). 809 Siehe BGH NJW 2006, 1529 (1533). 810 BGH, Beschl. v. 22.03.2005 – 3 StR 77/05, BeckRS 2005, 03993; BGH NJW 2006, 1529 (1532); BGH, Beschl. v. 15.10.2009 – 2 StR 256/09, BeckRS 2009, 86034; BGH NJW 2009, 3734 (3735); BGH NStZ 2009, 104 (104). In diese Richtung können wohl auch die Kammerbeschlüsse des BVerfG gedeutet werden, die einen offensichtlichen Verfahrensfehler verlangen, siehe BVerfG NJW 2003, 2897 (2898); NJW 2006, 672 (673); NJW 2005, 3485 (3487).
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zu weitgehend und daher abzulehnen.811 Das Entschädigungsgericht ist im Ergebnis auf eine reine Willkürkontrolle beschränkt.812 (e) Ergebnis Bei der Abwägungsentscheidung des Entschädigungsgerichtes, ob eine Verfahrensverzögerung vorliegt, sind in zeitlicher Hinsicht verschiedene Faktoren zu berücksichtigen. Eine optimale, schnellstmögliche Verfahrensführung ist nicht geschuldet. Die Förderungspflicht des mit der Sache befassten Gerichtes steigt mit zunehmender Verfahrensdauer. Die Vornahme verfahrensverlängernder Maßnahmen führt nicht per se zur Annahme einer Verfahrensverzögerung. Vielmehr hat das Gericht Justiz- und Verfahrensgarantien zu beachten, die der Entscheidungsfindung dienen und der Schnelligkeit der richterlichen Entscheidung entgegenstehen können. Die Kontrollkompetenz der Entschädigungsgerichte ist im Hinblick auf die zeitliche Gestaltung der richterlichen Verfahrensführung uneingeschränkt. Die zwischen § 839 BGB und § 198 GVG bestehenden einfach-rechtlich dogmatischen Unterschiede rechtfertigen keinen divergierenden Maßstab bei der Angemessenheitsprüfung. Da es in beiden Fällen um das verfassungsrechtliche Spannungsverhältnis zwischen dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes und der richterlichen Unabhängigkeit geht, besteht insofern ein Gleichlauf zum Amtshaftungsrecht. Verzögerungen, die aufgrund fehlerhafter Rechtsanwendung eintreten, können das Recht des Verfahrensbeteiligten auf eine angemessene Verfahrensdauer nur verletzen, wenn sie auf eklatanten Verfahrens- oder Rechtsfehlern beruhen. Dementsprechend beschränkt sich die Prüfungskompetenz der Entschädigungsgerichte auf eine reine Willkürkontrolle. (6) Die Verfahrensverzögerung im Verhältnis zur Überlänge des Gerichtsverfahrens Wie erörtert, ist die Feststellung von Verzögerungen im Verfahrensverlauf der erste Schritt der Angemessenheitsprüfung. In einem zweiten Schritt ist nun zu untersuchen, wie die festgestellten Verfahrensverzögerungen im Verhältnis zur Überlänge des Gerichtsverfahrens stehen.
811
Teilweise wird eine im Nachhinein nicht erforderliche gerichtliche Ermittlung gänzlich für unschädlich angesehen: Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 132. 812 BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R, Rn. 36, juris; ähnlich Roller, DRiZ Beilage Juni 2012, 1 (4 f.), der unter Verweis auf Art. 97 GG vertritt, dass eine materielle oder prozessuale Rechtsansicht bis zur Grenze der evidenten Unvertretbarkeit keine Auswirkungen auf die Angemessenheit der Verfahrensdauer hat; Bub, DRiZ 2014, 94 (95 f.).
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(a) Kausalität von Verfahrensverzögerungen Fraglich ist, ob die von staatlicher Seite verursachten Verfahrensverzögerungen kausal zur Überlänge des Verfahrens beigetragen haben müssen, um entschädigungsrelevant zu sein. Liegt also eine entschädigungsrelevante Verfahrensverzögerung vor, wenn ein außerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs liegender Umstand dazu geführt hat, dass trotz Vorliegen einer Verfahrensverzögerung das Gerichtsverfahren nicht früher hätte beendet werden können (sog. überholende Kausalität)? Ist es demnach beachtlich, wenn bspw. fortlaufende Klageänderungen des Entschädigungsklägers im Ausgangsverfahren dazu geführt haben, dass die Einholung weiterer Sachverständigengutachten erforderlich war und das Gerichtsverfahren infolgedessen auch dann nicht früher beendet worden wäre, wenn das Gericht zu einem früheren Zeitpunkt ein Sachverständigengutachten eingeholt hätte?813 In diesem Fall liegt zwar aus Ex-ante-Sicht eine Verfahrensverzögerung vor, diese hat sich bei einer Ex-post-Betrachtung aber nicht kausal auf die Verfahrensdauer ausgewirkt. Da die Haftung des §§ 198 ff. GVG erfolgsbezogen ist, also daran anknüpft, dass der Staat der Rechtsschutzgarantie bezogen auf eine angemessene Verfahrensdauer im Ergebnis nicht gerecht geworden ist, bestehen keine Einwände gegen eine derartige Ex-post-Betrachtung.814 Haben Verfahrensverzögerungen demnach nicht kausal zur Überlänge des Gerichtsverfahrens beigetragen, haben sie außer Betracht zu bleiben. (b) Abschließende Gesamtbetrachtung Bezugspunkt der Angemessenheit ist die Gesamtverfahrensdauer. Deswegen entspricht die Summe einzelner Verfahrensverzögerungen nicht zwingend der Dauer der Überlänge. Vielmehr ist das Verfahren abschließend in seiner Gesamtheit zu betrachten und zu prüfen, ob Verfahrensverzögerungen durch die beschleunigte Bearbeitung der Rechtssache ausgeglichen worden sind. Insofern kommt der abschließenden Gesamtbewertung in jedem Falle ein „verrechnender“ Charakter zu. Doch sind die hiernach verbliebenen Verfahrensverzögerungen mit der Überlänge des Gerichtsverfahrens gleichzusetzen? Erschöpft sich also die Funktion der Gesamtbewertung letzten Endes in einer Verrechnung der Verfahrensverzögerungen? Die Funktion der abschließenden Gesamtbetrachtung ist bisher nur vage umrissen. Ein kongruentes Bild lässt sich auch der einschlägigen Judikatur des EGMR und BVerfG nicht entnehmen.815
813 Der Sachverhalt folgenden Urteils liegt diesem Beispiel zugrunde: OLG Schleswig, Urt. v. 08.04.2013 – 18 SchH 3/13, Rn. 24, juris. 814 In diesem Sinne ist wohl auch die Gesetzesbegründung zu verstehen, BT-Drs. 17/3802, S. 18. 815 Siehe S. 9 ff.
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Analysiert man bisher ergangene Entscheidungen zu §§ 198 ff. GVG, lassen sich zwei unterschiedliche Tendenzen erkennen: Entschädigungsgerichte, die der abschließenden Gesamtbewertung lediglich verrechnenden Charakter attribuieren816 und solche, die eine abschließende Abwägung von allen im Verfahren maßgeblichen Umständen vornehmen. Während Ersteres insbesondere an die oben vorgestellte Prüfungsmethodik des EGMR im Rechtsstreit König./.Deutschland erinnert, bei der die Gesamtbewertung eher summarischer Natur ist, ähnelt Letzteres der vom BVerfG und EGMR zuweilen vorgenommenen Abwägung aller Kriterien. Letztlich hat sich die Lösung des Problems daran zu orientieren, welche Funktion der Gesamtbetrachtung beizumessen ist, was nachfolgend untersucht wird. (aa) Einzelne Verfahrensverzögerungen im Verhältnis zur Gesamtverfahrensdauer Einige Entschädigungsgerichte haben die festgestellten Verfahrensverzögerungen im Rahmen einer abschließenden Gesamtabwägung ins Verhältnis zur Gesamtverfahrensdauer gesetzt.817 So heißt es bspw. in einem Urteil des OLG Frankfurt: „Angesichts einer vom Landgericht zu vertretenden Verfahrensverzögerung von insgesamt etwa 1 Monat ist bei einer Gesamtabwägung die Verfahrensdauer von etwa 5 ½ Jahren nicht ‚unangemessen‘ im Sinne von § 198 GVG.“818
Unter der vom OLG Frankfurt angenommenen Prämisse, dass Verzögerungen bis zu einem gewissen Toleranzrahmen hingenommen werden müssen819, klingt es zunächst plausibel, dass eine sachwidrige Verzögerung von einem Monat bei einer über fünfjährigen Verfahrensdauer keine unangemessene Verfahrenslänge begründet. So wird denn auch von Teilen der Rechtsprechung gefordert, dass eine gewisse Schwere der Belastung Voraussetzung für das Vorliegen einer unangemessenen Verfahrensdauer sei.820 Daher würden geringfü-
816 So bspw. OLG Braunschweig, Urt. v. 08.02.2013 – 4 SchH 1/12, Rn. 130 ff., juris; LSG Darmstadt, Urt. v. 06.02.2013 – L 6 SF 6/12 EK U, Rn. 59, juris; wohl auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 97 ff.; Heine, MDR 2013, 1081 (1085); vom Stein/Brand, NZA 2014, 113 (115). 817 So bspw. OLG Frankfurt, Urt. v. 30.01.2013 – 4 EntV 9/12, Rn. 57, 76 f., juris [bestätigt von BGH, Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13, Rn. 41, 55, juris]; LSG Stuttgart, Urt. v. 20.02.2013 – L 2 SF 1495/12, Rn. 70 f., juris; so dezidiert auch BGH, Urt. v. 10.04.2014 – III ZR 335/13, Rn. 37, juris; Roller, VSSR 2015, 65 (67) zur Rechtsprechung des BSG. 818 OLG Frankfurt, Urt. v. 30.01.2013 – 4 EntV 9/12, Rn. 76, juris. 819 OLG Frankfurt, Urt. v. 30.01.2013 – 4 EntV 9/12, Rn. 81, juris, mit Verweis auf HessStGH DVBl 2011, 1089. 820 BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 26, juris; BGH, Urt. v. 10.04.2014 – III ZR 335/13, Rn. 37, juris; BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 39, juris.
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gige Verzögerungen im Verfahrensverlauf, die gegenüber der Gesamtverfahrensdauer nicht entscheidend ins Gewicht fallen würden, regelmäßig nicht unter den Anwendungsbereich der §§ 198 ff. GVG fallen.821 Das Gesetz mache in § 198 Abs. 2 S. 3 GVG und § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 2 GVG deutlich, dass kleinteilige Überlegungen hinsichtlich der Beurteilung der noch angemessenen Verfahrensdauer verfehlt seien.822 Zudem erfordere die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer nach der Rechtsprechung des BVerfG eine umfassende Gesamtabwägung aller Umstände.823 Zutreffend ist zwar, dass nicht jede Abweichung von der optimalen Verfahrensführung zur Überlänge eines Gerichtsverfahrens führt und einen Entschädigungsanspruch begründet. Doch dieser Umstand ist bereits im Rahmen der Abwägungsentscheidung, ob eine sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung vorliegt, zu berücksichtigen. Eine Doppelverwertung dieses Gesichtspunktes (regelmäßig) zu Lasten des Verfahrensbeteiligten darf daher nicht stattfinden. Die hier vertretene Prüfungsmethodik legt gerade den Grundstein dafür, den imaginären Zeitpunkt, ab wann ein Verfahren überlang ist, zu bestimmen. Ist dieser überschritten, ist die Verfahrensdauer unangemessen, unabhängig davon, ob dieser Zeitpunkt um einen Monat, ein Jahr oder mehrere Jahre überschritten ist. Die geforderte Schwere der Belastung liegt mit Überschreitung dieses Zeitpunktes vor. Eine andere Vorgehensweise lässt Transparenz bei der Entscheidung vermissen, wie lange das Verfahren konkret überlang ist und inwiefern festgestellte Verfahrensverzögerungen die Unangemessenheit des Verfahrens begründen können. Außerdem erinnert eine solche Geringfügigkeitsschwelle an die Etablierung gerade noch zulässiger Zeitgrenzen. Problematisch ist sie auch im Hinblick auf die Rechtsprechungspraxis des BVerfG, nach der sich das den Rechtsstreit bearbeitende Gericht mit zunehmender Verfahrensdauer nachhaltig um die Förderung und Beendigung des Rechtsstreites bemühen muss824. Denn je länger das Gerichtsverfahren andauert, desto unbedeutender können nach dem Ansatz der Entschädigungsgerichte einzelne Verfahrensverzögerungen sein, obwohl gerade mit zunehmender Verfahrensdauer solche in späteren Verfahrensabschnitten zu verhindern sind. So hielt das BVerfG in einem Amtshaftungsverfahren bspw. eine Terminierung zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung, die vier Monate nach Eingang eines Sachverständigengutachtens erfolgte, nach über elfeinhalbjähriger Verfahrensdauer für zu spät und setzte 821 BGH, Urt. v. 10.04.2014 – III ZR 335/13, Rn. 37, juris; Graf, in: BeckOK-StPO, § 198 GVG, Rn. 6; Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 10. 822 Schlick, in: FS Tolksdorf 2014, S. 549 (555); BGH, Urt. v. 10.04.2014 – III ZR 335/13, Rn. 37, juris. 823 OLG Frankfurt, Urt. v. 30.01.2013 – 4 EntV 9/12, Rn. 57, juris, mit Bezug auf BVerfG NJW 2001, 214 f. 824 Nachweise siehe 3. Kap. Fn. 710.
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eine Verzögerungsdauer von drei Monaten an.825 Die Relativierung solcher Verfahrensverzögerungen im Rahmen einer abschließenden Gesamtabwägung steht daher nicht im Einklang mit dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot. Sie ist demnach nicht als Korrektiv für derartige Fallgestaltungen heranzuziehen. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Feststellung der Überlänge im Rahmen der Angemessenheitsprüfung keinen Entschädigungsautomatismus auslöst. Insofern kann der Aspekt des OLG Frankfurt, eine Verzögerung von einem Monat falle bei einer über fünfjährigen Verfahrensdauer nicht schwer ins Gewicht, Berücksichtigung bei der Beurteilung finden, ob überhaupt ein ersatzfähiger immaterieller Nachteil vorliegt bzw. ob in diesem Fall die Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichende Kompensation ist. (bb) Verhalten des Entschädigungsklägers als egalisierender Faktor Nach einer Auffassung sollen entschädigungsrelevante Verzögerungen, die durch staatliche Stellen verursacht wurden, im Rahmen einer wertenden Betrachtung nivelliert werden können, wenn auch dem Entschädigungskläger die Verursachung von Verfahrensverzögerungen vorzuwerfen ist826. Diese Ansicht steht jedoch im Widerspruch zur Wirkungsweise von Grundrechten und ist auch mit der Dogmatik des § 198 GVG unvereinbar. Eine irgendwie geartete Verwirkung des Grundrechts auf rechtzeitigen Rechtsschutz liegt nicht bereits deswegen vor, weil der Verfahrensbeteiligte durch sein Verhalten ebenfalls zur Verlängerung der Verfahrenszeit beigetragen hat. Die Prozessförderungspflicht des Gerichtes bleibt unabhängig davon bestehen.827 Dies spiegelt sich auch in der Rechtsprechung des EGMR wider, der einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK annimmt, wenn sich die Länge des Verfahrens nicht allein durch das Verhalten des Beschwerdeführers rechtfertigen lässt und Verzögerungen in den staatlichen Verantwortungsbereich fallen.828 Diesbezüglich berücksichtigt der Gerichtshof das Verhalten des Beschwerdeführers auf Rechtsfolgenseite, indem er einzelfallabhängig keine geldwerte Entschädigung zuspricht, sondern eine Feststellung des Konventionsverstoßes als gerechte
825
BVerfG NJW 2013, 3630 (3632, Rn. 43). Dieser Ansatz ist erkennbar in BVerfG, Beschl. v. 14.12.2010 – 1 BvR 404/10, Rn. 16, juris: Die vom Staat verursachte Verzögerung falle bei Gegenüberstellung der vom Beteiligten verursachten Verzögerung nicht entscheidend ins Gewicht; diesen Beschluss berücksichtigend Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 32. 827 Siehe auch Schenke, NVwZ 2012, 257 (260). 828 EGMR, Urt. v. 15.07.1982 – Nr. 8130/78 (Eckele./.Deutschland), § 86, Hudoc; EGMR, Urt. v. 30.11.2006 – Nr. 66824/01 (Lesar./.Slowenien), § 32, Hudoc; EGMR, Urt. v. 01.04.2010 – Nr. 12852/08 (Niedzwiecki./.Deutschland), § 48, Hudoc; missverständlich EGMR, Urt. v. 20.02.1991 – Nr. 11889/85 (Vernillo./.Frankreich), § 38 f., Hudoc. 826
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Entschädigung für ausreichend hält.829 Dieser Grundgedanke findet sich auch im ÜGRG wieder, wonach eine Wiedergutmachung auf andere Weise in Form einer schlichten Feststellung der Überlänge für ausreichend erachtet werden kann, wenn das Verhalten des Beteiligten erheblich zur Verzögerung des Verfahrens beigetragen hat.830 (cc) Unangemessene Verfahrensdauer infolge der Kumulation von Verfahrensverzögerungen Teilweise wird vertreten, dass die abschließende Gesamtbetrachtung noch eine weitere Funktion hat: Sie ermögliche die Feststellung, ob Verfahrensverzögerungen der beteiligten Gerichte erst infolge ihrer Kumulation die Unangemessenheit der Gesamtverfahrensdauer begründen.831 Diese Vorgehensweise geht auf die Rechtsprechung des EGMR zurück.832 So heißt es bspw. im Rechtsstreit Erkner und Hofauer./.Österreich: „It may be that none of the various stages is inordinately long in itself, but their combined length is certainly excessive.“833
Nach der hiesigen Prüfungsweise begründet jedoch jede festgestellte Verfahrensverzögerung grundsätzlich die Unangemessenheit der Verfahrensdauer, solange sie nicht durch eine zügige Verfahrensführung kompensiert wurde, sodass die Summe der Verfahrensverzögerungen die Dauer der Überlänge ergibt. Im Widerspruch hierzu steht der Ansatz, wenn erst infolge der Kumulation der Verzögerungen die Überlänge des Verfahrens begründet wird. In diesem Fall ist auch unklar, welche Zeitspanne die konkrete Überlänge umfasst. Erklären lässt sich dieser „Kunstgriff“ des EGMR wohl damit, dass der Gerichtshof die sich mit zunehmender Verfahrensdauer steigernde Förderungspflicht des Gerichtes unberücksichtigt bei der Beurteilung lässt, ob eine Verfahrensverzögerung vorliegt. Insofern behilft er sich bei Begründung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer mit der Kumulation von Verfahrensverzögerungen. Es 829 Siehe bspw. EGMR, Urt. v. 06.10.2005 – Nr. 695854/01 (Müller./.Deutschland), § 93, Hudoc; EGMR, Urt. v. 01.04.2010 – Nr. 12852/08 (Niedzwiecki./.Deutschland), § 48, 54, Hudoc; wohl auch EGMR, Urt. v. 07.01.2010 – Nr. 40009/04 (Koester./.Deutschland), § 177, Hudoc; EGMR, Urt. v. 13.07.2006 – Nr. 38033/02 (Stork./.Deutschland), § 51, Hudoc. 830 BT-Drs. 17/3802, S. 20. 831 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 100 f.; Heine, MDR 2013, 1081 (1085); OLG Braunschweig, Urt. v. 08.02.2013 – 4 SchH 1/12, Rn. 130, juris; LSG Darmstadt, Urt. v. 06.02.2013 – L 6 SF 6/12 EK U, Rn. 59, juris. 832 EGMR, Urt. v. 23.04.1987 – Nr. 9616/81 (Erkner u. Hofauer./.Österreich), § 69 f., Hudoc; vgl. auch EGMR (Große Kammer), Urt. v. 29.05.1986 – Nr. 9384/81 (Deumeland./.Deutschland), § 90, Hudoc; EGMR, Urt. v. 10.02.2005 – Nr. 64387/01 (Uhl./.Deutschland), § 33, Hudoc. 833 EGMR, Urt. v. 23.04.1987 – Nr. 9616/81 (Erkner u. Hofauer./.Österreich), § 69, Hudoc.
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überrascht daher nicht, dass der Rechtsprechung des BVerfG etwas Vergleichbares nicht entnommen werden kann. (dd) Schlussfolgerung Nach dem Vorstehenden kann eine abschließende Gesamtabwägung nicht dazu führen, dass im Verfahrensverlauf festgestellte Verfahrensverzögerungen unter Berufung auf die Gesamtverfahrensdauer oder das Verhalten des Entschädigungsklägers egalisiert werden und somit ihre Entschädigungsrelevanz verlieren. Zudem ist eine abschließende Gesamtabwägung aller Faktoren aufgrund der Rechtsprechung des BVerfG nicht geboten. Denn während die abschließende Gesamtbetrachtung in diesem Zusammenhang die Funktion erfüllt, den Bezug zur Gesamtverfahrensdauer herzustellen, verfolgt die Gesamtabwägung aller Umstände im Rahmen der Angemessenheitsprüfung des BVerfG den Zweck, festzustellen, ob überhaupt eine Verletzung der Rechtsschutzgarantie vorliegt. Die uneingeschränkte Übertragung dieser Rechtsprechung auf die vorliegende Prüfungsmethodik überzeugt daher nicht. Die Gesamtbetrachtung erschöpft sich dennoch nicht in einer reinen Verrechnung der festgestellten Verzögerungen. Sie eröffnet vielmehr die Möglichkeit, solche Umstände zu würdigen, die noch nicht in die Entscheidung, ob eine Verfahrensverzögerung vorliegt, miteingeflossen sind. Insofern hat im Rahmen einer abschließenden Gesamtabwägung lediglich eine Doppelverwertung von Umständen zu unterbleiben.834 (7) Zusammenfassung Gem. § 198 Abs. 1 S. 2 GVG richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles. Aus diesem Grund kann weder ein abstrakt-genereller Prüfungsmaßstab zur Bestimmung der Angemessenheit herangezogen werden noch eignen sich diesbezüglich Zeitgrenzen als Indiz für die Verletzung des Verfahrensrechts. Die Gesetzessystematik des § 198 GVG macht es erforderlich, dass das Entschädigungsgericht die Dauer der Überlänge konkret bestimmt. Dieser Anforderung genügt eine globale Abwägung der maßgeblichen Umstände nicht. Vielmehr ist der Verfahrensverlauf in einem ersten Schritt nach Phasen der unzureichenden Verfahrensförderung, die in den staatlichen Verantwortungsbereich fallen, zu untersuchen (Verfahrensverzögerung). Hierzu sind alle maßgeblichen Umstände in der jeweiligen Verfahrenssituation herauszuarbeiten und zu prüfen, ob diese im Hinblick auf das Effektivitätsgebot zutreffend gegeneinander abgewogen wurden. Bei dieser Entscheidung sind insbesondere die Schwierigkeit der Verfahrenssituation, die Bedeutung des Verfahrens für 834
So auch Bub, DRiZ 2014, 94 (96).
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den Prozessbeteiligten, die bisherige Verfahrensdauer sowie die gerichtliche Verfahrensführung relevant. In Bezug auf Letzteres beschränkt sich die Prüfungskompetenz der Entschädigungsgerichte nicht auf eine Vertretbarkeitskontrolle. Etwas anderes gilt aber, wenn Verzögerungen aufgrund fehlerhafter Rechtsanwendung eingetreten sind; insofern findet lediglich eine Willkürkontrolle statt. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, in welchem Verhältnis die festgestellten Verfahrensverzögerungen zur Überlänge des Gerichtsverfahrens stehen. Hätte das Gerichtsverfahren trotz Vorliegen einer Verfahrensverzögerung nicht früher beendet werden können, hat diese bei der Berechnung der Überlänge außer Betracht zu bleiben. Die Summe der hiernach festgestellten Verfahrensverzögerungen bildet grundsätzlich die Dauer der Überlänge. Umstände, die für die Angemessenheitsprüfung relevant sind, aber noch keine Berücksichtigung gefunden haben, sind im Rahmen einer abschließenden Gesamtabwägung zu würdigen. In dieser ist zudem zu prüfen, ob eingetretene Verzögerungen durch eine beschleunigte Verfahrensführung in einem anderen Verfahrensabschnitt kompensiert wurden. cc. Bewertung Können präventive Rechtsschutzinstrumente den Eintritt einer überlangen Verfahrensdauer nicht verhindern, gebieten sowohl das GG als auch die EMRK die Eröffnung von Sekundärrechtsschutz, mit dem die Kompensation der Verletzung des grund- und völkerrechtlichen Anspruchs auf angemessene Verfahrensdauer möglich ist.835 Ein effektiver kompensatorischer Rechtsbehelf hat somit zwingend an die Missachtung dieses Verfahrensrechtes anzuknüpfen, der darüber hinaus nicht verschuldensabhängig ausgestaltet sein darf. Diesen Anforderungen wird der Entschädigungsanspruch aus § 198 GVG gerecht; dessen alleiniger Haftungsgrund ist die Verletzung des Effektivitätsgebotes. Der Verfahrensbeteiligte hat das Recht, dass über sein Rechtsschutzbegehren insgesamt innerhalb einer angemessenen Zeit entschieden wird. Daher überzeugt es, auf die gesamte Dauer des Gerichtsverfahrens als Bezugspunkt der Angemessenheit abzustellen. Die Entscheidung des Gesetzgebers, die Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer von den Umständen des Einzelfalles abhängig zu machen, ist dem Individualcharakter des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer geschuldet. Sie war auch angesichts der Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR alternativlos. Damit wird insbesondere dem Umstand Rechnung getragen, dass in völkerrechtlicher Hinsicht die Ausrichtung an der Einzelfallbetrachtung des EGMR ein elementarer Bestandteil eines effektiven
835
Siehe hierzu S. 21 ff.
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Rechtsschutzinstruments ist836. Indem § 198 Abs. 1 S. 2 GVG die diesbezügliche stereotype Formel des BVerfG und des EGMR aufgreift, wird deutlich, dass bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer auf die Rechtsprechung der beiden Gerichte abzustellen ist. Diese ist von den nationalen Entschädigungsgerichten zu beachten, was der EGMR auch in der Entscheidung Taron./.Deutschland hervorgehoben hat. In dieser hatte der Gerichtshof erstmals im Zusammenhang mit Art. 35 EMRK zu beurteilen, ob die durch die §§ 198 ff. GVG geschaffenen Rechtsschutzmöglichkeiten vor Erhebung einer Individualbeschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer erschöpft werden müssen. Nachdem der Gerichtshof ausführt, dass derzeit keine Zweifel bestünden, dass das ÜGRG die mit ihm verfolgten Ziele nicht erreichen werde837, heißt es weiter: „Dieses Ergebnis mag allerdings in der Zukunft zu überprüfen sein. Das hängt insbesondere davon ab, ob die deutschen Gerichte in der Lage sind, eine beständige und den Anforderungen der Konvention entsprechende Rechtsprechung zu entwickeln [...].“838
Vor diesem Hintergrund ist der restriktive Ansatz des BGH, nach dem der richterlichen Unabhängigkeit eine Vorrangstellung gegenüber dem Recht des Verfahrensbeteiligten auf eine angemessene Verfahrensdauer einzuräumen ist und die richterliche Verfahrensführung im Rahmen der Angemessenheitsprüfung auf ihre bloße Vertretbarkeit hin überprüft werden kann, mit der Rechtsprechung des EGMR unvereinbar und als zu weitgehend abzulehnen. Zudem lässt sich aus Art. 97 Abs. 1 GG kein eingeschränkter Prüfungsmaßstab herleiten. Auch aus diesem Grund ist die vom BGH geäußerte Kritik, der Kriterienkatalog in § 198 Abs. 1 S. 2 GVG sei zu eng, da der gerichtliche Gestaltungsspielraum bei Führung des Verfahrens keine Berücksichtigung im Gesetzestext finde, haltlos.839 Wenngleich nach der hiesigen Prüfungsmethodik einzelne Verzögerungen im Verfahrensverlauf herauszuarbeiten sind, ist bei diesem kleinschrittigen Vorgehen zu beachten, dass ein Abweichen vom Optimum nicht ausreichend für die Annahme einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ist. Insofern ist in den oben aufgezeigten Grenzen eine restriktive Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes der unangemessenen Verfahrensdauer geboten.840 Der Gesetzgeber hat den Entschädigungsgerichten die anspruchsvolle und arbeitsintensive Aufgabe übertragen, die konkrete Dauer der Überlänge zu bestimmen, indem er die Höhe der Entschädigungszahlung an diese gekoppelt hat. Insofern hat er eine Weichenstellung gewählt, die eine Übertragung der 836
Siehe Nachweis im 3. Kap. Fn. 34. EGMR NVwZ 2013, 47 (48, Rn. 41). 838 EGMR NVwZ 2013, 47 (49, Rn. 45). 839 So der BGH in seiner Stellungnahme zur Evaluierung des ÜGRG, BT-Drs. 18/2950, S. 13. Im Evaluierungsbericht ist fälschlicherweise von § 198 Abs. 2 GVG die Rede. 840 Vgl. Roller, DRiZ Beilage Juni 2012, 1 (2). 837
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Prüfungsmethodik des BVerfG bzw. des EGMR nur rudimentär möglich macht. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Vielzahl der unterschiedlichen Vorgehensweisen der Entschädigungsgerichte, die in diesem Bereich Neuland betreten haben. Die Konnexität zwischen der Überlänge des Gerichtsverfahrens sowie der zu zahlenden Entschädigungshöhe für immaterielle Nachteile führt jedoch zu einer begrüßenswerten – und in der Rechtsprechung des EGMR zuweilen fehlenden – Transparenz im Abwägungsprozess, weil von den Entschädigungsgerichten herauszuarbeiten ist, inwiefern welche Verzögerungen zur unangemessenen Verfahrensdauer beigetragen haben und welche Entschädigungshöhe gerechtfertigt ist. f. Kausal entstandener Nachteil aa. Der Nachteilsbegriff im Rahmen von § 198 GVG Eine angemessene Entschädigung erhält der Verfahrensbeteiligte nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG nur, wenn er infolge der überlangen Verfahrensdauer einen Nachteil erlitten hat. Das Vorliegen eines Nachteils ist somit haftungsbegründende Voraussetzung. Der Begriff des Nachteils wird im Gesetz nicht definiert.841 Klar ist nach § 198 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GVG nur, dass ein Ersatz für Vermögens- und Nichtvermögensnachteile zu leisten ist.842 Fraglich ist, in welchem Konnex der Nachteils- und der Schadensbegriff stehen.843 Teilweise werden diese Begriffe synonymisch verwendet.844 Für diese Auffassung streitet, dass der Nachteilsbegriff bereits im Referentenentwurf sowie im Regierungsentwurf zum ÜGRG Niederschlag gefunden hat, obwohl nach diesen beiden Entwürfen die Bemessung der Entschädigung nach den Grundsätzen der §§ 249 ff. BGB erfolgen sollte845. Es wäre daher naheliegend, dass der Begriff des Nachteils nur deswegen gewählt wurde, weil der Schadensbegriff des BGB mit „Schuld“ bzw. „Vorwerfbarkeit“ konnotiert ist846, der Entschädigungsanspruch nach § 198 GVG aber kein schuldhaftes Verhalten voraussetzt.
841
Siehe auch Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 15. So auch deutlich BT-Drs. 17/3802, S. 19. 843 Nach Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 143 entstamme der Nachteilsbegriff der staatshaftungsrechtlichen Terminologie; a.A. Scholz, SGb 2012, 19 (23), nach dem der Begriff des Nachteils noch nicht im Staatshaftungsrecht verwendet werde und daher den Charakter des Entschädigungsanspruches als Haftungsinstitut sui generis unterstreiche. 844 Böcker, DStR 2011, 2173 (2177); Magnus, ZZP 125 (2012), 75 (87 f.); Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 46 ff. 845 Siehe hierzu S. 192 ff. 846 Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 15; Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 50. 842
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Gegen eine solche Lesart spricht jedoch, dass der EGMR jegliche nachteilige Folgen, die aus der Konventionsverletzung resultieren, für ersatzfähig hält. Bei überlangen Gerichtsverfahren kann also allein die Frustration über das Nichtvorankommen des Verfahrens sowie die Ungewissheit über den Abschluss des Prozesses als immaterieller Nachteil ersatzfähig sein.847 Daran anknüpfend soll nach der Gesetzesbegründung des ÜGRG der Nachteilsbegriff auch die „seelische Unbill“ infolge der langen Verfahrensdauer umfassen.848 Die Voraussetzungen des § 253 Abs. 2 BGB müssen für eine angemessene Entschädigung in Geld nicht vorliegen. Damit ist der Nachteilsbegriff des § 198 GVG nicht synonymisch zum Schadensbegriff849, sondern vielmehr auszulegen als jedes „quantitatives und/oder qualitatives Weniger als sonst, also ohne die Überlänge des Verfahrens“850. Dabei darf der Nachteil nicht gänzlich unerheblich sein.851 Zur Feststellung, ob dem Verfahrensbeteiligten ein Nachteil entstanden ist, ist demnach eine Gesamtbewertung aller Folgen, welche die Verfahrensdauer verursacht hat, erforderlich.852 Ein materieller Nachteil ist vom immateriellen insofern abzugrenzen, als dass ein quantitatives Weniger in Form einer Vermögenseinbuße vorliegt. Beispiele für materielle und immaterielle Nachteile werden im Zusammenhang mit den Rechtsfolgen des Entschädigungsanspruches aufgezeigt. Die Gewährung einer Entschädigung für immaterielle Nachteile ohne das Erfordernis einer Verletzung eines personenbezogenen Rechtsgutes hat zur Konsequenz, dass – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR853 – auch juristische Personen diesbezüglich zum Kreis der Anspruchsberechtigten zu zählen sind.854 Anzuknüpfen ist bei der Bestimmung des immateriellen 847
Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 41 EMRK, Rn. 9; Remus, NJW 2012, 1403 (1406). BT-Drs. 17/3802, S. 19. 849 Siehe auch Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 15: Das Vorliegen eines Schadens ist keine Voraussetzung für die Beurteilung, ob ein Nachteil vorliegt; Guckelberger, DÖV 2012, 289 (289). 850 Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 16. 851 Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 17: Minima non curat preator. Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 50: „nicht ganz unerhebliche negative Betroffenheit“. 852 BFH, Urt. v. 20.11.2013 – X K 2/12, Rn. 28, juris. 853 EGMR, Urt. v. 06.04.2000 – Nr. 35382/97 (Comingersoll S.A./.Portugal), § 34, Hudoc; ausführlich zur Herleitung des Anspruchs juristischer Personen auf Ersatz eines immateriellen Schadens Ress, in: FS Ishikawa 2001, S. 429 (435 ff.). 854 So auch Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 84 f.; wohl auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 148 f.; LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, Rn. 231 ff., juris; BSG, Urt. v. 05.05.2015 – B 10 ÜG 5/14 R, Rn. 31, juris. In diese Richtung wohl auch BT-Drs. 17/3802, S. 40; Böcker, DStR 2011, 2173 (2176). Der Begriff des Schmerzensgeldes ist in diesem Zusammenhang zu eng und unangebracht, Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 86; Ress, in: FS Ishikawa 2001, S. 429 (429). 848
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Nachteils von juristischen Personen an objektive Elemente, sodass diese eine angemessene Entschädigung bspw. für die Ungewissheit der Unternehmensplanung sowie die Schädigung der Reputation des Unternehmens verlangen können.855 bb. Kausalität Nach dem Wortlaut des § 198 Abs. 1 S. 1 GVG tritt die Entschädigungspflicht ein, wenn der Verfahrensbeteiligte infolge einer unangemessenen Verfahrensdauer einen Nachteil erleidet. Der Nachteil muss also kausal auf die überlange Verfahrensdauer zurückführbar sein, wobei eine allgemeine Kausalitätsprüfung vorzunehmen ist856. Da den Betroffenen diejenigen Nachteile auszugleichen sind, die durch die Verletzung des Effektivitätsgebotes eingetreten sind, spielt es für die Kausalität keine Rolle, ob die Nachteile vor oder nach Erhebung der Verzögerungsrüge entstanden sind.857 Unerheblich ist auch, ob die Nachteile in einem späteren Verfahrensstadium (womöglich in einem anderen Haftungsabschnitt i.S.v. § 200 GVG) eingetreten sind. Da die Verfahrensdauer regelmäßig keinen Einfluss auf die inhaltliche Sachentscheidung selbst hat, sind solche Nachteile, die auf dem Ausgang des Verfahrens beruhen, nicht kausal auf die Überlänge des Verfahrens zurückzuführen.858 cc. Bewertung § 198 Abs. 1 GVG gewährt Ersatz für materielle und immaterielle Schadenspositionen und entspricht damit sowohl den konventionsrechtlichen als auch den verfassungsrechtlichen859 Mindestanforderungen.
855 Vgl. Ress, in: FS Ishikawa 2001, S. 429 (441 f.). Die Anknüpfung an subjektive Elemente (bspw. die Ungewissheit der Planung für das Management-Team) ist verknüpft mit dem Durchgriff auf die hinter den juristischen Personen stehenden natürlichen Personen. Ein solcher Durchgriff ist nach deutschem Recht nur im eingeschränkten Maße möglich und entspricht eher der spanischen oder englischen Rechtstradition, Ress, in: FS Ishikawa 2001, S. 429 (438 ff.). Anders wohl LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, Rn. 229, juris. 856 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 156; Heine, MDR 2012, 327 (330). Zur Vermeidung großer finanzieller Belastungen der Staatskasse plädiert Magnus, ZZP 125 (2012), 75 (87) für einen strengen Maßstab im Rahmen der Adäquanz. 857 Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (3); Guckelberger, DÖV 2012, 289 (296); Schenke, NVwZ 2012, 257 (262). Auch aus diesem Grund wurde zu Recht vom Vorschlag des Referentenentwurfes, die Entschädigung für Nachteile auszuschließen, die vor Erhebung der Verzögerungsrüge eingetreten sind, Abstand genommen, siehe ÜGRG-RefE vom 15.03.2010, S. 18. 858 Vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 41 EMRK, Rn. 12. 859 Siehe hierzu ausführlich Breuer, Staatshaftung, S. 365 ff.
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Im Hinblick auf den ersatzfähigen Schaden geht die Rechtsprechung des EGMR weiter als die deutsche Schadensersatzdogmatik. Unter anderem deswegen wurde der Amtshaftungsanspruch gem. § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG als kompensatorischer Rechtsbehelf gegen überlange Verfahrensdauer für ineffektiv gehalten.860 Nur das hier vertretene weite Verständnis des Nachteilsbegriffes wird daher den völkerrechtlichen Anforderungen des Art. 13 EMRK gerecht. Zwar akzeptiert der EGMR, dass die nationalen Gesetzgeber die Rechtsschutzinstrumente in die Rechtstraditionen des Staates einbetten. Diese Gestaltungsbefugnis kann jedoch nicht so weit gehen, dass Verfahrensbeteiligte, die in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen, vom Kreis der Anspruchsberechtigten ausgeschlossen werden. Da sich auch juristische Personen als Verfahrensbeteiligte auf das Recht auf angemessene Verfahrensdauer berufen können, war es unter Effektivitätsgesichtspunkten zwingend erforderlich, auch ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, Ersatz für immaterielle Nachteile verlangen zu können.861 Dieser Bruch mit der traditionellen Dogmatik des deutschen Schadensersatzrechtes ist jedoch aufgrund des weiten Nachteilsbegriffs des § 198 GVG nicht so gravierend, wie man auf den ersten Blick vermuten mag, und unter Berücksichtigung des weiten Gestaltungsspielraumes des Gesetzgebers in verfassungsrechtlicher Hinsicht ebenso nicht zu beanstanden. 2. Rechtsfolgen des Entschädigungsanspruches nach § 198 Abs. 1 GVG Während im ersten Abschnitt der Haftungstatbestand des Entschädigungsanspruches eingehend analysiert wurde, steht im Fokus der hiesigen Ausführungen dessen Rechtsfolgen. Einführend sei bemerkt, dass das deutsche Staatshaftungsrecht auf Rechtsfolgenseite vom Dualismus des Schadensersatzes und der Entschädigung geprägt ist.862 Eine Entschädigungszahlung erfüllt nach der allgemeinen Dogmatik lediglich eine Ausgleichsfunktion, sodass grundsätzlich nicht alle Schäden ersetzt werden. Ausgeglichen wird der Substanzverlust, den der Betroffene durch den Eingriff erlitten hat.863 Regelmäßig ausgeschlossen ist der Ersatz immaterieller Schäden864, der an das Vorliegen eines Schadensersatzanspruches anknüpft865. Der Schadensersatz ist dagegen auf eine vollständige 860
Siehe oben S. 70 ff. LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, Rn. 233, juris. 862 Siehe nur Breuer, Staatshaftung, S. 154. 863 Vgl. für die Entschädigung bei einem enteignenden Eingriff BGHZ 30, 338 (351); 91, 20 (30). 864 Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (3); vgl. Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 147. 865 BGH NJW 2010, 3160 (3160); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 2. 861
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Kompensation des eingetretenen Schadens gerichtet und erfasst grundsätzlich auch den Ersatz von immateriellen Schäden (vgl. §§ 249 ff. BGB). Er soll den Betroffenen so stellen, wie er ohne schädigendes Ereignis stünde. Rechtsfolge des Entschädigungsanspruches aus § 198 Abs. 1 S. 1 GVG ist eine angemessene Entschädigung, die sowohl für materielle als auch für immaterielle Nachteile gewährt wird. Zunächst wird die angemessene Entschädigung in Geld als Rechtsfolge des Entschädigungsanspruches untersucht (a.). Aufgezeigt werden hier insbesondere der Umfang der Entschädigung und Beispiele von zu ersetzenden Nachteilen. Es erfolgt jeweils eine Bewertung der vom Gesetzgeber getroffenen Regelungen aus völker- und verfassungsrechtlicher Hinsicht. Für immaterielle Nachteile ergeben sich hinsichtlich der Entschädigungsleistung Besonderheiten aus § 198 Abs. 2 S. 2, Abs. 4 GVG, nach dem eine Entschädigung nur beansprucht werden kann, wenn eine Wiedergutmachung auf andere Weise nicht ausreichend ist. Diese als selbstständige Rechtsfolge des Entschädigungsanspruches einzuordnende Bestimmung wird unter Gliederungspunkt (b.) näher beleuchtet. Im Anschluss daran wird auf die Anwendbarkeit des § 254 BGB auf Rechtsfolgenseite des § 198 GVG (c.) eingegangen. a. Die angemessene Entschädigung in Geld aa. Materielle Nachteile (1) Umfang Nach dem Gesetzestext wird derjenige, der infolge der überlangen Verfahrensdauer einen Nachteil erleidet, angemessen entschädigt. Konkrete Maßstäbe, wie die angemessene Entschädigung zu bemessen ist, können dem Gesetzestext nicht entnommen werden.866 Eine mit § 198 Abs. 2 S. 3 GVG vergleichbare Regelung hat der Gesetzgeber für materielle Nachteile nicht normiert. Somit ist fraglich, in welchem Umfang der Rechtsschutzsuchende Ersatz für diese erhält. Ossenbühl sieht keinen Grund „bei der Auslegung des Begriffs der Entschädigung im Sinne des § 198 GVG das Ersatzniveau mit terminologischen Gründen herunterzupegeln.“867 Offen bleiben aber die hieraus zu ziehenden Konsequenzen. (a) Gesetzeshistorie Die Rechtsfolgenanordnung des § 198 Abs. 1 S. 1 GVG war im Gesetzgebungsverfahren Gegenstand zahlreicher Diskussionen. Der Gesetzesentwurf
866 867
Siehe auch Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 462. Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 461 f.; Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (859).
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der Bundesregierung sah zunächst vor, dass der Verfahrensbeteiligte eine Entschädigung für die ihm entstandenen Nachteile erhalten sollte, ohne in diesem Zusammenhang den Begriff der Angemessenheit zu verwenden. Der entsprechende Gesetzestext des § 198 Abs. 1 S. 1 GVG-RegE lautete wie folgt: „Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird entschädigt.“868
Nach diesem Regelungsansatz sollte eine schadensersatzrechtliche Totalreparation erfolgen.869 In einer ersten Stellungnahme gab der Bundesrat aber zu bedenken, dass für eine vollständige Schadenskompensation mangels eines Verschuldens- oder Gefährdungstatbestandes kein Anlass bestehe.870 Darüber hinaus sei die Anwendung der in §§ 249 ff. BGB normierten Grundsätze allein Schadensersatzansprüchen vorbehalten und die Anwendung dieser auf Entschädigungsansprüche dem deutschen Schadensrecht fremd. Die Gewährung einer angemessenen Entschädigung in Anlehnung an § 906 Abs. 2 S. 2 BGB sei ausreichend, um so auch den Unterschied zwischen der verschuldensabhängigen Amtshaftung und dem verschuldensunabhängig ausgestalteten Haftungstatbestand des § 198 Abs. 1 GVG zu verdeutlichen. Insofern könne bei der Bemessung der Entschädigung Berücksichtigung finden, wie schwerwiegend die Verzögerungen seien und ob es sich um mittelbare oder unmittelbare Schäden handele. Die Gewährung einer angemessenen Entschädigung stehe zudem im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR, der dem Betroffenen eine Entschädigung gem. Art. 41 EMRK nach billigem Ermessen zuspreche, wobei die Entschädigung in der Regel mit denjenigen Grundsätzen übereinstimme, die für die Entschädigung bei Enteignung, enteignungsgleichem Eingriff und Aufopferung gelten würden. Insofern sei der Gesetzesentwurf dahingehend zu ergänzen, dass der Verfahrensbeteiligte für Nachteile wegen überlanger Verfahrensdauer eine angemessene Entschädigung erhalte. Nach Überweisung des Gesetzesentwurfes an den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages erörterte dieser unter anderem im Rahmen einer Sachverständigenanhörung die vorliegende Problematik und schlug in seiner Beschlussempfehlung ebenfalls die Ergänzung des Gesetzestextes um ein „angemessen“ in § 198 Abs. 1 S. 1 GVG-E vor.871 In der Begründung der Beschlussempfehlung hieß es dazu, dass die Änderung „der Sache nach einen Vorschlag des Bundesrates auf[greift]“872. Der Deutsche Bundestag stimmte dem Gesetzesentwurf in der vom Rechtsausschuss empfohlenen Fassung zu.873 868
BT-Drs. 17/3802, S. 7. BT-Drs. 17/3802, S. 19. 870 Siehe hierzu und im Folgenden BT-Drs. 17/3802, S. 34. 871 BT-Drs. 17/7217, S. 3, 27 f. 872 BT-Drs. 17/7217, S. 27. 873 BT-Plenarprotokoll 17/130, S. 15348. 869
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Der Gesetzesgenese ist daher zu entnehmen, dass der Entschädigungsanspruch nicht auf die Gewährung von Schadensersatz nach §§ 249 ff. BGB gerichtet ist und somit eine schadensersatzrechtliche Totalreparation nicht erfolgt.874 (b) Schrifttum Vor diesem Hintergrund werden zur Bemessung der angemessenen Entschädigung im Schrifttum die Entschädigungsgrundsätze des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB herangezogen.875 Nach der Rechtsprechung und der Literatur erfolgt im Rahmen von § 906 Abs. 2 S. 2 BGB ein Interessenausgleich nach Billigkeitsgesichtspunkten.876 Die Bemessung der Entschädigung orientiert sich dabei an den Grundsätzen zur Enteignungsentschädigung877, nach denen ein Ausgleich für auferlegte Vermögenseinbußen erfolgt878. Der Ausgleichsanspruch ist somit nicht auf vollen Schadensersatz gerichtet879, kann aber mit einem vollständigen Schadensausgleich kongruent sein880. Aspekte, wie die Höhe des Nachteils und die Unmittelbarkeit der Schadensverursachung, können bei der Bemessung der Entschädigungshöhe Berücksichtigung finden.881 Im Ergebnis
874
Guckelberger, DÖV 2012, 289 (296); Schenke, NVwZ 2012, 257 (262); Heine, MDR 2012, 327 (331); Heine, MDR 2013, 1147 (1148); Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (858); Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 426; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (3 f.); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 220; a.A. Gehm, StBW 2013, 847 (849); Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1907) wohl noch zum Regierungsentwurf. 875 Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 62, 64; vom Stein/Brand, NZA 2014, 113 (117). 876 BGHZ 62, 361 (370); Wilhelmi, in: Erman BGB, § 906 BGB, Rn. 35; Vieweg/Regenfus, in: jurisPK-BGB, § 906 BGB, Rn. 145. 877 St. Rspr. BGHZ 49, 148 (155); 62, 361 (371); 85, 375 (386); 90, 255 (263); 147, 45 (53); 142, 66 (70); 111, 158 (167); BGH NJW 2003, 2377 (2379). 878 BGHZ 6, 270 (295); 147, 45 (53); BGH NJW 2010, 3160 (3160); NJW 2004, 1037 (1041); Vieweg/Regenfus, in: jurisPK-BGB, § 906 BGB, Rn. 149. 879 BGHZ 62, 361 (371); 111, 158 (167); Fritzsche, in: BeckOK-BGB, § 906 BGB, Rn. 77; Vieweg/Regenfus, in: jurisPK-BGB, § 906 BGB, Rn. 149; Wilhelmi, in: Erman BGB, § 906 BGB, Rn. 40; Baur, in: Soergel, § 906 BGB, Rn. 153. Für einen vollständigen Schadensausgleich sprechen sich aus: Jauernig, JZ 1986, 605 (610 ff.); Berger, in: Jauernig, § 906 BGB, Rn. 8, 15; Bassenge, in: Palandt, § 906 BGB, Rn. 29; Säcker, in: MüKo-BGB, § 906 BGB, Rn. 166; Staudinger, in: HK-BGB, § 906 BGB, Rn. 16. 880 BGH NJW 2010, 3160 (3160); BGHZ 142, 66 (70); Fritzsche, in: BeckOK-BGB, § 906 BGB, Rn. 79. Vgl. zum Aufopferungsanspruch Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 146. Dennoch betont der BGH, dass die Bemessung unter Abwägung aller Umstände nicht deckungsgleich mit einem Schadensersatzanspruch sein müsse BGH NJW 2003, 2377 (2380); BGH NJW-RR 1988, 1291 (1292); BGHZ 147, 45 (53); 111, 158 (167). 881 Schmidt-Aßmann, NJW 1974, 1265 (1266). In diesem Sinne auch der Bundesrat BTDrs. 17/3802, S. 34.
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wäre § 198 GVG also Ausdruck einer Billigkeitshaftung882, wie sie – nach umstrittener Ansicht – auch § 906 Abs. 2 S. 2 BGB zugrunde liegt883. (c) Stellungnahme Anders als die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf den ersten Blick vermuten lässt, ist diese mit dem Vorschlag des Bundesrates jedoch nicht identisch.884 Zum einen fehlt der Bezug auf § 906 Abs. 2 S. 2 BGB, zum anderen ist der Ersatz von entgangenem Gewinn ausdrücklich ausgeschlossen.885 Die Beschränkung auf eine „angemessene“ Entschädigung soll demnach nicht den Aspekt der Billigkeit betonen, sondern vor allem den Umfang der Entschädigung begrenzen.886 Fraglich ist damit, inwieweit der Begriff der Angemessenheit in § 198 GVG also überhaupt Raum lässt, Billigkeitsgesichtspunkte zu würdigen. Können also Aspekte, wie die Schwere der Überlänge sowie die Unmittelbarkeit der Schadensverursachung, bei der Bemessung der Entschädigungshöhe Berücksichtigung finden?887 Nach Auffassung von Ott schränkt die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses den Vorschlag des Bundesrates noch weiter ein, ohne jedoch die billigkeitsrechtliche Komponente aufzugeben.888 In der Beschlussempfehlung heißt es jedoch ausdrücklich, dass „auf der Grundlage des neuen Entschädigungsanspruchs der eingetretene Substanzverlust ausgeglichen [wird].“889 Dies spricht dafür, dass der eingetretene Substanzverlust in vollständiger Höhe als „angemessener“ Entschädigungsbetrag zu leisten ist und dieser nicht aus Billigkeitsgründen herabgesetzt werden kann. Es wäre unter Berufung auf Billigkeitsaspekte widersprüchlich, einerseits die Ausgleichshöhe unterhalb des Substanzverlustes ansetzen zu können, andererseits aber keinen vollständigen Ersatz der eingetretenen materiellen Nachteile gewähren zu können.890 Ein derart eingeschränkter Abwägungsrahmen ausschließlich zu Lasten des Betroffenen mag nicht überzeugen. Davon unberührt 882
Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 220. Fritzsche, in: BeckOK-BGB, § 906 BGB, Rn. 78; Roth, in: Staudinger BGB, § 906 BGB, Rn. 263 mit weit. Nachw. 884 Zutreffend Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 220. 885 BT-Drs. 17/7217, S. 28. 886 Siehe Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 220. 887 Diese Frage bejahend Wolff, VR 2012, 289 (292); Lückemann, in: Zöller-ZPO, § 198 GVG, Rn. 7; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 220. 888 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 220 (Hervorhebung nicht im Original). 889 BT-Drs. 17/7217, S. 3. Siehe auch Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (4); Schenke, NVwZ 2012, 257 (262). 890 Insofern ist Reich, Beschleunigungspflichten, S. 620 konsequent, die unter Berufung 883
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
können sich aber besondere Umstände nach den allgemeinen Grundsätzen anspruchsmindernd auswirken (siehe S. 230 f.). Dass eine originäre Abwägungsentscheidung bezüglich der Anspruchshöhe auch in der Rechtsprechungspraxis nicht stattfindet, zeigen bisher ergangene Judikate der Entschädigungsgerichte. So heißt es zwar in Urteilen des OVG Sachsen-Anhalt und des BVerwG, dass die Entschädigungshöhe in Anlehnung an § 906 Abs. 2 S. 2 BGB nach enteignungs- und aufopferungsrechtlichen Grundsätzen zu bemessen sei. Allerdings nehmen beide Gerichte diesbezüglich eine Abwägungsentscheidung unter Billigkeitsgesichtspunkten erkennbar nicht vor und setzen ohne Einzelfallprüfung den eingetretenen Substanzverlust als angemessene Entschädigungshöhe fest.891 Somit ist festzuhalten, dass eine Entschädigung vorbehaltlich anspruchsmindernder Umstände angemessen i.S.v. § 198 Abs. 1 GVG ist, wenn hierdurch der eingetretene Substanzverlust des Rechtsschutzsuchenden vollständig ausgeglichen wird. (2) Beispiele für materielle Nachteile Nach der hier vertretenen Nachteilsdefinition liegt ein materieller Nachteil bei einem quantitativen und/oder qualitativen Weniger in Form einer Vermögenseinbuße vor. Als materielle Nachteile sind die durch die Überlänge entstandenen Mehrkosten im Ausgangsverfahren ersatzfähig.892 Dabei ist der Anspruch auf die notwendigen Kosten der Rechtsverfolgung beschränkt893, sodass Mehrkosten, die durch eine zwischen dem Verfahrensbeteiligten und seinem Prozessbevollmächtigten im Ausgangsverfahren getroffene Honorarvereinbarung auf Stundenbasis verursacht worden sind, nicht verlangt werden können. Ersatzfähig sind Wertminderungen894 sowie Unterhaltslasten, die länger vom Entschädigungskläger zu tragen waren895; nicht aber ein entgangener Gewinn896. Darüber hinaus sind auch solche Kosten vom Anspruchsgegner zu tragen, die durch die vorprozessuale Verfolgung des Entschädigungsanspruchs von Billigkeitsgesichtspunkten eine Entschädigungshöhe unter-, aber auch oberhalb des eingetretenen Substanzverlustes für möglich hält. 891 OVG Magdeburg, Urt. v. 25.07.2012 – 7 KE 1/11, Rn. 72, juris; BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 27/12 D, Rn. 54, juris; BVerwG, Urt. v. 27.02.2014 – 5 C 1/13 D, Rn. 41, juris. 892 Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (3); Schenke, NVwZ 2012, 257 (262). 893 BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 37/13, Rn. 46 ff., juris. 894 Schenke, NVwZ 2012, 257 (262). 895 OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2013 – 23 SchH 4/12 EntV, Rn. 117, juris. Keine Erstattung von Mehrkosten, die auf die Einlegung offensichtlich unzulässiger bzw. nicht statthafter Rechtsbehelfe zurückzuführen sind (Rn. 118). 896 So auch die herrschende Auffassung im Schrifttum Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (3 f.); Schenke, NVwZ 2012, 257 (262); Söhngen, NZS 2012, 493 (496); Tiedemann, ArbRB 2011, 382 (383); Wittschier, in: Musielak/Voit, ZPO, § 198 GVG, Rn. 7; Rathmann,
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entstanden sind (bspw. notwendige Anwaltskosten)897. Unterliegt der Verfahrensbeteiligte im Ausgangsprozess, ist das Vorliegen materieller Nachteile abgesehen von etwaigen erhöhten Prozesskosten kaum vorstellbar.898 (3) Bewertung (a) Die angemessene Entschädigung im Lichte der EMRK Es ist zu untersuchen, ob die Gewährung einer angemessenen Entschädigung nach den oben beschriebenen Grundsätzen den Anforderungen der EMRK gerecht wird. (aa) „Restitutio in integrum“ Mehrheitlich heißt es, die innerstaatliche Entschädigungsregelung müsse dem EMRK-Grundsatz der „restitutio in integrum“ genügen.899 Nach diesem Grundsatz muss der beklagte Staat bei Feststellung eines konventionswidrigen Verhaltens durch den EGMR die Lage vor der Konventionsverletzung soweit wie möglich wiederherstellen (sog. Naturalrestitution).900 Insofern geht es um eine Wiederherstellung des Status quo ante auf tatsächlicher, nicht aber auf finanzieller Ebene.901 Eine Naturalrestitution im Falle einer Verletzung des in: Saenger, ZPO, § 198 GVG, Rn. 20. A.A. Mack/Wollweber, Stgb 2012, 7 (9); Germelmann, JbArbR 49 (2012), 41 (53); Guckelberger, DÖV 2012, 289 (296) über eine konventionskonforme Auslegung; Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1907) wohl aber noch zum Regierungsentwurf; Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 39, 41; offen gelassen vom BSG, Urt. v. 05.05.2015 – B 10 ÜG 5/14 R, Rn. 30, juris. 897 BVerwG, Urt. v. 27.02.2014 – 5 C 1/13 D, Rn. 40, juris; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (3). Die Anwaltskosten für die gerichtliche Verfolgung sind nicht miteinzuklagen, sondern Teil der später festzusetzenden Kosten, Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1907); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 147. A.A. OVG Berlin, Urt. v. 12.09.2012 – OVG 3 A 2.12, Rn. 34, juris [aufgehoben durch BVerwG, Urt. v. 27.02.2014 – 5 C 1/13 D, juris]. 898 Magnus, ZZP 125 (2012), 75 (87 f.); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 144. 899 BT-Drs. 17/3802, S. 40; BT-Drs. 17/7217, S. 28; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (4); Schenke, NVwZ 2012, 257 (262); Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 65. Zu den unterschiedlichen Lesarten der Bezeichnung „restitutio in integrum“ siehe Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 231. 900 Grundlegend EGMR, Urt. v. 31.10.1995 – Nr. 14556/89 (Papamichalopoulos u.a./.Griechenland), § 34, Hudoc: „It follows that a judgment in which the Court finds a breach imposes on the respondent State a legal obligation to put an end to the breach and make reparation for its consequences in such a way as to restore as far as possible the situation existing before the breach.“ (Hervorhebung nicht im Original); EGMR (Große Kammer), Urt. v. 28.11.2002 – Nr. 25701/94 (früherer König von Griechenland u.a./.Griechenland), § 72, Hudoc. 901 Vgl. Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 231; undifferenziert Magnus, ZZP 125 (2012), 75 (85).
