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German Pages 274 [276] Year 1999
Die Aktualität der Saga
Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Herausgegeben von Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer Band 21
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G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999
Die Aktualität der Saga Festschrift für Hans Schottmann Herausgegeben von Stig Toftgaard Andersen
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G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999
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Die Deutsche Bibliothek — CIP- Einheitsaufnahme Reallexikon der germanischen Altertumskunde / von Johannes Hoops. Hrsg. von Heinrich Beck ... — Berlin ; New York : de Gruyter Bis Bd. 4 der 1. Aufl. hrsg. von Johannes Hoops Ergänzungsbände / hrsg. von Heinrich Beck ... Bd. 21. Die Aktualität der Saga. - 1999 Die Aktualität der Saga : Festschrift für Hans Schottmann / hrsg. von Stig Toftgaard Andersen. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Reallexikon der germanischen Altertumskunde : Ergänzungsbände ; Bd. 21) ISBN 3-11-016564-3
© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin
Hans Schottmann
Vorwort Hans Schottmann wurde 1932 in Breslau geboren. 1952 legte er in Minden (Westfalen) das Abitur ab. Im Sommersemester 1952 nahm er an der Universität Bonn das Studium der Deutschen und der Lateinischen Philologie und der Archäologie auf, das er in den Jahren 1958/59 mit dem Staatsexamen in den Fächern Deutsch und Latein und mit der Promotion im Fach Germanistik abschloß. Nachdem sich Dr. Hans Schottmann schon in Bonn mit der Sprache und Literatur des europäischen Nordens beschäftigt hatte, trat er am 1. August 1958 für zwei Jahre eine Stelle als Lektor an der Universität Uppsala an. Dieser Aufenthalt war von wesentlicher Bedeutung für sein Interesse an der Nordistik. Das Jahr 1960 brachte dann die Rückkehr nach Deutschland an die Universität München, wo Dr. Hans Schottmann eine Assistentenstelle bei dem aus Bonn dorthin berufenen Germanisten und Skandinavisten Prof. Dr. Werner Betz angeboten wurde. Die folgenden Jahre in München ließen Dr. Schottmann endgültig zum Nordisten werden. Im Jahre 1970 habilitierte er sich in Nordischer und Deutscher Philologie mit einer Arbeit über „Die isländische Mariendichtung. Untersuchungen zur volkssprachlichen Mariendichtung des Mittelalters". Es folgte die Berufung an die Westfälische Wilhelms-Universität mit der Lehrbefugnis für Nordische Philologie und Deutsche Philologie. Am 18. März 1971 wurde Prof. Dr. Hans Schottmann Direktor des Nordischen Seminars. Die Berufung nach Münster eröffnete eine fast drei Jahrzehnte dauernde Periode einer überaus vielfältigen Tätigkeit als akademischer Lehrer und Forscher; überdies arbeitete er in der akademischen Selbstverwaltung mit. Schon 1972 wurde Prof. Schottmann zum Dekan des noch jungen Fachbereichs Germanistik gewählt. Ab 1974 war er für viele Jahre Prodekan der Philosophischen Fakultät und bis zur Auflösung des Fachbereichs Germanistik Ende des Sommersemesters 1996 immer wieder Mitglied des Fachbereichsrates. Im Mittelpunkt seiner Tätigkeit aber standen Lehre und Forschung, beide von ganz außerordentlicher Vielfalt und Spannweite. Die Veröffentlichungen reichen von der 1970 in dritter Auflage erschienenen Dissertation über „Metapher und Vergleich in der Sprache Friedrich Hölderlins" über den Beitrag zur mittelhochdeutschen Lyrik in „Kurzer Grundriß der germanischen Philologie bis 1500" und die Beschäftigung mit dem Gregoriusstoff bis hin zur nordischen Mariendichtung. Ferner verfaßte er zahlreiche Beiträge für das „Lexikon des Mittelalters" und viele Arbeiten zur altisländischen Saga, der Prof. Schottmann
VI in Münster sein ganz besonderes Interesse zuwandte, so z.B. in seinem Aufsatz zum Bau der „Kormáks saga" aus dem Jahr 1982. Daneben wurden auch sprachwissenschaftliche Themen, so das der kontrastiven schwedisch-deutschen Phraseologie bearbeitet. Frucht dieser langjährigen Beschäftigung war das 1989 gemeinsam mit Rikke Petersson veröffentlichte „Wörterbuch der schwedischen Phraseologie in Sachgruppen". Ein 1996 erschienener Beitrag befaßt sich mit den sogenannten .falschen Freunden', Wörtern zweier Sprachen, die auf der Ausdrucksseite identisch oder sehr ähnlich sind, inhaltlich aber divergieren. Vielfalt herrschte, wie die Vorlesungsverzeichnisse ausweisen, auch in der akademischen Lehre. Sie reicht von Vorlesungen und Seminaren über altnordische Prosaliteratur und germanische Mythologie, über schwedische Prosa und Lyrik und Strindbergs Dramen bis zur Geschichte der skandinavischen Sprachen und zur kontrastiven Semantik. Als Direktor des Nordischen Seminars und des Instituts für Nordische Philologie hat sich Prof. Hans Schottmann durch seine außerordentlich konstruktive und faire Zusammenarbeit mit seinen nordischen Lektorinnen und Lektoren ausgezeichnet. Ende Februar 1997 trat Prof. Schottmann in den Ruhestand. Da die altisländische Sagaliteratur immer einer der Schwerpunkte seiner Forschung und Lehrtätigkeit in Münster war, wurde am ersten Maiwochenende 1997 ihm zu Ehren auf Initiative der zwei Lektorinnen und des Lektors für Nordistik (Rikke Petersson: Schwedisch, Kari Uecker: Norwegisch und Stig Toftgaard Andersen: Dänisch) und mit der Unterstützung von Prof. Dr. Volker Honemann, Dekan des Fachbereichs 11, ein Symposium mit dem Titel „Die Aktualität der Saga" veranstaltet. Aktualität steht hier nicht nur für eine ungebrochene Bedeutung der Sagas in der neueren Forschung. Aktualität erlangt in den Sagas der damaligen Zeit auch eine Vergangenheitssicht, die die Zukunft prägen sollte. Von den eingeladenen zehn Gastvorlesenden kamen fünf aus den nordischen Ländern und fünf aus dem deutschen Sprachraum. Das Symposium wurde nicht nur von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und vom Nordisk Ministerrid, sondern auch von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, vom Lektoratsausschuß des dänischen Kultusministeriums, vom Dansk Litteraturinformationscenter, Informationscentralen för finsk litteratur in Helsinki und von der schwedischen, norwegischen und dänischen Botschaft in Bonn unterstützt. Die Beiträge der Festschrift zu Ehren von Prof. Schottmann gehen auf die Vorträge anläßlich des Symposiums und auf schriftliche Beiträge von Teilnehmern zurück. Stig Toftgaard Andersen erstellte das Gesamtmanuskript auf Computer; Frau Elke Scharlau las engagiert Korrektur. Prof. Dr. Heinrich Beck, Bonn vermittelte die Kontakte zum Verlag und die Aufnahme in die Reihe der „Ergänzungsbände".
Inhaltsverzeichnis Vorwort TABULA GRATULATORIA HEINRICH BECK Zum Wahrheitsbegriff bei Snorri Sturluson
V IX 1
ELSE EBEL Der Grœnlendinga M t t r - aktuelle oder antiquarische Geschichtsperspektive?
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ANNE HEINRICHS Wenn ein K ö n i g liebeskrank wird: Der Fall Óláfr Haraldsson
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WILHELM HEIZMANN Die verleugnete Intertextualität. Adaption und Camouflage fremder Texte in der Sagaliteratur
53
SUSANNE KRAMARZ-BEIN Höfische Unterhaltung und ideologisches Ziel. Das Beispiel der altnorwegischen Parcevals saga
63
GERT KREUTZER Valhall - Himmel - Hölle. Das Bild des Königs Hákon Aóalsteinsfóstri in der nordischen Literatur des Mittelalters
85
LARS LÖNNROTH Saga and Jartegn. T h e appeal of mystery in saga texts
Ill
JONNA LOUIS-JENSEN Skotland - Bergen - Faeroerne. O m den faeraske ballade Oluvu kvceòi og dens forhold til Karlamagnús saga
125
EDITH MAROLD Die Eykyndilsvisur des Björn Hítdoelakappi
135
Vili
Inhalt
PREBEN MEULENGRACHT S0RENSEN
Modernitet og traditionalisme. Et bidrag til islaendingesagaernes litteraturhistorie med en diskussion af Fóstbroeòra sagas alder
149
VÉSTEINN ÓLASON
Gísli Súrsson - a flawless or flawed hero?
163
ALEXANDRA PESCH
Die Oseberg-'Saga' in ihrer Vielschichtigkeit
177
ANNA-LEENA SHKALA
Das Reich Pohjola der kalevalischen Dichtung im Licht der Sagas . . . .
