Die Botschaft der Form: Zum Verhältnis von antiker Epistolographie und Rhetorik im 9783666539466, 3525539460, 3727812966, 9783525539460


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Die Botschaft der Form: Zum Verhältnis von antiker Epistolographie und Rhetorik im
 9783666539466, 3525539460, 3727812966, 9783525539460

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ΝΤΟΑ 46 Dieter Kremendahl Die Botschaft der Forar

NOVUM TESTAMENTUM ET ORBIS ANTIQUUS (ΝΤΟΑ) Im Auftrag des Biblischen Instituts der Universität Freiburg Schweiz herausgegeben von Max Küchler in Zusammenarbeit mit Gerd Theissen

Zum

Autor

Dieter Kremendahl, geboren 1964 in Wuppertal, studierte evangelische Theologie, Griechisch und Latein für das Lehramt an den Universitäten Tübingen, Marburg und Heidelberg. Nach dem Referendariat in Bensheim ist er jetzt als Studienrat am altsprachlichen Ludwig-Georgs-Gymnasium in Darmstadt tätig.

Novum Testamentum et Orbis Antiquus

46

Dieter Kremendahl

Die Botschaft der Form Zum Verhältnis von antiker Epistolographie und Rhetorik im Galaterbrief

Universitätsverlag Freiburg Schweiz Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2000

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kremendahl, Dieter: Die Botschaft der Form: zum Verhältnis von antiker Epistolographie und Rhetorik im Galaterbrief / Dieter Kremendahl. - Freiburg Schweiz: Univ.-Verl.; Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2000 (Novum testamentum et orbis antiquus; 46) ISBN 3-525-53946-0 ISBN 3-7278-1296-6

Veröffentlicht mit Unterstützung des Hochschulrates Freiburg Schweiz, des Rektorates der Universität Freiburg Schweiz und der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau Die Druckvorlagen der Textseiten wurden vom Autor reprofertig zur Verfügung gestellt. © 2000 by Universitätsverlag Freiburg Schweiz Herstellung: Paulusdruckerei Freiburg Schweiz ISBN 3-7278-1296-6 (Universitätsverlag) ISBN 3-525-53946-0 (Vandenhoeck & Ruprecht) ISSN 1420-4592 (Novum Testam. orb. antiq.)

Meiner Frau

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 1999/2000 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie noch einmal geringfügig überarbeitet. Vorrangigen Dank schulde ich meinem Doktorvater, Prof. Dr. Wolfgang Harnisch, der diese Arbeit angeregt und über Jahre hinweg gefördert hat. Sein fachlicher Rat, seine Ermutigung und seine konstruktive Kritik haben maßgeblich zu ihrem Gelingen beigetragen. Auch andere haben meine Arbeit an der Dissertation mit weiterführenden Hinweisen und kritischen Rückfragen begleitet. Besonders nennen und danken möchte ich an dieser Stelle meinem Freund Georg Schmelz für viele inspirierende und korrigierende Gespräche; Prof. Dr. David Trobisch, der mir vor allem in der Anfangszeit half, den Fragehorizont dieser Untersuchung abzustecken; und meiner Kommilitonin aus Heidelberger Zeiten, Frau Susanne Abbass, die das Manuskript um ungezählte Tippfehler und sprachliche Schnitzer erleichterte. Meiner Frau, Irmhild Wicking, danke ich für ihre Geduld und Unterstützung, die mich in den letzten Jahren getragen haben. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Der Studienstiftung des deutschen Volkes gilt mein Dank für ein mehrjähriges Promotionsstipendium sowie der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, die einen großzügigen Druckkostenzuschuß gewährte. Schließlich danke ich Prof. Dr. Gerd Theißen und Prof. Dr. Max Küchler für die A u f n a h m e der Arbeit in die Reihe NOVUM TESTAMENTUM ET ORBIS ANTIQUUS.

Lampertheim, Palmsonntag 2000

Dieter Kremendahl

Inhaltsverzeichnis

0

Einleitung

0.1

Anliegen und Aufbau der Arbeit

1

0.2

Der forschungsgeschichtliche Rahmen

6

0.3

Das methodologische Verhältnis von Rhetorik und Epistolographie

15

0.4 0.4.1 0.4.2

Paulus und die Rhetorik Die explizite Kritik an der Rhetorik Die Möglichkeit einer rhetorischen Vorbildung

21 21 28

1

Das epistolographische Formular

1.1

Überschuß und Auslassungen im Formular des Galaterbriefes

32

1.2 1.2.0 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4

Der autographische Schluß Eigenhändigkeit in Briefen und Dokumenten Die Parallelität von Gal 5,2-6 und 6,11-15 Die erste Subscriptio (5,2-6) Die zweite Subscriptio (6,11-15) Das Post scriptum (5,7-6,18)

39 42 48 53 61 66

1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5

Weitere juristische Formularmerkmale Die Schwurformel ( 1,20) Das Signalement (6,17b) Die Strafandrohung (1,80 Das Zitat eines Dokuments (2,7f) Exkurs: Das juristische Vokabular

74 74 78 82 87 90

1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3

Der briefliche Rahmen Das Präskript (1,1-5) θαυμάζω ότι (1,6) als body-opening-formula Das "fehlende" Postskript (6,16-18)

96 96 99 106

1.5

Zusammenfassung: Der Galaterbrief als ein Schreiben mit dem Anspruch amtlicher Verbindlichkeit

116

2

Die Gattungsfrage

2.1

Die Aporie in der Forschung

120

2.2

ό απολογητικός τύπος Zur Gattung des antiken Verteidigungsbriefes

127

Der zweite Brief des Demosthenes Ein apologetischer Brief im Vergleich mit dem Galaterbrief

133

Die Differenz zwischen epistolographischer παραίνεσις und rhetorischer συμβουλή

141

Zusammenfassung: Apologie als Inszenierung des Ich

146

2.3

2.4

2.5

3

Die rhetorische Disposition

3.0

Die Dispositio im Kontext der fünf Officia rhetoris und eine erste Annäherung an Quaestio und Status

151

3.1

Die Gliederung im Überblick

157

3.2

Das Exordium (1,6-12)

162

3.3

Die Narratio ( 1,13-2,21 )

174

3.3.1 3.3.2 3.3.3

3.4 3.4.0 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5

3.5

"Paulus neben Petrus" (1,13-24) "Paulus mit Petrus" (2,1-10) "Paulus gegen Petrus" (2,11-21)

Die Argumentatio (3,1-5,1) Die paulinische Selbstthematisierung als Leitgedanke der Argumentatio Der exordiale Auftakt der Argumentatio (3,1-5) Refutatio I: Subpropositio und Thesen (3,6-14) Refutatio II: Explikation der Thesen (3,15-4,7) Die Probatio als Zielpunkt der Argumentatio (4,8-20) Der perorative Ausklang der Argumentatio (4,21-5,1)

Die Peroratio (5,2-6)

177 180 185

204 206 207 210 215 224 230

242

3.6

Das zweite Exordium (5,7-12)

245

3.7

Die Paränese (5,13-6,10)

249

3.7.1

Abgrenzung und Binnengliederung

3.7.2

s o w i e eine neue Subpropositio (5,13a) "Die Liebe als Manifestation der Freiheit" ( 5 , 1 3 - 2 6 )

249 252

3.7.3

"Der einzelne und sein Werk" ( 6 , 1 - 1 0 )

255

3.8

Die zweite Peroratio (6,11-18)

261

3.9

Zusammenfassung: Die zwei großen und zwei kleinen Reden im Galaterbrief

264

4

Ergebnisse und Ausblick

4.1

Der Galaterbrief als Zeugnis der paulinischen Selbstthematisierung

4.2

Rekapitulation und Verknüpfung der Kapitel 1-3

268

Paulus als persönliche Metapher des Gekreuzigten Das christologische Fundament der paulinischen Selbstthematisierung

273

5

Literaturverzeichnis

5.1 5.2 5.3 5.4

Quellen Hilfsmittel zur Sprache Kommentare zum Galaterbrief Sekundärliteratur

6

Anhang

6.1 6.2 6.3

P.Meyer 13 P.Mich. VIII502 P.Oxy. III 530

282 284 286 288

307 308 309

6.4

Pseudo-Demetrius, TyposNr. 18 (ed. WEICHERT)

310

6.5

Pseudo-Euripides, ep. 5 (ed. G ö s s w e i n )

311

6.6

D e m o s t h e n e s , ep. 2 (ed. C l a v a u d )

313

6.7

Index

318

"Ιδετε πηλίκοις ύμίν γράμμασιν έγραψα τη έμή χειρί. (Gal 6,11)

0

Einleitung

0.1

Anliegen und Aufbau der Arbeit

Die Rezeption eines jeden Textes beginnt bereits im Vorfeld der eigentlichen Lektüre, da dem verstandesmäßigen Erfassen der ersten Worte stets ein optischer und bei Büchern und Briefen auch ein haptischer Eindruck vorausgeht, der maßgeblich die Erwartungshaltung des Lesers prägt. Bei dem hier vorliegenden Text verweisen z.B. die Fußnoten auf nahezu jeder Seite sogleich auf einen wissenschaftlichen Beitrag. Auch der Umfang des Buches sendet bestimmte Signale aus, ebenso die verwandte Drucktechnik oder die Art der Heftung. Ohne nun im einzelnen auszumalen, wie die äußere Gestaltung von Lexika, Telephonbüchern oder Bußgeldbescheiden auf uns wirkt, ist evident, daß in jedem Fall die Erscheinungsform dieser Texte schon zu uns "spricht", bevor wir irgendein Wort gelesen haben. Dabei wird eine angemessene Korrespondenz von Form und Inhalt von uns zumeist nur unbewußt registriert, weil sie der Regelfall ist. Wenn diese aber gestört wird, reagieren wir irritiert und befremdet, wie dies beispielsweise der Fall ist, wenn ein langjähriger Brieffreund seine bisher handschriftlich verfaßten Briefe auf einmal mit der Maschine schreibt, ohne im Text eine nachvollziehbare Begründung (etwa ein gebrochener Arm) oder zumindest eine Bemerkung (seine Handschrift sei nicht länger zumutbar) nachzureichen. Die Form schafft in diesem Fall eine Distanz, die wir sogleich auf das persönliche Verhältnis übertragen würden. Die hier vorliegende Untersuchung des Galaterbriefes handelt über weite Strecken von derartigen Signalen, die seine Form aussendet, und versucht, diese zu interpretieren. Der Begriff "Form" umfaßt dabei sowohl die materielle Gestalt als auch die literarische Gattung dieses Schreibens. Zur thematischen Einstimmung in diesen Zusammenhang seien wenige Zeilen des römischen Dichters Catull (84-54") vorangestellt, in denen er auf seine Weise die antike Sensibilität fur eine angemessene oder gestörte Korrespondenz zwischen Form und Inhalt artikuliert. Spott gießt er aus über seinen dilettantischen Dichterkollegen Suffenus, der für stümperhafte und abgeschmackte Verslein nur die erlesensten Schreibutensilien verwendet: Puto esse ego illi milia aut decern aut plura perscripta, nec sic, ut fit, in palimpseston relata: cartae regiae, novei libri, novei umbilici, lora rubra membranae, decreta plumbo et pumice omnia aequata. Haec cum legas tu, bellus ïlle et urbanus

2

Einleitung Suffenus unus caprimulgus aut fossor rursus videtur1

Die implizite Warnung dieser Verse, sich nicht von einem glänzenden, ja "blendenden" Äußeren über einen dürftigen Inhalt hinwegtäuschen zu lassen, ist nur deshalb sinnvoll, weil wir Leser allzu leicht geneigt sind, die "Verpackung" einer schriftlichen Aussage als Verstärkung des Inhalts zu interpretieren. Wie ein Redner durch die Klangfarbe seiner Stimme, durch Mimik und Gestik oder auch nur durch seine Kleidung seinen Worten zusätzliches Gewicht verleihen kann, so kann ein Autor ebenfalls durch Form und Gestalt eines Textes oder eines Buches dessen intendierte Rezeption und Interpretation bis zu einem gewissen Grade steuern oder zumindest unterstützen. Der Dichter Ovid (44a-18p) wünscht sich z.B. ausdrücklich einen armseligen Einband für seine Exildichtung (trist. I 1), da dieses äußere Buchkleid seinen Schmerz über die Verbannung aus Rom unterstreicht, die er in jenen Gedichten thematisiert. Das Buch soll anstelle des Verbannten zurück nach Rom gehen und befleckt und struppig von den Tränen zeugen, die Ovid bei der Niederschrift seiner Klagen geweint hatte 2 Schon die Gestalt des Buches sollte dasjenige Mitleid erwecken, welches sein Inhalt erfleht. Ovid erreichte sein Ziel jedoch nicht und starb in der Verbannung. Großen Erfolg hatte dagegen um ein ganz anderes Beispiel zu wählen - der unlängst erschienene Roman "Sofies Welt" von J. Gaarder. Gerade weil der Autor den vermeintlich trockenen Inhalt eines Sachbuches zur Philosophiegeschichte in der Aufmachung eines Jugendbuches präsentierte und zudem von Piaton die Form des fiktiven Lehrgesprächs adaptierte, wurde das Buch ein Bestseller. Die ursprüngliche Erscheinungsform der Paulusbriefe ist nun freilich verlorengegangen. Sie wurde, genauer gesagt, durch die Sammlung der Einzelbriefe, durch redaktionelle Eingriffe und durch den anschließenden Überlieferungsprozeß zu einer neuen Form verändert, die ihrerseits wieder andere Erwartungen weckt. Gleichwohl haben sich im Text einige Hinweise erhalten, die gewisse Rückschlüsse auf die Gestaltung des Originaltextes zulassen. Die eingangs programmatisch zitierte Notiz,

Carmen 22, 4-1 la (Metrum: Hinkiambus): "Ich glaube, ihm sind zehntausend oder noch mehr [sc. Verse] aus der Feder geflossen, und nicht etwa, wie üblich, auf radierte Blätter: Nein! Königspapyrus, neue Bücher, neue Rollstäbe, rote Pergamentriemen, mit Blei liniiert und alles mit Bimsstein geglättet. Wenn du das liest, kommt dir jener feine und städtische Suffenus plötzlich wie irgendein Ziegenmelker oder Umgräber vor." (Übersetzung M. v. ALBRECHT, Stuttgart 1995). Vgl. trist. I 1,11-14 (Metrum: Distichon): Nec fragili geminae poliantur pumice frontes, / hirsutus sparsis ut videare comis. // neve liturarum pudeat; qui viderit illas, / de lacrimis facías sentiet esse meis.

Anliegen und Aufttau der Arbeit

3

mit der Paulus auf seine eigene Handschrift verweist (Gal 6,11), steht nicht analogielos im Corpus Paulinum3, hebt aber gleichwohl - ohne hier schon ins Detail zu gehen - durch den Umfang des nachfolgenden Textes, durch die energische Aufforderung ϊδετε und durch die Beschreibung der Handschrift (πηλίκοις γράμμασιν) den Schluß des Galaterbriefes aus der gesamten Briefsammlung heraus. Die im Original unmittelbar optisch wahrnehmbare Information, daß im Galaterbrief zwei verschiedene Handschriften zu unterscheiden waren, hat Paulus an dieser Stelle metakommunikativ verstärkt. Dadurch wurde diese Information nicht nur beim Verlesen des Briefes akustisch rezipierbar, sondern blieb zudem auch in jeder Kopie des Textes erhalten. Offenbar war dem Apostel sehr daran gelegen, daß bei der Rezeption seines Schreibens auch dieser Aspekt der äußeren Form Beachtung findet. Um nun den Informationsgehalt bestimmen zu können, der in antiken Briefen mit dem Gebrauch der eigenen Handschrift verbunden war, wird im ersten Kapitel dieser Arbeit in größerem Umfang epistolographisches und insbesondere papyrologisches Vergleichsmaterial gesichtet, da allein die Papyri noch Einblick in die originale Handschrift gewähren. Der Vergleich mit diesen Briefen brachte weitere, fur mich selbst überraschende epistolographische Besonderheiten des Galaterbriefes zu Tage, die die Galater auf der Ebene des Formulars irritiert haben müssen. Diese werden unten dargestellt und interpretiert. Das Gegengewicht zur epistolographischen Analyse bildet die rhetorische Analyse im dritten Kapitel. Dieses Kapitel fragt nach dem roten Faden des Galaterbriefes, der die gesamte Darstellung durchzieht, und orientiert sich in seiner Binnenstruktur weitgehend an den klassischen Teilen einer Rede, die auch in diesem Brief nachgewiesen werden können. Beiden methodischen Zugängen ist in der Anlage der Arbeit ein ungefähr gleich großer Raum gewidmet, und sie stehen eigenständig und gleichberechtigt nebeneinander. Daß wir dabei mit der epistolographischen Analyse beginnen, ist darin begründet, daß die äußere Form eines Textes - wie oben dargelegt - zuerst wahrgenommen wird. Ausgegliedert und doch verbunden steht im zweiten Kapitel die Gattungsfrage in der Mitte zwischen den beiden Analyseschritten - in der Sache verbunden, weil diese Frage die epistolographische und rhetorische Seite des Textes gleichermaßen betrifft, und aus pragmatischen Gründen ausgegliedert, weil dabei eine besonders kontroverse Forschungslage aufgearbeitet werden muß. Der eigene Lösungsvorschlag wird durch neue epistolographische Quellen abgesichert, die bisher in der Diskussion noch nicht berücksichtigt wurden. Ausgehend von der These, daß erst beide Zugänge einer epistolographischen und rhetorischen Analyse zusammengenommen dem Text hinreichend gerecht werden,

3

Vgl. IKor 16,21; Phltn 19 sowie deuteropaulinisch Kol 4,18; 2Thess 3,17.

4

Einleitung

ist es das Ziel dieser Untersuchung, am Beispiel des Galaterbriefes diese beiden philologischen Analysemethoden kritisch miteinander zu verbinden. Ein produktiver Vergleich und wechselseitiger Bezug der Ergebnisse soll das bisher in der Forschung vorherrschende Verfahren korrigieren, nur die eine Seite zu betrachten oder beides unverbunden nebeneinander stehen zu lassen. Dabei gilt die Prämisse, daß beide Analyseschritte jeweils auf den gesamten Text zu beziehen sind, weil sowohl im brieflichen Rahmen eine rhetorische Stilisierung vorliegen kann als auch andererseits formale Elemente (wie z.B. die Schwurformel in Gal 1,20) erst auf der Ebene des schriftlichen Dokuments ihre argumentative Durchschlagskraft entfalten. Wenn sich nun epistolographische und rhetorische Aspekte des Galaterbriefes überschneiden und sie sich gar im Sinne einer gemeinsamen Aussageabsicht ergänzen, dann gewinnt eine Interpretation, die sich auf beide Zugänge stützt, durch die wechselseitige Bestätigung an Gewicht. In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Untersuchung auch als Beitrag zur Methodenreflexion der rhetorischen Paulusexegese, da sie verdeutlicht, daß die rhetorische Betrachtungsweise alleine den Text nicht adäquat beschreiben kann. Die bisher in der Forschung vorliegenden Einzelergebnisse der rhetorischen Analyse des Galaterbriefes werden im zweiten und dritten Kapiteln überprüft; ihre methodologische Einseitigkeit aber wird durch eine Aufwertung der epistolographischen Analyse im ersten Kapitel überwunden, denn die Bedeutung, die der Schriftlichkeit selbst zukommt, läßt sich nur erfassen, wenn der Galaterbrief auch als Schriftsiüc£ rezipiert wird. Der Prüfstein, an dem sich unser methodisches Vorgehen besonders bewähren muß, ist die paränetische Passage des Galaterbriefes. Ihre Gewichtung bestimmt maßgeblich die rhetorische Gattungszuordnung des Briefes, und ihre Stellung innerhalb des Briefes ließ bisher jede theoriekonforme rhetorische Gliederung scheitern. Die vorliegende Untersuchung versucht nun zu zeigen, daß eine genaue epistolographische Analyse in der Lage ist, diese Aporie der rhetorischen Galaterexegese neu zu beleuchten und vielleicht sogar zu lösen. Mit dieser Übersicht über den Aufbau der Arbeit wird zugleich deutlich, was sie nicht zu leisten vermag. Obwohl (besonders im dritten Kapitel) sukzessiv der gesamte Galaterbrief betrachtet wird, ist diese Untersuchung kein Kommentar des Briefes noch erhebt sie den Anspruch, der Theologie des Paulus in allen Zügen gerecht zu werden. Die systematisch-theologische Dimension des Galaterbriefes kommt nur in ihren großen Linien zur Sprache. Unser leitendes Interesse ist es vielmehr, zwei philologisch orientierte Zugänge weiterführend miteinander zu verbinden und die im Hinblick auf Struktur und Gedankengang gewonnenen Ergebnisse dahingehend zu befragen, was sie über das paulinische Selbstverständnis, seinen apostolischen Anspruch und das Zentrum seiner Verkündigung aussagen.

Anliegen und Außau der Arbeit

5

Im Vorfeld der eigentlichen Textanalyse sind drei Punkte anzusprechen: Zunächst soll der forschungsgeschichtliche Rahmen referiert werden, in dem dieser Beitrag gehört werden will (Kap. 0.2), damit unten Detailprobleme nicht die grundsätzliche Fragestellung überdecken. Anschließend versuchen wir, das theoretische Verhältnis von Epistolographie und Rhetorik in den Paulinen zu bestimmen (0.3) - ein Verhältnis, hinter dem auch der allgemeine Gegensatz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit aufscheint. Sodann muß die paulinische Stellung zur Rhetorik problematisiert werden (0.4), wobei insbesondere die Spannung zwischen der rhetorischen Paulusexegese, die dem Apostel auf Schritt und Tritt rhetorische Strukturen nachzuweisen vermag, und seiner eigenen Kritik an der Rhetorik aufzuzeigen ist (0.4.1). In diesen Kontext gehört auch ein Seitenblick auf das antike Bildungssystem und die damit verbundenen Möglichkeiten, wo Paulus seine rhetorischen Fähigkeiten erworben haben könnte (0.4.2). Abschließend seien noch Hinweise zur Zitier- und Schreibweise gegeben: Die Sekundärliteratur (Kap. 5.4) wird durchgängig mit Kurztiteln und Publikationsjahr zitiert, um auch die forschungsgeschichtlichen Abhängigkeiten deutlich werden zu lassen. Hiervon ausgenommen sind nur die Kommentare zum gesamten Galaterbrief. Sie werden nur mit dem Verfassernamen zitiert und sind gesondert aufgeführt (5.3). Ebenfalls abgekürzt werden die Hilfsmittel zur Sprache (5.2). Die Kürzel der antiken Autoren und ihrer Werke folgen dem "Lexikon der Alten Welt", die der Papyri der "Checklist of Editions" von J.F. OATES ( 5 . 1 ) . Stellenangaben ohne jeden Zusatz beziehen sich immer auf den Galaterbrief. Bei Inschriften und Papyri wird die Datierung der Quelle in eckigen Klammern hinzugesetzt, sofern sie für die Argumentation von Bedeutung ist. Römische Ziffern benennen dabei das Jahrhundert, arabische das Jahr; der Exponent a steht für (a)nte Christum natum, p für (p)ost Christum natum. Ein kleiner Index (Kap. 6.7) verweist zudem auf diejenigen Seiten, wo seltene oder terminologisch unscharf gebrauchte Begriffe aus Epistolographie und Rhetorik eingeführt und definiert werden. Dabei ist besonders auf die sachliche und orthographische Differenz zwischen "Postskript" und "post scriptum " (S. 44) hinzuweisen.

0.2

Der forschungsgeschichtliche Rahmen

Im Zentrum der philologischen Paulusexegese der letzten 20 Jahre stand die Frage, ob und in welchem Ausmaß in den Briefen des Apostels rhetorische Strukturen nachzuweisen sind1 Die forschungsgeschichtliche Zäsur bildet dabei ein Aufsatz von H.D. B E T Z zur Komposition des Galaterbriefes2, der bereits die Grundlinien seines bald folgenden großen Galaterkommentars (1979, dt. 1988) vorzeichnete. B E T Z versuchte in beiden Werken zu zeigen, daß das Corpus des Galaterbriefes dem Aufbau einer antiken Rede entspreche. Zwar konnte er für diesen rhetorischen Ansatz auf aktuelle Literatur zurückgreifen, die bereits einzelne rhetorische Phänomene in biblischen Texten thematisiert hatte3, aber erst bei ihm erwuchs aus Einzelbeobachtungen eine rhetorische Gesamtanalyse eines Briefes. Wenig später stellte G.A. K E N N E D Y einen Leitfaden für die rhetorische Analyse neutestamentlicher Texte in fünf Schritten vor4, wobei er auf eigenen Arbeiten zur griechisch-römischen Rhetorik5 aufbauen konnte: (1) Abgrenzung der rhetorischen Einheit. (2) Bestimmung der rhetorischen Situation. (3) Bestimmung des rhetorischen Problems (quaestio), des Status und der Redegattung. (4) Analyse der Gliederung (dispositio) und des Stils. (5) Rückblick auf die gesamte Einheit und Interpretation der Beobachtungen im Hinblick auf Sprecher und Hörer. Während nun auf der einen Seite dieser methodische Ansatz vielfach aufgegriffen wurde6, hat man auf der anderen Seite vor allem H.D. B E T Z vorgehalten, er habe den innovativen Charakter seiner rhetorischen Analyse zu stark betont7, und dabei auf ältere, mitunter noch spätantike rhetorische Betrachtungen der Paulinen hinge-

Vgl. zum Folgenden insgesamt die Bibliographie von D.F. WATSON/A.J. HAUSER (Rhetorical Criticism [1994]), die auch einen Forschungsüberblick zur Geschichte und Methode der rhetorischen Exegese des Neuen Testaments seit Augustin enthält (101-125).

Composition ( 1 9 7 5 ) .

Vgl. z.B. R.W. FUNK, Language (1966) oder A.N. WILDER, Christian Rhetoric (1971). Interpretation ( 1 9 8 4 ) , 3 3 - 3 8 .

Persuasion (1963), Art of Rhetoric (1972), Classical Rhetoric (1980), Greek Rhetoric (1983). 6

Vgl. z.B. die befürwortende Stellungnahme zu diesen fünf Schritten bei W.H. WUELLNER, Rhetorical Criticism ( 1 9 8 7 ) , 4 5 5 - 4 6 0 ; D.F. WATSON, Invention ( 1 9 8 8 ) , 8 - 2 8 und W . B . RUSSELL, Rhetorical Analysis ( 1 9 9 3 ) , 3 4 3 - 3 5 1 .

7

Vgl. bes. die Polemik von C.J. CLASSEN, Paulus und die antike Rhetorik (1991).

Der forschungsgeschichtliche

Rahmen

7

wiesen 8 Orígenes und Augustinus wurden angeführt, und der Galaterkommentar v o n Johannes Chrysostomus wurde kürzlich in den Rang einer "valuable alternative" 9 zum Kommentar von BETZ erhoben. Aus der Reformationszeit werden vor allem Melanchthon 10 , aber auch Luther und Calvin genannt; und auch C.G. WILKE" und J. WEISS12 haben im letzten Jahrhundert ihre Vorgehensweise explizit als "rhetorisch" qualifiziert. Dieser forschungsgeschichtlichen Wurzeln sind sich H.D. BETZ und G.A. KENNEDY, die beiden Nestoren der zeitgenössischen rhetorischen Paulusexegese, wohl bewußt' 3 - und trotzdem bot ihr methodischer Zugang etwas genuin Neues. N e u war der Versuch, die rhetorische Dimension der Paulinen nicht mehr nur auf den Stil und einzelne Elemente des Redeschmuckes zu reduzieren, sondern sie an einem stringenten und durchdachten Gesamtaufbau der Briefe festzumachen. Das primäre Interesse galt fortan 14 dem persuasiven Duktus eines ganzen Briefes (oder einer aus literarkritischen Erwägungen abgegrenzten größeren Einheit 15 ). In ihm

Vgl. F.W. HUGHES, Early Christian Rhetoric (1989), 19-27; B.L. MACK, Rhetoric ( 1 9 9 0 ) , 9 - 1 7 u n d D . L . STAMPS, R h e t o r i c a l C r i t i c i s m ( 1 9 9 5 ) ,

130-135. Speziell

zur

Antike vgl. femer J. FAIRWEATHER, Classical Rhetoric (1994), 2-22 und zur Reformat i o n s z e i t C.J. CLASSEN, P a u l ' s E p i s t l e s ( 1 9 9 3 ) , 2 7 0 - 2 8 0 . FAIRWEATHER, e b d . , 22. V g l . CLASSEN, P a u l u s u n d d i e a n t i k e R h e t o r i k ( 1 9 9 1 ) , 16-26.

Neutestamentliche Rhetorik (1843). Diese Studie bietet eine umfangreiche Materialsammlung rhetorischer Kleinformen, wobei sie ausschließlich Tropen und Figuren auflistet, die innerhalb einer Satzgrenze liegen. Beiträge zur Paulinischen Rhetorik (1897). WEISS legt seinen Schwerpunkt auf die Satzfugung und den paulinischen Periodenbau. - Zeitgleich führten C.F.G. HEINRICI ( H e l l e n i s m u s d e s P a u l u s [ 1 8 9 8 ] ) u n d E. NORDEN ( K u n s t p r o s a [ 1 9 5 8 .

1

1898], 492-510)

einen Streit über den Stil der paulinischen Sprache. Diese Kontroverse tangiert einerseits den Umfang der paulinischen Sprachschulung (dazu unten [0.4.2]), andererseits wird auch dort die Rhetorik ganz auf eine Frage der Stilqualität reduziert. NORDEN hält die Betonung der hellenistischen Elemente bei HEINRICI für überzogen (499), räumt aber ein, daß fehlgeht, wer glaubt, die paulinischen Briefe "[entbehrten] auch im einzelnen jedes Aufputzes durch die kunstmäßige Rhetorik" (502). V g l . b e s . H . D . BETZ, P r o b l e m o f R h e t o r i c ( 1 9 8 6 ) , 16-21.

Die Erforschung von rhetorischen Einzelformen ist freilich auch nach WILKE und WEISS weiter betrieben worden, vgl. z.B. J. JEREMIAS, Chiasmus (1958) oder N. SCHNEIDER, Eigenart der paulinischen Antithese (1970) und zuletzt I.H. THOMSON, Chiasmus in the Pauline Letters (1995). Diesem Punkt kommt insbesondere bei den Korintherbriefen und dem Philipperbrief große Bedeutung zu, da hier verschiedene Briefteilungshypothesen diskutiert werden. Folgerichtig beginnen z.B. die Arbeiten von M. PÖTTNER (Realität als Kommunikation [1995]) zu IKor 1-4 und M. WÜNSCH (Der paulinische Brief 2Kor 1-9 als kommunikative Handlung [1996]) mit der literarkritischen Abgrenzung derjenigen Einheit, die

8

Einleitung

glaubte man den klassischen Aufbau einer antiken Rede von exordium bis peroratio wiederzuerkennen und ordnete gleichzeitig die Briefe einer der drei antiken Redegattungen zu. Die erkannten Phänomene wurden dabei konsequent mit den Kategorien und der Terminologie der antiken Rhetorikhandbücher16 und ihrer neuzeitlichen Synopsen 17 beschrieben. Die rhetorische Analyse, wie H.D. BETZ18 und seine Nachfolger sie verstanden haben19, ist ein formaler und historischer20 Zugang zum Text. Sie versucht jede Aussage in ihrem unmittelbaren und weiteren Kontextbezug zu erfassen und sie auf der synchronen Ebene zu interpretieren. Bei dieser Methode wird eine antike Texttheorie auf einen antiken Text angewandt. Sie grenzt sich somit gegenüber der sogenannten "Neuen Rhetorik" ab, die weniger von einem literarischen als von einem sprachphilosophischen Ausgangspunkt aus allgemein nach den Bedingungen der menschlichen Kommunikation fragt21 Die Reaktion auf die Arbeiten von BETZ und KENNEDY war, wie angedeutet, gespalten. Einige Exegeten machten sich die Methode der rhetorischen Analyse sogleich zu eigen und übertrugen sie entweder auf ausfuhrliche Studien zu den übrigen

rhetorisch betrachtet werden soll. Auch M . M . MITCHELL (Rhetoric of Reconciliation [ 1 9 9 2 ] , 6 ) formuliert als letzten Grundsatz ihrer rhetorischen Analyse: "The rhetorical unit to be examined should be a compositional unit, which can be further substantiated by successful rhetorical analysis" (im Original kursiv). MITCHELL betrachtet allerdings den 1. Korintherbrief als unitarische Briefkomposition. Ihr Widerspruch zur communis opinio zeigt deutlich, wie eng und interessengeleitet die Wechselseitigkeit zwischen literarkritischer Briefteilung und rhetorischer Analyse ist.

18

Die wichtigsten Quellen sind Aristoteles, Ars rhetorica; Cicero, De inventione und De oratore; die Rhetorica ad Herennium und Quintilian, Institutio oratoria (vgl. Kap. 5.1). R. VOLKMANN, Rhetorik ( 1 8 8 5 ) ; J. MARTIN, Antike Rhetorik ( 1 9 7 4 ) und vor allem H . LAUSBERG, Handbuch der literarischen Rhetorik ( 1 9 9 0 ) . Eine grundsätzliche Anfrage an das Rhetorikverständnis von BETZ wird unten ( S . 124ff) im Rahmen der Gattungsbestimmung vorgetragen. Vgl. auch den Forschungsüberblick speziell zum Galaterbrief bei R.D. Ancient Rhetorical Theory (1996), 111-123: "Recent Scholarship"

ANDERSON,

"Rhetorical Criticism [...] is one of the panoply of tools which bear the name "historicalcritical method " ( M . M . MITCHELL, Rhetoric of Reconciliation [ 1 9 9 2 ] , 6 ) . Ziel der "Neuen Rhetorik" ist eine Erneuerung der formalen Logik im Hinblick auf Texte. Es geht ihr um die "Logik der Werturteile" ( O . BALLWEG im Vorwort zu CH. PERELMAN, Das Reich der Rhetorik [ 1 9 8 0 ] , 2 ) . Zum Einfluß dieser von CH. PERELMAN und L. OLBRECHTS-TYTECA begründeten Forschungsrichtung auf die Paulusexegese vgl. bes. F. SIEGERT, Argumentation ( 1 9 8 5 ) .

Der forschungsgeschichtliche

Rahmen

9

Paulinen22 oder kritisierten - unter stillschweigender Akzeptanz der Methode - die vorgelegten Ergebnisse im einzelnen23 Andere stellten die Methode selbst in Frage, insbesondere den ausschließlichen Rekurs auf die Rhetorikhandbücher, weil dadurch die "Dialektik" zwischen der Theorie der Handbücher und den praktischen Anwendungen verschleiert werde24 In der Tat ist die praktische Beredsamkeit immer vielfältiger und elastischer gewesen als ihr theoretisches Regelwerk, und sie bemühte sich zudem, das zugrundeliegende System gerade nicht durchscheinen zu lassen25 Noch grundsätzlicher ist der Einwand, daß nicht ein rhetorischer, sondern der briefliche Charakter die Paulinen formal dominiere und sie deshalb nicht ohne weiteres mit mündlich vorgetragenen Reden parallelisiert werden könnten. Bis heute ist in bezug auf die Paulusbriefe eine befriedigende Verhältnisbestimmung von epistolographischen und rhetorischen Anteilen nicht gelungen. Theoretische Vorüberlegungen dazu und die kontroversen Positionen in der Forschung wird das nächste Kapitel (0.3) vorstellen. Da nun die vorliegende Untersuchung insgesamt darauf abzielt, die Ergebnisse eines rhetorischen und eines epistolographischen Zuganges zum Galaterbrief fruchtbar aufeinander zu beziehen, sind hier zunächst auch die grundlegenden26 Arbeiten zur Epistolographie zu nennen. Bisher war es in Abgrenzung gegenüber der rhetorisch ausgerichteten Paulusexegese gerechtfertigt, pauschal von der epistolographischen Fragestellung zu sprechen. Für sich allein betrachtet, ist die epistolographische Analyse jedoch ein mehrschichtiges und in ihren Teilen unterschiedlich intensiv bearbeitetes Phänomen. Sie orientiert sich ebenso an den theoretischen Aussagen der Antike über das Briefeschreiben27, wie sie erhaltene Briefe als Vergleichsmaterial heranzieht. Ob

V g l . z . B . d i e M o n o g r a p h i e n v o n M . BÜNKER, B r i e f f o r m u l a r ( 1 9 8 4 ) ; H. PROBST, P a u l u s

und der Brief (1991); M.M. MITCHELL, Rhetoric of Reconciliation (1992); ferner zum Judas- und 2. Petrusbrief: D.F. WATSON, Invention (1988) oder zum 1. Petrusbrief: L. THURÉN, Rhetorical Strategy (1990). Sofern dies den Galaterbrief betrifft, werden wir im Verlauf der Untersuchung auf diese Einwände zu sprechen kommen. V g l . F . VOUGA, G a t t u n g ( 1 9 8 8 ) , 2 9 1 f s o w i e G. STRECKER, L i t e r a t u r g e s c h i c h t e ( 1 9 9 2 ) , 91.

Zur Forderung der sog. dissimulatio

artis vgl. CLASSEN, Paulus und die antike Rhetorik

(1991), 31.

Die zahlreichen Spezialuntersuchungen dieser Forschungsrichtung zu Einzelphänomenen werden erst unten in konkreter Auseinandersetzung mit dem Befund des Galaterbriefes eingeführt. Die antiken Quellen sind zusammengestellt bei P. CUGUSI, Epistolografi latina (1983) u n d A . J . MALHERBE, E p i s t o l a r y T h e o r i s t s ( 1 9 8 8 ) .

10

Einleitung

diese Vergleichsbriefe durch die Überlieferung auf uns gekommen sind oder ob sie als auf Papyrus geschriebene Originale im Wüstensand gefunden wurden, macht für den Theologen nur den Unterschied, daß er entweder die Klassische Philologie28 oder die Papyrologie 29 um Hilfestellung konsultieren muß30 Aufschlußreiche Parallelen gibt es in beiden Bereichen zu entdecken. Um die erwähnte Mehrschichtigkeit der epistolographischen Fragestellung hervorzuheben, wird der folgende Überblick systematisch gruppiert31, da sich die meisten Arbeiten ihrem primären Blickpunkt nach einem der drei Stichworte: Briefgattung (1), Briefformular (2) oder Briefformeln (3) zuordnen lassen. (1) Wenn in der Literatur von der Briefgattung die Rede ist, muß unterschieden werden, ob damit die Gattung "Brief' selbst gemeint ist in ihrer spannungsreichen Breite zwischen der Kommunikationsform des "Privatbriefes" und der Literaturform des "Lehr- oder Kunstbriefes"32, oder ob hier einzelne Unterformen des Privatbriefes

28

Vgl. grundlegend H. PETER, Brief (1901), sowie die RECA-Artikel von C. DZIATZKO, Brief (1899) und J. SYKUTRIS, Epistolographie (1931). Einen Schwerpunkt auf die klassischen Autoren legt auch M.L. STIREWALT, Studies (1993). - Zu klassischen Briefen, die in erzählende Texte eingewoben sind (wie z.B. auch das Apostelschreiben [Apg 15,23-30] oder der Überstellungsrapport [Apg 23,26-30] in die Apostelgeschichte), vgl. M. VAN DEN HOUT, Early Greek Letter (1949).

29

Grundlegende Literatur und Materialsammlung: F. ZIEMANN, De formulis (1911); F.X.J. EXLER, Form of Greek Letter (1923); J.L. WHITE/K.A. KENSINGER, Categories

(1976) sowie die Liste der edierten Papyrusbriefe bei C.-H. KIM, Index (1982), die allerdings auch schon fiir die Zeit bis 1982 nicht vollständig ist. Mit dem Hinweis auf die Klassische Philologie und die Papyrologie ist für unsere Untersuchung eine methodische Prämisse verbunden. Hier wird nur die griechische und allenfalls lateinische Epistolographie als Referenz zum Galaterbrief berücksichtigt, während die jüdisch-aramäische Epistolographie ausgeklammert bleibt. Stellvertretend für sie sei auf die Arbeit von I. TAATZ, Frühjüdische Briefe [1991] verwiesen. Einen diachronen Forschungsüberblick bietet J. SCHOON-JANSSEN, Apologien (1991), 14-19. Weitere Forschungsberichte bei D.E. AUNE, Literary Environment (1987), 1 5 8 - 2 2 5 ; K . H . SCHELKLE, P a u l u s ( 1 9 8 8 ) , 3 - 6 ; G . STRECKER, L i t e r a t u r g e s c h i c h t e ( 1 9 9 2 ) , 6 6 - 9 5 u n d D . DORMEYER, L i t e r a t u r g e s c h i c h t e ( 1 9 9 3 ) , 1 9 0 - 1 9 8 .

Lehrbriefe sind z.B. die Briefe Epikurs, Kunstbriefe die in elegischen Distichen verfaßten Epistolae ex Ponto von Ovid. In beiden Fällen sind die angesprochenen Adressaten nicht mit den intendierten Lesern identisch.

Der forschungsgeschichtliche

Rahmen

11

unterschieden werden sollen wie Freundschafts-, Liebes- oder Empfehlungsbriefe33 Beide Komplexe sind von der Paulusforschung berührt worden: A. D E I S S M A N N führte die Unterscheidung zwischen dem unliterarischen Brief und der Epistel als literarischer Kunstform ein. Paulus schreibe in diesem Sinne "wirkliche Briefe", die nicht für Öffentlichkeit und Nachwelt, sondern nur für den Adressaten geschrieben seien34 Die Ausschließlichkeit dieser Alternative ist zu Recht kritisiert und inzwischen aufgegeben worden35, da das briefliche Kommunikationsgeschehen ungleich komplexer ist, als es diese Alternative zuläßt36 Gleichwohl kommt D E I S S M A N N forschungsgeschichtlich das Verdienst zu, den Weg dafür bereitet zu haben, daß die Exegese der Paulusbriefe aus ihrer innerbiblischen Isolierung heraustrat und fortan auch andere Zeugnisse antiker Korrespondenz zur Erklärung heranzog. Den Gegenpol zu dieser Tendenz bildet ein Aufsatz von K. B E R G E R 3 7 , in dem für die paulinischen Schreiben doch wieder eine genuin eigene Gattung reklamiert wird, die des "Apostelbriefes" B E R G E R verwies auf die "literarisch fixierte Rede theologisch verbindlicher Autoritätsfiguren im Judentum"38 und verwahrte sich gegen eine einseitige Herleitung der Gattung aus der Profangräzität.

Zwei Briefsteller der Antike sind erhalten, die Τύποι επιστολικοί des Pseudo-Demetrius und die ' Επιστολιμαίοι χαρακτήρες des Pseudo-Libanius, die mit 21 bzw. 41 Brieftypen und Musterbriefen eine Vielzahl von Unterformen vorgegeben haben. Vgl. insgesamt zur Problematik der Briefsteller: A. BRINKMANN, Briefsteller (1909); H. RABE, Briefsteller (1909); V WEICHERT, Demetrii et Libanii (1910); A.J. MALHERBE, Epistolary Theorists (1988). Zur Rezeptionsgeschichte dieser Musterbriefsammlungen vgl. L. ROCKJNGER, Briefsteller (1861, «on vidi) und K. ERMERT, Briefsorten (1979). Licht vom Osten (1923), 198. Z u r K r i t i k v g l . O . ROLLER, F o r m u l a r ( 1 9 3 3 ) , 2 3 - 2 8 ; W . G . DOTY, C l a s s i f i c a t i o n ( 1 9 6 9 ) ,

passim·, bes. 198: "The absolute distinction between Letter and Epistle should be dropped. Instead we should give specific [!] letters a relative position somewhere in the spectrum of private, intimate letters and open, public letters, taking their formal conventions and their content fully into account."

38

Dementsprechend hat D. TROBISCH (Paulusbriefsammlung [1989], 87) formuliert: "Es ist vielmehr die Funktion innerhalb des Kommunikationsgeschehens, die die Gattungen unterscheidet" Er unterscheidet zwischem einem "Privatbrief' als "Ersatz fur ein Gespräch", das im Moment nicht möglich oder erwünscht ist, und einem "offenen B r i e f , der "von Anfang an so konzipiert [ist], daß ihn neben dem Adressaten auch andere lesen können und sollen", sowie dem "Kunstbrief', bei dem der Adressat keinesfalls der intendierte Leser ist (ebd., 85f). Apostelbrief (1974). Ebd., 231.

12

Einleitung

Den Anstoß zur Erforschung einzelner brieflicher Unterformen, wie sie in den antiken Briefstellern vorgegeben sind, gab die Arbeit von K. THRAEDE39, der auf breiter Quellenbasis (Schwerpunkt Spätantike) die gattungsspezifischen Topoi des Freundschaftsbriefes herausstellte und ausgewählte Paulusstellen mit Blick auf diese Briefgattung untersuchte. Die Sammlung paganer und christlicher Briefe von ST.K. STOWERS weitet diesen Ansatz auf sechs Hauptbriefgattungen aus40, denen er ebenfalls Passagen aus neutestamentlichen Briefen zuweist. (2) Unter Briefformular versteht man den einheitlichen und festen Aufbau eines Briefes in seinen äußeren Teilen (besonders in Präskript und Postskript). Erst dieses Formular bindet alle Paulusbriefe - trotz ihres heterogenen Inhalts - zu einer formalen Einheit zusammen. Für diesen Aspekt der epistolographischen Betrachtung der Paulusbriefe ist bis heute die umfangreiche Monographie von O. ROLLER4' grundlegend. ROLLER vergleicht den Befund bei Paulus mit Cicero und anderen antiken Briefschreibern sowie mit den damals edierten Papyrusbriefen. Dieses Standardwerk besticht noch immer durch die Fülle des ausgewerteten Vergleichsmaterials. R.W FUNK erhob innerhalb der paulinischen Briefcorpora die Reisepläne ("travelogue") und die von ihm so genannte "eschatological climax" in den Rang eines festen Formularabschnittes 42 Ebenso bezeichnete er die "apostolic parousia" als ein strukturelles Merkmal der Paulinen 43 Damit initiierte er eine Diskussion um ein typisch paulinisches Formularelement, die bis heute andauert 44 D i e U n t e r s u c h u n g v o n F. SCHNIDER/W. STENGER45 b e h a n d e l t - w i e d i e v o n O. ROL-

LER - alle Teile des Formulars, beschränkt sich dabei aber auf einen innerneutestamentlichen Vergleich. Nicht nur die Formular-Forschung seit ROLLER ist eingearbeitet, sondern auch der Ansatz einer rhetorischen Briefexegese. So versuchen F. SCHNIDERAV STENGER in d e n P r o t o p a u l i n e n z w i s c h e n D a n k s a g u n g u n d B r i e f -

Brieftopik (1970). Letter Writing (1986), passim: "Letters of Friendship", "Family Letters", "Letters of Praise and Blame", "Letters of Exhortation and Advice" (unterteilt in: "Paraenetic Letters", "Letters of Advice", "Protreptic Letters", "Letters of Admonition", "Letters of Rebuke", "Letters of Reproach", "Letters of Consolation"), "Letters of Mediation" und "Accusing, Apologetic, and Accounting Letters" STOWERS Terminologie orientiert sich an Demetrius (s.o. Anm. 33). Formular (1933). Language (1966), 270. Apostolic Parousia (1967), 266. Vgl. zuletzt Β. BOSENIUS, Die Abwesenheit des Apostels als theologisches Programm (1994). 45

Briefformular (1987).