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Rechts auf angemessene Verfahrensdauer ist jedoch regelmäßig ausgeschlossen.902 Der Grundsatz der „restitutio in integrum“ trifft demnach keine Aussage über den Umfang einer Geldentschädigung bei überlangen Gerichtsverfahren. (bb) Der Entschädigungsumfang nach Art. 41 EMRK Möglicherweise folgt aber aus Art. 41 EMRK, in welchem Umfang der Betroffene zu entschädigen ist. Nach dieser Norm spricht der Gerichtshof der verletzten Partei für den Fall einer Konventionsverletzung und der diesbezüglich unzureichenden Wiedergutmachung durch das innerstaatliche Recht eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist. Die Wortwahl im Art. 41 EMRK legt nahe, dass es sich bei der Entschädigung für Konventionsverletzungen um eine Billigkeitshaftung handelt.903 So ist eine „gerechte Entschädigung“ („just satisfaction“, „satisfaction équitable“) zu gewähren, „wenn dies notwendig ist“ („if necessary“, „s’il y a lieu“). Hierfür streitet vor allem auch ein systematischer Vergleich zu Art. 5 Abs. 5 EMRK, welcher der verletzten Partei ausdrücklich Schadensersatz zuspricht („compensation“, „réparation“).904 Allerdings setzt Art. 41 EMRK voraus, dass nur eine unvollkommene Wiedergutmachung nach dem innerstaatlichen Recht erfolgt, sodass Art. 41 EMRK seinem Zweck nach Haftungslücken schließen soll, was wiederum für eine vollständige Schadenskompensation spricht.905 Teilweise wird aus dem Gebot der Naturalrestitution auf tatsächlicher Ebene gefolgert, dass im Falle der Unmöglichkeit der „restitutio in integrum“ auf finanzieller Ebene ebenfalls ein umfassender Schadensausgleich erfolgen müsse; Äquivalent der Naturalrestitution sei auf finanzieller Ebene eine Totalreparation.906 Der Zweck des Art. 41 EMRK sei demnach darin zu sehen, eine Entschädigung für all diejenigen Fälle zu gewährleisten, in denen eine Naturalrestitution unmöglich sei.907 Der durch Art. 41 EMRK eröffnete Ermessensspielraum beziehe sich somit nicht darauf, in welchem Umfang ein 902 So auch Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (4) mit Verweis auf EGMR NJW 1981, 505 (505). 903 Siehe Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 239. In diese Richtung wohl Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (4): „Die ‚gerechte Entschädigung‘ liegt auf diese Weise häufig unterhalb des Schadensersatzes.“; Althammer, JZ 2011, 446 (450); Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 41 EMRK, Rn. 17; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 41 EMRK, Rn. 4; so auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 17/3802, S. 34; Brett, Verfahrensdauer, S. 34. 904 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 658. 905 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 657; Ress, in: Europäischer Menschenrechtsschutz 1982, S. 227 (242); Ress, in: FS Ishikawa 2001, S. 429 (432 f.). 906 Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 231. 907 Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 231 f.: So indirekt der EGMR in seiner Entscheidung EGMR (Große Kammer), Urt. v. 10.03.1972 – Nr. 2832/66, 2835/66, 2899/66 (De Wilde, Ooms and Versyp./.Belgien), § 20, Hudoc.
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festgestellter Schaden zu ersetzen sei, sondern vielmehr, in welchem Umfang Schäden als ersatzfähig anzuerkennen seien.908 Nach Art. 41 EMRK sei daher grundsätzlich ein vollständiger Schadensausgleich vorzunehmen.909 Die Rechtsprechungspraxis des EGMR löst diesen Konflikt nicht.910 So erhält die verletzte Partei zwar in der Mehrheit der Fälle einen vollständigen Schadensausgleich.911 Im Einzelfall spricht der Gerichtshof auch Ersatz für mittelbare Schäden wie einen Zinsverlust zu912. Allerdings betonte der Gerichtshof in einigen seiner Entscheidungen den Billigkeitsaspekt bei Gewährung der gerechten Entschädigung und sprach weniger als den erwiesenen Schaden zu913, wobei unklar ist, ob er diesbezüglich über die „necessity“-Klausel eine Ausnahme vom Grundsatz der Totalreparation machte.914 Ein stimmiges Bild, wie die Haftungsfolgen von Art. 41 EMRK ins deutsche Rechtsfolgensystem einzuordnen sind, ergibt sich daraus also nicht. (cc) Der Entschädigungsumfang nach Art. 13 EMRK Den aus der EMRK verpflichteten Staaten steht bei Schaffung von Rechtsschutzinstrumenten gegen überlange Gerichtsverfahren ein Ermessensspielraum zu, der es ihnen erlaubt, Rechtsbehelfe in Übereinstimmung mit ihren Rechtssystemen und -traditionen zu gestalten.915 Ein Gleichlauf zwischen einem nationalen Rechtsbehelf und der Rechtsprechungspraxis des EGMR im 908
Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 658. Zu Recht betonen die Autoren, dass ein Unterschied bei dieser vorgenommenen Differenzierung im Ergebnis wohl kaum feststellbar ist, wenn der EGMR im besonderen Maße von seiner Schätzungsbefugnis hinsichtlich des Schadens Gebrauch macht. Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 237. 909 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 658; Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 231 f., 236; a.A. Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (4). 910 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 657. 911 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 657 mit weit. Nachw. in Fn. 194; Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 231 f.; Chryssogonos/Kaidatzis, in: FS Tsatsos 2003, S. 62 (65). 912 EGMR, Urt. v. 01.07.1997 – Nr. 20950/92 (Probstmeier./.Deutschland), § 70 ff., Hudoc; Brett, Verfahrensdauer, S. 34. 913 Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 240, mit Rechtsprechungsnachweisen; Chryssogonos/Kaidatzis, in: FS Tsatsos 2003, S. 62 (66); Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 658: Es ist unklar, ob es sich dabei um fehlerhafte Ausrutscher handelt oder um eine gewollte Durchbrechung und Einschränkung des Grundsatzes der Totalreparation. 914 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 658: „Ermessensreserve“; Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 241. Ausführlich zur Bedeutung von „necessity“ bzw. „s’il ya lieu“ siehe Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 237 f. (zu Art. 50 EMRK a.F.). 915 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 29.03.2006 – Nr. 64897/01 (Ernestina Zullo./.Italien), § 82, Hudoc; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 EMRK, Rn. 29.
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Hinblick auf Art. 41 EMRK ist demnach solange nicht erforderlich, wie der Rechtsbehelf den Effektivitätsanforderungen des Art. 13 EMRK gerecht wird. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist ein kompensatorischer Rechtsbehelf bezüglich überlanger Gerichtsverfahren wirksam i.S.v. Art. 13 EMRK, wenn er die von der überlangen Verfahrensdauer Betroffenen angemessen entschädigt.916 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass der Gerichtshof in seinen Entscheidungen nicht den Begriff der „just satisfaction“ aus Art. 41 EMRK verwendet, sondern die Bezeichnung „adequate redress“ bzw. „redressement approprié“.917 Insofern ist die Gleichsetzung von der gerechten Entschädigung in Art. 41 EMRK und der angemessenen/billigen Entschädigung im Zusammenhang mit Art. 13 EMRK nicht zwingend. Darüber hinaus hat der EGMR im Hinblick auf immaterielle Nachteile entschieden, dass die Höhe der Entschädigung nach dem innerstaatlichen Recht hinter demjenigen Betrag zurückbleiben darf, den der EGMR in solchen Fällen dem Beschwerdeführer zuspricht.918 Dass dieser Betrag jedoch nicht gänzlich aus dem Blick verloren werden darf und die Höhe der Entschädigung ein wichtiger Faktor bei der Beurteilung ist, ob ein effektiver Rechtsbehelf i.S.v. Art. 13 EMRK vorliegt919, zeigt die vom EGMR im Jahr 2006 entschiedene Individualbeschwerde Scordino./.Italien. In dieser Entscheidung hielt der Gerichtshof eine von den nationalen Gerichten zugesprochene Entschädigung für immaterielle Nachteile in Höhe von etwa 10 Prozent derjenigen Summe, die der EGMR in vergleichbaren Fällen gewährte, für unvereinbar mit den Effektivitätsanforderungen des Art. 13 EMRK.920 (dd) Schlussfolgerungen Aus den vorstehenden Überlegungen können für das deutsche Entschädigungsmodell folgende Konsequenzen gezogen werden: Es ist konventionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass § 198 GVG als Rechtsfolge die Gewährleistung einer angemessenen Entschädigung vorsieht.921 Art. 41 EMRK und der 916
Vgl. nur EGMR (Große Kammer), Urt. v. 26.10.2000 – Nr. 30210/96 (Kudła./.Polen), § 158, Hudoc; EGMR, Urt. v. 31.07.2003 – Nr. 50389/99 (Doran./.Irland), § 59, Hudoc. 917 Grundlegend EGMR (Große Kammer), Urt. v. 26.10.2000 – Nr. 30210/96 (Kudła./.Polen), § 158, Hudoc; EGMR, Urt. v. 31.07.2003 – Nr. 50389/99 (Doran./.Irland), § 59, Hudoc. 918 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 29.03.2006 – Nr. 36813/97 (Scordino./.Italien), § 206, Hudoc. 919 Vgl. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 29.03.2006 – Nr. 36813/97 (Scordino./.Italien), § 202, Hudoc; siehe auch Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 61 f.; EGMR, Ent. v. 29.05.2012 – Nr. 53126/07 (Taron./.Deutschland), § 39, Hudoc; Althammer, JZ 2011, 446 (450). 920 Vgl. EGMR (Große Kammer), Urt. v. 29.03.2006 – Nr. 36813/97 (Scordino./.Italien), § 214, Hudoc. 921 Im Ergebnis auch Schenke, NVwZ 2012, 257 (262); Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (4); Althammer, JZ 2011, 446 (450); Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198
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Rechtsprechung des EGMR können diesbezüglich keine allgemein gültigen Vorgaben entnommen werden. Da nach § 198 Abs. 1 GVG zumindest ein vollständiger Ausgleich des eingetretenen Substanzverlustes erfolgt, wird die Regelung den Effektivitätsanforderungen des Art. 13 EMRK gerecht. Sollte jedoch eine krasse Diskrepanz zwischen den Entschädigungsbeträgen des EGMR und der nationalen Entschädigungsgerichte festzustellen sein, hat eine Korrektur über eine konventionskonforme Auslegung der Norm zu erfolgen.922 In diesem Zusammenhang sei nochmals an die mahnend anmutenden Worte des EGMR in der Entscheidung Taron./.Deutschland erinnert, nach denen die Wirksamkeit des Rechtsschutzsystems maßgeblich davon abhänge, inwieweit es den deutschen Gerichten gelinge, eine Rechtsprechung zu etablieren, die den Anforderungen der Konvention entspreche.923 Die Bemessung der Entschädigung anhand von Billigkeitskriterien im Rahmen von § 198 GVG hätte den Entschädigungsgerichten ein flexibleres Instrument an die Hand gegeben und einen stärkeren Gleichlauf mit der Rechtsprechung des EGMR hinsichtlich der Höhe der Entschädigung ermöglicht. Aus konventionsrechtlicher Sicht ist die gefundene Lösung jedoch nicht zu beanstanden. (b) Die angemessene Entschädigung im Lichte des deutschen Rechtsfolgensystems (aa) Bewertung durch das Schrifttum Die Bewertung der vom Gesetzgeber getroffenen Rechtsfolgenanordnung fällt im Hinblick auf das deutsche Rechtsfolgensystem sehr unterschiedlich aus. Abhängig davon, wie der Haftungstatbestand des § 198 GVG in das staatshaftungsrechtliche Ersatzsystem eingeordnet wird, trifft die angemessene Entschädigung als Rechtsfolge des § 198 GVG entweder auf Zustimmung oder Ablehnung. Die Befürworter der Rechtsfolgenanordnung argumentieren, dass hierdurch eine adäquate Abstufung zwischen der verschuldensabhängigen Amtshaftung, nach der eine schadensersatzrechtliche Totalreparation erfolgt, und der nach § 198 GVG verschuldensunabhängig ausgestalteten Haftung erreicht werde.924
GVG, Rn. 66. Kritisch: Tiedemann, ArbRB 2011, 382 (383); Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 462 f. 922 Den Ersatz des entgangenen Gewinnes befürwortend Guckelberger, DÖV 2012, 289 (296). Zu Recht weist Reich, Beschleunigungspflichten, S. 575 f. darauf hin, dass in diesen Fällen der Entschädigungskläger nicht auf die Möglichkeit der Erhebung einer Amtshaftungsklage verwiesen werden darf. 923 EGMR, Ent. v. 29.05.2012 – Nr. 53126/07 (Taron./.Deutschland), § 45, Hudoc. 924 So der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf BT-Drs. 17/3802, S. 34; BT-Drs. 17/7217, S. 28; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (4).
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Zudem weise § 198 GVG eine gewisse Nähe zur Aufopferungshaftung auf925, die nach der staatshaftungsrechtlichen Systematik regelmäßig auf eine Entschädigungszahlung gerichtet sei.926 Dem Gedanken der Aufopferung liegt zugrunde, dass dem Individuum zugunsten der Gemeinschaft ein Sonderopfer auferlegt wird.927 Dieses Sonderopfer könne bei überlangen Gerichtsverfahren darin erblickt werden, dass die Gewährung von weitreichenden und den Prozess verlängernden Verfahrensrechten auch im Interesse der Allgemeinheit erfolge, da sie dem Rechtsfrieden diene.928 Insbesondere der letzte Aspekt wird von einigen im Schrifttum in Abrede gestellt. Der Betroffene erbringe keinerlei Sonderopfer für die Gemeinschaft, indem er Verfahrensbeteiligter eines verzögerten Gerichtsverfahrens sei.929 Aufopferungsansprüche seien dadurch gekennzeichnet, dass sie Ersatz für „schädigende Nebenfolgen rechtmäßiger hoheitlicher Maßnahmen“930 gewähren. Es stehe jedoch außer Frage, dass es sich bei unangemessen verzögerten Gerichtsverfahren nicht um rechtmäßiges, hoheitliches Tun handele, sondern ganz im Gegenteil um die Verletzung von Verfahrensgrundrechten gehe.931 Daher könne der Aufopferungsgedanke gerade nicht als Begründung herangezogen werden, lediglich eine angemessene Entschädigung zu gewähren.932 Die übliche Kompensation für staatliches Unrecht erfolge durch die Zahlung von Schadensersatz.933 Zu demselben Ergebnis gelangt auch Magnus, der die Haftung nach § 198 GVG aber der Risikohaftung zuordnet und diesbezüglich einen Vergleich zu 925
Schenke, NVwZ 2012, 257 (260 f.); Scholz, SGb 2012, 19 (23); Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 8; Wehrhahn, SGb 2013, 61 (62); vom Stein/Brand, NZA 2014, 113 (118); wohl auch Zimmermann, FPR 2012, 556 (557); LSG Darmstadt, Urt. v. 06.02.2013 – L 6 SF 6/12 EK U, Rn. 42, juris: aufopferungsähnlicher Entschädigungsanspruch. Barczak, AöR 138 (2013), 536 (575 f.). 926 Schenke, NVwZ 2012, 257 (261); vgl. zur Rechtsfolgenanordnung des Aufopferungsanspruchs Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 146. 927 Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (858 f.); Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 136 ff. 928 Scholz, SGb 2012, 19 (23). Unklar ist, worin Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 8 ein Sonderopfer zugunsten der Gemeinschaft erblickt. 929 Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (858); Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 462; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 3; Schlick, in: FS Tolksdorf 2014, S. 549 (559): Es lässt sich keine Parallele ziehen; Reiter, NJW 2015, 2554 (2556 f.). 930 Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (858 f.); Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 462; siehe auch Breuer, Staatshaftung, S. 154. A.A. Barczak, AöR 138 (2013), 536 (575 f.): Aufopferungshaftung habe sich davon gelöst, dass ein rechtmäßiger Eingriff zum Wohle der Allgemeinheit vorliegen müsse. 931 Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (859); Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 462. 932 Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (859); Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 462 f. 933 Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (859); Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 462.
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§§ 717 Abs. 2 S. 1, 945 ZPO anstellt, die ebenfalls staatliches Verhalten mit einer umfassenden Schadensersatzpflicht sanktionieren.934 Aus diesem Grund sei auch der Äußerung des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren, dass eine verschuldensunabhängige Totalreparation außer im Gefährdungsrecht dem deutschen Recht fremd sei, zu widersprechen.935 Zudem sei eine vollständige Schadenskompensation gerechtfertigt, weil über das Tatbestandsmerkmal der „unangemessenen Verfahrensdauer“ indirekt eine Verschuldensprüfung stattfinde, da zu klären sei, inwiefern dem Gericht oder anderen Behörden Untätigkeit bzw. zögerliche Verfahrensleitung vorzuwerfen sei.936 Teilweise wird der Haftungstatbestand auch in die Nähe der Gefährdungshaftung gerückt937, sodass auch unter diesem Blickwinkel die Gewährung von Schadensersatz sachgerecht wäre. (bb) Stellungnahme Die Charakterisierung des § 198 GVG als Aufopferungshaftung ist zu Recht kritisiert worden, da eine Aufopferung zugunsten der Gemeinschaft gerade nicht stattfindet. Zwar führen die Gewährung weitreichender Prozessrechte sowie deren Ausübung selbstredend zur Verlängerung von Gerichtsverfahren. Es wird aber verkannt, dass sich der Staat für derartige Verzögerungen nicht nach § 198 GVG verantworten muss; sie begründen keine unangemessene Verfahrensdauer. Somit steht die Gewährung dieser Verfahrensrechte in keinem Verhältnis zur überlangen Verfahrensdauer als Sonderopfer des Verfahrensbeteiligten. Da der Haftungstatbestand an die Verletzung einer verfassungs- und völkerrechtlichen Verfahrensgarantie anknüpft, fehlt es zudem an der Rechtmäßigkeit der hoheitlichen Maßnahme.938 Eine unangemessene Verfahrensdauer kann auch vor dem Hintergrund anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Grundsätze nicht als rechtmäßig bewertet werden.939 Denn diese sind bereits bei der Beurteilung, ob eine Verletzung des Verfahrensrechts überhaupt vorliegt, zu berücksichtigen.
934 Magnus, ZZP 125 (2012), 75 (84 f.). Den Entschädigungsanspruch ebenfalls der prozessrechtlich fundierten Risikohaftung zuordnend, aber gleichzeitig die Gewährung einer angemessenen Entschädigung für bedenkenlos haltend Reiter, NJW 2015, 2554 (2557 f.). Schlick, in: FS Tolksdorf 2014, S. 549 (553) hält den Entschädigungsanspruch für ein Institut des Prozessrechts. 935 Magnus, ZZP 125 (2012), 75 (84) mit Bezug auf BT-Drs. 17/3802, S. 34. 936 Magnus, ZZP 125 (2012), 75 (85). 937 Schlick, in: FS Tolksdorf 2014, S. 549 (556); Wolf, Anm. z. BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10, LMK 2011, 317778 zum Entwurf des ÜGRG, ohne dass er hieraus aber Konsequenzen für die Rechtsfolgenanordnung zieht. 938 Germelmann, JbArbR 49 (2012), 41 (53). 939 So aber DRB, Stellungnahme des DRB zur Evaluation des ÜGRG vom 24.11.2011, http://www.drb.de/cms/index.php?id=844, zuletzt geprüft am: 03.03.2016, S. 3 f.
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Dem Argument, in Bezug auf die Angemessenheitsprüfung finde indirekt eine Verschuldensprüfung statt, welche die Gewährung von Schadensersatz rechtfertige, kann nicht gefolgt werden. Der Staat als Anspruchsgegner hat nur für solche Verzögerungen einzustehen, die in seinen Verantwortungsbereich fallen. Somit ist zwar zu prüfen, wem eine Verzögerung zugerechnet werden kann.940 Die Haftung des § 198 GVG knüpft dennoch allein an die Verletzung der Rechtsschutzgarantien aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG an, ohne dass die Beantwortung der Verschuldensfrage erforderlich ist.941 Im Fokus der Prüfung steht damit nicht, inwiefern die unangemessene Verfahrensdauer den einzelnen staatlichen Organen vorwerfbar ist (sog. Handlungsunrecht), sondern ob der Staat der Rechtsschutzgarantie bezogen auf eine angemessene Verfahrensdauer insgesamt gerecht geworden ist (sog. Erfolgsunrecht).942 Somit handelt es sich bei § 198 GVG gerade nicht um eine Verschuldenshaftung, welche die Gewährung von Schadensersatz rechtfertigen würde. Aus diesem Grund muss auch der Einordnung des § 198 GVG als Risikohaftung widersprochen werden. Einerseits liegt mit Verwirklichung des Erfolgsunrechts ein rechtswidriges Verhalten vor, andererseits führt das staatliche Gewaltmonopol gerade nicht dazu, dass der Staat für jede Verzögerung im Gerichtsverfahren haftet. Er haftet nur für solche, die er auch zu verantworten hat.943 Schlussendlich genießt auch die Auffassung, nach der staatliches Unrecht zwingend die Gewährung von Schadensersatz nach sich ziehen müsse944, keinen Absolutheitsanspruch. Das Rechtsstaatsprinzip erfordert zwar bei Ausgestaltung sekundärer Rechtsschutzinstrumente die Normierung gewisser Mindeststandards, lässt dem Gesetzgeber aber erheblichen Gestaltungsspielraum, die Umstände im Einzelfall in die Haftungsbemessung miteinzubeziehen.945 So
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Nachweise siehe im 3. Kap. bei Fn. 738. Vgl. auch Priebe, in: Grundrechtsschutz im nationalen und internationalen Recht 1983, S. 287 (303) zur Rspr. des EGMR. 942 Vgl. Breuer, Staatshaftung, S. 331; ganz deutlich auch LSG Darmstadt, Urt. v. 06.02.2013 – L 6 SF 6/12 EK U, Rn. 42, juris; so aber Reiter, NJW 2015, 2554 (2558). 943 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 114. A.A. Reiter, NJW 2015, 2554 (2558), nach dem dieses Argument gerade für die Einordnung zur Risikohaftung spricht. 944 Ipsen, DVBl 1983, 1029 (1037); Schoch, Jura 1989, 529 (534); Kreft, in: FS Geiger 1989, S. 399 (410); Fetzer, Haftung des Staates, S. 142; Röder, Haftungsfunktion, S. 193 mit weit. Nachw.; Ossenbühl, Staatshaftung, S. 265 (anders nunmehr Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, 320 f.). 945 So überzeugend Breuer, Staatshaftung, S. 155, 161. Diese Ansicht basiert auf einem rechtsstaatsbasierten Haftungsmodell, siehe hierzu Breuer, Staatshaftung, S. 155 mit weit. Nachw. Ebenfalls den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in diesem Zusammenhang betonend Brenner, Stellungnahme zum Regierungsentwurf im Rahmen der 941
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kann ein diametrales Kompensationsinteresse davon abhängig sein, inwiefern die Staatshaftung erfolgs- oder verhaltensbezogen ausgestaltet ist.946 Insofern überzeugt auch das vom Bundesrat vorgebrachte Argument, dass mangels eines Verschuldens- oder Gefährdungstatbestandes kein Anlass für eine vollständige Schadenskompensation bestehe.947 Ein Abstufungsverhältnis hinsichtlich der Rechtsfolgen zwischen dem Amtshaftungs- und dem Entschädigungsanspruch ist daher gerechtfertigt. Der vollständige Ersatz des eingetretenen Substanzverlustes ist nach hier vertretener Auffassung aber grundsätzlich geboten. Im Ergebnis bestehen daher auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht keine berechtigten Einwände gegen die Entscheidung des Gesetzgebers, die Rechtsfolge des § 198 GVG auf eine angemessene Entschädigung zu beschränken. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass der Ersatz von materiellen Nachteilen nach dem Evaluierungsbericht der Bundesregierung über das ÜGRG bislang nur eine marginale Rolle in der Rechtspraxis gespielt hat.948 bb. Immaterielle Nachteile (1) Wiedergutmachung auf andere Weise Nach § 198 Abs. 2 S. 2 GVG kann für immaterielle Nachteile eine Entschädigung in Geld nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist. Unter Berücksichtigung des Gesetzeswortlautes, der Gesetzessystematik sowie des ausdrücklichen Willens des Normgebers949 ist dieser Ausschlusstatbestand ausnahmslos auf immaterielle, nicht aber auf materielle Nachteile anwendbar.950 Umstritten ist, ob dieser Ausschlusstatbestand auf Tatbestandsebene (als negatives Tatbestandsmerkmal951) oder auf Rechtsfolgenebene (als Ausschluss
öffentlichen Anhörung, http://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Bibliothek/Gesetzesmaterialien/17_wp/Rechtsschutz_ueberlang/wortproto.pdf?__blob=publica tionFile, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 2 ff. 946 Breuer, Staatshaftung, S. 160. 947 Siehe BT-Drs. 17/3802, S. 34. 948 BT-Drs. 18/2950, S. 32. Ausführlich hierzu S. 297 ff. 949 BT-Drs. 17/3802, S. 19. 950 Siehe auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 159; Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 45; Barthe, in: KK-StPO, § 198 GVG, Rn. 3; ebenso im Ergebnis Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (4); Burhoff, ZAP Fach 22, 2012, 591 (596). 951 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 159; OVG Bautzen, Urt. v. 15.01.2013 – 11 F 1/12, Rn. 35, juris; BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 37/13, Rn. 61, juris; Reiter, NJW 2015, 2554 (2559). Nach Schenke, NJW 2015, 433 (434) handelt es sich zwar um ein negatives Tatbestandsmerkmal. Dies schließe aber nicht aus, dass der Verfahrensbeteiligte auch einen Anspruch auf die Feststellung der Unangemessenheit habe.
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der Geldentschädigung952) einzuordnen ist. Da an diese Fragestellung anknüpft, ob der Rechtsschutzsuchende ein subjektives Recht auf Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer hat, ist dieses Problem nicht ausschließlich rechtstheoretischer Natur. Inhaltlich wird letzterem Themenkomplex aber an dieser Stelle noch nicht vorgegriffen (siehe hierzu S. 226 ff.). Beide Ansichten können sich für ihre Argumentation auf den insoweit indifferenten Gesetzeswortlaut stützen. Auch die Gesetzesbegründung hilft in diesem Kontext nicht weiter. In dieser heißt es: „Da das Gesetz nur die anspruchsbegründenden Voraussetzungen abschließend regeln soll und Wiedergutmachung auf andere Weise in der Praxis auf vielfältige Weise erfolgen kann, werden die Formen einer solchen Wiedergutmachung auf andere Weise im Entwurf nicht abschließend umschrieben“953.
Der Verweis auf die abschließend geregelten anspruchsbegründenden Voraussetzungen legt zwar nahe, die Wiedergutmachung auf andere Weise der Rechtsfolgenebene zuzuordnen. Allerdings spricht die Gesetzesbegründung in diesem Zusammenhang lediglich von den Formen der Wiedergutmachung. Insofern lassen sich weder aus dem Normtext noch aus der Gesetzesbegründung Erkenntnisse für diese Fragestellung gewinnen. Für die Einordnung des Ausschlusstatbestandes auf Rechtsfolgenebene lässt sich ein weiteres Argument ins Feld führen. So ist laut Gesetzesbegründung die Möglichkeit der Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer als eine Form der Wiedergutmachung auf andere Weise an die Rechtsprechungspraxis des EGMR angelehnt954, der diese als Folge der Konventionsverletzung ansieht955. Da das Entschädigungsgericht letztlich eine Abwägungsentscheidung dahingehend zu treffen hat, ob im konkreten Fall eine Geldentschädigung zu leisten oder die Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist, überzeugt es, den Ausschlusstatbestand der Rechtsfolgenebene zuzuordnen.956 Dieses Gesetzesverständnis fügt sich auch in die Systematik des § 198 GVG ein: Nach dem Wortlaut des § 198 Abs. 3 S. 1 GVG erhält Entschädigung nur, wer eine wirksame Verzögerungsrüge erhoben hat. Ist ein Verfahrensbeteiligter dieser Obliegenheit nicht nachgekommen, hat er also keinen monetären Anspruch auf Ausgleich seiner materiellen oder immateriellen Nachteile. Ausgenommen wird vom Wortlaut aber nur die Entschädigung und nicht die Wiedergutmachung auf andere Weise. Diese ist trotz Fehlens einer wirksamen 952 Siehe Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 48; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (4); wohl auch Deeg, ArbRAktuell 2012, 415 (418), der die Wiedergutmachung unter „Rechtsfolgen“ anspricht wie auch Matusche-Beckmann/Kumpf, ZZP 124 (2011), 173 (187). 953 BT-Drs. 17/3802, S. 16, 19. 954 BT-Drs. 17/3802, S. 16. 955 Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 367. 956 So auch Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 48.
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Verzögerungsrüge möglich, wie auch § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG klarstellt. Es ist also auf Rechtsfolgenebene zu prüfen, ob eine Wiedergutmachung auf andere Weise für die Kompensation immaterieller Nachteile ausreichend ist. (2) Beispiele für immaterielle Nachteile Der Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG gewährt auch Ersatz für solche Nachteile, die nicht vermögensrechtlicher Art sind. Die Besonderheit ist hierbei, dass dieser nicht auf bestimmte Rechtsgüter begrenzt ist. Beispielsweise können damit die Entfremdung eines Kindes zu einem Elternteil durch ein überlanges Sorgerechtsverfahren oder psychische Belastungen der Verfahrensbeteiligten infolge der Aufrechterhaltung des ungewissen Rechtszustandes immaterielle, ersatzfähige Nachteile sein.957 Die Ungewissheit über den Ausgang des Gerichtsverfahrens ist jedoch nicht stets ein immaterieller Nachteil, da diese jedem Rechtsstreit immanent ist und andernfalls die vom Gesetzgeber normierte widerlegliche Vermutung keine Geltungsberechtigung mehr hätte.958 Nach einer vereinzelt gebliebenen Meinung sollen vom Anwendungsbereich des § 198 Abs. 2 GVG nur solche Nachteile erfasst sein, die sich auf die überlange Verfahrensdauer als Nichtvermögensschaden beziehen, wie die hierdurch hervorgerufene seelische Unbill oder eine Rufschädigung, nicht dagegen der immaterielle Schaden einer Gesundheitsverletzung i.S.d. § 253 Abs. 2 BGB.959 Da die widerlegbare Vermutung des § 198 Abs. 2 S. 1 GVG aber an keine bestimmten Rechtsgüter anknüpft, findet dieses Normverständnis keine Stütze im Gesetzeswortlaut.960 Außerdem lässt sich diese Auffassung nicht mit der Regelungssystematik des Gesetzes vereinbaren, nach der eine Geldentschädigung für immaterielle Nachteile nur gewährt wird, wenn eine Wiedergutmachung auf andere Weise nicht ausreichend ist. Darüber hinaus spricht der in der Gesetzesbegründung erkennbare Gesetzeswille gegen eine solche Auslegung. In dieser heißt es, dass eine Wiedergutmachung genügen kann, „wenn ein Verfahrensbeteiligter keinen weitergehenden immateriellen Schaden erlitten hat und die Überlänge des Verfahrens den einzigen Nachteil darstellt“961. Somit sind jegliche Nichtvermögensnachteile vom Anwendungsbereich des § 198 Abs. 2, Abs. 4 GVG erfasst. 957 BT-Drs. 17/3802, S. 19; Althammer, JZ 2011, 446 (450); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 149; Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 52. 958 BFH, Urt. v. 20.11.2013 – X K 2/12, Rn. 28, juris. Dem BFH folgend OLG Braunschweig, Urt. v. 11.04.2014 – 6 SchH 1/13, Rn. 51, juris. 959 Remus, NJW 2012, 1403 (1409). 960 OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 72, juris. 961 BT-Drs. 17/3802, S. 20.
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(3) Entschädigungshöhe für immaterielle Nachteile (a) Pauschalierung, § 198 Abs. 2 S. 3 GVG Das Problem, die Höhe einer angemessenen Entschädigung für immaterielle Nachteile zu bestimmen, hat der Gesetzgeber mittels einer Pauschalierung in § 198 Abs. 2 S. 3 GVG gelöst. Danach beträgt die Entschädigung für immaterielle Nachteile gem. § 198 Abs. 2 S. 3 GVG 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung. Mit der Pauschalierung des Entschädigungsbetrages verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, Streitigkeiten über die Höhe der angemessenen Entschädigung zu vermeiden, indem diesbezüglich auf konkrete Nachweise verzichtet wird.962 Sie dient damit der Vereinfachung963 und der Beschleunigung964 des Entschädigungsverfahrens. Der Gesetzestext lässt in mehrfacher Hinsicht Raum für Interpretationen. Kontrovers wird insbesondere diskutiert, ob eine Entschädigung auch für einen Verzögerungszeitraum von unter einem Jahr zu gewähren ist. (aa) Verzögerungsbegriff Die Wortwahl „jedes Jahr der Verzögerung“ macht zwar deutlich, dass die Gewährung einer Entschädigung nicht für die gesamte Verfahrensdauer zu erfolgen hat. Eine Erklärung des Begriffes „Verzögerung“ findet sich aber nicht im Gesetzestext.965 Nach Sinn und Zweck der Entschädigungsregelung ist unter Verzögerung diejenige Zeitspanne zu verstehen, welche die angemessene Verfahrensdauer überschreitet.966 (bb) Jährliche Berechnung der Entschädigungshöhe Unter Berufung auf den Gesetzeswortlaut, nach dem die Entschädigung für jedes Jahr der Verzögerung 1.200 Euro beträgt, wird vereinzelt vertreten, dass eine Verzögerung von unter einem Jahr nicht ausgleichspflichtig sei.967 Die Bemessung der Entschädigung in Jahren ergebe sich bereits aus §§ 187, 188 962
BT-Drs. 17/3802, S. 20. Böcker, DStR 2011, 2173 (2177). 964 BT-Drs. 17/3802, S. 20; vgl. auch BGH, Urt. v. 13.03.2014 – III ZR 91/13, Rn. 50, juris. 965 Siehe auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 225; DRB, Stellungnahme zum RegE BT-Drs. 17/3802, http://www.drb.de/cms/index.php?id=710, zuletzt geprüft am: 03.03.2016, unter Punkt II. 4. c. 966 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 225; Scholz, SGb 2012, 19 (23); Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 49; BGH, Urt. v. 13.03.2014 – III ZR 91/13, Rn. 50, juris: konkreter Verzögerungszeitraum. 967 Link/van Dorp, Rechtsschutz, S. 15 (Rn. 46); Ulmer, Anm. z. BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 1/12 KL, SGb 2013, 532 (534 f.); LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, Rn. 246, juris. 963
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BGB.968 Das Hessische Landessozialgericht führte weitere Argumente für diese Ansicht an. In diesen Fällen sei eine Wiedergutmachung auf andere Weise, die keine Verzögerung von einem Jahr oder mehr voraussetze, regelmäßig ausreichend.969 Verhältnismäßig geringe Verzögerungen würden im Bereich der immateriellen Nachteile zudem noch als hinnehmbar erscheinen.970 Eine monatsgenaue Festlegung des Verzögerungszeitraumes sei auch praktisch nicht möglich.971 Maßgeblich sei aber, dass die Gewährung einer anteiligen Entschädigung mit dem Wortlaut des § 198 Abs. 2 S. 3 GVG unvereinbar sei.972 Soweit dies im Einzelfall zu unbilligen Ergebnissen führe (bspw. in einstweiligen Rechtsschutzverfahren), könne gem. § 198 Abs. 2 S. 4 GVG eine andere Entschädigungssumme festgesetzt werden.973 Auch Böcker spricht sich gegen eine monatsgenaue Berechnung aus, möchte aber den Gesetzestext in dem Sinne verstanden wissen, dass eine Entschädigung i.H.v. 1.200 Euro für jedes angefangene Jahr der Verzögerung zu zahlen sei.974 (cc) Monatliche Berechnung der Entschädigungshöhe Zu Recht widerspricht die überwiegende Mehrheit in der Literatur975 und in der Rechtsprechung976 diesen Meinungen. Der Wortlaut des § 198 Abs. 2 S. 3 GVG schweigt bezüglich der Gewährung einer Entschädigung für Verzögerungszeiträume, die unter einem Jahr liegen. Entgegen der Auffassung des Hessischen Landessozialgerichtes ist der Normtext also diesbezüglich offen und der Auslegung zugänglich.977 Insofern ist die Auslegung des § 198 Abs. 2 S. 3 GVG auch vorrangig gegenüber den §§ 187, 968
Link/van Dorp, Rechtsschutz, S. 15 f. (Rn. 46). LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, Rn. 247, juris. 970 LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, Rn. 248, juris. 971 LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, Rn. 248, juris. 972 LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, Rn. 249, juris. 973 LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, Rn. 250, juris. 974 Böcker, DStR 2011, 2173 (2176); wohl auch Mack/Wollweber, Stgb 2012, 7 (10). 975 Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 49; Söhngen, NZS 2012, 493 (496); Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1907); Zimmermann, FPR 2012, 556 (557); Neff, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, § 198 GVG, Rn. 10; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 224; Schenke, NVwZ 2012, 257 (262); Heine, MDR 2012, 327 (331); Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 80; Dietrich, ZZP 127 (2014), 169 (195 f.). 976 OVG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – OVG 3 A 1.12, Rn. 55, juris; BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 49 f., juris; OLG Celle, Urt. v. 24.10.2012 – 23 SchH 3/12, Rn. 23, juris; OLG Braunschweig, Urt. v. 08.02.2013 – 4 SchH 1/12, Rn. 193, juris; LSG Darmstadt, Urt. v. 06.02.2013 – L 6 SF 6/12 EK U, Rn. 81, juris; OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2013 – 23 SchH 4/12 EntV, Rn. 114, juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 79, juris; BVerwG, Urt. v. 26.02.2015 – 5 C 5/14 D, Rn. 55, juris. 977 LSG Darmstadt, Urt. v. 06.02.2013 – L 6 SF 6/12 EK U, Rn. 80, juris. 969
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188 BGB, bei denen es sich lediglich um Auslegungsregeln mit Auffangcharakter handelt.978 Abzulehnen ist das von Böcker vertretene Gesetzesverständnis, welches weder eine Grundlage im Gesetzestext noch in der Gesetzesbegründung findet. Zudem ist der Unterschied zwischen den Entschädigungsbeträgen für Verzögerungszeiten, die gerade über oder unter einem Jahr liegen, nicht zu rechtfertigen. So ist unklar, warum für eine Verzögerungszeit von 13 Monaten 2.400 Euro als Entschädigungsbetrag angemessen sein soll, für eine Verzögerungszeit von 12 Monaten aber lediglich 1.200 Euro. Die vom Gesetzgeber in § 198 Abs. 2 S. 3 GVG getroffene Regelung erklärt sich insbesondere vor dem Hintergrund der Gesetzesgenese. Im Gesetzestext des Referentenentwurfes war zunächst eine Entschädigungssumme von 100 Euro für jeden vollen Monat der Verzögerung vorgesehen.979 Kritisiert wurde daran, dass hierdurch der Eindruck entstehe, „es gebe für Gerichtsverfahren regelmäßig eine in Monaten messbare Idealfrist.“980 Aus diesem Grund erfolgte im Regierungsentwurf die Änderung des Gesetzestextes dahingehend, dass der Verfahrensbeteiligte für jedes Jahr der Verzögerung eine Entschädigung erhält.981 Dass trotz dieser Änderung an der Berechnung auf Monatsbasis festgehalten werden sollte, macht aber der in der Gesetzesbegründung aufgenommene Satz deutlich, dass eine zeitanteilige Berechnung für Zeiträume unter einem Jahr erfolgen soll.982 Das Argument, eine monatsgenaue Festlegung des Verzögerungszeitraumes sei auch praktisch nicht möglich, überzeugt unter Berücksichtigung der hier aufgezeigten Prüfungsmethodik ebenfalls nicht. Zudem ist im Bereich materieller Nachteile eine möglichst exakte Bestimmung der Dauer der Überlänge notwendig, um beurteilen zu können, ob die geltend gemachten Nachteile überhaupt kausal auf die Überlänge der Verfahrensdauer zurückzuführen sind.983 Insofern gefährdet die Berechnung der Entschädigungshöhe auf Monatsbasis auch nicht den durch die Pauschalierung der Entschädigungssumme verfolgten Gesetzeszweck, das Entschädigungsverfahren zu vereinfachen. Gegen ein solch kleinschrittiges Vorgehen kann auch nicht § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 2 GVG als Argument ins Feld geführt werden. Denn durch diese Regelung soll in erster Linie das Gericht vor Kettenrügen geschützt werden und nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass eine monatsgenaue Bestimmung der Überlänge nicht möglich bzw. gewollt ist. 978
Grothe, in: MüKo-BGB, § 186 BGB, Rn. 1; Henrich, in: BeckOK-BGB, § 186 BGB,
Rn. 1. 979
§ 198 Abs. 2 S. 3 GVG-RefE. Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205 (207). 981 Siehe § 198 Abs. 2 S. 3 GVG-RegE. 982 BT-Drs. 17/3802, S. 20. 983 Vgl. OLG Hamm, Urt. v. 08.01.2010 – 11 U 27/06, BeckRS 2010, 01415 und OLG Hamm, Urt. v. 17.06.2011 – 11 U 27/06, BeckRS 2011, 16744. 980
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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Die Gewährung einer Geldentschädigung lediglich für jedes Jahr der Verzögerung kann auch deswegen nicht überzeugen, weil hierdurch Verfahren aus dem Anwendungsbereich des § 198 Abs. 2 S. 3 GVG ausgeschlossen werden würden, die sich von Natur aus durch eine kurze Verfahrensdauer auszeichnen und deswegen eine Verzögerungszeitspanne von 12 Monaten regelmäßig gar nicht erreichen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang bspw. einstweilige Rechtsschutzverfahren, die der Gesetzgeber aber ausdrücklich in den Anwendungsbereich der §§ 198 ff. GVG miteinschließen wollte. Dieses Problem kann auch nicht durch die Anwendung der Billigkeitsregelung des § 198 Abs. 2 S. 4 GVG gelöst werden, da nach dessen Wortlaut der Entschädigungsbetrag nach Satz 3 den Umständen nach unbillig sein muss, nach obiger Auffassung aber überhaupt kein Entschädigungsbetrag zu gewähren ist. Somit sprechen die besseren Argumente dafür, dass für Verzögerungszeiträume unter einem Jahr eine anteilige Berechnung der Entschädigungssumme zu erfolgen hat. Die Verzögerung von einem Monat ist regelmäßig die kleinste Berechnungseinheit.984 Die exakte Feststellung von Verzögerungen unter einem Monat durch das Entschädigungsgericht wird dagegen kaum möglich sein.985 In Verfahren, die von Natur aus kürzere Verfahrenszeiten aufweisen, mag die Berechnung der Entschädigungshöhe dagegen auf Tagesbasis erfolgen.986 Somit steht es im Ermessen des Entschädigungsgerichtes, „ob es monats-, wochenoder tageweise abrechnet“987. (dd) Ergebnis Das Dilemma, dass die Bemessung der Entschädigungshöhe an die Überlänge des Gerichtsverfahrens anknüpft, sich die exakte Bestimmung dieses Zeitraumes aber mitunter als schwierig gestalten kann, kann nicht zulasten des betroffenen Verfahrensbeteiligten gelöst werden, indem Verzögerungszeiträume unter einem Jahr vom Anwendungsbereich des § 198 Abs. 2 S. 3 GVG ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang wäre eine deutlichere gesetzliche Regelung wünschenswert gewesen. So mag es aus rechtspolitischen Erwägungen opportun sein, den potenziellen Entschädigungsklägern durch die Regelung vor Augen zu führen, dass es für die Dauer eines Gerichtsverfahrens eine in Monaten 984 Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1907); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 224. 985 In diese Richtung auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 224. 986 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 224. Die anteilige Bemessung der Entschädigungshöhe orientiert an dem Pauschalbetrag kann in diesen Fällen eine unbillige Entschädigungssumme darstellen, sodass der Pauschalbetrag ggf. nach § 198 Abs. 2 S. 4 GVG anzuheben ist. 987 Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 49.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
messbare Idealfrist nicht gibt. In rechtsmethodischer Hinsicht kann es jedoch nicht überzeugen, derartige Konflikte auf Ebene der Gesetzesbegründung zu lösen und insofern die Auslegung des Gesetzes, die sich maßgeblich an dessen Wortlaut zu orientieren hat, zu erschweren. (b) Entschädigungssumme im Einzelfall, § 198 Abs. 2 S. 4 GVG Ist der nach § 198 Abs. 2 S. 3 GVG zu gewährende Pauschalbetrag nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Entschädigungsgericht nach § 198 Abs. 2 S. 4 GVG einen niedrigeren oder höheren Entschädigungsbetrag festsetzen. Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist die Unbilligkeit der Entschädigungssumme für die Herab- oder Heraufsetzung des Entschädigungsbetrages ausreichend988; das Vorliegen weiterer Umstände ist nicht erforderlich. Die Abweichung vom Pauschalbetrag wird dennoch nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt sein.989 Dieses Gesetzesverständnis legt auch die Gesetzesbegründung nahe, indem sie von Ausnahmefällen spricht, in denen der Pauschalbetrag korrigiert werden kann990. Nur so kann verhindert werden, dass der Zweck der Gewährung eines Pauschalbetrages – Vereinfachung und Beschleunigung des Entschädigungsverfahrens – nicht konterkariert wird.991 Für die Beurteilung, ob der Entschädigungsbetrag nach Satz 3 unbillig ist, kann die Rechtsprechung des EGMR direkt nicht herangezogen werden, da der Gerichtshof in jedem Einzelfall über die Höhe der angemessenen Entschädigung entscheidet.992 Da die Effektivität eines kompensatorischen Rechtsbehelfes aber maßgeblich von dem Umfang und der Höhe der Ausgleichszahlung abhängt993, kann nicht gänzlich ausgeblendet werden, in welcher Höhe der EGMR in vergleichbaren Fällen eine Entschädigung zugesprochen hat. Die Erhöhung des Pauschalbetrages kann bspw. dann angezeigt sein, wenn die Verfahrensüberlänge negative Auswirkungen auf besonders schützenswerte Güter, wie die Familie994, das 988 Ausdrücklich auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 227. 989 BT-Drs. 17/3802, S. 19; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 227; BSG, Urt. v. 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R, Rn. 38, juris. Unklar ist, ob Böcker, DStR 2011, 2173 (2177) und Schenke, NVwZ 2012, 257 (262) strengere Anforderungen stellen, indem sie das Vorliegen eines atypischen Falles für die Abweichung vom Pauschalbetrag fordern. 990 BT-Drs. 17/3802, S. 20; BGH, Urt. v. 13.03.2014 – III ZR 91/13, Rn. 51, juris: Vorliegen besonderer Umstände. 991 Siehe auch Böcker, DStR 2011, 2173 (2177). 992 Böcker, DStR 2011, 2173 (2177). 993 Nachweis siehe im 3. Kap. in Fn. 45. 994 Siehe Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 227. A.A. ist das OLG Karlsruhe, nach dem die Entfremdung zwischen Eltern und Kindern aufgrund eines langen Sorgerechtsstreits keine Erhöhung des Pauschalbetrages rechtfertige.
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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Persönlichkeitsrecht995 oder die Fortbewegungsfreiheit996, hat. Grund für die Herabsetzung des Pauschalbetrages kann dagegen eine derart späte Erhebung einer Verzögerungsrüge sein, dass das Verhalten des Verfahrensbeteiligten als rechtsmissbräuchliches „Dulden und Liquidieren“ zu bewerten ist.997 Um nicht das Stufenverhältnis zwischen der Wiedergutmachung auf andere Weise und der angemessenen Entschädigung in Geld zu unterlaufen, kann eine Reduzierung des Entschädigungsbetrages auf null nicht erfolgen.998 Unerheblich für die Beurteilung einer billigen Entschädigungshöhe ist, ob dem Ausgangsverfahren Erfolgsaussichten beizumessen waren999, denn die Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz steht mit dem Ausgang des Verfahrens in keinem Zusammenhang1000. (c) Die Geltendmachung eines immateriellen Schadens i.S.d. § 253 Abs. 2 BGB Gelingt es dem Verfahrensbeteiligten, das Vorliegen eines immateriellen Schadens i.S.d. § 253 Abs. 2 BGB darzulegen und zu beweisen, stellt sich die Frage, welche Auswirkungen dies auf die Höhe der angemessenen Entschädigung hat. Der Gesetzgeber hat mit Schaffung der Pauschalierung das Ziel verfolgt, die Entschädigungsverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen, sodass auch in diesen Fällen grundsätzlich der Pauschalbetrag des § 198 Abs. 2 S. 3 GVG maßgeblich für die Bemessung der Entschädigung sein muss, um den Gesetzeszweck nicht zu konterkarieren. Freilich eröffnet § 198 Abs. 2 S. 4 GVG aber die Möglichkeit, diesen Umstand zu berücksichtigen. Aus diesem Grund kann dahingestellt bleiben, ob § 253 Abs. 2 BGB als Norm des Schadensersatzrechtes überhaupt auf die Entschädigungsregelung des § 198 GVG Anwendung findet. (d) Entschädigung bei Masseverfahren Für jedes einzelne Gerichtsverfahren besteht der konventions- und grundrechtliche Schutz aus Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Durch den Pauschalbetrag wolle der Gesetzgeber gerade solche Nachteile ausgleichen, OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2013 – 23 SchH 4/12 EntV, Rn. 116, juris. 995 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 227; Schenke, NVwZ 2012, 257 (262); BGH, Urt. v. 13.03.2014 – III ZR 91/13, Rn. 51, juris. 996 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 227; Schenke, NVwZ 2012, 257 (262); BGH, Urt. v. 13.03.2014 – III ZR 91/13, Rn. 51, juris. 997 BT-Drs. 17/3802, S. 41. 998 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 227. 999 A.A. Magnus, ZZP 125 (2012), 75 (88), der den Ausgang des Verfahrens nicht gänzlich unberücksichtigt lassen will. 1000 Zu Recht OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 80, juris; Dietrich, ZZP 127 (2014), 169 (196 f.).
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Abs. 1 GG, sodass die §§ 198 ff. GVG bei Überlänge eines jeden Verfahrens zur Anwendung kommen. Wird aufgrund eines gleichgelagerten Sachverhalts eine Masse von Einzelverfahren mit identischer Zielrichtung angestrengt, die allesamt nach demselben Grundmuster bearbeitet werden und bei denen auf Kläger- oder Beklagtenseite Personenidentität vorliegt, besteht die Gefahr einer Anspruchshäufung und somit einer ungerechtfertigten Summierung der Entschädigungsbeträge. Welche Ausmaße diese annehmen können, zeigt ein Fall aus Niedersachsen, dessen Sachverhalt im Folgenden dargestellt wird: (aa) Sachverhalt In den Jahren 2007 und 2008 wurden beim Landgericht Göttingen insgesamt 2.441 Klagen von Kapitalanlegern eingereicht. Diese richten sich alle gegen denselben Beklagten und haben eine etwaige persönliche Schadensersatzhaftung des Beklagten als Verantwortlichen („Konzeptant“) eines Unternehmensverbundes zum Gegenstand.1001 Der Beklagte erhob kurz nach Inkrafttreten des ÜGRG in einer Vielzahl von Verfahren Verzögerungsrügen und begehrte im Jahr 2013 vor dem OLG Braunschweig Prozesskostenhilfe für 266 Entschädigungsklagen nach den §§ 198 ff. GVG. Gemeinsam war diesen Ausgangsverfahren, dass sie von einem Kapitalanleger gegen den Beklagten zwischen 2007 und 2008 beim Landgericht Göttingen eingereicht wurden und bis in das Jahr 2012 in diesen keine mündliche Verhandlung stattgefunden hatte, da das zuständige Gericht aufgrund des gleichgelagerten Sachverhalts aller Einzelverfahren einzelne „Pilotverfahren“ zur Bearbeitung herausgegriffen hatte, während in den übrigen Verfahren keine Verfahrensförderung stattfand. Der Antragsteller machte in den 266 Prozesskostenhilfeverfahren geltend, dass die Ausgangsverfahren nunmehr fünf Jahre unangemessen verzögert seien. Allein der jährliche Entschädigungsbetrag für diese Anzahl der Verfahren entspräche bei Zugrundelegung der Regelentschädigung (§ 198 Abs. 2 S. 3 GVG) 319.200 Euro. Nachdem die Anträge auf Prozesskostenhilfe wegen Mutwilligkeit der Rechtsverfolgung aufgrund der beabsichtigten Geltendmachung der 266 Entschädigungsansprüche in gesonderten Einzelklagen zurückgewiesen wurden, erhob der Beklagte des Ausgangsverfahrens vor dem OLG Braunschweig im Wege der Klagehäufung zehn Entschädigungsklagen wegen zehn verzögerter Schadensersatzverfahren und begehrte für Verzögerungszeiträume von 47 bzw. 48 Monaten eine Entschädigungssumme i.H.v. insgesamt 47.900 Euro.
Einigkeit besteht darüber, dass im Falle der Überlänge einer Vielzahl von einzelnen Gerichtsverfahren, die Teil eines Gesamtkomplexes sind und in denen Kläger bzw. Beklagter personenidentisch sind, die Anwendung der §§ 198 ff. GVG nicht zu einer derart hohen Gesamtentschädigungssumme führen kann, welche in einem krassen Missverhältnis zu sonstigen im deutschen Recht
1001 Sachverhaltsdarstellung siehe OLG Braunschweig, Beschl. v. 26.04.2013 – 6 SchH 2/13, juris und BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, juris. Sukzessiv wurden ab 2009 noch weitere 1.600 Klagen beim LG Göttingen erhoben, sodass der Gesamtkomplex dieses Massenverfahrens mehr als 4000 Klagen umfasst.
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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gewährten Entschädigungssummen steht.1002 Es gilt hier, die Friktion zwischen der rechtlichen Selbstständigkeit der einzelnen Entschädigungsverfahren nach den §§ 198 ff. GVG und dem bestehenden Nexus der Ausgangsverfahren als Massenverfahren zu lösen. (bb) Tatbestandslösung In der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe zog das OLG Braunschweig eine nicht näher konkretisierte „Gesamtbetrachtung“ der einzelnen Verfahren in Betracht, um den Entschädigungsbetrag auf eine angemessene Summe zu begrenzen. Ein Einfallstor für eine solche Gesamtbetrachtung könnte letztlich nur der § 198 Abs. 2 S. 4 GVG sein1003, dessen Anwendung aber aufgrund der Divergenz der Streitgegenstände an Grenzen stößt. Daher setzt die Lösung des OLG Braunschweig in seiner Entscheidung über die Entschädigungsklagen richtigerweise auf Tatbestands- und nicht auf Rechtsfolgenseite an. Zwar werde nach § 198 Abs. 2 S. 1 GVG das Vorliegen eines immateriellen Nachteils widerleglich vermutet. Diese Vermutung sei aber hinsichtlich aller Entschädigungsbegehren widerlegt, weil zu dem Zeitpunkt, zu dem die zehn streitgegenständlichen Schadensersatzklagen zugestellt worden seien, bereits 386 Schadensersatzklagen mit einer Gesamtforderung i.H.v. 10.777.752,53 Euro gegen den vermögenslosen Entschädigungskläger anhängig gewesen seien. Somit habe die Zustellung der zehn Schadensersatzklagen zu keiner Mehrbelastung mehr geführt.1004 Der Umstand, dass sich eine Vielzahl von gleichgerichteten Verfahren gegen ein und denselben Beklagten richte, könne bei sukzessiver Geltendmachung der Entschädigungsansprüche nicht dazu führen, dass der Betroffene in jedem einzelnen überlangen Ausgangsverfahren die Regelentschädigung verlangen könne.1005 Diese stehe ihm nur im ersten Ausgangsverfahren zu, während der Entschädigungsbetrag bei später rechtshängigen Folgeverfahren gem. § 198 Abs. 2 S. 4 GVG zu reduzieren sei. Die Belastung des Entschädigungsklägers erhöhe sich zwar mit Zustellung weiterer Klagen, sie nehme jedoch mit jedem weiteren Ausgangsverfahren ab, bis sie gar nicht mehr messbar sei.1006 Ein Nachteil könne dann lediglich in der Ungewissheit über den Verfahrensausgang gesehen werden, die aber al-
1002 OLG Braunschweig, Beschl. v. 26.04.2013 – 6 SchH 2/13, Rn. 32, juris; OLG Braunschweig, Urt. v. 11.04.2014 – 6 SchH 1/13, Rn. 50, juris; Althammer/Lorenz, Anm. z. OLG Braunschweig, Beschl. v. 26.04.2013 – 6 SchH 2/13, NJW 2013, 2445 (2445). 1003 Siehe Althammer/Lorenz, Anm. z. OLG Braunschweig, Beschl. v. 26.04.2013 – 6 SchH 2/13, NJW 2013, 2445 (2445). 1004 OLG Braunschweig, Urt. v. 11.04.2014 – 6 SchH 1/13, Rn. 47, juris [bestätigt durch BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, juris]. 1005 OLG Braunschweig, Urt. v. 11.04.2014 – 6 SchH 1/13, Rn. 49, juris. 1006 OLG Braunschweig, Urt. v. 11.04.2014 – 6 SchH 1/13, Rn. 49, juris.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
lein nicht stets zur Annahme eines Nachteils führen könne, da dies der gesetzlichen Konzeption des § 198 Abs. 2 S. 1 GVG als widerlegliche Vermutung widerspreche.1007 Zum Zeitpunkt der Zustellung der streitgegenständlichen Klagen könne eine Belastung nicht mehr festgestellt werden, sodass ein messbarer immaterieller Nachteil nicht vorhanden und die Vermutung des § 198 Abs. 2 S. 1 GVG widerlegt sei.1008 Die Feststellung, ob ein immaterieller Nachteil durch die überlange Verfahrensdauer eingetreten ist, erfordert eine Gesamtbewertung aller Folgen für den Verfahrensbeteiligten. Somit kann trotz der rechtlichen Selbstständigkeit der einzelnen Entschädigungsverfahren der Umstand berücksichtigt werden, dass das einzelne Verfahren Teil eines Gesamtkomplexes ist und die Belastung für den Verfahrensbeteiligten durch das Anhängigmachen weiterer Klagen kontinuierlich abnimmt. Dass es sich hierbei nicht um einen Automatismus handelt, macht auch das OLG Braunschweig deutlich, indem es prüft, ob Umstände vorliegen, die dennoch die Annahme eines Nachteils im konkreten Einzelfall rechtfertigen. Trotz Vorliegen eines „Massenverfahrens“ gelingt es dem Gericht so, in Übereinstimmung mit der gesetzgeberischen Konzeption, das Einzelverfahren als solches nicht aus dem Blick zu verlieren. Es findet damit einen gangbaren und überzeugenden Lösungsansatz. Dass offenbleibt, zu welchem Zeitpunkt bzw. ab welcher Anzahl rechtshängiger Gerichtsverfahren eine Belastungserhöhung nicht mehr spürbar ist und ein Nachteil nicht mehr vorliegt, lässt sich nicht vermeiden. Dies ist vielmehr der Tatsache geschuldet, dass auch diese Frage nur anhand der Umstände im Einzelfall beantwortet werden kann. (4) Bewertung Die Gewährung einer Geldentschädigung für immaterielle Nachteile erfolgt nur, wenn eine Wiedergutmachung auf andere Weise nicht ausreichend ist. Wie dieses Regelungskonstrukt aus völker- und verfassungsrechtlicher Perspektive zu bewerten ist, wird im nächsten Abschnitt erörtert, der sich mit dieser Kompensationsform ausführlich befasst. Aus diesem Grund bleibt an dieser Stelle zu untersuchen, wie die Ersatzfähigkeit immaterieller Nachteile bei Gewährung einer angemessenen Entschädigung zu bewerten ist und wie sich dieses Regelungsmodell ins deutsche Rechtsfolgensystem einordnen lässt. Zudem ist der Frage nachzugehen, ob die Pauschalierung der Entschädigungssumme und deren Höhe den Anforderungen der EMRK und des GG im Hinblick auf ein effektives Rechtsschutzsystem bei überlangen Gerichtsverfahren gerecht werden.
1007 1008
OLG Braunschweig, Urt. v. 11.04.2014 – 6 SchH 1/13, Rn. 51, juris. OLG Braunschweig, Urt. v. 11.04.2014 – 6 SchH 1/13, Rn. 51, juris.