201
ALOIS WOLF
Uber die Vergangenheitsbilder einiger 'Problemsagas' und die Stellung dieser Sagas in der Literatur Altislands
215
STEFANIE WÜRTH
Parodistische Transgression in der Hoensa-fróris saga
235
VERZEICHNIS DER SCHRIFTEN VON HANS SCHOTTMANN
263
Zum Wahrheitsbegriíí bei Snorri Sturluson von HEINRICH BECK
Sannendi (n.pl.), d.i. Wahrheit, ist ein Begriff, den Snorri in seinen historischen Werken mehrfach erwähnt - und dies an bedeutsamen Stellen: den Prologen zur (selbständigen) Olafs saga helga und zur Heimskringla (in die er schließlich auch die selbständige Olafs saga integrierte). Neben sannendi (Hskr. I, 4., Hskr. II, 42 lf.) verwendet er in diesem Zusammenhang auch sannr {hafa fyrir satt, Hskr. I, 4., taka fyrir satt, Hskr. II, 422) und sannfróòr (Hskr. I, 7., Hskr. II, 421). Da beide Prologe in einer engen Beziehung stehen, ist von einer Konzeption auszugehen, die dem Wahrheitsbegriff gilt (Wessen 1928/1929. Vgl. auch B. Fidjestol 1980). Bemerkenswert ist, daß auch im sog. Eptirmáli der Skáldskaparmál dieser Wortschatz auftaucht: sannendi und das Verbum osanna - gebraucht im Rückblick auf den ersten Teil des Buches, in dem von der heidnischen Götterlehre die Rede ist. Snorri verwendet den Wahrheitsbegriff also in historischen und religionsgeschichtlichen Zusammenhängen. Die folgenden Überlegungen gelten der Frage, welche Vorstellungen Snorri mit dem Wahrheitsbegriff in diesen beiden Bereichen verbunden haben könnte. In der Forschung ist das Thema mehrfach behandelt oder doch wenigstens berührt worden, so einerseits in der Fact-and-Fiction-Debatte (Einar 01. Sveinsson 1970. P. Hallberg 1974. G.W. Weber 1972. Ders. 1981. M.I. Steblin-Kamenskij 1973. F. Paul 1982), andererseits aber auch in der Diskussion um Mündlichkeit/Schriftlichkeit (S. Beyschlag 1953. H.M. Heinrichs 1975. K. von See 1977. D. Hofmann 1978/1979). Im Prolog der selbständigen Olafs saga (Oláfs saga hin sérstaka) gebraucht Snorri die Wendung letta sannenda: „die Wahrheit suchen". Bei dieser Wahrheitssuche sind für ihn zwei Gesichtspunkte entscheidend: die Zeugenschaft der Gewährspersonen und die Qualität (d.h. Klugheit und Verständigkeit) der Nachrichtenübermittler. Beide Gesichtspunkte zusammen bürgen für den Wahrheitsgehalt einer Uberlieferung. Die Verläßlichkeit einer Nachricht ist ihm offenbar wesentlich dadurch bestimmt, daß sie von kundigen Zeitzeugen stammt. Immer wieder nennt er nebeneinander Klugheit und Alter, d.h. ein Alter, das Zeugenschaft für vergangenes Geschehen garantiert. Dabei ist Alter nicht schon um seiner selbst willen eine Qualität. Erst wenn es sich mit Klugheit verbindet, wird es für den Historiker bedeutsam. So wie Klugheit ohne Zeugenschaft Snorris Anforderungen nicht erfüllt, so wenig ist das Alter ohne Klugheit von Wert. Es ist also letztlich immer die Verbindung von Zeugenschaft und Klug-
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Heinrich Beck
heit, die dahinterstehen muß, um eine Nachricht, eine Überlieferung als wahr auszuweisen. Ari prestr I>orgilsson hinn frócSi, der erste in der Muttersprache schreibende Gewährsmann Snorris, erfüllt die genannten Kriterien in vollendeter Weise. Er wurde im Winter nach dem Fall Haralds, des Sohnes von Sigurd, geboren d.h. im Jahre 1067 (oder 1068). Er starb hochbetagt im Jahre 1148. Er reicht mit seiner Erinnerung also in das 11. Jh. zurück. Als Zwölfjähriger erlebte er den Tod des ersten Skálholt-Bischofs Isleifr und genoß eine ausgezeichnete Erziehung bei Teitr, dem Sohn des Isleifr, im Haukadalr. Das Kriterium Klugheit drückt sich in seinem Beinamen hinn fròdi und den Adjektiva vitr, sannfróòr, minnigr, námgjam (Hskr. II, 419ff.) aus, die Snorri diesem ersten isländischen Geschichtsschreiber zuspricht. Gewährleistet Ari also den Wahrheitsanspruch für eine Geschichte, die bis in die zweite Hälfte des 11. Jh.s zurückreicht, so verlängert sich diese Tiefendimension noch weiter durch Aris Gewährsleute, die wie er die beiden Kriterien Zeugenschaft und Klugheit erfüllen. Hallr t>órarinsson von Haukadalr, zu dem Ari als Siebenjähriger kam, starb mit 94 Jahren. Er erinnerte sich daran, daß ihn I>angbrandr als Dreijährigen taufte eine Erinnerung also, die noch in das 10. Jh. zurückverweist. Stórvitr und minnigr nennt Snorri diesen Gewährsmann (Hskr. II, 420). Die zweite Gewährsperson, die Snorri nennt, ist E>uri5r, die sich ihres Vaters, des Goden Snorri, erinnert, der bei der Einführung des Christentums auf Island etwa 35 Jahre zählte und ein Jahr nach dem Tode Olafs des Heiligen starb. Spçk at viti charakterisiert Snorri diese Gewährsperson (Hskr. II, 420f.). Die cevi Nóregskonunga habe Ari, nach Snorris Worten (Hskr. II, 419), nach einer Saga des Oddr Kolsson geschrieben. Diese Saga hätte sich auf den Bericht eines t>orgeirr afrááskollr gestützt, der wiederum die Kriterien Klugheit und Zeugenschaft vereint habe. Von ihm sagt er, daß er vitr var ok svá gamall, at hann bjó i Niòarnesi, er Hákon jarl hinn riki var drepinn. Das Kriterium „Zeugenschaft" führt Snorri zu einer zeitlichen Ordnung seiner Quellen - und darüber hinaus auch zu einer epochalen Gliederung seiner Geschichtsdarstellung. Zeugenschaft im Sinne einer mündlich oder schriftlich vermittelten unmittelbaren Kenntnis historischer Ereignisse mußte an eine Grenze gelangen, die für Snorri ungefähr bei der Jahrtausendwende lag. Mit Hilfe von Aris erster schriftlicher Fixierung isländischer Geschichte und der Beanspruchung seiner Gewährsleute war die Überbrückung von rund 230 Jahren möglich. Für die Zeit vor 1000 galten für Snorri zwar die Kriterien Klugheit und Zeugenschaft ebenso, es mußte sich aber die Zeugenschaft in anderer und mittelbarerer Weise darstellen. Zu diesem Zwecke postuliert Snorri eine zweite Epoche, die von Haraldr hárfagri, dem norwegischen Reichseiniger, bis etwa zur Übernahme des Christentums auf Island reichte. Diese Epoche charakterisiert Snorri im Gegensatz zu einer weiteren und vorhergehenden dadurch, daß ihre Darstellung einen höheren Wahrheitsgehalt beanspruchen könne: En sidan er Haraldr inn hárfagñ var konungr íNóregi, fia vitu menn miklu gerr sannendi at segja ... viel wahrheitsgetreuer konnte man nun über das Leben der Könige
Zum Wahrheitsbegriff bei Snorri Sturluson
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berichten, da nun Haraldr König in Norwegen war (Hskr. II, 421). Der Wahrheitszuwachs gegenüber der früheren Epoche bestand darin, daß nun einerseits frásagnir, d.h. Erzählungen, Berichte, zur Verfügung standen, andererseits ein kveòskapr, d.h. eine Dichtung von besonderer Qualität, die von der Wahrheit des Überlieferten zeugte. Mit Haraldr sieht Snorri deswegen einen Wendepunkt gegeben, weil zu seiner Zeit Island besiedelt wurde, ein lebhafter Verkehr zwischen Norwegen und Island einsetzte und die Isländer die Nachrichten (tiòendi) über die norwegischen Könige pflegten. Diese tidendi-Pflege ist für Snorri ein Verdienst der Isländer und stellt sich in den Formen der frásagnir und des kveòskapr dar. Frásagnir stehen für ihn allerdings in der Gefahr, nicht eindeutig zu sein: at eigi skilisk qllum á einn veg (Hskr. II, 422). Die Ursache dafür liegt in der sprachlichen Offenheit dieser Quellen. Uber einen längeren Uberlieferungszeitraum hinweg ändern sie sich, werden nicht mehr verstanden und verlieren für den Historiker ihre Zuverlässigkeit, werden ómerkiligar. Ihre Existenz leugnet Snorri nicht, sie stehen aber im Gegensatz zur geschlossenen Form der Gedichte, die auch eine längere Tradition unverändert überstehen: pau orò, er i kveòskap standa, eru in SQmu sem ífyrstu váru, ef rétt er kveòit, pótt hverr maör hafi siòan numit at qòrum, ok má pvi ekki breyta (Hskr. II, 422). Eine bemerkenswerte Einschränkung ist in dieser hohen Einschätzung des Quellenwertes der metrisch geformten Überlieferung allerdings enthalten: Mit dieser Dichtung muß ein richtiger Umgang geübt werden! Auf diesen methodischen Vorbehalt ist im Zusammenhang der Eptirmáli-Belege zurückzukommen. Festzuhalten ist zunächst: Für Snorri stehen geformte Dichtung und offene Prosa in einem unterschiedlichen Verhältnis zur Überlieferungstreue: Nur die Dichtung kann in rechter Interpretation und in erster Linie die Authentizität beanspruchen, die der Historiker in seinen Quellen sucht. Es gelten auch hier wieder die Kriterien, die Snorri für die jüngsten Geschichtsepochen beansprucht: Zeugenschaft und Klugheit. Beide Kriterien treffen für die Skalden zu. Im Kampfe waren sie Augenzeugen, und für ihre Unparteilichkeit und wahrheitsgemäße Darstellung spricht, daß sie ihre Preisdichtung vor dem Herrscher zu rechtfertigen hatten. Zum Spott und nicht zum Lob würde eine Dichtung geraten, die sich nicht an der Wahrheit des Geschilderten orientierte. Die Kontrolle durch die Adressaten dieser Dichtung war für Snorri Gewähr, der skaldischen Preisdichtung die Wahrheit zuzumessen, die er als Historiker suchte: Tókum vèr pat allt fyrir satt, er ikvceòum finnsk um feròir peira eòa orrostur (Hskr. I, 5). Gemeint sind also die skaldischen Preis- und Erblieder, die den norwegischen Herrschern von Haraldr hárfagri an galten. Ein Beispiel für den Einsatz der Skalden als Augenzeugen in geschichtlich bedeutsamer Situation gibt Snorri in seiner Schilderung der Schlacht von Stiklastaôir (bei der Olaf der Heilige 1030 den Tod fand). Vor der entscheidenden Schlacht ordnete der König an, die stärksten und kühnsten Männer sollten eine Schildburg (skjaldborg) bilden, die ihm selbst Schutz gewähren und seinen Skalden einen bevorzugten Platz bieten sollte. In direkter Rede läßt Snorri den König zu seinen Hofskalden sprechen: Skuluöper... hér vera ok sjápau tiòendi, er