Der forschungsgeschichtliche

Rahmen

13

corpus ein festes Formularelement nachzuweisen, das analog zum Exordium einer Rede der "Ethos-Beschaffung" diene. Diesen Formularteil nennen sie "briefliche Selbstempfehlung" 46 Instruktiv ist auch die kommentierte Materialsammlung von R. BUZON zu Briefen und Urkunden der Ptolemäerzeit 47 Hier wird aus der Vielzahl der Beispiele zu verschiedenen Brief- und Urkundentypen jeweils ein Grundformular eruiert. Diese Studie zeigt die Bandbreite individueller Ausgestaltungsmöglichkeiten eines Grundformulars auf und macht darüber hinaus deutlich, wie nahe sich in der Antike Briefe und juristische Urkunden auf der Ebene des Formulars gewesen sind. Diese Einsicht kann unten dazu beitragen, die Formularbesonderheiten des Galaterbriefes zu interpretieren. Von den Studien zu einzelnen Formularteilen sei an dieser Stelle nur die unlängst erschienene Arbeit von J.A.D. WEIMA zu den paulinischen Briefschlüssen hervorgehoben 48 Diese Untersuchung überzeugt durch eine umfassende Aufarbeitung des papyrologischen Materials der neueren Editionen. WEIMA unterläßt es jedoch, die spezielle Gestaltung eines Briefschlusses, die ja gerade im Galaterbrief besonders auffällig ist, zu den anderen Formularmerkmalen desselben Briefes sowie zu seinem Inhalt in Beziehung zu setzen. (3) Briefformeln schließlich sind relativ fest vorgegebene Wendungen zu Beginn des Briefcorpus oder innerhalb des Corpus zu Beginn eines neuen Abschnittes. Sie haben fur den Empfänger als Einstimmung auf den Gesamtcharakter des Briefes oder als Gliederungshilfe einen hohen Signalwert. Diesem Briefmerkmal hat zuerst H. KOSKENNIEMI49 besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Er stellte stereotyp wiederkehrende, philophronetische Phrasen und Formeln der Papyrusbriefe zusammen, mit deren Hilfe persönlicher Kontakt und herzliche Verbundenheit zwischen den Korrespondenzpartnern ausgedrückt werden sollten. Später identifizierte C.J. BJERKELUND50 die von Paulus mehrfach gebrauchte Wendung παρακαλώ ούν [δέ] ύμάς, αδελφοί, κτλ. (z.B. Rom 12,1; lKor 1,10 u.ö.) als feststehende Briefformel, wie sie auch in den Papyri allenthalben zu finden ist. Vor allem aber die Arbeiten von J.L. WHITE51 sekundiert von T.Y MULLINS52 - ließen durch eine

Ebd., 50-68. Die Briefe der Ptolemäerzeit (1984). 48

Neglected Endings ( 1994). Idee und Phraseologie (1956). Parakalo (1967). Introductory Formulae (1971), Letter-Body (1972), Light ( 1 9 8 6 ) u.a.

52

Formulas (1972).

14

Einleitung

kontinuierliche Ausweitung des papyrologischen Vergleichsmaterials diesen Aspekt zu einem eigenen Forschungsfeld der epistolographischen Paulusexegese werden. So ist es z.B. heute allgemein anerkannt, daß die Wendung ού θέλω δέ ύμάς άγνοείν κτλ. (z.B. Rom 1,13; 11,25 u.ö.) mit einer "disclosure formula" zusammenfällt, wie sie oft in der zeitgenössischen Alltagskorrespondenz zu Beginn des Briefcorpus anzutreffen ist. Abschließend sind noch zwei neuere Arbeiten zu nennen, die weitere Gesichtspunkte der epistolographischen Fragestellung thematisiert haben: D. TROBISCH53 betont, daß durch die redaktionelle Zusammenfassung der Paulusbriefe das so entstandene Corpus Paulinum zu einer anderen literarischen Gattung übergewechselt sei. Nicht mehr auf der Ebene des Einzelbriefes, sondern auf der der Briefsammlung seien die Paulusbriefe mit anderen antiken Briefcorpora zu vergleichen. Und E.R. RICHARDS54 fragt in Anlehnung an G.J. BAHR55 nach dem Einfluß der antiken Schreiber und Sekretäre auf die formale und inhaltliche Gestaltung der Briefe. Unter Verweis auf Ciceros Sekretär Tiro, dessen Einfluß und Selbständigkeit er nachzeichnet, ist E.R. RICHARDS geneigt, auch den Schreibkräften des Paulus eine größere Bedeutung zuzuschreiben, als dies gemeinhin geschieht56 Die bisher vorgestellten Arbeiten ließen sich ihrem primären Interesse nach entweder der rhetorischen oder der epistolographischen Fragestellung zuordnen. Einzig bei SCHNIDER/STENGER klang an, daß bestimmte Formularelemente auch eine rhetorische Dimension besitzen. Unser Anliegen ist es aber, beide Betrachtungsweisen miteinander ins Gespräch zu bringen.

Paulusbriefsammlung (1989). Secretary (1991). Paul and Letterwriting (1966). 56

In diesem Sinne hat sich auch J.D. HESTER (Use and Influence of Rhetoric [1986]) geäußert, der aufgrund der rhetorischen Qualität des Galaterbriefes gar in Erwägung zieht, daß Paulus dessen genaue Ausarbeitung delegiert haben könnte: "Given the unique features of this letter [...] ought we not consider the idea that Paul did not write this letter? That is not to say that Paul was not its author, only that he left its composition to one carefully versed in rhetoric" (408).

0.3

Das methodologische Verhältnis von Rhetorik und Epistolographie

"Was die Forschung noch weiter zu untersuchen hat, ist das Verhältnis von Rhetorik und Epistolographie im Blick auf die Paulinen." Dieser Auftrag, den H . H Ü B N E R in seiner Rezension zu BETZ' Galaterkommentar formulierte 1 , ist bis heute nicht erfüllt, und es ist immer noch strittig, bis zu welchem Grad es methodologisch legitim ist, auf die paulinischen Briefe das Regelwerk der klassischen Rede zu projizieren. In der theoretischen Diskussion 2 klingen die unterschiedlichen Standpunkte in dieser Frage recht unversöhnlich, während bei der Arbeit am konkreten Text ein pragmatischer Mittelweg beschritten wird. Die grundsätzliche Differenz zwischen Epistolographie und Rhetorik haben zuletzt mit Nachdruck C.J. CLASSEN3 und ST. E. PORTER4 betont. Die Paulinen seien ihrer Form nach Briefe; und fiir Briefe gebe es nur hinsichtlich des Prä- und Postskripts Vorgaben fiir die Gestaltung, während die Struktur des Briefcorpus (abgesehen von gewissen Einleitungs- und Überleitungsformeln) sehr frei sei. Dabei wird auf die Ergebnisse der oben erwähnten epistolographischen Paulusforschung verwiesen und vor allem auf Aussagen der antiken Theoretiker, die davor warnen, Briefe nach rhetorischer Manier zu gestalten5 Eine Adaption der Rhetoriktheorie zur Erklärung

Verhältnis (1984), 249. Zum Stand der Diskussion vgl. L. THURÉN, Rhetorical Strategy (1990), 57-64, G. STRECKER, L i t e r a t u r g e s c h i c h t e (1992), 8 9 - 9 5 u n d ST.E. PORTER, T h e o r e t i c a l J u s t i f i c a t i o n (1993), 100-103.

Paulus und die antike Rhetorik (1991), passim, bes. S.13: "Zunächst sind Rhetorik und Epistolographie nach antikem Verständnis zwei verschiedene Dinge, die Betz nicht so klar trennt, wie es notwendig ist" - sinngemäß zuletzt bekräftigt in der Miszelle: Rhetorische Analyse (1995). Theoretical Justification (1993). Sein Fazit lautet: "There is [...] little if any theoretical justification in the ancient handbooks for applications of the formal categories of the species and organization of rhetoric to analysis of the Pauline epistles" (1 ISODemetrius, eloc. 229: "Es wäre ja lächerlich, in Perioden zu schreiben, gleich als schriebe man keinen Brief sondern eine Prozeßrede" (γέλοιον γαρ περιοδεΰειν, ώσπερ ούκ έπιστολήν άλλα δίκην γράφοντα). Gleichzeitig aber hält er eine gewisse Ausarbeitung - mehr als ein Gespräch - durchaus für angebracht, da der Brief als eine Art Geschenk gesandt werde (224). - Cicero (ad fam. IX 21,1 vulg. [= 24,1 Kasten]) gesteht sich in Briefen stilistisch sogar "Straßenjargon" zu und begründet dies mit der Differenz von Brief und Rede: nonne [videor] plebeio sermone agere tecum? nec enim semper eodem modo, quid enim simile habet epistula aut iudicio aut contioni? - Auch Seneca weist die Forderung nach sorgfältig stilisierten Briefen zurück. Seine Briefe sollen eher wie ein ungezwungenes Gespräch auf einem Spaziergang klingen: qualis sermo meus esset, si una desideremus aut ambularemus, inlaboratus et facilis, tales esse epistulas meas volo (ep. 75,1).

16

Einleitung

der paulinischen Briefe sei daher aus sachlichen Gründen abzulehnen 6 oder allenfalls als sekundärer Zugang angemessen, zumal bei dem brieflichen Rahmen immer ein Rest bliebe, der sich auf diese W e i s e nicht adäquat erfassen lasse. D a g e g e n hat A.J. MALHERBE eine enge theoretische Zusammengehörigkeit v o n Epistolographie und Rhetorik reklamiert 7 , w o f ü r sich ebenfalls ein antiker Z e u g e aufbieten läßt. In den Π ρ ο γ υ μ ν ά σ μ α τ α des T h e o n v o n Alexandrien, einer Art Curriculum oder Lehrerhandbuch 8 für den Schulunterricht des 1. Jh. n. Chr., wird das A b f a s s e n fiktiver Briefe unter d e m rhetorischen Stichwort der π ρ ο σ ω π ο π ο ι ΐ α 9 aufgeführt 10 Die Schüler sollen sich in die Lage und Umstände eines vorgegebenen

So bestreitet z.B. PH.H. KERN entschieden die Relevanz der Rhetorik für den Galaterbrief: "Galatians was not written in conformity with Greco-Roman rhetoric" (Rhetoric, Scholarship and Galatians [1995], 201). In seiner Dissertation (Rhetoric and Galatians [1998]) entfaltet er diese These und versucht nachzuweisen, daß die letzten 20 Jahre der rhetorischen Paulusexegese ein methodologischer Irrweg gewesen seien: "[S]ince the handbooks were never intended as a basis for analysing texts, and are not very helpful when used to analyse non-classical texts, they should not be used for that purpose" (258). Dieser Umstand, daß die antiken Rhetorikhandbücher ein Produktions- und kein Analysehilfsmittel waren, wird von den Vertretern der rhetorischen Paulusexegese nicht bestritten. Sie verweisen aber auf die weiterführenden Einsichten, wenn man sich trotzdem auf eine derartige Analyse einläßt; und gerade dieser Verifizierung am konkreten Text stellt sich KERN nicht. Seine Studie thematisiert lediglich auf einer Metaebene die theoretischen und methodologischen Aussagen seit der Antike, die fur oder gegen eine rhetorische Analyse des Galaterbriefes sprechen. Die Aussagen und das Sachanliegen des paulinischen Textes geraten dabei außer Blick. Epistolary Theorist (1988), 2: "Epistolary theory in antiquity belonged to the domain of the rhetoricians, but it was not originally part of their theoretical system. It is absent from the earliest extant rhetorical handbooks, and it only gradually made its way into the genre" Vgl. J.R. BUTTS, Progymnasmata [1986], 23: "Theon's textbook is without a doubt written for the teacher and not for the student", sowie die Charakterisierung dieser Quelle bei R.D. ANDERSON, Ancient Rhetorical Theory (1996), 62-65. Antike Definitionen der προσωποποιΐα (bisweilen auch ηθοποιία genannt) und Belege bei LAUSBERG, §§ 820-825 u. 1131 f. Προσωποποιΐα έστι προσώπου παρεισαγωγή διατιθεμένου λόγους οικείους έαυτώ τε και τοις ύποκειμένοις πράγμασιν άναμφισβητήως- οίον, τίνας άν εϊποι λόγους άνήρ προς την γυναίκα, μέλλων άποδημεϊν. και έπι ώρισμένων δε προσώπων οίον, τίνας άν εϊποι λόγους Κύρος έλαύνων έπί Μασσαγέτας. [...] ύπό δέ τούτο το γένος της γυμνασίας πίπτει και [...] το τών επιστολικών (Kap. 10, ρ. 115 [ed. Spengel]). "[Über die Dramatisierung:] Prosopopoiïa ist die Einführung einer Person (als Rolle), wobei sie in unstrittiger Weise passende Wörter für sich selbst und die zugrundeliegenden Umstände ordnet. Z.B. welche Worte ein Mann zu seiner Frau sagen dürfte, wenn er zu verreisen gedenkt. Auch bei definierten Personen: Z.B. welche Worte Kyros sagen sollte, wenn er gegen die Massageten auszieht. [...] Unter diesen Bereich der Übungen fällt auch das Briefeschreiben." - J.R. BUTTS (Progymnasmata [1986], 457-460) kommentiert das Phänomen

Das Verhältnis

von Rhetorik

und

Epistolographie

17

Charakters oder einer historischen Person hineinversetzen, um dessen Redeweise nachzuahmen und ihm angemessene Worte (λόγους οικείους) in den Mund zu legen. A u c h ein Redner stellt sich im Vorfeld auf die Charaktere (τά ήθη) seiner Zuhörer ein, u m die Wirkung seiner Rede zu erhöhen", und muß zugleich seinen eigenen Charakter glaubwürdig präsentieren' 2 Die Kunst und Notwendigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können, ist demnach ein wichtiges Bindeglied zwischen Rhetorik und Epistolographie. Zudem wurden die Briefe des Paulus in den Gemeinden vorgelesen, wodurch zumindest mittelbar eine rhetorische Vortragssituation gegeben war. Während nun die Kritiker einer engen Verbindung von Epistolographie und Rhetorik auf die antiken Theoretiker verweisen 1 3 , machen die Befürworter für sich das evidente Faktum geltend, daß sich "auch in knappen privaten Mitteilungen [...] bei gebildeten Verfassern wie von selbst ein sorgfältig kalkulierter Aufbau [einstellt]" 14 In der Großgattung "Brief 1 , die sich v o m einzeiligen privaten Billett über einen seitenlangen Geschäftsbrief bis hin zum buchdicken moral-philosophischen Essay erstreckt, scheint die Vielfalt in bezug auf Umfang 1 5 , Inhalt oder Stil gegenüber der

der προσωποποιΐα ausfuhrlich und verweist dabei (460, Anm. 4) auf den spätantiken Rhetor Nicolaos von Myra (um 450 p ), der ebenfalls in der προσωποποιΐα eine Verbindung zwischen Rhetorik und Epistolographie erkannte. - Ovid hat in seinen Heroides, einer Sammlung fiktiver Briefe in elegischem Versmaß, die mythische Frauen an ihre fernen Geliebten schreiben (z.B. Medea an Jason), die προσωποποιΐα zu einer literarischen Kunstform erhoben. Als solche ist sie auch in der zeitgenössischen Belletristik noch anzutreffen (vgl. Christine Brückner, Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen [1984]). Vgl. die Charaktereologie bei Aristoteles (rhet. II 12-17). Das ήθος του λέγοντος gehört zu den έντέχνοι πίστεις und besitzt laut Aristoteles die größte Überzeugungskraft überhaupt (άλλα σχεδόν ώς ειπείν κυριωτάτην εχει πίστιν το ήθος [rhet. I 2,3f, 1356*1-13]). S.o. Anm. 5. Μ. v. ALBRECHT (Geschichte der römischen Literatur [1992], 411). Diese These belegt v. ALBRECHT durch die rhetorische Skizze eines Pliniusbriefes (ep. I I I ) . Der nur wenige Zeilen lange Brief folgt dem typischen Redeaufbau: Anfangsthese, Einwand, Argumentation, Peroratio. Entsprechendes hat H. PHILIPS (Zeitkritik [1976], 370) anhand eines anderen Pliniusbriefes (ep. II 6) bestätigt, und unten (S. 27 Anm. 26) kann es nochmals bei einigen Senecabriefen gezeigt werden. Ferner hat F.W HUGHES (Early Christian Rhetoric [1989], 47-50) im 1. Brief des Demosthenes den Aufbau einer deliberati ven Rede nachgewiesen. Im "Wörterbuch für Rhetorik" konstatiert W.G. MÜLLER (Brief [1994], Sp. 62): "Der B[rief] wurde in Stil und Aufbau den Gesetzen der Rhetorik unterworfen" Der Umfang ist kein zuverlässiges Unterscheidungskriterium zwischen Brief - etymologisch herzuleiten aus breve [scriptum] - und Rede, denn bereits Isokrates (ep. 2,13fi„) mußte in einem Brief einräumen: "Unmerklich glitt ich über das rechte Maß eines

18

Einleitung

ebenfalls komplexen Gattung "Rede" nochmals potenziert zu sein. Gerade die schwierige Abgrenzung zwischen "echtem" Privatbrief und literarischem Kunstbrief hat, wie oben erwähnt, auch die Paulusforschung lange beschäftigt. Wenn man jedoch trotz der vielfältigen Erscheinungsformen zu beschreiben versucht, was einen Brief konstituiert, so wird man unweigerlich dieselben Elemente nennen, die seit Aristoteles auch das kommunikative Dreieck einer Rede konstituieren16: den Ich-Bezug des Schreibers (ό λέγων), den Du-Bezug des Adressaten (προς ôv λέγει = ό ακροατής) und den Sach-Bezug der Mitteilung 17 (περί ού λέγει). Oft aber werden diese theoretischen Überlegungen ausgeblendet 18 Seit H.D. BETZ und G.A. KENNEDY schlägt man vielfach den pragmatischen Weg ein, die Paulusbriefe als verschriftlichte Reden mit typisch epistolographischem Anfang und Ende zu analysieren 19 Der Text wird geradezu zweigeteilt in einen "brieflichen" Rahmen (beim Galaterbrief 1,1-5 und 6,11-18) und einen "rhetorischen" Mittelteil, wobei allenfalls dem Postskript noch zusätzlich eine rhetorische Funktion zuerkannt wird20

Briefes hinaus und verlor mich in der Länge einer Rede" (και γαρ νυν κατά μικρόν προϊών ελαθον έμαυτόν ούκ εις επιστολής συμμετρίαν άλλ' εις λόγου μήκος έξοκείλας). Seneca formuliert als Richtwert fur die Länge eines Briefes, daß er nicht die linke Hand des Lesers füllen darf (sed ne epistulae modum excedam, quae non debet sinistram manum legentis implere, eqs. [ep. 45,13b]), freilich ohne sich selbst an diese Vorgabe zu halten. - Wie sehr Brieflängen schwanken können, belegen folgende Zahlen: Ciceros Briefe umfassen 22 bis 2530 Wörter, Senecas 149 bis 4134 und Paulus' 355 bis 7101, zitiert nach P.J. ACHTEMEIER, Omne verbum sonat (1990), 22 Anm. 137. 16

18

R h e t . I 3,1 (1358 A 37-58 B 2), vgl. LAUSBERG, § 59.

Zur Definition eines Briefes vgl. W.G. MÜLLER, Brief (1994), Sp. 60f. MÜLLER bezeichnet dort die drei aufgeführten Elemente als "Hauptkonstituenten brieflicher Kommunikation" Eine Ausnahme ist hier der Beitrag von J.T. REED (The Epistle [1997]), der die Quellen umfassend auswertet und überprüft, inwiefern hinsichtlich der rhetorischen Gattung und der rhetorischen Arbeitsschritte der inventio, dispositio und elocutio entsprechende Vorgaben bei den Brieftheoretikem zu finden sind. Sein Fazit unterstützt den methodischen Ansatz dieser Arbeit, die epistolographisch und rhetorische Analyse miteinander zu verbinden: "In sum, the rhetorical and epistolary genres may have been betrothed, but they were never wed. Nevertheless, classical and modern theories of rhetoric, when used judiciously and mostly descriptively, may often provide heuristic tools for the analysis and understanding of ancient letters" (192). Diese Einschätzung hatte Κ. BERGER (Apostelbrief und apostolische Rede [1974]) vorbereitet, als er die Apostelbriefe als "schriftlich fixierte, adressierte apostolische Rede" bezeichnete (231 ). So bei B.H. BRINSMEAD, Dialogical Response (1982), 57-87; V JEGHER-BUCHER, Galaterbrief (1989); A. PITTA, Disposizione (1992) und I.-G. HONG, Law (1993). Es ist verwunderlich, daß JEGHER-BUCHER trotz des im Titel formulierten Anspruches ("Der Galaterbrief auf dem Hintergrund antiker Epistolographie und Rhetorik") die innere

Das Verhältnis von Rhetorik und Epistolographie

19

Diese sequentielle Betrachtung sollte aber, wie oben postuliert, von einer konkurrierenden und korrigierenden Verbindung beider Analysemethoden im Hinblick auf den gesamten Text abgelöst werden21 Zugleich muß der Horizont erweitert werden, in dem das Verhältnis von Epistolographie und Rhetorik in den Paulinen bestimmt wird. Übergeordnet ist diesem das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Unlängst ist in mehreren Beiträgen noch einmal in Erinnerung gerufen worden, daß die Antike viel stärker von der Mündlichkeit bestimmt wurde als unsere Zeit22 Texte rezipierte man nicht still, sondern man las halblaut oder ließ sie sich vorlesen23 Für Briefe galt zudem, daß ihr Inhalt nicht selten durch mündliche Nachrichten ergänzt24 wurde, da sie durch persönliche Boten befördert wurden oder von Privatpersonen, die zufällig an den Bestimmungsort reisten25 Diesen Gesichtspunkten, die das gesprochene Wort aufwerten, ist auf der anderen Seite die Bedeutung und besondere Funktion der schriftlich fixierten Sprache entgegenzuhalten. Cicero z.B. hat seine Reden nicht nur vorgetragen, sondern nachträglich noch einmal überarbeitet und zumeist aus apologetischen Gründen publiziert (so In L. Catilinam I-IV). Zahlreiche Papyri wiederum belegen, daß auch

Spannung zwischen diesen Bezugsgrößen völlig ignoriert. Die beiden ersten Kapitel dieser Arbeit ("Der Galaterbrief als antiker Brief [8-47] und "Der Galaterbrief als Rede" [41-81]) stehen beziehungslos nebeneinander. - Eine Ausnahme macht die Arbeit von G.W. HANSEN (Abraham in Galatians [1989]), die versucht, auch jenseits von Prä- und Postskript brieftypische Merkmale aufzuzeigen (ebd., 19-94). Auf seine konkreten Beobachtungen werden wir unten zurückkommen. L. THURÉN (Rhetorical Strategy [1990], 58) schickt seiner Analyse des IPetr zu Recht voraus, daß beide Analyseschritte Anspruch auf den gesamten Text erheben: "They [sc. the perspectives of rhetoric and epistolography] answer types of questions so dissimilar that the whole text, including the opening and the ending can be analyzed with both methods. [...] Epistolography should be regarded as concentrating on the vehicle, mainly concerned with external, formal conventions of letter writing, although we must not forget that it also deals with many functional conventions typical of the medium" Vgl. P.J. ACHTEMEIER, Omne verbum sonat (1990); P.J.J. BOTHA, Verbal Art (1993); P. MÜLLER, "Verstehst Du auch, was Du liest" (1994) und G. SELLIN/F. VOUGA, Logos und Buchstabe (1997); aber auch schon J. BALOGH, Voces paginarum (1927). Die antiken Belegstellen sind verzeichnet bei J. BALOGH, ebd., 88-109 und P. MÜLLER, ebd., 18-25. Am Rande sei erwähnt, daß die fehlende Option zur Ergänzung oder Verteidigung des eigenen λόγος das zentrale Argument der platonischen Schriftkritik war (Phaidr., 274 Β 278 E, bes. 275 E). Zum Nachrichtenwesen vgl. jetzt (neben der klassischen Studie von W RIEPL [1913]) auch ST.R. LLEWELYN, Sending Letters (1995), 339-249: "The Post in the Ancient World".

20

Einleitung

diejenigen, die selbst nicht lesen und schreiben konnten, gezwungen waren, mit einer auf Schriftlichkeit beruhenden Verwaltung zu kommunizieren 26 Das besondere Gewicht der Schriftlichkeit liegt darin, daß durch sie Wortlaut und Authentizität überprüfbar werden, was für Verwaltung und Justiz unabdingbar ist27 Auch die getreue Reproduktion längerer Mitteilungen und ihre sekundäre Rezeption unabhängig vom historischen Augenblick und über den explizit angesprochenen Adressaten hinaus ist nur in schriftlicher Form möglich. Die Wechselwirkungen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die sich auch in der Diskussion um Epistolographie und Rhetorik in den Paulinen manifestieren, sind also sehr vielschichtig. Deshalb ist es m.E. verwunderlich, daß die Schwächen einer rhetorischen Paulusexegese lange in Kauf genommen wurden, ohne daß im Gegenzug die Schriftlichkeit selbst angemessen gewichtet wurde 28 Eine briefliche Kommunikation ist nämlich nicht zwingend alleine durch die räumliche Ferne von Absender und Empfänger bedingt, sondern sie kann auch bewußt gesucht werden, weil der Schriftlichkeit selbst ein eigener Informationsgehalt zukommt. Paulus jedenfalls akzentuiert im Galaterbrief die Schriftlichkeit zweimal metakommunikativ (1,20; 6,11), während er gleichzeitig einräumen muß, daß ihm sprachliche Vorteile der mündlichen Kommunikation nicht zur Verfügung stehen (4,20).

28

Dazu ausführlich unten in Kap. 1.2. Bezeichnenderweise ist das älteste schriftliche Zeugnis fur die lateinische Sprache ein Gesetzestext (das Zwölftafelgesetz, etwa um 450a), niedergeschrieben mit der Vorgabe, das geltende Recht für jedermann nachprüfbar zu fixieren. Vgl. jedoch H.M. WÜNSCH, Der paulinische Brief 2Kor 1 -9 als kommunikative Handlung (1996), 24-30: "Schriftlichkeit als konstitutives Merkmal des Briefes" WÜNSCH hebt dort vor allem auf die rezeptionsästhetische Unterscheidung von textinternen und textexternen Kommunikationsteilnehmem ab: "Muß der präsente Redner lediglich darauf achten, daß er nicht hinter seiner Rede verschwindet, so ist der Briefschreiber, der zunächst hinter seinem Brief steht, genötigt, sich im Text selbst in den Vordergrund zu 'schreiben', um seinen Adressaten auf diese - vermittelte - Weise präsent zu sein. Er wird von ihnen im Text wahrgenommen" (25, Hervorhebung im Original).

0.4

Paulus und die Rhetorik

0.4.1 Die explizite Kritik an der Rhetorik Wie stellt Paulus selbst seine sprachlichen Fähigkeiten dar und welche Position bezieht er gegenüber rhetorisch stilisierter Sprache? In 2Kor 11,6 bezeichnet er sich als ιδιώτης 1 τω λόγω und streitet an anderer Stelle ab, mit herausragenden Fähigkeiten in Redekunst und menschlicher Weisheit aufgetreten zu sein (ήλθον ού καθ' ύπεροχήν λόγου ή σοφίας [lKor 2,1]). Seine Verkündigung sei weder durch überzeugende Worte der Weisheit erfolgt (το κήρυγμά μου ούκ έν πειθοΐ[ς] σοφίας [λόγοις], lKor 2,4) noch habe er geschmeichelt (ούτε γαρ έν λόγω κολακείας έγενήθημεν [lThess 2,5]). Auch strebe er nicht danach, Menschen (nur) zu überreden (πείθειν) und ihnen zu gefallen (άρέσκειν [Gal 1,10]). Auf den ersten Blick artikulieren diese Stellen 2 eine kritische Ablehnung rhetorischer Praktiken. Läßt sich aber eine derart explizite Distanz zur Rhetorik mit einer Analysemethode vereinbaren, die behauptet, daß sie Paulus in seinen Briefen vielfaltige rhetorische Strukturen nachweisen könne? Der Widerspruch ist jedenfalls zu gravierend, als daß man ihn mit dem Hinweis übergehen könnte, in Korinth hätten die Gegner des Paulus zwischen seiner Schwäche im mündlichen Vortrag und seiner Stärke im schriftlichen Ausdruck unterschieden (2Kor 10,10), und folglich gelte für seine Briefe ein anderer Maßstab als für seine Missionspredigt 3 Jene Aussagen zur Rhetorik stehen bei Paulus nicht absolut, sondern sind regelmäßig in eine Antithese eingebunden. Jeder Zurückweisung rhetorischer πειθώ und menschlicher Weisheit steht positiv im unmittelbaren Kontext christliche πίστις und eine spezielle christliche Erkenntnis gegenüber: Als ιδιώτης τω λόγω ist Paulus dennoch ein [έπιστάμενος 4 ] ττ} γνώσει (2Kor 11,6). Seine Predigt erfolgt zwar nicht έν πειθοΐ[ς] σοφίας [λόγοις], aber έν αποδείξει πνεύματος και δυνάμεως (lKor 2,4, ähnlich lThess 1,5); und die so geweckte πίστις liegt folglich nicht έν σοφία

'Ιδιώτης bezeichnet den einfachen und durchschnittlichen "Privatmann" im Gegensatz zu einem politischen Würdenträger oder den "Laien" im Gegensatz zu dem, der in einer Kunstfertigkeit oder Wissenschaft besonders ausgebildet ist (vgl. BAUER, s.v.). 'Ιδιώτης ist also ein relationaler Begriff, der implizit einen Vergleich (etwa mit Paulus1 Widersachern in Korinth) mit einschließt. Verbindet man diese paulinische Selbstbezeichnung unabhängig von dem Problem, ob in 2Kor 11,6 vielleicht ein Bescheidenheitstopos vorliegt - mit der dreistufigen Gliederung der antiken Ausbildung (hierzu ausfuhrlich in 0.4.2), dann soll sie wohl besagen, daß Paulus die letzte Stufe einer rhetorischen Spezialausbildung fehlt. Eine Synopse der paulinischen Selbstzeugnisse über seine Sprachkunst bietet F SlEGERT, Argumentation (1985), 249f. 2Kor 10,10: ότι αί έπιστολαι μέν, φησίν, βαρεϊαι και ϊσχυραί, ή δε παρουσία τού σώματος ασθενής και ό λόγος έξουθενημένος. Der "Fachmann" (ό έπιστάμενος) ist der Gegenbegriff zu ιδιώτης. Paulus selbst formuliert in 2Kor 1 l,6aß mit Hilfe einer Verneinung.

22

Einleitung

ανθρώπων, sondern έν δυνάμει θεού (lKor 2,5). Richtschnur seiner Rede ist nicht vordergründige Zustimmung der Menschen, sondern ein göttlicher Auftrag und der Dienst fur Christus (IThess 2,3ff; Gal 1,10). "Was Paulus abstreitet, ist σοφία als inhaltlich bestimmte philosophische Plausibilität und λόγος im Sinne der zünftigen Rhetorik, die die Anpassung an die Stilkriterien einer Bildungsschicht verlangte und sich zum obersten Ziel setzte, das Auditorium über die Gefühle zu manipulieren, ohne Rücksicht auf Wahrheit"5 Somit lehnt der Apostel in den fraglichen Passagen nicht pauschal jede Form von Rhetorik ab, sondern verwahrt sich speziell gegen eine blendende sprachliche Fassade, die zwar vordergründig gefallen und deshalb schnelle Zustimmung finden kann, der aber das Fundament des Evangeliums fehlt. Leichter verständlich wird diese Unterscheidung, wenn man sich vergegenwärtigt, daß sie weitgehend mit einer älteren Differenzierung zwischen verschiedenen Rhetorik-Modellen zusammenfällt. Eng an antike philosophische Richtungen gebunden, lassen sich nämlich mindestens drei Modelle unterscheiden6: eine sophistische Rhetorik, die ästhetisch wohlgefällig und erfolgsorientiert auf schnelle Zustimmung abzielt, eine platonische Rhetorik, die ethische Verantwortung und philosophische Wahrheit einklagt sowie durch kleinschrittige Überzeugungsarbeit die Erkenntnis jener Wahrheit vermitteln will, und schließlich eine aristotelische Rhetorik, die mit theoretischem Interesse und wissenschaftlicher Distanz sprachliche Kommunikation beschreibt. Während der Hochblüte Athens im 5. und 4. Jh. haben sich diese unterschiedlichen Modelle innerhalb von drei Generationen herauskristallisiert, und ihre erste Ausformulierung zielte jeweils auf Abgrenzung gegenüber einer konkurrierenden Schule oder auch gegenüber dem eigenen Lehrer. Jedes dieser Modelle akzentuiert einen Teilaspekt des komplexen Phänomens "Rhetorik" Da nun jeder Sichtweise eine gewisse Berechtigung zukommt, verwundert es nicht, daß diese im Laufe der Zeit zusammenflössen und sich die Rhetorik zur Zeit des Paulus in einem schillernden Gewand präsentierte, denn eine tatsächliche Integration der widersprüchlichen Modelle war nicht möglich. Die Rhetorik changiert seitdem ambivalent zwischen einem Instrument zur sprachlichen Massenmanipulation und einer sprachlichen Kommunikationstheorie. Auch bei Paulus selbst zeigt sich in der Spannung zwischen expliziter Distanz und impliziter Anwendung der Rhetorik ein Reflex dieser Ambivalenz. Paulus ist - wie es F. SLEGERT formuliert hat - "der theologische Klassiker" für das "Phänomen der Rhetorik gegen die Rheto-

F. SIEGERT, A r g u m e n t a t i o n ( 1 9 8 5 ) , 2 5 0 . 6

Einen Überblick über die Geschichte der Rhetorik bieten M. FUHRMANN, Antike Rhetorik ( 1 9 8 7 ) , 1 5 - 7 4 u n d G. UEDING, K l a s s i s c h e R h e t o r i k ( 1 9 9 5 ) , 1 1 - 5 2 ; z u d e n D e f i n i t i o -

nen der Rhetorik bei Piaton und Aristoteles vgl. grundlegend A. HELLWIG, Theorie der Rhetorik ( 1 9 7 3 ) , 24-63.

Paulus und die Rhetorik

23

7

rik" Bevor wir die Eigenart der paulinischen Rhetorik weiter vertiefen, ist es hilfreich, zunächst jene drei Rhetorik-Modelle in der gebotenen Kürze zu skizzieren. Mit der sophistischen Rhetorik verbindet sich sogleich die negative Konnotation von spitzfindiger Wortklauberei und haarspalterischer Rechtsverdrehung. Doch dieses Bild ist verzerrt und maßgeblich von der platonischen Kritik geprägt 8 Tatsächlich hatten die Sophisten mit ihrem radikalen Skeptizismus verdienstvollen Anteil an der griechischen Aufklärung. Die meist hinzugewanderten "Lehrer der Weisheit" unterwiesen gegen Besoldung interessierte Bürger in verschiedenen Disziplinen, besonders aber in der Rhetorik, womit sie den Erfordernissen der Gerichtspraxis und der Demokratie nachkamen. Hilflos war nämlich ihrer Meinung nach, wer sich, einmal unter Anklage gestellt, vor Gericht nicht mit "Wohlklang seiner Taten" (πραγμάτων εύμουσία) verteidigen konnte 9 Ihre Rhetorik war somit auf sinnliche Schmeichelei und gefalligen Rhythmus ausgerichtet, mehr aber noch am pragmatischen Erfolg orientiert. Ihr proklamiertes Ziel lautete, "die schwächere Meinung zur stärkeren zu machen" (τον ήττω λόγον κρείττω ποιείν' 0 ). Da es für die Sophisten keine absolute Wahrheit gab, konnte die geschickte Rede einer ethisch guten wie einer verwerflichen Sache gleichermaßen dienen. Sie bauten auf die Macht der Rede (λόγος δυνάστης μέγας έστίν) und demonstrierten sie - und sei es nur im rhetorischen Spiel -, indem sie aus einem Mörder einen Edelmann machten oder Helena, die meistgescholtene Frau der Antike, von jeder Schuld freisprachen" Prominente Vertreter der sophistischen Rhetorik waren Gorgias aus Leontinoi (ca. 480-380) und Antiphon aus Athen (ca. 480-404). Isokrates (436-338), ein Schüler von Gorgias und selbst ein erfolgreicher Redner, gründete eine Schule der Beredsamkeit, womit er den Grundstein für die Verankerung der Rhetorik im Bildungssystem der Antike legte. Isokrates war der "Vollender der Sophistik"'2 Viele seiner Reden sind Programmschriften, die zwar auch über die sozialethische Funktion der Rhetorik reflektieren; es dominiert jedoch das treffende Wort zum eigenen Vorteil des Redners. Die platonische Rhetorik erwächst vor allem aus der in den Dialogen "Gorgias" und "Phaidros" vorgetragenen Kritik an der manipulativen und ethisch angreifbaren

Argumentation (1985), 2 4 9 (Hervorhebung im Original); vgl. auch 250f. 8

Vgl. bes. O.A. BAUMHAUER, Die sophistische Rhetorik (1986). Piaton, Gorg. 4 8 6 Α - C (Zitat C 5). Dieses Diktum ist bei Aristoteles überliefert (Rhet. 1402*23) und wird Protagoras zugeschrieben (vgl. V S 80 A 21 und Β 6b). Vgl. das "Lob der Helena" ('Ελένης έγκώμιον) des Gorgias ( V S 82 Β 11), Zitat ebd., § 8.

12

M. FUHRMANN, Antike Rhetorik (1987), 24.

Einleitung

24

sophistischen Rhetorik. Sie entlarvt diese als Schmeichelei (κολακεία 13 ) und Scheinkunst, die vorgibt, das Richtige zu kennen, ohne vorher gefragt zu haben, was gut und gerecht ist14 Piaton stellt dagegen die Rhetorik in den Dienst der Philosophie und setzt gleichzeitig voraus, daß es eine letztgültige und anerkannte Wahrheit gibt. Nicht die Beeinflussung eines größeren Auditoriums ist das Ziel der platonischen Rhetorik, sondern das individuelle Lehrgespräch, das den Gesprächspartner schrittweise zur Erkenntnis jener Wahrheit führen soll. Die Redekunst wird somit zur Seelenleitung (ή ρητορική αν ειη τέχνη ψυχαγωγία τις δια λόγων 15 ). Schon die literarische Form des Dialoges, deren sich Piaton bedient, zeigt an, daß seine Rhetorik auf Kommunikation und Einverständnis (ομολογία) abzielt16 Neben der verhandelten Sache gilt das Interesse dem jeweiligen Gesprächspartner, der Gelegenheit erhält nachzufragen, zuzustimmen oder auch zu widersprechen. Diese Kunst der Überzeugung verzichtet auf ein formales und terminologisches System, wenngleich die zwei typischen Schritte der sokratischen Gesprächsführung, Elenktik und Protreptik, strukturell mit den beiden Teilen einer "klassischen" argumentatio - refutatio und probatio - parallelisiert werden können. Die aristotelische Rhetorik ist wissenschaftstheoretisch ausgerichtet: εστω δή ή ρητορική δύναμις περί. εκαστον του θεωρήσαι το ένδεχόμενον πιθανόν 17 Mit analytischem Blick (δύναμις του θεωρήσαι) erfolgt von außen eine Bestandsaufnahme aller Elemente, die eine erfolgreiche 18 Rede beeinflussen. Wichtiger als ihre praktische Durchführung ist ihre theoretische Planung 19 , bei der wiederum die Affektenlehre und das rhetorische Schlußverfahren im Mittelpunkt stehen. Die Phänomene werden systematisiert und mit einer komplexen Terminologie belegt. Bei Aristoteles wird die Rhetorik neben (!) der Ethik und Logik eingebunden in ein

Gorg. 463 B. Ebd., 453-455 u.ö. Phaidr. 261 A. Vgl. zum literarischen Aspekt der Dialogform H. GÖRGEMANNS, Piaton (1994), 56-64, bes. 60f. Rhet. 1 2,1 (1355 b 25f). 18

M. PÖTTNER (Realität als Kommunikation [1995], 358-361) hebt zu Recht hervor, daß die aristotelische Rhetorik zwar mit dem sophistischen Glauben an die Allmacht der Rede gebrochen habe, nicht aber mit der Intention des Sprechers, kommunikativen Erfolg zu erzielen. Hierbei ist das entscheidende Kriterium in einer konkreten Kommunikationssituation nicht "wahr" oder "falsch", sondern "wahrscheinlich" (το ένδεχόμενον πιθανόν) oder "unwahrscheinlich"

19

V g l . A . HELLWIG, T h e o r i e d e r R h e t o r i k ( 1 9 7 3 ) , 4 9 - 5 7 .

Paulus und die Rhetorik

25

Lehrgebäude aus wissenschaftlichen Einzeldisziplinen20 Es ist bezeichnend, daß die ρητορική τέχνη selbst kein Handbuch für Rhetorikschüler war, sondern eher ein Vorlesungskonzept für den internen Schulgebrauch - auch wenn die späteren Handbücher konzeptionell von dieser Schrift abhängig sind. Die vorstehende Skizze vereinfacht stark, mag aber ausreichen, um zu verdeutlichen, daß zur Zeit des Paulus die Assoziationen mit dem Begriff "Rhetorik" sehr unterschiedlich ausfallen konnten. Der eine denkt bei Rhetorik an schmeichlerische Publikumsgewinnung durch wohlgefügte Worte (und bezieht sich damit auf die Sophisten), der andere an eine terminologische Metaebene, die es ihm erlaubt, über die Anordnung seiner Gedanken zu reflektieren (wofür er vor allem Aristoteles zu danken hat) - und bisweilen begegnen sich beide Einstellungen sogar bei derselben Person21 Bei Paulus lassen sich nun Berührungspunkte mit allen drei Rhetorik-Modellen benennen: Seine explizite Distanz zur einschmeichelnden sophistischen Rhetorik wurde eingangs bereits aufgezeigt. Andererseits zeigt sich auch bei ihm ein Phänomen, das seinen Ort ursprünglich in der sophistischen Rhetorik hatte, nämlich die Instrumentalisierung der Sprache zugunsten der eigenen Sache und ein Interesse am Erfolg der eigenen Rede. Diese Erfolgsorientierung zeigt sich freilich in einer typisch paulinischen Brechung, denn während die Sophisten ihre Kunst auf den persönlichen Erfolg des Redners ausrichteten, sucht Paulus den Erfolg um des Evangeliums und um des anderen willen. Wie er schon in Jerusalem die Freiheit des Evangeliums im Interesse der Galater verteidigt hat (2,5fin), so soll jetzt der gesamte Brief die Galater zu ihrem eigenen Heil überzeugen. Insofern Paulus also nach rhetorischem Erfolg strebt, steht er in der sophistischen Tradition; aber er sucht

Daß durch Aristoteles die Rhetorik zu einem Fach an der "Hochschule" wurde, hängt auch mit den politischen Rahmenbedingungen unter makedonischer Hegemonie zusammen. Die praktische Rhetorik erblüht nur, wenn die Verfassung demokratische Züge trägt. Auch in R o m ging später der Verfassungswechsel von Republik zu Kaisertum einher mit einer Akademisierung der Rhetorik. Cicero war vor allem ein Mann der praktischen Beredsamkeit, und erst seine politische Kaltstellung ließ ihn zum theoretischen Schriftsteller werden, Quintilian dagegen wurde von Kaiser Vespasian auf den ersten Rhetoriklehrstuhl berufen. Es ist eine Schwäche von BETZ' rhetorischem Galaterkommentar, diese innere Differenzierung der Rhetorik nicht hinreichend herausgestellt zu haben. Obwohl er sich bei seiner Analyse mit Gewinn der aristotelischen Rhetorikterminologie bedient, legt er zugleich ein negatives Bild der Rhetorik zugrunde, die ihr Publikum intellektuell manipuliere. Rhetorik gilt BETZ letztlich als Sophistik, und deshalb kann er folgern, daß sie "für die Verteidigung des Paulus ihrer Natur nach unangemessen [ist]" (70). Vor allem in der Gattungsfrage fuhrt diese Inkonsequenz zu Hilfskonstruktionen, die dem Text nicht mehr gerecht werden (vgl. ausführlich u. S. 124ff).

