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German Pages 239 [241] Year 2017
Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht Band 134 herausgegeben von Rolf Stürner
Lucia Hofmarksrichter
Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren im Lichte der Vorgaben des EGMR
Mohr Siebeck
Lucia Hofmarksrichter, geboren 1983; Studium der Rechtswissenschaften in München; Rechtsreferendariat am Oberlandesgericht München; 2011 Zweites Staatsexamen; Rechtsanwältin im Bereich Prozessführung und Schiedsverfahren in München.
e-ISBN PDF 978-3-16-154988-5 ISBN 978-3-16-154835-2 ISSN 0722-7574 (Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen gesetzt und auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden.
Für Georg
Une circostance essentielle à la justice, c’est de la faire promptement et sans différe; la faire attendre, c’est injustice. Jean de La Bruyère
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2015/2016 von der Juristischen Fakultät der Universität Regensburg als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde im Dezember 2015 abgeschlossen und im Juni 2016 um Hinweise auf aktuelle Rechtsprechung und Literatur ergänzt. Mein besonderer Dank gilt meinem hochgeschätzten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Herbert Roth, der mein Interesse an der vorliegenden Arbeit von Anfang an unterstützt und stets gefördert hat. Ohne seine ausgezeichnete Betreuung und die wertvollen und hilfreichen Anregungen wäre mir die Erstellung der Dissertation nicht möglich gewesen. Mein Dank gilt außerdem Herrn Prof. Dr. Christoph Althammer für die Erstellung des Zweitgutachtens. Die mündliche Prüfung fand am 7. Juni 2016 in Regensburg unter Vorsitz von Herrn Prof. Dr. Carsten Herresthal, LLM (Duke) statt, dem ich an dieser Stelle gleichermaßen danken möchte. Für ihre Fürsorge und Unterstützung danke ich meiner Familie, ganz besonders danke ich meinem Patenonkel Georg Denoke für seine außergewöhnliche Unterstützung während der gesamten Zeit der Erstellung der Arbeit sowie allen Freunden, die durch Zuspruch und moralische Unterstützung diese Arbeit bereichert haben, an erster Stelle Katharina, Isabella und Max. Größter Dank gebührt Frau Akad. Rätin Dr. Victoria Ibold, Frau RAin Dr. Carla Auer-Thies, Frau Notarin Dagmar Kerler, Herrn PD Dr. Martin Fries, LLM (Stanfort) und Herrn Prof. Dr. Christian Gomille, von deren stetiger Bereitschaft zum juristischen Diskurs und weiterführenden Hinweisen die Arbeit an vielen Stellen profitiert. Schließlich möchte ich an dieser Stelle aufrichtig Herrn RA Prof. Dr. Holger Peres danken, dessen Disziplin, wissenschaftliches Wirken und juristische Präzision mir bei Erstellung dieser Arbeit stets ein Vorbild waren und weiterhin sind. München, den 25. Juli 2016
Lucia Hofmarksrichter
Inhaltsverzeichnis Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X XIII
Teil I Grundlagen 1. Kapitel: Überlange Dauer von Zivilverfahren: Situation in Deutschland und systemisches Problem für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention . . . 3 A. Bedeutung der angemessenen Verfahrensdauer von Zivilprozessen für effektiven Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 I. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer als Indiz für effektive Justizsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 II. Konventions- und verfassungsrechtliche Grundlagen des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer – Interessenkonflikte – einfachgesetzliche Ausprägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2. Konventionsrechtliche Grundlage (EMRK) . . . . . . . . . . . . 5 3. Interessenkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 4. Einfachgesetzliche Ausprägungen des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 B. Überblick über die Neuregelung nach §§ 198 ff. GVG: Zweigeteilter Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer (Verzögerungsrüge und Entschädigungsanspruch) . . . . . . . . . . . . . 8 C. Die statistische Verfahrensdauer von Zivilprozessen – Ursachen und Folgen überlanger Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . 9 I. Die Destatis-Rechtspflegestatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1. Bundesdurchschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2. Die Länderstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 II. Das Justizbarometer (EU Justice Scoreboard) und der Bericht der European Commission for the Efficiency of Justice (CEPEJ) . . . 11 III. Die Statistiken des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte . . 11 IV. Ursachen und Folgen überlanger Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . 12 1. Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
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2. Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 D. Beispielfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Die Entscheidung des EGMR in der Sache Norbert Kind/ Deutschland vom 20.02.2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 a) Verfahren vor dem Landgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 b) Verfahren vor dem Oberlandesgericht . . . . . . . . . . . . . . 14 c) Verfahren vor dem Bundesgerichtshof/ Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2. Entscheidungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 a) Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . 15 b) Anwendung von Art. 41 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 II. Die Entscheidung des EGMR in der Sache Sürmeli/ Deutschland vom 08.06.2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2. Entscheidungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 a) Verletzung von Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 b) Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . 18 c) Anwendung von Art. 41 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 III. Die Entscheidung des EGMR in der Sache Grässer/ Deutschland vom 05.10.2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 a) Erstes Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 b) Erste Neuverhandlung vor dem Oberlandesgericht . . . . . . . 20 c) Zweite Neuverhandlung vor dem Oberlandesgericht . . . . . . 20 d) Dritte Neuverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 e) Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . 21 2. Entscheidungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 a) Maßgeblicher Zeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 b) Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . 21 c) Anwendung von Art. 41 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 IV. Die Entscheidung des EGMR in der Sache Wildgruber/ Deutschland vom 21.01.2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 a) Erster Verfahrensabschnitt vor dem Amtsgericht . . . . . . . . 22 b) Zweiter Verfahrensabschnitt vor dem Amtsgericht . . . . . . . 23 c) Dritter Verfahrensabschnitt vor dem Amtsgericht . . . . . . . . 23 d) Verfahren vor dem Oberlandesgericht . . . . . . . . . . . . . . 24 e) Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . 24 2. Entscheidungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 a) Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . 24 b) Verletzung von Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 c) Anwendung von Art. 41 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 V. Die Entscheidung des EGMR in der Sache Grumann/ Deutschland vom 21.10.2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
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1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 a) Verfahren vor dem Landgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 b) Verfahren vor dem Oberlandesgericht und vor dem Bundesgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2. Entscheidungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 a) Behauptete Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . 27 b) Anwendung von Art. 41 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
2. Kapitel: Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Anlass für die Einführung der §§ 198 ff. GVG . . . 29 A. Historie des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) . . . . . . 29 B. Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung des EGMR in der Sache Kudla/Polen: Der Referentenentwurf vom 22.08.2005 – Untätigkeitsbeschwerdengesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 I. Regelungsziel und Inhalt des Referentenentwurfs vom 22.08.2005 . . 31 II. Stellungnahmen zum Referentenentwurf vom 22.08.2005 . . . . . . 33 C. Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung des EGMR in der Sache Sürmeli/Deutschland: Der Referentenentwurf vom 15.03.2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 I. Regelungsziel und Inhalt des Referentenentwurfs vom 15.03.2010 . . 34 II. Stellungnahmen zum Referentenentwurf vom 15.03.2010 . . . . . . . 35 1. Stellungnahme des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Stellungnahmen der Bayerischen Landesjustizverwaltung . . . . . 35 3. Stellungnahmen der Verbände (Deutscher Richterbund, Deutscher Anwaltsverein, Bundesrechtsanwaltskammer) . . . . . 36 D. Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung des EGMR in der Sache Rumpf/Deutschland: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 17.11.2010 und das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) vom 24.11.2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 I. Allgemeine Begründung des Gesetzentwurfs: Umsetzung der Vorgaben des EGMR/Lösung der Interessenkonflikte durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 II. Inhaltliche Änderungen des Gesetzentwurfs vom 17.11.2010 . . . . . 39 1. Entschädigungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2. Entschädigungsrechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3. Entschädigungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 5. Kostenregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 III. Stellungnahmen des Bundesrates – Entgegnung der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Stellungnahmen des Bundesrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
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a) Umfang der Entschädigung (Nr. 2) . . . . . . . . . . . . . . . 42 b) Systematik des deutschen Schadensersatzrechts – Beweislastumkehr für immaterielle Nachteile (Nr. 4) . . . . . . 43 c) Prozessuales – Entschädigungsklage . . . . . . . . . . . . . . . 43 d) Zum Gesetzentwurf im Allgemeinen: Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR (Nr. 18) . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Entgegnung der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 a) Umfang der Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 b) Systematik des deutschen Schadensersatzrechts – Beweislastumkehr für immaterielle Nachteile . . . . . . . . . . 44 c) Prozessuales/Entschädigungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . 45 aa) Parallelität von Ausgangs- und Entschädigungsverfahren (Nr. 6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 bb) Überlange Entschädigungsverfahren (Nr. 9) . . . . . . . . . . 46
d) Zum Gesetzentwurf im Allgemeinen: Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR (Nr. 18) . . . . . . . . . . . . . 46 IV. Lesungen im Bundestag, Öffentliche Anhörung, Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses vom 28.09.2011 . . . 47 1. Erste Beratung im Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2. Rechtsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 V. Das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) vom 24.11.2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Teil II Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer von Zivilprozessen nach §§ 198 ff. GVG 3. Kapitel: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs bei überlanger Verfahrensdauer nach §§ 198 ff. GVG . . . . 53 A. Die Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 I. Anspruchsberechtigung nach § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG und Haftungsschuldner nach § 200 GVG . . . . . . . . . . . . . . . 53 1. Aktivlegitimation, § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG . . . . . . . . . . . . . 53 2. Passivlegitimation, § 200 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 II. Der Begriff des Gerichtsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1. Ordentliche Gerichtsbarkeit in Zivilsachen/Schiedsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2. „Gerichtsverfahren“ nach § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG . . . . . . . . . 56 a) In sachlicher Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 b) In zeitlicher Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
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III. Überlange Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1. Methodik zur Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 a) Keine Fristenlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 b) Gesamtabwägung im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2. Beurteilungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3. Die Kriterien zur Überprüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer im Sinne von § 198 Abs. 1 S. 1 GVG . . . . . . . 61 a) Die Angemessenheitskriterien nach § 198 Abs. 1 S. 2 GVG . . . 61 aa) Schwierigkeit des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 bb) Bedeutung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 cc) Verhalten Verfahrensbeteiligter und Dritter . . . . . . . . . . 64 (1) Verhalten der Verfahrensbeteiligten . . . . . . . . . . . . 64 (2) Verhalten Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 (3) Abgrenzung nach Risikosphären . . . . . . . . . . . . . . 66 b) Verfahrensführung durch das Gericht . . . . . . . . . . . . . . 67 aa) Gestaltungsspielraum der Gerichte: Abwägung mit den Kriterien aus § 198 Abs. 1 S. 2 GVG . . . . . . . . . . . . . . 67 bb) Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, Art. 97 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 cc) Parallele zum Amtshaftungsprozess: Spannungsverhältnis zwischen richterlicher Unabhängigkeit und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 dd) Verschulden ist keine Voraussetzung . . . . . . . . . . . . . 70
4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 IV. Kausaler Nachteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1. Der Begriff des Nachteils im Sinne von § 198 Abs. 1 S. 1 GVG . . . 72 2. Materieller Nachteil/Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 a) Materielle Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 b) Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3. Immaterieller Nachteil/Vermutung der Kausalität, § 198 Abs. 2 S. 1 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 a) Immaterielle Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 b) Widerlegbare Vermutung der Kausalität, § 198 Abs. 2 S. 1 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 V. Erhobene Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG . . . . . . . . . 77 1. Rügeobliegenheit mit doppeltem Zweck: Prävention und Missbrauchsabwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 a) Obliegenheit zur Erhebung der Verzögerungsrüge im Ausgangsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 b) Doppelter Rügezweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 aa) Präventiveffekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 bb) Missbrauchsabwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2. Rechtsnatur der Verzögerungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 a) Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
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b) Kein Rechtsmittel mangels Devolutiv- und Suspensiveffekt der Verzögerungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 b) Kein Rechtsbehelf mangels Beschwerdemöglichkeit und Entscheidungspflicht des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . 80 c) Die Verzögerungsrüge als Prozesshandlung . . . . . . . . . . . 81 aa) Der Begriff der Prozesshandlung . . . . . . . . . . . . . . . 81 bb) Die Prozesshandlungsqualität der Verzögerungsrüge . . . . . . 82 cc) Wirksamkeitsvoraussetzungen der Verzögerungsrüge als Prozesshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3. Rügeerhebung beim Ausgangsgericht, § 198 Abs. 3 S. 1 GVG . . . 83 a) Rügeberechtigung, § 198 Abs. 3 S. 1 GVG . . . . . . . . . . . . 83 b) Rügezeitpunkt, § 198 Abs. 3 S. 2 GVG . . . . . . . . . . . . . . 84 aa) Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 bb) Keine Rügefrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 bb) Frühester Rügezeitpunkt, § 198 Abs. 3 S. 2 GVG . . . . . . . . 84 (1) „Anlass zur Besorgnis“, § 198 Abs. 3 S. 2 GVG . . . . . . . 84 (a) Begriff der Besorgnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 (b) Begriff des Anlasses . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 (2) Konkrete Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . 86 cc) Die verfrühte Rüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 dd) Spätester Rügezeitpunkt, § 198 Abs. 3 S. 2 , HS. 1 GVG . . . . 87 (1) Keine gesetzliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 (2) Keine Rechtsfolge bei verspäteter Rüge . . . . . . . . . . . 87 ee) Der richtige Rügezeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 c) Sperrfrist gegen Kettenrügen, § 198 Abs. 3 S. 2 GVG . . . . . . 88 d) Wiederholung der Rüge, § 198 Abs. 3 S. 5 GVG . . . . . . . . . 88 e) Inhalt der Rügeschrift, § 198 Abs. 3 S. 1, S. 3 GVG . . . . . . . 89 4. Eigene Bewertung der Verzögerungsrüge . . . . . . . . . . . . . . 89 B. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
4. Kapitel: Die Rechtsfolgen und die Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs – Staatshaftungsrechtliche Einordnung der §§ 198 ff. GVG – Verhältnis zu anderen Rechtsbehelfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 A. Rechtsfolge des Entschädigungsanspruchs nach § 198 Abs. 1 GVG: „Angemessene“ Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 I. Angemessene Entschädigung für materielle Nachteile . . . . . . . . . 92 1. Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2. Höhe der Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2. Ersatzfähigkeit des entgangenen Gewinns? . . . . . . . . . . . . . 93 II. Angemessene Entschädigung für immaterielle Nachteile . . . . . . . 94 1. Wiedergutmachung auf andere Weise nach § 198 Abs. 2 , Abs. 4 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2. Höhe der Entschädigung immaterieller Nachteile, § 198 Abs. 2 S. 3, 4 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
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B. Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 C. Gerichtliche Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs nach §§ 198–202 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 I. Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 II. Zuständiges Gericht, § 201 Abs. 1 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. Sachliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2. Örtliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3. Ausschließlichkeit der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit, § 201 Abs. 1 S. 3 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4. Funktionale Zuständigkeit, § 201 Abs. 2 S. 2 GVG . . . . . . . . . 100 II. Klagezeitpunkt/Mindest-(Warte-)Frist nach § 198 Abs. 5 GVG . . . . 101 III. Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Klageantrag/Unzulässigkeit der Feststellungsklage . . . . . . . . . 102 2. Inhalt der Klageschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 IV. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Anzuwendende Verfahrensvorschriften . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Aussetzung des Verfahrens, § 201 Abs. 3 S. 1 GVG . . . . . . . . 103 V. Kosten nach §§ 201 Abs. 2 S. 1, Abs. 3, Abs. 4 GVG . . . . . . . . . . 104 VI. Rechtsmittel, § 201 Abs. 2 S. 3 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 D. (Staats-)Haftungsrechtliche Einordnung der §§ 198 ff. GVG . . . . . . . . 105 I. Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 II. Grundsätze des deutschen (Staats-)Haftungsrechts . . . . . . . . . . 105 1. Differenzierung zwischen Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 a) Schadensersatz nach §§ 249 ff. BGB . . . . . . . . . . . . . . . 105 aa) Grundprinzipien/Schadensermittlung . . . . . . . . . . . . . 105 bb) Umfang/Arten der Ersatzleistung . . . . . . . . . . . . . . . 106 cc) Schadensersatz als staatshaftungsrechtliche Rechtsfolge . . . . 107 b) Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 aa) Gesetzliche Grundlage und Umfang der Entschädigung . . . . 107 bb) Entschädigung als staatshaftungsrechtliche Rechtsfolge . . . . 107 2. Kein „Dulde und Liquidiere“/Vorrang des Primärrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 II. Die §§ 198 ff. GVG als staatshaftungsrechtlicher Anspruch sui generis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 E. Verhältnis der §§ 198 ff. GVG zu anderen Rechtsbehelfen . . . . . . . . . 110 I. Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 II. Anspruchskonkurrenz zum Staatshaftungsanspruch nach § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 III. Unzulässigkeit der außerordentlichen Beschwerde, § 567 ZPO . . . . 111 IV. Verhältnis zur Dienstaufsichtsbeschwerde, § 26 Abs. 2 DRiG . . . . . 113 V. Unzulässigkeit der (Untätigkeits-)Verfassungsbeschwerde, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, vor Durchführung des Entschädigungsverfahrens nach §§ 198 ff. GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 VI. Individualbeschwerde beim EGMR nach Art. 35 EMRK . . . . . . . 113 F. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
XVIII
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Teil III Effektivität der §§ 198 ff. GVG nach den Vorgaben des EGMR für Rechtsschutzsysteme bei überlanger Verfahrensdauer? 5. Kapitel: Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 A. Vorfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 I. Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR für das deutsche Zivilverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Die EMRK in der deutschen Normenhierarchie . . . . . . . . . . 117 2. Rechtswirkungen der Entscheidungen des EGMR . . . . . . . . . 119 a) Innerstaatliche Wirkungen der Rechtsprechung des EGMR . . 119 b) Konventionskonforme Auslegung des Entschädigungsanspruchs nach § 198 GVG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 aa) Auslegungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 bb) Auslegungsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 (1) Auslegungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 (2) Auslegungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 c) Wirkung der Rechtsprechung des EGMR aus konventionsrechtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 aa) Inhalt des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 bb) Wirkung des Urteils im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . 126 cc) Urteilswirkung im Übrigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 II. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 B. Schutzbereich des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 I. Normtextliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Das Sprachenregime der EMRK/Auslegung der EMRK . . . . . . 129 2. Textfassungen/Übersetzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . 130 II. Anwendungsbereich von Art. 6 Abs.1 S. 1 EMRK . . . . . . . . . . . 130 1. Sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) Autonome Konventionsauslegung durch den EGMR . . . . . . 130 b) „Zivilrechtlicher Anspruch und Verpflichtung“ („civil rights and obligations“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 aa) „Zivilrechtliche“ Qualifikation des Anspruchs . . . . . . . . 131 bb) Entscheidung über einen „Anspruch“ („determination of rights“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 cc) „Streitigkeit“ über ein Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
2. Persönlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 II. Bestimmung des zu berücksichtigenden Zeitraums . . . . . . . . . . 135 1. Beginn des zu berücksichtigenden Zeitraums . . . . . . . . . . . 135 2. Ende des zu berücksichtigenden Zeitraums . . . . . . . . . . . . . 136 3. Berücksichtigung einer Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . 137 III. Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer . . . . . . . . . 138
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1. Methodik des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Kriterien des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Komplexität der Sache („complexity of the case“) . . . . . . . . 139 aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 bb) Rechtliche Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 cc) Tatsächliche Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 b) Verhalten des Beschwerdeführers („conduct of the applicant“)/Pflichten aufgrund des Beibringungsgrundsatzes in Zivilverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 c) Verhalten der Behörden und Gerichte („conduct of the authorities“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 aa) Verfahrensführung durch das Gericht . . . . . . . . . . . . . 141 bb) Gerichtsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 d) Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer („what was at stake for the applicant“): Fallgruppen in der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . 143 aa) Familienrecht im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 bb) Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter/deliktische Schadensersatzansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 cc) Bedrohung der Existenzgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . 144 dd) Hohes Alter des Beschwerdeführers . . . . . . . . . . . . . . 144
3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 C. „Gerechte“ Entschädigung nach Art. 41 EMRK . . . . . . . . . . . . . . 145 I. Feststellung der Konventionsverletzung – Unvollkommene Wiedergutmachung nach dem nationalen Recht – Rechtsnatur des Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 II. Feststellung der Konventionsverletzung als hinreichende Wiedergutmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 III. Entschädigung für materielle und immaterielle Schäden . . . . . . . . 146 1. Materielle Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2. Immaterielle Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 IV. Kosten und Auslagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 D. Vereinbarkeit der §§ 198 ff. GVG mit den Vorgaben aus Art. 6 Abs. 1. EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
6. Kapitel: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer nach Art. 13 EMRK . . . . . . . 149 A. Normtextliche Grundlagen und besondere Bedeutung von Art. 13 EMRK im innerstaatlichen Bereich – Verhältnis von Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 I. Konventionstext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 II. Allgemeines zu Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 II. Verhältnis von Art. 13 EMRK und Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . 150
XX
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1. Spezialitätsverhältnis/Absorption der Rechte aus Art. 13 EMRK . 150 2. Rechtsprechungsänderung durch die Entscheidung Kudla/Polen . 151 3. Nebeneinander von Art. 6 Abs. 1 EMR und Art. 13 EMRK . . . . 151 B. Die Wirksamkeit innerstaatlicher Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer nach Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . 153 I. Autonome Auslegung des Begriffs „Beschwerde“ durch den EGMR . 153 II. Gestaltungsmöglichkeiten für wirksame Rechtsbehelfe . . . . . . . . 154 1. Präventiv- und Kompensationsrechtsbehelfe und Kombinationsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2. Regelungsmodelle des EGMR für einen wirksamen Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . 156 a) Präventive Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 aa) Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 bb) Österreich als Beispiel für ein rein präventives Rechtsschutzsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 (1) Die österreichische Regelung in § 91 GOG . . . . . . . . . 156 (2) Beurteilung durch den EGMR/Statistische Erhebungen/ Kritik in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
b) Repressive Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 aa) Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 bb) Beispiele für rein repressive Rechtsschutzsysteme . . . . . . . 159 (1) Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (a) Die französische Regelung in Art. L. 781–1 Gerichtsverfassungsgesetz/Rechtsprechung des Conseil d’Etat (CE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (b) Beurteilung durch den EGMR/Literatur . . . . . . . . 161 (2) Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 (a) Das italienische Pinto-Gesetz . . . . . . . . . . . . . . 161 (b) Beurteilung des EGMR seit der angepassten Umsetzung des Pinto-Gesetzes/Literatur/ Der Bericht des Ministerkomitee . . . . . . . . . . . . 163
c) Kombinationsrechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 aa) Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 bb) Spanien als Beispiel für ein kombiniertes Rechtsschutzsystem . 165 (1) Die gesetzlichen Regelungen in Spanien . . . . . . . . . . 165 (2) Beurteilung durch den EGMR . . . . . . . . . . . . . . . 166 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 C. Bewertung der Effektivität von innerstaatlichen Rechtsschutzsystemen bei überlanger Verfahrensdauer anhand des Prüfprogramms des EGMR („Verifiying remedy effectivness“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 I. Die Grundkriterien des EGMR zur Prüfung der Effektivität . . . . . 167 1. Definition der überlangen Verfahrensdauer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs . . . . . . . . . . . . . . 168 3. Dauer des Rechtsbehelfsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4. Kosten des Rechtsbehelfsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . 170
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XXI
5. Rechtsmittel im Rechtsbehelfsverfahren . . . . . . . . . . . . . . 170 II. Besondere Effektivitätsvorgaben für kompensatorische Rechtsbehelfe 171 1. Einleitung und Durchführung des Rechtsbehelfsverfahrens während des noch laufenden Ausgangsverfahrens. . . . . . . . . . 171 2. Grund, Umfang und Höhe der Entschädigung/Schadensnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3. Dauer des Entschädigungsverfahrens und der Auszahlung der Entschädigungssummen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 III. Besondere Effektivitätsvorgaben für präventive Rechtsbehelfe . . . . 173 1. Bindungswirkung der Beschleunigungsmaßnahme . . . . . . . . . 173 2. Zügigkeit des Rechtsbehelfsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . 173 IV. Besondere Effektivitätsvorgaben für Kombinationsrechtsbehelfe? . . . 174 D. Die Vereinbarkeit der §§ 198 ff. GVG mit den (Effektivitäts–)Vorgaben des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 I. Einordnung und Effektivitätsüberprüfung der §§ 198 ff. GVG nach der Regelungsmodelltechnik des EGMR . . . . . . . . . . . . . 174 1. Meinungsstand im Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . 174 2. Meinungsstand in Literatur und Rechtsprechung . . . . . . . . . 175 3. Die Rechtsprechung des EGMR nach Einführung der §§ 198 ff. GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 a) Die Rechtssache Taron/Deutschland: Beurteilung der Effektivität anhand der zukünftigen innerstaatlichen Rechtsprechungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 b) Das Urteil des EGMR in der Rechtssache Kuppinger/ Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 II. Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 1. Die §§ 198 ff. GVG als Kompensationsrechtsbehelf . . . . . . . . 178 2. Umsetzung der Effektivitätsvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . 178 a) Die Grundkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 b) Vorgaben für Kompensationsrechtsbehelfe . . . . . . . . . . . 179 c) Vorgaben an die Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
7. Kapitel: Entwurf eines Gesetz zur Regelung der überlangen Verfahrensdauer nach den Effektivitätskriterien des EGMR . . . . . . . 182 A. Allgemeine Bemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 B. Gesetzesvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Zusammenfassung der Arbeit in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Gang der Untersuchung Die Arbeit untersucht die Vorgaben des „Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)/European Court of Human Rights (ECtHR)/Cour européenne des droits de l´ homme (CEDH)“ für einen wirksamen Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer in Zivilprozessen. Sie behandelt nur zivilprozessuale Verfahren im Sinne der deutschen Terminologie der Zivilprozessordnung (ZPO) und des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) sowie die Anforderungen der Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) auf Rechtsschutz in angemessener Frist nach Art. 6 Abs. 1 EMRK („reasonable time requirement“) und einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 13 EMRK („right to an effective remedy“). In Deutschland ist am 03.12.2011 das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG)1 in Kraft getreten, das durch die Einführung der §§ 198 ff. GVG den 17. Titel des GVG wieder aufnimmt. Bei überlanger Verfahrensdauer hat der Betroffenen einen Entschädigungsanspruch gegen den Staat, § 198 Abs. 1 S. 1 GVG. Dies geschah zur Umsetzung der Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in der vormaligen deutschen Rechtslage einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 13 EMRK gesehen hatte.2 Ziel der Arbeit ist es, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK – soweit sie Sachverhalte betrifft, die nach deutschem Recht einer zivilrechtlichen Entscheidung der ordentlichen Gerichtsbarkeit unterlagen und aus diesem Grund für das Bürgerliche Recht relevant sind – im Hinblick auf die Effektivitätsvorgaben des EGMR transparenter zu machen. Beispielsfälle zeigen, inwieweit sie für die Anwendung und Auslegung der §§ 198 ff. GVG nützlich und notwendig ist. Dies betrifft insbesondere die Frage, wann ein Rechtsbehelf, mit dem die Überlänge des Verfahrens geltend gemacht werden kann, „wirksam“ (Art. 13 EMRK) im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention ist. Notwendig ist dies,
1
BGBl. 2011 I, S. 2302 ff. EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355; Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389; Althammer, JZ 2011, 446 ff. 2
XXIV
Gang der Untersuchung
weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die effektive innerstaatliche Umsetzung seiner Rechtsbehelfsvorgaben nachträglich überprüft.3 Auf normenhierarchischer Ebene4 stellen sich beim Zusammenspiel von Europäischer Menschenrechtskonvention (EMRK) und deutschem Zivilprozessrecht folgende Ausgangsfragen, die an den §§ 198 ff. GVG lediglich exemplarisch überprüft werden können: Welche Bedeutung hat die Europäische Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für das deutsche Zivilprozessrecht und die deutschen Zivilgerichte? Sind die Gerichte an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden, wenn sie die §§ 198 ff. GVG anwenden? Oder sind die Urteile des Europäischen Gerichtshofs lediglich eine „Auslegungshilfe“? In diesem Sinne hat das Bundsverfassungsgericht entschieden, dass die EMRK innerstaatlich im Rang unter dem Grundgesetz ansiedelt, wobei es die besondere Bedeutung der Menschenrechte durch eine völkerrechtsfreundliche Auslegung umsetzt, indem es die Konvention und die Urteile des EGMR als „Auslegungshilfe“ für die Inhaltsbestimmung der betroffenen Grundrechte und Grundrechtsprinzipien heranzieht.5 Der erste Teil der Untersuchung gibt einen rechtspolitischen Überblick über das Problem überlanger Zivilprozesse und ordnet das Recht auf angemessene Verfahrensdauer rechtssystematisch innerhalb der übrigen Prozessmaximen verfassungs- und konventionsrechtlich ein. Weiter beleuchtet er die prozessualen Interessenkonflikte, die sich aus dem Verhältnis des Rechts auf eine angemessene Verfahrensdauer zu den übrigen Verfahrensgrundsätzen ergeben. Daneben wird das Problem überlanger Zivilverfahren rechtstatsächlich durch Auswertung verschiedener statistischer Erhebungen zur Verfahrensdauer eingeordnet sowie seine Ursachen und Folgen dargestellt. Das erste Kapitel schließt mit fünf Beispielsfällen aus der Rechtsprechung des EGMR zu überlangen Zivilprozessen. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Gesetzeshistorie der §§ 198 ff. GVG. Der zweite Teil der Arbeit untersucht den Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer im Zivilrecht nach §§ 198 ff. GVG. Die Voraussetzungen des Entschädigungsanspruches nach § 198 Abs. 1 GVG werden in Kapitel 3 erläutert. Einen Schwerpunkt bildet dabei die Angemessenheitsprüfung der Verfahrensdauer, die an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte angepasst wurde und zu deren Methodik seit Einführung der §§ 198 ff. GVG bereits eine beachtliche Zahl an gerichtlichen Entscheidungen ergangen ist. Es folgt eine rechtssystematische Einordnung der Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG. Deren Rechtsnatur und Ausgestaltung ist bedeut3
EGMR, Urt. v. 29.05.12, 53126/07 – Taron/Deutschland, EuGRZ 2012, 514. Bäcker, Mehrebenensystem, S. 339. 5 BVerfGE 128, 326, 367 ff.; 111, 307, 316 ff. 4
Gang der Untersuchung
XXV
sam für die Wirksamkeitsvorgaben des EGMR aus Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK. Kapitel 4 stellt die Rechtsfolgen des Entschädigungsanspruchs sowie seine prozessuale Geltendmachung dar und ordnet den Anspruch aus § 198 Abs. 1 S. 1 GVG in das bestehende System der Staatshaftung ein. Zudem wird das Verhältnis der §§ 198 ff. GVG zu den übrigen, bei überlanger Verfahrensdauer möglicherweise statthaften bzw. vormals statthaften Rechtsbehelfen beschrieben. Der dritte Teil der Arbeit untersucht die konventionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK. Kapitel 5 beginnt mit folgenden Grundlagen: Rang der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rechtswirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Überwachung der Umsetzung der Urteile und Folgen des Sprachenregimes der Europäischen Menschenrechtskonvention für die Anwendung und Auslegung der Urteile des EGMR. Bezugspunkt bleibt die Bedeutung für das deutsche Zivilprozessrecht. Es folgen Ausführungen zum Recht auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK. Hierbei wird insbesondere die Rechtsprechung des EGMR zur Angemessenheit der Verfahrensdauer in deutschen Zivilverfahren und zur Höhe entsprechender Entschädigungszahlungen gegenüber dem Konventionsstaat Deutschland untersucht. Das Recht auf eine wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK und die entsprechenden Vorgaben des EGMR für einen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf behandelt Kapitel 6. Dabei liegt der Schwerpunkt des Kapitels auf den Vorgaben des EGMR zur Sicherstellung der Effektivität neu eingeführter Rechtsbehelfe bei überlanger Verfahrensdauer. Der Rechtsschutz nach §§ 198 ff. GVG wird sodann unter die gefundenen allgemeinen Ergebnisse zu Art. 6 Abs. 1 i. V. m. 13 EMRK subsumiert. Schließlich unterbreitet das siebte Kapitel dieser Arbeit einen modifizierten Gesetzesvorschlag zu den §§ 198 ff. GVG, der sämtliche Effektivitätsvorgaben des EGMR berücksichtigt. Die aktuelle Regelung setzt eine Reihe von Vorgaben nicht wirksam um.
Teil I
Grundlagen
1. Kapitel
Überlange Dauer von Zivilverfahren: Situation in Deutschland und systemisches Problem für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention A. Bedeutung der angemessenen Verfahrensdauer von Zivilprozessen für effektiven Rechtsschutz I. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer als Indiz für effektive Justizsysteme Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist ein wichtiger Indikatior für effektive Rechtssysteme.1 Anhand des sog. EU Justice Scoreboard wertet die Europäische Kommission seit dem Jahr 2013 jährlich die Effektivität der europäischen Justizsysteme aus.2 Wichtigstes Kriterium ist dabei die angemessene Verfahrensdauer.3 Unverhältnismäßig lange Verfahren verstoßen sowohl gegen das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG4 als auch gegen die Verfahrensgarantien der Europäischen Menschenrechtskonvention5
1 „The 2015 EU Justice Scoreboard“, veröffentlicht am 9. März 2015, abrufbar unter www.ec.europa.eu/justice/effective-justice/scoreboard/index (Abruf vom 20.10.2015); Althammer, JZ 2011, 449 ff.; Hess in: Gottwald, Effektivität, S. 121, 159 ff.; Lückemann, MDR 2016, 961 ff. 2 „The 2015 EU Justice Scoreboard“, pp. 7 ff.; Althammer, JZ 2011, 449 ff. 3 „The 2015 EU Justice Scoreboard“, pp. 8 ff.; Althammer, JZ 2011, 449 ff. 4 Stdg. Rspr., BVerfG NJW 2013, 3630 Tz. 30 ff.; NJW-RR 2010, 207; BVerfGE 122, 190, 202; 107, 395, 398 ff.; 108, 341, 345 ff.; 85, 337, 345; 60, 253, 269; 55, 349, 369; 54, 39, 41; 40, 237, 256; 35, 382, 405; BVerfG NJW 2001, 214 ff.; NJW 2000, 797 ff.; BVerfG, Beschl. v. 20.09.2007 – 1 BvR 775/05, juris; Sachs/Sachs, GG, Art. 20 Rn. 164; Breuer, Judikatives Unrecht, S. 321 ff.; Steger, Überlange Dauer vor deutschen und europäischen Gerichten, S. 229 ff.; Tiwisina, Überlange Verfahrensdauer, S. 66 ff.; Limbach, NJW 2001, 2913, 2914 f.; Überblick zur Rechtsprechung bei H. Roth, JZ 2015, 443, 446. 5 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010, BGBl. I I, S. 1198 (Abdruck: Sartorius II. Internationale Verträge. Europarecht. Textsammlung Nr. 1003).
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Kapitel 1: Überlange Dauer von Gerichtsverfahren
aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 13 EMRK.6 Keine Garantie beschäftigt den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte so häufig wie der Anspruch auf angemessene Verfahrensdauer aus Art. 6 Abs. 1 EMRK.7 51 Prozent aller Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR haben die Verletzung dieses Gebots zum Gegenstand.8 Deutschland hat in diesen Verfahren Entschädigungen in Höhe von insgesamt € 944.504,– gezahlt.9 Gesetzgeberisches Ziel bei Einführung der §§ 198 ff. GVG10 war es, einen im Sinne von Art. 13 EMRK wirksamen Rechtsbehelf zu schaffen, der in der innerstaatlichen Fachgerichtsbarkeit den Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit nach Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK effektiv umsetzt.11
II. Konventions- und verfassungsrechtliche Grundlagen des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer – Interessenkonflikte – einfachgesetzliche Ausprägungen 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen In Literatur und Rechtsprechung gibt es unterschiedliche Meinungen zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer.12 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte das Recht auf angemessene Verfahrensdauer zunächst als Teil der Rechtsweggarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG angesehen.13 Heute wird es – im Anschluss an die Rechtsprechung EGMR14
6 Stdg. Rspr., EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 Tz. 59 ff., 64 f., 69, 71 ff., 74; Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 ff.; Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694 ff. (sämtliche Entscheidungen des EGMR in englischer oder französischer Sprache abrufbar unter www.echr.coe.int/echr/en/hudoc). 7 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 69; Peters/Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 54. 8 „Statistics 1959–2010. Statistics on Judgement by State“, abrufbar unter www.echr. coe.int (Abruf vom 20.10.2015). 9 Pressemitteilung des BMJ v. 14.10.2011, abrufbar unter http://www.bmj.de/Shared Docs/Archiv/DE/Pressemitteilungen/2011/20111014_Durchbruch_beim_ Schutz_vor_ue berlangen_Gerichtsverfahren.html?nn=1356310 (Abruf vom 20.10.2015). 10 BGBl. 2011 I, S. 2302 ff. 11 BT-Drs. 17/3802, S. 1, 15 ff.; Althammer, NJW 2012, 1, 3 ff. 12 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Einf. Rn. 12; ausführlich Tiwisina, Überlange Verfahrensdauer, S. 61 ff.; Schubert, Überlange Gerichtsverfahren, S. 19, 22 ff., 64 ff. 13 BVerfGE 54, 39, 41; 88, 118, 124; BVerfG, NJW 1997, 2811, 2812; NJW 2000, 797 ff.; Bauer, Gerichtsschutz, S. 25 ff.; Kloepfer, JZ 1979, 209, 215; Pache, BayVBl. 2004, 385, 386 f.; Scheffe, NJ 2010, 265, 266 ff.; Tiwisina, Überlange Verfahrensdauer, S. 63 f. 14 Stdg. Rspr., EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 Rn. 59 ff., 64 f., 69, 71 ff., 74; Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389.
A. Bedeutung der angemessenen Verfahrensdauer von Zivilprozessen
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– dem Grundsatz des fairen Verfahrens15 oder, gestützt auf das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG, dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes16 zugeordnet.17 Teilweise wird das Recht auf angemessene Verfahrensdauer auch als Garantie aus dem Justizgewährungsanspruch verstanden.18 Im Ergebnis besteht Einigkeit, dass Rechtsschutz nur dann effektiv ist, wenn er in angemessener Zeit erfolgt.19 2. Konventionsrechtliche Grundlage (EMRK) Das Recht auf angemessene Verfahrensdauer wird auch auf Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 47 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta20 gestützt.21 Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung sind die konventionsrechtlichen Garantien nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, soweit sie für die Umsetzung der Vorgaben des EGMR an Rechtsbehelfe bei überlanger Verfahrensdauer nach Art. 13 EMRK relevant sind.22 Nach der Auslegung des EGMR enthält Art. 6 Abs. 1 EMRK eine doppelte Garantie: Zum einen die Pflicht der innerstaatlichen Gerichte in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention, das Verfahren mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu beschleunigen, und zum anderen die Pflicht der Mitgliedsstaaten, ihre Gerichtssysteme so zu organisieren, dass ein Verfahren in angemessener Zeit möglich ist.23 Das Recht auf einen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf, um den Anspruch auf angemessene Verfahrensdauer geltend zu machen, ergibt sich als sog. sekundäres Prozessrecht aus Art. 13 EMRK i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK.24 Der BGH stützt 15 BVerfG, NJW 2005, 739 ff.; Baumbach/Lauterbach, ZPO, Einl III Rn. 23; Musielak/ Voit/Voit, ZPO, Einl. Rn. 30; Vollkommer, FS Bruns, S. 195, 197 ff. 16 BVerfG, NJW 2013, 3630 ff.; NJW-RR 2010, 207 ff.; NJW 2001, 214 ff.; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, Einl II Rn. 28 f.; Prütting/Prütting, ZPO, Einl. Rn. 42; Stein/Jonas/Brehm, ZPO, Bd. I , vor § 1 Rn. 287; Sachs/Sachs, GG, Art. 20 Rn. 164; Dörr/Grote/Marauhn/Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG, Bd. I , Kapitel 14, Rn. 113; Tiwisina, Überlange Verfahrensdauer, S. 66 ff.; Wagner, DStR 2009, 2110 ff.; Schmidt-Jortzig, NJW 1994, 2569, 2571 ff. 17 MünchKommZPO/Rauscher, Bd. I , Einl. Rn. 204, 209, 249 mwN.; Schumann in: Festgabe 50 Jahre BGH (2000), S. 3 ff., 22 f. 18 Zöller/Vollkommer, ZPO, Einl. Rn. 49; Redeker, NJW 2003, 2956, 2957; Detterbeck, AcP 192 (1992), 325, 327 ff. 19 Zöller/Vollkommer, ZPO, Einl. Rn. 50; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, Einl II Rn. 28 f.; Böhm in: FS Machacek/Matscher (2008), S. 731, 741.; Bruns, Prozessgrundsrechte, S. 124 ff.; Kirchhof in: FS Doehring (1989), S. 439, 448 ff. 20 Meyer/Eser, GrCh, Art. 47 Rn. 2 ff.; Rengeling/Middeke/Gellermann/Gärditz, Hd. EU, § 34 Rn. 6, 41, 59, § 39 Rn. 2; Jarass, NJW 2011, 1393 ff. 21 Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, Einl II Rn. 28; Zöller/Vollkommer, ZPO, Einl. Rn. 49; BVerfG, NJW 2001, 214 ff.; Juncker, Council of Europe – European Union, p. 4 et seq, p. 8. 22 Würdinger in: FS Rüßmann (2013), S. 651 ff. 23 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 129; Lansnicker/Schwirtzek, NJW 2001, 1969, 1972 ff. 24 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 98 ff.
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Kapitel 1: Überlange Dauer von Gerichtsverfahren
das Recht auf angemessene Verfahrensdauer sowohl auf die verfassungs- als auch die konventionsrechtlichen Grundlagen und stellt in seiner Rechtsprechung zur Entschädigung nach §§ 198 ff. GVG fest, die Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, ergebe sich aus Art. 2 Abs.1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK.25 3. Interessenkonflikte Die Prozessgarantie auf Rechtsschutz in angemessener Frist ist nicht isoliert zu betrachten, sondern kann zu den übrigen Verfahrensgarantien in einem Spannungsverhältnis stehen, da ein Mehr an Verfahrensrechten das Verfahren regelmäßig verlängert.26 Aus richterlicher Perspektive besteht ein Spannungsverhältnis zwischen zügiger Prozessführung und der Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG.27 Auf Grundlage der ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten richterlichen Unabhängigkeit nach Art. 97 GG ist der Richter zu einer sachgerechten Entscheidung über den Ausgleich beider Verfassungsprinzipien für jeden Verfahrensabschnitt im Einzelfall befugt.28 Die Verhandlungsmaxime entbindet die Zivilgerichte nicht von ihrer Pflicht zur zügigen Prozessführung.29 Die Parteien können demnach lediglich den Streitgegenstand bestimmen und über ihn auch nach Klageerhebung disponieren (beispielsweise durch Klagerücknahme und Klageänderung).30 Neben dem Anspruch auf angemessene Verfahrensdauer kann auch aus der Konzentrationsmaxime der Grundsatz abgeleitet werden, dass die Gerichte nach Möglichkeit durch entsprechende vorbereitende Maßnahmen und verfahrensleitende Beschlüsse darauf hinwirken sollen, dass ein Termin zur mündlichen Verhandlung ausreicht, um das Verfahren abzuschließen (vgl. §§ 272 Abs. 1, 273 Abs. 1 ZPO).31 Im Ergebnis muss bei der Würdigung der Verfahrensdauer stets beachtet werden, dass eine Verfahrensbeschleunigung kein Selbstzweck ist und gegenläufige Schutzgüter gleichfalls zu beachten sind. Dazu zählen insbesondere die aus dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG folgende Gewährleis25 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157; Stein/Jonas/Brehm, ZPO, Bd. I , vor § 1 Rn. 287. 26 Dörr/Grote/Marauhn/Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG, Bd. I , Kapitel 14, Rn. 113 ff.; Joachim, DRiZ 1965, 181, 185 ff.; Leipold in: FS Fasching (1988), S. 329, 331 ff. 27 Zöller/Geimer/Greger, ZPO, vor § 128 Rn. 3 ff.; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, Einl. Rn. 9 ff.; MünchKommZPO/Rauscher, Bd. I , Einl. Rn. 215 ff.; Baur in: FS Schwab (1990), S. 53 ff. 28 BT-Drs. 17/3802, S. 18 ff.; BGH, NJW 2014, 789 ff.; Papier, NJW 2001, 1089 ff. 29 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 129. 30 Baur in: FS Kralik, S. 75, 79 ff.; Baur, Konzentration der mündlichen Verhandlung, S. 28 ff. 31 Stein/Jonas/Leipold, ZPO, Bd. IV, vor § 253 Rn. 1; Reich, Richterliche Beschleunigungspflichten, S. 187 ff., S. 367 ff.
A. Bedeutung der angemessenen Verfahrensdauer von Zivilprozessen
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tung der inhaltlichen Richtigkeit von Entscheidungen sowie die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) und des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG).32 4. Einfachgesetzliche Ausprägungen des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer Das Recht auf angemessene Verfahrensdauer wirkt sich insoweit auf die Struktur des Zivilprozesses aus, als der Richter in jeder Lage des Verfahrens darauf zu achten hat, alle ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Mittel zur Verfahrensbeschleunigung einzusetzen.33 Daneben gibt es eine Reihe von einfachgesetzlichen Ausprägungen, die ebenfalls zur Verfahrenskonzentration und -beschleunigung beitragen sollen, indem sie Verzögerungen durch die Parteien verhindern und dem Richter eine Beschleunigung ermöglichen. Hierzu gehört die unverzügliche Terminbestimmung nach § 216 Abs. 2 ZPO und die unverzügliche Zustellung der Klageschrift nach § 271 Abs. 1 ZPO sowie § 272 Abs. 1 ZPO, nach dem ein Rechtsstreit nach Möglichkeit in einem Termin zur mündlichen Verhandlung zu erledigen ist. Dieser Termin hat nach § 272 Abs. 3 ZPO frühestmöglich zu erfolgen und das Gericht soll nach § 273 Abs. 1 ZPO die zur Terminvorbereitung und -durchführung nötigen Maßnahmen rechtzeitig erlassen.34 § 279 Abs. 1 S. 1 ZPO bestimmt, dass sich die mündliche Verhandlung unmittelbar an eine erfolglose Güteverhandlung anschließen bzw. die Terminbestimmung nach § 279 Abs. 1 S. 2 ZPO unverzüglich erfolgen soll.35 Weiter regelt § 279 Abs. 2 ZPO, dass die Beweisaufnahme unmittelbar auf die streitige Verhandlung folgen soll.36 Hierher gehört auch die Pflicht zur Entscheidung bei Entscheidungsreife nach § 300 ZPO und die Frist zur Urteilsabfassung nach § 315 Abs. 2 ZPO.37 Eine Sondervorschrift zur Konzentrationsmaxime bei der Kammer für Handelssachen enthält § 349 ZPO.38 Für das Gericht bestehen während des gesamten Prozesses strenge Aufklärungs- und Hinweispflichten, § 139 Abs. 4 ZPO, während die Parteien nach § 138 ZPO durch vollständiges, wahrhaftiges und unverzügliches Vorbringen zu einem möglichst zügigen Verfahren beitragen müssen.39 Zu nennen sind auch sämtliche Fristenregelungen, die allge32 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157; Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 2 . 33 Zöller/Geimer, ZPO, Einl. Rn. 119 f. mwN.; BVerfG, NJW 2005, 739 ff. mwN.; Lindemann, AnwBl. 1983, 389, 390 ff. 34 Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, § 273 Rn. 1. 35 Zöller/Greger, ZPO, § 279 Rn. 1 ff. 36 Zöller/Greger, ZPO, § 279 Rn. 5 ff. 37 Steger, Überlange Dauer vor deutschen und europäischen Gerichten, S. 166 ff.; Schlette, Anspruch auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist, S. 19 ff. 38 Zöller/Greger, ZPO, § 349 Rn. 2 . 39 Baumbach/Lauterbach, ZPO, Übers § 253 Rn. 6; Reinelt, BayAnwBrief 11/2007, 1, 2.
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Kapitel 1: Überlange Dauer von Gerichtsverfahren
mein der Verfahrensstraffung dienen und Verstöße regelmäßig mit der Präklusion40 der jeweiligen Parteihandlung bzw. des Sachvortrags sanktionieren.41
B. Überblick über die Neuregelung nach §§ 198 ff. GVG: Zweigeteilter Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer (Verzögerungsrüge und Entschädigungsanspruch) Bisher ging das Zivilprozessrecht davon aus, dass eine Verletzung von Verfahrensgrundsätzen die Anfechtbarkeit der betroffenen Entscheidung zur Folge hat (zum Beispiel für die Revision nach § 547 Nr. 5 ZPO).42 Mit den §§ 198 ff. GVG geht der Gesetzgeber einen anderen Weg. Die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer führt – entsprechend der Urteilspraxis des EGMR – nach § 198 Abs. S. 1 GVG zu einem (staatshaftungsrechtlichen) Entschädigungsanspruch.43 Der Rechtsschutz nach den §§ 198 ff. GVG, der durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG)44 eingeführt wurde, ist zweigeteilt. Im Ausgangsverfahren hat der Betroffene die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG zu erheben, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird.45 Die Erhebung der Verzögerungsrüge beschleunigt den Prozess nicht direkt, gibt dem Gericht aber (fakultativ) die Möglichkeit zur Abhilfe und ist nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG (Entstehungs-)Voraussetzung für den Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG bzw. die Begründetheit der Entschädigungsklage nach § 198 Abs. 5 GVG.46 Für den Betroffenen besteht eine Obliegenheit zur Rüge der Verfahrensdauer im Ausgangsverfahren, will er seinen Entschädigungsanspruch nicht verlieren. Das Ausgangsverfahren ist das Verfahren, durch dessen Dauer sich der Betroffene in seinem Recht auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt sieht.47 Haftungsbegründende Rechtsgutsverletzung ist nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG die unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens.48 Zur Durchsetzung 40
Baur in: FS Baumgärtel, S. 1, 3 ff. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZivilprozessR, § 68 Rn. 3 ff.; Beyer, NJW 1988, 312 ff. 42 Musielak/Voit/Voit, ZPO, Einl. Rn. 53 f.; Kettinger, ZRP 2006, 152 ff. 43 BT-Drs. 17/3802, S. 15 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜRGR, § 198 GVG Rn. 1. 44 BGBl. 2011 I, S. 2302 ff. 45 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 6; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 170. 46 BGH, NJW 2014, 2588 Rn. 14. 47 BT-Drs. 17/3802, S. 18 f.; BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 ff. 48 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 3 ff.; Zöller/Lückemann, ZPO, § 198 GVG Rn. 7 f. 41
C. Die statistische Verfahrensdauer von Zivilprozessen
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des Entschädigungsanspruchs nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG ist als zweiter Schritt ein gesondertes Entschädigungsklageverfahren nach §§ 198–201 GVG durchzuführen. Der Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG gewährt dem Betroffenen für seine materiellen und immateriellen Nachteile infolge der unangemessenen Verfahrensdauer eine „angemessene“ Entschädigung. Der Anspruch ist vor dem zuständigen Entschädigungsgericht nach § 201 Abs. 1 GVG in einem eigenen Erkenntnisverfahren geltend zu machen, das Ausgangsgericht ist mit dem Anspruch nicht befasst.49 Die Entschädigungsklage kann parallel zum Ausgangsverfahren oder im Anschluss erhoben werden, frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge, § 198 Abs. 5 S. 1 GVG.50 § 198 Abs. 6 GVG definiert die Begriffe „Gerichtsverfahren“ und „Verfahrensbeteiligter“ legal. § 200 GVG normiert den Haftungsschuldner bzw. die Haftungsverteilung zwischen Bund und Ländern.51 § 201 Abs. 1 GVG regelt die sachliche und örtliche Zuständigkeit, § 201 Abs. 2 GVG verweist für die Verfahrensdurchführung auf die §§ 253 ff. ZPO, § 201 Abs. 3 GVG gibt dem Entschädigungsgericht die Möglichkeit zur Aussetzung nach §§ 148 ff. ZPO und § 201 Abs. 4 GVG enthält die Kostenregelung.52 Durch das ÜGRG neu eingefügt ist schließlich § 41 Nr. 7 ZPO, der einen Befangenheitsgrund für den mit dem Ausgangsverfahren befassten Richter normiert.53
C. Die statistische Verfahrensdauer von Zivilprozessen – Ursachen und Folgen überlanger Verfahrensdauer Die §§ 198 ff. GVG gewähren Entschädigung bei überlanger Verfahrensdauer. Im folgenden Abschnitt werden die Erhebungen der Destatis-Rechtspflegestatistik, aber auch die Landesstatistiken der EU und des EGMR ausgewertet, um zu sehen, wie lange Zivilprozesse tatsächlich dauern.
49 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 5; Zöller/Lückemann, ZPO, § 198 GVG Rn. 2; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 62 ff. 50 Heine, MDR 2012, 327, 332. 51 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 200 GVG Rn. 1 ff. 52 Heine, MDR 2012, 327 ff. 53 Zöller/Lückemann, ZPO, vor §§ 198 ff. GVG Rn. 1.
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Kapitel 1: Überlange Dauer von Gerichtsverfahren
I. Die Destatis-Rechtspflegestatistik 1. Bundesdurchschnitt Im Jahr 2013 dauerten in Deutschland erstinstanzliche Verfahren am Amtsgericht im Bundesdurchschnitt 4,7 Monate (bzw. 7,2 Monate bei Erledigung mit streitigem Urteil).54 Länger als 12 Monate dauerten nur 5,8% und mehr als 24 Monate lediglich 1,3% der Verfahren.55 Am Landgericht dauerten die Zivilprozesssachen 8,3 Monate (bzw. 13,6 Monate bei Erledigung mit streitigem Urteil).56 Mehr als 12 Monate dauerten 13,5% und mehr als 24 Monate 6,6% der Zivilverfahren.57 Am Oberlandesgericht dauerten die Verfahren im Bundesdurchschnitt 8,7 Monate (bzw. 11,4 Monate bei Erledigung mit streitigem Urteil).58 Länger als 12 Monate dauerten vor dem OLG 17,6%, länger als 24 Monate nur 3,2% und länger als 36 Monate lediglich 1,1% der Zivilprozesssachen.59 2. Die Länderstatistik Die Verfahrensdauer variiert unter den Ländern erheblich.60 In Bayern dauerten erstinstanzliche Verfahren am Amtsgericht im Durchschnitt 4,0 Monate (bzw. 5,9 Monate bei Erledigung mit streitigem Urteil).61 Am Landgericht dauerten die Zivilverfahren im Durchschnitt 7,3 Monate (bzw. 13,0 Monate bei Erledigung mit streitigem Urteil).62 Am Oberlandesgericht dauerten die bayerischen Berufungssachen im Durchschnitt 6,2 Monate (bzw. 8,7 Monate bei Beendigung mit streitigem Urteil).63 3. Bewertung Die durchschnittliche Länge der Zivilverfahren in Deutschland ist nicht zu beanstanden und wird sowohl auf europäischer Ebene als auch international als 54 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1. Rechtspflege Zivilgerichte für das Jahr 2013, 15. Oktober 2014, S. 26, Ziff. 2 .2, Zeile 6/7, abrufbar unter: www.destatis.de/ DE/Publikationen/Thematisch/ Rechtspflege/ Querschnitt/ RechtspflegeAusgewaelteZah len (Abruf vom 20.10.2015). 55 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1, S. 26, Ziff. 2 .2, Zeile 6/7. 56 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1, S. 50, Ziff. 5.2, Zeile 8/9. 57 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1, S. 50, Ziff. 5.2, Zeile 6/7. 58 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1, S. 88, Ziff. 8.2, Zeile 17/18. 59 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1, S. 88, Ziff. 8.2, Zeile 14–16. 60 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1, S. 26 ff. Zif. 2.2 (AG); S. 50 ff. Zif. 5.2 (LG); S. 88 ff. Zif. 8.2 (OLG). 61 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1, S. 27, Ziff. 2 .2, Zeile 8/9. 62 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1, S. 51, Ziff. 5.2, Zeile 8/9. 63 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1, S. 89, Ziff. 8.2, Zeile 17/18.
C. Die statistische Verfahrensdauer von Zivilprozessen
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gut wahrgenommen.64 Ob ein Verfahren unangemessen lange dauert, lässt sich aus den Statistiken dagegen nicht ablesen, weil es für die Angemessenheit der Verfahrensdauer auf den Einzelfall und nicht auf die Überschreitung fester Richtwerte ankommt.65
II. Das Justizbarometer (EU Justice Scoreboard) und der Bericht der European Commission for the Efficiency of Justice (CEPEJ) Deutschland ist im EU Justice Scoreboard bei der Verfahrensdauer (length of proceeding) von Zivil- und Handelssachen an neunter Stelle gelistet.66 Dem Barometer liegen eigene Daten sowie die Daten des alle zwei Jahre erscheinenden Berichts der Europäischen Kommission für die Effizienz der Justiz/European Commission for the Efficiency of Justice (CEPEJ) zugrunde.67
III. Die Statistiken des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bis zum 31. Dezember 2014 hat der EGMR Deutschland in insgesamt 125 Fällen wegen der Dauer der Verfahren verurteilt.68 Das ist im Vergleich mit den knapp 1.000 Verurteilungen Italiens69 zwar wenig, im Einzelfall sind die Zivilverfahren in Deutschland aber sehr lang: So entschied der EGMR über einen 28 Jahre dauernden Schadensersatzprozess aus dem Amtshaftungsrecht,70 einen 12 Jahre anhängigen Arzthaftungsprozess71 sowie eine Zahlungsklage, die das zuständige Amtsgericht mehr als 8 Jahre beschäftigte.72 Das Gebot angemessener Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK ist die am häufigsten gerügte Konventionsgarantie, die fast die Hälfte aller jährlichen Sachurteile des EGMR betrifft.73 64 Cappelletti/Garth, Comparative law. Civil Procedure, Vol. XVI Ch. 1, p. 49 et seq.; Stürner/Murray, German Civil Justice, Ch. 1 D, Ch. 12 E 2, p. 622 et seq.; Stürner, BRAKMitt. 2003, 214, 218; a. A. Blankenburg, ZRP 1992, 96 ff. 65 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Einf. Rn. 3; stRspr. BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, juris; BGHZ 200, 20; 199, 190; aA Calliess, Der Richter im Zivilprozess, Gutachten, 70. Dt. Juristentag, A 19, A 50, A 98. 66 „The 2015 EU Justice Scoreboard“, p. 8 fig. 5. 67 „The 2015 EU Justice Scoreboard“, p. 8 mit Verweis auf CEPEJ 2013; abrufbar unter https://wcd.coe.int bei CEPEJ (Abruf vom 20.10.2015); BT-Drs. 18/4534; Jünemann, DRiZ 2007, 8 f. 68 „Violation by Articel and by States 2014. (Germany)“abrufbar unter www.echr.coe. int (Abruf vom 20.10.2015). 69 „Violation by Articel and by States 2014 (Italy)“ abrufbar unter www.echr.coe.int (Abruf vom 20.10.2015). 70 EGMR, Urt. v. 01.05.2006, 66491/01 – Grässer/Deutschland, EuGRZ 2007, 268 ff. 71 EGMR, Urt. v. 21.10.2010, 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055 ff. 72 EGMR, Urt. v. 20.12.2001 – Bayrak/Deutschland. 73 Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 235; Peters/Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 53 ff.
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Kapitel 1: Überlange Dauer von Gerichtsverfahren
IV. Ursachen und Folgen überlanger Verfahrensdauer 1. Ursachen Mit den Ursachen langdauernder Zivilverfahren hat sich vor Einführung des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG)74 eine Arbeitsgruppe des Oberlandesgerichts Hamm, des Oberlandesgerichts Nürnberg und des Kammer- sowie Oberlandesgerichts Jena beschäftigt.75 Anhand von Online-Befragungen der zuständigen Richter und Auswertung statistisch relevanter Fallzahlen ermittelte sie die stärksten verfahrensverlängernden Faktoren für Zivilprozesse:76 Erledigungsart (Vergleich oder streitiges Urteil), Richterwechsel, Nichtbetreiben des Verfahrens auf Wunsch der Parteien oder aufgrund äußerer Umstände, unzureichende Verfahrensförderung durch das Gericht sowie Erhebung eines Sachverständigenbeweises.77 Die Studie gibt zwar einen ersten Eindruck über die verfahrensverlängernden Faktoren, in der Literatur wird aber mit Recht gefordert, die Justizforschung im Bereich der Ursachenanalyse überlanger Verfahrensdauer dringend zu verstärken.78 2. Folgen Eine überlange Verfahrensdauer wirkt sich sowohl negativ auf die tatsächliche als auch die materielle Richtigkeit von Gerichtsentscheidungen aus.79 Zeugenaussagen verlieren mit Zeitablauf an Beweiswert, weil sich die Zeugen nicht mehr, nur noch schlecht oder unrichtig erinnern.80 Urkunden werden unleserlich oder gehen verloren.81 Die Umwelt verändert sich und damit verliert auch der richterliche Augenschein an Beweiswert.82 Ein langer Prozess kann die Durchsetzung materiell-rechtlich bestehender Ansprüche mit guten Prozessaussichten faktisch verhindern, da Geldansprüche infolge des Zinsverlustes durch die jahrelange Kapitalbindung entwertet werden.83 Die finanziell schwä74
BGBl. 2011 I, S. 2302 ff. Präsident des OLG Hamm (Hrsg): Langdauernde Zivilverfahren. Eine Studie des OLG Hamm, OLG Nürnberg und KG Berlin; Keders/Walter, NJW 2013, 1697 ff. 76 Langdauernde Zivilverfahren, S. 3 ff.; Keders/Walter, NJW 2013, 1697, 1701 ff. 77 Langdauernde Zivilverfahren, S. 3 ff.; Keders/Walter, NJW 2013, 1697, 1701 ff.; Boesche in: FS Säcker (2006), S. 3, 11 ff.; Stötter, NJW 1968, 521, 523 ff.; Röhl, DRiZ 1998, 241, 243 ff.; Dombek, DRiZ 2006, 247, 248; Balzer, DRiZ 2007, 88, 90 ff. 78 Hirtz, NJW 2014, 2529, 2530 ff., 2533; Gaier/Freudenberg, ZRP 2013, 27, 28 f.; Callies, Der Richter im Zivilprozess, Gutachten, 70. Dt. Juristentag, A 53. 79 Vollkommer, ZZP 81 (1968), 102 ff.; Henke, ZZP 83 (1970), 125 ff.; Jakob, ZZP 119 (2006), 303; Althammer, JZ 2011, 446 ff.; Magnus, ZZP 125 (2012), 75 ff. 80 BayVerfGH NJW 1991, 2895, 2896. 81 Magnus, ZZP 125 (2012), 75, 76. 82 Magnus, ZZP 125 (2012), 75, 76. 83 Kemper, NJ 2003, 393, 394 f.; Vollkommer, ZZP 81 (1968), 102, 107. 75
D. Beispielfälle
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chere Partei kann bei überlanger Verfahrensdauer gezwungen sein, aufzugeben oder in Insolvenz zu gehen.84 Sorgerechtsansprüche werden sinnlos, wenn infolge der langen Dauer des Verfahrens zwischen (einem) Eltern(-teil) und Kind eine nicht mehr rückgängig zu machende Entfremdung eingetreten ist.85 Schließlich belasten überlange Prozesse sämtliche Parteien regelmäßig auch psychisch stark.86
D. Beispielfälle Die folgenden fünf Urteile des EGMR aus den Jahren 2003 bis 2010 geben einen Überblick über die Methodik des EGMR bei der Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK. Sie eignen sich exemplarisch für die vorliegende Untersuchung besonders gut, weil die Entscheidungen gegenüber Deutschland ergingen und ihnen zivilrechtliche Sachverhalte zugrunde liegen.
I. Die Entscheidung des EGMR in der Sache Norbert Kind/Deutschland vom 20.02.2003 In der Sache Norbert Kind/Deutschland87 hatte der EGMR über die Angemessenheit der Verfahrensdauer eines mehr als 16 Jahre dauernden Gerichtsverfahrens über die Höhe der Barabfindung für einen ausscheidenden Aktionär zu entscheiden, die dieser gegenüber der AG einklagte. 1. Sachverhalt Der Beschwerdeführer schied durch einen Umwandlungsbeschluss als Minderheitsaktionär der WBK KGaA aus. Die Gesellschaft hatte den Aktionären eine Barabfindung in Höhe von DM 825,– je Aktie im Nennwert von DM 100,– angeboten.88
84
BGH, JZ 2011, 471 ff. Urt. v. 26.02.2004, 74969/01 – Görgülü/Deutschland, NJW 2004, 3397 ff.; BVerfG, NJW 2005, 2685 ff. (Görgülü-Beschluss). 86 BVerfG, Beschl. v. 11.12.2000 – 1 BvR 661/00 [nach juris]. 87 EGMR, Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228. 88 EGMR, Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228, Rn. 9. 85 EGMR,
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Kapitel 1: Überlange Dauer von Gerichtsverfahren
a) Verfahren vor dem Landgericht Da der Beschwerdeführer (und die anderen ausscheidenden Aktionäre) diesen Betrag als unzureichend empfand, beantragte er am 23.06.1982 beim Landgericht im Wege des Spruchverfahrens die Feststellung einer angemessenen Abfindung sowie Schadensersatz wegen Absprache zwischen den Mehrheitsaktionären zulasten der Minderheit. Das Landgericht bestellte am 18.11.1982 einen gemeinsamen Vertreter der ausscheidenden Aktionäre. Im weiteren Verlauf richteten die Parteien drei Sachstandsanfragen an das Gericht, das jeweils auf die Arbeitsüberlastung der zuständigen Kammer verwies. Mit Verfügung vom 23.04.1985 teilte das Gericht mit, dass wegen fehlender Nachweise der Aktieninhaberschaft ein Teil der Klagen als unzulässig abzuweisen sei. Am 26.08.1986 bestellte es zur Bewertung der Abfindungshöhe einen Wirtschaftsprüfer als Sachverständigen. Mit Beschluss vom 16.12.1987 setzte das Gericht schließlich die Barabfindung auf DM 934,08,– je DM 100,– Aktiennennbetrag fest und stellte im Übrigen fest, dass Schadensersatzansprüche nicht Gegenstand eines Spruchverfahrens sein könnten.89 b) Verfahren vor dem Oberlandesgericht Dagegen legten die Parteien sofortige Beschwerde beim Oberlandesgericht ein. Mit Beschluss vom 16.10.1990 setzte dieses die Barabfindung auf DM 835,90,– fest, da es die Schadensersatzansprüche berücksichtigte. Etwaige Ansprüche könnten sich aber nur aus einem Vertrag vom 04.02.1971 ergeben und seien inzwischen verjährt.90 c) Verfahren vor dem Bundesgerichtshof/Bundesverfassungsgericht Die Beschwerde beim Bundesgerichtshof wurde mit Beschluss vom 04.02.1991 abgewiesen. Der Beschwerdeführer legte am 17.11.1990 Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung seiner Eigentumsrechte ein. Mit Schreiben vom 14.07.1997 teilte er der Geschäftsstelle des Bundesverfassungsgerichts sein Verständnis mit der gegenwärtigen Arbeitsüberlastung des Gerichts mit. Mit Beschluss vom 04.04.1998 wies das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde als unzulässig zurück.91
89 EGMR, Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228, Rn. 13 ff. 90 EGMR, Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228, Rn. 22 ff. 91 EGMR, Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228, Rn. 31 ff.
D. Beispielfälle
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2. Entscheidungsgründe a) Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK Bezüglich der Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK stellte der EGMR zunächst den zu berücksichtigenden Zeitraum fest. Dieser begann mit Klageerhebung beim Landgericht am 20.06.1982 und endete mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 04.04.1998. Das Verfahren hatte demnach 15 Jahre und 9 Monate gedauert. Zur Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer verwies der EGMR auf seine ständige Rechtsprechung, wonach sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Falles richte und unter Berücksichtigung der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs verankerten Kriterien zu würdigen sei, insbesondere in Anbetracht der Komplexität der Sache, des Verhaltens des Beschwerdeführers und der zuständigen Behörden. Er stellte fest, dass das vorliegende Verfahren eine „gewisse Komplexität“ aufgewiesen habe, weil für die Festsetzung des Abfindungsbetrages die Bestellung eines Sachverständigen erforderlich gewesen sei und viele Parteien an dem Verfahren beteiligt waren. Das Verhalten des Beschwerdeführers habe dagegen nicht zur Verfahrensdauer beigetragen. Zum Verhalten der innerstaatlichen Gerichte meinte der EGMR, die massivsten Verzögerungen seien vor dem Landgericht und dem Bundesverfassungsgericht entstanden, die sich beide gegenüber dem Beschwerdeführer auf aktuelle Arbeitsüberlastung beriefen.92 Der Gerichtshof führte aus, die Bundesrepublik Deutschland sei als Vertragsstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention nach Art. 6 Abs. 1 EMRK dazu verpflichtet, die Justizsysteme so zu organisieren, dass erst- und höchstinstanzliche Gerichte in der Lage seien, die Anforderungen der EMRK zu erfüllen, einschließlich der Verpflichtung zur Entscheidung in angemessener Frist aus Art. 6 Abs. 1 EMRK.93 Der vorliegende Fall lasse übermäßige Verzögerungen erkennen, die den nationalen Gerichten anzulasten seien. Insgesamt sah der EGMR Art. 6 Abs. 1 EMRK deshalb als verletzt an.94 Art. 13 EMRK prüfte der EGMR in dieser Entscheidung (noch) nicht und bemängelte auch nicht, dass es keinen deutschen Rechtsbehelf gäbe, um die Dauer des Verfahrens zu rügen.
92 EGMR, Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228, Rn. 48 ff., 50 ff. 93 EGMR, Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228, Rn. 52. 94 EGMR, Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228, Rn. 53.
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Kapitel 1: Überlange Dauer von Gerichtsverfahren
b) Anwendung von Art. 41 EMRK Der EGMR sprach dem Beschwerdeführer für die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK einen Entschädigungsanspruch für seine immateriellen Schäden gegen die Bundesrepublik nach Art. 41 EMRK in Höhe von EUR 7.500,– sowie Ersatz von Kosten und Auslagen in Höhe von EUR 1.500,– zu. Es sei nicht auszuschließen, dass der Beschwerdeführer angesichts der Verfahrensdauer gewisse ideelle Nachteile erlitten habe.95
II. Die Entscheidung des EGMR in der Sache Sürmeli/Deutschland vom 08.06.2006 In der Sache Sürmeli/Deutschland96 hatte der EGMR die Angemessenheit der Verfahrensdauer eines über 16 Jahre dauernden versicherungsrechtlichen Schadensersatzprozesses zu beurteilen. Die Entscheidung ist für diese Arbeit von besonderer Relevanz, da der EGMR hier erstmalig feststellte, dass in Deutschland (vor Einführung der §§ 198 ff. GVG) kein wirksamer Rechtsbehelf im Sinne von Art. 13 EMRK vorhanden sei, um das Recht auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend zu machen. 1. Sachverhalt Der (volljährige) Beschwerdeführer erlitt am 03.05.1982 auf dem Weg zur Schule einen Unfall und verlangte von der Unfallversicherung der Stadt H einen höheren Schadensersatz, als diese bereit war zu zahlen. Am 18.09.1989 erhob der Beschwerdeführer daher Klage vor dem Landgericht auf Schadensersatz sowie auf eine monatliche Rente. Im Juni 1991 erging ein Grund- und Teilurteil, wonach dem Beschwerdeführer 80% seiner Schadensersatzforderung zustehe. Das Grund- und Teilurteil wurde rechtskräftig. Seit Ende 1994 wurde der Rechtsstreit über die Höhe des Schadensersatzes vor dem Landgericht geführt; das Verfahren war im Zeitpunkt der Entscheidung des EGMR noch anhängig. Die Verfassungsbeschwerden des Beschwerdeführers vom 14.03.2001 und vom 26.05.2002 wegen der überlangen Verfahrensdauer wurden als unzulässig zurückgewiesen.
95 EGMR, Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228, Rn. 54, 58. 96 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389.
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2. Entscheidungsgründe a) Verletzung von Art. 13 EMRK Bezüglich der Verletzung von Art. 13 EMRK verwies der Gerichtshof auf die Grundsätze seiner Rechtsprechung. Nach Art. 1 EMRK trügen die Konventionsstaaten selbst und ihre Behörden und Gerichte die Verantwortung für die Anwendung und Durchsetzung der in der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten. Die Beschwerde an den Gerichtshof sei gegenüber dem Rechtsschutz innerstaatlicher Einrichtungen subsidiär, wie in Art. 13 und Art. 35 Abs.1 EMRK zum Ausdruck komme. Art. 13 EMRK garantiere eine wirksame Beschwerde im staatlichen Recht, um die Rechte und Freiheiten der Konvention durchzusetzen. Ein Rechtsbehelf erfülle nach ständiger Rechtsprechung des EGMR die Wirksamkeitsanforderungen, wenn mit ihm entweder die behauptete Verletzung oder die Fortsetzung der Verfahrensverletzung verhindert oder angemessen Abhilfe für schon eingetretene Verletzungen erlangt werden könne. Ein Rechtsbehelf gegen überlange Verfahrensdauer sei nach Art. 13 Abs. 1 EMRK wirksam, wenn der Beschwerdeführer mit ihm entweder die Entscheidung des zuständigen Gerichts beschleunigen oder angemessene Wiedergutmachung für schon eingetretene Verzögerungen erlangen kann.97 Einen vorbeugenden Rechtsbehelf hielt der Gerichtshof für die beste Lösung, verwies aber darauf, dass auch Kombinationen möglich und wirksam seien.98 Bei reinen Entschädigungsrechtsbehelfen könne die Effektivität des Rechtsbehelfs dagegen von der Höhe der Entschädigung abhängig gemacht werden.99 Unter Anwendung dieser Grundsätze kommt der EGMR zu dem Ergebnis, dass weder die Verfassungsbeschwerde noch die Dienstaufsichtsbeschwerde, die außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde entsprechend § 567 ZPO oder die Klage auf Schadensersatz nach Amtshaftungsrecht „wirksam“ im Sinne von Art. 13 EMRK seien. Folglich bestehe in Deutschland kein Rechtsbehelf, mit dem der Beschwerdeführer angemessene Wiedergutmachung für die überlange Dauer des Verfahrens erlangen könnte.100 Da der Entwurf eines Untätigkeitsbeschwerdengesetzes vom 18.09.2005101 bereits diskutiert wurde, sah der Ge97 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, Rn. 98 f. 98 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, Rn. 100. 99 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, Rn. 101. 100 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, Rn. 114. 101 Abdruck bei: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Anhang 3 (Untätigkeitsbeschwerdengesetz, Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz, Stand: 22.08.2005, Entwurf eines Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Rechts auf ein zügiges Verfahren).