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Heinrich Beck
hér gerask. Er y òr pá eigi segjandi saga til, pví at per skuluò fra segja ok yrkja um siòan (Hskr. II, 358) = Hier sollt ihr sein und die Ereignisse wahrnehmen, die vor sich gehen. Ihr verfügt da nicht über Erzählungen anderer, denn ihr (selbst) sollt davon berichten und später darüber dichten. Als eine eigene Epoche mit eigenen Quellenproblemen erklärt Snorri die Zeit vor Haraldr hárfagri. Zur Verfügung standen ihm hier genealogische Gedichte (langfeögatQlur) und Uberlieferungen weiterer Art (fomkvceòi eòa SQguIjóS). Zu diesen zählen a. das Ynglingatal des I>jócSólfr hinn fróòi ór Hvini, das Rçgnvaldr von Vestfold gewidmet war und dessen Ahnenreihe über 30 Generationen zurück bis zu Ingunar-Freyr verfolgte, b. das Háleygjatal des Eyvindr skáldaspillir, das Jarl Hákon hinn riki, dem Ladejarl (ca. 940-995), galt, der im Drontheimgebiet noch einmal eine heidnische Reaktion gegen das Christentum anführte. Eyvindr verfolgt die Genealogie zurück bis zu Saemingr, dem Sohn des Ingunar-Freyr, dem Sohn des Njçrôr, c. die weiteren Gedichte, die Snorri nicht im einzelnen nennt: fomkvceòi eòa SQguljóò. Dazu zählen weiter auch Quellen erzählenden Inhalts, die Snorri den fróòir menn zuschreibt. Daß diese Quellen eine eigene Wahrheitsproblematik beinhalten, bringt Snorri deutlich zum Ausdruck. Ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, sei zwar nicht möglich, erklärt er. Dafür trete aber nun, sozusagen stellvertretend, das Urteil der gamlir froeÒimenn ein: En pótt vèr vitim eigi sannendi á pví, pá vitim vèr dœmi til, at gamlir frœôimenn hafa slíkt fyrir satt haft (Hskr. I, 4.) = Obwohl wir deren Wahrheitsgehalt nicht kennen, kennen wir doch Beispiele dafür, daß kundige Männer in alter Zeit sie für wahr hielten. Es bleiben also auch hier die oben genannten Wahrheitskriterien bestehen. Die besonderen Bedingungen der Epoche zeigen sich nur darin, daß auf die Autorität der gamlir frœôimenn vertraut wird. Beachtung verdienen in diesem Zusammenhang die Lexeme, die bisher zusammenfassend mit „Klugheit" wiedergegeben wurden. Was verstand Snorri z.B. unter fróòr, und wodurch unterschied sich das Urteil der fróòir menn von dem anderer Augenzeugen? Wenn die bloße Augenzeugenschaft für ein „wahres" Urteil nicht genügte, mußten sich diese fróòir menn durch eine zusätzliche und sehr wesentliche Qualität auszeichnen. Die sprachgeschichtlichen Fragen wurden im Falle des fróòr öfter erörtert (Reallexikon d. Germ. Altertumskunde, s.v. Fróòi, FróÒir menn - mit weiterführender Literatur). Snorris Auffassung im Rahmen seines Wahrheitskonzeptes ist damit noch nicht angemessen beschrieben. Auch hier seien nur einige Hinweise gegeben. Deutlich ist, daß Snorri diese zusätzliche Qualität seiner Gewährspersonen mit einer ganzen Reihe von Adjektiva beschreibt: fróòr, vitr, spakr, minnigr, námgjarn. Die zusammenfassende Wiedergabe mit „klug" läßt sich also differenzieren. Klugheit umfaßt in dieser Korrespondenz mit Zeugenschaft offenbar Gedächtnisstärke und Wissensdurst, Urteilskraft und sprachliche Meisterschaft. Den großen Skalden wird die Kombination dieser Eigenschaften grundsätzlich zugeschrieben.
Zum Wahrheitsbegriff bei Snorri Sturluson
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Snorri verleiht der Produktion der hqfuòskàld einen Sitz im Leben, der so sehr öffentlichen Charakters war, daß nur hohe Urteilsfähigkeit, umfassendes Wissen und ein sprachlich-dichterisches Vermögen zu solcher Stellung befähigte. Die skaldischen Fähigkeiten mußten jedoch gerade bei den kundigen Gewährspersonen der jüngeren und jüngsten Zeit nicht unbedingter Bestandteil der Klugheit sein - dies läßt sich vermutlich auch bei den fróòir menn der Vergangenheit voraussetzen (soweit sie nicht eben Skalden waren), bestätigt sich aber auf jeden Fall bei Wahrheitszeugen wie I>uríór Snorradóttir, Hallr I>órarinsson u.a. Sprachliche Meisterschaft in einem allgemeinen Sinne darf aber auch bei diesen Personen vorausgesetzt werden. Nach diesem kurzen Blick auf den sannendi-Regriñ im Kontext der geschichtlichen Werke sei nun Snorris Mythologie in den Mittelpunkt gerückt. Es ist kein Zufall, daß auch hier nach Wahrheit gefragt wird. Die entmythologisierte Asengeschichte ist für Snorri ein Teil einer Frühgeschichte, die nach Asien und nach Tyrkland führt und die erlaubt, die von Pjóòólfr ór Hvini erfaßte Zeit nochmals um eine Epoche zu erweitern. Um dies zu erreichen, muß Snorri einen Zusammenhang von irdischen Asen und mythischen Asen herstellen. Es sind die Skáldskaparmál, in denen Snorri den Wahrheitsgehalt jener Quellen anspricht, die als mythologische eingestuft werden. Zum Verständnis ist zunächst eine textkritische Bemerkung vorauszuschicken. Rasmus Rask sprach als erster in seiner Edda-Ausgabe von 1818 von Bragarceòur und Eptirmáli und meinte damit die Passagen, die einmal das Gespräch zwischen Agir und Bragi (Finnur Jónssons Ausgabe, 1931, Seite 78, Zeile 1 bis Seite 85, Zeile 12) beinhalten, zum anderen die Wendung an junge Skalden mit der Troja=Ragnar0kkr-Gleichung (Finnur Jónsson, 1931, Seite 86, Zeile 11 bis Seite 88, Zeile 3) umfassen. Das dazwischenliegende Stück (Finnur Jónsson, 1931, Seite 85, Zeile 12 bis Seite 86, Zeile 10) rückte Rask an den Anfang der eigentlichen Skáldskaparmál. Die große arnamagnasanische Ausgabe (I, 1848) folgte dem Vorschlag Rasks. Finnur Jónsson legte in seiner Ausgabe (1931) den sog. „Gemeinen Text" zugrunde und folgte damit wieder den Handschriften (Regius, Trajectinus, Wormianus), erklärte aber den Troja=Ragnar0kkr-Teil als Interpolation (die ja auch im Uppsaliensis fehlt). Friedrich W. Müller traf schließlich in seinen Untersuchungen von 1941 eine Unterscheidung, die die Wendung an junge Skalden (Eptirmáli 1) von der Troja=Ragnar0kkr-Geschichte (Eptirmáli II) trennte. Ohne sich auf die (die Forschung einmal bewegende) Suche nach dem „originalen" Snorritext begeben zu wollen, bleibt Finnur Jónssons Meinung, Eptirmáli II stelle einen späteren Einschub dar, diskussionswürdig. Seine Meinung, es handle sich dabei um „gelehrten Kram" ohne jede Bedeutung (S. XX), muß man damit nicht teilen. Im Eptirmáli I steht die hier zu erörternde sannendi-Erwähnung. Die Stelle lautet in (freier) Übersetzung: Junge Skalden, die danach streben, sich in der Dichtkunst zu bilden, und ihren Wortschatz mit altertümlichen Bezeichnungen zu erweitern suchen und die danach trachten, das verhüllt Gedichtete zu verstehen, mögen dieses Buch zur Belehrung und zum Vergnügen hinnehmen. Nicht vergessen oder verfäl-