26

Einleitung

diesen Erfolg nicht, um seinen Einfluß in der Urkirche als Protagonist der Heidenmission zu vergrößern, sondern er sucht ihn, weil er als Apostel Christi seine Gemeinde liebt22 Der platonischen Rhetorik entspricht wiederum, daß die angestrebte Überzeugung anderer auf ein festes Fundament gegründet sein muß. Bei Piaton ist dies die philosophische Wahrheit, die in der "Idee des Guten" als der höchsten Erkenntnisstufe gefunden wurde; bei Paulus ist es die im gekreuzigten Christus offenbarte Wahrheit des Evangeliums (vgl. 2,5.14). Ferner gibt es zwischen der platonischen und der paulinischen Rhetorik den Bezugspunkt, daß sie ohne die Antwort des Gesprächspartners unvollständig und ihrem Interesse nach verfehlt bliebe. Die Einwürfe oder Bestätigungen der sokratischen Gesprächspartner scheinen zwar oft banal zu sein, tatsächlich aber sichern sie jeden kleinen Erkenntnisfortschritt ab und bestätigen so den Grad der bisher erreichten ομολογία. Auch Paulus läßt den Adressaten seiner Rede, wie W. HARNISCH betont, einen Freiraum zur Antwort, "[d]enn was der Apostel zu verstehen gibt, bleibt auf die zustimmende Stellungnahme der Angeredeten angewiesen"23 Sie antworten freilich nicht verbal, sondern durch den konkreten Vollzug einer Entscheidung, indem sie sich z.B. in Galatien dem Ansinnen der paulinischen Gegner widersetzen. Die Bezüge zur aristotelischen Rhetorik schließlich entsprechen dem Verhältnis von Theorie und Praxis. Die rhetorische Paulusexegese behauptet, daß der Apostel in seinen Briefen rhetorische Strukturen verwende, wie sie von Aristoteles beschrieben wurden. Damit ist freilich nicht gesagt, daß Paulus seine Briefe zwingend einer reflektierten rhetorischen Stilisierung unterzogen haben muß 24 Der zweite Teil dieses Kapitels (0.4.2) soll vielmehr darlegen, daß diejenigen Strukturen, um die die rhetorische Paulusexegese kreist, - also vor allem der folgerichtige und stringente Gesamtaufbau - zu Paulus' Zeit bereits Gegenstand der allgemeinen Schulbildung waren. Die Vorbereitung einer These durch eine interessante Einleitung, eine geschickte Staffelung der Argumente, ein gelungenes Wortspiel, die Vorwegnahme

Vgl. W. HARNISCH, "Toleranz" im Denken des Paulus? (1996), 74-79: "Die paulinische Rhetorik als Sprache der Liebe" Ebd., 75. Vgl. das salomonische Fazit von J.T. REED (Using Ancient Rhetorical Categories [1993], 324): "Regarding the stasis of fact (an sit), Paul probably did not employ a system of ancient rhetoric to compose his letters. Regarding the stasis of definition (quid sit), although Paul's letters have an undeniable argumentative function, rough functional parallels with classical rhetorical categories do not necessarily imply formal equivalents. [...] Regarding the stasis of quality (quale sit), if rhetorical elements do appear in Paul's letters, one must allow for the possibility that Paul's usage may be functionally related to, but not formally (and consciously) based upon, the ancient rhetorical practices."

Paulus und die Rhetorik

27

dessen, was ein anderer erwidern könnte, oder eine pointierte Zusammenfassung - all dies sind zudem Selbstverständlichkeiten für jemanden, der jahrelang erfolgreich gepredigt hat. Die Phänomene selbst werden nicht dadurch komplizierter, daß man sich einer komplexen Terminologie bedienen muß, wenn man sie analytisch beschreiben will. Zudem ist Paulus hinsichtlich der Diskrepanz zwischen einer expliziten Ablehnung und gleichzeitigem Gebrauch rhetorischer Strukturen kein Einzelfall. Eine ähnliche Spannung prägt auch die Epistulae morales seines Zeitgenossen L. Annaeus Seneca. Dieser, selbst Sohn eines Rhetors, rügt an mehreren Stellen die unnütze (und sogar schädliche) Beschäftigung mit rhetorischen Spitzfindigkeiten25, während sich in jedem seiner Briefe ein durchdachter Aufbau und eine Fülle von Redeschmuck nachweisen lassen26 Mit diesen Überlegungen dürfte deutlich geworden sein, daß die paulinische Kritik an einer speziellen Erscheinungsform der Rhetorik und seine Behauptung, er selbst sei kein Meister der Beredsamkeit, eine rhetorische Analyse nicht a priori in Frage stellen oder gar methodisch verbieten.

Ep. 45,5 und 49,5f geißeln die sophistische Wortspalterei; ep. 48,6ff verspottet den rhetorischen Trugschluß; ep. 111 warnt vor sophismata (sie seien "cavillationes"), und ep. 108 richtet über die Philologie. Seneca diskreditiert diese Disziplinen jeweils gegenüber einer ethisch ausgerichteten Philosophie, da sie stets Gefahr liefen, zum Selbstzweck zu werden und keinen ethischen Fortschritt bewirkten. Exemplarisch sei der 13. Brief vorgestellt, der irrationale Angst gegenüber (möglichem) künftigem Unheil zum Thema hat. Aufbau: § § 1 - 3 exordium (mit captatio benevolentiae). §§ 4-5apropositio: quaedam ergo non magis torquent quam debent, quaedam ante torquent quam debent, quaedam torquent cum omnino non debeant: aut augemus dolorem aut praecipimus autßngimus. Die rhetorische Stilisierung der These ist evident: Auf drei parallel gebaute Kola folgt die Explikation des letzten mit drei kurzen Prädikaten. §§ 5b-12 argumentatio (darin ab § 10 eine explizite Vertiefung [inquiramus itaque in rem diligenter]). § 13 peroratio (geprägt durch Imperative und adhortative Konjunktive). Bis dahin folgt der Brief dem klassischen Redeaufbau. Anschließend fugt Seneca zwei Abschnitte der Reflexion des Gesagten an (§§ 14f u. §§ 16f), die jeweils mit einer metakommunikativen Bemerkung eingeleitet werden: pudet me sic tecum loqui eqs. und ι am fmem epistulae faciam eqs. - Auch der 40. Brief (Über das langsame Reden) und der 50. (Wider die Blindheit gegenüber den eigenen Fehlem) sind Paradebeispiele für einen rhetorischen Briefaufbau. Verkürzte Aufbauanalysen der Briefe 1-10 bietet H. PROBST, Paulus und der Brief (1991), 92 Anm. 84; vgl. auch M. BÜNKER, Briefformular (1984), 41-47: "Die von Paulus und Seneca verwendeten Beweismittel".

0.4.2 Die Möglichkeit einer rhetorischen Vorbildung D i e Rhetorik stand i m B i l d u n g s w e s e n der frühen Kaiserzeit 2 7 i m Zentrum der dritten und höchsten Ausbildungsstufe. Ihr ging ein Elementarunterricht i m Lesen und Schreiben (etwa ab d e m 7. Lebensjahr 2 8 ) b e i m γ ρ α μ μ α τ ι σ τ ή ς voraus s o w i e (etwa mit B e g i n n der Pubertät) der literarische Unterricht b e i m γραμματικός. Dort las man die Klassiker, besonders Homer und Euripides, und lernte anhand dieser Texte auch die antiken Realien 2 9 kennen. D i e s e Schulstufe zielte auf eine weitgestreute Bildung (έγκύκλιος 3 0 παιδεία). Bereits i m "Lehrplan" 31 dieser z w e i t e n Stufe war anhand v o n Ü b u n g e n eine Basiseinfiihrung in die praktische Rhetorik vorgesehen 3 2

D i e Schüler mußten A u f s ä t z e gliedern, Thesen formulieren und

argumentativ absichern sowie Vergleiche vornehmen und sich in fremde Charaktere hineindenken 3 3

A u c h das "Briefeschreiben als Aufsatzübung" 3 4 stand auf d e m

Programm. Diese ersten beiden Ausbildungsstufen waren in hellenistischer Zeit eine öffentliche Aufgabe. D i e s ergibt sich fur die zweite Schulstufe schon allein daraus, daß der Unterricht i m έ φ η β ε ι ο ν des Gymnasiums stattfand. Für die kommunale Verant-

28

Hierzu jetzt grundlegend W V HARRIS, Ancient Literacy (1989), bes. 116-146: "The Hellenistic State and Elementary Education" HARRIS unterzieht die älteren Arbeiten von M.P. NILSSON (Die hellenistische Schule [1955]), Η.-Ι. MARROU (Geschichte der Erziehung [1957]) und D.L. CLARK (Education [1957]) einer kritischen Revision. In seiner sozialgeschichtlich orientierten Untersuchung warnt er davor, dokumentierte Einzelfálle vorschnell im Sinne einer breiten Massenbildung zu verallgemeinern. Vgl. ferner E. ZIEBARTH, Schulwesen (1914), bes. 30-44: "Staat und Schule", ST.F. BONNER, Education in Ancient Rome (1977) und H.-I. MARROU, Education and Rhetoric (1981). Die Altersangabe ist nur ein Richtwert. Strenge Altersklassen gab es nicht, vgl. NILSSON, ebd., 34-42. Der "Schiffskatalog" (Ilias B) konnte z.B. die Grundlage des Geographieunterrichts bilden. Das Adjektiv εγκύκλιος steht hier nicht für den Vollständigkeitsanspruch einer spätbarocken Enzyklopädie, sondern eher für πολυμαθία (vgl. H.-I. MARROU, Education and Rhetoric [1981], 193). Vgl. oben S. 16 zu den Προγυμνάσματα des Theon. A u s f u h r l i c h h a t D . L . CLARK ( E d u c a t i o n [ 1 9 5 7 ] , 1 7 7 - 2 1 2 ) a u f d e r Q u e l l e n g r u n d l a g e v o n

Theon und Quintilian die oben nachfolgend genannten "elementary exercises" beschrieben. Zusammenfassend formuliert er: "The exercises [sc. in rhetoric] equipped the boys with a ready command of the arguments and other amplifying material that could be adduced in support of the commoner major premises, and might easily persuade audiences of their truth" (210). - E. ZIEBARTH (AUS der antiken Schule [1913], 16-21) dokumentiert die auf Papyrus erhaltenen Übungen nach rhetorischer Vorschrift. Zur sog. προσωποποιΐα vgl. o. S. 16f. So H. RABE, Briefsteller (1909), 289; zur Sache vgl. H.-I. MARROU, Geschichte der Erziehung (1957), 252ff und W.V. HARRIS, Ancient Literacy (1989), 127.

Paulus und die Rhetorik

29

wortung bei der Elementarausbildung kann auf zwei Stiftungsinschriften aus Milet und Teos verwiesen werden 35 , in denen reiche Bürger der Stadt größere Summen überlassen haben, damit aus diesem Kapital fortan die laufenden Kosten für den Elementarunterricht gedeckt werden. Als Verwendungszweck wird die παιδεία τών ελευθέρων παίδων 36 genannt. In Teos kommt die Ausbildung allen freien Kindern zugute 37 - ausdrücklich auch den Mädchen (οϊτινες διδάξουσιν τους παΐδας και τάς παρθένους 38 ). Die letzte Ausbildungsstufe, der Unterricht bei einem ρήτωρ (oder σοφιστής 39 ), war nicht mehr institutionell geregelt, sondern der Schüler Schloß sich einem angesehenen Lehrer an, der in einem privaten Auditorium vor allem Rhetorik, begleitend aber auch Philosophie und Naturlehre unterrichtete. Hier verband sich das Erlernen der komplexen rhetorischen Terminologie mit dem Studium großer Redevorbilder und umfangreichen praktischen Übungen. Der Übergang von der letzten Ausbildungsstufe zum öffentlichen Auftreten war fließend. Wieweit Paulus diese Ausbildung durchlaufen konnte, hängt eng mit der umstrittenen Frage zusammen, ob er in Tarsus oder Jerusalem aufgewachsen ist40 Tarsus in Kilikien wird eine Generation vor Paulus von dem Geographen Strabon als ein bedeutendes Zentrum griechischer Bildung geschildert: Τοσαύτη δέ τοις ένθάδε άνθρώποις σπουδή πρός τε φιλοσοφίαν και την άλλην παιδείαν έγκύκλιον άπασαν γέγονεν, ώσθ' ύπερβέβληται και 'Αθήνας και Αλεξάνδρειαν και εϊ

SIG 3 577 (200/199 a ) und 578 (IIa). SIG 3 577, Ζ.4 (Übersetzung und Kommentar der gesamten Inschrift bei E. ZLEBARTH, Schulwesen [1914], 2-29). "Ινα δέ πάντες oi ελεύθεροι παίδες παιδεύωνται (SIG 3 578, Z.3f)· Ebd., Z.9f. Während MARROU (Geschichte der Erziehung [1957], 153-155 u. 212]) diese B e l e g e verallgemeinert, bewertet HARRIS (Ancient Literacy [1989], 132f) sie als große Ausnahme. Doch auch er räumt gerade den kleinasiatischen Städten, also auch Tarsus, einen hohen allgemeinen Bildungsstand ein (ebd., 131). Der Begriff σοφιστής ist hier nicht peiorativ gemeint, sondern bezeichnet schlicht den Fachmann, der seiner Schule vorstand und nur dort wirkte, während ein ρήτωρ zugleich im öffentlichen Leben stand, vgl. MARROU, Geschichte der Erziehung (1957), 568 Anm. 24. Literaturiiberblick über die Ausbildungsdiskussion bei H. HÜBNER, Paulusforschung (1987), 2658-67. Vgl. femer zu der Möglichkeit einer hellenistischen Ausbildung auch in Jerusalem: CH. FORBES, Paul's Boasting (1986), 22-24; M. HENGEL, Der vorchristliche Paulus (1991), 212-239 u. 256-265; E.R. RICHARDS, Secretary (1991), 144-153 sowie J. FAIRWEATHER, Classical Rhetoric (1994), 22-38.

30

Einleitung τινα άλλον τόπον δυνατόν ειπείν, έν ώ σχολαι και διατριβαι φιλοσόφων γεγόνασι. [...] καί είσιν σχολαι παρ' αύτοίς παντοδαπαι των περι λόγους τεχνών41

Wenn Paulus in dieser Stadt als Sohn eines freien römischen Bürgers (vgl. Apg 22,28) herangewachsen ist, dann wird er dort auch - wie alle freien Kinder in den Städten Kleinasiens - die Elementarschule besucht haben. Ob er als jüdischer Junge das έφηβεϊον eines hellenistischen Gymnasiums besucht hat, ist fraglich, aber wenn wir Strabon Glauben schenken, hat es in Tarsus an Alternativen für literarische Studien nicht gemangelt. Selbst ein früher Umzug nach Jerusalem (Apg 22,342; 26,4) bedeutet nicht, daß Paulus damit den griechischen Kulturkreis verlassen hätte. Jerusalem war zu dieser Zeit - wie M . H E N G E L es formuliert hat - "eine 'griechische Stadt"' 43 Viele griechischsprechende Diasporajuden zog es an Festtagen in diese Stadt, die neben einem griechischsprachigen Synagogengottesdienst auch ein Synagogeninstitut bot, das die Pilger in griechischer Sprache im Gesetz unterwies (διδαχή εντολών). Daher bestand für Paulus auch in Jerusalem die Möglichkeit, neben der speziellen pharisäischen Unterweisung (vgl. Gal 1,14; Apg 22,3) eine griechische Ausbildung bis hin zum Rhetorikunterricht zu erhalten. HENGEL vermerkt44, daß gerade auch für eine überzeugende Synagogenpredigt, die Paulus als ζηλωτής των πατρικών παραδόσεων (Gal 1,14) in griechischer Sprache gehalten haben mag, eine rhetorische Grundausbildung nötig war, da jene ganz auf den mündlichen Vortrag hin ausgerichtet war. Somit ist es sehr wahrscheinlich, daß Paulus sich bereits während seiner Ausbildung sei diese nun in Tarsus oder Jerusalem erfolgt45 rhetorische Kenntnisse und

Geographica 14, 5, 13: "So groß ist bei den dort [in Tarsus] lebenden Menschen der Eifer fur die Philosophie und die gesamte Allgemeinbildung, daß es sogar Athen und Alexandria, oder wenn jemand noch einen anderen Ort zu nennen vermag, an dem Schulen und Unterrichtsstätten der Philosophen sind, übertrifft. [...] Es gibt bei ihnen vielfältige Schulen fur die Künste, die mit Sprache zu tun haben" Es ist jedoch umstritten, ob der lukanischen Darstellung in Apg 22,3 historische Zuverlässigkeit zukommt, da in der Trias γεγεννημένος - άνατεθραμμένος - πεπαιδευμένος ein festgeprägtes biographisches Schema durchscheint. (Dasselbe gebraucht Lukas in Apg 7,2 lf auf Moses bezogen.) Die apologetische Tendenz, Paulus als άνήρ ' Ιουδαίος (22,3) zu identifizieren, ist unverkennbar. Ferner steht diese Stelle in einem gewissen Widerspruch zu Gal 1,22, wonach Paulus den Gemeinden in Judäa (also auch in Jerusalem) unbekannt war (vgl. H. HÜBNER, Paulusforschung [1987], 2660 und G. SCHNEIDER, Apostelgeschichte [1980], I 459 und II 320f, je mit Literatur). Der vorchristliche Paulus (1991), 256; zum Folgenden ebd., 260-265. Ebd, 261. Während M. HENGEL (ebd.) Paulus' hellenistische Wurzeln zugunsten der sekundären jüdisch-pharisäischen Prägung minimiert, betont J. FAIRWEATHER den Einfluß des

Paulus und die Rhetorik

31

Fertigkeiten aneignen konnte 4 6 Außerdem haben ihn die Jahre seiner Predigt- und Missionstätigkeit auf hellenistischem Boden "geschult" 47 , die seinen Briefen vorausgingen. Was die Schulzeit Paulus an rhetorischer Raffinesse nicht mitgegeben hatte, konnte er durch die Erfahrung seines öffentlichen Auftretens ausgleichen - sofern er nicht ohnehin die Begabung besaß, überzeugend zu reden 48

griechischen Kulturkreises: "However, the evidence permits us at least to toy with the hypothesis that Paul at some stage had undertaken a serious study of what the literature of the pagan world had to offer comparable with the wisdom literature and prophecy of the Jews" (Classical Rhetoric [1994], 31). Vgl. auch CH. FORBES, Paul's Boasting (1986), 24: "We must assume that his [sc. Paul's] education reached at least beyond the level of the grammatici, and into rhetorical school"

48

E.R. RICHARDS (Secretary [1991], 153) hält es zwar für unwahrscheinlich, "that Paul received any sort of formal Greco-Roman rhetorical training", erhebt aber andererseits dessen langjährige Missionsreisen in der griechischen Welt geradezu in den Rang einer zweiten Ausbildungsphase: "[T]he prolonged period of time that Paul spent among Gentiles in Greco-Roman cities before he began writing his letters must not be discounted as a factor in the 'education' of Paul" Die Einschätzung Ciceros, daß nicht die Beredsamkeit aus einem theoretischen System, sondern das theoretische System aus der Beredsamkeit entstanden sei (sic esse non eloquentiam ex artifìcio, sed artifìcium ex eloquentia natum [de orat., I 146]), hat Augustinus treffend in diesem Sinne auf Paulus appliziert: sicut ergo apostolum praecepta eloquentiae secutum fuisse non dieimus, ita quod eius sapientiam secuta sit eloquentia, non negamus (doct. christ. IV 7,11; Hinweis bei M. HENGEL, Der vorchristliche Paulus [1991], 262 Anm. 272).

1

Das epistolographische Formular

1.1

Überschuß und Auslassungen im Formular des Galaterbriefes

Die Kapitelüberschrift unterstellt eine Norm der brieflichen Formulargestaltung, der gegenüber die Abweichungen des Galaterbriefes benannt und interpretiert werden können. Diese Prämisse ist jedoch nur eine Arbeitshypothese und zudem mit einer doppelten Hypothek belastet. Zum einen ist es schon innerhalb des paulinischen Briefcorpus nicht leicht, ein Grundformular herauszuarbeiten, welches inhaltlich so höchst unterschiedliche Schreiben wie den Römerbrief und den Philemonbrief ihrer äußeren Form nach zusammenbindet. Diejenigen Exegeten, die versucht haben, ein solches Grundformular übersichtlich und anschaulich zu präsentieren, sahen sich stets genötigt, in längeren Anmerkungen auf Abweichungen und unvereinbare Besonderheiten hinzuweisen1 Die zweite Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß ein derartiger Vergleich die Paulusbriefrafnra/Mng als Grundlage voraussetzt. Erst im Rahmen der sekundären Rezeption2 der Briefe ist es möglich, spezifische Abweichungen im Corpus eines Absenders zu beschreiben und zu deuten. Die explizit genannten Adressaten konnten, sofern nicht schon andere Briefe desselben Absenders vorlagen, die paulinische Formulargestaltung nur mit dem sonst geläufigen zeitgenössischen Briefformular vergleichen. Aber auch dieses profane Formular kannte, abgesehen von der Dreiteilung in Präskript, Corpus und Postskript, die einen Brief formal konstituiert, zahlreiche Optionen3 Somit fuhrt der Variantenreichtum der brieflichen Formulargestaltung (innerpaulinisch wie allgemein epistolographisch) schon im Vorfeld zu der Einsicht, daß einzelnen und sporadischen Abweichungen oder kleinen individuellen Akzenten keine Signifikanz zukommt. Erst ein ganzes Bündel von Auffälligkeiten, die sich gegenseitig verstärken, darf im Sinne einer bewußten Strategie des Absenders gedeutet werden. Gerade eine derartige Fülle von Besonderheiten weist nun der Galaterbrief auf. Dieses Unterkapitel wird zunächst mit dem gebotenen Vorbehalt das Grundformular der paulinischen Briefe und dessen relative Nähe zum allgemeinen brieflichen Formular vorstellen. Mittels dieser Schablone sind dann die spezifischen Beson-

Vgl. O. ROLLER, Formular (1933), 55f; R.W. FUNK, Language (1966), 270; W.G. DOTY, Letters (1973), 43; Κ. BERGER, Hellenistische Gattungen (1984), 1330f. Zur Differenz von Primär- und Sekundärrezeption vgl. bes. L. HARTMAN, On Reading Others' Letters (1986) und H.-M. WÜNSCH, Der paulinische Brief 2Kor 1-9 als kommunikative Handlung (1996), 49-52. Vgl. (neben den in Anm. 1 genannten Übersichten) W.G. DOTY, Epistle (1966), 134 und R. BUZON, Briefe der Ptolemäerzeit (1984), 28. 71. 116. 174.

Überschuß und Auslassungen im Formular

33

derheiten des Galaterbriefes zu sammeln und in ihrer Summe zu gewichten. Einzeln vertieft werden sie im weiteren Verlauf des ersten Kapitels. Das Grundformular der paulinischen Briefe besteht aus folgenden Elementen: PRÄSKRIPT DANKSAGUNG BRIEFCORPUS POSTSKRIPT

(superscriptio, adscriptio,

salutatio)

(mit typischer Eröffnungsformel eingeleitet und oft mit Besuchsankündigungen beendet) (mit Grüßen und der χάρις-Formel als Klausel)

Das paulinische Briefpräskript4 folgt im Vergleich mit den Briefanfangen der Profangräzität dem "orientalischen" Briefstil, da Paulus die salutatio in einem grammatikalisch eigenständigen Satz anfügt5 Diese salutatio bildet er durchgängig mit der sonst nicht belegten und deshalb als genuin paulinisch angesehenen Wendung χάρις ύμίν και ειρήνη άπό θεού πατρός ήμών και κυρίου ' Ιησού Χριστού6 Femer ist regelmäßig die superscriptio Παύλος durch eine intitulatio erweitert. Diese lautet in den vier Hauptbriefen und Deuteropaulinen [κλητός] απόστολος [Χριστού Ίησου], sonst auch δούλος (Rom, Phil) oder δέσμιος Χριστού 'Ιησού (Phlm). Durch diesen Titelzusatz erhalten seine Schreiben gleich zu Beginn einen "offiziellen" Charakter7 Auch die adscriptio ist in der Regel bei Paulus mit ehrenden Zusätzen versehen8

T e x t s y n o p s e b e i O . ROLLER, F o r m u l a r ( 1 9 3 3 ) , A n h a n g T a b . 1 - 3 .

Vgl. grundlegend E. LOHMEYER, Grußüberschriften (1927). Das klassische Präskript besteht dagegen aus einem einzigen Satz (ό δείνα τω δεϊνι χαίρειν). Zum besonderen Gebrauch des Infinitives χαίρειν vgl. G.A. GERHARD, Geschichte des griechischen Briefes (1905). Man hat versucht, χάρις auf χαίρειν und ειρήνη auf •'ÒW zurückzuführen, und so von e i n e r K o m b i n a t i o n aus g r i e c h i s c h e m u n d j ü d i s c h e m G r u ß g e s p r o c h e n ( v g l . F . S C H N I D E R / W . STENGER, B r i e f f o r m u l a r [ 1 9 8 7 ] , 2 5 f f ) . Z u m ö g l i c h e n j ü d i s c h e n

Vor-

b i l d e r n v g l . K . BERGER, A p o s t e l b r i e f < 1 9 7 4 ) , 1 9 1 - 2 0 7 .

Die Signalwirkung einer solchen intitulatio wird unmittelbar evident, wenn man z.B. zwei Briefe aus der Cicerokorrespondenz gegenüberstellt. Im Präskript eines offiziellen Senatsberichtes beginnt Cicero mit M.Tullius MF Cicero Pro Cos. S.D. Cos. Pr Tr.Pl. Senatui (ad fam. XV 2), während er einen privaten Brief an seinen Bruder mit Marcus Quinto fratri salutem (ad Q.fr. I 1) beginnen läßt. Der amtliche Charakter des ersten Schreibens ist also unabhängig von seinem Inhalt allein durch die Präskriptgestalt sichergestellt. - Die umfangreiche Sammlung der Präskripte bei F.X.J. EXLER (Form of Greek Letter [1923], 24-60) zeigt deutlich, daß die intitulatio ein typisches Merkmal des Geschäftsbriefes oder des offiziellen Briefes ist, kaum aber des Privatbriefes. Vgl. z.B. Rom 1,7: πάσιν τ ο ι ς ούσιν έν ' Ρ ώ μ η άγαπητοις θεού, κλητοίς άγίοις.

34

Das epistolographische

Formular

Als Danksagung (thanksgiving) bezeichnet man jene mit einer Form von εύχαριστείν beginnende, formelhaft konstruierte Periode, die in allen Protopaulinen 9 (außer Galater- und 2. Korintherbrief10) zwischen Präskript und eigentlichem Briefcorpus steht. Die Danksagung ist als typisches Formularmerkmal der Paulinen anerkannt", und man kann sie zumindest in ihrer Formelhafitigkeit und Stellung im Brief mit der profanen formula valetudinis initialis vergleichen 12 P. SCHUBERT sah in der jeweiligen Ausformung der Danksagung einen Indikator fur die Qualität der Beziehung zwischen Paulus und den Empfängern. Je ausgearbeiteter die Danksagung, desto inniger das Verhältnis zwischen Apostel und Gemeinde 13 Paulus verwendet nach J.L. WHITE14 folgende Briefformeln, um das Corpus zu eröffnen: ® "disclosure formulae" (ού γαρ θέλομεν ύμάς άγνοεΐν, αδελφοί [2Kor 1,8, ähnlich Rom 1,13; Phil 1,12; lThess 1,4]), © "request formulae" (παρακαλώ δε ύμάς, αδελφοί [lKor 1,10, ähnlich Phlm 8ff]), © "expression of astonishment" (θαυμάζω οτι [Gal 1,6]). In der Regel sind die Formeln mit dem Vokativ "Brüder" verbunden15, der jenen Einschnitt im Briefaufbau, der schon durch die Formel selbst gegeben ist, noch verstärkt.

Rom 1,8-12; lKor 1,4-9; Phil 1,3-11; lThess l,2f; Phlm 4-7. Von den Deuteropaulinen zum Teil übernommen: Kol l,3ff und 2Thess 1,3ff; zu Eph 1,3 vgl. nächste Anmerkung. Textsynopse bei P. SCHUBERT, Thanksgivings (1939), 43 ff und 54f. In 2Kor 1,3-7 steht zwischen Präskript und Briefcorpus keine Danksagung, die ja genaugenommen ein Gebetsbericht ist, sondern das Gebet selbst (εύλσγητός ό θεός κτλ.). Dessen formelhafter Anfang wurde in Eph 1,3 übernommen. V g l . P. SCHUBERT, T h a n k s g i v i n g s ( 1 9 3 9 ) ; J.T. SANDERS, T r a n s i t i o n ( 1 9 6 2 ) ; P. ARZT,

Danksagung (1991) und zuletzt J.T. REED, Thanksgivings (1996). Die Grundform der formula valetudinis initialis in den Papyrusbriefen lautet: εί ερρωσαι, καλώς άν εχοι, ύγίαινον δε και αυτός (Beispielsammlung bei F. ZIEMANN, De formulis [1911], 302ffund F.X.J. EXLER, Form of Greek Letter [1923], 103ff). Inhaltlich sind die paulinische Danksagung und die profane formula valetudinis initialis nur unter Vorbehalt zu parallelisieren, da letztere meist nur die Gesundheit von Empfänger und Absender thematisiert. Allerdings gibt es formulae valetudinis initiales, die um den Dank an die Götter erweitert sind, z.B. P.Mich. I 23 [III"] und P.Cair.Zen. I 59076 [IIIa]. Während P. ARZT (Danksagung [1991]) große Vorbehalte gegen eine Parallelisierung des papyrologischen Materials mit dem Befund bei Paulus geäußert hat, hat zuletzt J.T. REED (Thanksgivings [1996]) die paulinischen Stellen trotz ihrer unverkennbar individuellen Ausprägung m.E. zu Recht erneut in die Tradition profan-griechischer Danksagungen eingeordnet. Thanksgivings (1939), 183f. Introductory Formulae (1971), 94. Der Vokativ fehlt in Gal 1,6, aber es folgt in 1,11 eine weitere disclosure formula mit Vokativ. In Phlm 7 geht der Vokativ der Formel voraus.

Überschuß und Auslassungen im Formular

35

16

Ausführliche Besuchsankündigungen oder die Reflexion über gescheiterte Besuchspläne 17 sind ebenfalls ein fester Formularbestandteil der Protopaulinen 18 Meistens werden sie gegen Ende des Briefcorpus eingefügt 19 , sind im Indikativ Futur formuliert und greifen auf eine Form von ερχεσθαι zurück 20 Der Kontext der Besuchsankündigungen referiert bisweilen detaillierte Reisepläne21 Grüße mit in das Postskript eines Briefes aufzunehmen - seien sie als Grußauftrag (άσπάζου [άσπασαι] τον δείνα) oder als Ausrichtung eines Grußes (ασπάζεται σε ό δείνα) formuliert -, war ein weit verbreiteter Brauch. In den Privatbriefen auf Papyrus sind Grüße geradezu eine Selbstverständlichkeit22 Auch Paulus folgt meist diesem Brauch und beschließt seine Briefe entweder mit individuellen23 oder kollektiven24 Grüßen. Sofern über die in den Grüßen erwähnten Personen weiteres bekannt ist, sind individuelle Grüße grundsätzlich eine wichtige Hilfe, um einen Brief zeitlich oder lokal einzuordnen. Daß die paulinische Charis-Formel (ή χάρις τοϋ κυρίου [ήμών] ' Ιησού Χρίστου μετά [πάντων] ΰμών κτλ.25) dieselbe Stellung und Funktion hat wie die profane

So Rom 15,22-29; IKor 4,19; 16,5-8; Phil 2,24; Phlm 22. So 2Kor 12,14; 13,1; IThess 2,18. 18

Kritisch zur Einschätzung, daß Besuchsankündigungen ein Formularmerkmal seien, T.Y MULLINS, Visit Talk (1973), 350: "Visit talk is a theme rather than a form or formula" Anders R . W

FUNK, L a n g u a g e ( 1 9 6 6 ) , 2 7 0 u n d W . G . DOTY, L e t t e r s ( 1 9 7 3 ) ,

43.

Ausnahme IThess 2,18; bei IKor 4,19 und Phil 2,24 sind Briefteilungshypothesen mit zu beachten. Rom 15,28: άπελεΰσοααι δι' ύμάς εις Σπανίαν. IKor 4,19: έλεύσοιιαι δέ ταχέως προς ύμάς. IKor 16,5: έλεύσοααι δέ προς ύμάς, όταν Μακεδονίαν διέλθω. 2Kor 12,14: έτοίμως έχω έλθείν [...] και ού καταναρκήσω. Phil 2,24: και αύτός ταχέως έλεύσομ,αι. IThess 2,18: ήθελήσαμεν έλθείν. Phlm 22: έτοίμαζέ μοι ξενίαν. [...] χαρισθήσομαι ύμΐν. Rom 15,22-29 kündigt genau die Route Jerusalem - Rom - Spanien an, und IKor 16,5-9 ist in den zeitlichen Aussagen sehr präzise: Überwintern in Korinth und bis Pfingsten in Ephesus. Zur Form des Grußes vgl. F. ZIEMANN, De formulis (1911), 326-333; Beispiele bei F.X.J. EXLER, Form of Greek Letter (1923), 114f. So Rom 16,3ff; IKor 16,19ff; Phlm 23f. So 2Kor 13,12; IThess 5,26; Phil 4,21f. 25

Textsynopse bei O. ROLLER, Formular (1933), Anhang Tab. 4.

36

Das epistolographische

Formular

epistolographische Klausel ερρωσο / έρρώσθαί σε βούλομαι 2 6 , ist in der Forschung allgemein anerkannt 27 Der Galaterbrief weicht nun deutlich v o n d i e s e m Grundformular ab, da er einerseits eine Reihe v o n Auslassungen aufweist und andererseits entscheidend über dieses Formular hinausschießt. S o fehlen in ihm Danksagung 2 8 , Besuchsankündigung 2 9 und Grüße. Es fehlt auch sonst (für Paulus ganz untypisch) jeder N a m e , der helfen könnte, Anlaß und W e g dieses Schreibens genauer nachzuzeichnen 3 0 ; und an seinem Ende fehlt sogar in der paulinischen Fassung die sonst übliche χάρις-Formel als Klausel. A u s g e h e n d v o n dem eigenwillig piazierten Vokativ α δ ε λ φ ο ί und d e m textkritischen B e f u n d zu ά μ ή ν in 6,18, kann nämlich wahrscheinlich gemacht werden, daß der letzte Vers des Briefes als Ganzes ein redaktioneller Zusatz aus späterer Zeit ist 3 ' A u f der anderen Seite beschließt eine autographische Passage

Vgl. F. ZŒMANN, De formulis (1911), 334-365 und F.X.J. EXLER, Form of Greek Letter (1923), 69-77. S o O . ROLLER, F o r m u l a r ( 1 9 3 3 ) , 7 8 . A u c h F. SCHNIDER/W STENGER ( B r i e f f o r m u l a r

[1987]) nennen den paulinischen Schlußgruß "epistolar bedingt" (ebd., 133), betonen aber daneben dessen theologische Uminterpretation. 28

SCHNIDER/STENGER (ebd., 42-45) machen geltend, daß die Danksagung im Galaterbrief nicht ersatzlos fehle, sondern in l,6ff ein "funktional" vergleichbarer Text vorliege, da auch hier die (nun freilich gestörte) Beziehung zwischen Absender und Adressat in den Blick käme. Ähnlich votiert EßELING (57f). Diese Argumentation ist auf der Ebene des Formulars zurückzuweisen, da mit der body-opening-formula θαυμάζω ότι (1,6) bereits eindeutig das Briefcorpus einsetzt (s.u. Kap. 1.4.2). R.W FUNK (Language [1966], 271) bezeichnet 4,12-20 als "travelogue-surrogate", doch die oben erwähnten sprachlichen Merkmale der paulinischen Besuchsankündigungen verbieten es, 4,20 (ήθελον δε παρείναι προς ύμάς άρτι) mit jenen zu parallelisieren. Παρείναι ist nämlich ein anderer Verbalstamm als έρχεσθαι, und ήθελον nicht Indikativ Futur, sondern Indikativ eines Augmenttempus zur Bezeichnung eines unerfüllbaren und somit irrealen Wunsches (vgl. BDR § 359,2). Vielmehr ist 4,20 im Sinne der Brieftopik als Sehnsuchtsmotiv zu deuten (vgl. K. THRAEDE, Brieftopik [1970], 165-173). Mit diesem Sehnsuchtsmotiv versucht der räumlich abwesende Schreiber (άπών) seine geistige und gedankliche Nähe zum Adressaten (παρών) zu beschwören. Reflexe dieses Motivs, das semantisch eng an die Verben άπείναι/παρείναι gebunden ist, liegen bei Paulus neben Gal 4,20 auch in IKor 5,3; 2Kor 13,10; Phil 1,27 und (deuteropaulinisch) in Kol 2,5 vor. Zur Rezeption dieses Brieftopos bis in die Neuzeit hinein vgl. W.G. MÜLLER, Brief (1985). Keiner der Gegner wird namentlich genannt (anders die Erwähnung des Apollos in IKor 1,12; 4,6), kein Mitabsender (anders Phil 1,1; IThess 1,1; 2Thess 1,1) und kein Briefbote (anders IKor 4,17; Phil 2,25; Eph 6,21; Kol 4,7ff). Diejenigen Namen wiederum, die in Gal 1 f genannt werden (Kephas [Petrus], Jakobus, Barnabas, Titus, Johannes), entstammen alle einem historischen Zusammenhang, der der Briefabfassung zeitlich vorausging·

31

Hierzu ausfuhrlich Kap. 1.4.3.

Überschuß und Auslassungen

im Formular

37

(gewöhnlich mit 6,11-18 abgegrenzt) den Galaterbrief, deren Länge und inhaltliches Gewicht weit über das in einem Brief sonst übliche Maß hinausreichen. Nicht nur der Wechsel in der Hand des Schreibers signalisiert auf der Ebene des Formulars etwas Besonderes, sondern dieses Signal wird durch die erwähnten Auslassungen noch verstärkt. Dabei ist es entscheidend, daß Paulus im Galaterbrief sowohl die Formulawptionen von der Danksagung bis zu den Grüßen ausläßt als auch darauf verzichtet, dieses Schreiben mit einer χάρις-Formel als Klausel epistolographisch korrekt abzuschließen. Es fehlt also (vorbehaltlich der späteren Verifikation dieser Behauptung) auch ein konstitutives briefliches Formularelement. Die besondere Formulargestalt des Galaterbriefes ist demnach geeignet, die Empfänger zu irritieren. Die Galater erwarten, einen Brief zu lesen, nachdem ein Bote ihnen ein Schreiben überbracht hat, dessen Präskript auch wie ein Brief beginnt. Nach der Lektüre aber müssen sie feststellen, daß ihre Erwartung an ein Briefformular nachhaltig enttäuscht wurde. Der Galaterbrief endet nicht so, wie Briefe in dieser Zeit aufzuhören pflegen. Diese Irritation und Enttäuschung, die durch die spezielle Formulargestaltung ausgelöst wird, ist aber - so lautet die zentrale These des gesamten ersten Kapitels unserer Untersuchung - erstens beabsichtigt 32 und soll zweitens die inhaltlichen Aussagen des Galaterbriefes in einer spezifischen Art und Weise unterstreichen. Paulus hat das Formular des Galaterbriefes sorgfältig auf dessen Inhalt abgestimmt, ja die Formulargestaltung selbst ist kodierter Inhalt: "Like phonemes, letter elements are elements of meaning" 33 Überschuß und Auslassungen im Formular des Galaterbriefes geben nun die Reihenfolge der weiteren Untersuchung vor. Wir beginnen mit der Deutung des autographischen Schlusses (Kap. 1.2), da hier die umfangreichste Textgrundlage gegeben ist, und leiten dann zu Anschlußbeobachtungen über, die sich aus der Interpretation der Eigenhändigkeit ergeben (1.3). Anschließend betrachten wir die

Ρ RlCŒUR (Zeit und Erzählung, Bd. 3 [1991], 270-293, bes. 274ff) hat in Zusammenhang mit narrativen Texten herausgestellt, daß die "Strategie der Enttäuschung" (274) ein wirksames Mittel der Leserlenkung darstellt. Ein dynamischer Rezeptionsvorgang werde nämlich nachhaltig von der Dialektik zwischen der "Konfiguration des Textes auf Strukture bene" und seiner "Refiguration durch den Leser auf Erfahrungsebene" bestimmt (276, Hervorhebung im Original). Diese Dialektik trifft für inhaltliche Aspekte eines Textes genauso zu wie für formale. Die Enttäuschung der eigenen Erwartung fuhrt dazu, sich erneut auf den Text (und damit auf das Anliegen des Autors) einzulassen: "Tatsächlich entscheidet die zweite [!] Lektüre darüber, ob der Stasis der Desorientierung eine Dynamik der Reorientierung entsprungen ist" (ebd.). Dasselbe Ziel verfolgt m.E. Paulus im Galaterbrief. Die vom Formular ausgehende Irritation ist eine Aufforderung, das Schreiben erneut unter den Bedingungen des veränderten Formulars zu lesen. 33

J.L. WHITE, Structural Analysis of Philemon (1971), 6.

38

Das epistolographische

Formular

Besonderheiten im brieflichen Rahmen (1.4) und weisen insbesondere nach, daß die XàpiçFormel in 6,18 nicht von Paulus selbst stammt. Die anderen Auslassungen werden noch einmal in der Zusammenfassung (1.5) zur Sprache kommen. Es wird die These vertreten, daß Paulus im Galaterbrief auf besagte briefliche Formularoptionen verzichten mußte, wenn er jenes Signal nicht aufweichen und gefährden wollte, welches er durch den langen eigenhändigen Schluß gesetzt hatte.

1.2

Der autographische Schluß

Viele Briefe der Antike, zumal die der Gebildeten und Reichen, wurden von Schreibern oder Sekretären nach wörtlichem Diktat oder skizzierender Anweisung niedergeschrieben1 In diesen Fällen bezeichnet man als autographischen Briefschluß jenen Gruß oder Nachtrag, den der eigentliche Absender noch mit seiner eigenen Hand(schrift) hinzufügt. Daß auch Paulus seine Briefe mit der Assistenz eines Sekretärs schrieb, darf als gesichert gelten, denn die Eigenhändigkeitsvermerke (τη έμή χειρι [έγραψα]) in den Protopaulinen (IKor 16,21; Gal 6,11 und Phlm 19) und ihre deuteropaulinischen Zitate (Kol 4,18 und 2Thess 3,17) sind nur sinnvoll, wenn sie autographische Abschnitte aus einem allograph geschriebenen Kontext herausheben2 Im Römerbrief ist für uns der Sekretär Tertius sogar noch namentlich greifbar (Rom 16,223). Die metakommunikative Notiz in 6,11 (ϊδετε πηλίκοις ύμίν γράμμασιν έγραψα τη έμή χειρί) belegt, daß Paulus an dieser Stelle den Galaterbrief eigenhändig schrieb. Fraglich ist aber, was mit πηλίκοις γράμμασιν konkret gemeint ist, und vor allem, welche Folgerungen aus dem Aorist in έγραψα gezogen werden dürfen, denn die Deutung der Aoristform έγραψα entscheidet mit über die Abgrenzung der autographischen Passage im Galaterbrief. Entweder liest man έγραψα wörtlich als Vergangenheitstempus ("ich habe geschrieben") und bezieht damit die Aussage dieses Verses auch schon auf den Text vor 6,11; oder man versteht die Form als präsentisch zu übersetzenden Aorist des Briefstils4 ("ich schreibe") und beschränkt so die Handschrift des Paulus auf die Verse 6,11-18. Die jüngeren Kommentare 5 ( M U S S N E R , E B E L I N G , BETZ ) folgen zumeist der zweiten Möglichkeit und lassen den autographischen Schluß erst in 6,11 beginnen. Der Aorist des Briefstils ist nun bei

Zur Frage, inwieweit selbständig arbeitende Sekretäre als "Mitautoren" von Briefen anzusehen sind, vgl. grundlegend E.R. RICHARDS, Secretary (1991). RICHARDS weist nach, daß manchem Sekretär (z.B. Tiro, dem Sekretär Ciceros) eine große konzeptionelle Einflußnahme bei der Briefabfassung zugestanden werden muß. Vgl. jetzt J.A.D. WEIMA (Neglected Endings [1994]), der auf breiter Materialgrundlage die "closing conventions" der zeitgenössischen Briefliteratur mit den besonderen Variationen bei Paulus vergleicht (speziell z u m autographischen Schluß vgl. 4 5 - 4 9 u. 118-134).

R o m 16,22: ασπάζομαι ύ μ ά ς έγώ Τέρτιος ό γράψας την έπιστόλην έν κυρίω. Dieser persönliche Gruß eines Sekretärs an die Empfänger ist nicht ohne Analogie. Zu ihm gesellen sich z.B. eigene Grüße von Alexis, dem Sekretär des Atticus, an Cicero: Alexis quod mihi totiens salutem adscribit, est gratum; sed cur non suis litteris idem facit, quod meus ad te Alexis facit. (Att. V 20,9) B D R § 334: "Der Aorist kann in Briefen statt des Präsens gewählt werden, wenn der Schreibende sich in die Zeit versetzt, in der der Empfänger das Schreiben liest". Jeweils zur Stelle, auch B D R § 334 2 .

40

Das epistolographische

Formular

Paulus auch sonst belegt 6 , aber schon T H . Z A H N 7 hat m.E. mit Recht darauf hingewiesen, daß gerade bei έγραψα der innerpaulinische Gebrauch nicht eindeutig ist. "Εγραψα bezieht sich nämlich an anderen Stellen (a) auf den ganzen zu Ende gehenden Brief (Rom 15,15; Phlm 21)8, (b) auf vorangehende Teile des Briefes (IKor 9,15)® oder (c) auf einen früheren Brief (IKor 5,7; 2Kor 2,3.4.9. 7,12). Auch wenn diese Beispiele nicht zwangsläufig dagegen sprechen, έγραψα in 6,11 als Briefaorist zu deuten, so warnen sie doch davor, in dieser Erklärung die einzige und zwingende Möglichkeit zu sehen. Andere Exegeten beziehen daher die Aussage zur Eigenhändigkeit auf den gesamten Brief 10 oder zumindest partiell auch auf eine voranstehende Passage11 Die Beantwortung der Frage, wo die eigenhändige Handschrift des Apostels einsetzt, muß daher vorläufig noch offen bleiben. Spätestens beginnt sie in 6,11, aber allein aufgrund der Form έγραψα ist hier keine eindeutige Abgrenzung möglich. Was heißt nun πηλίκοις 12 γράμμασιν? Naheliegend ist die Deutung, daß die Hand des Sekretärs, durch tägliches Schreiben geübt, geläufigere und somit kleinere Buchstaben schrieb, von denen sich die Handschrift des Paulus durch einen größeren Duktus abhob 13 Papyrusbriefe, in denen unterschiedlich geübte und deshalb unterschiedlich große Handschriften zu unterscheiden sind, können diese wahr-

Vgl. έγραψα Phlm 19 und 2Kor 5,11; επεμψα Phil 2,28; Phlm 12 sowie Eph 6,22 und Kol 4,8. Einleitung (1900), 246f Anm. 5 und Galater (1922), 279. Analog dazu das Partizip Aorist in Rom 16,22; sowie IPetr 5,12. In diesem Sinne auch das Präsens γράφω in IKor 4,14. 14,37. S o ZAHN, 2 7 9 u n d O . ROLLER, F o r m u l a r ( 1 9 3 3 ) , 1 8 9 u. 5 9 2 A n m . 5 0 2 .