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(a) Angemessene Entschädigung für immaterielle Nachteile Immaterielle Schäden sind nach der deutschen Schadensrechtsdogmatik grundsätzlich nur bei Vorliegen eines Schadensersatzanspruches ersatzfähig. Die Entscheidung des Gesetzgebers, dem Verfahrensbeteiligten bei überlanger Verfahrensdauer lediglich eine angemessene Entschädigung zu gewähren, zugleich aber eine Ersatzmöglichkeit für immaterielle Nachteile zu normieren, stellt somit ein Novum im deutschen Recht dar.1009 Wie gesehen, ist die Kompensationsmöglichkeit immaterieller Nachteile bei überlangen Gerichtsverfahren aber sowohl unter völker- als auch unter verfassungsrechtlichen Effektivitätsgesichtspunkten zwingend erforderlich. Für die Auslegung des Begriffes der Entschädigung bedeutet dies letztendlich, dass er „in einem erweiterten, vom sonstigen Staatshaftungsrecht abweichenden Sinn“1010 zu verstehen ist. Es lässt sich damit konstatieren, dass mit § 198 GVG ein Entschädigungsanspruch geschaffen worden ist, der sich nicht in das überkommene System der staatlichen Ersatzleistungen einordnen lässt1011 und der somit zutreffend in den Gesetzesmaterialien als staatshaftungsrechtlicher Anspruch sui generis bezeichnet worden ist.1012 (b) Pauschalierung Der EMRK ist die pauschale Bemessung der Entschädigungshöhe fremd. Vielmehr bestimmt der EGMR die Entschädigungssumme nach den Umständen des konkreten Einzelfalles und berücksichtigt bei der Bemessung der Entschädigungshöhe im Rahmen von Art. 41 EMRK neben der Dauer des Gesamtverfahrens sowie der Zahl der Instanzen auch die Bedeutung des Verfahrens für den Beschwerdeführer und dessen Verhalten.1013 Eine solche Einzelfallbetrachtung soll nach der Konzeption des Gesetzgebers aber nur ausnahmsweise im 1009 So ganz ausdrücklich Guckelberger, DÖV 2012, 289 (289); in diese Richtung ebenfalls Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (4); Althammer, JZ 2011, 446 (450); Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 74, 76. 1010 BT-Drs. 17/3802, S. 19. Die oben zitierte Aussage bezieht sich zwar noch auf die im Regierungsentwurf getroffene Regelung, nach der sich eine Entschädigung nach den Grundsätzen der §§ 249 ff. BGB richtete. Sie trifft aber unter dem hier angesprochenen Gesichtspunkt weiterhin zu. 1011 So auch Schlick, in: FS Tolksdorf 2014, S. 549 (552 f.); Reiter, NJW 2015, 2554 (2556 f.). Nach einer Ansicht im Schrifttum vor Inkrafttreten des ÜGRG kann ein Anspruch auf Geldentschädigung bei überlanger Verfahrensdauer als Fallgruppe des öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs ins Haftungssystem integriert werden, siehe Volkmer, NStZ 2008, 608 (608 ff.). 1012 BT-Drs. 17/3802, S. 19, 40. Im Evaluierungsbericht wird die Formulierung „neuartiger staatshaftungsrechtlicher Anspruch“ gewählt, BT-Drs. 18/2950, S. 7. Ott, in: SteinbeißWinkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 3; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (7). 1013 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 41 EMRK, Rn. 21.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Rahmen von § 198 Abs. 2 S. 4 GVG erfolgen, während in der Mehrzahl der Fälle die Bemessung der angemessenen Entschädigung anhand der Pauschalierungsregelung des § 198 Abs. 2 S. 3 GVG vorgenommen werden soll. Diese von der Rechtsprechung des EGMR abweichende Regelungstechnik ist jedoch nicht per se unzulässig. Es wurde bereits erwähnt, dass die Regelungen über die Ausgleichszahlung in die Rechtstradition des Staates eingebettet werden können und die Bewertung ihrer Effektivität jeweils von der konkret getroffenen Regelung abhängig ist. Zwar wird vereinzelt kritisiert, dass die Pauschalierung einer Entschädigungssumme dem deutschen Recht fremd und unter dem Aspekt widersprüchlich sei, dass nach der Konzeption des § 198 GVG ein konkret entstandener Nachteil entschädigt werde.1014 Trotz dieser zutreffenden rechtsdogmatischen Bedenken überwiegen insbesondere unter Berücksichtigung von Effektivitätsgesichtspunkten die Vorteile der Regelung. So sieht sich der Gerichtshof teilweise dem Vorwurf ausgesetzt, die Höhe der von ihm zugesprochenen Entschädigungen sei willkürlich und lasse kein stringentes System erkennen. Ein Blick auf Untersuchungen, in denen die Dauer der Verfahren den Entschädigungssummen für immaterielle Nachteile gegenübergestellt wurde1015, bestätigt diesen Eindruck. Hauptproblem ist dabei wohl, dass der EGMR keine Angaben dazu macht, wie lange die Zeitspanne der Überlänge ist. Aus diesem Grund ist es begrüßenswert, die Pauschalierung der Entschädigungssumme an die Dauer der Überlänge zu knüpfen. Grund für die Kompensation von Nachteilen ist nicht die Gesamtdauer des Verfahrens, sondern eben dessen Überlänge. Zudem bietet die vom Gesetzgeber gefundene Lösung den Vorteil der Kalkulierbarkeit der Entschädigungssumme und trägt somit zur Rechtssicherheit bei. Des Weiteren beugt die Pauschalierung etwaigen Schwierigkeiten bei der Beweisführung bezüglich der Schwere eines immateriellen Nachteils vor und fördert in diesem Sinne einen zügigen Abschluss des Entschädigungsprozesses.1016 Der Gesetzgeber hat also mit seinem Regelungsmodell versucht, den Problemen, welche die Einzelfallbestimmung der Schadenshöhe mit sich bringen kann, durch die Pauschalierung der Entschädigungssumme entgegenzuwirken. Dies ist auch im Sinne der Rechtsschutzsuchenden. Überdies trägt § 198 Abs. 2 S. 4 GVG der Einzelfallgerechtigkeit Rechnung und ermöglicht auch auf Rechtsfolgenseite die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Aus diesen Gründen widerspricht die Pauschalierung nicht den Effektivitätsanforderungen der EMRK.
1014
Matusche-Beckmann/Kumpf, ZZP 124 (2011), 173 (187 f.). Siehe bspw. Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Anhang 2; siehe auch MeyerLadewig, EMRK, Art. 41 EMRK, Rn. 23. 1016 Ebenfalls positiv bewertend Magnus, ZZP 125 (2012), 75 (87). Kritisch Reich, Beschleunigungspflichten, S. 624. 1015
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Auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht kann aufgrund des weiten Gestaltungsspielraumes des Gesetzgebers und der zuvor erwähnten Vorteile dieser Regelung nichts anderes gelten. (c) Höhe der angemessenen Entschädigung Über die Höhe eines Entschädigungsbetrages lässt sich bekanntlich immer streiten.1017 Und so verwundert es nicht, dass der vom Gesetzgeber normierte Entschädigungsbetrag von 1.200 Euro pro Jahr der Verzögerung Gegenstand zahlreicher Kritik war.1018 Das Gesetz muss sich jedoch allein an den völkerund verfassungsrechtlichen Maßstäben messen lassen und nicht daran, was aus rechtspolitischer Hinsicht wünschenswert ist. So mag die Forderung eines Entschädigungsbetrages von 1.000 Euro pro Monat der Verzögerung im Hinblick auf die ansonsten fehlende Steuerungsfunktion des Entschädigungsbetrages legitim sein1019, sie bleibt bei der Betrachtung an dieser Stelle jedoch unberücksichtigt. Bereits im Zusammenhang mit der Gewährung einer Entschädigung für materielle Nachteile wurde darauf hingewiesen, dass die Höhe der Ausgleichszahlung maßgeblichen Einfluss auf die Beurteilung der Effektivität des kompensatorischen Rechtsbehelfs hat. Sie hat sich regelmäßig am case-law des EGMR zu orientieren.1020 Der EGMR macht keine Ausführungen darüber, wie lange die Dauer der Überlänge eines Verfahrens ist, sodass nicht exakt ermittelt werden kann, in welcher Höhe der Gerichtshof Entschädigungen für immaterielle Nachteile gewährt. Im Schrifttum findet sich bei Roderfeld/Marx eine Analyse ausgewählter EGMR Entscheidungen, in der die Entschädigungsleistungen für immaterielle Nachteile den aus den Urteilen in etwa ersichtlichen gerichtsseitigen Verzögerungen gegenübergestellt werden. Diese Untersuchung zeigt, dass der Entschädigungsbetrag i.H.v. 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung in der Mehrzahl der Fälle einen realistischen Wert abbildet und im Hinblick auf die Rechtsprechungspraxis des EGMR angemessen und ausreichend ist.1021 Insofern ist es zutreffend, wenn es in der Gesetzesbegründung heißt, dass sich die Höhe der Pauschalierung an den vom EGMR zugesprochenen Entschädigungsbeträgen orientiere.1022 Überdies bietet § 198 Abs. 2 S. 4 GVG bei Unbilligkeit der jeweiligen Entschädigungssumme, diese unter Berücksichtigung der besonde-
1017
Vgl. Magnus, ZZP 125 (2012), 75 (87). Siehe nur Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (861). 1019 So der Vorschlag der Fraktion Bündnis90/Die Grünen im Gesetzgebungsverfahren, siehe BT-Drs. 17/7217, S. 24. 1020 Siehe hierzu S. 26. 1021 Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 100. 1022 BT-Drs. 17/3802, S. 20. 1018
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ren Umstände anzupassen und dient dem Entschädigungsgericht daher als Korrektiv, um auch der Rechtsprechung des EGMR hinreichend Rechnung zu tragen. Verfehlt wäre es nach dem Vorstehenden daher, die Entschädigungshöhe am Streitwert des Verfahrens auszurichten1023, der lediglich den wirtschaftlichen Wert der Klage für den Kläger widerspiegelt. Im Gegensatz zum EGMR hat das BVerfG keine Befugnis, dem Betroffenen bei überlanger Verfahrensdauer eine Entschädigung für die Grundrechtsverletzung zuzusprechen, sodass dessen Rechtsprechung keinerlei Orientierung dafür bietet, welche Entschädigungshöhe in diesen Fällen angemessen ist. Anhaltspunkte dafür, dass die vom Gesetzgeber getroffene Regelung im Widerspruch zur Verfassung steht, sind nicht ersichtlich. b. Die Wiedergutmachung auf andere Weise Eine Geldentschädigung für immaterielle Nachteile wird vom Entschädigungsgericht nur in den Fällen zugesprochen, in denen nach den Umständen des Einzelfalles eine Wiedergutmachung auf andere Weise nicht ausreichend ist, § 198 Abs. 2 S. 2 GVG. Als Kompensationsform ist die Wiedergutmachung auf andere Weise somit ein Weniger zur Geldentschädigung für immaterielle Nachteile und steht zu dieser in einem Abstufungsverhältnis.1024 Näheres zur Rechtsfolge der Wiedergutmachung auf andere Weise regelt § 198 Abs. 4 GVG. Vorbild dieser Regelung ist die Rechtsprechungspraxis des EGMR, der die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer im Einzelfall für eine ausreichende Kompensationsform hält1025. aa. Formen der Wiedergutmachung Die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer durch das Entschädigungsgericht wird in § 198 Abs. 4 S. 1 GVG als eine Form der Wiedergutmachung auf andere Weise genannt.1026 Sowohl der Wortlaut des Gesetzes als auch die Gesetzesbegründung1027 sprechen dafür, dass die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer nur eine Möglichkeit der Wiedergutmachung
1023 Matusche-Beckmann/Kumpf, ZZP 124 (2011), 173 (187) halten dies in Zivilverfahren für systemkonformer. 1024 Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 90; BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R, Rn. 57, juris; Schenke, NJW 2015, 433 (436). 1025 BT-Drs. 17/3802, S. 19; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 41 EMRK, Rn. 25 ff., Art. 6 EMRK, Rn. 209; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 41 EMRK, Rn. 31. 1026 Als weitere Wiedergutmachungsform nennt der Gesetzgeber bei Straf- oder Ermittlungsverfahren die Berücksichtigung der unangemessenen Verfahrensdauer durch das Strafgericht oder die Staatsanwaltschaft, § 199 Abs. 3 S. 1, Halbs. 1 GVG. 1027 BT-Drs. 17/3802, S. 19.
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ist. Offen bleibt nach dem Gesetzestext aber, inwieweit dem Entschädigungsgericht die Kompetenz zufällt, andere Formen der Wiedergutmachung als die Feststellung der überlangen Verfahrensdauer zu gewähren. Sowohl die Systematik als auch der Wortlaut von § 198 Abs. 4 S. 3 GVG sprechen dafür, dass die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer die einzige Wiedergutmachungsform ist, die das Entschädigungsgericht aussprechen kann.1028 Denn von dessen Anwendungsbereich ist lediglich die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer und nicht die Wiedergutmachung auf andere Weise erfasst. Könnte das Entschädigungsgericht jedoch auch andere Formen der Wiedergutmachung als die Feststellung der Überlänge zusprechen, wäre kein sachlicher Grund ersichtlich, warum bei schwerwiegenden Fällen i.S.v. § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 1 GVG allein die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer neben die Geldentschädigung treten soll. Denn mit dieser Regelung soll offensichtlich der Genugtuung des Verfahrensbeteiligten Rechnung getragen werden, die mit anderen Wiedergutmachungsformen, wie einer Entschuldigung des Beklagten, ebenso (wenn nicht besser) erreicht werden kann. Dieselben Erwägungen können im Zusammenhang mit § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG fruchtbar gemacht werden, wonach gerade bei einer fehlenden bzw. nicht wirksam erhobenen Verzögerungsrüge eine schwächere Wiedergutmachungsform als die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer im Urteil zur Genugtuung des Verfahrensbeteiligten ausreichen kann. „‚Insbesondere‘ in Abs. 4 Satz 1 ist [also] vielmehr so zu verstehen, dass das Entschädigungsgericht sowohl von der Geldentschädigung als auch von der Feststellung dann absieht, wenn schon im Ausgangsverfahren der Verzögerung in der Weise Rechnung getragen wurde, die eine hinreichende Wiedergutmachung der immateriellen Nachteile darstellt und somit den Staatshaftungsanspruch insoweit durch Erfüllung zum Erlöschen gebracht hat.“1029
Nach alledem kann das Entschädigungsgericht also weder den Beklagten zu einer Entschuldigung noch den Gerichtspräsidenten zu einer Aussprache mit dem Entschädigungskläger verurteilen. Insofern fehlt es an einer konkreten materiell-rechtlichen Anspruchsgrundlage.1030 Nur die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer ist neben der Geldentschädigung als ausdrückliche Entschädigungsform genannt.1031 Demnach handelt es sich bei der 1028 Im Ergebnis auch Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 89; Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 31. Zur Frage, inwieweit der Verfahrensbeteiligte hierauf einen materiell-rechtlichen Anspruch hat, siehe ausführlich S. 226 ff. 1029 Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 31. 1030 Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Verfahrensbeteiligte nach der hier vertretenen Auffassung die Wiedergutmachung auf andere Weise erst recht verlangen kann, wenn ihm ein Anspruch auf eine angemessene Entschädigung in Geld zusteht. Diesbezüglich fehlt es an einem konkreten Anspruchsziel. Siehe ausführlich hierzu S. 226 ff. 1031 Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 89.
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Entschuldigung und der Aussprache um Wiedergutmachungsformen, die außerhalb des gerichtlichen Entschädigungsverfahrens möglich sind, bezüglich derer der Verfahrensbeteiligte aber keinen durchsetzbaren materiell-rechtlichen Anspruch hat.1032 Aus diesem Grund ist auch eine Veröffentlichung der Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer im elektronischen Bundesanzeiger unter Angabe der Überlänge und Benennung des Gerichtes nicht möglich. Zudem wurde von dieser Wiedergutmachungsform aufgrund der massiven Kritik insbesondere von Richterverbänden wegen der damit verbundenen Prangerwirkung im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens Abstand genommen.1033 Des Weiteren verbietet das Rechtsstaatsprinzip, dem Verfahrensbeteiligten als Wiedergutmachungsform Rechtspositionen einzuräumen, die im Widerspruch zum innerstaatlichen Recht stehen.1034 Inwieweit bereits im Vorfeld getroffene Wiedergutmachungsmaßnahmen ausreichende Kompensation für den Verfassungs- und Konventionsverstoß bieten und somit den Anspruch wegen Erfüllung zum Erlöschen bringen, ist vom Entschädigungsgericht unter Berücksichtigung der Einzelfallumstände zu untersuchen. bb. Wiedergutmachung auf andere Weise als ausreichende Kompensationsform (1) Das Verhältnis zwischen der Geldentschädigung und der Wiedergutmachung auf andere Weise Umstritten ist im Schrifttum und in der Rechtsprechung, in welchem Konnex die Geldentschädigung und die Wiedergutmachung auf andere Weise für immaterielle Nachteile stehen. Der Wortlaut von § 198 Abs. 2 S. 2 GVG spricht dafür, dass eine Geldentschädigung nur in Ausnahmefällen dem Verfahrensbeteiligten zuzusprechen ist („kann Entschädigung nur beansprucht werden“). Problematisch ist ein solches Gesetzesverständnis aber im Hinblick auf die Rechtsprechungspraxis des EGMR, nach der nur in Ausnahmefällen eine
1032 Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 28; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 160. 1033 So aber noch der Referentenentwurf § 198 Abs. 4 S. 4 GVG-RefE. Kritisch DRB, Stellungnahme zum ÜGRG-RefE vom Mai 2010, http://www.drb.de/cms/index.php?id=650, zuletzt geprüft am: 03.03.2016, unter Punkt 2; siehe weit. Nachw. bei Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 300 (Fn. 455), Rn. 312 (Fn. 496). 1034 BVerwG, Beschl. v. 01.06.2012 – 2 B 123/11, Rn. 10 ff., juris; BVerwG, Urt. v. 29.03.2012 – 2 A 11/10, Rn. 85, juris; Guckelberger, DÖV 2012, 289 (296); ausführlich zu diesem Thema vor Inkrafttreten des ÜGRG Schlette, Angemessene Frist, S. 60 ff.
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Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer erfolgt.1035 Eine Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses wäre also mit der Gefahr der Ineffektivität des kompensatorischen Rechtsbehelfs verbunden. So bejahte der EGMR bspw. eine Konventionsverletzung, weil dem Rechtsschutzsuchenden vom nationalen Gericht eine Entschädigungssumme zugesprochen wurde, die lediglich ca. 10 Prozent desjenigen Entschädigungsbetrages ausmachte, den der EGMR in vergleichbaren Fällen gewährte.1036 Zwar geht es vorliegend um die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer und nicht um die Höhe der Entschädigungssumme. Wird jedoch das Regel-Ausnahme-Verhältnis zu Lasten des Verfahrensbeteiligten derart verschoben, dass in der Mehrzahl der Fälle statt einer Geldentschädigung eine Wiedergutmachung auf andere Weise für ausreichend erachtet wird, erhält der Verfahrensbeteiligte nicht nur zu wenig Entschädigung in Geld, sondern gar keine. Daher müsste die Regelung in Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR erst recht als ineffektiv bewertet werden. Somit ist die Geldentschädigung als grundsätzliche Kompensationsform im Rahmen von § 198 GVG anzuerkennen.1037 Für dieses Auslegungsergebnis sprechen auch systematische Erwägungen: Nach § 198 Abs. 2 S. 4 GVG kann der Entschädigungsbetrag vom Gericht entweder höher oder niedriger festgesetzt werden, wenn der Betrag von 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung unbillig ist. Würde die Wiedergutmachung auf andere Weise regelmäßig als Kompensationsform ausreichen, wären nur schwer Fälle vorstellbar, in denen eine Wiedergutmachung nach den Umständen des Einzelfalles unzureichend wäre, der Pauschalbetrag von 1.200 Euro aber aus Billigkeitsgründen herabzusetzen wäre. Insofern wird durch die Geldentschädigung als Regelfall ein überzeugendes Stufenverhältnis zu § 198
1035 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 209: „solche Entscheidungen bilden aber immerhin die Ausnahme“; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 41 EMRK, Rn. 31: „gelegentlich“; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (5): „im Einzelfall“; Böcker, DB 2013, 1930 (1931 f.); BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 45, juris. Vgl. auch Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 371: Geldentschädigung für immaterielle Nachteile relativ häufig in Fällen überlanger Verfahrensdauer. Unklar ist diesbezüglich die Rechtsprechungsanalyse zu Art. 41 EMRK von Chryssogonos/Kaidatzis, in: FS Tsatsos 2003, S. 62 (66 ff.). 1036 EGMR (Große Kammer) NJW 2007, 1259 (1265, Rn. 214). 1037 Im Ergebnis wohl auch BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 46, juris; LSG Neustrelitz, Urt. v. 13.02.2013 – L 12 SF 3/12 EK AL, Rn. 63, juris; a.A. OVG Bautzen, Urt. v. 15.01.2013 – 11 F 1/12, Rn. 35, juris: Wiedergutmachung auf andere Weise ist keine Ausnahme vom Regelfall der Entschädigung; ebenso Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 24: „Geld also nur hilfsweise.“. Nach dem BFH, Urt. v. 17.04.2013 – X K 3/12, Rn. 57, juris, gilt weder ein Vorrang der Geldentschädigung noch eine anderweitige Vermutungsregel. Einen gesetzgeberischen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung jedoch nicht, da die unterschiedlichen Sichtweisen nicht zu unterschiedlichen praktischen Ergebnissen führen dürften, BT-Drs. 18/2950, S. 33.
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Abs. 2 S. 4 GVG geschaffen. Zudem sind im Rahmen der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer auch solche Umstände zu berücksichtigen, die eine Wiedergutmachung auf andere Weise rechtfertigen können. Bejaht das Entschädigungsgericht trotz Berücksichtigung dieser Umstände die Unangemessenheit der Verfahrensdauer, rechtfertigt dies gerade eine finanzielle Entschädigung.1038 Da § 198 Abs. 2 S. 2 GVG darauf abstellt, dass die Umstände des Einzelfalles maßgeblich für die Entscheidung sind, ob eine Wiedergutmachung auf andere Weise in dem konkreten Fall ausreichend ist, kann dieses Gesetzesverständnis bereits de lege lata und nicht erst de lege ferenda Berücksichtigung finden.1039 (2) Beurteilungskriterien Ob eine Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist, muss unter Berücksichtigung aller Umstände im konkreten Einzelfall beurteilt werden.1040 Nach dem Gesetzestext bleibt offen, nach welchen Kriterien diese Entscheidung zu treffen ist.1041 In der Gesetzesbegründung findet sich der Hinweis, dass sich diesbezüglich an der Rechtsprechung des EGMR orientiert werden kann, wobei verschiedene Beispiele genannt werden.1042 Danach kann die Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend sein, wenn das Verfahren keine besondere Bedeutung für die Verfahrensbeteiligten hatte1043, das Verhalten der Verfahrensbeteiligten ursächlich für erhebliche Verzögerungen war oder keine über die unangemessene Verfahrensdauer hinausgehenden immateriellen Nachteile für die Betroffenen eingetreten sind1044. Mit dieser Aufzählung suggeriert die Gesetzesbegründung fälschlicherweise, dass es sich hierbei um eine gefestigte Rechtsprechung des EGMR handelt. Tatsächlich bleiben die Gründe für die bloße Feststellung der Konventionsverletzung in den Entscheidungen des Gerichtshofes nicht selten im Dunkeln und folgen keinem stringenten System.1045 Ein Automatismus, dass 1038
Hierzu Ohrloff, Rechtsschutz, S. 107; ähnlich auch BFH, Urt. v. 17.04.2013 – X K 3/12, Rn. 61, juris. 1039 So aber Ohrloff, Rechtsschutz, S. 107. 1040 BT-Drs. 17/3802, S. 19; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 159; OVG Bautzen, Urt. v. 15.01.2013 – 11 F 1/12, Rn. 35, juris. 1041 Ebenso Ohrloff, Rechtsschutz, S. 82. 1042 BT-Drs. 17/3802, S. 20. 1043 So bspw. LSG Celle, Urt. v. 28.03.2013 – L 15 SF 10/12 EK, Rn. 20, juris. 1044 So bspw. OVG Bautzen, Urt. v. 15.01.2013 – 11 F 1/12, Rn. 35, juris. 1045 Siehe bspw. EGMR, Urt. v. 27.07.2000 – Nr. 33379/96 (Klein./.Deutschland), § 50 f., Hudoc; EGMR, Urt. v. 27.02.2003 – Nr. 39547/98 (Niederböster./.Deutschland), § 52, Hudoc; EGMR, Urt. v. 10.02.2005 – Nr. 64387/01 (Uhl./.Deutschland), § 39, Hudoc; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 41 EMRK, Rn. 32; Chryssogonos/Kaidatzis, in: FS Tsatsos 2003, S. 62 (66); Dannemann, Schadensersatz bei Verletzung der EMRK, S. 368.
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in solchen Fällen regelmäßig die Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist, besteht daher nicht. Neben diesen Aspekten kann bei der Beurteilung Berücksichtigung finden, wie lange der Zeitraum der unangemessenen Verfahrensdauer ist1046 und inwiefern die gerichtliche Entscheidung des Ausgangsgerichtes als dringlich bewertet werden kann1047. Des Weiteren kann eine Rolle spielen, zu welchem Zeitpunkt der Verfahrensbeteiligte eine Verzögerungsrüge erhoben hat.1048 Die Wiedergutmachung auf andere Weise kann bei Ausgangsverfahren mit geringem Streitwert für ausreichend erachtet werden.1049 Im Zusammenhang mit § 198 Abs. 2 S. 4 GVG hat das BVerwG aber zutreffend darauf hingewiesen, dass eine Billigkeitsentscheidung nicht bereits deswegen geboten sei, weil der Gesamtbetrag der Entschädigung den Streitwert des Ausgangsverfahrens um ein Vielfaches übersteige.1050 Der Streitwert eines Verfahrens gibt an, welchen wirtschaftlichen Wert die Klage für den Kläger hat, während die Entschädigung nach § 198 GVG einen Ausgleich für die erlittenen immateriellen Nachteile schaffen will.1051 Insofern überzeugt es auch nicht, den Entschädigungsbetrag grundsätzlich auf das im Ausgangsverfahren verfolgte finanzielle Interesse zu begrenzen.1052 Diese Erwägungen sind auch bei § 198 Abs. 2 S. 2 GVG zu berücksichtigen. Kommt die Verzögerung durch das Gericht einer Rechtsverweigerung gleich1053 oder liegt ein pflichtwidriges Verhalten des Gerichtes vor, wird regelmäßig eine angemessene Geldentschädigung zuzusprechen sein. Zwar ist die Bejahung einer unangemessenen Verfahrensdauer unabhängig von einem Verschuldenstatbestand, hieraus lässt sich aber nicht ableiten, dass eine
1046 OVG Bautzen, Urt. v. 15.01.2013 – 11 F 1/12, Rn. 35, juris: Eine 18-monatige unangemessene Verfahrensdauer erfordere noch keine Entschädigung; OVG Berlin, Urt. v. 26.02.2013 – OVG 3 A 6.12, Rn. 38, juris: unangemessene Verzögerung unter einem Jahr; BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 57, juris. 1047 BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 57, juris. 1048 BT-Drs. 17/3802, S. 21. 1049 Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 41 EMRK, Rn. 31 mit Rechtsprechungsnachw. für den EGMR; OVG Berlin, Urt. v. 26.02.2013 – OVG 3 A 11.12, Rn. 39, juris: Verfahren mit einem Streitwert i.H.v. ca. 2.100 Euro ist nicht mehr ganz unbedeutend für den Verfahrensbeteiligten. 1050 BVerwG, Urt. v. 26.02.2015 – 5 C 5/14 D, Rn. 55, juris. 1051 BVerwG, Urt. v. 26.02.2015 – 5 C 5/14 D, Rn. 56, juris. 1052 So aber LSG Mainz, Urt. v. 25.09.2013 – L 4 SF 40/12 EK AS, Rn. 56, juris, mit der Begründung, dass andernfalls der Anreiz, weitere sozialgerichtliche Klagen zu erheben, ansteige und daher dem Missbrauchsrisiko vorgebeugt werden müsse [aufgehoben durch BSG, Urt. v. 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R, juris]. Kritisch auch Dietrich, ZZP 127 (2014), 169 (195, Fn. 162). 1053 OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 74, juris.
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etwaige Pflichtwidrigkeit nicht als maßgebliches Kriterium bei § 198 Abs. 2 S. 2 GVG berücksichtigt werden darf.1054 Für die nach § 198 Abs. 2 S. 2 GVG vorzunehmende Beurteilung ist dagegen ohne Relevanz, ob die Klage im Ausgangsverfahren (offensichtlich) schlüssig1055 bzw. unschlüssig1056 war. Denn Art. 6 Abs. 1 EMRK und sein verfassungsrechtliches Pendant gewähren effektiven Rechtsschutz innerhalb einer angemessenen Zeit unabhängig davon, ob das Rechtsschutzbegehren Aussicht auf Erfolg hatte oder nicht.1057 cc. Exkurs: Die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer als subjektives Recht Für das bessere Verständnis der nachfolgenden Ausführungen wird an dieser Stelle der Frage nachgegangen, ob der Verfahrensbeteiligte ein subjektives Recht auf Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer hat. Es ist bereits angeklungen, dass diese Fragestellung in einem engen Verhältnis zur Rechtsnatur des Ausschlusstatbestandes der Wiedergutmachung auf andere Weise steht. Diejenigen, welche die Wiedergutmachung auf andere Weise als negatives Tatbestandsmerkmal des Geldentschädigungsanspruches einordnen, verneinen die Existenz eines subjektiven Rechtes, da sich gerade wegen der Ausgestaltung als Tatbestandsmerkmal ein solches nicht aus § 198 Abs. 2 S. 2, Abs. 4 S. 1 GVG ableiten lasse.1058 Zudem ermächtige § 198 Abs. 4 S. 1 GVG das Gericht lediglich dazu, die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer auszusprechen, verpflichte es aber nicht dazu.1059 Entsprechendes gelte auch im Hinblick auf § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 1 GVG („kann … ausgesprochen werden“).1060 1054 Zutreffend OLG Naumburg, Urt. v. 30.05.2013 – 1 ESV 4/12, Rn. 42, juris; a.A. Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (5). 1055 So aber KG Berlin, Urt. v. 11.12.2012 – 7 SchH 5/12 EntV, Rn. 27, juris, wonach der Beklagte im Ausgangsverfahren mit der Zahlung des eingeklagten Betrages hätte rechnen müssen, da zu seinen Lasten bereits erstinstanzlich entschieden worden war. 1056 OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 75, juris; a.A. BFH, Urt. v. 17.04.2013 – X K 3/12, Rn. 65, juris: kaum Fallgruppen vorstellbar, wo die Betroffenheit des Klägers geringer ist als bei einer unschlüssigen Klage. In diese Richtung jetzt auch BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 37/13, Rn. 63, juris. 1057 Siehe auch OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 76, juris; BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R, Rn. 52, juris. 1058 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 262; BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 37/13, Rn. 66, juris; Reiter, NJW 2015, 2554 (2559). 1059 BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 37/13, Rn. 66, juris; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 262. 1060 BGH, Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13, Rn. 35, juris; Reiter, NJW 2015, 2554 (2559).
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Nach hier vertretener Auffassung ist die Wiedergutmachung auf andere Weise der Rechtsfolgenseite des Entschädigungsanspruches zuzuordnen. Dies hat zur Folge, dass die beiden Kompensationsformen in einem Maius-minusVerhältnis stehen.1061 Hat der Verfahrensbeteiligte einen Anspruch auf eine angemessene Entschädigung in Geld, kann er erst recht die Wiedergutmachung auf andere Weise verlangen.1062 Die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer tritt insoweit an die Stelle der Geldentschädigung, wobei der Geldentschädigungsanspruch unstreitig ein subjektives Recht darstellt. Entsprechendes gilt also auch für den Feststellungsausspruch.1063 Deshalb besteht im Anwendungsbereich von § 198 Abs. 1, Abs. 2 S. 2 GVG, Abs. 4 S. 1 GVG ein Rechtsanspruch des Verfahrensbeteiligten auf Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer1064, soweit der Anspruch nicht durch Erfüllung in Form einer anderweitigen Wiedergutmachung bereits erloschen ist. Dieses Ergebnis gebietet auch eine verfassungs- und völkerrechtskonforme Auslegung der Vorschriften.1065 Denn nicht nur der Anspruch auf Geldentschädigung, sondern auch die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer als Form der Wiedergutmachung bietet im Anwendungsbereich des § 198 Abs. 1, Abs. 2 S. 2, Abs. 4 S. 1 GVG Rechtsschutz gegen überlange Verfahren.1066 Dass diese Art des Rechtsschutzes nur dann als wirksam bezeichnet werden kann, wenn der Verfahrensbeteiligte die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer auch verlangen und notfalls gerichtlich durchsetzen kann, ist offensichtlich. Andernfalls müsste der Verfahrensbeteiligte für die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer einen „Umweg“ über einen Klageantrag gerichtet auf Geldentschädigung nehmen, der von Beginn an keine Aussicht auf Erfolg hätte und bei dem der Rechtsschutzsuchende mit der ungewissen Kostentragungspflicht nach § 201 Abs. 4 GVG konfrontiert wäre. Zudem sagt die Tatsache, dass die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer gem. § 198 Abs. 4 S. 3 GVG im Ermessen des Entschädigungsgerichtes steht, nichts
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Schenke, NJW 2015, 433 (436). So auch Schenke, NJW 2015, 433 (437). Dabei ist der Verfahrensbeteiligte, wie gesehen, aber auf die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer als einzige Wiedergutmachungsform beschränkt, siehe hierzu bereits oben S. 220 ff. Zu den prozessualen Besonderheiten siehe S. 247 ff. 1063 Schenke, NJW 2015, 433 (434). 1064 Schenke, NJW 2015, 433 (435). Wohl auch Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 23. 1065 Schenke, NJW 2015, 433 (436). 1066 Schenke, NJW 2015, 433 (434 f.). 1062
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über die Rechtsqualität des Feststellungsausspruches aus.1067 Der Verfahrensbeteiligte hat in diesem Fall (zumindest) einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung.1068 Es lässt sich festhalten, dass die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer ein subjektives Recht des Verfahrensbeteiligten ist. dd. Die Wiedergutmachung auf andere Weise bei fehlerhaft erhobener Verzögerungsrüge Erhebt der Verfahrensbeteiligte keine (wirksame) Verzögerungsrüge, ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 198 Abs. 3 S. 1 GVG, dass eine Entschädigung ausgeschlossen ist. Die Wiedergutmachung auf andere Weise ist dagegen als Minus zur Entschädigung – vorausgesetzt man ordnet sie der Rechtsfolgenebene zu – weiterhin als Kompensationsform möglich. Ob in diesen Fällen die unangemessene Verfahrensdauer im Urteil festgestellt wird, steht gem. § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG im Ermessen des Entschädigungsgerichtes, das diese Entscheidung unter Würdigung der Gesamtumstände zu treffen hat.1069 § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG verzichtet nach dessen Wortlaut (nur) auf das Vorliegen von einer oder mehreren Voraussetzungen des Absatzes 3, sodass ein Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung bezüglich der Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer unter Zugrundelegung der hiesigen Anspruchsdogmatik nur bei Vorliegen eines Nichtvermögensnachteils in Frage kommt.1070 ee. Das Nebeneinander von Geldentschädigung und Wiedergutmachung auf andere Weise Die Feststellung der überlangen Verfahrensdauer kann bei Vorliegen eines schwerwiegenden Falles gem. § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 1 GVG auch neben eine Geldentschädigungspflicht des Staates treten. Ob das Entschädigungsgericht neben einer Geldentschädigung die Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer ausspricht, ist nach dem Wortlaut der Norm („kann“) in dessen Ermessen gestellt.1071 Insofern räumt § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 1 GVG dem Verfahrensbeteiligten zumindest einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung ein.1072 Da nach § 198 Abs. 4 S. 2 GVG ein Antrag auf
1067
Vgl. Schenke, NJW 2015, 433 (435). Schenke, NJW 2015, 433 (435); Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 17. Wohl auch BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 62, juris, bzgl. Halbsatz 1. 1069 BT-Drs. 17/3802, S. 22. 1070 A.A. Wehrhahn, SGb 2013, 61 (66). 1071 So auch BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 63, 69, juris. 1072 Ausführlich Schenke, NJW 2015, 433 (435); Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 17. Wohl auch BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 62, juris. 1068
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer nicht erforderlich ist, hat das Entschädigungsgericht diese Entscheidung von Amts wegen zu treffen.1073 Die Beurteilung, ob es sich um einen schwerwiegenden Fall handelt, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu treffen.1074 Eine entscheidende Rolle spielt, ob der Zeitraum der unangemessenen Verfahrensdauer eine schwerwiegende Verletzung der EMRK und des GG darstellt. Je länger die Zeitspanne der Überlänge ist, desto schwerwiegender ist die Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz.1075 Bei der Ermessensentscheidung kann ebenso Berücksichtigung finden, dass der Entschädigungskläger selbst einen Antrag auf Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer gestellt hat und damit zum Ausdruck bringt, dass ihm eine zusätzliche Form der Wiedergutmachung wichtig ist.1076 Dass ein Wiedergutmachungsversuch im Vorfeld des Entschädigungsverfahrens stattgefunden hat, kann gleichfalls in die Überlegungen miteinbezogen werden, ob bei Vorliegen eines schwerwiegenden Falles zusätzlich die Unangemessenheit der Verfahrensdauer festgestellt werden soll. ff. Bewertung § 198 Abs. 2 S. 2, Abs. 4 GVG orientieren sich an der Rechtsprechung des EGMR, sodass es grundsätzlich keinen Effektivitätsmangel darstellt, wenn dem Rechtsschutzsuchenden bei einer Verletzung der Verfahrensgarantie nicht zwingend eine geldwerte Entschädigung zugesprochen wird.1077 Dies muss, wie erörtert, jedoch auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben. Letztendlich ergibt sich eine solche Lesart auch aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, da die Feststellung der Rechtswidrigkeit, d.h. die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer, nur ausnahmsweise den Effektivitätsanforderungen gerecht wird.1078 1073
BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 63, juris; insoweit folgend OLG Braunschweig, Urt. v. 11.04.2014 – 6 SchH 1/13, Rn. 31, juris. 1074 BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 66, juris. 1075 BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 66, juris: Die unangemessene Verfahrensdauer von fünf Jahren stellt einen schwerwiegenden Fall dar. 1076 BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 69, juris. Offen lässt das Gericht, ob die Beantragung einer Feststellung bei Vorliegen eines schwerwiegenden Falles zu einer Ermessensreduzierung führen kann. Bejahend Schenke, NJW 2015, 433 (435, 437 f.). 1077 Kritisch Matusche-Beckmann/Kumpf, ZZP 124 (2011), 173 (187): Wiedergutmachung kann sich als „Danaergeschenk“ erweisen; Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 42; Barczak, AöR 138 (2013), 536 (562 f.). 1078 Vgl. Breuer, Staatshaftung, S. 367, wobei sich seine Aussage auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit als primäres Rechtsschutzinstrument bezieht. Im vorliegenden Kontext geht es dagegen um die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer als Rechtsfolge eines Entschädigungsanspruches, also einem Instrument des Sekundärrechtsschutzes. Insofern kann hier aber nichts anderes gelten.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Nach der hier vertretenen Auffassung liegt dem § 198 GVG bezüglich des Ersatzes von Nichtvermögensnachteilen ein stringentes und in sich konsistentes Rechtsfolgensystem zugrunde, welches durch ein Stufenverhältnis gekennzeichnet ist und das spiegelbildlich zum Haftungstatbestand steht: Ist die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen lang und hat der Verfahrensbeteiligte eine wirksame Verzögerungsrüge erhoben, erhält er für eingetretene immaterielle Nachteile grundsätzlich eine angemessene Geldentschädigung. In schwerwiegenden Fällen kann daneben auch die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer ausgesprochen werden. Ist die Wiedergutmachung auf andere Weise dagegen hinreichende Kompensationsform für die überlange Verfahrensdauer, hat das Entschädigungsgericht die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer auszusprechen; hierauf besteht ein Rechtsanspruch1079. Ist der Verfahrensbeteiligte dagegen seiner Obliegenheit zur Erhebung einer Verzögerungsrüge nicht nachgekommen, hat er nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung des Entschädigungsgerichtes, ob es die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer im Tenor des Urteils ausspricht. Als Ausdruck dieses Stufenverhältnis erklärt sich auch, warum im Anwendungsbereich des § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG der Feststellungsausspruch lediglich ins Ermessen des Entschädigungsgerichtes gestellt worden ist. Somit ist auch die diesbezügliche Kritik zurückzuweisen, § 198 Abs. 4 GVG sei misslungen oder mehrdeutig, weil das Gesetz einen Feststellungsausspruch in „leichten“ und in „schweren“ Fällen möglich mache, nicht aber in „normalen“.1080 c. Die Anwendung des § 254 BGB im Rahmen von § 198 GVG § 254 BGB findet im Rahmen von § 198 GVG grundsätzlich Anwendung1081, wobei zwischen materiellen und immateriellen Nachteilen differenziert werden muss. Bezüglich immaterieller Nachteile ist lediglich der in § 254 BGB innewohnende, allgemeingültige Rechtsgedanke bei der Entscheidung des Entschädigungsgerichtes zu berücksichtigen, ob Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist (§ 198 Abs. 2 S. 2 GVG) oder eine Herabsetzung des Pauschalbetrages gerechtfertigt ist (§ 198 Abs. 2 S. 4 GVG).1082 1079
Zutreffend Schenke, NJW 2015, 433 (435). So aber LSG Neustrelitz, Urt. v. 13.02.2013 – L 12 SF 3/12 EK AL, Rn. 66, juris. Wie hier auch das Revisionsurteil des BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R, Rn. 57, juris. 1081 Heine, MDR 2012, 327 (331); Rathmann, in: Saenger, ZPO, § 198 GVG, Rn. 21; Schenke, NVwZ 2012, 257 (262). 1082 Vgl. im Ergebnis auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 221 (Fn. 433): Rückgriff auf § 254 BGB ist bei immateriellen Nachteilen nicht erforderlich. 1080
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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Bei der Bemessung der Entschädigungshöhe bei materiellen Nachteilen besteht dagegen ein Bedürfnis für die Anwendbarkeit des § 254 BGB, da nach der Gesetzeskonzeption die Höhe der angemessenen Entschädigung nicht unter Berücksichtigung von Billigkeitsgesichtspunkten zu bestimmen ist. Somit ist es gerechtfertigt, über § 254 BGB einem etwaigen Mitverschulden des Betroffenen Rechnung zu tragen. Weil der § 254 BGB im Gegensatz zu § 198 GVG das Vorliegen eines Schadens voraussetzt, ist er in diesem Zusammenhang analog anzuwenden.1083 Geltung beansprucht auch der Grundsatz der Vorteilsausgleichung.1084 Findet bereits im Rahmen der Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer Berücksichtigung, dass der Verfahrensbeteiligte eine Verzögerungsrüge in einem sehr späten Verfahrensstadium erhoben hat, ist genau zu prüfen, inwieweit noch Raum für die Anwendung von § 254 BGB bleibt. Das Nichtergreifen einer parallelen Entschädigungsklage führt nicht zur Anspruchskürzung nach § 254 BGB analog, da von der gerichtlichen Geltendmachung des Entschädigungsanspruches keinerlei präventive Wirkung ausgeht.1085 3. Übertragung, Vererbung, Verjährung Auf Vorschlag des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren wurde ein Ausschluss der Übertragbarkeit des Entschädigungsanspruches bis zum rechtskräftigen Abschluss des Entschädigungsverfahrens in § 198 Abs. 5 S. 3 GVG normiert. In Anlehnung an § 13 Abs. 2 StrEG soll dadurch ein der Rechtspflege abträgliches Handeln mit dem Anspruch verhindert werden.1086 Damit einhergehend ist der Entschädigungsanspruch bis zum rechtskräftigen Abschluss des Entschädigungsverfahrens gem. § 851 Abs. 1 ZPO unpfändbar, sodass in dieser Zeit gegen diesen gem. § 394 BGB nicht aufgerechnet werden kann. Dem rechtskräftigen Abschluss des Entschädigungsverfahrens steht die endgültige Entscheidung der Justizverwaltungen im Rahmen einer außergerichtlichen Einigung gleich.1087 Verstirbt ein Verfahrensbeteiligter geht der Entschädigungsanspruch auf den Erben über, soweit er in der Person des Erblassers bereits entstanden ist.
1083
Schenke, NVwZ 2012, 257 (262). BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 27/12 D, Rn. 55, juris. 1085 Entgegen Geipel, ZAP Fach 13, 2012, 1767 (1773) ist die Möglichkeit der parallelen Entschädigungsklage im Hinblick auf die Mitverantwortung des Verfahrensbeteiligten daher unproblematisch. Diese Einschätzung teilt auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 251. 1086 BT-Drs. 17/3802, S. 36; BT-Drs. 17/7217, S. 28; sehr kritisch Geipel, ZAP Fach 13, 2012, 1767 (1773). 1087 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 265; Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 185. 1084
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 198 Abs. 5 S. 3 GVG, der in Anlehnung an § 13 Abs. 2 StrEG lediglich den Handel mit dem Anspruch verhindern möchte.1088 Aufgrund der sechsmonatigen Ausschlussfrist des § 198 Abs. 5 S. 2 GVG, nach deren Ablauf der Entschädigungsanspruch erlischt1089, hat die Verjährung des Anspruches aus § 198 Abs. 1 S. 1 GVG, die sich nach § 195 BGB richten würde1090, keine praktische Relevanz.1091 Einzelne Verjährungsvorschriften können aber für die materiell-rechtliche Ausschlussfrist Geltung beanspruchen, wenngleich sich diese in ihren Wirkungen unterscheiden und ihre Anwendbarkeit in jedem Einzelfall zu prüfen ist.1092 In Betracht kommt insbesondere die entsprechende Anwendung der Hemmungsgründe in §§ 206, 210, 211 BGB.1093 Verzugszinsen können bei öffentlich-rechtlichen Ansprüchen nur gefordert werden, wenn dies ausdrücklich geregelt ist oder zwischen den Parteien ein dem Bürgerrecht ähnliches Gleichordnungsverhältnis besteht, das die Anwendung der §§ 286 ff. BGB rechtfertigt.1094 Bei Entschädigungsforderungen wird dies regelmäßig abgelehnt1095, sodass der Betroffene im zivilgerichtlichen Verfahren lediglich nach § 291 ZPO Prozesszinsen verlangen kann. Ein vom Gesetzgeber nicht geregelter Problemkreis stellt die Anrechenbarkeit der Entschädigungsleistung auf Sozialleistungen o. Ä. dar, dessen Erörterung den Rahmen dieser Arbeit aber übersteigen würde und in der jeweiligen Fachliteratur besser aufgehoben ist.1096 4. Übergangsvorschrift Das ÜGRG ist am 03. Dezember 2011 in Kraft getreten, nachdem es am 02. Dezember 2011 im Bundesgesetzblatt (BGBl. 2011 I, S. 2302) verkündet 1088 BFH, Urt. v. 20.08.2014 – X K 9/13, Rn. 41 f., juris. Ebenso die Vererblichkeit bejahend: Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 267; Lückemann, in: Zöller-ZPO, § 198 GVG, Rn. 11. 1089 Siehe hierzu S. 259 f. 1090 A.A. Geipel, ZAP Fach 13, 2012, 1767 (1772): § 198 Abs. 5 GVG enthalte eine abweichende Verjährungsvorschrift. 1091 So auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 260. 1092 Vgl. BGH NJW 1979, 651 (651 f.); NJW 1983, 516 (517); NJW 2008, 2258 (2259 f.); BT-Drs. 17/3802, S. 22. 1093 Siehe auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 261. 1094 Siehe hierzu BVerwG, Urt. v. 27.02.2014 – 5 C 1/13 D, Rn. 44 ff., juris. 1095 Vgl. BGH NJW 1982, 1277 (1277 f.). 1096 Siehe bspw. Stotz, NZS 2015, 410 (410 ff.): Anrechnung der Entschädigung auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II; ebenfalls Link/van Dorp, AuA 2013, 91 (92 f.); Link/van Dorp, AuA 2015, 340 (342).
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wurde, Art. 24 ÜGRG. Wenn auch seitdem gewisse Zeit vergangen ist, wird an dieser Stelle ein Blick auf die Übergangsvorschriften geworfen, die vor allem für Verfahren, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits anhängig waren, nach wie vor Relevanz aufweisen können. In Art. 23 ÜGRG hat der Gesetzgeber den zeitlichen Anwendungsbereich der neu geschaffenen Regelungen bestimmt, geleitet von der Überlegung, die Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR hinsichtlich überlanger Gerichtsverfahren zügig zu stoppen und den Gerichtshof von solchen Verfahren zu entlasten.1097 Danach sind die Neuregelungen zum einen auf alle Verfahren anwendbar, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits anhängig und noch nicht abgeschlossen waren, Art. 23 S. 1, Halbs. 1 ÜGRG.1098 Zum anderen findet das Gesetz bei bereits abgeschlossenen Verfahren Anwendung, wenn deren Dauer bei Inkrafttreten des ÜGRG Gegenstand von anhängigen Beschwerden beim EGMR war oder noch werden konnte, Art. 23 S. 1, Halbs. 2 ÜGRG. Art. 23 S. 2-6 ÜGRG normiert für diese Verfahren von § 198 GVG abweichende Bestimmungen materieller und prozessrechtlicher Art, die insbesondere Gegenstand nachfolgender Ausführungen sind. Zuvor muss jedoch ein Blick auf den Verfahrensbegriff des Art. 23 ÜGRG geworfen werden, der maßgeblich für die Bestimmung ist, ob ein Verfahren zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes anhängig oder bereits abgeschlossen war. Weder dem Wortlaut noch der Gesetzesbegründung können Anhaltspunkte dafür entnommen werden, wie der Verfahrensbegriff in Art. 23 ÜGRG zu verstehen ist. Unter systematischen Gesichtspunkten ist dieser aber im Lichte des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG auszulegen, da sich andernfalls die Bestimmungen der Art. 23 S. 2-6 ÜGRG nicht in das Regelungskonzept des Gesetzes eingliedern würden. a. Anhängige Verfahren Die Neuregelungen des ÜGRG finden grundsätzlich auf alle Verfahren Anwendung, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes am 03. Dezember 2011 bereits anhängig und noch nicht abgeschlossen waren, Art. 23 S. 1, Halbs. 1 ÜGRG. Zu diesem Zeitpunkt musste das Gericht bereits mit der Sache befasst sein1099, also die Klage bei Gericht eingereicht oder das Verfahren durch Antrag eingeleitet gewesen sein.
1097
BT-Drs. 17/3802, S. 31. Dies entspricht dem Grundsatz des intertemporalen Prozessrechts, Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 69. 1099 Vgl. nur Becker-Eberhard, in: MüKo-ZPO, § 261 ZPO, Rn. 3. 1098
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
aa. Art. 23 S. 2 und S. 3 ÜGRG War ein anhängiges Verfahren zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits verzögert, musste nach Art. 23 S. 2 ÜGRG eine Verzögerungsrüge unverzüglich erhoben werden, um eine Entschädigung auch für solche Nachteile verlangen zu können, die im vorausgegangenen Zeitraum entstanden waren, Art. 23 S. 3 ÜGRG. In systematischer Auslegung zu § 198 Abs. 3 GVG und Art. 23 S. 3 ÜGRG war ein Verfahren i.S.v. Art. 23 S. 2 ÜGRG verzögert, wenn bereits eine rügepflichtige Situation gem. § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 1 GVG eingetreten war, also Anlass zur Besorgnis bestand, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird. Bezugspunkt für diese Beurteilung war der Zeitabschnitt von der Einleitung des Verfahrens bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ÜGRG.1100 Ob das Verfahren zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes dagegen „aktuell“ verzögert war, spielt keine Rolle.1101 (1) Unverzügliche Erhebung der Verzögerungsrüge Die Verzögerungsrüge war nach Art. 23 S. 2 ÜGRG unverzüglich nach Inkrafttreten des Gesetzes, also nach dem 03. Dezember 2011 zu erheben. Diese Voraussetzung ist materiell-rechtlicher Art und somit in der Begründetheit der Klage zu prüfen.1102 In Anlehnung an § 121 Abs. 1 S. 1 BGB1103 musste die Erhebung der Verzögerungsrüge nicht sofort1104, sondern ohne schuldhaftes Zögern erfolgen. Es „…muss dem Geschädigten eine nach den Umständen des Einzelfalls zu bemessene Prüfungs- und Überlegungsfrist eingeräumt werden, innerhalb der er die Frage, ob eine entschädigungspflichtige Verzögerung vorliegen könnte, prüfen können muss.“1105
Eine Erhebung der Verzögerungsrüge drei Monate nach Inkrafttreten des ÜGRG ist vor dem Hintergrund, dass eine Rechtsschutzlücke zu schließen war,
1100
Siehe zu den Gründen S. 99, 103 f. Zutreffend OLG Bremen, Urt. v. 20.02.2013 – 1 SchH 9/12 (EntV), Rn. 20, juris, unter Berücksichtigung des Wortlautes und des Telos der Norm. 1102 BGH, Urt. v. 17.07.2014 – III ZR 228/13, Rn. 14, juris. 1103 OLG Karlsruhe, Urt. v. 03.05.2013 – 23 SchH 1/13 EntV, Rn. 11, juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 71, juris; OLG Bremen, Urt. v. 20.02.2013 – 1 SchH 9/12 (EntV), Rn. 13, juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 10.07.2013 – 4 EntV 3/13, Rn. 57, juris; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, T. Art. 23 ÜGRG, Rn. 4; Wenner, SozSich 2012, 32 (35). 1104 OLG Bremen, Urt. v. 20.02.2013 – 1 SchH 9/12 (EntV), Rn. 14, juris; BGH, Urt. v. 17.07.2014 – III ZR 228/13, Rn. 26, juris; BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/14 R, Rn. 27, juris. 1105 OLG Bremen, Urt. v. 20.02.2013 – 1 SchH 9/12 (EntV), Rn. 14, juris; so auch OLG Frankfurt, Urt. v. 10.07.2013 – 4 EntV 3/13, Rn. 57, juris. 1101
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die gegen verfassungs- und völkerrechtliche Vorgaben verstieß, noch fristgerecht, zumal das Gesetz nur einen Tag nach Verkündung in Kraft trat.1106 Nach dem Gesetzeswortlaut war die unverzügliche Erhebung einer Verzögerungsrüge nach Inkrafttreten des Gesetzes erforderlich, sodass eine vor Inkrafttreten der Regelungen stattgefundene Beanstandung der Verfahrensdauer, in welcher Form auch immer, nicht ausreichend ist, um einen Entschädigungsanspruch zu begründen.1107 Da das ÜGRG vor dem 03. Dezember 2011 überhaupt keine Geltung beanspruchte, kann einer Beanstandung der Verfahrensdauer keine vergleichbare Wirkung wie der Verzögerungsrüge zugeschrieben werden.1108 Die unverzügliche Erhebung der Verzögerungsrüge war selbst dann nicht entbehrlich, wenn das anhängige Verfahren zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes kurz vor seinem Abschluss stand.1109 (2) Eintritt der Präklusionswirkung Nur wenn der Verfahrensbeteiligte dieser unverzüglichen Rügeobliegenheit nachgekommen ist, kann er den Entschädigungsanspruch auch für den vorausgehenden Zeitraum geltend machen, Art. 23 S. 3 ÜGRG. Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist unklar, welche Dauer vom „vorausgehenden Zeitraum“ erfasst ist. Möglich ist es, darunter den Zeitraum bis zum Inkrafttreten des Gesetzes oder bis zur Erhebung der Verzögerungsrüge zu verstehen. (a) Gesetzeshistorie Zur Klärung dieser Frage wird zunächst ein Blick auf die Gesetzesgenese geworfen. Im Referentenentwurf hatte das Bundesministerium der Justiz in der Begründung zum Rügezeitpunkt des § 198 Abs. 3 S. 2 GVG-RefE klargestellt1110, dass ein Entschädigungsanspruch dann nicht vollumfänglich zu 1106 BGH, Urt. v. 10.04.2014 – III ZR 335/13, Rn. 25, juris; BGH, Urt. v. 17.07.2014 – III ZR 228/13, Rn. 22 ff., juris; BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/14 R, Rn. 25 ff., juris. A.A. OLG Bremen, Urt. v. 20.02.2013 – 1 SchH 9/12 (EntV), Rn. 14, juris, welches darauf abstellt, dass das Inkrafttreten des Gesetzes in Fachzeitschriften und in der allgemeinen öffentlichen Berichterstattung thematisiert worden ist. OLG Bremen, Urt. v. 04.07.2013 – 1 SchH 10/12 (EntV), Rn. 2, juris: Unverzüglichkeit nicht mehr bei Erhebung der Verzögerungsrüge sieben Wochen nach Inkrafttreten des ÜGRG gegeben. OLG Rostock, Urt. v. 22.05.2013 – 1 SchH 2/12, BeckRS 2014, 15590: Erhebung 3 Wochen und 6 Tage nach Inkrafttreten nicht unverzüglich. 1107 OLG Karlsruhe, Urt. v. 03.05.2013 – 23 SchH 1/13 EntV, Rn. 11, juris; OLG Bremen, Urt. v. 20.02.2013 – 1 SchH 9/12 (EntV), Rn. 17, juris; OLG Celle, Beschl. v. 15.02.2012 – 23 SchH 1/12, Rn. 2, juris; OLG Bremen, Urt. v. 04.07.2013 – 1 SchH 10/12 (EntV), Rn. 24, juris; BGH, Urt. v. 17.07.2014 – III ZR 228/13, Rn. 15, juris. 1108 OLG Celle, Beschl. v. 15.02.2012 – 23 SchH 1/12, Rn. 2, juris; OLG Rostock, Urt. v. 22.05.2013 – 1 SchH 2/12, BeckRS 2014, 15590. 1109 Siehe auch OLG Bremen, Urt. v. 20.02.2013 – 1 SchH 9/12 (EntV), Rn. 15 f., juris. 1110 ÜGRG-RefE vom 15.03.2010, S. 18.
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gewähren wäre, wenn der Verfahrensbeteiligte eine Verzögerungsrüge nach dem in § 198 Abs. 3 S. 2 GVG-RefE beschriebenen Zeitpunkt1111 erhoben hätte. Insofern wären Nachteile, die auf Verzögerungszeiträume vor Erhebung der Verzögerungsrüge zurückzuführen wären, nicht ersetzt worden. Diese Regelung sollte insbesondere der präventiven Wirkung der Verzögerungsrüge Rechnung tragen.1112 Der Verfahrensbeteiligte, dessen Rechtsstreitigkeit zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits anhängig gewesen wäre, der Rügezeitpunkt des § 198 Abs. 3 S. 2 GVG-RefE aber bereits verstrichen gewesen wäre, hätte somit erst ab Erhebung der Verzögerungsrüge Ersatz für seine Nachteile verlangen können. Ein Ausgleich für Nachteile, die vor Erhebung der Verzögerungsrüge entstanden wären, hätte also nicht stattgefunden – ein Umstand, der wohl weitere Individualbeschwerden vor dem EGMR zur Folge gehabt hätte. Demnach wurde in Art. 16 S. 3 ÜGRG-RefE (jetzt: Art. 23 S. 3 ÜGRG) eine unverzügliche Rügeobliegenheit für bereits anhängige und verzögerte Verfahren normiert, die es dem Verfahrensbeteiligten ermöglichen sollte, unabhängig vom Rügezeitpunkt für die gesamte unangemessene Verfahrensdauer Entschädigung verlangen zu können, § 198 Abs. 3 S. 2 GVG-RefE.1113 Nach der Konzeption des Referentenentwurfes sollte also der gesamte Zeitraum bis zur Erhebung der Verzögerungsrüge von der Präklusionswirkung umfasst sein. Der dem § 198 Abs. 3 S. 2 GVG-RefE zugrunde liegende Regelungsmechanismus wurde im Gesetzgebungsverfahren jedoch kritisiert.1114 Da der Rügezeitpunkt durch die Verwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs kaum hätte exakt bestimmt werden können1115, wäre es für die Betroffenen schwierig geworden, den Entschädigungsanspruch (in voller Höhe) durchzusetzen. Einerseits wäre bei einer verfrühten Rüge der Entschädigungsanspruch nicht entstanden.1116 Andererseits hätte eine Verzögerungsrüge, die nach dem normierten Rügezeitpunkt in § 198 Abs. 3 S. 2 GVG-RefE erhoben worden wäre, zur Folge, dass Nachteile, die davor eingetreten wären, gar nicht ersetzt worden 1111 § 198 Abs. 3 S. 2 GVG-RefE: „…Anlass für die Besorgnis besteht, dass ein Abschluss des Verfahrens in angemessener Zeit gefährdet sein könnte, frühestens nach Beendigung eines Vorverfahrens.“. 1112 ÜGRG-RefE vom 15.03.2010, S. 18. 1113 So ausdrücklich auch der ÜGRG-RefE vom 15.03.2010, S. 30. Der Verweis auf § 198 Abs. 2 GVG-RefE im Art. 16 ÜGRG-RefE ist wohl ein Redaktionsversehen. 1114 So ausdrücklich BRAK, Stellungnahme der BRAK zum Referentenentwurf des ÜGRG (06/2010), http://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2010/juni/stellungnahme-der-brak-2010-11.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 8 f.; OLG Frankfurt, Urt. v. 10.07.2013 – 4 EntV 3/13, Rn. 68, juris. 1115 Zutreffend BRAK, Stellungnahme der BRAK zum Referentenentwurf des ÜGRG (06/2010), http://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2010/juni/stellungnahme-der-brak-2010-11.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 9. 1116 ÜGRG-RefE vom 15.03.2010, S. 18.