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sehen solle man diese Erzählungen, indem man aus den Dichtungen die alten Kenningar, die die großen Skalden gebraucht haben, entfernt, und es sollen auch die Christen nicht auf einem anderen Weg an die Wahrheit dieser Erzählungen {sannendi pessa sagna) glauben als dem, der sich im Anfang dieses Buches beschrieben findet = En petta er nú at segja ungum skáldum, peim er gimask at nema mál skáldskapar ok heyja sér oròfjQlòa meó fomum heitum eòa gimask peir at kunna skilja pat, er hulit er kveòit, pá skill hann pessa bók til fróòleiks ok skemmtunar. En ekki er at gleyma eòa osanna svá pessar frásagnir at taka ór skáldskapnum fomar kenningar, peer er hqfuóskáld hafa sér lika látit, en eigi skulu kristnir menn trúa á heióin goó ok eigi á sannendi pessa sagna annan veg en svá sem hér finnsk í upphafi bókar. Zweifellos ist diesen Sätzen zu entnehmen, daß der Verfasser den sagnir und dem skáldskapr der Gylfaginning und Skáldskaparmál eine Wahrheit zuschreibt. Schon dies ist eine bemerkenswerte Feststellung, beinhaltet sie doch, daß es Snorri hier um mehr geht als um ein formales Verstehen überlieferter Dichtung. Auch diese Uberlieferung enthält in historischer Sicht eine Wahrheit. Sie zu erkennen, ist allerdings an Bedingungen geknüpft, die es - wie in den historischen Werken auch - zu ergründen gilt. Zwei Bedingungen formuliert Snorri: a. Es käme einer Verfälschung der frásagnir gleich, wenn man die Kenningar der großen Skalden aus ihren Dichtungen entfernen wollte. b. Auch Christen können an die heidnischen Götter und die damit verbundenen Geschichten glauben, aber nur in der Weise, wie es zu Anfang des Buches formuliert sei. Snorri sagt hier m.a.W., daß das Entfernen der Kenningar der hqfuóskáld eine Dichtung nicht nur in ihrer Form zerstörte, es würde die Erzählung auch ihres Wahrheitsgehaltes berauben. Man versteht die hier vorausgesetzte Kenningar-Wahrheit wohl nur, wenn man den zweiten Punkt hinzunimmt. Hier geht es um die heidnischen Götter, die ja auch in die Kenningar eingehen. Es gibt also nach Snorri unter bestimmten Bedingungen auch bei Christen ein Glauben an die heidnischen Götter {trúa ά heiòin goò). Diese Bedingung fände man i upphafi bókar = zu Anfang des Buches formuliert. Es ist damit der Punkt erreicht, wo die Meinungen strittig werden. Was ist mit dem Anfang des Buches gemeint? Das Vorwort (formálí) oder die Gylfaginning als erstes Buch? Wenn der formali gemeint gewesen wäre, bezöge sich die von Snorri formulierte methodische Bedingung eines rechten Glaubens an die heidnischen Götter wohl auf die geistliche Klugheit des Christen, der um die Bedingtheit des irdischen Verstehens weiß - das Vorwort gebraucht das Begriffspaar jaròlig skilning gegenüber andlig spekò. Gemeint wäre also: Die Heiden vermögen zwar kraft ihres Verstandes von der Schöpfung auf einen Schöpfer zu schließen, sie vermögen aber nicht, dahinter den einen allmächtigen Gott mit seinem richtigen Namen zu erkennen. Dieses Unvermögen, den eigentlichen Schöpfer zu erkennen, veranlaßt die Heiden, den Schöpfungen selbst Namen zu geben - der Verfasser will wohl damit auch sagen: eine polytheistische Ordnung aufzubauen. Die methodische Re-
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gel, die Snorri den Christen nahelegen will, seine Darstellung heidnischer Mythologie recht zu verstehen, lautet also: vom Prinzip der „natürlichen Gotteserkenntnis" geleitet, kann auch in der heidnischen Mythologie Wahrheit erkannt werden. Für den formali ist allerdings die Verfasserschaft Snorris aus verschiedenen Gründen immer wieder bezweifelt worden (Heusler 1908, 26ff., von See 1990, dagegen Strerath-Bolz 1991). Den dort genannten Argumenten sei hier nur noch eines hinzugefügt: Der das Vorwort beherrschende Gedanke der natürlichen Gotteserkenntnis ist begrenzt und auf die Schöpfung bezogen - in völliger Ubereinstimmung mit der neutestamentlichen Botschaft, nach der Gottes unsichtbares Wesen auch den Heiden aus der Schöpfung der Welt erkennbar sei (Römer 1,20). Die Gylfaginning läßt diese Beschränkung auf den Gedanken der natürlichen Gotteserkenntnis aber weit hinter sich. Ihrzufolge erscheint der heidnische Glaube in weiten Bereichen wie ein Analogon zur christlichen Botschaft als eine dunkle und verwirrte und in die Irre gegangene Botschaft, die ihre Erklärung und ihre Erfüllung erst in der christlichen Offenbarung findet. Nach dem gewaltsamen Tod des Ladejarls Hákon, dem Snorri der Wahrheit gemäß (satt at sega ...) persönliche und politische Größe zubilligt, fährt er fort: Am meisten hat zu diesem Ende beigetragen, daß nun die Zeit gekommen war, das heidnische Opfer und seine Diener zu verurteilen. An die Stelle traten der heilige Glaube und die christliche Sitte = En pat bar mest til, er svd varò, at fiá var sú tíd komin, at jyrirdœmask skyldi blótskaprinn ok blótmenninir, en i staÔ körn heilQg trúa ok réttir siôir (Hskr. I, 299). Ob Snorri nun die Verfasserschaft für den Prolog abzusprechen ist oder nicht, mag dahingestellt sein. Denkbar wäre ja auch, daß der Prolog nicht unbedingt zeitgleich mit Gylfaginning und Skáldskaparmál verfaßt worden sei. Wenn die sannendi-Frage des Eptirmáli I auf die Gylfaginning bezogen werden darf (wie der Verfasser dieser Zeilen anzunehmen geneigt ist), hat sie eine weiterreichende Konsequenz: Der Glaube der heidnischen Vorfahren trüge in seinen verweisenden Zügen auf die christliche Offenbarung einen Wahrheitsanspruch in sich, der die Epoche von dem historischen Oôinn bis zur Annahme des Christentums mit einer eigenen Würde verbände. Diese Zeitspanne wäre in dem Sinne nicht als euhemeristisch abzutun. Snorri wollte den religiösen Wahrheitsgehalt der heidnischen Botschaft (in gewissen Grenzen) nicht leugnen. Ihre hqßingjar waren zwar Menschen, ihre Botschaft aber keine menschliche Erfindung. Die Wahrheit dieser Botschaft ist erst im Licht der christlichen Offenbarung erkennbar. Im Gegensatz zur historischen Wahrheit des Heimskringla-Prologes geht es Snorri in seiner Edda um die religiöse Wahrheit. Diese Aussage ist allerdings in einem gewissen Sinne auch wieder einzuschränken. Auch hier ist der Historiker am Werk, der die Dimension seiner weltgeschichtlichen Betrachtung bis in die Schöpfungszeit zu erweitern sucht. Die Quellen, die ihm hier zur Verfügung stehen, sind nicht mehr skaldische Preis- und Erbgedichte, sondern eddische Götterlieder und die fornar kenningar der hofuóskáld. Trotzdem bleiben die beiden Kriterien der geschichtlichen Epoche „Zeugenschaft und Klugheit"
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auch hier in Kraft: Der König Gylfi (maòr vitr ok fjqlkunnigr, Gylfaginning, c. 2) ist Zeuge der heidnischen Offenbarung. Nachdem er all dies vernommen hatte, machte er sich auf den Weg nach Hause, nach Svíjjjóá und berichtete von den Neuigkeiten, die er gesehen und gehört hatte. Und darauf erzählte einer nach dem anderen diese Geschichten weiter: Gengr bann pá leid sina braut ok kemr beim í ríki sitt ok segir pau tiòindi er bann befir sét ok beyrt. Ok eptir honum sagòi hverr maòr QÒrum pessar SQgur. (c. 54) Der heidnische Glaube erscheint in Gylfis Sicht auch vorwiegend als ein episches Geschehen, beginnend mit der Schöpfung und endend mit Ragnarakkr. Das Prinzip der historischen Darstellung, Geschichte als Ereignisgeschichte zu verstehen, bestimmt in gewissem Sinne auch die Sicht der mythischen Epoche. Hier von religiöser Wahrheit zu reden, müßte einem weiteren gewichtigen Einwand begegnen - dem nämlich, daß Gylfis Erfahrung als eine ginning bezeichnet wird, als eine „Betörung" (wie in der Thule-Ubersetzung interpretiert wird, Thüle 20, 1925). Ist ihr Inhalt also doch ein teuflischer Betrug (Baetke 1952, Holtsmark 1964) und keineswegs eine „Wahrheit"? Auf diese bedeutsame Frage kann hier nur mit einigen kurzen Hinweisen eingegangen werden: Ginning wird im Text selbst nicht gebraucht. Es wird vielmehr von einer sjónbverfing gesprochen, d.h. von einer Verrückung der sinnlichen Wahrnehmung, in deren Verlauf sich die heidnische Trinität „offenbart". Die ginningUberschrift fehlt dem Regius, Wormianus und Trajectinus, ist also nur dem Uppsaliensis eigen. Dort heißt es: bér befr Gylfa ginning frá pví er Gylfi sótti heim AlfQÒr i AsgarS med fjçlkungi. ok frá villo asa. ok frá spumingo Gylfa. Hier ist mit den Termini ginning, fjQlkyngi, villa eine Betörung und Sinnesverwirrung und ein Einsatz zauberischer Fähigkeiten angedeutet. Die Bewertung des Uppsaliensis als einer Uberlieferung, die Snorri nahesteht, könnte der Aussage Gewicht verleihen. Es gibt aber auch Gegenpositionen. Die Sonderstellung, die der Uppsaliensis in der Textüberlieferung einnimmt, läßt es aber ratsam erscheinen, in interpretatorischen Fragen Uppsaliensis und gemeinen Text gesondert zu betrachten. Auch die strittige Frage des formáli könnte zunächst beiseite gelassen und die Untersuchung auf den Text selbst konzentriert werden. Hier erfolgt die spuming Gylfa eindeutig im Rahmen einer Sinnesverrükkung. Sie kann mit einer weiteren sjónbverfing verglichen werden, die im Text dem Gott Pórr widerfährt (c. 46). Auch sie verknüpft Snorri mit der Wahrheitsfrage: Nú skal segjapér it sanna ... erklärt Utgarôaloki dem Gott, nachdem er aus der Verrückung entlassen war. Eine sjónbverfing ist mit anderen Worten nicht ohne jede Wahrheit, auch wenn der sie Erfahrende die Zeichen nicht zu deuten und die im Sichtbaren liegende Analogie nicht zu erkennen vermag. Analogie im mittelalterlichen Sinne beinhaltet auch durchaus die Annahme verschiedener Wesensbestimmtheiten und doch zugleich einer gemeinsamen Zuordnung zu einer sie alle umfassenden höheren ratio. Der Analogiegedanke besagte für die sjónbverfing und ihre Offenbarung, daß hinter dem Schein eine verborgene Wahrheit liegt, die dem Christen in der Rückschau bereits als verborgenes Wirken des einen Gottes erkennbar wird.