G.J. BAHR, Subscriptions (1968), 35: "At 5,2 Paul begins his own subscription to the body of the letter which his secretary had written" Andere verhaltener: A. DEISSMANN, Licht vom Osten (1923), 132 Anm. 6: "[F]ügt er [sc. Paulus] dann einen eigenhändigen Schluß hinzu, der im Galaterbrief vielleicht schon 5,2 beginnt" LIETZMANN, 43: "[A]uch kann Pis etwa bei 5 2 oder 6 6 damit begonnen haben [sc. eigenhändig zu schreiben]: aber wahrscheinlich ist das alles nicht" - BRING, 242: "Eine dritte Möglichkeit bietet die Annahme, daß Paulus ab Gal 5,2 eigenhändig geschrieben habe; für die letztere These lassen sich aber schwerlich überzeugende Argumente finden" Πηλίκος: Grundbedeutung "groß" im Sinne einer geometrischen Größe (μεγέθος); im klassischen Griechisch von πόσος unterscheiden, was die arithmetische Größe (πλήθος) bezeichnet (vgl. PAPE s.v.). A. DEISSMANN (Licht vom Osten [1923], 141) denkt bei Paulus sehr anschaulich an eine "kräftige, steife Handwerker-Unziale" LIETZMANN (43) vermutet: Paulus "schrieb mit großen Zügen und lächelt hier über seine ungelenke Schrift".

Der autographische Schluß 14

41

15

scheinliche Deutung von 6,11 illustrieren Das ϊδετε, welches dem πηλίκοις unmittelbar vorausgeht, unterstützt jedenfalls die Annahme, daß im Originalbrief an dieser Stelle eine optisch wahrnehmbare Besonderheit vorgelegen haben muß. Dabei darf die Auffälligkeit einer anderen und größeren Handschrift nicht unterschätzt werden, stach diese doch schon vor der eigentlichen Lektüre "gleich beim Durchblättern" 16 des Briefes ins Auge. Aus der Cicerokorrespondenz läßt sich belegen, daß derartige Äußerlichkeiten nicht unwichtig waren, sondern daß sie von den Empfängern mit großer Sensibilität wahrgenommen wurden17 Paulus selbst war offensichtlich sehr daran gelegen, daß alle Empfänger in Galatien jenes äußere Merkmal seiner eigenen Handschrift registrierten und interpretierten, denn durch die ausdrückliche Erwähnung jener πηλίκοις γράμμασιν führte er auch denjenigen, die den Brief nur vorgelesen bekamen, dessen Schriftbild - akustisch vermittelt - optisch vor Augen. Welche Bedeutung aber konnten die Galater dem eigenhändigen Schluß beimessen? Welches epistolographische Signal war mit ihm gesetzt worden? Um dies angemessen abwägen zu können, ist es nötig, zunächst allgemein die Gepflogenheiten von eigenhändigen Passagen in antiken Briefen darzustellen.

Andere Exegeten vermuten, daß Paulus bewußt mit großen Buchstaben geschrieben habe und "damit die Bedeutung dessen, was er jetzt noch hinzufügt, hervorheben [will]" - so MUSSNER (410), ähnlich BETZ ( 5 3 2 ) und OEPKE/ROHDE (200): "Großschrift bedeutet im Altertum etwa soviel w i e heute Unterstreichung, Sperrung oder Fettdruck" S a m m l u n g weiterer Deutungen (bes. in der englischsprachigen Literatur) bei J.A.D. WEIMA, Neglected Endings (1994), 127-129. Z.B. P.Oxy. II 2 4 6 [66 p ] (Abbildung Tafel VII; als Faksimile auch bei D. TROBISCH, Paulsbriefe [1994], 4 9 ) oder P.Oxy. XVIII 2191 [IIP] (Abb. Tafel XIV). LÜHRMANN, 9. Wenn auch das Bild des "Durchblättems" bei einer Papyrusrolle anachronistisch ist, so ist es doch nur konsequent, daß D. LÜHRMANN in seinem Kommentar mit dieser ersten und unmittelbaren Beobachtung der Empfänger einsetzt. A l s Cicero z.B. v o n Trebatius einen als Palimpsest geschriebenen Brief erhielt, interpretierte er solches spöttisch als Sparsamkeit und fragte neugierig zurück nach d e m getilgten Text (ad fam. VII 18,2 [KASTEN: 16,2]). An anderen Stellen wiederum glaubt Cicero, aus der Gestalt der Handschrift Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand seines Korrespondenzpartners machen zu können (z.B. ad fam XVI 15,2 [KASTEN: 3,2]: accepi tuam epistulam vacillantibus litterulis, nec mirum tarn gravi morbo [ähnlich Att. VI 9,1]). Auch die Schönheit einer Handschrift kann lobend erwähnt werden; nam Alexidis manum amabam, quod tarn prope accedebat ad similitudinem tuae litterae, non amabam, quod indicabat te non valere (Att. VII 2,3).

1.2.0 Eigenhändigkeit in Briefen und Dokumenten Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, autographische Passagen in Briefen ausfindig zu machen. Entweder stößt man analog zu 6,11 auf Bemerkungen, die die Eigenhändigkeit expressis verbis thematisieren; oder das Brieforiginal selbst kann eingesehen werden und präsentiert sich dem Betrachter in verschiedenen Handschriften, von denen die eine dem Sekretär, die andere dem Absender zugeordnet werden kann. Beispiele fur die erste Möglichkeit finden sich mit Wendungen wie meo chirographo utor oder mea manu bei Cicero; und für die Einsichtnahme in Brieforiginale können wir auf umfangreiche Papyrusfunde zurückgreifen. Aus beiden Bereichen ist das Vergleichsmaterial kurz zu betrachten. Cicero eröffnet einige seiner Briefe mit einer Bemerkung, ob er den Brief eigenhändig schreibe oder nicht. Die Eigenhändigkeit soll dem Empfänger seine Muße 18 bezeugen oder die Höflichkeit 19 , die er ihm zuteil werden läßt. Der diktierte Brief dagegen verweise auf große Geschäftigkeit 20 oder auch einmal ehrlich eingestanden - auf Faulheit 21 Außerdem bürgt die Eigenhändigkeit natürlich in der Regel für die Authentizität eines Briefes 22 Im Blick auf den Galaterbrief sind aber weniger diejenigen Briefe interessant, in denen schon zu Beginn die Wahl zwischen Eigenhändigkeit und Diktat fällt 23 , als vielmehr die, die diktiert beginnen, dann aber mit einer ausdrücklichen Erwähnung des Wechsels autographisch zu Ende geführt werden. Solches Vorgehen ist bei

Att. V 14,1: Antequam aliquo loco consedero, ñeque longos a me ñeque semper mea manu litteras exspectabis; cum autem erit spatium, utrumque praestabo. - Der eigenhändige Brief wird oft länger: Plura scriberem, si ipse possem (Att. VIII 15,3). An seinen Freund Atticus und seinen Bruder Quintus schreibt Cicero in der Regel eigenhändig; ad Q.fr. II 2,1: Non occupatone f...J, sed parvula lippitudine adductus sum, ut dictarem hanc epistulam et non, ut ad te soleo, ipse scriberem (vgl. auch Att II 23,1). Ad Q.fr. III 3,1: Occupationum mearum tibi signum sit librari manus (ähnlich ad Q.fr. II 16,1 und Att IV 16,1). Att. XVI 15,1 [KASTEN: 17,1]: Noli putare pigritia scribam, sed mehercule pigritia.

me facere,

quod non mea manu

Ad fam. X 21 [KASTEN: 20,1]: credidi chirographis eius. Der Kontext des Briefes macht jedoch deutlich, daß sich Cicero in diesem Fall falschlich auf die eigenhändig zugesicherte Loyalität eines gewissen Lepidus verlassen hatte. Dies ist eine interessante Paralle zu 2Thess 3,17 (ό ασπασμός τη έμή χειρι Παύλου, δ έστιν σημείον έν πάση επιστολήοΰτως γράφω). Auch dort beansprucht der Eigenhändigkeitsvermerk als vermeintlich typisches Zeichen eines paulinischen Briefes ja gerade diejenige apostolische Authentizität, die heute im Blick auf den zweiten Thessalonicherbrief allgemein bestritten wird (vgl. U. SCHNELLE, Einleitung [1994], 365-368). Weitere Stellen, in denen die erwähnte Eigenhändigkeit auf den gesamten Brief bezogen ist: Att. V 19,1; XV 20,4 [KASTEN: 21,4 J .

43

Der autographische Schluß

Cicero vor allem in dem Wunsch nach größerer Diskretion begründet: Sed ad meam manum redeo; erunt enim haec occultius agenda (Att. XI 24,2). In dem nachfolgenden und längeren (!) Teil dieses Briefes werden Vermögensfragen angesprochen. Auch in Att. XII 34,2 [KASTEN] und XIII 4,4 [KASTEN] folgt, ebenfalls nach ausdrücklichem Hinweis auf die eigenhändige Fortführung 24 , eine Erörterung familiärer und finanzieller Themen. Offenkundig waren diese Themen so heikel25, daß Cicero jeden unnötigen Mitwisser vermeiden wollte. Und zwei Briefe an Cicero zeigen, daß auch andere Zeitgenossen geheime politische Informationen lieber nur mit der eigenen Hand am Briefende anfügten26 Selbst Kaiser Tiberius verfuhr später noch so, wie Seneca berichtet27 Übereinstimmend fügt also in jenen Beispielen die eigene Hand des Absenders mit vertraulicher Intention zusätzliche und neue Informationen an, die vorher im diktierten Teil des Briefes noch nicht erwähnt worden waren28 Die Papyruseditionen wiederum gewähren uns Einblick in mehrere tausend antike Privatbriefe29 Die größere Zahl von ihnen umfaßt nur wenige Zeilen und wurde von nur einer Hand geschrieben. Wenn sich aber eine weitere Handschrift unterscheiden läßt, wird in der Transkription dieser Wechsel durch Siglen wie "2.H." oder "m2" kenntlich gemacht. In diesen Fällen schreibt die erste Hand Präskript und Brief-

Att. XII 34,2 [KASTEN]: Haec ("das folgende") ad te mea manu; Att. XIII 4,4 [KASTEN]: Hoc manu mea. - D i e s e beiden Stellenangaben folgen der Zählung von KASTEN, der hier zu Recht traditionell getrennt gezählte Briefe zusammenfaßt. Die weiteren Belege folgen, sofern nicht anders vermerkt, der Vulgata-Zählung. Cicero will ein Zusammentreffen mit seiner Gattin verhindern und "ausfliegen" ( e v o l a re). Deshalb beauftragt er Atticus, deren Anreisetag auszuspähen (Att. XII 3 4 , 2 [KASTEN]). Beide Stellen aus dem Vorfeld der Bürgerkriegswirren: A d fam. II 13,3 (aus einer Antwort an Caelius [50 a ]): Extrema pagella pupugit me tuo Chirographe, quid ais? Caesarem nunc defendit Curio? - Att. VIII 1,1 (Bericht über einen eingegangenen Brief des Pompeius [49 a ]): Sed in ea Pompei epistula erat in extremo ipsius manu: "tu censeo Luceriam venias; nusquam eris tutius" Ep. 83,15: Huic [sc. PisoniJ tarnen Tiberius multa sua manu scripsit, ne ministris quidem suis iudicabat.

quae

committenda

28

Mitunter hat ein Wechsel der Handschrift freilich auch banale Gründe, so z.B. Cicero, ad Q.fr. III 1,19: Hoc inter cenam Tironi dictavi, ne mirere alia manu esse.

29

Eine vollständige Liste aller edierten Papyrusbriefe ist leider bis heute nicht greifbar. Einen Einstieg ermöglichen die Aufstellungen bei J.L. WHITE/K.A. KENSINGER, Categories ( 1 9 7 6 ) und bei C.-H. KIM, Index (1982). - Dank der freundlichen Unterstützung von Prof. D. HAGEDORN (Papyrologisches Institut Heidelberg) konnte ich bei meinen eigenen Recherchen (insbesondere zu den Kapiteln 1.4.2 und 1.4.3) die DUKE DATA BANK OF DOCUMENTARY PAPYRI mit heranziehen. Allein für den Zeitraum von 100* bis 200" sind dort ca. 8 5 0 Privatbriefe verzeichnet.

44

Das epistolographische

Formular

corpus, während die zweite Hand oft nur die Schlußklausel (ερρωσο oder έρρώσθαί σε εύχομαι 30 ) hinzusetzt31 Unschwer wird man die erste Hand einem Schreiber oder Sekretär und die zweite dem eigentlichen Absender zuordnen, so daß in diesen Fällen nur der Schlußgruß autographisch ist. Briefe mit dem eigenen Namenszug zu unterschreiben, war in der Antike nicht üblich und zur Identifikation des Absenders auch nicht nötig, da dieser schon im Präskript genannt worden war. Gelegentlich fugt die zweite Hand auch noch ein post scriptum32 an. Inhaltlich trägt dieses post scriptum, wie auch bei uns heute noch üblich, oben im Briefcorpus Vergessenes nach 33 Blickt man von diesem epistolographischen Vergleichsmaterial wieder zurück zum Galaterbrief, dann zeigt sich, daß weder die autographischen Passagen der Ciceronoch die der Papyrusbriefe geeignet sind, um die Besonderheit unseres Briefes hinreichend zu erklären. Dort bleibt die Eigenhändigkeit nämlich dem Schlußgruß bzw. einem Nachtrag vorbehalten, der neue und noch nicht erwähnte Inhalte zur Sprache bringt - seien diese nun vergessen oder besonders diskret zu behandeln. Im Galaterbrief aber umfaßt der eigenhändige Abschnitt, selbst wenn er erst in 6,11 beginnen sollte, deutlich mehr als nur den Schlußgruß34 Außerdem wird 6,11-18 in

Zur Gestalt dieser Klausel vgl. F. ZLEMANN, D e formulis ( 1 9 1 1 ) , F.X.J. EXLER, Form o f Greek Letter ( 1 9 2 3 ) , 6 9 - 7 7 .

334-365

und

"Plerumque eum, qui epistulam dictât, valedicendi formulant subscribere nullo verbo addito papyri satis superque ostendunt", so ZlEMANN, ebd., 365. - Beispiele für Briefklauseln v o n 2.Hand: P.Amh. II 131 [IP]; B G U III 8 4 4 [83 p ], IV 1031 [IP]; P.Mich. VIII 4 7 2 [IP], 4 7 9 [IP]. 4 8 6 [IP]. 4 8 8 [IP]. 4 9 2 [IP]; P . O x y . I 118 [IIP], IX 1 2 1 9 [IIP],

X X X V I I I 2 8 6 0 [IP], 2 8 6 2 [IIP], X L 2 9 8 3 [II/IIP], XLII 3 0 6 7 [IIP]; S B IV 7 3 4 8 [23 p ], V 7 5 6 8 [36 p ] uvam. Ein post scriptum ist die Fortsetzung eines Brief über einen erreichten formalen A b schluß hinaus. Der Terminus "Postskript" bezeichnet dagegen zusammenfassend alle diejenigen Formularelemente, die jenen formalen Abschluß bilden, also z w i n g e n d die Klausel und optional Datum und Grüße. Beispiele für post scripta v o n 2.Hand: B G U II 6 6 5 (= OLSSON Nr. 7 0 ) [ P ] (? Zeilen Brief [Anfang zerstört] / 5 Zeilen p.s.); P.Giss. Univ. III 2 0 [IP] (?[zerstört]/3); P.Mich. VIII 5 0 2 [IP] (16/3). 503 [IP] (20/4); P.Oxy. VII 1063 [II/IIP] (13/2), XVIII 2 1 9 2 [IP] (24/9). In IKor 16,21; Kol 4 , 1 8 und 2Thess 3 , 1 7 besteht dagegen eine ausdrückliche Verbindung z w i s c h e n Eigenhändigkeit und Gruß: ό α σ π α σ μ ό ς τη έ μ η χειρ! Παύλου. Dadurch unterscheiden sich diese Stellen grundsätzlich v o n Gal 6,1 Iff, denn obwohl an diesen Stellen die autographische Charis-Formel j e w e i l s v o n einem oder z w e i weiteren eigenhändigen Sätzen flankiert wird, bleibt durch den expliziten Grußzusammenhang neben d e m quantitativen Unterschied zu Gal 6 , 1 1 - 1 8 auch ein qualitativer Unterschied bestehen.

Der autographische

Schluß

45

der Literatur als "Zusammenfassung 3 5 ", "recapitulatio 36,1 oder "Epitome 37 " des Briefes bezeichnet. Wenn wir diese Einschätzung vorläufig ungeprüft übernehmen 38 , dann bündelt und wiederholt Paulus in 6,11-18 zentrale Inhalte des Briefes mit der eigenen Hand. Eine derartige Funktion autographischer Passagen läßt sich in dem brieflichen Vergleichsmaterial nicht finden. Doch nicht nur in Briefen kommen autographische Abschnitte vor. Wichtiger und von der Gattung her zwingend sind sie in juristischen Dokumenten aller Art. Diese erlangen erst durch die eigenhändige Gegenzeichnung ihre rechtmäßige Gültigkeit. Die Gattungen Brief und Dokument liegen nun weder für uns noch fiir die Antike so weit auseinander, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheinen könnte. Wir unterzeichnen beide Formen am Schluß gleichermaßen mit unserem Namen. Die Antike unterschied zwar (wie gleich zu zeigen ist) den Schluß von Brief und Dokument sehr genau voneinander, den Anfang von Verträgen, Quittungen und Schuldscheinen aber kleidete sie oft durch ein Präskript (ό δείνα τ ω δείνι χαίρειν) in Briefform 3 9 Während sich die antike Briefkonvention am Ende eines diktierten Briefes mit einem autographischen ερρωσο begnügte, verlangten juristische Dokumente nach einer ausführlichen subscriptio (υπογραφή) 4 0 Sie war umfangreicher als unsere auf den bloßen Namenszug reduzierte "Unterschrift" und von demjenigen eigenhändig zu leisten, in dessen Namen das Dokument von professionellen Schreibern aufgesetzt und ausgefertigt worden war. Die subscriptio begann mit dem Namen des

G.J. BAHR, Paul and Letterwriting (1966), 467: Gal 6,1 I f f is a "really summar[y] o f a l a r g e part o f t h e p r e c e d i n g m a t e r i a l " , ä h n l i c h u r t e i l t J . A . D . W E I M A , G a l 6 , 1 1 - 1 8 ( 1 9 9 3 ) , 92.

BETZ (531) faßt 6,11-18 im rhetorischen Sinne als peroratici auf (vgl. u. Kap. 3.8), der er drei Aufgaben zuordnet: recapitulatio, indignatio und conquestio. P . S . MINEAR, C r u c i f i e d W o r l d ( 1 9 7 9 ) , 3 9 8 : " [ T ] h i s p a r a g r a p h [sc. 6 , 1 2 - 1 6 ]

constitutes

a powerful epitome o f the entire letter" Die kritische Verifikation erfolgt in 1.2.3. Vgl. E. SEIDL, Ptolemäische Rechtsgeschichte (1962), 57f; H.J. WOLFF, Recht der griechischen Papyri (1978), 109; R. BUZON, Briefe der Ptolemäerzeit (1984), 208, 2 2 2 und 2 2 9 sowie O. ROLLER, Formular (1933), 4 0 7 - 4 0 9 Anm. 217. Vgl. allgemein zur subscriptio·. O. GRADENWITZ, Papyruskunde (1900), 143ff; M. HÄSSLER, Kyria-Klausel (1960), 98-114; H.J. WOLFF, Recht der griechischen Papyri (1978), 164ff; H.C. YouTiE, ΥΠΟΓΡΑΦΕΥΣ (1975) sowie O. ROLLER, Formular (1933), 407 - Zur literarischen Form einer subscriptio, wenn am Ende eines Werkes der Dichter bewußt in Ichform und mit Namensiegel in Erscheinung tritt (z.B. Ovid, Pont. IV 16), und ihrer antiken Motivgeschichte vgl. W. KRANZ, Sphragis (1961).

46

Das epistolographische

Formular

Unterzeichnenden, war persönlich formuliert und wiederholte in (mindestens) einem vollständigen Satz kompakt den Hauptinhalt der Vereinbarung41 "Was zunächst die Form anbelangt, so gab sich die Hypographe im Normalfall als eine subjektiv, also als persönliche Erklärung des Ausstellers der Urkunde, formulierte, in der Regel gekürzte, Rekapitulation des im Kontext niedergelegten materiellen Gehalts des Geschäfts, d.h. seiner Causa [...] und der aus ihr folgenden Verbindlichkeit."42 Wer diese subscriptio selbst nicht leisten konnte, weil er des Schreibens unkundig war (αγράμματος 43 oder βραδέως γράφων 44 ), beauftragte eine Person seines Vertrauens, in seinem Namen zu schreiben. Diese mußte sich in einem Nachsatz selbst namentlich ausweisen. Zur Verdeutlichung sei die subscriptio eines Kaufvertrages zitiert: P.Meyer 13,19fr15 [ 141p]: (2.Hd.) Μάρκος 'Ιούλιος Απολινάριος πέπρακα τον όνον και άπέχω την τιμήν άργυρίου δραχμάς τριακοσίας τεσσαράκοντα και βεβαιώσω καθώς πρόκιται. Γάιος Πετρώνιος Φίρμος έγραψα και ύπέρ αύτοϋ άγραμ[μάτ]ου. Der Vertragstext selbst ist viermal länger als die subscriptio und unpersönlich in der 3. Person abgefaßt. Er enthält neben dem Datum weitere Angaben zur Person des Verkäufers, zum Alter des Esels, zur Zahlungsmodalität und zur Gewährleistung. Die subscriptio dagegen ist persönlich in der 1. Person formuliert, beginnt mit dem Namen des Unterzeichnenden und wiederholt die Kernstücke: Ich habe verkauft

Beispiele für juristische Dokumente mit gut erhaltenen subscriptiones: (a) unter Verträgen: BGU IV 1107, P.Fay 91, P.Oxy. II 257. 277. 278, III 492. 499; - (b) unter Testamenten: P.Oxy. III 489-494; - (c) unter Quittungen: P.Lond. II 334, P.Oxy. III 513, IV 732, P.Ryl. II 174; - (d) unter Petitionen: P.Oxy. IV 718, VII 1031. 1032, XII 1463; - (e) unter sonstigen Dokumenten: P.Oxy. II 251. 253, III 483. 484. 488. H.J. WOLFF, Recht der griechischen Papyri (1978), 165. - Am Rande sei erwähnt, daß eine weiterentwickelte Form derartiger subscriptiones auch am Ende von spätantiken Handschriften aus dem IV-VIIP begegnet. Wiederum persönlich formuliert bestätigt dort der Schreiber die korrekte Abschrift der Vorlage oder tritt gegebenenfalls mit seinem Namen für vorgenommene Verbesserungen (emendavi eqs.) ein (vgl. H. HUNGER, Textüberlieferung [1988], 354-357). Dieses Adjektiv bedeutet laut H . C . YOUTIE (ΑΓΡΑΜΜΑΤΟΙ [1971], 162f) für die in Ägypten gefundenen Papyri nur, daß der Betroffene nicht griechisch schreiben konnte. Es darf nicht im Sinne einer allgemeinen Illiterarität mißverstanden werden, vgl. ferner H . C . YOUTIE, Because They Do Not Know Letters (1975). Vgl. H.C. YOUTIE, βραδέως γράφων. Between Literacy and Illiteracy (1971). "Ich, Markus Julius Apollinaris, habe den Esel verkauft und den Kaufpreis von 340 Silberdrachmen erhalten und werde gewährleisten wie oben angegeben. Ich, Gaius Petronius Firmus, habe für ihn als Schreibunkundigen geschrieben." Übersetzung HENGSTL (Nr. 144); vollständiger Vertragstext mit Übersetzung im Anhang (Kap. 6.1).

Der autographische Schluß

47

(πέπρακα), habe 340 Silberdrachmen erhalten (άπέχω) und werde gewährleisten (βεβαιώσω) 46 Von den drei konstitutiven Elementen einer subscriptio unter juristischen Dokumenten (Eigenhändigkeit, Namensnennung und Inhaltsrekapitulation) scheinen zwei auch in Gal 6,11-18 gegeben zu sein. Der explizite Hinweis auf die Eigenhändigkeit (έγραψα τη έμή χειρί [6,11]) war ja der Ausgangspunkt unserer Überlegungen, und die in der Literatur unterstellte Inhaltsrekapitulation in dieser Passage ließ oben 47 gerade autographische Briefteüe als unzureichende Vergleichsgrundlage ausscheiden. Das dritte Element, die obligatorische Namensnennung, jedoch fehlt in 6,11-18. Trotzdem sei für den weiteren Fortgang der Untersuchung - vorerst noch im Rang einer Arbeitshypothese - formuliert, daß sich die Besonderheiten des autographischen Schlusses im Galaterbrief hinsichtlich Umfang und inhaltlichem Gewicht erklären lassen, wenn man diesen in die formale Nähe zur subscriptio unter juristischen Dokumenten rückt. Diese Vermutung ist bereits in zwei Arbeiten diskutiert worden. G.J. B A H R referierte schon 1968 ausführlich über den Gebrauch von subscriptiones in den Rechtspapyri und stellte einen Zusammenhang zwischen diesen und den autographischen Schlüssen der Paulusbriefe her. Er unterstellt in allen Paulinen wesentlich längere eigenhändige Abschnitte des Apostels, als man gewöhnlich annimmt 48 Zum Galaterbrief vermerkt er: "At 5,2 Paul begins his own subscription to the body of the letter which his secretary had written. Within this subscription, the last eighteen verses provide a summary. [...] The sense of 5,2 would then be: you have read what my secretary has written about defection from my gospel, now here is what I say to you in my own hand.'""

Neben der guten Erschließung der papyrologischen Quellen liegt die Stärke von B A H R S Aufsatz in dem Hinweis auf 5 , 2 (έγώ Παύλος λέγω), denn die Namensnennung dort könnte als jenes dritte konstitutive Element einer subscriptio gedeutet

Das erste Verbum gleich nach dem Namen ist immer das entscheidende, um den juristischen Vorgang einzuordnen. Oben ist es ein Kaufvertrag (πέπρακα), in einem Mietvertrag steht μεμίσθωμαι (z.B. P.Oxy. VIII 1127), in einer Eingabe oder Beschwerde έπιδέδωκα (z.B. P.Giss. 61) und in einer Quittung παρέλαβα (z.B. P.Ryl. II 189) oder άπέσχον (z.B. P.Oxy. III 513). Vgl. S. 45. 48

Vgl. Subscriptions (1968), 35-40. Der autographische Schluß beginne jeweils schon: Rom 12,1; IKor 16,15; 2Kor 10,1; Gal 5,2; Eph 4,1; Phil 3,1; Kol 2,8; IThess 4,1; 2Thess 3,1; Phlm 17.

49

Ebd., 35.

48

Das epis tolographische Formular

werden, welches oben in den Versen 6,11-18 vermißt worden war. BAHR verzichtet jedoch auf jede weitere Textanalyse, und bei der von ihm unterstellten großen subscriptio von 5,2-6,18 wird man sogleich kritisch zuriickfragen, wie die in diesem Abschnitt eingeschlossene Paränese (5,13-6,1050) mit der Funktion einer subscriptio vereinbart werden kann. Eine subscriptio wiederholt nur Bekanntes, während jene Paränese neue Gedanken einbringt. Auch F. SCHNIDERAV. STENGER sehen in 6,11 ff zumindest eine Anlehnung an die Funktion einer juristischen subscriptio5*, weisen aber insgesamt dem brieflichen Charakter die größere formale Bedeutung zu: "[S]o hat der Eigenhändigkeitsvermeri mit Summarium [sc. 6,11-17] die Aufgabe, das im Brief geschriebene mit einem Siegel zu versehen um es (quasi) juristisch in Geltung zu setzen. Und dennoch wird aus dem Gal kein juristisches Dokument, denn der abschließende epistolare Gruß [sc. 6,18] holt ihn nachdrücklich auf die Ebene eines Briefes zurück."52

1.2.1 Die Parallelität von 5,2-6 und 6,11-15 Unsere Deutung des autographischen Schlusses im Galaterbrief setzt nun mit der Beobachtung ein, daß in den Versen 5,2-6 und 6,11-15 zwei Abschnitte in sehr großer formaler und und inhaltlicher Parallelität zueinander gestaltet sind. Obwohl die Kommentare regelmäßig die Korrespondenz von 6,15 und 5,6 erwähnen, wird übersehen, daß sich die engen Entsprechungen auch schon auf die vorangehenden Verse erstrecken. Diese Parallelität ist m.E. nicht nur der Schlüssel zur Deutung des eigenhändigen Schlusses, sondern auch entscheidend fur die Bewertung der Kapitel 5 und 6 im Gesamtaufbau des Briefes. Die oben zitierte These von G.J. BAHR, daß die eigene Handschrift des Paulus schon in 5,2 begann, ist wahrscheinlich richtig und läßt sich mit weiteren Argumenten absichern, die gerade aus der Gesamtkorrespondenz der Abschnitte 5,2-6 und 6,11-15 abzuleiten sind. Gegen BAHR ist jedoch geltend zu machen, daß nur diese zweimal fünf Verse (5,2-6 und 6,11-15) in Anlehnung an eine juristische subscriptio gestaltet sind. Der Teil dazwischen (5,7-6,10) und die abschließenden Verse (6,16-18) haben dagegen andere Funktionen im Briefformular. Diese Thesen sind im folgenden in zwei Schritten zu begründen. Zunächst soll eine erste Gegenüberstellung die Parallelität von 5,2-6 und 6,11-15 so weit herausarbeiten, daß ihre kompositorischen Bezüge deutlich zu Tage treten und wir folglich

Zur Abgrenzung der Paränese s.u. Kap. 3.7.1. Briefformular (1987), 135-151. 52

Ebd., 147 (Hervorhebung im Original).

Der autographische Schluß

49

berechtigt sind, die Abschnitte zur gegenseitigen Interpretation heranzuziehen. Anschließend folgt eine detailliertere Einzelanalyse beider Abschnitte. Methodisch ist dabei zu beachten, daß die Abgrenzung von 5,2-6 und 6,11-15 an beiden Stellen kleinere Einheiten aus traditionell größeren Perikopen (5,1-12 und 6,11-18) herauslöst. Gerade diese größeren Perikopen, insbesondere der sonst übliche Einschnitt vor 5,1, haben aber wohl den Blick dafür verstellt, die umfassende Parallelität beider Versgruppen wahrzunehmen. Wir konzentrieren uns im ersten Durchgang auf die immanenten Bezüge von 5,2-6 und 6,11-15; es sei aber schon hier vorausgeschickt, daß diese isolierte Betrachtung auch durch formale Zäsuren an den jeweiligen Rändern gerechtfertigt ist. Diese Abgrenzung berücksichtigt den Hinweis von G . J . BAHR auf 5 , 2 und trägt ebenso durch die vorläufige Abtrennung von 6,16-18 dem oben zitierten Einwand von F. SCHNIDER/W STENGER Rechnung, daß der Galaterbrief epistolar ende. Auch wenn im Rahmen unserer epistolographischen Gesamtanalyse ein Seitenblick auf juristische Formularmerkmale nötig ist, so darf dieser Seitenblick die brieflichen Merkmale nicht zudecken. Vielmehr müssen die juristischen Formularmerkmale, wenn sie sich denn verifizieren lassen, gerade auch in ihrer Spannung zu den brieflichen Formularteilen wahrgenommen werden.

50

Das epistolographische

Formular

Textsvnopse: 5,2-6 2

6,11-15

ΙΔΕ

" έγώ Παύλος λέγω ύμίν

οτι έάν περιτέμνησθε, Χριστός ύμάς ούδέν ωφελήσει, μαρτύρομαι δε πάλιν παντί, άνθρώπω περιτεμνομένω οτι οφειλέτης εστίν όλον τον νόμον ποιήσαι. κατηργήθητε άπό Χρίστου, οϊτινες έν νόμω δικαιούσθε, της χάριτος έξεπέσατε. ημείς γαρ πνεύματι έκ πίστεως έλπίδα δικαιοσύνης άπεκδεχόμεθα.

έν γάρ Χριστώ ' Ιησού ούτε περιτομή τι ισχύει ούτε άκροβυστία άλλα πίστις δΓ άγάπης ένεργουμένη.

ΙΔΕΤΕ πηλίκοις ύμίν γράμμασιν έγραψα τή έμή χειρί. όσοι θέλουσιν εϋπροσωπήσαι έν σαρκί, ούτοι άναγκάζουσιν ύμάς περιτέμνεσθαι, μόνον ινα τω σταυρω τού Χριστού μή διώκωνται. ούδέ γαρ οι περιτεμνόμενοι αύτοι νόμον φυλάσσουσιν άλλα θέλουσιν ύμάς περιτέμνεσθαι, ινα έν τή ύμετέρα σαρκι καυχήσωνται.

έμοι δε μή γένοιτο καυχάσθαι εΐ μή έν τω σταυρω τού κυρίου ήμών ' Ιησού Χριστού, δι' ού έμοι κόσμος έσταύρωται κάγώ κόσμω. ούτε γαρ περιτομή τί έστιν ούτε άκροβυστία άλλα καινή κτίσις.

Schon beim ersten Lesen der beiden ähnlich langen Abschnitte53 ist die große wörtliche Übereinstimmung von 5,6 und 6,15 nicht zu übersehen. Mit γάρ schließen die Verse jeweils an das Vorausgehende an. Die in ihnen zurückgewiesenen Begriffe περιτομή und άκροβυστία sind identisch; auch τι ισχύει (5,6) und τί έστιν (6,15) sind hier bedeutungsgleich. Die vorausgehende Erweiterung έν Χριστώ ' Ιησού (5,6) gilt inhaltlich auch für 6,15, wo es schon zwei Sinnzeilen früher hieß: έν τω σταυρω [...] 'Ιησού Χριστού (6,14)54 Die positiven Bestimmungen schließ

5,2-6 (58 Wörter); 6,11-15 (74 Wörter). Die Handschriften Ν A C D F G 0278 1739e 1881TOgleichen 6,15 durch den Zusatz έν (γάρ) Χριστώ ' Ιησού noch stärker an 5,6 an. Ferner lesen H2 D2 Ψ TO - ebenfalls aus

Der autographische Schluß

51

lieh, πίστνς δι' αγάπης ένεργουμένη (5,6fm) und καινή κτίσις (6,15fin), interpretieren sich gegenseitig, da ein Leben im Glauben ein Leben als neue Schöpfung ist (und umgekehrt) 55 Die Verse 5,6 und 6,15 kann man als prägnante Summe und Quintessenz des gesamten Briefes bezeichnen, denn wenn die Galater dieser Aussage mit Herz und Kopf zustimmen, hat der Brief seine Funktion erfüllt, und seine Adressaten werden die Beschneidungsforderung der Gegner begründet zurückweisen können. Paulus selbst bezeichnet 6,15 als "Richtschnur" oder "Maßstab" (κανών [6,16a]). Auch in den Kopfversen 5,2 und 6,11 sind die Bezüge unmittelbar evident. Den beiden, später noch zu problematisierenden Formen von όράω (ιδε [5,2] und ϊδετε [6,11]) folgen stark betonte Formulierungen der 1.Person Singular: έγώ Παϋλος λέγω (5,2) bzw. έγραψα τη έμή χειρί (6,11). Die Verbalhandlungen beschreiben übereinstimmend einen Mitteilungsvorgang (λέγειν/γράφειν) an dieselben Adressaten (ύμίν). Die Parallelität von 5,2b-5 und 6,12-14 ist dagegen von struktureller Art und deshalb nur mittelbar zu erfassen. In diesen Versen wird jeweils dem Verhalten einer bestimmten Gruppe in einer bestimmten Frage ein exakt gegenläufiges Verhalten des Paulus antithetisch gegenübergesetzt. Die angesprochene Gruppe sind in 5,2b-5 Galater selbst, und verhandelt wird die Frage, wie Rechtfertigung zu erlangen sei. Dabei tritt der Absicht der Galater, durch Beschneidung und Gesetzesobservanz Rechtfertigung erlangen zu wollen (έν νόμω δικαιούσθε [5,4]), in 5,5 die paulinische Position gegenüber, er erwarte die Rechtfertigung 56 im Geist aus dem Glauben heraus (πνεύματι έκ πίστεως). Entscheidend fur den Kontrapunkt ist die

5,6 übernommen - in 6,15 ισχύει statt έσάν. Die antithetische Struktur der Verse 5,6 und 6,15, bei der zuerst mehrere nichtzutreffende Aussagen zurückgewiesen werden und dann eine bestätigt wird (nicht a, nicht b, sondern c), gebraucht Paulus auch an anderen Stellen des Briefes (1,1.11 f. 17; 3,28). Das theologische Problem, das durch die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten der Genitivverbindung (ελπίδα δικαιοσύνης [5,5]) evoziert wird, ob nämlich fur Paulus die δικαιοσύνη Gegenwarts- oder Zukunftscharakter hat, tangiert nicht die strukturelle Antithese zwischen der paulinischen und der galatischen Position, die hier allein für unsere Argumentation von Belang ist. - Die Deutung von δικαιοσύνης als gen. objectivus legt zusammen mit dem Verbum άπεκδέχεσθαι ("erwarten") eine eschatologische Dimension der Rechtfertigung nahe; die künftige Rechtfertigung wäre dann der Inhalt der (jetzigen) H o f f n u n g (vgl. den Finalsatz [ίνα δικαιωθώμεν] und das Futur [δικαιωθήσεται] in Gal 2,16 s o w i e das Futur in R o m 5 , 1 9 [ούτως [...] δίκαιοι κατασταθήσονται oi πολλοί]). Für eine präsentische Deutung der Rechtfertigung tritt dagegen mit Nachdruck G. KLEIN ein (Gottes Gerechtigkeit [1967]). Zu δικαιοσύνης (Gal 5,5) vermerkt er, "daß der Genitiv die Grundlage, nicht den Inhalt der Hoffnung bezeichnen könnte" (4). - ZERWICK (§ 33a) deutet δικαιοσύνης als gen. epexegeticus und übersetzt: "nos expectamus speratam iustitiam". Vgl. auch MUSSNER, 350f.

52

Das epistolographische

Formular

Verbindung der Modaloppositionen (έν νόμω [5,4] versus έκ πίστεως [5,5]) mit der Wiederholung des Begriffes "Rechtfertigung" (δικαιούσθε [5,4] / δικαιοσύνης [5,5]). In den Versen 6,12-14 grenzt sich Paulus dagegen von der Gruppe der Gegner ab. Sie werden nicht direkt in der 2. Person angesprochen, bestimmen aber durch die 3. Person Plural alle sechs finiten Verbalformen in 6,12f. Als Motivation ihres Agierens wird ihnen dort unterstellt, sie hätten Angst vor einer Verfolgung um des Kreuzes willen (6,12Λη), und wollten sich der Beschneidung der Galater - die ja einem judaistischen "Missionserfolg" gleich käme - rühmen (6,13fi„). Paulus lehnt dagegen in 6,14 diese Form des Selbstruhmes in der Welt fur sich ab. Er rühmt sich allein des Kreuzes Christi. Wieder ist die Antithese in den doppelt gebrauchten Begriffen verankert (σταυρω [6,12.14] und καυχήσωνται [6,13] / καυχάσθαι [6,14]), die wechselseitig verneint werden. Paulus bemüht sich also in beiden Abschnitten durch eine abgestimmte Wortwahl, seine Position sowohl in 6,12-14 gegenüber den ταράσσοντες (wie er die Gegner selbst nennt [1,7; 5,10]) als auch in 5,2b-4 gegenüber den ταρασσόμενοι (wie ich analog bilde) zu profilieren. Diejenigen Verse, in denen er seinen Standpunkt formuliert, leitet er jeweils betont durch ein Personalpronomen der 1. Person ein (ημείς [5,6] und έμοί 57 [6,14]). Das dem ημείς folgende γάρ (5,5) hat keine begründende Funktion, sondern ist gleichbedeutend mit dem korrespondierenden δέ in 6,14 58

Der Plural "wir" (5,6) meint wie das "mir" in 6,14 zunächst einmal Paulus selbst. Gleichzeitig ist das ήμείς (5,6) aber auch ein Identifikationsangebot an die Galater, die sich der Aussage dieses Verses j a anschließen sollen. In der Terminologie von I.U. DALFERTH (Religiöse Rede [1981], 404f) gesprochen, ist das ήμείς (5,6) zum Zeitpunkt der Briefniederschrift eine "exklusive plural-plurale Anrede", die aber "direktiv" (ebd., 420) darauf drängt, als "inklusive plural-plurale Anrede" rezipiert zu werden. 58

Schon der antike Grammatiker Trypho von Alexandrien [Ia] hatte festgestellt, "daß γάρ unter Umständen ein und dasselbe wie δέ ist" (BAUER S.V. γάρ 4). (In 1,10 und 5,13 wird das γάρ ebenfalls nicht begründend gebraucht.) Diese Nivellierung findet auch in der Textüberlieferung ihren Niederschlag, denn in 1,11 ist z.B kaum zu entscheiden, welche Partikel ursprünglich im Text stand: γάρ lesen dort Ν 1 Β D* c F G 33; δέ dagegen φ 4 6 Η 2 A D 1 Ψ 1739 1881 TO (vgl. hierzu die Spezialuntersuchung von M. SILVA, Text and Language [1990], 278 bes. Anm. 8). Für 5,5 ist ferner daran zu erinnern, daß γάρ aus einer Verschmelzung der Partikel γέ und άρα entstanden ist. Γέ legt die subjektive Emphase des Sprechers auf das vorausgehende Wort, während άρα eine Partikel der Relation und Rückbeziehung ist (zur Sprachgeschichte vgl. B. GÄHRKEN, γάρ [1950], 5-15). Das γέ, das in dem γάρ hinter ήμείς (5,5) mitschwingt, legt auf dieses Personalpronomen also genau jene Betonung, die wir fur unsere obenstehende Interpretation benötigen.

Der autographische Schluß

53

Parallel ist ferner in beiden Abschnitten die hohe Konzentration des Terminus "Beschneidung" (περιτέμνειν, περιτομή). Von den insgesamt 13 Belegen im Galaterbrief49 liegen 7 Fundstellen innerhalb der Verse 5,2-6 und 6,11-15, und von der konkret drohenden Beschneidung der Galater wird ausschließlich in 5,2b und 6,12f gesprochen. Zusammengenommen lassen die zahlreichen Entsprechungen der beiden Abschnitte m.E. auf eine besondere Strategie schließen. Insbesondere bei der epistolographischen Gliederung des Briefes wird man diese Korrespondenz deshalb berücksichtigen müssen (s.u. Kap. 1.2.3). Stand bisher nur für 6,1 Iff im Raum, daß dieser Teil einer juristischen subscriptio entsprechen könnte, so ist aufgrund der aufgezeigten Parallelität diese Überlegung nun auch für 5,2-6 zu erörtern.

1.2.2 Die erste Subscriptio (5,2-6) Um 5,2-6 im Sinne einer subscriptio interpretieren zu können, müssen wir zunächst zeigen, daß dieser Abschnitt die drei konstitutiven Elemente einer solchen Form erfüllt. Wiederholt er also zentrale Inhalte des vorstehenden Textes (1)? Ist der Name des Unterzeichnenden genannt (2)? Lassen sich textimmanente Hinweise auf die Eigenhändigkeit der Passage ausmachen (3)? (1) Für den rekapitulierenden und zusammenfassenden Charakter der Verse 5,2-6 sprechen folgende fünf Beobachtungen: Im Zentrum dieser Verse (5,4f) steht die Modalopposition έξ έργων νόμου60 versus έκ πίστεως, die seit 2,16 den Gedankengang des Briefes prägt. Die Erkenntnis (είδότες [2,16]), daß beides zueinander in der strengen Exklusivität eines Entweder-Oder steht und daß die Rechtfertigung

2,3.7.8.9.12; 5,2.3.6.11.; 6,12.13(2x).15. Das kürzere έν νόμω (5,4) ist in der Sache gleichbedeutend mit έξ έργων νόμου (2,16ff). Vgl. allgemein zu den präpositionalen Wendungen, die ein typisches Merkmal der p a u l i n i s c h e n S p r a c h e darstellen, und den aus ihnen g e b i l d e t e n A n t i t h e s e n B . C . LATEGAN, F o r m u l a s ( 1 9 9 1 ) u n d D . A . CAMPBELL, Π Ι Σ Τ Ι Σ a n d Ν Ο Μ Ο Σ

(1992).

LATEGAN stellt auf der Gundlage des Galaterbriefes dar, wie Paulus gerade bei den theologischen Zentralbegriffen (πίστις, νόμος, πνεύμα, σάρξ) mittels sprachlicher Kurzformeln ("formulas", eben jenen präpositionalen Wendungen) seine eigene theologische Konzeption ausformt: "There is good reason to believe that these formulas are typical Pauline creations which form an integral part of the process by which his theology was shaped and developed" (ebd., 76). Eine Aufstellung solcher theologischen Kurzformeln bringt auch BETZ, 75 f. CAMPBELL kommt in seiner linguistischen Untersuchung zu dem Ergebnis, daß man die Bedeutung einzelner Präpositionen, wenn sie mit demselben Nomen kombiniert werden, nicht gegeneinander ausspielen dürfe. Verschiedene Präpositionen seien "stylistic variations of the same basic idea, allowing Paul to repeat his point without undue tedium" (ebd., 96).