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wären. Es setzte sich daher die Auffassung durch, dass die Geduld der Verfahrensbeteiligten, mit der Erhebung der Verzögerungsrüge zu warten, nicht bestraft werden sollte.1117 Die Entstehung des Geldentschädigungsanspruches ist somit grundsätzlich nicht mehr vom Zeitpunkt der Erhebung der Verzögerungsrüge abhängig.1118 Doch während sich dieser Konzeptwandel zumindest in der Gesetzesbegründung zu § 198 Abs. 3 S. 2 GVG widerspiegelt, ist der Wortlaut des Art. 23 S. 3 ÜGRG (vormals Art. 16 S. 3 ÜGRG-RefE) und die diesbezügliche Gesetzesbegründung unverändert geblieben. Fraglich ist, welche Konsequenzen hieraus für die Auslegung des „vorausgehenden Zeitraumes“ abzuleiten sind. Unterstellt man dem Gesetzgeber, dass er die Übergangsvorschrift diesem neuen Regelungskonzept bewusst nicht angepasst hat? Falls ja, dann offensichtlich mit dem Ziel, die Zahl erfolgreicher Entschädigungsklagen in Altfällen durch erschwerte Voraussetzungen möglichst gering zu halten. Oder sieht man darin ein Versehen des Gesetzgebers, der nach dem Piloturteil Rumpf./.Deutschland unter gewissem Zeitdruck stand, ein Gesetz zu verabschieden? (b) Lösung des BGH Im Gegensatz zu anderen Entschädigungsgerichten hat der BGH diesen Widerspruch zwischen Referenten- und Regierungsentwurf erkannt und sich für erstere Interpretationsweise entschieden. Die Übergangsvorschriften in Art. 23 S. 2 und S. 3 ÜGRG würden nach Änderung der Gesetzeskonzeption nunmehr den Zeitpunkt regeln, zu dem die Verzögerungsrüge spät möglichst erhoben werden könnte und etabliere somit eine angemessene Prüfungsfrist.1119 Sie würden daher nicht mehr in einem Zusammenhang zu § 198 Abs. 3 S. 2 GVG stehen. Unter Berücksichtigung der Gesetzessystematik werde von der Präklusionswirkung daher der gesamte Zeitraum vor Erhebung der Verzögerungsrüge erfasst, sodass der Entschädigungsanspruch erst ab Erhebung der Verzögerungsrüge zur Entstehung gelange.1120
1117
So nun ausdrücklich BT-Drs. 17/3802, S. 21. Damit geht einher, dass die Warnfunktion der Verzögerungsrüge an Bedeutung verliert, zutreffend Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (3). 1118 Zum Rügezeitpunkt siehe S. 103 ff. 1119 BGH, Urt. v. 10.04.2014 – III ZR 335/13, Rn. 29 ff., juris. 1120 BGH, Urt. v. 10.04.2014 – III ZR 335/13, Rn. 29, juris. So auch die ganz herrschende Meinung, die im Gegensatz zum BGH aber unberücksichtigt lässt, dass das Regelungskonzept der Verzögerungsrüge sich im Laufe der Gesetzesentstehung geändert hat: OLG Bremen, Urt. v. 20.02.2013 – 1 SchH 9/12 (EntV), Rn. 15, juris; OLG Karlsruhe, Urt. v. 03.05.2013 – 23 SchH 1/13 EntV, Rn. 11, juris; OLG Rostock, Urt. v. 22.05.2013 – 1 SchH 2/12, BeckRS 2014, 15590; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, T. Art. 23 ÜGRG, Rn. 6; wohl auch Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, Art. 23 ÜVerfBesG, Rn. 4.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
(c) Stellungnahme Während die unverzügliche Rügeobliegenheit nach dem Referentenentwurf die Entstehung des Entschädigungsanspruches überhaupt erst in vollständiger Höhe ermöglichen sollte, bezweckt sie nach dem Gesetzesverständnis des BGH nun das komplette Gegenteil, das gänzlich im Widerspruch zum neuen Regelungskonzept steht und in diesem ein Fremdkörper ist. Von der im Referentenentwurf vorgesehenen Regelung, die Entstehung des Entschädigungsanspruches von der rechtzeitigen Erhebung der Verzögerungsrüge abhängig zu machen, wurde zu Recht Abstand genommen. Grund hierfür waren die bereits angesprochenen Schwierigkeiten, den Rügezeitpunkt nach § 198 Abs. 3 S. 2 GVG zu bestimmen. Somit überzeugt es, die unverzügliche Rügeobliegenheit als Relikt des Referentenentwurfes aufzufassen und die damit verbundenen Nachteile für den Verfahrensbeteiligten auf ein Minimum zu beschränken. Ausgehend von der Überlegung, dass die unverzügliche Rügeobliegenheit nach dem Referentenentwurf gerade die Gleichbehandlung aller Verfahren ab Inkrafttreten bezweckte, sollte dieser Gedanke ebenfalls bei der Auslegung des „vorausgehenden Zeitraumes“ Berücksichtigung finden. Ab Inkrafttreten des Gesetzes ist es also nicht mehr gerechtfertigt, unterschiedliche Rechtsfolgen an die „verspätete“ Erhebung einer Verzögerungsrüge zu knüpfen. Die Entstehung des Entschädigungsanspruches ist bei Missachtung der unverzüglichen Rügeobliegenheit damit nur bis zum Inkrafttreten des Gesetzes gehindert. Ab diesem Zeitpunkt gelten aus Gleichheitsgründen dieselben Grundsätze, wie sie für anhängige Verfahren gelten, die zum Zeitpunkt des Gesetzes noch nicht verzögert waren. Somit kann die unverzügliche Rügeobliegenheit letztlich als zusätzliche Voraussetzung für eine begünstigende Rückwirkung des Gesetzes angesehen und gerechtfertigt werden, weil der Verfahrensbeteiligte bei Beachtung dieser auch Ersatz für solche Verzögerungszeiträume erhält, die vor Inkrafttreten des Gesetzes liegen. Daher ist eine Präklusionswirkung nur für den Zeitraum vor Inkrafttreten des Gesetzes anzunehmen.1121 (3) Umfang der Präklusionswirkung Nach dem Wortlaut des Art. 23 S. 3 ÜGRG wahrt nur eine rechtzeitig erhobene Verzögerungsrüge einen Anspruch nach § 198 GVG für den vorausgehenden
1121
Im Ergebnis auch das OLG Frankfurt, Urt. v. 10.07.2013 – 4 EntV 3/13, Rn. 70, juris [ablehnend das Revisionsurteil des BGH, Urt. v. 10.04.2014 – III ZR 335/13, Rn. 19, 27, juris].
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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Zeitraum. Hieraus folgert der BGH, dass auch die Wiedergutmachung auf andere Weise ausgeschlossen sei, wenn der Rügezeitpunkt verstrichen ist.1122 Ein Feststellungsausspruch sei demnach nicht möglich. Unter systematischen und teleologischen Gesichtspunkten ist es jedoch vorzugswürdig, in diesen Fällen § 198 Abs. 4 GVG anzuwenden.1123 Art. 23 S. 1 ÜGRG stellt klar, dass das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichts- und Ermittlungsverfahren auch bei bereits anhängigen Verfahren gilt und schafft in Art. 23 S. 2 und S. 3 ÜGRG lediglich Modifikationen hinsichtlich der Vorschriften des § 198 Abs. 3 GVG. Daher bezweckt Art. 23 S. 3 ÜGRG gerade keinen Ausschluss von § 198 Abs. 4 GVG, sodass Art. 23 S. 3 ÜGRG dahingehend auszulegen ist, dass zwar ein Geldentschädigungsanspruch nach Maßgabe des § 198 Abs. 1, Abs. 3 GVG ausscheidet, der Anspruch auf Wiedergutmachung auf andere Weise gem. § 198 Abs. 1, Abs. 4 GVG davon aber unberührt bleibt1124. Insofern wird auch ein Gleichlauf zum Regelungsmechanismus des § 198 Abs. 3 und Abs. 4 GVG erreicht. bb. Art. 23 S. 4 ÜGRG War bei einem zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes anhängigen Verfahren die Verzögerung in einer bereits abgeschlossenen Instanz eingetreten, entfiel gem. Art. 23 S. 4 ÜGRG die unverzügliche Rügeobliegenheit. Auch mit dieser Regelung hinterlässt der Gesetzgeber beim Normanwender mehr Fragen als Antworten. Aufgrund der systematischen Nähe von Art. 23 S. 2 und S. 4 ÜGRG würde es eigentlich naheliegen, den Begriff der Verzögerung in beiden Vorschriften kongruent auszulegen. Art. 23 S. 4 ÜGRG würde also Anwendung finden, wenn in der abgeschlossenen Instanz Anlass zur Besorgnis bestand, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird. In diesem Fall hätte eine Verzögerungsrüge nicht unverzüglich erhoben werden müssen. Ein derartiges Gesetzesverständnis macht jedoch keinen Sinn. Denn Bezugspunkt für die Frage, ob ein Verfahren nach Art. 23 S. 2 ÜGRG schon verzögert ist, ist der gesamte Zeitabschnitt von der Einleitung des Verfahrens bis zum Inkrafttreten des Gesetzes – unabhängig davon, wie viele Instanzen das Verfahren bereits durchlaufen hat. Hat sich also ein anhängiges Verfahren bereits in einer abgeschlossenen Instanz verzögert, wirkt diese Verzögerung entweder bis zum aktuellen Verfahrensabschnitt noch fort oder nicht. Im ersten Fall ist die Erhebung der Verzögerungsrüge nach Art. 23 S. 2 ÜGRG
1122 BGH, Urt. v. 10.04.2014 – III ZR 335/13, Rn. 35, juris; OVG Lüneburg, Urt. v. 04.09.2014 – 21 F 1/13, Rn. 35, juris. 1123 Im Ergebnis auch OLG Frankfurt, Urt. v. 10.07.2013 – 4 EntV 3/13, Rn. 71, juris. 1124 So auch BFH, Urt. v. 17.04.2013 – X K 3/12, Rn. 72, juris; anders jetzt aber BFH, Urt. v. 20.08.2014 – X K 9/13, Rn. 24, juris, der sich aus Gründen einer einheitlichen Rechtsprechung dem BGH anschließt.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
geboten, weil die eingetretene Verzögerung nicht gleichbedeutend mit der Unangemessenheit der Gesamtverfahrensdauer ist. Verzögerungen können durch verfahrensbeschleunigende Maßnahmen auch in nachfolgenden Instanzen kompensiert werden. Im zweiten Fall besteht mangels eines Verzögerungstatbestandes zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes überhaupt kein Grund, eine Verzögerungsrüge zu erheben. In der Gesetzesbegründung zu Art. 23 S. 4 ÜGRG heißt es, eine Pflicht zur unverzüglichen Rüge bei Verzögerungen in einer bereits abgeschlossenen Instanz sei kontraproduktiv, da die Verzögerungsrüge keine präventive Wirkung mehr entfalten könne.1125 Der Verzögerungsrüge kann eine präventive Wirkung jedoch nur dann gänzlich abgesprochen werden, wenn sich die eingetretenen Verzögerungen bereits zu einer unangemessenen Verfahrensdauer verdichtet haben und nicht mehr durch verfahrensbeschleunigende Maßnahmen kompensiert werden können. Aus diesem Grund liegt es nahe, den Verzögerungsbegriff des Art. 23 S. 4 ÜGRG im Sinne einer unangemessenen Verfahrensdauer zu verstehen. Hiergegen spricht jedoch, dass Art. 23 S. 4 ÜGRG die unverzügliche Rügeobliegenheit nur für verzichtbar hält, wenn die „Verzögerung“ in einer abgeschlossenen Instanz eingetreten ist. Die unangemessene Verfahrensdauer ist aber richtigerweise nicht Instanz-bezogen zu verstehen. Wie man es dreht und wendet, lässt sich Art. 23 S. 4 ÜGRG nicht stimmig in das Gesetzeskonzept einbetten. Unter besonderer Berücksichtigung der (etwaigen) verfahrensbeschleunigenden Wirkung der Verzögerungsrüge ist es überzeugend, den Begriff der Verzögerung in Art. 23 S. 2 und S. 4 ÜGRG nicht gleichzusetzen. Es wäre paradox, auf die Rügeobliegenheit zu verzichten, bloß weil eine Verzögerung i.S.v. Art. 23 S. 2 ÜGRG in einer abgeschlossenen Instanz eingetreten ist. Die Verzögerungsrüge kann gerade auch in diesen Fällen präventiv wirken. Der Begriff der Verzögerung in Art. 23 S. 4 ÜGRG ist daher gleichzusetzen mit einer unangemessenen Verfahrensdauer. Nur in diesem Fall ist die Erhebung einer Verzögerungsrüge kontraproduktiv. Im Rahmen von Art. 23 S. 2 ÜGRG hat dieses Gesetzesverständnis zur Konsequenz, dass eine unverzügliche Rügeobliegenheit nur dann nicht bestand, wenn die Verfahrensdauer im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits überlang war. Dieses Gesetzesverständnis zugrunde gelegt, bleibt nur ein sehr begrenzter Anwendungsbereich von Art. 23 S. 4 ÜGRG. cc. Zusammenfassung Das ÜGRG findet auf alle Verfahren Anwendung, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes am 03. Dezember 2011 bereits anhängig und noch
1125
BT-Drs. 17/3802, S. 31.
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nicht abgeschlossen waren. Bestand bei einem dieser Verfahren Anlass zur Besorgnis, dass es nicht innerhalb einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird, musste der Verfahrensbeteiligte unverzüglich eine Verzögerungsrüge erheben, um bei Eintreten einer unangemessenen Verfahrensdauer einen Geldentschädigungsanspruch in vollständiger Höhe geltend machen zu können. Die Rügeobliegenheit entfiel, wenn die Verfahrensdauer zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits überlang war. Hat der Verfahrensbeteiligte die Verzögerungsrüge nicht unverzüglich erhoben, werden Nachteile, die auf Verzögerungszeiträume vor Inkrafttreten des Gesetzes beruhen, nicht ersetzt. Hiervon bleibt die Wiedergutmachung auf andere Weise unberührt. b. Abgeschlossene Verfahren Nach Art. 23 S. 1, Halbs. 2 ÜGRG sind die Neuregelungen auch auf bereits abgeschlossene Verfahren anwendbar, wenn deren Dauer bei Inkrafttreten des Gesetzes Gegenstand von anhängigen Beschwerden beim EGMR war oder noch werden konnte. Für diese Verfahren trifft Art. 23 S. 5-6 ÜGRG von §§ 198 ff. GVG abweichende Sonderbestimmungen. Nach einem Gegenschluss zu Art. 23 S. 1, Halbs. 1 ÜGRG ist ein Verfahren abgeschlossen, wenn dieses zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes nicht mehr anhängig war.1126 aa. Zulässigkeit der Individualbeschwerde nach Art. 35 EMRK Umstritten ist, inwiefern Art. 23 S. 1, Halbs. 2 ÜGRG voraussetzt, dass eine Individualbeschwerde nach Art. 35 EMRK in zulässiger Weise erhoben wurde bzw. noch werden konnte. Nach weit verbreiteter Meinung in der Rechtsprechung kommt es bei abgeschlossenen Altverfahren für die Anwendbarkeit der Neuregelungen auf die Zulässigkeit der Individualbeschwerde nach Art. 35 EMRK an.1127
1126
Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 202 SGG, Rn. 72. Ausdrücklich an den Zulässigkeitsvoraussetzungen des Art. 35 EMRK orientieren sich: LSG Darmstadt, Urt. v. 06.02.2013 – L 6 SF 6/12 EK U, Rn. 49, juris; BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 12, juris. Wohl auch LAG Chemnitz, Beschl. v. 07.06.2012 – 1 Oa 2/12, Rn. 7, juris; LSG Stuttgart, Urt. v. 20.02.2013 – L 2 SF 1495/12, Rn. 4, juris; LSG Stuttgart, Urt. v. 21.11.2012 – L 2 SF 436/12 EK, Rn. 66, juris; BGH, Urt. v. 11.07.2013 – III ZR 361/12, Rn. 15, juris; OVG Bautzen, Urt. v. 15.01.2013 – 11 F 1/12, Rn. 16, juris. 1127
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Hiergegen spricht jedoch der eindeutige Wortlaut der Vorschrift, der lediglich verlangt, dass die überlange Verfahrensdauer Gegenstand einer Individualbeschwerde war bzw. werden konnte.1128 Zudem ist es nicht Aufgabe der Entschädigungsgerichte, die teils komplizierten Rechtsfragen bezüglich der Zulässigkeit der Individualbeschwerde nach Art. 35 EMRK zu beurteilen.1129 Somit genügt es grundsätzlich, dass die Individualbeschwerde beim EGMR zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits anhängig war bzw. gemacht werden konnte. Bei der Auslegung der Vorschrift darf deren Telos aber nicht außer Acht gelassen werden. Die Anwendung der Neuregelungen auch auf abgeschlossene Verfahren soll weitere Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland verhindern und den EGMR entlasten.1130 Ist eine anhängige Individualbeschwerde also offensichtlich unzulässig oder die Erhebung einer zulässigen Beschwerde unter keinen Umständen mehr möglich, droht eine Verurteilung Deutschlands erkennbar nicht. In diesen Fällen würde eine rein formale Betrachtungsweise dem Zweck der Übergangsvorschrift nicht gerecht werden, sodass auf derartige Altverfahren die Neuregelungen keine Anwendung finden.1131 Offensichtlich unzulässig ist die Individualbeschwerde, wenn diese bspw. nicht innerhalb der in Art. 35 Abs. 1 EMRK normierten Beschwerdefrist erhoben wurde1132 oder vor dem EGMR nicht mehr anhängig war, weil das Verfahren bereits abgeschlossen war1133. Zu beachten ist, dass bei Rügen bezüglich überlanger Verfahren außer in Strafsachen die Sechs-Monats-Frist des Art. 35 Abs. 1 EMRK nicht erst dann zu laufen beginnt, wenn das BVerfG im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde über die Angemessenheit der Verfahrensdauer entschieden hat, sondern bereits mit Abschluss des Ausgangsverfahrens.1134 1128 BSG, Beschl. v. 27.06.2013 – B 10 ÜG 9/13 B, Rn. 25, juris; LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, Rn. 187, juris. 1129 Dies bezweifelt auch das BSG, Beschl. v. 27.06.2013 – B 10 ÜG 9/13 B, Rn. 25, juris. 1130 BT-Drs. 17/3802, S. 31. 1131 So auch das BSG, Beschl. v. 27.06.2013 – B 10 ÜG 9/13 B, Rn. 25, juris. 1132 Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, Art. 23 ÜVerfBesG, Rn. 2; im Ergebnis auch Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 57. Da die Rechtsprechung mehrheitlich davon ausgeht, dass die Individualbeschwerde zulässig sein muss, kommt die Rechtsprechung hier zum gleichen Ergebnis: OLG Celle, Urt. v. 24.10.2012 – 23 SchH 10/12, Rn. 7, juris [Urteil bestätigt vom BGH, Urt. v. 11.07.2013 – III ZR 361/12, Rn. 14, juris]; LAG Chemnitz, Beschl. v. 07.06.2012 – 1 Oa 2/12, Rn. 7, juris; LSG Stuttgart, Urt. v. 20.02.2013 – L 2 SF 1495/12, Rn. 43, juris; LSG Darmstadt, Urt. v. 06.02.2013 – L 6 SF 6/12 EK U, Rn. 49, juris; BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL, Rn. 12, juris; LSG Stuttgart, Urt. v. 21.11.2012 – L 2 SF 436/12 EK, Rn. 66, juris. 1133 OLG Celle, Beschl. v. 09.05.2012 – 23 SchH 6/12, Rn. 7, juris. 1134 BGH, Beschl. v. 18.12.2013 – III ZR 1/13, juris; BGH, Urt. v. 13.03.2014 – III ZR 91/13, Rn. 20, juris; BVerfG, Beschl. v. 13.06.2013 – 1 BvR 1942/12, Rn. 8, juris. Diese Rechtsprechung missachtet das OVG Bautzen, Urt. v. 15.01.2013 – 11 F 1/12, Rn. 16, juris; wohl auch OLG Braunschweig, Urt. v. 08.02.2013 – 4 SchH 1/12, Rn. 116, juris.
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bb. Sonderbestimmungen des Art. 23 S. 5-6 ÜGRG Art. 23 S. 5-6 ÜGRG trifft für bereits abgeschlossene Verfahren von §§ 198 ff. GVG abweichende Sonderbestimmungen. So sind nach Art. 23 S. 5 ÜGRG die Regelungen bezüglich der Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 3 GVG) sowie der Fristen hinsichtlich der klageweisen Geltendmachung des Entschädigungsanspruches (§ 198 Abs. 5 GVG) auf abgeschlossene Verfahren nicht anwendbar. Unklar ist, warum im Anwendungsbereich des Art. 23 S. 5 ÜGRG der Entschädigungsanspruch entgegen § 198 Abs. 5 S. 3 GVG auch während des anhängigen Entschädigungsverfahrens übertragbar sein soll. Insoweit hat der Gesetzgeber offensichtlich versäumt, die Übergangsvorschrift dem § 198 Abs. 5 GVG anzupassen, der im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens um den Satz 3 ergänzt wurde. Da auch bei Altverfahren die dem § 198 Abs. 5 S. 3 GVG zugrunde liegenden Erwägungen Geltung beanspruchen, überzeugt es, Art. 23 S. 5 ÜGRG insofern teleologisch zu reduzieren und § 198 Abs. 5 S. 3 GVG anzuwenden. Art. 23 S. 6 ÜGRG, der nach seinem Wortlaut und seiner Systematik auf alle abgeschlossenen Verfahren Anwendung findet1135, normiert, dass eine Entschädigungsklage abweichend von § 198 Abs. 5 GVG sofort nach Inkrafttreten des Gesetzes erhoben werden konnte und spätestens bis zum 03. Juni 2012 erhoben werden musste. Da das Fristende auf einen Sonntag fiel, konnte die Entschädigungsklage in der Zivilgerichtsbarkeit bis spätestens zum 04. Juni 2012 eingereicht werden, § 193 BGB. Für die Beurteilung, ab wann eine Klage erhoben ist, ist auf die allgemeinen zivilprozessrechtlichen Regeln abzustellen.1136 Die Erhebung der Klage nach Ablauf dieser Frist führt zu ihrer Abweisung als unzulässig.1137 Art. 23 S. 6 ÜGRG wollte den Verfahrensbeteiligten von abgeschlossenen Verfahren hinsichtlich der Entscheidung, ob diese eine Entschädigungsklage erheben, eine einheitliche Überlegungsfrist einräumen.1138 Somit galt die Ausschlussfrist des 03. Juni 2012 auch für solche Verfahren, in denen die Frist zur Erhebung einer Individualbeschwerde gem. Art. 35 Abs. 1 EMRK bereits vor diesem Zeitpunkt abgelaufen war.1139 Hierfür spricht auch, dass sich die Länge
1135 Ausführlich zur Systematik des Art. 23 ÜGRG OLG Celle, Urt. v. 20.12.2012 – 23 SchH 15/12, Rn. 10, juris. 1136 OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2013 – 23 SchH 4/12 EntV, Rn. 65, juris. 1137 BGH, Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13, Rn. 18, juris. 1138 BT-Drs. 17/7217, S. 30 f.: Art. 23 S. 6 ÜGRG ist auf Vorschlag des Rechtsausschusses in den Gesetzestext aufgenommen worden, um den Verfahrensbeteiligten eine einheitliche Überlegungsfrist hinsichtlich der Erhebung einer Entschädigungsklage zu gewähren. 1139 Wie hier BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 12/13 R, Rn. 18, juris. In eine andere Richtung aber BVerfG, Beschl. v. 20.06.2012 – 2 BvR 1565/11, Rn. 16, juris.
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der Frist in Art. 23 S. 6 ÜGRG nicht an Art. 35 Abs. 1 EMRK, sondern an § 198 Abs. 5 S. 2 GVG orientiert1140. c. Bewertung Wie aufgezeigt, fügen sich Art. 23 S. 2-4 ÜGRG nicht in das Regelungskonzept der §§ 198 ff. GVG ein und folgen keinem konsistenten System. Problematisch ist hierbei insbesondere das Zusammenspiel zwischen der unverzüglichen Rügeobliegenheit, die von dem unbestimmten Rechtsbegriff der Verzögerung abhängig ist, und der Präklusionswirkung des Art. 23 S. 3 ÜGRG. Zu Recht wird daher kritisiert, dass die Übergangsvorschrift in Art. 23 S. 2 ÜGRG aus anwaltshaftungsrechtlicher Sicht „Sprengstoff“ in sich birgt.1141 Gemessen an völker- und verfassungsrechtlichen Maßstäben bestehen gegen die Regelungen jedoch keine Einwände. Da der Verfahrensbeteiligte mit der rein vorsorglichen, unverzüglichen Erhebung der Verzögerungsrüge nach Inkrafttreten des Gesetzes den vollständigen Entschädigungsanspruch sichern konnte, die verfrühte Erhebung einer Verzögerungsrüge aber keine gravierenden Nachteile mit sich bringt, ist das Regelungskonstrukt nicht geeignet, die Effektivität des Rechtsbehelfs in Frage zu stellen. Zudem wurde den Betroffenen von den obersten Gerichten eine ausreichend lange Prüfungsfrist von drei Monaten eingeräumt, um dem Unverzüglichkeitserfordernis des Art. 23 S. 2 ÜGRG nachkommen zu können. Zu untersuchen bleibt, ob das Ziel des Gesetzgebers, mit der Übergangsvorschrift weitere Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR wegen überlanger Gerichtsverfahren zu verhindern, zumindest im Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK erreicht wurde. Vor der Erhebung einer Individualbeschwerde muss der Beschwerdeführer alle wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelfe gem. Art. 35 Abs. 1 EMRK einlegen. Für die Beurteilung, ob der Beschwerdeführer die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft hat, ist grundsätzlich derjenige Zeitpunkt maßgeblich, zu dem die Individualbeschwerde eingelegt wurde. Hiervon statuiert der Gerichtshof bei Vorliegen besonderer Umstände jedoch Ausnahmen, sodass es erforderlich sein kann, dass der Beschwerdeführer auch solche wirksamen Rechtsbehelfe erschöpfen muss, die erst nach Eingang seiner Individualbeschwerde beim EGMR geschaffen wurden.1142 Ob derartige besondere Umstände vorliegen, beurteilt der Gerichtshof vornehmlich nach der Art des Rechtsbehelfs und dem Zusammenhang, in dem dieser geschaffen wurde.1143
1140
BT-Drs. 17/7217, S. 31. Zimmer, ZInsO 2011, 2302 (2302). 1142 EGMR NVwZ 2013, 47 (48, Rn. 36, 43). Kritisch Buschmann, Anm. z. EGMR, Ent. v. 29.05.2012 – Nr. 53126/07 (Taron./.Deutschland), ArbuR 2012, 365 (365). 1143 EGMR NVwZ 2013, 47 (48, Rn. 42). 1141
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Der EGMR hob in der Entscheidung Taron./.Deutschland hervor, dass die nationalen Gerichte den maßgeblichen Sachverhalt und die Höhe der Entschädigung besser beurteilen könnten und der deutsche Gesetzgeber deutlich gemacht habe, dass auch Altverfahren dem Anwendungsbereich der §§ 198 ff. GVG unterliegen würden.1144 Zudem sehe das Entschädigungsverfahren nach dem ÜGRG nur zwei gerichtliche Instanzen vor, sodass es auch nicht unangebracht sei, den Beschwerdeführer an die staatlichen Gerichte zu verweisen.1145 Aus diesem Grund wies der EGMR im Verfahren Taron./.Deutschland die Individualbeschwerde aufgrund der Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe gem. Art. 35 Abs. 1, Abs. 4 EMRK als unzulässig zurück. Der Beschwerdeführer hatte die Rechtsschutzinstrumente der §§ 198 ff. GVG nach Inkrafttreten des ÜGRG nicht eingelegt, obwohl ihm dies aufgrund der Übergangsvorschrift möglich war.1146 Demnach erfüllen die in Art. 23 ÜGRG geschaffenen Übergangsregelungen ihren Zweck, den EGMR von Individualbeschwerden wegen überlanger Verfahrensdauer zu entlasten und weiteren Verurteilungen Deutschlands vorzubeugen.1147 5. Das gerichtliche Entschädigungsverfahren Der nachfolgende Abschnitt beleuchtet das gerichtliche Entschädigungsverfahren und dessen Besonderheiten. Einleitend wird ein Blick auf die außergerichtliche Einigung zwischen den Parteien geworfen (a.). Sodann wird erörtert, mit welchen Klagearten der Entschädigungskläger die unterschiedlichen Begehren im Hinblick auf § 198 GVG verfolgen kann (b.). Die Darstellung der Zuständigkeitsregelungen (c.) geht der Diskussion um den Streitgegenstand der Entschädigungsklage (d.) voran. Anschließend werden das Fristenregime des § 198 Abs. 5 GVG (e.) sowie die verfahrensrechtlichen Grundsätze des Entschädigungsverfahrens (f.) näher analysiert. Der Darstellung der Darlegungsund Beweislast (g.) folgt ein Überblick über die unterschiedlichen Entscheidungsmöglichkeiten des Entschädigungsgerichtes (h.) und über die Kosten des Entschädigungsverfahrens (i.). Den Abschluss bildet die Bewertung der vorgestellten Vorschriften (j.). 1144
EGMR NVwZ 2013, 47 (48, Rn. 43). EGMR NVwZ 2013, 47 (48, Rn. 43). 1146 EGMR NVwZ 2013, 47 (49, Rn. 46 f.). Aus demselben Grund wurde eine Vielzahl weiterer Verfahren als unzulässig zurückgewiesen, siehe nur EGMR, Ent. v. 29.05.2012 – Nr. 19488/09 (Garcia Cancio./.Deutschland), § 41 ff., Hudoc; EGMR, Ent. v. 10.07.2012 – Nr. 23056/09 u.a. (Mianowicz u.a./.Deutschland), Rn. 15 ff., juris; EGMR, Ent. v. 10.07.2012 – Nr. 27366/07 u.a. (Schellmann u. JSP Programmentwicklung GmbH & Co. KG u.a./.Deutschland), juris; EGMR, Ent. v. 16.10.2012 – Nr. 49646/10 u. Nr. 3365/11 (Lessing u. Reichelt./.Deutschland), Rn. 39 ff., juris; EGMR, Ent. v. 22.01.2013 – Nr. 33071/10 (Kurth./.Deutschland), Rn. 22 ff., juris. 1147 Dies ebenfalls resümierend Reiter, NJW 2015, 2554 (2555). 1145
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
a. Außergerichtliche Einigung Eine Verpflichtung, den Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG außergerichtlich geltend zu machen, besteht nach dem ÜGRG nicht.1148 Hierbei handelt es sich lediglich um eine dem Betroffenen offenstehende Möglichkeit, wie die Gesetzesbegründung auch deutlich macht.1149 Einer Entschädigungsklage, die ohne vorherige außergerichtliche Geltendmachung erhoben wurde, fehlt danach nicht das Rechtsschutzbedürfnis.1150 Nach den im zivilgerichtlichen Verfahren geltenden allgemeinen kostenrechtlichen Grundsätzen sollte der Versuch einer außergerichtlichen Einigung aber unternommen werden, um nicht das Risiko der Kostenlast nach § 93 ZPO tragen zu müssen.1151 Der Anspruch ist gegenüber dem haftenden Rechtsträger als Anspruchsgegner geltend zu machen.1152 Ein Vergleich zwischen dem verantwortlichen Rechtsträger und dem Anspruchsinhaber ist nach den §§ 55 ff. VwVfG grundsätzlich möglich. Bei der konkreten Ausgestaltung des Vergleiches muss aber insbesondere bei einem noch laufenden Ausgangsverfahren der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit hinreichend Berücksichtigung finden.1153 Eine ablehnende Behördenentscheidung hinsichtlich des Entschädigungsbegehrens ist nicht vor den Verwaltungsgerichten anzufechten. Diesbezüglich enthält § 201 Abs. 1 S. 1 GVG eine abdrängende Sonderzuweisung.1154
1148 Siehe auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 237; Wenner, SozSich 2012, 32 (34); OVG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – OVG 3 A 1.12, Rn. 19, juris; Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 70. 1149 LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, Rn. 181 f., juris. 1150 LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, Rn. 181, juris; OVG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – OVG 3 A 1.12, Rn. 19, juris; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 237. 1151 Wenner, SozSich 2012, 32 (33 f.); Söhngen, NZS 2012, 493 (498); Ott, in: SteinbeißWinkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 238. 1152 Eine Aufzählung der jeweils zuständigen Stellen siehe bei Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 235. 1153 Siehe hierzu Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 239 ff.; Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 38; Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 70. 1154 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 236.
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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b. Klageart aa. Leistungsklage Die gerichtliche Geltendmachung des auf Geldzahlung gerichteten Entschädigungsanspruches nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG erfolgt im Wege einer Leistungsklage.1155 Inhalt der Klageschrift und die Anforderungen an einen hinreichend bestimmten Klageantrag richten sich nach § 253 Abs. 2 ZPO.1156 Begehrt der Kläger Ersatz für immaterielle Nachteile, ist eine genaue Bezifferung der begehrten Entschädigungssumme nicht erforderlich.1157 Denn trotz der Pauschalentschädigung steht es im Ermessen des Gerichtes, die Höhe der Entschädigung festzusetzen (vgl. § 198 Abs. 2 S. 4 GVG).1158 bb. Feststellungsklage Es sind zwei Fallkonstellationen denkbar, in denen eine Feststellungsklage bezogen auf die §§ 198 ff. GVG statthafte Klageart sein kann.1159 Unstreitig ist, dass der Verfahrensbeteiligte nach den allgemeinen Grundsätzen des § 256 ZPO (auch während des noch laufenden Ausgangsverfahrens) Klage auf Feststellung einer Entschädigungspflicht nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG erheben kann.1160 Fraglich ist aber, ob der Rechtsschutzsuchende die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer mit der Feststellungsklage gerichtlich durchsetzen kann, was mit der Problemstellung im Kontext steht, ob der Betroffene ein subjektives Recht auf den Feststellungsausspruch hat. Korrespondierend zu der Auffassung, dass der Betroffene keinen materiellrechtlichen Anspruch auf Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer hat, wird vertreten, dass eine solche Feststellungsklage mangels subjektiven 1155 Siehe auch Guckelberger, DÖV 2012, 289 (297); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 242; BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 37/13, Rn. 24, juris. 1156 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 244; Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1909). 1157 Siehe Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (6); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 244; Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1909); OVG Berlin, Urt. v. 12.09.2012 – OVG 3 A 2.12, Rn. 19, juris, weist in diesem Zusammenhang auch auf die Schwierigkeiten hin, die Entschädigungssumme monatsgenau zu berechnen. Siehe auch BVerwG, Urt. v. 26.02.2015 – 5 C 5/14 D, Rn. 15, juris. 1158 Vgl. Becker-Eberhard, in: MüKo-ZPO, § 253 ZPO, Rn. 119, 122; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (6); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 244. 1159 Siehe zu dieser Unterscheidung Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 262 f. 1160 BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 37/13, Rn. 32, juris; a.A. wohl Ott, in: SteinbeißWinkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 263, nach dem eine solche Feststellungsklage erst nach dem rechtskräftigen Abschluss des Ausgangsverfahrens möglich ist.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Rechts nicht möglich sei.1161 Als negatives Tatbestandsmerkmal des Geldentschädigungsanspruches könne die Frage nach der Wiedergutmachung auf andere Weise als einzelnes Element eines Rechtsverhältnisses nicht Gegenstand einer Feststellungsklage sein.1162 Offen gelassen wird dabei regelmäßig, ob eine solche Feststellungsklage bereits unstatthaft ist oder diese mangels subjektiven Rechts unbegründet ist.1163 Gegen eine Klage auf Feststellung einer überlangen Verfahrensdauer wird zudem eingewandt, dass diese bei einem noch anhängigen Ausgangsverfahren dem Rechtsschutz einer Untätigkeitsbeschwerde nahekomme. Sie gefährde somit die gesetzgeberische Intention, mit dem ÜGRG gerade keine Untätigkeitsbeschwerde einführen zu wollen.1164 Nach hier vertretener Meinung erwächst jedoch aus § 198 Abs. 1, Abs. 2 S. 2, Abs. 4 S. 1 GVG ein Anspruch auf Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer, sodass die hierauf gerichtete Feststellungsklage grundsätzlich statthaft ist. Ob dem Verfahrensbeteiligten ein solcher Anspruch zusteht, ist demgegenüber eine Frage der Begründetheit. Diesem Ansatz widerspricht auch nicht § 198 Abs. 4 S. 2 GVG, nach dem ein Feststellungsantrag als Ausnahme zur Dispositionsmaxime nicht erforderlich ist1165. Vielmehr fügt sich diese Regelung in das hier vertretene Normverständnis ein, weil für den Feststellungsausspruch als Minus zur Geldentschädigung gerade kein gesonderter Antrag gestellt werden muss. § 198 Abs. 4 S. 2 GVG hat somit deklaratorische Funktion.1166 Ebenso wiegt das Argument nicht schwer, dass die Klage auf Feststellung der Überlänge bei einem noch anhängigen Ausgangsverfahren dem Rechtsschutz einer Untätigkeitsbeschwerde nahekomme, denn eine solche Feststellungsklage ist regelmäßig aus Gründen der Subsidiarität gegenüber der Leistungsklage unzulässig (siehe hierzu sogleich).1167 Zudem war die Abkehr von der Untätigkeitsbeschwerde auch dem Umstand geschuldet, dass der Eintritt weiterer Verfahrensverzögerungen befürchtet wurde, weil das Ausgangsgericht selbst Adressat der Untätigkeitsbeschwerde sein sollte und diese während 1161 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 262; BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 37/13, Rn. 65, juris; Pondelik, SteuK 2014, 334 (335); Wittschier, in: Musielak/Voit, ZPO, § 198 GVG, Rn. 10; Reiter, NJW 2015, 2554 (2559); BGH, Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13, Rn. 35, juris, bezogen auf § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 1 GVG. 1162 BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 37/13, Rn. 67, juris. 1163 Zutreffend Schenke, NJW 2015, 433 (434). 1164 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 262; Reiter, NJW 2015, 2554 (2558). 1165 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 166; Schenke, NJW 2015, 433 (436). 1166 Schenke, NJW 2015, 433 (436). 1167 Schenke, NJW 2015, 433 (435 f.) verneint ein solches Subsidiaritätsverhältnis zwischen Feststellungs- und Leistungsklage und ist der Auffassung, dass dieses Problem die Begründetheit der Feststellungsklage betreffe.
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des laufenden Ausgangsverfahrens zusätzlich bearbeiten sollte. Im Gegensatz dazu ist das Ausgangsgericht nicht in das Entschädigungsverfahren nach den §§ 198 ff. GVG involviert. Daher ist die Statthaftigkeit einer Klage gerichtet auf die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer zu bejahen.1168 cc. Das Verhältnis zwischen Leistungs- und Feststellungsklage Begehrt der Verfahrensbeteiligte die Feststellung der Entschädigungspflicht (erste Fallkonstellation) wird dieser Feststellungsklage regelmäßig das Feststellungsinteresse fehlen, da dem Entschädigungskläger die Erhebung der Leistungsklage möglich und zumutbar ist1169. Fraglich ist, wie das Verhältnis zwischen Leistungs- und Feststellungsklage in der zweiten Fallkonstellation zu bewerten ist, wenn also der Verfahrensbeteiligte die Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer begehrt. Auf materiell-rechtlicher Ebene wurde bereits festgestellt, dass der Verfahrensbeteiligte, der einen Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld hat, auch die Feststellung als Minus zur Geldentschädigung begehren kann. Da die beiden Entschädigungsformen aber gerade nicht in einem Aliud-Verhältnis zueinander stehen, ist auch hier das Subsidiaritätsverhältnis zwischen Leistungs- und Feststellungsklage zu beachten. Besteht also ein Geldentschädigungsanspruch, ist es dem Verfahrensbeteiligten möglich und zumutbar, statt einer Feststellungsklage eine Leistungsklage auf Zahlung zu erheben, sodass kein gesondertes Interesse auf Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer vorliegt und der Anspruch regelmäßig nicht durchgesetzt werden kann.1170 Da diese Feststellung auch keine Bindungswirkung in einem etwaigen Amtshaftungsprozess entfaltet1171, lässt sich hierüber ebenfalls kein Feststellungsinteresse begründen. Eine Feststellungsklage ist daher mangels eines Feststellungsinteresses als unzulässig abzuweisen. Eine Klage auf Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer ist somit nur zulässig, wenn ein besonderes Interesse an einem Feststellungsausspruch besteht.1172 Dies ist der Fall, wenn der Verfahrensbeteiligte neben einer Geldentschädigung auch die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer begehrt. Dass ein Antrag gem. § 198 Abs. 4 S. 2 GVG nicht erforderlich
1168 OVG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – OVG 3 A 1.12, Rn. 56 f., juris. In diese Richtung auch Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (6); Schenke, NVwZ 2012, 257 (264 f.); Schenke, NJW 2015, 433 (433 ff.); Wehrhahn, SGb 2013, 61 (67); Stahnecker, Entschädigung, Rn. 175. 1169 BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 37/13, Rn. 54, juris. 1170 A.A. Schenke, NJW 2015, 433 (437 ff.). 1171 Siehe hierzu S. 294 f. A.A. Schenke, NJW 2015, 433 (437), der von einer präjudiziellen Wirkung des Feststellungsausspruches im Tenor ausgeht. 1172 A.A. Schenke, NJW 2015, 433 (436 f.).
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
ist und das Entschädigungsgericht von Amts wegen zu prüfen hat, ob eine Wiedergutmachung auf andere Weise neben der Geldentschädigung geboten ist, lässt das Rechtsschutzbedürfnis der Feststellungsklage nicht entfallen.1173 Vielmehr bekundet der Verfahrensbeteiligte mit einem derartigen Antrag sein Interesse an einer über die Geldentschädigung hinausgehenden Wiedergutmachung für den Verfassungs- und Konventionsverstoß. Diese Tatsache kann für die Ermessensausübung des Gerichtes im Rahmen von § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 1 GVG eine Rolle spielen.1174 Für eine zulässige Feststellungsklage muss der Entschädigungskläger dementsprechend geltend machen, dass er auf Grund der Schwere des Falles neben einer etwaigen Geldentschädigung einen Feststellungsausspruch begehrt.1175 Ein Feststellungsinteresse liegt außerdem vor, wenn der Verfahrensbeteiligte geltend macht, dass er auf eine Geldentschädigung als Kompensationsform wegen fehlender bzw. nicht wirksam erhobener Verzögerungsrüge keinen Anspruch hat, § 198 Abs. 3 S. 1, Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG. Entsprechendes gilt, wenn der Kläger vorträgt, dass nach den Umständen des Einzelfalles eine Wiedergutmachung auf andere Weise als Kompensationsform ausreichend erscheint. Vor allem in diesen beiden Fällen kann der Entschädigungskläger nicht darauf verwiesen werden, Leistungsklage auf Zahlung zu erheben, bei der er deren (teilweise) Abweisung und die damit verbundene ungewisse Kostentragungspflicht riskiert.1176 Ob und inwieweit dem Verfahrensbeteiligten der Feststellungsausspruch als Wiedergutmachung auf andere Weise zu gewähren ist, ist jeweils eine Frage der Begründetheit. Zu diskutieren bleibt, welche Auswirkungen der Feststellungsausspruch im Tenor auf das Bestehen eines Geldentschädigungsanspruches hat, wenn man annimmt, dass im konkreten Einzelfall die Wiedergutmachung auf andere Weise nicht ausreichend ist. Mangels eines entsprechenden Antrages kann das Entschädigungsgericht dem Verfahrensbeteiligten in diesem Fall keine Geldentschädigung zusprechen. Die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer als Minus zur Geldentschädigung dürfte konsequenterweise nicht zum vollständigen Erlöschen des Anspruches führen. Hierfür spricht auch, dass nach dem Wortlaut des § 198 Abs. 2 S. 2 GVG („soweit“) die Geldentschädigung und die Wiedergutmachung auf andere Weise in keinem strikten Alternativverhältnis stehen. Allerdings sieht § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 1 GVG vor, dass nur bei Vorliegen eines schwerwiegenden Falles der Feststellungsausspruch 1173
A.A. OLG Braunschweig, Urt. v. 11.04.2014 – 6 SchH 1/13, Rn. 31, juris, für den Fall, dass der Feststellungsausspruch neben oder anstelle der Entschädigung tritt. 1174 BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 69, juris; Schenke, NJW 2015, 433 (437 f.). 1175 Weitergehend Schenke, NJW 2015, 433 (438), der eine Feststellungsklage auch dann für zulässig hält, wenn kein besonders schwerwiegender Fall i.S.v. § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 1 GVG vorliegt. 1176 Schenke, NJW 2015, 433 (436).
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neben eine Geldentschädigung treten kann. Diese Wertung würde vollständig umgangen werden, wenn der Geldentschädigungsanspruch bei festgestellter unangemessener Verfahrensdauer (teilweise) bestehen bleiben würde.1177 Der Verfahrensbeteiligte muss also zwischen dem Risiko abwägen, ob er eine Klage auf Zahlung einer Entschädigungssumme erhebt, die möglicherweise zurückgewiesen wird, weil die Wiedergutmachung auf andere Weise vom Entschädigungsgericht für ausreichend gehalten wird, oder ob er gleich zu Beginn eine Feststellungsklage erhebt, die außer im Falle von § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 1 GVG dazu führt, dass er einen möglichen Anspruch auf Geldentschädigung verliert, sobald das Gericht die unangemessene Verfahrensdauer festgestellt hat. dd. Teilklage Unter dem Gesichtspunkt der Teilklage werden im Zusammenhang mit § 198 GVG zwei prozessuale Situationen diskutiert: Der Verfahrensbeteiligte erhebt eine Entschädigungsklage 1. vor Abschluss des Ausgangsverfahrens und 2. nach Abschluss des Ausgangsverfahrens, wobei er eine Entschädigung/Feststellung für eingetretene Verzögerungen in nur einem bestimmten Verfahrensabschnitt begehrt. Die Zulässigkeit von Teilklagen wird im Allgemeinen mit dem Dispositionsgrundsatz begründet.1178 Sie ist möglich, wenn ein einheitlicher materiell-rechtlicher Anspruch teilbar, also hinreichend quantitativ abgrenzbar ist.1179 (1) Entschädigungsklage vor Abschluss des Ausgangsverfahrens (a) Leistungsklage Gemäß § 198 Abs. 5 S. 1 GVG kann der Verfahrensbeteiligte eine Entschädigungsklage auch während des noch laufenden Ausgangsverfahrens erheben. Da in diesem Fall die Länge der unangemessenen Verfahrensdauer insgesamt noch nicht feststeht, ist im Zeitpunkt der Klageerhebung nicht ersichtlich, in welcher Gesamthöhe ein Entschädigungsanspruch besteht. In materiell-recht-
1177 A.A. Schenke, NJW 2015, 433 (438); LSG Neustrelitz, Urt. v. 13.02.2013 – L 12 SF 3/12 EK AL, Rn. 66, juris [aufgehoben durch BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R, juris]. 1178 Fenge, in: FS Pieper 1998, S. 31 (36); Friedrich, Probleme der Teilklage, S. 1 mit weit. Nachw. 1179 Siehe nur Lindacher, ZZP 76 (1963), 451 (452); Friedrich, Probleme der Teilklage, S. 2; OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 37, juris.
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licher Hinsicht macht der Kläger in diesem Fall also nur einen Teil des Entschädigungsanspruches geltend. Somit wird die Entschädigungsklage vor Abschluss des Ausgangsverfahrens zutreffend als Teilklage qualifiziert.1180 Grundsätzlich bestehen bei Teilklagen keine besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen. In diesem Zusammenhang ist jedoch die Besonderheit zu beachten, dass der Entschädigungskläger keine Kenntnis von der zukünftigen Entwicklung des Ausgangsverfahrens hat, welche maßgeblich für die Bestimmung der Anspruchshöhe ist. Insofern kann diese Fallgestaltung prozessual mit folgender Situation verglichen werden: Ein Kläger macht lediglich einen Teilbetrag einer Schmerzensgeldforderung gerichtlich geltend, weil der Eintritt von weiteren Verletzungsfolgen, die für die Bemessung des einheitlich zu gewährenden Schmerzensgeldes zu berücksichtigen sind, zum Zeitpunkt der Klageerhebung noch nicht absehbar sind.1181 Nach der Rechtsprechung erfordert die Zulässigkeit von diesen Teilklagen, bei denen der Gesamtumfang des Anspruches zum Zeitpunkt der Klageerhebung noch ungewiss ist, dass nicht nur der geltend gemachte Anspruch quantitativ abgrenzbar ist, sondern dieser auch eindeutig individualisierbar ist und die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen nicht besteht.1182 Wird eine Entschädigungsklage während des noch laufenden Ausgangsverfahrens erhoben, ist die hinreichende Individualisierbarkeit des Anspruches durch den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Entschädigungsverfahren gewährleistet, der den Prüfungszeitraum bezüglich des Entschädigungsanspruches begrenzt.1183 Das OLG Hamburg ist der Auffassung, dass bei Teilklagen hinsichtlich eines angemessenen Ausgleichs von immateriellen Nachteilen nur in Extremfällen über den Anspruch dem Grunde nach entschieden werden könne.1184 Denn in diesem Zusammenhang bedürfe es nicht nur einer prognostischen Beurteilung, ob unangemessene Verzögerungen bereits vor Abschluss des Ausgangsverfahrens vorliegen. Es müsse auch darüber befunden werden, ob eine Wiedergutmachung auf andere Weise ausnahmsweise als Kompensationsform ausreiche 1180 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 252; OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 36, juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 10.07.2013 – 4 EntV 3/13, Rn. 24, juris; BGH, Urt. v. 10.04.2014 – III ZR 335/13, Rn. 21, juris; vgl. allgemein zur Teilklage Fenge, in: FS Pieper 1998, S. 31 (31 ff.); Friedrich, Probleme der Teilklage. 1181 Vgl. BGH NJW 2004, 1243 (1243 ff.). 1182 OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 37, juris; vgl. BGH NJW 2004, 1243 (1244). 1183 OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 37, juris; vgl. BGH NJW 1992, 1769 (1770); zur Unterscheidung zwischen individualisierter und nicht-individualisierter Teilklage siehe grundlegend Zitelmann, ZZP 8 (1885), 254 (254 ff.); Lindacher, ZZP 76 (1963), 451 (451 ff.). 1184 OLG Hamburg, Urt. v. 10.01.2013 – 14 OGV 1/12, BeckRS 2014, 03217.
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bzw. die Entschädigungssumme unter Berücksichtigung von Billigkeitsaspekten herauf- oder herabzusetzen sei – Parameter, die sinnvoll erst nach Abschluss des Verfahrens beurteilt werden könnten1185. Diese Auffassung spiegelt sich aber weder im Gesetzestext noch in den Gesetzesmaterialien wider und ist daher abzulehnen.1186 Zudem ist nach hiesiger Auffassung die Wiedergutmachung auf andere Weise kein negatives Tatbestandsmerkmal, sondern der Rechtsfolgenebene zuzuordnen, sodass sich nicht die Frage stellt, ob ein Anspruch auf Entschädigung überhaupt besteht, sondern welche Kompensationsform im Einzelfall angemessen ist.1187 Darüber hinaus sind im Rahmen von § 198 Abs. 2 S. 2, S. 4 GVG die Maßstäbe des Einzelfalles maßgeblich, sodass Berücksichtigung finden kann, dass das Ausgangsverfahren noch nicht abgeschlossen ist. (b) Feststellungsklage Auch bei der Feststellungsklage ist grundsätzlich eine Teilklage denkbar.1188 Fraglich ist aber, ob der materiell-rechtliche Feststellungsausspruch teilbar ist. Zweifel könnten insofern aufkommen, weil die Feststellung der Unangemessenheit nach dem Gesetzeswortlaut allgemein für die „Verfahrensdauer“ ausgesprochen wird, § 198 Abs. 4 S. 1 GVG. Die Teilbarkeit auf materieller Ebene ergibt sich hier aber aus der Klagemöglichkeit gem. § 198 Abs. 5 S. 1 GVG: Als Minus zur Geldentschädigung muss auch die Feststellung während des noch laufenden Ausgangsverfahrens möglich sein. Auf prozessualer Ebene kann der Feststellungsausspruch durch die letzte mündliche Verhandlung in zeitlicher Hinsicht konkretisiert und individualisiert werden.1189 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang aber der bereits angesprochene Vorrang der Leistungs- gegenüber der Feststellungsklage. (2) Begrenzung des Klagebegehrens auf einzelne Verfahrensabschnitte Umstritten ist dagegen die prozessuale Einordnung einer Klage, mit der eine Entschädigung bzw. ein Feststellungsausspruch nur hinsichtlich eines Teils eines Verfahrensabschnittes begehrt wird, obwohl in den Haftungsbereich des Anspruchsgegners ein weiterer Verfahrensabschnitt fällt. Diese Fallgestaltung 1185
OLG Hamburg, Urt. v. 10.01.2013 – 14 OGV 1/12, BeckRS 2014, 03217. BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 37/13, Rn. 33 f., juris. 1187 Entgegen der Ansicht des OLG Hamburg ist somit die Entscheidung des BGH NJW 2004, 1243 (1243 ff.) durchaus mit dem vorliegenden Fall vergleichbar. 1188 Fenge, in: FS Pieper 1998, S. 31 (33). Unverständlich ist, warum das OLG Frankfurt anscheinend eine Teilklage nur dann annimmt, wenn die Klage auf Zahlung einer Entschädigungssumme gerichtet ist und nicht auf Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer, OLG Frankfurt, Urt. v. 10.07.2013 – 4 EntV 3/13, Rn. 24, juris; Bub, DRiZ 2014, 94 (97). 1189 Vgl. Fenge, in: FS Pieper 1998, S. 31 (33). 1186
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
wird nachfolgend anhand eines Entschädigungsverfahrens aus der Rechtsprechungspraxis veranschaulicht. Über dieses hatten das OVG Berlin und das BVerwG zu entscheiden.1190 Der maßgebliche Sachverhalt wurde bereits an anderer Stelle wiedergegeben, sodass hier allein an die in diesem Zusammenhang relevanten Punkte erinnert wird1191: Der Entschädigungskläger erhob im Ausgangsverfahren Klage vor dem Verwaltungsgericht, welches die Klage nach fast 7-jähriger Verfahrensdauer als unzulässig und unbegründet abwies. Auf die Berufung des Klägers hin wurde das erstinstanzliche Urteil durch das Oberverwaltungsgericht nach knapp 2-jähriger Verfahrensdauer geändert und zugunsten des Klägers entschieden. Der Entschädigungskläger begehrte eine angemessene Entschädigungszahlung sowie die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer bezogen auf das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, obgleich das Ausgangsverfahren auch vor dem Oberverwaltungsgericht geführt wurde.
Wenn auch nicht ausdrücklich so bezeichnet, nimmt das BVerwG in seiner Entscheidung eine Teilklage an und prüft dessen prozessuale Zulässigkeit unter dem Gesichtspunkt der Teilbarkeit des „Gesamtstreitstoffes“ sowie des Entgegenstehens einer gesonderten Entscheidung aus materiell-rechtlichen Gründen.1192 Der Ausgangspunkt der rechtlichen Erwägungen des BVerwG ist, dass auf materieller Ebene die Verfahrensdauer in ihrer Gesamtheit selbst dann Bezugspunkt der Angemessenheit sei, wenn der Entschädigungskläger Kompensation nur für solche Nachteile begehre, die in einem bestimmten Verfahrensabschnitt eingetreten seien. Hieraus schlussfolgert das BVerwG für die prozessuale Ebene, dass der Entschädigungskläger in einem solchen Fall nur einen Teil des Entschädigungsanspruches geltend mache („begrenzter Klageantrag“).1193 Zwar ist diese Fallkonstellation mit der des § 198 Abs. 5 S. 1 GVG auf den ersten Blick vergleichbar, weil der Entschädigungsanspruch jeweils nur hinsichtlich eines bestimmten Verfahrensabschnittes geltend gemacht wird. Dennoch können die im Rahmen von § 198 Abs. 5 S. 1 GVG gefundenen Ergebnisse hier nicht übertragen werden. Die Bejahung der Teilklage im Anwendungsbereich von § 198 Abs. 5 S. 1 GVG knüpft nicht daran an, dass der Entschädigungsanspruch hinsichtlich eines bestimmten Verfahrensabschnittes geltend gemacht wird, sondern daran, dass wegen des laufenden Ausgangsverfahrens die Länge der unangemessenen Verfahrensdauer insgesamt noch nicht feststeht und somit die Gesamthöhe des Entschädigungsanspruches unbekannt 1190 OVG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – OVG 3 A 1.12, juris und BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, juris. 1191 Siehe S. 141 f. 1192 BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, Rn. 60 f., juris; ebenso BVerwG, Urt. v. 27.02.2014 – 5 C 1/13 D, Rn. 11 ff., juris. Zu Recht kritisch Michl, Anm. z. BVerwG, Urt. v. 27.02.2014 – 5 C 1/13 D u. Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, DVBl 2014, 999 (1000). 1193 BVerwG, Urt. v. 27.02.2014 – 5 C 1/13 D, Rn. 12, juris.
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ist. Für die Beurteilung, ob eine Teilklage vorliegt, ist somit allein entscheidend, ob der Entschädigungskläger nur einen Teil der ihm zustehenden Rechtsfolge nach dem materiellen Recht geltend macht.1194 Zu Recht weist Michl insofern darauf hin, dass das BVerwG unter Missachtung des klassischen Streitgegenstandsbegriffs nicht präzise zwischen materieller und prozessualer Ebene unterscheidet.1195 Die Frage, ob der Verfahrensbeteiligte eine angemessene Entschädigungszahlung bzw. die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer bezogen auf einen bestimmten Verfahrensabschnitt begehren kann, ist somit eine solche der Begründetheit und nicht der Zulässigkeit. Beschränkt sich der Verfahrensbeteiligte also bei seinem Sachvortrag lediglich darauf, die „Unangemessenheit eines Verfahrensabschnittes“ darzulegen, ist seine Entschädigungsklage gegebenenfalls als unbegründet abzuweisen, weil – wie das BVerwG zutreffend erkennt – nach § 198 GVG die gesamte Verfahrensdauer Bezugspunkt der Unangemessenheit ist. Anders als vom BVerwG angenommen, handelt es sich bei dieser Fallgestaltung also nicht um eine Teilklage. c. Zuständigkeit § 201 Abs. 1 GVG regelt die Zuständigkeit für die Entschädigungsklagen, die der jeweiligen Fachgerichtsbarkeit obliegt. Der Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums hatte ursprünglich die Konzentration der Zuständigkeit bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorgesehen. Im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens wurde hiervon zugunsten einer „Gerichtszweiglösung“ Abstand genommen und die Zuständigkeit für die Entschädigungsklagen den Ober- und Bundesgerichten der jeweiligen Fachgerichtsbarkeit zugewiesen.1196 Die sachliche Zuständigkeitsaufteilung korreliert mit der in § 200 GVG getroffenen Haftungsaufteilung.1197 In der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind für die Entschädigungsklagen, die gegen ein Land gerichtet sind, gem. § 201 Abs. 1 S. 1 GVG erstinstanzlich die Oberlandesgerichte zuständig. Örtlich zuständig ist das Oberlandesgericht, in dessen Gerichtsbezirk das streitgegenständliche Ausgangsverfahren geführt wurde (§ 201 Abs. 1 S. 1 GVG). Somit ist die Zuständigkeit dezentral geregelt und nicht, wie ursprünglich normiert, am Sitz der Regierung des beklagten Landes konzentriert.1198 Für die klageweise Geltendmachung eines Entschädigungsanspruches gegen den Bund ist 1194
Michl, Anm. z. BVerwG, Urt. v. 27.02.2014 – 5 C 1/13 D u. Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, DVBl 2014, 999 (1000). 1195 Instruktiv Michl, Anm. z. BVerwG, Urt. v. 27.02.2014 – 5 C 1/13 D u. Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D, DVBl 2014, 999 (1000 f.). 1196 Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205 (208). 1197 BT-Drs. 17/3802, S. 25. 1198 So noch § 201 Abs. 1 GVG a.F. Die örtliche Zuständigkeit wurde bereits mit dem Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
erstinstanzlich der BGH zuständig, § 201 Abs. 1 S. 2 GVG. Für die übrigen Gerichtsbarkeiten ist auf Vorschlag des Bundesrates aus Klarstellungsgründen in den Verweisungsnormen ausdrücklich normiert worden, dass die jeweiligen Fachgerichte für die Entschädigungsklagen sachlich zuständig sind.1199 Somit sind trotz des öffentlich-rechtlichen Charakters des Entschädigungsanspruches Verwaltungsgerichte außerhalb des Anwendungsbereiches von § 173 S. 2 VwGO nicht für Entschädigungsklagen zuständig. Sowohl die sachliche als auch die örtliche Zuständigkeit der Gerichte sind ausschließliche Gerichtsstände, § 201 Abs. 1 S. 3 GVG. Eine Prorogation gem. § 40 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO scheidet damit ebenso wie eine Zuständigkeitsbegründung kraft rügeloser Einlassung aus, § 40 Abs. 2 S. 2 ZPO. Eine Entscheidung durch den Einzelrichter ist wegen der besonderen Schwierigkeit, die der Gesetzgeber den Entschädigungsverfahren beimisst, gem. § 201 Abs. 2 S. 2 GVG ausgeschlossen, sodass eine Senatsentscheidung ergeht (§ 122 Abs. 1 GVG). Dadurch soll eine qualitätssichernde Wirkung gewährleistet werden.1200 d. Streitgegenstand Obwohl die Dauer des gesamten Gerichtsverfahrens Bezugspunkt für die Beurteilung der Angemessenheit ist, haften der Bund und die Länder nach § 200 GVG jeweils getrennt für Verzögerungen, die vor ihren Gerichten eingetreten sind. Bezogen auf den jeweiligen Anspruchsgegner liegt somit ein eigenständiger materiell-rechtlicher Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 S. 1 GVG vor. Hierzu korrespondierend regelt § 201 Abs. 1 GVG die ausschließliche Zuständigkeit von Oberlandesgerichten und Bundesgerichtshof für Entschädigungsklagen. In der Konsequenz liegen bezüglich dieser Entschädigungsansprüche unterschiedliche Streitgegenstände vor.
und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften sowie des Bundesdisziplinargesetzes vom 06.12.2011 wieder geändert, BGBl. 2011 I, S. 2254. Siehe Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 201 GVG, Rn. 3 zur Zuständigkeit bei länderübergreifenden Rechtsstreitigkeiten. 1199 BT-Drs. 17/3802, S. 38 f. Siehe § 173 S. 2 VwGO, § 9 Abs. 2 ArbGG, § 155 S. 2 FGO, § 202 S. 2 SGG. 1200 Siehe BT-Drs. 17/3802, S. 25. Kritisch zu dieser Begründung Geipel, ZAP Fach 13, 2012, 1767 (1774); Lückemann, Wortprotokoll 17/43 des Rechtsausschusses, Öffentliche Anhörung zum Reg-E BT-Drs. 17/3802, http://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/ Downloads/DE/Bibliothek/Gesetzesmaterialien/17_wp/Rechtsschutz_ueberlang/wortproto. pdf?__blob=publicationFile, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 23.