Zum Wahrheitsbegriff bei Snorri Sturluson
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Es ging in diesem Beitrag um den Wahrheitsbegriff bei Snorri, d.h. es stand das von Snorri selbst gebrauchte und reflektierte Konzept sannendi zur Diskussion. Gefragt wurde also nicht in einem historischen Sinne nach Wahrheit in Snorris Geschichtsschreibung. Dazu könnte die sannendi-Diskussion allenfalls einen Beitrag leisten. Das Ergebnis dieser Betrachtung ließe sich in einem formalen und inhaltlichen Sinne so charakterisieren: 1. Für die Wahrheit bürgt nach Snorri eine Traditionsgemeinschaft, in der die Augenzeugenschaft für die Qualität einer Nachricht, die Klugheit des Beobachters für die Objektivität der Aussage steht. Die Quellenlage läßt ihn drei Epochen unterscheiden: a. Die lebendige Gegenwart. Sie reicht etwa bis zur Jahrtausendwende zurück. Ari hinn fróòi, der erste Geschichtsschreiber, nimmt hier eine wichtige Position ein (und markiert auch den Ubergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit). Die ihm noch bekannten Zeitzeugen erinnern sich an Ereignisse, die das Ende der heidnischen Zeit und die Einführung des Christentums betrafen. b. Die erinnerte Vergangenheit. Sie reicht von Haraldr hárfagri, dem norwegischen Reichseiniger, und der Besiedlung Islands bis zur Einführung des Christentums um die Jahrtausendwende. Die Kriterien Zeugenschaft und Klugheit erfüllen für diesen Zeitraum in erster Linie die Skalden mit ihren Preis- und Erbgedichten. Dazu kommen frásagnir, Erzählungen in ungebundener Form, die nur bedingt den Wahrheitsanspruch Snorris erfüllen. c. Die durch die gamlir frceòimenn bezeugte Frühzeit. Dazu zählen die genealogischen Gedichte des X>jójóáólfr und Eyvindr. Die historische Wahrheit ist für Snorri ein objektiver Tatbestand. Wahr ist, was richtig und verständig beobachtet und getreu tradiert ist. Snorri kann in diesem Zusammenhang von vita sannendi, die Wahrheit wissen, sprechen. Die religiöse Wahrheit ist anderer Art. Sie verlangt keine Entscheidung nach wahr oder falsch. Sie wird erfahren als geglaubt oder nicht geglaubt. Snorri redet von trúa á sannendi, an die Wahrheit glauben. Die Wahrheitssuche in diesem Bereich führt ihn in den Bereich der Mythologie. Als Christ glaubt er, einen Wahrheitsgehalt in den paganen Uberlieferungen entdecken zu können (sei es nun nach dem Konzept der natürlichen Gotteserkenntnis oder im Sinne eines mittelalterlichen Analogieverständnisses). Die der heidnischen Offenbarung folgende Epoche der irdischen Verbreitung dieser paganen Anschauungen entmythologisiert Snorri (was nicht einer Euhemerisierung gleichkommt) und gewinnt dadurch eine weitere geschichtliche Dimension, eine Frühzeit, die von den Wanderungen der irdischen Asen in die Nordlande bestimmt ist (Beck 1994). 2. Geschichte ist für Snorri Ereignisgeschichte, d.h. Geschichte, die in einer narrativen Folge dargestellt und auf (direkte oder indirekte) Zeugenbefragung gegründet ist. „Ereignen" leitet sich sprachlich aus „er-äugen" ab. Ereignisge-
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Heinrich Beck
schichte ist in diesem wörtlichen Sinne also „eräugte" Geschichte, ihrem Wesen nach Augenzeugengeschichte. Die heutige Geschichtswissenschaft unterscheidet zwischen Ereignis und Struktur, zwischen Ereignisgeschichte und Strukturgeschichte. W ä h r e n d die Ereignisgeschichte erzählt, versucht die Strukturgeschichte, das Geschehen auf tiefere und längerdauernde Prozesse (ökonomischer, sozialer, politischer A r t ) zurückzuführen (vgl. Koselleck und Stempel 1973, bes. 519ff.). Es ist deutlich, daß Snorri Geschichte als Ereignisgeschichte versteht. Geschichtsschreibung hat in seinem Sinne erzählenden Charakter. Ein wesentliches Element ist die Zeugenschaft. Der O r t der Entscheidung über den Fortgang der Geschichte ist die persönliche A k t i o n in Krieg und Frieden. Tiefere Strukturen legt die Ereignisgeschichte (die bis in die neuere Zeit hinein allein geübt wurde) nicht frei. Dementsprechend ist auch ihr Wahrheitsbegriff an das „Vor-Augen-Kommen", das „Eräugen" geknüpft.
Quellen Die Heimskringla (Hskr.) wird nach der Ausgabe von Bjarni Aôalbjarnarson, Snorri Sturluson, Heimskringla Ι-Π, Reykjavik 1941-1945 (Islenzk Fornrit 26, 27) zitiert. Die Edda-Hinweise beziehen sich auf die Ausgabe von Finnur Jónsson: Edda Snorra Sturlusonar. Kobenhavn 1931. Zitate daraus werden in normalisierter Form wiedergegeben. Edda Snorra Sturlusonar I-IH, 1848-1887 (Arnamagnaeanische Ausgabe). R.Kr. Rask (Hrsg.), Snorra-Edda ásamt skáldu og Jsarmeò fylgjandi ritgjöröum. Stockholm 1818.
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Zum Wahrheitsbegriff bei Snorri Sturluson
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Der Grœnlendinga Êattr - aktuelle oder antiquarische Geschichtsperspektive? v o n ELSE EBEL
Der Grœnlendinga Mttr, auch als Einars Mttr Sokkasonar bekannt, ist nur in einer einzigen Handschrift, der Flateyjarbók aus dem Ende des 14. Jahrhunderts, überliefert. Er hat in der literarischen Forschung bislang wenig Beachtung gefunden. Die geschilderten Ereignisse werden als historische Begebenheiten angesehen, und man nimmt übereinstimmend eine relativ frühe Entstehungszeit - gegen 1200 - für diesen ]>áttr an1. Es wird vermutet, daß zwischen dem mündlichen Bericht eines der Beteiligten - Hermundr Koáránsson (gest. 1197) oder einer seiner unmittelbaren Nachkommen wird vorgeschlagen - und der Niederschrift nicht viel Zeit vergangen sein dürfte. Eine literarische Nähe zur Familie der Sturlungen wird gesucht, als Verfasser werden Snorri Sturluson, Styrmir inn fróói oder Eiríkr Oddsson genannt. Sollte diese Annahme richtig sein, so würde der Mttr zu den ältesten erhaltenen Werken seiner Gattung und auch der Gattung der Islendinga sögur gehören. Der Erzähler des Mttrs bezeichnet seine Geschichte selbst nicht als „jpattr"; er beendet sie vielmehr mit den Worten „ok lykr {jar |)essi sçgu" (IF IV, S. 292). Die Erzählung entspricht umfangmäßig etwa zwei Dritteln der Grœnlendinga saga, der kürzeren der beiden viel diskutierten sog. „Vinlandsagas". Wie John Lindow und nach ihm Stefanie Würth festgestellt haben2, benutzen die Schreiber der Flateyjarbók die Bezeichnung „Jsattr" außerordentlich häufig; aber sie verwenden sie nicht in der seit dem 15. Jahrhundert üblichen Bedeutung „Novelle", „Kurzgeschichte". Die Pxttir werden m.a.W. nicht als Gattung aufgefaßt, sondern zeigen den Beginn einer Prosa-Erzähleinheit an, die sich von dem unmittelbar vorher Berichteten abhebt. Das trifft auch auf den Grœnlendinga Mttr zu; eine direkte Verbindung zu der zuvor mitgeteilten Magnúss saga hins góòa ok Haralds hardráda besteht nicht. S. dazu Matthias t>óròarson in seiner Ausgabe des Mttr in IF IV (1935), S. XCI-XCVI; ferner zusammenfassend Oláfur Halldórsson in : Greenland í midalaldarritum. Reykjavik 1978, S. 401-405, und Hans Bekker-Nielsen im Vorwort zu seiner dänischen Ubersetzung des Mttr in: Erik den Rodes Granland. Udg. af Knud J. Krogh, Nationalmuseets Forlag 1982, S. 199. John Lindow, Old Icelandic Mttr: Early Usage and Semantic History. In: Scripta Islandica 29 (1978), S. 36. Stefanie Würth, Elemente des Erzählens. Die Paettir der Flateyjarbók. Basel/ Frankfurt a.M. 1991.
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Der Mttr hat folgenden Inhalt: Die Grönländer sammeln Geld und schicken Einarr Sokkason mit dem Auftrag nach Norwegen, König Siguràr Jórsalafari um Hilfe bei der Errichtung eines Bistums auf Grönland zu bitten. Der König befiehlt dem norwegischen Geistlichen Arnaldr, sich dieser Aufgabe zu unterziehen. Dieser sträubt sich zunächst dagegen, muß jedoch nachgeben und wird von Erzbischof Qzurr in Lund zum Bischof von Grönland geweiht. Einarr Sokkason und der frisch ernannte Bischof fahren daraufhin über Island nach Grönland. Gleichzeitig verläßt der norwegische Kaufmann Arnbjçrn - ebenfalls mit dem Ziel Grönland - den norwegischen Hafen. Während Einarr und der Bischof wohlbehalten Grönland erreichen, hört man von dem Kaufmann und seinen Schiffsgenossen nichts mehr. Sie werden einige Jahre später verhungert in einem abgelegenen grönländischen Fjord aufgefunden. Ihre Gebeine werden nach Garòar, dem neu errichteten Bischofssitz, überführt; das Wrackgut teilen die grönländischen Finder unter sich auf. Auch der Bischof erhält seinen Anteil für die Bestattung der Toten, darunter ein guterhaltenes Drachenschiff. Als die Erben der norwegischen Kaufleute von diesen Ereignissen erfahren, versuchen sie vergeblich, auf Grönland das Nachlaßgut einzufordern. Zwischen ihnen und den Grönländern kommt es zu mehreren Totschlägen, die schließlich in einem Vergleich gegeneinander aufgewogen werden. Die Norweger müssen letztlich unverrichteter Dinge Grönland verlassen. Eine Verleumdung der Grönländer bei dem norwegischen König Haraldr gilli mißlingt. In dem I>áttr geht es also um zwei Rechtsordnungen, die miteinander in Konflikt geraten. Auf der einen Seite steht das uralte, im frühen Mittelalter im gesamten Norden geltende Strandrecht, die „groenlenzk lçg", nach dem alles Strandgut den Findern gehört, auf der anderen Seite das neue nach dem Vorbild des kanonischen Rechts gebildete Gesetz, das den Schiffbrüchigen bzw. ihren Erben den Anspruch auf ihr Eigentum beläßt. Vertreter dieser beiden Rechtsordnungen sind einerseits der grönländische Bischof Arnaldr und die grönländischen Bauern, andererseits die norwegischen Kaufleute, die ihr Eigentum zurückfordern. Der Erzähler, der offensichtlich mit dem neuen Recht sympathisiert, hat diese beiden Rechtsordnungen geschickt in zwei Erzählsträngen dargestellt. Nach einem kurzen Vorspiel in Norwegen, das dazu dient, die Beziehung des Bischofs Arnaldr zu den Grönländern zu beschreiben (Einarr Sokkason muß dem Bischof einen förmlichen Eid - kein bloßes Versprechen - leisten, das grönländische Bistum und damit den Bischof selbst in jeder Hinsicht zu unterstützen), berichtet der Erzähler von der Reise Einars und des Bischofs. Sie verläuft ohne größere Zwischenfälle. Nach einem Winteraufenthalt bei Saemundr inn frôôi auf Island und anschließendem Thingbesuch des Bischofs erreichen beide wohlbehalten Grönland. Ein zweiter Erzählstrang befaßt sich mit dem Norweger ArnbjQrn, der gleichzeitig mit den Grönländern den norwegischen Hafen verlassen hatte, um
Der Groenlendinga I>áttr - aktuelle oder antiquarische Geschichtsperspektive?