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Das epistolographische

Formular

allein έκ πίστεως geschieht, ist der theologische Kernpunkt des Galaterbriefes. Entsprechend kunstvoll und mehrfach chiastisch verschränkt ist der sprachliche Aufbau des Verses 2,1661, in dem jene Antithese (noch in der Auseinandersetzung mit Petrus) einfuhrt wird. In 3,2 und 3,5 wird dann den Galatern selbst die Frage vorgelegt, wie sie den Geist empfangen hätten: έξ έργων νόμου το πνεύμα έλάβετε ή έξ άκοής πίστεως (3,2). Und wenig später personalisiert Paulus diese Antithese, so daß sich nun zwei Personengruppen gegenüberstehen: οί έκ πίστεως (3,7.9) und όσοι έξ έργων νόμου (3,10) bzw. oi ύπό νόμον θέλοντες είναι (4,21). An unserer Stelle (5,4f) greift Paulus jene Gegenüberstellung nach längerer Latenz erneut und zugleich zum letzten Mal62 auf, nun freilich nicht mehr als soteriologische Grundeinsicht aller Christen formuliert (wie 2,16) oder als distanzierte Aussage der 3. Person (wie 3,7.10), sondern zugespitzt auf die Abgrenzung zwischen ihm und den Galatern: Ihr steht in der Gefahr, mit eurer Beschneidung den Irrweg έξ έργων νόμου zu wählen, wir aber empfangen die Rechtfertigung έκ πίστεως. Auch die drohende Gefahr der Vergeblichkeit, daß das Christusgeschehen fur die Galater "nutzlos" werden könnte (Χριστός ύμάς ουδέν ώφελήσει [5,2]) und daß sie "aus der Gnade herausgefallen" sind (της χάριτος έξεπέσατε [5,4]), rekapituliert ein Leitthema des Briefes: "Umsonst" (δωρέαν [2,21]) wäre Christus gestorben, wenn durch das Gesetz Gerechtigkeit zu erlangen sei; "vergeblich" (εική [3,4]) hätten die Galater so viel erlitten; und Paulus furchtet, daß er sich "vergeblich" (εική [4,11]) um sie bemüht hätte. Drittens ist 5,3 mit deutlichem Rückgriff - Paulus selbst sagt "πάλιν" auf 3,10 formuliert, da sich in beiden Versen das Wortmaterial weitgehend entspricht: παντι άνθρώπω (5,3) nimmt πάς (3,10) auf, ολον τον νόμον (5,3) korrespondiert mit πάσιν τοις γεγραμμένοις κτλ. (3,10) und οφειλέτης έστιν [...] ποιήσαι (5,3) stimmt in der Sache mit έμμένει [...] τού ποιήσαι αύτά (3,10) überein. Viertens steht hinter dem exponierten Ich (έγώ Παύλος λέγω ύμίν [5,2]) die geballte Autorität des Apostels, die Paulus in den ersten beiden Kapiteln des Briefes für sich in Anspruch genommen hat. Sein göttlicher Apostolat (1,1.15f), seine Unabhängigkeit von Jerusalem (l,17ff) und zugleich seine Anerkennung dort (2,9) - all

Vgl. u. S. 188. Neben der Antithese έκ πίστεως / έξ içr/ων νόμου erscheint auch der Wortstamm *δικαιο-, der zwischen 2,16 und 3,25 mit 11 Belegen die Argumentation entscheidend mitbestimmt (2,16[3x].17.21; 3,6.8.1 l[2x].21.24), nur noch in 5,4 und 5,5. Auch πίστις / πιστεύω, ebenfalls ein omnipräsenter Leitbegriff zwischen 2,16 und 3,25, wird jenseits von 5,6 nur noch zweimal in marginalem Zusammenhang gebraucht (5,23; 6,10). Dasselbe gilt für χάρις (1,[3].6.15; 2,9.21; 5,4; [6,18]): Abgesehen vom brieflichen Rahmen (1,3; 6,18) umspannt χάρις mit einem großen Bogen gerade den Abschnitt 1,6 bis 5,4.

Der autographische

Schluß

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dies ist in jener betonten und persönlichen Formulierung mit präsent. Oben war gesagt worden 63 , daß das erste Verbum einer juristischen subscriptio den wichtigsten Geschäftsvorgang, den das Dokument besiegeln soll, wiederholt. Dieses besondere Gewicht liegt in 5,2 auf dem λέγω ύμίν und analog in 6,11 auf dem έγραψα ύμίν, denn der Kommunikationsvorgang selbst, in dem Paulus als Apostel seiner Gemeinde mittels eines Briefes Weisung erteilt, ist sozusagen jener zentrale "Geschäftsvorgang", der noch einmal festgeschrieben werden soll. Fünftens schließlich erinnert 5,6 (wie der Parallelvers 6,15) inhaltlich und in seinem sprachlichen Aufbau an 3,28. Hier wie dort klingt die Polarität der alten in Christus überwundenen Weltordnung an. Die Verse 5,6 und 6,15 nehmen das erste Gegensatzpaar aus 3,28a (ούκ ενι 'Ιουδαίος ούδέ "Ελλην) in der Antithese ούτε περιτομή / ούτε άκροβυστία noch einmal auf, wobei der in Christus hinfällig gewordene Unterschied zwischen Juden und Heiden nun auf dasjenige äußerliche Merkmal hin verengt wird, an dem sich der aktuelle Konflikt kristallisiert. Diese Beobachtungen zeigen, daß die wichtigsten Themen der Kapitel 1,1-5,1 in 5,2-6 noch einmal in nuce angesprochen werden und daß somit das erste Kriterium einer subscriptio, das der inhaltlichen Rekapitulation, erfüllt ist. (2) Die Frage nach dem zweiten konstitutiven Element einer subscriptio, ob der Unterzeichnende seinen Namen nennt, ist nur scheinbar schnell zu beantworten, da allein der Hinweis auf "Παύλος" in 5,2 nicht genügt. Bevor wir diese Namensnennung als formales Element besonders gewichten können, muß vielmehr sichergestellt sein, daß der Apostel seinen eigenen Namen nicht - wie etwa Caesar - inflationär gebraucht, sondern mit Bedacht. Insgesamt erscheint der Eigenname "Paulus" in den Proto- und Deuteropaulinen 64 29mal, davon allein 13mal unabdingbar vom Formular gefordert in der jeweiligen superscriptio, so daß noch 16 Stellen genauer zu prüfen sind. Von diesen erklären sich wiederum sechs eng beieinander liegende Stellen dadurch, daß Paulus in IKor 1 und 3 gezwungen ist, die die Parteienbildung innerhalb der korinthischen Gemeinde zu rügen 65 Die Namensnennung ist in beiden Passagen jeweils durch ein Zitat der Rede der Korinther motiviert (ότι έκαστος ύμίν λέγει- ε γ ώ μέν είμι Παύλου κτλ. [IKor 1,12; analog 3,4f]). In IKor 1,13 greift Paulus sodann seinen

Vgl. o. Anm. 46. 64

Es ist sinnvoll, bei dieser speziellen Frage die Deuteropaulinen mit heranzuziehen, da der Gebrauch des Eigennamens hinsichtlich des Anspruchs auf Authentizität ein sensibler Punkt ist. Wir werden sehen, daß die Verfasser der Deuteropaulinen auch hier die formalen Gepflogenheiten des Paulus imitieren.

65

IKor l,12.13(2x); 3,4.5.22.

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Das epistolographische

Formular

von den Korinthern zu Unrecht in Anspruch genommenen Namen auf, um ihnen zu zeigen, daß sie in der Gefahr stehen, κύριος und απόστολος zu verwechseln 66 Die Wendung εις το όνομα Παύλου έβαπτίσθητε (lKor 1,13) parodiert nämlich die Taufaussage, die sich ausdrücklich εις το όνομα Χρίστου vollzieht. Indem Paulus nun statt des erwarteten "Christus" in lKor 1,13 zweimal seinen eigenen Namen einsetzt, hält er den Korinthern ihre groteske "Verwechslung menschlicher Handlung mit den Konstitutionsbedingungen christlichen Glaubens" 67 vor Augen. Explizit im Kontext eines autographischen Abschnitts steht der Name entweder als Gruß (ό ασπασμός τή έμ-rj χειρί Παύλου [lKor 16,21, deuteropaulinisch wörtlich zitiert in Kol 4,18 und 2Thess 3,17]) oder als Schuldverschreibung (έγώ Παύλος έγραψα τη έμή χειρί, έγώ αποτίσω [Phlm 19]), deren korrektes Formular die Nennung des Namens verlangt68 Zu dieser quantitativ nicht unerheblichen Gruppe zählt m.E. auch Gal 5,2, nur sind hier die Namensnennung (έγώ Παύλος) und der autographische Hinweis (έγραψα τη έμή χειρί) zwischen 5,2 und der korrespondierenden Stelle 6,11 aufgeteilt. Auch die verbleibenden Stellen lassen einen reflektierten Gebrauch des Eigennamens erkennen: In IThess 2,18 ist er eine notwendige Präzisierung zu dem vorangehenden "wir" in ήθελήσαμεν, da der Brief ja formal von drei Absendern (Paulus, Silvanus und Timotheus [IThess 1,1]) verfaßt ist. In Phlm 9 (τοιούτος ών ώς Παύλος πρεσβύτης) ist der Name unauflöslich mit einer Apposition verbunden, der im dortigen Argumentationszusammenhang größeres inhaltliches Gewicht zukommt als dem Namen selbst. Diese Verbindung von Eigennamen und Apposition wird deuteropaulinisch in Eph 3,1 (Παύλος ό δέσμιος τού Χριστού) und Kol 1,23 (Παύλος διάκονος) kopiert. Und 2Kor 10,1 schließlich (αύτός δε έγω Παύλος παρακαλώ ύμάς) betont durch das vorangestellte αύτός das Ich des Paulus noch stärker als Gal 5,2. Da aber in 2Kor 10,1 ein neuer Brief beginnt 69 , kommt auch an dieser Stelle dem Eigennamen eine besondere Signalwirkung zu. Insgesamt gebraucht Paulus seinen Eigennamen also wohlüberlegt und sparsam. In der Mehrzahl der Fälle steht dieser an denjenigen Stellen, die vom Briefformular her vorgegeben sind (Präskript, autographische Notiz); bei den anderen Fällen liegen andere leicht nachvollziehbare Gründe vor. Dies rechtfertigt, auch der Na-

V g l . M . PÖTTNER, R e a l i t ä t a l s K o m m u n i k a t i o n ( 1 9 9 5 ) ,

151-156.

Ebd., 1 5 4 . 68

Vgl. A. DEISSMANN, Licht vom Osten ( 1923), 281 f und R. BUZON, Briefe der Ptolemäerzeit (1984), 2 1 7 - 2 2 5 .

Zur Diskussion um die literarkritische Abgrenzung des sogenannten "Vierkapitelbriefes" (2Kor 10-13) vgl. H.G. SUNDERMANN, Der schwache Apostel und die Kraft der Rede (1996),

19-30.

Der autographische

Schluß

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mensnennung in 5,2 einen besonderen Akzent zuzugestehen. Da der Kontext keinen anderen Grund nahelegt, sei der Eigenname dort als formaler und notwendiger Bestandteil der ersten subscriptio verstanden. (3) Gibt es nun einen Hinweis darauf, daß die eigenhändige Handschrift des Paulus schon in 5,2 beginnt? Das ϊδε, welches den fraglichen Abschnitt eröffnet, kann in diesem Sinne gedeutet werden. Zwei Argumente begründen diese These: die bereits erwähnte strukturelle Korrespondenz von 5,2 zu 6,11 und - wichtiger noch - der innerpaulinisch differenzierte Gebrauch von ϊδε und ιδού. Die Imperative ίδε (5,2) und ιδετε (6,11) eröffnen jeweils die parallelen Abschnitte 5,2-6 und 6,11-15. In 6,11 weist die Verbindung von "Größe" (πηλίκοις) und "Sehen" (ϊδετε) auf ein optisch konkret wahrnehmbares Phänomen hin. Die Parallelität von 5,2 und 6,11 sowie der folgenden Verse legt es nun nahe, auch das ίδε in 5,2 als optisches Signalwort zu bewerten und ihm eine prägnate Bedeutung in Sinne von "Schau hin!" zuzugestehen. "Ιδε wäre dann als Aufforderung an den Leser zu deuten, auf die an dieser Stelle im Schriftbild wechselnde Handschrift zu achten. Untersucht man nun bei Paulus den Gebrauch von ϊδε gegenüber dem verwandten ιδού, so ergibt sich ein überraschend differenziertes Bild, welches die gerade vorgetragene Interpretation von 5,2 bestätigt. Nur zweimal gebraucht Paulus ίδε (Gal 5,2 und Rom 11,22), einmal den Plural ϊδετε (Gal 6,11), aber neunmal ιδού70 Schon allein die quantitative Streuung läßt einen überlegten Gebrauch von ιδε gegenüber ιδού vermuten. In der Tat wird ιδού bei Paulus immer (wie hebr. ΓΟΠ) als semantisch verblaßte Partikel gebraucht71 und steht grammatikalisch außerhalb der nachfolgenden Satzkonstruktion72 "Ιδε73 ist dagegen an der anderen Stelle (Rom 11,22) ein prägnanter Imperativ mit korrekt fortgeführter Satzkonstruktion74

Rom 9,33; IKor 15,51; 2Kor 5,17; 6,2(2x).9; 7,11; 12,14; Gal 1,20. Als Partikel wird ιδού mit einem Akut auf der ultima versehen, obwohl die Form klassisch als Imperativ Aorist Medium mit einem Zirkumflex (ιδού) zu akzentuieren wäre. Meist folgt auf ιδού ein vollständiger Satz, dessen Prädikat mit einem Imperativischen Gebrauch (also: ίδοϋ [s. Anm. 71]) kollidieren würde; so Rom 9,33; IKor 15,51; 2Kor 5,17. 6,9. 7,11. 12,14. Gal 1,20 ist elliptisch formuliert, und mit BDR § 128,2 kann λέγω ergänzt werden. In 2Kor 6,2 folgen Nominative, die ebenfalls die Deutung des ιδού als Imperativ unmöglich machen. Klassisch müßte ίδε als Imperativ wie die anderen starken Aorist-Imperative (είπέ, έλθέ, εύρέ, λαβέ) auf der ultima betont werden (ίδε), aber die Koine hat diese Akzentverschiebung nicht beibehalten (vgl. K-B II, p.84). Rom 11,22: ίδε ούν χρηστότητα και άποτομίαν θεού. Hier steht nach dem Imperativ ϊδε "die Güte und Strenge Gottes", die "geschaut" und erkannt werden soll, grammatikalisch

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Das epistolographische

Formular

"Ιδε ist also "bei weitem nicht in dem Maße wie ιδού [...] seiner imperat(ivischen) Bedeutung entkleidet, sondern enthält eine wirkliche Aufforderung, eine Sache oder Person ins Auge zu fassen oder, wo es objektlos steht, sich durch Augenschein von dem Tatbestand zu überzeugen" 75 Dieses Votum von TH. ZAHN gilt auch für Gal 5,2. Nach dem objektlosen ιδε sollte interpungiert werden; aber der Sache nach ist jenes nicht ausgedrückte Objekt mit der einsetzenden Handschrift des Paulus gegeben, von der sich der Leser des Originalbriefes dem Augenschein nach überzeugen konnte. D.L. DUNCAN gibt in seinem Kommentar 5,2 wieder mit: "Here, listen [!] to Paul: I tell you"76 Sprachlich gesehen ist das natürlich eine falsche Übersetzung; aber die Intention, die ihr zugrundeliegt, ist nicht unberechtigt, weil sie versucht, zwischen dem geschriebenen Schriftstück, das nur einer liest, und dem verlesenen Text, den alle hören, zu vermitteln. Paulus selbst folgt in 6,11 der gleichen Intention, wenn er die nur optisch verifizierbaren Phänomene von Eigenhändigkeit und "großen Buchstaben" expressis verbis zur Sprache bringt und sie so auch für die Hörer wahrnehmbar macht. Vielleicht bietet sich hier sogar eine Erklärung für den unterschiedlichen Numerus von ϊδε und ϊδετε an: "Ιδε im Singular zielt nur auf den (Vor)Leser des Textes, der allein die Möglichkeit hat, den Wechsel in der Handschrift zu erkennen, ϊδετε im Plural dagegen spricht auch alle Hörer an, die durch den Nachsatz in 6,11 das Schriftbild akustisch vermittelt vor Augen haben. Beide werden durch die Imperative aufgefordert, die Eigenhändigkeit der Passagen nicht zu übersehen, denn diese ist das dritte konstitutive Formmerkmal einer subscriptio. Betrachten wir nun die Abgrenzung der ersten subscriptio gegenüber dem Kontext. Diese muß sichergestellt sein, wenn wir 5,2-6 eine eigenständige Funktion im Formular des Galaterbriefes zuweisen wollen. Unabhängig von dem kataphorischen Neueinsatz in 5,2 sprechen folgende Gründe dafür, 5,1 anaphorisch als Abschluß der Perikope 4,2Iff anzusehen. Zunächst ist die semantische Kohärenz zwischen 5,1 und dem vorstehenden Abschnitt zu betonen. Die zentralen Begriffe dieses Verses, "Freiheit" (έλευθερία, έλευθεροϋν) und "Sklaverei" (δουλεία), beschreiben als

korrekt im Akkusativ. (Anders die Nominative nach ιδού; z.B. 2Kor 6,2: ίδου νυν καιρός ευπρόσδεκτος, ιδού νυν ημέρα σωτηρίας.) Auch macht in Rom 11,22 kein weiteres verbum fìnitum ιδε seinen Rang als Prädikat des Satzes streitig. (Anders nach ιδού; z.B. IKor 15,51: ιδού μυστήριον ύμίν λέγω). ZAHN, 248 Anm. 59 (mit Berücksichtigung des Sprachgebrauchs der Evangelien). Diese Einschätzung hat zuletzt G.D. KILPATRICK (ΙΔΟΥ and ΙΔΕ in the Gospels [1990], 205) noch einmal bestätigt: "ίδε retains much of its imperativ force. [...] The point could be made by putting a comma after ιδού, but not after ίδε" Galatians (1955), 153; vgl. auch die Einheitsübersetzung (1980): "Hört [!], was ich, Paulus, euch sage".

Der autographische Schluß

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Antithese das beherrschende Wortfeld von 4,2Iff. Zu diesem Wortfeld gehören: παιδίσκη77 (4,22.23.30.31), ελευθέρα (4,22.23.26.30.31), δουλεία (4,24), δουλεύειν (4,25). Abgesehen von 5,13, wo ελευθερία und δουλεύειν noch einmal aufgenommen werden, liegen alle weiteren Fundstellen jenes Wortfeldes im Galaterbrief vor 5,178 Damit ist ein Bezug von 5,1 zu 5,13 zwar gegeben79 und interpretationsbedürftig (s.u. 1.2.3), aber dieser Bezug zum nachfolgenden Text ist bei weitem nicht so stark wie die semantische Verankerung des Verses 5,1 im vorstehenden. Zweitens gibt der Imperativ μή πάλιν ζυγφ δουλείας ένέχεσθε (5,1) die paulinische Antwort auf die in 4,9b gestellte rhetorische Frage: πώς έπιστρέφετε πάλιν έπί τά ασθενή και πτωχά στοιχεία οίς πάλιν άνωθεν δουλεύειν θέλετε. Dem doppelten und ungläubig fragenden πάλιν in 4,9b hallt hier in 5,1 das klar weisende μή πάλιν entgegen. Drittens erweist sich in einem innerpaulinischen Vergleich der Imperativ στήκετε (5,1) als eine Wendung, die Zusammenhänge abschließt, nicht aber neue eröffnet. Dieser Imperativ steht noch IKor 16,13; Phil 4,1 und deuteropaulinisch 2Thess 2,1580 Wie Gal 5,1 der letzte Vers vor der ersten subscriptio ist, so beschließt auch in den genannten Fällen jeweils der unmittelbare Kontext von στήκετε einen formalen Briefteil8' Schließlich sei noch ein textkritischer und rezeptionsgeschichtlicher Hinweis gestattet. Obwohl an der guten Bezeugung des von 27NA in 5,1 gebotenen Textes nicht zu zweifeln ist (Ν* Α Β D*), ist der Text doch weitgehend mit einer relativischen und somit engeren Anbindung von 5,1 an 4,31 rezipiert worden. Die Zeugen F G

Παιδίσκη meint in 4,22ff Hagar in ihrer konkreten sozialen Stellung als unfreie Sklavenmagd. 78

Wortstamm »έλευθερ-: 2,4; 3,28; Wortstamm *δουλ-: 1,10; 3,28; 4,1.3.7.8.9. BETZ (433ff u. 463f) akzentuiert die Verbindung von 5,1 und 5,13 so stark, daß er 5,1-12 ingesamt mit zur Paränese hinzunehmen muß, ohne dies allerdings überzeugend begründen zu können.

80

In Phil 1,27 (άκούω [...] cm στήκετε) und IThess 3,8 (ζώμεν έ ά ν ύμείς στήκετε [στήκητε Ν* D] έν κυρίω) ist στήκετε dagegen indikativisch gebraucht und nicht Imperativisch (für έάν mit Indikativ [IThess 3,8] vgl. BDR § 373,3).

81

In IKor 16,13f gehört στήκετε zu einer kurzen Imperativkette, die innerhalb des Briefschlusses die Besuchsankündigungen (16,5-12) von der Empfehlung des Stephanas (16,15-18) trennt. - Phil 4,1 richtet sich summarisch noch an alle "Brüder", bevor in 4,2f Ermahnungen an Einzelpersonen folgen. (Der Gebrauch der schlußfolgernden Konjunktionen in Phil 4,1 [ώστε, αδελφοί μου ούτως στήκετε έν κυρίω] ist übrigens analog zu Gal 4 , 3 I f [διό, αδελφοί στήκετε ου vi.) - Auch 2Thess 2,15 bildet einen vorläufigen formalen Abschluß, dem zuerst ein Gebet (2,16f) und dann in 3,1 mit το λοιπόν ein deutlicher Neueinsatz folgt.

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Das epistolographische

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Marcion und die Vulgata lesen in 5,1 η ελευθερία bzw. qua liberiate; D1 und OK vermitteln durch τη ελευθερία ούν, η ημάς κτλ82 Ebenso ist in den modernen Texteditionen und Bibelübersetzungen die Absatzbildung an dieser Stelle strittig: 27 NA, Zürcher ( 1 9 4 2 ) , Luther ( 1 9 8 4 ) und Jerusalemer Bibel ( 1 9 8 5 ) sowie die deutschsprachige Kommentartradition setzen den großen Einschnitt vor 5,1 an; 4 GNT, The New English Bible ( 1 9 6 1 ) sowie die englischen Kommentare von DUNCAN und COLE dagegen nach 5 , 1 . Letzteren folgend, halte ich aus den genannten Gründen eine Zäsur zwischen 5,1 und 5,2 fur zwingend. Auch gegenüber dem nachfolgenden Text kann die erste subscriptio klar abgegrenzt werden, da 5,7-12 wieder exordialen Charakter hat und unverkennbar Konstruktionen und Wendungen aus anderen eröffnenden Briefteilen aufnimmt. Τίς ύμάς ένέκοψεν (5,7) ist ein modifiziertes Zitat der rhetorischen Frage τίς ύμάς έβάσκανεν aus 3,183 Ferner bildet der in 5,10a beschworene Konsens zwischen Paulus und den Galatern (έγώ πέποιθα [...] ότι ούδέν άλλο φρονήσετε) ein explizites Gegenstück zu dem in l,6f getadelten Dissens (θαυμάζω οτι οΰτως ταχέως μετατίθεσθε [...] εις ετερον εύαγγέλιον). Und die Strafandrohung in 5,10b (ό δε ταράσσων ύμάς βαστάσει το κρίμα, όστις έάν ή) erinnert stark an den doppelten Fluch in l,8f. Hinsichtlich ihrer rhetorischen Funktion müssen diese Parallelen später84 noch genauer untersucht werden. Hier genügt vorerst der Widerspruch gegen die traditionelle Summierung von 5,1-12 unter einer inhaltlichen Überschrift85 In diesen zwölf Versen sind vielmehr aus den genannten Gründen drei Abschnitte zu unterscheiden: 5,1 gehört noch zur Perikope 4,2Iff und beendet den diktierten Teil des Briefes (1,1-5,1), während in 5,2 der von Paulus eigenhändig geschriebene Briefteil einsetzt (5,2-6,18). In diesem wiederum beschließt Paulus zunächst mit einer subscriptio (5,2-6), die den formalen Anforderungen einer derartigen Form genügt, den ursprünglich konzipierten Brief. Der Gedankengang ist abgeschlossen, der theologische Punkt gesetzt, die soteriologische Konsequenz der Beschneidung ausgesprochen. Was sich nun in 5,7-6,18 anschließt, ist im epistolographischen Sinne ein post scriptum, d.h. eine Fortsetzung des Briefes über den ersten formalen Abschluß

82

Ausführliche textkritische Erörterungen zur Stelle bei ZAHN (246f) und OEPKE/ROHDE (155).

83

Die Handschriften C D 2 Ψ 0278 33E 1881 TO gleichen 3,1 und 5,7 noch stärker aneinander an, indem sie in 3,1 den Zusatz τη άληθεία μή πείθεσθαι aus 5,7 einfügen.

84

Vgl. Kap. 3 . 6 .

85

Z.B. SCHLIER, 228: "Es gibt nur ein Entweder-Oder"; MUSSNER, 342: "Appell an die Galater, im Stand der christlichen Freiheit zu verbleiben" oder BETZ, 433: "Warnung, die jüdische Tora anzunehmen".

Der autographische Schluß

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hinaus86 Wir werden dieses post scriptum in 1.2.4 näher untersuchen; zuvor aber ist ein Blick auf die mit 5,2-6 korrespondierende zweite subscriptio des Briefes (6,11-15) zu werfen.

1.2.3 Die zweite Subscriptio (6,11-15) Zu der Struktur des Abschnitts 6,11-15, seinen Randversen und dem Komplex der Eigenhändigkeit ist das Entscheidende bereits im Verlauf der bisherigen Erörterung gesagt worden. Deshalb können wir uns hier auf die Verse 6,12-14 konzentrieren und die oben 87 aus der Literatur übernommene Behauptung überprüfen, daß 6,11 ff eine Zusammenfassung oder Epitome des (gesamten) Briefes sei. Vorweg ist ein möglicher Einwand zurückzuweisen. Es spricht nicht gegen den rekapitulierenden Charakter dieser Passage, daß ein späterer Leser des Galaterbriefes erst hier - kurz vor dessen Ende erfährt -, daß die Galater von außen zur Beschneidung gedrängt wurden (6,12b. 13b)88 Die Adressaten werden die rätselhafte Andeutung in 1,7 (είσιν oi ταράσσοντες ύμάς και θέλοντες μεταστρέψαι το εύαγγέλιον) eine Andeutung, die für jeden anderen beim ersten Lesen dunkel bleiben muß sofort verstanden und auf jene Aufforderung zur Beschneidung bezogen haben. Untersucht man aber darüber hinaus, aus welchen Abschnitten des Galaterbriefes die Themen und Gedanken stammen, die in 6,12-14 noch einmal aufgegriffen werden, dann zeigt sich, daß die meisten Anknüpfungspunkte in dem Briefteil nach der ersten subscriptio (also nach 5,7) liegen und nur wenige auf frühere Abschnitte zurückweisen. Diese These modifiziert die Einschätzung der Literatur, daß es sich in Gal 6,11 ff um eine Gesam/rekapitulation des Briefes handelt. Sie sei im folgenden begründet. Im Zentrum der Verse 6,12f stehen die sogenannten "Gegner" Sie sind die Handlungsträger und grammatikalischen Subjekte aller sechs finiten Verbalformen dieser Verse 89 Sie drängen die Galater zur Beschneidung, um έν σαρκί (6,12a. 13c) eine

Zur Unterscheidung von post scriptum

und Postskript vgl. o. Anm. 32.

87

Vgl. S. 45.

88

In 5,2 ist diese Veranlassung von außen ausgeblendet. Dort liest sich die Formulierung "έάν περιτέμνησθε" eher wie eine freiwillige Entscheidung der Galater.

89

Eine nähere Bestimmung der Gegner oder gar eine namentliche Anklage unterbleibt (όσοι - ούτοι [6,12ab]). Lediglich zu ούδε ν ό μ ο ν φυλάσσουσιν (6,13a) ist ein eigenes Subjekt genannt: οί περιτεμνόμενοι (^346 Β F G L Ψ lesen περιτετμημένοι). Das textkritisch eindeutige Partizip Präsens ist "zeitlosf]" (ZAHN, 2 8 2 ) und "grundsätzlich" (MUSSNER, 4 1 3 Anm. 2 3 ) gebraucht wie auch an der Parallelstelle 5,3 (άνθρώπω περιτεμνομένω). Die περιτεμνόμενοι sind demnach "'die Beschneidungsleute', konkret:

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Das epistolographische

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"gute Figur" zu machen (εύπροσωπήσαι [6,12a]) und u m sich zu rühmen (ϊνα καυχήσωνται [6,13c]). Außerdem unterstellt Paulus ihnen Angst vor Verfolgung (6,12c). Die Galater selbst sind dagegen nur am Rande präsent als grammatikalisches Objekt (ύμάς [6,12b.13b]) oder als Medium f r e m d e n Rühmens (έν υμετέρα σαρκί [6,13c]). Entspricht aber diese dominante Thematisierung der Gegner dem Gewicht, das ihnen bisher im Galaterbrief zukam? Zeichnen wir kurz nach, wo Paulus die Gegner im Brief erwähnt: Gleich zu Beginn werden sie in 1,7 als Unruhestifter (οί ταράσσοντες) und Verdreher des Evangeliums (θέλοντες μεταστρέψαι το εϋαγγέλιον) eingeführt, und ihnen vor allem gilt der doppelte Fluch in l,8f. Dann aber geraten sie angesichts der ausführlichen Darlegung von Herkunft und Inhalt der paulinischen Evangeliumsverkündigung vier Kapitel lang weitgehend in den Hintergrund. Die Position, die sie in Galatien vertreten, könnte mit der zusammenfallen, die die "eingeschlichenen Falschbrüder" (παρεισάκτους ψευδαδέλφους [2,4]) in Jerusalem vertreten haben, aber einen Hinweis auf eine Personalunion gibt es nicht. Ferner verbergen sich die Gegner vor Ort hinter dem τίς in 3,1, und in 4,17 (ζηλοΰσιν ύ μ ά ς ού καλώς, άλλα έκκλεΐσαι ύ μ ά ς θέλουσιν, ϊ ν α αύτοϋς ζηλούτε) fallt ein kleiner, im dortigen Kontext eher überraschender Seitenblick auf sie 90 Ab 5,7 aber - also genau nach dem Ende der ersten subscriptio - kommt Paulus wieder mit zunehmend schärferen Worten auf seine Gegner zu sprechen: Die rhetorische Frage: "Wer hat euch gehindert, der Wahrheit zu gehorchen?" (5,7) zielt auf sie; sie sind die ζύμη, die "den ganzen Teig" (das meint hier die Gemeinde vor Ort) "durchsäuert" (5,9). Ihre Strafe werden sie erhalten (5,10). Sie wiegeln zur Beschneidung auf (oi άναστατοϋντες [5,12]) und hätten sich doch besser selbst verschnitten (οφελον άποκόψονται [5,12]). Die starke Präsenz der Gegner in 6,12f steht also in Spannung zu ihrer weitgehenden Ausblendung im vorderen Briefteil, stimmt aber gut mit ihrer gehäuften Erwähnung in 5,7-12 überein. Somit ergeben sich unter dem Gesichtspunkt der Gegnerthematisierung Fernbezüge zwischen 5,7-12 und der zweiten subscriptio. Dieses Thema umschließt den hinteren Briefteil (5,7-6,18), den wir oben epistolographisch als post scriptum bezeichnet hatten.

die judenchristlichen Gegner des Apostels" ( S C H L I E R , 2 8 1 ) . - Die Verse 5,3 und 6,13a korrespondieren übrigens hinsichtlich der Polarität eines hohen Anspruches ([ό περιτεμνομένος] οφειλέτης έστιν όλον τον νόμον ποιήσαι [5,3]) und dessen gescheiterter Umsetzung (ούδέ γάρ oi περιτεμνόμενοι αυτοί, νόμον φυλάσσουσιν [6,13a]) miteinander. Dies ist ein weiteres Mosaiksteinchen in dem Beziehungsgeflecht der beiden

subscriptiones. "Ziemlich unvermittelt geht Paulus zu einer beißenden Polemik gegen seine Gegner über", schreibt B E T Z ( 3 9 6 ) zu 4 , 1 7 . Man könnte allerdings erwägen, ob nicht im vorangehenden Vers das Stichwort εχθρός ( 4 , 1 6 ) bei Paulus diese Attacke ausgelöst hat.

Der autographische Schluß

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Unterhalb dieser Fernbezüge liegt die Paränese des Briefes (5,13-6,10). Diese soll erst in Kap. 3.7 ausführlich behandelt werden, aber es sei schon hier erwähnt, daß einige Ermahnungen der Paränese mehr die Situation der Gegner treffen als die der Galater. Dadurch wird innerhalb der Paränese das Motiv der Gegnerthematisierung fortgeschrieben. Besonders die adhortatio in 5,26 ("Lasset uns nicht nach eitler Ehre begierig werden, einander nicht herausfordern, einander nicht beneiden!") verwendet Begriffe, deren semantische Konnotation mit den Vorwürfen in 6,12f übereinstimmt: κενόδοξος, προκαλεΐν und φθονείν91 Man möchte meinen, daß sich Paulus gerade von seinen Gegnern (und nicht von den Galatem) "herausgefordert" (προκαλεΐν) und um seinen Missionserfolg "beneidet" (φθονείν) fühlt, wenn er ihnen in 6,13c vorwirft, daß sie sich aufgrund der beschnittenen Galater rühmen wollen. Und κενόδοξος (5,26) ist geradezu ein Synonym für εύπροσωπήσαι έν σαρκί (6,12a). Auch paßt das Bild vom pneumatisch oder sarkisch säenden und erntenden Menschen (6,7f) eher zur paulinischen Mission und der der Gegner als zu den missionierten Galatern. Neben den Galatern sind also deutlich auch die Gegner vor Ort als intendierte Zielgruppe der Paränese auszumachen. Dies stimmt mit ihrer Präsenz in den Rahmenteilen der Paränese (5,7-12 und 6,11-15) überein. Weitere Leitbegriffe in 6,12-14 sind έν σαρκί, σταυρός (in Verbindung mit διώκειν) und καυχάσθαι. Besonders die Begriffe σταυρός (6,12c.14b) und καυχάσθαι (6,13c. 14a) prägen die innere Struktur dieser Verse, da sie je doppelt gebraucht werden und da mit ihrer Hilfe die Abgrenzung der paulinischen Position (6,14) von der der Gegner vorgenommen wird92 ' Εν σαρκί ist als Gegenbegriff zu έν πνεύματι eine wichtige Kurzformel der paulinischen Theologie93 Die Gegenüberstellung beider Begriffe erscheint zuerst in 3,3 und 4,2994, vor allem aber sechsmal hintereinander in 5,13-24 sowie in 6,8. Im Sinne einer Rekapitulation wird das Stichwort έν σαρκί in 6,12a deshalb vorrangig an die Passage 5,13-24 erinnern. Auch ließe sich die Untat θέλουσιν εύπροσωπήσαι έν σαρκί (6,12a) - ein Streben, das zwangsläufig immer auf die Herabsetzung einer anderen Person (πρόσωπον) hinausläuft - leicht als ein Werk des Fleisches an den Lasterkatalog in 5,19-2la anfügen. Paulus unterstellt seinen Gegnern, daß sie die Beschneidung der Galater einzig betrieben, um nicht wegen des Kreuzes Christi verfolgt zu werden (μόνον ϊνα τω

Das Adjektiv κενόδοξος sowie die Verben προκαλεΐν und φθονείν sind neutestamentlich Hapaxlegomena. Paulus gebraucht sonst nur noch die Substantive κενοδοξία (Phil 2,3) und φθόνος (Rom 1,29; Gal 5,21; Phil 1,15). Vgl. o. S. 52. Zu den paulinischen Kurzformeln mittels präpositionaler Wendungen s.o. Anm. 60. 94

Σάρξ alleine steht auch in 1,16 und 4,23.

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Das epistolographische

Formular

σταυρώ του Χρίστου μή διώκωνται [6,12c]). Wie aber stellt sich für ihn selbst das Problem der persönlichen Verfolgung dar? In 5,11 hat er es aufgezeigt: "Ich aber, Brüder, wenn ich die Beschneidung noch verkündige, warum werde ich [dann] noch verfolgt? Dann ist ja das Ärgernis des Kreuzes beseitigt!" Paulus predigt also die Beschneidung nicht und nimmt um des Kreuzes willen die Gefahr der Verfolgung auf sich. Beschneidung (περιτομή), Verfolgung (διώκειν), Kreuz (σταυρός) - eine Trias identischer Begriffe bindet die Verse 5,11 und 6,12 zusammen. Man wird nun 6,12 nicht als Rekapitulation von 5,11 bezeichnen können, wohl aber als interpretierende Ergänzung. Deshalb ist rückwirkend von 6,12 her auch 5,11 als Seitenhieb auf die Gegner zu lesen, da dort ihr zu Paulus gegenläufiges Verhalten implizit schon mitthematisiert ist. Auch diese Beobachtung verstärkt den Bogen, der das post scriptum

umschließt.

Die Vokabel καύχημα / καύχησις / καυχάσθαι ist ein Schlüsselbegriff der paulinischen Sprache und Theologie95 Mit ihm geißelt Paulus die "sündig-eigenmächtige Haltung"96 des Menschen. Jede Form des prahlerischen Selbstruhmes weist er als unberechtigt zurück (τί δέ εχεις δ οΰκ ελαβες; εί δέ και ελαβες, τί καυχάσαι ώς μή λαβών; [lKor 4,7]). Bestand hat einzig und allein ein Ruhm, der sich auf Christus bezieht (ό καυχώμενος έν κυρίω καυχάσθω [lKor 1,31])97 Im Galaterbrief nun erscheint der Wortstamm *καυχ- neben 6,13f nur noch in 6,4b: και τότε εις εαυτόν μόνον το καύχημα εξει καί ούκ εις τον ετερον. Wiederum liegt also ein semantischer Anknüpfungspunkt der zweiten subscriptio im post scriptum, wobei Paulus allerdings die grammatikalische Konstruktion variiert98

Von den 60 Belegen des Stammes *καυχ- im Neuen Testament insgesamt stehen 53 in den protopaulinischen Briefen. R. BULTMANN, Theologie (1984), 242; vgl. auch desgl. Art.: καυχάομαι κτλ. in: ThWNT III, 646-654. - Ferner H. CONZELMANN, Theologie (1992), 269: Die Wortgruppe καυχ"bezeichnet die Grundhaltung des emanzipierten Menschen einschließlich seines unbewußten Verhaltens. Sachlich bedeutet es überhaupt keinen Unterschied, ob die Emanzipation säkular oder religiös ist, ob die Haltung des Griechen als des nach "Weisheit" Fragenden in den Blick kommt oder die Haltung des Juden, der sich auf seine Werke stützt und den Gehorsam als Leistung versteht" Vgl. W HARNISCH, Einübung des neuen Seins (1987), 282 in bezug auf Gal 6,14: "Konzediert wird ausschließlich ein καυχάσθαι des gekreuzigten Herrn, und diese Ausnahme bestätigt nur die Regel, nach der das Selbstlob für den Glauben keine menschliche Möglichkeit mehr darstellt. Ist nämlich der Gekreuzigte Gegenstand des Rühmens, so kommt der Ruhm ja gerade nicht dem Ich zugute, das rühmt." Καυχάσθαι εν τινι (6,13c, "sich einer Sache oder Person rühmen") konstruiert mit einem dativus causae (BDR § 196,2). Καύχημα εχω είς τινα (6,4b, "Ruhm haben im Hinblick auf jemanden") steht dagegen bei Paulus nur hier (vgl. aber 2Kor 10,13.15.16 καυχάσθαι εϊς τι). Zu den verschiedenen Konstruktionen von καυχάσθαι führt R. BULTMANN (ThWNT III, 649 Anm. 35) aus: "Der Unterschied des trans(itiven) u(nd) intransitiven)

Der autographische

Schluß

65

Paulus gründet seinen Ruhm auf das Kreuz des Herrn (6,14b), denn dessen Kreuz war auch sein Kreuz (δι' ο υ " έμοι κόσμος έσταύρωται κάγώ κόσμω [6,14c]). Diese Vorstellung einer metaphorischen Kreuzigung verweist einmal auf 5,24, deutlicher aber noch auf 2,19, wo Paulus ebenfalls von sich selbst sagt: Χριστώ συνεσταύρωμαι. Damit ist endlich auch ein Rückverweis auf die vorderen Kapitel des Briefes gegeben. Doch diesem singulären Rückgriff auf Gedanken des vorderen Briefteils100 steht die ungleich längere Liste jener Verknüpfungen gegenüber, die sich zwischen der zweiten subscriptio und dem Abschnitt 5,7-6,10 aufzeigen ließen. Daher bleiben wir bei unserer Einschätzung, daß 6,11-15 vor allem als subscriptio auf diesen Abschnitt hin konzipiert ist. Im Formular des Gesamtbriefes fungiert die zweite subscriptio als Pendant und Zitat der ersten. Grenzt sich nun auch die zweite subscriptio so klar vom Kontext ab wie die erste? Die Zäsur am oberen Rand zwischen 6,10 und 6,11 ist evident und unstrittig, die am unteren zwischen 6,15 und 6,16 dagegen problematisch, denn anders als bei dem asyndetischen Neubeginn in 5,7 scheint hier zu Beginn von 6,16 das καί den Gedankengang fortführen zu wollen. Überblickt man 6,11-18 als Ganzes, dann zeichnet sich auf den ersten Blick mit όσοι κτλ. (6,12) και όσοι κτλ. (6,16) eine zweigliedrige Struktur ab, als ob Paulus nacheinander zwei Personengruppen in den Blick nehmen wollte. Andererseits ist 6,16b bereits in der typisch elliptischen Nominalsatzstruktur eines Grußes formuliert (ειρήνη έπ' αυτούς και έλεος), so daß man guten Grund hat, 6,16-18 zusammengenommen als epistolographisches Postskript zu bezeichnen. Letzteres Argument ist, verbunden mit der Gesamtkorrespondenz von 5,2-6 zu 6,11-15, m.E. gewichtiger. Deshalb unterscheiden wir vorläufig am Ende des Galaterbriefes zwischen der zweiten subscriptio (6,11-15) und dem Postskript (6,16-18).

Gebrauchs von καυχάσθαι macht für die durch das Verb bezeichnete Grundhaltung nichts aus. Denn auch w o καυχάσθαι trans(itiv) mit Acc(usativ-)Obj(ekt) konstruiert ist (zB 2K 7,14; 9,2; 11,30), handelt es sich darum, daß mit solchem Rühmen der Rühmende sich selbst rühmt. - Der Gegenstand des sich Rühmens ist nach dem Vorbild der LXX mit έπί (R 5,2) oder (meist) mit ev angegeben." Δι' ο ύ (6,14c) ist mit SCHLIER (281), MUSSNER (414) u.a. auf σταυρώ (6,14b) zu beziehen, nicht auf κυρίου oder Χρίστου. 100

Der Bezug von 6,15 auf 3,28 kann hier nicht im Sinne eines direkten Rückverweises auf den vorderen Briefteil in Rechnung gebracht werden, da er durch 5,6 vermittelt ist. Der Vers 5,6 rekapituliert den Abschnitt 3,26-28, aber 6,15 zitiert 5,6.