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Kapitel 1: Überlange Dauer von Gerichtsverfahren
richtshof davon ab, allgemeine Hinweise für die Einführung von Rechtsbehelfen zu erlassen.102 b) Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK Zur Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK stellte der EGMR zunächst fest, dass der zu berücksichtigende Zeitraum am 18.09.1989 mit Klageerhebung beim Landgericht begonnen hatte und die Klage immer noch anhängig war. Das Verfahren dauerte demnach im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtshofs schon mehr als 16 Jahre und 7 Monate.103 Für die Frage, ob die Verfahrensdauer angemessen sei, verwies der EGMR auf die Grundsätze seiner ständigen Rechtsprechung und prüfte nach den bekannten Kriterien, Schwierigkeit des Falles, Verhalten des Beschwerdeführers und der Gerichte sowie der Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer.104 Der Gerichtshof führte zudem aus, dass auch in Rechtssystemen, in denen wie im deutschen Zivilprozessrecht die „Parteimaxime“ gelte, dies die Gerichte nicht von ihrer aus Art. 6 Abs. 1 EMRK resultierenden Pflicht entbindet, eine zügige Verfahrensdurchführung sicherzustellen. Die Mitgliedsstaaten der Konvention sind nach Art. 6 Abs. 1 EMRK verpflichtet, ihre Justizsysteme so zu organisieren, dass die Gerichte die Erfordernisse aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, einschließlich der Pflicht zur Verhandlung innerhalb angemessener Frist, erfüllen können.105 Der vorliegende Fall war nach Einschätzung des EGMR „nicht besonders schwierig“. Der Beschwerdeführer hat insoweit zur Verfahrensverzögerung beigetragen, als er mehrfach Fristverlängerungen beantragte, viermal einen oder mehrere mit seiner Sache befassten Richter am Landgericht ablehnte, mehrere Male weitere Sachverständigengutachten beantragte und drei Sachverständige ablehnte. Weiter widerrief er seine Zustimmung, die Akten des LSG zur Beweisaufnahme hinzuzuziehen. Schließlich wandte er sich trotz anwaltlicher Vertretung häufig schriftlich und persönlich an das Gericht. Einem Beschwerdeführer dürfe es aber nicht zu Last gelegt werden, dass er alle ihm nach dem deutschen Prozessrecht zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe eingelegt und ausgeschöpft hat, auch wenn sich daraus Verzögerungen ergeben haben. Das Verfahren vor dem Landgericht genügte nach Ansicht des EGMR nicht 102 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, 2392 Rn. 136. 103 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, Rn. 118 f. 104 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, Rn. 128. 105 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, Rn. 129.
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den Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, da selbst wenn eine gewisse Zeit für die Auswahl der Sachverständigen und die Durchführung der Gutachten erforderlich war, die dafür verwendete Zeit nicht mehr angemessen gewesen war. Der EGMR wertete es außerdem zulasten des Gerichts, dass die Parteien ohne gerichtliche Veranlassung eine Reihe von Schriftsätzen wechselten und der Beschwerdeführer trotz anwaltlicher Vertretung persönlich Anträge stellte. Zur Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer stellte der EGMR fest, dass Ansprüche auf Schadensersatz und Rentenansprüche anders als „Verfahren über das Sorgerecht für Kinder, Verfahren über die Geschäftsfähigkeit und den Personenstand sowie Arbeitssachen, ihrer Natur nach nicht besonders beschleunigt werden müssten.“106 Da das Verfahren aber schon über 16 Jahre dauere, sei ungeachtet des Verhaltens des Beschwerdeführers davon auszugehen, dass unter diesen Umständen die angemessene Frist nach Art. 6 Abs. 1 EMRK überschritten sei.107 c) Anwendung von Art. 41 EMRK Infolge dieser Feststellungen sprach der EGMR dem Beschwerdeführer EUR 10.000,– als Ersatz für seine Nichtvermögensschäden wegen der überlangen Verfahrensdauer nach Art. 41 EMRK sowie EUR 3711,– für Kosten und Auslagen zu.108
III. Die Entscheidung des EGMR in der Sache Grässer/Deutschland vom 05.10.2006 In der Sache Grässer/Deutschland109 hatte der Gerichtshof über einen 28 Jahre dauernden Schadensersatzprozess aus dem Amtshaftungsrecht zu urteilen. 1. Sachverhalt Der Beschwerdeführer verhandelte in den 70er Jahren mit der Stadt S über die Erteilung einer Baugenehmigung, um ein Einkaufszentrum auf einem von ihm erworbenen Grundstück zu errichten. Nachdem sich die Parteien zunächst darauf geeinigt hatten, dass der Beschwerdeführer die Erschließungskosten in Höhe von DM 2.535.000,– (etwa EUR 1,296 Mio.) trage und hierfür eine Bankbürgschaft in Höhe von DM 1,5 Mio. beizubringen habe, forderte die 106 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, Rn. 130 ff. 107 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, Rn. 133. 108 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, Rn. 141 ff. 109 EGMR, Urt. v. 05.10.2006, 66491/01 – Grässer/Deutschland, EuGRZ 2007, 268 ff.
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Kapitel 1: Überlange Dauer von Gerichtsverfahren
Stadt S später eine Bankbürgschaft in Höhe von DM 4,5 Mio. Weil dies der Beschwerdeführer mit Verweis auf die ursprüngliche Vereinbarung verweigerte, versagte die Stadt schließlich die Baugenehmigung. a) Erstes Verfahren Der Beschwerdeführer erhob (neben dem verwaltungsrechtlichen Verfahren) am 23.08.1974 Klage beim Landgericht gegen die Stadt S auf Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung, da das Verhalten der Stadt S eine Verletzung des Grundsatzes der Kontinuität von Verwaltungshandeln darstelle. Das Landgericht und das Oberlandesgericht wiesen die Klage als unbegründet ab. Am 07.02.1980 hob der BGH auf Revision des Beschwerdeführers die Urteile auf, verwies die Sache zurück an das Oberlandesgericht und gab diesem auf, die Pflichtverletzung erneut zu prüfen und festzustellen, ob die Stadt S die Vertragsverhandlungen ohne Grund abgebrochen habe.110 b) Erste Neuverhandlung vor dem Oberlandesgericht Das Oberlandesgericht verneinte bei der erneuten Prüfung den Kausalzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden. Der BGH ließ die Revision erneut zu und verwies die Sache zurück an einen anderen Senat des Oberlandesgerichts, da der ursprüngliche Senat bei der Prüfung des Kausalzusammenhangs die Beweismittel des Beschwerdeführers nicht richtig gewürdigt habe. c) Zweite Neuverhandlung vor dem Oberlandesgericht Am 10.07.1984 änderte das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts vom 21.03.1975 im Wege eines Grundurteils ab und bejahte den Schadensersatzanspruch des Beschwerdeführers. Das Grundurteil wurde rechtskräftig und am 08.07.1986 verurteilte das Oberlandesgericht die Stadt S an den Beschwerdeführer DM 5.798.142,– (etwa EUR 2.964.543,– ) zu zahlen, im Übrigen wies es die Klage ab. Auf Revision beider Parteien hin hob der BGH das Urteil am 22.07.1989 hinsichtlich der Höhe des Schadensersatzes erneut auf und verwies die Sache zurück an das Oberlandesgericht. d) Dritte Neuverhandlung Am 09.01.1995 holte das Oberlandesgericht ein Sachverständigengutachten über die Höhe des Schadensersatzes ein. Der Beschwerdeführer stellte im Laufe des Verfahrens mehrere Befangenheitsanträge. Mit Urteil vom 20.11.2001 wies das Oberlandesgericht die Schadensersatzklage des Beschwerdeführers nach 110 EGMR, Urt. v. 05.10.2006, 66491/01 – Grässer/Deutschland, EuGRZ 2007, 268 Rn. 12 ff.
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mündlicher Verhandlung ab. Es sei nicht erwiesen, dass der Beschwerdeführer finanziell in der Lage gewesen wäre, sein Bauvorhaben zu verwirklichen, wenn ihm die Baugenehmigung erteilt worden wäre, unabhängig vom Verhalten der Stadt S. Die Handlungen der Stadt S hätten ihm somit keine finanziellen Verluste verursacht. Das Urteil wurde rechtskräftig.111 e) Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Auf die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hin stellte das Bundesverfassungsgericht am 20.07.2000112 fest, das Recht des Beschwerdeführers auf wirkungsvollen Rechtsschutz nach dem Grundgesetz sei verletzt, da es das Oberlandesgericht unterlassen habe, in angemessener Zeit über die Höhe des Schadensersatzanspruchs des Beschwerdeführers zu entscheiden. Der Beschwerdeführer erhob am 28.05.2003 eine weitere Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung seiner Eigentumsrechte. Am 28.07.2003 (Zustellung der Entscheidung am 04.08.2003) wies das Bundesverfassungsgericht diese Beschwerde als unzulässig zurück.113 2. Entscheidungsgründe a) Maßgeblicher Zeitraum Der EGMR legte in seinem Urteil zunächst fest, dass der für die Prüfung einer Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK relevante Zeitraum mit Klageerhebung am 23.08.1974 beim Landgericht begann und am 04.08.2003 endete, als dem Beschwerdeführer der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts über die Nichtannahme seiner Verfassungsbeschwerde zugestellt wurde. Somit dauerte das Verfahren 28 Jahre und 11 Monate über vier Instanzen.114 b) Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK Der Gerichtshof stellte fest, dass eine solche Dauer ungewöhnlich lang sei und besondere Rechtfertigungsgründe erforderlich mache. Zur Angemessenheit der Verfahrensdauer verwies der EGMR auf seine ständige Rechtsprechung, nach der diese im Lichte der besonderen Umstände der Rechtssache sowie der in seiner Rechtsprechung festgelegten Kriterien zu würdigen sei, insbesondere der Komplexität des Falles sowie des Verhaltens des Beschwerdeführers und der 111
EGMR, Urt. v. 05.10.2006, 66491/01 – Grässer/Deutschland, EuGRZ 2007, 268. BVerfG, EuGRZ 2000, 491 ff. 113 EGMR, Urt. v. 05.10.2006, 66491/01 – Grässer/Deutschland, EuGRZ 2007, 268 Rn. 22 ff. 114 EGMR, Urt. v. 05.10.2006, 66491/01 – Grässer/Deutschland, EuGRZ 2007, 268 Rn. 52. 112
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Kapitel 1: Überlange Dauer von Gerichtsverfahren
zuständigen Behörden. Zudem sei zu berücksichtigen, was für den Beschwerdeführer bei dem Rechtsstreit auf dem Spiel stehe. Der EGMR ordnete die vorliegende Rechtssache als „recht komplex“ ein. Das Amtshaftungsverfahren habe es erforderlich gemacht, den Sachverhalt zu den von der Stadt mit dem Beschwerdeführer über die Baugenehmigung geführten Vertragsverhandlungen festzustellen und Sachverständigenbeweis zu erheben über die Höhe des entstanden Schadens sowie die Fähigkeit des Beschwerdeführers, das Vorhaben zu finanzieren. Das Verhalten des Beschwerdeführers dagegen habe, insbesondere auch durch seine Befangenheitsanträge, erheblich zur Gesamtverfahrensdauer beigetragen. Zur Prozessführung durch das Gericht stellte der EGMR nur fest, dass allein die Gesamtverfahrensdauer von fast 29 Jahren erkennen lasse, dass nicht davon auszugehen sei, dass die Zivilgerichte die Rechtssache mit der gebotenen Sorgfalt geführt haben. Gerade das vorliegende Verfahren hätte zügig abgeschlossen werden müssen, weil durch den sehr hohen – schließlich auf EUR 109 Mio. festgesetzten – Streitwert, die wirtschaftliche Existenz des Beschwerdeführers auf dem Spiel gestanden habe. Der Gerichtshof bejahte eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK.115 c) Anwendung von Art. 41 EMRK Der EGMR sprach dem Beschwerdeführer nach Art. 41 EMRK eine Entschädigung in Höhe von EUR 45.000,– für den immateriellen Schaden und EUR 4.000,– für die Kosten des Verfahrens zu.116
IV. Die Entscheidung des EGMR in der Sache Wildgruber/Deutschland vom 21.01.2010 In der Sache Wildgruber/Deutschland117 hatte der Gerichtshof über ein sieben Jahre und vier Monate dauerndes Sorgerechtsverfahren zu entscheiden. 1. Sachverhalt a) Erster Verfahrensabschnitt vor dem Amtsgericht Der Beschwerdeführer beantragte beim Amtsgericht am 13.01.1998 die Scheidung und am 15.01.1998 das alleinige Sorgerecht für die beiden Kinder. Am 27.02.1998 beantragte seine Ehefrau ebenfalls das alleinige Sorgerecht. Die Parteien trugen vor, dass sie wegen andauernder Streitereien nicht in der Lage 115 EGMR, Urt. v. 05.10.2006, 66491/01 – Grässer/Deutschland, EuGRZ 2007, 268 Rn. 53 ff. 116 EGMR, Urt. v. 05.10.2006, 66491/01 – Grässer/Deutschland, EuGRZ 2007, 268 Rn. 59. 117 EGMR, Urt. v. 21.01.2010, 42402/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721.
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seien, dass Sorgerecht gemeinsam auszuüben. Das Jugendamt bestätigte dies am 07.04.1999 und bat das Gericht, zügig zu entscheiden. Am 28.06.1999 brachte der Beschwerdeführer nach einem Umgangstermin die Kinder nicht zurück zur Mutter. Im Wege der einstweiligen Anordnung vom 20.07.1999 sprach das Amtsgericht der Mutter das alleinige Sorgerecht zu. Der Beschwerdeführer legte am 05.10.1999 Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Richter ein und stellte einen Befangenheitsantrag. Diesem Antrag wurde stattgeben und das Verfahren einem neuen Richter übertragen. Am 11.11.1999 brachte der Beschwerdeführer die Kinder daraufhin zu ihrer Mutter zurück.118 b) Zweiter Verfahrensabschnitt vor dem Amtsgericht Mit Schriftsatz vom 06.12.1999 bat der Beschwerdeführer das Gericht, das Verfahren zu beschleunigen. Am 03.05.2001 legte er beim Oberlandesgericht Untätigkeitsbeschwerde ein, die am 12.07.2001 als unzulässig zurückgewiesen wurde. Am 07.09.2001 erließ das Amtsgericht nach mündlicher Verhandlung ein Teilurteil zum Zugewinnausgleich, gegen das der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 26.10.2001 Berufung einlegte, die er am 27.11.2001 zurücknahm. Am 16.12.2001 legte der Beschwerdeführer beim Oberlandesgericht außerordentliche Beschwerde ein, die am 11.01.2002 als unzulässig verworfen wurde.119 c) Dritter Verfahrensabschnitt vor dem Amtsgericht Zwischen April und Juni 2002 wurde das Verfahren der Richterin R zugewiesen, seit Juli 2002 war Richterin E mit dem Fall befasst. Der Beschwerdeführer legte am 27.10.2002 erneut Untätigkeitsbeschwerde ein, die das Oberlandesgericht für erledigt erklärte, nachdem das Amtsgericht einen weiteren Verhandlungstermin angesetzt hatte. Am 12.12.2002 teilte die Richterin mit, dass es wegen des Umfangs des Verfahrens zu weiteren Verzögerungen kommen werde. Das Amtsgericht führte eine weitere mündliche Verhandlung mit Beweisaufnahme durch, die Parteien änderten ihre Anträge und mit Urteil vom 08.07.2003 sprach das Amtsgericht die Scheidung der Parteien aus und übertrug das alleinige Sorgerecht der Ehefrau, da dies den Kindern Kontinuität garantiere und ihrem Wohl entspreche. Die Kinder hätten in den letzten sechs Jahren bei der Mutter gelebt und sich an ihrem jetzigen Wohnort ein soziales Umfeld aufgebaut.120 118 EGMR, Urt. v. 21.01.2010, 42402/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721 Rn. 5 ff. 119 EGMR, Urt. v. 21.01.2010, 42402/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721 Rn. 25 ff. 120 EGMR, Urt. v. 21.01.2010, 42402/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721 Rn. 32 ff..
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d) Verfahren vor dem Oberlandesgericht Gegen das Urteil des Amtsgerichts legte der Beschwerdeführer am 11.08.2003 Berufung ein, die das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 27.01.04 zurückwies und die Entscheidung des Amtsgerichts bestätigte.121 e) Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Am 01.03.2004 erhob der Beschwerdeführer unter anderem wegen der überlangen Verfahrensdauer Verfassungsbeschwerde, die das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 21.04.2005 für unzulässig erklärte, da der Beschwerdeführer nach Abschluss des Verfahrens an der Feststellung der Überlänge kein Interesse mehr habe.122 2. Entscheidungsgründe a) Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK Der zu berücksichtigende Zeitraum begann am 15.01.1998 mit dem Antrag auf das alleinige Sorgerecht durch den Beschwerdeführer und endete am 09.05.2005, als die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dem Anwalt des Beschwerdeführers zugestellt wurde. Demnach dauerte das Verfahren mehr als sieben Jahre und drei Monate in drei Instanzen.123 Zur Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK verwies der EGMR auf die Kriterien seiner ständigen Rechtsprechung (Schwierigkeit des Verfahrens, Verhalten des Beschwerdeführers und der beteiligten Behörden, Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer). Bei Verfahren zum Personenstand sei die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer ein maßgeblicher Gesichtspunkt. Insbesondere wegen des Rechts auf Achtung der Familie sei, angesichts der Folgen, die eine überlange Verfahrensdauer mit sich bringen könne, besondere Zügigkeit geboten. Das Verfahren war „ziemlich komplex“, da die Parteien verfeindet waren, zahlreiche Schriftsätze gewechselt wurden und das Sorgerecht im Verbund mit der Scheidung und den Folgesachen entschieden wurde. Der Beschwerdeführer habe zu den Verzögerungen des Sorgerechtsstreits teilweise beigetragen, insbesondere weil er mit den Kindern verschwunden war und es ablehnte, sie zum Gerichtstermin mit-
121 EGMR, Urt. v. 21.01.2010, 42402/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721 Rn. 41. 122 EGMR, Urt. v. 21.01.2010, 42402/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721 Rn. 43 ff. 123 EGMR, Urt. v. 21.01.2010, 42402/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721, Rn. 58.
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zubringen. Zudem hätten seine zahlreichen Anträge das Verfahren zusätzlich verzögert. Genauso wie seine Berufung gegen das Teilurteil, die er anschließend wieder zurücknahm. Das Oberlandesgericht und das Bundesverfassungsgericht hätten das Verfahren hingegen angemessen gefördert, es sei aber mehr als fünf Jahre und fünf Monate beim Amtsgericht anhängig gewesen. Überdies sei der zweimalige Richterwechsel von Januar 2002 bis März 2003 nicht förderlich gewesen. Auch habe es die Sorgerechtsentscheidung verzögert, dass das Gericht sie im Verbund mit der Scheidung und allen Folgesachen entscheiden wollte, anstatt sie abzutrennen. Der Gerichtshof wies hier erneut auf die Staatenverpflichtung aus Art. 6 Abs. 1 EMRK zur Organisation der Justizsysteme, so dass ihre Gerichte zur Entscheidung in angemessener Frist in der Lage seien. Eine Entscheidung im Verbund könne dabei durchaus im Interesse der Rechtspflege liegen. Zu beachten sei, dass bei der Sorgerechtsentscheidung besondere Zügigkeit geboten war, weil die überlange Dauer von Sorgerechtsverfahren aus Kontinuitätsgründen zu einer faktischen Sorgerechtsentscheidung (Entfremdung zwischen Kind und einem Elternteil) führen könne. Im Ergebnis bejahte der Gerichtshof deshalb eine Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK.124 b) Verletzung von Art. 13 EMRK Der Gerichtshof wies erneut darauf hin, dass im deutschen Recht ein effektiver Rechtsbehelf nach Art. 13 EMRK fehle, mit dem der überlangen Dauer anhängiger zivilrechtlicher Verfahren und abgeschlossener Zivilverfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMKR angemessen abgeholfen werden könne. Nur durch eine entsprechende gesetzgeberische Initiative könne Deutschland dieser seiner Verpflichtung aus Art. 46 EMRK nachkommen. Folglich bejahte der EGMR auch eine Verletzung von Art. 13 EMRK. 125 c) Anwendung von Art. 41 EMRK Der Gerichtshof sprach dem Beschwerdeführer für die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK eine Entschädigung für seine Nichtvermögensnachteile in Höhe von EUR 4.500,– sowie Ersatz seiner Kosten und Auslagen in Höhe von EUR 5.000,– zu.126
124 EGMR, Urt. v. 21.01.2010, 42402/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721, Rn. 58 ff. 125 EGMR, Urt. v. 21.01.2010, 42402/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721, Rn. 67 f. 126 EGMR, Urt. v. 21.01.2010, 42402/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721 Rn. 70.
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V. Die Entscheidung des EGMR in der Sache Grumann/Deutschland vom 21.10.2010 In der Sache Grumann/Deutschland127 hatte der Gerichtshof darüber zu entscheiden, ob die Verfahrensdauer eines mehr als 12 Jahre dauernden Arzthaftungsprozesses angemessen war. 1. Sachverhalt Die Beschwerdeführerin war Kunstlehrerin und wurde nach einer Augenoperation berufsunfähig. a) Verfahren vor dem Landgericht Am 24.06.1998 erhob sie Klage vor dem Landgericht gegen das Krankenhaus und die drei dort tätigen Ärzte wegen ärztlicher Fehlbehandlung. Am 30.12.1998 forderte das Gericht die Beschwerdeführerin auf, weitere Krankenakten vorzulegen; sie reichte im März 1999 lediglich einen Teil der Akten nach. Das Gericht ordnete nach mündlicher Verhandlung am 20.10.1999 die Einholung eines Sachverständigengutachtens an. Der Sachverständige erstellte das Gutachten, sowie im Jahr 2001 ein Ergänzungsgutachten. Am 17.12.2001 beantragte die Beschwerdeführerin einen höheren Schadensersatz, leistete aber keinen weiteren Gerichtskostenvorschuss, sodass ein anberaumter Verhandlungstermin aufgehoben wurde. Bestätigt wurde die Zahlung des Vorschusses erst am 23.08.2002. Nachdem der Sachverständige in der Folgezeit auf Gerichtsschreiben nicht mehr reagierte, teilte das Landgericht am 09.12.2002 den Parteien mit, dass der Sachverständige nicht auffindbar sei. Es ordnete am 03.07.2003 die Bestellung eines neuen Sachverständigen an. In der Folgezeit bestellte das Landgericht insgesamt sechs verschiedene Sachverständige, die zum Teil von der Beschwerdeführerin abgelehnt wurden, zum Teil die Begutachtung verweigerten. Schließlich verstarb der Ersteller des zweiten Gutachtens vor einer weiteren mündlichen Verhandlung. Die Beschwerdeführerin erweiterte ihre Klage mehrfach. Nach Erstellung des inzwischen dritten Sachverständigengutachtens vom 19.03.2007 erging am 25.07.2007 ein Grundund Teilurteil. b) Verfahren vor dem Oberlandesgericht und vor dem Bundesgerichtshof Die Parteien gingen in Berufung. Das Oberlandesgericht128 wies die Berufung der Beklagten und die Anschlussberufung der Beschwerdeführerin zurück. Der 127
128
EGMR, Urt. v. 21.10.2010, 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055. OLG München, Urt. v. 29.05.2008, 1 U 4499/07, BeckRS 2008, 10593.
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BGH129 hob das Urteil am 21.01.2009 auf und verwies die Sache zurück an das Oberlandesgericht. Dieses bestellte am 25.05.2009 einen neuen Sachverständigen, den die Beschwerdeführerin (erneut) ablehnte, zwei weitere bestellte Gutachter verweigerten die Erstellung des Gutachtens. Am 03.11.2009 wurde nochmals ein neuer Sachverständiger hinzugezogen. Im Zeitpunkt der Klageerhebung beim EGMR war der Schadensersatzprozess nicht abgeschlossen und dauerte über zwölf Jahre in drei Instanzen. 2. Entscheidungsgründe a) Behauptete Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK Der EGMR stellte zunächst fest, dass der für die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK relevante Zeitraum mit Klageerhebung am 24.06.1998 begann und noch fortlaufe. Zur Angemessenheit der Verfahrensdauer verwies der EGMR auf die Kriterien seiner ständige Rechtsprechung130 und führte im konkreten Fall aus: Der Arzthaftungsprozess sei schwierig gewesen, das Gericht hätte das Verfahren aber effizienter führen und beschleunigen können. Es hätte den Parteien insbesondere schon zu Beginn aufgeben können, sämtliche Krankenakten vorzulegen, und schon vor der mündlichen Verhandlung einen Beweisbeschluss erlassen können. Die Einholung des Sachverständigengutachtens hätte deutlich abgekürzt werden können, wenn das Gericht den Sachverständigen schon zur ersten mündlichen Verhandlung geladen hätte, um sein Gutachten zu erläutern. Die Gerichte müssten sicherstellen, nur solche Sachverständige zu bestellen, die für eine mündliche Verhandlung zur Verfügung ständen. Zudem müssten sie – soweit erforderlich – von gesetzlich vorgesehenen Zwangsmaßnahmen gegenüber den Sachverständigen Gebrauch machen. Das Verhalten der Beschwerdeführerin (Klageerweiterungen, verspätete Bezahlung der zusätzlichen Gerichtsgebühr) falle demgegenüber für die Verzögerungen kaum ins Gewicht. Das Verfahren habe für die Beschwerdeführerin eine erhebliche Bedeutung, weil sie durch die missglückte Operation berufsunfähig geworden sei. Der Gerichtshof bejahte somit die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. b) Anwendung von Art. 41 EMRK Der Gerichtshof gewährte der Beschwerdeführerin eine Entschädigung nach Art. 41 EMRK für den durch die überlange Verfahrensdauer entstandenen
129
BGH, NJOZ 2009, 1998 ff. Urt. v. 21.10.2010, 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055, 1056 Rn. 26; Urt. v. 27.06.2000, 30979/96 – Frydlender/Frankreich, Rn. 43. 130 EGMR,
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Kapitel 1: Überlange Dauer von Gerichtsverfahren
Nichtvermögensschaden in Höhe von EUR 10.000,– sowie Ersatz der zusätzlichen Kosten und Auslagen in Höhe von EUR 2296, 99,–.
E. Zusammenfassung Eine angemessene Verfahrensdauer ist ein Indiz für einen effektiven Rechtsschutz. Das Recht auf angemessene Verfahrensdauer ist verfassungs- und konventionsrechtlich in den Art. 20 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK und Art. 47 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta als Prozessgarantie verankert. Für die Vorgaben des EGMR an einen wirksamen Rechtsbehelf ist das Recht auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK von besonderer Bedeutung. Der Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Frist kann mit anderen Prozessgrundrechten kollidieren. Diesen Interessenskonflikt gilt es in jedem Einzelfall zu lösen: Ist die Dauer des Verfahrens angemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 S. 1 GVG? Die statistischen Erhebungen belegen, dass die durchschnittliche Verfahrensdauer deutscher Zivilprozesse nicht zu beanstanden ist. Die Verfahren sind nur in seltenen Einzelfällen überlang. Gleichwohl fehlte es bisher an einem Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer. Diese Rechtsschutzlücke hat der Gesetzgeber nun versucht zu schließen. Veranlasst durch die Rechtsprechung des EGMR hat er mit dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 (ÜGRG)131 die §§ 198 ff. GVG eingeführt. Ob diese Regelung den Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK entspricht, wird im Folgenden untersucht.
131
BGBl. 2011 I, S. 2302 ff.
2. Kapitel
Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Anlass für die Einführung der §§ 198 ff. GVG A. Historie des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs war Anlass für das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG)1 und die Einführung der §§ 198 ff. GVG.2 Für das Verständnis der Normhistorie sind drei Entscheidungen des EGMR besonders wichtig. Erstens die Strafsache Kudla/Polen:3 Hier hat der EGMR erstmals entschieden, dass überlange Gerichtsverfahren nicht nur gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, sondern auch gegen Art. 13 EMRK verstoßen. Art. 13 EMRK ist verletzt, wenn es keinen innerstaatlichen Rechtsbehelf gibt, mit dem sich der Beschwerdeführer auf sein Recht auf angemessene Verfahrensdauer aus Art. 6 Abs. 1 EMRK berufen kann. Ein solcher innerstaatlicher Rechtsbehelf muss zudem wirksam sein.4 Dies sei nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR der Fall, wenn es der Rechtsbehelf ermögliche, die Gerichte zu einer schnelleren Entscheidungsfindung zu veranlassen (präventive Wirkung), oder dem Rechtssuchenden für die bereits entstandenen Verzögerungen eine angemessene Entschädigung gewähre (kompensatorische Wirkung). Eine Entschädigungsregelung ist nur wirksam, wenn sie auch einen Ausgleich für immaterielle Schäden durch die Verfahrensverzögerung gewährt, dem Geschädigten für die immateriellen Schäden keine überhöhten Darlegungs- und Nachweispflichten obliegen und das Entschädigungsklageverfahren bereits während des noch laufenden Ausgangsverfahrens eingeleitet werden kann.5 1
BGBl. 2011 I, S. 2302 ff.
2 Thomas/Putzo/Hüßtege,
ZPO, § 198 GVG Rn. 1; Link/Dorp van, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, S. 1 ff., 8; Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 225 ff. 3 EGMR, Urt. v. 26.10.2000, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694. 4 EGMR, Urt. v. 26.10.2000, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694; Urt. v. 11.09.2002, 57220/00 – Mifsud/Frankreich, hudoc; Urt. v. 10.07.2003, 53341/99 – Hartman/Tschechische Republik, hudoc. 5 EGMR, Urt. v. 26.10.2000, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694 ff.; Urt. v.
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Kapitel 2: Die Rechtsprechung des EGMR als Anlass für die Einführung
Zweitens ist die bereits dargestellte Entscheidung Sürmeli/Deutschland6 zu nennen, in der der EMGR erstmals gegenüber Deutschland einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK i. V. m. Art. 13 EMRK festgestellt und ausführlich begründet hat, weshalb der vor Einführung der §§ 198 ff. GVG bestehende Rechtsschutz nicht ausgereicht hat, um die Anforderungen der Konvention zu erfüllen.7 Drittens schließlich die Entscheidung Rumpf/Deutschland zu einem nach deutschem Verständnis öffentlich-rechtlichen Sachverhalt, in dem es um eine waffenrechtliche Erlaubnis ging. Hier erklärte der EGMR – wegen der häufigen deutschen Individualbeschwerden zu Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK – diese Konventionsverletzungen zu einem systemischen Problem („systematic problem“) des deutschen Justizsystems und verurteilte Deutschland erstmals im Wege eines sog. Pilotverfahrens (Musterverfahrens) nach Art. 46 EMRK dazu, einen entsprechenden Rechtsbehelf verbindlich innerhalb Jahresfrist bereitzustellen.8 Daraufhin hat Deutschland durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsver198 ff. GVG eingeführt.10 Dessen Entstehungsgefahren (ÜGRG)9 die §§ schichte ist durch die Rechtsprechung des EGMR und die Entwicklung seiner Anforderungskriterien an einen wirksamen Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer geprägt. Die Gesetzesmaterialien enthalten eine Reihe von Verweisen auf Urteile des EGMR. Der folgende Abschnitt geht ausführlich auf die Begründungen des Gesetzgebers ein, soweit sie für die Umsetzung der Vorgaben des EGMR relevant sind.
11.09.2002, 57220/00 – Mifsud/Frankreich, hudoc; Urt. v. 10.07.2003, 53341/99 – Hartman/ Tschechische Republik, hudoc. 6 S.o. § 1 D II. 7 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 ff. 8 EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 ff. 9 BGBl. 2011 I, S. 2302 ff. 10 Kotz, ZPR 2011, 85, 86.
B. Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung des EGMR
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B. Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung des EGMR in der Sache Kudla/Polen: Der Referentenentwurf vom 22.08.2005 – Untätigkeitsbeschwerdengesetz I. Regelungsziel und Inhalt des Referentenentwurfs vom 22.08.2005 Die erste Reaktion des Bundesgesetzgebers auf die veränderte Rechtsprechung des EGMR mit der Entscheidung Kudla/Polen11 war der Referentenentwurf vom 22.08.2005.12 Der Entwurf sah die Einführung einer „Untätigkeitsbeschwerde“ in den §§ 198 ff. GVG-E (2005) vor.13 § 198 GVG-E (2005) lautete: Artikel 1 Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes […] Siebzehnter Titel. Untätigkeitsbeschwerde […] (1) Wird ein anhängiges gerichtliches Verfahren von dem Gericht nicht in angemessener Zeit gefördert, so können die Parteien oder Beteiligten Beschwerde erheben (Untätigkeitsbeschwerde). (2) Die Beschwerde ist bei dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, schriftlich oder, sofern nicht für das Verfahren Vertretung vorgeschrieben ist, zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu erheben. Sie muss das Verfahren bezeichnen und die Tatsachen darlegen, die die Voraussetzungen des Absatzes 1 begründen. (3) Hält das Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, die Beschwerde für begründet, so hilft es ihr ab, indem es unverzüglich, spätestens innerhalb eines Monats, Maßnahmen ergreift, die geeignet sind, einen Abschluss des Verfahrens in angemessener Zeit zu gewährleisten. Anderenfalls legt es die Beschwerde unverzüglich dem im Rechtsmittelzug nächsthöheren Gericht vor und nimmt dabei zu den Voraussetzungen des Absatzes 1 Stellung. In Verfahren, in denen ein Rechtsmittel nicht eröffnet ist, entscheidet das im Instanzenzug übergeordnete Gericht. In den vor den Landgerichten im zweiten Rechtszug verhandelten bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten ist nächsthöheres Gericht im Sinne dieser Vorschrift das Oberlandesgericht. In den Fällen des § 11 Abs. 2 u. 3 RPflG ist nächsthöheres Gericht das Landge11 Stdg. Rspr. seit EGMR, Urt. v. 26.10.2000, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694 ff. 12 Abdruck bei: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, ÜGRG, Anhang 3, S. 377 ff. 13 Abdruck bei: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, ÜGRG, Anhang 3 (Untätigkeitsbeschwerdengesetz, Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz, Stand: 22.08.2005, Entwurf eines Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Rechts auf ein zügiges Verfahren), S. 377 ff.; Roller, DRiZ 2007, 82 ff.
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Kapitel 2: Die Rechtsprechung des EGMR als Anlass für die Einführung
richt. In Verfahren vor den obersten Bundesgerichten entscheidet ein anderer Senat des Gerichts. (4) Im Falle des Absatzes 3 Satz 1 kann der Beschwerdeführer binnen einer Frist von zwei Wochen, nachdem ihm die zur Abhilfe getroffene Maßnahme des Gerichts bekannt geworden ist, die Vorlage an das Beschwerdegericht beantragen. In dem Antrag ist darzulegen, warum die Maßnahme nicht geeignet ist, den Abschluss des Verfahrens in angemessener Zeit zu gewährleisten. Absatz 3 Satz 2 bis 5 gilt entsprechend. (5) Das Beschwerdegericht entscheidet unverzüglich, spätestens innerhalb eines Monats, nach Vorlage der Beschwerde durch unanfechtbaren Beschluss. Hält es die Beschwerde für begründet, so bestimmt es eine Frist, in der das vorlegende Gericht Maßnahmen ergreift, die geeignet sind, einen Abschluss des Verfahrens innerhalb angemessener Frist zu gewährleisten. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Ist die Beschwerde offensichtlich unbegründet, kann von einer Begründung abgesehen werden. (6) Die Beschwerde kann vor Ablauf von sechs Monaten nach einer Maßnahme gemäß Absatz 3 Satz 1 nicht, nach der Entscheidung des Beschwerdegerichts gemäß Absatz 5 nur mit der Begründung erhoben werden, das Gericht habe dem Verfahren nicht gemäß Absatz 5 Satz 2 Fortgang gegeben. Ist eine Beschwerde im Sinne des Satzes 1 offensichtlich unzulässig, weist das Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, sie durch unanfechtbaren Beschluss zurück. (7) Die Kosten des Untätigkeitsbeschwerdeverfahrens gehören nicht zu den Kosten der Hauptsache. Ist die Beschwerde begründet, fallen die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeführers der Staatskasse zur Last. Dem Gegner entstandene Kosten werden nicht erstattet.
Die Untätigkeitsbeschwerde gemäß § 198 Abs. 1 GVG-E (2005) sah mit ihre Abhilfefunktion durch Ergreifung verfahrensfördernder Maßnahmen nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG-E (2005) die Möglichkeit vor, unmittelbar beim Ausgangsgericht beschleunigend auf das Verfahren einzuwirken oder die Beschwerde dem nächsthöheren Gericht vorzulegen, § 198 Abs. 3 S. 2 GVG-E (2005). Hielt wiederum das Beschwerdegericht die Untätigkeitsbeschwerde für begründet, so bestimmte es nach § 198 Abs. 5 GVG-E (2005) eine Frist, innerhalb derer das vorlegende Gericht die geeignete Maßnahmen nachzuholen hatte. Die Abhilfeentscheidung des Ausgangsgerichts oder die Vorlage zum Rechtsmittelgericht mussten innerhalb eines Monats erfolgen, § 198 Abs. 3 GVG-E (2005). 14 Für die vorliegende Arbeit ist der Entwurf relevant, da er im Sinne der Vorgaben des EGMR aus Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK mit der Untätigkeitsbeschwerde eine präventive, verfahrensbeschleunigende Lösung vorschlug. Der
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B. Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung des EGMR
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Gesetzesentwurf sprach sich ausdrücklich gegen eine Entschädigung bei überlanger Verfahrensdauer aus, weil sich eine solche Entschädigung in das System des deutschen Haftungsrechts, das den Ersatz immaterieller Schäden nur im Ausnahmefall kennt, nur schwer einordnen lasse.15
II. Stellungnahmen zum Referentenentwurf vom 22.08.2005 Die obersten Bundesgerichte, die Länder, die beteiligten Verbände der Richterund Anwaltschaft sowie die Literatur reagierten auf den Entwurf größtenteils ablehnend.16 Der gesetzgeberische Handlungsbedarf wurde verneint und viele warnten vor einer Mehrbelastung der Justiz durch einen zusätzlichen Rechtsbehelf.17 Äußerst kritisch wurde auch diskutiert, inwiefern die Regelung wegen der Möglichkeit, die richterliche Handlung nach § 198 Abs. 5 GVG-E (2005) zu ersetzen, mit der verfassungsrechtlich garantierten richterlichen Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG vereinbar sei.18 Letztlich befasste sich das Kabinett nicht mit dem Referentenentwurf. Für die vorliegende Arbeit ist dies relevant, weil wiederum der EGMR den gesetzgeberischen Handlungsbedarf in der Rechtssache Sürmeli/Deutschland19 ausdrücklich feststellte, indem der EGMR die damalige Rechtslage mit den Vorgaben aus Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK für unvereinbar erklärte.20 In der Zukunft wurden im Gesetzgebungsverfahren 21 drei Ansätze diskutiert, um die Vorgaben des EGMR umzusetzen: ein präventiver Rechtsbehelf an eine gerichtsinterne Stelle, eine Entschädigungsregelung anstatt einer präventiven Regelung oder eine Kombination aus präventivem Rechtsbehelf und Entschädigung.22
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Abdruck bei: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, ÜGRG, Anhang 3, S. 377 ff. bei: Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Einl. Rn. 122; zustimmend: Tiwisina, Überlange Verfahrensdauer, S. 139, 148; Steger, Überlange Dauer vor deutschen und europäischen Gerichten, S. 290 ff.; krit.: Kroppenberg, ZZP 119 (2006), 177, 187 f.; Brockmöller/Weichbrodt, NdsVBl. 2010, 225, 229 f. 17 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Einl. Rn. 144, 154, 159. 18 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Einl. Rn. 131; Dreier/ Schulze-Fielitz, GG, Bd. I II, Art. 97 Rn. 14, 17. 19 S. o. § 1 D II. 20 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 ff. 21 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Einl. Rn. 200 ff. 22 BT-Drs. 16/7655 (Antwort der BReg auf die Kleine Anfrage der FDP-Fraktion vom 28.12.2007), S. 2 f., Frage 2; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Einl. Rn. 200 ff. 16 Abdruck
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Kapitel 2: Die Rechtsprechung des EGMR als Anlass für die Einführung
C. Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung des EGMR in der Sache Sürmeli/Deutschland: Der Referentenentwurf vom 15.03.2010 I. Regelungsziel und Inhalt des Referentenentwurfs vom 15.03.2010 In Folge der Entscheidung Sürmeli/Deutschland23 kam es zum Referentenentwurf vom 15.03.201024 , der für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand besonders interessant ist, da in diesem Entwurf die Urteilsbegründung des EGMR in der Sache Sürmeli/Deutschland25 detailliert ausgewertet ist. Der Entwurf schlägt zur Umsetzung der Vorgaben des EGMR einen Entschädigungsrechtsbehelf vor, der der heutigen Regelung in §§ 198 ff. GVG schon stark ähnelt. § 198 Abs. 1 S. 1 GVG-RefE (2010) lautete: „Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird entschädigt.“26 Anders als in § 198 Abs. 1 S. 1 GVG fehlt im Referententwurf noch die Angemessenheit der Entschädigung. Zwingende Voraussetzung für die Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs war auch bereits nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG-RefE (2010) die Erhebung einer Verzögerungsrüge vor dem Ausgangsgericht.27 Für die vorliegend zu prüfende Umsetzung der Vorgaben des EGMR ist interessant, dass der Entwurf den Entschädigungsanspruch als eine sog. Kompensationslösung im Sinne der Rechtsprechung des EGMR bezeichnete und betonte, der Gedanke der Prävention werde durch die Pflicht zur Erhebung der Verzögerungsrüge ausreichend aufgegriffen.28 Trotzdem sollten nach der Entwurfsbegründung auf den Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG-RefE (2010) die §§ 249 ff. BGB entsprechend anzuwenden sein, wobei schon der Entwurf darauf hinwies, dass Schadensersatz und Entschädigung nicht gleichzusetzen wären.29 Die vorgesehene Entschädigung für immaterielle 23
S.o. § 1 D II. Abdruck bei: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, ÜGRG, Anhang 5 (Referentenwurf vom 15.03. 2010), auch abrufbar unter http://www.bundesgerichtshof.de/DE/Bibliothek/GesMat /WP 17/R/Rechtsschutz_ueberlang.html (Abruf vom 20.10.2015). 25 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 ff. 26 Referentenentwurf v. 15.03.2010, S. 3, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, ÜGRG, Anhang 5, auch abrufbar unter http://www.bundesgerichtshof.de/DE/Bibliothek/GesMat/WP 17/R/ Rechtsschutz_ueberlang.html (Abruf vom 20.10.2015). 27 Referentenentwurf v. 15.03.2010, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, ÜGRG, Anhang 5, S. 4 f. 28 Referentenentwurf, v. 15.03.2010, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, ÜGRG, Anhang 5, S. 11 f. 29 Referentenentwurf v. 15.03.2010, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, ÜGRG, Anhang 5, S. 15 f. 24
C. Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung des EGMR
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Nachteile sei eine Ausnahme von der Beschränkung des Geldersatzes für immaterielle Schäden gemäß § 253 Abs. 1 BGB.30
II. Stellungnahmen zum Referentenentwurf vom 15.03.2010 1. Stellungnahme des BGH Der BGH setzte sich mit der Umsetzung der Vorgaben des EGMR insoweit auseinander als er das gewählte Modell einer Entschädigungslösung zwar begrüßte, aber die Präventivfunktion der Verzögerungsrüge anzweifelt und die Rüge als unzureichend klar ausgestaltet bezeichnete.31 Der BGH forderte konkrete Fristen für ihre Einlegung, eine erhöhte Begründungsfrist sowie eine Pflicht, ihre Begründung glaubhaft zu machen.32 Äußerst kritisch sah der BGH die Kompensation für Nichtvermögensschäden, da sie dem deutschen Haftungssystem wiederspreche, das nicht leichthin zugunsten der Umsetzung der Rechtssprechung des EGMR aufgegeben werden dürfe.33 2. Stellungnahmen der Bayerischen Landesjustizverwaltung Das Bayerische Justizministerium reagierte auf die vorgeschlagene Entschädigungslösung grundsätzlich positiv, kritisierte aber bezüglich der hier zu prüfenden Umsetzung der konventionsrechtlichen Vorgaben, dass der Entwurf über das hinausginge, was nach der EMRK zwingend erforderlich sei.34 Das Bayerische Justizministerium schlug – wie auch der Bundesgerichtshof – vor, die Regelung der Verzögerungsrüge um eine Begründungspflicht sowie eine Pflicht zur Glaubhaftmachung zu ergänzen, um im Sinne der Rechtsprechung des EGMR das präventive Element des Rechtsbehelfs zu stärken.35
30 Referentenentwurf v. 15.03.2010, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, ÜGRG, Anhang 5, S. 15 f. 31 Stellungnahme des BGH v. 28.05.2010, abrufbar unter http://www.bundesgerichts hof.de/DE/Bibliothek/GesMat/WP17/R/Rechtsschutz_ueberlang.html (Abruf vom 20.10. 2015). 32 Stellungnahme des BGH v. 28.05.2010, S. 3 ff. 33 Stellungnahme des BGH v. 28.05.2010, S. 4 f. 34 Stellungnahme des Bayerischen Justizministeriums v. 02.06.2010, abrufbar unter http://www.bundesgerichtshof.de/DE/Bibliothek/GesMat/WP17/R/Rechtsschutz_ueber lang.html (Abruf vom 20.10.2015), S. 2 ff. 35 Stellungnahme des Bayerischen Justizministeriums v. 02.06.2010, S. 2 ff.
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Kapitel 2: Die Rechtsprechung des EGMR als Anlass für die Einführung
3. Stellungnahmen der Verbände (Deutscher Richterbund, Deutscher Anwaltsverein, Bundesrechtsanwaltskammer) Bezüglich der Wahl des vom EGMR vorgeschriebenen Modells beurteilten der Deutsche Richterbund36 und der Deutsche Anwaltsverein die Entschädigungslösung positiv.37 Die Bundesrechtsanwaltskammer kritisierte dagegen die Abkehr von der Untätigkeitsbeschwerde und forderte wenigstens einen Rechtsbehelf, der beides, eine Untätigkeitsbeschwerde sowie eine Entschädigung bei überlanger Verfahrensdauer, miteinander verbinde, da die Verfahrensbeschleunigung weiterhin primäres Ziel der gesetzgeberischen Bemühungen sein solle.38 Zur Verzögerungsrüge und den Ausführungen in der Begründung des Referentenentwurfs, die die Rüge als „Warnschuss“ bezeichneten, merkte der Deutsche Richterbund an, dass dies mit der materiell-rechtlichen Ausgestaltung der Rüge in § 198 Abs. 3 GVG-RefE (2010) nicht übereinstimme und eher von einer „Verzögerungsmitteilung“ an das Gericht gesprochen werden sollte.39 Gleichzeitig betonte er, dass die Konstruktion der Rüge als Obliegenheit und nicht als Rechtsbehelf (mit Abhilfemöglichkeit) sachgerecht sei, um weitere Verzögerungen des Verfahrens zu vermeiden.40 Auch der Deutsche Richterbund schlug zur Stärkung der präventiven Vorgaben des EGMR eine erhöhte Begründungs- und Glaubhaftmachungspflicht bei Erhebung der Verzögerungsrüge vor.41 In der Rügeschrift solle klar zu formulieren sein, worin der Beschwerdeführer die Verzögerung sehe, weshalb eine Gefahr für den zeitgerechten Abschluss des Verfahrens bestehe und welche Maßnahme vom Gericht konkret erwartet werde („qualifizierte Verzögerungsmitteilung“).42 Der Deutsche Richterbund empfahl zu prüfen, ob durch Zuständigkeit der jeweiligen Fachgerichtsbarkeit die Effektivität der Regelung im Sine der EMRK noch gesteigert werden könne.43 Er merkte abschließend an, das Recht auf angemessene Verfahrensdauer aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK könne nicht isoliert betrachtet werden; der Referentenentwurf lasse insoweit zu wenig das Spannungsverhältnis mit dem Anspruch auf recht36 Stellungnahme des Deutschen Richterbunds v. 10.05.2010, S. 1 f., abrufbar unter http://www.bundesgerichtshof.de/DE/Bibliothek/GesMat/WP17/R/Rechtsschutz_ueber lang.html (Abruf vom 20.10.2015). 37 Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins v. 28.05.2010, abrufbar unter http:// www.bundesgerichtshof.de/DE/Bibliothek/GesMat/WP17/R/Rechtsschutz_ueberlang. html (Abruf vom 20.10.2015). 38 Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer v. 02.06.2010, abrufbar unter http:// www.bundesgerichtshof.de/DE/Bibliothek/GesMat/WP17/R/Rechtsschutz_ueberlang. html (Abruf vom 20.10.2015). 39 Stellungnahme des Deutschen Richterbunds v. 10.05.2010, S. 3. 40 Stellungnahme des Deutschen Richterbunds v. 10.05.2010, S. 4. 41 Stellungnahme des Deutschen Richterbunds v. 10.05.2010, S. 5. 42 Stellungnahme des Deutschen Richterbunds v. 10.05.2010, S. 5. 43 Stellungnahme des Deutschen Richterbunds v. 10.05.2010, S. 6.
D. Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung des EGMR
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liches Gehör erkennen.44 Wie auch der EGMR bemerkte er, dass die Dauer des Verfahrens kein absoluter Wert sei, sondern müsse gerade bei umfangreichen Verfahren stets angepasst werden können, um allen Verfahrensgrundrechten zu einem gerechten Ausgleich zu verhelfen.45
D. Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung des EGMR in der Sache Rumpf/Deutschland: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 17.11.2010 und das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) vom 24.11.2011 I. Allgemeine Begründung des Gesetzentwurfs: Umsetzung der Vorgaben des EGMR/Lösung der Interessenkonflikte durch den Gesetzgeber Als Reaktion auf die Entscheidung des EGMR in der Sache Rumpf/Deutschland 46 erging der Gesetzentwurf vom 17.11.201047 und schließlich das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) vom 24.11.2011. 48 Nach der Gesetzesbegründung49 dient die Einführung der Entschädigungsregelung der §§ 198 ff. GVG Reg-E (2010) ausdrücklich dazu, die hier zu untersuchenden Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention an einen Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer wirksam umzusetzen. Der Gesetzentwurf greift hierfür ausdrücklich auf die Definition eines „wirksamen Rechtsbehelfs“ im Sinne der Rechtsprechung des EGMR zurück, wonach ein Rechtsbehelf wirksam ist, wenn er geeignet ist, eine schnellere Entscheidungsfindung der Gerichte zu fördern (sog. „präventive Wirkung“) oder für bereits entstandenen Verzögerungen eine angemessene Entschädigung – insbesondere auch der immateriellen Nachteile zu gewähren (sog. „kompensatorische Wirkung“).50 Der Entwurf sah nach Einschätzung der Bundesregierung einen Rechtsbehelf mit kompensatorischer Wirkung vor.51 Der Entschädigungsanspruch gewähre Ersatz materieller und – falls Wiedergutmachung auf andere Weise nicht möglich sei – ausdrücklich auch Ersatz der immateriellen Nachteile des Betrof-
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Stellungnahme des Deutschen Richterbunds v. 10.05.2010, S. 5. Stellungnahme des Deutschen Richterbunds v. 10.05.2010, S. 3. 46 EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 ff. 47 BT-Drs. 17/3802, S. 6 f. 48 BGBl. 2011 I, S. 2302 ff. 49 BT-Drs. 17/3802, S. 15 f. 50 BT-Drs. 17/3802, S. 15 f. 51 BT-Drs. 17/3802, S. 15 f. 45
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Kapitel 2: Die Rechtsprechung des EGMR als Anlass für die Einführung
fenen.52 Als Wiedergutmachung auf andere Weise wurde, in Anlehnung an die entsprechenden Urteile des EGMR, die Feststellung der überlangen Verfahrensdauer durch das Entschädigungsgericht genannt. 53 Der Entwurf verwies bezüglich dem Vorrang eines Modells zur präventiven Wahrung des Anspruchs auf angemessene Verfahrensdauer auf das Urteil des Gerichtshofs in der Sache Sürmeli/Deutschland54: Demnach sei ein vorbeugender Rechtsbehelf die beste Lösung, um den Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit fachgerichtlich umzusetzen, weil er Verletzungen des Anspruchs verhindere, anstatt Verstöße (nur) nachträglich zu kompensieren.55 Den Gedanken der Prävention wollte der Gesetzgeber in der deutschen Regelung aufgreifen, indem der Entschädigungsanspruch zunächst die Verzögerungsrüge im Ausgangsprozess voraussetzte.56 Das Gericht solle sich durch die Verzögerungsrüge veranlasst sehen, im Verfahren beschleunigende Maßnahmen zu ergreifen.57 Die Verzögerungsrüge sei kein Rechtsbehelf, sondern Obliegenheit für den Entschädigungsanspruch.58 Ziel sei, effektiven Rechtsschutz im Sinne der EMRK zu gewähren, der nicht davon abhänge, ob der Grund für die zu lange Verfahrensdauer vorwerfbare Säumnis des Gerichts oder ein struktureller Missstand der Justizorganisation sei.59 Für den Entschädigungsanspruch maßgeblich sei die Verletzung des Anspruchs eines Verfahrensbeteiligten in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Entscheidung seines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Frist.60 Die in § 198 Abs. 1 S. 1 GVG genannten Umstände zur Angemessenheit der Verfahrensdauer seien nur eine beispielhafte Aufzählung von besonders bedeutsamen Kriterien, die sich an der Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR orientieren, und eine Einzelfallentscheidung zuließen, da die Angemessenheit der Verfahrensdauer in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR nicht abstrakt bestimmt werden solle.61
52
BT-Drs. 17/3802, S. 15 f. BT-Drs. 17/3802, S. 16 f. 54 S. o. § 1 D II; EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 100. 55 BT-Drs. 17/3802, S. 16 f. 56 BT-Drs. 17/3802, S. 16 f. 57 BT-Drs. 17/3802, S. 16 f. 58 BT-Drs. 17/3802, S. 16 f. 59 BT-Drs. 17/3802, S. 16 f. 60 BT-Drs. 17/3802, S. 18 f. 61 BT-Drs. 17/3802, S. 18 f. 53
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II. Inhaltliche Änderungen des Gesetzentwurfs vom 17.11.2010 1. Entschädigungsvoraussetzungen Die Kriterien für die Angemessenheit der Verfahrensdauer wurden in § 198 Abs. 1 S. 2 GVG-RegE (2010)62 um das „Verhalten von Dritten“ ergänzt, im Übrigen war § 198 Abs. 1 GVG-RegE (2010) identisch mit dem Referentenentwurf.63 Die Bemessung für die pauschalierte Entschädigung der immateriellen Nachteile wurde – wie vom BGH und anderen vorgeschlagen64 – in § 198 Abs. 2 S. 3 GVG-RegE (2010) auf eine Jahresspanne in Höhe von EUR 1200.– angehoben (anstatt einer Monatsspanne in Höhe von € 100.– nach § 198 Abs. 2 S. 3 GVG-RefE [2010]).65 Wegen des von den beteiligten Kreisen befürchteten Missbrauchs der Verzögerungsrüge (Gefahr von sog. Kettenrügen) wurde in § 198 Abs. 3 S. 2 HS 2 GVG-RegE (2010) eine Frist von sechs Monaten eingefügt, bevor die Rüge im selben Verfahren wiederholt werden kann.66 2. Entschädigungsrechtsfolgen Die im Referentenentwurf in § 198 Abs. 4 S. 3 u. S. 4 GVG-RefE (2010)67 enthaltene Regelung, dass zum Ausgleich der immateriellen Nachteile die Feststellung der Überlänge im elektronischen Bundesanzeiger veröffentlicht werden kann, wurde im Regierungsentwurf gestrichen, nachdem sie im Gesetzgebungsverfahren von verschiedenen Seiten wegen ihrer „Prangerwirkung“ stark kritisiert worden war.68 3. Entschädigungsverfahren Der Zeitraum, der zwischen Erhebung der Verzögerungsrüge und der Klage auf Entschädigung liegen muss, d. h. der früheste (Klage-)Zeitpunkt, wurde in § 198 Abs. 5 S. 1 GVG-RegE (2010) von drei auf sechs Monate erhöht.69 Das Gericht des Ausgangsverfahrens brauche hinreichend Zeit, auf die Verfahrensverzögerung angemessen zu reagieren und das Verfahren so zu fördern, dass es
62 Die Paragrafen der Entschädigungsregelung nach §§ 198 ff. GVG sind zur Unterscheidbarkeit von Referententwurf und Regierungsentwurf mit dem Zusatz §§ 198 ff. GVG-RefE (2010) für den Referentenentwurf und §§ 198 ff. GVG-RegE (2010) für den Regierungsentwurf versehen. 63 BT-Drs. 17/3802, S. 7 f. 64 S. o. § 2 C II 1 u. § 2 C II 2. 65 BT-Drs. 17/3802, S. 7 f. 66 BT-Drs. 17/3802, S. 7 f. 67 Abdruck bei: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, ÜGRG, Anhang 5, S. 4. 68 BT-Drs. 17/3802, S. 7 f. 69 BT-Drs. 17/3802, S. 7 f.
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Kapitel 2: Die Rechtsprechung des EGMR als Anlass für die Einführung
in angemessener Zeit abgeschlossen werden könne.70 Weitere Verzögerungen könnten so vermieden werden.71 Den spätesten (Klage-)Zeitpunkt zur Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs verkürzt § 198 Abs. 5 S. 2 GVG-RegE (2010) auf sechs Monate ab Eintritt der Rechtskraft des Ausgangsverfahrens.72 Diese Frist betrug im Referentenentwurf nach § 198 Abs. 5 S. 2 GVG-RefE (2010) noch ein Jahr.73 Die Begründung wies ausdrücklich darauf hin, dass neben der Klage auf Entschädigung ein außergerichtlicher Vergleich über den Entschädigungsanspruch auch schon vor Klageerhebung gegenüber dem Rechtsträger geltend gemacht und außergerichtlich befriedigt werden könne.74 Zur Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG während des laufenden Verfahrens, dürfe die Justizverwaltung aber keine vorrangige Bearbeitung, bestimmte Verfahrensdauer oder vorgezogene Entscheidung zusagen.75 Völlig neu war die Regelung in § 200 GVG-RegE (2010) gefasst, die nun die Frage nach der Passivlegitimation bzw. Haftungsverteilung zwischen Bund und Ländern so löste, dass nach § 200 S. 1 GVG-RegE (2010) „für Nachteile, die auf Grund von Verzögerungen bei Gerichten eines Landes eingetreten sind, das Land haftet“ und nach § 200 S. 2 GVG-RegE (2010) „für Nachteile, die auf Grund von Verzögerungen bei Gerichten eines Bundes eingetreten sind, der Bund haftet“.76 Die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit für sämtliche Entschädigungsklagen, wie sie im Referentenentwurf in § 201 Abs. 1 S. 1 GVG-RefE (2010) 77 vorgesehen und insbesondere von BGH und dem Deutschen Richterbund kritisiert worden war, wurde im Regierungsentwurf aufgehoben. § 201 Abs. 1 GVG-RegE (2010) normierte entsprechend der in § 200 GVG-RegE (2010) festgelegten Haftungsaufteilung zwischen Bund und Land eine Aufteilung der Zuständigkeit zwischen Oberlandesgerichten und Bundesgerichtshof für die ordentliche Gerichtsbarkeit.78 Durch die entsprechende Anwendung des GVG werde diese Regelung auf die übrigen Fachgerichtsbarkeiten so übertragen, dass die jeweils betroffene Fachgerichtsbarkeit selbstständig über die Entschädigungsansprüche entscheide. So sollte sichergestellt sein, dass über den Entschädigungsanspruch fachkundig innerhalb der jeweiligen Gerichtsbarkeit entschieden werden kann.79 Neu eingefügt wurde
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BT-Drs. 17/3802, S. 22 ff. BT-Drs. 17/3802, S. 22 ff. 72 BT-Drs. 17/3802, S. 7 f. 73 Abdruck bei: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, ÜGRG, Anhang 5, S. 4. 74 BT-Drs. 17/3802, S. 2 2 ff. 75 BT-Drs. 17/3802, S. 2 2 ff. 76 BT-Drs. 17/3802, S. 8. 77 Abdruck bei: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, ÜGRG, Anhang 5, S. 4. 78 BT-Drs. 17/3802, S. 8 , 25. 79 BT-Drs. 17/3802, S. 25 f. 71
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die ausschließliche Zuständigkeit nach § 201 Abs. 1 S. 3 GVG-RegE (2010).80 Als Folge schloss § 38 i. V. m. § 40 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO die Prorogation über die Entschädigungsansprüche aus. Nach § 40 Abs. 2 S. 2 ZPO war eine Zuständigkeitsbegründung kraft rügeloser Einlassung nach § 39 ZPO unzulässig.81 4. Anwendungsbereich Der Passus in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG-RefE (2010),82 der Verfahren vor den Verfassungsgerichten von der Entschädigungsregelung ausgeschlossen hatte, wurde im Regierungsentwurf gestrichen, da die §§ 97a ff. BVerfGG-RegE (2010) eine eigene Entschädigungsregelung (sog. Verzögerungsbeschwerde) für überlange Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht einführten.83 5. Kostenregelung Die Kostenregelung in § 201 Abs. 4 GVG-RegE (2010) wurde neu gefasst: Das Entschädigungsgericht sollte über die Kosten nach billigem Ermessen entscheiden, wenn ein Entschädigungsanspruch nicht oder nicht in der geltend gemachten Höhe bestehe.84 Im Referentenentwurf war die Feststellung der Überlänge durch das Gericht mit einer Kostenfreistellung für den Betroffenen verbunden, § 201 Abs. 3 GVG-RefE (2010).85 Dies sollte eine Anpassung der Kosten ermöglichen und vermeiden, dass eine Partei bei unverhältnismäßig hohen Entschädigungsforderungen und entsprechend hohem Streitwert mit unangemessen hohen Kosten belastet werde. Die Regelung ermögliche daneben eine angemessene Kostenentscheidung, wenn ein Kläger nach § 198 Abs. 4 S. 3 GVG-RefE (2010) seine Rügeobliegen nicht erfülle, gleichwohl aber eine überlange Verfahrensdauer festgestellt werde.86
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BT-Drs. 17/3802, S. 8 f. BT-Drs. 17/3802, S. 25 f. 82 Abdruck bei: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Anhang 5, S. 4. 83 BT-Drs. 17/3802, S 8 f. 84 BT-Drs. 17/3802, S. 8 f. 85 Abdruck bei: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, ÜGRG, Anhang 5, S. 5. 86 BT-Drs. 17/3802, S. 26 f. 81
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Kapitel 2: Die Rechtsprechung des EGMR als Anlass für die Einführung
III. Stellungnahmen des Bundesrates – Entgegnung der Bundesregierung 1. Stellungnahmen des Bundesrates Der Bundesrat87 bejahte mit Blick auf die Vorgaben des EGMR den gesetzgeberischen Handlungsbedarf, einen Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren einzuführen.88 Zur effektiven Umsetzung der vorliegend zu untersuchenden Vorgaben des EGMR nahm der Bundesrat wie folgt Stellung: a) Umfang der Entschädigung (Nr. 2) Der Bundesrat führte unter Bezugnahme auf die Entscheidung Sürmeli/ Deutschland89 an, dass der EGMR lediglich einen wirksamen, ausreichenden und zugänglichen Rechtsbehelf gegen die überlange Dauer von Verfahren fordere. Die Wirksamkeit eines solchen Rechtsbehelfs könne nach der Rechtsprechung des EGMR zwar von der Höhe der Entschädigung abhängen. Der EGMR sehe aber einen Rechtsbehelf als „wirksam“ an, wenn mit ihm eine „angemessene“ Entschädigung für bereits eingetretene Verletzungen erlangt werden könne.90 Der Bundesrat empfahl daher, den Entschädigungsanspruch auf eine „angemessene Entschädigung, wenn dies notwendig ist“ zu beschränken, da er eine umfassende Entschädigung der materiellen Nachteile, neben der Übererfüllung der Vorgaben des EGMR, auch nach den Regelungen der §§ 249 ff. BGB als nicht mit den Grundsätzen des deutschen Schadensersatzrechts vereinbar sah.91 Schließlich verwies der Bundesrat auf die Entschädigungspraxis des EGMR bei Individualbeschwerdeverfahren, nach der nach Art. 41 EMRK für Konventionsverletzungen lediglich eine gerechte Entschädigung nach billigem Ermessen gewährt werde, die nach Einschätzung des Bundesrates „in der Regel“ mit den Grundsätzen des deutschen Rechts für Enteignungsentschädigung, Entschädigung bei enteignungsgleichen Eingriffen und Aufopferungsentschädigung übereinstimme.92 Der Bundesrat schlug deshalb eine an § 906 Abs. 2 S. 2 BGB angelehnte „angemessene Entschädigung“ vor.93
87 BR-Drs. 540/10 (Gesetzentwurf der Bundesregierung); BR-Drs. 540/1/10 (Empfehlung der Ausschüsse); BR-Plpr. 875, TOP 17, 377 B-378 D (Stellungnahme), 378 D (Beschluss); BR-Drs. 540/10 (B) (Beschlussdrucksache), Abdruck: BT-Drs. 17/3802, 33 Anlage 3. 88 BR-Drs. 540/10 (B), S. 16 f.; BT-Drs. 17/3802, S. 39 ff. Anlage 3. 89 S.o. § 1 D II. 90 BR-Drs. 540/10 (B), S. 3 f.; BT-Drs. 17/3802, S. 34 ff. Anlage 3; EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 99. 91 BR-Drs. 540/10 (B), S. 3 f.; BT-Drs. 17/3802, S. 34 ff. Anlage 3. 92 BR-Drs. 540/10 (B), S. 3 f.; BT-Drs. 17/3802, S. 34 ff. Anlage 3. 93 BR-Drs. 540/10 (B), S. 3 f.; BT-Drs. 17/3802,S. 34 ff. Anlage 3.
D. Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung des EGMR
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b) Systematik des deutschen Schadensersatzrechts – Beweislastumkehr für immaterielle Nachteile (Nr. 4) Der Bundesrat sah durch die Beweislastumkehr bei immateriellen Nachteilen die Gefahr eines Anreizes, immaterielle Nachteile geltend zu machen, obwohl diese nur selten vom EGMR gewährt würden.94 Der Bundesrat empfahl, die Regelung zur Beweislastumkehr für immaterielle Nachteile in § 198 Abs. 2 S. 1 GVG-RegE (2010) zu streichen, weil sie auch mit der Systematik des deutschen Schadensersatzrechts unvereinbar sei.95 Das deutsche Schadensersatzrecht gewähre Ersatz für immaterielle Schäden nur in den in § 253 Abs. 2 BGB genannten Ausnahmefällen, also bei Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter wie Körper, Gesundheit, Freiheit und sexueller Selbstbestimmung. Bereits die Gewährung eines Ersatzes für die immateriellen Nachteile für die zeitliche Verzögerung eines Gerichtsverfahrens breche mit der bisherigen deutschen Schadensersatzsystematik. Dieser Bruch werde durch die Umkehr der Beweislast noch verstärkt. 96 c) Prozessuales – Entschädigungsklage Der Bundesrat verwies weiter auf die Rechtsprechung des EGMR, wonach es ausreiche, wenn ein nachträglicher restitutiver Rechtsbehelf geschaffen werde.97 Der Gesetzentwurf übererfülle hier die Vorgaben des EGMR an einen wirksamen Rechtsbehelf.98 Der Bundesrat schlug daher vor, die sechsmonatige Frist zur Erhebung der Entschädigungsklage in § 198 Abs. 5 S. 1 GVG-RegE (2010) erst nach Rechtskraft der Ausgangsentscheidung beginnen zu lassen, um so einen Gleichlauf von Ausgangs- und Entschädigungsverfahren zu vermeiden. d) Zum Gesetzentwurf im Allgemeinen: Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR (Nr. 18) Relevant für die vorliegende Untersuchung ist schließlich die abschließende Stellungnahme des Bundesrates zur Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR durch den Gesetzentwurf.99 Der Bundesrat gab zu bedenken, dass der Gesetzentwurf über das hinausgehe, was zur Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR zwingend erforderlich sei und forderte die Bundesregierung insoweit 94
BR-Drs. 540/10 (B), S. 5 f.; BT-Drs. 17/3802, S. 35 ff. Anlage 3. BR-Drs. 540/10 (B), S. 5; BT-Drs. 17/3802, S. 35 f. Anlage 3. 96 BR-Drs. 540/10 (B), S. 5; BT-Drs. 17/3802, S. 35 f. Anlage 3. 97 BR-Drs. 540/10 (B), S. 6 f.; BT-Drs. 17/3802, S. 35 ff. Anlage 3; EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 99 (s.o. § 1 D II); Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 Rn. 53. 98 BR-Drs. 540/10 (B), S. 6 f.; BT-Drs. 17/3802, S. 35 ff. Anlage 3. 99 BR-Drs. 540/10 (B), S. 16 ff.; BT-Drs. 17/3802, S. 39. 95
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Kapitel 2: Die Rechtsprechung des EGMR als Anlass für die Einführung
auf, den Gesetzentwurf auf das Erforderliche zu begrenzen.100 Die gewählte Regelung verbinde als sog. Kombinationslösung einen kompensatorischen Entschädigungsanspruch und einen präventiven Rechtsbehelf in Gestalt der Verzögerungsrüge, ohne dass dies nach der Rechtsprechung zwingend erforderlich sei. Vielmehr reiche auch ein präventiver oder ein kompensatorischer Rechtsbehelf aus.101 2. Entgegnung der Bundesregierung Zu den jeweiligen Stellungnahmen des Bundesrates äußerte sich die Bundesregierung wie folgt.102 a) Umfang der Entschädigung Die Bundesregierung prüfte den Vorschlag des Bundesrates, den Anspruch aus § 198 Abs. 1 S. 1 GVG-RegE (2010) auf eine „angemessene Entschädigung“ zu begrenzen.103 Sie gab zu bedenken, dass eine „angemessene Entschädigung“ dem konventionsrechtlichen Grundsatz der „restitutio in integrum“ genügen müsse, d. h. die Regelung müsse in materieller Hinsicht weiterhin eine Wiederherstellung des status quo ante ermöglichen.104 b) Systematik des deutschen Schadensersatzrechts – Beweislastumkehr für immaterielle Nachteile Der Streichung der in § 198 Abs. 2 S. 1 GVG-RegE (2010) geregelten Beweislastumkehr für immaterielle Nachteile stimmte die Bundesregierung nicht zu, da der Entschädigungsanspruch nicht unter dem Blickwinkel des deutschen Schadensersatzrechts zu beurteilen sei.105 Vielmehr handele es sich bei § 198 GVG-RegE (2010) um einen staatshaftungsrechtlichen Anspruch sui generis auf Ausgleich von Nachteilen infolge rechtswidrigen hoheitlichen Handelns.106 Zur Begründung führte die Bundesregierung Vorgaben aus der Rechtsprechung des EGMR an, die mit der Entschädigungsregelung umgesetzt werden sollten: Der Begriff des Nichtvermögensschadens sei in der Rechtsprechung des EGMR schon in der Sache weitreichender, da beispielsweise auch juristi-
100
BR-Drs. 540/10 (B), S. 16 ff.; BT-Drs. 17/3802, S. 39. BR-Drs. 540/10 (B), S. 16 f.; BT-Drs. 17/3802, S. 39 ff. 102 BT-Drs. 17/3802, S. 40 f. Anlage 4. 103 BT-Drs. 17/3802, S. 40 f. Anlage 4. 104 BT-Drs. 17/3802, S. 40 f. Anlage 4. 105 BT-Drs. 17/3802, S. 40 f. Anlage 4. 106 BT-Drs. 17/3802, S. 40 f. Anlage 4. 101
D. Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung des EGMR
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sche Personen Nichtvermögensschäden geltend machen könnten.107 Für juristische Personen sei nach der deutschen Schadensersatzdogmatik die Geltendmachung eines Nichtvermögensschadens nur schwer vorstellbar.108 Zudem habe der EGMR bei der Überprüfung der Effektivität innerstaatlicher Entschädigungsregelungen für überlange Verfahrensdauer betont, er nehme „[…] eine starke, aber widerlegbare Vermutung dafür an, dass die überlange Verfahrensdauer einen Nichtvermögensschaden verursacht habe.“109 Dieser Schaden könne im Einzelfall „sehr gering sein oder auch gar nicht entstehen […].“110 Der Nachweis von Nichtvermögensschäden sei schwer zu führen. Bei Streichung der widerleglichen Vermutung sei zu befürchten, dass die Entschädigungsregelung für Nichtvermögensnachteile „in Fällen, die nach Vorgabe der EMRK in die Regelung mit einbezogen werden müssen“ nicht durchsetzbar sei.111 Die im Regierungsentwurf vorgesehene Vermutung sichere die Effektivität des Rechtsbehelfs, indem die Entschädigungsregelung solche Fälle erfasse.112 Schließlich sei es durch die Regelung mit Hilfe einer gesetzlichen Vermutung im Einzelfall ja weiterhin möglich, das Vorliegen von Nichtvermögensnachteilen zu widerlegen.113 c) Prozessuales/Entschädigungsklage Den Stellungnahmen des Bundesrates zur Ausgestaltung der Entschädigungsklage stimmte die Bundesregierung sämtlich nicht zu und verwies auf die menschenrechtliche Gebotenheit der einzelnen Regelungen.114 aa) Parallelität von Ausgangs- und Entschädigungsverfahren (Nr. 6) Wie in § 198 Abs. 5 S. 1 GVG-E (2010) vorgesehen, müsse es möglich sein, die Entschädigungsklage bereits parallel zum Ausgangsverfahren zu erheben, weil ansonsten der Rechtsbehelf in Bezug auf den konkreten Fall keine präventive Wirkung entfalten könnte und nach der Rechtsprechung des EGMR nicht effektiv im Sinne von Art. 13 EMRK wäre.115 Es sei den Betroffenen nicht zumutbar, ein im Extremfall vielleicht noch Jahre dauerndes Ausgangsverfahren bis 107 BT-Drs. 17/3802, S. 40 f. Anlage 4; EGMR, Urt. v. 06.04.2000, 35382/97 – Comingersoll/Portugal Rn. 27 ff., 33, 35 f. 108 BT-Drs. 17/3802, S. 40 f. Anlage 4. 109 BT-Drs. 17/3802, S. 40 f. Anlage 4; EGMR, Urt. v. 29.03.2006, 36813/97 – Scordino/ Italien, NJW 2007, 1259 Rn. 183 ff. 110 BT-Drs. 17/3802, S. 40 f. Anlage 4; EGMR, Urt. v. 29.03.2006, 36813/97 – Scordino/ Italien, NJW 2007, 1259 Rn. 183 ff. 111 BT-Drs. 17/3802, S. 41 f. Anlage 4. 112 BT-Drs. 17/3802, S. 41 f. Anlage 4. 113 BT-Drs. 17/3802, S. 41 f. Anlage 4. 114 BT-Drs. 17/3802, S. 41 f. Anlage 4. 115 BT-Drs. 17/3802, S. 41 f. Anlage 4; EGMR, Urt. v. 29.03.2006, 36813/97 – Scordino/ Italien, NJW 2007, 1259 Rn. 185.