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eine Handelsfahrt nach Grönland zu unternehmen. Zunächst wird - eingeflochten in den ersten Erzählstrang - nur kurz, gewissermaßen im negativen Sinne, auf diese Reise hingewiesen. Der Hörer/Leser soll sie im Auge behalten: „en til t>eira Arnbjarnar spurôisk ekki - aetluôu Jjeir byskup, at hann myndi kominn til Grœnlands" (IF IV, S. 275) und „spurâu Jjeir \>i enn ekki til Arnbjarnar, ok Jjótti J>at undarligt" (ÍF IV, S. 276). Den unglücklichen Verlauf, den diese Reise nimmt, erfährt der Hörer/Leser dann auf indirekte Weise. Er wird aus der Sicht der grönländischen Fischer erzählt, die das Wrack, das noch intakte DrachenschifT und die Toten finden. Die Darstellung ist knapp und realistisch, nur die Erwähnung eines für den Verlauf der Erzählung nicht unbedingt notwendigen Traumes fällt auf: Träume haben in den Sagas meist eine vorausdeutende Funktion, so auch hier. Der Grönländer SteinJxSrr bittet den Schiffsführer Sigurâr Njálsson um die Deutung eines ihn beunruhigenden Traumes. Sigurôr hält den Traum für „medallagi gôôan", für ein wenig gutes Vorzeichen, und SteinJxSrr ist dann auch der einzige, der bei der Bergung der Toten (durch eigene Unachtsamkeit) sein Leben läßt. Im dritten Kapitel des I>áttr werden beide Erzählstränge miteinander verwoben, und der Konflikt wird dadurch ausgelöst. Hier läßt sich der Aufbauplan erkennen, den zuerst Theodore Andersson3 für die Islendinga sögur herausgearbeitet hat: Die Norweger - die Vertreter des neuen Rechts - fordern von den Grönländern die Herausgabe des Strandgutes. Sie wenden sich dabei an den Bischof von diesem Hilfe erwartend - , dieser jedoch identifiziert sich mit den Grönländern und beruft sich auf die grönländischen Gesetze, die ihm hier einen Vorteil bieten. Auf dem grönländischen Frühjahrsthing, an das sich die Norweger wenden, erreichen sie nichts, und Q z u r r - der Erbe ArnbjQrns - empfindet dies als „oviröing", als schwere Beleidigung; er rächt sich, indem er das Drachenschiff, das der Bischof erhalten hatte, zerschlägt. Der Bischof wird nun seinerseits aktiv und erinnert Einarr an den in Norwegen geleisteten Eid, nennt ihn „eiärofa" - eidbrüchig - , wenn er die Sache auf sich beruhen ließe. Die Antwort, die Einarr, der Grönländer, gibt, läßt Rückschlüsse auf die Einstellung des Erzählers zu: er zeigt Verständnis für Qzurs Reaktion, steht damit im Grunde genommen auf der Seite des neuen Rechts. Das beeindruckt den Bischof jedoch nicht; da Einarr sich dem Vorwurf, eidbrüchig zu sein, nicht aussetzen will, kommt es zur „climax" der Erzählung (Andersson), dem Totschlag Qzurs durch Einarr. Interessant ist das Bild, das der Erzähler von Bischof Arnaldr zeichnet: der Bischof heißt den Totschlag zwar nicht unbedingt gut, läßt sich jedoch viel Zeit mit den Vorbereitungen für die Totenmesse für den Erschlagenen und stimmt nur sehr zögernd der Bitte Einars zu, Qzurr auf dem Friedhof beerdigen zu lassen.
Theodore M. Andersson, The Icelandic Family Saga. An Analytic Reading. 1966.
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Im fünften Kapitel wird dann von den Versuchen der Norweger, den Totschlag zu rächen, berichtet. Ein außergerichtliches Versöhnungsangebot Sokkis (des Vaters von Einarr) wird nicht akzeptiert; die Norweger bestehen auf einem Gerichtsverfahren, wollen offenbar die Achtung Einars herbeiführen. Einarr jedoch sprengt das Gericht („hann hleypir upp domi", IF IV, S. 285)4, und da die Norweger wegen der herrschenden ungünstigen Witterungsverhältnisse nicht ihre gesamte Mannschaft hatten mitbringen können, gehen sie gezwungenermaßen und widerwillig auf das Vergleichsangebot („ssett"), das Sokki aufrechterhält, ein. Zur verabredeten Zeit treffen sich beide Parteien. Der Bischof läßt - scheinbar zufällig - gerade in dem Augenblick die Kirchenglocken läuten, als Einarr eintrifft. Das fassen die Norweger als Ehrenbezeugung („viráing" wird gebraucht) für Einarr auf und damit als Beleidigung für ihre Partei. Die Norweger schätzen nun die Bußsumme; Simon, der Verwandte Qzurs, zeigt sich unzufrieden damit. Als dann noch ein alter Plattenpanzer („spangabrynja ein forn", IF IV, S. 286)5 dazugelegt wird, empfindet er dies als Schande („svíviráliga er slikt boôit"). Hier stehen Einars „viröing" und der Norweger „svivircSing" gegeneinander. Ein Kampf entbrennt auf dem Thingfeld, Einarr, Simon und neun weitere Männer (fünf Grönländer und vier Norweger) werden erschlagen. Schande und Ehre sind die Motive, die diese Auseinandersetzung bestimmen.' Da die Grönländer mit ihren kleinen Schiffen nicht gegen die großen Kaufschiffe der Norweger anzugehen wagten, wird ein Sühnetermin festgesetzt. Vorher jedoch, berichtet der Erzähler, hätten die Norweger, denen die Vorräte ausgegangen seien, sich trotz der Auflage, bis zum Vergleichstermin grönländisches Festland nicht zu betreten, nachts auf die Suche nach Eßbarem gemacht. Der Anführer der Gruppe hat einen Traum, der ihn zu einem unterirdischen Vorratshaus der Grönländer führt. Die Norweger plündern es aus und kehren zu ihren Schiffen zurück. Diese Episode hat keine weiteren Konsequenzen für die Gesamterzählung. Die narrative Funktion des Traumes ist wohl die, das Verhalten der Norweger zu entschuldigen. Bei dem dann friedlich geschlossenen Vergleich werden die Erschlagenen gegeneinander aufgerechnet, der überzählige Grönländer, der ein Unterstützungsbedürftiger (ein „omegdarmaör", IF IV, S. 290) war, wird mit Geld gebüßt, und die Norweger werden wegen des „mannamunr", der zwischen Einarr und
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Vgl. Andreas Heusler, Das Strafrecht der Isländersagas. Leipzig 1911. Hier weist Halldórsson - wie Anm.l, S. 402 - auf eine intertextuelle Verbindung zur Njáls saga hin. Dort löst (Kap. 123, ÍF ΧΠ, S. 312ff.) Njáls gutgemeinte Zugabe zu der für HQSkulds Erschlagung festgesetzten Buße - nämlich die „silki-slœôur" - den wirklichen Konflikt erst aus. S. dazu die Arbeiten von Preben Meulengracht Serensen, Some methodological considerations in connection with the study of the sagas. In: From Saga to Society. Ed. Gisli Pálsson, Hisarlik Press 1992, S. 27-41, und ders., Fortslling og aere. Aarhus 1993. Else Ebel, Fiktion und Realität in den Vinlandsagas. In: Festschrift für Heinrich Beck (Studien zum Altgermanischen), hrsg. von Heiko Uecker, Berlin 1994, S. 89-100.
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Qzurr bestanden habe - so wenigstens die grönländische Auffassung - , auf Grönland geächtet.7 Nachdem der Konflikt so beigelegt worden ist, schließt der t>áttr mit einem kurzen Nachspiel dort, wo er begonnen hat: in Norwegen. Das neue Recht hat sich gegen das alte Gewohnheitsrecht noch nicht durchsetzen können. Die Sympathien des Erzählers liegen zwar auf Seiten des neuen Rechts, er verfällt jedoch nie in eine Schwarzweißmalerei, die die Grönländer abwertet. Der norwegische Kaufmann, der versucht hat, sie beim König zu verleumden, erfährt seine gerechte Strafe. Der f>áttr ist straff und folgerichtig aufgebaut. Die Erzählung führt konsequent von Ereignis zu Ereignis - neue Personen und andere Schauplätze werden mit Wendungen wie „Sigurôr hét maôr", „tidendi J>essi spuráusk/kómu til Nóregs" u.a. eingeführt. Zielstrebig führt der Erzähler zum ersten plot - der Erschlagung Qzurs - und zum zweiten plot - der Auslösung des Kampfes auf dem Thingplatz - hin. Hier zeigt er sich durchaus auf der Höhe der Erzählkunst der Islendinga sögur, und es stellt sich die Frage, ob die von den früheren Bearbeitern angenommene Entstehungszeit vor 1200 haltbar ist. Man darf (in Anlehnung an die Ergebnisse der Oralitätsforschung) davon ausgehen, daß die Sagas von der Gegenwart aus erzählen, d.h. die Verhältnisse der Vergangenheit im Lichte der Gegenwart darstellen. Wenn der I>áttr tatsächlich um 1200 entstanden sein sollte, ließe sich auch eine aktuelle Problematik im historischen Gewand vermuten. Unter diesem Aspekt soll die Erzählung im folgenden kurz beleuchtet werden. Das alte Strandrecht, wie es der I>áttr versteht, erlaubte Strandbewohnern, sich am Meeresstrand angeschwemmtes, insbesondere aus Schiffbruch herrührendes Gut anzueignen. Wurden dabei Personen mit angetrieben, so konnten sie - offenbar vor allem Fremde - auch ihr Leben verlieren oder als Sklaven genommen werden. Es handelt sich hier um ein Gewohnheitsrecht, das im Mittelalter uneingeschränkt an den nordeuropäischen Küsten galt8. In den Postola Sögur findet sich ein Hinweis, daß diese rigorosen Bestimmungen in alter Zeit auch für die spanische Küste gegolten haben sollen, doch ist auch nicht auszuschließen, daß der Verfasser zeitgenössische Verhältnisse auf die Zeit, in der die Handlung spielt, projiziert. Es heißt dort: „\>at vorn J>ar lçg (in Galizuland/Spanien), at allt J>at sem J>ar raeki a land skylldi vera vágrek, ok skylldu landzmenn baeái eigha valid aa fé ok monnum" 9 . Aber auch in den Islendinga sögur finden sich genügend Beispiele dafür, daß die Nordleute - als Fremde -
Vgl. Andreas Heusler wie Anm. 4, S. 92: der Fall, daß bei einem Vergleich der Totschläger noch zusätzlich des Landes verwiesen wird, kann nur bei entschiedener Überlegenheit der Gegenpartei - hier demnach der Grönländer - eintreten. S.H.P. Glöckner, Strandrecht, Strandregal. In: HRG, 33. Lieferung 1991, Sp. 19-26. Postola sögur, udg. af C.R. Unger, I, Christiania 1874, S. 155.