1.2.4 Das Post scriptum (5,7-6,18) Die nachstehende Graphik verdeutlicht noch einmal den formalen Aufbau des autographischen Schlusses, wie er sich auf der Grundlage der bisherigen Ausfuhrungen darstellt:

1,1-5,6: ursprünglich konzipierter Brief 1.1-5,1: diktiert 5.2-6,18: autogri

5,2-6: Erste Subscriptio

5,7-6,18: Post scriptum I 6,11-15: Zweite Subscriptio po9tgknptJ

Die beiden Trennlinien zwischen 5,1 und 5,2 sowie zwischen 5,6 und 5,7 beschreiben verschiedene Aspekte. Die erste Grenze (5,115,2) trennt den diktierten Teil vom autographischen und ist somit ein rekonstruiertes Phänomen des materiellen Schriftstückes, d.h. der äußeren epistolographischen Form. Die Grenze zwischen dem ursprünglich konzipierten Brief und dem post scriptum (5,615,7) markiert dagegen eine Zäsur der inneren brieflichen Form. Es ist der Einschnitt zwischen dem durch die erste subscriptio erreichten formalen Abschluß und einem exordialen Neueinsatz in 5,7ff. Letzteres darf auf keinen Fall im Sinne einer Briefteilungshypothese mißverstanden werden. Auch ist es nicht unsere Absicht, das post scriptum samt der dortigen Paränese zu einem unwichtigen Anhang abzuwerten. Im Gegenteil, Paulus war das dort Gesagte ja so wichtig, daß er den Brief ohne dieses - trotz des schon erreichten Abschlusses - nicht abschicken wollte. Trotzdem plädiere ich entschieden dafür, den inhaltlich und formal in 5,6 erreichten Schlußpunkt ernst zu nehmen. Zwischen 5,6 und 5,7 ist ein Innehalten, eine Pause im Produktionsprozeß zu vermuten, wie sie einzutreten pflegt, nachdem man sein primäres Anliegen erfolgreich auf den Punkt gebracht hat. Dieses primäre paulinische Anliegen galt der theologischen Begrün-

Der autographische Schluß

67

dung seiner gesetzesfreien Evangeliumsverkündigung sowie der Verbindlichkeit und Legitimität dieser Verkündigung aufgrund seiner apostolischen Vollmacht. Die Stringenz, mit der Paulus dieses Anliegen in 1,1-5,6 verficht, wird unten die rhetorische Analyse des Briefes (Kap. 3) aufzeigen. Der Galaterbrief wird somit durch das lange post scriptum zu einem Brief in zwei Durchgängen. Warum Paulus dieses post scriptum notwendig erschien, wird unten noch zu fragen sein. Zunächst ist jedoch erneut ein Seitenblick auf das epistolographische Vergleichsmaterial zu werfen. Was ist über Häufigkeit, Umfang und Inhalt der post scripta in den Papyrusbriefen und bei Cicero zu sagen, was zu dem lierarischen Spiel mit dieser Formularoption bei Seneca? Auf einige post scripta der Papyrusbriefe, die eine zweite Hand autographisch zusammen mit der Klausel hinzusetzte, wurde bereits oben101 hingewiesen. Daneben gibt es weitere Belege in Briefen von nur einer Hand102 Der Umfang jener post scripta kann bis zur Hälfte des vorstehenden Briefes betragen. Zwei alltägliche Beispiele seien zur Illustration herausgegriffen. P.Mich. VIII 502 [IIP] (Text und Übersetzung im Anhang [Kap. 6.2]) ist ein allograph geschriebener Brief des Gemellus an seinen Bruder und die väterliche Familie zu Hause, ein eher inhaltsarmer typischer Freundschaftsbrief, der den Kontakt aufrecht erhalten soll und wechselseitige Anteilnahme am Geschick der anderen beschwört. Die Schlußermahnung ("Schreib mir!") und die Klausel sind autographisch. Das ebenfalls eigenhändige post scriptum formuliert einen Dank an die Schwester, die oben im Briefcorpus nicht erwähnt worden war. Hatte Gemellus sie vergessen und bedankt sich deshalb so auffallend herzlich? Der Nachtrag wird durch einen Grußauftrag und eine weitere (!) Klausel beendet, so daß auch er einen eigenen formalen Abschluß besitzt. P.Oxy. III 530 [IF] (s. Kap. 6.3) weist dagegen nur eine Handschrift auf. Dionysius berichtet seiner Mutter von Finanztransaktionen und zählt auf, welche Waren (Geld und Kleidung) ihr der Briefbote zusammen mit dem Schreiben aushändigen soll. Genaue Anweisungen, was mit diesen Dingen geschehen soll, folgen. Das post scriptum, nach Klausel und Datum quer über den linken Rand geschrieben, ergänzt

Vgl. o. Anm. 33. Post scripta in den Papyri (Auswahl): BGU III 815 [IP] (15 Zeilen Brief / 2 Zeilen p.s.), III 884 [II-IIP] (40/2), IV 1207 [28'] (14/6); P.Mich. VIII 482 [133 p ] (?[zerstört]/5); P.Oxy. I 113 [IP] (30/1), III 530 [IP] (29/2 [quer]), VII 1063 [II-IIP] (13/2), VII 1070 [IIP] (43/11 [quer]), IX 1220 [IIP] (27/2), XXXVI 2787 [IP] (4/2). 2788 [IIP] ^ [ z e r stört]/!), XLII 3058 [IP] (15/7). 3061 [Ρ] (15/1 [quer]), XLVIII 3417 [ I V ] (28/2 [quer]). 3420 [ I V ] (41/8 [quer, teilweise schon auf der Rückseite]); SB III 6800 [244/3*] (25/3), V 7562 [159 p ] (37/3).

68

Das epistolographische

Formular

nun diese Anweisungen um die vorrangige Bitte, die Mutter möge vor allem unverzüglich in einer Antwort den Empfang der Güter bestätigen. Wieder dient das post scriptum dem Nachtrag von Vergessenem. Auch am Schluß vieler Cicerobriefe finden sich Nachschriften. Dabei muß jedoch differenziert werden zwischen einem post scriptum im strengen Sinne der Definition (also nach der Klausel)103 und einer Art Fortsetzungs- oder Etappenbrief, bei dem Cicero ausdrücklich verschiedene Phasen der Niederschrift voneinander absetzt104 Bei letzterem leitet er den späteren Abschnitt ein mit: scripta iam epistula oder his litteris scriptis (sinngemäß: "eben habe ich den Brief fertig") oder gar mit obsignata epistula ("eben habe ich den Brief versiegelt")105, bisweilen fallt aber auch beides zusammen106 Von daher scheint es gerechtfertigt, auch die Stellen mit scripta iam epistula o.ä. mit unter dem Phänomen post scriptum zu subsumieren. Im Blick auf den Galaterbrief sind nun gerade diese Fortsetzungsbriefe besonders interessant, weil in ihnen metakommunikativ ausgesprochen wird, was wir analog auch an der Grenze zwischen Gal 5,6 und 5,7 vermuten. Der Briefschreiber hat sein ursprüngliches Anliegen, welches ihn zur Feder greifen ließ, abgeschlossen und dann den Brief vielleicht noch einmal durchgelesen, vielleicht aber auch schon einem Sekretär übergeben, um eine Abschrift fur das eigene Archiv anfertigen zu lassen107 In

Post scripta bei Cicero nach der Klausel: Ad fam VII 18 ([KASTEN: VII 16] 313 Wörter Brief/44 W ö r t e r p . s . , Wortzahl nach O. ROLLER, Formular [1933], 493 Anm. 334), X 21 ([KASTEN: X 20] 511/80), XIV 1 ([KASTEN: X I V 3] 456/26), X V 9 (195/34), X V I 15 ([KASTEN: XVI 3] 128/41); Att. III 22 (224/59), V 20 (925/51). Diese Unterscheidung ergab sich aus der kritischen Durchsicht der Liste derartiger Briefe bei ROLLER, ebd. So in Ad fam I 9,26 ([KASTEN: 10,26] 3695 Wörter Brief/78 Wörter ab scripta iam epistula o.a.), XII 15,7 (866/116); Att VIII 12C,4 ([KASTEN: 12B,4] 399/30), IX 6,3 (171/418). 14,3 ([KASTEN: 16,3] 232/26), XII 11 (86/10), XIII 46,5 ([KASTEN: 52,5] 220/24), X V 14,4 ([KASTEN: 26,4] 283/25), XVI 15,4 (KASTEN: 17,4] 643/254). Z.B. ad fam XVI 15 [KASTEN: XVI 3]: [Briefcorpus] vale, scripta iam epistula Hermia venit. [...] vale. Von abgehenden Briefen eine Abschrift für das eigene Archiv zu behalten, war weit verbreitet: "Mag in der Eile ein Brief im Original geschickt werden [...], meist war es eine Kopie, lateinisch exemplum oder exemplar (vgl. Att XVI 16,1 [KASTEN: X V 31,1]: Ad Plancum scripsi, misi, habes exemplum oder ad fam X 31,6 [KASTEN: 30,6])", so K. BÜCHNER, R E C A II/13 s.v. "Tullius (Cicero)", Sp. 1210. Plinius wiederum schreibt selbst zu Beginn seiner Edition (ep. I 1), daß er diese aus früher von ihm verfaßten Briefen zusammengestellt hat, d.h. auf der Grundlage zurückbehaltener Abschriften. Auch Caesar führte in Gallien ein umfangreiches Archiv seiner Berichte an den Senat (litterae publicae [Gall. V 47,2]) mit sich. Auf ihnen basieren die im Winter 52/51 verfaßten Commentarli (vgl. E. MENSCHING, Caesars Bellum Gallicum. Eine Einführung, Frankfurt/M. 1988, bes. p.40). Analog zu antiken Briefsammlungen unterstellt D. TROBISCH (Paulusbriefsammlung [1989], 105-132 bes. 128ff) auch für Paulus ein Archiv

Der autographische

69

Schluß

dieser kurzen oder längeren Pause konnten neue Ereignisse eintreten, auf die der Absender nachträglich noch mit demselben Brief reagieren wollte. Es konnten z.B. neue Briefe eingetroffen sein'08; oder er hatte Gelegenheit, die eigenen Worte noch einmal zu überdenken und gegebenenfalls zu erläutern109 Ein literarisches Spiel mit der Formularoption eines post scriptum ist schließlich bei Seneca in den Epistulae morales zu beobachten. In den ersten 29 Briefen - das sind die Bücher I-III - fügt Seneca seinen Ausführungen regelmäßig ein Epikurzitat an, das in doppelter Weise vom Kontext abgegrenzt wird. Zum einen trägt Seneca durch diese Epikurzitate eine imaginäre (finanzielle) Schuld gegenüber Lucilius ab, da er diese Zitate regelmäßig mit Termini der Finanzsprache belegt' 10 und darauf verweist, daß er so seine Schulden mit dem fremden Vermögen Epikurs bezahle111 Für unseren Zusammenhang wichtiger ist freilich die formale Zäsur, die den Epikursprüchen vorangeht. Oft weist Seneca metakommunikativ darauf hin, daß er nun zum Ende des Briefes komme" 2 oder daß er sich vorstelle, wie Lucilius schon nach der gewohnten113 Gabe Ausschau halte114 Besonders wichtig sind für uns die Stellen, an denen Seneca erwähnt, daß der Brief formal schon zu Ende sei115, daß er

seiner Korrespondenz, aus dem heraus eine Vorstufe des Corpus genannte "Autorenrezension" entstanden sei. 108

Vgl. Att XVI accepi. eqs.

15,4

[KASTEN:

17,4]:

Obsignata

iam epistula

Meras

Paulinum

als so-

a te et a Sexto

Vgl. Att. XIII 4 6 , 5 [ K A S T E N : 5 2 , 5 ] : Cicero trägt eine neue Begründung für die Einschätzung einer Person nach oder ad fam XIV 1 , 7 [ K A S T E N : 3 , 1 ] : Begründung für die Wahl eines Quartiers in der Provinz. Die angeführten Einsichten Epikurs werden z.B. als "kleiner Tagesgewinn" (diei lucellum [ep. 5,7], diurna mercedula [6,7], cotidiana stips [14,17]), als "Abzahlung" (in debitum solvere [7,10]), als "Reisegeld" (viaticum [26,8]) oder auch als "Zoll" (protorium [28,9]) bezeichnet. In ep. 29,10 spricht er von der "letzten Rate" (ultima pensio). Vgl. z.B. ep. 23,9: Hic est locus solvendi aeris alieni. Zu den inhaltlichen Bezügen zwischen Seneca und Epikur vgl. bes. H. FREISE, Die Bedeutung der Epikur-Zitate in den Schriften Senecas, in: Gymnasium 96 (1989), 532-555. Z.B. ep. 4,10 (sed ut finem epistulae

inponam, accipe eqs), ähnlich 8,7; 13,16; 28,9.

Vgl. ep. 8,7: Sed iam finis faciendus est et aliquid, ut instituí, pro hac epistula dependendum, ep. 10,5: sed ut more meo cum aliquo munusculo epistulam mittam oder ep. 13,16: sed iam finem epistulae faciam, si illi signum suum impressero. Ep. 16,7: Iam ab initio, si te bene novi, circumspicies, quid haec epistula munusculi attulerit: excute illam et invenies, ähnlich ep. 24,22. Ep. 11,8: Iam clausulam epistula poscit; ep. 12,10: sed iam debeo epistulam includere; ep. 17,11: poteram hoc loco epistulam claudere, nisi eqs und ep. 26,8: desinere iam volebam et manus spectabat ad clausulam.

70

Das epistolographische

Formular

ihn bereits zusammenfalten wollte116 (und das Zitat folglich - wie oft bei einem post scriptum - auf der Rückseite des Briefes gestanden hätte), ja daß er gar das Siegel wieder aufreißen muß: Iam inprimebam epistulae signum: resolvenda est, ut cum sollemni ad te munusculo veniat (ep. 22,13). Drei Querverbindungen dieses Befundes zum post scriptum des Galaterbriefes lassen sich m.E. aufzeigen: Inhaltliche Nachträge und Ergänzungen in Briefen waren offensichtlich so üblich, daß Seneca auch in einem literarischen Briefcorpus spielerisch an diese epistolographische Formularoption anknüpfen konnte und dadurch in den Briefen 4-29117 ein markantes Gliederungselement gewinnt. Die Entwicklung der oben zitierten Wendungen, mit denen jeweils das post scriptum eröffnet wird, belegt, daß Seneca die Fiktion des eigentlich schon beendeten und doch noch einmal weitergeführten Briefes immer kühner gestaltet. Der Höhepunkt ist hier mit der Vorstellung eines wieder aufgebrochenen Siegels (ep. 22,13) erreicht. Zweitens kann auch bei Seneca der Umfang dieser post scripta bis zu einem Drittel des Briefes ausmachen" 8 Drittens verklammert Seneca die zur Gnome verselbständigten Zitate Epikurs stets inhaltlich durch einen kürzeren oder längeren Kommentar mit dem vorstehenden Hauptteil des Briefes. Auch das post scriptum des Galaterbriefes enthält ein Sprichwort (6,7b), das argumentativ und kommentiert in einen paränetischen Kontext eingebunden ist. Briefliche post scripta - noch dazu von einem solchen Umfang, wie wir ihn für den Galaterbrief unterstellen - sind also in der antiken Epistolographie in so ausreichender Zahl belegt, daß das post scriptum unseres Briefes nicht zu einem isolierten Phänomen wird. Prüfen wir nun, wieweit auch im Galaterbrief das post scriptum die Funktion eines inhaltlichen Nachtrags oder einer Präzisierung übernimmt. Zum Stichwort Nachtrag können wir uns kurz fassen. Bereits oben" 9 war nachgezeichnet worden, daß die Gegner des Paulus vor Ort, die jenseits von 1,7-9 weit in den Hintergrund getreten waren, nun in 5,7-12 wieder unvermittelt und geballt thematisiert werden und daß manche Ermahnung der Paränese gerade auf sie zugeschnitten ist. Die Dichte und Kohärenz des Argumentationsganges in 1,1-5,6 hatte Paulus kaum Spielraum fur Invektiven gegen seine Widersacher gelassen. Nun

118

"9

Ep. 18,14: Sed iam incipiamus epistulam complicare, 'prius' inquis, 'redde quod debes ' delegabo te ad Epicurum eqs. Auch in den Briefen 1-3 zitiert Seneca am Ende eine Gnome als Lesefrucht des Tages (vgl. ep. 2,5), aber die Gewohnheit, gerade Epikur zu zitieren und dieses Zitat formal wie ein post scriptum zu gestalten, bildet sich erst allmählich heraus. Ab dem 4. Brief ist beides deutlich zu greifen. So ep. 8,7-10; 11,8-10; 16,7-9; 20,9-13 oder 22,13-17. S. 6Iff.

Der autographische

Schluß

71

aber, da die theologische Position in der Streitfrage bezogen, begründet und mit der ersten subscriptio sozusagen "besiegelt" ist, kann er auch diese persönliche Auseinandersetzung wieder aufnehmen. Komplexer ist dagegen die These, daß Paulus im post scriptum des Galaterbriefes vorrangig den leicht mißverständlichen Begriff der christlichen Freiheit (ελευθερία) präzisiert. Schon in 2,4 hatte er von der ελευθερία gesprochen, ήν εχομεν έν Χριστώ Ίησοΰ. Dort wurde zwar der Inhalt dieser Freiheit nicht weiter qualifiziert, aber ihre Konfliktträchtigkeit trat bereits zu Tage: Falschbrüder (ψευδαδέλφους) hatten versucht, diese auszuspähen (κατασκοπήσαι), um die ελεύθεροι έν Χριστώ zu versklaven (ίνα ημάς καταδουλώσουσιν [2,4]). Worin jedoch diese Versklavung bestehen sollte, blieb offen. Später nimmt Paulus die Antithese von ελευθερία und δουλεία in der Allegorie von Hagar und Sara (4,2Iff) wieder auf120, doch auch in dieser Passage liegt der Nachdruck eher darauf, daß Paulus fur sich die Position der Freiheit reklamiert, als daß er konkret ausfuhrt, was christliche Freiheit bedeutet. Und der Schlußsatz des Abschnitts (τη ελευθερία ήμάς Χριστός ήλευθέρωσεν [5,1a]) fällt zwar durch eine griffige figura etymologicam (ελευθερία έλευθερούν) auf, was aber die christliche Freiheit als solche qualifiziert, liegt immer noch im Dunkeln122 Um hier einem MißVerständnis vorzubeugen, nimmt Paulus die Aussage aus 5,1a im post scriptum noch einmal auf (ύμείς γαρ123 έπ' ελευθερία έκλήθητε [5,13a]),

Innerhalb der Hagar-Sara-Allegorie leistet 5,1a den Transfer von der Figur einer Freien zum theologischen Abstraktum der Freiheit. Adjektiv (ελευθέρα [4,31 fin ]), Nomen (ελευθερία [5,1a]) und Verb (έλευθερούν) stehen hier auf engstem Raum nebeneinander. Eine figura etymologica, d.h. eine etymologisierende Stammwiederholung wie νίκην νικάν oder voce vocans, ist als figura per pleonasmon ein Element des Redeschmuckes, welches der Verstärkung und Vereindringlichung dient (s. LAUSBERG, §§ 648 u. 503). - EBELING bezeichnet 5,1a als "eigentümliche Plerophorie" (323). Gleichwohl gibt es Anknüpfungspunkte im Vortext. Wenn man den Brief nämlich von vorne kommend liest (und nicht sogleich auf 5,13 verweisen will), dann ist die nächste Sachparallele zu 5,1a in 3,13 (Χριστός ήμάς έξηγόρασεν έκ της κατάρας τού νόμου) und 4,5 (ίνα τους ύπό νόμου εξαγόραση) zu finden. Die ελευθερία ist demnach ein Loskauf aus der Herrschaft des Gesetzes. Paulus vergleicht die soteriologische Erlösung des Menschen durch Christus mit dem Freikauf eines Sklaven. Dieses Bild ist jedem antiken Menschen aus seiner Alltagswelt vertraut gewesen, und es stimmt innerbrieflich mit der Vorstellung überein, daß Paulus die Zeit unter dem jüdischen Gesetz als "Sklavendienst" unter den στοιχεία του κόσμου (4,3) bezeichnet hat. Zur Problematik des γάρ vgl. o. Anm. 58. - Ferner ist mit B. GÄHRKEN (γάρ [1950], 98f) daran zu erinnern, daß der Anknüpfungspunkt eines γάρ nicht zwingend im unmittelbar vorstehenden Text liegen muß. Anhand einiger Aristoteles-Stellen zeigt GÄHRKEN auf, daß γάρ auch auf etwas hinweisen kann, "das den Zuhörern bekannt ist, und dadurch an das Thema der jetzigen [!] Vorlesung [erinnert]" (ebd.). In diesem Sinne verknüpft das

72

Das epistolographische

Formular

bricht aber sogleich die figura etymologica durch ελευθερία καλεΐσθαι auf und verdeutlicht den "Dativ des Ziels"124 durch die Präposition έπί ("zur Freiheit"). Außerdem wechselt er von der 1. zur 2. Person Pluralis. Der Vers 5,13a zitiert 5,1a125 und wird gleichzeitig zu einer Art Obersatz der nachfolgenden Paränese, die ab 5,13cd gattungskonform mit Imperativen126 fortgesetzt wird. Von dem Obersatz in 5,13a hängen alle weiteren Aussagen der Paränese ab. Nun endlich präzisiert Paulus die christliche Freiheit: Die Freiheit von dem jüdischen Gesetz durch Christus fällt mit einer neuen "Knechtschaft" der Liebe zusammen (άλλα δια της αγάπης δουλεύετε άλλήλοις [5,13d]). Später wird die Paränese diese Liebe als vornehmste Frucht des Geistes aufzählen (5,22) und vor einzelnen Werken des Fleisches warnen (5,19ff). Alle diese Mahnungen zielen darauf ab, jene ελευθερία έν Χριστώ genauer zu bestimmen und gegen mögliche Mißverständnisse und Angriffen abzusichern. Dabei verselbständigt sich die Paränese (5,13-6,10) - wie später in der rhetorischen Analyse zu zeigen sein wird (Kap. 3.7) - zu einem langen Abschnitt mit eigenem Aufbau, eigenem sprachlichen Stil und eigener innerer Logik. An dieser Stelle sei ein Ausblick auf die Frage nach der Gattung des Galaterbriefes (Kap. 2) gestattet. Der Vorschlag, aufgrund epistolographischer Formmerkmale in 5,7-6,18 ein post scriptum anzusetzen, kann einen Ausweg weisen aus der derzeitigen Aporie in der Forschung, die rhetorische Gattung des Galaterbriefes zu bestimmen. Diese Aporie war eingetreten, weil die antike Rhetoriktheorie keine Gattung kennt, in der apologetische (grob Gal If zugeordnet), argumentative (Gal 3f) und paränetische (Gal 5f) Passagen zugleich vertreten sind. Folglich blieb auf der rhetorischen Ebene die Gattungszuordnung unlösbar, und die Vorschläge in der Literatur spiegeln lediglich die subjektiven Gewichtungen der Exegeten wider. Die Unterscheidung von post scriptum und ursprünglich konzipiertem Brief aber macht auf der Ebene des Briefformulars den Weg dafür frei, für 1,1-5,6 die rhetorische Gattungszuordnung neu und ohne die Hypothek der Paränese zu überdenken.

γάρ in Gal 5,13a nicht ύμάς (5,12) und ύμείς (5,13a) - so ZAHN (261 Anm. 85) -, sondern leistet einen Femverweis zurück auf Gal 5,1. - Auch in 2Kor 9,1 knüpft das γάρ unmöglich an 8,24 an. Entweder ist es ein redaktioneller Fernverweis auf das Thema der Kollekte in 8,Iff oder - zu Beginn eines neuen Briefes - sogar ein textexterner Verweis auf ein vor Ort schon bekanntes Thema (vgl. H.D. BETZ, 2.Kor 8 und 9 [1993], 29 u. 62).

So MUSSNER (342 Anm. 3f) unter Berufung auf MAYSER, Grammatik, II/2, 243f. Hierzu ausfuhrlich in Kap. 3.7.1. Ob man nun in 5,13c (μόνον μή την έλευθερίαν κτλ.) einen Imperativ ergänzt (etwa εχετε oder τρέπετε [vgl. BDR § 481,]) oder von einem μή "in gleichsam abgerissenen Wendungen ohne Zeitwort" spricht (so BAUER s.v. μή A III 6), auf jeden Fall bleibt der Halbsatz paränetisch prohibitiv.

Der autographische Schluß

73

Am Ende dieses Kapitels über den autographischen Schluß des Galaterbriefes bleiben zwei ungelöste Fragen stehen: Warum beschließt Paulus auch das post scriptum mit einer weitern subscriptio, die mit jener ersten korrespondiert? Und wie ist die Spannung zwischen dem juristischen Formularmerkmal der subscriptiones und den brieflichen Formularmerkmalen von post scriptum und Postskript (6,16-18) zu erklären? Beide Fragen müssen im Moment noch offen bleiben. Betrachtet man aber den autographischen Schluß insgesamt, dann ist die enge Beziehung zwischen den beiden subscriptiones - und damit überhaupt ein genuin juristisches Formularelement - die auffälligste Besonderheit. Deshalb soll nun überprüft werden, ob der Galaterbrief noch weitere Anklänge an juristische Formularelemente ausweist.

1.3

Weitere juristische Formularmerkmale

Die beiden subscriptiones im autographischen Teil des Galaterbriefes sind der deutlichste, aber nicht der einzige Rückgriff auf ein juristisches Formular. Vier weitere Stellen (1,20; 6,17b; l,8f; 2,7f), die nachfolgend in der Reihenfolge ihrer Signifikanz untersucht werden, sowie eine Vielzahl exponierter Vokabeln assoziieren ebenfalls einen forensischen Zusammenhang. Dabei sei zugestanden, daß keine dieser Stellen für sich alleine betrachtet so unmittelbar auf ein juristisches Formular verweist, wie es bei den subscriptiones der Fall war, aber die Summe dieser Bezüge zusammengenommen ergibt ein stimmiges und geschlossenes Bild.

1.3.1 Die Schwurformel (1,20) Mit einem feierlichen Schwur beschließt Paulus in 1,20 die kurze Darstellung seines ersten Besuches in Jerusalem (l,18f): et δέ γράφω ύμνν, ιδού ενώπιον τού θεοΰ οτι ούκ ψεύδομαι "Was ich euch aber schreibe, siehe, beim Angesicht Gottes (sc. schwöre ich 1 ): Ich lüge nicht" Gegenstand dieses Eides sind die äußeren Umstände des Besuches, daß dieser erst geraume Zeit nach Paulus' Bekehrung stattgefunden habe (μετά ετη τρία [1,18]), nur von kurzer Dauer gewesen sei (επέμεινα ημέρας δεκαπέντε [1,18]) und daß er ausschließlich zum Ziel gehabt habe, Kephas "persönlich kennenzulernen" (ίστορήσαι 2 [1,18]). Schon der Kontakt zu Jakobus sei nur "zufallig" 3 gewesen. Paulus schildert so seine erste Begegnung mit Petras als einen privaten Besuch und nicht wenn dieser Anachronismus erlaubt ist - als theologische Arbeitssitzung unter Amtskollegen. Auch wahrte er Distanz zu den anderen Aposteln (ετερον δέ των αποστόλων ούκ ειδον εί μή ' Ιάκωβον [1,19]) und der Gemeinde vor Ort (vgl. 1,22). Mit diesem Akzent steht die paulinische Darstellung im Widerspruch z u m Bericht der Apostelgeschichte über dasselbe Ereignis (Apg 9,26-30). Dort heißt es, Paulus sei von Barnabas in die Gemeinde eingeführt worden (Apg 9,27), er habe

Nach BDR § 128,2 ist in dem elliptischen ίδοΰ-Satz ein verbum finitum (z.B. λέγω oder δμνυμι) zu ergänzen. Anders ZAHN, 74: "ιδού ενώπιον θεοΰ ist selbst eine Schwurformel wie θεός μάρτυς 1 Th 2,5 oder ό θεός οίδεν 2 Kr 11,31 " Das nachfolgende οτι ist in jedem Fall als öw-recitativum (BDR § 470) zu verstehen. - Die Formel ενώπιον του θεού steht in Verbindung mit διαμαρτύρομαι o.ä. ("ich beschwöre [dich] im Angesicht Gottes, [daß]") auch deuteropaulinisch in lTim 5,21; 6,13; 2Tim 2,14; 4,1. Philologische Wortstudien von O. HOFIUS (Gal 1,18 [1984]) und K.F. ULRICHS ( G r a v e

verbum [1990]) zum Terminus ίστορήσαι haben die bei BAUER (s.v.) gegebene Übersetzung dieses neutestamentlichen Hapaxlogomenons bestätigt ("besuchen zum Zweck des Kennenlemens") und damit die von J.D.G. DUNN (Relationship between Paul and Jerusalem [1982], 465) unterstellte Bedeutung ("gaining information") zurückgewiesen. 3

ULRICHS, ebd., 267.

Weitere juristische

Formularmerkmale

75

versucht, engen Kontakt zu den Jüngern zu bekommen (έπείραζεν κολλάσθαι τοις μαθηταΐς [9,26]) und sei bei ihnen "ein und ausgegangen" (9,28). Wenn wir unterstellen, daß es auch schon zur Abfassungszeit des Galaterbriefes andere und widersprechende Darstellungen dieses Besuches gab, die vielleicht gar von den Gegnern in Galatien vorgebracht worden waren", dann ist einsichtig, daß Paulus seinen Bericht gerade an dieser Stelle mit einem Eid bekräftigt, um ihm die nötige Beweiskraft5 zu geben 6 Die Verse 1,18f können mit weiteren Aussagen des Briefes verbunden werden, in denen Paulus die Unabhängigkeit seines Evangeliums von Jerusalem betont: ούδέ άνήλθον εις 'Ιεροσόλυμα (1,17) und ούτε έδιδάχθην [το εύαγγέλιον] (1,12). Der Anspruch des Eides in 1,20 erstreckt sich auch auf diese Aussagen. Insbesondere weist Paulus mit ihm die Vorstellung zurück, daß er in den zwei Wochen in Jerusalem theologisch unterwiesen worden sein könnte 7 Da hier die genaue Formulierung des Eides in 1,20 interessiert, seien zum Vergleich die anderen Stellen der Protopaulinen aufgelistet, in denen Paulus Gott (oder Christus) als Zeugen seiner Aussagen beschwört: Rom 1,9:

μάρτυς γάρ μού έστιν ό θεός, [...] ώς αδιαλείπτως μνείαν ήμών ποιούμαι.

Rom 9,If:

άλήθειαν λέγω έν Χριστώ, ού ψεύδομαι, συμμαρτυρούσης μοι της συνειδήσεώς μου έν πνεύματι άγίω, ότι λύπη μοί έσπν μεγάλη και αδιάλειπτος όδύνη τη καρδία μου.

2Kor 1,23:

έγώ δε μάρτυρα τον θεόν επικαλούμαι έπν την έμήν ψυχήν, ότι φειδόμενος ύμών ούκέτι ήλθον εις Κόρινθον.

2Kor 11,1 Of":

εστίν αλήθεια Χριστού έν έμοί, ότι ή καύχσις αύτη ού φραγήσεται εις έμε έν τοις κλίμασιν της Αχαΐας, δια τί; ότι ούκ άγαπώ ύμάς; ό θεός οίδεν.

2Kor 11,31:

ό θεός και πατήρ του κυρίου ' Ιησού οίδεν, ό ών εύλογητός εις τους αιώνας, ότι ού ψεύδομαι.

Vgl. LÜHRMANN, 35: "Insbesondere aber muß er [sc. Paulus] sich offenbar gegen falsche Gerüchte über diesen seinen ersten Aufenthalt in Jerusalem wehren. Wie diese genau aussahen, wußten seine Leser damals in Galatien, und Paulus braucht sie deshalb nicht zu zitieren." Zum Eid (όρκος) als Beweis im Sinne der Rhetoriktheorie vgl. J. MARTIN, Antike Rhetorik (1974), 100. In diesem Sinne interpretieren auch MUSSNER (96) und EßELING (109), zurückhaltender BETZ ( 1 5 6 ) .

Die Paraphrase von 1,18f durch den byzantinischen Gelehrten Photius (820-897 p ) trifft genau diesen neuralgischen Punkt: Παρά Πέτρου ούκ έμαθον μόνον είδον αύτόν. παρά ' Ιακώβου ούκ έμαθον, κάκεΐνον γάρ μόνον είδον. (Zitert nach MUSSNER, 96 Anm. 96).

76

Das epistolographische

Formular

Gal 1,20:

α δε γράφω ύ μ ί ν , ιδού ενώπιον του θεού ότι ούκ ψεύδομαι.

Phil 1,8:

μάρτυς γάρ μου ό θεός ώ ς έπιποθώ πάντας ύμάς.

l T h e s s 2,5b:

ούτε έν προφάσει πλεονεξίας [έγενήθημεν], θεός μάρτυς.

l T h e s s 2,10:

ΰ μ ε ί ς μάρτυρες και ό θεός, ώ ς όσίως και δικαίως και άμέμπτως ύ μ ί ν τοις πιστεύουσιν έγενήθημεν.

Auf den ersten Blick scheint sich Gal 1,20 ohne Bruch in diese Liste einzureihen. Die beschworene Aussage im engeren Sinne (ού ψεύδομαι) steht wörtlich auch Rom 9,1 und 2Kor 11,31. Auf den zweiten Blick erkennt man aber in Gal 1,20 eine fur Paulus einzigartige Verbindung des Eides mit einer Form von γράφειν. Der vorausgehende Relativsatz (α δέ γράφω ύμίν) ist grammatikalisches Objekt zu ψεύδομαι: "Ich lüge nicht in bezug auf das, was ich euch schreibe" Einzig hier weist Paulus ausdrücklich daraufhin, daß die Aussage, die er durch den Eid bekräftigt, in schriftlicher Form vorliegt. Dadurch wird der Galaterbrief - oder zumindest der engere Kontext des Eides (1,18-20) zu einer schriftlichen eidesstattlichen Erklärung und somit zu einem juristischen Dokument im strengen Sinne des Wortes. Nicht mündlich wird dieser Eid geleistet, sondern in einem Schriftstück hinterlegt, das zudem mit einer subscriptio unterschrieben wurde. J.P SAMPLEY hat in Zusammenhang mit 1,20 die Funktion des Eides (iusiurandum) in der zeitgenössischen römischen Rechtspraxis nachgezeichnet 8 Er galt in Zivilprozessen als ultimatives Beweismittel, und wer als Kontrahent bereit war, seine Aussage zu beschwören, gewann den Prozeß 9 SAMPLEY interpretiert 1,20 aus einem juristischen Blickwinkel heraus10, übersieht aber, daß ein Eid nicht nur grundsätzlich ein Beweis mittel ist, sondern die Formulierung in 1,20a den Brief selbst, den die Galater in ihren Händen halten, zugleich auch zu einem BeweissfücÄ; macht. So singulär nun für Paulus in 1,20 die Verbindung von Eid und expliziter Schriftlichkeit ist, so mannigfach ist sie in den Rechtspapyri belegt" Dort hat der schrift-

Paul's Self-Defence (1977). Ebd., 480: "If the defendant took the oath he w o n the case. But instead o f swearing he could throw back (relatio) the oath by replying: 'Swear that your claim is g o o d ' If the plaintiff took the oath he w o n his case; if he refused it the praetor denied him his action" Ebd., 482: "Although Paul does not expect his dispute with the Galatians to g o to court, the voluntary oath provides a forceful and even dramatic means to emphasize both the seriousness of the issue and his o w n truthfulness" Zur Rechtsgeschichte vgl. E. SEIDL, Der Eid (1933), 127-135: § 11 "Die Schriftform beim Eid"; weitere Literatur bei H.-A. RUPPRECHT (1994), Papyruskunde, 107.

Weitere juristische 12

Formularmerkmale

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13

lieh ausgeführte Eid eine dreiteilige Grundform : Ein Verb des Schwörens in der 1. Person vorweg (όμνυμι/ομνύω), gefolgt vom Akkusativ 14 deijenigen Instanz, bei der man schwört 15 , und schließlich (fakultativ) die ausdrückliche Erwähnung des Inhalts des Eides (μή ψεύσασθαι 16 oder öfter άληθή είναι τά προγεγραμμένα 17 ). Die Ausführlichkeit des Eides kann also variieren. Entweder heißt es nur kurz: "Ich schwöre beim (göttlichen) Kaiser NN" (Ähnlich knapp stehen bei Paulus die Einwürfe θεός μάρτυς [lThess 2,5] oder ό θεός οίδεν [2Kor 11,11'®].) Oder der Inhalt des Eides wird zusätzlich ausgeführt. Dies ist bei den meisten der oben zitierten Paulusstellen der Fall. Dort wird die Schwurformel mit einem ώς- oder οτιSatz fortgeführt, der die beschworene Aussage im einzelnen expliziert. Der Eid in 1,20 ist dagegen syntaktisch eigenständig und weist inhaltlich über die Satzgrenze hinaus. Seine Form ist um die beiden Elemente erweitert, die wir auch in den Rechtspapyri antreffen, nämlich einmal um die Selbstverständlichkeit öti ούκ ψεύδομαι, welche - ausgesprochen oder nicht - für jeglichen Eid gilt, und zusätzlich um den für unseren Zusammenhang wichtigen Hinweis auf die Schriftlichkeit: α δε γράφω ύμίν. Die Erweiterung (ότι ούκ ψεύδομαι) unterstreicht die Ernsthaftigkeit der paulinischen Aussage, und der Hinweis auf die schriftliche Form erhöht die Beweiskraft dieser Stelle. Wie in den Papyri der Eid hinter den Aussagen steht, die durch ihn bekräftigt werden (άληθή είναι τά προγεγραμμένα). so steht Gal 1,20 hinter dem Bericht des strittigen Besuchs. Andererseits wählt Paulus die präsentische Form γράφω. Deshalb ist es erwägenswert, ob sich der in 1,20 erhobene Wahrheitsanspruch nicht auch auf

Bisweilen wurde der Eid nicht ausformuliert mit in das Dokument aufgenommen, sondern nur mündlich bei der Behörde geleistet. In diesem Fall erschien im Dokument nur die Vollzugsnotiz όμώμοκα oder ώμοσα τον [εθιμον 'Ρωμαίοις] ορκον (vgl. SEIDL, ebd., 129). Beispielsammlung bei F.X.J. EXLER, Form of Greek Letter (1923), 127-132. Zum Akkusativ bei Verben des Schwörens s. K-G I, p. 296. Meistens wird hier der amtierende und göttlich verehrte Kaiser namentlich genannt (NN θεού υίόν [σεβαστόν]) oder/und allgemein τους [πατρώους] θεούς. Beispiele: P.Oxy. I 74, 25-29 [116 p ], 75, 34-36 [129 p ], III 482, 37-41 [109 p ], VII 1028, 34-37 [86 p ], VIII 1113, 8-11 [203 p ]; P.Ryl. II 108 [110 p ] u.a. Beispiele (aus römischer Zeit): BGU I 17, 19-23 [142 p ]; P.Hamb. I 7 [131 p ]; P.Oxy. I 79, 14-18 [181-192"]; II 251, 29f [44 p ], 253, 16-19 [19p], 258, 23-25 [86 p ]; III 478, 3538 [132 p ]; IX 1198, 21-27 [150 p ], P.Strasb. I 34, 16-18 [180-192 p ]; u.a. In ptolemäischer Zeit gebrauchte man die Wendung ύπερ ών κεχειρογράφηκεν τον βασιλικόν ορκον (P.Amh. II 35, 25f [132 a ]), woraus zu ersehen ist, daß der ausdrückliche Hinweis auf die schriftliche Vorlage (χειρογράφω) eine lange rechtsgeschichtliche Tradition hat. Dieselbe Beteuerung wörtlich auch in einem Privatbrief: ό θεός οίδεν, πώς σε κατά ψυχήν φιλώ και τιμώ (SB XIV 11644, 1 Of [I/IP]).

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Das epistolographische

Formular

die nachfolgenden Berichte vom Apostelkonzil (2,1-10) und Antiochenischen Zwischenfall (2,11 ff) erstreckt. Die abweichende spätere Fassung der Apostelgeschichte (Apg 9,26-30 widerspricht Gal 1,18f und Apg 15 widerspricht Gal 2,1-10) legt es jedenfalls nahe, daß zu diesen Begebenheiten schon zur Zeit des Galaterbriefes falsche Gerüchte im Umlauf gewesen sein konnten, gegen die Paulus sich verwahren wollte. Demnach ist festzuhalten, daß der explizite Hinweis auf die Schriftlichkeit in 1,20a (ä δε γράφω ύμίν) diesen Eid aus der Reihe der übrigen paulinischen Eide heraushebt. Dieser Umstand wird in der Literatur nicht hinreichend beachtet und ausgewertet. Da die Eide in den Rechtspapyri sehr oft mit einer analogen Wendung erweitert sind (άληθή είναι τα προγεγραμμένα), mache ich geltend, daß Paulus an dieser Stelle ein typisches Element juristischer Formulare in den Galaterbrief eingetragen hat.

1.3.2

Das Signalement (6,17b)

Um Wortsinn und Intention des schwierigen Verses 6,17b (έγώ γαρ τα στίγματα τοΰ ' Ιησού έν τω σώματι μου βαστάζω) haben sich die Exegeten intensiv bemüht 19 , ohne jedoch eine konsensfahige Deutung zu finden. Ein gewisses Einverständnis herrscht lediglich hinsichtlich der Bedeutung von στίγματα (wörtl.: "Malzeichen"). Diese seien die an Paulus' Leib "sichtbar gebliebenen Spuren erlittener Mißhandlungen, Narben und Striemen" 20 Sie rühren her von "Krankheiten und Schmerzen [...], die er [sc. Paulus] in seiner apostolischen Nachfolge Jesu und in seinem apostolischen Dienst erlitten hat"21 oder beziehen sich "auf die vielerlei Nöte [...], die er während seiner Missionsfeldzüge "mit Christus erlitten' hat"22, kurz es seien "Narben [...] um Christi willen"23 Dieser Konsens beruht darauf, daß Paulus selbst in den sogenannten Peristasenkatalogen (vgl. Rom 8,35-37; IKor 4,9-13; 2Kor 4,7-12; 6,4-10 und besonders 2Kor 11,23-33) von derartigen Leiden berichtet.

Ausführliches Literaturreferat: E. GUTTGEMANNS, Der leidende Apostel (1966) 126-135; k n a p p a u c h b e i MUSSNER, 4 1 8 - 4 2 0 u n d J . A . D . WEIMA, G a l 6 , 1 1 - 1 8 ( 1 9 9 3 ) , 9 7 - 9 9 . ZAHN, 2 8 7 . SCHLIER, 2 8 5 . BETZ, 5 5 0 . 23

EßELING, 353.

Weitere juristische

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Formularmerkmale

Warum aber bezeichnet Paulus diese Malzeichen als στίγματα του ' Ιησού (was nicht vorschnell mit στίγματα του Χρίστου 24 gleichgesetzt werden darf)? Waren es auf dem Sklaven Paulus eingebrannte Eigentumszeichen des Herren Jesus25; oder waren es Zeichen einer religiösen Weihung, die den so gekennzeichneten unter besonderen göttlichen Schutz stellten26; oder sollten die στίγματα του 'Ιησού Ausdruck einer Identifikation der paulinischen Leiden mit den Leiden Jesu sein? Für letzteres und eine noch weiterreichende Identifikation des Apostels mit dem leidenden und gekreuzigten Christus sprechen in der Tat wichtige Sachparallelen im Galaterbrief selbst (vgl. 2,19f; 3,1 und 4,14fin) sowie in anderen Briefen (vgl. bes. Phil 1,20 u. 2Kor 4,10). Doch diese theologischen Implikationen von 6,17b sollen im Moment noch zurückgestellt werden. Zunächst ist nur festzuhalten, daß jene στίγματα - ungeachtet jeder metaphorischen Deutungsmöglichkeit - sichtbare Reste alter Verwundungen waren, die Paulus während seiner Missionstätigkeit erlitten hatte. Hinsichtlich der persuasiven Intention von 6,17 legt es der vorausgehende Kontext nahe, die στίγματα τοϋ ' Ιησού am Leib des Paulus kontrastiv dem Mal der Beschneidung am Leib seiner Gegner gegenüberzustellen. Oben hatten wir dargelegt, daß Paulus sich in 6,12-14 bemüht, seine Position hinsichtlich σταυρός und καύχημα von der seiner Gegner abzusetzen27 Diese Profilierung durch Kontrast und Abgrenzung reicht nun bis in Vers 17 hinein, denn die στίγματα του ' Ιησού und das Mal der Beschneidung sind jeweils äußere Zeichen einer inneren Glaubenshaltung und Zugehörigkeit 28 Die Gegner beharren auf der dauerhaften Geltung des Gesetzes. Die eigene Beschneidung ist ihr äußeres Zeichen für die Toraobservanz, die der Galater ihr Schutz vor Verfolgung (6,12fin). Paulus dagegen verweist auf das Kreuz Christi, durch welches er selbst für die Welt "gekreuzigt" ist (6,14 fm ). Die

Eine derartige christologische Deutung ist erst im Laufe der Textüberlieferung eingetragen worden: Ι η σ ο ύ lesen φ 4 6 A Β C' 33 629 1241; Χριστού Ρ Ψ 0278 81 365 1175; κυρίου Ι η σ ο ύ C 3 D 2 ( 1 7 3 9 ) 1881 TO; κυρίου 'Ιησού Χριστού Ν D 1 ; κυρίου ή μ ώ ν 'Ιησού Χριστού D" F G. Daher nennt Β.M. METZGER (Text [1992], 199) diese Stelle "a good example of a growing text" Diese Interpretation (vgl. LIETZMANN, 46) geht von der profanen Bedeutung des neutestamentlichen Hapaxlegomenon στίγμα aus ("Brandmal für entflohene Sklaven" [Belege bei BAUER s.v.]) und knüpft an die paulinisch Selbstbezeichnung δούλος Χριστού (Gal 1,10; Rom 1,1; Phil 1,1) an. Vgl.

A.

DEISSMANN, Bibelstudien

(1895),

265;

ferner

LIETZMANN, 45

und

OEPKE/ROHDE, 206f (mit antiken Quellen zur religiösen Stigmatisierung). Vgl. S. 52. Ahnlich LüHRMANN, 102: "Unter Umständen enthält der Satz aber noch eine zusätzliche Pointe, wenn vielleicht die Gegner als Stigma das Beschneidungsmal bezeichnet haben, Eigentums- und Schutzzeichen der Zugehörigkeit zum Gesetz".

80

Das epistolographische

Formular

στίγματα του ' Ιησοϋ sind sein äußeres Zeichen - Malzeichen in Form von sichtbaren Narben und Striemen, die er gerade durch die Verfolgung um des Kreuzes willen erlitten hat 29 Nicht nur im Wortlaut seiner Verkündigung unterscheidet sich Paulus demnach von seinen Gegnern, sondern er ist auch äußerlich an den στίγματα τού ' Ιησοϋ zu identifizieren. Diese Funktion der στίγματα als Identifizierungsmerkmal schlägt nun den Bogen zu einem weiteren Formularmerkmal juristischer Dokumente. Ausschließlich in Rechtsdokumenten, dort aber mir großer Regelmäßigkeit, wird eine Beschreibung der unterzeichnenden Person gegeben, das sogenannte "Signalement" 30 Dieses Signalement ist ein äußerliches Identifikationsmerkmal, das die Identität des Unterzeichnenden sicherstellen soll. "Dadurch, daß die Behörde jedem einzelnen der Bevölkerung bei jedem Zensus sein Signalement gibt, wird dieses der Behörde gegenüber zum integrierenden Bestandteil des Personennamens." 31 Das Signalement war ein "dem gesamten antiken Verkehrsleben eigenes und bekanntes Mittel zur Identifizierung der Person" 32 Es ist in der Regel allographisch verfaßt und steht entweder am Anfang des Dokuments nach der erstmaligen Nennung des Namens 33 oder (häufiger) am Ende des Corpus34 Während in ptolemäischer Zeit die betreffende Person noch ausfuhrlich in ihren körperlichen Merkmalen beschrieben wurde, reduzierte sich in römischer Zeit das Signalement auf die beiden wichtigsten Merkmale, das Alter und etwaige besondere äußerliche Kennzeichen (ούλαί). Diese ούλαί 35 waren vor allem Körpermale an den Extremitäten (Hände, Finger, Knie, Schienbein) oder besondere Kennzeichen im Gesicht (Stirn, Nase, Augenbraue). Waren solche nicht vorhanden, so wurde der Betreffende als άσημος ("ohne Zeichen") geführt.