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Kapitel 2: Die Rechtsprechung des EGMR als Anlass für die Einführung
zum Abschluss abzuwarten und erst dann ein Entschädigungsverfahren durchführen zu können. Das Entschädigungsgericht könne so einerseits über bereits eingetretene Vermögensschäden entscheiden oder, soweit wegen des noch laufenden Ausgangsverfahrens noch keine Entscheidung möglich sei, den Entschädigungsprozess nach § 201 Abs. 3 GVG-RegE (2010) aussetzen. Das Problem der Aktenanforderung sei durch die Anlegung von Zweitakten zu lösen.116 bb) Überlange Entschädigungsverfahren (Nr. 9) Dem Vorschlag, die Entschädigungsverfahren selbst vom Anwendungsbereich der §§ 198 ff. GVG auszuschließen, stimmte die Bundesregierung auch nicht zu.117 Sie begründete dies mit ihrer Pflicht, die Vorgaben des EGMR einzuhalten.118 Erstens sei auch eine Entschädigungsklage am Maßstab des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu messen, da mit der Entschädigung eine vermögensverwerte Rechtsposition betroffen sei.119 Zweitens sei ein Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer nur dann effektiv im Sinne von Art. 13 EMRK, wenn der Rechtsbehelf seinerseits die Wirksamkeitsvorgaben einhält.120 Die Bundesregierung zitierte die Entscheidung des EGMR in der Sache Scordino/Italien: „[…] It cannot be ruled out that excessive delays in an action for compensation will render the remedy inadequate […]“.121 Und in der Sache Paulino Tomás/Portugal: „[…] remains itself an effective, sufficient and accessible remedy in respect of the excessive length of judicial proceedings.“122 Eine Regelung zum Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer, die die Entschädigungsverfahren selbst von ihrem Schutzbereich ausnehme, könne daher vom EGMR selbst nicht als effektiv eingestuft werden. Die Entschädigungsklage vom Anwendungsbereich der §§ 198 ff. GVG auszunehmen, sei daher abzulehnen.123 d) Zum Gesetzentwurf im Allgemeinen: Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR (Nr. 18) Die Bundesregierung stimmte dem Bundesrat zu, dass mit dem Gesetzentwurf lediglich das umgesetzt werden solle, was nach der Rechtsprechung des EGMR 116
BT-Drs. 17/3802, S. 41 f. Anlage 4. BT-Drs. 17/3802, S. 42 f. Anlage 4. 118 BT-Drs. 17/3802, S. 42 f. Anlage 4; EGMR, Urt. v. 29.03.2006, 36813/97 – Scordino/ Italien, NJW 2007, 1259; Urt. v. 02.10.2001, 42320/98 – Belinger/Slowenia; Urt. v. 27.03.2003, 58698/00 – Paulino Tomás/Portugal, hudoch. 119 BT-Drs. 17/3802, S. 42 f. Anlage 4. 120 BT-Drs. 17/3802,S. 42 f. Anlage 4. 121 BT-Drs. 17/3802, S. 42 f. Anlage 4; EGMR, Urt. v. 29.03.2006, 36813/97 – Scordino/ Italien, NJW 2007, 1259 Rn. 195. 122 BT-Drs. 17/3802, S. 42 f. Anlage 4; EGMR, Urt. v. 27.03.2003, 58698/00 – Paulino Tomás/Portugal. 123 BT-Drs. 17/3802, S. 42 f. Anlage 4. 117
D. Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung des EGMR
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zwingend erforderlich sei.124 Entgegen der negativen Bewertung des Gesetzentwurfs durch den Bundesrat ging die Bundesregierung aber davon aus, dass der Gesetzentwurf dieser Prämisse entspreche.125 Die entworfene Regelung enthalte insbesondere keine Kombination eines Entschädigungsanspruchs mit einem präventiven Rechtsbehelf nach deutschem Rechtsverständnis.126 Die im Entwurf vorgesehene „Verzögerungsrüge“ stelle lediglich eine Prozesshandlung dar, die Anspruchsentstehungsvoraussetzung für den Entschädigungsanspruch sei und den Charakter einer Obliegenheit habe, da der Betroffene ansonsten den Entschädigungsanspruch verliere.127 Die Verzögerungsrüge habe eine präventive Zielrichtung, da sie im Sinne einer Missbrauchsabwehr ein „Dulde und Liquidiere“ des betroffenen Anspruchsinhabers verhindere; ein selbstständiger Rechtsbehelf sei die Verzögerungsrüge nicht.128 Im Ergebnis ging die Regierung davon aus, dass es sich bei dem Gesetzentwurf zu §§ 198 ff. GVG nicht um eine Kombinations-, sondern um eine Entschädigungslösung handele.
IV. Lesungen im Bundestag, Öffentliche Anhörung, Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses vom 28.09.2011 1. Erste Beratung im Bundestag Am 20.01.2011 fand die Erste Lesung im Deutschen Bundestag statt, der den Regierungsentwurf sodann zur Beratung an die Ausschüsse verwies.129 2. Rechtsausschuss Der Rechtsausschuss130 ging bezüglich der hier zu untersuchenden Vorgaben des EGMR, mit einer Ausnahme131 von einem gelungen Gesetzentwurf aus und begrüßten die Abkehr von der Untätigkeitsbeschwerde hin zu einer Entschädigungslösung, da so die Vorgaben des EGMR und des Grundgesetzes am besten im deutschen Recht umgesetzt seien.132 Die Vorgaben des EGMR seien 124
BT-Drs. 17/3802, S. 42 f. Anlage 4. BT-Drs. 17/3802, S. 42 f. Anlage 4. 126 BT-Drs. 17/3802, S. 42 f. Anlage 4. 127 BT-Drs. 17/3802, S. 42 f. Anlage 4. 128 BT-Drs. 17/3802, S. 42 f. Anlage 4. 129 BT-Plpr. 17/84, TOP 13, 9494 C (Erste Lesung) nebst Anlage 5 (zu Protokoll gegebene Reden). 130 BT-Plpr. 17/43, 23.03.2011, Rechtsausschuss (6. Ausschuss); auch BT-Drs. 17/7217 (Beschlussempfehlung), S. 23 f. (Auflistung der Teilnehmer); Stellungnahmen abrufbar unter www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a06/anhoerungen/archiv/07_ueberlange_ Gerichtsverfahren/ index.html (Abruf vom 20.10.2015). 131 BT-Plpr. 17/43, 23.03.2011, Rechtsausschuss (6. Ausschuss), S. 11 ff. (Prof. Dr. Christian Kirchberg). 132 BT-Plpr. 17/43, 23.03.2011, Rechtsausschuss (6. Ausschuss), S. 1 (Prof. Dr. Michael 125
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Kapitel 2: Die Rechtsprechung des EGMR als Anlass für die Einführung
aus drei Gründen erfolgreich umgesetzt: Erstens sei die doppelte Vorgabe des EGMR – präventive und kompensatorische Wirkung eines Rechtsbehelfs – hinreichend umgesetzt, da die Rüge den präventiven Teil enthalte und, falls sich der Vorwurf der Überlänge nicht ausgleichen lasse, bestehe ein Entschädigungsanspruch.133 Zweitens sei es mit der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit vereinbar, einen Anspruch neu zu kreieren, der das bestehende Recht der staatlichen Ersatzleistungen erweitere.134 Das Staatshaftungsrecht sei zwar weitestgehend dogmatisch durchdrungen, aber keineswegs in sich abgeschlossen und der Gesetzgeber sei frei, einen neuen Ausgleichsanspruch sui generis gegen den Staat zu schaffen.135 Dem Einwand systematischer Ungenauigkeit sei entgegenzuhalten, dass der Gesetzgeber in der Wahl des Mittels frei sei, Vorgaben des EGMR umzusetzen.136 Drittens sei auf die dogmatische Einordnung des Anspruchs einzugehen, da das deutsche Recht (bisher) unterschieden habe zwischen Schadensersatz, der kompletten Ersatz aller materiellen und immateriellen Schäden vorsehe, und Entschädigung, die lediglich einen Ausgleich gewähre.137 Diese Differenzierung werde aber bereits im bestehenden deutschen Schadensersatzrecht nicht strikt durchgehalten.138 Der Wortlaut und die Begründung des Gesetzesentwurfs verwende nun zum einen alternativ anstatt unterscheidend die Formulierungen „Ausgleich“ und „Entschädigung“, als Rechtsfolge gewähre der Anspruch aber Schadensersatz im Sinne von §§ 249 ff. BGB.139 Der Entwurf dieses völlig neuen Anspruchs sui generis begegne weder verfassungsrechtlichen noch dogmatischen Bedenken. Es sei allerdings darauf hinzuweisen, dass ein so weitreichender Anspruch wie im Gesetzentwurf vorgesehen, weder nach der Rechtsprechung des EGMR noch des Bundesverfassungsgerichts geboten sei.140 Zudem sei der Gesetzgeber nach der bekannten Judikatur des Verfassungsgerichts auch nicht verpflichtet, die Rechtsprechung des EGMR „eins zu eins“ umzusetzen, vielmehr verstehe das Bundesverfassungsgericht die Urteile des EGMR lediglich als „Abwägungsaspekte“.141 Im Ergebnis sei der Gesetzentwurf gelungen, da er es vermeide, dass geltende Verfahrensrecht durch Einführung einer Untätigkeitsbeschwerde zu überfrachten.142 Der EGMR selbst gewähre nach Art. 41 EMRK eine „gerechte“ EntBrenner); S. 5 (Prof. Dr. Bernd Hirtz); S. 8 (Dr. Ulf Kämpfer); S. 14 (Dr. Hans-Peter Korte); S. 17 (Carsten Löbbert); S. 20 (Clemens Lückemann); S. 24 (Monika Paulat); S. 28 (Dr. Bernhard Joachim Scholz). 133 BT-Plpr. 17/43, 23.03.2011, Rechtsausschuss (6. Ausschuss), S. 1 f. 134 BT-Plpr., 17/43, S. 2 f. 135 BT-Plpr., 17/43, S. 2 f. 136 BT-Plpr., 17/43, S. 2 f. 137 BT-Plpr., 17/43, S. 3 f. 138 BT-Plpr., 17/43, S. 3 f. 139 BT-Plpr., 17/43, S. 4 f. 140 BT-Plpr., 17/43, S. 4 f. 141 BT-Plpr., 17/43, S. 5 f. 142 BT-Plpr., 17/43, S. 5 ff.
E. Zusammenfassung
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schädigung, die im deutschen Recht am besten durch die gewählte Mischung aus Entschädigung und Schadensersatz eingeräumt werden könne.143 Der Rechtsauschuss wies darauf hin, dass für die Auslegung des Begriffs der „unangemessenen Verfahrensdauer“ auf die Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts zurückzugreifen sei.144
V. Das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) vom 24.11.2011 Mit Verkündung im Bundesgesetzblatt am 03.12.2011 trat schließlich das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) in Kraft.145 Einen Tag zu spät, um die Jahresfrist einzuhalten, die der EGMR in Sachen Rumpf/Deutschland146 zur Umsetzung seiner Vorgaben gewährt hatte. Gemäß Art. 44 Abs. 2 lit. b EMRK wurde die Entscheidung Rumpf/Deutschland147 am 02.12.2010 rechtskräftig.148 Die einjährige Umsetzungsfrist endete demnach bereits am 02.12.2011. Wie vom Bundesrat und vom Rechtausschuss mit Blick auf die Systematik des deutschen Schadensersatzrechts und Art. 41 EMRK vorgeschlagen, gewährt § 198 Abs. 1 S. 1 GVG eine „angemessene Entschädigung“.149
E. Zusammenfassung Die Gesetzeshistorie der §§ 198 ff. GVG hat mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR und die Vorgaben an einen wirksam Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer die folgenden wesentlichen Entwicklungsschritte durchlaufen: Als Reaktion auf die Entscheidung des EGMR in der Sache Kudla/Polen150 schlug der Gesetzgeber mit Referentenentwurf vom 22.08.2005 die Einführung einer Untätigkeitsbeschwerde151 vor. Der Referentenwurf stieß weitestgehend auf Ablehnung. Nach den Entscheidungen des EGMR in den Sachen
143
BT-Plpr., 17/43, S. 12, 15, 22, 47 f. BT-Plpr., aaO, S. 4, 17, 21, 29. 145 BGBl. 2011 I, S. 2302 ff. 146 EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 ff. 147 EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 ff. 148 EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 ff.; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 4 4 Rn. 3; Karpenstein/Mayer/Schaffrin, Art. 4 4 Rn. 1 f. 149 BGBl. 2011 I, S. 2302 ff. 150 EGMR, Urt. v. 26.10.2000, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694 ff. 151 Abdruck bei: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, ÜGRG, Anhang 3, S. 377 ff. 144
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Kapitel 2: Die Rechtsprechung des EGMR als Anlass für die Einführung
Sürmeli/Deutschland152 und Rumpf/Deutschland153 wurde mit dem Referentenentwurf vom 15.03.2010154 und dem Entwurf der Bundesregierung vom 17.11.2010155 zum Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) ein Entschädigungsrechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer verfolgt, bzw. – nach Ansicht z. B. des Rechtsausschusses – eine Kombination aus präventivem Rechtsschutz und Entschädigung. Die Materialien zeigen, dass sich der Gesetzgeber bei Einführung der §§ 198 ff. GVG156 intensiv mit den Wirksamkeitsvorgaben des EGMR auseinandergesetzt hat. Dies belegen zahlreiche Verweise auf die Rechtsprechung und einzelne Urteile des EGMR, insbesondere in der Begründung des Gesetzentwurfs. Gesetzgeberisches Ziel war, einen Rechtsbehelf zu schaffen, der die Anforderungen des EGMR aus Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK vollumfänglich erfüllt. Inwieweit dies dem Gesetzgeber gelungen ist, wird im Folgenden untersucht.
152 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 ff. (s. o. § 1 D II). 153 EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 ff. 154 Abdruck bei: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, ÜGRG, Anhang 5; auch abrufbar unter http://www.bundesgerichtshof.de/DE/Bibliothek/GesMat/WP17/R/Rechtsschutz_ueber lang.html (Abruf vom 20.10.2015). 155 BT-Drs. 17/3802. 156 BGBl. 2011 I, S. 2302 ff.
Teil II
Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer von Zivilprozessen nach §§ 198 ff. GVG
3. Kapitel
Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs bei überlanger Verfahrensdauer nach §§ 198 ff. GVG Die beiden folgenden Kapitel beschreiben zunächst die Voraussetzungen und Rechtsfolgen sowie die zivilprozessualen Anforderungen des neuen Rechtsschutzes bei überlanger Verfahrensdauer nach §§ 198 ff. GVG in Bezug auf die Umsetzung der Vorgaben des EGMR und verweisen hierfür mit dem Ziel die Urteile des EGMR einer größeren dogmatisch Transparenz zuzuführen an den jeweiligen Stellen auf passende Entscheidungen des Gerichtshofs. Schließlich erfolgt eine (staats-)haftungsrechtliche Einordnung der §§ 198 ff. GVG, die zum Ziel hat, aufzuzeigen, welche und ob Umsetzungen der Vorgaben des EGMR in den §§ 198 ff. GVG mit dem deutschen Staatshaftungsrecht unvereinbar sein könnten.
A. Die Anspruchsvoraussetzungen I. Anspruchsberechtigung nach § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG und Haftungsschuldner nach § 200 GVG 1. Aktivlegitimation, § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG Der Entschädigungsanspruch ist in § 198 Abs. 1 S. 1 GVG normiert und bestimmt, dass angemessen entschädigt wird, wer als Verfahrensbeteiligter durch die unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens einen Nachteil erlitten hat. „Verfahrensbeteiligter“ ist nach § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG „jede Partei und jeder Beteiligte“. Damit soll sowohl der Sprachgebrauch der ZPO1 als auch der übrigen Verfahrensordnungen 2 von der Legaldefinition umfasst werden.3 Der Parteibegriff nach §§ 50 ff. ZPO bezeichnet diejenigen Personen, von welchen und gegen welche die staatliche Rechtsschutzhandlung im eigenen Namen begehrt
1
Buch 1, Abschnitt 1 der ZPO (§§ 50 ff. ZPO). Bspw. § 7 FamFG. 3 BT-Drs. 17/3802, S. 23 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 2 29; Stahnecker, Rn. 17. 2
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
wird.4 Die Anknüpfung der Legaldefinition in § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG an den Begriff der Partei hat zur Folge, dass sämtliche Streitgenossen (§§ 59, 60 ZPO)5 anspruchsberechtigt sind, wobei jedem Verfahrensbeteiligten ein gesonderter Entschädigungsanspruch zusteht.6 Verfahrensbeteiligt ist immer der Vertretene und nicht der (prozessbevollmächtigte) Vertreter.7 Nicht anspruchsberechtigt sind Zeugen (§ 373 ZPO)8 und Sachverständige (§ 402 ZPO)9. Strittig ist in der Literatur die Anspruchsberechtigung des Nebenintervenienten nach § 66 ZPO. Der Nebenintervenient ist Dritter und nicht Partei, was gegen eine Stellung als Verfahrensbeteiligter im Sinne von § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG spricht.10 Keine Verfahrensbeteiligten im Sinne von § 198 GVG sind schließlich Träger der öffentlichen Verwaltung, da dem Staat kein Anspruch auf Entschädigung gegen sich selbst zustehen soll.11 2. Passivlegitimation, § 200 GVG Die Passivlegitimation ist in § 200 GVG geregelt. Die Haftungsaufteilung folgt der Verbandskompetenz der verschiedenen Rechtsträger der Gerichtsbarkeit, sodass für den Entschädigungsanspruch der Dienstherr des Richters des jeweiligen Ausgangsgerichts haftet, bei welchem die Verzögerung eingetreten ist.12 Für Nachteile, die aufgrund von Verzögerungen bei Gerichten eines Landes (AG, LG, OLG) eintreten, haftet das jeweilige Land. Für Nachteile vor Bundesgerichten (BGH) der Bund.13 Bei der Auswahl des richtigen Beklagten kommt es also darauf an, ob der Anspruch auf eine Verzögerung vor dem Gericht eines Landes oder des Bundes gestützt wird.14 Dies kann zur Folge haben, dass mehrere Ansprüche gegen mehrere Schuldner (Land und Bund) geltend zu machen
4 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZivilprozessR, § 40 Rn.1; Zöller/Vollkommer, ZPO, Vor § 50 Rn. 2; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 50 Vorbem Rn. 3. 5 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, Vorbem § 59 Rn. 1. 6 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 2 28. 7 BT-Drs. 17/3802, S. 23 f.; Stahnecker, Rn. 17; Thomas/ Putzo/Hüßtege, ZPO, § 50 Vorbem. Rn. 3. 8 BT-Drs. 17/3802, S. 23 f.; Stahnecker, Rn. 17. 9 BT-Drs. 17/3802, S. 23 f.; Stahnecker, Rn. 17. 10 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 67 Rn. 1; Zöller/Vollkommer, ZPO, § 67 Rn. 1; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 229; Stahnecker, Rn. 17; Althammer/ Schäuble, NJW 2012, 1 ff. 11 BT-Drs. 17/3802, S. 23 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 233; Stahnecker, Rn. 18; Zöller/Lückemann, ZPO, § 198 GVG Rn. 12. 12 BT-Drs. 17/3802, S. 25 f.; Zöller/Lückemann, ZPO, § 200 GVG Rn. 1. 13 MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 200 GVG Rn. 1; Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 200 GVG Rn. 6 f. 14 MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 200 GVG Rn. 2 .
A. Die Anspruchsvoraussetzungen
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sind.15 Bund und Land haften also nicht – wie noch im Referentenentwurf von 2010 vorgesehen – als Gesamtschuldner.16 3. Zwischenergebnis Bezüglich des Untersuchungsgegenstandes des vorliegenden Abschnitts, die Rechtsprechungspraxis des EGMR für die Anwendung der §§ 198 ff. GVG transparenter zu machen, ist zu beachten, dass bereits der Anwendungsbereich der §§ 198 ff. GVG die Mehrpoligkeit der Grundrechtsverhältnisse in Zivilverfahren aufzeigt, in deren Folge in Zivilprozessen eine differenzierte Abwägungsentscheidung, insbesondere mit Blick auf die richterliche Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG zu treffen ist, als in den Individualbeschwerdeverfahren vor dem EGMR. Nur unter dieser Prämisse darf und kann auf einschlägige Entscheidungen des EGMR verwiesen werden.
II. Der Begriff des Gerichtsverfahrens 1. Ordentliche Gerichtsbarkeit in Zivilsachen/Schiedsgerichtsbarkeit Die §§ 198 ff. GVG gelten nach § 13 GVG i. V. m. § 2 EGGVG unmittelbar für die ordentliche Gerichtsbarkeit, also für sämtliche Zivilverfahren und Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit.17 Sie gelten zudem für die Entschädigungs198 ff. GVG auf die verfahren selbst.18 Strittig ist die Anwendung der §§ Schiedsgerichtsbarkeit nach §§ 1025 ff. ZPO. In der Literatur wird dies abgelehnt, weil es im Schiedsverfahren an einem staatlichen Haftungsschuldner fehle.19 Die Folge wäre ein unterschiedliches grund- und menschenrechtliches Schutzniveau bei Staats- und Schiedsgerichten für das Recht auf angemessene Verfahrensdauer aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK.20 Die Einwilligung, die staatliche Gerichtsbarkeit nach § 1029 ZPO durch Vereinbarung der Parteien oder nach § 1066 ZPO durch einseitige Anordnung abzubedingen, enthält aber nach herrschender Meinung lediglich den Verzicht auf das Prozessgrundrecht der Öffentlichkeit, hingegen nicht auf die übrigen Prozessgrundrechte.21 Zumindest eine mittelbare Wirkung von Art. 6 15 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott,
ÜGRG, § 200 GVG Rn. 2 , 4. S.o. § 2 C I u. § 2 D I 3; OLG Hamm, Urt. v. 26.04.2013 – I-11 EK 12/13 Rn. 10, juris; Urt. v. 03.06.2013 – I-11 EK 12/13 Rn. 8, juris; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 200 GVG Rn. 2; Heine, MDR 2013, 1147, 1148; aA Kissel/Mayer, GVG, § 200 Rn. 4; Magnus, ZZP 125 (2012), 75, 83. 17 BGH, NJW 2014, 2443, 2444 Rn. 14; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 9. 18 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG § 198 GVG Rn. 36. 19 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG § 198 GVG Rn. 14 ff. 20 S. o. § 1 A. I.; Haas, SchiedsVZ 2009, 73, 75. 21 Haas, SchiedsVZ 2009, 73, 78. 16
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
Abs. 1 EMRK im Schiedsverfahren wird in der Literatur bejaht.22 Außerdem gehört es zu den Pflichten eines Schiedsrichters aus dem zwischen den Parteien und dem Schiedsgericht geschlossenen Schiedsrichtervertrag, das Verfahren zügig zu betreiben.23 Für die Frage nach einer angemessenen Verfahrensdauer ist dabei sogar ein strengerer Maßstab als in der staatlichen Gerichtsbarkeit anzulegen.24 Häufig ist für die Parteien ein wichtiger Beweggrund für eine Schiedsvereinbarung, dass das nur eine Instanz umfassende Schiedsgericht mit seiner besonderen Sachkunde schneller entscheiden kann als ein staatliches Gericht.25 Unstrittig anwendbar sind die §§ 198 ff. GVG im Schiedsverfahren, wenn die staatlichen Gerichte nach § 1026 ZPO auf Antrag einer Partei tätig werden, beispielsweise für Zuständigkeitsfragen oder bei der Frage nach der Neubesetzung des Schiedsgerichts nach § 1062 ZPO.26 Im Ergebnis ist es überzeugender, die analoge Anwendbarkeit der §§ 198 ff. GVG auf die Schiedsgerichtsbarkeit zu bejahen. 2. „Gerichtsverfahren“ nach § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG Der Begriff des Gerichtsverfahrens ist in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG in sachlicher und zeitlicher Hinsicht legal definiert.27 Der Definition unterfallen sämtliche Zivilverfahren, da auf sie die §§ 198 ff. GVG unmittelbar anwendbar sind.28 a) In sachlicher Hinsicht Als ein Verfahren gilt der gesamte Zeitraum von der Einleitung des Verfahrens bis zur endgültigen rechtskräftigen Entscheidung. Sachlich geht § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG dabei von einem an der Hauptsache orientierten Begriff des Gerichtsverfahrens aus.29 Der einzelne Antrag oder ein einzelnes Gesuch im Zusammenhang mit demselben verfolgten Rechtsschutzbegehren sind keine ei-
22 Haas, SchiedsVZ 2009, 73, 75 ff.; Schütze in: Gottwald (Hrsg.), Effektivität, S. 171, 187 ff.; Hildebrandt/Kaestner, BauR 2010, 2017 ff.; Bangert in: Human rights (2007), S. 41, 46 ff. 23 Musielak/Voit/Voit, ZPO, § 1035 Rn. 23; Baumbach/Lauterbach, ZPO, Anh. § 1035 Rn. 5; MünchKommZPO/Münch, Bd. I II, vor §§ 1034 ff. Rn. 18; Schwab/Walter, SchiedsG, Kap. 12 Rn. 9; Lionnet/Lionnet, Hdb. Int. Schiedsgerichtsbarkeit, S. 264; Lachmann, Hdb. SchiedsGPrax, Rn. 4313. 24 Hildebrandt/Kaestner, BauR 2010, 2017, 2024. 25 Lachmann, Hdb. SchiedsGPrax, Rn. 130 ff., 138, 155 ff. 26 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 18; Matscher, FS Nagel, S. 227 ff. 27 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 20. 28 S. o. § 3 A. I.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 33. 29 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 20 ff; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, § 198 GVG Rn. 34; aA MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. III, § 198 GVG Rn. 22; Zimmermann, FamRZ 2011, 1905, 1906.
A. Die Anspruchsvoraussetzungen
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genständigen Gerichtsverfahren im Sinne von § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG.30 Ausdrücklich eigenständige Gerichtsverfahren im Verhältnis zur Hauptsache nach § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG bilden die Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz und zur Bewilligung von Prozess- und Verfahrenskostenhilfe. Ein gesonderter Entschädigungsanspruch ist wegen der besonderen Eilbedürftigkeit in diesen 6 Verfahren und der entsprechenden Rechtsprechung des EGMR zu Art. Abs. 1 EMRK nach Ansicht des Gesetzgebers berechtigt.31 Der BGH hat entschieden, dass auch das selbstständige Beweisverfahren nach § 485 Abs. 2 ZPO im Verhältnis zur nachfolgenden Zivilstreitsache in der Hauptsache ein eigenständiges Gerichtsverfahren nach § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG bildet, da auch im Beweisverfahren nach § 485 Abs. 2 ZPO ein eigenständiges Interesse an einem zeitgerechten Abschluss besteht.32 Der BGH begründet die Eigenständigkeit des Beweisverfahrens damit, dass das Verfahren nach § 485 Abs. 2 ZPO Eilcharakter habe, weiter nicht von der Rechtshängigkeit eines Hauptsacheverfahrens abhänge, für das selbstständige Beweisverfahren außerdem gesondert Prozesskostenhilfe beantragt werden könne und die Verfahren schließlich auch gebührenrechtlich selbstständig seien.33 Das Anhörungsrügeverfahren und das vorangegangene Hauptsacheverfahren stellten dagegen ein einheitliches Gerichtsverfahren im Sinne von § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG dar.34 Durch die Gehörsrüge werde kein selbstständiges Verfahren eingeleitet, sondern die Rüge bezwecke vielmehr, die behauptete Verletzung des rechtlichen Gehörs im vorangegangenen Verfahren zu prüfen.35 Eine erfolgreiche Anhörungsrüge führt zur Fortsetzung des ursprünglichen Verfahrens.36 Außerdem ist die Anhörungsrüge mangels Devolutiv- und Suspensiveffekt kein Rechtsmittel.37 Im Ergebnis ist das Anhörungsrügeverfahren kein selbstständiges Verfahren, sondern dem Hauptsacheverfahren zuzurechnen, mit dem es gemeinsam ein einheitliches Gerichtsverfahren im Sinne von § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG bildet.38
30 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 20; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, § 198 GVG Rn. 33 f. 31 S.o. § 2; BT-Drs. 17/3802, S. 2 2 f. 32 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 20; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 4. 33 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 24 ff. 34 BGH NJW 2014, 2443 Rn. 12; aA Guckelberger, DÖV 2012, 289, 294; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, § 198 GVG Rn. 54. 35 BGH, NJW 2014, 2443 Rn. 12. 36 BGH, NJW 2014, 2443 Rn. 12. 37 BGH, NJW 2014, 2443 Rn. 12; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, § 321a Rn. 2; Zöller/ Vollkommer, ZPO, § 321a Rn. 2 , 15 ff. 38 BGH, NJW 2014, 2443 Rn. 12.
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
b) In zeitlicher Hinsicht Zeitlich gilt der gesamte Zeitraum von der Einleitung des Verfahrens bis zur rechtskräftigen Entscheidung als ein Gerichtsverfahren.39 „Eingeleitet“ ist das Verfahren bei jeder Form der Verfahrensveranlassung, durch Klageerhebung nach §§ 253 Abs. 1, 261 ZPO, durch Antrag im einstweiligen Rechtsschutz nach §§ 920, 936 ZPO oder sonstige Nebenanträge, etwa auf Prozess- und Verfahrenskostenhilfe nach §§ 114, 117 Abs. 1 ZPO.40 Unter rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens ist die formelle Rechtskraft der Entscheidung zu verstehen.41 „Rechtskräftig abgeschlossen“ ist das Verfahren durch Urteil nach §§ 705, 322 ZPO sowie über den Wortlaut hinaus durch eine Erledigung auf andere Weise, die eine förmliche Entscheidung überflüssig macht, d. h. durch Klage- oder Antragsrücknahme nach § 269 ZPO, (einseitige) Erledigungserklärung nach § 91 a ZPO oder Prozessvergleich nach §§ 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO i. V. m. 779 BGB.42 Richtervorlagen nach Art. 100 GG und eine im Anschluss an das Verfahren durchgeführte Verfassungsbeschwerde unterfallen den gesonderten Entschädigungsvorschriften für das Bundesverfassungsgericht nach §§ 97 a ff. BVerfGG.43
III. Überlange Verfahrensdauer 1. Methodik zur Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer a) Keine Fristenlösung Wie nach der Judikatur des EGMR44 zu Art. 6 Abs. 1 EMKR wurde die Einführung einer sog. Maximalfrist, nach der ein Verfahren, das eine bestimmte Zeitwertgrenze (beispielsweise ein Jahr pro Instanz) überschreitet, als überlang einzuordnen ist, im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich abgelehnt.45 In der 39 BT-Drs. 17/3802, S. 2 2 f.; BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 21; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, § 198 GVG Rn. 51 ff.; Zöller/Lückemann, ZPO, § 198 GVG Rn. 5, 12; aA Guckelberger, DÖV 2012, 289, 294. 40 BT-Drs. 17/3802, S. 2 2 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, § 198 GVG Rn. 53; Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 36; Kissel/Mayer, GVG, § 198 Rn. 7; Heine, MDR 2012, 327, 328. 41 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Tz. 21; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 54. 42 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 21; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 54. 43 BGH, NJW 2014, 1816 ff.; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 4; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 97a BVerfGG Rn. 4; Zuck, NVwZ 2012, 265 ff. 44 Stdg. Rspr. EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 99; Urt. v. 29.05.1986, 9384/81 – Deumeland/Deutschland, NJW 1989, 652 Rn. 78 ff; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 199 f.; Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 249; aA Villiger, Hdb. EMRK, Art. 6 § 20 Rn. 468. 45 S.o. § 2 C II 3 u. § 2 D IV 2 b.
A. Die Anspruchsvoraussetzungen
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Literatur wird vereinzelt ein absolut-generalisierender Maßstab zur Bestimmung von Verfahrensverzögerungen vertreten.46 Es gibt aber in § 198 Abs. 1 GVG bewusst keine feste zeitliche Grenze für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer.47 Dies ist richtig, weil ansonsten die Gefahr bestünde, dass schematisch mit Ablauf der Frist Entschädigungsklagen erhoben würden (sog. Einladungseffekt).48 Die Dauer eines Zivilprozesses ist kein Wert an sich und eine generelle Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer wird der Vielgestaltigkeit von Zivilprozessen nicht gerecht.49 Dem Verzicht des Gesetzgebers auf Grenzwerte und allgemeingültige Zeitvorgaben entspricht auch die Rechtsprechung des BGH, der für die Angemessenheit der Verfahrensdauer den Rückgriff auf statistisch ermittelte Durchschnittswerte oder sonstige Richtwerte ausdrücklich ablehnt.50 In der Literatur wird inzwischen davon gesprochen, in der Rechtsprechung bestehe Einigkeit, dass eine generelle Festlegung der Angemessenheit der Verfahrensdauer nicht möglich sei und keine Entschädigung bei Überschreitung der statistischen Verfahrensdauer stattfinde.51 Der Rückgriff auf statistische Durchschnittswerte überzeugt schon rechtstatsächlich nicht, da nicht in jedem Verfahren Beweisaufnahmen nötig sind, nicht jedes Verfahren den gesamten Instanzenzug durchläuft und besonders komplexe Materien wie Wirtschafts-, Arzthaftungs- oder Bauprozesse in der Regel länger dauern als ein durchschnittlicher Verkehrsrechtsprozess, ohne dass sich diese Unterschiede in Statistiken widerspiegeln.52 Auch dogmatisch überzeugen absolute Verzögerungswerte nicht, da sie die verschiedenen Grundund Konventionsrechtspositionen nicht berücksichtigen, die durch §§ 198 ff. GVG sanktioniert bzw. in Ausgleich gebracht werden sollen.53 Ein sog. Evidenzkriterium, nach dem ab einer bestimmten Gesamtverfahrensdauer immer von der Unangemessenheit auszugehen ist, gibt es demnach nicht.54
46 Calliess, Der Richter im Zivilprozess, Gutachten, 70. Dt. Juristentag, A 19, A 50, A 98; Roller, DRiZ Beil. 06/2012, 2 ff.; richtigerweise kritisch H. Roth, JZ 2014, 801, 802. 47 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 38; Zöller/Lückemann, ZPO, § 198 GVG Rn. 3; Prütting/Neff, ZPO, § 198 GVG Rn. 4 ff. 48 BT-Drs. 17/3802, S. 18 f.; Kissel/Mayer, GVG, § 198 Rn. 13; MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 28 ff.; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 4; Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205, 207; H. Roth, JZ 2014, 801, 802; H. Roth, ZZP 129 (2016), 3, 12 ff. 49 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 38; BVerfG, Urt. v. 13.08.2012 – 1 BvR 1098/11 Rn. 16. 50 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 38; OLG Naumburg, Urt. v. 30.05.2013 – 1 ESV 4/12 Rn. 37, juris; OLG Braunschweig, Urt. v. 08.02.2013 – 4 SchH 1/12 Rn. 125 ff., juris. 51 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 4; Heine, MDR 2014, 1008, 1010. 52 S. o. § 1 C. 53 S. o. § 1 A II 3. 54 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 39.
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
b) Gesamtabwägung im Einzelfall In beinahe wortgleicher Übernahme der Kriterien des EGMR 55, ist die Verfahrensdauer vielmehr unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 S. 1 GVG, wenn eine an den Kriterien des § 198 Abs. 1 S. 2 GVG ausgerichtete gerichtliche Überprüfung ergibt, dass nach den Umständen des konkreten Einzelfalls, insbesondere unter Berücksichtigung der „Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter“, die aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist.56 Die Aufzählung der Kriterien in § 198 Abs. 1 S. 2 GVG ist dabei nicht abschließend, sondern beispielhaft.57 Aus der Anknüpfung des Entschädigungsanspruchs an die Verletzung konventions- und verfassungsrechtlicher Normen wird nach der Rechtsprechung des BGH deutlich, dass die Belastung durch die überlange Verfahrensdauer einen gewissen Schweregrad erreicht haben muss.58 Eine Abweichung von der optimalen Verfahrensdauer reicht hierfür nicht. Vielmehr muss eine Grenze überschritten sein, die auch bei Abwägung mit den gegenläufigen rechtlichen Interessen für den Betroffenen nicht mehr hinnehmbar ist.59 2. Beurteilungszeitraum Zeitlicher Rahmen bei der Beurteilung der „unangemessenen Verfahrensdauer“ ist grundsätzlich die Gesamtverfahrensdauer im Sinne der Legaldefinition in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG.60 Verzögerungen in einzelnen Verfahrensabschnit55 S. o. § 1 D; stdg. Rspr seit EGMR, Urt. v. 28.07.1978, 6232/73 – König/Deutschland, EuGRZ 1978, 406 Rn. 99, 102 ff., 105; Urt. v. 27.06.2000, 30979/96 – Frydlender/Frankreich, Rn. 43, hudoc; Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228 Rn. 45 ff., 47 (s. o. § 1 D I 2 a); EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/ Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 128 (s. o. § 1 D II 2 b); Grabenwarter/Pabel, § 24 Rn. 71; Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87 ff.; Ballon in: FS Sprung (2001), S. 1, 4 f. 56 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 24; BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 36; BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 37, 40; NJW 2014, 220 Rn. 28; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 4. 57 S. o. § 2 D II; BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 37; EGMR, Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228 Rn. 45 ff., 47 (s. o. § 1 D I 2 a); EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 128 (s. o. § 1 D II 2 b); Schlick, WM 2016, 485, 487 f. 58 BGH, NJW 2014, 1967 Rn. 37; BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 37; BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 42, 55. 59 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 37; BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 42; NJW 2014, 220 Rn. 31; BVerfG, NVwZ 2013, 789, 791. 60 S. o. § 3 A II 2; BT-Drs. 17/3802, S. 18 f.; BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 37; BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 41; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 4; Zöller/Lückemann, ZPO, § 198 GVG Rn. 5; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 78.
A. Die Anspruchsvoraussetzungen
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ten können so in späteren Stadien des Verfahrens kompensiert werden, weil die Verfahrensdauer im Rahmen einer Gesamtabwägung am Ende des Verfahrens beurteilt wird.61 Die Kompensation kann auch in einer höheren Instanz erfolgen.62 Der BGH hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass geringfügige Verzögerungen in einzelnen Verfahrensabschnitten, die gegenüber der Gesamtverfahrensdauer nicht ins Gewicht fallen, grundsätzlich entschädigungslos hinzunehmen sind.63 Hinweise dafür, dass eine zu kleinteilige Anknüpfung vom Gesetzgeber nicht gewollt ist, ergeben sich aus der Jahresspanne für die Entschädigung immaterieller Nachteile in § 198 Abs. 2 S. 3 GVG 64 und daraus, dass die Verzögerungsrüge erst frühestens nach einem halben Jahr wiederholt werden kann, § 198 Abs. 3 S. 2 GVG.65 Dies schließt nicht aus, dass es Fälle geben kann, in denen bereits vor Abschluss des Verfahrens eine massive und damit zu entschädigende Verzögerung des Verfahrens eingetreten ist, insbesondere wenn bereits erhebliche Nachteile für den Betroffenen entstanden sind.66 3. Die Kriterien zur Überprüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer im Sinne von § 198 Abs. 1 S. 1 GVG a) Die Angemessenheitskriterien nach § 198 Abs. 1 S. 2 GVG aa) Schwierigkeit des Verfahrens Zu den in § 198 Abs. 1 S. 2 GVG genannten Kriterien für die Angemessenheit der Verfahrensdauer zählt zunächst die „Schwierigkeit des Verfahrens“. Dabei ist – entsprechend der Judikatur des EGMR67 – zwischen rechtlichen und tatsächlichen Gründen zu unterscheiden:68 Rechtliche Schwierigkeiten können bestehen, wenn eine Reihe von Rechtsfragen, die miteinander verknüpft sind, zu beant61 BGH, NJW 2014, 1967 Rn. 39; NJW 2014, 1183 Rn. 28; BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 37; BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 41; NJW 2014, 220 Rn. 30; Thomas/ Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 4; Stahnecker, Rn. 92; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/ Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 79, 100 f. 62 BGH, NJW 2014, 1967 Rn. 39; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 101; Heine, MDR 2013, 1081, 1085. 63 BGH, NJW 2014, 1967 Rn. 37; NJW 2014, 1183 Rn. 28; BVerfG, Beschl. v. 14.12.2010 – 1 BvR 404/10, BeckRS 2011, 48160; Steinbeiß-Winkelmann/Sporrer, NJW 2014, 177, 182 („Geringfügigkeitsschwelle“). 64 S. o. § 2 C II 1; 2 C II 2; 2 D I 1; 2 D IV 1 b. 65 BGH, NJW 2014, 1967 Rn. 37; Schlick in: FS Tolksdorf (2014), S. 549, 555. 66 BT-Drs. 17/3802, S. 17 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 78, 251. 67 EGMR, Urt. v. 26.03.2009, 20271/05 – Vaas/Deutschland, Rn. 64, hudoc; Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228 Rn. 45 ff., 48 (s. o. § 1 D I 2 a); Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87, 88; Dörr/Grote/Marauhn/Grabenwarter/ Pabel, EMRK/GG, Bd. I , Kapitel 14, Rn. 115; Grabenwarter, ECHR, Art. 6 p. 142; Villinger, Hdb. EMRK, Art. 6 § 20 Rn. 461. 68 BT-Drs. 17/3802, S. 18.
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
worten sind oder grundsätzliche oder noch ungeklärte Rechtsfragen zu entscheiden sind und das Gericht die Fachliteratur und vergleichbare Rechtsprechung intensiv auswerten muss.69 Indizien für die tatsächliche Schwierigkeit des Verfahrens können sein: umfangreiche Klageschriften, mehrere Kläger oder Beklagte, Wider- und Drittwiderklagen,70 die Erforderlichkeit von Sachverständigengutachten,71 Masseverfahren,72 erstinstanzliche LG-Zuständigkeit, Kammerzuständigkeit (vgl. Aufzählung in § 348 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 ZPO), die Anzahl der Termine zur mündlichen Verhandlung, Umfang der Beweisaufnahme, Einvernahme einer Vielzahl von Zeugen sowie Auslandsbezug und die Erforderlichkeit von Rechtshilfegesuchen.73 Ein allgemein anerkanntes Kriterium, wann ein Verfahren „schwierig“ ist, gibt es nicht.74 Der BGH hat (bisher) entschieden, dass Kapitalanlagestreitigkeiten75 und Architekten- und Bauprozesse76 in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht besonders komplex sind. Das Bundesverfassungsgericht hat die Schwierigkeit eines Zivilprozesses in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht bejaht, in dem es für die Bestimmung der Schadenshöhe auf die sachverständige Beurteilung einer ganzen Reihe von Grundstücken ankam, deren Eigentumsverhältnisse und dingliche Belastungen im Zeitpunkt der Zwangsvollstreckung strittig und ungeklärt waren.77 Ist das Verfahren in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht besonders „schwierig“, rechtfertigt dies eine längere, an die Komplexität angepasste Dauer der Verfahrens.78 bb) Bedeutung des Verfahrens Bei der Bedeutung des Verfahrens geht es nicht nur um die Bedeutung des Rechtsstreits für den Betroffenen, sondern auch darum, wie bedeutend die Rechtssache für die Allgemeinheit ist.79 Wegen seiner allgemeinen gesellschaft69 BT-Drs. 17/3802, S. 18 f.; MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 32; Saenger/Rathmann, ZPO, § 198 GVG Rn. 12; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 103, 105; Stahnecker, Rn. 39; Schenke, NVwZ 2012, 257, 259. 70 BGH, NJW 2014, 939 Rn. 42. 71 EGMR, Urt. v. 21.10.2010, 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055 ff. (s. o. § 1 D V). 72 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14 Rn. 32, juris. 73 MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 32; Steinbeiß-Winkelmann/ Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 103 f.; Stahnecker, Rn. 40; Schenke, NVwZ 2012, 257, 259; Wittling-Vogel/Ulich, DRiZ 2008, 87, 88; Matscher in: FS Fasching (1988), S. 351, 357 f.; Thienel, ÖJZ 1993, 473, 481. 74 MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 32; Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 4. 75 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14 Rn. 32, juris. 76 BGH, NJW 2014, 939 Rn. 42. 77 BVerfG, NJW-RR 2010, 207, 208. 78 BVerfG, NJW-RR 2010, 207, 208; MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 32; Stahnecker, Rn. 37; Magnus, ZZP 125 (2012), 75, 88 f. 79 BT-Drs. 17/3802, S. 18 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 107 ff.;
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lichen Bedeutung (Beispiel: Aufklärungspflicht der Bank über Rückvergütung in Kapitalanlagestreitigkeiten, in denen häufig Hunderte von Geschädigten betroffen sind) kann in einem Musterverfahren eine Zurückstellung der gleichgelagerten Fälle bis zur Entscheidung über den Musterprozess gerechtfertigt sein.80 Die Bedeutung des Rechtsstreits für die Verfahrensbeteiligten ist danach zu beurteilen, welche Auswirkungen die Verfahrensdauer für die konkret Betroffenen hat.81 Es gibt, in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR,82 eine Reihe von Fallgruppen, bei denen die Überlänge der Verfahrensdauer für die Verfahrensbeteiligten besonders gravierend ist, weil die Folgen mit Zeitablauf nicht mehr rückgängig gemacht werden können oder besonders sensible Rechtsbereiche betroffen sind.83 Diese Verfahren sind wegen ihrer besonderen Bedeutung dringlicher zu behandeln als andere.84 Einer besonderen Beschleunigung bedürfen: Kindschafts-, Sorge- und Umgangsrechtsstreitigkeiten (Gefahr der Entfremdung zwischen Eltern und Kind, kindliches Zeitempfinden)85, Verfahren über den Personenstand86 und die Geschäftsfähigkeit (Teil des nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrechts), Mietstreitigkeiten über den Verlust der Wohnung,87 hohes Alter oder Krankheit eines Verfahrensbeteiligten88 sowie Rechtsstreitigkeiten, welche die wirtschaftliche (Insolvenz, Rufschädigung)89 oder berufliche ExisStahnecker, Rn. 41; Schenke, NVwZ 2012, 257, 259; Althammer/Schäubel, NJW 2012, 1, 2. 80 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157. 81 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 4; MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 32; Kissel/Mayer, GVG, § 198 Rn. 14; Althammer/Schäubel, NJW 2012, 1, 2. 82 EGMR, Urt. v. 21.04.10, 42402/05 u. 42423/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721 Rn. 61 (s. o. § 1 D IV); Urt. v. 10.02.2011, 1521/06 – Tsikakis/Deutschland, Rn. 63 ff., juris; Urt. v. 25.09.2007, 71475/01 – Hofmann/Deutschland, Rn. 172, juris; Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, 2390 (s.o. § 1 D II); Urt. v. 11.01.2007, 20027/02 – Herbst/Deutschland, NVwZ 2008, 289 ff.; Wittling-Vogel/Ulich, DRiZ 2008, 87, 88. 83 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 107; Thienel, ÖJZ 1993, 473, 486; Althammer/Schäubel, NJW 2012, 1, 2. 84 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 112; Heine MDR 2023, 1081, 1086; Matscher in: FS Fasching (1988), S. 351, 365 f. 85 MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 37; Steinbeiß-Winkelmann/ Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 111; Althammer/Schäubel, NJW 2012, 1, 2; BVerfG, NJW 2001, 961, 962; NJW 1997, 2811, 2812; EGMR, Urt. v. 10.02.2011, 1521/06 – Tsikakis/ Deutschland, Rn. 63 ff., juris; Urt. v. 21.01.2010, 42402/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721 (s. o. § 1 D IV); Urt. v. 25.09.2007, 71475/01 – Hofmann/Deutschland, Rn. 172, juris. 86 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, 2390; Urt. v. 11.01.2007, 20027/02 – Herbst/Deutschland, NVwZ 2008, 289 ff. 87 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 111; Thienel, ÖJZ 1993, 473, 486. 88 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 111. 89 EGMR, Urt. v. 15.02.2007, 19124/02 – Kirsten/Deutschland, NJW 2007, 406, 408;
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tenz (Berufsunfähigkeit)90 eines Verfahrensbeteiligten betreffen.91 Die Bedeutung des Verfahrens hängt schließlich auch von der Verfahrensart ab. Für Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz ist die Angemessenheit der Verfahrensdauer deutlich kürzer zu veranschlagen.92 cc) Verhalten Verfahrensbeteiligter und Dritter Bei der Entscheidung über die Angemessenheit der Verfahrensdauer hat das Entschädigungsgericht nach § 198 Abs. 1 S. 2 GVG schließlich das „Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter“ auf seine Verzögerungsrelevanz zu überprüfen. Hier unterscheiden sich die Kriterien nach § 198 Abs. 1 S. 2 GVG erstmals von denen des EGMR, der insoweit lediglich das Verhalten des Beschwerdeführers berücksichtigt.93 (1) Verhalten der Verfahrensbeteiligten Verfahrensbeteiligter ist nach der Legaldefinition in § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG jede Partei und jeder Beteiligte des Gerichtsverfahrens.94 Verhalten im Sinne von § 198 Abs. 1 S. 2 GVG meint sämtliches Tun und Unterlassen mit prozessrechtlicher Relevanz.95 Bedeutung für die Verfahrensdauer können folgende Verhaltensweisen haben: verspätete Begründung der Klage,96 häufige Stellungnahmen und Anfragen,97 mangelhafte Klageschriften, (kurzfristige) Klageände rungen, Erweiterung der Klage98 (auf zusätzliche Beklagte oder Streitgegenstän de), zögerliche Einzahlung von Gerichtskosten- oder Auslagenvorschüssen,99
Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 111; Stahnecker, Rn. 41; Althammer/Schäubel, NJW 2012, 1, 2. 90 MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. III, § 198 GVG Rn. 37; EGMR, Urt. v. 21.10.2010, 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055 ff. (s. o. § 1 D V). 91 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 111; Althammer/Schäubel, NJW 2012, 1, 2. 92 Zöller/Vollkommer, ZPO, vor § 916 Rn. 1 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 110; Stahnecker, Rn. 48; Schenke, NVwZ 2012, 257, 259. 93 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 131 (s. o. § 1 D II); Urt. v. 29.06.2006, 27250/02 – Nold/Deutschland, hudoc; Urt. v. 06.10.2005, 69584/01 – Gisela Müller/Deutschland, Rn. 81, hudoc; Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 259 f.; Peters/Altwicker, § 19 Rn. 56; Grabenwarter/Pabel, § 24 Rn. 70; Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87, 88. 94 S. o. § 3 A I 1; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 113, 228 ff. 95 Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 6; MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 33. 96 BVerfG, Beschl. v. 14.12.2010 – 1 BvR 404/10, juris. 97 BVerfG, Beschl. v. 07.06.2011 – 1 BvR 194/11, juris. 98 BVerfG, NJW-RR 2010, 207, 208. 99 EGMR, Urt. v. 21.10.2010, 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055 ff. (s. o. § 1 D V); Zimmermann, FamRZ 2011, 1905, 1906.
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spätes Einreichen von Unterlagen100 und Schriftsätzen,101 Streit um die Auswahl eines Gutachters, sachfremde (taktische) Befangenheitsanträge,102 die zur (wiederholten) Ablehnung von Richtern und Sachverständigen führen,103 Anträge auf Verlegung von Terminen, Fristverlängerungsanträge,104 Nichteinhaltung von Fristen, Säumnis im Termin, Erkrankung der Parteien, Anwaltswechsel,105 Aussetzung des Verfahrens wegen außergerichtlicher Vergleichsverhandlungen106 . In der Literatur wird vorgebracht, im Zivilprozessrecht sei zu beachten, dass aufgrund des Beibringungsgrundsatzes erhöhte Pflichten der Verfahrensbeteiligten zur Förderung des Verfahrens bestehen.107 Dem Verfahrensbeteiligten kann aber nicht vorgeworfen werden, dass er alle seine legitimen prozessualen Mittel voll ausschöpft, auch wenn dadurch zeitliche Verzögerungen entstehen.108 (2) Verhalten Dritter „Dritter“ im Sinne von § 198 Abs. 1 S. 2 GVG ist – im Umkehrschluss zu § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG – jeder nicht am Verfahren Beteiligte.109 Das Verhalten Dritter ist nur insoweit verzögerungsrelevant, als es dem Gericht zugerechnet werden kann, da es ansonsten an der nötigen Verfahrensbezogenheit des Drittverhaltens fehlt.110 Die Gesetzbegründung111 nennt als Hauptanwendungsfall den Einbezug von gerichtlichen Sachverständigen in das Verfahren.112 Bei der Zurechnung ist zu berücksichtigen, inwieweit das Ausgangsgericht mit sämtlichen prozessualen Mitteln auf eine zügige Begutachtung hingewirkt hat und ob es konkrete Handlungsalternativen gab, insbesondere hinsichtlich der Auswahl 100 EGMR, Urt. v. 01.06.2009, 17878/04 – Evelyn Deiwick/Deutschland, juris; BVerfG, Beschl. v. 14.12.2010 – 1 BvR 404/10, juris; Zimmermann, FamRZ 2011, 1905, 1906. 101 EGMR, Urt. v. 29.05.1986, 9384/81 – Deumeland/Deutschland, NJW 1986, 652, 654. 102 OLG Stuttgart, Urt. v. 14.08.2012 – 4 SchH 4/12 Rn. 2 2, juris. 103 BVerfG, Beschl. v. 23.06.2010 – 1 BvR 324/10, juris. 104 EGMR, Urt. v. 29.05.1986, 9384/81 – Deumeland/Deutschland, NJW 1986, 652, 653 f.; BVerfG, NJW-RR 2010, 207, 208. 105 BVerfG, NJW-RR 2010, 207, 208. 106 BVerfG, NJW-RR 2010, 207, 208; Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 261; MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 33; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/ Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 117. 107 Karpenstein/Mayer/Meyer, EMRK, Art. 6 Rn. 81. 108 OLG Stuttgart, Urt. v. 14.08.2012 – 4 SchH 4/12 Rn. 22, juris; EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 131 (s. o. § 1 D II); Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 118; Heine, MDR 2013, 1081, 1086. 109 MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 33. 110 BT-Drs. 17/3802, S. 18 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 114. 111 S. o. § 2 D I. 112 BT-Drs. 17/3802, S. 18 f.; Stanecker, Rn. 54.
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
der Gutachter und eines späteren Gutachterwechsels.113 Im Interesse der Verfahrensdauer hat das Gericht, den Untersuchungsauftrag des Sachverständigen im Beweisbeschluss genau festzulegen (vgl. § 404a ZPO), dem Sachverständigen eine Frist zur Erstellung des schriftlichen Gutachtens zu setzen (vgl. § 411 Abs. 1 ZPO) und die Frist gegebenenfalls durch Zwangsmaßnahmen durchzusetzen (vgl. § 411 Abs. 2 ZPO).114 Soweit das Gericht – unter Berücksichtigung der richterlichen Unabhängigkeit aus Art. 97 Abs. 1 GG115 – im Rahmen dieser Vorschriften agiert, sind ihm Verzögerungen in Bezug auf die Tätigkeit von Sachverständigen nicht zurechenbar.116 Der Sachverständige kann sich aber wegen schuldhafter Verzögerung der Gutachtenerstellung selbst schadensersatzpflichtig machen.117 Hinzuweisen ist auf den Regierungsentwurf zur Änderung des Sachverständigenrechts, der ausdrücklich auch auf Beschleunigung des Sachverständigenverfahrens nach §§ 402 ff. ZPO angelegt ist.118 Gleiches gilt für das Verhältnis zwischen Gericht und Zeugen, die ebenfalls Dritte im Sinne von § 198 Abs. 1 S. 2 GVG sind.119 (3) Abgrenzung nach Risikosphären Die Berücksichtigung des Verhaltens Verfahrensbeteiligter und Dritter gibt dem Entschädigungsgericht die Möglichkeit, die Verantwortung für eingetretene Verzögerungen nach Wertungsgesichtspunkten zwischen dem Gericht und den Parteien zu verteilen.120 Hat ein Verfahrensbeteiligter die Verzögerung des Verfahrens verursacht, ist diese Zeitspanne dem Gericht insoweit nicht als entschädigungserheblich zurechenbar und darf demnach bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer bzw. der Gesamtdauer nicht berücksichtigt werden.121 In der Literatur wird kritisiert, die damit verbundene Prüfung, 113 BT-Drs. 17/3802, S. 18 f.; EGMR, Urt. v. 21.10.2010, 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055 ff. (s. o. § 1 D V); Urt. v. 05.03.2009, 7634/05 – Bozlar/Deutschland, EuGRZ 2009, 207 ff.; Urt. v. 04.07.2002, 45181/99 – Volkwein/Deutschland, juris; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 114, 122; BVerfG, NVwZ-RR 2011, 625, 626; Beschl. v. 02.12.2011 – 1 BvR 314/11, juris. 114 EGMR, Urt. v. 21.10.2010, 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055 ff. (s. o. § 1 D V). 115 S. o. § 1 A II 3. 116 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 122; Althammer/ Schäubel, NJW 2012, 1, 2. 117 MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I I, § 407a Rn. 3; Matusche-Beckmann/Kumpf, ZZP 124 (2011), 173, 186. 118 BT-Drs. 18/6985, S. 2 , 16; BR-Drs. 438/15. 119 Kissel/Mayer, GVG, § 198 Rn. 14. 120 BT-Drs. 17/3802, S. 18 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 114. 121 Saenger/Rathmann, ZPO, § 198 GVG Rn. 14; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 115; Althammer/ Schäubel, NJW 2012, 1, 2; Schlette, Anspruch auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist, S. 37; Matscher in: FS Fasching (1988), S. 351, 366.
A. Die Anspruchsvoraussetzungen
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ob die Verzögerung in der Risikosphäre des Gerichts oder eines Verfahrensbeteiligten entstanden ist, führe zu einer „verschleierten Verschuldensprüfung“ der Verzögerungsverursachung.122 Dies ist relevant, weil nach der Rechtsprechung des EGMR Rechtsbehelfe zur Geltendmachung der überlangen Verfahrensdauer, die die Prüfung der Überlänge von einem Verschulden abhängig machen, vom Gerichtshof als nicht effektiv im Sinne von Art. 13 EMRK i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK bewertet werden.123 b) Verfahrensführung durch das Gericht Nach dem Gesetzeswortlaut („insbesondere“) ist die Aufzählung der Angemessenheitskriterien in § 198 Abs. 1 S. 2 GVG nicht abschließend, vielmehr können für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer auch andere Kriterien Berücksichtigung finden.124 Ein wichtiges ungeschriebenes Kriterium ist die Verfahrensführung durch das Gericht.125 Das „Verhalten der Behörden und Gerichte“ ist auch ein festes Kriterium in der Rechtsprechung des EGMR, auf deren Umsetzung die Gesetzesbegründung ausdrücklich bezug genommen hat.126 aa) Gestaltungsspielraum der Gerichte: Abwägung mit den Kriterien aus § 198 Abs. 1 S. 2 GVG Bei der Verfahrensführung durch das Gericht ist zu berücksichtigen, dass die Beschleunigung eines Gerichtsverfahrens kein Selbstzweck ist,127 sondern das Recht auf angemessene Verfahrensdauer vielmehr vom Gericht neben einer Reihe gegenläufiger Rechtsgüter zu würdigen ist.128 Dazu zählen nach der Rechtsprechung des BGH insbesondere die aus dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG folgende Gewährleistung der inhaltlichen Richtigkeit von Entscheidungen sowie die Grundsätze richterlicher Unabhängigkeit nach
122 Kissel/Mayer,
GVG, § 198 Rn. 14; Magnus, ZZP 125 (2012), 75, 80 ff. EGMR, Urt. v. 29.05.12, 53126/07 – Taron/Deutschland, EuGRZ 2012, 514 Rn. 39. 124 BT-Drs. 17/3802, S. 18 f.; BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 24; BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 37; Zimmermann, FPR 2012, 556; Heine, MDR 2012, 327, 329. 125 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 24; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 127 ff.; Matscher in: FS Fasching (1988), S. 351, 360 ff. 126 EGMR, Urt. v. 21.10.2010, 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055 (s. o. § 1 D V); Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, 2393 (s. o. § 1 D II); Urt. v. 04.04.2002, 45181/99 – Volkwein/Deutschland Rn. 36 ff., hudoc; Urt. v. 06.05.81, 7759/77 – Buchholz/Deutschland, EuGRZ 1981, 490 Rn. 50. 127 BGHZ 187, 286 = NJW 2011, 1072 ff. 128 S. o. § 1 A II 3; BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 25. 123
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
Art. 97 Abs. 1 GG129 und des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.130 Bei der Gesamtabwägung aller relevanten Umstände des konkreten Einzelfalls ist zu prüfen, ob Verzögerungen, die mit der Verfahrensführung durch das Gericht in Zusammenhang stehen, bei Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums sachlich gerechtfertigt sind.131 Dabei darf die Verfahrensführung nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss vielmehr zu den in § 198 Abs. 1 S. 2 GVG normierten Kriterien in Bezug gesetzt werden.132 Maßgeblich ist, ob das Gericht gerade in Bezug auf diese Gesichtspunkte den Anforderungen an eine angemessene Verfahrensdauer in vertretbarer Weise gerecht geworden ist, und wie das Ausgangsgericht aus seiner Sicht (ex ante) die Sach- und Rechtslage einschätzen durfte.133 Erst wenn die Dauer des Verfahrens nach Abwägung der Kriterien des § 198 Abs. 1 S. 2 GVG auch bei Berücksichtigung des weiten richterlichen Gestaltungsspielraums nicht mehr zu rechtfertigen ist, liegt eine unangemessene Verfahrensdauer vor.134 bb) Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, Art. 97 Abs. 1 GG Bei der Beurteilung des Verhaltens des Gerichts ist besonders der verfassungsrechtlichen Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG zu berücksichtigten.135 Den Gerichten muss in jedem Fall eine ausreichende Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen, die der Schwierigkeit der Rechtssache angemessen Rechnung trägt.136 Die Verfahrensführung des Gerichts ist außerdem danach zu bewerten, ob andere Verfahrensgrundsätze, wie etwa das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG, beachtet wurden.137 Abgesehen von zwingenden einfachgesetzlichen Vorgaben138 besteht in diesem Rahmen ein Ermessen des verantwortlichen Richters, das Verfahren zu gestalten.139 Seine verfahrensgestaltenden Befugnisse ermöglichen es dem Gericht – der tatsächlichen und rechtlichen Komplexität 129
Papier, NJW 2001, 1089 ff. BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 25. 131 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 43; NJW 2014, 220 Rn. 32. 132 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 40. 133 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 43 f.; NJW 2014, 220 Rn. 32. 134 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 26; BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 4 4; NJW 2014, 220 Rn. 33. 135 BGH NJW 2014, 789 Rn. 4 4; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 4; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 128; Heine, MDR 2012, 327, 329; Zuck, JZ 2011, 476, 477; Wittreck, NJW 2012, 3287 ff.; Papier, NJW 2001, 1089, 1091 ff.; Sendler, NJW 2001, 1256, 1257 f.; Redeker, NJW 2000, 2796, 2797 f. 136 S. o. § 3 B III 1; BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 26; BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 4 4; BGHZ 187, 286 = NJW 2011, 1072; Thomas/Putzo/ Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 4. 137 Heine, MDR 2012, 327, 329. 138 S. o. § 1 A II 4. 139 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 4 4. 130
A. Die Anspruchsvoraussetzungen
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einer einzelnen Rechtssache entsprechend – darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvoll fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu erforderlich sind.140 Das Gericht darf einzelne Entscheidungen als vordringlich ansehen, Verfahren aus Sach- oder Rechtsgründen wegen ihrer Vergleichbarkeit zur gemeinsamen Entscheidung zusammenfassen, parallele Entscheidungen (sog. unechter Musterprozess) abwarten141 und sich mit Verfahren besonders gründlich beschäftigen, auch wenn dies eine gleichzeitige, genauso tiefgreifende Bearbeitung anderer Verfahren unmöglich macht.142 Mit fortschreitender Gesamtverfahrensdauer verstärkt sich die Pflicht der Gerichte aus dem Justizgewährungsanspruch, das Verfahren zu fördern und abzuschließen.143 Das Gericht kann dann verpflichtet sein, besondere Beschleunigungsmaßnahmen zu ergreifen, wie etwa die mündliche Gutachtenerstattung, parallele Begutachtungen sowie den Erlass von Teil- und Zwischenurteilen bzw. -vergleichen.144 cc) Parallele zum Amtshaftungsprozess: Spannungsverhältnis zwischen richterlicher Unabhängigkeit und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes Nach der Rechtsprechung des BGH zur Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer kann bei der Überprüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer eine Parallele zum Amtshaftungsrecht gezogen werden, das sich ebenfalls im Spannungsverhältnis zwischen richterlicher Unabhängigkeit und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes befindet.145 Im Amtshaftungsprozess ist die richterliche Verfahrensführung, außerhalb von § 839 Abs. 2 S. BGB, nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit zu prüfen.146 Diese zur Amtshaftung entwickelte Grenze hat der BGH nun auf die Verfahrensführung durch das Gericht im Rahmen von § 198 Abs. 1 GVG übertragen.147 Die Verfahrensführung ist nur dann nicht vertretbar, wenn bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Rechtspflege das richterliche Verhalten
140 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 39; BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 4 4; Heine, MDR 2014, 1008, 1010. 141 OLG Braunschweig, Urt. v. 11.04.2014 – 6 SchH 1/13 Rn. 37 f., juris. 142 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 939 Rn. 39; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 132. 143 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 41; BGHZ 187, 286 = NJW 2011, 1072 Rn. 11; BVerfG, NJW 2001, 214 ff. 144 BGH, NJW 2014, 939 Rn. 42. 145 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 45; OLG Naumburg, Urt. v. 30.05.2013 – 1 ESV 4/12 Rn. 25, juris; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 128; Heine, MDR 2014, 1008, 1011; MDR 2012, 327, 329; Remus, NJW 2012, 1403, 1409. 146 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 45; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 4. 147 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 45 ff.; Heine, MDR 2014, 1008, 1011.
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
nicht mehr verständlich war.148 Dabei darf der Zeitfaktor zwar nicht ausgeblendet werden, er ist aber nicht der allein entscheidende Maßstab.149 Die Übertragung der Grundsätze des Amtshaftungsrechts sei sachgerecht, auch wenn die §§ 198 ff. GVG keine vorwerfbare Säumnis des Gerichts voraussetzten.150 Soweit in Entschädigungsprozessen nach §§ 198 ff. GVG zu prüfen ist, ob die gerichtliche Verfahrensführung zu entschädigungsrechtlich relevanten Verzögerungen geführt hat, sei kein Grund ersichtlich, die richterliche Verfahrensführung nach einem anderen Maßstab als im Amtshaftungsprozess zu beurteilen.151 Folglich begründen eine vertretbare Rechtsauffassung des Gerichts oder eine nach der ZPO vertretbare Verfahrensführung auch keinen Entschädigungsanspruch, selbst wenn sie zu Verfahrensverlängerungen geführt haben.152 Für die Praxis könnte dies zur Folge haben, dass sich die Prüfung auf Lücken in den Akten konzentriert.153 Während dieser „Nichtbearbeitungszeiträume“ finden häufig umfangreiche Recherchen und Beratungen statt, die bisher nicht aktenkundig gemacht werden. Für die Gerichte empfiehlt es sich, künftig entsprechende Aktenvermerke zu fertigen.154 Maßgeblicher Zeitraum für die Gesamtabwägung bleibt aber die Gesamtverfahrensdauer155, sodass auch sachlich nicht zu rechtfertigende Bearbeitungslücken durch spätere Verfahrensabschnitte kompensiert werden können.156 Der Rechtsuchende hat keinen Anspruch auf eine optimale Verfahrensführung.157 dd) Verschulden ist keine Voraussetzung Anders als die Amtshaftung setzt die Entschädigung nach §§ 198 ff. GVG kein Verschulden voraus.158 Das hat zur Folge, dass die Unterbesetzung des Gerichts, ein Richterwechsel oder die Beteiligung ehrenamtlicher Richter eine längere Verfahrensdauer nicht rechtfertigen können.159 Etwas anderes gilt bei Ver148 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 26; BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 45. 149 BGHZ 187, 286 = NJW 2011, 1072 Rn. 14. 150 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 46. 151 BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 46; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 127 ff.; Stahnecker, Rn. 97. 152 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 26; BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 46; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 129. 153 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 130. 154 Heine, MDR 2014, 1008, 1011. 155 S. o. § 3 A III 2. 156 BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12 Rn. 31. 157 BVerfG, Beschl. v. 14.10.2010 – 1 BvR 404/10, BeckRS 2011, 48160. 158 BT-Drs. 17/3802, S. 19 f.; Zöller/Lückemann, ZPO, § 198 GVG Rn. 1, 4; Thomas/ Putzo/ Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 4. 159 OLG Köln, NJW-RR 2014, 636 ff.; OLG Karlsruhe, FamRZ 2013, 1678 ff.; Zimmermann, FPR 2012, 556 ff.; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 4a; Balzer, DRiZ 2007, 88 ff.
A. Die Anspruchsvoraussetzungen
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zögerungen, die infolge nicht vorhersehbarer Überbelastungen einzelner Gerichte eintreten.160 Für die vorliegende Untersuchung zu den Vorgaben des EGMR an einen wirksamen Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer nach Art. 13 EMRK iVm Art. 6 Abs. 1 EMRK ist diese Feststellung relevant, da es für die Effektivität eines Rechtsbehelfs besonders wichtig ist, dass die Beurteilung der Verfahrensdauer objektiv erfolgt, ohne dass es auf ein Verschulden des Gerichts ankommt.161 4. Zwischenergebnis Unabhängig, aber unter Zukenntnisnahme der Rechtsprechung des EGMR, hat der BGH hat in seiner Rechtsprechung mittlerweile die Methodik zur Überprüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer umrissen.162 Durch die Vielzahl der unbestimmten Rechtsbegriffe ist sie dennoch recht kompliziert.163 Das Entschädigungsgericht muss auf Sachverhaltsebene zum Teil das Ausgangsverfahren sehr aufwändig nachzeichnen, um die Angemessenheit der Verfahrensdauer beurteilen zu können. Der BGH prüft dabei nicht – anders als der EGMR164 – die in § 198 Abs. 1 S. 2 GVG genannten Kriterien der Reihe nach ab, sondern untersucht vielmehr (dogmatisch überzeugend), ob die Verfahrensdauer eine Grenze überschritten hat, die auch unter Berücksichtigung gegenläufiger rechtlicher Interessen (Rechtsstaatsprinzip, Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit, Gewährung rechtlichen Gehörs) für den Betroffenen sachlich nicht mehr gerechtfertigt ist.165 Bei der Prüfung der Verfahrensdauer ist so eine Einzelfallentscheidung über die hinter der Norm stehenden, gegenläufigen Grundrechtspositionen möglich.166 Unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 S. 1 GVG ist die Verfahrensdauer dann, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 S. 2 GVG167 ausgerichtete und den Gestaltungsspielraum der Gerichte bei der Verfahrensführung168 beachtende Abwägung 160
BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 36. EGMR, Urt. v. 29.05.12, 53126/07 – Taron/Deutschland, EuGRZ 2012, 514 Rn. 39. 162 S. o. § 3 B III 1. 163 Itzel, MDR 2012, 564, 567. 164 EGMR, Urt. v. 21.10.2010, 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055 (s. o. § 1 D V); Urt. v. 21.01.2010, 42402/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721 ff. (s. o. § 1 D IV); Urt. v. 05.10.2006, 66491/01, Grässer/Deutschland, EuGRZ 2007, 268, 271 (s. o. § 1 D III); Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, 2393 (s. o. § 1 D II); Urt. v. 20.03.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, NJW 2004, 3397 Rn. 43 (s.o. § 1 D I); Urt. v. 04.04.2002, 45181/99 – Volkwein/Deutschland Rn. 36 ff., hudoc; Urt. v. 06.05.81, 7759/77 – Buchholz/Deutschland, EuGRZ 1981, 490 Rn. 50; Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87 ff. 165 S. o. § 3 A III 1; BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 38 mwN. 166 S. o. § 1 A II 3. 167 S. o. § 3 A III 3 a. 168 S. o. § 3 A III 3 b. 161
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalls ergibt, dass die aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist.169
IV. Kausaler Nachteil 1. Der Begriff des Nachteils im Sinne von § 198 Abs. 1 S. 1 GVG Der Tatbestand des § 198 Abs. 1 S. 1 GVG setzt voraus, dass der Anspruchsberechtigte durch die unangemessene Dauer des Verfahrens einen kausalen Nachteil erlitten hat.170 Der Begriff „Nachteil“ ist in den §§ 198 ff. GVG nicht definiert und wurde neu in das deutsche System der Haftungsansprüche eingefügt. Der Begriff entstammt der Rechtsprechung des EGMR.171 Nachteile sind nach der Definition des Gesetzgebers sämtliche negativen materiellen und immateriellen Folgen der überlangen Verfahrensdauer.172 Der Gesetzgeber hat sich bewusst für den Begriff „Nachteil“ entschieden, um die Vorgaben des EGMR möglichst exakt umzusetzen und der Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 S. 1 GVG anders als Schadensersatzansprüche kein Verschulden voraussetzt.173 In der Literatur wird zum Teil auf die haftungsbegründende Rechtsverletzung abgestellt: Nachteile seien alle Gewährleistungen, die aus der Verletzung des subjektiven Rechts des Entschädigungsgläubigers aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK resultieren.174 Fraglich ist, ab wann die Nachteile ersatzpflichtig sind. In der Literatur wird – entsprechend dem Gesetzesentwurf175 – die Ansicht vertreten, entschädigungspflichtige Nachteile könnten frühestens mit dem Eingang der Verzögerungsrüge entstehen.176 Will man aber dem Sinn und Zweck des Gesetzes gerecht werden, ist die Anknüpfung an die Erhebung der Verzögerungsrüge zu formell, da die Gewährleistungen aus der haftungsbegründenden Rechtsgutsverletzung nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK zeitlich bereits
169 S. o. § 3 A III 1; BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 40 mwN; Schlick, NJW 2014, 2686, 2687. 170 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 24 ff.; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 4; Zöller/Lückemann, ZPO, § 198 GVG Rn. 7; Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 14 ff.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 143 ff.; Heine, MDR 2014, 1008, 1011; Heine, MDR 2013, 1081, 1086; Heine, MDR 2012, 327, 330. 171 Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 41 Rn. 8 ff.; EGMR, Urt. v. 01.07.1997, 125/1996 – Probstmeier/Deutschland, EuGRZ 1997, 405. 172 BT-Drs. 17/3802, S. 19 f. 173 S. o. § 2 C; BT-Drs. 17/3802, S. 19 f; Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 15. 174 Althammer/Schäubel, NJW 2012, 1, 3; BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 25. 175 BT-Drs. 17/3802, S. 21 f. 176 MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 48.