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an der irischen Küste ein solches Schicksal erlitten haben. Am bekanntesten ist wohl Kap. 21 aus der Laxdoela saga, wo berichtet wird, wie Olaf Pfau und sein Schiffsführer Qm> ein Gefolgsmann des Königs Harald Graumantel, vor Irland ankamen. Sie waren des Nachts zu nahe an das Festland herangefahren, und Qrn gibt seinen Befürchtungen Ausdruck : „ich glaube, wir haben keinen günstigen Landeplatz erreicht, denn diese Gegend ist weit von den Häfen oder Handelsplätzen entfernt, an denen Ausländer Frieden haben sollten, denn wir sind jetzt von der Ebbe trocken gesetzt wie Stichlinge; soweit ich die Gesetze der Iren kenne, legen sie Hand an die Ladung, die wir führen, denn sie sprechen schon da von Strandgut, wo noch viel tieferes Wasser ist hinterm Achtersteven" (IF V, S. 54). Qrn spricht hier von „lçg" = Recht, Gesetz der Iren und von „vágrek" = Strandgut. Daß auch das Leben oder zumindest die Freiheit der Norweger auf dem Spiel gestanden hätte, geht aus der folgenden Erzählung hervor, wo nur durch die Verwandtschaft Olafs mit dem Irenkönig dieses Schicksal von ihnen abgewendet wurde. Auch andere Sagas geben Zeugnis von dieser Praxis der Iren, auch dort wird von Gesetzen - „l(?g" - gesprochen, die in Irland herrschten. In der Eyrbyggja saga Kap. 64 (IF IV, S. 177) wird von dem Isländer Guôleifr Gunnlaugsson erzählt, der - zu Zeiten Olafs des Heiligen - eine Handelsfahrt nach Dublin unternahm. Auf der Rückreise nach Island gerieten er und seine Schiffsmannschaft in Seenot und landeten irgendwo in Irland. Sie wurden von den Iren gefangen genommen und sollten als Sklaven auf die dortigen Bezirke verteilt werden - das Wort „Jpjadir" wird gebraucht. Die Iren waren der Ansicht, ihre Gesetze („lQg") seien von den Isländern gebrochen worden, und auch sie verdanken es einem glücklichen Umstand (deshalb wird diese Episode natürlich berichtet), daß sie mit heiler Haut und mit ihrem Schiff davonkamen. Auf das Risiko einer Versklavung weist auch die Eiríks saga rauda in einem Nebensatz hin. t>órhallr veiôimaôr wurde mit seinem Schiff nach Irland abgetrieben; er und seine Leute kamen in Gefangenschaft und wurden unfrei (auch hier wird „fracSir" gebraucht; ÍF IV, S. 226)10. Nun gab es schon früh Bemühungen, dieses alte Strandrecht, das - da es Gewohnheitsrecht war - offenbar nicht schriftlich niedergelegt worden ist, abzumildern. In Anlehnung an das römische Recht verurteilte die Kirche schon Anfang des 12. Jahrhunderts diese Wrackplünderungen (auf dem Laterankonzil von 1110) und nahm 1234 eine entsprechende Bestimmung in das kanonische Recht auf11. Auf diesem Wege kamen die Versuche, das Strandrecht einzu-
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Daß auch in England das alte Strandrecht gegolten hatte, ist aus einer lat. Quelle ersichtlich. Die um 1170 verfaßte Vita des hl. Godric von Fínchale berichtet, daß dieser in seiner Jugend an der Küste Ostenglands Strandgut gesammelt habe. Vgl. Walther Vogel, Ein seefahrender Kaufmann um 1100. In: HGBl 18 (1912), S. 239-248. Karl-Friedrich Krieger, Die Anfänge des Seerechts im Nord- und Ostseeraum. (Von der Spätantike bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts). In: Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nordeuropa IV: Der Handel
Der Grœnlendinga I>áttr - aktuelle oder antiquarische Geschichtsperspektive?
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schränken, auch nach Nordeuropa. Die norwegischen Landschaftsrechte sowie die isländische Grágás legen hierfür schon Zeugnis ab. Die älteste Bestimmung darüber findet sich in den GulaJjingslçg 145 (NGL I, S. 58): „Nu sigla menn firi land fram. aeda af have oc briota skip sin. sitt fe a hverr er kenner meó vattom. hverr sem iorô a. er a recr. hafrec oll onnur jpa a konongr". Fast wörtlich damit übereinstimmend das Stadtrecht des Königs Magnus Hákonarson für Beigen, das ca. 1280 verfaßt wurde: „Nu sigla menn firir land fram eòa af hafe oc briota skip sin, fe a huaer, er med vattom kennir, huer sem iorò a, er a rekr. Hafrek oll onnur a konongr" 12 . D.h. also, daß die Schiffbrüchigen ihr Gut behalten dürfen, soweit sie es durch Zeugen sicherstellen können, an wessen Land auch immer es antreibt. Alles andere Strandgut gehört dem König. Auf dieses Regal pocht auch das Landrecht des Königs Magnus Hákonarson mit einer gleichlautenden Bestimmung13, während der Bjarkeyjarréttr III Y 59 und die FrostoJjingslQg II, 35, ebenfalls im Wortlaut übereinstimmend, festlegen, daß der Schiffbrüchige, der zwei Zeugen für seinen Anspruch auf das angetriebene Gut aufbringen kann, dieses behalten darf. Die Grágás formuliert hier ausführlicher: „Wirft die See Leichen ans Land und Habe, dann hat der, der am nächsten wohnt, die Leichen aus dem Flutbereich zu bringen und dem Nachricht zu geben, dem das Land dort gehört; und der hat die Habe zu verwahren und die Leichen mit jenem zu begleiten, wenn der allein nicht Mannschaft dazu hat. Der Landeigner soll von diesem Geld nehmen zum Grablohn und Grabsanglohn und soll dem anderen anzeigen, was er davon nimmt, und auch, was übrig bleibt. Er soll es auch seinen fünf Nachbarn zeigen und sie das schätzen lassen, das verdorben gehn könnte, und es verkaufen, wenn er will. Die Habe heißt Wrackgut, die mit Leichen ans Land treibt, - und auch, wo man mutmaßt, all die seien umgekommen, denen die Habe gehörte, ohne daß Leichen ans Land treiben mit dieser Habe. Der Landeigner soll diese Habe so verwahren, wie er dann täte, wenn sie ihm gehörte; aber zu haften für die Habe hat er nicht. Kommen Erben derer zur Stelle, denen diese Habe gehört hat, dann sollen sie beibringen zwei Kundschaftszeugen, die nach der Versippung (zum Geschworenenspruch) gerecht wären und die das wußten, daß jene die Habe aufs Schiff getragen haben" 14 .
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der Karolinger- und Wikingerzeit. Hrsg. von Klaus Düwel, Herbert Jankuhn, Harald Siems und Dieter Timpe. Göttingen 1987, S. 246-265 (Abh. der Akademie der Wiss. in Göttingen, Phil.-hist.Kl., 3. Folge, Nr. 156). Vilho Niitemaa, Jens Ulf Jergensen, Knut Robberstad, Strandrätt. In: Kulturhist. Lexikon för nord, medeltid, Malmö 1972, Bd. XVII, Sp. 289-296. Stadtrecht des Königs Magnus Hakonarson für Bergen, VII, 21. Bearb. von Rudolf Meißner, Weimar 1950, S. 226-227 (Germanenrechte N F Bd. 3). Landrecht des Königs Magnus Hakonarson. Bearb. von Rudolf Meißner, Weimar 1941, S. 374-375 (VIH, 26) (Germanenrechte NF). Grágás Ib, S. 133 ff. (S 218). Dt. Übersetzung von Andreas Heusler, Isländisches Recht. Die Graugans. Weimar 1937, S. 360f. (Germanenrechte Bd. 9).
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Da diese Rechtsbestimmungen einander derart gleichen - auf Island fällt zur Freistaatzeit natürlich der Anspruch des Königs auf die Allmende weg - ist anzunehmen, daß sie auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen. Es handelt sich hier vermutlich um die Neuerungen, die das kanonische Recht in bezug auf das alte Strandrecht einführte. Das kann mit Sicherheit erst im Laufe des 13. Jahrhunderts geschehen sein. Für diese Annahme sprechen auch die ersten belegbaren Verträge, die König Magnus IV. Hákonarson mit ausländischen Handelspartnern geschlossen hat. In einem Vertrag vom 12. Juli 1266 (DN VIII, 9) mit König Alexander von Schottland wurde festgelegt, daß die Engländer im Falle eines Schiffbruchs ihre Waren behalten durften; ein ähnliches Abkommen wurde 1269 mit König Henrik III. von England getroffen (DN X I X , 284), und kurz darauf durften auch die Lübecker bei Schiffbruch das Eigentumsrecht an ihren Handelsgütern behalten15. Man kann wohl davon ausgehen, daß zur Freistaatzeit auf Grönland isländisches Landrecht galt16. Das grönländische Frühjahrsthing in Garâar, das im Grœnlendinga Mttr genannt wird, entsprach einem isländischen Viertelsgericht, Grönland kann als eine Art koloniales Landesviertel betrachtet werden. Nirgendwo läßt sich aus dem Recht der Grágás - bei Erbschaftsangelegenheiten, Ächtung u.a. - ableiten, daß die Grönländer anders als die Isländer behandelt worden wären. Auch von Norwegen aus wurden Island und Grönland offenbar als in gewisser Weise zusammengehörig betrachtet. Die FrostoJîingslQg IX, 6 bestimmen z.B., daß jemand, der westlich der Meeresmitte stirbt oder auf Island, unter das dort geltende Erbschaftsrecht fällt, jemand der östlich der Meeresmitte stirbt, wird nach dem Gesetz des Frostothings behandelt. Bei der Zahlung des Landgeldes, zu dem die Isländer in Norwegen verpflichtet sind (Grágás Kap. 248, Ib, S. 197), wird bestimmt, daß Isländer es zwar auf den Shetlandinseln oder Orkaden zahlen müssen, jedoch nicht, wenn sie die Absicht hatten, nach Grönland zu fahren, und nach Norwegen abgetrieben worden sind. Es ist somit zu vermuten, daß die im t>áttr genannten „groenlenzk lçg" eine Übertragung der „islenzk lçg" sind, auch wenn sie keine eigene Niederschrift erfahren haben. Das isländische Recht wurde um 930 - nach dem Zeugnis, das Ari in seiner Islendingabók Kap. 2 (IF I, S. 6f.) gibt - durch Ulfljótr nach dem Muster der GulaJjingslçg ins Land gebracht. Nach Andreas Heusler, der sich hier dem Urteil des isländischen Rechtshistorikers Vilhjálmur Finsen anschließt, haben wir es bei der Grágás vorwiegend mit Recht aus der Zeit zwischen 1150 und 1200
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S. dazu Grethe Authén Blom, Kongemakt og Privilegier i Norge inntil 1387. Oslo 1967, S. 183. S. Jón Dúason, Die koloniale Stellung Grönlands. Göttinger Beiträge für Gegenwartsfragen. Völkerrechtsgeschichte - Internationale Politik Bd. 11, Göttingen 1955 (hrsg. vom Institut für Völkerrecht an der Universität Göttingen).