Vgl. MUSSNER, 420: "Den Gegnern dagegen fehlen derartige στίγματα, ihr Leib ist nicht vom Kreuz Jesu gezeichnet. Sie rühmen sich vielmehr des Beschneidungsfleisches, der Apostel dagegen des Kreuzes Jesu (V 14)" Vgl. O. GRADENWITZ, Papyruskunde (1900), 126ff sowie die Monographien zu diesem Thema von J. HASEBROEK (Signalement [1921]) und G. HÜBSCH (Personalangaben [1968]). HASEBROEK, e b d . , 7.

Ebd., 23 (Hervorhebung im Original). Vgl. G. HÜBSCH, Personalangaben (1968), 59. - Beispiel: P.Fouad I 18 [53p]. Beispiele: P.Fouad I 37 [48p]; P.Mich. V 228 [47"], 229 [48p], 230 [48p]; P.Oxy. III 494 [156 p ] ua. Grundbedeutung von ούλή ist "Narbe", aber in den Rechtspapyri ist allgemeiner das "Körpermal" oder ein "besonderes Kennzeichen auf der Haut" gemeint (G. HÜBSCH, Personalangaben [1968], 38).

Weitere juristische

Formularmerkmale

81

Zur Veranschaulichung sei der Formularrahmen einer Petition an einen Provinzgouverneur (στρατηγός) zitiert (P.Mich. V 230 [48p]). Diese ist wie ein Brief stilisiert, und ihr Präskript folgt der für Petitionen typischen Grundform τω δείνι παρά του δεινός, die den Absender und Antragsteller an der zweiten Position nennt: Απολλωνία) στρατηγώ

An Apollonios,

Αρσινοείτου

den Gouverneur von Arsinoite

παρά Παποντώτος του Παποντώτος

von Papontos, Sohn des Papontos,

των άπό Ταλί

Einwohner von Talei,

της Πολέμωνος μερίδος

Bauer der sogenannten [Parzelle]

λεγομένου Ψεναμτιτος γεοργοΟ.

Psenamtis im Bezirk von Polemon.

[Corpus] [Klausel: εύτύχει] [Datum] Παποντώς ώς έτών με,

Papontos, ungefähr 45 Jahre,

ευμεγέθης, μελίχρως,

schlank, blond (honigfarben),

ούλη pivi έξ αριστερών

mit einer Narbe auf der linken Seite

ύπό όφρύν.

seiner Ν Eise unter der Augenbraue.

Der Antragsteller Papontos wird im Präskript mit Beruf und genauem Wohn- und Arbeitsort eingeführt und am Schluß des Dokuments (fur die römische Zeit) vergleichsweise ausführlich mit Alter, Gestalt, Haarfarbe und eben dem besonderen Kennzeichen einer Narbe (ούλή) beschrieben. Wie der zitierte Papyrus endet auch der Galaterbrief in 6,17b mit einem Satz, der die äußerliche Erscheinung des Absenders beschreibt, und auch in unserem Brief ist die Absenderbeschreibung in Prä- und Postskript aufgeteilt: 1,1 nennt sozusagen den "Beruf' (απόστολος) und denjenigen, in dessen Dienst Paulus steht; und der Schlußsatz 6,17b erwähnt die Narben (στίγματα), die sich der Apostel - um im Bild zu bleiben - bei der Ausübung seines Berufes zugezogen hat. Die exponierte Schlußstellung von 6,17b stimmt mit der üblichen Position eines Signalements überein. Außerdem ist eine semantische Nähe von ούλαί und στίγματα nicht zu übersehen. Andererseits ist 6,17b gegen den juristischen Brauch autographisch geschrieben und persönlich formuliert (έγώ [...] βαστάζω). Doch der Verbund mit den schon genannten und noch zu benennenden juristischen Formularreminiszenzen legt es nahe, in 6,17b ein Zitat eines juristisches Signalements zu erkennen, welches freilich von Paulus theologisch interpretiert wurde.

1.3.3 Die Strafandrohung (l,8f) Seinem unverhohlenen Zorn über die Abkehr der Galater vom Evangelium läßt Paulus in l,8f eine zweimalige Verfluchung derjenigen folgen, die das von ihm verkündete Evangelium verdrehen. Daß dieser Fluch an die sogenannten "Sätze heiligen Rechts" erinnert, ist schon lange gesehen worden 36 Zugleich aber weisen diese Verse auch eine formale Nähe zu solchen Strafandrohungen auf, wie sie in zahlreichen dokumentarischen Papyri anzutreffen sind. Diesen Berührungspunkten gilt unser eigentliches Interesse, zuvor sollen jedoch Beobachtungen zur sprachlichen Gestalt des Textes und zur doppelten Ausführung des Fluches vorausgeschickt werden. Der Mittelsatz (1,9a) belegt nämlich, daß die eine Fassung des Fluches ein Zitat der anderen sein soll, aber die Zuordnung von Vorgabe und Zitat ist umstritten. άλλα καί έάν ήμείς ή άγγελος έξ ουρανού εύαγγελίζηται [ύμίν] παρ' ô εύηγγελισάμεθα ύμίν. ανάθεμα έστω. ώς προειρήκαμεν και άρτι πάλιν λέγω· εί τις ύμάς εύαγγελίζεται παρ' ô παρελάβετε, ανάθεμα έστω. Aus der kolometrischen Aufteilung des Textes 37 erkennt man unmittelbar die gesuchte Parallelität und innere Geschlossenheit der Verse. In beiden Trikola (8a-c

Vgl. E. KÄSEMANN, Sätze heiligen Rechts (1955). Käsemann stellt Gal l,8f in eine Reihe mit IKor 3,17 (εί τις τον ναόν τού θεού φθείρει, φθερεί τούτον ό θεός), lKor 14,38; 16,22 und 5,3ff. Die konditional formulierten Sätze lassen sich traditionsgeschichtlich auf das ius talionis zurückfuhren: "Den Verderber trifft das Verderben" (248). In l,8f ist jedoch der streng äquivalente Zusammenhang von Tun und Ergehen aufgebrochen, da den Verderber ein qualitativ anderes Verderben trifft, als er selbst ins Werk gesetzt hat (vgl. auch Rom 2,12). Mit dem Fluch in l,8f schützt Paulus die Gültigkeit des Evangeliums (vgl. die Schutzformel am Ende der Offenbarung [Ofïb 22,18f]). - Weitere Literatur bei BETZ, 109 Anm. 66, vgl. zum Fluch auch K.A. MORLAND, Rhetoric of Curse (1995). Trotz mancher Varianten in der Überlieferung ist die Textgestalt gesichert. Die Frage, ob das ύμίν in 1,8a zum Text gehört oder nicht (so N* F G Ψ) und ob es dem εύαγγελίζηται vorausgeht (ρ 51 Β H) oder nachgestellt ist, ist inhaltlich unerheblich, da eine Beteiligung der 2. Person Plural durch 1,8b sichergestellt ist. Ein Bedeutungsunterschied zwischen dem Dativ ύμίν (8a) und dem Akkusativ ύμάς (9b) nach εύαγγελίζεσθαι besteht nicht (BDR § 152,2). - Den Konjunktiv Aorist (εύαγγελίσηται [so 25NA]) bezeugen in 1,8a N*2 A Tert Mcion, den Konjunktiv Präsens (εύαγγελίζηται [so 2627 NA]) dagegen φ 5 1 Β H F G Ψ Sprachlich korrekt sind (ohne Sinnunterschied) beide Formen (BDR § 373,1.a), während sich der schlecht bezeugte Indikativ Präsens (εύαγγελίζεται [Κ Ρ]) in einem έάν-Satz grammatikalisch verbietet. Die Ergänzung von Marcion in 1,8a (άλλως εύαγγελίσηται) verdeutlicht den Sinn der Aussage.

Weitere juristische

Formularmerkmale

83

und 9b-d) nimmt der Umfang ihrer Glieder ab, und beide folgen derselben Satzstruktur aus Protasis, untergeordnetem Relativsatz und Apodosis in der Gestalt eines Fluches. Der Fluch selbst (ανάθεμα εστω) ist in 8c und 9d identisch. Die zwei Relativsätze (8b.9c) stehen übereinstimmend im Indikativ Aorist, und ihre Prädikate beschreiben zusammengenommen die erfolgreiche Mission der Galater, bei der die Verkündigung (εύηγγελισάμεθα [8b]) und die Aufnahme derselben (παρελάβετε [9c]) wechselseitig aufeinander angewiesen waren. Die Protasis ist jedoch einmal als Eventualis (έάν plus Konjunktiv) formuliert (8a), während in 9b εί plus Indikativ einen Realis bildet. Vor allem diese Modusdifferenz in den Protasen verbietet es, in der Wiederholung des Fluches nur eine rhetorische Verstärkung oder gar magische Verdoppelung zu sehen. In der Sache entspricht die Differenz im Modus (eventual / real) der Differenz zwischen einem bisher nur als möglich angenommenen, jetzt aber tatsächlich vor Ort gegebenen Ziel des Fluches. Daß Paulus nämlich selbst (ήμείς [8a]) oder ein άγγελος38 έξ ουρανού als Widerpart der eigenen Verkündigung auftreten könnte, ist unwahrscheinlich. Diese hypothetische Selbstverfluchung ist die ältere Vorgabe und unterstreicht die uneingeschränkte Gültigkeit des Evangeliums auch fur den Apostel selbst. Der Widerpart des zweiten, im Realis formulierten Fluches wird zwar namentlich nicht genannt (τις [9b]); faktisch ist dieser "Jemand" aber in der Gestalt der Gegner auf den Plan getreten. Dabei greift das Indefinitpronomen τις die τινές aus 1,7b wieder auf. Diese zweite Fassung des Fluches ist somit ein aktualisiertes und auf die tatsächliche Situation der Evangeliumsverfalschung zugespitztes Zitat der ersten39 Das Hauptgewicht der Aussage liegt nicht auf der eventualen Selbstverfluchung (1,8) des Apostels, sondern darauf, daß nun nach dem Auftreten der Gegner jene ultimative Sanktion notwendig geworden ist. In Galatien sind diejenigen, die der Ruf ανάθεμα εστω treffen soll40, jetzt am Werk. Für diese Zuordnung von Vorgabe (1,8) und Zitat (l,9b-d) spricht auch, daß sie mit dem einfachsten Verständnis des Mittelsatzes (1,9a) zusammenfällt. Die geschlosse-

38

Die Erwähnung eines άγγελος ist keine rhetorische Steigerung "ohne emsthafte Reflexion über die Möglichkeit einer solchen antichristlichen Engelpredigt" (so LIETZMANN, 5), sondern briefintern mit 3,19 und insbesondere mit 4,14 zu verknüpfen, wo Paulus sich selbst mit einem Engel vergleicht: ώς άγγελον θεού έδέξασθέ με. Außerdem ist άγγελος ein etymologisches Wortspiel mit εύαγγελίζεσθαι. So auch BETZ, 108. W HARNISCH ("Toleranz" im Denken des Paulus? [1996], 72 Anm. 23) bestimmt dagegen das Verhältnis von Vorgabe und Zitat gerade umgekehrt: "Im übrigen entspricht der prinzipielle Charakter der Formulierung (τις) eher der Form eines beliebig wiederholbaren kasuistischen Rechtssatzes" Zur Frage, ob Paulus mit diesem Ruf zugleich den status translationis reklamiert, vgl. u. Kap. 3.2.

84

Das epistolographische

Formular

ne Komposition der Verse legt es nämlich nahe, den ersten Teil des Mittelsatzes (ώς προειρήκαμεν) unmittelbar auf 1,8 zurückzubeziehen und den zweiten Teil (άρτι πάλιν λέγω) als Einleitung zu 9b-d zu lesen. Damit wird auch die auffällige Verschiebung im Numerus innerhalb des Mittelsatzes (προειρήκαμεν 41 versus λέγω) etwas verständlicher, da die 1. Person Plural in προειρήκαμεν mit ήμείς in 1,8a und mit εύηγγελισάμεθα in 1,8b zusammenstimmt. Die Mehrzahl der Kommentare denkt bei προειρήκαμεν an eine Äußerung während eines früheren Besuches, da "das 'jetzt' [άρτι] auf ein weiter zurückliegendes 'früher' [verweist]"42 Derpaulinische Gebrauch des Perfekts läßt daneben auch eine textinterne Anknüpfung an zuvor Gesagtes zu43 Die Ausschließlichkeit dieser Alternative löst sich allerdings auf, wenn man 1,8 selbst als "'Zitat' einer Aussage bei einer früheren Gelegenheit"44 betrachtet. Προειρήκαμεν selbst hat zwei Bedeutungsnuancen; es meint sowohl "wir haben schon bei früherer Gelegenheit gesagt" als auch "wir haben (prophetisch) vorausgesagt"45 Beide schwingen in 1,9a mit. Das "Früher-gesagt-haben" bezieht sich konkret auf 1,8 oder auf die dortige Erneuerung eines zeitlich zurückliegenden Ausspruchs. Gleichzeitig aber liegt in dem Umstand, daß überhaupt je ein derartiger Eventualfluch (1,8) ausgesprochen worden war, eine Antizipation, daß einmal eine Situation eintreten könnte, in der zur Wahrung des Evangeliums zum äußersten Mittel des Bannfluches gegriffen werden muß. Paulus hätte dann vorausgesehen, daß sich einmal ein Streit um das gesetzesfreies Evangelium erheben könnte, und seine Verkündigung durch einen entsprechenden Fluch geschützt. Entscheidend für das Verhältnis und die Gewichtung der beiden Fluchvarianten bleibt m.E. die erwähnte Modusdifferenz. Aus dem virtuellen Fluch, der jeden treffen kann (auch den Prediger selbst), der gegen (παρά [8b.9c]) die Wahrheit des einmal verkündigten Evangeliums das Wort ergreift, ist durch die aktuelle Lage (άρτι [9a]) in Galatien ein realer Fluch geworden. Der eigentliche Fluch, der die

N* harmonisiert und liest: προείρηκα. So MUSSNER, 61; auch ZAHN (52) und BETZ (113f) lesen προειρήκαμεν als Hinweise auf eine textexterne und zeitlich zurückliegende Situation. SCHLIER dagegen deutet es textintem: "Das προειρήκαμεν meint gerade im Zusammenhang mit dem άρτι πάλιν λέγω wahrscheinlich die eben geschehene Aussage in V.8" (40). In 2Kor 7,3 gebraucht Paulus das Perfekt προείρηκα in bezug auf eine im Text kurz vorher (2Kor 6,11-13) gemachte Äußerung. In 2Kor 13,2 verweist dagegen dieselbe Form explizit, wie der nachfolgende ώς-Satz belegt, auf einen früheren Besuch (προείρηκα και προλέγω, ώς παρών το δεύτερον και άπών νυν). ΒΕΤΖ, 1 0 8 . 45

Vgl. BAUER, s.v. προείπον.

Weitere juristische

Formularmerkmale

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Gegner verdammt, erfolgt erst in 1,9. Sein Gewicht wird durch die Vorbereitung in 1,8 rhetorisch verstärkt46 Der Fluch ist durch seine Stellung relativ zu Beginn des Briefes ohnehin exponiert. Darüber hinaus korrespondiert er als bedingter Fluch mit einem bedingten Segen am Ende des Briefes (και όσοι τω κανόνι τούτω στοιχήσουσιν, ειρήνη έπ' αυτούς και ελεος [6,16]). Aufgrund dieser Rahmung des Briefcorpus durch Fluch und Segen47 weist H.D. B E T Z dem Galaterbrief "die Kraft eines magischen Briefes"48 zu. Unten (Kap. 2.1) werden wir uns genauer mit dieser eigenwilligen Gattungsbestimmung auseinandersetzen müssen; sie ist jedoch allein schon wegen des Bedingungscharakters von Fluch und Segen problematisch, und gerade diese konditionale Satzstruktur ist die erste Gemeinsamkeit des paulinischen Fluches mit den Strafandrohungen der Rechtspapyri. Während die Kommentare zur Stelle vor allem die religionsgeschichtlichen Parallelen anfuhren 49 , soll hier die rechtliche Grundfigur hervorgehoben werden, die hinter dem religiösen Fluch liegt, daß nämlich jedem eine schwere Strafe droht, der eine bestimmte Sache verfälscht. Ähnlich generell und apodiktisch formulierte Straf- oder Sanktionsformeln sind ein fester Bestandteil im Formular antiker Rechtspapyri (Schuldscheine, Verträge), besonders im Formular von Testamenten 50 Zwischen ihnen und l,8f ergeben sich folgende Berührungspunkte: Erstens sind derartige Strafformeln in der Regel ebenfalls konditional formuliert 51 Ihre Grundform für Verträge lautet: έάν δε μή ποιώμεν καθ' δ γέγραπται,

Gegen ZAHN, 50: "Die allgemeinere Aussage Ν.8 mildert [?] im voraus die Schroffheit des gegen die Judaisten in Gal. gerichteten Fluchworts v.9"

48

Fluch und Segen sind freilich nicht nur an den Eckpunkten des Galaterbriefes präsent, sondern auch der Abschnitt 3,6-14 ist stark von den Leitbegriffen εύλογεϊσθαι (3,8.9.14) und κατάρα (3,10[2x].13[3x]) geprägt. Femer zitiert Paulus in 4,27 und 4 , 3 0 alttestamentliche Segens- und Fluchworte. - Zu den traditionsgeschichtlichen Zusammenhängen der Fluchworte im Galaterbrief vgl. die Monographie von K.A. MORLAND (Rhetoric of Curse in Galatians [1995]) sowie die Beiträge von N. BONNEAU (Paul's Argument of the Curse [1997]) und N.H. YOUNG (Who's Cursed - and Why? [1998]). Galaterbrief (1988), 109. Vgl. MUSSNER, 60 und BETZ, 108ff je mit Literatur. V g l . z u m j u r i s t i s c h e n F o r m u l a r A . BERGER, S t r a f k l a u s e l n ( 1 9 1 1 ) , 2 2 9 - 2 3 4 ; H. KRELLER, E r b r e c h t l i c h e U n t e r s u c h u n g e n ( 1 9 1 9 ) , 3 7 1 - 3 7 3 u n d R. TAUBENSCHLAG, L a w 190-200.

51

V g l . BERGER, e b d . , 2 .

(1955),

86

Das epistolographische

Formular

έκτείσομεν κτλ52 Zweitens richtet sich gerade bei Testamenten die Drohung, die die Strafformeln aussprechen, generell gegen jedermann. Dort heißt es z.B.: μή ούσης μηδενί τω καθόλον εξουσίας προς άθέτησίν τι τούτων άγειν μηδέ τι ύπεναντίως ποιείν" (P.Oxy. III 493, 9f [IP]) oder παρά δε ταύτα μή ούσης μηδενι τω καθόλου έξουσίας παραβαίνειν (P.Oxy. III 494, 27f[156"])54

Wer ein solches Verbot übertritt, muß eine Strafe zahlen, ohne daß diese Übertretung die Gültigkeit des Testaments beeinflussen könnte (μηδέν ήσσον μένειν κύρια τα προκείμενα [ebd., Ζ. 29]). Absolut niemand (μηδενι τω καθόλον) hat also ein Recht, die getroffene Verfügung unwirksam zu machen (προς άθέτησίν άγειν) oder auch nur zu übertreten (παραβαίνειν). Paulus formuliert den Bannfluch, der seine Evangeliumsverkündigung schützen soll, zwar mythologischer, in der Sache aber genauso generell und auschließlich: Wir selbst haben das Recht nicht, kein Engel aus dem Himmel (8a) und auch sonst nicht irgendeiner (9b). Drittens schließlich ist auch das doppelte παρά im Sinne von "gegen"55 (8b.9c) ein typisches Sprachelement jener Strafformeln56 Παρά δέ ταύτα [...] παραβαίνειν hieß es in dem oben zitierten Papyrus; Paulus sagt zweimal: εύαγγελίζεσθαι παρά τι. Ein Testament betrifft zwei Parteien (den Erblasser und den Begünstigten), und die juristische Strafformel richtet sich vornehmlich gegen nicht bedachte Dritte, die mit Erbansprüchen auftreten könnten57 Auch Paulus betont in den Relativsätzen (8b.9c) die komplementäre und faktisch vollzogene (Indikativ Aorist) Zweiseitigkeit von Verkündigung und Annahme des Evangeliums, so daß es nicht abwegig ist, hier an eine "geistliche Erbschaft" zu denken. Und der Bannfluch in l,9d richtet sich gegen Dritte, die von außen eindringen und das vormals enge Verhältnis zwischen Paulus und seiner Gemeinde in Frage stellen. Die Entsprechungen zwischen l,8f und den Strafformeln der Rechtspapyri sind nicht so ausgeprägt, wie die oben genannten Bezüge von 1,20 oder 6,17. Die theologische Uminterpretation ist hier noch einen Schritt gewagter, und der Sprung

"Wenn wir nicht handeln, wie es schriftlich vereinbart wurde, werden wir dies und das [als Strafe] zahlen" Grundform zitiert nach R. BUZON, Briefe der Ptolemäerzeit (1984), 229 (Beispiele 227f). Man beachte die dreifach betonte Verneinung (μή [...] μηδενί [...] μηδέ) und die redundante Steigerung von μηδενί durch τφ καθόλον ("absolut niemandem"). Weitere Beispiele: P.Oxy. III 489, l l f [117p]. 491, lOf [126p], 492, 9f [130"]. In dieser Bedeutung steht παρά im Neuen Testament eher selten (vgl. BAUER, s.v. III 6 und MUSSNER, 5 9 A n m . 86). V g l . A . BERGER, Strafklauseln ( 1 9 1 1 ) , 3. 57

Vgl. H. KRELLER, Erbrechtliche Untersuchungen ( 1919), 371.

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von einer drohenden Konventionalstrafe zum Bannfluch besonders weit. Dennoch reklamiere ich l,8f als einen weiteren Formularsplitter aus Rechtsdokumenten, zumal Paulus selbst in 3,15-18 einen Hinweis für diese Interpretationsmöglichkeit nachreicht. Dort nämlich wird er die Unverbrüchlichkeit eines menschlichen Testaments (άνθρωπου κεκυρωμένην διαθήκην [3,15]) als exemplum für die Unverbrüchlichkeit des göttlichen Testaments (διαθήκην προκεκυρωμένην ύπό του θεοϋ [3,17]) benutzen. Folglich sind jene Rechtsdokumente, an die Paulus bei der formalen Gestaltung des Fluches anknüpft, auf der inhaltlichen Ebene selbst Gegenstand der Darlegung. Form und Inhalt verweisen dadurch wechselseitig aufeinander58

1.3.4 Das Zitat eines Dokuments (2,7f) Aufgrund sprachlicher Besonderheiten ist 2,7bf (πεπίστευμαι το εϋαγγέλιον κτλ.) schon seit längerem verdächtigt worden, nicht von Paulus formuliert worden zu sein. Die Diskussion gründet sich dabei auf drei Beobachtungen: Zuerst steht für Paulus singular in 2,7 und 2,8 die griechische Form des Beinamens Πέτρος, während er sonst immer - auch im unmittelbaren Kontext 2,9 - die aramäische Form Κηφάς gebraucht 59 Zweitens ist die Wortverbindung τό εύαγγέλιον τής άκροβυστίας bzw. [τό εύαγγέλιον 60 ] τής περιτομής (2,7) unpaulinisch. Und drittens besteht eine Spannung zwischen dem Plural der drei namentlich genannten "Säulen" (Jakobus, Kephas und Johannes61 [2,9b]), bei denen Kephas nicht den Spitzenplatz

58

O. EGER (Rechtswörter [1917], 84f und Rechtsgeschichtliches [1919] 31-37) hat den rechtsgeschichtlichen Horizont von 3,15-18 nachgezeichnet und festgestellt, daß Paulus in 3,15 gerade an die hellenistische Form eines Testaments gedacht hat, die nicht durch die Verfugung eines Dritten außer Kraft gesetzt werden kann. Er referiert dort auch über den Gebrauch jener Strafformeln, übersieht aber, daß Paulus ein theologisch interpretiertes Zitat dieser Strafformeln selbst in l,8f eingesetzt hat, um seine Ausführungen zu schützen. Vgl. IKor 1,12; 3,22; 9,5; 15,5; Gal 1,18; 2,9.11.14. Die textkritische Bezeugung ist eindeutig, obwohl einige Zeugen, insbesondere D F G, im Galaterbrief durchgängig Πέτρος lesen (vgl. METZGER, 59Iff). - Die Bedeutung des Beinamens ("Felsen") ist in beiden Sprachen gleich. Πέτρος leitet sich von ή πέτρα ab, und Κηφάς ist die Transskription von Ν 9 Ό (vgl. Mt 16,18 und Joh 1,42). In 2,7g,, fehlt das Bezugswort für της περιτομής. Diese Verkürzung kann im Sinne einer suspensiven detractio erklärt werden (vgl. LAUSBERG, §§ 688-691), die im Sprachgebrauch weitgehend "mechanisiert" abläuft (ebd., § 691). Wenn man Paulus hier darüber hinaus eine besondere Absicht unterstellen will, dann entzieht er dem Halbsatz, der Petrus gewidmet ist, den Ausdruck τό εύαγγέλιον, wie ihm selbst im folgenden Vers 2,8 im Vergleich zu Petrus (von Jerusalemer Seite aus?) die explizite Erwähnung einer αποστολή entzogen ist.

61

Auch in 2,6 stehen die oi δοκούντες im Plural.

88

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einnimmt62, und der ausschließlich auf Petrus und Paulus zugespitzten Gegenüberstellung in 2,7f. Den überzeugendsten Lösungsversuch63, um diese Brüche und den sprachlichen Fremdeinfluß zu erklären, hat E. DlNKLER vorgestellt. Seine später sogenannte "Protokoll- oder Dokumentenhypothese" lautet64: "Alle Schwierigkeiten würden gelöst auch die stilistischen Einmaligkeiten in der paulinischen Literatur -, wenn hier [sc. 2,7bf] ein Zitat angenommen wird, das der in Gal 2 berichteten Konferenz der Apostel entstammt und als Formel in aramäischer und in griechischer Version [...] festgelegt wurde. Aus letzterer Version wäre dann durch Paulus der entscheidende Passus entnommen und hier zitiert" [...] Paulus habe "die Uneinheitlichkeit der Namengebung getragen, um eben die apostolische Autorität der Abmachung fur die eigene Position ins Feld zu fuhren"

Mit der kleinen Modifikation, daß kein streng wörtliches Zitat vorliegen kann, weil Paulus seinen eigenen Namen und die 3. Person unterdrückt65 und statt dessen die 1. Person (πεπίστευμαι [2,7] und έμοί [2,8]) verwendet, gilt der These von E. DlNKLER bis heute die Zustimmung der Kommentare 66 G. SCHWARZ hat unlängst

die These von DlNKLER erneut bekräftigt und führt jene Verse auf eine "schriftliche Vorlage aus einer Art Kommuniqué"67 des Apostelkonzils zurück. A . S C H M I D T schlägt dagegen aufgrund der unterschiedlichen Personengruppen in

2,7f (nur Paulus und Petrus) und 2,9 (Jakobus, Petrus, Johannes, Paulus, Barnabas) vor, daß 2,7b das Zitat eines "Missionsdekretes" sei, welches schon beim ersten Besuch des Paulus in Jerusalem (l,18f) zwischen ihm und Petrus vereinbart worden sei. "Unterstützt wird die These durch den V.7 verwendeten Terminus ίδόντες, der eine Berufung Pauli auf ein offizielles Dokument nahelegt, das die Jerusalemer zur

Die Zeugen D F G vertauschen die Reihenfolge und setzen Petrus an die erste Stelle. - Zur Frage der personellen Hierarchie in der Leitung der Urgemeinde vgl. MUSSNER, 118-120. Referat der Forschungsgeschichte bei MUSSNER, 116f. Brief an die Galater (1953), 280 (mit Rekonstruktionsvorschlag des Protokollsatzes in griechischer und hebräischer Fassung). Die Nennung des eigenen Namens wäre an dieser Stelle im Sinne eines Zitates sofort einsichtig. Trotzdem hält Paulus ihn (aus stilistischen Gründen?) zurück. Dies rechtfertigt nachträglich noch einmal die starke Gewichtung der Namensnennung in 5,2, die oben (S. 55ff) vertreten wurde. In 5,2 ist der formale Zwang der subscriptio größer als jeder stilistische Vorbehalt. V g l . MUSSNER, 1 1 6 A . 8 9 ; EBELING, 1 4 5 f ; BETZ, 1 8 5 ; f e r n e r G . KLEIN, G a l a t e r 2 , 6 - 9

(1969), 106f u. 11 Of. 67

Wechsel von "Kephas" zu "Petros" (1992), 48.

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68

Kenntnis genommen haben" Gegen diese Sichtweise spricht entschieden die Bedeutung von ίστορήσαι (1,18), mit der Paulus dem ersten Besuch jede offizielle Dimension abspricht 69 Dennoch macht die Interpretation von A. SCHMIDT implizit auf eine chronologische Unschärfe in der These von E. DlNKLER aufmerksam. Erst in 2,9 besiegelt der Handschlag (δεξιάς έδωκαν) die Vereinbarung und macht diese für beide Seiten verbindlich 70 , aber schon vorher sollten die oi δοκούντες das Protokoll jener - erst noch zu treffenden - Vereinbarung gesehen haben (ίδόντες [2,7])? Diese kleine Unschärfe erinnert uns daran, daß Paulus in 2,1-10 keinen historiographisch orientierten Verlaufsbericht des Apostelkonzils bietet. Seine Darstellungs ist vielmehr auf die Konfliktsituation in Galatien zugeschnitten 71 Dort sollten die Gegner daran erinnert werden, daß sie weder für die unbeschnittenen Heiden(christen) zuständig waren, da Paulus das εύαγγέλιον της άκροβυστίας anvertraut war (2,7), noch daß ihre Beschneidungsforderung durch das Apostelkonzil gedeckt war (έμοι ούδεν προσανέθεντο [2,6]). Auch ist die Begrifflichkeit jener Passage (εύαγγέλιον της άκροβυστίας versus [εύαγγέλιον] της περιτομής) als Differenzkriterium nur dann sinnvoll, wenn mit der Verkündigung eines "Evangeliums für die Unbeschnittenen" nicht gleichzeitig deren Überführung in den Zustand der Beschneidung verbunden ist. Aufbauend auf E. DlNKLER und G. SCHWARZ unterstellen wir somit, daß Paulus in 2,7bf frei und der Ich-Form seiner Erzählung angepaßt aus einem schriftlichen Dokument des Apostelkonzils zitiert. Nebenbei sei bemerkt, daß auch die Apostelgeschichte - ungeachtet aller sonstigen inhaltlichen Unterschiede - zumindest dies bestätigt, daß das Ergebnis jenes Konzils schriftlich festgehalten wurde (Apg 15,23ff). Paulus zitiert in 2,7bf nur einen kurzen Passus, aber gerade genug, um seine Gegner dahingehend abzumahnen, daß er bei einer Eskalation des Konflikts auf jene verbriefte Vereinbarung verweisen könnte. Somit kommt sowohl dem im Hintergrund stehenden Protokoll des Apostelkonzils als auch der Schriftform des Galaterbriefes selbst die höhere Beweiskraft schriftlicher Dokumente zu.

68

Missionsdekret ( 1 9 9 2 ) , 151. Vgl. o. S. 74.

71

Seit Homer gilt der Handschlag als Abschluß eines verbindlichen und vertrauenswürdigen Vertrages (Horn. II. II 341; Soph. Ai. 751; Eur. Med. 21; Xen. an. 7.3.1; Verg. Aen. III 61 Of). A u c h die Papyri belegen den Gebrauch von δεξία in der Bedeutung "Vertrag": έ ξ ε δ ό μ η ν σοι τ η ν δεξίαν μ ο υ προς άσφάλειαν ( B G U III 899, 13 [ I V ] ) ; φυλάσσειν τ η ν δεξιάν (P.Fay. 124, 13 [IP]); ί ν α τηρήσωσι αύτών την δεξιάν (P.Oxy. III 533, 18 [ΙΙ Ρ ]). Jüdische Parallelstellen bei BETZ (190 Α. 397), TH. NÄGELI, Wortschatz ( 1 9 0 5 ) , 2 4 und O. EGER, Rechtsgeschichtliches (1919), 40f. Vgl. das sonst unmotivierte π ρ ο ς ύ μ ά ς (2,5).

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Das epistolographische

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Ein Seitenblick auf den vorstehenden Kontext hebt die fragliche Stelle zusätzlich sprachlich heraus. Während nämlich 2,7f in eine Periode eingebettet ist, die für Paulus ungewöhnlich lang und komplex, aber doch klar strukturiert und korrekt durchgeführt ist (von 2,6c [έμοι γαρ κτλ.] bis 2,10), stehen vorweg gleich zwei Anakoluthe 72 hintereinander (2,4-6)73 Diese sind m.E. stilistisch bewußt eingesetzt, um die Aufmerksamkeit der Rezipienten zu steigern74, denn wer zweimal hintereinander einen Satz unvollendet abbricht oder syntaktisch unkorrekt fortfuhrt, irritiert den Adressaten und weckt so die Bereitschaft, das Nachstehende um so sorgfältiger zu beachten. Diesen Moment provozierter Aufmerksamkeit nutzt Paulus, um darzulegen, daß er in der strittigen Beschneidungsfrage auf eine verbindliche (δεξιάς έδωκαν [2,9]) und schriftlich fixierte (Zitat in 2,7bf) Vereinbarung verweisen kann.

1.3.5 Exkurs: Das juristische Vokabular Die nachfolgenden Überlegungen zur semantischen Kohärenz des Galaterbriefes weichen vom bisherigen methodischen Vorgehen ab und blicken exkursartiger auf die Disziplin der Textlinguistik. Dabei ist es jedoch nicht unsere Absicht, eine umfassende semantische Analyse des Galaterbriefes vorzunehmen, sondern geboten wird lediglich eine quantitative Bestandsaufnahme des Wortfeldes "Juristische Fachbegriffe" oder "Termini des Rechts", welches den Galaterbrief maßgeblich bestimmt. Der dargestellte Befund ist ein Vorstudie aus der Anfangszeit dieser Untersuchung, als ihr methodische Konzept noch nicht auf die Polarität von epistolographischer und rhetorischer Analyse festgelegt war. Mir scheint er im Rückblick geeignet, die Ergebnisse des Kapitels 1.3 noch einmal von einer anderen

Ein Anakoluth ist die Nichtdurchführung einer begonnenen Satzkonstruktion (BDR § 467). Unter dem Gesichtspunkt des ornatus ist er gerade das Gegenteil einer Periode (LAUSBERG, § 9 2 4 ) .

Das erste Anakoluth zeigt sich an der Versgrenze 2,512,6, an der die präpositionale Wendung διά δε τους παρεισάκτους ψευδαδέλφους (2,4a), der zunächst zwei parallele Relativsätze (οϊτινες κτλ. [2,4b] und οίς κτλ. [2,5]) und diesen untergeordnet weitere Nebensätze folgen, nicht korrekt auf der Ebene des Hauptsatzes fortgeführt wird. Das zweite tritt innerhalb von 2,6 auf. Dort beginnt mit άπό δέ των δοκούντων είναι τι (2,6a) ein neuer Hauptsatz. Doch auch dieser wird nach der Parenthese (όποιοι bis λαμβάνει) nicht korrekt fortgesetzt, sondern jene präpositionale Wendung (2,6a) mutiert zum Nominativ (οι δοκοΰντες [2,6c]) und wird so zum Subjekt der gesamten Periode (2,6c-10), seinerseits präzisiert in 2,9b: 'Ιάκωβος και Κηφάς και Ιωάννης, οί δοκούντες στύλοι είναι. Maßvoll und bewußt gebraucht steigert ein Anakoluth (ähnlich der Aposiopese) Pathos und Affekt des Zuhörers (vgl. R. VOLKMANN, Rhetorik [1885], 564).

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Warte aus zu bestätigen. Die bisherige Untersuchung konzentrierte sich auf das Formular des Briefes und konnte auf einer formalen Ebene gewisse Anleihen im juristischen Formular aufzeigen. Ein sematischer Zugang orientiert sich dagegen an der Bedeutung und der inhaltlichen Festlegung einzelner Wörter. Wenn nun auch in diesem Bereich eine zumindest partielle Dominanz rechtlicher Kategorien anzutreffen ist, dann bestätigt dies, daß sich Form und Inhalt des Galaterbriefes in diesem Punkt entsprechen. Zur Beschreibung von rekurrenten semantischen Merkmalen eines Textes hat J.A. 75 G R E I M A S vor ungefähr 3 0 Jahren den Begriff der "Isotopie" eingeführt Dieser Begriff geht davon aus, daß sich die Bedeutungen einzelner Wörter über Satzgrenzen und Wortklassen hinweg zu Komplexen den sogenannten Isotopien verbinden, die ihrerseits in einer hierarchischen Struktur miteinander verflochten sind. Erst die Wiederholung von Schlüsselbegriffen oder der redundante Gebrauch bedeutungsverwandter Lexeme verleiht längeren Texten einen kohärenten und eindeutigen Sinn. Das von G R E I M A S vorgelegte Isotopiekonzept, welches sogar unterhalb der Einzelwortebene ansetzt76, wurde von seinen Schülern weiterentwikkelt77 Inzwischen ist der Ausdruck "Isotopie" zu einem Sammelbegriff geworden, "der verschiedene semiotische Phänomene abdeckt, die generell als Kohärenz eines Lektüreablaufs [...] zu definieren wären"78 Die hohe semantische Kohärenz, die sich bei der Lektüre des Galaterbriefes unter der Isotopie "Termini des Rechts" ergibt, soll nun durch die nachstehende Wortliste dokumentiert werden. Die gesamte Isotopie mit ihren 162 Belegen79 wird der Übersicht halber in sieben Klasseme (A-G) unterteilt, d.h. bedeutungsnahen Wörtern wird noch einmal ein gemeinsames semantisches Merkmal zugordnet. Diese Klasseme sind nach der Anzahl ihrer Einträge sortiert, wobei die sematischen Oppositionen jeweils eingeordnet wurden, sofern sie im Text explizit erwähnt sind. Wörter,

Vgl. Strukturale Semantik (1971), 6 0 - 9 2 ferner B. SOWINSKI, Textlinguistik ( 1 9 8 3 ) 85f, U. E c o , Lector in fabula (1990), 1 1 5 f s o w i e A. LINKE/M. NUSSBAUMER, Studienbuch Linguistik ( 1 9 9 1 ) , 230f. Vgl. LINKE/NUSSBAUMER, ebd., 230: Das Isotopiekonzept v o n GREIMAS "[nimmt] eine Zerlegbarkeit v o n Wortbedeutungen in eine M e n g e einzelner semantischer Merkmale [an]. D i e textverknüpfende Wirkung der Rekurrenz (der Wiederaufnahme) wird also nicht an ganzen Wortbedeutungen festgemacht, sondern an einzelnen rekurrenten semantischen Merkmalen" Vgl. B. SOWINSKI, Textlinguistik ( 1 9 8 3 ) , 85f. 78

U. E c o , Lector in fabula ( 1 9 9 0 ) , 115 (Hervorhebung im Original). Da der Galaterbrief insgesamt 2 2 2 0 Wörter lang ist (vgl. MORGENTHALER, Statistik [1958], 164), fallen 7,3% aller Wörter unter diese Isotopie.

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die Paulus nur selten gebraucht, und Hapaxlegomena wurden mit einem Sternchen (*) gekennzeichnet und mit erläuternden Anmerkungen versehen. Isotopie "Termini des Rechts", 162 Belege: Klassem (A): Gesetz und Gerechtigkeit (Rechtfertigung), 46 Belege: Νόμος (32x: passim), δικαιόω (8x: 2,16[3].17; 3,8.11.24; 5,4), δικαιοσύνη (4x: 2,21; 3,6.21; 5,5), δίκαιος (3,11), άδικέω (4,12). Klassem (Β): Erbrecht (auch Vormundschaftsrecht), 36 Belege: Διαθήκη (3x: 3,15.17; 4,24), κληρονομιά (3,18), κληρονόμος (3x: 3,29; 4,1.7), κληρονομέω (2x: 4,30; 5,21), υιοθεσία (4,5), υιός (13x: passim), νήπιος (2χ: 4,1.3), 'προθεσμία 80 (4,2), θέλημα (1,4), πατήρ (5χ: 1,1.3.4; 4,2.6), κύριος (6,14), "επίτροπος81 (4,2), "μεσίτης82 (2χ: 3,19.20). Klassem (C): Rechtsverhältnisse im οίκος, 28 Belege: Δουλεύω (4χ: 4,8.9.25; 5,13), δούλος (4χ: 1,10; 3,28; 4,1.7), δουλεία (2χ: 4,24; 5,1), δουλόω (4,3), καταδουλόω (2,4), παιδισκής (4χ: 4,22.30[2].31), ελευθερία (4χ: 2,4; 5,1.13[2]), ελεύθερος (6χ: 3,28; 4,22.23.26.30.31), έλευθερόω (5,1), οικονόμος (4,2). Klassem (D): Verfolgung und Strafe, 22 Belege: Διώκω (5x: 1,13.23; 4,29; 5,11; 6,12), γραφή83 (3x: 3,8.22; 4,29), 'κατεγνωσμένος84 (2,11), σταυρός (3χ: 5,11; 6,12.14), σταυρόω (2χ: 3,1; 6,14), οφειλέτης

80

Προθεσμία: "festgesetzter Termin", neutestamentliches Hapaxlegomenon; in den Rechtspapyri breit belegt in der Bedeutung: "Fälligkeitszeitpunkt", "Gerichtstermin" oder allgemein "Frist" mit juristischer Bindung (vgl. PREISIGKE, S.V).

81

' Επίτροπος, "Vormund eines Unmündigen" oder auch "Testamentvollstrecker", paulinisches Hapaxlegomenen, aber in dieser Bedeutung in den Rechtspapyri mehrfach belegt (vgl. F. PREISIGKE, Fachwörter [1915], 93 und L. MITTEIS / U. WILCKEN, Grundzüge

[1912], Bd. 2,1, p. 248). 82

Μεσίτης, "(Vermittler", protopaulinisches Hapaxlegomenen, juristischer terminus technicus für "Mittelsmann", "Vergleichsrichter" oder "Vertrauensmann" (PREISIGKE, s.v); MITTEIS/WILCKEN (ebd., 31) ordnen den μεσίτης unter dem Stichwort "Hilfsbeamte" ein.

83

Γραφή wird im Galaterbrief (wie auch νόμος in den meisten Fällen) im konkreten Sinne von "Tora" gebraucht. Andererseits kann γραφή in der Profangräzität auch "Anklageschrift" bedeuten (entsprechend: γράφεσθαι anklagen). Da die Tora in der Argumentation des Paulus vor allem die Funktion hat, den Menschen auf die Sünde zu verweisen (3,19.22), ist diese juristische Konnotation durchaus zutreffend.

84

Κατεγνωσμένος, "er war gerichtet (durch sein Verhalten od[er] die öffentliche] Meinung)", so BAUER, S.V. καταγινώσκω; paulinisches Hapaxlegomenon (sonst nur noch Uoh 3,20 und Mk 7,2 [varia lectio]). Der Übersetzung von BAUER, die auch in den Kommentaren vorherrscht, hat H. NEITZEL (Galater 2,11-21 [1983], 145f) widerspro-

Weitere juristische

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93

(5,3), κρίμα (5,10), *συγκλ£ίω85 (2x: 3,22.23), φρουρέω86 (3,23), παιδαγωγός87 (2x: 3,24.25), εκκλησία (1,2). Klassem (E): Rechts Vorgänge, 11 Belege: Δεξιάς δίδωμι (2,9), κοινωνία 88 (2,9), εξαγοράζω (2χ: 3,13; 4,5), 'κυρόω 8 9 (3,15), προκυρόω 9 0 (3,17), ' ά κ υ ρ ό ω 9 ' (3,17), "άθετέω 92 (2χ: 2,21; 3,15), "έπιδιατάσσω 9 3 (3,15), λογίζω (3,6).

chen, da nur καταγιγνώσκω τινός "verurteilen" oder "beschuldigen" heiße, in 2,11 κατεγνωσμένος aber absolut stehe. NEITZEL versteht καταγιγνώσκω hier als verstärktes γιγνώσκω ("jmd. bis auf den Grund hinab erkennen, ihn genau erkennen, d.h. ihn durchschauen"). Petrus sei von Paulus als αμαρτωλός durchschaut worden, "der aus der Wahrheit des Evangeliums herausgefallen ist oder herauszufallen droht" (ebd, 146). 85

Συγκλείω: "zusammenschließen", bei Paulus sonst nur noch Rom 11,32. Φρουρέω: "in Haft halten", zusammen mit dem rahmenden συγκλείω (3,22.23) liegt die Assoziation "Gefängnis" nahe.

87

Der παιδαγωγός darf nicht von unserem Sprachgebrauch her mit dem eigentlichen Lehrer (διδάσκαλος) verwechselt werden (vgl. BAUER S.V.). Er war vielmehr - als zum Haus gehöriger Sklave - Aufpasser und Zuchtmeister (gerade auch mit dem Stock) des unmündigen Knaben; sozial- und kunstgeschichtliches Material zur Rolle des παιδαγωγός in den Aufsätzen von N.H. YOUNG (Paidagogos [ 1 9 8 7 ] u. Figure of the Paidagogos [1990]).