A. Die Anspruchsvoraussetzungen
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vor Erhebung der Verzögerungsrüge verletzt sein können.177 Der Nachteil darf nicht völlig unerheblich sein, wesentlich muss er aber nicht sein.178 2. Materieller Nachteil/Kausalität a) Materielle Nachteile Auch die Unterscheidung zwischen materiellen und immateriellen Nachteilen enstammt der Rechtsprechung des EGMR.179 Unter „materielle Nachteile“ fallen kostenrechtliche Mehraufwendungen, wie erhöhte Kosten aufgrund der Verzögerung des Ausgangsverfahrens180 und notwendige Anwaltskosten für die vorprozessuale Verfolgung des Entschädigungsanspruchs.181 Die Rechtsanwaltskosten für die gerichtliche Verfolgung des Entschädigungsanspruchs sind dagegen keine Nachteile infolge der Verzögerung des Ausgangsverfahrens, sondern Teil der vom Entschädigungsgericht festzusetzenden Kosten.182 Materielle Nachteile sind beispielsweise Ausfälle aufgrund der Insolvenz des Beklagten während der überlangen Dauer des Ausgangsverfahrens, sofern der Entschädigungskläger geltend machen kann, dass seine Forderung bei angemessener Verfahrensdauer noch befriedigt worden wäre.183 Eine nicht ausschließbare künftige Insolvenz genügt nicht, da der behauptete Nachteil bereits eingetreten sein muss.184 Materielle Nachteile können sich auch durch Wertminderungen oder den kompletten Rechtsverlust infolge Zeitablaufs (Bsp.: Wohnungsverlust185) ergeben.186 Erfasst sind hier auch mittelbare Nachteile, zum Beispiel, wenn eine Immobilie aufgrund eines noch anhängigen, überlangen Gerichtsverfahrens erst später als beabsichtigt veräußert werden kann und zusätzliche Kosten für eine Zwischenfinanzierung entstehen.187 Zudem Unterschiede zwischen Trennungs- und nachehelichem Scheidungsunter-
177
Althammer/Schäubel, NJW 2012, 1, 3. KG, FamRZ 2013, 1503 ff.; Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 16. 179 Karpenstein/Mayer/Wenzel, EMRK, Art. 41 Rn. 23 mwN. 180 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 26; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 146. 181 BT-Drs. 17/3802, S. 19 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 146. 182 MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 39; Zimmermann, FamRZ 2011, 1905, 1907. 183 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 26; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 146; Stahnecker, Rn. 140; MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 39. 184 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 52. 185 Heine, MDR 2012, 327, 330. 186 Zöller/Lückemann, ZPO, § 198 GVG Rn. 8; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 146; Stahnecker, Rn. 140; Schenke, NVwZ 2012, 257, 262. 187 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 144. 178
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
halt bei überlanger Dauer eines Scheidungsverfahrens188 oder auch Unterhaltsbelastungen189 sowie Arztkosten bei Gesundheitsbeeinträchtigungen durch die unangemessene Verfahrensdauer.190 b) Kausalität Der Betroffene muss den materiellen Nachteil gerade „infolge“ der überlangen Verfahrensdauer erlitten haben. Der Gesetzgeber weist darauf hin, dass der Nachteil im Verantwortungsbereich des in Anspruch genommenen Rechtsträgers verursacht worden sein muss.191 Die Kausalitätsanforderungen entsprechen denen der sonstigen Haftungstatbestände und folgen der Prüfungsreihenfolge Äquivalenz, Adäquanz und Schutzzweck der Norm.192 Nach der Äquivalenztheorie ist zunächst zu prüfen, welchen Verlauf der Prozess ohne die überlange Verfahrensdauer genommen hätte und was dies für die eingetreten Nachteile des Klägers bedeutet hätte.193 Bei der Adäquanz ist zu fragen, ob die überlange Verfahrensdauer allgemein und nicht nur unter besonders unwahrscheinlichen Voraussetzungen geeignet war, diesen Nachteil zu begründen.194 Schließlich ist zu prüfen, ob die entstanden Nachteile auch nach dem Schutzzweck des § 198 Abs. 1 S. 1 GVG entschädigungsfähig sind.195 Keine Nachteile sind Rechtsprechungsänderungen zulasten des Entschädigungsklägers während der Überlänge des Ausgangsverfahrens196 und die anwaltlichen Mehrkosten aufgrund einer Honorarvereinbarung auf Stundenbasis, die für prozessual überflüssiges Erwidern auf wiederholtes Vorbringen des Prozessgegners entstanden sind.197
188 KG, Urt. v. 11.12.2012 – 7 SchJ 5/12 EntV Rn. 30, juris; Heine, MDR 2013, 1147, 1148. 189 OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2013 – 11 SchH 4712 Rn. 122, juris; Heine, MDR 2013, 1147, 1148. 190 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 146. 191 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 26, 45; BT-Drs. 17/3802, S. 19 ff. 192 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 156; Heine, MDR 2013, 1081, 1087. 193 Palandt/Grüneberg, BGB, Vorb v § 249 Rn. 24 ff. 194 BGH, NJW-RR 2001, 887 ff. 195 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 47 ff. 196 BGH, NJW 2014, 1616 ff.; Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 18. 197 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 45; Heine, MDR 2014, 1008, 1012.
A. Die Anspruchsvoraussetzungen
75
3. Immaterieller Nachteil/Vermutung der Kausalität, § 198 Abs. 2 S. 1 GVG a) Immaterielle Nachteile Beispiele für immaterielle Nachteile im Sinne des § 198 Abs. 1 GVG sind psychische oder physische Beeinträchtigungen198 sowie Rufschädigungen199 infolge der überlangen Verfahrensdauer. In Sorgerechtsstreitigkeiten zudem die Entfremdung eines Kindes von einem Elternteil, wobei das kindliche Zeitempfinden bei der Frage der Erheblichkeit zu berücksichtigen ist.200 In der Literatur wird die Ansicht vertreten, dass ein konkreter Nachweis des Nichtvermögensnachteils häufig nicht möglich und auch nicht nötig ist, sondern der immaterielle Ausgleich vielmehr für die überlange Verfahrensdauer als solche zu gewähren ist.201 Argument hierfür ist die Entschädigungspraxis des EGMR, der bei Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK auch juristischen Personen eine immateriellen Ausgleich gewährt, obwohl bei diesen Fällen immaterielle Nachteile nicht denkbar sind.202 Der EGMR setzt, wenn er den Schaden infolge der Konventionsverletzung nicht exakt bestimmen kann, eine geschätzte Gesamtsumme für materielle und immaterielle Schäden fest.203 b) Widerlegbare Vermutung der Kausalität, § 198 Abs. 2 S. 1 GVG Der Eintritt immaterieller Nachteile durch die überlange Verfahrensdauer wird vom Gesetz nach § 198 Abs. 2 S. 1 GVG vermutet.204 Die Regelung hatte im Gesetzgebungsverfahren wegen ihrer Unvereinbarkeit mit den Grundsätzen des Schadensersatzrechts starke Kritik erfahren, blieb aber Teil des Gesetzes, um die Vorgaben des EGMR umzusetzen.205 Durch die Vermutung sollen Beweisschwierigkeiten bei immateriellen Nachteilen vermieden werden, um die 198 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 39; BT-Drs. 17/3802, S. 19 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 148; Stahnecker, Rn. 143; MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 40; Heine, MDR 2013, 1081, 1087. 199 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 39; BT-Drs. 17/3802, S. 19 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 149; Stahnecker, Rn. 143; MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 40; Heine, MDR 2013, 1081, 1087; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 4. 200 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 39; BT-Drs. 17/3802, S. 19 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 149; Stahnecker, Rn. 143; Heine, MDR 2013, 1081, 1087. 201 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 148 f. 202 EGMR, Urt. v. 06.04.2000, 35382/97 – Comingersoll/Portugal, hudoc; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 148 f. 203 EGMR, Urt. v. 06.04.2000, 35382/97 – Comingersoll/Portugal, hudoc. 204 BT-Drs. 17/3802, S. 19 f. 205 S. o. § 2 D II 2, § 2 D III 1 c; BT-Drs. 17/3802, 19, 41; BR-Drs. 540/1/10, S. 6 f.; BRDrs. 540/1/11, S. 1 f.; Zöller/Lückemann, ZPO, § 198 GVG Rn. 8; Althammer, JZ 2011, 446, 450.
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
Effektivität der §§ 198 ff. GVG zu steigern.206 § 198 Abs. 2 S. 1 GVG normiert eine widerlegliche gesetzliche Tatsachenvermutung im Sinne von § 292 ZPO.207 Tatsache im Sinne von § 292 S. 1 ZPO ist jeder Vorgang, der einer Überprüfung durch Dritte offensteht. Dazu gehören immaterielle Nachteile sowie die Ursächlichkeit der überlangen Verfahrensdauer für den immateriellen Nachteil.208 Auch der EGMR nimmt eine „starke, aber widerlegbare Vermutung“ dafür an, dass eine Verfahrensverzögerung immaterielle Nachteile verursacht.209 Es könne aber Fälle geben, in denen ein Nichtvermögensschaden sehr gering oder gar nicht eingetreten sei.210 Der staatliche Richter müsse seine Entscheidung dann mit einer ausreichenden Begründung rechtfertigen.211 Der BGH hat – mit Hinweis auf diese Rechtsprechung des EGMR – entschieden, die Vermutung des § 198 Abs. 2 S. 1 GVG sei widerlegt, wenn das verklagte Land bzw. der Bund das Fehlen eines immateriellen Nachteils darlegt und beweist.212 Da es sich um einen Negativbeweis handelt, gelten die Grundsätze der sekundären Behauptungslast.213 Auch der EGMR verlangt lediglich eine „ausreichende Begründung“ zur Widerlegung.214 Die Vermutung ist widerlegt, wenn das Entschädigungsgericht unter Berücksichtigung der vom Kläger gegebenenfalls geltend gemachten Beeinträchtigungen nach einer Gesamtbewertung der Folgen, die die Verfahrensdauer mit sich gebracht hat, die Überzeugung gewonnen hat, dass die unangemessene Verfahrensdauer nicht zu einem immateriellen Nachteil geführt hat.215 Bei dem vom BGH entschiedenen Fall handelte es sich um die Klage eines Betroffenen, der infolge von Kapitalanlagegeschäften in 386 Verfahren auf Schadensersatz in Höhe von insgesamt EUR 10.777.752,53 in Anspruch genommen wurde, sich aber wegen Steuerschulden in Millionenhöhe bereits in einer desolaten finanziellen Situation befand.216 In solchen Fällen kann der Entschädigungsbeklagte ohne eine positive Behauptung der konkreten Nachteile durch den Entschädigungskläger den ihm obliegenden Beweis der
206 BT-Drs. 17/3802, 19, 41; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 158. 207 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 39 ff.; BT-Drs. 17/3802, S. 19 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 154, 158; Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 19. 208 Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 19. 209 BT-Drs. 17/3802, S. 19 f. mit Verweis auf EGMR, Urt. v. 29.03.2006, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259 Rn. 204. 210 EGMR, Urt. v. 29.03.2006, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259 Rn. 204. 211 EGMR, Urt. v. 29.03.2006, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259 Rn. 204. 212 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 41. 213 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 41; Zöller/Greger, ZPO, Vor § 284 Rn. 34, § 292 Rn. 2 . 214 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 41. 215 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 41. 216 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157.
A. Die Anspruchsvoraussetzungen
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Unrichtigkeit nicht führen.217 Der BGH hat die Entstehung immaterieller Nachteile daher als widerlegt angesehen, weil der Ausgang des einzelnen Verfahrens im Verhältnis zum Gesamtkomplex für den Entschädigungskläger ohne spürbare Folgen sei und der Kläger keine konkreten (seelischen und körperlichen) Beeinträchtigungen geltend gemacht habe, die gerade auf das streitgegenständliche Verfahren zurückzuführen wären.218 Die Entscheidung ist für die vorliegende Untersuchung besonders interessant, da sich der BGH detailliert mit einer der Wirksamkeitsvorgaben des EGMR auseinandergesetzt hat und die wirksame Widerlegung der Vermutung nach § 198 Abs. 1 S. 2 GVG nicht nur von den Voraussetzungen des § 292 ZPO, sondern auch von den Vorgaben des EGMR abhängig macht.
V. Erhobene Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG Weitere Tatbestandsvoraussetzung für den Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG ist die Erhebung einer Verzögerungsrüge im Ausgangsverfahren. Für die hier zu überprüfende Umsetzung der Vorgaben des EGMR ist die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG relevant, da sie – wenn überhaupt – das einzige Element des Rechtsbehelfs darstellt, das die präventiven Anforderugen des EGMR an einen effektiven Rechtsbehelf nach Art. 13 EMRK umsetzten könnte. 1. Rügeobliegenheit mit doppeltem Zweck: Prävention und Missbrauchsabwehr a) Obliegenheit zur Erhebung der Verzögerungsrüge im Ausgangsverfahren § 198 Abs. 3 S. 1 GVG besagt, dass der Betroffene zur Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs aus § 198 Abs. 1 S. 1 GVG im Ausgangsverfahren die Dauer des Verfahrens beanstanden muss, indem er eine Verzögerungsrüge erhebt.219 Die wirksame Erhebung der Verzögerungsrüge ist nach der Gesetzesbegründung als Obliegenheit zu charakterisieren, weil die Rüge eine materielle Voraussetzung des Entschädigungsanspruchs aus § 198 Abs. 1 S. 1 GVG ist.220 Es handelt sich um eine haftungsbegründende Obliegenheit.221 Ohne wirksame Verzögerungsrüge, ist die Entschädigungsklage als unbegründet abzuwei217 BGH NJW 2011, 2130 Rn. 19 f.; Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 41. 218 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 43. 219 BGH NJW 2014, 2588 Rn. 14; Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 29. 220 S. o. § 2 D II 2; BT-Drs. 17/3802, S. 20 f.; BGH NJW 2014, 2588 Rn. 14; Zöller/Lückemann, § 198 GVG Rn. 9; aA Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 29. 221 BGH NJW 2014, 2588 Rn. 14; NJW 2014, 1967 Rn. 2; NJW 2014, 939 Rn. 27; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 6; Heine MDR 2014, 1008, 1009.
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
sen.222 Obliegenheiten ordnen keine sanktionierbare (Prozess-)Pflicht an, sie zu befolgen ist im eigenen Interesse, da der Betroffene durch die Rüge rechtliche Nachteile vermeiden kann.223 In der Literatur wird kritisiert, eine Rügeobliegenheit lasse sich nur schwer in die Dogmatik von Rechten und Pflichten der Prozessparteien einfügen.224 b) Doppelter Rügezweck aa) Präventiveffekt Die Verzögerungsrüge verfolgt zwei Ziele: Sie soll zum einen präventiv zur Umsetzung der Vorgaben des EGMR das Verfahren beschleunigen.225 Zugleich soll sie Missbrauch verhindern, indem sie ein Vorgehen des Betroffenen nach dem Grundsatz „Dulde und Liquidiere“ ausschließt.226 Im Ausgangsprozess soll die Verzögerungsrüge präventiv einer Verfahrensverzögerung vorbeugen, indem sie dem befassten Gericht als Warnung dient und damit zur Verfahrensförderung beiträgt.227 Die Rüge gibt dem Ausgangsgericht die Möglichkeit, das Verfahren freiwillig zu beschleunigen, will es die Feststellung der überlangen Verfahrensdauer im Entschädigungsverfahren vermeiden.228 Außerdem soll über die Rüge eine Kommunikation über die Verfahrensdauer zwischen Gericht und Parteien beginnen.229 Die Gesetzesbegründung spricht von der „präventiven Warnfunktion der Beschleunigungsrüge“.230 Schon im Gesetzgebungsverfahren wurde die Ausgestaltung der Verzögerungsrüge stark kritisiert.231 Der Deutsche Richterbund bezeichnete sie als „unseriösen Warnschuss“, deren Konstruktion die richterliche Unabhängigkeit in Gefahr bringen könne, da der Richter sich dem Druck einer zukünftigen entschädigungsrechtlichen Inanspruchnahme seines Dienstherrn ausgesetzt fühlen könnte.232 In der Literatur wird die fehlende tatsächliche Beschleunigungsfunktion der Rüge kritisiert.233
222
BGH NJW 2014, 2588 Rn. 14. Bd. I I, § 241 Rn. 15; Wieling, AcP 176 (1976), 334, 345 f. 224 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, § 198 GVG Rn. 171; Stein/Jonas/Brehm, ZPO, Bd. I , vor § 1 Rn. 209 ff. 225 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, § 198 GVG Rn. 172 ff. 226 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, § 198 GVG Rn. 172 ff. 227 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f.; Prütting/Gehrlein/Neff, ZPO, § 198 GVG Rn. 8. 228 BT-Drs. 17/3802, S. 21 f. 229 BT-Drs. 17/7217, S. 27 f. 230 BT-Drs. 17/3802, S. 21 f.; Stanecker, Rn. 111, 112 ff. 231 S. o. § 2 C II 1; § 2 C II 2; § 2 C II 3; § 2 D I 1. 232 Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Referentenentwurf für ein Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, Nr. 23/10, Mai 2010, S. 4. 233 MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 51. 223 MünchKommBGB/Ernst,
A. Die Anspruchsvoraussetzungen
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bb) Missbrauchsabwehr Die Verzögerungsrüge soll zudem der „Missbrauchsabwehr“ dienen.234 Der Verfahrensbeteiligte, der durch die überlange Verfahrensdauer Nachteile erleidet, muss diese gegenüber dem Prozessgericht rügen, bevor er ein Entschädigungsverfahren durchführen kann.235 Er soll die (spätere) Entschädigung nicht durch eine Position des „Dulde und Liquidiere“ missbrauchen können.236 Vielmehr trifft ihn nach dem „Grundsatz des Vorranges des Primärrechtsschutzes“237 die Pflicht, die Rüge zu erheben, will er die Entschädigung später geltend machen.238 In der Literatur wird beschrieben, dass der Verzögerungsrüge dadurch eine haftungsbegrenzende Funktion zukomme, da sie vom Entschädigungskläger fordere, das befasste Gericht mit der überlangen Verfahrensdauer zu konfrontieren, und der Kläger außerdem das Prozessrisiko trage, während das Gericht die Verzögerung von Amts wegen nicht einzugestehen habe.239 2. Rechtsnatur der Verzögerungsrüge a) Relevanz Die Rechtsnatur der Verzögerungsrüge ist für die vorliegende Untersuchung relevant, da die Wirksamkeitsvorgaben des EGMR sich danach richten, ob ein präventiver Rechtsschutz, ein Entschädigungsrechtsbehelf oder ein Kombinationsrechtsbehelf eingeführt wurde.240 Der Gesetzgeber könnte mit § 198 Abs. 1 S. 1 GVG einen reinen Entschädigungsrechtsbehelf eingeführt haben oder aber, wenn die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG eine beschleunigende Wirkung im Sinne der Rechtsprechung des EGMR hat, einen Kombinationsrechtbehelf. b) Kein Rechtsmittel mangels Devolutiv- und Suspensiveffekt der Verzögerungsrüge Rechtsmittel im Sinne der ZPO sind diejenigen Rechtsbehelfe, die es einer Partei ermöglichen, eine für sie ungünstige und noch nicht rechtskräftige Entscheidung durch ein übergeordnetes Gericht nachprüfen zu lassen.241 Rechtsmittel 234
BT-Drs. 17/3802, S. 20 f. BT-Drs. 17/3802, S. 20 f. 236 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f. 237 Axer, DVBl. 2001, 1322, 1323 f. 238 Althammer/Schäubel, NJW 2012, 1, 3; Althammer, JZ 2011, 446, 452. 239 Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 30. 240 EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 ff. 241 Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, Bd. V I, § 511 Rn. 1; MünchKommZPO/Rimmelspacher, Bd. I I, vor §§ 511 ff. Rn. 1; Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 511 Rn. 1; Rosenberg/Schwab/ Gottwald, ZivilprozessR, § 133 Rn.1. 235
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
haben einen Devolutiv– und einen Suspensiveffekt.242 Der Devolutiveffekt bringt den Rechtsstreit in die nächsthöhere Instanz, in der auch über das Rechtsmittel entschieden wird.243 Der Suspensiveffekt bezeichnet die Hemmung des Eintritts der formellen Rechtskraft (§ 705 S. 2 ZPO) durch Einlegung des Rechtsmittels.244 Die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG entfaltet weder Devolutiv- noch Suspensivwirkung. Durch Erhebung der Rüge kann keine höhere Instanz mit dem Ziel der Verfahrensförderung auf den laufenden Prozess einwirken.245 Die Verzögerungsrüge ist vielmehr nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG vor dem Ausgangsgericht zu erheben und nicht beim Rechtsmittelgericht. Dadurch soll vermieden werden, dass sich das Verfahren durch Vorlage bei einem höheren Gericht wegen der Eröffnung eines Nebenverfahrens mit Verbescheidungspflicht noch weiter verzögert.246 Hält das Ausgangsgericht die Rüge für begründet, hilft es dieser ab und vermeidet im eigenen Interesse die Feststellung der unangemessen langen Verfahrensdauer im Entschädigungsprozess.247 Die Rüge hat auch keine suspensive Wirkung: Vielmehr soll sie präventiv das Verfahren beschleunigen.248 b) Kein Rechtsbehelf mangels Beschwerdemöglichkeit und Entscheidungspflicht des Gerichts Rechtsbehelf ist der Oberbegriff für Rechtsmittel und diejenigen prozessualen Befugnisse, die ebenfalls eine Überprüfung justizieller und verfahrensrechtlicher Entscheidungen ermöglichen, wie der Einspruch nach §§ 338, 700 ZPO, der Widerspruch nach § 694 ZPO, die Wiederaufnahme des Verfahrens nach §§ 578 ff. ZPO und die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand nach §§ 233 ff. ZPO. 249 Die Verzögerungsrüge ist kein Rechtsbehelf.250 Hilft das Ausgangsgericht der Rüge nicht ab, ist dagegen keine Beschwerde vorgesehen.251 Dies ist eine bewusste Lücke, um zu vermeiden, dass die Gerichte durch
242 Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, Bd. V I, § 511 Rn. 3; MünchKommZPO/Rimmelspacher, Bd. I I, vor §§ 511 ff. Rn.1 f. 243 Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, Bd. V I, § 511 Rn. 1; MünchKommZPO/Rimmelspacher, Bd. I I, vor §§ 511 ff. Rn. 1; Baumbach/Lauterbach, ZPO, Grundz § 511 Rn. 1; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, ZivilprozessR, § 133 Rn. 8. 244 Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, Bd. V I, § 511 Rn. 1; MünchKommZPO/Rimmelspacher, Bd. I I, vor §§ 511 ff. Rn. 1; Baumbach/Lauterbach, ZPO, Grundz § 511 Rn. 1; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, ZivilprozessR, § 133 Rn. 4. 245 BT-Drs. 17/3802, S. 16 f. 246 BT-Drs. 17/3802, S. 16 f.; OLG Düsseldorf, NJW 2012, 1455, 1456; Steinbeiß-Winkelmann, ZPR 2010, 205, 208. 247 BT-Drs. 17/3802, S. 16 f. 248 BT-Drs. 17/3802, S. 16 f. 249 Schilken, ZivilprozessR, Rn. 862; Eichele/Hirtz/Oberheim/Ahrens, S. 7. 250 BT-Drs. 17/3802, S. 16 f. 251 BT-Drs. 17/3802, S. 16 f.
A. Die Anspruchsvoraussetzungen
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weitere Verfahren zusätzlich belastet werden.252 Zum anderen soll die gewählte Gesetzeskonstruktion das Prinzip des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG wahren.253 Es wäre mit Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG unvereinbar, wenn das im Instanzenzug höhere Gericht die Sachentscheidungskompetenz der Vorinstanz an sich zöge oder zur Verfahrensbeschleunigung Weisungen erteilte.254 Mit der Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG wurde explizit keine sog. Untätigkeitsbeschwerde eingeführt, wie noch im Gesetzesentwurf der Bundesregierung aus dem Jahr 2005 vorgesehen.255 Für das Ausgangsgericht besteht vielmehr überhaupt keine förmliche Pflicht, über die Rüge zu entscheiden, da diese kein eigenständiges Verfahren einleitet.256 c) Die Verzögerungsrüge als Prozesshandlung Auch der Gesetzgeber257 spricht der Rüge weder Rechtsmittel- noch Rechtsbehelfsqualität zu, sondern ordnet sie als Prozesshandlung ein.258 Im Gesetzgebungsverfahren wurde daher vorgeschlagen, besser von einer Verzögerungsmitteilung zu sprechen.259 aa) Der Begriff der Prozesshandlung Eine Prozesshandlung ist eine Handlung der Parteien untereinander und gegenüber dem Gericht, die ihre „Hauptwirkung im Prozessrecht“ hat, weil sie den Prozessablauf unmittelbar beeinflusst.260 In der Praxis ist auch der Begriff der Prozesshandlung des Gerichts üblich. Abgegrenzt davon werden dann Parteiprozesshandlungen 261 oder Prozesshandlungen der Parteien.262 Das Gesetz beschränkt den Begriff „Prozesshandlung“ von vornherein auf Handlungen der 252
BT-Drs. 17/3802, S. 16 f. BT-Drs. 17/3802, S. 16 f. 254 BVerfG, NJW 2005, 3488 ff.; NJW 2005, 2685 ff.; NJW 2005, 1105 ff. 255 S.o. § 2 B; Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 22.08.2005 (Entwurf eines Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Rechts auf ein zügiges gerichtliches Verfahren [Untätigkeitsbeschwerdegesetz]). 256 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f.; Leutheusser-Schnarrenberger, 20.01.2011 in: BT-Plenarprotokoll 17/84, S. 9539 B. 257 S. o. § 2 C II 3; § 2 D II. 258 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f.; Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 32; Althammer/Schäubel, NJW 2012, 1, 3; aA Kissel/Mayer, GVG, § 198 Rn. 16. 259 S. o. § 2 C II 3. 260 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZivilprozessR, § 63 Rn. 1 ff.; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, Bd. I II, vor § 128 Rn. 207 ff.; MünchKommZPO/Rauscher, Bd. I , Einl. Rn. 390; Zöller/Greger, ZPO, vor § 128 Rn. 14; Musielak/Voit/Voit, ZPO, Einl. Rn. 58 f.; Baumbach/ Lauterbach, ZPO, vor § 128 Rn. 47; Thomas/Putzo/Reichhold, ZPO, Einl. III, Rn. 1. 261 MünchKommZPO/Rauscher, Bd. I, Einl. Rn. 390; Musielak/Voit/Voit, ZPO, Einl. Rn. 59; Baumbach/Lauterbach, ZPO, vor § 128 Rn. 47. 262 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZivilprozessR, S. 395 ff.; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, Bd. I II, vor § 128 Rn. 217; Thomas/Putzo/Reichhold, ZPO, Einl. III Rn. 1. 253
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
Parteien (vgl. §§ 54, 67, 78 Abs. 3, 81, 83 Abs. 2 , 85 Abs. 1, 230, 231 Abs. 2 , 236 ff., 249 Abs. 2 ZPO). bb) Die Prozesshandlungsqualität der Verzögerungsrüge Die Verzögerungsrüge ist eine Prozesshandlung.263 Die Rüge hat einen Effekt auf das Verfahren, weil das Ausgangsgericht der gerügten Verzögerung abhelfen kann. Auch formell ist die Rüge als eine dem Gericht gegenüber abzugebende Erklärung eine Prozesshandlung.264 Sie ist zudem Tatbestandsvoraussetzung für den Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG und hat damit auch eine materiell-rechtliche Wirkung. Dies schließt die rechtssystematische Einordnung als Prozesshandlung nicht aus.265 Prozesshandlungen können zusammen mit materiellen Rechten ausgeübt werden.266 Bei der Prozessaufrechnung wird die materiell-rechtliche Aufrechnungserklärung nach § 388 S. 1 BGB zur Prozesshandlung.267 Der Prozessvergleich ist in § 794 ZPO nur für die Zwangsvollstreckung im Verfahrensrecht geregelt und über § 779 BGB noch enger mit dem materiellen Recht verbunden; er hat eine sog. Doppelnatur.268 Auch die Klage als klassische Prozesshandlung hat materiell-rechtliche Folgen, indem sie nach § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB die Verjährung hemmt und sich durch die Rechtshängigkeit die Haftung des Beklagten nach §§ 818 Abs. 4, 819, 989 BGB verschärft.269 cc) Wirksamkeitsvoraussetzungen der Verzögerungsrüge als Prozesshandlung Beurteilungsgrundlage für die Wirksamkeit von Prozesshandlungen ist das Verfahrensrecht, während das bürgerliche Recht grundsätzlich nicht anwendbar ist.270 Die Einordnung der Rüge als Prozesshandlung begründet die Anwendbarkeit der allgemeinen Normen der Zivilprozessordnung, da sich insbesondere die Verweisung in § 201 Abs. 2 GVG auf die Entschädigungsklage und
263 BT-Drs. 17/3802, S. 43 f.; Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 32; Heine, MDR 2012, 327, 330; Althammer/Schäubel, NJW 2012, 1, 3. 264 Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 32. 265 Stein/Jonas/Leipold, ZPO, Bd. I II, vor § 128 Rn. 207 ff., 321 ff.; Musielak/Voit/Voit, ZPO, Einl. Rn. 60; MünchKommZPO/Rauscher, Bd. I , Einl. Rn. 392 f. 266 Stein/Jonas/Leipold, ZPO, Bd. I II, vor § 128 Rn. 207 ff., 321 ff.; Musielak/Voit/Voit, ZPO, Einl. Rn. 60; MünchKommZPO/Rauscher, Bd. I , Einl. Rn. 392 f. 267 Musielak/Voit/Voit, ZPO, Einl. Rn. 60. 268 BGH, NJW 2005, 3576 ff.; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, § 794 Rn. 3; MünchKommZPO/ Wolfsteiner, Bd. I I, § 794 Rn. 12, 18; Musielak/Voit/Lackmann, ZPO, § 794 Rn. 3; Zöller/ Stöber, § 794 Rn. 3; Baumbach/Lauterbach, ZPO, Anh. § 307 Rn. 4. 269 MünchKommZPO/Rauscher, Bd. I , Einl. Rn. 392 f. 270 MünchKommZPO/Rauscher, Bd. I , Einl. Rn. 399, 411.
A. Die Anspruchsvoraussetzungen
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nicht auf die Verzögerungsrüge bezieht. Die Wirksamkeitsvoraussetzungen der Verzögerungsrüge sind erst im Entschädigungsprozess von Amts wegen zu prüfen.271 Da sie für eine erfolgreiche Entschädigungsklage aber bereits bei Erhebung der Rüge im Ausgangsprozess vorliegen müssen, erfolgt ihre Darstellung in diesem Kapitel. d) Zwischenergebnis Die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG ist kein formeller Rechtsbehelf, sondern zum einen im Ausgangsverfahren Prozesshandlung und zum anderen im Sinne einer Obliegenheit materiell-rechtliche Voraussetzung für den Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG.272 Das Ausgangsgericht nimmt die Rüge zur Kenntnis und gibt sie zu den Akten, erst das Entschädigungsgericht (§ 201 GVG) prüft im Rahmen der Begründetheit des Anspruchs, ob die Rüge rechtzeitig und wirksam erhoben wurde. 273 Effektiv präventiven Charakter im Sinne der Auslegung von Art. 13 EMRK durch den EGMR hat die Verzögerungsrüge nicht, da sie nicht beschleunigend auf das Verfahren wirkt, um die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMKR zu verhindern.274 3. Rügeerhebung beim Ausgangsgericht, § 198 Abs. 3 S. 1 GVG a) Rügeberechtigung, § 198 Abs. 3 S. 1 GVG Rügeberechtigt ist nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG jeder Verfahrensbeteiligte des Ausgangsverfahrens im Sinne des § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG.275 Die Rüge wirkt nach dem Wortlaut des § 198 Abs. 3 S. 1 GVG nur für den Verfahrensbeteiligten anspruchsbegründend, der sie erhoben hat.276 Der Entschädigungskläger kann sich also nicht auf die Rüge eines anderen Verfahrensbeteiligten des Ausgangsverfahrens berufen.277
271
Althammer/Schäubel, NJW 2012, 1, 3. Pickenpack, Untätigkeit der Gerichte, S. 238 ff. 273 BT-Drs. 17/3802, 16, 20. 274 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 99 (s. o. § 1 D II). 275 S. o. § 3 A I; BT-Drs. 17/3802, S. 23 f. 276 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 179. 277 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 179; Zimmermann, FamRZ 2011, 1905, 1908. 272
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
b) Rügezeitpunkt, § 198 Abs. 3 S. 2 GVG aa) Relevanz Der Zeitpunkt der Rüge ist für die hier zu überprüfenden Vorgaben aus Art. 13 iVm Art. 6 Abs. 1 EMRK relevant, da der EGMR die Effektivität eines Rechtsbehelfs bei überlanger Verfahrensdauer auch anhand der Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs überprüft.278 bb) Keine Rügefrist Schwierig ist die Bestimmung des richtigen Zeitpunktes für die Rügeerhebung. Zunächst ist die Regelung in § 198 Abs. 3 S. 2 GVG per definitionem keine Frist.279 § 198 Abs. 3 S. 2 GVG legt lediglich den Zeitpunkt fest, ab dem die Verzögerungsrüge frühestmöglich erhoben werden kann und stellt statt eines Datums auf den „Anlass zur Besorgnis“ ab. Weiter tritt, wenn die Rüge nach dem in § 198 Abs. 3 S. 2 GVG normierten Zeitpunkt eingelegt wird, keine mit § 230 ZPO vergleichbare Rechtsfolge ein. Vielmehr ist dies unerheblich, weil der „geduldige Verfahrensbeteiligte“ im Prozess keine Nachteile erleiden soll.280 Der BGH bezeichnet die Regelung in § 198 Abs.3 S. 2 BGB richtigerweise als „Mindestfrist“.281 bb) Frühester Rügezeitpunkt, § 198 Abs. 3 S. 2 GVG (1) „Anlass zur Besorgnis“, § 198 Abs. 3 S. 2 GVG Die Verzögerungsrüge ist nach § 198 Abs. 3 S. 2 GVG frühestens zu erheben, wenn „Anlass zur Besorgnis“ besteht, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird.282 Der so definierte Rügezeitpunkt ist auslegungsbedürftig. In der Literatur wird vorgeschlagen, sich hierfür an dem Begriff der „Besorgnis“ bei der Richterablehnung wegen Befangenheit nach § 42 Abs. 1 ZPO zu orientieren.283 Die Gesetzesbegründung erläutert die Begriffe nicht, legt aber fest, wann eine Rüge zu spät und wann zu früh erhoben ist. Beide Male argumentiert der Gesetzgeber mit dem Zweck der Rüge. Die Rüge ist einerseits mit Blick auf die Präventivfunktion verspätet, wenn die Verfahrensverzögerung nicht nur wahrscheinlich ist, sondern bereits feststeht, da dann die 278
Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 52 ff. Heine, MDR 2012, 327, 331; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, vor § 214 Rn. 7 f.; Zöller/ Stöber, ZPO, vor § 214 Rn. 2; Baumbach/Lauterbach, ZPO, Übers. § 214 Rn. 9; Stein/Jonas/ Roth, ZPO, Bd. I II, vor § 214 Rn. 22. 280 BT-Drs. 17/3802, 21, 41; BGH NJW 2014, 1967 Rn. 31. 281 BGH, NJW 2014, 2443 Rn. 15. 282 BGH, NJW 2014, 1967 Rn. 31; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 186. 283 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 186, 188 ff. 279
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gewünschte Warnfunktion der Rüge nicht mehr eintreten kann.284 Die Rüge soll also bereits vorher erfolgen. Andererseits ist eine Rüge im Wege einer pauschalen Einlegung zu Beginn des Prozesses verfrüht,285 sie soll nicht missbräuchlich angewendet werden.286 Missbräuchlich ist eine höchst vorsorglich, gleichzeitig mit der Klage eingelegte Verzögerungsrüge.287 Eine „Rügeflut“ soll so vermieden werden.288 Vielmehr muss die konkrete Möglichkeit der Verzögerung des Verfahrens bestehen.289 Maßgeblich ist, wann der Betroffene erstmals Anhaltspunkte dafür hat, dass das Ausgangsverfahren als solches keinen angemessen zügigen Fortgang nimmt.290 Bei dieser Entscheidung sind der bisherige und voraussichtliche Prozessverlauf zu würdigen.291 (a) Begriff der Besorgnis Die Besorgnis der überlangen Verfahrensdauer ist gegeben, wenn eine Verfahrensverzögerung konkret möglich ist.292 Nicht ausreichend ist die Besorgnis im Sinne einer bloß abstrakten Wahrscheinlichkeit der unangemessen langen Dauer des Verfahrens.293 Eine allgemeine Ansicht, eine bestimmte Art von Verfahrenshandlung oder -ablauf bringe üblicherweise Verfahrensverzögerungen mit sich, genügt nicht.294 Beispielsweise genügt alleine das schriftliche Vorverfahren, selbst wenn es relativ länger dauert, nicht, um die Besorgnis der unangemessenen Verfahrensdauer zu bejahen. Zum einen überlässt § 272 Abs. 2 ZPO den Gerichten die Wahl des Verfahrens, zum anderen führt das schriftliche Vorverfahren gerade bei umfangreichen Verfahren zügig zur Verfahrensbeendigung.295 (b) Begriff des Anlasses Der Anlass bedarf einer Verfahrenssituation – in Form eines konkreten Einzelfalls – die eine Überlänge des Prozess hinreichend wahrscheinlich macht.296 Dafür müssen tatsächliche, konkrete Anhaltspunkte vorliegen.297 So ein An-
284
BT-Drs. 17/3802, S. 20 f. BT-Drs. 17/3802, S. 20 f. 286 Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205, 207. 287 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f. 288 Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205, 207. 289 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f. 290 BGH NJW 2014, 2443; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 190. 291 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f.; Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 43. 292 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f. 293 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f. 294 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f. 295 Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 43. 296 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f. 297 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f.; Althammer/Schäuble NJW 2012, 1, 3. 285
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
haltspunkt ist beispielsweise ein Richterwechsel, der neue Termine erfordert.298 Weitere Beispiele sind schleppende gerichtliche Terminierung, Terminverlegung von Amts wegen, sukzessive Beweiserhebung in mehreren Terminen sowie Zulassung einer nicht sachdienlichen Klageänderung oder verspäteten Vorbringens entgegen § 296 ZPO.299 (2) Konkrete Betrachtungsweise Sowohl die Besorgnis als auch der Anlass müssen also konkret vorliegen und nicht nur generell-abstrakt. Beispiel für einen solchen konkreten Anlass zur Besorgnis ist die wiederholte Ablehnung eines Richters oder Sachverständigen wegen der Besorgnis der Befangenheit.300 Anlass zur Besorgnis besteht, wenn keine verfahrensfördernden Maßnahmen des Gerichts über einen Zeitraum von mehr als drei301 bzw. sechs302 Monaten erfolgen. Dagegen genügen in der Regel nicht: Reaktionen der Gegenseite, soweit sie prozessual zulässig sind, wie das Bestreiten, die Gegenäußerung und sämtliche Einwendungen und Einreden sowie die Säumnis.303 cc) Die verfrühte Rüge Eine verfrühte Rüge kann den Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG nicht begründen, sondern geht nach der Gesetzesbegründung „ins Leere“.304 Dies ergibt sich aus § 198 Abs. 4 S. 3 GVG. In der Literatur wird dies dahingehend konkretisiert, dass die verfrüht erhobene Rüge hinsichtlich ihrer materiell-rechtlichen Rechtsfolgen für den Entschädigungsanspruch ins Leere geht.305 Der Anspruch kann nicht entstehen, da sein Tatbestand nicht erfüllt ist.306 Eine trotzdem erhobene Entschädigungsklage wäre als unbegründet zurückzuweisen.307 Materiell-rechtlich haben die verfrühte und die fehlende Rüge die gleichen Rechtsfolgen, da sie den Entschädigungsanspruch nicht entstehen lassen.308 Will der Betroffene trotz verfrühter Rüge einen Entschädigungsan-
298
BT-Drs. 17/3802, S. 21. BT-Drs. 17/3802, S. 21; Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 43. 300 Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 43. 301 Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 43. 302 Löbbert, Stellungnahme zum Regierungsentwurf BT-Drs. 17/3802 im Rechtsausschuss am 23.11.2011, S. 4. 303 Baumbach/Lauterbach, ZPO, § 198 GVG Rn. 43. 304 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f.; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 3; Schenke, NVwZ 2012, 257, 260; Guckelberger, DÖV 2012, 289, 294. 305 Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 3. 306 Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 3. 307 BGH NJW 2014, 2588 Rn. 14. 308 BT-Drs. 17/3802, 20, 22; Heine, MDR 2012, 327, 331; Schenke, NVwZ 2012, 257, 260. 299
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spruch geltend machen, muss er die Rüge erneut erheben.309 Die wiederholte Erhebung ist allerdings frühestens nach sechs Monaten möglich, § 198 Abs. 3 S. 2 GVG.310 dd) Spätester Rügezeitpunkt, § 198 Abs. 3 S. 2 , HS. 1 GVG (1) Keine gesetzliche Regelung In § 198 Abs. 3 GVG fehlt eine Regelung, bis wann die Verzögerungsrüge spätestens zu erheben ist, da die Rüge – wie oben dargestellt – nicht fristgebunden ist. Im Gesetzgebungsverfahren bat der Bundesrat daher klarzustellen, welche Folgen die verspätete Rüge habe.311 Die Gesetzesbegründung führte aus, dass eine Folge fehle, weil die Geduld des Betroffenen nicht bestraft werden solle.312 Die Rüge büßt aber ihre Präventivfunktion ein, wenn sie erst erhoben wird, nachdem sich die Besorgnis der Überlänge des Verfahrens zur Gewissheit verdichtet, da dann eine Warnung des Gerichts durch die Rüge nicht mehr möglich ist.313 Wenn das Verhalten des Betroffenen schließlich einem „Dulde und Liquidiere“ gleichkommt, ist die Rüge nach der Gesetzesbegründung „verspätet“.314 Die fehlende gesetzliche Regelung ist konsequent, da es sich bei dem gesetzlich festgelegten Rügezeitpunkt nicht um eine Frist handelt. (2) Keine Rechtsfolge bei verspäteter Rüge Es ist grundsätzlich unschädlich, wenn die Verzögerungsrüge nach dem in § 198 Abs. 3 S. 2 GVG bestimmten Zeitpunkt eingelegt wird.315 Dadurch soll das gesetzgeberische Ziel, keinen Anreiz für verfrühte Rüge zu schaffen, verwirklicht werden.316 Die verspätete Rüge hat daher keine Folgen für das Entstehen des Entschädigungsanspruchs oder die Bemessung der Entschädigung.317 Dies gilt auch, wenn die Rüge erst im laufenden Anhörungsrügeverfahren nach § 321a ZPO erhoben wird.318 Das Entschädigungsgericht kann die Rüge, die bei Würdigung der Gesamtumstände eher einem „Dulde und Liquidiere“ 309
Schenke, NVwZ 2012, 257, 260. ÜGRG, § 198 GVG Rn. 199. 311 S. o. § 2 D III 1 d. 312 S. o. § 2 D III 1 d, § 2 D III 2; BT-Drs. 17/3802, S. 20 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/ Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 194; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 3; Guckelberger, DÖV 2012, 289, 294; Schenke, NVwZ 2012, 257, 262; a. A. Zimmermann, FamRZ 2011, 1905, 1908; Zuck, NVwZ 2012, 265, 269. 313 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f. 314 BT-Drs. 17/3802, S. 21 f. 315 BGH NJW 2014, 2443 Rn. 16; NJW 2014, 1967 Rn. 31; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/ Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 194. 316 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 194. 317 BT-Drs. 17/3802, S. 21, 33, 41; BGH NJW 2014, 1967 Rn. 31. 318 BGH NJW 2014, 2443 Rn. 16. 310 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott,
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Kapitel 3: Die Anspruchsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs
gleichkommt, aber bei der Beurteilung der Verfahrensdauer nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG unter dem Aspekt des „Verhaltens der Beteiligten“ im Sinne von § 198 Abs. 1 S. 2 GVG berücksichtigen.319 Zudem steht es im Ermessen des Entschädigungsgerichts, nach § 198 Abs. 4 S. 2 GVG die verspätet erhobene Rüge auf Rechtsfolgenseite zu berücksichtigen und eine Wiedergutmachung durch Feststellung der überlangen Verfahrensdauer ausreichen zu lassen.320 ee) Der richtige Rügezeitpunkt Die Bestimmung eines in diesem Sinne richtigen Rügezeitpunkts ist schwierig. Der Zeitpunkt ist mit Blick auf das Entschädigungsverfahren für den Betroffenen zweifach relevant, da bei verfrühter Rüge der Anspruch nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG gar nicht entsteht und zudem die Entschädigungsklage nach § 198 Abs. 5 S. 1 GVG frühestens sechs Monate nach der Verzögerungsrüge erhoben werden kann. So kann der Betroffene im vorausgegangenen Verfahren eingetretene Verzögerungen nicht mehr geltend machen, wenn er die Verzögerungsrüge erstmals im Anhörungsrügeverfahren nach § 321a ZPO erhebt.321 Zusammenfassend gilt, dass die Rüge einerseits nicht prophylaktisch am Anfang des Prozesses erhoben werden darf, sodass sie als absichtlich verfrüht erscheint, und auch nicht so spät, dass das Verhalten des Betroffenen vom Gericht als missbräuchliches „Dulde und Liquidiere“ beurteilt werden könnte. c) Sperrfrist gegen Kettenrügen, § 198 Abs. 3 S. 2 GVG Eine erneute Rüge ist frühestens sechs Monate nach Erhebung der (ersten) Verzögerungsrüge möglich, § 198 Abs. 3 S. 2 GVG.322 Die Regelung soll vor sog. Kettenrügen in kurzen Abständen schützen und gleichzeitig den Rügeverpflichteten entlasten.323 Die Sperrfrist gilt unabhängig davon, ob der Betroffene die erste Rüge verfrüht, verspätet oder im richtigen Zeitpunkt erhoben hat.324 Eine Verkürzung dieser Frist ist in Ausnahmefällen zulässig, beispielsweise bei einem Richterwechsel.325 d) Wiederholung der Rüge, § 198 Abs. 3 S. 5 GVG § 198 Abs. 3 S. 5 GVG verpflichtet den Betroffenen, die Verzögerungsrüge zu wiederholen, wenn sich das Verfahren bei einem anderen Gericht weiter verzö319
BT-Drs. 17/3802, S. 21 f. BT-Drs. 17/3802, S. 21 f. 321 BGH NJW 2014, 2443 Rn. 16. 322 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 199 f. 323 BT-Drs. 17/3802, S. 21 f. 324 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 200; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 3. 325 BT-Drs. 17/3802, S. 21 f. 320
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gert.326 Grund für die Regelung ist die Warnfunktion der Rüge, die auch vor dem neu zuständigen Gericht zu erfüllen ist.327 § 198 Abs. 3 S. 5 GVG gilt für ein höheres Gericht im Instanzenzug oder einen anderen Spruchkörper nach Zurückverweisung.328 Innerhalb einer Instanz muss die Rüge aber grundsätzlich nur einmal erhoben werden, auch wenn erneute Verzögerungen eintreten.329 e) Inhalt der Rügeschrift, § 198 Abs. 3 S. 1, S. 3 GVG Die inhaltlichen Anforderungen an die Rüge sind gering.330 Die Rüge muss grundsätzlich nicht begründet werden, sondern lediglich zum Ausdruck bringen, dass der Betroffene mit der Verfahrensdauer nicht einverstanden ist.331 Da den Betroffenen im Entschädigungsklageverfahren die Beweislast für die wirksame Rügeerhebung trifft, ist es ratsam, die Umstände anzuführen, die den Anlass zur Besorgnis rechtfertigen, um die Gründe für die Erhebung der Verzögerungsrüge zu dokumentieren.332 Eine Ausnahme normiert § 198 Abs. 3 S. 3 GVG:333 Der Betroffene muss das Gericht auf diesem bisher unbekannte, für die Verfahrensdauer wichtige Umstände hinweisen, da die Rüge ansonsten ihre Warnfunktion nicht erfüllen kann.334 Umstände, die mit Erhebung der Rüge nicht in das Verfahren eingeführt werden, bleiben nach § 198 Abs. 3 S. 4 GVG für das Entschädigungsverfahren außer Betracht. § 198 Abs. 3 S. 4 GVG ist eine zwingende Präklusionsvorschrift.335 Beispiele für wichtige Umstände sind Nachteile durch die Verfahrensdauer, wie drohende Insolvenz oder drohender Wohnungsverlust.336 4. Eigene Bewertung der Verzögerungsrüge Die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG wirft eine Reihe von zivilprozessualen Folgeproblemen auf, ohne dabei die präventiven Wirksamkeitsvorgaben des EGMR aus Art. 13 EMRK erfüllen zu können. Die Erhebung der Verzöge326 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott,
ÜGRG, § 198 GVG Rn. 204 ff. BT-Drs. 17/7217, S. 21 f. 328 BT-Drs. 17/7217, S. 21 f. 329 BT-Drs. 17/7217, S. 21 f. 330 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 208 ff. 331 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 6; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 208; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 3. 332 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 208 f.; Heine, MDR 2012, 327, 331. 333 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 6. 334 BT-Drs. 17/7217, S. 21 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 210. 335 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 212. 336 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 210. 327
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rungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG ist nur als Obliegenheit eine der Voraussetzungen für den Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll von der Verzögerungsrüge aber auch ein präventiv wirkender, das Verfahren beschleunigender Rechtsschutz ausgehen. Die Rüge weist insoweit ein (einziges) präventives Element auf, als sie während des Ausgangsverfahrens zu erheben ist. Im Unterschied zu klassischen präventiven Rechtsbehelfen (mit Devolutiveffekt) wird die Verzögerungsrüge aber nicht bei einer höheren Instanz, sondern beim Ausgangsgericht selbst erhoben. Eine Verbescheidung der Rüge erfolgt nicht, das Ausgangsgericht hat sie lediglich zu den Akten zu nehmen, damit das Entschädigungsgericht ihr Vorliegen als Tatbestandsvoraussetzung des § 198 Abs. 1 GVG prüfen kann. Eine Kommunikation zwischen Ausgangsgericht und Verfahrensbeteiligten ist nicht vorgesehen. Das Ausgangsgericht muss den Verfahrensablauf nicht begründen. Die präventive Wirkung soll sich dadurch entfalten, dass die Rüge dem zuständigen Richter die überlange Verfahrensdauer vor Augen führt und ihn motiviert, das Verfahren zu beschleunigen. Dass die Rüge diese Wirkung in der Praxis hat, wird in der Literatur stark angezweifelt.337 Die Verzögerungsrüge ist nach zivilprozessualem Verständnis weder ein Rechtsmittel noch ein Rechtsbehelf, sondern eine Prozesshandlung in Form einer „Verzögerungsmitteilung“ ohne präventiven Charakter.
B. Zusammenfassung Der Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 GVG besteht, wenn die Dauer des Gerichtsverfahrens im Sinne von § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG338 unangemessen war. Die Verfahrensdauer ist unangemessen, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 S. 2 GVG339 ausgerichtete und den Gestaltungsspielraum der Gerichte bei der Verfahrensführung340 beachtende Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamer Umstände des Einzelfalls ergibt, dass die aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Verpflichtung des Staates verletzt ist, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen.341 Diese Bestimmung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer in § 198 Abs. 1 S. 1 GVG entspricht in weiten Teilen der Rechtsprechung des EGMR zur Bestimmung der überlangen Verfahrensdauer wegen 337 Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 3 f.; Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2010, 205 ff.; Ossenbühl, DVBl. 2012, 857, 859 f.; Guckelberger, DÖV 2012, 289, 289 f.; Gaier/Freudenberg, ZRP 2013, 27, 28. 338 S. o. § 3 A II. 339 S. o. § 3 A III 3 a; BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939. 340 S. o. § 3 A III 3 b; BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939. 341 S. o. § 3 A III 1; BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 40 mwN.
B. Zusammenfassung
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Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Bezugnahmen auf die Rechtsprechung des EGMR sind zur Unterstützung der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe sinnvoll und werden vom BGH auch vorgenommen. Der Betroffene muss weiter einen materiellen oder immateriellen Nachteil erlitten haben, wobei ein immaterieller Nachteil infolge der unangemessenen Dauer nach § 198 Abs. 2 S. 1 GVG vom Gesetz vermutet wird.342 Die Vermutung des § 198 Abs. 2 S. 1 GVG ist widerlegt, wenn das Entschädigungsgericht unter Berücksichtigung der vom Kläger gegebenenfalls geltend gemachten Beeinträchtigungen nach einer Gesamtbewertung der Folgen die Überzeugung gewonnen hat, dass die unangemessene Verfahrensdauer nicht zu einem immateriellen Nachteil geführt hat.343 Die in § 198 Abs. 3 GVG normiert Verzögerungsrüge ist lediglich eine verfahrensrechtliche Prozesshandlung und eine materiell-rechtliche Obliegenheit für die Entstehung des Entschädigungsanspruchs.344 Präventive Elemente im Sinne von Art. 13 EMRK enthält die Verzögerungsrüge nicht.345
342
S. o. § 3 A IV. § 3 A IV 3 b; BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 41. 344 S. o. § 3 A V; BGH NJW 2014, 2588 Rn. 14. 345 S.o. § 3 A V 4. 343 S. o.
4. Kapitel
Die Rechtsfolgen und die Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs – Staatshaftungsrechtliche Einordnung der §§ 198 ff. GVG – Verhältnis zu anderen Rechtsbehelfen A. Rechtsfolge des Entschädigungsanspruchs nach § 198 Abs. 1 GVG: „Angemessene“ Entschädigung I. Angemessene Entschädigung für materielle Nachteile 1. Relevanz Für die vorliegende Untersuchung zur wirksamen Umsetzung der Effektivitätsvorgaben des EGMR aus Art. 13 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK ist die Höhe der Entschädigung in der Rechtsprechungspraxis zu §§ 198 ff. GVG von höchster Relevanz, da der EGMR die Effektivität von sog. Kompensationsrechtsbehelfen nur bejaht, wenn diese eine im Sinne seiner Rechtsprechung „angemessene Entschädigung“ gewähren.1 2. Höhe der Entschädigung Die Entschädigung für materielle Nachteile bemisst sich nicht nach den §§ 249 ff. BGB.2 § 198 Abs. 1 S. 1 GVG gewährt nach seinem Wortlaut keinen vollen Schadensersatz, sondern eine „angemessene Entschädigung“.3 Es kann – wie vom Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren vorgeschlagen – lediglich eine Ausgleichszahlung in Anlehnung an die sich aus § 906 Abs. 2 S. 2 BGB
1 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 101 (s.o. § 1 D II); Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265; Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 63; Frowein in: FS Partsch, S. 317 ff. 2 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 5; Heine, MDR 2013, 1147, 1148; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 221; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 3; Schenke, NVwZ 2012, 257, 262; aA Zimmermann, FamRZ 2011, 1905, 1907. 3 Heine, MDR 2013, 1147, 1148.
A. Rechtsfolge des Entschädigungsanspruchs nach § 198 Abs. 1 GVG
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ergebenden Grundsätze geltend gemacht werden.4 Der Rückgriff auf das Rechtsfolgensystem der §§ 249 ff. BGB war im Regierungsentwurf noch vorgesehen.5 Nach der Abschlussempfehlung des Bundesrates und der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses wurde die Restriktion „angemessen“ in § 198 Abs. 1 S. 1 GVG aufgenommen, um deutlich zu machen, dass eine „angemessene Entschädigung“ nicht vollen Schadensersatz nach §§ 249 ff. BGB bedeutet.6 Weiter sollte den Vorgaben des EGMR an eine „restitutio in integrum“ dadurch entsprochen werden, dass nur ein Substanzverlust, aber kein voller Schadensersatz zu gewähren ist.7 Nach dem EMRK-Grundsatz der „restitutio in integrum“ ist für materielle Nachteile eine „gerechte Entschädigung“ zu zahlen, wenn für einen Konventionsverstoß Naturalrestitution geleistet werden kann – was bei überlanger Verfahrensdauer regelmäßig zu bejahen ist.8 Der Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG umfasst den durch die überlange Verfahrensdauer verursachten Vermögensnachteil, für den nicht stets voller Ersatz zu leisten ist, sondern mit Hilfe einer Billigkeitserwägung ein angemessener Ausgleich zu gewähren ist.9 Die Festsetzung der Höhe „angemessener“ Entschädigungen bei überlanger Verfahrensdauer obliegt der künftigen Rechtsprechung. 2. Ersatzfähigkeit des entgangenen Gewinns? Durch die Beschränkung auf eine „angemessene Entschädigung“, entsprechend der Formulierung in § 906 Abs. 2 S. 2 BGB, ist der Ersatz des entgangenen Gewinns nach § 253 BGB, beispielsweise durch Zinsverluste, ausgeschlossen.10 Der Regierungsentwurf sah den Ersatz des entgangenen Gewinns noch ausdrücklich vor.11 Durch die Beschränkung auf eine „angemessene“ Entschädigung ist im Gesetzgebungsverfahren von dem ursprünglichen Vorhaben abgewichen und die Ersatzfähigkeit des entgangen Gewinns ausdrücklich aus-
4 S. o. § 2 D III 1 a; BT-Drs. 17/3802,S. 34 f.; OLG Braunschweig, Urt. v. 08.02.2013 – 4 SchH 1/12 Rn. 193, juris; Heine, MDR 2013, 1147, 1148. 5 BT-Drs. 17/3802, S. 19 f. 6 BT-Drs. 17/7217, S. 28 f. 7 S. o. § 2 D III 1 a; § 2 D III 2 a; § 2 D IV 2 b; § 2 D V; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 220; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 3; aA Magnus, ZZP 125 (2012), 75, 85; Ossenbühl, DVBl. 2012, 857, 858. 8 EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 477 ff.; Karpenstein/Mayer/Wenzel, EMRK, Art. 41 Rn. 5; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 41 Rn. 13; Althammer, JZ 2011, 446, 450; ders./Schäubel, NJW 2012, 1, 4. 9 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 2 22. 10 BT-Drs. 17/7217, S. 28 f.; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 4; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 147; Stanecker, Entschädigung bei überlanger Verfahrensdauer, Rn. 135 ff., 137; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 3. 11 BT-Drs. 17/3802, S. 19 f.
94 Kapitel 4: Die Rechtsfolgen und die Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs geschlossen worden.12 Eine Entschädigung nach § 198 Abs. 1 GVG beinhaltet nicht, so gestellt zu werden, als hätte der Eingriff nicht stattgefunden.13 Die Ersatzfähigkeit des entgangenen Gewinns ist trotz dieser, aus der Entstehungsgeschichte der §§ 198 ff. GVG ableitbaren Zielsetzung des Gesetzgebers, sehr strittig. In der Literatur behaupten einige, die Entschädigung nach § 198 Abs. 1 GVG gehe nicht mit der EMRK konform, weil der entgangene Gewinn nicht ersetzt werde.14 Das LSG Sachsen-Anhalt entschied, auch der entgangene Gewinn sei ersatzfähig, da der Wortlaut der §§ 198 ff. GVG keinen Rückschluss darauf zulasse, dass der Gesetzgeber eine von der Rechtsprechung des EGMR abweichende Regelung habe schaffen wollen.15
II. Angemessene Entschädigung für immaterielle Nachteile 1. Wiedergutmachung auf andere Weise nach § 198 Abs. 2 , Abs. 4 GVG § 198 Abs. 2 S. 2 und Abs. 4 S. 1 GVG modifizieren den Entschädigungstatbestand nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG und bestimmen, dass eine Entschädigung immaterieller Nachteile – die bei einer unangemessenen Verfahrensdauer vermutet werden – nur möglich ist, soweit im Einzelfall eine Wiedergutmachung auf andere Weise nicht ausreichend ist.16 Als Möglichkeit der Wiedergutmachung auf andere Weise sieht § 198 Abs. 4 GVG insbesondere die Feststellung der Überlänge der Verfahrensdauer im Urteilstenor vor.17 Der Gesetzgeber hat es im Übrigen der Rechtsprechung überlassen, weitere Formen der Wiedergutmachung zu entwickeln. Ausdrücklich abgelehnt wurde – wegen seiner unerwünschten Prangerwirkung – die im Referentenentwurf enthaltene Möglichkeit, die verzögerten Verfahren unter Nennung des Ausgangsgerichts im Bundesanzeiger zu veröffentlichen.18 Eine Form der Wiedergutmachung auf andere Weise kann auch die Kostenfreistellung des Klägers im Entschädigungsrechtsstreit sein.19 Aus der Regelung in § 198 Abs. 2 S. 2 GVG wird nach Ansicht des BGH deutlich, dass die Geldentschädigung immaterieller Nachteile kein Automatismus sein soll.20 Ein Anspruch auf Geldentschädigung immate12
BT-Drs. 17/3802, S. 19 f.; BT-Drs. 17/7217, S. 1, 3 f., 28. § 2 C I, § 2 C III 1 a), § 2 C III 2 a), § 2 C V; BT-Drs. 17/7217, 1, 3, 27 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 223 ff.; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 3. 14 Zimmermann, FamRZ 2011, 1905, 1907; Guckelberger, DÖV 2012, 289, 296. 15 LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 29.11.2012 – L 10 SF 5/12 Rn. 239, juris. 16 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 60 f.; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 5; Heine, MDR 2014, 1008, 1012. 17 BT-Drs. 17/3802, 19, 21. 18 S. o. § 2 C I; § 2 C II 1; § 2 C II 2; § 2 C II 3; § 2 D I 2. 19 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 5. 20 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 61; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Einl. Rn. 257. 13 S. o.
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rieller Nachteile setze vielmehr voraus, dass die Ausschlussregelung nach § 198 Abs. 2 S. 2 GVG nicht eingreife.21 Folglich stellt § 198 Abs. 2 S. 2 GVG ein „negatives Tatbestandsmerkmal“ für einen Entschädigungsanspruch für immaterielle Nachteile auf.22 Die Frage, ob für die Entschädigung immaterieller Nachteile eine Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist, kann nicht pauschal beantwortet werden, sondern nur unter Abwägung aller Belange im Einzelfall.23 Ausreichend kann die Feststellung der Überlänge in Verfahren sein, die für den Entschädigungskläger keine besondere Bedeutung hatten oder in denen er durch sein Verhalten erheblich zur Verzögerung beigetragen hat oder die Überlänge des Verfahrens den einzigen Nachteil darstellt.24 Beispielsweise kann ein verzögertes Verfahren für den Entschädigungskläger objektiv keine besondere Bedeutung haben, wenn sein Klagevorbringen erkennbar unbegründet war.25 2. Höhe der Entschädigung immaterieller Nachteile, § 198 Abs. 2 S. 3, 4 GVG Ist eine Wiedergutmachung auf andere Weise nicht ausreichend, beträgt die Entschädigung für immaterielle Nachteile nach § 198 Abs. 2 S. 3 GVG grundsätzlich pro Jahr der Verzögerung pauschal € 1200,– .26 Die ursprünglich vorgesehene Entschädigung pro Monat war im Gesetzgebungsverfahren kritisiert worden.27 Als kleinste Einheit der zeitanteiligen Berechnung bleibt es aber bei einer Entschädigung in Höhe von € 100,– für einen Monat Verzögerung.28 Der BGH hat entschieden, dass mit der Pauschalierung unter Verzicht auf einen einzelfallbezogenen Nachweis Streitigkeiten über die Höhe der Entschädigung immaterieller Nachteile vermieden werden sollen und dies einer zügigen Erledigung der Entschädigungsansprüche im Interesse der Betroffenen dienen soll.29 Die Regelung in § 198 Abs. 2 S. 4 GVG, wonach im Einzelfall aus Billigkeitsgründen eine höhere oder niedrigere Entschädigung gewährt werden kann, soll nur bei Vorliegen besonderer Umstände Anwendung finden.30 Ein Beispiel für 21
BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 61. 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 61; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 65 f., 159, 262; Heine, MDR 2014, 1008, 1012. 23 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 62; BT-Drs. 17/3802, S. 20 f. 24 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 62; BT-Drs. 17/3802, S. 20 f. 25 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 63; BFH, DStR 2013, 1027 Rn. 6 4; Heine, MDR 2014, 1008, 1012. 26 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 5; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 223 ff.; Heine, MDR 2014, 1008, 1012. 27 S. o. § 2 C I; § 2 C II 1; § 2 C II 2; § 2 D I 1; § 2 D IV 1 b. 28 BT-Drs. 17/3802, S. 19 f.; MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. III, § 198 GVG Rn. 48; Heine, MDR 2014, 1008, 1012. 29 BGH, Urt. v. 13.03.2014 – III ZR 91/13 Rn. 50, juris; Heine, MDR 2014, 1008, 1012. 30 BGH, Urt. v. 13.03.2014 – III ZR 91/13 Rn. 50, juris; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/ Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 227; Heine, MDR 2014, 1008, 1012. 22 BGHZ
96 Kapitel 4: Die Rechtsfolgen und die Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs eine solche Billigkeitsentscheidung ist das Urteil des OLG Braunschweig: der Entschädigungskläger war hier Beteiligter in einer Vielzahl gegen ihn gerichteter, sukzessiv erhobener Schadensersatzklagen aus demselben Komplex, weshalb das Gericht es als unbillig ansah, ihm für die verzögerte Bearbeitung jedes einzelnen Verfahrens den Regelentschädigungsbetrag zuzusprechen.31 Die Regelentschädigung solle nur bei dem ersten Ausgangsverfahren angesetzt werden können und bei den später anhängigen Verfahren jeweils degressiv abnehmen. Jedenfalls bei dem 387ten Verfahren solle kein weiterer entschädigungsfähiger immaterieller Nachteil mehr vorliegen.32 Hintergedanke der Entscheidung ist, dass auch bei schwersten Verfahrensverzögerungen die Entschädigung nach § 198 GVG jedenfalls keine sechsstellige Summe erreichen soll, was allerdings der Fall wäre, wenn in den 2.441 Verfahren, in denen der Kläger Entschädigung beansprucht, die Regelentschädigung mit einem Jahresentschädigungsbetrag von insgesamt € 2.929.200,– zuzusprechen wäre.33 Geldentschädigungen für immaterielle Nachteile ergingen gemäß der gesetzlichen Pauschale nach § 198 Abs. 2 S. 3 GVG einmal in Höhe von € 4300,–34 , zweimal in Höhe von € 3600,–35 sowie in Höhe von € 3200,–36 und € 900,– (hier mit Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer nach § 198 Abs. 4 S. 3 GVG).37 In einer Kindschaftssache gewährte das Gericht wegen der besonderen Belastung eine höhere als die pauschale Entschädigung (€ 1500,– für acht Monate Verzögerung).38 Zweimal wurde nur die unangemessene Verfahrensdauer nach § 198 Abs. 4 S. 1 GVG festgestellt ohne eine Geldentschädigung zuzusprechen.39
B. Darlegungs- und Beweislast Bei Überprüfung der Effektivität von Kompensationsrechtsbehelfen nach Art. 13 EMRK, prüft der EGMR auch, wer den Schadensnachweis zu erbringen hat und welche Anforderungen an diesen Nachweis zu stellen sind.40 Im 31 OLG Braunschweig, Urt. v. 11.04.2014 – 6 SchH 1/13 Rn. 49, juris; Heine, MDR 2014, 1008, 1012. 32 OLG Braunschweig, Urt. v. 11.04.2014 – 6 SchH 1/13 Rn. 50, juris; Heine, MDR 2014, 1008, 1012. 33 OLG Braunschweig, Urt. v. 11.04.2014 – 6 SchH 1/13 Rn. 51, juris; Heine, MDR 2014, 1008, 1012. 34 OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2013 – 4 EntV 18/12, BeckRS 2013, 11362. 35 OLG Celle, Urt. v. 07.11.2012 – 23 SchH 2/12, juris; OLG Naumburg, Urt. v. 30.05.2013 – 1 ESV 4/12, BeckRS 2013, 10542. 36 OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2013 – 23 SchH 4/12 EntV., juris. 37 OLG Frankfurt, Urt. v. 10.07.2013 – 4 EntV 3/13, BeckRS 2013, 14556. 38 OLG Braunschweig NJOZ 2013, 1386, 1394. 39 KG, Urt. v. 11.12.2012 – 7 SchH 5/12 EntV, BeckRS 2013, 03803; OLG Schleswig, Urt. v. 08.04.2013 – 18 SchH 3/13, BeckRS 2013, 09055. 40 EGMR, Urt. v. 11.09.02, 57220/00 – Mifsud/Frankreich.
B. Darlegungs- und Beweislast
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Entschädigungsprozess nach §§ 198 ff. GVG gilt der Beibringungsgrundsatz, da § 201 Abs. 2 S. 1 GVG die Vorschriften der ZPO über das erstinstanzliche Verfahren vor den Landgerichten für entsprechend anwendbar erklärt.41 Der Kläger muss konkrete Tatsachen, welche die überlange Dauer des Ausgangsverfahrens begründen oder aus denen sich die unangemessene Verfahrensdauer ableiten lässt, vortragen und gegebenenfalls (im Falle des Bestreitens) auch beweisen.42 Insbesondere genügt es nicht, wenn der Kläger im Entschädigungsprozess bloß Beginn und Ende des Ausgangsverfahrens wiedergibt oder lediglich auf die Akten des Ausgangsverfahrens Bezug nimmt.43 Vielmehr muss der Entschädigungskläger konkrete gerichtliche Maßnahmen oder Unterlassungen benennen, die aus seiner Sicht vermeidbare Verzögerungen des Rechtsstreits zur Folge hatten.44 Dies setzt einen aus sich heraus verständlichen Sachvortrag voraus, der eine überlange Verfahrensdauer zumindest möglich erscheinen lässt. Die Feststellung der Überlänge muss ohne Beiziehung der Verfahrensakte möglich sein.45 Eine bloße Gegenüberstellung der aus statistischen Erhebungen ersichtlichen Durchschnittsverfahrensdauer mit der streitgegenständlichen Dauer genügt hierfür nicht.46 Der Entschädigungskläger hat daneben darzulegen und zu beweisen, dass das Verfahren keine die Verfahrensdauer rechtfertigenden rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten aufwies, gegebenenfalls dass das Verfahren für ihn von besondere Bedeutung war und schließlich, dass sein Verhalten (oder das Verhalten ihm zurechenbarer Dritter) nicht zur Verzögerung geführt oder zu dieser beigetragen hat, vgl. § 198 Abs. 1 GVG.47 Den in Anspruch genommen Rechtsträger trifft (lediglich) eine sekundäre Darlegungslast über Umstände aus dem Bereich der Justiz, da der an sich darlegungspflichtige Kläger hier außerhalb des Geschehensablaufs steht und keine eigene Kenntnis über die maßgeblichen Umstände besitzt.48 Beispiele sind justizinterne Vorgänge wie Erkrankungen, Richterwechsel oder Auflösung eines Spruchkörpers.49 Der durch die Verfahrensdauer geschädigte Kläger trägt weiter die 41 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 25; NJW 2014, 220 Rn. 41; Thomas/Putzo/ Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 10; Heine, MDR 2013, 1147, 1149; MDR 2014, 1008, 1012. 42 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 25; NJW 2014, 220 Rn. 41; OLG Hamm, Urt. v. 26.09.2012 – I-11 SchH 6/12 Rn. 8, juris; Heine, MDR 2013, 1147, 1149. 43 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 25; Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12 Rn. 41, juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 13.09.2012 – 4 EntV 7/12 Rn. 7, juris; Heine, MDR 2014, 1008, 1012. 44 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 25; Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12 Rn. 41, juris; Heine, MDR 2014, 1008, 1012. 45 OLG Frankfurt, Urt. v. 13.09.2012 – 4 EntV 7/12 Rn. 7, juris; Heine, MDR 2013, 1147, 1149. 46 OLG Köln, Urt. 21.03.2013 – 7 SchH 5/12 Rn. 13, juris; Heine, MDR 2013, 1147, 1149. 47 S. o. § 3 III. 48 BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12 Rn. 41, juris; Zöller/Greger, ZPO, § 138 Rn. 81; Heine, MDR 2014, 1008, 1012; MDR 2013, 1147, 1149. 49 Heine, MDR 2013, 1147, 1149.