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Ebenso liegen nach zutreffender Meinung der Rechtsprechung1201 und der Literatur1202 unterschiedliche Streitgegenstände zwischen dem Entschädigungsanspruch aus § 198 GVG und dem Amtshaftungsanspruch aus § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG vor. Dieser Umstand folgt bereits aus dem Ausschließlichkeitscharakter beider Zuständigkeitsnormen, § 201 Abs. 1 GVG einerseits und § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG andererseits.1203 In diesen Fällen kann eine einheitliche Zuständigkeit kraft Sachzusammenhang gem. § 17 Abs. 2 S. 1 GVG nicht begründet werden und eine gemeinsame Verhandlung nicht stattfinden. Im Ergebnis wird dadurch die Angemessenheit der Verfahrensdauer eines Gerichtsverfahrens von zwei unterschiedlichen Gerichten beurteilt. e. Fristen zur klageweisen Geltendmachung des Entschädigungsanspruches aa. Wartefrist – frühester Zeitpunkt der Erhebung der Klage Der Entschädigungsanspruch darf frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge gerichtlich geltend gemacht werden, § 198 Abs. 5 S. 1 GVG. Die sechsmonatige Wartefrist soll dem Ausgangsgericht hinreichend Zeit einräumen, auf die (berechtigte) Verzögerungsrüge mit Beschleunigungsmaßnahmen reagieren zu können.1204 Die Einhaltung der Wartefrist des § 198 Abs. 5 S. 1 GVG ist eine Zulässigkeitsvoraussetzung der Entschädigungsklage, deren Fristlauf sich nach den §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB bestimmt. Für den Fristbeginn ist die Erhebung der Verzögerungsrüge beim Ausgangsgericht maßgeblich.1205 Davon zu trennen ist die Frage, ob die Verzögerungsrüge als fristauslösendes Ereignis wirksam erhoben wurde, was im Rahmen der Begründetheit zu prüfen ist.1206 Da der Wortlaut des § 198 Abs. 5 S. 1 GVG nicht an die Einreichung der Klage, sondern auf deren Erhebung abstellt, ist für den Fristablauf die Rechtshängigkeit der Klage maßgeblich.1207
1201
OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2013 – 23 SchH 4/12 EntV, Rn. 70, juris; OLG Celle, Beschl. v. 09.05.2012 – 23 SchH 6/12, Rn. 8, juris; BGH, Beschl. v. 28.03.2012 – III ZR 177/11, Rn. 2, juris; BGH, Beschl. v. 27.02.2014 – III ZR 253/13, Rn. 4, juris. 1202 Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (6); Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1906); Zimmermann, FPR 2012, 556 (558); Schlick, NJW 2013, 3142 (3145); Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 201 GVG, Rn. 2; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 201 GVG, Rn. 7 ff. 1203 BGH, Beschl. v. 27.02.2014 – III ZR 253/13, Rn. 4, juris. 1204 BT-Drs. 17/3802, S. 22. 1205 BT-Drs. 17/3802, S. 22. 1206 Ebenso differenzierend Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 247. 1207 BGH, Urt. v. 17.07.2014 – III ZR 228/13, Rn. 16, 20, juris; Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 154.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Eine Verkürzung der Wartefrist in Anlehnung an § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 2 GVG ist mit dem Gesetzeszweck nicht zu vereinbaren.1208 Daher ist eine zu früh erhobene Entschädigungsklage als unzulässig abzuweisen. Sie wird auch nicht durch den inzwischen eingetretenen Ablauf der Wartefrist zulässig.1209 Etwas anderes gilt jedoch, wenn das Gerichtsverfahren innerhalb von sechs Monaten nach Erhebung der Verzögerungsrüge beendet wird. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift ist in diesem Fall die Einhaltung der sechsmonatigen Wartefrist für die Klageerhebung nicht erforderlich.1210 Auf das Bestehen des Entschädigungsanspruches hat die Beendigung des Verfahrens vor Ablauf der 6-Monatsfrist aber keinen Einfluss.1211 Hält man auf materieller Ebene die Erhebung der Verzögerungsrüge für die Entstehung des Geldentschädigungsanspruches nicht für notwendig, wenn die Verzögerungsrüge auch bei ihrer alsbaldigen Erhebung den Eintritt von Nachteilen nicht mehr hätte verhindern können1212, wäre es reiner Formalismus an der Regelung des § 198 Abs. 5 S. 1 GVG festzuhalten. Die oben beschriebene ratio legis der Wartefrist greift hier nicht, sodass insofern ein Gleichlauf
1208
Für eine analoge Anwendung des § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 1 GVG fehlt es bereits an einer planwidrigen Regelungslücke. Siehe auch BFH, Beschl. v. 12.03.2013 – X S 12/13, Rn. 26 f., juris. 1209 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 247; Reiter, AD LEGENDUM 2015, 151 (157); Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 46; Heine, MDR 2012, 327 (327); Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 152; Wittschier, in: Musielak/Voit, ZPO, § 198 GVG, Rn. 10; BFH, Beschl. v. 12.03.2013 – X S 12/13, Rn. 23, juris; BGH, Urt. v. 21.05.2014 – III ZR 355/13, Rn. 17, juris; BGH, Urt. v. 17.07.2014 – III ZR 228/13, Rn. 17, juris; im Grundsatz auch BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/14 R, Rn. 19 f., juris, welches dem Kläger aus Gründen des Vertrauensschutzes aber richterrechtlich eine Übergangsfrist bis zum 31.12.2014 einräumt, innerhalb derer die Nichteinhaltung der Wartefrist dem Kläger nicht entgegengehalten werden kann. Zu Recht kritisch Stotz, jurisPR-SozR 10/2015, Anm. 1. A.A. Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1909) und Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 72: Klage ist zulässig, wenn die Wartefrist zu Beginn der mdl. Verhandlung abgelaufen ist, also die Klage geringfügig zu früh eingereicht wird (vgl. § 231 Abs. 2 ZPO); Loytved, SGb 2014, 293 (295 f.). 1210 So auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 246; Ohrloff, Rechtsschutz, S. 101 f.; Schenke, NVwZ 2012, 257 (263): teleologische Reduktion; BGH, Urt. v. 21.05.2014 – III ZR 355/13, Rn. 17, juris; BGH, Urt. v. 17.07.2014 – III ZR 228/13, Rn. 18, juris; BVerwG, Urt. v. 26.02.2015 – 5 C 5/14 D, Rn. 18 ff., juris; zu weitgehend Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 150, nach dem die Wartefrist auch dann nicht einzuhalten ist, wenn das Ausgangsverfahren in einer Instanz abgeschlossen ist, auf die der Entschädigungsanspruch gestützt wird. 1211 A.A. OLG Celle, Beschl. v. 17.12.2013 – 23 SchH 6/13, Rn. 5, juris. Wie hier Gehm, StBW 2013, 847 (849). 1212 Siehe hierzu S. 109 ff.
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zwischen materieller und prozessualer Ebene angezeigt und § 198 Abs. 5 S. 1 GVG teleologisch zu reduzieren ist.1213 Doch wie ist damit umzugehen, wenn eine Verzögerungsrüge gar nicht erhoben wurde? Mangels eines fristauslösenden Ereignisses müsste die Entschädigungsklage als unzulässig abgewiesen werden. Allerdings kann nach § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG das Entschädigungsgericht die Unangemessenheit der Verfahrensdauer feststellen, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des § 198 Abs. 3 GVG nicht erfüllt sind – also auch dann, wenn eine Verzögerungsrüge nicht erhoben wurde1214. Bei der Auflösung dieses Normenwiderspruches sind die unterschiedlichen Zielrichtungen der Vorschriften in den Blick zu nehmen. § 198 Abs. 5 S. 1 GVG trägt dem Vorrang des Präventivrechtsschutzes Rechnung, indem die Wartefrist an die Erhebung der Verzögerungsrüge anknüpft. Die Möglichkeit der Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer nach § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG soll dagegen in den Fällen Genugtuung verschaffen, in denen eine vollständige Klageabweisung unbillig erscheint.1215 Dementsprechend bezweckt die Norm nicht die Umgehung des Vorrangs des Präventivrechtsschutzes. Ist die Erhebung der Verzögerungsrüge dem Verfahrensbeteiligten also noch möglich, bedarf es des Schutzes durch § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG gar nicht. Somit ist die Klage mangels der Ingangsetzung des Fristlaufes als unzulässig abzuweisen. Ist das Ausgangsverfahren aber abgeschlossen und die Erhebung der Verzögerungsrüge gar nicht mehr möglich, spricht die in § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG zum Ausdruck kommende Wertung dafür, § 198 Abs. 5 S. 1 GVG teleologisch zu reduzieren und die Entschädigungsklage nicht bereits an der Zulässigkeit scheitern zu lassen.1216 Inwiefern die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer in einem solchen Fall gerechtfertigt ist, ist dann eine Frage der Begründetheit. bb. Klagefrist – spätester Zeitpunkt der Erhebung der Klage Nach § 198 Abs. 5 S. 2 GVG ist die Entschädigungsklage spätestens sechs Monate nach dem rechtskräftigen Abschluss des Ausgangsverfahrens zu erheben. Einer rechtskräftigen Entscheidung steht die anderweitige Erledigung 1213 Im Ergebnis auch Heine, MDR 2013, 1081 (1082); unklar Schenke, NVwZ 2012, 257 (263), der zwar auf materieller Ebene die Erhebung der Verzögerungsrüge für nicht erforderlich hält, auf prozessualer Ebene eine teleologische Reduktion des § 198 Abs. 5 S. 1 GVG aber nur in zeitlicher Hinsicht dergestalt befürwortet, dass die Wartefrist nicht eingehalten werden muss, wenn das Ausgangsverfahren vor Ablauf der Wartefrist abgeschlossen wurde. 1214 Siehe hierzu S. 109 ff. 1215 BT-Drs. 17/3802, S. 22. 1216 A.A. Wehrhahn, SGb 2013, 61 (66): Die Wartefrist von § 198 Abs. 5 S. 1 GVG ist nicht auf die isolierte Feststellungsklage anwendbar, weil nach dem Wortlaut allein der Anspruch nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG erfasst ist.
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(Klagerücknahme, Erledigterklärung, Vergleich etc.) des Verfahrens gleich.1217 Die Frist des § 198 Abs. 5 S. 2 GVG ist eine absolute Ausschlussfrist1218, nach deren Ablauf der Anspruch materiell verwirkt ist und erlischt1219. Die Entschädigungsklage ist in diesem Fall als unbegründet abzuweisen.1220 Für den Lauf der Frist ist die Kenntnisnahme des Verfahrensbeteiligten nicht erforderlich1221, sodass eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand ausgeschlossen ist1222. Für die rechtzeitige Klageerhebung ist grundsätzlich die Zustellung der Entschädigungsklage an den Beklagten erforderlich, § 253 Abs. 1 ZPO.1223 Die Ausschlussfrist des § 198 Abs. 5 S. 2 GVG soll gewährleisten, dass nach Abschluss des Ausgangsverfahrens zügig über etwaige Entschädigungsansprüche entschieden wird und der Fiskus einen Überblick über denkbare Entschädigungspflichten erhält.1224 Nach der Gesetzesbegründung hat man sich bei Schaffung der Norm an § 12 StrEG orientiert, der ebenfalls eine absolute Ausschlussfrist enthält1225. Zu Recht merkt Heine in diesem Zusammenhang kritisch an, dass bezüglich des Regelungsgehaltes nicht § 12 StrEG, sondern § 13 Abs. 1 S. 2 StrEG mit § 198 Abs. 5 S. 2 GVG vergleichbar sei. § 13 Abs. 1 S. 2 StrEG normiert eine Frist 1217
BT-Drs. 17/3802, S. 22. BT-Drs. 17/3802, S. 22; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 255; Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 161. Kritisch Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 43. 1219 Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 161; vgl. BGH NJW 2006, 903 (904); Grothe, in: MüKo-BGB, Vorbem. § 194 BGB, Rn. 10 mit weit. Nachw.; a.A. Heine, MDR 2012, 327 (327 f.), der mit Bezug auf den vergleichbaren § 13 Abs. 1 S. 2 StrEG lediglich das Klagerecht als verwirkt ansieht. 1220 So auch die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme, BT-Drs. 17/3802, S. 41; Kämpfer, SchlHA 2011, 389 (391); Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 161; Schenke, NVwZ 2012, 257 (263); Stahnecker, Entschädigung, Rn. 168. Die Frist wird daneben auch als Zulässigkeitsvoraussetzung eingeordnet: Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 256; Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 46; Benda/Klein/u.a., Verfassungsprozessrecht, Rn. 1302 bzgl. der Wartefrist in § 97b Abs. 2 S. 1, Halbs. 1 BVerfGG. Nach Heine, MDR 2012, 327 (327 f.) spricht ein systematischer Vergleich zu § 13 Abs. 1 S. 2 StrEG für die Einordnung als Zulässigkeitsvoraussetzung. 1221 BT-Drs. 17/3802, S. 22. 1222 Schenke, NVwZ 2012, 257 (263); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 255; Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 74; Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 178. 1223 Ausführlich hierzu Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 167 ff.; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 258. Zur Anwendbarkeit des § 167 ZPO siehe OLG Frankfurt, Urt. v. 05.06.2013 – 4 EntV 10/12, Rn. 57, juris. 1224 BT-Drs. 17/3802, S. 22. 1225 BGH NJW 1989, 2619 (2620). 1218
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zur Erhebung einer Entschädigungsklage und hat lediglich eine Verwirkung des Klagerechts zur Folge1226, während § 12 StrEG eine Frist zur Anmeldung von Entschädigungsansprüchen gegenüber den Landesjustizverwaltungen beinhaltet. Dennoch ist dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers im Rahmen der Auslegung Rechnung zu tragen, sodass der Entschädigungsanspruch erlischt, wenn er nicht innerhalb von sechs Monaten nach dem rechtskräftigen Abschluss des Ausgangsverfahrens gerichtlich geltend gemacht wird. Die 6monatige Frist unter Berufung auf Art. 35 EMRK1227 ist dabei relativ kurz bemessen1228, völkerrechtlich aber nicht zu beanstanden1229. f. Verfahrensrechtliche Grundsätze im gerichtlichen Entschädigungsverfahren Nach § 201 Abs. 2 S. 1 GVG sind die Vorschriften der Zivilprozessordnung über das Verfahren vor den Landgerichten im ersten Rechtszug entsprechend anwendbar.1230 Daneben finden aber auch die allgemeinen Vorschriften des ersten Buches im Entschädigungsprozess Anwendung.1231 Demnach gilt bspw. in der ordentlichen Gerichtsbarkeit der Beibringungsgrundsatz1232 sowie der Anwaltszwang nach § 78 Abs. 1 S. 1, S. 3 ZPO.1233 Ein Richter, der am Ausgangsverfahren beteiligt war, auf dessen überlange Dauer der Entschädigungsanspruch gestützt wird, ist vom Entschädigungsverfahren ausgeschlossen, § 41 Nr. 7 ZPO. Dadurch soll dem Anschein der mangelnden Unvoreingenommenheit sowie Befangenheitsgesuchen vorgebeugt werden.1234 Die Regelung stellt somit sicher, dass die Entscheidung im Rechtsbehelfsverfahren von einer unabhängigen und unparteilichen Instanz getroffen wird.
1226
Heine, MDR 2012, 327 (328) mit weit. Nachw. BT-Drs. 17/3802, S. 22. 1228 So auch Barthe, in: KK-StPO, § 198 GVG, Rn. 6. A.A. Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 165. 1229 Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 55, 74; Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 165 f. 1230 Eine Änderung des Gerichtskosten- sowie des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes ist in Art. 10 bzw. Art. 11 ÜGRG erfolgt. 1231 Dietrich, ZZP 127 (2014), 169 (176); Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 201 GVG, Rn. 10; Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 6, 10: Fehlender Verweis auf die Vorschriften des ersten Buches ist redaktionelles Versehen. 1232 BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 37/13, Rn. 25, juris. 1233 Ausführlich zur Reichweite der Verweisung Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 201 GVG, Rn. 11. 1234 So der in das Gesetz übernommene Vorschlag des Bundesrates, BT-Drs. 17/3802, S. 37. 1227
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g. Die Darlegungs- und Beweislast aa. Allgemeines Vom Entschädigungskläger als Anspruchsteller sind die anspruchsbegründenden Tatsachen darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen. Dies gilt insbesondere auch für diejenigen Tatsachen, aus denen sich die überlange Verfahrensdauer ergeben soll.1235 Der Verweis auf die Überschreitung einer statistisch ermittelten durchschnittlichen Verfahrensdauer reicht für einen schlüssigen Klagevortrag insoweit regelmäßig nicht aus.1236 Dasselbe gilt für die bloße Bezugnahme auf Akten des Ausgangsverfahrens.1237 Sind Umstände aus dem Bereich der Justiz für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer relevant und sind diese dem Einblick des Klägers entzogen, trifft den Beklagten die sekundäre Darlegungslast.1238 Eine Beweislastumkehr dergestalt, dass bei Überschreiten gewisser Zeitgrenzen eine unangemessene Verfahrensdauer zu vermuten ist und der Beklagte Gründe vorzutragen hat, warum keine rechtsstaatswidrige Verfahrensdauer vorliegt, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen.1239 Dies gilt selbst dann, wenn die Verfahrensdauer zehn Jahre oder mehr überschreitet. Zwar nimmt der EGMR in diesen Fällen regelmäßig eine starke Vermutung für das Vorliegen eines Konventionsverstoßes an, sodass der beklagte Staat darlegen muss, warum die Verfahrensdauer noch gerechtfertigt ist.1240 Ein zwingendes Effektivitätskriterium i.S.v. Art. 13 EMRK stellt diese Art der Beweislastumkehr aber nicht dar. Gerade bei evidenter Überlänge des Verfahrens wird es dem Verfahrensbeteiligten keine größeren Schwierigkeiten bereiten, Umstände darzulegen, aus denen sich die unangemessene Verfahrensdauer ergibt. Aufgrund der Vielzahl von Kriterien, die für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer relevant sind, indiziert auch ein Verstoß gegen einfach-gesetzliche Beschleunigungsvorschriften weder eine unangemessene Verfahrensdauer noch geht damit eine Beweislastumkehr einher.1241 1235 BT-Drs. 17/3802, S. 25; OLG Hamm, Beschl. v. 26.09.2012 – 11 Sch H 6/12, I-11 Sch H 6/12, Rn. 8, juris; Heine, MDR 2012, 327 (331 f.); Heine, MDR 2013, 1147 (1149). 1236 OLG Köln, Urt. v. 21.03.2013 – 7 SchH 5/12, Rn. 13, juris; OLG Hamm, Beschl. v. 26.09.2012 – 11 Sch H 6/12, I-11 Sch H 6/12, Rn. 8, juris. 1237 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 244; Heine, MDR 2012, 327 (331 f.); BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12, Rn. 41, juris. 1238 Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1910); Dietrich, ZZP 127 (2014), 169 (176 f.); vgl. auch BT-Drs. 17/3802, S. 25; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 142. 1239 Siehe hierzu bereits S. 145 ff. 1240 Siehe etwa EGMR, Urt. v. 15.07.1982 – Nr. 8130/78 (Eckele./.Deutschland), § 80, Hudoc; Schlette, Angemessene Frist, S. 38; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 EMRK, Rn. 251; Thienel, ÖJZ 1993, 473 (480). 1241 Zutreffend Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 136.
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Dem Entschädigungskläger obliegt des Weiteren die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Erhebung einer wirksamen Verzögerungsrüge.1242 Er hat auch vorzutragen und gegebenenfalls zu beweisen, dass er seiner Hinweisobliegenheit gem. § 198 Abs. 3 S. 3 GVG nachgekommen ist und die behaupteten beschleunigungsrelevanten Umstände tatsächlich vorgelegen haben.1243 bb. Materielle Nachteile Der Entschädigungskläger trägt nach den allgemeinen Grundsätzen die Beweislast für das Vorliegen eines kausal entstandenen materiellen Nachteils.1244 Hinsichtlich der haftungsausfüllenden Kausalität kann eine Beweiserleichterung nach den Regeln des Anscheinsbeweises eintreten.1245 Grundsätzlich ist die Ursächlichkeit zwischen einem Verfahrensfehler und einem eingetretenen Schaden nur schwer zu beweisen1246, da der Ausgang des Prozesses ohne den Verfahrensfehler meist ungewiss ist. Da die Verfahrensdauer aber regelmäßig keinen Einfluss auf die Sachentscheidung selbst hat1247, spielt diese Problematik im Zusammenhang mit überlangen Gerichtsverfahren keine wesentliche Rolle. Demnach stellt die Auferlegung der Beweislast keine gravierende Erschwerung der Rechtsschutzverfolgung dar, sodass diese weder aus konventions- noch aus verfassungsrechtlichen Gründen zu beanstanden ist.1248 cc. Immaterielle Nachteile Der Beklagte hat darzulegen, weswegen eine Wiedergutmachung auf andere Weise in dem konkreten Einzelfall ausreichend sein soll.1249 Abweichend von der dem Entschädigungskläger eigentlich obliegenden Darlegungs- und Be-
1242
BT-Drs. 17/3802, S. 21, 25. BT-Drs. 17/3802, S. 21. 1244 BT-Drs. 17/3802, S. 19. 1245 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 157; Brummund, JA 2012, 213 (215) mit Verweis auf BGH NJW 2004, 1381 f. 1246 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 651 ff.; Roth, NVwZ 2006, 753 (756 f.); Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 41 EMRK, Rn. 11; siehe bspw. BSG, Urt. v. 05.05.2015 – B 10 ÜG 5/14 R, Rn. 24 ff., juris. 1247 Etwas anderes mag nur für diejenigen Fälle gelten, in denen aufgrund der Dauer des Verfahrens Beweismittel verloren gehen (zum Bsp. ein Zeuge verstirbt) und die Klage infolgedessen keinen Erfolg hat, siehe auch Roth, NVwZ 2006, 753 (759). 1248 Auch der EGMR verlangt für die Gewährung einer gerechten Entschädigung gem. Art. 41 EMRK, dass der geltend gemachte Schaden durch die Konventionsverletzung eingetreten ist, Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 41 EMRK, Rn. 11. 1249 Siehe OLG Naumburg, Urt. v. 30.05.2013 – 1 ESV 4/12, Rn. 41, juris; Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 29; Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 92; Lückemann, in: Zöller-ZPO, § 198 GVG, Rn. 8. 1243
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weislast bezüglich des Vorliegens eines Nichtvermögensnachteils hat der Gesetzgeber eine widerlegbare Vermutung i.S.v. § 292 S. 1 ZPO in § 198 Abs. 2 S. 1 GVG normiert.1250 Dadurch sollen Beweisschwierigkeiten auf Seiten des Entschädigungsklägers vermieden werden, die regelmäßig mit dem Nachweis immaterieller Nachteile einhergehen.1251 Nach Sinn und Zweck der Norm erstreckt sich die widerlegbare Vermutung daher auch auf die haftungsausfüllende Kausalität, da deren Nachweis ebenso schwer zu führen ist.1252 Um den Gesetzeszweck nicht zu gefährden, sind an die Widerlegung der Vermutung erhöhte Anforderungen zu stellen1253. Nicht ausreichend ist, dass der Beklagte vorträgt, es fehle an „nachprüfbaren Hinweisen“1254 bezüglich des Vorliegens eines immateriellen Nachteils. h. Die Entscheidung des Entschädigungsgerichtes aa. Die Aussetzungsentscheidung gem. § 201 Abs. 3 GVG Dauert das Ausgangsverfahren, dessen Überlänge zum Gegenstand eines Entschädigungsverfahrens gemacht wurde, noch an, hat das Entschädigungsgericht nach § 201 Abs. 3 GVG die Möglichkeit, das Entschädigungsverfahren auszusetzen. Einzige Voraussetzung für die Aussetzungsanordnung ist das Andauern des Ausgangsverfahrens, sodass das Vorliegen weiterer Voraussetzungen (bspw. nach §§ 148 ff. ZPO) nicht zu prüfen ist.1255 Die Aussetzungsentscheidung steht nach dem Wortlaut des Gesetzes im Ermessen des Gerichtes („kann“). Es besteht also weder eine Pflicht des Entschädigungsgerichtes, eine Aussetzungsanordnung zu treffen, wenn die Voraussetzungen des § 198 GVG (noch) nicht vorliegen, noch muss die Aussetzung des Verfahrens unterbleiben, wenn die 1250 Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 19: Tatsachenvermutung nach § 292 ZPO; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 152, 154; BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, Rn. 40, juris. 1251 BT-Drs. 17/3802, S. 19, 41. 1252 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 158; OLG Braunschweig, Urt. v. 08.02.2013 – 4 SchH 1/12, Rn. 186, juris. 1253 Rathmann, in: Saenger, ZPO, § 198 GVG, Rn. 22. 1254 OVG Magdeburg, Urt. v. 25.07.2012 – 7 KE 1/11, Rn. 77, juris. Die Vermutung ist u.a. widerlegt, wenn die Gesamtbewertung der Folgen der überlangen Verfahrensdauer ergibt, dass die Verfahrensdauer dem Verfahrensbeteiligten (bspw. durch eine Rechtsprechungsänderung) auch Vorteile gebracht hat, welche die vorhandenen Nachteile kompensieren, BFH, Urt. v. 20.11.2013 – X K 2/12, Rn. 29 ff., juris. 1255 Anders Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 201 GVG, Rn. 12, nach denen § 201 Abs. 3 GVG lediglich den Zeitpunkt regelt, bis wann eine Aussetzung des Verfahrens erfolgen kann. Die Voraussetzungen einer Aussetzung sollen sich daher nach den §§ 148 ff. ZPO richten. Ebenso Germelmann, JbArbR 49 (2012), 41 (56). Wie hier: Marx, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 201 GVG, Rn. 19; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 18 ff.
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Entschädigungsklage bereits begründet ist.1256 Bei der Ermessensausübung ist insbesondere zu berücksichtigen, dass das Ausgangsverfahren durch die parallele Durchführung des Entschädigungsverfahrens weiter verzögert werden kann.1257 Die bisherige Verfahrensdauer des Ausgangsverfahrens oder ein unzumutbares Abwarten der Entscheidung im Entschädigungsverfahren kann dagegen den Ausschlag dafür geben, keine Aussetzungsanordnung zu treffen.1258 Gem. § 201 Abs. 2 S. 1 GVG i.V.m. § 252 ZPO kann die Entscheidung des Entschädigungsgerichtes mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden. Trifft das Entschädigungsgericht keine Aussetzungsentscheidung und ist eine unangemessene Verfahrensdauer bereits eingetreten, die zu einem irreparablen Nachteil geführt hat, ist die Teilklage begründet.1259 Andernfalls ist sie als derzeit unbegründet abzuweisen.1260 Eine erneute Klageerhebung ist aber möglich; das Prozesshindernis der Rechtshängigkeit (§ 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO) steht dieser nicht entgegen.1261 Zum Schutz vor „Kettenklagen“ wird in diesem Zusammenhang überzeugend eine Analogie zu § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 2 GVG vorgeschlagen.1262 bb. Die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer Gelangt das Gericht zu der Überzeugung, dass die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer als Form der Wiedergutmachung ausreichend ist, stellt sich die Frage, welche Entscheidung das Gericht zu erlassen hat, wenn der Entschädigungskläger eine Leistungsklage gerichtet auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung erhoben hat. Dem Normtext kann hierzu nichts entnommen werden. Teilweise wird vertreten, dass eine vollständige Klageabweisung zu erfolgen habe.1263 Geht man davon aus, dass die Wiedergutmachung auf andere Weise ein negatives Tatbestandsmerkmal des Geldentschädigungsanspruches ist, ist die vollständige Abweisung der Klage konsequent, da die haftungsbegründenden Voraussetzungen des Entschädigungsanspruches nicht vorliegen.
1256 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 254, § 201 GVG, Rn. 19. 1257 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 201 GVG, Rn. 19; OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 78, juris. 1258 OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, Rn. 78, juris; Ott, in: SteinbeißWinkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 201 GVG, Rn. 19. 1259 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 254. 1260 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 254. 1261 Schenke, NVwZ 2012, 257 (265); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 251. 1262 Schenke, NVwZ 2012, 257 (265). 1263 Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 165, 242.
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In den Gesetzesmaterialien findet sich für die Lösung des Problems lediglich ein Indiz: Im Zusammenhang mit § 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG heißt es, die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer durch das Entschädigungsgericht könne ausgesprochen werden, „wenn unter Würdigung der Gesamtumstände, etwa bei im Ausgangsprozess nicht anwaltlich vertretenen Verfahrensbeteiligten, eine vollständige Klageabweisung unbillig erscheint.“1264
Demnach geht der Gesetzgeber wohl davon aus, dass hinsichtlich eines Klageantrages, der auf die Zahlung einer angemessenen Entschädigung gerichtet ist, lediglich eine Teilabweisung erfolgt, wenn das Entschädigungsgericht die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer ausspricht.1265 Dogmatisch lässt sich diese Annahme überzeugend damit untermauern, dass die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer als Minus zur Geldentschädigung im Antrag auf Zahlung enthalten ist1266, was nur eine Teilabweisung rechtfertigt. Die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer hat im Tenor des Urteils zu erfolgen1267, wobei die Zeitspanne der Überlänge nicht im selbigen konkretisiert werden muss1268. Bei Abfassung der gerichtlichen Entscheidung muss das Entschädigungsgericht beachten, dass eine konventionsrechtliche Begründungspflicht dafür besteht, warum die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer für ausreichend befunden wurde.1269 cc. Bindungswirkung der Entscheidungen Nach § 322 Abs. 1 ZPO sind Urteile der Rechtskraft nur insoweit fähig, als über den durch die Klage erhobenen Anspruch entschieden ist. Als Folge der Haftungs- und Zuständigkeitsaufteilung in § 200 GVG i.V.m. § 201 Abs. 1 GVG sind bei Verzögerungen, die vor Gerichten des Landes und des Bundes 1264
BT-Drs. 17/3802, S. 22. Diese Interpretation in Betracht ziehend, aber im Ergebnis ablehnend Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 165 (Fn. 346). 1266 Heine, MDR 2012, 327 (330); Barthe, in: KK-StPO, § 198 GVG, Rn. 5; in diese Richtung auch OVG Berlin, Urt. v. 26.02.2013 – OVG 3 A 6.12, Rn. 39, juris. 1267 Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 198 GVG, Rn. 25; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 165. 1268 OVG Berlin, Urt. v. 26.02.2013 – OVG 3 A 6.12, Rn. 36 f., juris; LSG Celle, Urt. v. 28.03.2013 – L 15 SF 10/12 EK, Rn. 20, juris; so auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 165; Schenke, NJW 2015, 433 (437); Wehrhahn, SGb 2013, 61 (66). A.A. LSG Neustrelitz, Urt. v. 13.02.2013 – L 12 SF 3/12 EK AL, Rn. 66, juris: Wegen der damit verbundenen generalpräventiven Wirkung sei die Dauer der Unangemessenheit konkret zu benennen [anders das Revisionsurteil des BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R, Rn. 56, juris]. 1269 BT-Drs. 17/3802, S. 20 mit Verweis auf EGMR, Urt. v. 29.3.2006 – Nr. 62361/00 (Riccardi Pizatti./.Italien), Rn. 94; Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 76. 1265
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eingetreten sind, vom Verfahrensbeteiligten zwei Entschädigungsklagen zu erheben, die zwar auf demselben Sachverhalt, aber unterschiedlichen Klagegründen beruhen. Aufgrund dieser Streitgegenstandsdivergenz können widersprüchliche Entscheidungen vor allem hinsichtlich der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer nicht verhindert werden.1270 Eine gegenseitige Bindungswirkung der jeweiligen Urteile besteht nicht. dd. Exkurs: Bindungswirkung von Entscheidungen des BVerfG Im Anwendungsbereich der Übergangsregelung ist es möglich, dass das BVerfG im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde die Unangemessenheit der Verfahrensdauer eines Gerichtsverfahrens bejaht bzw. verneint hat und der Betroffene eine Entschädigungsklage nach §§ 198 ff. GVG erhebt. Insofern stellt sich die Frage, inwieweit die Entscheidung des BVerfG das Entschädigungsgericht bindet. Das LSG Sachsen-Anhalt bejahte mit Verweis auf § 31 Abs. 1 BVerfGG zu Recht eine Bindungswirkung.1271 Haftungsgrund des § 198 Abs. 1 GVG ist die Verletzung des Grund- und Menschenrechts auf rechtzeitigen Rechtsschutz, sodass die Verfahrensdauer nach § 198 Abs. 1 GVG nicht als angemessen beurteilt werden kann, wenn eine Grundrechtsverletzung wegen überlanger Verfahrensdauer bereits vom BVerfG bejaht wurde.1272 Im Gegensatz zum Amtshaftungsanspruch, der an die Verletzung einer verhaltensbezogenen Amtspflicht anknüpft, rückt sowohl beim Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 GVG als auch bei einer Grundrechtsverletzung wegen überlanger Verfahrensdauer die Frage nach dem Erfolgsunrecht in den Vordergrund1273, sodass die Bindungswirkung darin ihre Legitimation findet. ee. Rechtsmittel Nach § 201 Abs. 2 S. 3 GVG findet gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichtes die Revision nach Maßgabe des § 543 ZPO statt; § 544 ZPO ist entsprechend anwendbar. Statthaftes Rechtsmittel gegen eine ablehnende Entscheidung eines Oberlandesgerichtes im Prozesskostenhilfeverfahren ist nach § 574 Abs. 1 ZPO die Rechtsbeschwerde.1274 Gegen ein zweites Versäumnisurteil eines Oberlandesgerichtes findet die Revision ohne Zulassung und ohne
1270 Vgl. zum Verhältnis zwischen dem Amtshaftungs- und dem Entschädigungsanspruch Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (6) mit dem Hinweis, dass die Beurteilung der unangemessenen Verfahrensdauer als Vorfrage nicht von der materiellen Rechtskraft erfasst sei. Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 201 GVG, Rn. 9. 1271 LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, Rn. 190, 193, juris. 1272 LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG, Rn. 190, juris. 1273 Ausführlich hierzu Breuer, Staatshaftung, S. 329 ff.; LSG Darmstadt, Urt. v. 06.02.2013 – L 6 SF 6/12 EK U, Rn. 42, juris. 1274 BGH, Beschl. v. 27.06.2012 – III ZB 45/12, Rn. 4, juris.
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Rücksicht auf den Wert des Beschwerdegegenstandes statt (§ 565 S. 1 ZPO i.V.m. § 514 Abs. 2 ZPO).1275 i. Kosten des Entschädigungsverfahrens Mit Art. 10, 11 ÜGRG hat der Gesetzgeber das GKG sowie das RVG im Hinblick auf das gerichtliche Entschädigungsverfahren angepasst. Für die erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte gelten Gebührensätze wie im Berufungsverfahren (Anlage 1 Nr. 1212, 1213 GKG), für die erstinstanzliche Zuständigkeit des BGH wie im Revisionsverfahren (Anlage 1 Nr. 1214, 1215 GKG).1276 Im RVG wurde für erstinstanzliche Entschädigungsverfahren ein besonderer Gebührensatz eingeführt (Anlage 1 Nr. 3300 Nr. 3 RVG); für Revisionsverfahren gelten keine gesonderten Regelungen. Die Verzögerungsrüge verursacht keine Anwaltsgebühr und ist über die Verfahrensgebühr abgedeckt. Durch die nach §§ 11 S. 2, 12a GKG i.V.m. § 12 Abs. 1 GKG für alle Gerichtsbarkeiten geltende Vorschusspflicht des Entschädigungsklägers wurde im Bereich der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit ein Novum geschaffen, da diese eine solche bisher nicht kannten. An dieser Stelle sei unter Berücksichtigung des Schwerpunktes dieser Arbeit nur darauf hingewiesen, dass die Vorschusspflicht als systemfremd kritisiert wird1277 und auch die Gerichte bei der tatsächlichen Rechtsanwendung vor Probleme stellt.1278 Nach den allgemeinen Grundsätzen kann der Entschädigungskläger Prozesskostenhilfe nach den §§ 114 ff. ZPO beantragen. Für die Kostenentscheidung gelten grundsätzlich die §§ 91 ff. ZPO. Eine Ausnahme hiervon regelt jedoch § 201 Abs. 4 GVG: Spricht das Entschädigungsgericht dem Kläger die von ihm begehrte Geldentschädigung nicht zu, sondern stellt es im Urteil lediglich die Unangemessenheit der Verfahrensdauer fest, ist entgegen den Grundsätzen der §§ 91 ff. ZPO über die Kosten nach billigem Ermessen zu entscheiden.1279 Die in diesem Fall ursprünglich im Referentenentwurf vorgesehene Kostentragungspflicht des Beklagten1280 wurde 1275
BGH, Urt. v. 08.10.2015 – III ZR (Ü) 1/15, Rn. 7 f., juris. Ausführlich hierzu Schneider, AGS 2012, 53 (53 ff.). 1277 Söhngen, NZS 2012, 493 (498); Buschmann, Anm. z. EGMR, Ent. v. 29.05.2012 – Nr. 53126/07 (Taron./.Deutschland), ArbuR 2012, 365 (366); siehe hierzu auch die im Rahmen der Evaluierung geäußerte Kritik BT-Drs. 18/2950, S. 28, 30 f., 34 f. 1278 BVerfG, Beschl. v. 08.10.2014 – 1 BvR 2186/14, Rn. 14 ff., juris; BFH, Beschl. v. 12.06.2013 – X K 2/13, Rn. 15 ff., juris; BSG, Beschl. v. 12.02.2015 – B 10 ÜG 8/14 B, Rn. 22 ff., juris. 1279 Kritisch Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 201 GVG, Rn. 16. 1280 § 201 Abs. 3 GVG-RefE: „Besteht kein Entschädigungsanspruch, wird aber eine unangemessene Verfahrensdauer festgestellt, hat die beklagte Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. War der geltend gemachte Entschädigungsanspruch unverhältnismäßig hoch, entscheidet das Gericht über die Kosten nach billigem Ermessen.“. 1276
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im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens verworfen. Insofern können nur bei Vorliegen besonderer Umstände dem Beklagten sämtliche Kosten des Rechtsstreits auferlegt werden. j. Bewertung Die Vorschriften über die gerichtliche Geltendmachung des Entschädigungsanspruches waren insbesondere im Gesetzgebungsverfahren Gegenstand diverser Kritik. Deshalb wird ein Blick auf die in diesem Zusammenhang vorgebrachten Argumente geworfen und sich mit diesen auch im Hinblick auf die Anforderungen an einen effektiven Rechtsbehelf auseinandergesetzt. aa. Zuständigkeit (1) „Gerichtszweiglösung“ Kritiker der „Gerichtszweiglösung“ sind der Auffassung, dass die Rechtsstreitigkeiten besser bei den Landgerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit aufgehoben wären, die nach § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG über Ansprüche aus Amtshaftung entscheiden und mit ähnlichen Fragestellungen bereits vertraut sind.1281 Da sich Gerichte typischerweise in neue Sachverhalte einarbeiten müssten, überzeuge das für die „Gerichtszweiglösung“ vorgebrachte Argument nicht, die Gerichte der jeweiligen Gerichtsbarkeit könnten sachkundig die Angemessenheit der Verfahrensdauer beurteilen.1282 Die Zuweisung an die Landgerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit ermögliche eine gemeinsame Verhandlung über den Amtshaftungs- und den Entschädigungsanspruch, die in Anspruchskonkurrenz zueinander stehen. Demgegenüber bestehe bei der „Gerichtszweiglösung“ die Gefahr unterschiedlicher Ergebnisse und Bewertungen.1283 Zudem müsse der Betroffene für eine vollständige Kompensation seines Schadens mehrere Klageverfahren anstrengen.1284
1281
Matusche-Beckmann/Kumpf, ZZP 124 (2011), 173 (188). In diese Richtung Kämpfer, Wortprotokoll 17/43 des Rechtsausschusses, Öffentliche Anhörung zum Regierungsentwurf BT-Drs. 17/3802, http://www.bundesgerichtshof. de/SharedDocs/Downloads/DE/Bibliothek/Gesetzesmaterialien/17_wp/Rechtsschutz_ueber lang/wortproto. pdf?__blob=publicationFile, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 10. 1283 Löbbert, Wortprotokoll 17/43 des Rechtsausschusses, Öffentliche Anhörung zum Regierungsentwurf BT-Drs. 17/3802, http://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Bibliothek/Gesetzesmaterialien/17_wp/Rechtsschutz_ueberlang/wortproto.pdf? __blob=publicationFile, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 19 f. Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (6) bezeichnen die Lage als misslich, aber nicht änderbar. 1284 Kämpfer, Wortprotokoll 17/43 des Rechtsausschusses, Öffentliche Anhörung zum Regierungsentwurf BT-Drs. 17/3802, http://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Bibliothek/Gesetzesmaterialien/17_wp/Rechtsschutz_ueberlang/wortproto.pdf? __blob=publicationFile, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 10. 1282
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Doch die Anzahl von Amtshaftungsklagen wegen überlanger Verfahrensdauer muss als überschaubar beziffert werden.1285 Eine größere Expertise haben die Landgerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit in diesen Fragestellungen daher nicht. Im Gegensatz dazu sind Gerichte der jeweiligen Fachgerichtsbarkeit am besten mit den Eigenheiten der Gerichtsverfahren und Prozessordnungen vertraut, die für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer von Relevanz sind.1286 Dies ist ganz im Sinne eines zügigen Abschlusses des Entschädigungsverfahrens. Aus Gründen der Prozessökonomie wäre die Möglichkeit einer gemeinsamen Verhandlung über den Amtshaftungs- und den Entschädigungsanspruch zwar wünschenswert gewesen. Es darf aber nicht verkannt werden, dass sich der Amtshaftungsanspruch wegen überlanger Verfahrensdauer und der Entschädigungsanspruch nach § 198 GVG unterscheiden und der Prüfungsmaßstab nicht kongruent ist1287. Schwerer wiegt dagegen das Argument, dass die Dekonzentration der Zuständigkeit eine uneinheitliche Rechtsprechung zwischen den einzelnen Gerichtsbarkeiten fördere. Diese Befürchtung erweist sich im Hinblick auf die bisher ergangenen Entscheidungen zu §§ 198 ff. GVG als wahr. Die vorangegangenen Untersuchungen zeigen ein weites Spektrum an Divergenzen, die sowohl die Tatbestands- als auch die Rechtsfolgenseite des Entschädigungsanspruches betreffen. Übersehen werden darf hierbei aber nicht, dass es häufig um Detailfragen bei der Auslegung eines neuen Staatshaftungsanspruches geht1288, der in seiner konkreten Ausgestaltung durchaus unterschiedliche Interpretationen erlaubt. Die Lektüre der Entscheidungen zeigt, dass sich die Gerichte sehr wohl mit Entscheidungen aus anderen Gerichtsbarkeiten auseinandersetzen. Insofern sind die aufgezeigten Unterschiede in erster Linie wohl nicht auf die Dekonzentration der Zuständigkeit, sondern vor allem auf die Neuartigkeit des Entschädigungsanspruches und dessen Unbestimmtheit zurückzuführen. Zudem geben die vielzähligen Entscheidungen des EGMR und des BVerfG dem Ganzen einen Rahmen, den es zu beachten gilt. Schließlich besteht bei Divergenzen die Möglichkeit, den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes anzurufen.1289
1285
Ähnlich Breuer, Staatshaftung, S. 317. Die Regelung positiv beurteilend: Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (6); Paulat, Wortprotokoll 17/43 des Rechtsausschusses, Öffentliche Anhörung zum Regierungsentwurf BT-Drs. 17/3802, http://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Bibliothek/Gesetzesmaterialien/17_wp/Rechtsschutz_ueberlang/wortproto.pdf?__blob=publicationFile, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 24; Schlick, in: FS Tolksdorf 2014, S. 549 (553, Fn. 15); Ohrloff, Rechtsschutz, S. 103. 1287 Siehe S. 290 ff. 1288 So auch Steinbeiß-Winkelmann/Sporrer, NJW 2014, 177 (177). 1289 Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 19.06.1968, BGBl. 1968 I, S. 661. 1286
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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Auch aus völker- und verfassungsrechtlicher Sicht kann kein Anstoß an der „Gerichtszweiglösung“ genommen werden. Vereinzelt heißt es zwar, die Zuständigkeitszuweisung an die Ober- und Bundesgerichte der jeweiligen Fachgerichtsbarkeiten verstoße gegen die Rechtswegzuweisung des Art. 34 Abs. 1 S. 3 GG, der für Ansprüche aus Staatshaftung den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten eröffnet.1290 In systematischer Hinsicht beschränkt sich der Anwendungsbereich des Art. 34 Abs. 1 S. 3 GG aber auf Schadensersatzansprüche nach Art. 34 Abs. 1 S. 1 GG und erfasst somit nicht sämtliche Staatshaftungsansprüche.1291 Der Entschädigungs- und der Amtshaftungsanspruch unterscheiden sich im Hinblick auf ihren Tatbestand, ihre Funktion und ihre Rechtsfolgen.1292 Weder kann der § 198 GVG einem Schadensersatzanspruch i.S.v. Art. 34 GG gleichgesetzt werden1293 noch wird durch die hier getroffene Zuständigkeitsregelung die Rechtswegzuweisung nach Art. 34 Abs. 1 S. 3 GG ausgehöhlt1294. Da weder die EMRK noch das GG eine vollständige Kompensation aller materieller Schadenspositionen gebieten und die Rechtsfolgenanordnung des § 198 GVG den Effektivitätsanforderungen entspricht, spielt die Erschwerung der Rechtsverfolgung bedingt durch die getrennte klageweise Verfolgung von Entschädigungs- und Amtshaftungsanspruch für die Bewertung der Effektivität des Rechtsbehelfs nach Art. 13 EMRK keine Rolle. (2) Zuständigkeit nach Haftungsaufteilung Die ausschließliche Zuständigkeitsaufteilung in Anlehnung an § 200 GVG hat zur Folge, dass der Rechtsschutzsuchende bezüglich eines überlangen Gerichtsverfahrens zwei Entschädigungsklagen anstrengen muss, wenn Verzögerungen durch Gerichte zweier unterschiedlicher Rechtsträger eingetreten sind. Nur so kann der Betroffene eine vollständige Kompensation seiner Nachteile erreichen. Durch diese Bestimmung mag zwar die „Befriedungswirkung nach innen“ auch auf Ebene der Bundesgerichte sichergestellt sein.1295 Doch die
1290 Siehe den entsprechenden Änderungsantrag der Fraktion DIE LINKE im Gesetzgebungsverfahren, BT-Drs. 17/7217, S. 25 ff. 1291 LSG Darmstadt, Urt. v. 06.02.2013 – L 6 SF 6/12 EK U, Rn. 41, juris, mit weit. Nachw. 1292 Hierzu ausführlich S. 290 ff. 1293 LSG Darmstadt, Urt. v. 06.02.2013 – L 6 SF 6/12 EK U, Rn. 41 ff., juris. Nach Schlick, in: FS Tolksdorf 2014, S. 549 (553) ist der Entschädigungsanspruch ein Institut des Prozessrechtes, weswegen dieser nicht der Rechtswegzuweisung des Art. 34 S. 3 GG unterfällt. 1294 LSG Darmstadt, Urt. v. 06.02.2013 – L 6 SF 6/12 EK U, Rn. 45, juris; BFH, Urt. v. 17.04.2013 – X K 3/12, Rn. 20 ff., juris. 1295 Vgl. die Argumentation für eine „Gerichtszweiglösung“ bei Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205 (208).
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Rechtsdurchsetzung der Entschädigungsansprüche wird für den Verfahrensbeteiligten hierdurch erheblich erschwert. Da keine gemeinsame Verhandlung über die Entschädigungsansprüche stattfinden kann, besteht nicht nur die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen. Der Entschädigungskläger trägt ebenso die Gefahr, die Kosten für zwei getrennte Entschädigungsverfahren tragen zu müssen, wenn er mit seinen Begehren scheitert. Zudem finden die Entschädigungsverfahren außer im OLG Bezirk Karlsruhe an unterschiedlichen Orten statt und bedürfen unterschiedlicher anwaltlicher Betreuung, da vor dem BGH nur gesondert zugelassene BGH-Anwälte auftreten dürfen. Ob der EGMR über diese Erschwernisse des kompensatorischen Rechtsbehelfs hinwegschauen wird, erscheint mehr als zweifelhaft.1296 Sie stellen eine unverhältnismäßige Belastung für den Rechtsschutzsuchenden dar und werden den Effektivitätsanforderungen des GG und der EMRK daher nicht gerecht. Zweifel äußerte diesbezüglich sogar das Bundesministerium der Justiz im Referentenentwurf1297, das aus diesem Grund zunächst eine gesamtschuldnerische Haftung der betroffenen Rechtsträger vorgeschlagen hatte. (3) Erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte Kritisiert wird auch die erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte.1298 Dadurch würden die Rechtsstreitigkeiten nach §§ 198 ff. GVG auf eine Stufe mit Staatsschutzsachen gestellt werden. Zudem verliere der Betroffene die Möglichkeit der Berufung. Der Verlust einer Instanz kann vor dem Hintergrund des damit verbundenen schnelleren Abschlusses des Entschädigungsverfahrens aber überzeugend gerechtfertigt werden. Der EGMR macht den zügigen Abschluss eines Entschädigungsverfahrens zur Voraussetzung eines effektiven kompensatorischen Rechtsbehelfs.1299 Da dem Betroffenen zumindest das Rechtsmittel der Revision verbleibt, bestehen aus verfassungs- und völkerrechtlicher Perspektive keine Bedenken gegen die Verkürzung des Rechtsweges. Die Möglichkeit einer Beschwerde gegen eine im Rechtsbehelfsverfahren getroffene Entscheidung ist keine zwingende konventionsrechtliche Voraussetzung für die Beurteilung des Rechtsbehelfs als effektiv.1300 Entsprechendes gilt auch bei Zugrundelegung verfassungsrechtlicher Maßstäbe, nach denen ein Instanzenzug von Verfassung wegen nicht garantiert wird1301. Aus diesem 1296
Ebenso Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 4. ÜGRG-RefE vom 15.03.2010, S. 24 f. 1298 Zimmermann, FPR 2012, 556 (558); Kissel/Mayer, GVG, § 201 GVG, Rn. 2 f.; Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 201 GVG, Rn. 2. 1299 Nachweise siehe 3. Kap. bei Fn. 38. Hierauf ebenfalls noch abstellend der ÜGRGRefE vom 15.03.2010, S. 25. 1300 Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 59. 1301 Siehe nur BVerfG NJW 2003, 1924 (1924). 1297
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Grund ist auch die erstinstanzliche Zuständigkeit des BGH nicht zu beanstanden. bb. Parallelität von Ausgangs- und Entschädigungsverfahren Ein Streit entfachte sich im Gesetzgebungsverfahren auch um die Regelung des § 198 Abs. 5 S. 1 GVG, nach der ein Entschädigungsverfahren auch während des noch laufenden Ausgangsverfahrens erhoben werden kann. Einerseits gefährde diese Regelung die richterliche Unabhängigkeit nach Art. 97 GG.1302 So stelle ein prozessuales Anerkenntnis des Dienstherrn, dass der den Rechtsstreit bearbeitende Richter im noch laufenden Ausgangsverfahren eine entschädigungspflichtige Verzögerung herbeigeführt habe, einen unzulässigen Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit bei der weiteren Gestaltung des Ausgangsverfahrens dar.1303 Andererseits sei zu befürchten, dass eine parallel zum Ausgangsverfahren laufende Entschädigungsklage zu weiteren Verzögerungen in dem Rechtsstreit führe1304 und ein hohes Missbrauchspotential in sich berge1305. Es wurde daher teilweise die gänzliche Streichung der Vorschrift gefordert1306 oder vorgeschlagen, die Entschädigungsklage während des laufenden Ausgangsverfahrens nur in Ausnahmefällen zu erlauben1307. Ein unzulässiger Eingriff in den Gewährleistungsgehalt des Art. 97 GG ist jedoch nicht erkennbar. Zum einen ist der Unabhängigkeitsgarantie bereits bei 1302
Der Gefährdungsgrad wird unterschiedlich beurteilt: Lückemann, in: Zöller-ZPO, § 198 GVG, Rn. 11: unzulässiger Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit. Kämpfer, Wortprotokoll 17/43 des Rechtsausschusses, Öffentliche Anhörung zum Reg-E BT-Drs. 17/3802, http://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Bibliothek/Gesetzesmaterialien/17_wp/Rechtsschutz_ueberlang/wortproto.pdf?__blob=publicationFile, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 10: Regelung problematisch. 1303 Lückemann, Wortprotokoll 17/43 des Rechtsausschusses, Öffentliche Anhörung zum Reg-E BT-Drs. 17/3802, http://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/ Bibliothek/Gesetzesmaterialien/17_wp/Rechtsschutz_ueberlang/wortproto.pdf?__blob=pub licationFile, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 22 f. 1304 So der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf, siehe BT-Drs. 17/3802, S. 35; DRB, Stellungnahme zum RegE BT-Drs. 17/3802, http://www.drb.de/cms/ index.php?id=710, zuletzt geprüft am: 03.03.2016, unter Punkt II. 7. 1305 So der BGH in seiner Stellungnahme zur Evaluation des ÜGRG, BT-Drs. 18/2950, S. 13. 1306 Siehe den Vorschlag des Bundesrates BT-Drs. 17/3802, S. 35. 1307 Kämpfer, Wortprotokoll 17/43 des Rechtsausschusses, Öffentliche Anhörung zum Reg-E BT-Drs. 17/3802, http://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/ Bibliothek/Gesetzesmaterialien/17_wp/Rechtsschutz_ueberlang/wortproto.pdf?__blob=pub licationFile, zuletzt geprüft am: 28.07.2016. Ähnlich der Vorschlag vom DRB: Es sind solche Entschädigungsverfahren vom Anwendungsbereich auszuschließen, in denen der Kläger nur Ersatz für immaterielle Nachteile fordert, da diesbezüglich keine irreparablen Schäden zu erwarten sind, DRB, Stellungnahme zum RegE BT-Drs. 17/3802, http://www.drb.de/cms/index.php?id=710, zuletzt geprüft am: 03.03.2016, unter Punkt II. 7.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer durch das Entschädigungsgericht hinreichend Rechnung zu tragen. Zum anderen sagt die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer gerade nichts über das individuelle Fehlverhalten des Richters aus. Insofern ist Gegenstand eines prozessualen Anerkenntnisses, dass eine unangemessene Verfahrensdauer vorliegt und nicht dass der Richter für die Verzögerungen verantwortlich ist. Auch der Gefahr weiterer Verzögerungen durch das parallel laufende Entschädigungsverfahren kann bspw. durch das Anlegen von Zweitakten begegnet werden.1308 Die Möglichkeit, eine Entschädigungsklage schon vor Abschluss des Ausgangsverfahrens erheben zu können, wurde im Gesetzgebungsverfahren von der Bundesregierung vor allem im Hinblick auf Art. 13 EMRK für zwingend gehalten: Nur so könne eine präventive Wirkung von der Entschädigungsklage ausgehen, die den Anforderungen des Art. 13 EMRK gerecht werde.1309 Doch das Entschädigungs- und das Ausgangsverfahren sind nur lose miteinander verknüpft.1310 Einerseits ist das Entschädigungsgericht bei einem noch andauernden Ausgangsverfahren berechtigt, das Verfahren gem. § 201 Abs. 3 S. 1 GVG auszusetzen. Andererseits steht es nicht in der Entscheidungsgewalt des Entschädigungsgerichtes, Maßnahmen gegenüber dem Ausgangsgericht anzuordnen, die zur Beschleunigung des Verfahrens beitragen könnten. Zudem darf die Steuerungsfunktion einer Entschädigungsklage während des Ausgangsverfahrens nicht überschätzt werden, wenn die Gründe für die Verzögerungen außerhalb des Verantwortungsbereiches des zuständigen Gerichtes liegen.1311 Des Weiteren setzt die Erhebung einer begründeten Entschädigungsklage die Verletzung des Anspruches auf eine angemessene Verfahrensdauer bereits voraus, sodass in diesem Fall der Verstoß gegen das Verfahrensrecht präventiv gar nicht mehr verhindert werden kann. Von einer präventiven Wirkung einer während des laufenden Ausgangsverfahrens erhobenen Entschädigungsklage ist somit nicht auszugehen, zumindest genügt diese nicht den Anforderungen des Art. 13 EMRK an einen präventiven Rechtsbehelf1312. Für die Möglichkeit einer parallelen Entschädigungsklage spricht aber insbesondere das Argument, dass es für den Betroffenen unzumutbar wäre, auf 1308
So auch die Einschätzung der Bundesregierung, BT-Drs. 17/3802, S. 41; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 253. 1309 BT-Drs. 17/3802, S. 41; so auch Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205 (208). 1310 Huerkamp/Wielpütz, JZ 2011, 139 (140). 1311 So auch Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (5). Ähnlich Huerkamp/Wielpütz, JZ 2011, 139 (140): Steuerungsfunktion des Staatshaftungsrechtes ist legitim, sie ist aber von einer verbindlichen Beschleunigung zu unterscheiden. Ebenso Gaier/Freudenberg, ZRP 2013, 27 (28). 1312 So auch der EGMR, Urt. v. 15.01.2015 – Nr. 62198/11 (Kuppinger./.Deutschland), § 140, Hudoc. Vgl. auch Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451 (464) zur französischen Rechtslage.
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den Abschluss des Ausgangsverfahrens warten zu müssen, bis er einen bereits entstandenen Entschädigungsanspruch geltend machen könnte.1313 In einem Rechtsschutzsystem, in dem ausschließlich kompensatorische Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, ist die Klagemöglichkeit während des noch laufenden Ausgangsverfahrens also zwingende Voraussetzung dafür, dass dieses den Effektivitätsanforderungen des Art. 13 EMRK genügt.1314 cc. Aussetzungsmöglichkeit gem. § 201 Abs. 3 S. 1 GVG Die Klagemöglichkeit gem. § 198 Abs. 5 S. 1 GVG ist der Effektivität des kompensatorischen Rechtsbehelfs geschuldet. Vor diesem Hintergrund erscheint die in § 201 Abs. 3 S. 1 GVG normierte Aussetzungsmöglichkeit des Entschädigungsgerichtes durchaus problematisch.1315 Denn im Falle einer Aussetzung wird über die Entschädigungsklage regelmäßig erst nach Beendigung des Ausgangsverfahrens entschieden. Soweit ersichtlich können die Verfahrensbeteiligten in den Unterzeichnerstaaten der EMRK, die ausschließlich kompensatorische Rechtsbehelfe zur Verfügung stellen und die der EGMR als effektiv beurteilt hat, ohne Einschränkung bereits während des laufenden Ausgangsverfahrens Wiedergutmachungsansprüche geltend machen.1316 Die Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen erst nach Abschluss des überlangen Ausgangsverfahrens hat der EGMR lediglich in solchen Fällen nicht beanstandet, in denen während des laufenden Ausgangsverfahrens den Rechtsschutzsuchenden effektive beschleunigende Rechtsbehelfe zur Verfügung standen.1317 Dieser Befund führt jedoch nicht per se dazu, dass die Aussetzungsmöglichkeit des Entschädigungsgerichtes nach § 201 Abs. 3 GVG die Ineffektivität des Sekundärrechtsschutzes zur Folge hat. Denn die Beurteilung, ob das Rechtsbehelfssystem den Effektivitätsanforderungen gerecht wird, ist anhand einer Gesamtbetrachtung der Normen unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraumes vorzunehmen. Die Verzögerungsrüge bietet dem Betroffenen während des laufenden Verfahrens zumindest die Möglichkeit, die Verfahrensdauer (auch mehrmals) zu beanstanden und das Gericht somit zur Vornahme beschleunigender Maßnahmen anzuhalten. Zudem steht die Ausset1313
BT-Drs. 17/3802, S. 41; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 251. 1314 Siehe hierzu S. 23 ff. 1315 Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 95; Berth, Rechtsschutz gegen verzögerte Gerichtsverfahren, S. 211 f. 1316 Dies gilt bspw. für die Länder Frankreich, Portugal, Schweiz, siehe Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 12 f., 79 f. Vgl. auch EGMR (Große Kammer), Ent. v. 11.09.2002 – Nr. 57220/00 (Mifsud./.Frankreich), § 17, Hudoc. 1317 Dies gilt soweit ersichtlich nur für Spanien, siehe Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 38.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
zungsentscheidung im Ermessen des Gerichtes, bei der also gerade Zumutbarkeitsgesichtspunkte eine Rolle spielen können und müssen. Insofern ist von der Aussetzungsmöglichkeit insbesondere dann zurückhaltend Gebrauch zu machen, wenn das Ausgangsverfahren bereits mehrere Jahre andauert oder die in Rede stehende Überlänge des Verfahrens erheblich ist. Ein Effektivitätsmangel, der gegen Art. 13 EMRK verstoßen würde, kann also nicht festgestellt werden. dd. Darlegungs- und Beweislast Die Normierung der Beweislastumkehr für immaterielle Nachteile wurde im Gesetzgebungsverfahren vom Bundesrat als systemfremd kritisiert.1318 Nach dem deutschen Schadensersatzrecht werde Ersatz für immaterielle Schäden nur in Ausnahmefällen gewährt, sodass die Beweislastumkehr dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehre.1319 Diese Kritik mag zwar im Kern zutreffend sein, kann aber im Ergebnis nicht durchdringen, da der Gesetzgeber mit den §§ 198 ff. GVG eine vom Schadensrecht unabhängige Entschädigungsregel normiert hat. Hinter der Kritik steht wohl eher die Befürchtung einer höheren Belastung der Finanzhaushalte, da die vorgeschlagene Beweislastumkehr Betroffene dazu bewegen könnte, ein Entschädigungsverfahren anzustrengen.1320 In völkerrechtlicher Hinsicht ist die Normierung einer Beweislastumkehr nicht zwingend erforderlich gewesen.1321 Zwar nimmt der EGMR im Rahmen von Art. 41 EMRK eine „starke, aber widerlegbare Vermutung“1322 dafür an, dass dem Verfahrensbeteiligten durch die überlange Verfahrensdauer ein Nichtvermögensnachteil entstanden ist. Beispiele aus Frankreich und Spanien zeigen aber, dass es ohne Einfluss auf die Effektivität eines kompensatorischen Rechtsbehelfs i.S.v. Art. 13 EMRK sein kann, wenn dem Anspruchsteller die Beweislast hinsichtlich des Vorliegens immaterieller Nachteile auferlegt wird.1323 Aufgrund der Beweisschwierigkeiten, die regelmäßig mit dem Nachweis immaterieller Nachteile einhergehen, ist die Beweislastumkehr in § 198 Abs. 2 S. 1 GVG aber zu begrüßen. Sie erhöht die Effektivität des kompensatorischen Rechtsbehelfs1324.