Κοινωνία: "Gemeinschaft", paulinisches Vorzugswort; δεξιάς κοινωνίας διδόναι τινί: "jmdm. d. Bruderhand reichen" (BAUER, S.V. vgl. o. Anm. 70). Daneben aber ist κοινωνία in den Rechtspapyri auch terminus technicus für "Gesellschafts- oder Teilhabervertrag" (PREISIGKE, S.V.); Z.B. Ó δείνα και ό δείνα βουλόμεθα μισθώσασθαι άρούρας Χ έπί κοινωνίαν ήμίσει μέρει (BGU II 586,11 [III/IV]). 89

Κυρόω: "etw. rechtskräftig machen"; in dieser Bedeutung nur hier, ferner noch 2Kor 2,8 in der Bedeutung "beschließen" O. EGER (Rechtswörter [1917], 880 hat darauf hingewiesen, daß die Verbindung κεκυρωμένη διαθήκη (3,15) auf eine feste Rechtsformel verweise, die an das Ende von Testamenten angefügt zu werden pflegte: z.B. P.Oxy. III 494, 30 [156p]: ή διαθήκη κυρία (vgl. M. HÄSSLER, Kyria-Klausel [1960] sowie H . J . WOLFF, Recht der griechischen Papyri [1978], 145fu. 155-164). Προκυρόω: "vorher rechtskräftig machen"; neutestamentliches Hapaxlegomenon - EGER (ebd. 91 Anm. 1) schlägt mit Hinweis auf die Parallelität von 3,15 und 3,17 die Übersetzung "im voraus bestätigen" vor. Ακυρόω: "rechtlich außer Kraft setzen", paulinisches Hapaxlegomenon; in den Rechtspapyri ist es alleiniges Vorrecht eines διαθέμενος, sein Testament zu ändern (μεταδιατίθεσθαι [s.u. Anm. 93]) oder aufzuheben (άκυρούν); vgl. EGER, ebd. 92f. Αθετέω: "fur ungültig erklären"; bei Paulus selten (auch IKor 1,19; IThess 4,8). In 3,15 ist der Zusammenhang mit dem rechtlichen "Ungültigkeitserklärung" (άθέτησις [z.B. BGU 144, 16]) evident. Έπιδιατάσσω: "juristfischer] tferminus] t[echnicus], ein Testament mit e[inem] Zusatz versehen" (BAUER, s.v.), neutestmentliches Hapaxlegomenon. In den Rechtspapyri in dieser Form nicht belegt, wohl aber das ähnlich klingende Doppelkompositum

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Das epistolographische

Formular

Klassem (F): Rechtsübertretung und Rechtswahrung, 10 Belege: 'Αμαρτία (3x: 1,4; 2,17; 3,22), αμαρτωλός (2x: 2,15.17), παραβάτης (2,18), παράβασις (3,19), 'όρθοποδέω94 (2,14), 'έμμένειν 95 (3,10), φυλάσσω (6,13). Klassem (G): Bezeugung (Lüge und Wahrheit), 9 Belege: Μαρτυρέω (4,15), μαρτύρομαι (5,3), ψεύδω (1,20), ψευδάδελφος (2,4), 'φρεναπατάω96 (6,3), άλήθεια (3χ: 2,5.14; 5,7), αληθεύω (4,16).

Diese Wortliste belegt, daß die Isotopie "Termini des Rechts" über den gesamten Text gestreut und zudem von einer Redundanz einzelner Begriffe geprägt ist. Daß dabei in einem Abschnitt, der die Gültigkeit von Testamenten thematisiert (3,15-18) sogar eine hochspezielle Kanzleisprache anzutreffen ist97, ist für unseren Zusammenhang weniger wichtig als das Ergebnis, daß diese horizontale Isotopie insgesamt ein zentrales Element der textlichen Makrostruktur des Galaterbriefes ist98 Die

έπιδιατίθεσθαι mit der Spezialbedeutung "ein zweites Testament errichten" (analog zu μεταδιατίθεσθαι "ein Testament ändern"); vgl. PREISIGKE, s.v. und H. KRELLER, Erbrechtliche Untersuchungen (1919), 298. Όρθοποδέω: "recht wandeln"(?), neutestamenliches Hapaxlegomenon. H. NEITZEL (Galater 2,11-21 [1983], 146ff) kommt in kritischer Auseinandersetzung mit G.D. KILPATRICK (Gal 2,14 [1954]) und aufgrund eigener Wortstudien zu dem Ergebnis, daß das Simplex ποδέω nicht "gehen" oder "wandeln", sondern "fußen" im Sinne von "auf etwas festgegründet sein" bedeutet. "Paulus wählt das Verbum όρθοποδέω mit dem Blick auf die "scheinbaren Säulen' (2,9: oi δοκοΰντες στύλοι είναι) Petrus und Jakobus, von denen er angenommen hatte, sie würden den Tempel der Wahrheit des Evangeliums [...] stützen, die aber nun wie wankende Säulen aus der senkrechten (lotrechten) Wahrheit des Evangeliums [...] herauszufallen [...] drohen" (ebd. 147f). Έμμένειν: "verharren bei etw.", paulinisches Hapaxlegomenon. Schon A. DEISSMANN (Neue Bibelstudien [1897], 76f [mit Belegen aus den Rechtspapyri]) erkannte, daß in der gesamten Wendung δς ούκ εμμένει πάσιν τοις γεγραμμένοις κτλ. (3,10) neben einem freien Zitat von Dtn 27,26 auch ein - seiner Meinung nach "unwillkürlicher" - Anschluß an ein gebräuchliche Rechtsformel vorliegt: "Die Formel variiert in den Verben, bewahrt aber ihre bei einer juristischen Wendung begreifliche Konstanz dadurch, dass auf έμένειν mit und ohne έν der Dativ des Participiums, meist im Plural, folgt" Φρεναπατάω: "täuschen, betrügen", neutestamentliches Hapaxlegomenon. O. EGER (Rechtswörter [1917], 87) hat nachgewiesen, daß Paulus an dieser Stelle durchgängig "technische Ausdrücke der hellenistischen Rechtssprache verwendet" Wie er selbst in Tarsos in dem Einflußbereich des hellenistischen Rechtsdenkens aufgewachsen sei, so habe er auch von den Empfängern seines Briefes erwarten können, daß sie mit den Besonderheiten dieses Rechtsdenkens vertraut gewesen seien. Anders E. BAMMEL (Gottes ΔΙΑΘΗΚΗ [1959]), der in 3,15ff vor allem jüdische Rechtsvorstellungen zu erkennen glaubt. 98

Z u r T e r m i n o l o g i e vgl. B. SOWINSKI, T e x t l i n g u i s t i k ( 1 9 8 3 ) , 86 u n d 9 2 - 9 4 .

Weitere juristische

Formularmerkmale

95

Aussagen dieses Schreibens setzen offensichtlich eine juristische Gedankenwelt und eine entsprechende enzyklopädische Kompetenz des Empfängers voraus" Die Mehrzahl der Wörter hat eine enge und eindeutige Bedeutung, aber gerade bei den oft gebrauchten Wörtern wie z.B. νόμος, δικαιοσύνη, ελευθερία oder κληρονομιά überlagern sich juristische und theologische Bedeutungsnuancen. In der exegetischen Litertur wird oft ausschließlich auf ihre theologische Deutung Bezug genommen100 Dies ist insofern berechtigt, als der engere Kontext die theologische Bedeutungsverengung zumeist unterstützt. Wenn z.B. in 2,16 zum ersten Mal das Wort νόμος fällt, ist es durch das vierfache ' Ιουδαίος, ' Ιουδϊκώς, ϊουδαΐζειν und 'Ιουδαίοι (2,14f) im Vorfeld sowie die grammatikalische Verbindung έξ έργων νόμου ausreichend als Gesetz im Sinne des jüdischen Gesetzbuches (Tora) präzisiert. Entsprechendes läßt sich für den soteriologischen Zentralbegriff δικαιοσύνη (zuerst 2,21) zeigen. Seine passivische Verengung im Sinne von "Rechtfertigung" wird durch die vier passivischen Verbalformen δικαιούται, δικαιωθώμεν, δικαιωθήσεται und δικαιωθήναι in 2,16f vorbereitet. Doch die Adressaten des Galaterbriefes hörten und gebrauchten dieselben Begriffe auch mit einer profanen Konnotation in ihrer Alltagssprache. Wenn wir diese letzte Überlegung mit den Ergebnissen der Kapitel 1.2 und 1.3.1-4 verbinden, so zeigt sich, daß Paulus auf der Ebene des Formulars wiederholt, was sich auch auf der Ebene des Einzelwortes vollzieht. Genuin juristische Begriffe wie z.B. Erbschaft (κληρονομιά), Annahme an Sohnes Statt (υιοθεσία) oder der Loskauf aus der Sklaverei (έξαγοράζειν) werden von Paulus im Galaterbrief theologisch interpretiert und soteriologisch gefüllt. Die Verlagerung der Bedeutung wird dabei durch ausreichende Signale im Kontext abgesichert. Auf der Formularebene geschieht, wie wir gesehen haben, strukturell dasselbe. Auch hier werden ursprünglich juristische Formularelemente wie die subscriptio oder das Signalement in einen theologischen Sinnzusammenhang übertragen.

Vgl. U. ECO, Lector in fabula (1990), 15-30: "Text und Enzyklopädie" 100

Vgl. jedoch LÜHRMANN, 42f.

1.4

Der briefliche Rahmen

1.4.1

Das Präskript (1,1-5)

Allgemeine Beobachtungen zum paulinischen Briefpräskript waren bereits in Kapitel 1.1 vermerkt worden. Darüber hinaus weist das Präskript des Galaterbriefes innerpaulinisch folgende Besonderheiten auf: Die intitulatio απόστολος und die salutatio werden in l , l b f und l,4f durch lange programmatische Ergänzungen erweitert. Dadurch entsteht ein quantitativ unausgewogenes Verhältnis zwischen den drei Präskriptteilen superscriptio, adscriptio und salutatio. Dieses wird durch die schmucklose, im Vergleich mit den anderen Paulinen geradezu kühl und distanziert wirkende adscriptio (ταΐς έκκλησίαις της Γαλατίας 1 [1,2b]) zusätzlich verstärkt. An die knappe Form der Adresse knüpft epistolographisch die Frage nach der "postalischen Zustellbarkeit" an. (Der Anachronismus mag hier das sachliche Problem verdeutlichen.) Der Galaterbrief ist an mehrere Gemeinden adressiert und gilt daher in der Literatur als "Zirkularschreiben" 2 , ohne daß er jedoch wie der 2.Korintherbrief, der neben der Gemeinde in jener Stadt zugleich an alle έν ολη τη Αχαΐα (2Kor 1,1) gerichtet ist, eine vorrangige Zustelladresse besitzt und ohne daß in ihm wie Kol 4,16 ausdrücklich zur Briefweitergabe aufgerufen wird 3 Dagegen mag man vielleicht einwenden, daß der Bote 4 des Galaterbriefes schon gewußt haben wird, wohin der Brief zu bringen sei, und daß auch die Korinther in einem anderen Zusammenhang dieselbe geographische Zuordnung (ταΐς έκκλησίαις της Γαλατίας [lKor 16,1]) verstanden haben. Unausgewogen ist femer die lange Apposition (intitulatio) zum Hauptabsender Paulus, während die anderen Mitabsender (oi

Die geographische Lokalisierung der Empfanger war lange in der Forschung umstritten. Den Streit zwischen der (nordgalatischen) "Landschaftshypothese" und (siidgalatischen) "Provinzhypothese" zeichnet Ph. VIELHAUER (Geschichte [1975], 104-108) nach. In der deutschen Forschung hat sich erstere durchgesetzt (H. HÜBNER, Galaterbrief [1984], 6). Zum Stichwort "Rundbriefe" s. M.L. STIREWALT, Studies (1993), 80f (mit einer Aufstellung, wo in der antiken Literatur nicht-militärische Zirkularbriefe vorliegen oder erwähnt werden). W RIEPL (Nachrichtenwesen [1913], 371ff) macht unter Verweis auf Cicero (Att. VIII 9 , l f [KASTEN: IX 22, lf]) darauf aufmerksam, daß die Weitergabe von eingegangenen Briefen unter Freunden durchaus auch ohne ausdrücklichen Wunsch des Absenders üblich war. Obwohl Paulus in anderen Briefen, gängiger Briefpraxis folgend, die Überbringer namentlich nennt (2Kor 8,16-24, Phil 2,19-30 und Phlm 12), ist im Galaterbrief kein Bote erwähnt. - Zur Nennung und ausdrücklichen Legitimierung der Boten vgl. z.B. Cicero Att. V 15,3fin: has [litteras] sciebam tarde tibi redditum iri, sed dabam familiari homini ac domestico, C.Andronico Puteolano oder P.Oxy. III 530,lOf (Anhang 6.3): κόμισαι παρά Χαιρήμονος του κομίζοντός σοι το έπιστόλιον κτλ., ferner W. RIEPL, Nachrichtenwesen (1913), 294f. Zum Status der paulinischen Briefboten vgl. M.M. MITCHELL, Envoys (1992).

Der briefliche Rahmen

97

συν έμοι πάντες αδελφοί [1,2a]) nicht einmal namentlich genannt sind5 Ob diese Mitabsender nun Abgesandte der Galater sind oder die Gemeinde vor Ort, die Paulus gerade beherbergt, auf jeden Fall suggeriert die Formulierung, daß diese in den strittigen Fragen geschlossen (πάντες) mit Paulus übereinstimmen. Das Gewicht bekannter Namen und Persönlichkeiten aber will (oder kann) Paulus nicht einbringen. So werden jene Mitabsender von der beherrschenden Präzisierung des Aposteltitels verdrängt und sinken durch ihre Namenlosigkeit zu unbedeutenden Statisten herab, die der Leser bald vergessen hat. Hinter diesen Besonderheiten verbirgt sich mehr als nur ein stilistisches Mißverhältnis. Durch die Ausführlichkeit, mit der Absender und Empfang er im Präskript eingeführt werden, wird nämlich bereits angezeigt, was im Brief selbst thematisch von Bedeutung sein wird. Paulus dominiert als Apostel nicht nur das Präskript, sondern auch den Brief selbst. Evident ist dies in den Kapiteln lf, aber wir werden unten (Kap. 3.4.0) noch sehen, daß insbesondere auch die argumentatio unter dem Leitmotiv der apostolischen Selbstthematisierung steht. Betrachten wir nun die Erweiterungen des Präskriptes genauer. Obwohl sie die Gesamtproportion des Briefeinganges verzerren, sind sie in sich wiederum ausgewogen und sorgsam durchkomponiert. Daraus ist abzulesen, daß Paulus sie trotz ihrer formelhaften Sprache mit Bedacht ausgearbeitet hat. Im einzelnen folgt der zweigliedrigen Zurückweisung, der paulinische Apostolat sei ούκ άπ' ανθρώπων, ούδέ δΓ ανθρώπου 6 (1,1b), ebenfalls zweigliedrig die Antithese άλλα δια ' Ιησού Χριστού / και θεού πατρός κτλ. (1,1c) 7 Christus und Gott werden sodann - chiastisch verschränkt in 1,3b wieder aufgenommen (από θεού πατρός ήμών και κυρίου ' Ιησού Χριστού). Die vier anschließenden Kola ( 1,4f)8 thematisieren in einem erneuten Chiasmus zu 1,3b mit je zwei Zeilen zuerst Christus und dann Gott.

In den anderen Paulinen werden mit Ausnahme des Römerbriefes Mitabsender namentlich aufgeführt. Zu ihrer Stellung vgl. S. BYRSKOG, Co-Senders (1996). Die dreifache Abwandlung von Negation (ούκ ούδέ), Präposition (άπό διά) und Numerus (ανθρώπων - ανθρώπου) ist (mit LLETZMANN, 3) nur eine stilistische variatio, obgleich man auch erwogen hat, ihr einen tieferen Sinn bezumessen (vgl. ZAHN, 34 und MUSSNER, 4 5 ) .

Offenkundig als typisch paulinisches Diktum ist diese Antithese aus Gal 1,1 auch in das Präskript des pseudepigraphen "Laodizener-Briefes" eingegangen. Τού δόνιος εαυτόν ύπέρ των αμαρτιών ήμών, όπως έξέληται ήμάς έκ τού αιώνος τού ένεστώτος πονηρού κατά τό θέλημα τού θεού και πατρός ήμών, ω ή δόξα εις τους αιώνας τών αιώνων, άμήν. Das άμήν bildet keine eigene Sinnzeile, sondern ist ein traditionsgeschichtlich vorgegebener Bestandteil (vgl. z.B. Ps 41,14) der Formel εις τους αιώνας [τών αιώνων]; vgl. Rom 1,25; 9,5; 11,36; 16,27; Phil 4,20.

98

Das epistolographische

Formular

Inwiefern sind diese Erweiterungen nun programmatisch, d.h. inwiefern antizipieren sie spätere Themen des Galaterbriefes? Die lange und präzise intitulatio (1,1) klingt wie eine Ouvertüre zur paulinischen Selbstdarstellung in den ersten beiden Kapiteln des Briefes. Die größte sprachliche Nähe ist dabei zwischen 1,1 und 1,1 lf gegeben. Dort wird das paulinische Evangelium in einer sprachlichen Konstruktion, die bis in Einzelheiten hinein zu 1,1 analog gestaltet ist, auf seinen göttlichen Ursprung zurückgeführt: το έυαγγέλιον [...] ούκ εστίν κατά άνθρωπον· / ούδέ γαρ έγώ παρά ανθρώπου παρέλαβον αύτό [...]/ άλλα δι' άποκαλύψεως 'Ιησού Χρίστου. Wieder wechseln die Form der Negation, die Präposition und die Flexion von άνθρωπος, und wieder beginnt die Antithese mit άλλα δια [Χριστού], Die größte Nähe in der Sache besteht dagegen zwischen 1,1 und dem Kurzbericht der paulinischen Berufung in 1,15f, denn in 1,16b wird der göttliche Auftrag, der sich mit dem Nomen άπόστολος verbindet, expliziert: ίνα εύαγγελίζωμαι αυτόν έν τοις εθνεσιν. Die Berufung zum Apostel war ein Akt göttlicher Offenbarung (εύδόκησεν [ό θεός] άποκαλύψαι κτλ. [l,15f]), und diese άποκάλυψις ist ihrerseits ein Leitbegriff der Kapitel lf (1,12; 1,16; 2,2). Die ausfuhrliche intitulatio (1,1) unterstreicht somit die apostolische Autorität, mit der Paulus wirkt und schreibt, und gibt dem Galaterbrief von der ersten Zeile an den deutlichen Charakter eines Amtsschreibens9 Zugleich liest sich dieser Vers als thesenartige Überschrift, die Paulus im Verlauf der ersten beiden Kapitel an drei Beispielen konkretisieren wird: Erstens wandte er sich nach seiner Berufung nicht an die anderen Apostel (1,17), um von ihnen fur seine Verkündigung "belehrt" (οϋτε έδιδάχθην [1,12]) zu werden. Zweitens wurde er in Jerusalem als gleichberechtigter Apostel ohne inhaltliche Auflagen akzeptiert (2,1-10, bes. 2,6c). Und drittens wahrte er auch im Konfliktfall seine "an der Wahrheit des Evangeliums" (2,5.14) orientierte Eigenständigkeit und apostolische Weisungsbefugnis sowohl gegen die Falschbrüder (2,4f) als auch gegen Petrus (2,1 Iff). Die Erweiterung der salutatio bereitet ebenfalls programmatisch eine zentrale Aussage der späteren Sachargumentation vor. Entscheidend ist hier der Umstand, daß sich Paulus auf die Selbstpreisgabe und den Tod Christi um unserer Sünde willen konzentriert (1,4). Ein Seitenblick auf das Präskript des Römerbriefes (Rom 1,1-6) zeigt, daß diese Konzentration nicht selbstverständlich ist, denn dort bricht Paulus endgültig mit der überschaubaren Satzkonstruktion eines Präskripts und zwingt in die superscriptio einen Kurzabriß der Heilsgeschichte hinein, der von der Vorankündigung der Propheten, über Christi Auferstehung von den Toten bis zur paulinischen Berufung reicht. In der salutatio des Galaterbriefes legt Paulus dagegen die christologische Grundlage fur seine späteren Ausführungen zur Recht-

9

Zur amtlichen Form einer intitulatio vgl. o. S. 33 Anm. 7.

Der briefliche Rahmen

99

fertigung (vgl. 2,16ff; 3,13f; 5,2). Im einzelnen werden folgende Begriffe aus 1,4 später wiederholt: [παρα]δίδοναι εαυτόν steht auch in 2,20, αμαρτία in 2,15-17; und έξαιρείν präludiert έξαγοράζειν in 3,13 und 4,5. Zusammenfassend können wir festhalten, daß das Präskript des Galaterbriefes seine epistolographische Funktion angesichts der anonymen Mitabsender (1,2a) und der ungenauen Zustelladresse (1,2b) nur mit Vorbehalt erfüllt. Statt dessen werden durch breite Erweiterungen spätere Briefthemen programmatisch antizipiert 10 Dabei ist die lange Präzisierung der intitulatio am auffälligsten. Sie gibt dem Brief einen hochoffiziellen Charakter und exponiert den Apostel selbst als zentrales Briefthema.

1.4.2

θαυμάζω ότι (1,6) als Body-opening-formula

"Bedenke wohl die erste Zeile, / daß deine Feder sich nicht übereile." Diese Ermahung, die Faust sich in seinem Studierzimmer zuspricht, als er versucht, die erste Zeile des Johannesevangeliums zu übersetzen, hat auch hier - bei der ersten Zeile des Briefcorpus - ihre Berechtigung. Hinter der bei Paulus singulären" Konstrukion θαυμάζω ότι (1,6) verbirgt sich nämlich eine Briefformel, die tiefen Einblick in das aktuelle Kommunikationsklima zwischen Absender und Empfänger zu gewähren vermag. Die Literatur bemerkt übereinstimmend zu 1,6, daß Paulus unmittelbar und ohne die sonst übliche "Danksagung" einsetzt: Das abtrünnige Verhalten der Galater rechtfertige momentan seinen Dank nicht. Diese Beobachtung ist zweifellos richtig, sie setzt aber methodisch das gesamte Corpus Paulinum als Vergleichsgrundlage voraus. Erst die einheitliche Danksagung in den anderen Briefen macht ihr Fehlen im Galaterbrief zu einer interpretierbaren Besonderheit. Doch die Galater selbst konnten schwerlich andere Paulusbriefe als Interpretationshilfe heranziehen; sie haben vielmehr in der Wendung θαυμάζω ότι eine Briefformel wiedererkannt, die ihnen aus ihrer eigenen Alltagskorrespondenz geläufig war. Diese Formel soll nun hinsichtlich ihrer Bedeutung und Signalwirkung auf der Grundlage der Papyrusbriefe untersucht werden. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist anschließend in die Interpretation von l,6f einzubringen.

R.D. COOK (Prescript as Programme [1992], 519) kommt zu einem ähnlichen Ergebnis und vertritt sogar die These, daß im Präskript des Galaterbriefes bereits alle "fundamental themes" des Briefes präsent seien. Dadurch übernehme das Präskript hier eine Funktion der fehlenden Danksagung, nämlich "to introduce the vital theme of the letter" (ebd. 511), wie er im Anschluß an P. SCHUBERT (Thanksgivings [1939], 180) formuliert. Sonst ist nur noch deuteropaulinisch der Infinitiv θαυμασθήναι (2Thess 1,10) belegt.

Das epistolographische

100

Formular

J.L. WHITE identifizierte als erster θαυμάζω ότι als typische "body-opening-formula" antiker Privat- und Geschäftsbriefe 12 Auf der Grundlage von 12 Papyri konstatierte er, daß θαυμάζω ότι ein Ausdruck des Erstaunens ("expression of astonishment") sei, der zugleich die Unzufriedenheit ("dissatisfaction") des Absenders über ein Versäumnis des Empfängers anzeige, meistens die Unzufriedenheit darüber, daß der Adressat seinerseits nicht geschrieben habe. T.Y. MULLINS dagegen bezweifelt, daß der Absender, wenn er θαυμάζω οτι verwendet, tatsächlich "erstaunt" sei; er hält diese Formel für einen ironisch umkleideten Tadel: "The whole point is that the writer is rebuking, even scolding, the addressee. And he is not using θαυμάζω in its common meaning; he is using it ironically, often sarcastically. He is not really astonished, he is irritated. This ironical use is an essential element in the form."'3

G.W. HANSEN wiederum versucht zu vermitteln; θαυμάζω ότι drücke Überraschung und Tadel zugleich aus: "It is more accurate [...] simply to call θαυμάζω an 'astonishment-rebuke' formula" 14 Während die Textgrundlage der bisher vorgestellten Deutungen recht dünn war (WHITE 12 B e l e g e , MULLINS 4, HANSEN 12), ist d i e u n l ä n g s t e r s c h i e n e n e S p e z i a l -

untersuchung zu θαυμάζω von J.H. ROBERTS15 mit 25 Belegen ungleich fundierter. Als Ergebnis formuliert er, daß θαυμάζω meistens auf eine hohe emotionale Betroffenheit und Enttäuschung ("disappointment") des Absenders verweise; dieser sei "bestürzt" und "verwirrt" ("perplexed"). Seine Untersuchung leidet allerdings unter einer gewissen Voreingenommenheit 16 , und nicht alle von J.H. ROBERTS aufgelisteten Belege halten einer kritischen Überprüfung stand. Acht seiner Beispiele können nicht als Parallelstellen zu 1,6 gelten, weil dort θαυμάζω entweder erst im weiteren Briefverlauf steht oder weil Person, Tempus oder Modus nicht mit der 1. Pers. Sg. Indik. Praes. Akt. aus dem Galaterbrief übereinstimmen 17 Eigene R e c h e r c h e n in d e n P a p y r i m i t H i l f e d e r DUKE DATA BANK h a b e n n u n

das

Introductory Formulae (1971), 94-96 und Light (1986), 210 bes. Anm. 95. Formulas (1972), 385. Abraham (1989), 33. ΘΑΥΜΑΖΩ. An Expression of Perplexity (1991). "Not being satisfied [!] with the conclusion that θαυμάζω was used ironically in Galatians, I decided to examine the papyri examples more closely and search for additional examples in which θαυμάζω occurs" (ebd. 109). ROBERTS ließ seiner papyrologischen Studie ein Jahr später eine ausführliche Interpretation von 1,6 folgen (Perplexity [1992]), in der er seine aus den Papyri eruierte Bedeutung ("to be perplexed") auf unsere Stelle überträgt und ebenfalls eine emotionale Konnotation der Formel in den Vordergrund stellt.

Der briefliche

Rahmen

101

Vergleichsmaterial noch einmal erweitert und konnten die Ergebnisse der genannten Untersuchungen teilweise bestätigen, teilweise aber auch modifizieren. Tabelle: Die Formel θαυμάζω οτι / πώς / εί in den Papyrusbriefen Spalten (a), (b) und (c) zur Stellung der Formel im Brief: (a) := Formel steht unmittelbar nach dem Präskript; (b) := Formel steht nach formula valetudinis initialis; (c) := Formel leitet zweiten Satz des Briefes ein. Spalten (i) und (ii) vermerken den Gegenstand des θαυμάζω: (i) := Ausbleiben von Brief oder Nachricht; (ii) := Sonstiges Versäumnis oder Fehlverhalten. Fundstelle: BGU III 850 [76p] P.Bad. II 35 [87p] P.Corn. 52 [IIP]

(a) X

P.Freib. IV 69 [II-IIP] P.Herm.(Rees) 11 [IV] P.Laur. II 42 [IV-V]

X X X

P.Mert. I 28 [IIP] P.Mert. II 80 [IP] P.Mich. III 209 [II-IIP]

X

P.Mich. VIII 479 [IP] P.Mich. Vili 500 [IP] P.Mich. XV 751 [IP]

X

P.Oxy. I 123 [III-IV] P.Oxy. IX 1223 [IV1] P.Oxy. X 1348 [IIP]

(C) X X

X X X X X X

(ii) X X

X

1 1 1

X

1 1 1

X X X

1

X

X X

X X

1 1 X X X +

X X

(0 1 1 1

X X X X

P.Oxy. XXXIV 2728 [III-IV] P.Oxy. XXXIV 2729 [IV] P.Oxy. XXXVI 2783 [IIP] P.Oxy. XLII 3063 [IP] P.Oxy. XLVIII 3417 [IV] P.Oxy. XLVIII 3420 [IV]

(b)

X

1 1 1

χ18

1 1 1

X X X X X X

Ausnahme: Θαυμάζω ιαλ. steht hier etwa in der Mitte des Briefes, um ein neues Thema zu eröffnen.

102

Das epistolographische Formular

P.Phil. 1,1 [103-124"] P.Prag. I 109 [249-269 p ] PSI XIV 1445 [IIP]

χ χ

χ

P.Ups.Frid 10 [250-300 ρ ]

χ

S B III 6 2 2 2 [IIP]

χ

S B V 8 2 4 4 " [252"]

χ

SB VI 9106 [ V ] SB VIII 9654b 20 [II-IIP] SB XIV 11644 [I-IP]

χ χ

Σ=30

(15)

χ (8)

(7)

| | |

χ χ χ

|

χ

j

χ

|

χ

I | |

χ χ χ

I

(11)

(19)

Es wurden 30 Privat- oder Geschäftsbriefe ermittelt, in denen θαυμάζω - und zwar genau in dieser für uns relevanten Form - das Briefcorpus eröffnet. Entweder steht θαυμάζω unmittelbar nach dem Präskript oder nach einer dazwischengeschalteten formula valetudini initialis bzw. zu Beginn des zweiten Satzes, wenn der erste Satz dem Bericht eines vorgefallenen Ereignisses gewidmet war (Tabelle, Spalten [a] bis [c]). Die Konstruktion, die sich an θαυμάζω anschließt, ist in allen Fällen ein mit ότι, πώς oder εί eingeleiteter Objektsatz21 Die hinteren Spalten der Tabelle ([i] und [ii]) klassifizieren grob den Gegenstand, über den sich der Absender "wundert" Die These von WHITE: "[T]he object of astonishment" sei "usually a statement regarding the addressee's failure to write"22, bestätigte sich nur in einem Drittel der Fälle (Spalte [i]); z.B. P.Oxy. XXXIV 2729: θαυμάζω πώς εως σήμερον ούδαιμίαν έπιστολήν μοι επεμψας. Man wird allerdings schon bei diesem Beispiel nachfragen wollen, ob sich der Absender tatsächlich "wundert" oder ob die Formel nicht eher dem kaum verborgenen Tadel gleichkommt: "Du hast mir nicht geschrieben!". Letztlich zielt die Formel θαυμάζω οτι / πώς / εί demnach auf eine Zurechtweisung des Adressaten. Dies wird vollends deutlich, wenn wir auf Beispiele aus der letzten Spalte blicken:

Neu ediert als P.Zen.Pestm. (= P.Lugd.Bat. XX) 56 a+b. Neu ediert als: P.Mil.Vogl. IV 256.

22

Ausnahme: BGU III 850; dort folgt eine präpositionale Wendung (θαυμάζω έπι τη ασυνταξία σου). Θαυμάζω εί ist "a more polite way of saying I wonder that" (θαυμάζω ότι), ohne daß ein Bedeutungsunterschied vorliegt (vgl. LSJ s.v. θαυμάζω 6). Introductory Formulae ( 1971 ), 96.

Der briefliche

Rahmen

103

θαυμάζω πώς έπελάθου τών έμών εντολών (P.Herm. 11). θαυμάζω ούν, εί ούτως έπιλήσμων εί (SB V 8244). θαυμάζω πώς πάλιν ήμέλησας γενέσθαι παρά [τίνος] (P.Freib IV 69). θαυμάζω πώς ούκ έφρόντισάς [τίνος] (SB VIII 9654b). Vergeßlichkeit, Nachlässigkeit oder mangelnde Fürsorge heißen hier die Vorwürfe. Nur scheinbar verlagert sich die Blickrichtung auf die erste Person (Ich wundere mich, daß), beabsichtigt ist aber gerade eine Stoßrichtung auf die zweite Person (Du hast in der und der Sache gefehlt). In einigen Fällen ist unsere Briefformel sogar nur noch der letzte höfliche Auftakt zu offener Konfrontation und derber Beschimpfung 23 Somit können wir als Zwischenergebnis festhalten, daß θαυμάζω ότι / πώς / εϊ eine in den Papyri mannigfach belegte body-opening-formula ist. Scheinbar höflich und indirekt tadelt sie den Adressaten für ein Versäumnis oder einen Fehler 24 Höflich klingt die Formel jedoch nur solange, wie man auf die wörtliche Bedeutung von θαυμάζω rekurriert. Beachtet man hingegen den Gesamtcharkter jener Briefe, die sie einleitet, dann wird diese Formel geradezu zu einem Signal für den Unwillen des Absenders und seine Unzufriedenheit mit dem Adressaten 25 Wie ist es um die Ironie bestellt, die T.Y. MULLINS als "essential element" dieser Formel bezeichnet hat? Die Grundbedeutung von θαυμάζειν ("sich wundern") ist semantisch eine vox media, denn die Palette der Bedeutungsnuancen reicht vom positiven "etwas bewundern / staunen", über das indifferente "überrascht sein / etwas nicht gewußt haben (und deshalb Näheres wissen wollen)" bis hin zum negativ besetzten "sich verwundern / befremdet sein über" Wenn nun die oben aufgeführten Stellen alle die letztgenannte, mißbilligende Bedeutung nahelegen 26 , dann liegt darin noch keine Ironie, sondern allenfalls ein Spiel mit der Mehrdeutigkeit eines Wortes. Daher vermerkt J.H. ROBERTS zu Recht: "Whether the verb [sc. θαυμάζω] is used

Besonders drastisch in P.Oxy. XXXVI 2783: Dort beschimpft jemand seinen Bruder wegen ungeschickter Finanzdisposition. Bald im Anschluß an den noch moderaten Anfang mit θαυμάζω ότι heißt es: εϊ γαρ άπαρτί. έπίστασαί μου την γνώμην, ούκ οφείλεις άνθρωπος κρίνεσθαι. - Ähnlich emotional aufgeladen ist die Sprache in P.Oxy. XLVIII 3417 und 3420. Natürlich gibt es auch Briefe, in denen der Tadel direkt ausgesprochen wird; z.B. P.Fay. 111 [95/96p]: διό μένφομαί σαι μεγάλως. J.S. Vos (Galatians 1-2 [1994], 4 Anm. 9) interpretiert θαυμάζω zu Recht als Synonym zu μέμφομαι. "[Θ]αυμάζω in papyrus letters generally means Ί am unpleasantly surprised'", notiert Editor LOBELZU P . O x y . X X X V I 2 7 8 3 (P.81).

104

Das epistolographische

Formular

ironically has to be determined from the context. [...] It is thus not a formal element of the saying"27 Andererseits ist aber zu beobachten, daß die Briefschreiber sehr gerne den Kontext der Formel θαυμάζω ironisch stilisieren, d.h. eine "Sache durch ein deren Gegenteil bezeichnendes Wort" ausdrücken28 Daher scheint zumindest die Tendenz zur Ironie in dieser body-opening-formula mitzuschwingen 29 , und im Galaterbrief ist im Umfeld des θαυμάζω οτι zumindest der erste Gebrauch von εύαγγέλιον (l,6 f i n ) ironisch. Mit diesem Ausdruck zitiert Paulus nämlich, wie seine Gegner ihre Lehre nannten, während sie in seinen Augen gerade das Gegenteil eines Evangeliums ist, weil sie - wie der weitere Brief zeigen wird - von der Gnade Christi wegfuhrt zu einer Selbstversklavung des Menschen unter dem Gesetz. Zudem verdeutlicht der Nachsatz (δ ούκ εστίν άλλο [1,7a]), daß der Terminus εύαγγέλιον in 1,6 nicht im eigentlichen Wortsinn gemeint gewesen sein kann30

ΘΑΥΜΑΖΩ. An Expression of Perplexity (1991), 119. So die rhetorische Definition von "Ironie" bei LAUSBERG, § 582; vgl. ferner zur literarischen Ironie B. ALLEMANN (Ironie als literarisches Prinzip [1970], 11-37) und W HARNISCH (Ironie als Stilmittel [1972]). ALLEMANN definiert die Ironie als "transparente[n] Gegensatz zwischen wörtlich und eigentlich Gesagtem" (ebd., 18). Ein Beispiel mag dies illustrieren: P.Oxy. XXXVI 2783 ist ein Geschäftsbrief und behandelt u.a. einen "günstigen" Einkauf von Olivenöl: θαυμάζω δε ότι εις μεν έλαιον το τοσούτο άργύριον έχώρησαι· εξ δις εβαλας. ένθάδε γαρ το Άμμωνιακόν (δραχμών) σκ κτλ. Der erste Satz könnte fur sich genommen wirkliche Überraschung ausdrücken, ja der zweite ist sogar einem lobenden und anerkennenden Sprichwort nachempfunden ("Zweimal die Sechs hast du [beim Würfeln] geworfen!"). Aber schon der dritte Satz wird dem Empfänger wesentlich günstigere Bezugsmöglichkeiten für das Öl vorhalten. Dadurch verkehrt sich der vermeintliche Glückwunsch ironisch in sein Gegenteil (vgl. den Kommentar zur Stelle, ebd. p. 81). - Weitere Beispiele: P.Oxy. IX 1223 (ausführlich bei T.Y. MULLINS [Formulas, 386] und J.H. ROBERT [ΘΑΥΜΑΖΩ, 117] ob seiner Ironie

diskutiert) sowie P.Oxy. X 1348 und XLII 3063. Vgl. ZAHN, 46: "[E]ine Predigt, welche von Christus und der Gnade Gottes hinweglockt, [kann] nicht in dem Sinne, welchen το εύαγγέλιον im Munde der Christen hat, ein εύαγγέλιον heißen, sondern nur mißbräuchlich so genannt werden und [wird] von PI nur im Sinn der Anfuhrung einer ihm fremden Rede so genannt".

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Interpretieren wir nun auf diesem Hintergrund den Corpusbeginn des Galaterbriefes: (1,6) Ich wundere mich, daß ihr euch so schnell abwendet1' von dem, der euch in der Gnade Christi berufen32 hat, zu einem anderen "Evangelium"; (7) wo es doch kein anderes [Evangelium] gibt!33 Es gibt aber34 gewisse Leute, die euch in Aufruhr versetzen31 und das Evangelium Christi pervertieren wollen. Da sich die Wendung θαυμάζω ότι in dem oben beschriebenen Sinne als feste Briefeingangsformel der zeitgenössischen Alltagskorrespondenz nachweisen läßt, sollte auch der Auftakt des Galaterbriefes entsprechend gedeutet werden. Damit verbieten sich Interpretationen, die - von der naiv-wörtlichen Bedeutung des θαυμάζειν ausgehend - eine wirkliche Überraschung des Apostels und sein reales Erstaunen über "nimmermehr Erwartetes" 36 in den Mittelpunkt stellen wollen. Ebenso ist Paulus' "eigenes tiefes Betroffensein" 37 eher ein sekundäres Element, denn nur in einem Akt konventioneller und urbaner Höflichkeit 3 8 nimmt der Vorwurf an das

Μετατίθεσθαι (Grundbedeutung: "sich abwenden, abfallen") ist "ein sehr gebräuchlicher Ausdruck für den Übertritt von einer politischen Partei oder philosophischen Schule zur anderen" ( Z A H N , 43 [Belege Anm. 34]). Hier hat dieser Ausdruck sozusagen eine "kirchenpolitische" Bedeutung, und man könnte zugespitzt übersetzen: "Ich wundere mich, daß ihr so schnell das Lager wechselt" Diese Übersetzung würde zugleich anzeigen, daß sich mit Paulus und seinen Gegnern zwei Gruppen gegenüberstehen, und so die prägnante Bedeutung von έτερον (l,6d), "das andere von zweien", vorwegnehmen. E ß E L I N G , 63: ό καλών ist in paulinischem "Sprachgebrauch geradezu eine feststehende Gottesbezeichnung [...] (Rom 4,17 9,12 Gal 1,15 5,8 IThess 2,12 5,24)" Die Übersetzung von 7a folgt L Ü H R M A N N ( 1 7 ) da er am besten zum Ausdruck bringt, daß ecmv hier Vollverb ist. "Ετερον und άλλο sind Synomyne ohne Bedeutungsunterschied (vgl. Z A H N , 4 6 und BDR § 3 0 6 , 4 ) . Ei μή ist hier nicht konditional, sondern im Sinne von πλην ότι ("außer daß") adversativ (vgl. MUSSNER, 57).

Ταράσσειν ("verwirren") wie μετατίθεσθαι (s. Anm. 31) mit politischer Konnotation (vgl. LSJ, s.v. I 5). Im Galaterbrief ist ταράσσειν (1,7; 5,10) synonym zu άναστατοϋν ("aufwiegeln" [5,12]), welches eindeutig eine politische Vokabel ist (vgl. ή στάσις, "der Aufstand"). BRANDENBURG,

28.

EßELING, 58. 38

In dieser Intention findet sich θαυμάζω εί auch bei den attischen Rednern, z.B. Demosth., Olynth. II 24,1; Philip. I 43,1 oder De Rhodio libera. 19,1. - Gegen die Vermutung von B E T Z (102f bes. Anm. 33), daß Paulus in 1,6 an ein solches "rhetorisches θαυμάζω" anknüpfe, ist einzuwenden, daß diese Wendung nie zu Beginn einer Rede steht, allenfalls zu Beginn eines neuen Abschnitts. Auch sind die Belege bei den Rednern quantitativ bei weitem nicht so zahlreich, wie B E T Z durch seinen pauschalen Hinweis auf deren Indices Glauben machen möchte. Zahlreiche Stellen müssen für einen Vergleich mit 1,6 ausgesondert werden, weil θαυμάζω dort in einer anderen Konstruktion gebraucht wird (z.B. Demost., prooem. 14,1 und 32,2 [je mit indirektem Fragesatz]).

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angesprochene Du noch den Umweg über das Ich des Sprechers. Zwar signalisiert θαυμάζω von seiten des Absenders Verstimmung, Distanz und Entfremdung, aber der nachfolgende άτι-Satz weist dem Empfanger selbst die Schuld daran zu, weil er durch sein vorausgegangenes Verhalten diese Entfremdung überhaupt erst hat aufkommen lassen. Ob er seinerseits nun nicht geschrieben hat, wie ihm oft in den Papyri vorgeworfen wird, oder ob er z.B. mit dem Geld des Absenders achtlos umgegangen ist (P.Oxy. XXXVI 2783 und XLII 3063) oder ob er - hier im Galaterbrief - den theologischen Konsens verraten hat, macht nur noch einen graduellen Unterschied aus. Das Signal, welches die Briefformel selbst hinsichtlich Ärger und Unwillen des Absenders ausstrahlt, bleibt dagegen dasselbe. "Auf einmal seh' ich Rat / und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat" Faust hat seine Übersetzung gefunden. Und wir? Wir bleiben für θαυμάζω cm bei dem geläufigen und zugleich auch im Deutschen ambivalenten "ich wundere mich, daß", hinter dem sich ein ironisch umkleideter, in der Sache aber scharfer Tadel verbirgt. Wenn die Galater es nicht schon bei der kühlen adscriptio (1,2b) geahnt hatten, dann erkannten sie es hier mit dem ersten Wort des Briefcorpus, welches ihnen als Signalwendung der zeitgenössischen Briefkonvention bekannt war, daß Paulus über sie verärgert war und sie im Verlauf des Briefes mit Vorwürfen und Zurechtweisungen rechnen mußten.

1.4.3

Das "fehlende" Postskript (6,16-18)

In der Epistolographie bezeichnet man zusammenfassend diejenigen Formularteile als Postskript, die sich an das Briefcorpus anschließen und den Brief formal beenden: Grüße, formula valetudinis finalis3Klausel (ερρωσο o.a.) und Datum 40 Innerhalb der Paulinen übernimmt die Charis-Formel (ή χάρις [του κυρίου κτλ.] μετά [πάντων] ύμών κτλ.) Stellung und Funktion der profanan Briefklausel: Paulus' "Schlußgrußformel war der neutestamentliche Segenswunsch: 'Die Gnade [...] sei mit euch'" 4 ' Mit einem gewissen Vorbehalt hinsichtlich ihrer theologischen Ausrichtung42 kann man sagen, daß in der paulinischen Charis-Formel der Wunsch einer

40

Grundform der f.v. finalis: έπιμέλου δέ και σαυτού, ίνα ύγιαίνης (weitere Beispiele und Belege bei F. ZIEMANN, De formulis [1911], 313-317). Briefe wurden in der Regel datiert. Cicero rügt z.B. das Fehlen eines Datums: Accepi autem a te missas epistulas in Cilicia [...] sed ñeque unde ñeque quo die datae essent [...] significabant (ad fam. II 19,1). O. ROLLER, Formular (1933), 78. Paulus "lag [...] daran, seinen Briefadressaten ebenso wie schon im Eingangsgruß so auch im Schlußgruß mehr zu wünschen und zuzusprechen als 'ziviles' Wohlbefinden", s o F. SCHNIDER/W. STENGER, B r i e f f o r m u l a r ( 1 9 8 7 ) , 1 3 2 .

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profanen formula valetudinis finalis und der formale Schlußpunkt der Klausel zusammenfallen. Dadurch und weil in den Paulinen nirgends ein Datum verzeichnet ist, reduziert sich die Grundform des paulinischen Postskripts auf nur zwei Bestandteile, auf Grüße und Charis-Formel43 Im Galaterbrief jedoch fehlen die Grüße; und da auch die Charis-Formel in 6,18 - so die These der folgenden Seiten - nicht von Paulus selbst stammt, sondern sich als redaktioneller Zusatz aus späterer Zeit erweist, haben wir diesen Punkt "Das 'fehlende' Postskript des Galaterbriefes" genannt. Die Begründung dieser These wird im folgenden mit dem Schlußsatz (6,18) beginnen und dann schrittweise bis 6,16 zurückgehen. Die These, daß 6,18 eine Glosse ist44, gründet sich auf Beobachtungen zu den beiden letzten Worten des Verses, αδελφοί und άμήν. Beide markieren in einem innerpaulinischen Vergleich etwas Einmaliges, denn nirgends sonst spricht Paulus nach dem Schlußgruß seine Adressaten noch einmal mit einem Vokativ an, und nirgends sonst ist das άμήν am Ende der Charis-Formel textkritisch so eindeutig bezeugt wie am Ende des Galaterbriefes. Betrachten wir zunächst am Ende der Paulusbriefe den textkritischen Befund des jeweiligen άμήν45 Um die Übersicht zu wahren, beschränkt sich die Auflistung auf die wichtigsten Textzeugen:

Vgl. IKor 16,19-24; 2Kor 13,12f; Phil 4,21-23; IThess 5,26-28; Phlm 23-25. Die nachstehenden Ausführungen sind eine Kurzfassung meines Aufsatzes: Gal 6,18 Eine Glosse? (1994). Zu Rom 15,33; 16,20b. 24; IThess 3,13 und weiteren άμήν-Stellen in den Paulinen vgl. ebd., 200-202.

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Charis-Formel cp