98 Kapitel 4: Die Rechtsfolgen und die Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs Darlegungs- und Beweislast für die Nachteile infolge der Verfahrensdauer sowie die Erhebung der Verzögerungsrüge.50 Bezüglich der Kausalität von Verfahrensdauer und Nachteil kann sich der Kläger nach den von der Rechtsprechung entwickelten Regeln über den Anscheinsbeweis51 darauf beschränken, die überlange Verfahrensdauer sowie den eingetretenen Schaden zu beweisen, wenn nach der allgemeinen Lebenserfahrung in seiner solchen Situation ein ursächlicher Zusammenhang zu vermuten ist.52 Bei immateriellen Nachteilen wird dagegen sowohl der Nachteil als auch die Kausalität von Verfahrensdauer und Nachteil gemäß § 198 Abs. 2 S. 1 GVG vermutet.53 Die Vermutung ist widerleglich,54 die Darlegungs- und Beweislast hat dabei der in Anspruch genommene Rechtsträger.55 Da es sich um einen Negativbeweis handelt, streiten für den in Anspruch genommenen Rechtsträger die Grundsätze der sekundären Behauptungslast.56 Der Beklagte trägt die Darlegungs- und Beweislast für die ihm günstigen Tatsachen. Insbesondere dafür, dass die Überlänge der einzige Nachteil ist und deshalb zur Entschädigung des Klägers deren Feststellung nach § 198 Abs. 4 S. 1 GVG genügt.57 Der Entschädigungskläger trägt die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er die Verzögerungsrüge im Ausgangsprozess überhaupt erhoben hat und, dass zu diesem Zeitpunkt nach § 198 Abs. 3 S. 2 GVG Anlass zur Besorgnis bestand, das Verfahren werde nicht in angemessener Zeit abgeschlossen.58 Weiter muss der Betroffene darlegen und beweisen, dass er das Gericht auf diesem nicht bekannte Umstände nach § 198 Abs. 3 S. 3 GVG hingewiesen hat und diese Umstände auch bestehen.59 Gleiches gilt für die Einhaltung der Sperrfrist nach § 198 Abs. 3 S. 2 HS. 2 GVG, falls die Rüge wiederholt wurde.60 Auf der Rechtsfolgenseite trägt der in Anspruch genommene Rechtsträger die Darlegungs- und Beweislast für eine Herabsetzung des Pauschalbetrages bei der Entschädigung für immaterielle Nachteile nach § 198 Abs. 2 S. 3, S. 4 GVG.61 Den Entschädigungskläger treffen also sehr umfassende Darlegungs- und Beweislastpflichten, denen er bereits im Aus50
BT-Drs. 17/3802, S. 19 f.; Zimmermann, FamRZ 2011, 1905, 1907. BT-Drs. 17/7217, S. 3 f.; BGH, NJW 2004, 1381 mwN. 52 BT-Drs. 17/7217, S. 3 f. 53 S. o. § 3 IV 3 b; BT-Drs. 17/3802, S. 19 f. 54 S. o. § 3 IV 3 b; BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 39 ff. 55 OLG Braunschweig, Urt. v. 08.02.2013 – 4 SchH 1/12 Rn. 184, juris; Heine, MDR 2013, 1147, 1149. 56 S. o. § 3 IV 3 b; BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 41; Zöller/Greger, ZPO, Vor § 284 Rn. 34, § 292 Rn. 2 . 57 BT-Drs. 17/3802, S. 20 f. 58 S. o. § 3 V 3 b; BT-Drs. 17/3802, S. 21. 59 S. o. § 3 V 3 d; BT-Drs. 17/3802, S. 21, 25. 60 S. o. § 3 V 3 c; BT-Drs. 17/3802, S. 21, 25. 61 S. o. § 4 A II 2; OLG Karlsruhe, Urt. v. 19.12.2013 – 23 SchH 2/13 Rn. 39, juris; Heine, MDR 2014, 1008, 1012. 51
C. Gerichtliche Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs
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gangsverfahren durch entsprechende Dokumentation in den Akten versuchen sollte gerecht zu werden.
C. Gerichtliche Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs nach §§ 198–202 GVG I. Relevanz Der EGMR überprüft bei der Effektivität von Rechtsbehelfen bei überlanger Verfahrensdauer nach Art. 13 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK auch die Art und Weise der Einleitung und Durchführung des Rechtsbehelfsverfahrens.62 Das in §§ 198–202 GVG geregelte Verfahren zur Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs aus § 198 Abs. 1 GVG soll daher im Folgenden kurz dargestellt werden.
II. Zuständiges Gericht, § 201 Abs. 1 GVG Die sachliche und örtliche Zuständigkeit für die Entschädigungsklage63 nach § 198 Abs. 5 GVG regelt § 201 Abs. 1 S. 1 GVG. 1. Sachliche Zuständigkeit Die sachliche Zuständigkeit richtet sich nach der Aufteilung der Anspruchsverpflichtung zwischen Bund und Ländern in § 200 GVG.64 Bei Klagen gegen ein Land (vgl. § 200 S. 2 GVG) besteht nach § 201 Abs. 1 S. 1 GVG eine sachliche Eingangszuständigkeit des Oberlandesgerichts für Entschädigungsklagen nach § 198 GVG in sämtlichen Landesverfahren.65 In der Literatur wird kritisiert, dass die erstinstanzliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts den Rechtsschutz faktisch um eine Instanz verkürzt und auch verteuert.66 Bei Klagen gegen den Bund (vgl. § 200 S. 2 GVG) ist nach § 201 Abs. 1 S. 2 GVG der BGH für die Entschädigungsklagen sachlich zuständig.67
62 EGMR, Urt. v. 11.09.02, 57220/00 – Mifsud/Frankreich; Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 52 ff. 63 Heine, MDR 2012, 327, 332 (Checkliste zur Entschädigungsklage). 64 S. o. § 3 A I 1; BT-Drs. 17/3802, S. 25 f.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 201 GVG Rn. 1. 65 MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 201 GVG Rn. 2 . 66 MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. III, § 201 GVG Rn. 2; Matusche-Beckmann/ Kumpf, ZZP 124 (2011), 173, 188. 67 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 9.
100 Kapitel 4: Die Rechtsfolgen und die Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs 2. Örtliche Zuständigkeit Örtlich zuständig für Klagen auf Entschädigung wegen unangemessener Verfahrensdauer gegen ein Land ist nach § 201 Abs. 1 S. 1 GVG dasjenige Oberlandesgericht, in dessen Bezirk der Ausgangsprozess stattgefunden hat. 68 3. Ausschließlichkeit der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit, § 201 Abs. 1 S. 3 GVG Sowohl die sachliche als auch die örtliche Zuständigkeit sind gemäß § 201 Abs. 1 S. 3 GVG ausschließliche Zuständigkeiten.69 Damit ist nach § 40 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO eine Prorogation des Gerichtsstandes gemäß § 38 ZPO für die Entschädigungsklage nach § 198 GVG ausgeschlossen; das gilt nach § 40 Abs. 2 S. 2 ZPO auch für eine Zuständigkeitsbegründung durch rügelose Einlassung gemäß § 39 ZPO.70 Ausschließliche Zuständigkeiten unterliegen nicht der Vertragsfreiheit.71 Dadurch ist sichergestellt, dass die gerichtliche Entscheidung über den Entschädigungsanspruch mindestens bei den Oberlandesgerichten verbleibt.72 4. Funktionale Zuständigkeit, § 201 Abs. 2 S. 2 GVG Der zuständige Senat (des OLG oder des BGH) entscheidet über die Entschädigungsansprüche nach § 198 GVG stets in vollständiger Besetzung. Sowohl eine originäre (§ 348 ZPO) als auch eine obligatorische (§ 348a ZPO) Einzelrichterentscheidung sind nach § 201 Abs. 2 S. 2 GVG ausgeschlossen.73 Die Entschädigungssachen sind besonders schwierig, nach Einschätzung des Gesetzgebers braucht es daher Kollegialspruchkörper (Vier- bzw. Sechs-Augen-Prinzip), um die Qualität der Rechtsprechung sicherzustellen.74
68 Thomas/Putzo/Hüßtege,
ZPO, § 198 GVG Rn. 9. ZPO, § 198 GVG Rn. 9; Marx/Roderfeld/Marx, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 201 GVG Rn. 2 . 70 S. o. § 2 D I 3; BT-Drs. 17/3802, S. 25 f.; MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 201 GVG Rn. 5; Marx/Roderfeld/Marx, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 201 GVG Rn. 2 . 71 Schellhammer, ZPO, Rn. 1459. 72 S. o. § 2 D I 3; § 2 D III 1 e; § 2 D III 2 e bb; BT-Drs. 17/3802, S. 25 f. 73 BT-Drs. 17/3802, S. 25 f.; Kissel/Mayer, GVG, § 201 Rn. 6; Deutsch, NJW 2004, 1150, 1151. 74 BT-Drs. 17/3802, S. 25 f.; Heine, MDR 2012, 327, 331. 69 Thomas/Putzo/Hüßtege,
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II. Klagezeitpunkt/Mindest-(Warte-)Frist nach § 198 Abs. 5 GVG Nach der Rechtsprechung des EGMR ist ein Rechtsbehelf zur Geltendmachung der überlangen Verfahrensdauer nach Art. 13 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK dann nicht effektiv, wenn er selbst zusätzliche Verzögerungen verursacht. Der EGMR beanstandet es, wenn erst der Rechtsweg erschöpft sein muss, bevor das Rechtsbehelfsverfahren beginnen kann; Ausgangs- und Entschädigungsverfahren also nicht parallel laufen können.75 Die Entschädigungsklage nach § 198 Abs. 5 S. 1 GVG kann frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge im Ausgangsverfahren und spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Ausgangsentscheidung erhoben werden.76 Das Gericht des Ausgangsverfahrens soll die Möglichkeit haben, auf eine Beschleunigung des Verfahrens hinzuwirken, um weitere Nachteile zu vermeiden.77 Der Abschluss des Ausgangsverfahrens ist folglich keine Zulässigkeitsvoraussetzung für die Entschädigungsklage.78 Der Gesetzgeber hat damit sichergestellt, dass ein Entschädigungsanspruch auch gewährt werden kann, wenn bereits bei noch andauerndem Ausgangsverfahren feststeht, dass der Anspruch auf ein zügiges Verfahren verletzt worden ist.79 Verfahrensrechtlich handelt es sich dabei um eine Teilklage, da der Betroffene eine Entschädigung nur für einen bestimmten Abschnitt und nicht das gesamte Verfahren verlangt.80 Die Frist nach § 198 Abs. 5 S. 1 GVG wird vom BGH als Mindest- oder Wartefrist bezeichnet.81 Der Betroffene bzw. sein Prozessvertreter hat zu beachten, dass bei Versäumen der Frist keine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand nach § 233 ZPO gewährt wird, da es sich bei der Mindestfrist nach § 198 Abs. 5 GVG weder um eine Notfrist nach § 224 Abs. 1 S. 2 ZPO noch eine der sonstigen, in § 233 S. 1 ZPO genannten Fristen handelt.82 Nur diese Fristen geben den Gerichten bei unverschuldeter Säumnis die Möglichkeit, Wiedereinsetzung zu gewähren.83 Auch eine analoge Anwendung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung kommt nicht in Betracht, da § 198 Abs. 5 GVG eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist ist.84 Als Zulässigkeitsvoraussetzung ist die Klagefrist vom Entschädi-
75 EGMR, Urt. v. 11.09.02, 57220/00 – Mifsud/Frankreich; Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 52 ff. 76 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 7. 77 BGH NJW 2014, 2588 Rn. 17; NJW 2014, 2443 Rn. 17. 78 BGH NJW 2014, 1967 Rn. 21. 79 S. o. § 2 C II 2; § 2 D I 3; § 2 D III 1 e; § 2 D III 2 e; BT-Drs. 17/3802, S. 2 2 f. 80 BGH NJW 2014, 1967 Rn. 21; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 52, 252. 81 BGH NJW 2014, 2588 Rn. 17; NJW 2014, 2443 Rn. 15. 82 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 7; Zimmermann, FPR 2012, 556, 558; Schenke, NVwZ 2012, 257, 263. 83 Zöller/Greger, ZPO, § 233 Rn. 6. 84 Zöller/Greger, ZPO, § 230 Rn. 8; § 233 Rn. 7 ff.
102 Kapitel 4: Die Rechtsfolgen und die Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs gungsgericht von Amts wegen zu prüfen.85 Damit ist es in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR möglich, dass Ausgangs- und Entschädigungsverfahren parallel laufen, da Anknüpfungspunkt für die Erhebung der Entschädigungsklage die Erhebung der Verzögerungsrüge ist.
III. Form 1. Klageantrag/Unzulässigkeit der Feststellungsklage Es ist ein bestimmter Klageantrag in Form der Leistungsklage zu stellen, da die Entschädigungsklage eine auf Zahlung gerichtete Klage ist, auf die gemäß § 201 Abs. 2 S. 1 GVG die §§ 253 ff. ZPO anzuwenden sind.86 Eine allgemeine Feststellungsklage (Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer) ist nach dem BGH unzulässig. § 198 Abs. 4 S. 1 GVG sieht diese Möglichkeit der Wiedergutmachung auf andere Weise zwar vor, der Betroffene hat aber kein subjektives Recht auf die Feststellung, das er im Klagewege durchsetzen könnte. Die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer liegt vielmehr im Ermessen des Entschädigungsgerichts.87 2. Inhalt der Klageschrift Auch wenn das Gesetz keine inhaltlichen Vorgaben zur Klageschrift macht, hat der Kläger insbesondere die Umstände, die zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führen, vorzutragen, soweit diese in seinem Kenntnisbereich liegen. Ferner hat er auf die seit Einlegung der Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 3 GVG) eingetretenen verfahrenserheblichen Umstände einzugehen und darzulegen, warum das Verfahren beschleunigt zu bearbeiten gewesen wäre.88
IV. Verfahren 1. Anzuwendende Verfahrensvorschriften Die Entschädigungsklage ist eine auf Zahlung gerichtete Leistungsklage, auf die nach § 201 Abs. 2 S. 1 GVG die Vorschriften der ZPO über das erstinstanzliche Verfahren vor den Landgerichten entsprechend Anwendung (§§ 253 bis 85 BGH, NJW 2014, 790 Rn. 18; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 256; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 7; Heine, MDR 2012, 327. 86 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 24; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 7. 87 S. o. § 4 A II 2; BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 65 ff.; BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 35; BT-Drs. 17/3802, S. 21 f.; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 4; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 262; Schenke, NJW 2015, 433 f. 88 S. o. § 4 B; BVerfG NJW 2013, 2341 ff.
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494a ZPO) finden.89 Dies gilt auch für die dort normierten Verfahrensgrundsätze, insbesondere den Beibringungsgrundsatz.90 Die Erleichterungen bei der Urteilsbegründung gelten nach § 313a Abs. 4 Alt. 2 ZPO nicht, da nicht auszuschließen ist, dass der EGMR später noch mit der Sache befasst wird und der Gesetzgeber den diesbezüglichen konventionsrechtlichen Vorgaben entsprechen wollte.91 Der EGMR hat zur Vermutung von immateriellen Nachteilen entschieden, dass es Fälle geben kann, in denen ein Nichtvermögensschaden sehr gering oder gar nicht eingetreten ist – die Vermutung ist also widerlegbar.92 Der staatliche Richter muss seine Entscheidung (Abweisung der Entschädigungsklage) dann ausreichend begründen.93 2. Aussetzung des Verfahrens, § 201 Abs. 3 S. 1 GVG Da der Ausgangsprozess im Zeitpunkt der Erhebung der Entschädigungsklage nicht abgeschlossen sein muss (vgl. § 198 Abs. 5 S. 1 GVG), kann das Entschädigungsgericht gemäß § 201 Abs. 3 S. 1 GVG das Verfahren nach seinem Ermessen aussetzen, bis der Ausgangsprozess rechtskräftig abgeschlossen ist.94 Nach dem BGH kann das Entschädigungsgericht stattdessen die Klage auch als derzeit unbegründet abweisen – mit der negativen Kostenfolge für den Kläger nach § 201 Abs. 2 S. 1 GVG i. V. m. § 91 ZPO.95 Prozesstaktisch hat die Erhebung der Entschädigungsklage parallel zum Ausgangsverfahren (§ 198 Abs. 5 S. 1 GVG) damit für den Entschädigungskläger ein hohes Risiko, da nie völlig sicher ist, ob das Entschädigungsgericht die Anspruchsvoraussetzungen als gegeben ansieht. Gerade zur Angemessenheit der Verfahrensdauer ist eine komplizierte Entscheidung im Einzelfall zu treffen.96
89 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 7 ff., 10; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/ Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 241 ff.; § 201 GVG Rn. 13 ff.; Heine, MDR 2012, 327, 331. 90 S. o. § 4 B; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 10; BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 25; NJW 2014, 220 Rn. 41; Beschl. v. 25.10.2012 – III ZB 64/12, juris. 91 EGMR, Urt. v. 29.03.2006, 62361/00 – Pizzati/Italien, Rn. 94; BT-Drs. 17/3802, S. 20 f.; Heine, MDR 2012, 327, 332. 92 S. o. § 3 A IV 3 b; BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 39 ff.; EGMR, Urt. v. 29.03.2006, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259 Rn. 204. 93 S. o. § 3 A IV 3 b; BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14, BeckRS 2015, 04157 Rn. 39 ff.; EGMR, Urt. v. 29.03.2006, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259 Rn. 204. 94 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 10; MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. I II, § 198 GVG Rn. 81, § 201 GVG Rn. 14; Heine, MDR 2014, 1008, 1012. 95 BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 70; Heine, MDR 2014, 1008, 1012. 96 S. o. § 3 A III.
104 Kapitel 4: Die Rechtsfolgen und die Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs
V. Kosten nach §§ 201 Abs. 2 S. 1, Abs. 3, Abs. 4 GVG Für die vorliegende Arbeit sind zudem die Kosten des Entschädigungsrechtsbehelfs nach §§ 198 ff. GVG relevant, da es nach der Rechtsprechung des EGMR die Effektivität von Rechtsbehelfen zur Geltendmachung einer überlangen Verfahrensdauer nach Art. 13 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK schmälert, wenn für diese hohe Kosten für den Betroffenen anfallen.97 Für die §§ 198 ff. GVG gelten die Kostenregelungen der §§ 91 ff. ZPO.98 Besteht ein Entschädigungsanspruch nicht oder nicht in der geltend gemachten Höhe, wird aber die unangemessene Verfahrensdauer festgestellt, kann das Gericht gemäß § 201 Abs. 4 GVG über die Kosten nach billigem Ermessen entscheiden, da die im Referentenentwurf vorgesehene Kostenfreistellung nicht ins Gesetz aufgenommen wurde.99 Wird hingegen eine geringere Entschädigung zuerkannt als beantragt, ist § 201 Abs. 4 GVG nicht anwendbar und die Kostenentscheidung ergeht nach § 201 Abs. 2 S. 1 GVG i. V. m. § 92 ZPO.100
VI. Rechtsmittel, § 201 Abs. 2 S. 3 GVG Nach der Rechtsprechung des EGMR hängt die Effektivität von Rechtsbehelfen bei überlanger Verfahrensdauer zudem davon ab, ob der Betroffene die Möglichkeit hat gegen die Entscheidung innerhalb des Rechtsbehelfsverfahrens vorzugehen.101 Gegen das Entschädigungsurteil eines erstinstanzlich zuständigen Oberlandesgerichts findet nach § 201 Abs. 2 S. 3 GVG die Revision gemäß § 543 ZPO statt, soweit diese im Entschädigungsurteil zugelassen wurde.102 Auf Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision ist § 26 Nr. 8 S. 1 EGZPO anwendbar. Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist somit nur statthaft, wenn der Wert der Beschwerde € 20.000,– überschreitet.103 Wird die Prozesskostenhilfe für das Entschädigungsverfahren vor dem erstinstanzlich zuständigen Oberlandesgericht versagt, findet die Rechtsbeschwerde nach § 574 ZPO statt.104 Gegen die Verwerfung eines Befangenheitsgesuchs in Entschädigungssachen ist ausschließlich die Rechtsbeschwerde statthaft, nach § 574 Abs. 1 S. 1 97 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265; Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 52 ff. 98 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 11. 99 S. o. § 2 C I; § 2 D I 5; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 11; Heine, MDR 2014, 1008, 1013. 100 BGH, Urt. v. 14.11.2013 – III ZR 376/12 Rn. 41, juris; Heine, MDR 2014, 1008, 1013. 101 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265; Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 52 ff. 102 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 12; Heine, MDR 2013, 1147, 1149. 103 BGH, Urt. v. 25.07.2013 – III ZR 400/12, juris; Urt. v. 25.07.2013 – III ZR 413/12, juris; Urt. v. 27.02.2014 – III ZR 161/13, juris; Heine, MDR 2014, 1008, 1013. 104 BGH NJW 2012, 2449 ff.; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 12.
D. (Staats-)Haftungsrechtliche Einordnung der §§ 198 ff. GVG
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ZPO jedoch nur, wenn das Oberlandesgericht sie im angefochtenen Beschluss zugelassen hat.105
D. (Staats-)Haftungsrechtliche Einordnung der §§ 198 ff. GVG I. Relevanz Die (staats-)haftungsrechtliche Einordnung der §§ 198 ff. GVG, hat zum Ziel aufzuzeigen, der Umsetzung welcher der Vorgaben des EGMR die getroffene Reglung dient, und zu prüfen, ob diese tatsächlich zur Unvereinbarkeit mit den Grundsätzen des deutschen Staatshaftungsrecht führen kann.
II. Grundsätze des deutschen (Staats-)Haftungsrechts 1. Differenzierung zwischen Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen Das deutsche (Staats-)Haftungsrecht unterscheidet grundsätzlich nach den Rechtsfolgen zwischen Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen.106 Schadensersatz ist nach Maßgabe der §§ 249 ff. BGB zu gewähren, Entschädigung nach der Anordnung der konkreten Norm.107 a) Schadensersatz nach §§ 249 ff. BGB aa) Grundprinzipien/Schadensermittlung Die §§ 249 ff. BGB regeln den Inhalt zivilrechtlicher Schadenersatzansprüche auf Rechtsfolgenseite und finden auf sämtliche Schadensersatzansprüche Anwendung:108 Vertragliche Schadensersatzansprüche des BGB wegen Verletzung der Hauptleistungspflicht (vgl. §§ 280 Abs. 1, 281 Abs. 1, 437 Nr. 3, 536a Abs. 1, 634 Nr. 4 BGB), Ansprüche wegen Verletzung sonstiger vorvertraglicher oder vertraglicher Haupt- und Nebenpflichten (vgl. §§ 280 Abs. 1 i. V. m. 311 Abs. 2 , 3 BGB, §§ 280 Abs. 2 , 311a Abs. 2 BGB) sowie die gesetzlichen, insbesondere 105
BGH, Urt. v. 27.06.2013 – III ZB 42/13 Rn. 1, juris; Heine, MDR 2014, 1008, 1013. Ossenbühl/Cornils, StaatshaftungsR, S. 146 ff., S. 319 ff.; Baldus/Grzeszick/Wienhues, StaatshaftungsR, S. 19 ff., 57 ff.; Detterbeck/Windthorst/Sproll, StaatshaftungsR, S. 78 ff., S. 261 ff.; Bender, StaatshaftungsR, S. 171 ff.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Einf. Rn. 247 ff., 359; § 198 GVG Rn. 2 f.; stdg. Rspr. BGHZ 6, 270, 295 („Die Entschädigung soll dem Betroffenen einen Ausgleich für den Eingriff in seine Rechtssphäre (Art. 14 Abs. 1 GG) gewähren. Das bedeutet nicht, dass die Entschädigung eine Schadensersatzleistung im Sinne des BGB ist.“). 107 Ossenbühl/Cornils, StaatshaftungsR, S. 146 ff., S. 319 ff.; Bettermann, DÖV 1954, 299 ff. 108 MünchKommBGB/Oekter, Bd. I I, § 249 Rn.1; Schiemann in: Staudinger (2004), Vor §§ 249 ff. Rn. 4. 106
106 Kapitel 4: Die Rechtsfolgen und die Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs die deliktischen Schadensersatzansprüche nach §§ 823 ff. BGB (auf diese finden die §§ 249 ff. BGB i. V. m. §§ 842–846 BGB Anwendung).109 Um die §§ 249 ff. BGB auf Rechtsfolgenseite anzuwenden, muss auf Ebene der Haftungsbegründung ein Verschulden gegeben sein. Liegen die Haftungsbegründungsvoraussetzungen vor, gewähren die §§ 249 ff. BGB nach dem Grundsatz der Totalreparation – unter Anwendung der Differenzhypothese – Ersatz der gesamten, auf das Schadensereignis zurückzuführenden Vermögenseinbußen.110 bb) Umfang/Arten der Ersatzleistung Für die Art der Ersatzleistung ergibt sich aus §§ 249–251 BGB ein Vorrang der Naturalrestitution, wonach der Schaden – soweit tatsächlich und wirtschaftlich möglich – in Natur zu ersetzen und erst nachrangig durch Wertersatz in Geld zu erstatten ist.111 Wertersatz nach § 251 BGB kommt in Betracht, wenn der Schädiger zur Naturalrestitution verpflichtet ist, diese aber entweder unmöglich, für den Geschädigten ungenügend oder aus Sicht des Schädigers unverhältnismäßig ist.112 Die Unterscheidung zwischen beiden Formen der Ersatzleistung ist für § 253 BGB von Bedeutung: Nur im Rahmen des Wertersatzes ist zu differenzieren, ob es sich um einen Vermögensschaden oder einen Nichtvermögensschaden handelt, da nur dieser den zusätzlichen Voraussetzungen des § 253 Abs. 2 BGB unterliegt.113 Bei Nichtvermögensschäden tritt an die Stelle des Wertersatzes – der null betragen würde – unter den Voraussetzungen des § 253 Abs. 2 BGB eine billige Entschädigung in Geld.114 § 252 S. 1 BGB hat dagegen nur klarstellende Funktion, denn der Ersatz des entgangenen Gewinns ist ohnehin von der Naturalrestitution nach § 249 BGB erfasst.115 Relevant ist die Beweiserleichterung in § 252 S. 2 BGB, da sie eine abstrakte Schadensberechnung nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge ermöglicht.116 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Schadensbemessung im Prozess ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatrichter.117 109 MünchKommBGB/Oetker,
Bd. I I, § 249 Rn. 3. Ossenbühl/Cornils, StaatshaftungsR, S. 462 f. 111 BGH, NJW 1997, 210, 520; MünchKommBGB/Oetker, Bd. I I, § 249 Rn. 320 ff., 357 ff.; Schiemann in: Staudinger (2005), BGB, Vorbem §§ 249 ff. Rn. 37, § 249 Rn. 233; Erman/Ebert, BGB, Bd. I , § 249 Rn. 10. 112 MünchKommBGB/Oetker, Bd. I I, § 251 Rn. 5 ff.; Schiemann in: Staudinger (2004) § 251 Rn. 1; Erman/Ebert, Bd. I , BGB, § 249 Rn. 1, 2 ff. 113 MünchKommBGB/Oetker, Bd. II, § 249 Rn. 24; Erman/Ebert, BGB, Bd. I, § 253 Rn. 1. 114 MünchKommBGB/Oetker, Bd. I I, § 253 Rn. 10 ff.; Erman/Ebert, BGB, Bd. I, § 253 Rn. 45 ff. 115 Erman/Ebert, BGB, Bd. I, § 252 Rdnr. 1; MünchKommBGB/Oetker, Bd. I I, § 253 Rn. 7. 116 MünchKommBGB/Oetker, Bd. I I, § 253 Rn. 31 ff. 117 BGH, NJW 2013, 1434 ff.; NJW 2004, 445 ff.; Palandt/Grüneberg, BGB, Vorb. v. § 249 Rn. 127. 110
D. (Staats-)Haftungsrechtliche Einordnung der §§ 198 ff. GVG
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cc) Schadensersatz als staatshaftungsrechtliche Rechtsfolge Der Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG gewährt ebenfalls Schadensersatz nach den §§ 249 ff. BGB.118 Diese sind insoweit modifiziert anzuwenden, als Naturalrestitution nur in Form von Geldersatz (§ 249 Abs. 2 BGB) zu gewähren ist, wenn sie als Wiederherstellung durch den Schädiger (§ 249 Abs. 1 BGB) in Form der Vor- bzw. Rücknahme des hoheitlichen Handelns durch den schädigenden Beamten zu leisten wäre. Haftungsschuldner ist infolge der Überleitung aus Art. 34 GG der Staat.119 b) Entschädigung aa) Gesetzliche Grundlage und Umfang der Entschädigung Gewährt eine haftungsbegründende Norm nicht Schadensersatz, sondern „angemessenen Ausgleich“ (vgl. § 906 Abs. 2 . S. 2 BGB) oder „angemessene Entschädigung“ (vgl. § 18 Abs. 1 S. 1 AtG) sind die §§ 249 ff. BGB grundsätzlich nicht zu anzuwenden.120 Vielmehr bestimmt die entschädigungsbegründende Norm den Umfang der Haftung.121 Entschädigung bedeutet Ersatz des durch den Eingriff entstandenen Vermögensverlustes im Sinne eines Substanzausgleichs.122 Insbesondere ist bei der Entschädigung der entgangene Gewinn (§ 252 BGB) nicht ersatzfähig, da sie auf das in der Vergangenheit liegende, schädigende Ereignis ausgerichtet ist und sich nach dem damaligen Wert bemisst.123 Es handelt sich bei der Entschädigung um einen Billigkeitsausgleich, der sich wertmäßig vom Schadensersatz stark unterscheiden kann.124 bb) Entschädigung als staatshaftungsrechtliche Rechtsfolge Im Staatshaftungsrecht ist Entschädigung als Rechtsfolge zum Teil gesetzlich angeordnet (Art. 70 PAG, Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG), teilweise ungeschriebene Rechtsfolge des enteignenden und des enteignungsgleichen Anspruchs sowie Rechtsfolge im Aufopferungsgewohnheitsrecht.125 Allgemein meint Entschädigung staatshaftungsrechtlichen Ausgleich für Sonderopfer infolge hoheitlicher
118 Ossenbühl/Cornils, StaatshaftungsR, S. 111 ff.; Palandt/Grüneberg, BGB, Vorb. v. § 249 Rn. 6; ders./Sprau, BGB, § 839 Rn. 78. 119 BGHZ 121, 367, 374; Ossenbühl/Cornils, StaatshaftungsR, S. 111 ff.; Schiemann in: Staudinger (2005), BGB, Vorbem. zu §§ 249 ff. Rn. 15 f. 120 MünchKommBGB/Oetker, Bd. II, § 249 Rn. 7; Bamberger/Roth/Schubert, BGB, Bd. I , § 249 Rn. 5. 121 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 219. 122 Palandt/Bassenge, BGB, Vorb. v. § 903 Rn. 4 ff. 123 Palandt/Bassenge, BGB, Vorb. v. § 903 Rn. 4 ff. 124 Palandt/Bassenge, BGB, Vorb. v. § 903 Rn. 4 ff. 125 Ossenbühl/Cornils, StaatshaftungsR, S. 146 ff., 319 ff., 462 ff.
108 Kapitel 4: Die Rechtsfolgen und die Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs (rechtmäßiger und rechtswidriger) Eigentumseingriffe des Staates.126 Auch die staatshaftungsrechtliche Entschädigung liegt in der Regel wertmäßig unterhalb des Schadensersatzes, da lediglich Wertersatz für den Substanzverlust gewährt wird.127 Ziel ist nach der Terminologie des Staatshaftungsrechts eine „billige Entschädigung“ und kein voller Ausgleich.128 Die Abgrenzung zwischen Schadensersatz und Entschädigung ist allerdings nicht immer eindeutig, im Einzelfall kann sich die Entschädigung auch mit dem vollen Schadensersatz decken.129 2. Kein „Dulde und Liquidiere“/Vorrang des Primärrechtsschutzes Im Staatshaftungsrecht verliert der Geschädigte seinen Anspruch, wenn er sein Rechtsmittel versäumt und ihm dies vorzuwerfen ist. Es gilt folgender Grundsatz: Niemand kann zunächst eine Rechtsverletzung dulden, um später Ersatzansprüche für die Verletzung zu liquidieren.130 Gesetzlich normiert ist dieser Grundsatz in § 839 Abs. 3 BGB für die Amtshaftungsansprüche.131 § 839 Abs. 3 BGB dient als Obliegenheit dazu, den Vorrang des Primärrechtschutzes zu sichern, den das Bundesverfassungsgericht aus dem Grundgesetz abgeleitet hat.132
II. Die §§ 198 ff. GVG als staatshaftungsrechtlicher Anspruch sui generis Fraglich ist, wie § 198 Abs. 1 S. 1 GVG in das bestehende System der staatshaftungsrechtlichen Ansprüche einzuordnen ist. Seinem Wortlaut nach gewährt § 198 Abs. 1 S. 1 GVG eine „angemessene Entschädigung“ für die Nachteile des Betroffenen infolge der unangemessenen Verfahrensdauer. Er gewährt also als Entschädigungsanspruch in der Rechtsfolge (nur) Wertersatz für den entstandenen Substanzverlust. Nach dem Willen des Gesetzgebers normiert § 198 Abs. 1 S. 1 GVG einen neuen staatshaftungsrechtlichen Anspruch, da das System der Staatshaftung nicht abgeschlossen sei, sondern vielmehr offen für die Kodifizierung neuer Ansprüche.133 Er setzt kein Verschulden des Gerichts voraus.134 Der ursprüngliche Gesetzesentwurf (§ 198 Abs. 1 S. 1 GVG-E) laute126
Ossenbühl/Cornils, StaatshaftungsR, S. 146 ff., 319 ff., 462 ff. Ossenbühl/Cornils, StaatshaftungsR, S. 146 ff., 319 ff.; Palandt/Grüneberg, BGB, Vorb. v. § 249 Rn. 3. 128 Ossenbühl/Cornils, StaathaftungsR, 4. Teil, V. 129 BGHZ 22, 43. 130 BGH NJW 1997, 2327 ff.; Palandt/Sprau, BGB, § 839 Rn. 68 ff. 131 BGH NJW 1997, 2327 ff.; Palandt/Sprau, BGB, § 839 Rn. 68 ff. 132 BVerfGE 58, 300, 318 ff. (Nassauskießungsbeschluss); BGH, NJW 1991, 1168, 1170; Siegel, DÖV 2007, 237, 240 ff. 133 S. o. § 2 D IV 2 a; BT-Drs. 17/3802, S. 19 f.; Fetzer, Legislatives Unrecht, S. 206 ff.; Cornils, Gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch, S. 319 ff.; Reiter, NJW 2015, 2554, 2555 f. 134 BT-Drs. 17/3802, S. 19 f. 127
D. (Staats-)Haftungsrechtliche Einordnung der §§ 198 ff. GVG
109
te: „Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird entschädigt“.135 Erst nach der Kritik des Rechtsausschusses136 an der Verweisung auf die §§ 249 ff. BGB und der ausdrücklich vorgesehenen Ersatzfähigkeit des entgangen Gewinns hat der Gesetzgeber den Gesetzestext in § 198 Abs. 1 S. 1 GVG geändert.137 Dadurch soll der Ersatz des entgangenen Gewinns nach § 252 BGB ausgeschlossen sein.138 § 198 Abs. 1 S. 1 GVG gewährt eine verschuldensunabhängige angemessene Entschädigung sowohl für materielle als auch für immaterielle (§ 198 Abs. 3 GVG) Nachteile, ohne dass dies – in Abkehr von der Dogmatik des Schadensrechts – eine Verletzung der in § 253 Abs. 2 BGB genannten Schutzgüter voraussetzt.139 Der Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG ist ein staatshaftungsrechtlicher Anspruch sui generis.140 Fraglich ist weiter, wie der Vorrang des Primärrechtsschutzes bezüglich der Haftung des Staates für überlange Gerichtsverfahren umgesetzt ist.141 Ein verfahrensbeschleunigender Rechtsbehelf fehlt, da die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG lediglich als Prozesshandlung und nicht als Rechtsbehelf oder Rechtsmittel ausgestaltet ist.142 In der Literatur wird die Verzögerungsrüge als wirksamer primärer Rechtsschutz angesehen, da der Gesetzgeber mit ihr einen Missbrauch in Form eines „Dulde und Liquidiere“ verhindern wollte.143 Staatshaftungsrechtlich ist der Anspruch aus § 198 Abs. 1 S. 1 BGB ein verschuldensunabhängiger Anspruch bei rechtswidrigen Maßnahmen, für dessen Höhe (noch) konkrete Maßstäbe fehlen.144 Der Anspruch aus § 198 Abs. 1 S. 1 GVG lässt sich also nur schwer in die bekannte Dogmatik des (Staats-)Haftungsrechts einordnen.145 Er ist daher richtigerweise ein staatshaftungsrechtlicher Anspruch sui generis, der das in sich nicht abgeschlossene System des Staats-
135
S.o. § 2 C I; BT-Drs. 17/3802, S. 7 f. BT-Drs. 17/7217, S. 1, 27 f. 137 S. o. § 2 C I, § 2 C III 1 a, § 2 C III 2 a, § 2 C V; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 3. 138 BT-Drs. 17/7217, S. 1, 27 f. 139 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Einf. Rn. 244; aus diesem Grund gegen eine Entschädigungsregelung: Referententwurf v. 22.08.2005, Abdruck: Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Anhang 3, S. 382 ff. 140 BT-Drs. 17/3802, S. 19 f.; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 3; Zöller/ Lückemann, ZPO, § 198 GVG Rn. 1; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Einl. Rn. 246, § 198 GVG Rn. 3. 141 Axer, DVBl. 2011, 1322 ff. 142 S. o. § 3 V 2. 143 S. o. § 3 V 1 b; § 2 D II 2; BT-Drs. 17/3802, S. 20 ff.; Ohrloff, Überlange Gerichtsverfahren, S. 71 ff. 144 Ossenbühl/Cornils, StaatshaftungsR, S. 460 ff. 145 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Einf. Rn. 247 ff., 359, § 198 GVG Rn. 2 ff.; Zöller/Lückemann, ZPO, § 198 GVG Rn. 1; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 3; Ossenbühl, DVBl. 2012, 857, 858 f.; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 3. 136
110 Kapitel 4: Die Rechtsfolgen und die Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs haftungsrechts um einen weiteren Anspruch gegen den Staat bei überlanger Dauer des Gerichtsverfahrens ergänzt.
E. Verhältnis der §§ 198 ff. GVG zu anderen Rechtsbehelfen I. Relevanz Die Darstellung der übrigen Rechtschutzmöglichkeit bei überlanger Gerichtsverfahren ist relevant, um die bereits erfolgte negative Effektivitätsprüfung des EGMR nach Art. 13 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EMRK für dieses Rechtsschutzmöglichkeiten nachvollziehen zu können.146
II. Anspruchskonkurrenz zum Staatshaftungsanspruch nach § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG Zwischen dem Amtshaftungsanspruch aus § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG und dem Entschädigungsanspruch aus § 198 GVG besteht Anspruchskonkur147 renz. Der Amtshaftungsanspruch ist einerseits von strengeren Voraussetzungen abhängig (Verschulden, Subsidiarität, Pflicht zur Ausschöpfung von Rechtsmitteln) und gewährt andererseits statt einer angemessenen Entschädigung vollständige Restitution nach Maßgabe der §§ 249 ff. BGB.148 Der BGH hat inzwischen entschieden, dass die beiden Ansprüche auch nicht ineinander umgedeutet werden können, sondern es sich bei den Ansprüchen – auch wenn derselbe Lebenssachverhalt betroffen ist – um unterschiedliche Streitgegenstände handelt, die in getrennten Prozessen verfolgt werden müssen.149 Aus dem
146
EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355. § 2 D II; BT-Drs. 17/3802, S. 19 ff.; MünchKommZPO/Zimmermann, Bd. III, § 198 GVG Rn. 10; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 384 ff.; Schlick in: FS Tolksdorf (2014), S. 549, 555 ff.; Stahnecker, Rn. 188 ff.; Fischer, Richterhaftung, S. 35; Heine, MDR 2014, 1008, 1013; Ossenbühl, DVBl. 2012, 857 ff. 148 BGH, Urt. v. 27.02.2014 – III ZR 253/13 Rn. 4, juris; Heine, MDR 2014, 1008, 1013; ders., MDR 2013, 1147, 1150; Schlick, NJW 2011, 3341 ff.; Brüning, NJW 2007, 1094, 1095 ff.; Sensburg, NVwZ 2004, 179 f.; Blomeyer, Fehlverhalten Dritter, S. 7 ff., 91 ff., 105 ff.; Blomeyer, NJW 1977, 557; Leipold, JZ 1967, 737 ff.; Hänsemeyer in: FS Michaelis (1972), S. 134, 139 f.; Steffen, DRiZ 1968, 237, 238 f.; Klose, NJ 2004, 241, 243; Tombrink, DRiZ 2002, 296 ff.; Soergel/Siebert, BGB, Bd. 12, § 839 Rn. 207 ff.; Terhechte, DVBl. 2007, 1134, 1135 ff.; Ossenbühl, JZ 2007, 690, 691. 149 BGH, Urt. v. 27.02.2014 – III ZR 253/13 Rn. 4, juris; OLG Celle, Urt. v. 09.05.2012 – 23 SchH 6/12 Rn. 8, juris; OLG Stuttgart, Urt. v. 14.08.2012 – 4 SchH 4/12 EntV Rn. 16, juris; OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2013 – 23 SchH 4/12 EntV Rn. 70, juris; Heine, MDR 2014, 1008, 1013; ders., MDR 2013, 1147, 1150. 147 S. o.
E. Verhältnis der §§ 198 ff. GVG zu anderen Rechtsbehelfen
111
Ausschließlichkeitscharakter der Zuständigkeitsnormen § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG und § 201 GVG sowie der ausdrücklichen Entscheidung des Gesetzgebers ergebe sich, die Entschädigungsklagen dem Oberlandesgericht zuzuweisen.150 Nach der Rechtsprechung des EGMR ist die Amtshaftung kein wirksamer Rechtsbehelf nach Art. 13 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EMRK, da sie von der Frage der Rechtfertigung der Verzögerung abhängig ist.151
III. Unzulässigkeit der außerordentlichen Beschwerde, § 567 ZPO Seit Einführung der §§ 198 ff. GVG ist nach einer Entscheidung des VIII. Zivilsenats die früher teilweise befürwortete Untätigkeitsbeschwerde entsprechend § 567 ZPO152 nicht mehr statthaft.153 Die Untätigkeitsbeschwerde zielte, insbesondere bei Verfahrensstillstand, darauf ab, das Verfahren durch Anweisung des höherrangigen Gerichts zu beschleunigen.154 Problematisch war, dass diese außerordentliche Beschwerde nicht den Grundsätzen der Rechtsmittelklarheit entsprach.155 In den §§ 198 ff. GVG ist nun ein Entschädigungsanspruch bei überlanger Verfahrensdauer geregelt. Fraglich ist, ob die beiden Rechtsbehelfe nebeneinander bestehen können, weil sie unterschiedliche Rechtsschutzziele verfolgen. Der BGH verneint dies, weil die gesetzliche Neuregelung in §§ 198 ff. GVG alle Anforderungen aus Art. 13 EMRK erfülle.156 Die Anforderungen des EGMR nach Art. 13 EMRK – entsprechend der (Leit-)Entscheidung in der Rechtssache Kudla/Polen157 – verlangen, dass einem Betroffenen ein Rechtsbe150
BGH, Urt. v. 27.02.2014 – III ZR 253/13 Rn. 4, juris; Heine, MDR 2014, 1008, 1013. Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 113 (s. o. § 2 A; § 1 D II). 152 OLG Düsseldorf, NJW 2009, 2388 ff.; BVerfGE 107, 395 = NJW 2003, 1924 ff.; Zöller/Heßler, ZPO, § 567 Rn. 21 f; Chlosta, NJW 1993, 2160, 2161; Redeker, NJW 2003, 488, 489; Sangmeister, NJW 1998, 2952, 2953; Vollkommer in: FS Gerhardt (2004), S. 1023, 1033 f., 1035. 153 BGH, NJW 2013, 385 Rn. 3; OLG Düsseldorf, NJW 2012, 1455; OLG Jena, Urt. v. 29.12.2011 – 1 WF 634/11 Rn. 11, juris; OLG Schleswig, Urt. v. 30.08.2012 – 11 SchH 3/12 Rn. 2 , juris; OLG München, Urt. v. 20.09.2012 – 4 VAs 38/12 Rn. 6, juris; OLG Bremen, Urt. v. 12.11.2012 – 4 WF 137/12 Rn. 10, juris; OLG Frankfurt, Urt. v. 10.04.2013 – 3 Ws 245/13 Rn. 1, juris; Zöller/Heßler, ZPO, § 567 Rn. 21; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, § 567 Rn. 10, § 198 GVG Rn. 6; Stein/Jonas/Jacobs, ZPO, Bd. V I, § 567 Rn. 22; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Einl. Rn. 377; Stahnecker, Rn. 186 f.; Heine, MDR 2013, 1147, 1149; Bilsdorfer, NJW 2005, Heft 46, Editorial; Günter, S. 54 ff.; Jauernig in: FS Schumann (2001), S. 241 ff. 154 Zöller/Heßler, ZPO, § 567 Rn. 21a; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, § 567 Rn. 10; Bloching/Kettinger, NJW 2005, 860 ff.; Kettinger, DVBl. 2006, 1151, 1153 ff. 155 S. o. § 2 D II; BVerfGE 107, 395 = NJW 2003, 1924; Vollkommer in: FS Gerhardt (2004), S. 1023, 1033 f., 1035 ff.; Gottwald, Effektiver Rechtsschutz, 61. Dt. Juristentag, S. 58 ff. (für eine Integration der außerordenlichen Beschwerde im Gesetz). 156 BGH, NJW 2013, 385 Rn. 4. 157 EGMR, Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694 Rn. 156 (s. o. § 2 A). 151 EGMR,
112 Kapitel 4: Die Rechtsfolgen und die Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs helf bei einer innerstaatlichen Instanz zusteht, mit dem er die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK rügen kann.158 Nach der Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Sürmeli/Deutschland159 sei ein Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer wirksam, wenn er geeignet sei, entweder die befassten Gerichte zu einer schnelleren Entscheidungsfindung zu veranlassen (präventive Wirkung) oder dem Rechtssuchenden für die bereits entstandenen Verzögerungen eine angemessene Entschädigung zu gewähren (kompensatorische Wirkung).160 Mit Verweis auf die Gesetzesbegründung kommt der BGH zu dem Ergebnis, die §§ 198 ff. GVG seien eine Kombinationslösung, weil der Gedanke der Prävention durch die Verzögerungsrüge in der Regelung aufgegriffen sei und der Gesetzgeber ausführe, dass das Ausgangsgericht mit einer Abhilfe reagieren könne, eine Beschwerde für den Fall der Nichtabhilfe aber nicht vorgesehen sei, um die Belastungen für die Praxis zu begrenzen.161 Der BGH schlussfolgert also, dass der Gesetzgeber gegen die Untätigkeit der Gerichte keine Rechtsmittel zu einer höheren Instanz mehr vorsehen wollte.162 Einer außerordentlichen Beschwerde sei damit der Boden entzogen und diese damit unstatthaft.163 Der präventive Charakter der Rüge ist aber umstritten:164 Die Verzögerungsrüge ist kein Rechtsbehelf, sondern lediglich Verfahrenshandlung.165 Eine präventive Wirkung der Kundgabe der Verzögerung liegt im Ermessen des Gerichts. Die Untätigkeitsbeschwerde hatte dagegen einen Devolutiveffekt, indem sich das nächsthöhere Fachgericht unmittelbar mit dem Arbeitsverhalten des zuständigen Gerichts beschäftigen und bei Begründetheit der Beschwerde auch aktiv auf das Verfahren einwirken konnte. Bei der Verzögerungsrüge ist dies nicht der Fall. Die Unstatthaftigkeit der außerordentlichen Beschwerde neben der Entschädigung nach § 198 GVG ist vor diesem Hintergrund durchaus problematisch. Das ÜGRG hat dazu geführt, dass der einzig präventiv wirkende Rechtsbehelf der ZPO abgeschafft, mit den §§ 198 ff. GVG jedoch kein adäquater Ersatz geschaffen wurde.
158 BGH, NJW 2013, 385 Rn. 4; BT-Drs. 17/3802, S. 15 f.; EGMR, Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694 Rn. 156 (s. o. § 2 A). 159 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 99 (s. o. § 2 A; § 1 D II). 160 BGH, NJW 2013, 385 Rn. 4; EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/ Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 99 (s. o. § 2 A; § 1 D II). 161 BGH, NJW 2013, 385 Rn. 5; BT-Drucks. 17/3802, S. 15 f. 162 BT-Drucks. 17/3802, S. 16; BGH, NJW 2013, 385 ff. 163 BGH, NJW 2013, 385 ff.; OLG Düsseldorf, NJW 2012, 1455 ff.; OLG Brandenburg, MDR 2012, 305 ff.; Zöller/Heßler, ZPO, § 567 Rn. 21; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, § 567 Rn. 10; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 6. 164 S. o. § 3 V 4; Ohrloff, Überlange Gerichtsverfahren, S. 91 ff. 165 S. o. § 3 V.
E. Verhältnis der §§ 198 ff. GVG zu anderen Rechtsbehelfen
113
IV. Verhältnis zur Dienstaufsichtsbeschwerde, § 26 Abs. 2 DRiG Die Anrufung der Dienstaufsicht nach § 26 Abs. 2 DRiG ist neben den §§ 198 ff. GVG zulässig.166 Nach § 26 Abs. 2 DRiG kann der Richter von der zuständigen Dienstaufsicht (LG-Präsident, OLG-Präsident) zur „unverzögerten Erledigung der Amtsgeschäfte“ angehalten werden. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde erfüllt aber nicht die Voraussetzungen einer wirksamen Verzögerungsrüge und kann nicht in eine solche umgedeutet werden.167 Die Dienstaufsichtsbeschwerde ist nach der Rechtsprechung des EGMR kein effektiver Rechtsbehelf im Sinne von Art. 13 EMRK, da sie dem Betroffenen keinen Anspruch darauf gewährt, dass die beschleunigende Aufsichtsbefugnis auch ausgeübt wird.168
V. Unzulässigkeit der (Untätigkeits-)Verfassungsbeschwerde, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG vor Durchführung des Entschädigungsverfahrens nach §§ 198 ff. GVG Die Erhebung einer (Untätigkeits-)Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Rechts auf Entscheidung in angemessener Zeit nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 20 Abs. 3 GG setzt nun nach § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG die Durchführung eines Entschädigungsklageverfahrens nach §§ 198 ff. GVG voraus.169 Die Verfassungsbeschwerde ist aufgrund der inzidenten Prüfung der Grund- und Menschenrechtsverletzung im Rahmen des Entschädigungsanspruchs subsidiär.170 Die Verfassungsbeschwerde selbst ist nach der Rechtsprechung des EGMR kein effektiver Rechtsbehelf im Sinne von Art. 13 EMKR, da ihr Anwendungsbereich auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit beschränkt ist.171
VI. Individualbeschwerde beim EGMR nach Art. 35 EMRK Der EGMR sieht zunächst in dem Inkrafttreten des ÜGRG einen nachträglichen Wegfall der Zulässigkeit einer bereits anhängigen Individualbeschwerde 166 Thomas/Putzo/Hüßtege,
ZPO, § 198 GVG Rn. 6; OLG Köln, NJW-RR 2014, 636. § 3 A V; OLG Köln, NJW-RR 2014, 636; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 6; Arndt, DRiZ 1974, 248 ff.; Dinslage, DRiZ 1960, 201, 202 f. 168 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 109. 169 BVerfG, Urt. v. 28.01.2013 – 2 BvR 1912/12 Rn. 4, juris; Urt. v. 05.09.2013 – 1 BvR 2447/11, juris; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Einl. Rn. 378 ff.; Heine, MDR 2014, 1008, 1013. 170 Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 5; Schenke, NVwZ 2012, 257, 258; a. A. Huerkamp/Huerkamp, JZ 2013, 146, 147 f. 171 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 103 ff. 167 S. o.
114 Kapitel 4: Die Rechtsfolgen und die Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs nach Art. 35 EMRK.172 Wie bei der Verfassungsbeschwerde setzt das Individualbeschwerdeverfahren beim EGMR wegen Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer zukünftig die Durchführung eines Entschädigungsverfahrens nach §§ 198 ff. GVG voraus. Dem Individualbeschwerdeführer ist zumutbar, vor Anrufung des Gerichtshofs eine Entschädigungsklage nach § 198 GVG zu erheben.173
F. Zusammenfassung Der Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 GVG gewährt auf der Rechtsfolgenseite Ausgleich der materiellen und immateriellen Nachteile infolge der überlangen Verfahrensdauer. Die §§ 249 ff. BGB sind nach herrschender Meinung nicht anzuwenden. Die Angemessenheit der Entschädigungen ist für Kompensationsrechtsbehelfe ein Effektivitätskriterium nach der Rechtsprechung des EGMR. Das gilt auch für die Darlegungs- und Beweislast des Schadensnachweises. Im Entschädigungsprozess gilt der Beibringungsgrundsatz. Durch die umfangreiche ober- und höchstrichterliche Rechtsprechung ist die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast bereits sehr detailliert umrissen. Zur Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs ist ein gesondertes Erkenntnisverfahren durchzuführen, das sich gemäß § 201 Abs. 2 S. 1 GVG nach den §§ 253 ff. ZPO richtet. Das Ausgangs- und das Erkenntnisverfahren können parallel durchgeführt werden, wobei der BGH entschieden hat, dass es im Ermessen des Entschädigungsgerichts liegt, ob es das Verfahren nach § 201 Abs. 3 S. 1 GVG aussetzt oder die Entschädigungsklage als derzeit unbegründet abweist. Die Erhebung der Entschädigungsklage während des noch laufenden Ausgangsprozesses birgt somit für den Entschädigungskläger ein erhebliches Prozess- und Kostenrisiko. Der Gesetzgeber hat mit den §§ 198 ff. GVG einen Staatshaftungsanspruch sui generis geschaffen, der sich kaum in das bestehende System der Staatshaftung einfügen lässt. Die vor Einführung zulässige außerordentliche Beschwerde entsprechend § 567 ZPO ist nach der Rechtsprechung des BGH neben den §§ 198 ff. GVG nicht mehr statthaft. Zwischen dem Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG und der Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer nach § 198 Abs. 1 GVG besteht dagegen Anspruchskonkurrenz. Sämtlicher dieser übrigen Rechtsschutzmöglichkeiten bei überlanger Verfahrensdauer sind nicht wirksam im Sinne der Rechtssprechung des EGMR zu Art. 13 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK.
172 EGMR, Urt. v. 29.05.12, 53126/07 – Taron/Deutschland, EuGRZ 2012, 514 ff.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Einl. Rn. 383. 173 EGMR, Urt. v. 29.05.12, 53126/07 – Taron/Deutschland, EuGRZ 2012, 514 ff.
Teil III
Effektivität der §§ 198 ff. GVG nach den Vorgaben des EGMR für Rechtsschutzsysteme bei überlanger Verfahrensdauer?
5. Kapitel
Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK Die Vorgaben des EGMR für einen effektiven Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer ergeben sich aus Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK. Im Folgenden wird zunächst Art. 6 Abs. 1 EMRK behandelt, da die Bestimmung der überlangen Verfahrensdauer die Grundlage für die Entscheidung bildet, ob ein Rechtsbehelf effektiv ist.
A. Vorfragen I. Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR für das deutsche Zivilverfahrensrecht 1. Die EMRK in der deutschen Normenhierarchie Die EMRK hat in Deutschland, trotz ihres völkerrechtlichen Inhalts, den Rang eines einfachen Bundesgesetzes.1 Die EMRK wurde als völkerrechtlicher Vertrag mittels Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG in das innerstaatliche Recht inkorporiert.2 Durch die Ratifikation hat der Gesetzgeber die EMRK in deutsches Recht „transformiert“ und den „Rechtsanwendungsbefehl“ erteilt.3 Zustimmungsgesetze nach Art. 59 Abs. 2 GG sind einfaches Recht unterhalb des
1 BVerfGE 128, 326, 367 ff.; 111, 307, 316 ff.; 82, 106, 120 ff.; 74, 358, 370; 30, 272, 284; 4, 157, 162; 1, 396, 411; Meyer-Ladewig, EMRK, Einl. Rn. 33; Karpenstein/Mayer/Meyer, EMRK, Einl. Rn. 68 ff.; Dörr/Grote/Marauhn/Giegerich, EMRK/GG, Bd. I, Kapitel 2, Rn. 45 ff.; Buergenthal/Thürer, MenschenR, S. 355 ff.; Gebauer, Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme, S. 42 ff., 216 ff.; Schlette, Anspruch auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist, S. 32 ff.; Steger, Überlange Dauer vor deutschen und europäischen Gerichten, S. 174 ff.; Tiwisina, Überlange Verfahrensdauer, S. 53 ff.; Zoellner, Verhältnis zwischen BVerfG und EGMR, S. 89 ff.; Bleckmann, EuGRZ 1994, 149, 152 ff. 2 BGBl. II 1952, S. 685 (Hauptkonvention); BGBl. II 1956, S. 1879 (Zusatzprotokoll Nr. 1); BGBl. II 2002, S. 1054 (Neubekanntmachung in der Fassung des 11. Zusatzprotokolls); Vitzthum/Proelß/Kunig, VölkerR, S. 82 ff., 89 ff., 98 ff., S. 106 ff.; Ulsamer in: Frowein/Ulsamer, EMRK und nationaler Rechtsschutz, S. 35, 39 ff.; Frowein, Europäischer Grundrechtsschutz, S. 24 ff. 3 BVerfGE 111, 307, 316 f.; Pache, EuR 2004, 393, 394 ff.
Kapitel 5: Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 I EMRK 118
Verfassungsranges.4 Ein einfaches Gesetz kann keine höhere Gesetzesqualität vermitteln als es selbst besitzt.5 Theoretisch würde also der lex posterior-Grundsatz gelten und die Konvention könnte durch spätere Gesetze gleichen Ranges aufgehoben werden.6 Dieses Ergebnis wird in der Literatur als unbefriedigend empfunden, weshalb versucht wurde, den Verfassungsrang der EMRK zu begründen.7 Die EMRK als Ganzes oder zumindest einzelne Konventionsrechte8 seien als Völkergewohnheitsrecht im Sinne von Art. 25 GG zu bewerten.9 Nach anderer Ansicht ist die EMRK eine zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG.10 Schließlich wird der übergesetzliche Rang der EMRK als Teil des Rechtsstaatsprinzips in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG erklärt.11 Das Bundesverfassungsgericht hat den innerstaatlichen Rang und die Geltung der EMRK im Görgülü-Beschluss12 bestimmt und entschieden, die gesamte deutsche Rechtsordnung, inklusive des Grundgesetzes, sei im Lichte der EMRK auszulegen.13 Die EMRK sei trotz ihres einfachgesetzlichen Ranges von „verfassungsrechtlicher Bedeutung“, da sie nach dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit als „Auslegungshilfe“ zur Bestimmung der Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen heranzuziehen sei, sofern dies nicht zu einer Minderung des Grundrechtsschutzes führe (vgl. Art. 56 EMRK).14 Diese auch als konventionskonforme Auslegung15 bezeichnete Doktrin dient als Unterfall der völkerrechtskonformen Gesetzesauslegung dazu, die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR – soweit sie ein höheres Schutzniveau als das Grundgesetz aufweisen – bei der Bestimmung des Inhalts der Grundrechte und grundrechtlicher Garantien heranziehen zu können, ohne dass ein Konflikt innerhalb der Normenhierarchie entsteht.16 Soweit der Gesetzgeber nicht ausdrücklich darauf hinweist, ist wegen der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes – entgegen dem lex posterior-Grundsatz – nicht davon auszugehen, 4 Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfau/Butzer/Haas, GG, Art. 59 Rn. 82 ff. mwN.; Kadelbach, Jura 2005, 480, 483 ff. 5 Karpenstein/Mayer/Meyer, EMRK, Einl. Rn. 68 ff.; Dörr/Grote/Marauhn/Giegerich, EMRK/GG, Bd. I , Kapitel 2, Rn. 45 ff.; Wilfinger, Gebot effektiven Rechtsschutz, S. 189 ff.; Herzog, DÖV 1960, 775 ff.; ders., DÖV 1959, 44 ff. 6 Dörr/Grote/Marauhn/Giegerich, EMRK/GG, Bd. I, Kapitel 2, Rn. 46 ff.; Klein, JZ 2004, 1176. 7 Dörr/Grote/Marauhn/Giegerich, EMRK/GG, Bd. I , Kapitel 2, Rn. 51 ff.; Karpenstein/ Mayer/Mayer, EMRK, Einl. Rn. 101; Echterhölter, JZ 1955, 689, 691 f.; Hoffmeister, Der Staat (40) 2001, 349, 368 ff.; Heckötter, EMRK, S. 92 ff. 8 Steger, Überlange Dauer vor deutschen und europäischen Gerichten, S. 176 ff. 9 Dörr/Grote/Marauhn/Giegerich, EMRK/GG, Bd. I , Kapitel 2, Rn. 54 ff. 10 Dörr/Grote/Marauhn/Giegerich, EMRK/GG, Bd. I , Kapitel 2, Rn. 52. 11 Dörr/Grote/Marauhn/Giegerich, EMRK/GG, Bd. I , Kapitel 2, Rn. 62 ff. 12 BVerfGE 111, 307, 316 ff.; Klein, NVwZ 2010, 221, 222 ff. 13 BVerfGE 111, 307, 316 ff. 14 BVerfGE 128, 326, 367 ff.; 111, 307, 316 ff.; 82, 106, 120 ff.; 74, 358, 370. 15 Bereits BVerfGE 6, 309, 362 f. 16 Nußberger, HdStR, Bd. X, § 209 Rn. 11.
A. Vorfragen
119
dass der Gesetzgeber Gesetzesrecht schaffen will, das gegen Völkerrecht verstößt.17 Damit hat das Bundesverfassungsgericht die Frage nach der Stellung der EMRK in der Normenhierarchie materiell-rechtlich entschärft. Dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt auch die herrschende Auffassung in der Literatur.18 Daneben bewirkt der angestrebte Beitritt der Europäischen Union zur EMRK nach Art. 6 Abs. 2, Abs. 3 EUV eine noch dichtere Verwebung der beiden Grundrechtsschutzsysteme, insbesondere, wenn es um die Vereinbarkeit von Europarechtsakten mit Konventionsrecht geht; der Beitritt ändert dagegen nichts an der Stellung der EMRK im deutschen Recht.19 Ob die konventionskonforme Auslegung bis auf die Ebene des (einfachen) Bundes-/Zivilrechts reicht, ist unklar.20 Eine „Ausstrahlungswirkung“ der EMRK, vergleichbar mit der des Grundgesetzes auf das Zivilrecht, lässt sich aus der Normenhierarchie nicht begründen.21 Teilweise finden sich in der Literatur Stimmen, die trotzdem eine Ausstrahlungswirkung bejahen.22 Der Rang und die Wirkungen der EMRK sind also weiterhin strittig. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die Wertungen der EMRK durch den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit in das Grundgesetz eingebunden sind.23 Damit kommt der EMRK eine übergesetzliche Bedeutung zu, sodass sich das deutsche Zivilprozessrecht nicht nur am Maßstab des Grundgesetzes, sondern auch der EMRK messen lassen muss.24 2. Rechtswirkungen der Entscheidungen des EGMR a) Innerstaatliche Wirkungen der Rechtsprechung des EGMR Eine unmittelbare gesetzliche Bindung der deutschen Gerichte an die Entscheidungen des EGMR besteht nicht.25 Die Entscheidungen des EGMR geben den aktuellen Entwicklungsstand der Konvention und ihrer Protokolle wider und haben über den konkreten Fall hinaus eine „Orientierungs- und Leitfunktion“
17
BVerfGE 111, 307, 316 ff.; Voßkuhle, NJW 2013, 1329, 1330. EMRK/GG, Bd. I, Kapitel 2, Rn. 46; Sachs/Streinz, GG, Art. 59 Rn. 63 ff.; Jarass/Pieroth/Jarass, GG, Art. 59 Rn. 19; Art. 25 Rn. 10; Münch/ Kunig/Rojan, GG, Art. 59 Rn. 38; Cremer, EuGRZ 2004, 683, 686 ff.; Bernhardt in: FS Doering (1989), S. 23 ff. 19 Ehlers/Walter, EuGR, § 1 Rn. 40 ff., § 2 Rn. 22, § 14 Rn. 32; Dörr/Grote/Marauhn/ Giegerich, EMRK/GG, Bd. I, Kapitel 2, Rn. 35 ff.; Vondung, Beitritt der EU zur EMKR, S. 123 ff.; Schaller, EuR 2006, 656, 662 ff. 20 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 74; Sachs, JuS 2005, 164 ff. 21 Stern, StaatsR, Bd. I II/1, § 69 III 4. 22 Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, 473, 475 ff. 23 Breuer in: 60 Jahre EMRK (2014), S. 51, 65 ff. 24 BVerfG, NJW 2004, 3407 ff.; Schumann in: FS Schwab (1990), S. 4 49 ff. 25 Ehlers/Ehlers, EuGR, § 2 Rn. 121 ff.; Dörr/Grote/Marauhn/Cremer, EMRK/GG, Bd. I I, Kapitel 32, Rn. 58 ff., 110 ff.; Mellech, Rezeption der EMRK, S. 58 ff., 95 ff.; Landau, DVBl. 2008, 1269, 1274 ff.; Stöcker, NJW 1982, 1905, 1906 ff. 18 Dörr/Grote/Marauhn/Giegerich,
Kapitel 5: Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 I EMRK 120
für sämtliche Konventionsstaaten.26 Die EMRK enthält für die Urteile des EGMR keine mit § 31 BVerfGG vergleichbare Vorschrift, nach der sämtliche Gerichte der Konventionsstaaten an die Entscheidungen des EGMR gebunden wären.27 Präjudizien und verbindliches Richterrecht kennt das deutsche Recht auch nur in sehr engen Grenzen und sachlichen Teilbereichen durch Anwendung der Grundsätze über die Entwicklung von Gewohnheitsrecht.28 Das Bundesverfassungsgericht hat sich zur Reichweite der Bindungswirkung von Urteilen des EGMR ausführlich im Görgülü-Beschluss geäußert.29 Innerstaatlich sind alle Träger der öffentlichen Gewalt an die Entscheidungen des EGMR insoweit gebunden, als sie einer sog. Berücksichtigungspflicht unterliegen.30 Die Berücksichtigung hat im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung zu erfolgen. Einerseits müssen die Gerichte die Texte und Judikate zur Kenntnis nehmen und sich mit einer einschlägigen Entscheidung des EGMR auseinandersetzen.31 Andererseits ersetzt die Entscheidung des EGMR nicht den Willensbildungsprozess der innerstaatlichen Gerichte, sodass es den Gerichten untersagt ist, ohne eigene Überprüfung des innerstaatlichen Rechts Entscheidungen des EGMR „schematisch zu vollstrecken“.32 Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich beim nationalen Recht um ein ausbalanciertes Teilsystem handelt, dass verschiedene Grundrechtspositionen in Ausgleich bringen will.33 Für mehrpolige Grundrechtsverhältnisse, wie sie für das Privatrecht typisch sind (Kläger und Beklagter sind grundrechtsberechtigt und -verpflichtet), ist zudem zu beachten, dass sie sich in den Urteilen des EGMR – die stets nur die Ebene Konventionsstaat und Beschwerdeführer im Blick haben – nur bedingt abbilden lassen.34 Hier ist es Aufgabe des innerstaatlichen Gerichts, eine Entscheidung des EGMR in das nationale Recht einzupassen.35 Die nationalen Gerichte haben die Entscheidungen 26 BVerfGE 128, 326, 367 f.; 111, 307, 317 ff.; Ehlers/Ehlers, EuGR, § 2 Rn. 121 ff.; Dörr/ Grote/Marauhn/Cremer, EMRK/GG, Bd. I I, Kapitel 32, Rn. 58 ff., 110 ff.; Mellech, Rezeption der EMRK, S. 58 ff., 95 ff. 27 BVerfGE 111, 307, 320; Gaier, JuS 2011, 961, 962 ff. 28 Stern, StaatsR, Bd. I I § 37 2 e. 29 BVerfGE 111, 307 ff.; Cremer, EuGRZ 2004, 683 ff.; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15 ff. 30 BVerfGE 111, 307, 322 ff.; BVerfG EuGRZ 1985, 654, 656; Frowein in: FS Zeidler, S. 1763 ff.; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15, 16 ff.; Sachs, JuS 2005, 164, 165. 31 BVerfGE 111, 307 ff.; OLG Frankfurt, NJW 2013, 75, 80 ff.; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15, 16 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 2 S. 18 ff.; Grabenwarter, JZ 2010, 857, 859 ff.; ders., EuGRZ 2011, 229, 230 ff. 32 BVerfGE 111, 307, 323 ff.; Ehlers/Ehlers, EuGR, § 2 Rn. 121 ff.; Polakiewicz, Verpflichtungen aus den Urt.en des EGMR, S. 217 ff.; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15, 16 ff. 33 BVerfGE 111, 307, 327 ff.; Ehlers/Ehlers, EuGR, § 2 Rn. 121 ff.; Polakiewicz, Verpflichtungen aus den Urt.en des EGMR, S. 217 ff.; Ruffert, EuGRZ 2007, 245, 249 ff. 34 BVerfGE 111, 307, 327 ff.; Ehlers/Ehlers, EuGR, § 2 Rn. 121 ff. 35 BVerfGE 111, 307, 327 ff.; Ehlers/Ehlers, EuGR, § 2 Rn. 121 ff.; Frowein in: FS Zeidler, S. 1763 ff.; Polakiewicz, Verpflichtungen aus den Urt.en des EGMR, S. 217 ff.; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15, 16 ff.
A. Vorfragen
121
des EGMR wertend zu berücksichtigen.36 Solange sich dabei nach methodischen Standards ein Auslegungs- oder Abwägungsspielraum eröffnet, sind die Gerichte verpflichtet, der konventionsgemäßen Auslegung Vorrang zu geben.37 Etwas anderes gilt nur, wenn die Entscheidung des EGMR eindeutig gegen Gesetzesrecht oder eine deutsche Verfassungsbestimmung verstößt.38 „Berücksichtigen“ bedeutet, die Konventionsbestimmungen in der Auslegung durch den EGMR zur Kenntnis zu nehmen und auf den vorliegenden Fall anzuwenden, soweit dies nicht höherrangiges Recht verletzt.39 Der Rang der EMRK als einfaches Bundesgesetz führt dazu, dass deutsche Zivilgerichte die Konvention – wie anderes Gesetzesrecht auch – aufgrund der Bindung an Recht und Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG zu berücksichtigen haben.40 Prozessual ist bei einer Verletzung der EMRK eine Verfassungsbeschwerde nicht statthaft, da keine Grundrechte im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. § 90 Abs. 1 BVerfGG betroffen sind.41 Eine Verfassungsbeschwerde kann dagegen erhoben werden, wenn die Pflicht, EGMR-Urteile zu berücksichtigen, missachtet und somit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt wird.42 In Zivilsachen kann nach erfolgreicher Individualbeschwerde beim EGMR gemäß § 580 Nr. 8 ZPO eine Restitutionsklage erhoben werden, die zur Wiederaufnahme des Verfahrens führt.43 b) Konventionskonforme Auslegung des Entschädigungsanspruchs nach § 198 GVG? aa) Auslegungsfragen Was bedeutet das gefundene Ergebnis – Pflicht zur Beachtung der Urteile des EGMR im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung44 – für die Auslegung der §§ 198 ff. GVG?45 Eine Vielzahl der in §§ 198 ff. GVG verwendeten 36 BVerfGE 111, 307, 327 ff.; Ehlers/Ehlers, EuGR, § 2 Rn. 121 ff.; Polakiewicz, Verpflichtungen aus den Urt.en des EGMR, S. 217 ff. 37 BVerfGE 111, 307, 327 ff.; Ehlers/Ehlers, EuGR, § 2 Rn. 121 ff.; Polakiewicz, Verpflichtungen aus den Urt.en des EGMR, S. 217 ff. 38 BVerfGE 111, 307, 327 ff.; Ehlers/Ehlers, EuGR, § 2 Rn. 121 ff.; Polakiewicz, Verpflichtungen aus den Urt.en des EGMR, S. 217 ff. 39 BVerfGE 111, 307, 327 ff.; Ehlers/Ehlers, EuGR, § 2 Rn. 121 ff.; Frowein in: FS Zeidler, S. 1763 ff; Polakiewicz, Verpflichtungen aus den Urt.en des EGMR, S. 217 ff.; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15, 18. 40 BVerfGE 111, 307, 316 f.; Ehlers/Ehlers, EuGR, § 2 Rn. 121 ff.; Dörr/Grote/Marauhn/ Cremer, EMRK/GG, Bd. II, Kapitel 32, Rn. 58 ff., 110 ff.; Cremer, EuGRZ 2004, 683, 689 ff.; Mellech, Rezeption der EMRK, S. 7 ff., 41 ff. 41 Stdg. Rspr. BVerfGE 111, 307, 317; 74, 102, 128; 64, 135, 157; 10, 271, 274. 42 BVerfGE 128, 326, 367 ff.; 111, 307, 316 ff.; Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 26; Breuer, NVwZ 2005, 412, 413; Cremer, EuGRZ 2004, 683, 698 f. 43 Zöller/Greger, ZPO, § 580 Rn. 31; § 584 Rn. 9; Braun, NJW 2007, 1620, 1621; Schumann in: FS Machacek/Matscher (2008), S. 910, 912 ff. 44 S. o. § 5 A I 2 a. 45 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 74.
Kapitel 5: Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 I EMRK 122
und für die Anwendung der §§ 198 ff. GVG zentralen Begriffe, wie etwa die „unangemessene Verfahrensdauer“ in § 198 Abs. 1 S. 1 GVG oder der Begriff „Nachteil“ und „angemessene Entschädigung“ in § 198 Abs. 1, Abs. 2 GVG sind unbestimmt und auslegungsbedürftig.46 Gemäß § 198 Abs. 1 S. 2 GVG richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach der „Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens“ und nach dem „Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritten“.47 Diese Kriterien sind nach der Gesetzesbegründung der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entnommen.48 Der EGMR trifft zur Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer eine Entscheidung im Einzelfall und stellt hierbei auf die „Komplexität der Rechtssache“, das „Verhalten des Beschwerdeführers und der zuständigen Behörden“ sowie auf die „Bedeutung des Rechtsstreits für den Beschwerdeführer“ ab.49 bb) Auslegungsmethodik (1) Auslegungsziel Bei jüngeren Normen – wie den §§ 198 ff. GVG – kann die Bestimmung des Auslegungsziels50 offen bleiben, ob also der Wille des historischen Gesetzgebers (sog. subjektive Theorie)51 oder der normative Inhalt zum Zeitpunkt der Gesetzesanwendung (sog. objektive Theorie)52 maßgeblich ist. Beide Theorien kommen zu demselben Ergebnis, da bei neueren Gesetzen nach beiden Ansichten der Regelungsabsicht des Gesetzgebers, wie sie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, ein erhebliches Gewicht zukommt.53 Auch wird vertreten, dass objektive und subjektive Theorie nicht alternativ, sondern kumulativ anzuwenden sind, um so auf Grundlage dessen, was der Gesetzgeber geregelt wissen wollte, den maßgeblichen Norminhalt zu ermitteln.54 Nach dem ausdrückli46 BGH, NJW 2014, 789 ff.; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 70 ff.; Ossenbühl/Cornils, StaatshaftungsR, S. 461 f.; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 7. 47 S. o. § 3 A III. 48 S. o. § 2 D II; § 2 D IV 2 a; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 71; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1, 2. 49 EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447, 479. 50 Hassold in: FS Larenz (1983), S. 211, 215 ff. 51 BGH, NZV 2006, 641 ff.; NJW 2003, 2601 ff.; ZIP 1997, 1505 ff.; Canaris, ZIP 1997, 1507; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 516 ff., 780 ff.; Rüthers, JZ 2006, 53, 54 ff.; MünchKommBGB/Säcker, Bd. I , Einl. Rn. 123 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141 ff.; Bydlinski, Methodenlehre, S. 85 ff.; Esser, Methodenwahl, S. 125 ff. 52 BVerfGE 1, 312; 10, 244; 62, 1, 45; BGHZ 49, 221; 46, 74; OLG Frankfurt, NJW 2004, 165 ff.; Palandt/Sprau, BGB, Einl. Rn. 40. 53 BVerfGE 54, 54; 54, 277, 297; Wank, Auslegung, S. 32 f. 54 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 137 ff., 139; Honsell in: Staudinger (2013), Einl. zum BGB, Rn. 132 ff., 137; Honsell, Historische Argumente, S. 19 ff.; Esser, Methodenwahl, S. 125.