1318 BT-Drs. 17/3802, S. 35. So auch der Befund von Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (4); Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 463. 1319 BT-Drs. 17/3802, S. 35. 1320 Vgl. BT-Drs. 17/3802, S. 35. 1321 Dies suggeriert jedoch die Stellungnahme der Bundesregierung bezüglich der vom Bundesrat geäußerten Kritik, siehe BT-Drs. 17/3802, S. 41. 1322 EGMR (Große Kammer) NJW 2007, 1259 (1265, Rn. 204); Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 41 EMRK, Rn. 21. 1323 Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 63. 1324 So auch Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (4).
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ee. Kosten des Entschädigungsverfahrens Es steht im Einklang mit dem GG und der EMRK, die Einlegung von Rechtsbehelfen grundsätzlich von Gebühren und Kosten abhängig zu machen.1325 Die erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte und des BGH sowie der damit verbundene anwaltliche Vertretungszwang führen im Vergleich zur erstinstanzlichen Zuständigkeit der Amts- und Landgerichte zwar zu höheren Kosten. Gem. § 91 Abs. 1 ZPO bekommt der Betroffene im Fall seines Obsiegens aber seine Kosten erstattet, sodass er die ihm zugesprochene Entschädigung nicht für die Kosten des Rechtsbehelfsverfahrens aufwenden muss, was als Effektivitätshindernis vom EGMR angesehen wurde1326. Durch die §§ 114 ff. ZPO wird zudem sichergestellt, dass auch mittellose Parteien eine Entschädigungsklage erheben können. Von den Kostenregelungen geht also keine Abschreckungswirkung aus, die geeignet ist, potentielle Entschädigungskläger von der gerichtlichen Durchsetzung abzuhalten. Es lässt sich demnach feststellen, dass die vom Gesetzgeber getroffenen Bestimmungen im Hinblick auf ihre Effektivität nicht zu beanstanden sind.1327 III. Das Verhältnis der §§ 198 ff. GVG zu anderen Rechtsschutzinstrumenten Bevor in einer abschließenden Gesamtschau das nun geltende Rechtsschutzsystem gegen überlange Gerichtsverfahren evaluiert wird, muss zunächst erörtert werden, welche Auswirkungen das Inkrafttreten der §§ 198 ff. GVG auf die unter Punkt C. dieses Kapitels vorgestellten Rechtsschutzinstrumente hat. Es ist zu untersuchen, ob diese auch weiterhin Geltung beanspruchen und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.
1325 Für das GG siehe BVerfG NJW 1992, 1673 (1673 mit weit. Nachw.). Für die EMRK siehe Luczak, Anlage zu BT-Drs. 16/7655, S. 58. 1326 EGMR NJW 2007, 1259 (1265, Rn. 201). 1327 EGMR NVwZ 2013, 47 (48, Rn. 40). Anders die Einschätzung von Gerhardinger, Effektiver Rechtsbehelf, S. 351.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
1. Die Untätigkeitsbeschwerde a. Das Ende der Untätigkeitsbeschwerde Das Schrifttum1328 und die Rechtsprechung1329 sind ganz überwiegend der Meinung, dass die Untätigkeitsbeschwerde nach Inkrafttreten des ÜGRG nicht mehr statthaft sei. Die Gesetzesbegründung bezeichne die von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsbehelfskonstruktionen ausdrücklich als hinfällig und die Regelungen im ÜGRG als abschließend.1330 Letzteres mache auch der Titel des 17. Kapitels des GVG deutlich.1331 Somit fehle es zur Legitimierung der gesetzlich nicht normierten Untätigkeitsbeschwerde an der für eine Analogie erforderlichen Regelungslücke.1332 Zudem bestehe auch kein Rechtsschutzbedürfnis mehr, eine Untätigkeitsbeschwerde zu erheben.1333 Betrachte man die Entstehungsgeschichte des Gesetzes, habe sich der Gesetzgeber gerade gegen die Einführung einer Untätigkeitsbeschwerde ausgesprochen, mit dem Ziel damit verbundene Belastungen der Gerichte zu vermeiden und
1328 Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (5); Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 377; Schenke, NVwZ 2012, 257 (258); Meyer-Holz, in: Keidel, FamFG, Anh. zu § 58 FamFG, Rn. 90; Huerkamp/Wielpütz, JZ 2011, 139 (142); Itzel, MDR 2012, 564 (567); Heßler, in: Zöller-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 21; Schlünder, in: BeckOK-FamFG, § 155 FamFG, Rn. 24; Heilmann, in: MüKo-FamFG, § 155 FamFG, Rn. 80, 83; van Els, FPR 2012, 480 (482); Wulf, in: BeckOK-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 24; Ball, in: Musielak/Voit, ZPO, § 567 ZPO, Rn. 14; Wittschier, in: Musielak/Voit, ZPO, § 198 GVG, Rn. 9; Rathmann, in: Saenger, ZPO, § 198 GVG, Rn. 7; Kissel/Mayer, GVG, § 198 GVG, Rn. 45; Graf, NZWiSt 2012, 121 (123). 1329 Für die Zivilgerichtsbarkeit: OLG Düsseldorf, Beschl. v. 15.02.2012 – II-8 WF 21/12 8 WF 21/12, Rn. 3 f., juris; OLG Rostock, Beschl. v. 25.07.2012 – I WS 176/12, Rn. 11 f., juris; BGH, Beschl. v. 20.11.2012 – VIII ZB 49/12, Rn. 2, juris; BGH, Beschl. v. 30.04.2014 – XII ZB 136/14, Rn. 2, juris; OLG Frankfurt, Beschl. v. 10.04.2013 – 3 Ws 245/13, Rn. 1, 4, juris. 1330 BT-Drs. 17/3802, S. 16. 1331 OLG Hamburg, Beschl. v. 19.03.2012 – 3 Vollz (Ws) 9/12, Rn. 5, juris; OVG Greifswald, Beschl. v. 23.01.2012 – 1 O 4/12 u.a., Rn. 4, juris. 1332 BT-Drs. 17/3802, S. 16. OLG Schleswig, Beschl. v. 30.08.2012 – 11 SchH 3/12, Rn. 2, juris; OLG Frankfurt, Beschl. v. 10.04.2013 – 3 Ws 245/13, Rn. 4, juris; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (5); Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 377; Rathmann, in: Saenger, ZPO, § 198 GVG, Rn. 7; Barthe, in: KK-StPO, § 198 GVG, Rn. 1; Meyer-Holz, in: Keidel, FamFG, Anh. zu § 58 FamFG, Rn. 90. Ausdrücklich für familiengerichtliche Verfahren Heilmann, NJW 2012, 887 (888, Fn. 25); Heilmann, in: MüKo-FamFG, § 155 FamFG, Rn. 80. 1333 Heßler, in: Zöller-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 21; Lückemann, in: Zöller-ZPO, § 198 GVG, Rn. 1; LSG Potsdam, Beschl. v. 14.09.2012 – L 11 VE 14/12 B, Rn. 1, juris. Nach Huerkamp/Wielpütz, JZ 2011, 139 (142) ist die Untätigkeitsbeschwerde aufgrund des Subsidiaritätsgrundsatzes nicht mehr geboten.
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den Rechtsstreit nicht weiter zu verzögern.1334 Das Nebeneinander von Untätigkeitsbeschwerde und Verzögerungsrüge sei diesem Ziel abträglich und mit Rechtsunsicherheit verbunden1335. Außerdem dürfe nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Statthaftigkeit der Untätigkeitsbeschwerde auch vor Inkrafttreten des ÜGRG äußert umstritten gewesen sei.1336 b. Statthaftigkeit der Untätigkeitsbeschwerde Dagegen wird die Untätigkeitsbeschwerde im Schrifttum vereinzelt weiterhin für statthaft gehalten. Es wird jedoch unterschiedlich beurteilt, ob der durch die Untätigkeitsbeschwerde vermittelte Rechtsschutz in allen Gerichtsverfahren1337 oder lediglich hinsichtlich einzelner Verfahrensarten1338 Geltung beansprucht. Entgegen der herrschenden Auffassung bestehe trotz des Rechtsschutzes nach den §§ 198 ff. GVG eine planwidrige Regelungslücke. Von der Verzögerungsrüge gehe keinerlei präventive Wirkung aus und das Gesetz enthalte lediglich eine kompensatorische Regelung.1339 Des Weiteren könne die Gesetzesbegründung als Argument gegen die Planwidrigkeit der Regelungslücke nur herangezogen werden, wenn diese im Gesetzestext zum Ausdruck komme und nicht gegen höherrangige Rechtsprinzipien verstoße.1340 Diese Voraussetzungen seien aber nicht erfüllt: Zum einen sei dem Gesetzestext der abschließende Regelungscharakter nicht zu entnehmen, zum anderen bedeute die Versagung präventiven Rechtsschutzes, dass der Verfahrensbeteiligte gezwungen wäre, die überlange Verfahrensdauer als Unrecht zu erdulden und den dadurch
1334 OVG Greifswald, Beschl. v. 23.01.2012 – 1 O 4/12 u.a., Rn. 5 f., juris; OLG Hamburg, Beschl. v. 19.03.2012 – 3 Vollz (Ws) 9/12, Rn. 5, juris. 1335 OVG Greifswald, Beschl. v. 23.01.2012 – 1 O 4/12 u.a., Rn. 4, 7, juris. 1336 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 15.02.2012 – II-8 WF 21/12 8 WF 21/12, Rn. 4, juris; vgl. auch OVG Greifswald, Beschl. v. 23.01.2012 – 1 O 4/12 u.a., Rn. 4, juris. 1337 Zimmermann, FPR 2012, 556 (556 f.); Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (859 f.); Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 464 f.; Lipp, in: MüKo-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 31; Baumbach/Lauterbach/u.a., ZPO, § 567 ZPO, Rn. 9, § 198 GVG, Rn. 1; Kotz, in: Burhoff/Kotz, Strafr. Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, Teil A, Rn. 631 ff. 1338 Rixe, Anm. z. EGMR, Urt. v. 27.10.2011 – Nr. 8857/08 (Bergmann./.Tschechien), FamRZ 2012, 1124 (1125 f.): Untätigkeitsbeschwerde ist statthaft in Verfahren, „deren Dauer zu einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition führen kann“. Sich daran anschließend Fischer, in: MüKo-FamFG, § 58 FamFG, Rn. 80; offen gelassen: Gutjahr, in: BeckOK-FamFG, § 58 FamFG, Rn. 32; Untätigkeitsbeschwerde in Kindschaftssachen: Heilmann, ZKJ 2011, 187 (188) [anders jetzt wohl Heilmann, NJW 2012, 887 (888, Fn. 25)]; Peschel-Gutzeit, ZRP 2015, 170 (173); Weber, NZFam 2015, 337 (340). 1339 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 464 f.; Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (859 f.). Dieses Argument für die Berechtigung der Untätigkeitsbeschwerde ebenfalls anführend: Vogel, FPR 2012, 528 (528); Heilmann, ZKJ 2011, 187 (188). 1340 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 464 f.; Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (860).
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entstandenen Schaden zu liquidieren.1341 Dies verstoße aber gegen das verfassungsrechtliche Gebot des effektiven Rechtsschutzes.1342 Darüber hinaus seien nach der Gesetzesbegründung die von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsbehelfskonstruktionen nur „grundsätzlich“ hinfällig und Ausnahmen somit möglich.1343 Für die Statthaftigkeit der Untätigkeitsbeschwerde spreche auch ein Erst-Recht-Schluss: Der Gesetzgeber habe in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gebracht, dass Primärrechtsschutz in Gestalt der Verzögerungsrüge gegenüber dem subsidiären Entschädigungsanspruch vorrangig sei.1344 Da die Untätigkeitsbeschwerde auf Primärebene als echter Rechtsbehelf Abhilfe gegen die Untätigkeit des Gerichtes schaffen könne, sei diese erst recht statthaft und der Verfahrensbeteiligte nicht auf den Entschädigungsanspruch zu verweisen.1345 Der verfassungsrechtliche Justizgewährungsanspruch gebiete effektiven Rechtsschutz in Form eines echten prozessualen Rechtsbehelfes.1346 c. Stellungnahme Der Wortlaut des Regelungstextes ist bezüglich des abschließenden Charakters der Rechtsschutzvorschriften indifferent. Schon eher kann ein solcher der Gesetzessystematik entnommen werden, da die Regeln des Rechtsschutzes bei überlangen Gerichts- und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gesondert im 17. Titel des GVG aufgenommen wurden. Insbesondere die Abkehr vom Entwurf des Untätigkeitsbeschwerdengesetzes spricht dafür, dass die gesetzlich nicht normierte Untätigkeitsbeschwerde nach Inkrafttreten des ÜGRG keine Geltung mehr de lege lata beanspruchen soll. Dem Argument, die Gesetzesbegründung bezeichne die von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsbehelfskonstruktionen als grundsätzlich hinfällig und die Regelungen der §§ 198 ff. GVG als abschließend, sodass eine Untätigkeitsbeschwerde nicht mehr statthaft sei, kann jedoch entgegengehalten wer-
1341 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 464 f.; Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (860); Lipp, in: MüKo-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 31. 1342 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 464 f.; Ossenbühl, DVBl 2012, 857 (860). In diese Richtung wohl auch Weber, NJW 2013, 3071 (3072). 1343 Vogel, FPR 2012, 528 (528); Weber, NZFam 2015, 337 (340); Rixe, Anm. z. EGMR, Urt. v. 27.10.2011 – Nr. 8857/08 (Bergmann./.Tschechien), FamRZ 2012, 1124 (1125). Der Wortlaut der Gesetzesbegründung BT-Drs. 17/3802, S. 16 lautet: „Mit dem neuen Entschädigungsanspruch werden die verschiedenen von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsbehelfskonstruktionen […] grundsätzlich hinfällig […].“. 1344 Lipp, in: MüKo-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 31. 1345 Lipp, in: MüKo-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 31. 1346 Lipp, in: MüKo-ZPO, § 567 ZPO, Rn. 31; ähnlich auch Heilmann, ZKJ 2011, 187 (188) für Kindschaftssachen.
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den, dass mit dem ÜGRG ausdrücklich eine Rechtsschutzlösung gefunden werden sollte, die den Anforderungen der EMRK und des GG gerecht wird1347. Wie bereits erörtert, genügt die Verzögerungsrüge als präventives Rechtsschutzinstrument aber weder dem verfassungsrechtlichen Justizgewährungsanspruch noch den Anforderungen an einen effektiven Rechtsbehelf nach Art. 13 EMRK.1348 Letzteres hat im Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1, Art. 13 EMRK keine Konsequenzen, da nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR Rechtsschutzinstrumente entweder präventiv und/oder kompensatorisch ausgestaltet sein können. Erwähntermaßen hat der EGMR aber im Anwendungsbereich von Art. 8 Abs. 1, Art. 13 EMRK seine Rechtsprechung geändert. Insbesondere in Sorgerechtsstreitigkeiten und Umgangsrechtsverfahren sind bei Nichtvorhandensein präventiver Rechtsbehelfe Art. 8 Abs. 1, Art. 13 EMRK verletzt. Kompensatorischer Rechtsschutz ist in diesen Fällen nicht ausreichend. Möglicherweise folgt die Statthaftigkeit der Untätigkeitsbeschwerde also aus einer verfassungs- und völkerrechtskonformen Auslegung. Deren Grenze ist aber erreicht, wenn sie dem Wortlaut des Gesetzes und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers widerspricht.1349 Zwar ist dem Gesetzestext – darin ist den Befürwortern der Untätigkeitsbeschwerde Recht zu geben – der abschließende Charakter der Regelungen nicht unmittelbar zu entnehmen. Die Gesetzesgenese sowie der in den Gesetzesmaterialien deutlich zum Ausdruck gebrachte Wille des Gesetzgebers sprechen aber gegen die Statthaftigkeit der Untätigkeitsbeschwerde.1350 Das erklärte Ziel des Gesetzgebers, mit den Regelungen des ÜGRG ein effektives Rechtsschutzsystem gegen überlange Gerichtsverfahren zu etablieren, kann nicht als Rechtfertigung dafür dienen, die Untätigkeitsbeschwerde gegen den Willen des Gesetzgebers für statthaft zu halten. Zudem würde die verfassungs- und völkerrechtskonforme Auslegung nicht die vorhandene Rechtsschutzlücke schließen. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist die gesetzlich nicht normierte Untätigkeitsbeschwerde ungeeignet, effektiv Abhilfe gegen überlange Gerichtsverfahren zu schaffen, da eine einheitliche Spruchpraxis hinsichtlich ihrer Zulässigkeitsvoraussetzungen sowie ihrer Rechtsfolgen nicht existiert.1351 Ebenso genügt sie nicht dem 1347
BT-Drs. 17/3802, S. 15. Siehe hierzu S. 126 ff., 130 f. 1349 BVerfGE 128, 326 (371): Grenze ist dort zu ziehen, „wo diese [Auslegung] nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint […]“. Siehe zur verfassungskonformen Auslegung auch BVerfGE 49, 148 (157); 54, 277 (300); 86, 288 (320). 1350 Ebenfalls zweifelnd Fischer, FamRB 2015, 210 (211). A.A. Rixe, Anm. z. EGMR, Urt. v. 27.10.2011 – Nr. 8857/08 (Bergmann./.Tschechien), FamRZ 2012, 1124 (1126): zwischenzeitliche Lösung bevor der Gesetzgeber Abhilfe schafft. 1351 EGMR (Große Kammer) NJW 2006, 2389 (2392, Rn. 110 ff.); ebenso EGMR, Urt. v. 15.01.2015 – Nr. 62198/11 (Kuppinger./.Deutschland), § 142, Hudoc. 1348
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verfassungsrechtlichen Gebot der Rechtsmittelklarheit und ist zumindest aus diesem Grund kein Teil eines effektiven Rechtsschutzsystems.1352 Letztlich wäre die Koexistenz von Untätigkeitsbeschwerde und Verzögerungsrüge auch mit schwierigen Abgrenzungsfragen verbunden, die zur Rechtsunsicherheit führen würden. Eine Untätigkeitsbeschwerde kann daher allenfalls de lege ferenda Beachtung finden. 2. Dienstaufsichtsbeschwerde Die Möglichkeit, eine Dienstaufsichtsbeschwerde wegen verzögerter Amtstätigkeit zu erheben, bleibt von der Einführung der Verzögerungsrüge unberührt.1353 Dies folgt bereits aus der unterschiedlichen Zielrichtung beider Rechtsschutzinstrumente. Die Dienstaufsichtsbeschwerde, die gegenüber dem Dienstvorgesetzten zu erheben ist, zielt primär auf eine justizinterne Kontrolle ab, die zum Gegenstand hat, ob das Verhalten des Richters in dienstrechtlicher Hinsicht zu beanstanden ist.1354 Im Gegensatz dazu ist die Verzögerungsrüge ein verfahrensinternes Rechtsschutzinstrument, welches unmittelbar beschleunigende Wirkung entfalten soll und gegenüber dem Ausgangsgericht zu erheben ist. 3. Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit Das Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit des Richters aufgrund der Dauer des Verfahrens ist von der Einführung der Verzögerungsrüge nicht betroffen. Denn vergleichbar zur Dienstaufsichtsbeschwerde verfolgen das Ablehnungsgesuch und die Verzögerungsrüge unterschiedliche Ziele. Während die Verzögerungsrüge die Beschleunigung des Verfahrens bezweckt, sichert das Ablehnungsgesuch das Recht des Verfahrensbeteiligten auf einen unparteilichen und neutralen Richter. Vereinzelt wird prognostiziert, dass das Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit nach Inkrafttreten des ÜGRG einen Bedeutungszuwachs erfahre, da eine Untätigkeitsbeschwerde nicht mehr statthaft sei und bei erfolgloser Erhebung einer Verzögerungsrüge objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen könnten, an der Neutralität des Richters zu zweifeln1355. Hiergegen spricht aber, dass es im Ermessen des Richters steht, ob er auf eine Verzögerungsrüge reagiert. Hilft der Richter einer Verzögerungsrüge also nicht ab, liegen keine objektiven Anhaltspunkte vor, die bei vernünftiger Betrachtungsweise Anlass geben, an seiner Neutralität zu zweifeln. Andernfalls 1352
Siehe S. 130 f. So auch Kretz, in: Jürgens, Betreuungsrecht, § 58 FamFG, Rn. 20. 1354 Siehe S. 41. 1355 Heilmann, in: MüKo-FamFG, § 155 FamFG, Rn. 83. Diese Befürchtung teilend Hammer, in: Prütting/Helms, FamFG, § 155 FamFG, Rn. 28. 1353
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würde das Ablehnungsverfahren zu einem Art Zwischenverfahren. In diesem wäre zu prüfen, ob die Verzögerungsrüge vom Verfahrensbeteiligten berechtigterweise erhoben wurde und ob das Gericht auf diese angemessen reagiert hat1356. Das Rechtsinstitut der Ablehnung würde quasi die Funktion einer Untätigkeitsbeschwerde übernehmen1357, gegen deren Einführung sich der Gesetzgeber aber klar ausgesprochen hat. Daher ist davon auszugehen, dass sich an der zurückhaltenden Bejahung eines Befangenheitsgrundes bei überlanger Verfahrensdauer nichts ändern wird.1358 4. Die Verfassungsbeschwerde Die Einführung der §§ 198 ff. GVG bedingt insbesondere eine Neujustierung zwischen der Fachgerichtsbarkeit und der Verfassungsgerichtsbarkeit. Als außerordentlicher Rechtsbehelf erfordert die zulässige Erhebung einer Verfassungsbeschwerde nach § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG die Erschöpfung des Rechtsweges nach Maßgabe der jeweiligen Prozessordnung. Hierunter fällt jede gesetzlich normierte Möglichkeit zur Anrufung eines Gerichtes.1359 Danach muss der Beschwerdeführer die ihm gesetzlich zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe erfolglos in Anspruch genommen sowie den Instanzenzug vollständig durchlaufen haben.1360 Der darüber hinausgehende Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde1361 verlangt, dass der Beschwerdeführer im Rahmen des Zumutbaren alle „ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erreichen oder sie gar zu verhindern“1362. In diesem Zusammenhang wird eine trennscharfe Abgrenzung zur Rechtswegerschöpfung oftmals von der Rechtsprechung nicht vorgenommen.1363 Somit stellt sich die Frage, welche Rechtsschutzinstrumente gegen überlange Gerichtsverfahren seit dem 03. Dezember 2011 einzulegen sind, bevor der Betroffene eine zulässige Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG erheben kann.
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Vgl. OLG Dresden OLG-NL 2001, 45 (46); BayOblG FamRZ 1998, 1240 (1241). Vgl. OLG Dresden OLG-NL 2001, 45 (46); BayOblG FamRZ 1998, 1240 (1241). 1358 Siehe bspw. OLG Brandenburg MDR 2015, 914 (914 f.). 1359 BVerfGE 67, 157 (170). 1360 BVerfGE 68, 384 (388); 77, 381 (401); 81, 97 (102); 107, 395 (414); 112, 50 (60). 1361 BVerfGE 81, 22 (27); 95, 163 (171); 114, 258 (279); 129, 78 (92). Im Schrifttum wird das Erfordernis der Subsidiarität durchaus kritisch gesehen Pestalozza, Echte Verfassungsbeschwerde, S. 28 ff.; Klein, in: FS Zeidler 1987, Bd. 2, S. 1305 (1316 ff.); Schenke, NJW 1986, 1451 (1461). 1362 BVerfGE 79, 275 (278 f.); ähnlich auch BVerfGE 107, 257 (267); 108, 370 (386); 131, 47 (56); BVerfG NJW 2013, 3506 (3507). 1363 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 90 BVerfGG, Rn. 401: Abgrenzung der beiden Institute gehört nicht zur Stärke des BVerfG. 1357
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a. Untätigkeitsbeschwerde Da die Untätigkeitsbeschwerde nach Inkrafttreten des ÜGRG de lege lata keine Geltung mehr beansprucht, setzt eine zulässige Untätigkeitsverfassungsbeschwerde ihre vorherige Erhebung auch nicht (mehr) voraus.1364 b. Verzögerungsrüge Besteht Anlass zur Besorgnis, dass das Gerichtsverfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird, kann der Verfahrensbeteiligte gegenüber dem Ausgangsgericht mit der Erhebung der Verzögerungsrüge zum Ausdruck bringen, dass er mit der Dauer des Verfahrens nicht einverstanden ist. Nach Intention des Gesetzgebers soll hierdurch die Möglichkeit der Verfahrensbeschleunigung eröffnet werden, ohne dass ein selbstständiges Zwischenverfahren eingeleitet wird. Die Verzögerungsrüge zielt somit darauf ab, den drohenden Verfassungsverstoß zu verhindern. Unterschiedlich wird beurteilt, ob § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG oder der Subsidiaritätsgrundsatz die Erhebung der Verzögerungsrüge gebietet. Durch die Rechtswegerschöpfung soll sichergestellt werden, dass hinsichtlich der Beschwerdepunkte eine ordnungsmäßige Vorprüfung durch die zuständigen Instanzen erfolgt.1365 Mangels einer Reaktions- und Bescheidungspflicht des Ausgangsgerichtes findet bei der Verzögerungsrüge eine gerichtliche Prüfung hinsichtlich eines (drohenden) Verfassungsverstoßes aber gerade nicht statt. Auch die Möglichkeit, nach § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 2 GVG und § 198 Abs. 3 S. 5 GVG die Verzögerungsrüge mehrmals erheben zu können, bereitet im Hinblick auf die Rechtswegerschöpfung Schwierigkeiten. Von einer Erschöpfung des Rechtsweges kann streng genommen erst nach Abschluss des Gerichtsverfahrens gesprochen werden, also wenn die Erhebung der Verzögerungsrüge nicht mehr möglich ist. Aus diesen Gründen ist die Erhebung der Verzögerungsrüge nicht unter dem Gesichtspunkt der Rechtswegerschöpfung zu prüfen, sondern richtigerweise im Hinblick auf den Subsidiaritätsgrundsatz der Verfassungsbeschwerde.1366 Dieser steht unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit.1367 Der Beschwerdeführer muss nur von solchen prozessua-
1364 Wie hier Huerkamp/Wielpütz, JZ 2011, 139 (142). Zum Streit, ob die Erhebung der Untätigkeitsbeschwerde vor Inkrafttreten des ÜGRG erforderlich war, siehe S. 66 f. 1365 BVerfGE 4, 193 (198). 1366 So auch Huerkamp/Wielpütz, JZ 2011, 139 (142); a.A. Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 379 verortet die Erhebung der Verzögerungsrüge unter dem Punkt der Rechtswegerschöpfung; wohl auch BVerfG, Beschl. v. 21.12.2011 – 1 BvQ 44/11, Rn. 2, juris; anders BVerfG, Beschl. v. 06.06.2013 – 2 BvQ 26/13, Rn. 4, juris. 1367 BVerfGE 9, 3 (7 f.); 68, 376 (380 f.); 77, 275 (282); 85, 80 (86); 123, 148 (172).
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len Möglichkeiten Gebrauch machen, die nicht offensichtlich sinn- und aussichtslos sind.1368 Ein Verstoß gegen das Recht auf angemessene Verfahrensdauer kann durch die Erhebung der Verzögerungsrüge verhindert werden, vorausgesetzt das Ausgangsgericht veranlasst beschleunigende Maßnahmen. Zwar liegt es im Ermessen des Gerichtes der Verzögerungsrüge abzuhelfen, offensichtlich aussichtslos ist dies aber nicht. Damit gebietet der Subsidiaritätsgrundsatz auch unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten zumindest die einmalige Erhebung der Verzögerungsrüge (zur mehrmaligen Erhebung siehe sogleich).1369 c. Klageweise Geltendmachung des Entschädigungsanspruches Es entspricht der herrschenden Auffassung, dass sekundärer Rechtsschutz vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde grundsätzlich nicht eingelegt werden muss. Zitiert wird in diesem Zusammenhang regelmäßig eine Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1966, in der das Verfassungsgericht feststellte, dass der Amtshaftungsprozess kein Rechtsweg i.S.v. § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG sei.1370 Da auch die Entschädigungsklage dem sekundären Rechtsschutz zuzuordnen ist, wird nachfolgend ein vergleichender Blick auf das Verhältnis zwischen der Amtshaftungsklage und der Verfassungsbeschwerde sowie der Entschädigungsklage und der Verfassungsbeschwerde geworfen. aa. Verhältnis zwischen Amtshaftungsklage und Verfassungsbeschwerde In dem 1966 vom BVerfG entschiedenen Verfassungsbeschwerdeverfahren ging es um die Verfassungsmäßigkeit von Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüssen. Das BVerfG führte aus, dass das Rechtsschutzbedürfnis einer Verfassungsbeschwerde nicht deshalb entfalle, weil der Beschwerdeführer bereits eine Amtshaftungsklage erhoben habe.1371 Der Prüfungsmaßstab einer Verfassungsbeschwerde unterscheide sich von dem einer Amtshaftungsklage. Bei dieser sei zu prüfen, ob eine schuldhafte Amtspflichtverletzung vorliege und nicht ob der öffentlichen Gewalt eine Grundrechtsverletzung vorzuwerfen sei.1372 Verneine das zuständige Gericht im Rahmen eines Amtshaftungsprozesses das Vorliegen eines Schadens, prüfe es unter Umständen gar nicht, ob ein verfassungswidriges und damit amtspflichtwidriges Verhalten vorliege.1373 1368 BVerfGE 61, 319 (341 f.); 64, 208 (213); 64, 256 (259 f.); 69, 188 (202); 79, 1 (20); 102, 197 (208). 1369 Wie hier Huerkamp/Wielpütz, JZ 2011, 139 (142); im Ergebnis auch Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 379; BVerfG, Beschl. v. 06.06.2013 – 2 BvQ 26/13, Rn. 4, juris. 1370 BVerfG NJW 1966, 1603 (1604). 1371 BVerfG NJW 1966, 1603 (1604). 1372 BVerfG NJW 1966, 1603 (1604). 1373 BVerfG NJW 1966, 1603 (1604).
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Demnach betreffe der Amtshaftungsprozess einen anderen Streitgegenstand als das Verfassungsbeschwerdeverfahren und gehöre nicht zum Rechtsweg i.S.v. § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG.1374 Im Schrifttum wird der Vorrang der Verfassungsbeschwerde gegenüber der Amtshaftungsklage des Weiteren damit begründet, dass der Grundrechtsschutz in erster Linie den Zweck der Restitution verfolge, während die Amtshaftungsklage lediglich Kompensation gewähre und somit kein effektives Äquivalent darstelle.1375 bb. Verhältnis zwischen Entschädigungsklage und Verfassungsbeschwerde Fraglich ist, ob diese Erwägungen auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen der Entschädigungsklage und der Verfassungsbeschwerde Geltung beanspruchen. (1) Prüfungsumfang Im Gegensatz zum Amtshaftungsanspruch, der das Handlungsunrecht des Amtsträgers in den Blick nimmt, steht beim Entschädigungsanspruch die Frage nach dem Erfolgsunrecht im Fokus, also ob der Staat dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer insgesamt gerecht geworden ist.1376 Diesbezüglich liegt der Entschädigungsklage also derselbe Prüfungsmaßstab wie dem Verfassungsbeschwerdeverfahren zugrunde.1377 Manifestiert wird dieser Prüfungsgleichlauf, indem bei Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer im Rahmen des § 198 Abs. 1 GVG an die vom BVerfG (und EGMR) angewandten Maßstäbe anzuknüpfen ist. Anders als bei der Amtshaftungsklage kann auch die Beurteilung, ob ein Verfassungsverstoß vorliegt, in den wenigsten Fällen unterbleiben, da zugunsten des Anspruchstellers bei Vorliegen einer unangemessenen Verfahrensdauer nach § 198 Abs. 2 S. 1 GVG ein Nichtvermögensnachteil vermutet wird. Somit bleibt festzuhalten, dass bei Vorliegen eines überlangen Gerichtsverfahrens die Entschädigungsklage einen vergleichbaren Prüfungsumfang hat wie die Verfassungsbeschwerde. Dieser rechtfertigt es, die Entschädigungsklage gegenüber der Verfassungsbeschwerde vorrangig erheben zu müssen.
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Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 750 (Fn. 21); vgl. BVerfG NJW 1966, 1603 (1604). 1375 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 90 BVerfGG, Rn. 394. 1376 Nachweise siehe im 3. Kap. in Fn. 1273. 1377 So auch Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 382.
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(2) Zielrichtung der Rechtsbehelfe Wie bei der Amtshaftungsklage wird im Schrifttum gegen den Vorrang der Entschädigungsklage gegenüber der Verfassungsbeschwerde vorgebracht, dass die Entschädigungsklage als Instrument des Sekundärrechtsschutzes den Grundrechtsverstoß nicht abstellen könne und daher das Abwarten des Entschädigungsverfahrens aus Subsidiaritätsgründen nicht erforderlich sei.1378 Dieses Argument überzeugt jedoch nur, wenn die Verfassungsbeschwerde und die Entschädigungsklage einen unterschiedlichen Schutzumfang aufweisen. Da sich der Inhalt der Entscheidung des BVerfG danach richtet, ob das zugrunde liegende überlange Gerichtsverfahren zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits abgeschlossen ist oder nicht, ist diesbezüglich zu differenzieren. (a) Abgeschlossenes Gerichtsverfahren Ist das überlange Gerichtsverfahren zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG über die Untätigkeitsverfassungsbeschwerde bereits rechtskräftig abgeschlossen, beschränkt sich der Entscheidungsinhalt bei einer zulässigen1379 und begründeten Verfassungsbeschwerde auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit. Nur insofern kann der Grundrechtsverstoß überhaupt „abgestellt“ werden, da die Verletzung dieses Grundrechtes irreversibel ist1380 und eine Restitution ausscheidet. Demgegenüber hat das Entschädigungsgericht bei Vorliegen einer überlangen Verfahrensdauer die Möglichkeit, sowohl die Überlänge der Verfahrensdauer festzustellen als auch dem Betroffenen eine finanzielle Kompensation für den Grundrechtsverstoß zuzusprechen. Somit geht die Entscheidungskompetenz des Entschädigungsgerichtes weiter als die des BVerfG. Unter Berücksichtigung des zwischen Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit bestehenden Kompetenzgefüges, nach dem die Gewährung von Grundrechtsschutz primär Aufgabe der Fachgerichte ist1381, spricht diese Tatsache bei abgeschlossenen Gerichtsverfahren für den Vorrang der Entschädigungsklage gegenüber der Verfassungsbeschwerde. (b) Anhängiges Gerichtsverfahren Mit der Untätigkeitsverfassungsbeschwerde, die während des laufenden Gerichtsverfahrens erhoben wird, werden vom Beschwerdeführer zwei Ziele verfolgt. Neben der Feststellung des Verfassungsverstoßes soll (insbesondere) 1378 Huerkamp/Wielpütz, JZ 2011, 139 (142); Bäcker, in: Grundrechte und Grundfreiheiten 2012, S. 339 (349, 361); wohl auch Heilmann, in: MüKo-FamFG, § 155 FamFG, Rn. 81. 1379 Entfällt durch Zeitablauf die der Verfassungsbeschwerde zugrunde liegende Beschwer, wird das Rechtsschutzbedürfnis für die Verfassungsbeschwerde nur unter besonderen Umständen bejaht. 1380 Siehe auch Bäcker, in: Grundrechte und Grundfreiheiten 2012, S. 339 (359). 1381 BVerfGE 68, 376 (380); 74, 69 (74 f.); 96, 27 (40); 104, 65 (73); 107, 395 (414).
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auch die Beschleunigung des fachgerichtlichen Verfahrens erreicht werden1382 und damit die Grundrechtsverletzung für die Zukunft beendet werden. Bezüglich der ersten Zielrichtung, der Feststellung des Verfassungsverstoßes, kann die obige Argumentation fruchtbar gemacht werden: Die Verletzung des Rechts auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Zeit kann nicht rückgängig gemacht werden. Eine Rechtmäßigkeitsrestitution in dem Sinne, dass die Grundrechtsverletzung beseitigt oder verhindert wird, ist somit von vornherein ausgeschlossen. Hinsichtlich dieses Teilaspektes ist die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde also zu bejahen. Die Erhebung der Verfassungsbeschwerde soll aber auch dazu führen, dass der (fortdauernden) Grundrechtsverletzung zumindest für die Zukunft durch die Beschleunigung des fachgerichtlichen Verfahrens abgeholfen wird. Wenngleich eine verbindliche Beschleunigungswirkung von der Verfassungsbeschwerde nicht ausgeht1383, bietet sie dennoch Aussicht auf Verfahrensbeschleunigung und Beendigung des Grundrechtsverstoßes. Denn teilweise erteilt das BVerfG diesbezüglich konkrete Hinweise an das den Rechtsstreit bearbeitende Gericht. Zwar kann die Entschädigungsklage auch während des laufenden Ausgangsverfahrens erhoben werden. Das Entschädigungsgericht verfügt aber nicht über die Kompetenz, das Ausgangsgericht nach Feststellung der verfassungswidrigen Überlänge aufzufordern, das streitgegenständliche Gerichtsverfahren zügig zu betreiben. Eine solche Aufforderung würde dem Rechtsschutz einer Untätigkeitsbeschwerde nahekommen, gegen deren Einführung sich der Gesetzgeber aber entschieden hat.1384 Hat die Verfassungsbeschwerde somit eine höhere Beschleunigungswirkung als die Entschädigungsklage, die es rechtfertigt, dass die Entschädigungsklage vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde nicht erhoben werden muss?1385 Die Beantwortung dieser Frage kann jedoch offenbleiben, wenn man sich genauer den Regelungs- und Schutzmechanismus der §§ 198 ff. GVG anschaut: Nicht die Entschädigungsklage soll nach dem Regelungskonstrukt die Funktion der Verfahrensbeschleunigung übernehmen, sondern die Verzögerungsrüge.1386 Damit ist zu prüfen, ob die mehrmalige Erhebung der Verzöge-
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So bspw. ausdrücklich BVerfG, Beschl. v. 24.08.2010 – 1 BvR 331/10, Rn. 16, juris; Schlette, Angemessene Frist, S. 56; Huerkamp/Wielpütz, JZ 2011, 139 (140). 1383 Siehe oben S. 69 ff. 1384 Huerkamp/Huerkamp, Anm. z. BVerfG, Beschl. v. 13.08.2012 – 1 BvR 1098/11, JZ 2013, 146 (148). 1385 Bejahend Huerkamp/Wielpütz, JZ 2011, 139 (140); Huerkamp/Huerkamp, Anm. z. BVerfG, Beschl. v. 13.08.2012 – 1 BvR 1098/11, JZ 2013, 146 (147). 1386 Wenig überzeugend ist in diesem Zusammenhang die Aussage der Bundesregierung im Regierungsentwurf des ÜGRG, dass eine Entschädigungsklage präventive Wirkung entfalte, siehe BT-Drs. 17/3802, S. 41. Siehe hierzu bereits S. 273 f.
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rungsrüge gleichsam wie die Erhebung der Verfassungsbeschwerde dazu führen kann, dass die fortdauernde Grundrechtsverletzung zumindest für die Zukunft abgestellt wird. (aa) Mehrmalige Erhebung der Verzögerungsrüge Bereits oben wurde festgestellt, dass die erstmalige Erhebung einer Verzögerungsrüge aus Subsidiaritätsgründen geboten ist. Sie kann zu einer Verfahrensbeschleunigung führen und ist daher ein geeignetes Mittel, um eine Verfassungsverletzung zu verhindern. Der Untätigkeitsverfassungsbeschwerde liegt jedoch eine andere Situation zugrunde: Der Beschwerdeführer macht die Verletzung des Verfahrensgrundrechts geltend und verfolgt das Ziel, die Beendigung der Verzögerung des Verfahrens zu erreichen. Es geht ihm also nicht darum, dass eine Verfassungsverletzung verhindert wird, sondern dass diese nicht noch weiter vertieft wird. Doch auch in diesem Fall kann die Verzögerungsrüge Abhilfe schaffen. Denn gem. § 198 Abs. 3 S. 2, Halbs. 2 GVG und § 198 Abs. 3 S. 5 GVG ist die Erhebung der Verzögerungsrüge mehrmals möglich. Die Verzögerungsrüge kann also auch dann erhoben werden, wenn eine verfassungswidrige Verzögerung im Verfahren bereits eingetreten ist und weitere Verzögerungen verhindert werden sollen. Somit kann mit der mehrmaligen Erhebung der Verzögerungsrüge die Beendigung der Grundrechtsverletzung für die Zukunft ebenso erreicht werden wie mit der Erhebung der Untätigkeitsverfassungsbeschwerde. Beide Rechtsschutzinstrumente entfalten gerade keine verbindliche Beschleunigungswirkung. (bb) Zwischenergebnis Aus dem Vorstehenden sind folgende Konsequenzen zu ziehen: Die Untätigkeitsverfassungsbeschwerde kann der Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer während des laufenden Ausgangsverfahrens nur insoweit abhelfen, als dass die Verfassungswidrigkeit der Verfahrensdauer festgestellt und der Verfahrensfortgang möglicherweise beschleunigt wird. Diese beiden Ziele verfolgen im Zusammenspiel auch die Entschädigungsklage und die Verzögerungsrüge. Somit weist die Untätigkeitsverfassungsbeschwerde auch bei laufenden Ausgangsverfahren einen vergleichbaren Schutzumfang wie die Entschädigungsklage und die Verzögerungsrüge auf. (3) Ergebnis Für den Ausgangspunkt der Fragestellung bedeutet dieses Ergebnis, dass die Entschädigungsklage und die Verfassungsbeschwerde sowohl hinsichtlich ihres Prüfungsumfanges als auch ihrer Zielrichtung vergleichbar sind. Anders als
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
bei der Amtshaftungsklage ist somit der Vorrang der Entschädigungsklage gegenüber der Verfassungsbeschwerde gerechtfertigt. Diese Auffassung bestätigen auch Judikate des BVerfG. Das Verfassungsgericht verneinte in mehreren Fällen die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden, weil der Beschwerdeführer es unterlassen hatte, eine Entschädigungsklage nach Inkrafttreten des ÜGRG zu erheben. Diametral waren jedoch die Begründungen, die teils auf die mangelnde Rechtswegerschöpfung1387, teils auf Subsidiaritätsgründe abstellten1388. Nach den hiesigen Ausführungen sprechen die besseren Argumente dafür, die Entschädigungsverfahren zum Rechtsweg i.S.v. § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG zu zählen.1389 Sie bieten eine gesetzlich normierte Möglichkeit, die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer überprüfen zu lassen. Insofern ist das Ende des Entschädigungsverfahrens nach den §§ 198 ff. GVG abzuwarten, bevor eine Verfassungsbeschwerde von dem Betroffenen in zulässiger Weise erhoben werden kann. 5. Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG a. Einführender Vergleich Es ist bereits verschiedentlich angeklungen, dass sich der Amtshaftungs- und der Entschädigungsanspruch voneinander unterscheiden. Die Verschiedenartigkeit beider Ansprüche lässt sich insbesondere darauf zurückführen, dass der Entschädigungsanspruch an Erfolgsunrecht, die Amtshaftung an Handlungsunrecht anknüpft.1390 Insofern verzichtet § 198 GVG im Gegensatz zum Amtshaftungsanspruch gänzlich auf ein Verschuldenserfordernis. Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens hat sich daher die Ansicht durchgesetzt, den Ersatz eingetretener Nachteile auf Rechtsfolgenseite auf eine angemessene Entschädigung zu beschränken.1391 Im Rahmen von § 839 BGB kann dagegen ein vollständiger finanzieller Ausgleich für materielle Schäden nach den §§ 249 ff. BGB verlangt werden, der insbesondere auch den Ersatz für entgangenen Gewinn umfasst, § 252 BGB. Während der Betroffene nach § 839 BGB aber nur Ersatz für solche immateriellen Schäden verlangen kann, die unter den Anwendungsbereich des § 253 Abs. 2 BGB fallen, geht der Entschädigungsanspruch aus § 198 GVG in Bezug auf Nichtvermögensschäden weiter. Für die 1387
BVerfG, Beschl. v. 30.05.2012 – 1 BvR 2292/11, Rn. 8 ff., juris. BVerfG, Beschl. v. 20.06.2012 – 2 BvR 1565/11, Rn. 11, juris; BVerfG NVwZ 2014, 62 (63); BVerfG, Beschl. v. 16.10.2014 – 2 BvR 437/12, Rn. 11, 15, juris; offen gelassen in BVerfG, Beschl. v. 28.01.2013 – 2 BvR 1912/12, Rn. 4, juris. 1389 A.A. Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 379: Entschädigungsklage ist kein Teil des Ausgangsverfahrens und somit nicht zum Rechtsweg i.S.v. § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG zu zählen. 1390 Breuer, Staatshaftung, S. 329 ff. 1391 BT-Drs. 17/3802, S. 34; BT-Drs. 17/7217, S. 3. 1388
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klageweise Geltendmachung des Entschädigungsanspruches gilt die mit sechs Monaten relativ kurz bemessene Ausschlussfrist des § 198 Abs. 5 S. 2 GVG, für den Amtshaftungsanspruch gilt die dreijährige Verjährungsfrist der §§ 195, 199 BGB. b. Das Konkurrenzverhältnis zwischen Entschädigungs- und Amtshaftungsanspruch Der Entschädigungsanspruch nach § 198 GVG sowie der Amtshaftungsanspruch sind Institute des Staatshaftungsrechtes, die bei Verstoß des Effektivitätsgebotes Abhilfe kompensatorischer Natur schaffen. Ein Fall der Gesetzesspezialität liegt aber nicht vor.1392 Denn § 198 GVG ist der unmittelbaren Staatshaftung zuzuordnen, während die Amtshaftung originär eine persönliche Haftung des handelnden Amtsträgers ist, die lediglich nach Art. 34 GG auf den Staat übergeleitet wird (sog. mittelbare Staatshaftung)1393. Somit lässt die Einführung des § 198 Abs. 1 GVG den Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG grundsätzlich unberührt. Sie stehen in Anspruchskonkurrenz zueinander1394 und sind rechtlich selbstständig1395. Insofern findet § 198 Abs. 5 S. 3 GVG auch keine Anwendung auf den Amtshaftungsanspruch. Er ist also auch vor der rechtskräftigen Entscheidung des Entschädigungs- bzw. des Amtshaftungsgerichtes übertragbar.1396 Da § 839 BGB und § 198 GVG auf ein ähnliches Leistungsinteresse gerichtet sind, ist eine bereits erhaltene Entschädigung im Wege der Vorteilsausgleichung in Abzug zu bringen, um eine Überkompensation zu vermeiden1397. Fraglich ist, ob die Erhebung einer Amtshaftungsklage wegen überlanger Verfahrensdauer den Lauf der Ausschlussfrist des § 198 Abs. 5 S. 2 GVG gem. § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB i.V.m. § 213 BGB in entsprechender Anwendung
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Im Ergebnis auch Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 97. Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 12. 1394 BT-Drs. 17/3802, S. 19. Ganz h.M.: Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 268; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (5); Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 (1905); Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 97; Heine, MDR 2012, 327 (331); Schlick, in: FS Tolksdorf 2014, S. 549 (556); BGH, Beschl. v. 27.02.2014 – III ZR 253/13, Rn. 4, juris. 1395 Bachmann, in: MüKo-BGB, § 241 BGB, Rn. 42. 1396 Zur Abtretbarkeit von in Anspruchskonkurrenz stehenden Ansprüchen siehe BGH NJW 1999, 715 (716); Rohe, in: BeckOK-BGB, § 398 BGB, Rn. 43; Dietz, Anspruchskonkurrenz, S. 140. 1397 BT-Drs. 17/3802, S. 19; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 269; Guckelberger, DÖV 2012, 289 (297); Wöstmann, in: Staudinger BGB, § 839 BGB, Rn. 36b. 1393
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hemmt.1398 Zwar liegen bei einer Amtshaftungs- und einer Entschädigungsklage unterschiedliche Streitgegenstände vor. Dennoch ist anerkannt, dass die Hemmung der Verjährung durch Klageerhebung auch streitgegenstandsfremde Ansprüche erfasst, solange diese auf das gleiche Interesse gerichtet sind1399. Da es bei dem Entschädigungs- und dem Amtshaftungsanspruch um den Ersatz solcher Nachteile bzw. Schäden geht, die auf einem Verstoß gegen das Effektivitätsgebot beruhen, ist die Anwendung des § 213 BGB sachgerecht. Somit wird die Ausschlussfrist des § 198 Abs. 5 S. 2 GVG durch die Erhebung einer Amtshaftungsklage in entsprechender Anwendung gehemmt.1400 Dies gilt vice versa für die Verjährungsfrist des Amtshaftungsanspruches bei vorheriger Erhebung der Entschädigungsklage.1401 c. Prüfungsumfang und Prüfungsmaßstab Im Hinblick auf die richterliche Verfahrensführung wurde bereits im Rahmen der Angemessenheitsprüfung bei § 198 GVG erörtert, inwieweit der Prüfungsumfang und der Prüfungsmaßstab des Amtshaftungs- und des Entschädigungsanspruches kongruent sind. Da es in beiden Fällen um dasselbe verfassungsrechtliche Spannungsverhältnis geht, rechtfertigen die zwischen den beiden Ansprüchen bestehenden einfach-rechtlichen dogmatischen Unterschiede keinen divergierenden Prüfungsmaßstab bei der Angemessenheitsprüfung.1402 Aus Art. 97 GG lässt sich nach hier vertretener Auffassung kein eingeschränkter Prüfungsmaßstab herleiten. Soweit also nach der vom BGH befürworteten Vertretbarkeitskontrolle strengere Maßstäbe als bei der Angemessenheitsprüfung des EGMR und des BVerfG gelten sollten, sind diese als verfassungs- und konventionswidrig abzulehnen. Kein Gleichlauf besteht zwischen beiden Ansprüchen aber hinsichtlich des Prüfungsumfanges. Im Gegensatz zum Entschädigungsgericht hat das für die Amtshaftungsklage zuständige Gericht zu prüfen, ob dem verantwortlichen Amtsträger ein Schuldvorwurf hinsichtlich einer Verfahrensverzögerung gemacht werden kann. Demgegenüber können Verzögerungen, die auf urteilsdienenden Maßnahmen beruhen, bei § 839 BGB nur in den engen Grenzen des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB zum Anknüpfungspunkt der Haftung gemacht werden, 1398 Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (6); Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 198 GVG, Rn. 261; a.A. Schlick, in: FS Tolksdorf 2014, S. 549 (559), der hierfür kein Bedürfnis sieht. 1399 BT-Drs. 14/6040, S. 121. 1400 Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (6). Ausführlich hierzu Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 324 ff. A.A. Zimmermann, in: MüKo-ZPO, § 198 GVG, Rn. 11. 1401 Schlick, in: FS Tolksdorf 2014, S. 549 (559 f.) überträgt auf diesen Fall die vom BGH aufgestellten Grundsätze zur verjährungshemmenden Inanspruchnahme von fachgerichtlichem Primärrechtsschutz. 1402 Siehe hierzu ausführlich S. 172 ff.
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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während bei § 198 GVG diesbezüglich zumindest eine Willkürkontrolle erfolgt. d. Subsidiaritätsklausel gem. § 839 Abs. 1 S. 2 BGB Fällt dem amtspflichtwidrig handelnden Beamten nur Fahrlässigkeit zur Last, kann dieser nur dann in Anspruch genommen werden, wenn für den Verletzten keine anderweitige Ersatzmöglichkeit besteht, § 839 Abs. 1 S. 2 BGB. Der Sinn und Zweck der vor dem Hintergrund der Haftungsüberleitung nach Art. 34 GG umstrittenen Subsidiaritätsklausel wird von der Rechtsprechung in der finanziellen Entlastung des Staates gesehen.1403 Daher greift die Subsidiaritätsklausel nicht, wenn zwar anderweitige Ersatzmöglichkeiten bestehen, diese sich aber gegen (andere) Körperschaften des öffentlichen Rechts richten. Eine finanzielle Entlastung ist in diesen Fällen nicht zu erreichen.1404 Infolgedessen ist die Geltendmachung des Entschädigungsanspruches, die sich gem. § 200 GVG entweder gegen das Land oder gegen den Bund richtet, nicht subsidiär zur Amtshaftung i.S.v. § 839 Abs. 1 S. 2 BGB.1405 e. Vorrangiger Primärrechtsschutz gem. § 839 Abs. 3 BGB Wie bereits erörtert, wird der Rechtsmittelbegriff des § 839 Abs. 3 BGB extensiv ausgelegt: Zu erheben sind alle Rechtsbehelfe, die sich unmittelbar gegen das amtspflichtwidrige Handeln oder Unterlassen richten und die zur Abwendung des Schadens geeignet sind bzw. die Beseitigung oder Berichtigung desselben zum Ziel haben.1406 Die Verzögerungsrüge ist kein Rechtsbehelf, sodass nach obiger Definition zweifelhaft ist, ob sie gegenüber dem Amtshaftungsanspruch vorrangig zu erheben ist. Doch trotz fehlender Rechtsbehelfsqualität hat die Verzögerungsrüge als Instrument der Schadensabwehr ihre Daseinsberechtigung. Ihr kann eine präventive Wirkung nicht gänzlich abgesprochen werden, sodass sie den Eintritt einer unangemessenen Verfahrensdauer verhindern kann. Anders als beispielsweise die Dienstaufsichtsbeschwerde richtet sie sich explizit gegen die Länge des Verfahrens und bezweckt dessen Beschleunigung. Unter Berücksichtigung der ratio legis des § 839 Abs. 3 BGB kann die Verzögerungsrüge somit unter den weiten Rechtsmittelbegriff des § 839 Abs. 3 BGB subsumiert werden. Sie ist also gegenüber dem Amtshaftungsanspruch vorrangig.1407 1403
BGHZ 13, 88 (104); 49, 267 (275); krit. Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 82; Papier, in: MüKo-BGB, § 839 BGB, Rn. 302 f. 1404 BGHZ 13, 88 (104 f.); 49, 267 (275). 1405 So auch Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 387; Schlick, in: FS Tolksdorf 2014, S. 549 (557). 1406 Nachweise siehe 3. Kap. in Fn. 274. 1407 Wie hier Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 388; Guckelberger, DÖV 2012, 289 (297); Schlick, in: FS Tolksdorf 2014, S. 549
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Anders fällt die Beurteilung bezüglich der Entschädigungsklage nach §§ 198 ff. GVG aus. Erhebt der Betroffene statt einer Entschädigungsklage zunächst eine Amtshaftungsklage, kommt § 839 Abs. 3 BGB nicht zum Tragen. Denn die Entschädigungsklage ist auf die Kompensation der Nachteile gerichtet, die durch den Verstoß gegen das Effektivitätsgebot eingetreten sind. Sie ist also weder zur Abwendung noch zur Beseitigung des Schadens geeignet. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 198 Abs. 5 S. 1 GVG.1408 Denn zum einen ist die Erhebung der Amtshaftungsklage theoretisch ebenfalls während des noch laufenden Ausgangsprozesses möglich.1409 Zum anderen heißt es in der Gesetzesbegründung, dass die Einführung des § 198 Abs. 1 GVG den Amtshaftungsanspruch grundsätzlich unberührt lässt.1410 f. Prozessuale Ebene Aufgrund der Streitgegenstandsdivergenz der Amtshaftungs- und der Entschädigungsklage kann eine wechselseitige Bindungswirkung der Urteile nicht eintreten.1411 Etwas anderes soll nach Schlick aber aus Gründen der Prozessökonomie gelten.1412 Die klageweise Geltendmachung des Entschädigungsanspruches erfolge aufgrund der Ausschlussfrist des § 198 Abs. 5 S. 1 GVG regelmäßig vor Erhebung der Amtshaftungsklage. Dieser Umstand sei mit der Situation vergleichbar, die dem § 839 Abs. 3 BGB zugrunde liege – der Primärprozess gehe dem Sekundärprozess vor. Daher erscheine es gerechtfertigt, die ständige Rechtsprechung des BGH fruchtbar zu machen, nach der die Zivilgerichte bei Amtshaftungsverfahren an die in Primärprozessen ergangenen rechtskräftigen Entscheidungen gebunden seien. Zudem würden die für die Entschädigungsklagen berufenen Gerichte über größere Sachkenntnis und praktische Erfahrung bei der Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer verfügen. Im Falle der Klageabweisung einer Entschädigungsklage erledige sich somit eine Amtshaftungsklage. Bejahe das Entschädigungsgericht dagegen eine überlange Verfahrensdauer, sei das Landgericht an diese Feststellung gebunden. Der verklagten Anstellungskörperschaft bleibe es aber unbenommen, geltend zu machen, dass weder ein Verschulden des zuständigen Spruchkörpers (557); Greger, AnwBl 2015, 536 (540). Dagegen wohl Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 99; ebenfalls kritisch Ohrloff, Rechtsschutz, S. 120. 1408 Ebenso Schlick, in: FS Tolksdorf 2014, S. 549 (557). A.A. Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 1, Rn. 388; wohl auch Geipel, ZAP Fach 13, 2012, 1767 (1773). 1409 Hierauf abstellend Schlick, in: FS Tolksdorf 2014, S. 549 (557). 1410 BT-Drs. 17/3802, S. 19. 1411 Siehe Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (6), die dies als missliche Folge der Streitgegenstandsdivergenz ansehen. Im Ergebnis auch Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz, Teil 2, A. § 201 GVG, Rn. 9. 1412 Hierzu und im Folgenden Schlick, in: FS Tolksdorf 2014, S. 549 (560 f.). Ausdrücklich dagegen Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 (6).