A. Vorfragen
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chen Willen des Gesetzgebers bezwecken die §§ 198 ff. GVG, die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK umzusetzen.55 (2) Auslegungskriterien In der Methodenlehre sind im Wesentlichen die Auslegungskriterien Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Norm anerkannt.56 Die Gesetzesauslegung beginnt mit dem Wortlaut der Norm, da der Wortlaut die Grenze dessen bestimmt, was innerhalb einzelner Begriffe noch als auslegbarer Wortsinn verstanden werden kann.57 In systematischer Auslegung ist zu fragen, welche Stellung die Norm innerhalb des Gesetzes und innerhalb der gesamten Rechtsordnung einnimmt.58 Untergruppen der systematischen Auslegung sind die grundrechts-59 und die richtlinienkonforme60 Auslegung. Völkerrechtlichen Verträgen wie der EMRK, die nach Art. 59 Abs. 2 GG (lediglich) den Rang eines Bundesgesetzes besitzen,61 ist im Rahmen der Gesetzesauslegung durch den Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung ausreichend Geltung zu verschaffen.62 Weiter ist – unabhängig davon, ob man der objektiven oder der subjektiven Theorie folgt – bei der Auslegung von Normen ihre Entstehungsgeschichte, wie sie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, zu beachten, um so schließlich hieraus den Sinn und Zweck der Norm ermitteln zu können.63 Lässt sich der Gesetzeszweck aus den Gesetzesmaterialien (Referenten- und Regierungsentwurf, Protokolle der Sitzungen im Bundestag und Bundesrat) erkennen, entsteht bei der subjektiven Theorie eine Bindung an den Normzweck, bei der objektiven Theorie eine Pflicht, den Normzweck zu berücksichtigen.64 Lässt sich der Zweck aus den Materialien nicht erkennen, ist er in teleologischer Auslegung zu ermitteln.65 Daneben sind 55
S. o. § 2 D II; § 2 D IV 2 a; BT-Drs. 17/3802, S. 1, 15. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141 ff.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 731 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 19 ff., 44 ff.; Engisch, Juristisches Denken, S. 92 ff.; Wank, Auslegung, S. 41 ff.; Hassold in: FS Larenz (1983), S. 211, 221 ff. 57 RGZ 79, 246, 249; 89, 187; 139, 110, 112; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141; Wank, Auslegung, S. 41. 58 RGZ 89, 187, 188. 59 BVerfG 2, 282; 48, 40; 64, 241; Honsell in: Staudinger (2013), Einl. zum BGB, Rn. 186 ff., Rn. 197 ff. 60 BGHZ 179, 27; MünchKommBGB/Säcker, Bd. I , Einl. Rn. 145 ff.; Palandt/Sprau, BGB, Einl. Rn. 43. 61 S. o. § 5 A I 1. 62 BVerfG, Urt. v. 04.05.2011 – 2 BvR 2365/09, EuGRZ 2011, 297 Rn. 89 (Sicherungsverwahrung); BVerfGE 111, 307, 319 ff. (Görgülü-Beschluss); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 4, S. 21. 63 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 149 ff.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 778 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 49 ff.; Engisch, Juristisches Denken, S. 88, 99 ff., 126 f. 64 Wank, Auslegung, S. 67 ff. 65 Wank, Auslegung, S. 67 ff. 56
Kapitel 5: Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 I EMRK 124
die allgemeine Gesetzeszwecke wie Sachgerechtigkeit und Effektivität einzubeziehen.66 Abschließend sind die Auslegungskriterien zu gewichten, wobei der Sinn und Zweck der Norm stets ein besonderes Gewicht haben sollte. Ihm kommt bei neueren Gesetzen eine besondere Bedeutung zu.67 Der Wortlaut unterstützt eine auf die Vorgaben des EGMR ausgerichtete Auslegung, da in §§ 198 ff. GVG die Formulierungen des EGMR beinahe wortgleich übernommen wurden. Systematisch wurden die Regelungen im GVG verortet, da sie so, entsprechend den Vorgaben des EGMR, im gesamten Konventionsstaat Geltung erlangen – für die ordentliche Gerichtsbarkeit durch direkte Anwendbarkeit und für die übrigen Fachgerichtsbarkeiten durch Verweisung. Da es sich beim „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“ (ÜGRG)68 um ein sehr junges Gesetz handelt, verpflichtet zur Berücksichtigung der – vom Gesetzgeber ausdrücklich in Bezug genommene – Urteilspraxis des EGMR bereits eine teleologische Auslegung der §§ 198 ff. GVG.69 Inwieweit nun daneben auf eine sog. konventionskonforme Auslegung zurückgegriffen werden kann und was konventionskonforme Auslegung – vor dem Hintergrund der strittigen Frage nach der Bindungswirkung der Rechtsprechung des EGMR – überhaupt bedeutet, kann hier offen bleiben.70 Der BGH setzt sich in diesem Sinne mit möglichen Effektivitätsvorgaben des EGMR zur Anwendung der §§ 198 ff. GVG bei entsprechender Entscheidungserheblichkeit detailliert auseinander.71 c) Wirkung der Rechtsprechung des EGMR aus konventionsrechtlicher Sicht aa) Inhalt des Urteils In der Sache sind die Urteile des EGMR nach Art. 41 EMRK („Stellt der Gerichtshof fest“) Feststellungsurteile, ohne kassatorische oder gestaltende Wirkung.72 Nach Art. 41 EMRK kann der Gerichtshof daneben für die Konventionsverletzung eine „gerechte“ Entschädigung aussprechen, soweit innerstaatlich keine ausreichende Wiedergutmachung gewährt wird.73 In Einzelfällen ist der 66
Wank, Auslegung, S. 67 ff. RGZ 79, 246, 249; 89, 187; 139, 110, 112; BGHZ 46, 74, 80 f.; BGHZ 87, 191, 195 f.; Wank, Auslegung, S. 65; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 163 ff.; Hassold in: FS Larenz (1983), S. 211, 230 ff. 68 BGBl. 2011 I, S. 2302 ff. 69 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 71; Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87 ff. 70 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 74; Guckelberger, DÖV 2012, 289, 296. 71 BGH, Urt. v. 12.02.2015 – III ZR 141/14 Rn. 40 ff.; BGHZ 199, 190 = NJW 2014, 789 Rn. 32 f. 72 Karpenstein/Mayer/Thienel/Wenzel, EMRK, Art. 41 Rn. 1 ff.; Heldrich, NJW 2004, 2634, 2636. 73 Karpenstein/Mayer/Thienel/Wenzel, EMRK, Art. 41 Rn. 1 ff. 67
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EGMR dazu übergegangen, konkrete Umsetzungsmaßnahmen anzuordnen.74 Voraussetzung für eine solche Anordnung ist, dass die Konventionsverletzung nach Ansicht des EGMR auf einem „systemischen Problem“ („systemic character of the problem“75) der Rechtsordnung des jeweiligen Vertragsstaates beruht.76 Der EGMR hat für diese Urteile die sog. „Piloturteilstechnik“ entwickelt,77 die inzwischen in Art. 61 VerfO EMRK kodifiziert ist.78 Piloturteilsverfahren sind mit Musterklagen vergleichbar. Der EGMR sucht eine Individualbeschwerde aus, die stellvertretend für alle Konventionsverletzungen derselben Gruppe steht und entschieden wird.79 Parallele Beschwerdeverfahren („repetitive cases“) kann der EGMR nach Art. 61 Abs. 6 VerfO EMRK aussetzen.80 Alle Beschwerden zu entscheiden, würde den EGMR überlasten. Ziel des Piloturteilsverfahrens ist es, das strukturelle Problem, das den Beschwerden zugrunde liegt, innerstaatlich zu lösen, um so zukünftig weitere Beschwerden zum EGMR zu vermeiden.81 Ein Piloturteil hat deshalb einen dreiteiligen Tenor: Erstens stellt der EGMR (wie üblich) die Konventionsverletzung fest. Zweitens stellt er fest, dass die Verletzung auf einem strukturellen Problem der Rechtsordnung des Vertragsstaates beruht. Und Drittens verpflichtet der EGMR den Konventionsstaat, Maßnahmen zur Beseitigung des strukturellen Problems zu ergreifen, und setzt hierfür eine Frist.82 Das Urteil in Sachen Rumpf/Deutschland ist das erste (und bisher einzige) Piloturteil des EGMR gegenüber Deutschland.83 Gemäß dieser Urteilstechnik enthält die Entscheidung Rumpf/Deutschland84 folgenden Tenor:
74
Nußberger, HdStR, Bd. X , § 209 Rn. 45 ff; Breuer, EuGRZ 2004, 257, 259 ff. Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 Rn. 59 ff., 69, 71 ff., 74. 76 Leach/Hardman/Stephenson/Blitz, Pilot Judgments, p. 171 et seq.; Wildhaber, HRLJ 2002, Vol. 23, p. 161, 163 et seq. 77 EGMR, Urt. v. 22.04.04, 31443/96 – Broniowski/Polen, EuGRZ 2004, 472; Breuer, EuGRZ 2004, 445, 447; Leach/Hardman/Stephenson/Blitz, Pilot Judgments, p. 9 et seq., p. 105. 78 Dörr/Grote/Marauhn/Cremer, EMRK/GG, Bd. I I, Kapitel 32, Rn. 119; Ehlers/Ehlers, EuGR, § 2 Rn. 121; Schmahl, EuGRZ 2008, 369 ff. 79 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 46 Rn. 20 ff.; Breuer, EuGRZ 2012, 1 ff.; Breuer, MenschenR, S. 59 ff.; Schmahl, EuGRZ 2008, 369 ff. 80 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 46 Rn. 20 ff.; Breuer, EuGRZ 2012, 1 ff.; Breuer, MenschenR, S. 59 ff.; Schmahl, EuGRZ 2008, 369 ff. 81 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 46 Rn. 20 ff.; Breuer, EuGRZ 2012, 1 ff.; Breuer, MenschenR, S. 59 ff.; Schmahl, EuGRZ 2008, 369 ff. 82 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 46 Rn. 20 ff.; Breuer, EuGRZ 2012, 1 ff.; Breuer, MenschenR, S. 59 ff.; Schmahl, EuGRZ 2008, 369 ff.; Garlicki in: FS Wildhaber (2007), S. 177 ff. 83 EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 ff. 84 S.o. § 2 A; EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 ff. 75 EGMR,
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„There has been a violation of Article 6 § 1 of the Convention; [and] There has been a violation of Article 13 of the Convention; The above violations originated in a practice incompatible with the Convention which consists in the respondet State´s recurrent failure to help ensuring that proceedings determining civil rights and obligations are completed within a reasonable time and to take measures enabling apllicants to claim redress for excessive length of proceeding. The respondent State must set up without delay, and at the latest within one year of the date on which the judgment becomes final […], an effective domestic remedy or combination of such remedies capable of securing adequate and sufficient redress for excessively long proceedings, in line with Convention principles and sufficient redress for excessively long proceedings, in line with the Convention principles as established in the Court´s case-law.“ 85
Die im Tenor des Urteils ausgesprochene Verpflichtung, einen innerstaatlichen Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer einzuführen, hat die BRD mit dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG)86 grundsätzlich umgesetzt. bb) Wirkung des Urteils im konkreten Fall Art. 46 Abs. 1 EMRK lautet: „Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen“ („undertaken to abide“/„se engager à se conformer“). Die Befolgungspflicht gilt nur für den verurteilten Staat, also inter partes.87 Wann ein Urteil „endgültig“ wird, normieren Art. 42 EMRK und Art. 44 EMRK.88 85 Zur deutschen Übersetzung des BMJV: EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, hudoc: […] Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist verletzt worden; […] Artikel 13 der Konvention ist verletzt worden; […] Die oben genannten Verletzungen entstanden durch eine mit der Konvention unvereinbare Praxis, die in dem wiederholten Versäumnis des beschwerdegegnerischen Staates besteht, dazu beizutragen, dass Verfahren über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen innerhalb einer angemessenen Frist abgeschlossen werden, und Maßnahmen zu ergreifen, die es Beschwerdeführern ermöglich, auf innerstaatlicher Ebene Wiedergutmachung für überlange Zivilverfahren zu fordern. […] Der beschwerdegegnerische Staat hat unverzüglich, und spätestens ein Jahr nachdem dieses Urt. entsprechend Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig geworden ist, einen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf oder eine Kombination solcher Rechtsbehelfe einzuführen, mit denen eine angemessene und hinreichende Wiedergutmachung für überlange Verfahren gewährleistet werden kann, und zwar im Einklang mit den Grundsätzen der Konvention, wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegt sind;[…]. 86 BGBl. 2011 I, S. 2302 ff. 87 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 46 Rn. 31. 88 BVerfGE 111, 307, 320; EuGRZ 1985, 654, 656; Karpenstein/Mayer/Schaffrin, EMRK, Art. 4 4 Rn. 1 ff.; Dörr/Grote/Marauhn/Cremer, EMRK/GG, Bd. II, Kapitel 32, Rn. 58 ff.; Klein in: FS Ryssdall, S. 706 ff.
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Urteile der Großen Kammer werden sofort mit Erlass rechtskräftig, Art. 44 Abs. 1 EMRK,89 die Urteile der übrigen Kammern nach Art. 42 i. V. m. Art. 44 Abs. 2 EMRK erst drei Monate nach Urteilserlass, wenn keine Verweisung an die Große Kammer beantragt wurde.90 „Endgültige“ Urteile sind formell rechtskräftig.91 Für die beteiligten Parteien – begrenzt auf den konkreten Streitgegenstand (res iudicata) – haben diese Urteile nach Art. 46 EMRK inter partes-Wirkung und sind in diesem Rahmen auch materiell rechtskräftig.92 Das Ministerkomitee als Organ des Europarates (Art. 10, Art. 13 ff. der Satzung des Europarates) ist nach Art. 46 Abs. 2 EMRK zuständig, die Befolgung der Urteile des EGMR zu überwachen.93 Dies erfolgt auf Grundlage der „Regeln des Ministerkomitees zur Überwachung der Urteilsdurchsetzung“ (RÜD).94 Neben der Prüfung, ob eine gerechte Entschädigung bezahlt wurde, (Art. 6 Abs. 2 lit. A RÜD) überwacht das Ministerkomitee auch individuelle und gesetzliche Maßnahmen des Staates (Art. 6 Abs. 1 lit. B RÜD).95 Bei Piloturteilsverfahren erfolgt diese Überwachung dem Umfang nach entsprechend der im Tenor ausgesprochenen Verpflichtung.96 Kommt das Ministerkomitee zum Ergebnis, dass der Staat sämtliche Urteilsverpflichtungen umgesetzt hat, schließt er die Überwachung mit einer „final resolution“ nach Art. 17 RÜD ab.97 Kommt er dagegen zum Ergebnis, dass das Urteil nicht befolgt wird, kann er die Sache erneut dem EGMR vorlegen, Art. 16 RÜD i. V. m. Art. 45 Abs. 4 und Abs. 5, Art. 46 EMRK („infringement proceedings“).98 In Bezug auf die Einführung des ÜGRG nach dem Urteil in der Rechtssache Rumpf/Deutschland99 ist die Überwachung durch das Ministerkomitee inzwischen erfolgreich abgeschlossen.100 89 Karpenstein/Mayer/Schaffrin,
90 Karpenstein/Mayer/Schaffrin, 91
EMRK, Art. 4 4 Rn. 1. EMRK, Art. 4 4 Rn. 1.
BVerfGE 111, 307, 319 ff.
92 Dörr/Grote/Marauhn/Cremer,
EMRK/GG, Bd. I I, Kapitel 32, Rn. 58 ff.; Klein in: FS Ryssdall, S. 706 ff. 93 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 46 Rn. 75 ff.; Frowein/Peukert/Frowein, Art. 46 Rn. 13 ff.; Okresek, EuGRZ 2003, 168 ff.; Okresek in: FS Machack/Matscher, (2008), S. 633, 638 ff.; Matscher, EuGRZ 1982, 517, 525. 94 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 46 Rn. 75 ff.; Frowein/Peukert/Frowein, Art. 46 Rn. 13 ff.; Okresek, EuGRZ 2003, 168 ff.; Okresek in: FS Machack/Matscher, (2008), S. 633, 638 ff. 95 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 46 Rn. 75 ff.; Frowein/Peukert/Frowein, Art. 46 Rn. 13 ff.; Okresek, EuGRZ 2003, 168 ff.; Okresek in: FS Machack/Matscher, (2008), S. 633, 638 ff. 96 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 46 Rn. 75 ff.; Frowein/Peukert/Frowein, Art. 46 Rn. 13 ff. 97 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 46 Rn. 75 ff.; Frowein/Peukert/Frowein, Art. 46 Rn. 13 ff. 98 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 46 Rn. 75 ff.; Frowein/Peukert/Frowein, Art. 46 Rn. 13 ff. 99 EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 ff. 100 Steinbeiß-Winkelmann/Sporrer, NJW 2014, 177, 178.
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cc) Urteilswirkung im Übrigen Urteile des EGMR haben keine formalen Folgen über den konkret entschiedenen Fall hinaus (erga omnes).101 Dennoch muss der Vertragsstaat, dessen Konventionsverletzung festgestellt wurde, dafür Sorge tragen, seine Rechtsordnung so zu verändern, dass sie mit der Konvention übereinstimmt, um zukünftig Konventionsverletzungen zu vermeiden.102 Diese Pflicht folgt aus der allgemeinen Staatenverantwortlichkeit aus Art. 30 lit. b) ILC-Artikel.103 Für die übrigen Mitgliedsstaaten haben die Urteile eine Orientierungswirkung. Sie sind angehalten, ihre nationalen Rechtsordnungen zu überprüfen und gegebenenfalls an die Urteilspraxis des EGMR anzupassen.104
II. Zwischenergebnis Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die Zivilgerichte verpflichtet, die Entscheidungen des EGMR zu berücksichtigen.105 Die Gerichte haben Judikate des EGMR zur Kenntnis zu nehmen und dürfen die Auseinandersetzung mit einer einschlägigen Entscheidung des EGMR nicht völlig unterlassen.106 Eine Entscheidung des EGMR ersetzt aber nicht den Willensbildungsprozess der innerstaatlichen Gerichte: Entscheidungen des EGMR dürfen nicht ohne Überprüfung des innerstaatlichen Rechts „schematisch“ vollstreckt werden.107 Die europäische Rechtsprechung ist vielmehr im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung zu beachten.108 Insoweit sind die Urteile des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK bei der Auslegung der §§ 198 ff. GVG zu berücksichtigen. Das gefundene Ergebnis entspricht der unter Teil I gewählten Vorgehensweise bei Anwendung und Auslegung der §§ 198 ff. GVG auch auf die Rechtsprechung des EGMR zu verweisen.109 Auch der BGH verweist im Rahmen seiner Rechtsprechung auf jeweils zu berücksichtigende Rechtsprechung des EGMR.110 101 Dörr/Grote/Marauhn/Cremer, EMRK/GG, Bd. II, Kapitel 32, Rn. 69; Klein in: FS Rysdall (2000), S. 705, 706 ff. 102 Dörr/Grote/Marauhn/Cremer, EMRK/GG, Bd. I I, Kapitel 32, Rn. 110 ff. 103 Dörr/Grote/Marauhn/Cremer, EMRK/GG, Bd. I I, Kapitel 32 Rn. 110 ff. 104 BVerfGE 111, 307, 320 ff.; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15, 16 ff., 18; Dörr/ Grote/Marauhn/Cremer, EMRK/GG, Bd. II, Kapitel 32, Rn. 110 ff.; Ress, EuGRZ 1996, 350 ff.; Heldrich, NJW 2004, 2634, 2636. 105 BVerfGE 111, 307 ff. 106 BVerfGE 111, 307 ff.; OLG Frankfurt, NJW 2013, 75, 80 ff.; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15, 16 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 2 S. 18 ff.; Grabenwarter, JZ 2010, 857, 859 ff.; ders., EuGRZ 2011, 229, 230 ff. 107 BVerfGE 111, 307, 323 ff.; Ehlers/Ehlers, EuGR, § 2 Rn. 121 ff.; Polakiewicz, Verpflichtungen aus den Urt.en des EGMR, S. 217 ff.; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15, 16 ff. 108 BVerfGE 111, 307, 323 ff. 109 S.o. § 3, § 4. 110 S.o. § 3, § 4.
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B. Schutzbereich des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK I. Normtextliche Grundlagen 1. Das Sprachenregime der EMRK/Auslegung der EMRK Wie sich aus der Schlussklausel in Art. 59 Nr. 4 Abs. 2 EMRK111 ergibt, ist für die wörtliche Auslegung der Konvention der englische und französische Text der EMRK maßgeblich, da nur diese beiden Textfassungen verbindlich sind.112 Alle anderen Sprachfassungen sind lediglich Übersetzungen.113 Bei Divergenzen zwischen der englischen und der französischen Textfassung gilt Art. 33 WVK.114 Unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck der Konvention ist eine Auslegung zu wählen, die beide Sprachfassungen am besten in Einklang bringt.115 Auch die Entscheidungen des EGMR ergehen in einer der Amtssprachen und werden nach Urteilserlass gegebenenfalls in der Kanzlei des Gerichtshofs in die Sprachen der Betroffenen übersetzt oder auch erst von den Mitgliedsstaaten selbst (sog. nichtamtliche Übersetzungen116).117
111 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010, BGBl. II, S. 1198: „Art. 59 Nr. 4 Abs. 2 EMRK: Unterzeichnung und Ratifikation: Geschehen […] in englischer und französischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindliche ist […]).“ European Convention on Human Rights (ECHR), offical text, abrufbar unter www.echr. coe.int/Documents/Convention_ENG.pdf (Abruf vom 20.10.2015). 112 Pabel/Schmahl/Miehsler, IntKomm EMRK, Art. 6 Rn. 1; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5 Rn. 2 ff.; Weston in: FS Wiarda (1988), S. 679 ff.; stdg. Rspr. EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 90. 113 Pabel/Schmahl/Miehsler, IntKomm EMRK, Art. 6 Rn. 1; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5 Rn. 2 . 114 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge, BGBl. 1985 II, S. 927: „Abschnitt 3 Auslegung von Verträgen Art. 33: Auslegung von Verträgen mit zwei oder mehr authentischen Sprachen (1) Ist ein Vertrag in zwei oder mehr Sprachen als authentisch festgelegt worden, so ist der Text in jeder Sprache in gleicher Weise maßgebend, sofern nicht der Vertrag vorsieht oder die Vertragsparteien vereinbaren, dass bei Abweichungen ein bestimmter Text vorgehen soll. (2) Eine Vertragsfassung in einer anderen Sprache als einer der Sprachen, deren Text als authentisch festgelegt wurde, gilt nur dann als authentischer Wortlaut, wenn der Vertrag dies vorsieht oder die Vertragsparteien dies vereinbaren. (3) Es wird vermutet, dass die Ausdrücke des Vertrags in jedem authentischen Text dieselbe Bedeutung haben. […].“ 115 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5 Rn. 3. 116 Abrufbar unter: www.bmjv.de/DE/Ministerium/Abteilungen/OeffentlichesRecht/ Menschenrechte/EuropaeischerGerichtshoffuerMenschenrechte/Urt.e/_node.html (Abruf vom 20.10.2015). 117 Karpenstein/Mayer/Mayer, EMRK, Einl. Rn. 55 ff.; Villinger, Hdb. EMKR, § 12 Rn. 198 ff.
Kapitel 5: Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 I EMRK 130
2. Textfassungen/Übersetzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK „Articel 6: Right to fair trial (Englische Textfassung) 1. In the determination of his civil rights and obligations […] everyone is entitled to a fair and public hearing within a reasonable time.“118 „Articel 6 – Droit à un procès équitable (Französische Textfassung) 1. Toute personne a droit à ce que sa cause soit entendue équitablement, publiquement e dans un délai raisonnable, par un tribunal indépendant et impartial, établi par la loi, qui décidera, soit des contestations sur ses droits et obligations de caractère civil, […]“119 „Artikel 6: Recht auf ein faires Verfahren (Deutsche Übersetzung) (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen […] in einem fairen Verfahren, öffentlich und in angemessener Frist verhandelt wird.“120
II. Anwendungsbereich von Art. 6 Abs.1 S. 1 EMRK 1. Sachlicher Anwendungsbereich a) Autonome Konventionsauslegung durch den EGMR Das Recht auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK gilt für Streitigkeiten über „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ („civil rights and obligations“). Wie die gesamte Konvention legt der EGMR den Begriff autonom („autonomous notion“) aus.121 Gesetzlicher Anknüpfungspunkt der autonomen Konventionsauslegung ist Art. 32 Abs. 1 EMRK, wonach der Gerichtshof die Konvention auszulegen hat.122 Die Auslegung des Begriffs „civil rights and obligations“ erfolgt nach den allgemeinen Kriterien: Wortlaut, Zusammenhang, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Norm.123 118 European Convention on Human Rights (ECHR), offical text, abrufbar unter www. echr.coe.int/Documents/Convention_ENG.pdf (Abruf vom 20.10.2015). 119 European Convention on Human Rights (ECHR), offical text, abrufbar unter www. echr.coe.int/Documents/Convention_ENG.pdf (Abruf vom 20.10.2015). 120 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010, BGBl. I I, S. 1198 (Abdruck: Satorius II, Textsammlung Nr. 1003). 121 Stdg. Rspr. EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 88 ff.; Schilling, IMR, § 21 Rn. 498 ff.; Karpenstein/Mayer/Meyer, EMRK, Art. 6 Rn. 12 ff.; Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 5 ff.; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 4; Dörr/Grote/Marauhn/Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG, Bd. I , Kapitel 14, Rn. 13 ff.; Macdonald/Matscher/Petzold/Matscher, Protection of Human Rights, p. 63, 65 et seq. 122 Karpenstein/Mayer/Karpenstein/Johann, EMRK, Art. 32 Rn. 1 ff.; Frowein, EuGRZ 1980, 231, 234 ff. 123 Pabel/Schmahl/Miehsler, IntKomm EMRK, Art. 6 Rn. 1 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5 Rn. 1.
B. Schutzbereich des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer
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Die „autonome Auslegung“ bildet einen Sonderfall der systematischen Auslegung, bei der der EGMR die Begriffe der Konvention eigenständig – von der Rechtsordnung des betroffenen Mitgliedsstaates losgelöst – auslegt und gleichzeitig versucht, durch einen sog. „wertenden Rechtsvergleich“124 Gemeinsamkeiten aller Mitgliedsstaaten zu ermitteln und bei der Auslegung zu berücksichtigen, um so der Konvention eine möglichst große Akzeptanz zu verschaffen.125 b) „Zivilrechtlicher Anspruch und Verpflichtung“ („civil rights and obligations“) aa) „Zivilrechtliche“ Qualifikation des Anspruchs Der Leitfall, in dem der EGMR unter Anwendung des „Prinzips der Autonomie“ den Begriff „zivilrechtlicher Anspruch und Verpflichtung“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ausgelegt hat, ist die Rechtssache König/Deutschland.126 Der Begriff sei autonom im Verhältnis zu seiner Bedeutung in den Mitgliedsstaaten auszulegen, da ansonsten Ergebnisse entstehen könnten, die mit dem Ziel und Zweck der Konvention unvereinbar seien.127 Das innerstaatliche Recht des betroffenen Mitgliedsstaates ist für den EGMR bei seiner Auslegung aber nicht belanglos.128 Ob ein Anspruch zivilrechtlich einzuordnen ist, bestimmt sich für den EGMR zwar nicht nach seiner innerstaatlichen Verortung, wohl aber nach dem materiellen Gehalt und den Rechtsfolgen, die dieser Anspruch im innerstaatlichen Recht auslöst. Die Funktion der autonomen Konventionsauslegung sei, neben Ziel und Zweck der Konvention auch die nationalen Rechtssysteme der übrigen Vertragsstaaten zu berücksichtigen.129 Der EGMR nimmt hierfür zunächst eine Auslegung nach dem Wortlaut vor.130 Die englischen und französischen Textfassungen zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK sind wesentlich weiter als das innerstaatliche (deutsche) Verständnis der übersetzten Begriffe.131 Die französische Fassung „contestations sur (des) droits et obligations de caractère civil“ umfasst alle Verfahren, deren Ausgang für Rechte 124 EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 89; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5 Rn. 11; Frowein in: Frowein/Ulsamer, EMRK und nationaler Rechtsschutz, S. 9, 13 ff. 125 EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 88 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5 Rn. 9 ff.; Pabel/Schmahl/Miehsler, IntKomm EMRK, Art. 6 Rn. 56 ff. 126 EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 86 f., 88 ff.; Schantl/Schweinester, ÖAnwBl. 1979, 524, 525 f. 127 EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 88; Buergenthal in: Menschenrechte (1967), S. 141, 161 ff. 128 EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 89. 129 EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 89; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5 Rn. 11. 130 EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 90. 131 EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 90.
Kapitel 5: Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 I EMRK 132
und Verpflichtungen privatrechtlicher Natur entscheidend sein kann.132 Der englische Text „the determination of […] civil rights and obligations“ bestätigt diese Auslegung.133 Der EGMR zieht daraus den Schluss, dass es für die Frage nach der zivilrechtlichen Qualifikation des Anspruchs nicht auf die Natur des Gesetzes ankommt, nach dem der fragliche Streit zu entscheiden ist, und auch nicht darauf, welchem Fachgericht die sachlich zuständige Behörde zugeordnet ist. Bei autonomer Gesetzesauslegung sei also für den zivilrechtlichen Charakter eines Anspruchs nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK allein der „Rechtscharakter des in Streit befindlichen Anspruches“ entscheidend.134 Der EGMR nimmt dafür die innerstaatliche Einordnung des Anspruchs als Ausgangspunkt und trifft eine Abwägung, ob für ihn die öffentlich-rechtlichen oder die zivilrechtlichen Elemente überwiegen.135 Er legt den Begriff „civil rights“ dadurch sehr weit aus.136 Zivilrechtlich sind für den EGMR auch nach deutschem Recht öffentlich-rechtliche (Beispiel: Behördliche Genehmigung zum Betrieb einer Mülldeponie137) und sozialversicherungsrechtliche Ansprüche (Beispiel: Rentenversicherungsrechtliche Ansprüche) zu qualifizieren, soweit die privatrechtliche Sphäre des Beschwerdeführers betroffen ist.138 So hat der EGMR im Urteil Herbst/Deutschland entschieden, dass Schadensersatzverfahren vor den Verwaltungsgerichten „zivilrechtliche“ Streitigkeiten im Sinne von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK sind, auch wenn die Voraussetzungen öffentlich-rechtliche Fragen betreffen (vorliegend das Hochschulrecht).139 Weiter hat die autonome Auslegung des Begriffs „civil right“ zur Folge, dass auch Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht unter Art. 6 Abs. 1. S. 1 EMRK fallen, soweit ihr Ausgang für die zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen des Beschwerdeführers von entscheidender Bedeutung ist, wie das etwa beim Eigentumsrecht nach Art. 14 GG der Fall sein kann.140 In der Literatur wird formuliert, der EGMR prüfe, ob der Zweck der Anspruchsgeltendma132
EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 90. EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 90. 134 EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 90. 135 EGMR, Urt. v. 29.05.1986, 9384/81 – Deumeland/Deutschland, EuGRZ 1988, 20 Rn. 62 ff. 136 Gomien, ECHR, Ch. 6, pp. 50. 137 EGMR, Urt. v. 25.11.93, 14282/88 – Zander/Schweden, EuGRZ 1995, 535; Frowein/ Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 9. 138 EGMR, Urt. v. 29.05.1986, 9384/81 – Deumeland/Deutschland, EuGRZ 1988, 20; Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 18. 139 EGMR, Urt. v. 11.01.07, 20027/02 – Herbst/Deutschland, NVwVZ 2008, 289, 290 Rn. 55. 140 EGMR, Urt. v. 23.04.09, 1479/08 – Ballhausen/Deutschland, Rn. 52 ff., hudoc; Urt. v. 26.04.07, 14635/03 – Laudon/Deutschland, Rn. 56 ff, hudoc; Urt. v. 08.01.04, 47169/99 – Voggenreiter/Deutschland, EuGRZ 2004, 150, 153 Rn. 31 f.; Urt. v. 20.03.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, NJW 2004, 3397 Rn. 43 (s.o. § 1 D I); Urt. v. 01.07.1997, 125/1996/744/943 – Probstmeier/Deutschland, EuGRZ 1997, 405 Rn. 47; Urt. v. 16.09.1996, 57/1995/563/649 – Süßmann/Deutschland, EuGRZ 1996, 514, 518 f. 133
B. Schutzbereich des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer
133
chung der privatrechtlichen Sphäre des Klägers zuzuordnen sei.141 Dies wird zu Recht kritisiert, weil durch die fortwährende Ausweitung des Begriffs zu wenig Rechtssicherheit herrsche.142 Ein Beispiel ist das Steuerrecht, dass nach der Rechtsprechung des EGMR grundsätzlich nicht unter den Begriff „civil right“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK fällt, da die Steuererhebung den Kernbereich des öffentlichen Rechts betrifft.143 In einem anderen Fall dagegen hat der EGMR entschieden, der Rechtsstreit eines französischen Verlagskonzerns (vor der Finanzgerichtsbarkeit) über Steuerermäßigungen und verbilligte 6 Abs. 1 S. 1 Posttarife für eine Zeitschrift sei als zivilrechtlich nach Art. EMKR zu beurteilen, weil Vermögenswerte (Rechte mit „pecuniary nature“) des Unternehmens betroffen seien.144 In einer Reihe von Entscheidungen, die nach deutschem Verständnis überlange Zivilverfahren betrafen, hat der EGMR die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und das Vorliegen eines zivilrechtlichen Anspruchs gar nicht geprüft.145 So zum Beispiel in der Entscheidung Nold/Deutschland,146 in der es um ein überlanges Zivilverfahren ging, das eine Restwerklohnforderung wegen Baumängeln betraf.147 Genauso in der Entscheidung Bozlar/Deutschland wegen der überlangen Verfahrensdauer in einem Arzthaftungsprozess.148 Der EGMR hat aber andererseits entschieden, dass ein Anspruch auf Einsichtnahme ins Grundbuch kein „civil right“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK begründet.149 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass in autonomer Auslegung durch den EGMR in der Regel sämtliche, nach deutschem Verständnis zivilrechtlich einzuordnende Ansprüche und Rechtspositionen unter den Begriff „civil rights“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK zu subsumieren sind.150
141 EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 88 ff.; Karpenstein/Mayer/Meyer, EMRK, Art. 6 Rn. 13 ff.; Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 6 ff.; Dörr/Grote/Marauhn/Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG, Bd. I, Kapitel 14, Rn. 13 ff. 142 Karpenstein/Mayer/Meyer, EMRK, Art. 6 Rn. 13 ff.; Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 6 ff.; Dörr/Grote/Marauhn/Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG, Bd. I, Kapitel 14, Rn. 13 ff. 143 EGMR, Urt. v. 12.07.01, 44759/98 – Ferrazzini/Italien, hudoc; Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 22 f.; Peters/Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 7, 9. 144 EGMR, Urt. v. 26.03.92, 11760/85 – Editions Périscope/Frankreich, Rn. 39 f., hudoc. 145 EGMR, Urt. v. 21.01.2010, 42402/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721 ff. (s. o. § 1 D IV); Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 118 ff. (s. o. § 1 D II). 146 EGMR, Urt. v. 29.06.06, 27250/02 – Nold/Deutschland, Rn. 85 ff., hudoc. 147 EGMR, Urt. v. 29.06.06, 27250/02 – Nold/Deutschland, Rn. 85 ff., hudoc. 148 EGMR, Urt. v. 05.03.09, 7634/05 – Bozlar/Deutschland, EuGRZ 2009, 207, 208 Rn. 20 ff. 149 Peters/Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 9. 150 Peters/Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 7; Henckel in: FS Matscher, S. 185, 188 ff.
Kapitel 5: Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 I EMRK 134
bb) Entscheidung über einen „Anspruch“ („determination of rights“) Dem englischen und französischen Text fehlt ein direktes Äquivalent für die Formulierung „Anspruch“ in der deutschen Übersetzung. Der Beschwerdeführer hat nach der Rechtsprechung des EGMR einen realen und ernsthaften „Rechtsanspruch“ vorzubringen, um seinen Anspruch zu begründen. Der EGMR bejaht den Rechtsanspruch, soweit er nach der geschriebenen Rechtsordnung oder der ständigen Rechtsprechung des Konventionsstaates besteht.151 Maßgeblich ist, dass über ein Recht entschieden wird und nicht nur über eine prozessuale Rechtsstellung.152 cc) „Streitigkeit“ über ein Recht Art. 6 Abs. 1 EMRK ist weiter nur auf Verfahren anwendbar, in denen über eine „Streitigkeit“ zu entscheiden ist.153 Im englischen Text ist dieses Kriterium nicht genannt, der französische Text spricht von „contestations“. Der EGMR prüft hier, ob das Verfahren für die Rechte unmittelbar entscheidend ist.154 Die Streitigkeit kann das eigentliche Bestehen des Rechts und auch dessen Tragweite und die Modalitäten seiner Ausübung betreffen.155 2. Persönlicher Anwendungsbereich Die Garantie aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK auf Rechtsschutz in angemessener Zeit steht „jeder Person“ zu, deren Angelegenheit – soweit sie „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ betrifft – von einem Gericht zu entscheiden ist.156 Der Begriff „jede Person“ umfasst natürliche und juristische Personen, nicht dagegen die Staaten selbst oder öffentlich-rechtliche Körperschaften, da sie nach Art. 34 S. 1 EMRK vor dem EGMR nicht individualbeschwerdeberechtigt sind.157
151 EGMR, Urt. v. 15.10.09, 17056/06 – Micallef/Malta, Rn. 74 f., hudoc; Gomien, ECHR, Ch. 6, pp. 50; Grabenwarter/Pabel, § 24 Rn. 14 f.; Grabenwarter, ECHR, Art. 6 Rn. 3 ff.; Dörr/Grote/Marauhn/Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG, Bd. I , Kapitel 14, Rn. 13 ff. 152 Grabenwarter/Pabel, § 24, Rn. 5 f.; Harris/O´Boyle/Warbrick, ECHR, p. 389 et seq. 153 EGMR, Urt. v. 27.06.2000, 30979/96 – Frydlender/Frankreich, Rn. 27 f., hudoc; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 14 f. 154 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 14 f. 155 EGMR, Urt. v. 08.01.04, 47169/99 – Voggenreiter/Deutschland, EuGRZ 2004, 150, 153 Rn. 30. 156 Grabenwarter/Pabel, § 13 Rn. 5 ff.; Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 4. 157 Grabenwarter/Pabel, § 13 Rn. 5 ff.; Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 4.
B. Schutzbereich des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer
135
II. Bestimmung des zu berücksichtigenden Zeitraums 1. Beginn des zu berücksichtigenden Zeitraums Für die Prüfung der angemessenen Verfahrensdauer ist zunächst „der zu berücksichtigende [prozessuale] Zeitraum“158 zu definieren. Der relevante Zeitraum ergibt sich nicht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, sondern wurde von der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelt.159 Wann dieser Zeitraum in (deutschen) Zivilverfahren beginnt, ist in der Literatur strittig und auch der Rechtsprechung des EGMR nicht eindeutig zu entnehmen. Einer Ansicht nach beginnt der Zeitpunkt mit Klagerhebung, im Zivilprozess also mit Rechtshängigkeit.160 Anderer Ansicht nach bereits mit Eingang der Klage- oder Antragsschrift bei Gericht, also mit Anhängigkeit der Klage.161 Oder die für Art. 6 Abs. 1 EMRK maßgebliche Spanne soll in Zivilverfahren mit „Einleitung des Rechtsstreits“ beginnen, d. h. wenn die Sache gerichtsbekannt wird, regelmäßig also mit Erhebung der Klage.162 Ob dabei der Begriff Klagerhebung tatsächlich in seiner zivilprozessualen Bedeutung nach §§ 253, 261 Abs. 1 ZPO verwendet wird – Einreichung der Klage und Zustellung an den Gegner – lassen die Ausführungen nicht erkennen.163 Überdies wird häufig auf Entscheidungen des EGMR verwiesen, die zwar „civil rights“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK betrafen, aber keine zivilrechtlichen Sachverhalte nach deutschem Verständnis.164 Teilweise lässt die Entscheidungsbegründung165 nicht erkennen, welcher Zeitpunkt nach deutscher zivilverfahrensrechtlicher Lesart gemeint wäre. Die (im deutschen Zivilprozess übliche) Unterscheidung nach Rechts– und Anhängigkeit lässt sich gar nicht treffen. Die Auswertung einer Reihe (nach deutschem Verständnis) zivilrechtlicher Entscheidungen zeigt folgendes Bild: Für den EGMR 158 EGMR, Urt. v. 21.10.2010, 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055, 1056 Rn. 24 (s. o. § 1 D V); Urt. v. 05.10.2006, 66491/01 – Grässer/Deutschland, EuGRZ 2007, 268, 271 (s. o. § § 1 D III); Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, 2392 Rn. 119 (s. o. § 1 D II); Urt. v. 04.04.02, 45181/99 – Volkwein/Deutschland, Rn. 11, 32, hudoc. 159 Karpenstein/Mayer/Meyer, EMRK, Art. 6 Rn. 74; Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 239; Villinger, EMRK, § 20 Rn. 456. 160 EGMR, Urt. v. 26.03.92, 11760/85 – Editions Périscope/Frankreich, Rn. 43, hudoc; Karpenstein/Mayer/Meyer, EMRK, Art. 6 Rn. 74; Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 239; Villinger, EMRK, § 20 Rn. 456. 161 Mayer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 189. 162 EGMR, Urt. v. 26.03.92, 11760/85 – Editions Périscope/Frankreich, Rn. 43, hudoc; Grabenwarter, ECHR, Art. 6 Rn. 93; Dörr/Grote/Marauhn/Grabenwarter/Pabel, EMRK/ GG, Bd. I , Kapitel 14, Rn. 113. 163 Zöller/Greger, ZPO, § 253 Rn. 4. 164 EGMR, Urt. v. 26.03.92, 11760/85 – Editions Périscope/Frankreich, hudoc (öffentlich-rechtliches Verfahren vor den Verwaltungsgerichten). 165 EGMR, Urt. v. 26.03.92, 11760/85 – Editions Périscope/Frankreich, Rn. 43: „The period to be taken into consideration began on […], when the proceedings were instituted in […] Court“, hudoc.
Kapitel 5: Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 I EMRK 136
ist der maßgebliche Zeitpunkt für Art. 6 Abs. 1 EMRK in (deutschen) Zivilverfahren in der Regel die Klageerhebung nach §§ 253, 261 Abs. 1 ZPO.166 In der Rechtsache Volkwein/Deutschland, bei der das Verfahren durch einen Mahnbescheid ausgelöst wurde, hat der EGMR den zu berücksichtigenden Zeitraum dagegen erst mit dem Eingang des Widerspruchs bei Gericht nach § 694 ZPO beginnen lassen, da in diesem Augenblick das „streitige“ Verfahren beginne.167 Die Unterschiede lassen sich damit erklären, dass der EGMR in manchen Fällen mit Blick auf den Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 EMRK der Verfestigung der „Streitigkeit“ („dispute“/“contestation“) größeres Gewicht beimisst als einem formellen (gesetzlichen) Anknüpfungspunkt im Recht des jeweiligen Konventionsstaates.168 Für den Beginn des Berechnungszeitraums ist also die Klageerhebung nach §§ 253, 261 Abs. 1 ZPO eine Orientierung, der EGMR trifft aber stets eine Entscheidung im Einzelfall. So ist bei einer Streitgenossenschaft nach §§ 59 ff. ZPO oder einer Nebenintervention nach § 66 ZPO für den Streitgenossen oder Nebenintervenienten der Zeitpunkt des Beitritts maßgeblich.169 2. Ende des zu berücksichtigenden Zeitraums Die Zustellung der (materiell) rechtskräftigen Entscheidung beendet den für Art. 6 Abs. 1 EMRK maßgeblichen Zeitraum.170 Die Entscheidung kann in Zivilverfahren durch Urteil, Beschluss oder auch Vergleich ergehen.171 Für die Verfahrensdauer sind alle Instanzen, einschließlich der Rechtsmittelverfahren, zu berücksichtigen.172 Wird die Streitsache vom Berufungs- oder Revisionsgericht zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen und gegen diese Entscheidung wiederum ein Rechtsmittel eingelegt, ist erst die letzte Rechtmittelentscheidung maßgeblich.173 Einbezogen in die Verfahrensdauer ist nach Auffassung des EGMR auch der Zeitraum zwischen Verkündung und Zustellung des Urteils, folglich können auch Verzögerungen bei der Urteilsabfassung 166 EGMR, Urt. v. 21.10.2010 , 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055, 1056 Rn. 24 (s. o. § 1 D V); Urt. 05.03.2009, 7634/05 – Bozlar/Deutschland, EuGRZ 2009, 207, 208 Rn. 15; EGMR, Urt. v. 05.10.2006, 66491/01 – Grässer/Deutschland, EuGRZ 2007, 268, 271 (s. o. § 1 D III); EGMR, Urt. v. 26.04.2007, 14635/03 – Laudon/Deutschland, Rn. 58, hudoc; EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, 2392 Rn. 119 (s. o. § 1 D II). 167 EGMR, Urt. v. 04.04.02, 45181/99 – Volkwein/Deutschland, Rn. 11, 32, hudoc. 168 Kreutzer, Säumnis, S. 34 ff. 169 Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 239; Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87, 89. 170 Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 242 ff.; Dörr/Grote/Marauhn/Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG, Bd. I , Kapitel 14, Rn. 113; Peters/Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 55. 171 EGMR, Urt. v. 06.05.1981, 7759/77 – Buchholz/Deutschland, EuGRZ 1981, 490 Rn. 50; Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 243. 172 EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 98; Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 242. 173 Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 242.
B. Schutzbereich des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer
137
Relevanz haben.174 Entscheidet ein Zivilgericht über Grund und Höhe des Anspruchs in getrennten Verfahren – im deutschen Zivilprozessrecht möglich im Wege eines Teilurteils nach § 304 ZPO – sind nach der Rechtsprechung des EGMR beide zusammen als ein Verfahren im Sinne von Art. 6 Abs.1 EMRK zu prüfen.175 Für die Berechnung der Verfahrensdauer unbeachtlich ist das Zwangsvollstreckungsverfahren; wegen seiner besonderen Bedeutung ist es aber bei der Beurteilung der Angemessenheit nach Art. 1. ZP zu würdigen.176 Etwas anderes gilt, wenn das Urteil nicht oder erst verspätet durchgesetzt werden konnte, da dann der zu berücksichtigende Zeitraum in dem Zeitpunkt endet, in dem die Entscheidung durch Anspruchsbefriedigung des Beschwerdeführers erstmals tatsächlich wirkte.177 3. Berücksichtigung einer Verfassungsbeschwerde Der EGMR bezieht bei der Rüge der überlangen Verfahrensdauer auch ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht mit ein, wenn das Verfahren für die zivilrechtlichen Ansprüche des Beschwerdeführers unmittelbar entscheidend war.178 Der EGMR ist damit von seiner früheren Rechtsprechung abgerückt, in er die im Anschluss an den Instanzenzug vor dem Bundesverfassungsgericht durchgeführten Verfahren noch unberücksichtigt ließ, da es sich nicht um denselben Anspruch handle.179 Strittig ist, ob es für die Berücksichtigung der Verfassungsbeschwerde nötig ist, dass sich der Beschwerdeführer auf ein Verfassungsrecht beruft, das auch „civil right“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK sein kann und die Verfassungsbeschwerde den materiell-(zivil-)rechtlich relevanten Inhalt der Entscheidung angemessen erörtert.180 Die bis zur 174 EGMR, Urt. v. 30.03.2010, 46682/07 – Sinkovec/Deutschland, hudoc; OVG Brandenburg, Urt. v. 27.03.2012, 3 A 1.12, juris; Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Ott, ÜGRG, § 198 GVG Rn. 54. 175 EGMR, Urt. v. 10.07.84, 8990/80 – Guincho/Portugal, Rn. 29 ff., hudoc; Frowein/ Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 243. 176 EGMR, Urt. v. 26.09.1996, 24295/94 – Zappia/Italien, hudoc; Pabel/Schmahl/Kühne, IntKomm EMRK, Art. 6 Rn. 328. 177 EGMR, Urt. v. 02.07.2002, 71891/01 – Halka u. a./Polen Rn. 20. 178 EGMR, Urt. v. 24.09.2007, 14635/03 – Laudon/Deutschland, Rn. 59, hudoc; Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228 Rn. 4 4 (s.o. § 1 D I 2 a); Urt. v. 27.07.2000, 33379/96 – Klein/Deutschland, NJW 2001, 213 Rn. 39; Urt. v. 16.09.1996, 20024/92 – Süßmann/Deutschland, EuGRZ 1996, 514 Rn. 57 ff. 179 EGMR, Urt. v. 27.07.2000, 33379/96 – Klein/Deutschland, NJW 2001, 213 Rn. 39; Urt. v. 16.09.1996, 20024/92 – Süßmann/Deutschland, EuGRZ 1996, 514 Rn. 57 ff.; a. A. EGMR, Urt. v. 06.05.1981 – Buchholz/Deutschland, EuGRZ 1981, 490 Rn. 47 ff.; Dörr/ Grote/Marauhn/Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG, Bd. I , Kapitel 14, Rn. 113. EGMR, Urt. v. 06.05.1981 – Buchholz/Deutschland, EuGRZ 1981, 490 Rn. 47 ff. 180 S. o. § 5 B II 1 b; EGMR, Urt. v. 06.02.2003, 45835/99 – Hesse-Anger/Deutschland, hudoc; Urt. v. 27.02.2003, 39547/98 – Niederböster/Deutschland, hudoc (Verlängerung bejaht); Urt. v. 25.02.2000, 29357/95 – Gast und Popp/Deutschland, NJW 2001, 211 (Verlän-
Kapitel 5: Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 I EMRK 138
rechtskräftigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vergangene Zeit ist also in den nach Art. 6 Abs. 1 EMRK zu berücksichtigenden Zeitraum einzubeziehen.181
III. Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer 1. Methodik des EGMR Für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nach der Judikatur des EGMR auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen und nicht auf feste Zeitgrenzen.182 Der EGMR stellt zunächst die Gesamtverfahrensdauer fest („overall duration“183 /„periode to be taken in consideration“184). Das bringt es mit sich, dass die Entscheidungen in der Regel einen sehr ausführlichen Sachverhaltsteil enthalten, da der EGMR sorgfältig sämtliche Verfahrensschritte von der Klageerhebung bis zur materiellen Rechtskraft der Entscheidung nachzeichnet. Auf dieser Grundlage überprüft der EGMR dann die Angemessenheit der Verfahrensdauer anhand von vier Kriterien: „Komplexität der Sache“, „Verhalten des Beschwerdeführers“, „Verhalten der zuständigen Behörden und Gerichte“ sowie „Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer“.185 Schließlich entscheidet der EGMR nach einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls unter besonderer Berücksichtigung der geprüften Kriterien.186 gerung verneint); Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 246 f.; krit. Dörr/Grote/Marauhn/Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG, Bd. I , Kapitel 14, Rn. 113. 181 EGMR, Urt. v. 21.01.2010, 42402/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721 Rn. 43, 58 (s. o. § 1 D IV); Urt. v. 05.10.2006, 66491/01 – Grässer/Deutschland, EuGRZ 2007, 268 Rn. 36 ff., 52 (s. o. § 1 D III); Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Nobert Kind/ Deutschland, NJW 2004, 3397 Rn. 31 ff., 44 (s. o. § 1 D I); Urt. v. 27.07.00, 33379/96 – Klein/Deutschland, NJW 2001, 213; Urt. v. 25.02.00, 29357/95 – Gast u. Popp/Deutschland, NJW 2001, 211. 182 Stdg. Rspr. seit EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 99; Urt. v. 29.05.1986, 9384/81 – Deumeland/Deutschland, NJW 1989, 652 Rn. 78 ff.; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 199 f.; Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 249; aA Villiger, Hdb. EMRK, Art. 6 § 20 Rn. 468. 183 EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 99, 102 ff., 105; Urt. v. 06.05.1981, 7759/77 – Buchholz/Deutschland, EuGRZ 1981, 490 Rn. 45 ff., 50. 184 EGMR, Urt. v. 27.02.2003, 39547/98 – Niederböster/Deutschland, Rn. 42 ff., hudoc. 185 S. o. § 1 D; stdg. Rspr. seit EGMR, Urt. v. 28.07.1978, 6232/73 – König/Deutschland, EuGRZ 1978, 406 Rn. 99, 102 ff., 105; Urt. v. 27.06.2000, 30979/96 – Frydlender/Frankreich, Rn. 43, hudoc; Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228 Rn. 45 ff., 47 (s. o. § 1 D I 2 a); EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/ Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 128 (s. o. § 1 D II 2 b); Grabenwarter/Pabel, § 24 Rn. 71; Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87 ff.; Ballon in: FS Sprung (2001), S. 1, 4 f. 186 Grabenwarter/Pabel, § 24 Rn. 71; Priebe in: Grundrechtsschutz im internationalen Recht, S. 287, 292 ff.
B. Schutzbereich des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer
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2. Kriterien des EGMR a) Komplexität der Sache („complexity of the case“) aa) Allgemeines Bei der Komplexität der Sache ist zwischen tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeit des Rechtsstreits zu unterscheiden („legal and factual complexity“).187 Der EGMR stuft die Komplexität des Falles in einer Skala ein: nicht sonderlich komplex („not particulary complex“),188 gewisse sachliche und / oder rechtliche Komplexität („certain complexity“),189 ziemlich komplex („rather 190 / quite191 complex“), umfangreiche Sach- und Rechtsfragen bzw. beträchtliche / erhebliche Komplexität („considerable complexity“),192 sehr komplex („very complex“),193 sehr große Komplexität der Sache („great complexity of the case“).194 Eine sehr große Komplexität eines Zivilverfahrens hat der EGMR beispielsweise in einem Rechtsstreit zur elterlichen Sorge in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht bejaht, in dem die Frage des Kindeswohls detailliert zu prüfen und ein parallel geführtes Umgangsverfahrens zu berücksichtigen war; in tatsächlicher Hinsicht mussten sämtliche Verfahrensbeteiligten gehört und unter Zuhilfenahme von Sachverständigengutachten umfangreich Beweis erhoben werden, da sämtliche Vorkommnisse bezüglich der elterlichen Sorge zwischen den Parteien strittig waren.195 Ist die Sache schwierig, rechtfertigt dies eine vergleichsweise längere Verfahrensdauer.196 So folgert der EGMR, dass die tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeit des Verfahrens bei der Beurteilung einer Verzögerung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu beachten sei.197
187 EGMR, Urt. v. 26.03.2009, 20271/05 – Vaas/Deutschland, Rn. 64, hudoc; Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87, 88; Dörr/Grote/Marauhn/Grabenwarter/Pabel, EMRK/ GG, Bd. I , Kapitel 14, Rn. 115; Grabenwarter, ECHR, Art. 6, p. 142; Villinger, Hdb. EMRK, Art. 6 § 20 Rn. 461. 188 EGMR, Urt. v. 26.03.2009, 20271/05 – Vaas/Deutschland, Rn. 6 4, hudoc. 189 EGMR, Urt. v. 26.03.2009, 20271/05 – Vaas/Deutschland, Rn. 64, hudoc; Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228 Rn. 45 ff., 48 (s. o. § 1 D I 2 a). 190 EGMR, Urt. v. 08.10.2008, 23279/06 – Yildiz/Deutschland, hudoc. 191 EGMR, Urt. v. 02.06.2009, 36853/05 – Metzele/Deutschland, hudoc. 192 EGMR, Urt. v. 11.01.2007, 20027/02 – Herbst/Deutschland, EuGRZ 2007, 420, 424 Rn. 76 ff. 193 EGMR, Urt. v. 25.09.2007, 71475/01 – Hofmann/Deutschland, Rn. 171 f., hudoc. 194 EGMR, Urt. v. 02.03.2005, 71916/01 – Maltzan u. a./Deutschland, Rn. 131 f., hudoc. 195 EGMR, Urt. v. 25.09.2007, 71475/01 – Hofmann/Deutschland, Rn. 171 f., hudoc. 196 Peters/Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 56. 197 EGMR, Urt. v. 02.06.2009, 36853/05 – Metzele/Deutschland, hudoc.
Kapitel 5: Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 I EMRK 140
bb) Rechtliche Schwierigkeiten Rechtlich besonders schwierig sind Verfahren im Wirtschaftsrecht, Arzthaftungsprozesse198 und Bausachen.199 cc) Tatsächliche Schwierigkeiten Tatsächlich schwierig sind Verfahren mit einer Vielzahl von Beteiligten,200 beispielsweise bei Streitgenossenschaften auf Kläger- oder Beklagtenseite sowie grenzüberschreitenden Sachverhalten, die Rechtshilfegesuche nötig machen.201 Bei der Beurteilung der tatsächlichen Schwierigkeit sind der Umfang des Streitstoffes und der Beweisaufnahme,202 beispielsweise die Frage, ob die Einholung von Sachverständigengutachten nötig war, zu beachten.203 b) Verhalten des Beschwerdeführers („conduct of the applicant“)/Pflichten aufgrund des Beibringungsgrundsatzes in Zivilverfahren Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist zu berücksichtigen, ob der Beschwerdeführer durch sein Verhalten das Verfahren verzögert hat.204 Der Beschwerdeführer darf einerseits nach der Rechtsprechung des EGMR alle ihm zur Verfügung stehenden Rechte (Beispiel: Befangenheitsantrag nach § 42 ZPO)205 und Rechtsmittel ergreifen, ohne dass sich dies auf die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK auswirkt.206 Seine zivilprozessualen Mitwirkungspflichten verletzt der Beschwerdeführer aber andererseits bei missbräuchlicher Ausnutzung seiner (Beschwerde-)Rechte (Beispiel: achtzehn Fristverlängerungsanträge, fünf Anträge auf zusätzliche Sachverständigengutachten, Strafanzeige gegen den Sachverständigen, die Gegenpartei oder die Richter der Berufungskammer sowie wiederholte Befangenheitsrügen gegen den Sachverständigen, die Richter der erstinstanzlichen Kammer und den Vorsitzenden Richter der Berufungskammer).207 Auch Verzögerungen durch wiederholte Terminverschiebung,208 häufigen Anwaltswechsel und nicht 198 EGMR, Urt. v. 21.10.2010, 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055 Rn. 26 (s. o. § 1 D V 2); Urt. v. 08.10.2008, 23279/06 – Yildiz/Deutschland, hudoc. 199 Karpenstein/Mayer/Meyer, EMRK, Art. 6 Rn. 79. 200 Karpenstein/Mayer/Meyer, EMRK, Art. 6 Rn. 79. 201 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 200. 202 EGMR, Urt. v. 08.10.2008, 23279/06 – Yildiz/Deutschland, hudoc. 203 EGMR, Urt. v. 25.09.2007, 71475/01 – Hofmann/Deutschland, Rn. 171 f., hudoc. 204 Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 259 f.; Peters/Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 56; Grabenwarter/Pabel, § 24 Rn. 70; Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87, 88. 205 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 131 (s. o. § 1 D II). 206 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 (s. o. § 1 D II). 207 EGMR, Urt. v. 29.06.2006, 27250/02 – Nold/Deutschland, hudoc. 208 EGMR, Urt. v. 06.10.2005, 69584/01 – Gisela Müller/Deutschland, Rn. 81, hudoc.
B. Schutzbereich des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer
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vollständigen Vortrag können wegen des im Zivilprozessrecht geltenden Beibringungsgrundsatz zu berücksichtigen sein.209 Nach der Formulierung des EGMR muss das Prozessverhalten des Beschwerdeführers insgesamt „natural and understandable“ sein.210 Innerhalb dieses Rahmens kann eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht mit Verweis auf das Verhalten des Beschwerdeführers abgelehnt werden.211 c) Verhalten der Behörden und Gerichte („conduct of the authorities“) aa) Verfahrensführung durch das Gericht Als dem Staat zurechenbare Verzögerungen, die die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK rechtfertigen, kommen Zeiträume in Betracht, in denen das Gerichtsverfahren durch das Gericht nicht zügig betrieben wurde und dadurch Lücken in der Verfahrensführung entstanden sind.212 Die Verfahrensförderungspflicht obliegt dem Gericht auch im durch die Parteimaxime geprägten Zivilprozess.213 Das Gericht muss das Verfahren effizient führen und gegebenenfalls beschleunigen. Es soll wenn möglich schon vor der mündlichen Verhandlung einen Beweisbeschluss erlassen.214 Das Gericht muss die Arbeit der Sachverständigen überwachen, ihnen Fristen setzten und bereits bei der Auswahl auf die (zeitliche) Verfügbarkeit der Sachverständigen achten.215 Beispielsweise hatte nach der Rechtsprechung des EGMR der Konventionsstaat eine Lücke im Verfahren zu vertreten, die durch die dreijährige Dauer für die Erstellung von zwei Sachverständigengutachten entstanden war.216 Die Einholung eines Sachverständigengutachtens kann deutlich abgekürzt werden, wenn das Gericht den Sachverständigen schon zur ersten mündlichen Verhandlung lädt, damit er dort sein Gutachten mündlich erstattet.217 Die Gerichte müssen sicherstellen, dass nur solche Sachverständige bestellt werden, die für eine mündliche Verhandlung zur Verfügung stehen, und sie müssen – soweit erforderlich – von gesetzlich vorgesehenen Zwangsmaßnahmen gegenüber den Sach-
209 EGMR, Urt. v. 29.06.2006, 27250/02 – Nold/Deutschland, hudoc; Frowein/Peukert/ Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 259 f.; Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87, 88. 210 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 80. 211 Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87, 88. 212 Peters/Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 57. 213 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, 2393 (s. o. § 1 D II); EGMR, Urt. v. 04.04.2002, 45181/99 – Volkwein/Deutschland Rn. 36 ff., hudoc; Urt. v. 06.05.81, 7759/77 – Buchholz/Deutschland, EuGRZ 1981, 490 Rn. 50. 214 EGMR, Urt. v. 21.10.2010, 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055 (s. o. § 1 D V). 215 EGMR, Urt. v. 04.04.2002, 45181/99 – Volkwein/Deutschland, Rn. 36 ff., hudoc. 216 Peters/Altwicker, § 19 Rn. 57. 217 EGMR, Urt. v. 21.10.2010, 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055 (s. o. § 1 D V).
Kapitel 5: Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 I EMRK 142
verständigen Gebrauch machen.218 Bei einer Aussetzung des Verfahrens hat das Gericht fortwährend zu prüfen, ob die Aussetzungsentscheidung von Amts wegen wieder aufzuheben ist.219 Wird das Verfahren mit Blick auf ein Parallelverfahren ausgesetzt, muss dies auch mit Blick auf die Verfahrensbeschleunigung sinnvoll und das Ergebnis des Parallelverfahrens von entscheidender Bedeutung für das ausgesetzte Verfahren sein.220 Zudem dürfen keine anderen Gründe, wie etwa die grundlegende Bedeutung des Verfahrens für den Beschwerdeführer, gegen die Aussetzung des Verfahrens sprechen.221 Terminverlegung durch das Gericht prüft der EGMR in sehr engen Grenzen, üblich sind Verlegungen um wenige Tage, nicht wie nach der deutschen Zivilprozessordnung auch um Wochen.222 Zudem ist der EGMR bei einer sehr langen Dauer (über 20 Jahre) davon ausgegangen, dass das Gericht dieses Verfahren nicht mit der gebotenen Sorgfalt geführt haben kann.223 bb) Gerichtsorganisation Verfahrensverzögerungen wegen Überlastung des Gerichts sind nach der Rechtsprechung des EGMR nicht bei der Frage nach der Angemessenheit der Verfahrensdauer zu berücksichtigen.224 Der Gerichtshof stellte in seinen Entscheidungen gegenüber Deutschland mehrmals fest, dass die Bundesrepublik Deutschland als Vertragsstaat der EMRK nach Art. 6 Abs. 1 EMRK dazu verpflichtet sei, ihre „Justizsysteme so zu organisieren, dass erst- und höchstinstanzliche Gerichte in der Lage sind, alle Anforderungen der Konvention zu erfüllen, einschließlich ihrer Verpflichtung zur Entscheidung in angemessener Frist“.225 Die Überlastung des Gerichts ist ein struktureller Mangel, auf den sich der Staat nicht berufen darf, außer es handelt sich um eine Sondersituation für einen kurzen Zeitraum (Beispiel: Überlastung des Bundesverfassungsgerichts nach der deutschen Wiedervereinigung).226 Für Verzögerungen durch 218 EGMR, Urt. v. 21.10.2010, 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055 (s. o. § 1 D V). 219 EGMR, Urt. v. 13.07.2006, 38033/02 – Storck/Deutschland, NVwZ 2007, 1035 Rn. 4 4; Urt. v. 06.10.2005, 69584/01 – Gisela Müller/Deutschland, Rn. 81 ff., hudoc. 220 EGMR, Urt. v. 06.10.2005, 69584/01 – Gisela Müller/Deutschland, Rn. 84, hudoc. 221 EGMR, Urt. v. 26.04.2007, 14635/03 – Laudon/Deutschland, Rn. 68, hudoc. 222 Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87 ff. 223 EGMR, Urt. v. 05.10.2006, 66491/01 – Grässer/Deutschland, EuGRZ 2007, 268 (s. o. § 1 D III). 224 EGMR, Urt. v. 01.07.1997, 125/1996 – Probstmeier/Deutschland, EuGRZ 1997, 405 Rn. 60 ff. 225 EGMR, Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228 Rn. 52 ff. (s. o. § 1 D I 2 a); Urt. v. 18.10.2001, 42505/98 – Mianowicz/Deutschland, EuGRZ 2002, 585 Rn. 54. 226 EGMR, Urt. v. 25.02.2000, 29357/95 – Gast und Popp/Deutschland, NJW 2001, 211 Rn. 75 ff.; Urt. v. 16.09.1996, 20024/92 – Süßmann/Deutschland, EuGRZ 1996, 514 Rn. 60.
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Berichterstatterwechsel, Urlaub oder Krankheit ist der beklagte Konventionsstaat verantwortlich und muss entsprechende Abhilfemaßnahmen ergreifen.227 d) Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer („what was at stake for the applicant“): Fallgruppen in der Rechtsprechung des EGMR aa) Familienrecht im Allgemeinen Bei Rechtsstreitigkeiten von besonderer Bedeutung genügt für eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMKR bereits eine kürzerer Zeitraum, da diese Verfahren besonders dringlich durchzuführen sind.228 Der EGMR bejaht eine besondere Bedeutung der Rechtssache in Zivilprozessen am häufigsten bei Kindschaftoder Unterhaltssachen,229 da hier erstens das verkürzte kindliche Zeitempfinden 230 zu berücksichtigen und zweitens eine Entfremdung zwischen einem Elternteil und dem Kind regelmäßig nicht mehr rückgängig zu machen sei.231 Der EGMR hat die besondere Bedeutung der Sache bejaht für einen Sorgerechtsstreit232 und in einem Urteil zum Scheidungs- und Unterhaltsrecht.233 Gleiches gilt im Personenstandsrecht234 und bei Streitigkeiten über die Geschäftsfähigkeit (Betreuungsfälle).235 Der EGMR erkennt im Ergebnis in ständiger Rechtsprechung an, dass in Sorgerechtsentscheidungen aus Gründen des Kindeswohls besondere Zügigkeit geboten ist, weil die überlange Dauer von Sorgerechtsverfahren aus Kontinuitätsgründen zu einer faktischen Sorgerechtsentscheidung führen kann.236
227 EGMR, Urt. v. 13.07.1983, 8737/79 – Zimmermann und Steiner/Schweiz, NJW 1984, 2749 Rn. 29. 228 EGMR, Urt. v. 27.02.2003, 39547/98 – Niederböster/Deutschland, Rn. 39, hudoc; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 205; Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87, 88. 229 EGMR, Urt. v. 04.12.2008, 44036/02 – Adam/Deutschland, FamRZ 2009, 1037, 1039; Urt. v. 27.02.2003, 39547/98 – Niederböster/Deutschland, Rn. 39, hudoc. 230 EGMR, Urt. v. 31.05.2001, 45989/99 – Mark/Deutschland, hudoc. 231 EGMR, Urt. v. 26.02.2004 – Görgülü/Deutschland, NJW 2004, 3397. 232 EGMR, Urt. v. 17.07.07, 39741/02 – Nanning/Deutschland, hudoc; Urt. v. 21.04.10, 42402/05 u. 42423/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721 (s. o. § 1 D IV). 233 EGMR, Urt. v. 09.10.08, 10732/05 – Bähnk/Deutschland, hudoc. 234 EGMR, Urt. v. 21.04.10, 42402/05 u. 42423/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721 Rn. 57 (s. o. § 1 D IV). 235 EGMR v. 11.01.2007, 20027/02 – Herbst/Deutschland, EuGRZ 2007, 420. 236 EGMR, Urt. v. 21.04.10, 42402/05 u. 42423/05 – Wildgruber/Deutschland, FamRZ 2010, 1721 Rn. 61 (s. o. § 1 D IV).
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bb) Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter/deliktische Schadensersatzansprüche Von besonderer Bedeutung sind zudem Zivilprozesse über die schadensersatzrechtlichen Folgen von Gesundheitsverletzungen (Beispiel: Schadensersatz wegen HIV-Ansteckung durch Bluttransfusion).237 cc) Bedrohung der Existenzgrundlage Genauso sind Arbeitsrechtssachen (Beispiel: Berufsunfähigkeit nach einer missglückten Augenoperation 238) von besonderer Bedeutung, soweit sie die Existenzgrundlage des Beschwerdeführers bedrohen.239 dd) Hohes Alter des Beschwerdeführers Für einen Beschwerdeführer im hohen Alter ist der zügige Fortgang des Verfahrens ebenfalls von besonderer Bedeutung.240 3. Zwischenergebnis Bei dem für Art. 6 Abs. 1 EMRK zu berücksichtigenden Zeitraum sind im Anschluss an den Zivilprozess durchgeführte Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht einzubeziehen. Zur Beurteilung der Überlänge hat der EGMR vier Kriterien entwickelt: Komplexität der Sache („complexity of the case“), Verhalten des Beschwerdeführers („conduct of the applicant“), Verhalten der Behörden und des Gerichts („conduct of the authorities“) sowie die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer („what was at stake for the applicant“). Der EGMR trifft – ebenso wie nun der BGH bei Anwendung der §§ 198 ff. GVG241 – nach Abwägung aller Kriterien eine Entscheidung im Einzelfall, ohne dass er auf Durchschnittswerte oder statistische Erhebungen zurückgreift.
237
EGMR, Urt. v. 30.10.1998, 38212/97 – F.E./Frankreich, Rn. 53, 57, hudoc. § 1 D V; EGMR, Urt. v. 21.10.10, 43155/08 – Grumann/Deutschland, NJW 2011, 1055. 239 S.o. § 1 D II; EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, 2393. 240 Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87, 88. 241 S.o. § 3 A III. 238 S.o.
C. „Gerechte“ Entschädigung nach Art. 41 EMRK
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C. „Gerechte“ Entschädigung nach Art. 41 EMRK I. Feststellung der Konventionsverletzung – Unvollkommene Wiedergutmachung nach dem nationalen Recht – Rechtsnatur des Anspruchs Nach Art. 41 EMRK besteht als Rechtsfolge eines Individualbeschwerdeverfahrens ein Anspruch des Klägers gegen den Konventionsstaat auf „gerechte“ Entschädigung, wenn der Gerichtshof eine Konventionsverletzung feststellen konnte und er die Wiedergutmachung im nationalen Recht für unvollkommen hält.242 Der Entschädigungsanspruch aus Art. 41 EMRK ist ein Anspruch, der nur vor dem EGMR einklagbar ist und aufgrund seiner völkervertraglichen Grundlage gegen den Konventionsstaat Deutschland gerichtet ist.243 Ungeklärt ist, ob es sich beim konventionsrechtlichen Anspruch aus Art. 41 EMRK um einen echten Schadensersatzanspruch im Sinne eines vollen Schadensausgleichs oder um einen bloßen Anspruch auf billige Entschädigung handelt. Der EGMR ersetzt materielle und immaterielle Schäden 244 sowie den entgangenen Gewinn.245
II. Feststellung der Konventionsverletzung als hinreichende Wiedergutmachung Besteht der geltend gemachte Schaden nicht, beispielsweise wegen fehlender Kausalität, stellt der EGMR als Wiedergutmachung die Konventionsverletzung im Urteilstenor fest.246 Teilweise beschränkt sich der Gerichtshof auch auf die Feststellung der überlangen Verfahrensdauer, wenn ihm der Schaden zu gering erscheint oder der Beschwerdeführer bereits außerhalb des Verfahrens hinreichend Wiedergutmachung erfahren oder durch die Überlänge sogar einen Vorteil erlangt hat, beispielsweise weil er eine Zahlung (noch) nicht leisten musste.247 In der Literatur wird kritisiert, dass die Kasuistik des EGMR kaum eine Regel erkennen lasse.248
242 Karpenstein/Mayer/Wenzel, EMRK, Art. 41 Rn. 4 ff.; Ossenbühl/Cornils, StaatshaftungsR, S. 633 ff. 243 Ossenbühl/Cornils, StaatshaftungsR, S. 633 ff. 244 EGMR, Urt. v. 25.03.10, 485/09 – Reinhard/Deutschland, hudoc. 245 EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447; Frowein in: FS Partsch (1989), S. 317 ff.; Ossenbühl/Cornils, StaatshaftungsR, S. 637 ff. 246 Karpenstein/Mayer/Wenzel, EMRK, Art. 41 Rn. 23. 247 Karpenstein/Mayer/Wenzel, EMRK, Art. 41 Rn. 23. 248 Karpenstein/Mayer/Wenzel, EMRK, Art. 41 Rn. 23.
Kapitel 5: Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 I EMRK 146
III. Entschädigung für materielle und immaterielle Schäden 1. Materielle Nachteile Entschädigt wird jeder Nachteil, den der Beschwerdeführer an seinem Vermögen oder an seinen sonstigen rechtlich geschützten Gütern durch die festgestellte Konventionsverletzung erlitten hat.249 In der Rechtssache Probstmeier/ Deutschland250 hat der EGMR – nach Schadensschätzung – der Beschwerdeführerin für ihren entgangen Gewinn einen Entschädigungsanspruch für ihre materiellen Nachteile in Höhe von DM 15.000,– zugesprochen. Die Beschwerdeführerin hatte im Zeitraum der Verzögerung einen Zinsverlust erlitten, da sie für ihre streitbefangene Kleingartenparzelle nicht rechtzeitig den erhöhten Pachtzins geltend machen konnte.251 2. Immaterielle Nachteile Bei Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährt der EGMR regelmäßig auch eine Entschädigung für immaterielle Schäden, da die Ungewissheit über den Ausgang des Prozesses den Beschwerdeführer bereits in seinen Rechten belastet und regelmäßig nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Beschwerdeführer durch die Dauer des streitigen Verfahrens gewisse Nachteile erlitten hat.252 In der Rechtssache Sürmeli/Deutschland hat der Gerichtshof bei einer Gesamtverfahrensdauer von mehr als 16 Jahren nach billigem Ermessen € 10.000,– zugesprochen.253 In der Rechtssache Volkmer/Deutschland, 254 einem 18 Jahre dauernden Zivilprozess über die Schadensersatzansprüche infolge eines Verkehrsunfalls, hat der EGMR den Konventionsstaat zur Gewährung einer immateriellen Entschädigung in Höhe von € 20.000,– verurteilt. Der EGMR gewährt auch juristischen Personen Ersatz für immaterielle Schäden.255 In der Sache Grässer/Deutschland erhielt der Kläger für einen 28 Jahre dauernden Schadensersatzprozess
249 Frowein/Peukert/Peukert,
EMRK, Art. 41 Rn. 8 ff. EGMR, Urt. v. 01.07.1997, 125/1996 – Probstmeier/Deutschland, EuGRZ 1997, 405 Rn. 70 ff. 251 EGMR, Urt. v. 01.07.1997, 125/1996 – Probstmeier/Deutschland, EuGRZ 1997, 405 Rn. 70, 73. 252 EGMR, Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland , EuGRZ 2003, 228 Rn. 54 ff. (s. o. § 1 D I 2 b); Karpenstein/Mayer/Wenzel, EMRK, Art. 41 Rn. 28, 34. 253 EGMR, Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 119, 145 (s. o. § 1 D II). 254 EGMR, Urt. v. 30.03.2010, 54188/07 – Volkmer/Deutschland Rn. 55, hudoc. 255 EGMR, Urt. v. 06.04.2000, 35382/97 – Comingersoll/Portugal, hudoc; Meyer-Ladewig, EMRK Art. 41 Rn. 10. 250
D. Vereinbarkeit der §§ 198 ff. GVG
147
nach Art. 41 EMRK eine Entschädigung in Höhe von EUR 45.000,– für den immateriellen Schaden.256
IV. Kosten und Auslagen Der EGMR verpflichtet den Konventionsstaat bei einer Verletzung der Konvention auch, die vor den Organen der Konvention verauslagten Gebühren und Honorare in voller Höhe zu ersetzen.257 Die Höhe von Anwaltshonoraren orientiert sich in Verfahren gegen Deutschland an der BRAO und dem Gegenstandswert, der Gerichtshof weist aber regelmäßig darauf hin, dass er sich nicht an innerstaatliche Tarife oder Praktiken gebunden sehe, sondern den Betrag zuspreche, den er für gerecht und billig halte.258
D. Vereinbarkeit der §§ 198 ff. GVG mit den Vorgaben aus Art. 6 Abs. 1. EMRK Die §§ 198 ff. GVG sind mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar, insoweit sie in Voraussetzungen und Rechtsfolgen den Vorgaben der EMRK im Detail angepasst wurden. Die Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den §§ 198 ff. GVG (entsprechend der Kriterien des EGMR) ist wesentlich komplizierter als die Prüfung des EGMR, da der BGH infolge der Mehrpoligkeit der Grundrechtsverhältnisse in Zivilprozessen eine differenzierte Abwägungsentscheidung trifft, insbesondere mit Blick auf die richterliche Unabhängigkeit.259 Das Ziel, die Vorgaben des EGMR umzusetzen und gleichzeitig das Schutzniveau des Grundgesetzes aufrechtzuerhalten, wurde erreicht. Dies zeigt die Analyse der Rechtsprechung des BGH.260 Auch in der Rechtsfolge entsprechen die §§ 198 ff. GVG den Vorgaben des EGMR. Insbesondere die gesetzliche Pauschale nach § 198 Abs. 2 S. 3 GVG in Höhe von € 1200,– für immaterielle Nachteile entspricht der Höhe der zumeist vom EGMR gewährten Entschädigungen.261
256 EGMR, Urt. v. 05.10.2006, 66491/01 – Grässer/Deutschland, EuGRZ 2007, 268 (s. o. § 1 D III). 257 EGMR, Urt. v. 20.02.2003, 44324/98 – Norbert Kind/Deutschland, EuGRZ 2003, 228 Rn. 58 ff. (s. o. § 1 D I 2 b); Urt. v. 01.07.1997, 125/1996 – Probstmeier/Deutschland, EuGRZ 1997, 405 Rn. 74 ff.; Karpenstein/Mayer/Wenzel, EMRK, Art. 41 Rn. 47 ff. 258 EGMR, Urt. v. 01.07.1997, 125/1996 – Probstmeier/Deutschland, EuGRZ 1997, 405 Rn. 74 ff.; Karpenstein/Mayer/Wenzel, EMRK, Art. 41 Rn. 51. 259 S. o. § 3 A III; § 5 B III. 260 S.o. § 3 A III. 261 S. o. § 4 A; § 5 B C.
Kapitel 5: Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 I EMRK 148
E. Zusammenfassung Das Recht auf angemessene Verfahrensdauer ergibt sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, der als Bundesgesetz auch für die deutschen Zivilgerichte bindend ist. Der EGMR beurteilt die Angemessenheit der Verfahrensdauer jeweils im Einzelfall unter Gesamtwürdigung aller Umstände. Zur Beurteilung hat der EGMR vier Kriterien entwickelt: Komplexität der Sache („complexity of the case“), Verhalten des Beschwerdeführers („conduct of the applicant“), Verhalten der Behörden und des Gerichts („conduct of the authorities“) sowie die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer („what was at stake for the applicant“). Bejaht der EGMR die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, gewährt er hierfür nach Art. 41 EMRK eine „gerechte Entschädigung“, die vom jeweiligen Konventionsstaat an den Beschwerdeführer zu leisten ist. Die Entschädigung umfasst sowohl materielle als auch immaterielle Schäden infolge der überlangen Verfahrensdauer.
6. Kapitel
Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer nach Art. 13 EMRK A. Normtextliche Grundlagen und besondere Bedeutung von Art. 13 EMRK im innerstaatlichen Bereich – Verhältnis von Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK I. Konventionstext „Articel 13: Right to an effective remedy (Englische Textfassung) Everyone whose rights and freedoms as set forth in the Convention are violated shall have an effective remedy before a national authority […].“1 „Article 13: Droit à un recours effectif (Englische Textfassung) Toute personne dont les droits et libertés reconnus dans la présente Convention ont été violés, a droit à l’octroi d’un recours effectif devant une instance nationale […].“2 „Artikel 13: Recht auf wirksame Beschwerde (Deutsche Übersetzung) Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, […].“3
II. Allgemeines zu Art. 13 EMRK Art. 13 EMRK soll sicherstellen, dass die Konventionsrechte in den Mitgliedsstaaten auf innerstaatlicher Ebene effektiv umgesetzt und geschützt werden.4 Die Konventionsstaaten haben dafür Sorge zu tragen, dass die einzelnen in der EMRK verbürgten Rechte durch innerstaatliche Beschwerdemöglichkeiten auf 1 European Convention on Human Rights (ECHR), offical text, abrufbar unter www. echr.coe.int/Documents/Convention_ENG.pdf (Abruf vom 20.10.2015). 2 European Convention on Human Rights (ECHR), offical text, abrufbar unter www. echr.coe.int/Documents/Convention_ENG.pdf (Abruf vom 20.10.2015). 3 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010, BGBl. I I, S. 1198 (Abdruck: Sartorius II, Textsammlung Nr. 1003). 4 Travaux Préparatoires, Bd. I , S. 617 f.; Frowein in: FS Ryssdal (2000), S. 545, 547 ff.; Matscher in: FS Seidl-Hohenveldern (1988), S. 315, 318 ff., 324 ff.
150
Kapitel 6: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf
Staatenebene durchsetzbar sind.5 Art. 13 EMRK stellt eine Art Brücke zwischen dem innerstaatlichen Recht und dem Konventionsrecht dar.6 Zum Teil wird die Vorschrift als eigene Verfahrensgarantie bezeichnet, da sie sich im ersten Abschnitt der Konvention befindet.7 Die „Travaux Préparatoires“ sprechen von einer Staatenverpflichtung, nach der ein Rechtbehelf vorgesehen 13 sein muss.8 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gewährt Art. EMRK keine gänzlich eigenständige Garantie, da er von der Verletzung einer weiteren Garantie abhängt.9 Das Recht aus Art. 13 EMRK ist vielmehr ein sekundäres Recht zur innerstaatlichen Geltendmachung von Konventionsverletzungen.10 Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Art. 13 EMRK ist, dass eine Konventionsrechtsverletzung in vertretbarer Weise geltend gemacht wird („arguable claim“).11 Dafür genügt es, dass die Konventionsverletzung nicht von vornherein offensichtlich unbegründet ist, einer tatsächlichen Verletzung bedarf es nicht.12 Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit der Verletzung von Art. 13 EMKR i. V. m. einer Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK.
II. Verhältnis von Art. 13 EMRK und Art. 6 Abs. 1 EMRK 1. Spezialitätsverhältnis/Absorption der Rechte aus Art. 13 EMRK In seiner frühen Rechtsprechung überprüfte der EGMR in Fällen unangemessener Verfahrensdauer ausschließlich eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK und nahm hierfür eine ausführliche Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer im konkreten Fall anhand der von ihm entwickelten Beurteilungskriterien vor.13 5 Villinger, Hdb. EMRK, § 29 Rn. 647 ff.; Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 1 f. 6 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 2; Meyer-Ladewig, NJW 2009, 3749, 3753 f. 7 Frowein/Peukert/Frowein, EMRK, Art. 13 Rn. 1. 8 Travaux Préparatoires, Bd. I V, S. 282. 9 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 2; EGMR, Urt. v. 07.07.09, 58447/00 – Zavoloka/Lettland Rn. 35, hudoc. 10 Grabenwarter/Pabel, § 24 Rn. 167 f.; Peters/Altwicker, EMRK, § 22 Rn. 1 ff, Rn. 5; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 Rn. 1; Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 10 ff. 11 EGMR, Urt. v. 02.09.10, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 Rn. 50; Urt. v. 06.09.78, 5029/71 – Klass u. a./Deutschland, NJW 1979, 1755 Rn. 64; Karpenstein/ Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 10; Grabenwarter/Pabel, § 24 Rn. 167 ff., 170 ff.; Peters/ Altwicker, EMRK, § 22 Rn. 5. 12 EGMR, Urt. v. 02.09.10, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 Rn. 50; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 Rn. 6.; Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 10, 14; Grabenwarter/Pabel, § 24 Rn. 176. 13 S. o. § 5 B II, III; EGMR, Urt. v. 28.06.78, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979,
A. Normtextliche Grundlagen und besondere Bedeutung von Art. 13 EMRK
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2. Rechtsprechungsänderung durch die Entscheidung Kudla/Polen Seit der Entscheidung in der Rechtssache Kudla/Polen14 prüft der EGMR, in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung, neben Art. 6 Abs. 1 EMRK auch das in Art. 13 EMRK verbürgte Recht auf einen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf. Hintergrund der Rechtssprechungsänderung ist, dass Konventionsverletzungen auf die nationale Ebene zurückzuverweisen sind, um dort ursächlich gelöst werden zu können.15 Die überlange Verfahrensdauer stellt ein sog. Strukturproblem („systemic problem“) des betroffenen Justizsystems dar.16 Bejaht der EGMR sowohl die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK als auch von Art. 13 EMRK, ist der Konventionsstaat als Adressat der Entscheidung verpflichtet, einen entsprechenden Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer einzuführen.17 Die erste Entscheidung, in der der EGMR gegenüber Deutschland bei überlanger Verfahrensdauer sowohl auf eine Verletzung von Art. 13 EMRK als auch von Art. 6 Abs. 1 EMRK erkannt hat, ist die Rechtssache Sürmeli/Deutschland.18 Aus Art. 13 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK ergibt sich seither das Recht auf einen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf bei unangemessen langer Verfahrensdauer.19 3. Nebeneinander von Art. 6 Abs. 1 EMR und Art. 13 EMRK Der EGMR begründet seine geänderte Rechtsprechung damit, dass bei Rüge der unangemessenen Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, neben Art. 6 Abs. 1 EMRK auch Art. 13 EMRK anzuwenden sei, da sich die Garantien der beiden Normen in diesen Fällen zu einem umfassenderen Rechtsschutz ergänzten.20 Anders ist dies beispielsweise bei Verletzung des Rechts auf Zugang zu den Gerichten nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, da dieses Recht weitergehende Garantien als Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) gibt und deshalb als lex specialis vorgeht.21 Art. 13 EMRK wird dann vom EGMR nicht 477 Rn. 99, 102 ff., 105; Urt. v. 06.05.81, 7759/77 – Buchholz/Deutschland, EuGRZ 1981, 490 Rn. 45 ff., 50. 14 S.o. § 2 A; EGMR, Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694. 15 Nußberger, HdStR, Bd. X, § 209 Rn. 35 ff.; Britz/Pfeifer, DÖV 2004, 245, 246. 16 EGMR, Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694 Rn. 152; Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 1, 8; Mowbray, ECHR, Art. 6 p. 433 et seq.; Peters/Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 53. 17 EGMR, Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694. 18 EGMR, Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, 2390 ff.; Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 8. 19 EGMR, Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694. 20 EGMR, Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694, 2699 Rn. 147, Rn. 150 ff.; teilw. abw. Meinung d. Richters J. Casadevall, EGMR, Urteil v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694, 2701 f.; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 Rn. 24 ff. 21 EGMR, Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694, 2698 Rn. 146 ff.
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Kapitel 6: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf
geprüft, weil dessen Anforderungen bezüglich desselben Schutzgutes weniger streng sind.22 Der EGMR formuliert, dass Art. 13 EMRK in Fällen wie dem Recht auf Zugang zum Gericht von Art. 6 Abs. 1 EMRK „absorbiert“ wird.23 Bei überlanger Verfahrensdauer gibt es keine Überschneidung zwischen den Schutzbereichen der Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 13 EMRK.24 Dies begründet der EGMR damit, dass sich weder aus dem Wortlaut noch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 13 EMRK ein grundsätzlicher Vorrang von Art. 6 Abs. 1 EMRK ergebe, vielmehr sei es Gesetzeszweck von Art. 13 EMRK, ein innerstaatliches Mittel zur Geltendmachung von Konventionsverletzungen zur Verfügung zu stellen, das der Beschwerdeführer geltend machen kann, bevor er internationalen Rechtsschutz vor dem Gerichtshof anruft.25 Bei dieser Auslegung garantiere Art. 13 EMRK die Einführung eines wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelfs wegen Verletzung der Verpflichtung aus Art. 6 Abs. 1 EMRK.26 Der EGMR begründet seine geänderte Rechtsprechung weiter mit dem praktischen Argument, dass aufgrund der Vielzahl der Beschwerden wegen überlanger Gerichtsverfahren ein Weg gefunden werden müsse, das Problem auf nationaler Ebene zu lösen.27 Das Verhältnis zwischen Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 13 EMRK lasse sich also so beschreiben: Die Anwendung von Art. 13 EMRK sei neben dem Recht auf Entscheidung in angemessener Frist nach Art. 6 Abs. 1 EMRK nötig, um dem verfahrensrechtlichen Grundrechten nach Art. 6 Abs. 1 EMRK im innerstaatlichen Bereich größtmögliche Wirksamkeit zu verleihen.28 Art. 13 EMRK wird im Verhältnis zu Art. 6 Abs. 1 EMRK für die Garantie auf Rechtsschutz in angemessener Zeit als „sekundäres Prozessrecht“ bezeichnet.29 In seiner neuesten Rechtsprechung prüft der EGMR stets zuerst Art. 13 EMRK und im Anschluss Art. 6 Abs. 1 EMRK nur noch in einer Art summarischer Prüfung („global assessment“) und verweist im Übrigen auf die Pflicht der Konventionsstaaten aus Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK, einen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf („effective do22
EGMR, Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694, 2699 Rn. 146. EGMR, Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694, 2698 Rn. 146 ff.; Vospernik, ÖJZ 2001, 363, 364 ff. 24 EGMR, Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694, 2699 Rn. 147, Rn. 152; Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 3; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 Rn. 26 ff.; Breuer, Judikatives Unrecht, S. 525 ff. 25 EGMR, Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694, 2699 Rn. 152; Travaux Préparatoires, Bd. I I, S. 485 ff. u. Bd. I II, S. 651. 26 EGMR, Urt. v. 02.09.10, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355; Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, 2390 (s. o. § 1 D II); Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694 Rn. 156; Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451, 462 ff.; Gundel, DVBl. 2004, 17, 18 f. 27 EGMR, Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694 Rn. 148; Nußberger, HdStR, Bd. X, § 209 Rn. 35 ff. 28 EGMR, Urt. v. 26.10.00 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694. 29 Jakob, ZZP 119 (2006), 303, 305. 23
B. Die Wirksamkeit innerstaatlicher Rechtsbehelf
153
mestic remedy“30) einzuführen, mit dem die überlange Verfahrensdauer geltend gemacht werden kann.31
B. Die Wirksamkeit innerstaatlicher Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer nach Art. 13 EMRK Im Folgenden sind die Wirksamkeitsvorgaben des EGMR einen innerstaatlichen Rechtsbehelf („effective domestic remedy“32) herauszuarbeiten, um ihre Umsetzung bei Einführung der §§ 198 ff. GVG überprüfen zu können.
I. Autonome Auslegung des Begriffs „Beschwerde“ durch den EGMR Den einzuführenden Rechtsbehelf bezeichnet Art. 13 EMRK als „Beschwerde“. Der Begriff wird vom EGMR autonom – ausgehend von der englischen („remedy“) und französischen („recours“) Textfassung – ausgelegt.33 Der EGMR verlangt, dass eine nationale Stelle, die kein Gericht sein muss,34 sich mit der Konventionsverletzung beschäftigt und befugt ist, eine angemessene Abhilfe („appropriate relief“) für den Betroffenen zu schaffen.35 In der deutschsprachigen Literatur wird infolge der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Bezeichnung „Rechtsbehelf“ (anstatt Beschwerde) als bessere Übersetzung 13 vorgeschlagen.36 Weiter legt der EGMR die „Beschwerde“ nach Art. EMRK so aus, dass damit kein einzelner Rechtsbehelf gemeint sein muss, sondern auch ein System mit unterschiedlichen Rechtsschutzmaßnahmen möglich ist, das sich aus mehreren Elementen zusammensetzt und insgesamt nach dem Verständnis des EGMR „wirksam“ ist.37 Der Begriff der „wirksamen Beschwerde“ in der Auslegung durch den EGMR ist im Ergebnis also sehr weit und ist eher als eine Forderung nach einem wirksamen Rechtsschutzsystem in den betroffenen Konventionsstaaten zu sehen. 30
EGMR, Urt. v. 02.09.10, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 Rn. 50, 53. Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694, 2699; Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 54 ff. 32 EGMR, Urt. v. 02.09.10, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 Rn. 50, 53. 33 S. o. § 5 B I 1, II 1 a. 34 EGMR, Urt. v. 06.09.78, 5029/71 – Klass u. a./Deutschland, NJW 1979, 1755 Rn. 67; Matscher in: FS Baumgärtel (1990), S. 363, 366 ff. 35 EGMR, Urt. v. 02.09.10, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 Rn. 50; Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694 Rn. 148; Karpenstein/Mayer/ Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 33 f.; Meyer-Ladewig, NJW 2010, 3358; Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451, 462 ff.; Matscher in: FS Kralik (1986), S. 257, 265 ff. 36 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 31; Grabenwarter/Pabel, § 24 Rn. 173 ff. 37 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 31; Grabenwarter/Pabel, § 24 Rn. 173 ff. 31 EGMR,
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Kapitel 6: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf
II. Gestaltungsmöglichkeiten für wirksame Rechtsbehelfe 1. Präventiv- und Kompensationsrechtsbehelfe und Kombinationsmodelle Der EGMR hat bisher nicht dazu Stellung bezogen, ob bei der Einführung neuer Rechtsbehelfe grundsätzlich ein Vorrang von Primär- vor Sekundärrechtschutz bzw. Präventiv- vor Kompensationsrechtsbehelfen besteht. Auch ob grundsätzlich bloßer Sekundärrechtsschutz den Anforderungen des Art. 13 EMRK genügt, wurde noch nicht entschieden.38 Ein Rechtsbehelf zur Durchsetzung der Rechte der Konvention ist nach ständiger Rechtsprechung EGMR grundsätzlich „wirksam“, wenn mit ihm „entweder die behauptete Verletzung oder ihre Fortdauer verhindert oder angemessen Abhilfe gegen schon eingetretene Verletzungen erlangt werden kann.“39 Einen Vorrang formuliert der EGMR nicht. Um das Recht auf angemessene Verfahrensdauer im laufenden Ausgangsverfahren durchsetzen zu können, bedarf es aber eines präventiv wirkenden Rechtsbehelfs, da eine nachträgliche Kompensation hierzu nicht geeignet ist.40 Teilweise wird deshalb in der Literatur vertreten, dass Rechtsbehelfe ohne präventives Element von Anfang an nicht wirksam im Sinne von Art. 13 EMRK sein können.41 Was unter „wirksamen“ Rechtsschutz im Einzelnen zu verstehen ist, hängt aber vom jeweils betroffenen Konventionsrecht ab.42 Bei überlanger Verfahrensdauer sind die Mitgliedsstaaten nicht verpflichtet, bestimmte Rechtsbehelfe einzuführen, vielmehr fordert der EGMR (lediglich) die Umsetzung seiner Rechtsprechung in den jeweiligen Rechtsordnungen der Konventionsstaaten.43 Dem genügt ein Rechtsbehelf, wenn er mit den Grundsätzen des Gerichtshofes zu Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK übereinstimmt.44 Weder ist eine gesetzliche Regelung nötig, da ein Rechtsbehelf ausreicht, der auf einer ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung beruht noch muss die Beschwerdestelle eine richterliche Instanz sein.45 Ein Rechtsbehelf wegen über38 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 33 ff.; Grabenwarter/Pabel, § 24 Rn. 178 ff. 39 EGMR, Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 99 (s. o. § 1 D II 2); Grabenwarter in: FS Raschauer (2008), S. 19 ff., 21; Pietron, Effektivität des Rechtsschutzes gegen überlanger Verfahrensdauer, S. 94 ff. 40 Breuer, Judikatives Unrecht, S. 150 ff.; Ohrloff, Überlange Gerichtsverfahren, S. 131 ff. 41 Holoubek, JurBl. 1992, 137, 144. 42 Grabenwarter/Pabel, § 24 Rn. 182. 43 Matusche-Beckmann/Kumpf, ZZP 124 (2011), 173, 179 ff.; Bernegger in: 40 Jahre EMRK (1992), S. 733, 745 ff. 44 EGMR, Urt. v. 02.09.10, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 Rn. 71; Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 97 ff. (s.o. § 1 D II 2); Meyer-Ladewig, NJW 2010, 3358. 45 EGMR, Urt. v. 21.10.2003, 27928/02 et 31694/02 – Broca et Textier-Micault/Frankreich, hudoc; Breuer, Judikatives Unrecht, S. 554 f.; ders., MenschenR, S. 59, 66; Rixe, FamRZ 2007, 1453, 1456; Matscher, ÖZÖRV 31 (1980), 1, 21 ff.; Haefliger in: Festgabe zum Schweizerischen Juristentag (1988), S. 27, 29 ff.
B. Die Wirksamkeit innerstaatlicher Rechtsbehelf
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langer Verfahrensdauer ist nach der Rechtsprechung des EGMR im Sinne von Art. 13 Abs. 1 EMRK „wirksam“, wenn der Beschwerdeführer mit ihm „entweder die Entscheidung des zuständigen Gerichts beschleunigen oder angemessene Wiedergutmachung für schon eingetretene Verzögerungen erlangen kann.“46 Einen präventiven Rechtsbehelf, der das Verfahren beschleunigt, hält der Gerichtshof im Zusammenhang mit dem Recht auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK für die beste Lösung.47 Es seien aber auch Kombinationen von präventiven und kompensierenden Elementen möglich und wirksam.48 Die Wirksamkeit reiner Entschädigungsrechtsbehelfe macht der EGMR hingegen von der Höhe der Entschädigung abhängig.49 Ein innerstaatlicher Rechtsbehelf ist je nach prozessualer Situation wirksam im Sinne von Art. 13 EMRK, wenn er geeignet ist, entweder das befasste Gericht zu einer schnelleren Entscheidungsfindung zu veranlassen (präventive Wirkung) oder dem Rechtssuchenden für die bereits entstandenen Verzögerungen eine angemessene Entschädigung – insbesondere auch für immaterielle Nachteile – zu gewähren (kompensatorische Wirkung).50 Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR haben einige Staaten das Verhältnis zwischen präventiven und kompensatorischen Rechtsbehelfen verstanden und Rechtsbehelfe geschaffen, die diese Ziele miteinander kombinieren, indem sie einerseits das Verfahren beschleunigen und andererseits auf Wiedergutmachung gerichtet sind.51 Im Ergebnis sind weder Präventiv- noch Kompensationsmodelle vorrangig. Beide Formen können unter verschiedenen Voraussetzungen effektiv im Sinne von Art. 13 EMRK sein. Kombinationsrechtsbehelfe hält der EGMR aber für die wirksamste Lösung.52 46 EGMR, Urt. v. 02.09.10, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 Rn. 50 f., Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 99 (s.o. § 1 D II 2); Urt. v. 26.10.00, 30210/96 – Kudla/Polen, NJW 2001, 2694 Rn. 158; Urt. v. 11.09.02, 57220/00 – Mifsud/Frankreich Rn. 15, hudoc („A remedy is effectiv if it prevents the alleged violation or its continunation or provides adequate redress for any breach that has already occurred“); Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 Rn. 28 f.; Meyer-Ladewig, NJW 2010, 3358 ff.; ders.; NJW 2001, 2679 ff.; Roller, ZRP 2008, 122; Grabenwarter/Pabel, § 24 Rn. 173. 47 EGMR, Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 100 (s. o. § 1 D II 2). 48 EGMR, Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 100 (s. o. § 1 D II 2). 49 EGMR, Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 101 (s. o. § 1 D II 2). 50 EGMR, Urt. v. 02.09.10, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 Rn. 50 f.; Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 99 (s. o. § 1 D II 2); Urt. v. 11.09.02, 57220/00 – Mifsud/Frankreich Rn. 17, hudoc; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 Rn. 28 f.; Meyer-Ladewig, NJW 2010, 3358 ff.; ders., NJW 2001, 2679 ff.; Roller, ZRP 2008, 122, 123 f. 51 EGMR, Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 100 (s. o. § 1 D II 2); Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259 Rn. 183, 186. 52 EGMR, Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 100
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Kapitel 6: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf
2. Regelungsmodelle des EGMR für einen wirksamen Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer a) Präventive Rechtsbehelfe aa) Merkmale Charakteristisch für ein präventives Rechtsmittel ist, dass sich eine unabhängige, dem Ausgangsgericht übergeordnete Instanz mit der gerügten Rechtslage befasst und gegebenenfalls Abhilfe verschafft.53 Durch einen präventiven Rechtsbehelf wird vermieden, dass überhaupt eine Verzögerung eintritt, indem er die Feststellung nachträglicher Verletzungen von Art. 6 Abs. 1. EMRK im selben Verfahren verhindert.54 Das ist im Gegensatz zur nachträglichen Wiedergutmachung ein Vorteil, weil der Rechtsbehelf nicht nur im Nachhinein auf die Konventionsverletzung reagiert.55 Ohne Vorgaben zur konkreten Ausgestaltung zu machen, bezeichnet der EGMR vorbeugende Rechtsbehelfe als die „beste Lösung“ für einen größtmöglichen innerstaatlichen Schutz der Konvention. Die Verhinderung der Verfahrensverzögerung und damit der Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK gewähre einen qualitativ besseren Rechtsschutz als eine (nur) nachträgliche Wiedergutmachung für die bereits eingetretene Konventionsverletzung in Form von Schadensersatz.56 Andererseits reiche ein nur vorbeugend wirkender Rechtsbehelf zur Wiedergutmachung nicht aus, wenn das Gerichtsverfahren offensichtlich schon übermäßig lange gedauert habe.57 bb) Österreich als Beispiel für ein rein präventives Rechtsschutzsystem (1) Die österreichische Regelung in § 91 GOG Im österreichischen Recht findet sich ein rein präventiver Beschwerderechtsbehelf, der es den Parteien ermöglicht, selbst beschleunigend auf das Verfahren einzuwirken, ohne nachträglich Kompensationsschadensersatz erhalten zu können.58 Für Zivilverfahren existiert ein präventiv wirkender und ausschließlich während des laufenden Ausgangsverfahrens statthafter Rechtsbehelf, der sog. Fristsetzungsantrag nach § 91 des Gerichtsorganisationsgesetzes (GOG). Daneben gibt es den Devolutivantrag nach § 73 des Allgemeinen Verwaltungs-
(s. o. § 1 D II 2); Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259 Rn. 183, 186; Urt. v. 30.01.2005, 23459/94 – Holzinger/Österreich, ÖstJZ 2001, 478 Rn. 1, 22. 53 Grabenwarter in: FS Raschauer (2008), S. 19, 21. 54 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259 Rn. 183. 55 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259 Rn. 183. 56 EGMR, Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 100 (s. o. § 1 D II 2). 57 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259 Rn. 185. 58 Schoibl, ZZP 118 (2005), 205, 219 ff.; Kreutzer, Säumnis, S. 217 ff.
B. Die Wirksamkeit innerstaatlicher Rechtsbehelf
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verfahrensgesetzes (AVG).59 Der für den Fall überlanger Verfahrensdauer im Zivilprozessrecht eingerichtete österreichische Rechtsbehelf nach § 91 GOG lautet: „§ 91 Fristsetzungsantrag60 (1) Ist ein Gericht mit der Vornahme einer Verfahrenshandlung, etwa der Anberaumung oder Durchführung einer Tagsatzung oder Verhandlung, der Einholung eines Sachverständigengutachtens oder der Ausfertigung einer Entscheidung, säumig, so kann eine Partei stets bei diesem Gericht den an den übergeordneten Gerichtshof gerichteten Antrag stellen, er möge für die Vornahme der Verfahrenshandlung eine angemessene Frist setzen; außer im Fall des Abs. 2 hat das Gericht diesen Antrag mit seiner Stellungnahme sofort vorzulegen. (2) Führt das Gericht alle im Antrag genannten Verfahrenshandlungen binnen vier Wochen nach dessen Einlangen durch und verständigt hiervon die Partei, so gilt der Antrag als zurückgezogen, wenn nicht die Partei binnen vierzehn Tagen nach Zustellung der Verständigung erklärt, ihren Antrag aufrechtzuerhalten. (3) Die Entscheidung über den Antrag nach Abs. 1 hat der übergeordnete Gerichtshof durch einen Senat von drei Berufsrichtern, von denen einer den Vorsitz zu führen hat, mit besonderer Beschleunigung zu fällen; liegt keine Säumnis vor, so ist der Antrag abzuweisen. Die Entscheidung ist unanfechtbar.“
Voraussetzung für das Einlegen eines Rechtsbehelfs im Sinne von § 91 GOG ist die Säumnis im Sinne des § 91 GOG. Säumnis liegt vor, wenn einer der in § 91 Abs. 1 GOG bespielhaft aufgezählten gerichtlichen Verfahrensakte, wie etwa die „Vornahme einer Verfahrenshandlung“, die „Anberaumung oder Durchführung einer Tagsatzung“, die „Einholung eines Sachverständigengutachtens“ oder auch die „Ausfertigung einer Entscheidung“ aussteht. Der Fristsetzungsantrag ist dagegen unstatthaft, wenn er sich gegen die allgemeine Dauer des Zivilverfahrens richtet, ohne dass das Gericht als säumig mit einem konkreter Verfahrensakt bezeichnet wird.61 Der Fristsetzungsantrag ist nach § 91 Abs. 1, Abs. 3 GOG beim übergeordneten Gerichtshof zu stellen, der dem Antrag abhilft, soweit nicht das Ausgangsgericht selbst die säumige Entscheidung nachholt.62 Die Entscheidungen über Fristsetzungsanträge nach § 91 GOG haben dabei Vorrang vor dem regulären Geschäftsgang.63 Zur Nachholung der 59
Schoibl, ZZP 118 (2005), 205, 219 ff.; Kreutzer, Säumnis, S. 226 ff. am 01.01.1990, zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 343/1989, RGBl. Nr. 217/1896; Abdruck: www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Bundesnormen/NOR12012887/NOR 12012887.pdf (Abruf vom 20.10.2015). 61 Schoibl, ZZP 118 (2005), 205, 219 ff.; Kreutzer, Säumnis, S. 217 ff. 62 Kreutzer, Säumnis, S. 217 ff. 63 Schoibl, ZZP 118 (2005), 205, 219 ff.; Kreutzer, Säumnis, S. 217 ff.; Meyer-Ladewig, NJW 2001, 2679, 2680. 60 Inkraftgetreten
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Kapitel 6: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf
säumigen Verfahrenshandlung hat das Ausgangsgericht nach § 91 Abs. 2 GOG eine vierwöchige Frist, die ab Einlegung des Fristsetzungsantrags zu laufen beginnt. Der Fristsetzungsantrag gilt nach § 91 Abs. 2 GOG als zurückgezogen, wenn das säumige Gericht die Verfahrenshandlung innerhalb der vierwöchigen Frist nachholt. Der Begriff der Säumnis im Sinne des § 91 GOG ist im Gesetz nicht definiert, soll sich aber an der Rechtsprechung des EGMR zur Verfahrensdauer orientieren.64 Gemäß der Gesetzesbegründung ergibt sich aus dem Wortlaut von § 91 Abs. 1 GOG „Ist ein Gericht […] säumig“, dass der Tatbestand der Säumnis objektiv gefasst ist und insbesondere in Übereinstimmung mit den Vorgaben des EGMR kein Verschulden des Gerichts voraussetzt.65 Die Entscheidung des übergeordneten Gerichts hat Bindungswirkung für das Ausgangsgericht. Allerdings kann das Gericht des Ausgangsverfahrens – als Ausfluss der richterlichen Unabhängigkeit – nicht überwacht oder notfalls erzwungen werden die Anweisungen des übergeordneten Gerichts umzusetzen. Eine weitere Frist für das Rechtsbehelfsverfahren gibt es nicht. Für die Parteien ist auch kein weiteres Rechtsmittel gegeben. Das Fristsetzungsverfahren ist ein einseitiges Verfahren, Kosten und Auslagen können nicht ersetzt werden.66 (2) Beurteilung durch den EGMR/Statistische Erhebungen/Kritik in der Literatur Die österreichischen Gerichtsstatistiken zeigen, dass der Fristsetzungsantrag in der Praxis keine große Bedeutung hat.67 Gesetzliche Regelungen oder Entscheidungen österreichischer Gerichte, die bei überlanger Verfahrensdauer nach allgemeinen Regeln Schadensersatz zusprechen, gibt es bisher nicht.68 Der EGMR hat in der Rechtssache Holzinger/Österreich69 die Effektivität des Fristsetzungsantrags nach § 91 GOG grundsätzlich bejaht. Der mit § 91 GOG geregelte Rechtsbehelf sei wirksam im Sinne von Art. 13 EMRK und müsse zur Rechtswegserschöpfung nach Art. 35 EMRK nach dem Grundsatz der Subsidiarität eingelegt werden bevor eine Individualbeschwerde zum EGMR statt91 haft sei.70 Infolge der Funktionsweise des Fristsetzungsantrags nach § GOG, dessen Entscheidungen des Obergerichts für das Ausgangsgericht nicht bindend sind, ist Österreich aber weiterhin vom EGMR nach Art. 6 Abs. 1
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Kreutzer, Säumnis, S. 217 f., 218. ErläuterRV BlgNR 17, GP, Nr. 1, 5. 66 Schoibl, ZZP 118 (2005), 205, 219 ff.; Kreutzer, Säumnis, S. 217 ff., S. 265 ff. 67 Hess in: FS Rechberger (2005), S. 211, 214 ff. 68 Kreutzer, Säumnis, S. 217 ff., S. 265 ff.; Hess in: FS Rechberger (2005), S. 211, 214 ff. 69 EGMR, Urt. v. 30.01.05, 23459/94 – Holzinger/Österreich, ÖstJZ 2001, 478 Rn. 1, 22. 70 EGMR, Urt. v. 30.01.05, 23459/94 – Holzinger/Österreich, ÖstJZ 2001, 478 Rn. 2 2 ff. 65
B. Die Wirksamkeit innerstaatlicher Rechtsbehelf
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EMKR verurteilt worden.71 Die präventiven Maßnahmen nach § 91 GOG werden auch in der Literatur als nicht effektiv beurteilt.72 Kritisch wird auch der Umfang der Entscheidungsgewalt des übergeordneten Gerichtshofs gesehen, da § 91 GOG bestimmt, das übergeordnete Gericht „möge dem Gericht für die Vornahme der Verfahrenshandlung eine angemessene Frist setzten“.73 Dem zuständigen Gericht wird damit die Entscheidung abgenommen, ob es eine bestimmte Verfahrenshandlung überhaupt vornehmen will.74 Darüber hinaus wird bemängelt, dass die Parteien keine Mindestfrist einhalten müssen, bevor sie den Fristsetzungsantrag nach § 91 GOG stellen können.75 Außerdem fehle es an einer Regelung zur Umsetzung der Fristsetzungsentscheidung.76 Es wird allgemein bezweifelt, dass § 91 GOG tatsächlich zu einer Beschleunigung der Verfahren geführt habe.77 b) Repressive Rechtsbehelfe aa) Merkmale Repressive Kompensationsrechtsbehelfe gleichen die entstandene Verfahrensverzögerung aus, indem sie nachträgliche Entschädigungen auf Sekundärschutzebene gewähren.78 bb) Beispiele für rein repressive Rechtsschutzsysteme (1) Frankreich (a) Die französische Regelung in Art. L. 781–1 Gerichtsverfassungsgesetz/ Rechtsprechung des Conseil d’État (CE) Als Ausgleich für überlange Gerichtsverfahren gewährt das französische Recht den Betroffenen repressiven Rechtsschutz durch Schadensersatz.79 Infolge der strikten Trennung zwischen ordentlicher und Verwaltungsgerichtsbarkeit, gibt es im französischen Recht für jede Fachgerichtsbarkeit einen eigenen – jeweils repressiv wirkenden – Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer.80 Die ordentliche Gerichtsbarkeit sieht als Anspruchsgrundlage Art. L. 781–1 Ge71
EGMR, Urt. v. 24.02.05, 34983/02 – Nowicky/Österreich, hudoc. Kreutzer, Säumnis, S. 265 ff. 73 Kreutzer, Säumnis, S. 265 ff.; Redeker, NJW 2003, 488, 489. 74 Kreutzer, Säumnis, S. 265 ff.; Redeker, NJW 2003, 488, 489. 75 Kreutzer, Säumnis, S. 265 ff.; Redeker, NJW 2003, 488, 489 f. 76 Kreutzer, Säumnis, S. 265 ff.; Redeker, NJW 2003, 488, 489 f. 77 Kreutzer, Säumnis, S. 265 ff.; Vorwerk, JZ 2004, 553, 556. 78 EGMR, Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 101 (s. o. § 1 D II 2). 79 Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451 ff. 80 Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451 ff., 459 ff. 72
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Kapitel 6: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf
richtsverfassungsgesetz81 vor. Nach dieser Norm hat der Betroffene einen Anspruch auf Ersatz des Schadens, der ihm dadurch entstanden ist, dass das Verfahren sich auf aufgrund der mangelhafter Funktionsweise der Justiz vorzögert hat, soweit grobe Fahrlässigkeit oder Justizverweigerung vorliegen. Eine Verfahrensverzögerung liegt vor, wenn eine gerichtliche Entscheidung nicht innerhalb einer angemessenen Frist ergeht; dies stellt nach der französischen Rechtsprechung zu Art. L. 781–1 Gerichtsverfassungsgesetz einen Unterfall der Justizverweigerung dar.82 Keine Voraussetzung ist ein Verschulden des Gerichts.83 Als Rechtsfolge gewährt Art. L. 781–1 Gerichtsverfassungsgesetz Ersatz der materiellen und immaterielle Schäden. Beispielsweise hat das Tribunal de Grand Instance (TGI) Paris84 dem Betroffenen Schadensersatz in Höhe von Fr. 7500,– für die psychische Belastung während des überlangen Gerichtsverfahrens gewährt.85 Der Schadensersatzanspruch nach Art. L. 781– 1 Gerichtsverfassungsgesetz kann parallel zum überlangen Ausgangsverfahren erhoben werden oder auch im Anschluss.86 Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit gewährt der französische Verwaltungsgerichtshof (Conseil d’État) seit der Entscheidung im Fall Magiera 87 in öffentlich-rechtlichen Verfahren einen richterrechtlich begründeten staatshaftungsrechtlichen Entschädigungsanspruch, wenn das Recht der Entscheidung in angemessener Frist nicht angemessen berücksichtig wurde. Der Verwaltungsgerichtshof leitet den Entschädigungsanspruch direkt aus Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK, als „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ für das Verwaltungsverfahren ab.88 Auch nach dem Conseil d’État sind materielle und immaterielle Schäden zu ersetzen, wobei nicht generell bei überlanger Verfahrensdauer ein Schmerzensgeld für die immateriellen Schäden zu zahlen ist.89 Auch dieser Anspruch kann parallel zum überlangen Ausgangsverfahren erhoben werden oder auch im Anschluss.90 81 Zum Wortlaut: „Art. L. 781–1 Code de l’organisation judicaire: L’État est tenu de réparer le dommage causé le fonctionnement défectueux du service de la justice. Cette responsablilité n’est engagée que par une faute lourde ou par un déni de justice“. Zur englischen Übersetzung, Abdruck in: EGMR, Urt. v. 11.09.02, 57220/00 – Mifsud/Frankreich, Rn. 8, hudoc: „Art. L. 781–1 Code of Judical Organisation: The State shall be under an obligation to compensate for damage caused by a malfunctioning of the system of justice. This liability shall be incurred only in respect of gross negligence or a denial of justice.“ 82 Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451, 459 ff. 83 Hess in: FS Rechberger (2005), S. 211 ff. 84 TGI Paris, 05.11.1997 – Gautier/Agent Judiciaire du Trésor, Dalloz 1998 (Jurisprudence), 9 ff. mit Anm. M.-A. Frison-Roche; bestätigt durch Cour d’Appel (Berufungsgericht) Paris, 20.01.1999 – Gauthier, Dalloz 1999 (Information rapides), 125. 85 Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451, 459 ff. 86 Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451, 459 ff. 87 Conseil d’État (CE), Ass. 28.06.2002 – Magiera, AJDA 2002, chronique F. Donnat/D. Cassas, 596. 88 Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451, 460 f. 89 Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451, 461. 90 Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451, 461.
B. Die Wirksamkeit innerstaatlicher Rechtsbehelf
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(b) Beurteilung durch den EGMR/Literatur Der EGMR hat in der Rechtssache Mifsud/Frankreich91 entschieden, dass Art. L . 781–1 Gerichtsverfassungsgesetz für die ordentliche Gerichtsbarkeit einen effektiven Rechtsbehelf im Sinne von Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK gewährt. Bei Rechtsbehelfen, die allein richterrechtlich begründet sind, liegt ein im Sinne von Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK effektiver Rechtsbehelf vor, wenn sichergestellt ist, dass es sich nicht um einzelne Urteile, sondern um eine gefestigte Rechtssprechungspraxis handelt, die auch in der Zukunft gelten wird.92 Nach der Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Broca et Textier-Micualt/Frankreich93 ist dies seit dem Magiera-Urteil in der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit der Fall. Das französische Rechtsschutzsystem zeigt, dass auch Kompensationsrechtsbehelfe grundsätzlich geeignet sind, vom EGMR als wirksame Rechtsbehelfe bei überlanger Verfahrensdauer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK beurteilt zu werden; genauso wie rein richterrechtlich begründete Rechtsbehelfe, die nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt sind, soweit das Rechtsschutzsystem insgesamt als effektiv zu beurteilen ist.94 (2) Italien (a) Das italienische Pinto-Gesetz Gegen kein anderes Konventionsland wurde vor dem Gerichtshof eine vergleichbar hohe Anzahl von Beschwerden wegen Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK anhängig gemacht wie gegen Italien.95 Zum 23. November 1999 wurde infolge der Rechtsprechung des EGMR die italienische Verfassung angepasst, die seitdem in Art. 111 das Recht auf angemessene Verfahrensdauer gewährt, welches – mit Parlamentsbeschluss vom 24. März 2001 – durch das sog. Pinto-Gesetz auch einfachgesetzlich ausgestaltet ist.96 Nach § 2 Pinto-Gesetz hat der Betroffene einen Entschä-
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EGMR, Urt. v. 11.09.02, 57220/00 – Mifsud/Frankreich, hudoc. EGMR, Urt. v. 11.09.02, 57220/00 – Mifsud/Frankreich, hudoc. 93 EGMR, Urt. v. 21.10.03, 27928/02 – Broca et Textier-Micault/Frankreich, hudoc. 94 Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451, 462 ff.; Gundel, DVBl. 2004, 17 ff. 95 EGMR, Urt. v. 28.07.1999, 34884/97 – Bottazzi/Italien, § 2 2: „The frequency with violations are found shows that there is a accumlation of identical breaches which are sufficiently numerous to amount not merely to isolated incidents. Such breaches reflect a continuing situation that has not yet been remedied and in respect of which litigants have no domestic remedy. This accumulation of breaches accordingly constitutes a practice that is incompatible with the Convention“. 96 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien (Nr.1), Rn. 62: Gesetz Nr. 89 vom 24. März 2001 (sog. Pinto-Gesetz); Breuer, Judikatives Unrecht, S. 557 ff.; Oellers-Frahm in: FS Ress (2005), S. 1027 ff. 92
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Kapitel 6: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf
digungsanspruch für Nachteile infolge der unangemessenen Verfahrensdauer.97 Die Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Kriterien des EGMR, d. h. nach der Komplexität des Falles, des Verhaltens der Verfahrensbeteiligten und des Verhaltens der zuständigen Gerichte.98 Nach dem auf § 2 des Pinto-Gesetzes anwendbaren Art. 2056 des italienischen Zivilgesetzbuchs umfasst der Entschädigungsanspruch materielle und immaterielle Schäden.99 Zeitlich ist der Anspruch auf solche Schäden begrenzt, die während der Überlänge des Verfahrens eingetreten sind.100 Als Rechtsfolge gewährt § 2 Pinto-Gesetz Entschädigung und die Möglichkeit zur Feststellung der der Überlänge im Tenor, vergleich mit einem Ausspruch nach der Urteilspraxis des EGMR.101 Vor einer (weiteren) Überprüfung der italienischen Gesetzeslage durch den EGMR hatte die italienische Rechtsprechungspraxis teilweise bei Anwendung des § 2 Pinto-Gesetz die Feststellung der Überlänge bei der Bestimmung der Höhe der Entschädigung angerechnet und damit die zu gewährende Entschädigungssumme auf Rechtsfolgenseite verkürzt. Deshalb beurteilte der EGMR in der Rechtssache Scordino/Italien102 den italienischen Rechtsbehelf weiterhin als unwirksam im Sinne von Art. 13 EMRK und forderte Italien auf, die Höhe der Entschädigung an die Rechtsprechung des Gerichtshofs anzupassen.103 Darauf änderte der Corte di Cassazione seine Rechtsprechung nochmals und passte sie auch der Höhe nach an die Vorgaben des EGMR an.104 Der Entschädigungsanspruch kann parallel oder im Anschluss, mit einer Frist von sechs Monaten nach dem überlangen Ausgangsverfahren geltend gemacht werden. Vormals hatte der EGMR seine Bewertung als unwirksam auch damit begründet, dass wiederum die Entschädigungsverfahren überlang dauerten bzw. die Auszahlung der Entschädigungssumme. 105 Nach § 2 Pinto-Gesetz ist das Entschädigungsverfahren heute spätestens vier Monate nach Abschluss des Ausgangsverfahrens zu beenden und die Entschädigungs97 Englische Übersetzung, Abdruck in: EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/ Italien, Rn. 62 ff., hudoc: „Chapter II: Just satisfaction: Section 2 Entitlement to just satisfaction: 1. Anyone sustaining pecuniary or non-percuniary damage as a result of a violation of the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedom, ratified by Law requirement in no. 848 of 4 August 1955, on account fo a failure to comply with the „reasonable-time“ requirement in Articel 6 § 1 of the Convention, shall be entitled to just satisfaction. […].“ 98 Oellers-Frahm in: FS Ress (2005), S. 1027, 1033 f. 99 Oellers-Frahm in: FS Ress (2005), S. 1027, 1034 ff. 100 Oellers-Frahm in: FS Ress (2005), S. 1027, 1034 ff. 101 Oellers-Frahm in: FS Ress (2005), S. 1027, 1038 f. 102 EGMR, Urt. v. 27.03.03, 36813/97 – Scordino and others/Italien, hudoc. 103 EGMR, Urt. v. 27.03.03, 36813/97 – Scordino and others/Italien, hudoc; OellersFrahm in: FS Ress (2005), S. 1027, 1039 ff. 104 Court of Cassation, Urt. v. 26.01.04 - Nr. 1338, Nr. 1339, 1340 und 1341 (unveröffentlicht). 105 EGMR, Urt. v. 27.03.03, 36813/97 – Scordino and others/Italien, hudoc.
B. Die Wirksamkeit innerstaatlicher Rechtsbehelf
163
summe sofort nach Abschluss des Entschädigungsverfahrens auszuzahlen.106 Auch gegen die Entscheidung des Entschädigungsgerichts ist ein Rechtsmittel zum Corte di Cassazione möglich, sowohl in Bezug auf die Feststellung der Überlange und auch die Höhe der Entschädigungssumme.107 (b) Beurteilung des EGMR seit der angepassten Umsetzung des Pinto-Gesetzes/Literatur/Der Bericht des Ministerkomitee In seinem ersten Urteil bewertet der EGMR die italienische Rechtslage auch nach Einführung des Pinto-Gesetzes als nicht effektiv im Sinne von Art. 6 Abs. 1 i.V.m Art. 13 EMRK.108 Erst in der Entscheidung Scordino/Italien 109 (Nr.1), beurteilte der EGMR das Pinto-Gesetz als einen grundsätzlich effektiven Rechtsbehelf im Sinne von Art. 13 EMRK. Dies begründete der EGMR damit, dass Italien sicherstellen müsse, dass die Umsetzung des Rechtsbehelfs zur Geltendmachung der überlangen Verfahrensdauer in der praktischen Rechtsprechung effektiv sei, was sich in einer Änderung der italienischen Rechtsprechungspraxis entsprechend der Vorgaben des EGMR zeige.110 Dabei wies der EGRM auf eine Reihe von zur Ineffektivität führenden Mängel des Entschädigungsverfahrens hin: Erstens die Dauer des Entschädigungsverfahrens selbst, wobei die viermonatige Frist als solche geeignet sei, Effektivität herzustellen. Wobei der EGMR es als ineffektiv bewertete, dass das Pinto-Gesetz eine solche Frist am Corte di Cassazione nicht vorsehe.111 Zudem sei weiter nicht umgesetzt, dass die Auszahlung der Entschädigungssummen unmittelbar im Anschluss an das Entschädigungsverfahren erfolge. Vielmehr müssten Betroffene teilweise Zwangsvollstreckungsverfahren betreiben, um ihre Ansprüche gegen den Staat Italien durchzusetzen.112 Der Gerichtshof forderte Italien auf, entsprechende Finanzmittel im Haushalt bereitzustellen.113 Schließlich beurteilte der EGMR das Pinto-Gesetz auch deshalb als ineffektiv, weil der Betrag von nur 10% bzw. 20% der vom EGMR gewährten Entschädigungssummen zu gering sei, um eine wirksame Entschädigung bei überlanger Verfahrensdauer zu gewährleisten.114 Hohe Gerichtskosten und Gebühren des 106
Oellers-Frahm in: FS Ress (2005), S. 1027, 1029 f. Oellers-Frahm in: FS Ress (2005), S. 1027, 1030. 108 EGMR, Urt. v. 10.11.2004, 64897/01 – Zullo/Italien, hudoc; Urt. v. 27.03.03, 36813/97 – Scordino and others/Italien, hudoc. 109 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien (Nr.1), NJW 2007, 1259. 110 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien (Nr.1), NJW 2007, 1259 Rn. 193 ff.; Oellers-Frahm in: FS Ress (2005), S. 1027, 1044 ff. 111 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien (Nr.1), NJW 2007, 1259. 112 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien (Nr.1), NJW 2007, 1259. 113 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien (Nr.1), NJW 2007, 1259. 114 EGMR, Urt. v. 02.12.08, 8934/05 – Jagiello/Italien (Nr.2) Rn. 28, hudoc; Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien (Nr.1), NJW 2007, 1259 Rn. 214; Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 59. 107
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Kapitel 6: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf
Entschädigungsverfahrens wirkten sich ebenfalls negativ auf die Effektivitätsprüfung des EGMR nach Art. 13 EMRK aus.115 In Folge dessen gewährte der EGMR den Betroffenen weiterhin das Recht sich auch bei Erhebung des Entschädigungsanspruchs nach § 2 Pinto-Gesetz an den Gerichtshof wenden zu können, da er sich nach Art. 35 EMRK (Grundsatz der Subsidiarität)116 nicht daran gehindert sah, ein Individualbeschwerdeverfahren wegen Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zuzulassen.117 Italien stehe weiterhin vor der Herausforderung die Vorgaben des EGMR an einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK wirksam umzusetzen. In der Literatur wird es kritisch gesehen, dass die Regelung im Pinto-Gesetz nicht durch ein präventives Element ergänzt ist.118 Das Ministerkomitee119 stellte in seinem regelmäßigen Bericht zur Überlänge der Verfahren in Italien fest, dass auch nach Einführung des Pinto-Gesetzes die italienische Rechtslage weiter Mängel aufweise, insbesondere was die gerichtliche Umsetzungspraxis betreffe (Höhe der Entschädigungssummen und deren zügige Auszahlung).120 Der Bericht weist ausdrücklich darauf hin, dass eine Beschleunigungsmöglichkeit weiterhin fehle.121 Zudem habe sich die Grundsituation – zu lange Verfahren in Italien – längenmäßig nicht verbessert. Daran ändere auch die Gewährung angemessenen Schadensersatzes nichts.122 c) Kombinationsrechtsbehelfe aa) Merkmale Kombinationsrechtsbehelfe geben dem Betroffenen die Möglichkeit, durch Erhebung des Rechtsbehelfs das Verfahren zu beschleunigen und gewähren gleichzeitig eine Entschädigung für bereits eingetretene Verzögerungen.123 Der EGMR honoriert die Kombination beider Ziele als eine „besonders vollkommene“ Umsetzung seiner Wirksamkeitsanforderungen.124 Die Kombination sei
115
EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien (Nr.1), NJW 2007, 1259. EMRK, Art. 35 Rn. 7 ff. 117 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien (Nr.1), NJW 2007, 1259. 118 Hess in: FS Rechberger (2005), S. 211. 119 S. o. § 5 A I 2 c bb. 120 Committee of Ministers: Third annual report on the excessive length of judical proceedings in Italy for 2003 (CM/Inf/DH (2004)23), 24. September 2004. 121 Committee of Ministers: Third annual report on the excessive length of judical proceedings in Italy for 2003 (CM/Inf/DH (2004)23), 24. September 2004. 122 Committee of Ministers, Interim Resolution ResDH (2005) p. 114 et. seq. 123 EGMR, Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 100 f. (s. o. § 1 D II 2). 124 EGMR, Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 100 f. (s. o. § 1 D II 2). 116 Karpenstein/Mayer/Schäfer,
B. Die Wirksamkeit innerstaatlicher Rechtsbehelf
165
am praktikabelsten, um dem Konventionsrecht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK innerstaatlich die höchstmögliche Geltung zu verschaffen.125 bb) Spanien als Beispiel für ein kombiniertes Rechtsschutzsystem (1) Die gesetzlichen Regelungen in Spanien Im spanischen Recht garantiert Art. 53 Abs. 2 der Verfassung, Gerichtsverfahren ohne Verzögerungen bezüglich der Durchsetzung bestimmter verfassungsrechtlicher Garantien vor ordentlichen Gerichten durchgeführt werden.126 Dieses Recht wird durch Art. 121 der Verfassung ergänzt, der einen Schadensersatzanspruch bei „Fehlern des Justiz“ vorsieht, worunter nach der spanischen Rechtsprechung auch die unangemessene Verfahrensdauer zählt.127 Einfachgesetzlich ist dieser verfassungsrechtlich garantierten Schadensersatzanspruch wegen rechtswidrigem Verhalten der Justiz („malfunctioning of the judical system“)128 in den Sect. 292 ff. des spanischen Gerichtsgesetzes geregelt.129 Der Schadensersatzanspruch kann nach Beendigung des als überlang bewerteten Ausgangsverfahrens erhoben werden und ist an das Justizministerium zu adressieren, Sec. 293 § 2 spanischen Gerichtsgesetzes. Gegen dessen ablehnende Entscheidung ist eine Beschwerde zum Verwaltungsgericht möglich. Daneben hat der Betroffene nach Art. 24 Abs. 2 der spanischen Verfassung i. V. m. Sect. 44.1c des Verfassungsgerichtsgesetzes130 das Recht noch während des laufenden Ausgangsverfahrens zu dessen Beschleunigung beim Instanzund Verfassungsgericht, als übergeordnetem Gericht die eine sog. „amparo-Beschwerde“ zu erheben.131 Der Beschwerdeführer hat die „amparo-Beschwerde“ zunächst vor dem Ausgangsgericht zu ergeben. Nur wenn das Ausgangsgericht die Beschwerde zurückgewiesen hat, ist diese auch vor dem spanischen Verfassungsgerichtshof zu erheben. Hält das Verfassungsgericht die „amparo-Beschwerde“ für begründet, kann es dem Ausgangsgericht eine Frist zur Nachholung der verzögerten Verfahrenshandlung setzen oder auch das Ge125 EGMR, Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 100 f. 126 EGMR, Urt. v. 08.10.02, 64359/01 – Fernandez-Molina Gonzalez/Spanien, hudoc. 127 Meyer-Ladewig, NJW 2001, 2679, 2680. 128 „Sect. 292: 1. Anyone who incurs a loss as a result of a judicial error or a malfunctioning of the judicial system shall be compensated by the State, other than in cases of force majeure, in accordance with the provisions of this part. […] Sect. 293 […] 2. In the event of a judicial error or malfunctioning of the judicial system, the complainant shall submit his claim for compensation to the Ministry of Justice. […]“. 129 EGMR, Urt. 05.10.99, 39521/98 – Gonzalez Marin/Spanien, hudoc. 130 „Sect. 4 4.1c: 1. An amparo appeal in respect of a violation of rights and guarantees capable of constitutional protection […] does not lie unless […] the violation in question has been formally alleged in the proceedings in question as soon as possible after it has occured.“ 131 Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 583 f. („recurso de amparo“).
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Kapitel 6: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf
samtverfahren verzögernde Prozesshandlungen des Ausgangsgerichts aufheben und ersetzen. Die beiden Rechtsbehelfe auf Schadensersatz und Beschleunigung stehen nebeneinander zur Verfügung, weshalb es sich bei der spanischen Regelung um ein Kombinationsmodell zur Gewährung von Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer handelt. Der spanische Gesetzgeber hat sich bewusst für eine Trennung zwischen Entschädigungs- und Beschleunigungsverfahren entschieden, um betroffene Verfahren nicht noch weiter zu verzögern anstatt sie zu beschleunigen, da die Entscheidung über den Schadensersatzanspruch aufwendig sein kann.132 (2) Beurteilung durch den EGMR Der EGMR beurteilt den spanischen Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer als effektiv.133 In der Rechtssache Hartman/Tschechien134 wird die spanische Regelung als Vorbild dargestellt: Insbesondere lobt der Gerichtshof die Ermächtigung des spanischen Verfassungsgerichts im „amparo-Beschwerde“-Verfahren, praktische Maßnahmen zur Beschleunigung anzuweisen.135 In der Entscheidung Gonzalez Marin/Spanien136 stellte der EGMR fest, dass der Beschwerdeführer, der eine „amparo-Beschwerde“ parallel zum Ausgangsverfahren erfolgreich durchgeführt hatte, aber danach keinen Schadensersatzanspruch gegen den Staat erhob, den nationalen Rechtsweg nicht im Sinne von Art. 35 EMRK erschöpft habe. Der Rechtsschutz sei kombiniert aus Beschwerde und Schadensersatz nach Sect. 292 ff. des spanischen Gerichtsgesetzes, weshalb auch beide Elemente der Regelung ausgeschöpft werden müssten bevor eine Individualbeschwerde vor dem EGMR statthaft sei.137 Die spanische Regelung ist nach der Beurteilung des EGMR ein Kombinationsrechtsbehelf aus präventiver und repressiver Rechtschutz, der auch nach Art. 13 EMKR effektiv ist.138 3. Zwischenergebnis Der Ländervergleich der ausgewählten Konventionsstaaten zeigt, dass der EGMR die unterschiedlichsten Rechtsschutzsysteme als wirksam im Sinne von Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK ansieht, sofern der jeweilige Konventions-
132
Meyer-Ladewig, NJW 2001, 2679, 2680. Urt. 08.10.02, 64359/01 – Fernandez-Molina Gonzalez/Spanien, hudoc; EGMR, Urt. 05.10.99, 39521/98 – Gonzalez Marin/Spanien, hudoc. 134 EGMR, Urt. v. 10.07.2003, 53341/99 – Hartman/Tschechien, hudoc. 135 EGMR, Urt. v. 10.07.2003, 53341/99 – Hartman/Tschechien, hudoc. 136 EGMR, Urt. v. 24.04.2004, 71752/01 – Gonzalez/Spanien, hudoc. 137 EGMR, Urt. v. 24.04.2004, 71752/01 – Gonzalez/Spanien, hudoc. 138 EGMR, Urt. v. 24.04.2004, 71752/01 – Gonzalez./Spanien, hudoc. 133 EGMR,
C. Bewertung der Effektivität von innerstaatlichen Rechtsschutzsystemen
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staat die Vorgaben in der Rechtspraxis effektiv umsetzt.139 Den präventiven österreichischen Rechtsbehelf in § 91 GOG hält der EGMR nicht für effektiv, da die (zwangsweise) Durchsetzung der angeordneten Beschleunigungsmaßnahmen nicht sichergestellt ist. Die französische Regelung zur Kompensation mit einem gesetzlichen Entschädigungsanspruch für überlange Zivilprozesse nach Art. L. 781–1 Gerichtsverfassungsgesetz in Verbindung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Conseil d’État schätzt er hingegen als ein effektives Rechtsschutzsystem ein. Das italienische Pinto-Gesetz, das ebenfalls eine reine Entschädigungsregelung vorsieht, hat der EGMR wegen Verletzung einer ganzen Reihe seiner Effektivitätskriterien als nicht wirksam im Sinne von Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK bewertet. Dies begründet er vor allem mit der unzureichenden Höhe der Entschädigungszahlungen und der überlangen Dauer der Auszahlung. Auch die Entschädigungsverfahren selbst dauerten zu lange, ohne dass Betroffene dagegen vorgehen könnten. Die spanische Regelung bewertet der EGMR als vorbildlich: Sie sei ein effektiver Kombinationsrechtsbehelf. Die präventiv wirkende „amparo-Beschwerde“ ist vor allem deshalb so effektiv, weil das Verfassungsgericht befugt ist, konkrete Beschleunigungsmaßnahmen anzuordnen und zudem ein Rechtsmittel zur Verfügung steht, um die Maßnahmen zu überprüfen. Das im Anschluss durchführbare Schadensersatzverfahren prüft der EGMR anders als reine Kompensationsrechtsbehelfe. Beispielsweise lässt er die Höhe der gewährten Schadensersatzsummen bei der Beurteilung der Effektivität unberücksichtigt.
C. Bewertung der Effektivität von innerstaatlichen Rechtsschutzsystemen bei überlanger Verfahrensdauer anhand des Prüfprogramms des EGMR („verifiying remedy effectivness“) I. Die Grundkriterien des EGMR zur Prüfung der Effektivität 1. Definition der überlangen Verfahrensdauer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK Ausgangspunkt für die Überprüfung der Effektivität eines Rechtsbehelfs („verifiying remedy effectivness“)140 ist die Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer. Eine zu enge Definition des überlangen Verfahrens würde den Rechtsbehelf von vornherein einschränken.141 Die Überprüfung der Angemes139
Calvez/Régis, p. 15. Calvez/Régis, p. 16 et. seq. 141 Venedig-Kommission, Study No. 316/2004, CDL-AD(2006)036rev., §§ 131 ff., 148 ff.; Matusche-Beckmann/Kumpf, ZZP 124 (2011), 173, 181 f.; Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 74; Reich, Richterliche Beschleunigungspflichten, S. 275, 277 f. 140
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Kapitel 6: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf
senheit der Verfahrensdauer ist nach der Rechtsprechung des EGMR nicht an die Überschreitung gesetzlich festgesetzter Fristen oder Durchschnittswerte gebunden. Der EGMR gibt vielmehr vor, dass die Überlänge der Verfahrensdauer anhand objektiver Kriterien im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMKR für jeden Einzelfall unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände zu bestimmen ist.142 Die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer darf auch nicht von einem Verschulden des Gerichts abhängen. Aus diesem Grund bewertet der EGMR den deutschen Staatshaftungsanspruch nach § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG als nicht effektiv im Sinne von Art. 13 EMRK.143 Der frühere französischer verwaltungsrechtliche Rechtsbehelf, der bei bloß fahrlässiger Verantwortlichkeit des Gerichts für die Verzögerung keine Entschädigung gewährte, wurde vom EGMR ebenfalls als nicht effektiv im Sinne der Konvention beurteilt.144 Die Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer in Übereinstimmung mit den Vorgaben des EGMR ist wichtig, da sie in materieller-rechtlicher Hinsicht die Grenze des Rechtsbehelfs festlegt und somit Anknüpfungspunkt für das Vorgehen gegen ein überlanges Verfahren ist.145 2. Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs Die Wirksamkeit eines Rechtsbehelfs hängt nach der Rechtsprechung des EGMR auch von seinen formellen zeitlichen Grenzen ab, da zu kurze Fristen einen Rechtsbehelf ineffektiv machen können.146 Eine zeitliche Begrenzung des Rechtsbehelfs ist auf unterschiedliche Arten möglich: Ansprüche können nachträglich durch Ablauf einer bestimmten Zeit erlöschen (Ausschlussfrist) oder auch kann eine Frist vorangestellt werden, vor deren Ablauf ein Rechtsbehelf noch nicht zulässig ist (Ablauffrist). Möglich sind auch Kombinationen. Zu beachten ist, dass materiell-rechtliche Entschädigungsansprüche daneben der Verjährung unterliegen.147 Ob die zeitlichen Begrenzung zu einer vor- oder nachteiligen Beurteilung der Effektivität eines Rechtsbehelfs führt, hängt von der konkreten Ausgestaltung des Rechtsbehelfs ab, insbesondere, ob dieser präventiv oder entschädigend wirkt – grundsätzlich machen zeitliche Fristen einen 142 Stdg. Rspr. EGMR, Urt. v. 28.06.1978, 6232/73 – König/Deutschland, NJW 1979, 447 Rn. 99; Urt. v. 29.05.1986, 9384/81– Deumeland/Deutschland, NJW 1989, 652 Rn. 78 ff; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 199 f.; Frowein/Peukert/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 249. 143 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 113. 144 EGMR, Urt. v. 21.10.03, 27928/02 – Broca et Textier-Micault/Frankreich, hudoc Rn. 16. 145 Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 74. 146 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265; Matusche-Beckmann/Kumpf, ZZP 124 (2011), 173, 181; Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 74. 147 EGMR, Urt. v. 11.09.02, 57220/00 – Mifsud/Frankreich, hudoc.
C. Bewertung der Effektivität von innerstaatlichen Rechtsschutzsystemen
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Rechtsbehelf nicht ineffektiv.148 Der EGMR hat die Vorschaltung einer Frist, innerhalb derer vor dem Gericht durch ein anderes Organ der Beschwerde abgeholfen werden kann, als beschleunigend und damit positiv bewertet.149 Ausschlussfristen haben dann keine negativen Implikationen, wenn nach der Verfristung des einen Rechtsbehelfs ein anderer zulässig ist.150 Beispielsweise bei zweispurigen Verfahren mit Beschwerde während und Schadensersatz nach Abschluss des ursprünglichen Verfahrens.151 3. Dauer des Rechtsbehelfsverfahrens Die Effektivität eines Rechtsbehelfs im Sinne von Art. 13 EMRK erfordert, dass das Verfahren des Rechtsbehelfs gegen die überlange Verfahrensdauer selbst nicht unangemessen lange dauert.152 Das Rechtsbehelfsverfahren darf nicht selbst gegen das Recht auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßen und die Dauer des Rechtsbehelfsverfahrens muss ihrerseits überprüfbar sein.153 Für die Überprüfung der Gesamtdauer des Rechtsbehelfsverfahrens, ist der Zeitraum von der Einlegung des Rechtsbehelfs bis zum rechtskräftigen Abschluss des Abhilfeverfahrens durch Auszahlung des Schadensersatzes zugrunde zu legen.154 Die Gerichte und staatlichen Stellen haben bei Rechtsbehelfe wegen überlanger Verfahrensdauer ein besonderes Augenmerk auf die Dauer des Verfahrens zu richten.155 Die Vorgabe richtet sich auch an die Konventionsstaaten selbst, die in ihren Verfahrensordnungen Rechtsbehelfsverfahren einzuführen haben, die eine angemessene Verfahrensdauer gewährleisten.156 Generell ist es nicht zwingend, für das Rechtsbehelfsverfahren eigene Fristen vorzusehen. Sobald die praktische Umsetzung offenbart, dass die Verfahrensdauer sich durch das Rechtsbehelfsverfahren wiederum verlängert und dadurch die Rechtsverletzung nach Art. 6 Abs. 1 EMRK noch 148 Matusche-Beckmann/Kumpf, ZZP 124 (2011), 173, 181; Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 74. 149 EGMR, Urt. v. 30.01.2005, 23459/94 – Holzinger/Österreich, ÖstJZ 2001, 478. 150 Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 74. 151 EGMR, Urt. v. 08.10.02, 64359/01 – Fernandez-Molina Gonzalez/Spanien, hudoc. 152 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 64886/01 – Cocchiarella/Italien, hudoc Rn. 86–98; Venedig-Kommission, Study No. 316/2004, CDL-AD(2006)036rev., §§ 157 ff., 161; Calvez/Régis, p. 17; Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 74; Reich, Richterliche Beschleunigungspflichten, S. 278. 153 EGMR, Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 101 (s. o. § 1 D II). 154 EGMR, Urt. v.29.03.06, 64897/01 – Zullo/Italien, hudoc Rn. 78, 88; Matusche-Beckmann/Kumpf, ZZP 124 (2011), 173, 181. 155 EGMR, Urt. v. 22.05.03, 58698/00 – Paulino Tomas/Portugal, hudoc; Venedig-Kommission, Study No. 316/2004, CDL-AD(2006)036rev., § 161. 156 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265; Venedig-Kommission, Study No. 316/2004, CDL-AD(2006)036rev., § 163.
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Kapitel 6: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf
vertieft wird, ist die Effektivität des Rechtsbehelfs im Sinne von Art. 13 EMKR nicht mehr gegeben.157 4. Kosten des Rechtsbehelfsverfahrens Weiter wird die Effektivität eines Rechtsbehelfs geschmälert, wenn für das Verfahren hohe Kosten anfallen.158 Dies hat nach der Rechtsprechung des EGMR einen abschreckenden Effekt auf potentielle Beschwerdeführer.159 Folgende ausdrückliche Regelung in einem Rechtsbehelf sei sinnvoll: Zwar wird für die Erhebung des Rechtsbehelfs eine Gebühr fällig, bei Obsiegen bekommt der Beschwerdeführer die Gebühr aber erstattet oder sie ist vom Staat als Beschwerdegegner zu tragen.160 5. Rechtsmittel im Rechtsbehelfsverfahren Die Effektivität von Rechtsbehelfen bei überlanger Verfahrensdauer hängt schließlich auch davon ab, ob gegen eine Entscheidung innerhalb des Rechtsbehelfsverfahrens vorgegangen werden kann.161 Kompensationsrechtsbehelfe nach den allgemeinen Regeln der Staatshaftung, die auch die im Regelfall bestehenden Rechtsmittel gewähren, beurteilt der EGMR positiv.162 Auch speziell für das Rechtsbehelfsverfahren geltende Regelungen sind möglich.163 Dieses Kriterium hat für den EGMR, je nachdem, ob es sich um einen Kompensationsrechtsbehelf oder um einen präventiven Rechtsbehelf handelt, offenbar unterschiedliche Relevanz. Bei Kompensationsrechtsbehelfen ist der Umfang der Prüfungskompetenz entscheidend. Es soll eine volle Überprüfung möglich sein; befasst sich das Rechtsmittelgericht nicht mit der Höhe des zu leistenden Schadensersatzes, vermindert dies nach Ansicht des EGMR die Effektivität des Rechtsbehelfs.164 Der EGMR hat daneben präventiv wirkende Regelungen als effektiv beurteilt, die keine Rechtsmittel oder sonstige Möglichkeiten vorsehen
157 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259; Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 56, 58. 158 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265; Venedig-Kommission, Study No. 316/2004, CDL-AD(2006)036rev., § 164; Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 75; Matusche-Beckmann/Kumpf, ZZP 124 (2011), 173, 181; Reich, Richterliche Beschleunigungspflichten, S. 279. 159 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265. 160 EGMR, Urt. v. 15.3.05, 15212/03 – Charzyński/Poland, hudoc. 161 EGMR, Urt. v.29.03.06, 64897/01 – Zullo/Italien, hudoc Rn. 89; Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 75; Matusche-Beckmann/Kumpf, ZZP 124 (2011), 173, 182. 162 EGMR, Urt. v. 21.10.03, 27928/02 – Broca et Textier-Micault/Frankreich, hudoc. 163 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265. 164 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265.