D. Rechtsschutzmöglichkeiten seit Inkrafttreten des ÜGRG
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vorliege noch eine Zurechnung über ein Organisationsverschulden erfolgen könne.1413 Eine wechselseitige Bindungswirkung der jeweiligen Entscheidungen würde jedoch den vom Gesetzgeber getroffenen Entschluss, einen ausschließlichen Gerichtsstand für das Entschädigungsverfahren zu bestimmen, der eine gemeinsame Verhandlung über beide Ansprüche nicht möglich macht, missachten. Darüber hinaus kann eine Parallele zu § 839 Abs. 3 BGB nicht überzeugen, da der Amtshaftungs- und der Entschädigungsanspruch beide dem Sekundärrechtsschutz zuzuordnen sind und nicht in einem Vorrangverhältnis zueinander stehen. Demnach ist die Auffassung Schlicks bezüglich einer wechselseitigen Bindungswirkung der gerichtlichen Entscheidungen abzulehnen. g. Bewertung Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Geltendmachung des Entschädigungsanspruches nach § 198 GVG für den Betroffenen vorteilhafter ist. So bedingt der § 839 BGB aufgrund seiner komplexeren Tatbestandsstruktur einen höheren Begründungsaufwand als der § 198 GVG.1414 Außerdem ist der Schutzumfang des Entschädigungsanspruches bei Ersatz immaterieller Nachteile, die gerade bei der Überlänge der Verfahrensdauer eine bedeutsame Rolle spielen, weiter. Vor allem besteht im Rahmen des Amtshaftungstatbestandes die Unsicherheit, ob eine drittschützende Amtspflicht verletzt wurde.1415 Inwieweit die Amtshaftungsklage neben der Entschädigungsklage insbesondere im Hinblick auf den vollständigen Ausgleich von materiellen Schäden von Bedeutung sein wird, bleibt abzuwarten. Der Evaluierungsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2014 kommt zu dem Ergebnis, dass die Kompensation von materiellen Schäden bei der Überlänge der Verfahrensdauer bisher nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat.1416 Aus diesem Grund liegt die Vermutung nahe, dass auf die Amtshaftungsklage als sekundärer Rechtsbehelf im Bereich von überlangen Gerichtsverfahren nur noch selten zurückgegriffen wird. 6. Zusammenfassung Die Neujustierung des Rechtsschutzes bei überlangen Gerichtsverfahren durch das ÜGRG ist für die bisherigen Rechtsschutzinstrumente nicht folgenlos geblieben. 1413 In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass Entschädigungsklagen anders als Amtshaftungsklagen keine präjudizielle Wirkung haben, wenn Bund oder Länder die den Rechtsstreit bearbeitende Richter in Regress nehmen wollen, Wehrhahn, SGb 2013, 61 (61). 1414 Siehe Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz, § 198 GVG, Rn. 98. 1415 Siehe hierzu eindrücklich Ossenbühl, Anm. z. BGH, Urt. v. 11.01.2007, JZ 2007, 690 (690 f.). 1416 Siehe S. 297 ff.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Vor Inkrafttreten des ÜGRG stand dem Verfahrensbeteiligten in der Zivilgerichtsbarkeit präventiver Rechtsschutz in Form der gesetzlich nicht normierten Untätigkeitsbeschwerde zur Verfügung. Diese ist neben der Verzögerungsrüge nun nicht mehr statthaft, da der Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren durch das ÜGRG abschließend geregelt wird und sich der Gesetzgeber ausdrücklich gegen die Einführung einer Untätigkeitsbeschwerde entschieden hat. Da weder der Befangenheitsantrag noch die Dienstaufsichtsbeschwerde primär darauf gerichtet sind, Rechtsschutz bei (drohender) Überlänge zu gewähren, können diese auch weiterhin bei verzögerter Verfahrensführung erhoben werden. Sie werden insoweit nicht von der Verzögerungsrüge als präventivem Rechtsschutzinstrument verdrängt. Im Hinblick auf die Verfassungsbeschwerde erfordert der Grundsatz der Subsidiarität nach Inkrafttreten des ÜGRG nicht nur die einmalige, sondern auch die mehrmalige Erhebung der Verzögerungsrüge. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass die Verzögerungsrüge als präventives Rechtsschutzinstrument sowohl den Verfassungsverstoß verhindert als auch die fortdauernde Verletzung des Verfahrensrechtes abstellt. Bezüglich der Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer ist das gerichtliche Entschädigungsverfahren als Rechtsweg i.S.v. § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG zu qualifizieren, sodass der betroffene Verfahrensbeteiligte dieses einleiten und dessen Ende abwarten muss, bevor er das BVerfG zulässigerweise anrufen kann. Der Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 GVG ist wie der Amtshaftungsanspruch aus § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG kompensatorischer Natur. Beide Ansprüche stehen in Anspruchskonkurrenz zueinander, wobei die Subsidiaritätsklausel gem. § 839 Abs. 1 S. 2 BGB nicht zur Anwendung kommt. Während im Hinblick auf die Angemessenheitsprüfung die Prüfungsmaßstäbe kongruent sind, unterscheidet sich der jeweilige Prüfungsumfang beider Ansprüche. Allein die Verzögerungsrüge ist als präventives Rechtsschutzinstrument dem Amtshaftungsanspruch gegenüber vorrangig. Eine gemeinsame Verhandlung über den Amtshaftungs- und den Entschädigungsanspruch kann nicht stattfinden. Aufgrund der verschiedenen Streitgegenstände tritt auch eine wechselseitige Bindungswirkung der jeweiligen gerichtlichen Entscheidungen nicht ein.
E. Bewertung des Rechtsschutzsystems E. Bewertung des Rechtsschutzsystems
Im Abschnitt D. wurden die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten gegen überlange Gerichtsverfahren seit Inkrafttreten des ÜGRG am 03. Dezember 2011 beleuchtet. Vor diesem Zeitpunkt konnte sich ein Verfahrensbeteiligter mit den existierenden Rechtsschutzinstrumenten nicht effektiv gegen die (drohende) Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer wehren.
E. Bewertung des Rechtsschutzsystems
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Diesbezüglich bestand eine Rechtsschutzlücke, die sowohl gegen verfassungsals auch konventionsrechtliche Vorgaben verstieß und die der Gesetzgeber mit dem ÜGRG zu schließen versuchte. Statt die bestehenden Rechtsschutzinstrumente diesen Anforderungen anzupassen, wurden in den §§ 198 ff. GVG völlig neue Rechtsschutzinstrumente geschaffen. Nach der Grundkonzeption des Gesetzes ist die Verzögerungsrüge dem Primärrechtsschutz zuzuordnen. Mit dieser rügt der Verfahrensbeteiligte bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Rechtsstreits, welches hierauf mit verfahrensbeschleunigenden Maßnahmen reagieren kann. Wird durch die Erhebung einer Verzögerungsrüge der Eintritt einer überlangen Verfahrensdauer nicht verhindert, kann der Verfahrensbeteiligte Sekundärrechtsschutz in Anspruch nehmen und vom Staat eine angemessene Entschädigung für die Nachteile verlangen, die ihm durch die unangemessene Länge des Gerichtsverfahrens entstanden sind, § 198 GVG. Zusammenfassend wird das nun geltende Rechtsschutzsystem in einer Gesamtschau unter Einbeziehung aller de lege lata zur Verfügung stehenden Rechtsschutzinstrumente evaluiert. In diesem Gesamtkontext wird zunächst auf den von der Bundesregierung erstellten Erfahrungsbericht über die Anwendung des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren aus dem Jahr 2014 eingegangen, der Einblicke in die gerichtliche Entschädigungspraxis gewährt. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse werden sodann bei der abschließenden Effektivitätsbewertung der Vorschriften miteinbezogen. I. Erfahrungsbericht 1. Einleitung Gemeinsam mit der Verabschiedung des ÜGRG wurde die Durchführung einer Evaluierung des Gesetzes zwei Jahre nach dessen Inkrafttreten beschlossen. Es sollte insbesondere geprüft werden, inwieweit der Entschädigungsumfang und der vom Entschädigungskläger zu erbringende Kausalitätsnachweis für materielle Nachteile dem Haftungsgrund und den Belangen der Betroffenen angemessen Rechnung tragen.1417 Der Deutsche Bundestag wurde von der Bundesregierung am 17. Oktober 2014 über die Ergebnisse der Evaluation unterrichtet (BT-Drs. 18/2950), für welche die Anwendung des Gesetzes in den jeweiligen Gerichtsbarkeiten für einen Zeitraum von zwei Jahren (03. Dezember 2011 bis 31. Dezember 2013) untersucht wurde. Die Bundesregierung weist in ihrem Bericht explizit darauf hin, dass die dargestellten Zahlen keine (statistische) Vollständigkeit beanspruchen.1418 Bei der Erhebung der Zahlen war sie auf Länderebene auf die von den zuständigen 1417 1418
BT-Drs. 17/7217, S. 3 f. BT-Drs. 18/2950, S. 10 (Fn. 1).
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Landesverwaltungen ausgefüllten Fragebögen angewiesen. Hierbei kam es zu Ungenauigkeiten, die Lücken in der Datenerfassung zur Folge hatten.1419 Nicht feststellbar ist dabei, ob die Fragebögen selbst hinsichtlich einzelner Fragen ungenau waren oder aber fehlerhaft bzw. unsorgfältig ausgefüllt wurden. Aus diesem Grund ändern sich mehrmals die Bezugsgrößen der Daten, was eine valide Auswertung erschwert. Die Aussagekraft des Evaluierungsberichts ist daher limitiert.1420 Im Folgenden werden die wesentlichen Erkenntnisse der Evaluation vorgestellt, wobei auch hier schwerpunktmäßig der Blick auf die Ergebnisse bezüglich der ordentlichen Gerichtsbarkeit gerichtet wird. 2. Inhalt und Grenzen der Evaluierung Einleitend heißt es in dem Bericht, dass das ÜGRG zwei Zielrichtungen verfolge: Einerseits sollen Gerichtsverfahren sowohl im Einzelfall als auch generell beschleunigt werden, andererseits sollen Betroffene für materielle und immaterielle Nachteile, die durch die Überlänge des Verfahrens entstanden sind, entschädigt werden.1421 Eine Untersuchung im Hinblick auf die präventive Wirkung des Gesetzes wird jedoch nicht vorgenommen. Zur Begründung führt die Bundesregierung an, dass eine etwaige Beschleunigungswirkung im Einzelfall durch die Evaluierung nicht festgestellt werden könne, da ermittelt werden müsste, welchen Verlauf ein Verfahren ohne die Erhebung der Verzögerungsrüge als neues Rechtsschutzinstrument genommen hätte. Ebenso könne mangels belastbarer Zahlen keine Aussage für die generell-präventive Ausrichtung des Gesetzes getroffen werden. Hierfür könne zwar der Vergleich zwischen der durchschnittlichen Verfahrensdauer vor und nach Inkrafttreten des Gesetzes ein Indikator sein. Es sei aber erforderlich, die Entwicklung der Verfahrensdauer über mehrere Jahre zu beobachten, um die Beschleunigungswirkung des Gesetzes valide beurteilen zu können. Diesbezüglich biete das vorhandene Zahlenmaterial keine ausreichende Grundlage. Die Evaluierung habe daher zum Ziel, „für die zurückliegende zweijährige Geltungsdauer des Gesetzes Zahlen- und Sachangaben zu Fällen, Verfahrenskonstellationen und -ergebnissen sowie Entschädigungssummen bei den Gerichten des Bundes und der Länder zu ermitteln.“1422
1419 1420
Siehe Fn. 4, 6, 11 des Evaluationsberichtes BT-Drs. 18/2950. Im Ergebnis auch Stotz, NZS 2015, 410 (411) für den Bereich der Sozialgerichtsbar-
keit. 1421 1422
Hierzu und nachfolgend siehe BT-Drs. 18/2950, S. 8. BT-Drs. 18/2950, S. 8.
299
E. Bewertung des Rechtsschutzsystems
3. Ergebnisse für die Zivilgerichtsbarkeit Für die Zivilgerichtsbarkeit lässt sich die Anzahl der erhobenen Verzögerungsrügen, Entschädigungsklagen und Prozesskostenhilfeanträge in folgender Tabelle zusammenfassen. Übersicht: Anzahl der Verzögerungsrügen, Entschädigungsklagen und Prozesskostenhilfeanträge in der Zivilgerichtsbarkeit Verzögerungsrügen Wiederholte Verzögerungsrügen Entschädigungsklagen Unerledigt bis zum 31.12.2013 Prozesskostenhilfeanträge
Landesgerichte
BGH
1.361 (3.958)1423
21424
41 124 (398)
0
45 (310) 77
Abgelehnt
68
(Teilweise) stattgegeben
9
Keine Angabe
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf dem Datenmaterial des Evaluationsberichtes der Bundesregierung BT-Drs. 18/2950, S. 10 ff.
Die Ergebnisse beanspruchen keine statistische Vollständigkeit.1425 So erfassten in dem Berichtszeitraum vier Bundesländer keine Erhebung von Verzögerungsrügen. Die von Niedersachsen übermittelten Zahlen wurden bei der Bewertung des Gesetzes durch die Bundesregierung weitestgehend außer Betracht gelassen, da diese nicht repräsentativ seien.1426 In nur drei Ländern wurden wiederholte Verzögerungsrügen statistisch erfasst.1427 Ein genauerer Blick ist auf die Auswertung der Entschädigungsklageverfahren zu werfen. Von 124 im Berichtszeitraum erhobenen Entschädigungsklagen richteten sich 89 ausschließlich auf den Ersatz von immateriellen Nachteilen. In 29 Fällen begehrte der Entschädigungskläger sowohl materielle als auch immaterielle Nachteile; fünfmal verlangte der Betroffene entgangenen Gewinn.
1423
Die Zahl in den Klammern berücksichtigt das Datenmaterial aus Niedersachsen. Unklar ist, ob die Verzögerungsrügen in zivil- und/oder strafrechtlichen Gerichtsverfahren erhoben wurden. 1425 BT-Drs. 18/2950, S. 10 (Fn. 1). 1426 Im Rahmen des sog. SECURENTA-Verfahrens wurden über 12.000 Klagen am Landgericht Göttingen anhängig gemacht (siehe hierzu die Sachverhaltsschilderung auf S. 214 f.). In einer Vielzahl dieser Verfahren wurden Verzögerungsrügen und Entschädigungsklagen erhoben. 1427 BT-Drs. 18/2950, S. 10. 1424
300
3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Zehn Leistungs- und zehn Feststellungsurteile ergingen zugunsten der Betroffenen (insgesamt also 20 erfolgreiche Klagen).1428 Die Einschätzung der Entschädigungsgerichte, dass eine unangemessene Verfahrensdauer nicht vorlag, war bei 80,77 % der Fälle Hauptursache für die Erfolglosigkeit der Entschädigungsbegehren.1429 Zugleich scheiterte das Klageverfahren bei 69,23 % der Fälle an einer unwirksamen Verzögerungsrüge.1430 Weitere Angaben, wie beispielsweise die Dauer sowie die Überlänge der erfolgreichen Verfahren, waren nur bei 13 von den 20 erfolgreichen Entschädigungsverfahren ermittelbar, sodass sich die nachfolgenden Zahlen auf diese 13 Verfahren beziehen. Dabei ergingen in zehn Fällen Leistungsurteile, in drei Fällen Feststellungsurteile.1431 Die durchschnittliche Gesamtdauer dieser Gerichtsverfahren betrug 92,38 Monate. Das kürzeste Verfahren dauerte 40 Monate (Kindschaftssache), das längste 195 Monate (Mietsache). In elf dieser Verfahren analysierten die Entschädigungsgerichte die konkrete Dauer der Überlänge, die zwischen 8 und 87 Monaten lag. Die Beklagten wurden in acht Entschädigungsverfahren zur Zahlung der Pauschalentschädigung gem. § 198 Abs. 2 S. 3 GVG verurteilt. Die Länder wurden aus Vergleichen oder Leistungsurteilen ohne Berücksichtigung etwaiger Revisionsverfahren insgesamt zur Zahlung von mind. 54.600 Euro für den Ausgleich immaterieller Nachteile verpflichtet.1432 Entschädigung für materielle Nachteile wurde in keinem Fall gewährt. 4. Bewertung durch die Bundesregierung Die Gesamtbewertung des ÜGRG durch die Bundesregierung fällt überwiegend positiv aus. Die insgesamt niedrige Zahl von erhobenen Verzögerungsrügen und Entschädigungsklagen mache deutlich, dass überlange Gerichtsverfahren rechtswegübergreifend in quantitativer Hinsicht keine größere Rolle spielen würden.1433 Die niedrige Anzahl von wiederholten Verzögerungsrügen zeige, dass nach einer bereits erhobenen Verzögerungsrüge die weitere Verfahrensdauer kaum mehr Anlass für Beanstandungen gebe.1434 Die befürchtete Klagewelle nach Inkrafttreten des ÜGRG sei ausgeblieben.1435 Lediglich 9,11 % der Verzögerungsrügen seien in der Zivilgerichtsbarkeit in Entschädigungsverfahren gemündet, die zu 30,68 % erfolgreich für den 1428
BT-Drs. 18/2950, S. 11, 33. BT-Drs. 18/2950, S. 11, 33. 1430 BT-Drs. 18/2950, S. 11, 33. 1431 Siehe hierzu und im Folgenden BT-Drs. 18/2950, S. 12. 1432 BT-Drs. 18/2950, S. 12. Die Summe stellt einen Mindestwert dar, da hinsichtlich eines Vergleiches keine Zahlen vorliegen. 1433 BT-Drs. 18/2950, S. 32. Die höchste Anzahl von Verzögerungsrügen und Entschädigungsklagen hat die Sozialgerichtsbarkeit zu verzeichnen, siehe S. 25 des Berichtes. 1434 BT-Drs. 18/2950, S. 10. 1435 BT-Drs. 18/2950, S. 32. 1429
E. Bewertung des Rechtsschutzsystems
301
Entschädigungskläger geendet seien (inkl. Feststellungsurteile und Vergleiche).1436 Die allseits befürchtete Missbrauchsgefahr habe sich somit nicht realisiert.1437 Das Zahlenverhältnis von Feststellungs- zu Leistungsurteilen sei rechtswegübergreifend unterschiedlich und zeige, dass die Entschädigungsgerichte umsichtig von § 198 Abs. 2 S. 2 GVG Gebrauch machen würden. Zwischen den einzelnen Gerichtsbarkeiten werde allerdings unterschiedlich beurteilt, in welchem Verhältnis die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer als Form der Wiedergutmachung auf andere Weise zur Geldentschädigung stehe.1438 „Da diese dogmatisch unterschiedlichen Sichtweisen nicht zu unterschiedlichen praktischen Ergebnissen führen dürften“1439, ergebe sich aber kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Ein besonderes Augenmerk der Evaluierung lag auf der Bewertung der Rechtsfolgenanordnung des Entschädigungsanspruches. Das Fazit der Bundesregierung fällt diesbezüglich positiv aus. Die Pauschalentschädigung gem. § 198 Abs. 2 S. 3 GVG, die im Regelfall zu gewähren sei, habe sich bewährt.1440 Dasselbe gelte für die Regelung im Hinblick auf den Ersatz materieller Nachteile, der rechtswegübergreifend eine vernachlässigbare Rolle spiele.1441 So habe sich das Klagebegehren in der Zivilgerichtsbarkeit bspw. in nur 5 von 124 Fällen auf den Ersatz entgangenen Gewinns gerichtet.1442 II. Abschließende Effektivitätsbewertung Unter Zugrundelegung der in dieser Arbeit gefundenen Ergebnisse wird abschließend untersucht, ob das nunmehr geltende Rechtsschutzsystem den Anforderungen gerecht wird, die das GG und die EMRK an ein effektives Rechtsschutzsystem bei überlanger Verfahrensdauer stellen. Differenziert wird dabei zwischen dem Rechtsschutz auf primärer und sekundärer Ebene. 1. Primärrechtsschutz Die zeitliche Dimension des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer bedingt, dass die Integrität dieses Verfahrensrechts nur in Form von Präventivrechtsschutz gewahrt werden kann. Präventive Rechtsschutzinstrumente müssen notwendigerweise während des laufenden Gerichtsverfahrens erhoben werden können, um beschleunigend auf den Verfahrensverlauf wirken und somit eine 1436
BT-Drs. 18/2950, S. 10, 32. BT-Drs. 18/2950, S. 33 (mit dem Hinweis, dass nur der BGH und der DRB die Situation in der gerichtlichen Praxis anders einschätzen würden). 1438 BT-Drs. 18/2950, S. 33. 1439 BT-Drs. 18/2950, S. 33. 1440 BT-Drs. 18/2950, S. 34. 1441 BT-Drs. 18/2950, S. 34. 1442 BT-Drs. 18/2950, S. 11. 1437
302
3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Verletzung des Verfahrensrechtes verhindern zu können. Ihre Erhebung muss also zu einem Zeitpunkt möglich sein, zu dem die Schwelle zur Unangemessenheit der Verfahrensdauer noch nicht überschritten ist (S. 19). Sowohl die EMRK als auch das GG verlangen, dass die beschleunigende Wirkung durch die rechtliche Ausgestaltung des Rechtsschutzinstruments sowie durch dessen tatsächlichen Umgang in der Rechtspraxis sichergestellt wird. Der diesbezügliche Mindeststandard ist die Normierung eines Rechtsbehelfes, der dem Rechtsschutzsuchenden einen Anspruch darauf einräumt, dass über sein auf Beschleunigung gerichtetes Begehren entschieden wird (S. 25 f., 33). a. Verzögerungsrüge Mit der Verzögerungsrüge beanstandet der Verfahrensbeteiligte die Dauer des Gerichtsverfahrens beim iudex a quo. Sie kann während des laufenden Rechtsstreites und vor Eintritt der Überlänge des Verfahrens erhoben werden (S. 103 f.), sodass ihr Regelungskonzept in zeitlicher Hinsicht den völker- und verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht wird. Die Verzögerungsrüge weist aber im Hinblick auf ihre Rechtsnatur einen elementaren Effektivitätsmangel auf. Sie ist kein Rechtsbehelf, welcher dem Rechtsschutzsuchenden ein subjektives Recht einräumt, dass über sein Beschleunigungsbegehren auch wirklich entschieden wird. Vielmehr steht es im Ermessen des iudex a quo, ob er auf die Verzögerungsrüge reagiert und der drohenden Verletzung des Verfahrensrechts abhilft (S. 96 f.). Die Beachtung und Einhaltung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer unterliegt insofern keiner fachgerichtlichen Kontrolle. Inwiefern die Verzögerungsrüge zumindest auf tatsächlicher Ebene zu einer Verfahrensbeschleunigung führt, kann mangels belastbaren Zahlenmaterials noch nicht abschließend bewertet werden. Die allein in drei Bundesländern erhobenen Zahlen über die wiederholte Erhebung einer Verzögerungsrüge1443 erlauben insoweit keine Rückschlüsse. In dem Erfahrungsbericht verweist die Bundesregierung lediglich darauf, dass die präventive Wirkung der Verzögerungsrüge für den Einzelfall nicht festgestellt werden könne, weil insofern eine hypothetische Betrachtung eines Verfahrensverlaufes erforderlich sei. Dieses methodische Vorgehen der Bundesregierung überzeugt jedoch nicht. Der EGMR hat in der Entscheidung Taron./.Deutschland klargestellt, dass Deutschland die Beweislast dafür trage, dass die Verzögerungsrüge ein effektives Rechtsschutzinstrument sei.1444 Vor diesem Hintergrund hätte zumindest anhand von einzelnen Gerichtsverfahren exemplarisch untersucht werden
1443
BT-Drs. 18/2950, S. 10. EGMR NVwZ 2013, 47 (49, Rn. 45). Dies nun verneinend in EGMR, Urt. v. 15.01.2015 – Nr. 62198/11 (Kuppinger./.Deutschland), § 136 ff., Hudoc. 1444
E. Bewertung des Rechtsschutzsystems
303
können, ob die Gerichte auf die Erhebung einer Verzögerungsrüge überhaupt reagierten und falls ja, welche Verfahrensmaßnahmen sie veranlassten. Festzuhalten ist, dass die Verzögerungsrüge als präventives Rechtsschutzinstrument weder den Anforderungen des Art. 13 EMRK (S. 126) noch dem verfassungsrechtlichen Justizgewährungsanspruch (S. 130) genügt. b. Sonstige Rechtsschutzinstrumente Diese auf der Ebene des Primärrechtsschutzes bestehende Rechtsschutzlücke wird auch nicht durch andere Rechtsschutzinstrumente geschlossen. Von der Erhebung einer Entschädigungsklage bereits während des laufenden Ausgangsverfahrens geht keine präventive Wirkung aus (S. 273 f.). Zum einen kann eine begründete Entschädigungsklage nur erhoben werden, wenn eine Verletzung des Verfahrensrechtes bereits eingetreten ist. Zum anderen schafft die bloße Möglichkeit der Erhebung der Entschädigungsklage während des laufenden Ausgangsverfahrens (wenn überhaupt) nur eine Drohkulisse für das den Rechtsstreit bearbeitende Gericht, die mit einer verbindlichen Beschleunigungswirkung eines Rechtsbehelfes nicht gleichgesetzt werden kann. Die Untätigkeitsbeschwerde beansprucht nach Inkrafttreten des ÜGRG de lege lata keine Geltung mehr (S. 280 f.). Die Verfassungsbeschwerde ist subsidiär zur Verzögerungsrüge und zum Entschädigungsklageverfahren, sodass ihre Erhebung erst nach Abschluss des Entschädigungsverfahrens möglich ist (S. 284 f., 289 f.). Zudem hat sich durch die Einführung der §§ 198 ff. GVG nichts an der Beurteilung geändert, dass weder eine Dienstaufsichtsbeschwerde noch ein Befangenheitsantrag effektiven Schutz bei einer (drohenden) Überlänge des Verfahrens bieten. c. Ergebnis Vereinzelt wird daher die Auffassung vertreten, dass der Präventivrechtsschutz sich durch die Einführung der §§ 198 ff. GVG sogar verschlechtert habe.1445 Die damit einhergehende Glorifizierung des Rechtszustandes vor Inkrafttreten des ÜGRG spiegelt jedoch nur unzureichend die Realität wider. So wurde die Untätigkeitsbeschwerde in der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht von allen Gerichten für statthaft gehalten. Teilweise wurden strenge Anforderungen an ihre Begründetheit gestellt. Auch die Untätigkeitsverfassungsbeschwerde war regelmäßig erst dann erfolgversprechend, wenn die Dauer des Verfahrens das zeitlich Angemessene bereits überschritten hatte. Hinzukam die lange Verfahrensdauer vor dem Verfassungsgericht. Im Gegensatz dazu wird dem Betroffenen mit der Verzögerungsrüge ein gesetzliches Rechtsschutzinstrument an die Hand gegeben, welches zumindest 1445
Greger, AnwBl 2015, 536 (539); Berth, Rechtsschutz gegen verzögerte Gerichtsverfahren, S. 209 f.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
für das Problem der überlangen Verfahrensdauer konzipiert und nicht verfahrensfern ausgestaltet ist. Des Weiteren ist ihre Erhebung mehrmals möglich und unterliegt keinem gesonderten Gebührentatbestand (S. 268 f.). Somit besteht zumindest bei verfahrensinternen Verzögerungen eine realistische Möglichkeit, dass das Ausgangsgericht mit verfahrensbeschleunigenden Maßnahmen auf die Verzögerungsrüge reagiert. Es bleibt letztlich empirischen Untersuchungen zur Wirkungsweise der Verzögerungsrüge vorbehalten, diese These zu validieren. Da aber trotz Neuordnung des Rechtsschutzsystems auch nach Inkrafttreten des ÜGRG keine präventiven Rechtsschutzinstrumente gegen überlange Gerichtsverfahren existieren, die den völker- und verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein wirksames Rechtsschutzsystem entsprechen, hat sich die Effektivität des Rechtsschutzes durch das ÜGRG nicht wesentlich verbessert.1446 2. Sekundärrechtsschutz Die Rechtsschutzgarantie gebietet ebenso die Eröffnung von Sekundärrechtsschutz, der kompensatorischer Natur ist. Die gerichtliche Geltendmachung von Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen ermöglicht die Kontrolle des staatlichen Handelns und den Ausgleich von Schäden, die der Betroffene durch den unrechtmäßigen staatlichen Akt erlitten hat (S. 19 f.). a. Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG Vor Inkrafttreten des ÜGRG hatte der Verfahrensbeteiligte lediglich nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG die Möglichkeit, Schadensersatz für die überlange Dauer des Gerichtsverfahrens zu verlangen. Dieser nicht für das Problem von überlangen Verfahren konzipierte Schadensersatzanspruch weist jedoch einige Defizite im Hinblick auf die konventions- und grundrechtlichen Effektivitätsvorgaben auf, die sich unter anderem darauf zurückführen lassen, dass der Amtshaftungsanspruch tatbestandlich an die Verwirklichung von Handlungsunrecht anknüpft. So muss bei § 839 BGB differenziert werden, welcher Amtsträger für welche Verzögerung im Verfahrensverlauf verantwortlich ist und ob dieser schuldhaft gehandelt hat (S. 44). Demgegenüber wird vom EGMR und vom BVerfG rein erfolgsbezogen geprüft, ob das Recht auf angemessene Verfahrensdauer von staatlicher Seite verletzt worden ist (S. 133). Eine diesbezügliche Haftung darf anders als der Amtshaftungsanspruch also nicht verschuldensabhängig ausgestaltet sein (S. 24). Darüber hinaus bestehen Haftungslücken dort, wo mangels drittbezogener Amtspflicht der Tatbestand des § 839 BGB nicht erfüllt ist, namentlich im Bereich des legislativen Unrechts (S. 67). Zudem sind die beim Amtshaftungsanspruch auf Rechtsfolgenseite geltenden §§ 249 ff. BGB nach konventionsrechtlichen Kriterien nicht 1446
Ebenso Sommer, StV 2012, 107 (109).
E. Bewertung des Rechtsschutzsystems
305
weitgehend genug, da immaterielle Schäden nur in den engen Grenzen des § 253 BGB ersatzfähig sind (S. 70 f.). Aus guten Gründen hat sich der Gesetzgeber daher dagegen entschieden, den Amtshaftungsanspruch an die konventions- und grundrechtlichen Vorgaben anzupassen und stattdessen in § 198 GVG einen neuartigen, staatshaftungsrechtlichen Entschädigungsanspruch für den Fall einer überlangen Verfahrensdauer geschaffen. b. Entschädigungsanspruch nach §§ 198 ff. GVG Im Rahmen dieser Arbeit wurden bisher die einzelnen Regelungen der §§ 198 ff. GVG auf ihre Effektivität hin bewertet. Nachfolgend werden diese Ergebnisse zusammengefasst und untersucht, ob das Regelungskonstrukt in seiner Gesamtheit mit den konventions- und grundrechtlichen Vorgaben vereinbar ist. Dem Aufbau dieser Arbeit folgend, wird dabei auf die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Entschädigungsanspruches, den zeitlichen Geltungsbereich des ÜGRG sowie die prozessuale Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs eingegangen. aa. Materiell-rechtliche Ebene (1) Sachlicher und personeller Anwendungsbereich In der Zivilgerichtsbarkeit bleiben der sachliche und der personelle Anwendungsbereich der Neuregelungen nicht hinter dem Schutzbereich des im GG und in der EMRK verbürgten Rechts auf angemessene Verfahrensdauer zurück. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG erfasst alle gerichtlichen Verfahren in ihrer prozessualen Gesamtheit und normiert lediglich für das eröffnete Insolvenzverfahren eine Bereichsausnahme, die wiederum dann eingeschränkt wird, wenn im eröffneten Insolvenzverfahren eine gerichtliche Entscheidung herbeigeführt wird. Die Orientierung des Verfahrensbegriffes an der Hauptsache eines Verfahrens hat zur Folge, dass der Begriff des Gerichtsverfahrens nicht kongruent mit dem Begriff der Streitigkeit i.S.v. Art. 6 Abs. 1 EMRK ausgelegt wird. Insofern werden jedoch einzelne Verfahrensabschnitte lediglich einer anderen entschädigungsrechtlichen Einheit zugeordnet und fallen nicht gänzlich aus dem Schutzbereich der §§ 198 ff. GVG (S. 89 f.). Gem. § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG bestimmt die Partei- bzw. Beteiligtenstellung in einem Gerichtsverfahren über die Anspruchsberechtigung bezüglich des Entschädigungsanspruches. Anspruchsinhaber ist damit jeder, dessen individuelle Rechte unmittelbar durch die Überlänge eines Verfahrens betroffen sein können und der somit ein schützenswertes Interesse an einer Entscheidung innerhalb einer angemessenen Zeit hat (S. 93). In § 200 GVG hat der Gesetzgeber die Haftungsaufteilung daran orientiert, welcher Rechtsträger die Verbandskompetenz für die deutsche Gerichtsbarkeit
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
innehat, wobei er von der Normierung einer gesamtschuldnerischen Haftung abgesehen hat. Dass somit zwei getrennte Entschädigungsansprüche entstehen, wenn Verzögerungen durch Gerichte des Landes und des Bundes verursacht werden, führt auf materiell-rechtlicher Ebene zu keinem Effektivitätsmangel (S. 95). Diese Regelung berücksichtigt das in Deutschland bestehende föderale System und fügt sich somit in die hier geltende Rechtstradition ein. (2) Die Verzögerungsrüge als Tatbestandsmerkmal Eine angemessene Geldentschädigung erhält der Verfahrensbeteiligte nur, wenn er eine wirksame Verzögerungsrüge im Ausgangsverfahren erhoben hat. Obwohl der Verzögerungsrüge eine rechtsverbindliche Beschleunigungswirkung fehlt, erschwert dieses Vorrangverhältnis den kompensatorischen Rechtsschutz für den Verfahrensbeteiligten nicht in unzumutbarer Weise. Denn einerseits sind die Hürden für die Erhebung einer Verzögerungsrüge nicht sehr hoch (mehrmalige Erhebung möglich, keine Begründung erforderlich, keine Gebühr), andererseits ist die beschleunigende Wirkung einer Rüge insbesondere bei Verzögerungen, die auf verfahrensinternen Gründen beruhen, nicht nur theoretischer Natur (S. 122 ff.). Die normierte Verknüpfung von Präventiv- und Sekundärrechtsschutz beeinträchtigt daher nicht die Effektivität des Rechtsbehelfs (S. 128 f., 131 f.). Der Ansatz des Gesetzgebers, mit der Verzögerungsrüge und dem Entschädigungsanspruch ein Zwei-Stufen-System zu etablieren, ist daher zu begrüßen. Zudem hat der Verfahrensbeteiligte, falls er gegen die Obliegenheit verstößt, eine wirksame Verzögerungsrüge zu erheben, einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Feststellung der Überlänge der Verfahrensdauer (§ 198 Abs. 4 S. 3, Halbs. 2 GVG), sodass er diesbezüglich nicht rechtsschutzlos gestellt ist (S. 228). (3) Unangemessene Verfahrensdauer Die unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens ist das zentrale Tatbestandsmerkmal des Entschädigungsanspruches. Es stellt allein auf die Verletzung des grund- und völkerrechtlichen Anspruchs auf Rechtsschutz innerhalb einer angemessenen Zeit ab und ist unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG auszulegen (S. 133 f.). Unter Effektivitätsgesichtspunkten bestehen daher keine Einwände gegen dieses Regelungskonzept (S. 186 f.). Bei der Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer sind somit die Umstände des Einzelfalles maßgeblich, was dem Individualcharakter des Verfahrensrechts Rechnung trägt. Dabei ist der Bezugspunkt der Angemessenheit die gesamte Dauer des Verfahrens und nicht einzelne Verfahrensabschnitte (S. 143 f.). Insofern ist der Verfahrensverlauf in seiner Gesamtheit zu untersuchen, wobei die richterliche Verfahrensführung in den Fokus der Angemessenheitsprüfung rückt. Diese Konnexität zwischen der Verfahrensdauer
E. Bewertung des Rechtsschutzsystems
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und der richterlichen Verfahrensgestaltung stellt auch die Bundesregierung in ihrem Evaluierungsbericht fest, wenn sie konstatiert: „Vor dem Inkrafttreten des ÜGRG eröffnete nur die Dienstaufsicht in den engen Grenzen des § 26 des Deutschen Richtergesetzes einen Blick auf die ‚unverzögerte Erledigung der Amtsgeschäfte‘ durch Richter. Das ÜGRG schafft erstmals die Möglichkeit, Verfahrensgestaltungen unter dem Aspekt der Unangemessenheit in zeitlicher Hinsicht durch Entschädigungsgerichte auf Veranlassung von Betroffenen überprüfen zu lassen.“1447
Im Regierungsentwurf des ÜGRG war man demgegenüber darauf bedacht, nicht den Eindruck zu erwecken, dass es um die Überprüfung richterlicher Verfahrensweisen geht. So heißt es dort: „Für die Frage, ob die Verfahrensdauer angemessen ist, kommt es nicht darauf an, ob sich der zuständige Spruchkörper pflichtwidrig verhalten hat. Die Feststellung unangemessener Verfahrensdauer impliziert dementsprechend umgekehrt auch für sich allein keinen Schuldvorwurf für die mit der Sache befassten Richter. Vor diesem Hintergrund ist eine Verzögerungsrüge auch nicht ohne Weiteres gleichzusetzen mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde.“1448
Vor diesem Hintergrund überrascht der Bezug zur richterlichen Dienstaufsicht im Evaluationsbericht. Die Befürchtungen, dass es den Entschädigungsgerichten nicht möglich sei, monatsgenau die Überlänge der Verfahrensdauer zu bestimmen, wurden durch den Erfahrungsbericht nicht bestätigt. In elf Verfahren haben die Entschädigungsgerichte die konkrete Dauer der unangemessenen Zeitspanne untersucht, deren Länge von 8 bis 87 Monate reichte. Obwohl die zahlreichen Judikate des EGMR und des BVerfG dem Recht auf angemessene Verfahrensdauer hinreichende Konturen verliehen haben, haben die Entschädigungsgerichte Schwierigkeiten, das Tatbestandsmerkmal der unangemessenen Verfahrensdauer konventions- und verfassungskonform auszufüllen. Ihre Rechtsprechung kennzeichnet sich durch eine sehr restriktive Haltung gegenüber den Entschädigungsbegehren. Der EGMR behält sich jedoch das Recht vor, zu überprüfen, inwiefern es den deutschen Entschädigungsgerichten gelingt, eine mit der EMRK in Einklang stehende Entschädigungsrechtsprechung zu etablieren.1449 Aus diesem Grund wird besonders aufmerksam zu beobachten sein, ob der EGMR den restriktiven Ansatz des BGH, richterliche Verfahrensführung allein auf ihre Vertretbarkeit hin zu überprüfen (S. 172), 1447
BT-Drs. 18/2950, S. 32. BT-Drs. 17/3802, S. 19. Siehe auch S. 42: „Die neue Rechtsschutzregelung knüpft nicht an eine Pflichtwidrigkeit der jeweiligen Richter an, sondern stellt allein auf den objektiven Tatbestand der unangemessenen Dauer ab. Die Stellungnahmen der Richterverbände haben insoweit deutlich gemacht, dass es für die Konsensfähigkeit der neuen Regelung in der Richterschaft wichtig ist, eine klare Trennung zwischen Dienstaufsicht und Entschädigungsangelegenheiten wegen Überlänge vorzunehmen.“. 1449 EGMR NVwZ 2013, 47 (48, Rn. 45). 1448
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
akzeptieren wird. Gleiches gilt für die Auffassung von Teilen der Rechtsprechung, dass die Untätigkeit eines Gerichtes für eine vom Einzelfall losgelöste Zeitspanne grundsätzlich rechtsstaatlich unbedenklich und unvermeidbar sei (S. 151 f.). Nach hier vertretener Auffassung sind beide Ansichten inkompatibel mit den Anforderungen, welche die EMRK und das GG an einen wirksamen kompensatorischen Rechtsbehelf stellen (S. 151 ff., 173 ff.). (4) Nachteil Als konventions- und verfassungsrechtlicher Mindeststandard muss kompensatorischer Rechtsschutz den Ausgleich von materiellen und immateriellen Schadenspositionen gewährleisten. Der EGMR verlangt in diesem Zusammenhang die Ersatzfähigkeit von nachteiligen Folgen, die aus der Konventionsverletzung resultieren (S. 26). Der weite Nachteilsbegriff des § 198 GVG kommt dieser Forderung nach und erfasst jedes nicht ganz unerhebliche quantitative und qualitative Weniger als sonst (S. 190 f.). (5) Rechtsfolge (a) Ersatz von materiellen Nachteilen Es ist aus konventionsrechtlicher Perspektive nicht zu beanstanden, dass der Anspruch aus § 198 GVG auf Rechtsfolgenseite auf eine angemessene Entschädigung beschränkt ist. Von dieser Rechtsfolgenanordnung ist zwar die Kompensation eines entgangenen Gewinnes nicht erfasst, sie gewährt dem Betroffenen aber zumindest Ersatz für einen eingetretenen Substanzverlust. Besteht jedoch ein krasses Missverhältnis zwischen den Entschädigungsbeträgen, die der EGMR üblicherweise gewährt und die die nationalen Entschädigungsgerichte zusprechen, muss die Entschädigungssumme im Einzelfall über eine konventionskonforme Auslegung des § 198 Abs. 1 GVG angepasst werden (S. 200 f.). Auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht bestehen gegen die normierte Rechtsfolgenanordnung keine Bedenken. Die Begrenzung des Ersatzumfanges auf eine angemessene Entschädigung ist gerechtfertigt, weil der Entschädigungsanspruch aus § 198 GVG erfolgs- und nicht verhaltensbezogen ausgestaltet ist (S. 203 f.). Entgegen der Auffassung der Bundesregierung kann aus der Tatsache, dass nur in 5 von 124 Entschädigungsklagen die Kompensation eines entgangenen Gewinnes begehrt wurde, nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass diese Schadensposition nur eine marginale Rolle bei überlangen Gerichtsverfahren spiele. Denn die Bundesregierung lässt bei ihrer Bewertung außer Betracht, dass nach ganz herrschender Meinung der Ersatz eines entgangenen Gewinnes durch die Gewährung einer angemessenen Entschädigung nach § 198
E. Bewertung des Rechtsschutzsystems
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Abs. 1 GVG de lege lata ausgeschlossen ist (S. 195 ff.). Somit wäre das Einklagen dieser Schadensposition mit einem hohen Prozesskostenrisiko verbunden, sodass aus dem vorhandenen Zahlenmaterial keine tragfähigen Erkenntnisse gewonnen werden können. (b) Ersatz von immateriellen Nachteilen Das Ersatzsystem für immaterielle Nachteile ist zweigleisig ausgestaltet. Danach wird eine Geldentschädigung für immaterielle Nachteile nur gewährt, wenn eine Wiedergutmachung auf andere Weise nicht ausreichend ist. Diese zwei Kompensationsformen stehen in einem Abstufungsverhältnis zueinander (S. 220). (aa) Verhältnis zwischen Geldentschädigung und Wiedergutmachung auf andere Weise Nach der Rechtsprechung des EGMR ist für die Verletzung der Verfahrensgarantie grundsätzlich eine Geldkompensation zu leisten, abhängig vom Einzelfall kann aber auch eine Entschädigung in anderer Form gewährt werden (S. 26). Die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer im Urteil als eine Form der Wiedergutmachung ist also nur ausnahmsweise eine ausreichende Kompensation (S. 222 f.). Die von der Bundesregierung vorgestellten Zahlen lassen in einigen Gerichtsbarkeiten eine hierzu im Widerspruch stehende Tendenz vermuten: Während die Sozialgerichtsbarkeit die Geldentschädigung als Regelfall ansieht und in 11 von 14 erfolgreichen Verfahren Leistungsurteile erlassen hat (78,6 %), beträgt die Quote von Leistungs- zu Feststellungsurteilen in der Verwaltungsgerichtsbarkeit nur 37,5 %. In der Zivilgerichtsbarkeit wurde in jedem zweiten Fall eine Wiedergutmachung auf andere Weise für ausreichend erachtet.1450 Zwar ist die Wiedergutmachung auf andere Weise vom Einzelfall abhängig, sodass ein Vergleich zwischen den Zahlenverhältnissen von Leistungs- zu Feststellungsurteilen nur begrenzt Aussagekraft hat. Den Ausnahmecharakter der Wiedergutmachung auf andere Weise spiegeln die Zahlen in der Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit jedoch nicht wider. Angesichts der aufgezeigten Unterschiede ist die diesbezügliche Einschätzung der Bundesregierung, dass die unterschiedlichen Standpunkte bezüglich des Verhältnisses zwischen Geldentschädigung und Wiedergutmachung nicht zu verschiedenen praktischen Ergebnissen führen dürften, euphemistisch. Es bleibt abzuwarten, wie sich das Verhältnis von Geldentschädigung zur Wiedergutmachung in der Zukunft entwickeln wird und vom EGMR als Kontrollinstanz1451 bewertet wird.
1450 1451
BT-Drs. 18/2950, S. 33. EGMR NVwZ 2013, 47 (48, Rn. 45).
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
(bb) Subjektives Recht auf Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer Im Anwendungsbereich des § 198 Abs. 2 S. 2, Abs. 4 GVG hat der Verfahrensbeteiligte nach hier vertretener Ansicht einen Anspruch darauf, dass die Überlänge durch das Entschädigungsgericht festgestellt wird, soweit dieser nicht durch die Erfüllung infolge einer anderweitigen Wiedergutmachung bereits erloschen ist (S. 220 f.). Die diesbezüglich bestehenden dogmatischen Unsicherheiten wurden auch im Rahmen des Evaluierungsberichtes thematisiert, ein Handlungsbedarf aber von Seiten der Bundesregierung abgelehnt.1452 (cc) Angemessene Entschädigungshöhe Die vom Gesetzgeber vorgenommene Pauschalierung der Entschädigungssumme stellt trotz der hiervon abweichenden Rechtsprechungspraxis des EGMR kein Effektivitätsdefizit dar. Denn sie erleichtert die (gerichtliche) Durchsetzung des Entschädigungsanspruches und trägt so zur Beschleunigung des Rechtsbehelfsverfahrens bei (S. 217 f.). Dass die Entschädigungsgerichte von der Pauschalentschädigung tatsächlich nur in Ausnahmefällen abweichen, bestätigen die im Rahmen des Erfahrungsberichtes erhobenen Zahlen. Danach wurden die Beklagten in der Zivilgerichtsbarkeit in acht von zehn Fällen zur Zahlung der Pauschalentschädigung gem. § 198 Abs. 2 S. 3 GVG verurteilt. Die Höhe der Pauschalentschädigung orientiert sich am case-law des EGMR und führt durch die Korrelation zwischen der Entschädigungshöhe und der Dauer der Überlänge zur Transparenz bei der Entscheidung, welcher Entschädigungsbetrag angemessen ist. Da die Höhe der Ausgleichszahlung eine wesentliche Rolle bei der Beurteilung spielt, ob der EGMR einen kompensatorischen Rechtsbehelf als wirksam i.S.v. Art. 13 EMRK einstuft, sind die Entschädigungsbeträge, die der EGMR in vergleichbaren Fällen zuspricht, im Blick zu behalten. § 198 Abs. 2 S. 4 GVG bietet diesbezüglich ein Korrektiv bei Unbilligkeit der jeweiligen Entschädigungssumme (S. 219 f.). In der Zivilgerichtsbarkeit haben die Länder in einem Zeitraum von zwei Jahren i.H.v. 54.600 Euro für immaterielle Nachteile gehaftet. Es ist evident, dass von dieser Haftungssumme kein Steuerungsanreiz im Hinblick auf die Schaffung neuer Richterstellen ausgeht.1453 bb. Übergangsvorschrift Der zeitliche Anwendungsbereich des Art. 23 ÜGRG ist vom Gesetzgeber bewusst weit gefasst worden. Der sachliche Legitimationsgrund für die Reichweite der begünstigenden Rückwirkung der Vorschriften ist, dass für sämtliche 1452
BT-Drs. 18/2950, S. 13 (Fn. 8). Roller, DRiZ 2015, 66 (68). Nichts anderes gilt, wenn man sich die Haftungssumme der Länder in Höhe von knapp 183.000 Euro für alle Gerichtsbarkeiten anschaut, siehe BTDrs. 18/2950, S. 34. 1453
E. Bewertung des Rechtsschutzsystems
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Verfahren, deren Überlänge zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ÜGRG Gegenstand einer anhängigen Individualbeschwerde vor dem EGMR war oder noch werden konnte, die Rechtsschutzbestimmungen der §§ 198 ff. GVG gelten sollten (S. 232 ff.). cc. Prozessuale Ebene Wirksamer Rechtsschutz erfordert nicht nur die Normierung eines materiellrechtlichen Entschädigungsanspruches, sondern auch dessen effektive Durchsetzbarkeit. Nur so findet die von der EMRK und dem GG geforderte unabhängige Kontrolle über die Einhaltung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer statt. (1) Allgemeine Anforderungen an das Rechtsbehelfsverfahren Die Voraussetzungen des kompensatorischen Rechtsbehelfs sowie dessen Geltendmachung sind im GVG und in der ZPO klar geregelt und für den Rechtsschutzsuchenden erkennbar. Dies trägt dem Gebot der Rechtsmittelklarheit Rechnung (S. 28 f.). Vor dem Hintergrund, dass der Rechtsschutzsuchende im Rechtsbehelfsverfahren die Überlänge des Ausgangsverfahrens rügt, ist dieses besonders zügig durchzuführen (S. 24). Diesem Umstand tragen verschiedene Regelungen der §§ 198 ff. GVG Rechnung. So bedingt die erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte und des BGH, dass es nur eine Tatsacheninstanz gibt und lediglich die Entscheidungen der Oberlandesgerichte in den Grenzen des § 543 ZPO rechtsmittelfähig sind. Zudem wird ein immaterieller Nachteil bei Vorliegen einer überlangen Verfahrensdauer widerleglich vermutet und die diesbezügliche Entschädigungssumme pauschal bemessen, was im Sinne einer beschleunigten Verfahrensdurchführung ist. Die Geltendmachung des Rechtsbehelfs kann zeitlichen Beschränkungen unterworfen werden. Somit steht es im Einklang mit dem GG und der EMRK, dass die Entschädigungsklage gem. § 198 Abs. 5 S. 2 GVG innerhalb von sechs Monaten nach dem rechtskräftigen Abschluss des Ausgangsverfahrens zu erheben ist, bevor der Entschädigungsanspruch erlischt (S. 259 f.). Auch die vom Gesetzgeber getroffenen Regelungen bezüglich der Kosten des Rechtsbehelfsverfahrens sind insgesamt kompatibel mit den verfassungsund völkerrechtlichen Effektivitätsanforderungen. Zum einen ermöglichen die §§ 114 ff. ZPO auch mittellosen Parteien, eine Entschädigungsklage zu erheben und so eine Kompensation für die Verletzung des Verfahrensrechtes zu erhalten. Zum anderen bekommt der Entschädigungskläger im Fall seines Obsiegens gem. § 91 Abs. 1 ZPO seine Kosten für das Klageverfahren erstattet (S. 277). Unter Effektivitätsgesichtspunkten begegnen auch die gesetzlichen Bestimmungen hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast keine Bedenken. Da auf
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Seiten des Entschädigungsklägers regelmäßig Beweisnöte bezüglich des Vorliegens eines immateriellen Nachteils bestehen, ist die Normierung einer widerlegbaren Vermutung positiv zu bewerten (S. 276 f.). (2) Klage auf Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer Der Feststellungsausspruch des Entschädigungsgerichtes bietet ebenso wie der Geldentschädigungsanspruch Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer. Dabei entspricht die Möglichkeit, diese Feststellung ausschließlich über einen Klageantrag gerichtet auf Geldentschädigung durchsetzen zu können, nicht den Effektivitätsanforderungen der EMRK und des GG (S. 226 f.). Zwar erfolgt dadurch eine gerichtliche Kontrolle des staatlichen Verhaltens. Der Rechtsschutzsuchende müsste aber auch dann eine Leistungsklage erheben, wenn ihm lediglich ein Anspruch auf Feststellung der Überlänge zusteht, sodass seine Entschädigungsklage von vornherein keine Aussicht auf Erfolg hätte (S. 265 f.). Diesbezüglich stellt der § 201 Abs. 4 GVG die Entscheidung über die Kostentragungspflicht zwar abweichend von § 91 Abs. 1 ZPO in das Ermessen des Entschädigungsgerichtes. Ein Automatismus derart, dass der Staat die Kosten des Entschädigungsverfahrens tragen muss, wurde aber nicht normiert. Problematisch ist hierbei, dass der Verfahrensbeteiligte in diesem Fall weder die Kosten des Verfahrens abschätzen noch eine etwaige Kostenlast vermeiden kann. Insofern könnte die normierte Kostenregelung den Rechtsschutzsuchenden von der Durchführung des Rechtsbehelfsverfahrens abschrecken. Aus Effektivitätsgründen muss daher die Möglichkeit bestehen, dass der Rechtsschutzsuchende unmittelbar auf die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer klagen kann und im Falle seines Obsiegens über § 91 ZPO frei von einer Kostentragungspflicht wird. (3) Erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte und des BGH Die vom Gesetzgeber in § 201 GVG getroffene Zuständigkeitszuweisung an die Oberlandesgerichte und den BGH verletzt nicht die Rechtswegzuweisung des Art. 34 Abs. 1 S. 3 GG, da von dieser lediglich solche Schadensersatzansprüche erfasst werden, die dem Anwendungsbereich des Art. 34 Abs. 1 S. 1 GG unterliegen. Zudem ist es mit dem GG und der EMRK kompatibel, dass der Betroffene den Entschädigungs- und den Amtshaftungsanspruch im Klagewege getrennt verfolgen muss. Da die vollständige Kompensation des Schadens, einschließlich eines entgangenen Gewinnes, nicht erforderlich ist, um den Effektivitätsanforderungen zu genügen, spielt die damit verbundene Erschwerung der Rechtsdurchsetzung keine Rolle für die Bewertung des Rechtsschutzsystems (S. 269 ff.).
E. Bewertung des Rechtsschutzsystems
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Weder das Verfassungsrecht noch die EMRK garantieren das Recht auf einen Instanzenzug (S. 24, 28), sodass an der Zuständigkeitsregelung nicht beanstandet werden kann, dass nur Entscheidungen der Oberlandesgerichte rechtsmittelfähig sind (S. 272). Die Eröffnung einer Beschwerdemöglichkeit gegen eine im Rechtsbehelfsverfahren getroffene Entscheidung ist für die Effektivität des Rechtsbehelfs nicht erforderlich, solange die Letztentscheidung durch eine unabhängige und unparteiliche Person getroffen wird (S. 24). Da ein Richter, der am überlangen Ausgangsverfahren beteiligt war, vom gerichtlichen Entschädigungsverfahren nach § 41 Nr. 7 ZPO ausgeschlossen ist, bestehen in dieser Hinsicht keine Bedenken gegen die Zuständigkeitsregelung und die Begrenzung des Instanzenzuges (S. 261). (4) Ausschließlichkeit der Zuständigkeitsaufteilung Nach hier vertretener Auffassung führt der in § 201 Abs. 1 S. 3 GVG angeordnete Ausschließlichkeitscharakter der Zuständigkeitsregelung zu einem Effektivitätsdefizit, wenn Verzögerungen durch Gerichte des Landes und des Bundes verursacht wurden und dem Betroffenen nach § 200 GVG daher zwei getrennte Entschädigungsansprüche zustehen (S. 271 f.). Denn der Betroffene muss in diesem Fall zwei gesonderte Entschädigungsverfahren anstrengen, um eine vollständige Kompensation seiner Nachteile zu erreichen. Dieser Umstand erschwert die Rechtsdurchsetzung jedoch aus mehreren Gründen in unzumutbarer Weise. Der Haftungstatbestand des § 198 GVG enthält eine Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen, welche die Erfolgsaussichten des Entschädigungsbegehrens schwer prognostizierbar machen. Der Verfahrensbeteiligte ist somit dem Risiko ausgesetzt, dass er im Falle seines Unterliegens die Kosten von zwei Entschädigungsverfahren tragen muss. Darüber hinaus besteht die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen der Entschädigungsgerichte. Aufgrund der Vertretungsregel des § 78 Abs. 1 ZPO kann sich der Entschädigungskläger vor dem Oberlandesgericht und dem BGH zudem nicht von einem Anwalt vertreten lassen. Diese unzumutbare Erschwerung der Rechtsdurchsetzung hätte bspw. dadurch verhindert werden können, dass die Anspruchsgegner als Streitgenossen gemeinschaftlich verklagt werden können. Abzuwarten bleibt, wie viele Verfahrensbeteiligte tatsächlich von dieser Fallkonstellation betroffen sind. Zumindest im Berichtszeitraum der Evaluation wurden keine Klagen gegen den Bund beim BGH erhoben. (5) Parallelität von Entschädigungs- und Ausgangsverfahren Dem Rechtsschutzsuchenden steht mit der Verzögerungsrüge kein Rechtsschutzinstrument zur Verfügung, mit dem er die drohende Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer effektiv abwehren kann. Aus diesem Grund muss es möglich sein, einen Entschädigungsanspruch bereits vor Abschluss des Ausgangsverfahrens (gerichtlich) geltend machen zu können (S. 23
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
f.). Diese nach § 198 Abs. 5 S. 1 GVG ausdrücklich normierte Klagemöglichkeit wird durch § 201 Abs. 3 GVG entwertet, weil das Gericht das Entschädigungsverfahren bei noch laufendem Ausgangsverfahren aussetzen kann. Da aber die Verzögerungsrüge zumindest auf tatsächlicher Ebene verfahrensbeschleunigend wirken kann und das Entschädigungsgericht die Aussetzungsentscheidung unter Berücksichtigung von Zumutbarkeitsgesichtspunkten treffen muss, führt diese Regelung nicht zur Ineffektivität des Rechtsbehelfes (S. 275). Das Entschädigungsgericht hat keinerlei Befugnis, Einfluss auf die inhaltliche oder zeitliche Verfahrensgestaltung des Ausgangsgerichtes zu nehmen (S. 273 f.). Daher stellt die Möglichkeit, die Entschädigungsklage parallel zum Ausgangsverfahren zu erheben, keinen unzulässigen Eingriff in den Gewährleistungsgehalt des Art. 97 GG dar. dd. Ergebnis In materiell-rechtlicher Hinsicht genügen der Entschädigungs- und der Feststellungsanspruch nach § 198 GVG den Effektivitätsanforderungen der EMRK und des GG. Diesbezüglich hat der Gesetzgeber den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum in nicht zu beanstandender Weise ausgefüllt. Der Haftungstatbestand des § 198 GVG knüpft an die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer und weist zu diesem Verfahrensrecht einen vergleichbaren Schutzumfang auf. Dabei räumt der Gesetzgeber dem Präventivrechtsschutz in zulässiger Weise den Vorrang gegenüber dem kompensatorischen Entschädigungsanspruch ein, indem er die Entstehung des Geldentschädigungsanspruchs von der Erhebung einer wirksamen Verzögerungsrüge abhängig macht. Mit der Gewährung einer angemessenen Entschädigung bzw. der Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer wird die Missachtung des Verfahrensrechtes ausreichend kompensiert. Die gerichtliche Durchsetzung des Entschädigungsanspruches nach § 201 GVG ermöglicht die völker- und verfassungsrechtlich gebotene Kontrolle über die Einhaltung des Anspruchs auf Rechtsschutz innerhalb einer angemessenen Zeit. § 201 Abs. 1 GVG erfüllt die Voraussetzungen eines effektiven Rechtsbehelfes aber nicht, soweit der Rechtsschutzsuchende für die vollständige Kompensation seiner durch die Überlänge der Verfahrensdauer eingetretenen Nachteile zwei gerichtliche Klageverfahren anstrengen muss. 3. Gesamtergebnis a. Rechtstatsächliche Bewertung Das vorgestellte Zahlenmaterial und die Jahresstatistiken zur Rechtspflege zeigen, dass es sich bei überlangen Gerichtsverfahren in der Bundesrepublik
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Deutschland nicht um ein Massenphänomen wie bspw. in Italien handelt1454. Strukturelle Probleme sind in der Zivilgerichtsbarkeit nicht erkennbar1455 und die befürchtete Klagewelle ist nach Inkrafttreten des ÜGRG ausgeblieben. Somit spielen die §§ 198 ff. GVG in der zivilgerichtlichen Praxis keine allzu große Rolle.1456 Unabhängig davon ist die Bedeutung der Einführung der neuen Regelungen nicht zu unterschätzen.1457 Denn die §§ 198 ff. GVG sollen gerade bei solchen Verfahren Anwendung finden, die aus dem ansonsten funktionierenden System fallen. Die weitere Entwicklung wird genau zu beobachten sein. So hat sich die durchschnittliche Verfahrensdauer vor den Amts- und Landgerichten seit 2011 verlängert.1458 Während der Anstieg der Verfahrensdauer vor den Amtsgerichten nur marginal ausfällt, ist der Sprung von 8,2 Monaten im Jahr 2011 auf 9,1 Monate im Jahr 2014 vor den Landgerichten wesentlich größer. Ebenso ist der Anteil der Verfahren gestiegen, die über 24 Monate beim zuständigen Gericht anhängig waren. Wenngleich hieraus nicht auf die Unangemessenheit der Verfahrensdauer geschlossen werden kann, sind es jedoch regelmäßig jene Verfahren, bei denen die Überlänge der Verfahrensdauer droht. Eine erneute Wirkungskontrolle des Gesetzes mit belastbaren Fallzahlen sollte vor diesem Hintergrund dringend wiederholt werden. Im Zusammenhang mit der ZPO-Reform 2001 resümiert Calliess zutreffend: „Merke: Eine Evaluation von Reformgesetzen ist komplex und darf nicht zu kurzfristig angelegt sein.“1459 b. Effektivitätsbewertung Der verfassungsrechtliche Justizgewährungsanspruch erfordert bei drohender Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer die Eröffnung von
1454
Grotmann-Höfling, ArbuR 2012, 346 (346). Kritischer Kirchberg, DVBl 2015, 675 (679), nach dem die erhobenen Entschädigungsklagen nur die Spitze des Eisberges abbilden. 1455 Reiter, AD LEGENDUM 2015, 151 (158). 1456 Heine, MDR 2014, 1008 (1013). Nach Einschätzung der BRAK ist diese Tatsache darauf zurückzuführen, dass sich entweder bewusst gegen die Erhebung der Verzögerungsrüge entschieden wird oder das ÜGRG in der Rechtspraxis noch nicht ausreichend bekannt ist. Siehe BRAK, Stellungnahme zur Evaluation des ÜGRG (03/2014), http://www.brak.de/ zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2014/maerz/stellungnahme-der-brak-2014-11.pdf, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, S. 18. 1457 Schmid, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 173 VwGO, Rn. 85. 1458 Die Zahlen können auf den Seiten des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2014 unter folgender Seite abgerufen werden: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Rechtspflege/GerichtePersonal/Zivilgerichte.html, zuletzt geprüft am: 28.07.2016, für die Jahre 2011-2013 unter folgender Seite: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Rechtspflege/AlteAusgaben/ZivilgerichteAlt.html, zuletzt geprüft am: 28.07.2016. 1459 Calliess, in: 70. DJT, Bd. I, Gutachten A, S. 12.
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3. Kapitel: Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren
Primärrechtsschutz. Der Verfahrensbeteiligte darf nicht von vornherein auf Sekundärrechtsschutz verwiesen werden. Da effektiver Präventivrechtsschutz auch nach Inkrafttreten des ÜGRG fehlt, lässt sich diesbezüglich eine Rechtsschutzlücke konstatieren, die gegen das GG verstößt. Entsprechendes gilt auch für die völkerrechtliche Ebene im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art. 13 EMRK, was der EGMR in der Entscheidung Kuppinger./.Deutschland im Jahr 2015 bestätigt hat.1460 In Sorgerechtsstreitigkeiten und Umgangsrechtsverfahren, in denen sich die Überlänge des Verfahrens maßgeblich auf das Familienleben auswirkt und allein der Zeitablauf zu einer Entscheidung in der Sache führen kann, ist kompensatorischer Rechtsschutz nicht ausreichend. Diesbezüglich müssen dem Verfahrensbeteiligten während des noch laufenden Ausgangsverfahrens effektive Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, mit denen das Verfahren beschleunigt werden kann. Im Gegensatz dazu genügt im Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK die ausschließliche Gewährung kompensatorischen Rechtsschutzes den Effektivitätsanforderungen des Art. 13 EMRK. Somit ist der Gesetzgeber auf primärer Rechtsschutzebene hinter seiner Zielsetzung zurückgeblieben, mit dem ÜGRG die gegen Verfassungs- und Völkerrecht verstoßende Rechtsschutzlücke zu schließen. Sowohl das GG als auch die EMRK gebieten die Eröffnung von Sekundärrechtsschutz für den Fall, dass präventiv wirkende Rechtsschutzinstrumente eine unangemessene Verfahrensdauer nicht verhindern konnten. Insofern hat eine finanzielle Kompensation als Ausgleich für das staatliche Unrecht zu erfolgen. Im Mai 2012 stellte der EGMR in der Entscheidung Taron./.Deutschland fest, dass derzeit keine Anhaltspunkte dafür bestehen würden, dass der Rechtsbehelf den Betroffenen nicht angemessen und ausreichend entschädige.1461 Aus diesem Grund müssten die Regelungen des ÜGRG derzeit nicht abstrakt auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden.1462 Nach hier vertretener Auffassung erfüllen der Entschädigungsanspruch nach § 198 GVG und dessen gerichtliche Durchsetzung weitestgehend die verfassungs- und konventionsrechtlichen Vorgaben an einen effektiven kompensatorischen Rechtsbehelf. Soweit der Rechtsschutzsuchende jedoch zwei Rechtsbehelfsverfahren anstrengen muss, um die vollständige Kompensation seiner Nachteile nach § 198 GVG zu erreichen, wird ihm die Durchsetzung seiner Rechte in unzumutbarer Weise erschwert.
1460
EGMR NJW 2015, 1433 (1433 ff.). EGMR NVwZ 2013, 47 (48, Rn. 40). 1462 EGMR NVwZ 2013, 47 (48, Rn. 41). 1461
E. Bewertung des Rechtsschutzsystems
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Als Gesamtergebnis lässt sich also feststellen, dass es dem Gesetzgeber mit dem ÜGRG nicht gelungen ist, ein effektives Rechtsschutzsystem gegen überlange Gerichtsverfahren zu etablieren, welches den Anforderungen der EMRK und des GG vollständig gerecht wird.
Kapitel 4
Ausblick 4. Kapitel: Ausblick
Nach jahrelanger Diskussion hat der Gesetzgeber erstmalig mit dem ÜGRG Rechtsschutzinstrumente bezüglich überlanger Gerichtsverfahren etabliert. Insofern kann das Gesetz als erster Schritt in die richtige Richtung bewertet werden. Euphorisch kann das ÜGRG aber nicht bejubelt werden, denn die Ergebnisse der Untersuchungen zeigen, dass es dem Gesetzgeber nicht gelungen ist, die Rechtsschutzlücke vollständig zu schließen. Dieser Befund ist enttäuschend. Man kann nur hoffen, dass es nicht wieder eines deutlichen Tadels aus Straßburg bedarf, um den Gesetzgeber zum erneuten Handeln zu bewegen. Hoffnungen macht in diesem Zusammenhang der Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Sachverständigenrechts und zur weiteren Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit1. Der Gesetzesentwurf sieht ein zweistufiges Verfahren bei Verzögerungen in Kindschaftssachen vor und lautet diesbezüglich wie folgt: „§ 155b Verfahren bei Verzögerungsrüge (1) Erhebt ein Beteiligter in einer Kindschaftssache nach § 155 Absatz 1 schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle eine Verzögerungsrüge im Sinne des § 198 Absatz 3 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes, in der er Umstände darlegt, aus denen sich ergibt, dass die bisherige Verfahrensdauer nicht angemessen war, entscheidet das Gericht innerhalb eines Monats nach Eingang der Rüge durch Beschluss über diese. (2) Genügt die Rüge den Anforderungen des Absatzes 1 nicht, hat das Gericht den Beteiligten unverzüglich darauf hinzuweisen, dass seine Rüge als Verzögerungsrüge nach § 198 Absatz 3 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes behandelt wird, solange diese Anforderungen nicht erfüllt werden. (3) Hält das Gericht die gemäß Absatz 1 eingelegte Verzögerungsrüge für begründet, hat es unverzüglich geeignete Maßnahmen zur vorrangigen und beschleunigten Durchführung des Verfahrens zu ergreifen. Insbesondere ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zu prüfen und das Ergebnis der Prüfung aktenkundig zu machen.
1 BT-Drs. 18/6985 unter Berücksichtigung des Änderungsantrages vom 17.02.2016. Letzterer ist abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/Formulierungshilfe_Aenderung_Sachverstaendigenrecht.pdf?__blob=publicationFile&v=1, zuletzt geprüft am 28.07.2016.
4. Kapitel: Ausblick
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(4) Hält das Gericht die gemäß Absatz 1 eingelegte Verzögerungsrüge für unbegründet, so hat der Beschluss zu enthalten, inwieweit der Verfahrensablauf seit Verfahrensbeginn den Vorgaben des § 155 Absatz 1 entspricht. (5) Im Übrigen bleibt § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes unberührt. § 155c Verzögerungsbeschwerde (1) Der Beschluss nach § 155b Absatz 1 ist durch den Beteiligten, der die Verzögerungsrüge erhoben hat, anfechtbar. Die Beschwerde ist innerhalb einer Notfrist von zwei Wochen nach der schriftlichen Bekanntgabe des Beschlusses nach § 155b Absatz 1 an die Beteiligten einzulegen. Die Beschwerde ist schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle bei dem Gericht einzulegen, dessen Beschluss angefochten wird. Dieses Gericht ist zur Abhilfe nicht befugt; es hat die Akten unverzüglich dem Beschwerdegericht vorzulegen. (2) Über die Verzögerungsbeschwerde gegen den Beschluss nach § 155b Absatz 1 entscheidet 1. das Oberlandesgericht, wenn das Amtsgericht den Beschluss gefasst hat, 2. ein anderer Senat des Gerichts, a) wenn das Oberlandesgericht den Beschluss gefasst hat, b) wenn der Bundesgerichtshof den Beschluss gefasst hat. (3) Das Beschwerdegericht entscheidet unverzüglich nach Aktenlage; seine Entscheidung soll spätestens innerhalb eines Monats ergehen. § 68 Absatz 2 gilt entsprechend. Es hat in seinem Beschluss festzustellen, ob die bisherige Dauer des Verfahrens angemessen war. Stellt das Beschwerdegericht fest, dass die bisherige Dauer des Verfahrens unangemessen war, hat das Ausgangsgericht das Verfahren unter Beachtung der rechtlichen Beurteilung des Beschwerdegerichts unverzüglich vorrangig und beschleunigt durchzuführen. (4) Hat das Gericht in der Monatsfrist des § 155b Absatz 1 keine Entscheidung über die Verzögerungsrüge getroffen, kann der Beteiligte innerhalb einer Frist von zwei Monaten beim Beschwerdegericht Beschwerde einlegen. Die Frist beginnt mit Eingang der Verzögerungsrüge bei dem Ausgangsgericht. Die Absätze 2 bis 4 gelten entsprechend.“
Bereits der Standort der Regelungen macht deutlich, dass die Bundesregierung nicht grundsätzlich von dem kompensatorischen Rechtsschutzkonzept der §§ 198 ff. GVG abweichen will. Der Änderungsvorschlag betrifft allein Verfahren mit Kindschaftsbezug, § 155b Abs. 1 FamFG-E. Insoweit möchte die Bundesregierung mit dem Gesetzesentwurf lediglich diejenige Rechtsschutzlücke schließen, die der EGMR in der Entscheidung Kuppinger./.Deutschland im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK i.V.m. Art. 13 EMRK aufzeigte. Da der Justizgewährungsanspruch nach hier vertretener Auffassung generell die Einführung präventiver Rechtsbehelfe fordert und nicht nur in Kindschaftsverfahren, schließt der Gesetzesentwurf nur einen Teil der hier festgestellten Rechtsschutzlücke. In Kindschaftssachen kommt die Bundesregierung der Forderung nach effektivem Präventivrechtsschutz nach. Gem. § 155b Abs. 1 FamFG-E hat der
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4. Kapitel: Ausblick
Verfahrensbeteiligte einen Anspruch darauf, dass der iudex a quo über eine Verzögerungsrüge entscheidet, welche die gegenüber § 198 Abs. 3 GVG verschärften Form- und Substantiierungsanforderungen des § 155b Abs. 1 FamFG-E erfüllt. Der Gesetzesvorschlag sieht zudem eine Beschwerdemöglichkeit gegen einen ablehnenden Beschluss nach § 155b Abs. 1 FamFG-E vor (sog. Verzögerungsbeschwerde). Dabei ist die Verzögerungsbeschwerde bei Beschlüssen des Amtsgerichts mit Devolutiveffekt ausgestaltet, während bei Beschlüssen eines Oberlandesgerichtes oder des BGH andere Senate der Gerichte entscheiden, § 155c Abs. 2 FamFG-E. Der Rechtsschutz nach §§ 155b, 155c FamFG-E findet neben den §§ 198 ff. GVG Anwendung. Dabei sollen die Feststellungen, die in den Verfahren nach §§ 155b, 155c FamFG-E getroffen werden, nicht für Verfahren nach § 198 GVG bindend sein.2 Eine detaillierte Analyse der Vorschriften erfolgt an dieser Stelle nicht. Auf einen gravierenden Unterschied zum Regelungskonzept der §§ 198 ff. GVG sei jedoch hingewiesen, der auch die Effektivität der Vorschriften in Frage stellt: Bezugspunkt der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nach § 198 GVG das gesamte Verfahren (S. 103, S. 134 ff.). Danach ist die Erhebung der Verzögerungsrüge als präventives Rechtsschutzinstrument gem. § 198 Abs. 3 S. 2 GVG bereits möglich, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das mit der Sache befasste Gericht das Verfahren nicht in angemessener Zeit abschließen wird. Von diesem Regelungsansatz rücken die §§ 155b, 155c FamFG-E nun offenbar ab. Die Frage der Angemessenheit soll sich demnach nur noch nach dem bisherigen Verfahrensabschnitt beurteilen. Deutlich wird diese Änderung in mehreren Vorschriften. So sollen in der Verzögerungsrüge nach § 155b Abs. 1 FamFG-E Gründe dargelegt werden, warum die bisherige Verfahrensdauer nicht angemessen war; ebenso § 155c Abs. 3 FamFG-E, nach dem das Beschwerdegericht festzustellen hat, ob die bisherige Dauer des Verfahrens angemessen war. Diese Abkehr vom Regelungskonzept des § 198 GVG ist jedoch aus verschiedenen Gründen abzulehnen. Bereits der Wortlaut von § 155b Abs. 1 FamFG-E führt dessen Paradoxie vor Augen. Die Verzögerungsrüge soll eigentlich den Eintritt einer unangemessenen Verfahrensdauer verhindern. Sie ist aber nach § 155b Abs. 1 FamFG-E erst begründet, wenn die bisherige Verfahrensdauer unangemessen ist. Damit die Verzögerungsrüge aber ein effektiver Primärrechtsbehelf ist, müssen die Hürden für die Annahme der 2 BT-Drs. 18/6985 unter Berücksichtigung des Änderungsantrages vom 17.02.2016, S. 7. Abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/ Formulierungshilfe_Aenderung_Sachverstaendigenrecht.pdf?__blob=publicationFile&v=1, zuletzt geprüft am 28.07.2016.
4. Kapitel: Ausblick
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Unangemessenheit der bisherigen Verfahrensdauer also niedriger sein als für die Unangemessenheit der Gesamtverfahrensdauer. Zwangsläufig drängen sich somit schwierige Abgrenzungsfragen zu § 198 GVG auf. Ist die bisherige Verfahrensdauer nach § 155 Abs. 1 FamFG-E unangemessen, wenn gem. § 198 Abs. 3 S. 2 GVG Anlass der Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird? Nach dem Gesetzeswortlaut kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass die Verzögerungsrüge nach § 155b Abs. 1 FamFG-E erst dann begründet ist, wenn die Verzögerungen im Verfahren so weit fortgeschritten sind, dass auch die Unangemessenheit der Gesamtverfahrensdauer nicht mehr abgewendet werden kann. Um Unklarheiten und Auslegungsschwierigkeiten vorzubeugen, sollte im weiteren Gesetzgebungsverfahren deshalb auf einen Gleichlauf mit § 198 Abs. 3 S. 2 GVG hingewirkt werden und die Verzögerungsrüge begründet sein, wenn Umstände vorliegen, die befürchten lassen, dass das Gerichtsverfahren in seiner Gesamtheit nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird. Abgesehen davon wird die beschleunigende Wirkung der Verzögerungsrüge nach § 155b FamFG-E durch eine Vielzahl von Regelungsmechanismen sichergestellt. Ganz entscheidend ist, dass dem Gericht nach § 155b FamFG-E kein Ermessen zusteht, ob es überhaupt auf eine erhobene Verzögerungsrüge reagiert. Vielmehr hat der Verfahrensbeteiligte einen Anspruch darauf, dass das Gericht über seine Verzögerungsrüge entscheidet. Dem Betroffenen wird somit ein echter Beschleunigungsrechtsbehelf an die Hand gegeben und die fachgerichtliche Kontrolle über die Beachtung des Verfahrensrechts eröffnet. Hält das Gericht die Verzögerungsrüge für begründet, sieht § 155b Abs. 3 FamFG-E vor, dass das Gericht unverzüglich geeignete Maßnahmen zu ergreifen hat, um die bevorstehende Rechtsverletzung noch abzuwenden. Gegen eine ablehnende Entscheidung des iudex a quo steht dem Verfahrensbeteiligten eine Beschwerdemöglichkeit in Form der Verzögerungsbeschwerde gem. § 155c FamFG-E offen. Diese kann auch dann erhoben werden, wenn das Ausgangsgericht keine Entscheidung innerhalb der in § 155b Abs. 1 FamFG-E normierten Monatsfrist trifft, § 155c Abs. 4 FamFG-E. Unter Berufung auf die richterliche Unabhängigkeit hat die Bundesregierung davon abgesehen, dem Beschwerdegericht die Kompetenz zuzuweisen, selbst Entscheidungen in dem Ausgangsverfahren zu treffen oder bestimmte Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung dem Ausgangsgericht vorzuschreiben.3 Da es dem Beschwerdegericht nicht möglich ist, die Befolgung sei-
3 BT-Drs. 18/6985 unter Berücksichtigung des Änderungsantrages vom 17.02.2016, S. 11. Abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumen te/Formulierungshilfe_Aenderung_Sachverstaendigenrecht.pdf?__blob=publicationFile& v=1, zuletzt geprüft am 28.07.2016.
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ner Entscheidung zu überwachen und gegebenenfalls Sanktionen bei Nichtbeachtung zu verhängen, erscheint es fraglich, ob die Regelung des § 155c Abs. 3 S. 4 FamFG-E der vom EGMR geforderten rechtlichen Bindungswirkung der Entscheidung des Beschwerdegerichtes (S. 25 f.) hinreichend Rechnung trägt. Zu beachten ist jedoch, dass das Gesetz dem Ausgangsgericht ausdrücklich die Pflicht auferlegt, das Verfahren unter Beachtung der rechtlichen Beurteilung des Beschwerdegerichts unverzüglich vorrangig und beschleunigt durchzuführen. Insofern wird die Beachtung der Beschleunigungspflicht des Ausgangsgerichts hinreichend sichergestellt. Um weitere Verzögerungen aufgrund der Durchführung der Rechtsbehelfsverfahren zu verhindern, stellen verfahrensrechtliche Regelungen die zügige Entscheidung über die Verzögerungsrüge und -beschwerde sicher. So hat der iudex a quo über die Verzögerungsrüge gem. § 155b Abs. 1 FamFG-E innerhalb eines Monats nach deren Eingang zu entscheiden. Die Entscheidung über die Verzögerungsbeschwerde, die gem. § 155c Abs. 1 S. 2 FamFG-E innerhalb einer zwei Wochennotfrist eingelegt werden muss, hat der iudex ad quem sogar unverzüglich, spätestens aber innerhalb eines Monats zu treffen (§ 155c Abs. 1 S. 1 FamFG-E). Unter Berücksichtigung der vorgeschlagenen Änderung ist das Regelungskonzept der §§ 155b, 155c FamFG-E geeignet, das Verfahren zu beschleunigen und die drohende Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer abzuwenden. Es genügt daher sowohl den Effektivitätsanforderungen der EMRK als auch des GG. Der Diskurs um den Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer hat mit der Einführung der Paragraphen 198 ff. GVG also nur einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Dies hat auch die Kontroverse auf dem 70. Deutschen Juristentag in Hannover gezeigt. In diesem Zusammenhang erstattete Calliess ein Gutachten mit dem Titel „Der Richter im Zivilprozess – Sind ZPO und GVG noch zeitgemäß?“, in dem die Problematik langandauernder Gerichtsverfahren als Ausdruck von Justizverweigerung ein wesentlicher Bestandteil war.4 Seine Untersuchung mündet unter anderem in der These, in der ZPO ein 6. Buch mit dem Titel „Langandauernde Verfahren“ (§§ 606 ff. ZPO) einzuführen.5 Insofern sollen in Ergänzung zu den §§ 198 ff. GVG nachfolgend dargestellte Regelungen in der ZPO aufgenommen werden6: „a) Definition: Langandauernde Verfahren sind Verfahren, die entweder (1) in der jeweiligen Instanz mehr als doppelt so lang wie der Bundesschnitt aller betreffenden Verfahren
4
Calliess, in: 70. DJT, Bd. I, Gutachten A. Calliess, in: 70. DJT, Bd. I, Gutachten A, S. 108. 6 Calliess, in: 70. DJT, Bd. I, Gutachten A, S. 108 f. 5
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laut Justizstatistik anhängig sind, oder (2) die i.S.v. § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG insgesamt länger als fünf Jahre anhängig sind. b) Im Zuge der Einführung der elektronischen Aktenführung werden sämtliche Verfahren in einer bundesweiten Datenbank darauf überwacht, ob sie langdauernd sind. Der gesetzliche Richter und das zuständige Präsidium erhalten hierüber eine automatische Meldung. c) Ein Richter, der wegen Überlastung oder aus sonstigen Gründen eine Erledigung von einem oder mehreren Verfahren in angemessener Zeit (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG) für unwahrscheinlich hält, hat dies dem zuständigen Präsidium unverzüglich anzuzeigen. d) Erhält das Präsidium Kenntnis von langdauernden Verfahren, so ist es verpflichtet, im Einvernehmen mit dem gesetzlichen Richter Maßnahmen zu ergreifen, die die Erledigung der betroffenen Verfahren in angemessener Zeit ermöglichen. Sofern im Einzelfall der Eintritt einer unangemessenen Dauer (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG) droht, hat das Präsidium unverzüglich wirkungsvolle Maßnahmen (z.B. Abstellung von Gerichtsräten) zur Meidung von Grundrechtsverletzungen zu treffen. e) In langandauernden Verfahren kann das Gericht zunächst den Kläger und sodann den Beklagten auffordern, innerhalb einer Notfrist von vier Wochen ihren Sach- und Rechtsvortrag in einem Schriftsatz, dessen Inhalt das Gericht vorstrukturieren und dessen maximale Länge es angemessen begrenzen kann, zusammenzufassen. Diese Schriftsätze präkludieren früheren Vortrag. f) Langdauernde Verfahren dürfen nur mit ausdrücklicher Zustimmung beider Parteien ausgesetzt, verwiesen oder zurückverwiesen werden. Im Übrigen sind sie vom zuständigen Gericht unverzüglich durch Endurteil oder in sonstiger Weise endgültig zu erledigen. Beträgt die Gesamtverfahrensdauer mehr als fünf Jahre, können Rechtsmittel im Sinne von Buch 3 der ZPO nur noch mit Zustimmung beider Parteien eingelegt werden.“
Im Fokus der vorgeschlagenen Regelungen stehen – anders als bei den §§ 198 ff. GVG – präventive Maßnahmen, mithilfe derer der Eintritt einer überlangen, verfassungswidrigen Verfahrensdauer verhindert werden soll. Sie sind, was Calliess auch betont, nur ein Puzzleteil eines Gesamtkonzeptes, dessen vollständige Darstellung den Rahmen dieser Arbeit aber übersteigen würde. Die hiesige Bewertung der Vorschläge greift daher nur einzelne Aspekte auf. Der Versuch, den Begriff der langandauernden Verfahren zu definieren, fällt sofort ins Auge. Er steht im Widerspruch zur Konzeption des § 198 Abs. 1 S. 2 GVG, der die Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer anhand von absoluten Zeitgrenzen oder der durchschnittlichen Verfahrensdauer verbietet und die Umstände des Einzelfalles für maßgeblich erklärt.7 Inwiefern passt hierzu die Definition der langandauernden Verfahren? Festzuhalten ist, dass der Vorschlag zwischen langandauernden und überlangen Verfahren i.S.v. § 198 Abs. 1 S. 2 GVG unterscheidet und diese Begriffe nicht gleichgesetzt werden. Somit erfassen die vorgeschlagenen Regelungen einen anderen Anwendungsbereich als die §§ 198 ff. GVG, sodass die Definition zumindest aus 7
Roth, JZ 2014, 801 (802).
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verfassungs- und konventionsrechtlicher Perspektive nicht zu beanstanden ist. Zweifel bestehen aber hinsichtlich des Nutzens der Vorschrift. Wenn die Überlänge eines Verfahrens nicht anhand von abstrakten Zeitgrenzen bestimmt wird, wie sinnvoll ist es dann, mittels einer Definition quasi dessen Vorstufe zu bestimmen? Die Beantwortung dieser Frage hat sich daran zu orientieren, welches Ziel mit der Definition verfolgt wird. Calliess knüpft an die Definition der langandauernden Verfahren einen ganzen Maßnahmenkatalog. Dieser umfasst einerseits (gerichts-)organisatorische Bestimmungen (b-d), die besser im GVG aufgehoben wären, andererseits von der ZPO abweichende Verfahrensvorschriften (e-f), die allesamt präventiven Charakter haben und die Beschleunigung der Verfahren zum Ziel haben. Grundsätzlich ist Calliess’ Ausgangspunkt zu begrüßen, dass die elektronische Aktenführung und Kommunikation für ein verbessertes Fallmanagement genutzt werden solle, um so überlangen Verfahren vorzubeugen.8 Die von ihm vorgeschlagene automatisierte Meldung (Punkt b.) ist jedoch nur bedingt geeignet, überlange Verfahren zu verhindern.9 Da dieser Hinweis anknüpfend an die Definition der langandauernden Verfahren nichts darüber aussagt, wie es tatsächlich um die Dauer des Verfahrens „bestellt“ ist – letztlich die Konsequenz des Verzichtes auf die Einzelfallprüfung – kommen Zweifel an ihrer Sinnhaftigkeit auf. Sie ist allenfalls geeignet, bei Richtern und Präsidium die notwendige Aufmerksamkeit für die Existenz langer Gerichtsverfahren zu schaffen und sie so für diese Verfahren zu sensibilisieren. Die gesetzliche Normierung einer Pflicht zur Überlastungsanzeige (Punkt c.) ist dagegen begrüßenswert. So haben die Gerichtsverwaltungen die Möglichkeit, frühzeitig mit entsprechenden Maßnahmen auf die Überlastungsanzeige zu reagieren. Zu vage bleiben die Ausführungen bezüglich der Maßnahmen, die das Präsidium im Falle langandauernder Gerichtsverfahren im Einvernehmen mit dem Richter treffen muss (Punkt d.). Kritik aus der Richterschaft ist diesbezüglich vorprogrammiert. Zudem steht die Verpflichtung zum Aktionismus im Widerspruch dazu, dass die Definition der langandauernden Verfahren gerade nichts über den aktuellen Verfahrensstand aussagt. Viel zu weitgehend und entschieden abzulehnen sind die Vorschläge Calliess hinsichtlich der Änderungen der Verfahrensrechte und -pflichten der beteiligten Parteien bei Vorliegen langandauernder Verfahren (Punkt e. und f.). Das Problem der Beliebigkeit solcher Zeitgrenzen wurde bereits mehrmals angesprochen, sodass die damit verbundene Verkürzung des Rechtsschutzes sicherlich keine Lösung des Problems sein kann. Weiterhin könnte so auch die Langsamkeit des Staates zu Einschränkungen der Verfahrensrechte der
8 9
Calliess, in: 70. DJT, Bd. I, Gutachten A, S. 98. Kritisch Hirtz, NJW 2014, 2529 (2529 ff.).
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Parteien führen, was das Gefüge von Rechten und Pflichten im Prozessrechtsverhältnis vollends durcheinander bringen würde. Wenngleich die Vorschläge Calliess streitbar sind, setzen sie an der richtigen Stelle, nämlich der Prävention, an. Um den Rechtsschutz der §§ 198 ff. GVG zu komplementieren, bedarf es weiterer Schritte des Gesetzgebers – auf verfahrensrechtlicher und gerichtsorganisatorischer Ebene. Der 70. DJT sowie der Gesetzesentwurf zur Einführung einer Verzögerungsbeschwerde im FamFG zeigen, dass die Diskussionen rund um das Thema überlange Verfahrensdauer noch lange nicht am Ende sind. Insofern wird auch in Zukunft die Dauer von Gerichtsverfahren eine gewichtige Rolle bei der Fortentwicklung des Verfahrensrechts spielen.
Rechtsprechungsverzeichnis Rechtsprechungsverzeichnis
EGMR1 EGMR (Gr. Kammer), Urt. v. 10.03.1972 – Nr. 2832/66, 2835/66, 2899/66 (De Wilde, Ooms and Versyp./.Belgien) EGMR (Gr. Kammer), Urt. v. 28.06.1978 – Nr. 6232/73 (König./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 06.05.1981 – Nr. 7759/77 (Buchholz./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 15.07.1982 – Nr. 8130/78 (Eckele./.Deutschland) EGMR (Gr. Kammer), Urt. v. 23.09.1982 – Nr. 7151/75 u. Nr. 7152/75 (Sporrong u. Lönnroth./.Schweden) EGMR, Urt. v. 10.07.1984 – Nr. 8990/80 (Guincho./.Portugal) EGMR (Gr. Kammer), Urt. v. 23.10.1985 (Benthem./.Niederlande) = EuGRZ 1986, 299 EGMR (Gr. Kammer), Urt. v. 29.05.1986 – Nr. 9384/81 (Deumeland./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 23.04.1987 – Nr. 9616/81 (Erkner u. Hofauer./.Österreich) EGMR, Urt. v. 26.10.1988 – Nr. 11371/85 (Martins Moreira./.Portugal) EGMR, Urt. v. 07.07.1989 – Nr. 11681/85 (Unión Alimentaria Sanders S.A./.Spanien) EGMR, Urt. v. 28.06.1990 – Nr. 11761/85 (Obermeier./.Österreich) EGMR, Urt. v. 19.02.1991 – Nr. 11557/85 (Motta./.Italien) EGMR, Urt. v. 20.02.1991 – Nr. 11889/85 (Vernillo./.Frankreich) EGMR, Urt. v. 25.05.1991 – Nr. 11890/85 (Caleffi./.Italien) EGMR, Urt. v. 16.12.1992 – Nr. 12964/87 (Geouffre de la Pradelle./.Frankreich) EGMR, Urt. v. 26.02.1993 – Nr. 12444/86 (Pizetti./.Italien) EGMR, Urt. v. 31.10.1995 – Nr. 14556/89 (Papamichalopoulos u.a./.Griechenland) EGMR, Urt. v. 08.02.1996 – Nr. 20826/92 (A. u.a./.Dänemark) EGMR, Urt. v. 17.12.1996 – Nr. 20940/92, u.a. (Duclos./.Frankreich) EGMR, Urt. v. 21.02.1997 – Nr. 19632/92 (Guillemin./.Frankreich) EGMR, Urt. v. 01.07.1997 – Nr. 20950/92 (Probstmeier./.Deutschland) = NJW 1997, 2809 EGMR (Gr. Kammer), Urt. v. 25.03.1999 – Nr. 25444/94 (Pélissier u. Sassi./.Frankreich) = NJW 1999, 3545 EGMR (Gr. Kammer), Urt. v. 28.07.1999 – Nr. 34884/97 (Bottazzi./.Italien) EGMR, Urt. v. 25.01.2000 – Nr. 37439/97 (Agga./.Griechenland) EGMR, Urt. v. 25.02.2000 – Nr. 29357/95 (Gast u. Popp./.Deutschland) = NJW 2001, 211 EGMR, Urt. v. 06.04.2000 – Nr. 35382/97 (Comingersoll S.A./.Portugal) 1 Soweit die Entscheidungen des EGMR in dieser Arbeit mit dem Zusatz „Hudoc“ versehen sind, beziehen sich die angegebenen Randziffern auf die unter http://hudoc.echr.coe.int abrufbaren Entscheidungsdokumente. Sie sind ohne zusätzliche Quellenangabe in diesem Rechtsprechungsverzeichnis aufgeführt.
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EGMR, Urt. v. 27.06.2000 – Nr. 32842/96 (Nuutinen./.Finnland) EGMR, Urt. v. 27.07.2000 – Nr. 33379/96 (Klein./.Deutschland) = NJW 2001, 213 EGMR (Gr. Kammer), Urt. v. 26.10.2000 – Nr. 30210/96 (Kudła./.Polen) = NJW 2001, 2694 EGMR, Urt. v. 31.05.2001 – Nr. 3759/97 (Metzger./.Deutschland) = NJW 2002, 2856 EGMR, Ent. v. 06.09.2001 – Nr. 69789/01 (Brusco./.Italien) EGMR, Urt. v. 28.02.2002 – Nr. 51022/99 (Palmieri./.Italien) EGMR, Urt. v. 04.04.2002 – Nr. 45181/99 (Volkwein./.Deutschland) EGMR, Ent. v. 25.04.2002 – Nr. 55899/00 (Lammersmann./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 02.07.2002 – Nr. 71891/01 (Hałka./.Polen) EGMR (Gr. Kammer), Ent. v. 11.09.2002 – Nr. 57220/00 (Mifsud./.Frankreich) EGMR (Gr. Kammer), Urt. v. 28.11.2002 – Nr. 25701/94 (früherer König von Griechenland u.a./.Griechenland) EGMR, Urt. v. 16.01.2003 – Nr. 50034/99 (Obasa./.Großbritannien) EGMR, Urt. v. 20.02.2003 – Nr. 50272/99 (Hutchison Reid./.Großbritannien) EGMR, Urt. v. 27.02.2003 – Nr. 39547/98 (Niederböster./.Deutschland) EGMR, Ent. v. 20.03.2003 – Nr. 75379/01 (Dürig./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 31.07.2003 – Nr. 50389/99 (Doran./.Irland) EGMR, Urt. v. 31.07.2003 – Nr. 57249/00 (Herbolzheimer./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 02.10.2003 – Nr. 41444/98 (Hennig./.Österreich) EGMR, Urt. v. 16.12.2003 – Nr. 42083/98 (Mianowski./.Polen) EGMR, Urt. v. 08.01.2004 – Nr. 47169/99 (Voggenreiter./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 10.02.2005 – Nr. 64387/01 (Uhl./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 24.02.2005 – Nr. 63214/00 (Ohlen./.Dänemark) EGMR, Urt. v. 15.07.2005 – Nr. 57019/00 (Çaplik./.Türkei) EGMR, Urt. v. 06.10.2005 – Nr. 23032/02 (Lukenda./.Slowenien) EGMR, Urt. v. 06.10.2005 – Nr. 695854/01 (Müller./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 08.11.2005 – Nr. 6847/02 (Khudoyorov./.Russland) EGMR, Urt. v. 10.11.2005 – Nr. 40324/98 (Süss./.Deutschland) = NJW 2006, 2241 EGMR, Urt. v. 07.02.2006 – Nr. 34539/02 (Debono./.Malta) EGMR (Gr. Kammer), Urt. v. 29.03.2006 – Nr. 36813/97 (Scordino./.Italien) = NJW 2007, 1259 EGMR (Gr. Kammer), Urt. v. 29.03.2006 – Nr. 64886/01 (Cocchiarella./.Italien) EGMR (Gr. Kammer), Urt. v. 29.03.2006 – Nr. 64897/01 (Ernestina Zullo./.Italien) EGMR (Gr. Kammer), Urt. v. 08.06.2006 – Nr. 7552901 (Sürmeli./.Deutschland) = NJW 2006, 2389 EGMR, Urt. v. 29.06.2006 – Nr. 22457 (Božić./.Kroatien) EGMR, Urt. v. 13.07.2006 – Nr. 38033/02 (Stork./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 05.10.2006 – Nr. 75204/01 (Klasen./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 30.11.2006 – Nr. 66824/01 (Lesar./.Slowenien) EGMR, Urt. v. 11.01.2007 – Nr. 20027/02 (Herbst./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 09.10.2008 – Nr. 62936/00 (Moiseyev./.Russland) EGMR, Urt. v. 06.11.2008 – Nr. 7548/04 (Bianchi./.Schweiz) = NJW-RR 2007, 1225 EGMR, Urt. v. 22.01.2009 – Nr. 45749, Nr. 51115/06 (Kaemena u. Thöneböhn./.Deutschland)
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EGMR, Urt. v. 11.06.2009 – Nr. 71972/01 (Mianowicz./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 16.07.2009 – Nr. 1126/05 (D.E./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 16.07.2009 – Nr. 8453/04 (Bayer./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 08.10.2009 – Nr. 37820/06 (Kindereit./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 26.11.2009 – Nr. 13591/05 (Nazarov./.Russland) EGMR, Urt. v. 07.01.2010 – Nr. 40009/04 (Koester./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 04.02.2010 – Nr. 13791/06 (Gromzig./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 30.03.2010 – Nr. 46682/07 (Sinkovec./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 01.04.2010 – Nr. 12852/08 (Niedzwiecki./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 22.04.2010 – Nr. 4824/06 u. Nr. 15512/08 (Macready./.Tschechien) EGMR, Urt. v. 24.06.2010 – Nr. 17384/06 (Kuchejda./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 24.06.2010 – Nr. 25756/09 (Perschke./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 02.09.2010 – Nr. 46344/06 (Rumpf./.Deutschland) = NJW 2010, 3355 EGMR, Urt. v. 27.10.2011 – Nr. 8857/08 (Bergmann./.Tschechien) EGMR, Ent. v. 29.05.2012 – Nr. 19488/09 (Garcia Cancio./.Deutschland) EGMR, Ent. v. 29.05.2012 – Nr. 53126/07 (Taron./.Deutschland) = NVwZ 2013, 47 EGMR, Ent. v. 10.07.2012 – Nr. 23056/09 u.a. (Mianowicz u.a./.Deutschland) EGMR, Ent. v. 10.07.2012 – Nr. 27366/07 u.a. (Schellmann u. JSP Programmentwicklung GmbH & Co. KG u.a./.Deutschland) EGMR, Ent. v. 16.10.2012 – Nr. 49646/10 u. Nr. 3365/11 (Lessing u. Reichelt./.Deutschland) EGMR, Ent. v. 22.01.2013 – Nr. 33071/10 (Kurth./.Deutschland) EGMR, Ent. v. 22.01.2013 – Nr. 41394/11 (Bandelin./.Deutschland) = BeckRS 2014, 81689 EGMR, Urt. v. 04.09.2014 – Nr. 68919/10 (Peter./.Deutschland) EGMR, Urt. v. 15.01.2015 – Nr. 62198/11 (Kuppinger./.Deutschland) = NJW 2015, 1433 BVerfG2 BVerfGE 1, 299 BVerfGE 4, 193 BVerfGE 9, 3 BVerfGE 10, 302 BVerfGE 11, 126 BVerfGE 16, 119 BVerfGE 18, 97 BVerfGE 20, 1 BVerfGE 35, 263 BVerfGE 36, 264 BVerfGE 40, 237 BVerfGE 41, 23 BVerfGE 46, 17 BVerfGE 49, 148 2 Stehen bei nachfolgend aufgeführten Entscheidungen keine Quellenangabe dabei, sind sie unter www.juris.de abgerufen worden. In der Arbeit sind sie durch den Zusatz „juris“ gekennzeichnet.
330 BVerfGE 54, 277 BVerfGE 55, 349 BVerfGE 58, 300 BVerfGE 60, 253 BVerfGE 61, 82 BVerfGE 61, 319 BVerfGE 64, 208 BVerfGE 64, 256 BVerfGE 65, 1 BVerfGE 67, 157 BVerfGE 68, 376 BVerfGE 68, 384 BVerfGE 69, 188 BVerfGE 71, 81 BVerfGE 73, 330 BVerfGE 74, 69 BVerfGE 74, 102 BVerfGE 74, 358 BVerfGE 77, 275 BVerfGE 77, 381 BVerfGE 79, 1 BVerfGE 79, 275 BVerfGE 81, 22 BVerfGE 81, 97 BVerfGE 82, 30 BVerfGE 83, 119 BVerfGE 84, 34 BVerfGE 84, 366 BVerfGE 85, 80 BVerfGE 85, 337 BVerfGE 86, 288 BVerfGE 88, 118 BVerfGE 93, 1 BVerfGE 93, 99 BVerfGE 95, 64 BVerfGE 95, 163 BVerfGE 96, 27 BVerfGE 101, 106 BVerfGE 101, 312 BVerfGE 102, 197 BVerfGE 104, 65 BVerfGE 105, 135 BVerfGE 107, 257 BVerfGE 107, 395 BVerfGE 108, 370 BVerfGE 110, 77 BVerfGE 111, 307 BVerfGE 112, 50 BVerfGE 113, 273
Rechtsprechungsverzeichnis
Rechtsprechungsverzeichnis BVerfGE 114, 258 BVerfGE 116, 1 BVerfGE 116, 135 BVerfGE 118, 168 BVerfGE 122, 190 BVerfGE 123, 148 BVerfGE 128, 326 BVerfGE 129, 78 BVerfGE 131, 47 BVerfGE 133, 168 BVerfG NJW 1966, 1603 BVerfG NJW 1974, 307 BVerfG NJW 1984, 967 BVerfG NJW 1986, 1425 BVerfG NJW 1990, 501 BVerfG NJW 1992, 1498 BVerfG NJW 1992, 1673 BVerfG NJW 1992, 2472 BVerfG NJW 1993, 1635 BVerfG NJW 1993, 3254 BVerfG NJW 1995, 3173 BVerfG NJW 1997, 2811 BVerfG NJW 1999, 2582 BVerfG NJW 2000, 797 BVerfG NJW 2001, 214 BVerfG NJW 2001, 961 BVerfG NJW 2001, 2161 BVerfG NJW 2001, 2707 BVerfG NJW 2003, 1924 BVerfG NJW 2003, 2228 BVerfG NJW 2003, 2897 BVerfG NJW 2004, 2887 BVerfG NJW 2004, 3320 BVerfG NJW 2005, 739 BVerfG NJW 2005, 2169 BVerfG NJW 2005, 3485 BVerfG NJW 2005, 3488 BVerfG NJW 2006, 668 BVerfG NJW 2006, 672 BVerfG NJW 2007, 2464 BVerfG NJW 2007, 2977 BVerfG NJW 2008, 503 BVerfG NJW 2008, 2243 BVerfG NJW 2013, 3432 BVerfG NJW 2013, 3506 BVerfG NJW 2013, 3630 BVerfG NJW 2014, 205 BVerfG NJW-RR 2010, 207
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Rechtsprechungsverzeichnis
BVerfG NStZ 2005, 456 BVerfG NVwZ 2004, 334 BVerfG NVwZ 2004, 471 BVerfG NVwZ 2013, 789 BVerfG NVwZ 2014, 62 BVerfG NVwZ-RR 2011, 625 BVerfG NZS 2010, 381 BVerfG WM 2010, 822 BVerfG, Beschl. v. 02.07.2003 – 2 BvR 273/03 (BeckRS 2003, 24461) BVerfG, Beschl. v. 19.01.2004 – 2 BvR 1904/03 BVerfG, Beschl. v. 27.07.2005 – 2 BvR 282/05 BVerfG, Beschl. v. 06.11.2006 – 2 BvR 2166/06 BVerfG, Beschl. v. 24.07.2008 – 1 BvR 547/06 BVerfG, Beschl. v. 02.09.2009 – 1 BvR 3171/08 BVerfG, Beschl. v. 24.09.2009 – 1 BvR 1304/09 BVerfG, Beschl. v. 23.06.2010 – 1 BvR 324/10 BVerfG, Beschl. v. 24.08.2010 – 1 BvR 331/10 BVerfG, Beschl. v. 05.10.2010 – 1 BvR 772/10 BVerfG, Beschl. v. 14.12.2010 – 1 BvR 404/10 BVerfG, Beschl. v. 07.06.2011 – 1 BvR 194/11 BVerfG, Beschl. v. 27.09.2011 – 1 BvR 232/11 BVerfG, Beschl. v. 17.11.2011 – 1 BvR 3155/09 BVerfG, Beschl. v. 02.12.2011 – 1 BvR 314/11 BVerfG, Beschl. v. 21.12.2011 – 1 BvQ 44/11 BVerfG, Beschl. v. 23.05.2012 – 1 BvR 359/09 BVerfG, Beschl. v. 30.05.2012 – 1 BvR 2292/11 BVerfG, Beschl. v. 20.06.2012 – 2 BvR 1565/11 BVerfG, Beschl. v. 13.08.2012 – 1 BvR 1098/11 BVerfG, Beschl. v. 28.01.2013 – 2 BvR 1912/12 BVerfG, Beschl. v. 06.06.2013 – 2 BvQ 26/13 BVerfG, Beschl. v. 13.06.2013 – 1 BvR 1942/12 BVerfG, Beschl. v. 08.10.2014 – 1 BvR 2186/14 BVerfG, Beschl. v. 16.10.2014 – 2 BvR 437/12 BVerfG, Beschl. v. 25.04.2015 – 1 BvR 3326/14 BVerfG, Beschl. v. 17.12.2015 – 1 BvR 3164/13 BFH BFH, Beschl. v. 12.03.2013 – X S 12/13 BFH, Urt. v. 17.04.2013 – X K 3/12 BFH, Beschl. v. 12.06.2013 – X K 2/13 BFH, Urt. v. 07.11.2013 – X K 13/12 BFH, Urt. v. 20.11.2013 – X K 2/12 BFH, Urt. v. 18.03.2014 – X K 4/13 BFH, Urt. v. 20.08.2014 – X K 9/13
Rechtsprechungsverzeichnis BGH BGHZ 6, 270 BGHZ 13, 88 BGHZ 13, 142 BGHZ 28, 104 BGHZ 30, 19 BGHZ 30, 338 BGHZ 33, 321 BGHZ 36, 370 BGHZ 36, 379 BGHZ 39, 358 BGHZ 46, 74 BGHZ 49, 148 BGHZ 49, 267 BGHZ 50, 14 BGHZ 51, 326 BGHZ 56, 40 BGHZ 56, 57 BGHZ 62, 361 BGHZ 64, 347 BGHZ 84, 292 BGHZ 85, 375 BGHZ 87, 321 BGHZ 90, 255 BGHZ 91, 20 BGHZ 102, 350 BGHZ 111, 158 BGHZ 111, 272 BGHZ 122, 268 BGHZ 123, 1 BGHZ 137, 11 BGHZ 140, 380 BGHZ 142, 66 BGHZ 147, 45 BGHZ 155, 306 BGHZ 162, 49 BGHZ 170, 260 BGHZ 182, 370 BGH NJW 1959, 574 BGH NJW 1977, 437 BGH NJW 1978, 1522 BGH NJW 1979, 651 BGH NJW 1981, 675 BGH NJW 1982, 1277 BGH NJW 1983, 516 BGH NJW 1989, 2619 BGH NJW 1992, 1769
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BGH NJW 2003, 2377 BGH NJW 2004, 1037 BGH NJW 2004, 1243 BGH NJW 2005, 1813 BGH NJW 2006, 903 BGH NJW 2006, 1529 BGH NJW 2007, 224 BGH NJW 2007, 830 BGH NJW 2008, 2126 BGH NJW 2008, 2258 BGH NJW 2009, 3734 BGH NJW 2010, 3160 BGH NJW 2011, 1072 BGH NJW-RR 1988, 1291 BGH NJW-RR 1992, 919 BGH NJW-RR 2009, 144 BGH NStZ 1999, 313 BGH NStZ 2001, 106 BGH NStZ 2003, 384 BGH NStZ 2004, 504 BGH NStZ 2005, 582 BGH NStZ 2009, 104 BGH NStZ-RR 2006, 50 BGH VersR 1963, 1080 BGH VersR 1964, 146 BGH, Urt. v. 21.03.1963 – III ZR 8/62 (BeckRS 1963, 31189395) BGH, Urt. v. 11.03.1980 – VI ZR 91/79 (BeckRS 1980, 30388051) BGH, Beschl. v. 26.04.1990 – III ZR 182/89 BGH, Beschl. v. 01.07.2004 – 3 StR 206/04 BGH, Beschl. v. 22.03.2005 – 3 StR 77/05 (BeckRS 2005, 03993) BGH, Beschl. v. 15.10.2009 – 2 StR 256/09 (BeckRS 2009, 86034) BGH, Urt. v. 04.11.2010 – III ZR 32/10 BGH, Beschl. v. 28.03.2012 – III ZR 177/11 (BeckRS 2012, 08772) BGH, Beschl. v. 27.06.2012 – III ZB 45/12 BGH, Beschl. v. 20.11.2012 – VIII ZB 49/12 BGH, Urt. v. 11.07.2013 – III ZR 361/12 BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12 BGH, Urt. v. 05.12.2013 – III ZR 73/13 BGH, Beschl. v. 18.12.2013 – III ZR 1/13 BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 37/13 BGH, Urt. v. 13.02.2014 – III ZR 311/13 BGH, Beschl. v. 27.02.2014 – III ZR 253/13 BGH, Urt. v. 13.03.2014 – III ZR 91/13 BGH, Urt. v. 10.04.2014 – III ZR 335/13 BGH, Beschl. v. 30.04.2014 – XII ZB 136/14 BGH, Urt. v. 21.05.2014 – III ZR 355/13 BGH, Urt. v. 17.07.2014 – III ZR 228/13 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14
Rechtsprechungsverzeichnis BGH, Urt. v. 08.10.2015 – III ZR (Ü) 1/15 BSG BSG, Beschl. v. 13.12.2005 – B 4 RA 220/04 B BSG, Beschl. v. 22.12.2006 – B 2 U 65/06 B BSG, Urt. v. 21.02.2013 – B 10 ÜG 2/12 KL BSG, Beschl. v. 27.06.2013 – B 10 ÜG 9/13 B BSG, Urt. v. 10.07.2014 – B 10 ÜG 8/13 R BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 12/13 R BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/13 R BSG, Urt. v. 03.09.2014 – B 10 ÜG 2/14 R BSG, Urt. v. 12.02.2015 – B 10 ÜG 11/13 R BSG, Beschl. v. 12.02.2015 – B 10 ÜG 8/14 B BSG, Urt. v. 05.05.2015 – B 10 ÜG 5/14 R BVerwG BVerwG NVwZ 2003, 869 BVerwG, Urt. v. 29.03.2012 – 2 A 11/10 BVerwG, Beschl. v. 01.06.2012 – 2 B 123/11 BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 23/12 D BVerwG, Urt. v. 11.07.2013 – 5 C 27/12 D BVerwG, Urt. v. 27.02.2014 – 5 C 1/13 D BVerwG, Urt. v. 26.02.2015 – 5 C 5/14 D Landesarbeitsgerichte LAG Chemnitz, Beschl. v. 07.06.2012 – 1 Oa 2/12 Landessozialgerichte LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 20.12.2013 – L 37 SF 82/12 EK R LSG Celle, Urt. v. 28.03.2013 – L 15 SF 10/12 EK LSG Chemnitz, Beschl. v. 08.10.2012 – L 7 AS 822/12 B LSG Darmstadt, Urt. v. 06.02.2013 – L 6 SF 6/12 EK U LSG Erfurt, Urt. v. 26.11.2013 – L 3 SF 1135/12 EK LSG Halle (Saale), Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 ÜG LSG Mainz, Urt. v. 25.09.2013 – L 4 SF 40/12 EK AS LSG Neustrelitz, Urt. v. 13.02.2013 – L 12 SF 3/12 EK AL LSG Neustrelitz, Urt. v. 28.11.2013 – L 11 SF 25/12 EK U LSG Neustrelitz, Urt. v. 22.07.2014 – L 12 SF 47/13 EK U WA LSG Potsdam, Urt. v. 13.09.2012 – L 38 SF 73/12 EK AS LSG Potsdam, Beschl. v. 14.09.2012 – L 11 VE 14/12 B LSG Stuttgart, Urt. v. 21.11.2012 – L 2 SF 436/12 EK LSG Stuttgart, Beschl. v. 28.11.2012 – L 2 SF 1495/12 EK LSG Stuttgart, Urt. v. 20.02.2013 – L 2 SF 1495/12
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Oberlandesgerichte OLG Bamberg FamRZ 2000, 1287 OLG Brandenburg OLG-NL 2000, 263 OLG Brandenburg FamRZ 2007, 491 OLG Brandenburg FamRZ 2009, 906 OLG Brandenburg MDR 2015, 914 OLG Bremen NJW 1969, 1908 OLG Celle MDR 1985, 591 OLG Dresden OLG-NL 2001, 45 OLG Düsseldorf MDR 2008, 406 OLG Düsseldorf NJW 2009, 2388 OLG Frankfurt FamRZ 2007, 1030 OLG Frankfurt NJW 2001, 3270 OLG Hamburg NJW-RR 1989, 1022 OLG Karlsruhe NJW 1984, 985 OLG Karlsruhe FamRZ 1994, 46 OLG Karlsruhe FamRZ 2004, 53 OLG Karlsruhe MDR 2007, 1393 OLG Karlsruhe NJOZ 2007, 2997 OLG Koblenz NJW-RR 1992, 191 OLG Köln NJW-RR 1998, 1683 OLG Köln NJW-RR 1999, 290 OLG Magdeburg MDR 2009, 948 OLG München NJOZ 2007, 45 OLG Naumburg NJOZ 2005, 2988 OLG Naumburg FamRZ 2006, 967 OLG Naumburg FamRZ 2007, 2090 OLG Saarbrücken NJW-RR 1998, 1531 OLG Saarbrücken NJW-RR 1999, 1290 OLG Schleswig NJW 1981, 691 OLG Schleswig NJW 1982, 246 OLG Schleswig NJW-RR 2010, 798 OLG Zweibrücken NJW-RR 2003, 1653 OLG Braunschweig, Urt. v. 08.02.2013 – 4 SchH 1/12 OLG Braunschweig, Beschl. v. 26.04.2013 – 6 SchH 2/13 OLG Braunschweig, Urt. v. 11.04.2014 – 6 SchH 1/13 OLG Bremen, Urt. v. 20.02.2013 – 1 SchH 9/12 (EntV) OLG Bremen, Urt. v. 04.07.2013 – 1 SchH 10/12 (EntV) OLG Celle, Urt. v. 23.06.2011 – 16 U 130/10 (BeckRS 2012, 05949) OLG Celle, Beschl. v. 15.02.2012 – 23 SchH 1/12 OLG Celle, Beschl. v. 09.05.2012 – 23 SchH 6/12 OLG Celle, Urt. v. 24.10.2012 – 23 SchH 3/12 OLG Celle, Urt. v. 24.10.2012 – 23 SchH 10/12 OLG Celle, Urt. v. 20.12.2012 – 23 SchH 15/12 OLG Celle, Beschl. v. 17.12.2013 – 23 SchH 6/13 OLG Dresden, Urt. v. 24.07.2013 – 19 SchH 16/12 EntV (BeckRS 2014, 12320) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 15.02.2012 – II-8 WF 21/12 8 WF 21/12
Rechtsprechungsverzeichnis OLG Frankfurt, Urt. v. 30.01.2013 – 4 EntV 9/12 OLG Frankfurt, Beschl. v. 10.04.2013 – 3 Ws 245/13 OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12 OLG Frankfurt, Urt. v. 05.06.2013 – 4 EntV 10/12 OLG Frankfurt, Urt. v. 10.07.2013 – 4 EntV 3/13 OLG Hamburg, Beschl. v. 19.03.2012 – 3 Vollz (Ws) 9/12 OLG Hamburg, Urt. v. 10.01.2013 – 14 OGV 1/12 (BeckRS 2014, 03217) OLG Hamm, Urt. v. 08.01.2010 – 11 U 27/06 (BeckRS 2010, 01415) OLG Hamm, Urt. v. 17.06.2011 – 11 U 27/06 (BeckRS 2011, 16744) OLG Hamm, Beschl. v. 26.09.2012 – 11 Sch H 6/12, I-11 Sch H 6/12 OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2013 – 23 SchH 4/12 EntV OLG Karlsruhe, Urt. v. 03.05.2013 – 23 SchH 1/13 EntV OLG Koblenz, Beschl. v. 20.01.2014 – 3 W 695/13 (BeckRS 2014, 01742) OLG Köln, Urt. v. 21.03.2013 – 7 SchH 5/12 OLG Köln, Urt. v. 31.10.2013 – 7 SchH 7/12 OLG Naumburg, Urt. v. 30.05.2013 – 1 ESV 4/12 OLG Rostock, Beschl. v. 25.07.2012 – I WS 176/12 OLG Rostock, Urt. v. 22.05.2013 – 1 SchH 2/12 (BeckRS 2014, 15590) OLG Schleswig, Beschl. v. 30.08.2012 – 11 SchH 3/12 OLG Schleswig, Urt. v. 08.04.2013 – 18 SchH 3/13 Oberverwaltungsgerichte OVG Münster NJW 1993, 2259 OVG Bautzen, Urt. v. 15.01.2013 – 11 F 1/12 OVG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – OVG 3 A 1.12 OVG Berlin, Urt. v. 12.09.2012 – OVG 3 A 2.12 OVG Berlin, Urt. v. 26.02.2013 – OVG 3 A 6.12 OVG Berlin, Urt. v. 26.02.2013 – OVG 3 A 11.12 OVG Greifswald, Beschl. v. 23.01.2012 – 1 O 4/12 u.a. OVG Lüneburg, Urt. v. 04.09.2014 – 21 F 1/13 OVG Magdeburg, Urt. v. 25.07.2012 – 7 KE 1/11 Sonstige RGZ 116, 90 BayOblG FamRZ 1998, 1240 BayOblG NJWE-FER 1998, 256 KG Berlin NJW-RR 2005, 374 KG Berlin, Urt. v. 11.12.2012 – 7 SchH 5/12 EntV LG Aachen, Urt. v. 05.12.2011 – 71 Ns-1 Js 218/08-61/11 LG Bad Mainz, Beschl. v. 05.11.2013 – 9 O 376/06 [unveröffentlicht] LG Dortmund, Urt. v. 16.12.2005 – 8 O 36/05 (BeckRS 2010, 29257) LG München, Urt. v. 12.01.2005 – 9 O 17286/03 (BeckRS 2011, 11982) LG Rostock, Beschl. v. 24.04.2012 – 12 StVK 1626/11 -1 [unveröffentlicht] SG Chemnitz, Beschl. v. 17.07.2012 – S12 AS 5755/11 [unveröffentlicht] VerfGH Berlin, Beschl. v. 16.01.2015 – 84/13
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Sachregister Sachregister
Amtshaftung 44 ff., 290 ff., 304 f. Anhörungsrüge 39, 84, 88, 117 Besorgnis der Befangenheit 42, 66, 72 f., 104, 261, 282 f., 296, 303 Dienstaufsichtsbeschwerde 41, 66, 71 f., 73, 101, 282, 296, 303 Dulden und Liquidieren 96, 100, 114, 120, 127, 131 Durchschnittliche Verfahrensdauer 1 f., 16, 122, 146 ff., 262, 298 Einstweiliger Rechtsschutz 37, 81 f., 86, 91, 110, 211 Entschädigung - Pauschalierung 208 f. - Umfang 192 ff. - Unbilligkeit 212 f. Entschädigungsanspruch - Anspruchsgegner 94 ff. - Anspruchsinhaber 90 ff. - Anwendungsbereich 79 ff. - Haftungstatbestand 79 ff. - Rechtsfolgen 191 ff. - Übertragung 231 - Vererbung 231 f. - Verjährung 232 Entschädigungsverfahren - Entscheidung 264 ff., 275 f. - Klagearten 247 ff. - Klagefristen 257 ff.
- Kosten 25, 268 f., 277 - Rechtsmittel 25, 267 f. - Streitgegenstand 256 f., 267, 292 - Teilklage 251 ff. - Zuständigkeit 255 f., 269 ff. Erfolgsunrecht 133, 138, 173, 204 f., 267, 286, 290, 304 Feststellung d. überlangen Verfahrensdauer 109 ff., 112 f., 116, 129, 206, 220 f., 226 ff., 247 ff., 259, 265 f. Gerichtsverfahren - Definition 79 ff. - Zeitspanne 86 ff. Handlungsunrecht 173, 204 f., 267, 286, 290, 304 Masseverfahren 213 ff. Nachteil - Definition 188 f. - Kausalität 190 - Immaterieller ~ 189 f., 205 ff., 216 - Materieller ~ 189, 196 f. Primärrechtsschutz 19 f., 21, 28 ff., 36 f., 280, 297, 301 ff. Prozesskostenhilfeverfahren 84 f., 86 f., 91, 214 f., 267
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Sachregister
Prüfungsmethodik d. Verfahrensdauer - BFH 147 f., 152 f. - BGH 172 f. - BSG 147, 152 f. - BVerfG 16 f. - EGMR 9 ff. - Parameter 154 ff. Rechtsbehelf - Kompensatorisch 23 ff., 191, 200, 204 f., 223 - Präventiv 20, 25 f., 29 ff., 96, 126 ff., 130, 297, 301 ff. - Verhältnis 23 f., 29 ff., 33, 129 ff. Richterliche Unabhängigkeit 41, 47 f., 50, 52, 59, 63 ff., 126, 172 ff., 176, 187, 246, 273 f., 292, 301 Sekundärrechtsschutz 20 f., 29 f., 297, 304 ff. Sorgerechtsverfahren 23 f., 101, 127, 163, 281, 319 Übergangsvorschrift - Abgeschlossene Verfahren 241 ff. - Anhängige Verfahren 233 ff. Überlange Verfahrensdauer - Absolute Zeitgrenzen 144 f. - Bezugspunkt 11, 95, 99, 112, 134 ff., 180, 254, 256, 320 - Relative Zeitgrenzen 145 ff. - Umstände des Einzelfalles 9, 11, 15, 25, 63, 134, 138, 144, 146, 150 f., 160 ff., 169 ÜGRG - Entstehungsgeschichte 75 ff. - Grundkonzeption 79 f. Umgangsrechtsverfahren, siehe auch Sorgerechtsverfahren
Unangemessene Verfahrensdauer, siehe auch überlange Verfahrensdauer Untätigkeitsbeschwerde 38 ff., 67, 71 f., 74, 248, 278 ff., 284, 296, 303 Verfahrensverzögerung - Abwägung 14, 157, 159, 170 ff. - Definition 14, 157 - Fehlerhafte Rechtsanwendung 176 ff. - Gesamtbetrachtung 180 ff. - Kompensation/Heilung 82, 85, 135 ff., 140, 180, 240 - Prüfungskriterium 14, 157 - Unangemessene ~ 159 Verfassungsbeschwerde 42 ff., 67, 71 f., 73, 87, 283 ff., 296, 303 Vertretbarkeitskontrolle 52, 58 ff., 62 f., 173 ff., 292 Verzögerungsrüge 95 ff. - Adressat 105 - Begründung 103, 117 f. - Bezeichnung 99, 116 f. - Fehlerhafte ~ 109 ff., 250 - Hinweisobliegenheit 101 f., 115 f. - Inhalt 99 f. - Mehrmalige Erhebung 105 ff. - Rechtsqualität 96 - Widerruf 98 - Wirkung 96, 110, 117, 119 ff. - Zeitpunkt 103 ff., 113 ff., 118 Wiedergutmachung auf andere Weise - Formen 220 ff. - Rechtsnatur 205 ff. - Umstände des Einzelfalles 205, 224 f., 229 - Verhältnis zur Geldentschädigung 222 ff., 228 f., 249