C. Bewertung der Effektivität von innerstaatlichen Rechtsschutzsystemen
171
gegen die (ausbleibende) Entscheidung des angerufenen höheren Gerichts vorzugehen.165
II. Besondere Effektivitätsvorgaben für kompensatorische Rechtsbehelfe 1. Einleitung und Durchführung des Rechtsbehelfsverfahrens während des noch laufenden Ausgangsverfahrens. Ein effektives Rechtsbehelfsverfahren darf selbst keine zusätzlichen Verzögerungen verursachen. Der EGMR beanstandet es daher, wenn erst der Rechtsweg erschöpft werden muss, bevor das Rechtsbehelfsverfahren beginnt, die Verfahren also nicht parallel laufen.166 Ein rein kompensatorischer Rechtsbehelf genügt Art. 13 EMRK nur, wenn die Möglichkeit besteht, den Schadensersatz- bzw. Entschädigungsanspruch bereits während des laufenden Ausgangsverfahrens geltend zu machen.167 Der EGMR begründet die geforderte Parallelität von Ausgangs- und Entschädigungsverfahren damit, dass die Entschädigungsregelung allein nicht zur Beschleunigung des Verfahrens beitragen kann.168 2. Grund, Umfang und Höhe der Entschädigung/Schadensnachweis Ist der Rechtsbehelf auf Wiedergutmachung gerichtet, sind für seine Effektivität im Sinne der EGMR-Rechtsprechung Umfang und Höhe der Entschädigung von entscheidender Bedeutung.169 Effektiv sind nur Regelungen, die sowohl materiellen als auch immateriellen Schadensersatz gewähren.170 Immaterielle Schäden sind insbesondere die durch das überlange Verfahren verursachten psychischen Belastungen. Daneben verlangt der EGMR eine Entschädigung für die Konventionsverletzung selbst, die nach deutschem Schadensrechtsverständnis wohl in den immateriellen Ersatzansprüchen aufgeht.171 Eine Beschränkung des Ersatzes auf materiellen Schadensausgleich führt zu einem ineffektiven Rechtsbehelf.172 Maßgeblich ist für den EGMR hierbei nicht, ob der 165 EGMR, Urt. v. 30.01.05, 23459/94 – Holzinger/Österreich, ÖstJZ 2001, 478; Kreutzer, S. 217 ff. 166 Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 52 ff. 167 EGMR, Urt. v. 11.09.02, 57220/00 – Mifsud/Frankreich. 168 EGMR, Urt. v. 11.09.02, 57220/00 – Mifsud/Frankreich. 169 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 101 (s.o. § 1 D II); Venedig-Kommission, Study No. 316/2004, CDL-AD(2006)036rev., § 165; Reich, Richterliche Beschleunigungspflichten, S. 279 ff. 170 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 101 (s.o. § 1 D II).; Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265; Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 63. 171 Frowein in: FS Partsch, S. 317 ff. 172 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265.
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Kapitel 6: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf
Anspruch auf Ersatz immaterieller Schäden gesetzlich geregelt oder durch ständige Rechtsprechung sichergestellt ist.173 Für die Frage, in welcher Höhe bei effektiven Rechtsbehelfen zu entschädigen ist, verweist der EGMR auf seine eigene Rechtsprechungspraxis in vergleichbaren Fällen.174 Geringere als die vom EGMR zugesprochenen Entschädigungen haben nur dann keinen negativen Einfluss auf die Effektivität des Rechtsbehelfs, wenn zusätzlich eine Wiedergutmachung auf andere Weise erfolgt.175 Als Wiedergutmachung auf andere Weise nennt der EGMR stets die Feststellung der Überlänge der Verfahrensdauer.176 Diese Feststellung allein reicht aber nicht aus, um eine geminderte Entschädigungszahlung zu rechtfertigen.177 Nicht effektiv ist eine Regelung, die nur ca. 10% dessen als Entschädigung zuerkennt, was der EGMR in vergleichbaren Fällen zuspricht.178 Allerdings dürfe die Entschädigung der Rechtstradition und dem Lebensstandard im Mitgliedsstaat angepasst werden.179 Auch dann dürfen die Entschädigungen aber nicht unangemessen niedrig sein.180 Die Effektivität ist dagegen nicht beeinträchtigt, wenn es dem Beschwerdeführer obliegt, den Schadensnachweis zu erbringen. Dies gilt auch für konkrete Nachweise über das Entstehen immaterieller Schäden.181 3. Dauer des Entschädigungsverfahrens und der Auszahlung der Entschädigungssummen Damit ein entschädigender Rechtsbehelf tatsächlich einen effektiven Ausgleich für die überlange Verfahrensdauer darstellt, muss nach der Rechtsprechung des EGMR innerhalb von sechs Monaten ohne Einleitung der Vollstreckung die Kompensationsleistung erbracht werden.182
173
Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 60 ff. EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265 f. 175 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265 f. 176 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265 f. 177 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265 f. 178 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265 f. 179 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265 f. 180 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265 f. 181 EGMR, Urt. v. 11.09.02, 57220/00 – Mifsud/Frankreich. 182 EGMR, Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259, 1265; Venedig-Kommission, Study No. 316/2004, CDL-AD(2006)036rev., § 162; Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 75; Matusche-Beckmann/Kumpf, ZZP 124 (2011), 173, 181; Reich, Richterliche Beschleunigungspflichten, S. 278. 174
C. Bewertung der Effektivität von innerstaatlichen Rechtsschutzsystemen
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III. Besondere Effektivitätsvorgaben für präventive Rechtsbehelfe 1. Bindungswirkung der Beschleunigungsmaßnahme Am wichtigsten für die Effektivität rein präventiver Rechtsbehelfe ist für den EGMR, dass die Beschleunigungsmaßnahme für das betreffende Gericht bindend ist. Ein präventiver Rechtsbehelf ist für den EGMR nur dann effektiv, wenn das Verfahren vor dem zuständigen Ausgangsgericht damit tatsächlich beschleunigt werden kann.183 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das für die Entscheidung über den Rechtsbehelf zuständige Gericht die Befugnis hat, Fristen zu setzen oder sonstige konkrete Maßnahmen anzuordnen.184 Unter Umständen können auch Hinweise des Beschwerdegerichts zur Förderung des Verfahrens ausreichen, wenn sichergestellt ist, das sich das entsprechend belehrte Gericht daran hält.185 Größtmögliche Sicherheit wäre gegeben, wenn dem Beschwerdegericht auch die weitere Entscheidung in der Sache unmittelbar übertragen wäre. Hiergegen sprechen aber der mögliche Verlust einer Tatsacheninstanz sowie die Verzögerungen, die eintreten würden, wenn sich ein weiteres Gericht mit der Sach- und Rechtslage im Ganzen auseinanderzusetzen hätte.186 2. Zügigkeit des Rechtsbehelfsverfahrens Damit ist bereits ein weiteres Problem rein präventiver Rechtsbehelfe angesprochen. Die Beschleunigungsrechtsbehelfe dürfen nicht zu weiteren erheblichen Verzögerungen beitragen, da ansonsten ihr ursprünglicher Zweck ausgehebelt würde. Präventive Rechtsbehelfe, die das Verfahren verzögern, anstatt zu beschleunigen, sind nicht effektiv.187 Regelungen, die auf eine Abwendung der Verfahrensverzögerung gerichtet sind, können nur während des noch laufenden Verfahrens zur Geltung kommen. Präventive Beschleunigungsrechtsbehelfe sind daher so auszugestalten, dass bereits drohende Verletzungen des Rechts auf ein zügiges Verfahren rechtzeitig verhindert werden können. Dies kann auch ohne unmittelbare Entscheidungszuständigkeit des übergeordneten Gerichts geschehen, indem dem für die Verzögerung verantwortlichen Gericht
183 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, 2391. 184 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, 2391. 185 EGMR, Urt. v. 08.06.2006, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389, 2391. 186 Fasching in: FS Henckel (1995), S. 161, 164 ff. 187 Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 65.
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Kapitel 6: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf
feste Fristen für die Vornahme bestimmter Verfahrenshandlungen oder Entscheidungen gesetzt werden.188
IV. Besondere Effektivitätsvorgaben für Kombinationsrechtsbehelfe? Der effektive Rechtsschutz muss sich nicht notwendigerweise aus einem einzelnen Rechtsbehelf ergeben, vielmehr reicht es aus, wenn die Gesamtheit der in einem Konventionsstaat zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten die Erfordernisse nach Art. 13 EMRK erfüllt.189 Liegt ein Kombinationsrechtsbehelf mit wirksamen präventiven Elementen vor, überprüft der EGMR die speziellen Anforderungen an Entschädigungsrechtsbehelfe, wie die exakte Höhe der Entschädigung, nicht mehr. Kombinationsrechtsbehelfe werden insoweit bei der Prüfung der Effektivität bevorzugt.190
D. Die Vereinbarkeit der §§ 198 ff. GVG mit den (Effektivitäts-)Vorgaben des EGMR I. Einordnung und Effektivitätsüberprüfung der §§ 198 ff. GVG nach der Regelungsmodelltechnik des EGMR 1. Meinungsstand im Gesetzgebungsverfahren Im Gesetzgebungsverfahren wurde der mit §§ 198 ff. GVG eingefügte Rechtsschutz stets – bereits im Referentenentwurf aus dem Jahr 2010 – als Kompensationslösung bezeichnet, die den Gedanken der Prävention durch die Verzögerungsrüge lediglich aufgreift.191 Die Einschätzung in der Stellungnahme des Bundesrates, der Gesetzentwurf enthalte eine Kombinationslösung (kompensatorischer Entschädigungsanspruch und präventive Verzögerungsrüge) und gehe darüber hinaus, was nach der Rechtsprechung des EGMR zwingend erforderlich sei,192 hat die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung nicht geteilt.193 Die Bundesregierung führt richtigerweise aus, der Entwurf sei keine Kombination eines Entschädigungsanspruchs mit einem „echten“ präventiven Rechtsbehelf.194 Die vorgesehene Verzögerungsrüge sei lediglich eine Prozesshandlung, die zugleich Anspruchsvoraussetzung für die Entschädigung sei und den Charakter einer 188
Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 65. Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 52 ff.; Gerhardinger, Überlange Verfahren, S. 93 f.; Frowein/Peukert/Frowein, EMRK, Art. 13 Rn. 6. 190 Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 52 ff. 191 S. o. § 2 C I, § 2 D II, § 2 D III 1; BT-Drs. 17/3802, 2, 15 f. 192 S. o. § 2 D III 1; BT-Drs. 17/3802, S. 39 ff. (Stellungnahme des BR, Anlage 3). 193 S. o. § 2 D III 1; BT-Drs. 17/3802, S. 43 f. (Gegenäußerung der BReg, Anlage 4). 194 S. o. § 2 D III 2; BT-Drs. 17/3802, S. 43 f. (Gegenäußerung der BReg, Anlage 4). 189
D. Die Vereinbarkeit der §§ 198 ff. GVG
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Obliegenheit habe: Der Betroffene müsse die Verzögerungsrüge erheben, weil er anderenfalls keine Entschädigung beanspruchen könne.195 Die Verzögerungsrüge habe eine präventive Zielrichtung, sei aber kein präventiver Rechtsbehelf im Sinne der Rechtsprechung des EGMR.196 Im Ergebnis zeigen die Gesetzesmaterialien, dass der Gesetzgeber eine Entschädigungslösung einführen wollte, die den Gedanken der Prävention durch die Verzögerungsrüge in § 198 Abs. 3 GVG lediglich aufgreift, aber nicht in einen Rechtsbehelf umsetzt.197 2. Meinungsstand in Literatur und Rechtsprechung Auch in der Literatur werden die §§ 198 ff. GVG richtigerweise aufgrund des mit § 198 Abs. 1 S.1 GVG eingeführten Entschädigungsanspruchs von der Mehrheit als Kompensationsrechtebehelf im Sinne von Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK eingeordnet, der die präventiven Vorgaben des EGMR verfehlt.198 Teilweise wird aber auch vertreten, die §§ 198 ff. GVG seien eine Kombinationslösung.199 Der BGH hat mit Verweis auf die Gesetzesmaterialien ebenfalls entschieden, dass die §§ 198 ff. GVG eine Kompensationslösung darstellen, die den Gedanken der Prävention lediglich aufgreift.200 3. Die Rechtsprechung des EGMR nach Einführung der §§ 198 ff. GVG a) Die Rechtssache Taron/Deutschland: Beurteilung der Effektivität anhand der zukünftigen innerstaatlichen Rechtsprechungspraxis Der EGMR prüft „Beschwerden“ nach Art. 13 EMRK auf ihre rechtliche und tatsächliche Effektivität.201 Ist der Konventionsstaat nach Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK aufgrund einer ihm gegenüber ergangenen Entscheidung des EGMR verpflichtet, einen entsprechenden Rechtsbehelf völlig neu einzuführen,202 gewährt der EGMR den Konventionsländern „vorsichtige Vorschusslorbeeren“203 dafür, dass sie gezielt versuchen, die Vorgaben des EGMR inner195
S. o. § 2 D III 2; BT-Drs. 17/3802, S. 43 f. (Gegenäußerung der BReg, Anlage 4). S. o. § 2 D III 2; BT-Drs. 17/3802, S. 43 f. (Gegenäußerung der BReg, Anlage 4). 197 BT-Drs. 17/3802, S. 16 f. 198 Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, § 198 GVG Rn. 5; Zöller/Lückemann, ZPO, § 198 GVG Rn. 1; Althammer/Schäuble, NJW 2012, 1 ff., 7; Zimmermann, FamRZ 2011, 1905 ff.; Ohrloff, Überlange Gerichtsverfahren, S. 131 ff. 199 Steinbeiß-Winkelmann/Ott/Steinbeiß-Winkelmann, ÜGRG, Einf. Rn. 213 ff., § 198 Rn. 1 ff., 8.; Keidel/Meyer-Holz, FamFG, Anh. zu § 58 Rn. 65, 66 ff. 200 BGH, NJW 2013, 385 Rn. 5. 201 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 42 ff. 202 EGMR, Urt. v. 02.09.10, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355. 203 Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 43; Vortrag Prof. Dr. Angelika Nußberger, 6. Hannoveraner ZPO-Symposium, 20.10.2012: „Verfassungsrechtliches Effizienzgebot ‚Erdulde und Liquidiere?‘ Die Vorgaben der EMRK“. 196
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Kapitel 6: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf
staatlich umzusetzen. Bei neu eingeführten Gesetzen geht der EGMR auch ohne entsprechende Gerichtspraxis vorläufig davon aus, dass der neu eingeführte Rechtsbehelf wirksam sein wird, da der Konventionsstaat die Regelung mit dem Ziel erlassen hat, die Vorgaben des EGMR zu erfüllen.204 Dies gilt auch für die Ziele des Gesetzgebers bei Einführung der §§ 198 ff. GVG durch das ÜGRG infolge der Entscheidung in der Sache Rumpf/Deutschland.205 In der Rechtssache Taron/Deutschland hat der EGMR in diesem Sinne zur Wirksamkeit des neuen Rechtsbehelfs ausgeführt, das ÜGRG lasse erkennen, dass der deutsche Gesetzgeber das Problem der überlangen Dauer innerstaatlicher Verfahren in wirksamer und sinnvoller Weise unter Berücksichtigung der Anforderungen aus der Konvention angeht.206 Der Gerichtshof wies darauf hin, dass zum einen nach so kurzer Zeit noch keine etablierte Rechtsprechung entwickelt werden konnte und die Mitgliedsstaaten darüber hinaus bei der Ausgestaltung des innerstaatlichen Rechtsbehelfs bezüglich des Erfordernisses der „angemessenen Frist“ über einen gewissen Beurteilungsspielraum verfügten.207 Der EGMR sah deshalb keine Veranlassung, das mit den §§ 198 ff. GVG eingeführte Rechtsschutzgesetz abstrakt auf seine Wirksamkeit im Sinne von Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK hin zu überprüfen.208 Dieser Standpunkt unterliege jedoch der zukünftigen Überprüfung; diese hänge insbesondere von der Fähigkeit der innerstaatlichen Gerichte ab, eine konsistente und den Erfordernissen der Konvention entsprechende Rechtsprechung zu erlassen.209 Die innerstaatlichen Gerichte müssten bei ihren Entscheidungen über Entschädigungsansprüche nach §§ 198 ff. GVG die Konventionskriterien zur Bestimmung der überlangen Verfahrensdauer anwenden, wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegt seien.210 Die Höhe der Entschädigung sei im Hinblick auf die Umstände des Einzelfalls, die Dauer der Verzögerung und die Bedeutung ihrer Folgen für den Beschwerdeführer festzusetzen.211 Schließlich weist der EGMR nochmals ausdrücklich darauf hin, dass eine Entschädigung nicht von der Feststellung eines Verschuldens abhängen darf, wenn die §§ 198 ff. GVG effektiv im Sinne von Art. 13 EMRK sein sollen.212 204 Karpenstein/Mayer/Breuer, 205 EGMR,
EMRK, Art. 13 Rn. 42 ff. Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 (s. o.
§ 2 D IV 2 a). 206 EGMR, Urt. v. 29.05.12, 53126/07 – Taron/Deutschland, EuGRZ 2012, 514, 517 Rn. 40. 207 EGMR, Urt. v. 29.05.12, 53126/07 – Taron/Deutschland, EuGRZ 2012, 514 Rn. 41 mit Verweis auf Urt. v. 29.03.06, 36813/97 – Scordino/Italien, NJW 2007, 1259 Rn. 188 f.; Urt. v. 18.10.07, 24342/04 – Fakhretdinov u. Zunic/Slowenien. 208 EGMR, Urt. v. 29.05.12, 53126/07 – Taron/Deutschland, EuGRZ 2012, 514 Rn. 41. 209 EGMR, Urt. v. 29.05.12, 53126/07 – Taron/Deutschland, EuGRZ 2012, 514 Rn. 45. 210 EGMR, Urt. v. 29.05.12, 53126/07 – Taron/Deutschland, EuGRZ 2012, 514 Rn. 39. 211 EGMR, Urt. v. 29.05.12, 53126/07 – Taron/Deutschland, EuGRZ 2012, 514, 517 Rn. 40. 212 EGMR, Urt. v. 29.05.2012, 53126/07 – Taron/Deutschland, EuGRZ 2012, 514 Rn. 40.
D. Die Vereinbarkeit der §§ 198 ff. GVG
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b) Das Urteil des EGMR in der Rechtssache Kuppinger/Deutschland In der für die vorliegende Untersuchung höchst brisanten Entscheidung Kuppinger/Deutschland213 hat der EGMR ausgeführt, das Recht auf eine wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK verlange, dass der Staat einen Rechtsbehelf zur Verfügung stellt, der es ermöglicht, über eine auf die Konvention gestützte und vertretbare Beschwerde in der Sache zu entscheiden und angemessene Wiedergutmachung zu gewähren. Ein Rechtsbehelf wegen der Dauer des Verfahrens erfülle diese Voraussetzungen grundsätzlich, wenn mit ihm entweder die Entscheidung des zuständigen Gerichts beschleunigt oder angemessene Wiedergutmachung für schon eingetretene Verzögerungen erlangt werden könnte.214 Bei Verfahren, in denen die Dauer deutliche Auswirkungen auf das Familienleben hat, hält der Gerichtshof aber eine strengere Beurteilung für notwendig. Die positive Verpflichtung, angemessene Maßnahmen zum Schutz des Rechts auf Achtung des Familienlebens zu treffen, würde nach Ansicht des EGMR illusorisch, wenn für den Betroffenen lediglich ein Rechtsbehelf zur Verfügung stünde, mit dem er nachträglich eine Entschädigung in Geld erhalten könne. Für solche Fälle müsse der Staat einen Rechtsbehelf schaffen, der sowohl präventiv wirke als auch Wiedergutmachung ermögliche. Das tue der durch das ÜGRG eingeführte Rechtsschutz nicht.215 Der EGMR habe in der Entscheidung Taron/ Deutschland216 lediglich entschieden, dass nicht anzunehmen sei, dass der Rechtsbehelf es nicht ermögliche, den (damals) Betroffenen für seine Beschwer angemessen und ausreichend zu entschädigen. Er habe aber nicht geprüft, ob das ÜGRG das Verfahren auch wirksam beschleunigen kann.217 Dem Vortrag der Bundesregierung, die Verzögerungsrüge habe eine Warnfunktion, stimmt der EGMR nicht zu. Die Rüge könne das Gericht zwar anstoßen, das Verfahren zu beschleunigen, das Gesetz sehe für den Fall, dass dies nicht geschehe, aber keine andere Sanktion vor als die Klage auf Entschädigung. Im Ergebnis spricht für den EGMR nichts dafür, dass die Möglichkeit der Verzögerungsrüge anhängige Verfahren über den Umgang mit Kindern ausreichend beschleunigt, wenn dies notwendig sei, um eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Familienlebens zu verhindern. Dem Beschwerdeführer habe – auch nach Einführung der §§ 198 ff. GVG – kein wirksamer Rechtsbehelf im Sinne von Art. 13 EMRK zur Verfügung gestanden, mit dem er das Umgangsverfahren hätte be213 EGMR, Urt.v. 15.01.2015, 62198/11 – Kuppinger/Deutschland, BeckRS 2015, 02392. 214 EGMR, Urt.v. 15.01.2015, 62198/11 – Kuppinger/Deutschland, BeckRS 2015, 02392 Rn. 136 ff. 215 EGMR, Urt.v. 15.01.2015, 62198/11– Kuppinger/Deutschland, BeckRS 2015, 02392 Rn. 139 ff. 216 EGMR, Urt. v. 29.05.12, 53126/07 – Taron/Deutschland, EuGRZ 2012, 514 ff. 217 EGMR, Urt.v. 15.01.2015, 62198/11 – Kuppinger/Deutschland, BeckRS 2015, 02392 Rn. 139.
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Kapitel 6: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf
schleunigen können. Folglich sei Art. 13 EMRK verletzt.218 Die §§ 198 ff. GVG stellen nach dieser Entscheidung keinen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 13 EMRK dar, soweit eine Verfahrensbeschleunigung aus Gründen des Familienwohls nötig ist. Sie ermöglichen es nicht, das Verfahren durch Erhebung der Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG zu beschleunigen, da die §§ 198 ff. GVG keine Sanktion vorsehen, wenn das Ausgangsgericht das Verfahren nicht freiwillig beschleunigt. Für diesen Teilbereich sind die §§ 198 ff. GVG also nach den Vorgaben des EGMR, wie der Gerichtshof nun in der Entscheidung Kuppinger/Deutschland klargestellt hat, unvereinbar.219 Ob der EGMR auch weitere Aspekte der §§ 198 ff. GVG als nicht effektiv im Sinne von Art. 13 EMRK beurteilen wird, bleibt abzuwarten.
II. Eigene Ansicht 1. Die §§ 198 ff. GVG als Kompensationsrechtsbehelf Der Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer nach §§ 198 ff. GVG ist ein Kompensationsrechtsschutz im Sinne der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK. Die Einordnung ist relevant, da der EGMR unterschiedliche Vorgaben für die Effektivität von präventiven und repressiven Rechtsbehelfen macht. Die Einordnung hat nach dem autonomen Konventionsverständnis des EGMR und seiner Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art 13 EMRK zu erfolgen. Die Stimmen in der Literatur, die die §§ 198 ff. GVG als Kombinationsrechtsbehelf ansehen, sind damit irrelevant. 2. Umsetzung der Effektivitätsvorgaben a) Die Grundkriterien Der ersten Vorgabe des EGMR, die unangemessene Verfahrensdauer220 objektiv zu bestimmen, werden die §§ 198 ff. GVG gerecht. § 198 Abs. 1 GVG greift die Kriterien des EGMR auf.221 Die Beurteilung der Verfahrensdauer erfolgt objektiv, ohne dass es auf ein Verschulden des Gerichts ankommt.222 Weiter ist sowohl für die Erhebung der Verzögerungsrüge223 als auch für die Entschädi218 EGMR, Urt. v. 15.01.2015, 62198/11 – Kuppinger/Deutschland, BeckRS 2015, 02392 Rn. 144. 219 EGMR, Urt. v. 15.01.2015, 62198/11 – Kuppinger/Deutschland, BeckRS 2015, 02392. 220 S. o. § 6 C I 1; EGMR, Urt. v. 29.05.12, 53126/07 – Taron/Deutschland, EuGRZ 2012, 514 Rn. 39. 221 S. o. § 3 A III. 222 EGMR, Urt. v. 29.05.12, 53126/07 – Taron/Deutschland, EuGRZ 2012, 514 Rn. 39. 223 S. o. § 3 A V 3 b.
D. Die Vereinbarkeit der §§ 198 ff. GVG
179
gungsklage eine Frist224 vorgesehen.225 Die Dauer des Entschädigungsverfahrens226 nach §§ 198 ff. GVG ist ebenfalls auf ihre Angemessenheit überprüfbar. Auch das Entschädigungsverfahren fällt unter den Begriff des Gerichtsverfahrens nach § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG.227 Zu den Vorgaben des EGMR für die Kosten des Beschwerdeverfahrens228 ist Folgendes zu beachten: Nach § 201 Abs. 4 GVG besteht die Möglichkeit, dass der Betroffene die Kosten des Entschädigungsverfahrens selbst zu tragen hat.229 Insoweit ist noch offen, wie der EGMR diese Vorschrift bewerten wird und ob durch diese Kostenregelung Betroffene davon abgehalten werden könnten, Entschädigungsklagen zu erheben. Die Vorgabe nach einem Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Beschwerdegerichts erfüllen die §§ 198 ff. GVG mit Blick auf die Entschädigungsklage insoweit, als gegen Entscheidungen des OLG nach § 201 Abs. 2 S. 3 GVG die Revision statthaft ist.230 Gegen Entscheidungen des BGH als Entschädigungsgericht sind dagegen keine Rechtsmittel mehr gegeben. Das ist eine Folge der erstinstanzlichen Zuständigkeit des OLG, das insoweit das Entschädigungsklageverfahren um eine Instanz beschneidet. Weiter besteht kein Rechtsbehelf, wenn das Ausgangsgericht infolge der Verzögerungsrüge das Verfahren nicht beschleunigt, von seiner fakultativen Abhilfemöglichkeit also keinen Gebrauch macht. Insoweit hat der EGMR in der Rechtssache Kuppinger/Deutschland231 entschieden, dass die §§ 198 ff. GVG die Effektivitätsvorgaben aus Art. 13 EMRK nicht erfüllen, falls Umgangs- und Sorgerechtsverfahren betroffen sind.232 Ob der EGMR die §§ 198 ff. GVG darüber hinaus wegen fehlender Rechtsmittel bei Nichtabhelfen der Verzögerungsrüge als ineffektiv bewertet, ist ebenfalls offen. b) Vorgaben für Kompensationsrechtsbehelfe Auch die Möglichkeit zur parallelen Durchführung von Ausgangs- und Entschädigungsverfahren muss gegeben sein, um die Effektivitätsvorgaben des EGMR aus Art. 13 EMRK zu erfüllen.233 Nach § 198 Abs. 5 S. 1 GVG kann die Entschädigungsklage erstmals sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden und ist nicht vom Abschluss des Ausgangsverfah224
S. o. § 4 C II. S. o. § 6 C I 2. 226 S. o. § 6 C I 3. 227 S. o. § 3 A II 2 a. 228 S. o. § 6 C I 4. 229 S. o. § 4 C V. 230 S. o. § 4 C VI. 231 EGMR, Urt. v. 15.01.2015, 62198/11 – Kuppinger/Deutschland, BeckRS 2015, 02392. 232 Kirchberg, DVBl. 2015, 675, 679; Weber, NZFam 2015, 337 ff. 233 S. o. § 6 C II 1. 225
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Kapitel 6: Das Recht auf einen effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelf
rens abhängig.234 Der BGH hat sich dabei mit den Effektivitätsvergaben des EGMR auseinandergesetzt.235 Er hat aber auch entschieden, dass es im Ermessen des Entschädigungsgerichts liege, ob es das Verfahren nach § 201 Abs. 3 S. 1 GVG aussetzt oder die Entschädigungsklage als derzeit unbegründet abweist.236 Die Erhebung der Entschädigungsklage während des noch laufenden Ausgangsprozesses birgt somit für den Entschädigungskläger ein erhebliches Prozess- und Kostenrisiko. Es ist fraglich, ob die Vorgaben des EGMR insoweit ausreichend berücksichtig worden sind. Die Vorgabe (auch) des Ersatzes immaterieller Nachteile mit entsprechender Beweiserleichterung 237 ist durch § 198 Abs. 1, Abs. 2 GVG ebenfalls erfüllt.238 Der Gesetzgeber hat die Rechtsfolgen (in Abkehr von der Systematik des deutschen Schadensersatzrechts239) ausdrücklich so geregelt, um die Effektivitätsvorgaben des EGMR zu erfüllen.240 c) Vorgaben an die Prävention Die präventiven Vorgaben des EGMR erfüllen die §§ 198 ff. GVG nicht. Die Wirkungen der Verzögerungsrüge sind für das Ausgangsgericht in ihren präventiven Elementen bisher nicht bindend.241 Das Ausgangsgericht kann der Verzögerungsrüge zwar nach eigenem Ermessen abhelfen und das Verfahren entsprechend beschleunigen, ist dazu aber nicht verpflichtet. Es ist auch nicht verpflichtet, seine ablehnende Entscheidung kundzutun oder zu begründen. Der Betroffene kann schließlich die negative Entscheidung des Ausgangsgerichts auch keinem höherrangigen Gericht vorlegen, das befugt wäre, die entsprechende Maßnahme anzuordnen oder zu ersetzen. Der EGMR hat inzwischen entschieden, dass die §§ 198 ff. GVG – soweit das Recht auf Achtung der Familie in Umgangs- und Sorgerechtsverfahren betroffen ist – nicht effektiv im Sinne von Art. 13 EMRK sind.242
234
S. o. § 4 C II. BGHZ 200, 20 = NJW 2014, 939 Rn. 28 ff. 236 S. o. § 4 IV 3. 237 S. o. § 6 II 2. 238 S. o. § 4 A II. 239 S. o. § 4 E. 240 S. o. § 2 D III 2 c). 241 S. o. § 6 III 1. 242 S. o. § 6 D I 3 b; EGMR, Urt. v. 15.01.2015, 62198/11 – Kuppinger/Deutschland, BeckRS 2015, 02392. 235
E. Zusammenfassung
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E. Zusammenfassung Um die effektive Umsetzung der Konventionsrechte in den Mitgliedsstaaten sicherzustellen, unterliegt der Anspruch auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer nach Art. 13 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK beim EGMR einem zweistufigen Prüfprogramm.243 Mangelt es in einem Konventionsstaat an einem „wirksamen Rechtsbehelf“ nach Art. 13 EMRK („existence of an effective remedy“),244 verurteilt der EGMR wegen Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK i. V. m. Art. 13 EMRK und verpflichtet den Konventionsstaat, einen solchen Rechtsbehelf einzuführen.245 Der EGMR weist dabei auf seine Rechtsprechung und die Voraussetzungen hin, die er an die Einführung eines „wirksamen Rechtsbehelfs“ im Sinne von Art. 13 EMRK stellt.246 Nach Einführung des Rechtsbehelfs überprüft der EGMR dessen effektive innerstaatliche Anwendung („verifiying remedy effectivness“),247 wobei der EGMR auch für die Effektivitätsprüfung feste Kriterien entwickelt hat.248 Ein Rechtsbehelf zum innerstaatlichen Schutz von Art. 6 Abs. 1 EMRK ist wirksam nach Art. 13 EMRK, wenn er geeignet ist, entweder das befasste Gericht zu einer schnelleren Entscheidungsfindung zu veranlassen (präventive Wirkung) oder dem Rechtssuchenden für die bereits entstandenen Verzögerungen eine angemessene Entschädigung – insbesondere auch für immaterielle Nachteile – zu gewähren (kompensatorische Wirkung). Bei den §§ 198 ff. GVG handelt es sich um einen Kompensationsrechtsbehelf und nicht um einen kombinierten Rechtsschutz, da präventive Elemente, insbesondere wegen der Ausgestaltung der Verzögerungsrüge als reine Mitteilung an das Gericht, völlig fehlen. Auch der EGMR hat in einer seiner jüngsten Entscheidungen die präventiv wirkende Beschwerdemöglichkeit in den §§ 198 ff. GVG als unvereinbar mit den Wirksamkeitsanforderungen aus Art. 13 EMRK angesehen. Im Ergebnis verfehlen die §§ 198 ff. GVG somit die präventiven Vorgaben des EGMR.
243
Calvez/Régis, p. 14 et. seq. Calvez/Régis, p. 14 et. seq. 245 EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355. 246 EGMR, Urt. v. 02.09.2010, 46344/06 – Rumpf/Deutschland, NJW 2010, 3355 Rn. 73; Urt. v. 08.06.06, 75529/01 – Sürmeli/Deutschland, NJW 2006, 2389 Rn. 98 ff. (s. o. § 1 D II). 247 Calvez/Régis, p. 16 et. seq; Luczak, Wirksame Beschwerdemöglichkeiten, S. 52. 248 EGMR, Urt. v. 29.05.12, 53126/07 – Taron/Deutschland, EuGRZ 2012, 514; Karpenstein/Mayer/Breuer, EMRK, Art. 13 Rn. 25 ff. 244
7. Kapitel
Entwurf eines Gesetz zur Regelung der überlangen Verfahrensdauer nach den Effektivitätskriterien des EGMR A. Allgemeine Bemerkung Nachfolgend wird ein modifizierter Gesetzesentwurf zur Regelung der überlangen Verfahrensdauer unterbreitet, der auch die Vorgaben des EGMR zu den präventiven Rechtsschutzelementen aus Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK berücksichtigt. Die vorgeschlagene Regelung soll die Vorgaben des EGMR näher bezeichnen. Sie lehnt sich an das bestehende Gesetz an und greift die gewonnenen Erkenntnisse auf: Die Vorgaben aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 13 EMRK werden von den §§ 198 ff. GVG vollumfänglich erfüllt, soweit die Gerichte auch zukünftig eine Rechtspraxis etablieren, die sich mit den Vorgaben des EGMR auseinandersetzt und diese effektiv umsetzt. Der modifizierte Gesetzesentwurf will also lediglich eine Ergänzung sein. Eine gesetzliche Regelung der präventiven Vorgaben des EGMR ist aus mehreren Gründen nötig: Der EGMR hat in seiner neuesten Entscheidung in der Rechtssache Kuppinger/Deutschland1 ausdrücklich entschieden, dass die aktuelle Fassung der §§ 198 ff. GVG die Vorgaben des EGMR aus Art. 13 EMRK (i. V. m. Art. 8 EMKR) nicht erfüllt, soweit es um die Beschleunigung eines 198 Abs. 3 GVG ist Umgangsverfahrens geht.2 Die Verzögerungsrüge in § kein ausreichend präventives Element, dies gilt insbesondere für den Schutz höherrangiger Rechtsgüter wie dem Recht auf Achtung der Familie (vgl. Art. 8 EMRK). Gerade wenn durch Zeitablauf irreversible Zustände drohen, haben einige Oberlandesgerichte früher das Institut der „außerordentlichen Untätigkeitsbeschwerde“ anerkannt.3 Nach den Vorgaben des EGMR wäre grundsätzlich auch eine „außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde“ geeignet, den präventiven Charakter des Rechtsschutzsystems zu stärken und bei überlanger Verfahrensdauer die vom EGMR geforderte Effektivität herzustellen. Die Statt1 EGMR, Urt. v. 15.01.2015, 62198/11 – Kuppinger/Deutschland, hudoc; Karpenstein/ Mayer/Schäfer, Art. 35 Rn. 24. 2 EGMR, Urt. v. 15.01.2015, 62198/11 – Kuppinger/Deutschland, Rn. 137, hudoc; Weber, NZFam 2015, 337 ff. 3 OLG Karlsruhe, NJOZ 2007, 2997 ff.; OLG Brandenburg, FamRZ 2007, 491 ff.; OLG Naumburg, FamRZ 2005, 732 ff.; OLG Karlsruhe, FamRZ 2004, 53 ff.; OLG Bamberg, FamRZ 2003, 1310 ff.
A. Allgemeine Bemerkung
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haftigkeit dieser „außerordentlichen Beschwerde“ dürfte nicht nur von einigen Obergerichten anerkannt sein, sondern die höchstrichterliche Rechtsprechung müsste Klarheit über ihre Voraussetzungen und Rechtsfolgen schaffen. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist es für die Effektivität einer Regelung nicht erforderlich, dass sich das Rechtsschutzsystem vollständig aus dem Gesetz ergibt. Wie das französische Beispiel zeigt, genügt auch eine gefestigte Rechtsprechungspraxis. Bisher normieren die §§ 198 ff. GVG einen reinen Kompensationsrechtsbehelf, der sich an strengen Effektivitätskriterien messen lassen muss. Es ist zu befürchten, dass sich an dem systemischen Problem der überlangen Dauer von Gerichtsverfahren durch eine reine Entschädigungsregelung nichts ändern wird. Der Gerichtshof verweist in der Entscheidung Kuppinger/Deutschland auf seine allgemeinen Rechtsprechungsgrundsätze, nach denen die einer Prozesspartei auf innerstaatlichen Ebene zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe gegen überlange Verfahrensdauer im Sinne von Art. 13 EMRK als „wirksam“ anzusehen sind, wenn sie die behauptete Verletzung der Konvention oder ihre Fortdauer verhindern oder bezüglich einer bereits geschehenen Rechtsverletzung angemessene Abhilfe schaffen.4 Ein Rechtsbehelf erfüllt diese Kriterien demnach, wenn er entweder dazu verwendet werden kann, eine schnellere Entscheidung durch die mit dem Fall befassten Gerichte zu erwirken oder der Prozesspartei eine angemessene Wiedergutmachung für bereits eingetretene Verzögerungen zukommen zu lassen.5 Bei Verfahren, in denen sich die Verfahrensdauer eindeutig auf das Familienleben des Beschwerdeführers auswirkt (und die demnach unter dem Schutzbereich von Art. 8 EMRK der Konvention zu prüfen sind), wird die Auffassung vertreten, dass ein strengerer Maßstab anzusetzen ist, der die Staaten dazu verpflichtet, einen Rechtsbehelf vorzusehen, der gleichzeitig präventiv und kompensatorisch wirkt.6 Der EGMR hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass die positive Verpflichtung des Staates, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Familienlebens sicherzustellen, illusorisch zu werden droht, wenn den Beteiligten lediglich ein kompensatorischer Rechtsbehelf zur Verfügung steht, der ausschließlich eine nachträgliche monetäre Entschädigung zur Folge haben kann.7 Bezüglich der §§ 198 ff. GVG ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass man davon ausgehen kann, die Möglichkeit, einen Entschädigungsanspruch geltend zu machen, habe eine hinreichende beschleunigende Wirkung auf lau4
EGMR, Urt. v. 15.01.2015, 62198/11 – Kuppinger/Deutschland, Rn. 137, hudoc. Urt. v. 15.01.2015, 62198/11 – Kuppinger/Deutschland, Rn. 137, hudoc mit Verweis auf EGMR, Urt. v. 11.09.02 – 57220/00, Rn. 17 – Mifsud/Frankreich; EGMR, Urt. v. 08.06.06, 75529/01 Rn. 99 – Sürmeli/Deutschland. 6 EGMR, Urt. v. 15.01.2015, 62198/11 – Kuppinger/Deutschland, Rn. 137, hudoc. 7 EGMR, Urt. v. 15.01.2015, 62198/11 – Kuppinger/Deutschland, Rn. 137, hudoc. 5 EGMR,
184 Kapitel 7: Entwurf eines Gesetz zur Regelung der überlangen Verfahrensdauer fende Verfahren, bei denen es um das Recht auf Umgang mit kleinen Kindern geht, und sofern dies notwendig ist, um eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMKR) zu verhindern.8 Zur Durchsetzung von umgangsrechtlichen Ansprüche sind die §§ 198 ff. GVG mangels präventiver Wirkung demnach nicht effektiv im Sinne von Art. 13 EMRK.9 In der deutschen Grundrechtsdogmatik wird vertreten, dass Kompensationen eine Grundrechtsverletzung nur für den Fall beenden können, dass die kompensationslose Beeinträchtigung selbst die Verletzung des Grundrechts darstellt.10 Eine Kompensation kann im Übrigen sonstige Grundrechtsverletzung nicht aufheben, da Art. 1 Abs. 3 GG vor jedweder Grundrechtsbeeinträchtigung schützt und nicht lediglich vor kompensationslosen.11 Für das Recht auf angemessene Verfahrensdauer aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK würde dies bedeuten, dass trotz einer Entschädigung nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG eine Grundrechtsverletzung verbleiben kann, die in Fällen beispielsweise des Umgangsrechts nur durch einen konkret beschleunigenden Rechtsbehelf ausgeglichene werden könnte.12 Ein beschleunigendes Element könnte in die bestehende Regelung in §§ 198 ff. GVG dadurch integriert werden, dass die Verzögerungsrüge nicht nur als Entstehungsvoraussetzung für den Entschädigungsanspruch beim Ausgangsgericht zu erheben ist, sondern insoweit die Möglichkeit eines Abhilfeantrags (vgl. § 321a ZPO für Gehörsverletzungen) zum höheren Gericht bestünde, wenn das Ausgangsgericht der Rüge nicht abhilft. Das nächsthöhere Rüge-/Entschädigungsgericht hat das Recht zur Überprüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer. Stellt es die Unangemessenheit fest, hat das Ausgangsgericht dieser durch geeignete verfahrensleitende Handlungen abzuhelfen. Insoweit soll ein Ausgleich zwischen der richterlichen Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG und dem Recht auf angemessene Verfahrensdauer geschaffen werden. Der folgende Gesetzesentwurf soll Denkanstöße zur Modifikation der §§ 198 ff. GVG liefern. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es ausgesprochen schwierig ist, das detaillierte Anforderungssystem des EGMR an einen wirksamen Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK zu erfüllen, ohne ein völliges Ausufern der gesetzlichen Regelung zu riskieren.
8
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EGMR, Urt. v. 15.01.2015, 62198/11 – Kuppinger/Deutschland, Rn. 140, hudoc. Bereits: OLG Bamberg, FamRZ 1998, 1443 f. mit Anm. Heilmann, FamRZ 1999, 445,
446. 10 Linder, Grundrechtsdogmatik, S. 528; Frowein in: FS Partsch (1989), S. 317, 318 f. 11 Linder, Grundrechtsdogmatik, S. 528; Frowein in: FS Partsch (1989), S. 317, 318 f. 12 Huerkamp/Huerkamp, JZ 2013, 146, 147 f.; Huerkamp/Wielpütz, JZ 2011, 139, 141 ff.
B. Gesetzesvorschlag
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B. Gesetzesvorschlag Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) § 198 (1) Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. (2) Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Absatz 4 ausreichend ist. Die Entschädigung gemäß Satz 2 beträgt 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung. Ist der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen. (3) Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge). Die Verzögerungsrüge kann erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird; eine Wiederholung der Verzögerungsrüge ist frühestens nach sechs Monaten möglich, außer wenn ausnahmsweise eine kürzere Frist geboten ist. Kommt es für die Verfahrensförderung auf Umstände an, die noch nicht in das Verfahren eingeführt worden sind, muss die Rüge hierauf hinweisen. Anderenfalls werden sie von dem Gericht, das über die Entschädigung zu entscheiden hat (Entschädigungsgericht), bei der Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer nicht berücksichtigt. Verzögert sich das Verfahren bei einem anderen Gericht weiter, bedarf es einer erneuten Verzögerungsrüge. Folgender Satz 3 neu sollte in § 198 Abs. 3 GVG eingefügt werden: Die Erhebung der Verzögerungsrüge bedarf der Schriftform. In der Rügeschrift sind die Tatsachen darzulegen, aus denen sich ergibt, dass die Verfahrensdauer unangemessen im Sinne von Absatz 1 ist. Folgender Absatz 3a sollte hinter § 198 Abs. 3 GVG hinzugefügt werden: (3a) Das Ausgangsgericht entscheidet über die Verzögerungsrüge durch Beschluss. Hält es die Verzögerungsrüge für begründet, hilft es ihr ab. Hierzu hat das Ausgangsgericht unverzüglich, spätestens innerhalb von vier Wochen, verfahrensleitende Handlungen zu ergreifen, die geeignet sind das Verfahren zu beschleunigen und vorrangig zum Abschluss zu führen. Anderenfalls weist das Ausgangsgericht die Verzögerungsrüge ab, indem es innerhalb der in Satz 2 genannten Frist schriftlich darlegt weshalb es die Verfahrensdauer für angemessen hält.
186 Kapitel 7: Entwurf eines Gesetz zur Regelung der überlangen Verfahrensdauer (4) Wiedergutmachung auf andere Weise ist insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Die Feststellung setzt keinen Antrag voraus. Sie kann in schwerwiegenden Fällen neben der Entschädigung ausgesprochen werden; ebenso kann sie ausgesprochen werden, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des Absatzes 3 nicht erfüllt sind. (5) Eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach Absatz 1 kann frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden. Die Klage muss spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden. Bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage ist der Anspruch nicht übertragbar. Folgende Absätze 5a, 5b und 5c sollten hinter § 198 Abs. 5 GVG eingefügt werden: (5a) Im Falle des Absatzes 3a Satz 3 kann der Betroffene, dessen Verzögerungsrüge als unbegründet abgewiesen wurde, binnen einer Frist von zwei Wochen, nachdem ihm die Begründung bekannt gemacht worden ist, die Abhilfe durch das Rüge-/Entschädigungsgericht beantragen (Abhilfeantrag). In dem Antrag ist darzulegen, warum die Besorgnis, das Verfahren könnte nicht in angemessener Zeit abgeschlossen werden, weiterhin besteht. (5b) Das Rüge-/Entschädigungsgericht entscheidet unverzüglich, spätestens innerhalb eines Monats nach Vorlage der Begründung des Ausgangsgerichts durch unanfechtbaren Beschluss. Stellt das Rüge-/Entschädigungsgericht fest, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, so hat das Ausgangsgericht unverzüglich verfahrensleitende Handlungen zu ergreifen, die geeignet sind das Verfahren zu beschleunigen und vorrangig zum Abschluss zu führen. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Ist der Antrag offensichtlich unbegründet, kann von einer Begründung abgesehen werden. (5c) Der Abhilfeantrag kann vor Ablauf von sechs Monaten nach Erhebung der Verzögerungsrüge nach Absatz 3 Satz 1 nicht, nach der Entscheidung des Rüge-/Entschädigungsgerichts über die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach Absatz 5b Satz 1 nur mit der Begründung erneut erhoben werden, das Ausgangsgericht habe dem Verfahren nicht gemäß Absatz 5b Satz 2 unverzüglich durch verfahrensleitende Handlungen vorrangig Fortgang gegeben. Ist ein Antrag im Sinne des Satzes 1 offensichtlich unzulässig, weist das Rüge-/Entschädigungsgericht ihn durch unanfechtbaren Beschluss zurück. (6) Im Sinne dieser Vorschrift ist 1. ein Gerichtsverfahren jedes Verfahren von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss einschließlich eines Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und zur Bewilligung von Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe; ausgenommen ist das Insolvenzverfahren nach dessen Eröffnung;
B. Gesetzesvorschlag
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im eröffneten Insolvenzverfahren gilt die Herbeiführung einer Entscheidung als Gerichtsverfahren; 2. ein Verfahrensbeteiligter jede Partei und jeder Beteiligte eines Gerichtsverfahrens mit Ausnahme der Verfassungsorgane, der Träger öffentlicher Verwaltung und sonstiger öffentlicher Stellen, soweit diese nicht in Wahrnehmung eines Selbstverwaltungsrechts an einem Verfahren beteiligt sind. […] § 200 Für Nachteile, die auf Grund von Verzögerungen bei Gerichten eines Landes eingetreten sind, haftet das Land. Für Nachteile, die auf Grund von Verzögerungen bei Gerichten des Bundes eingetreten sind, haftet der Bund. Für Staatsanwaltschaften und Finanzbehörden in Fällen des § 386 Absatz 2 der Abgabenordnung gelten die Sätze 1 und 2 entsprechend. § 201 (1) Zuständig für die Klage auf Entschädigung gegen ein Land und Abhilfeanträge von Gerichten eines Landes ist das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk das streitgegenständliche Verfahren durchgeführt wurde. Zuständig für die Klage auf Entschädigung gegen den Bund und Abhilfeanträge von Gerichten eines Bundes ist der Bundesgerichtshof. Diese Zuständigkeiten sind ausschließliche. (2) Die Vorschriften der Zivilprozessordnung über das Verfahren vor den Landgerichten im ersten Rechtszug sind entsprechend anzuwenden. Eine Entscheidung durch den Einzelrichter ist ausgeschlossen. Gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts findet die Revision nach Maßgabe des § 543 der Zivilprozessordnung statt; § 544 der Zivilprozessordnung ist entsprechend anzuwenden. (3) Das Entschädigungsgericht kann das Verfahren aussetzen, wenn das Gerichtsverfahren, von dessen Dauer ein Anspruch nach § 198 abhängt, noch andauert. In Strafverfahren, einschließlich des Verfahrens auf Vorbereitung der öffentlichen Klage, hat das Entschädigungsgericht das Verfahren auszusetzen, solange das Strafverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Folgender Absatz 3a sollte hinter § 201 Abs. 3 GVG hinzugefügt werden: (3a) Die Kosten des Abhilfeantrags gehören nicht zu den Kosten des Entschädigungsverfahrens. Ist der Abhilfeantrag begründet, fallen die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Betroffenen der Staatskasse zur Last. Dem Gegner entstandene Kosten werden nicht erstattet. (4) Besteht ein Entschädigungsanspruch nicht oder nicht in der geltend gemachten Höhe, wird aber eine unangemessene Verfahrensdauer festgestellt, entscheidet das Gericht über die Kosten nach billigem Ermessen.
Zusammenfassung der Arbeit in Thesen 1. Durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) hat der Gesetzgeber mit Wirkung zum 03.12.2011 einen Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer eingeführt, der für die Zivilgerichte in §§ 198 ff. GVG geregelt ist. Der Rechtsschutz ist zweigeteilt: Im Ausgangsverfahren hat der Betroffene die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG zu erheben, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird. Die Erhebung der Verzögerungsrüge hat im Ausgangsverfahren keine konkrete prozessbeschleunigende Wirkung, gibt dem Gericht aber (fakultativ) die Möglichkeit zur Abhilfe und ist nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG (Entstehungs-)Voraussetzung für den Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG. § 198 Abs. 1 S. 1 GVG normiert einen Entschädigungsanspruch, wenn der Betroffene in seinem Recht auf angemessene Verfahrensdauer verletzt ist.1 2. Das Recht auf angemessene Verfahrensdauer ist verfassungs- und konventionsrechtlich in den Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 i. V. m. 13 EMRK und Art. 47 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta als Prozessgarantie verbürgt. Für die vorliegende Untersuchung war insbesondere das Recht auf angemessene Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK wichtig. Der Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Frist kann in ein Spannungsverhältnis mit anderen Prozessgrundrechten geraten, die das Verfahren regelmäßig verlängern. Diesen Interessenskonflikt gilt es in jedem Einzelfall aufzulösen.2 3. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) war Anlass für die Entstehung der §§ 198 ff. GVG. Als Reaktion auf die Entscheidung des EGMR in der Sache Kudla/Polen hatte der Gesetzgeber die Einführung einer Untätigkeitsbeschwerde vorgeschlagen. Dieser Referentenwurf stieß weitgehend auf Ablehnung. Nach den Entscheidungen Sürmeli/ Deutschland und Rumpf/Deutschland wurde ein Entschädigungsrechtsbehelf bevorzugt. Die Materialien zeigen, dass sich der Gesetzgeber bei Einführung der §§ 198 ff. GVG intensiv mit den Wirksamkeitsvorgaben des EGMR auseinandergesetzt hat. Der Gesetzgeber will mit den §§ 198 ff. GVG einen Rechtsbe1
2
S.o. § 1 B (S. 8 ff.). S.o. § 1 A II (S. 4 ff.).
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helf schaffen, der die Wirksamkeitsanforderungen des EGMR aus Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK vollumfänglich erfüllt.3 4. Der Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 GVG besteht, wenn die Verfahrensdauer des Gerichtsverfahrens im Sinne von § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG unangemessen war, der anspruchsberechtigte Verfahrensbeteiligte im Sinne von § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG infolge der Verzögerung einen Nachteil erlitten hat und im Ausgangsverfahren die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG erhoben hat. 5. Nach der Rechtsprechung des BGH ist die Verfahrensdauer unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 S. 1 GVG, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 S. 2 GVG ausgerichtete und den Gestaltungsspielraum der Gerichte bei der Verfahrensführung beachtende Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalls ergibt, dass die aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist.4 6. Der Betroffene muss einen materiellen oder immateriellen Nachteil erlitten haben. Ein immaterieller Nachteil infolge der unangemessenen Dauer nach § 198 Abs. 2 S. 1 GVG wird vom Gesetz vermutet. Der BGH hat entschieden, dass die Vermutung des § 198 Abs. 2 S. 1 GVG widerlegt ist, wenn das Entschädigungsgericht unter Berücksichtigung der vom Kläger gegebenenfalls geltend gemachten Beeinträchtigungen nach einer Gesamtbewertung der Folgen die Überzeugung gewonnen hat, dass die unangemessene Verfahrensdauer nicht zu einem immateriellen Nachteil geführt hat.5 7. Die Überprüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer nach § 198 Abs. 1 GVG ist durch die Vielzahl der unbestimmten Rechtsbegriffe sehr komplex, auch wenn die Methodik zur Beurteilung vom BGH mittlerweile geklärt wurde. Das Entschädigungsgericht ist teilweise zu einer aufwendigen Nachzeichnung des Ausgangsverfahrens gezwungen. Der BGH prüft bei der Angemessenheit der Verfahrensdauer nicht – anders als der EGMR – die in § 198 Abs. 1 S. 2 GVG genannten Kriterien der Reihe nach, sondern vielmehr (dogmatisch überzeugend), ob die Verfahrensdauer eine Grenze überschritten hat, die auch unter Berücksichtigung gegenläufiger rechtlicher Interessen (Rechtsstaatsprinzip, Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit, Gewährung rechtlichen Gehörs) für den Betroffenen sachlich nicht mehr gerechtfertigt ist. Bei der Prüfung der angemessenen Verfahrensdauer ist also eine Einzelfallentscheidung
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S.o. § 2 (S. 29 ff.). S.o. § 3 A I – III (S. 53 ff.). 5 S.o. § 3 A IV (S. 72 ff.). 4
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über die hinter der Norm stehenden gegenläufigen Grundrechtspositionen möglich.6 8. Die Verzögerungsrüge in § 198 Abs. 3 GVG ist verfahrensrechtliche Prozesshandlung und materiell-rechtliche Obliegenheit für die Entstehung des Entschädigungsanspruchs. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Verzögerungsrüge aber auch präventiv wirken und das Verfahren beschleunigen. Einziges präventives Element der Rüge ist, dass sie während des Ausgangsverfahrens zu erheben ist. Im Unterschied zu klassischen präventiven Rechtsbehelfen (mit Devolutiveffekt) wird die Verzögerungsrüge nicht bei einer höheren Instanz, sondern beim Ausgangsgericht selbst erhoben. Eine Verbescheidung der Rüge erfolgt nicht, das Ausgangsgericht hat sie lediglich zu den Akten zu nehmen, damit das Entschädigungsgericht ihr Vorliegen als Tatbestandsvoraussetzung des Entschädigungsanspruchs nach § 198 Abs. 1 GVG prüfen kann. Eine Kommunikation zwischen Ausgangsgericht und den Verfahrensbeteiligten ist nicht vorgesehen. Das Ausgangsgericht muss den Verfahrensablauf nicht begründen. Die Rüge soll dem zuständigen Richter präventiv die überlange Verfahrensdauer vor Augen führen und ihn motivieren, das Verfahren zu beschleunigen. Eine solche praktische Wirkung der Rüge wird in der Literatur stark angezweifelt. Die Verzögerungsrüge ist nach zivilprozessualem Verständnis weder ein Rechtsmittel noch ein Rechtsbehelf, sondern eine Prozesshandlung in Form einer „Verzögerungsmitteilung“ ohne präventiven Charakter.7 9. Der Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 GVG gewährt auf Rechtsfolgenseite Ausgleich der materiellen und immateriellen Nachteile infolge der überlangen Verfahrensdauer. Die §§ 249 ff. BGB sind nach herrschender Meinung nicht anzuwenden.8 10. Im Entschädigungsprozess gilt der Beibringungsgrundsatz. Nach einer Reihe von ober- und höchstrichterlichen Entscheidungen ist die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast bereits sehr detailliert festgelegt.9 11. Zur Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs ist ein gesondertes Erkenntnisverfahren durchzuführen, das sich gemäß § 201 Abs. 2 S. 1 GVG nach den §§ 253 ff. ZPO richtet. Das Ausgangs- und das Erkenntnisverfahren können parallel durchgeführt werden. Nach dem BGH liegt es im Ermessen des Entschädigungsgerichts, ob es das Verfahren nach § 201 Abs. 3 S. 1 GVG aussetzt oder die Entschädigungsklage als derzeit unbegründet abweist. Die Erhebung der Entschädigungsklage während des noch laufenden Ausgangsprozes-
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S.o. § 3 A III 3 (S. 61 ff.). S.o. § 3 A V (S. 77 ff.). 8 S.o. § 4 A (S. 92 ff.). 9 S.o. § 4 B (S. 96 ff.). 7
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ses birgt somit für den Entschädigungskläger ein erhebliches Prozess- und Kostenrisiko.10 12. Der Gesetzgeber hat mit den §§ 198 ff. GVG einen Staatshaftungsanspruch sui generis geschaffen, der sich kaum in das bestehende System der Staatshaftung einfügen lässt. Er ist verschuldensunabhängig, gewährt aber auf Rechtsfolgenseite im Widerspruch zur Systematik des Schadensersatzrechts Ersatz der materiellen und immateriellen Nachteile.11 13. Die vor Einführung zulässige außerordentliche Beschwerde entsprechend § 567 ZPO ist nach der Rechtsprechung des BGH neben den §§ 198 ff. GVG nicht mehr statthaft. Zwischen dem Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG und der Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer nach § 198 Abs. 1 GVG besteht dagegen Anspruchskonkurrenz.12 14. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die Zivilgerichte verpflichtet, die Entscheidungen des EGMR nach Art.2 Abs. 1 i. V. m. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 59 Abs. 2 GG zu berücksichtigen. Die Gerichte haben Judikate des EGMR zur Kenntnis nehmen und dürfen die Auseinandersetzung mit einer einschlägigen Entscheidung des EGMR nicht völlig unterlassen. Eine Entscheidung des EGMR ersetzt aber nicht den Willensbildungsprozess der innerstaatlichen Gerichte, sodass es den Gerichten untersagt ist, ohne eigene Überprüfung des innerstaatlichen Rechts Entscheidungen des EGMR „schematisch zu vollstrecken“. Die Berücksichtigung hat im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung zu erfolgen. Damit ist die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK zu beachten. Die Vorgaben der Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK sind in ihrer Auslegung durch den EGMR auch für die deutschen Zivilgerichte bindend.13 15. Der EGMR beurteilt die Angemessenheit der Verfahrensdauer jeweils im Einzelfall unter Gesamtwürdigung aller Umstände. Zur Bewertung hat er vier Kriterien entwickelt: Komplexität der Sache („complexity of the case“), Verhalten des Beschwerdeführers („conduct of the applicant“), Verhalten der Behörden und des Gerichts („conduct of the authorities“) sowie Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer („what was at stake for the applicant“).14 Bejaht der EGMR die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, gewährt er hierfür nach Art. 41 EMRK eine „gerechte Entschädigung“, die vom jeweiligen Konventionsstaat an den Beschwerdeführer zu leisten ist. Die Entschädigung um-
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S.o. § 4 C (S. 99 ff.). S.o. § 4 D (S. 105 ff.). 12 S.o. § 4 E (S. 110 ff.). 13 S.o. § 5 A (S. 117 ff.). 14 S.o. § 5 B III (S. 138 ff.). 11
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fasst sowohl materielle als auch immaterielle Schäden infolge der überlangen Verfahrensdauer.15 16. Der EGMR hat ein zweistufiges Prüfprogramm für den Anspruch auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer nach Art. 13 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK entwickelt, um die effektive Umsetzung der Konventionsrechte in den Mitgliedsstaaten sicherzustellen. Mangelt es in ei13 nem Konventionsstaat an einem „wirksamen Rechtsbehelf“ nach Art. EMRK („existence of an effective remedy“), verurteilt der EGMR wegen Verletzung von Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 EMRK und verpflichtet den Konventionsstaat, einen solchen Rechtsbehelf einzuführen. Der EGMR weist dabei auf seine Rechtsprechung und die Voraussetzungen hin, die er an die Einführung eines „wirksamen Rechtsbehelfs“ im Sinne von Art. 13 EMRK stellt.16 Nach Einführung des Rechtsbehelfs überprüft der EGMR dessen effektive innerstaatliche Anwendung („verifiying remedy effectivness“). Auch dafür hat der EGMR feste Kriterien entwickelt: Ein Rechtsbehelf ist wirksam nach Art. 13 EMRK, wenn er geeignet ist, entweder das befasste Gericht zu einer schnelleren Entscheidungsfindung zu veranlassen (präventive Wirkung) oder dem Rechtssuchenden für die bereits entstandenen Verzögerungen eine angemessene Entschädigung – auch für immaterielle Nachteile – zu gewähren (kompensatorische Wirkung).17 Bei den §§ 198 ff. GVG handelt es sich um einen Kompensationsrechtsbehelf und nicht um einen kombinierten Rechtsschutz, da präventive Elemente völlig fehlen – insbesondere weil die Verzögerungsrüge als reine Mitteilung an das Gericht ausgestaltet ist. Auch der EGMR hat in einer seiner jüngsten Entscheidungen die präventiv wirkende Beschwerdemöglichkeit in den §§ 198 ff. GVG als unvereinbar mit den Wirksamkeitsanforderungen des Art. 13 EMRK angesehen. Im Ergebnis verfehlen die §§ 198 ff. GVG somit Vorgaben des EGMR an einen präventiven Rechtsschutz.18 17. Die fehlende präventive Wirksamkeit der §§ 198 ff. GVG hat der EGMR in der Entscheidung Kuppinger/Deutschland19 für die Durchsetzung familienrechtlicher Ansprüche (inzwischen) bestätigt.20
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S.o. § 5 C (S. 145 ff.). S.o. § 6 B (S. 153 ff.). 17 S.o. § 6 C (S. 167 ff.). 18 S.o. § 6 D (S. 174 ff.). 19 EGMR, Urt. v. 15.01.2015, 62198/11 – Kuppinger/Deutschland, Rn. 140, hudoc. 20 S.o. § 6 D I 3 b); § 7. 16
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Sachregister Absorption 150 f. Appropriate relief 153 f. Arguable claim 150 Aktiver Richter, siehe Verfahrensleitung Amparo-Beschwerde 165 ff. Angemessenheit der Verfahrensdauer 4 f., 11, 58 ff., 138 ff. – EMRK 5 f., 138 ff. – GG 4 f. – ÜGRG 58 ff. Angemessenheitskriterien 61 ff., 139 ff. – Bedeutung der Sache 142 – Bedeutung des Verfahrens 62 ff. – EMRK 139 ff. – Existenzgrundlage 144 – Familienrechtliche Ansprüche 24, 143, 177 ff., 182, 192 – Höchstpersönliche Rechtsgüter 144 – Hohes Alter 144 – Kein Verschulden 67, 70 – Komplexität des Verfahrens 61, 139 ff. – Rechtliche Schwierigkeiten 61, 140 – Tatsächliche Schwierigkeiten 61, 140 – ÜGRG 61 ff. – Verfahrensführung 67 – Verhalten der Behörden und Gerichte 141 – Verhalten der Beschwerdeführer 140 f. – Verhalten der Verfahrensbeteiligten 64 – Verhalten Dritter 65 Anscheinsbeweis 98 Anspruch auf Justizgewährung, siehe Justizgewährungsanspruch Auslegung 121 ff. – autonome 130 f., 153 f. – der EMRK 129 ff., 130 f., 149 ff., 153 f. – Kriterien 123 – konventionskonforme 118, 121 ff.
– Methodik 122 f. – Ziel 122 Außerordentliche Beschwerde 111 Beibringungsgrundsatz 18 f., 65, 96 ff., 103, 140 f., 190 Beschleunigung des Verfahrens, siehe Verfahrensbeschleunigung Beschleunigungspflicht 6 f., 67 ff., 141 f. Beweisaufnahme 7, 18, 59, 62, 140 Beweisbeschluss 27, 65 f., 141 Beweiserhebung 86, 139 Beweiserleichterung 106, 180 Beweislast 43 f., 75 f., 89 Beweissschwierigkeiten 75 f. Beweisverfahren, selbstständiges 57 Beweiswert 12 Bindungswirkung 119 ff. CEPEJ 11 Civil rights and obligation 130 Complexity of the case 139 ff. Conduct of the applicant 140 Conduct of the authorities 141 f. Determination of rights 134 Devolutivantrag 156 ff. Dienstaufsichtsbeschwerde 113 Dulde und Liquidiere 47, 77 ff., 87 f., 108 f. Effektivität 3 f., 17, 29 f., 67 ff., 149 ff., 167 ff.,174 ff., siehe Gebot des effektiven Rechtsschutzes Effective domestic remedy 153 ff., siehe Gebot des effektiven Rechtsschutzes Einstweiliger Rechtsschutz 57 f., 64 EGMR 119 ff., 130, 153 – Konventionsauslegung 130, 153
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Sachregister
– Urteilswirkung 119 ff. EMRK 5 f., 117 ff., 129 ff., 147, 174 ff. – Auslegung 130 ff., 153 ff. – Normenhierarchie 117 – Sprachenregime 129 f. – Vorgaben 129 ff., 149 ff. – Vereinbarkeit 147, 174 ff. Entgangener Gewinn 93 ff., 106 f., 109, 145 Entschädigung 8 f., 53 ff., – Angemessenheit 92 ff. – Darlegungs- und Beweislast 45, 98, 180 – Feststellung der Überlänge 94, 145 – Effektivitätsvorgaben 92 – EMRK 17, 145 ff. – Gesetzeshistorie 42, 44 – Höhe 17, 92 ff., 145 ff. – materielle Nachteile 92 ff., 146 – immaterielle Nachteile 43, 45, 94 ff., 146, 180 – ÜGRG 53 ff. – Wiedergutmachung auf andere Weise 94 Entschädigungsklageverfahren 99 ff. – Effektivitätsvorgaben 99, 101, 104 – Klageantrag 102 – Klageschrift 102 – Klagezeitpunkt 101 – Kosten 104 – Rechtsmittel 104 – Verfahren 102 ff. – Zuständiges Gericht 99 ff. Europäische Union (EU) 119 EU Grundrechte-Charta 5 EU Justice Scoreboard 11 Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer 94 f., 145 – EMRK 145 – ÜGRG 94 f. Fristsetzungsantrag 156 ff. Fristenlösung 58 Gebot des effektiven Rechtsschutzes 5, 149 ff. – Bewertung 174 ff.
– EMRK 5, 17, 75 ff., 92, 96, 99, 149 ff., 153 ff. – Gesetzeshistorie 36 ff., 45 f. – GG 5 f. – Kriterien 17, 167 ff. – Spannungsverhältnis 69 – ÜGRG 69 f., 124 Gehörsgewährung 6 f. Gerichtsorganisation 142, siehe Strukturproblem Gesetzlicher Richter 6 f. Global assessment 152 Grässer/Deutschland 19 ff. Grumann/Deutschland 26 ff. Haftungsschuldner 54 Haftungsverteilung 54 Immaterielle Schäden 75 ff., siehe Nachteil – EMRK 146 – ÜGRG 75 ff. Individualbeschwerde 113 Infringement proceedings 127 Inhaltliche Entscheidungsrichtigkeit 6 f. Interessenkonflikt 6 f. Justizbarometer 11 f. Justizforschung 11 f. Justizgewährungsanspruch 4 f., 15 f., 69, 141 f. Justizorganisation 33, 38 Kind/Deutschland 13 ff. Kombinationsrechtebehelfe 164 ff., 174 ff. – Beispiel 165 f. – Effektivität 155, 174 – Merkmale 164 f. Kompensationsrechtsbehelfe 154 ff., 159 ff., 171 ff., siehe repressive Rechtsbehelfe – Beispiele 159 ff. – Effektivität 92, 96, 155, 171 ff. – Merkmale 159 – ÜGRG 178 Kompensationswirkung 29, 154 ff., 171 ff.
Sachregister
Konventionskonforme Auslegung 119 Konzentrationsmaxime 6 Kudla/Polen 31 ff. Kuppinger/Deutschland 177 ff., 182, 192 Magiera-Urteil 161 Materielle Schäden 73 ff., siehe Nachteil – EMRK 146 – ÜGRG 73 ff. Ministerkomitee 127 Missbräuchliche Verzögerungsrüge 39, 85 Missbrauchsabwehr durch Verzögerungsrüge 47, 77 ff., 109 Musterverfahren 30 Nachteil 72 ff. – Begriff 72 – EMRK 146 f. – Gesetzeshistorie 43 f. – immaterieller Nachteil 75 ff. – materieller Nachteil 73 ff. – ÜGRG 72 ff. Negativbeweis 76, 98 Normenhierarchie 117 Parteimaxime 18 f., siehe Beibringungsgrundsatz Pecuniary nature 133 Präklusion 7 f. Präventiveffekt 29, 77, 78 f., siehe Verzögerungsrüge Präventivrechtsbehelfe 154 ff., 173 ff. – Beispiel 156 ff. – Effektivität 77, 155, 173 ff. – Merkmale 156 – ÜGRG 180 Primärrechtsschutz, Vorrang des 79, 109 Pilotverfahren 30; 124 f. Pinto-Gesetz 161 ff. Prozessbeschleunigung, siehe Verfahrensbeschleunigung Prozessdauer, siehe überlange Verfahrensdauer Prozessleitung, siehe Verfahrensleitung Prozessmaximen 6 f.
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Recht auf angemessene Verfahrensdauer 4 f., 117 ff., siehe Verfahrensbeschleunigung – GG 4 f. – EMRK 5 f., 117 ff. Rechtliches Gehör 6 f. Rechtsstaatsprinzip 4, 6 f. Remedy 46, 126, 149 ff., 153 ff., 167 ff. Repressive Rechtsbehelfe 154, 159 ff., 171 ff., siehe Kompensationsrechtsbehelfe – Beispiele 159 ff. – Effektivität 155, 171 ff. – Merkmale 159 – ÜGRG 178 Richterliche Unabhängigkeit 6, 40, 68 ff., 141 f. Richterwechsel 12 Risikosphären 66 Rumpf/Deutschland 37 ff. Rügeobliegenheit 77 f., siehe Verzögerungsrüge Sachverständigenbeweis 12, 22, 66, 139 Schaden, siehe Nachteil Schadensersatzrecht 42 ff., 48 f., 75, 105 ff., 180 Schiedsgerichtsbarkeit 55 Schiedsverfahren 55 Schmerzensgeld 94 ff., 146 ff. Sekundäre Darlegungslast 97 Sekundäres Prozessrecht 5, 149 ff., 152 Staatshaftung 105 ff., 110 Staatenverantwortlichkeit, allgemeine 128 Strukturproblem 15 f., 18, 25, 30, 142, 151 f. Sürmeli/Deutschland 16 ff., 34 ff. Systemic problem, siehe Strukturproblem Taron/Deutschland 175 ff. Travaux Préparatoires 150 f. Überlange Verfahrensdauer 9 f., 58 ff., 138 ff. – EMRK 138 ff. – Einladungseffekt 59 – keine Fristenlösung 58
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Sachregister
– Kriterien 61 ff., 139 ff. – Methodik 58 ff., 138 – Regelungsmodelle 156 ff. – ÜGRG 58 ff. – Zeitraum 60 f., 135 ff. Untätigkeitsbeschwerde 81, 111 Untätigkeitsbeschwerdegesetz 31 ff. Untätigkeitsverfassungsbeschwerde 113 ÜGRG 34 ff., 49 – Aktivlegitimation 53 – Anspruchsvoraussetzungen 53 ff. – Darlegungs- und Beweislastverteilung 96 f., 190 – Gesetzeshistorie 29 ff. – Gerichtsverfahren 55 ff. – Haftungsschuldner 54 – Höhe der Entschädigung 92 ff., siehe Entschädigung – Klage 99 ff., siehe Entschädigungsklageverfahren – Klagezeitpunkt 101, siehe Mindestwartefrist – Kausalität 72 ff., 74, 75 – Kriterien der Angemessenheit der Verfahrensdauer 61 ff., siehe Angemessenheitskriterien – Mindestwartefrist 101 – Passivlegitimation 54 – Rüge 77 ff., siehe Verzögerungsrüge – Rechtsfolgen 92 ff., siehe Entschädigung – Schäden 72 ff., siehe Nachteil – Schiedsgerichtsbarkeit 55 – staatshaftungsrechtlicher Anspruch sui generis 108 – Überlänge des Verfahrens 58 ff., siehe überlange Verfahrensdauer – Zuständiges Gericht 99 ff. Ursachenanalyse, siehe Justizforschung Verfahrensbeschleunigung 6 f., 36 f., 67 ff., 81, 142
– EMRK 142, 178 – Gesetzeshistorie 36 f. – Grundsatz 6 f. – Einfachgesetzliche Ausprägungen 7 f. – ÜGRG 67 ff., 81 Verfahrensdauer 9 f., 58 ff., 69, 138 ff. siehe überlange Verfahrensdauer – EMRK 138 ff. – ÜGRG 58 ff. Verfahrensförderungspflicht 6, 12, 67 ff. Verfahrensleitung, richterliche 6 f., 67 ff., 141 ff. Verhandlungsgrundsatz 6 f. Verifiying remedy effectivness 167 ff. Vermutung der Kausalität 45, 75 f., 94 ff., 146, 180 Verschleierte Verschuldensprüfung 67, 70 Verzögerungsrüge 8 f., 77 ff. – Anlass zur Besorgnis 84 ff. – Berechtigung 83 – Beweislast 89 – Devolutiveffekt 79 – Erhebungsvoraussetzungen 83 ff. – Funktion 77 ff. – Keine Frist 84 – Kettenrügen 88 – Obliegenheit 77, 83 – Präventiveffekt 77, 78 f., 180 – Prozesshandlung 81 f. – Rechtsnatur 79 ff. – Rügeschrift 89 – Suspensiveffekt 79 – Sperrfrist 88 – Zeitpunkt 84 ff. Wertender Rechtsvergleich 131 Wildgruber/Deutschland 22 ff. Wirksame Beschwerde 153 ff. Wirksamkeitsanforderungen 29 f., 110 ff., 115 ff., 153 ff., 167 ff. Zuständigkeit, gerichtliche 99 f.