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zu tun17. Die Grágás enthält mit Sicherheit auch älteres Recht, doch hat sie wie Heusler es formuliert - „allzuwenig Auge für das Gewohnheitsrecht". Die neuesten Erlasse, für die man einen Zeitpunkt post quem feststellen kann, reichen sogar bis fast in die Mitte des 13. Jahrhunderts, in die Zeit, aus der vermutlich die uns vorliegende Fassung der Konungsbók stammt. In Kap. 18 (Ia, S. 36) wird auf Bischof Magnus Gizursson Bezug genommen, und dessen Amtszeit reichte von 1216-1236. Die Bestimmungen der Grágás hinsichtlich der Behandlung von Wrackgut, die so deutlich mit den entsprechenden norwegischen Paragraphen übereinstimmen, können also durchaus erst im Laufe des 13. Jahrhunderts in die Grágás aufgenommen worden sein. Dasselbe gilt sicher auch für die norwegischen Landschaftsrechte. Um 1200 - dieser Zeitpunkt wurde für die Entstehung des ]>áttrs angenommen - galt mit Sicherheit im gesamten Norden noch das alte Strandrecht, das den Erben jegliche Ansprüche auf angeschwemmtes Gut ihrer durch Schifibruch umgekommenen Verwandten versagte. Wie ist nun das historisch einzuordnen, was der Mttr über die Errichtung des grönländischen Bistums aussagt? Der im Mttr genannte Bischof Arnaldr nur der Rufname ist überliefert - ist der erste sicher belegte Bischof für Grönland. Von dem legendären Bischof Eirikr Upsi Gnupsson, der - wie die isländischen Annalen berichten - im Jahre 1121 auf einer Fahrt nach Vinland verschollen sein soll, ist nicht bekannt, ob er jemals in Grönland gewesen ist. Arnaldr wurde im Jahre 1124/25 auf Anordnung des norwegischen Königs Sigurôr Jórsalafari „meó bréfum ok innsiglum" (IF IV, S. 274) nach Lund zu dem Erzbischof Qzurr geschickt, um dort die bischöflichen Weihen zu empfangen. In Norwegen war das damals noch nicht möglich, da das Erzbistum Niôarôss erst 1152/53 gegründet wurde. Gleichzeitig mit dieser Gründung war auch das Eigenkirchenwesen18 in Norwegen zu Ende; die Kirche hatte sich von der 150jährigen Vormundschaft des Königs befreit - sie hatte die freie Bischofswahl und die geistliche Investitur erreicht19. Dieses Eigenkirchenwesen hielt sich auf Island und in Grönland länger. Nach der Bekehrung hatten die Häuptlinge auf ihrem Grund und Boden Kirchen gebaut und betrachteten diese samt Zubehör als ihr Eigentum. Der Eigenkirchenherr forderte das Einkommen der Kirche (den Zehnten), er bestellte und entließ den Geistlichen, der oft auch ein Unfreier war. Grönland hatte Anfang des 12. Jahrhunderts ca. 3500 - 5000 Einwohner20. Laut Grcenlendinga Mttr fühlten sich die Bauern zu dieser Zeit offenbar reich genug, um einen Bischof bestellen zu können. Der ertragreiche
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Andreas Heusler wie Anm. 14, S. XVIIIf. S.W.M. Plöchl, Eigenkirche. In: HRG I (1971), Sp. 879-880. Darüber ausführlich: Grethe Authén Blom in ihrem Buch „Kongemakt..." wie Anm. 15. Christian Keller, Vikings in the West Atlantic. A Model of Norse Greenland Medieval Society. In: Acta Archaeologica 1990 (1992), S. 126-141. Stefan Brink, Den norröna bosättningen pâ Grönland. En kortfattad forskningsöversikt jämte nigra nya forskningsbidrag. In: Scripta Islandica 42 (1991), S. 3-33.
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Hof Garôar wurde zum Bischofssitz bestimmt. Allerdings stellt sich hier die Frage, ob die grönländischen Bauern wirklich wünschten, daß ein Norweger bei ihnen Bischof wurde und nicht einer ihrer eigenen Leute, wie das z.B. bei den Isländern der Fall war. Es könnte sein - hier ist man jedoch auf Vermutungen angewiesen -, daß die Errichtung eines Bistums auf Grönland eher im Zuge der Kirchenplanung als im Interesse der grönländischen Bauern lag.21 Auf Island wurde das erste Bistum (Skálholt) im Jahre 1056 errichtet, 1106 folgte Hólar, 1120 kamen Oslo, Bergen und Nidaróss hinzu und 1152 Hamar, wo interessanterweise eben Arnaldr nach seiner Amtszeit auf Grönland als erster Bischof eingesetzt wurde. Es war die Aufgabe eines Bischofs - festgelegt z.B. im isländischen Christenrecht - , Kirchen zu weihen, Beichten abzunehmen, Kinder zu firmen. Er hatte die Aufsicht über die Priester. Wie das Verhältnis zwischen den grönländischen Grundbesitzern und den Bischöfen war, ist nicht bekannt. Im Grœnlendinga Mttr allerdings wird gesagt, daß Arnaldr von Einarr und dessen Vater Sokki in jeder Hinsicht Unterstützung erfuhr. Als Grönland im Jahre 1261 unter norwegische Herrschaft kam - nach den Angaben der Hákonar saga Hákonarsonar zahlte die Insel von nun an freiwillig Steuern („jjeir hefdi geingid under skatt-gilldi")22, wurde es notwendig, die Kirchenstrukturen zu ändern, denn Grönland hatte mit Sicherheit wie auch Island die alte vorgregorianische Kirchenordnung länger beibehalten als Norwegen. In dieser Zeit hielt sich laut isl. Annalen der grönländische Bischof Oláfr - von 1246-1280 Bischof von Grönland - für eine längere Zeit in Norwegen auf. Er befand sich von 1262-1264 auf Island - gerade zu der Zeit, als Island sich Norwegen unterwarf -, reiste dann nach Norwegen und blieb dort bis 1271. Dort dürfte er mit dem politischen Geschehen jener Zeit vertraut geworden sein. Damals wurde in Norwegen, wie ebenfalls aus der Hákonar saga Hákonarsonar Kap. 100, 281 und 302 hervorgeht23, ein Streit zwischen König und Kirche über die Bischofswahlen ausgetragen. Hákon will die königliche Zustimmung zu einer Bischofswahl als Realität und nicht als bloße Formalität aufrechterhalten. Schon 1224 hatte er den Papst dazu gebracht, einen Erzbisch of nicht anzuerkennen, weil dieser kein Freund des Königs war, und 1260 weigerte sich der König schlicht, den Mann anzuerkennen, den der Erzbischof für Hamar gerade den Ort, den Arnaldr nach seiner Rückkehr aus Grönland 1152 als Bischofssitz erhalten hatte, bestimmt hatte. Ein Brief vom 20.5.1237 ( D N I , 20.21) weist ferner aus, daß Papst Gregor IX. alle Privilegien noch einmal bestätigen mußte, die 1152/53 für die norwegische Kirche festgelegt worden waren. Das deutet auf jeden Fall auf eine diesbezügliche Debatte zwischen König Hákon
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Jette Arneborg, The Roman Church in Norse Greenland. In: Acta Archaeologica 1990 (1992), S. 142-150. Hákonar saga Hákonarsonar. Udg. ved Marina Mündt, Oslo 1977, Kap. 311, S. 189 (Norsk Historisk Kjeldeskrift-Institutt. Norrene Texter nr.2). S. dazu Grethe Authén Blom wie Anm. 15.
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und der Kirche hin, und diese dürfte mit Sicherheit auch Sturla f>ór5arson, dem Verfasser der Hákonarsaga, bekannt gewesen sein. Betrachten wir auf diesem Hintergrund einmal das Bild, das der Erzähler des Grœnlendinga I>áttr von Bischof Arnaldr und den grönländischen Bauern zeichnet. Arnaldr wird vom norwegischen König gegen seinen Willen zum Bischof für Grönland bestimmt. Daß die Kirche hier ein Mitspracherecht hatte, wird nicht erwähnt. Arnaldr hält die Grönländer für schwierig im Umgang („torsóttligt folk"), und er ist wenig begierig („ófúss"), die lange Reise dorthin anzutreten. Seine geistlichen Fähigkeiten werden nur kurz erwähnt; es wird von ihm gesagt, er sei ein „goÖr klerkr ok vel til kennimanns fallinn" (IF IV, S. 274). Der Erzbischof von Lund weiht ihn, weil Arnaldr „vel til tignar fallinn" war. Mit Sasmundr inn fróòi, bei dem Arnaldr auf Island Winterquartier genommen hatte, kam er gut aus; sie ritten zusammen im Sommer darauf auf das isländische Allthing, wo sie auf die beiden ebenfalls von Qzurr geweihten isländischen Bischöfe lOrlákr Runólfsson (am 28.4.1118 zum Bischof von Skálholt geweiht) und Ketill Dorsteinsson (geweiht am 12.2.1122 zum Bischof von Hólar) trafen. Das geht zwar aus dem Mttr nicht hervor, doch bestätigen dies die isländischen Annalen, die aussagen, daß sich im Jahre 1126 drei Bischöfe I>orlákr, Ketill und Arnaldr - auf dem Allthing befanden24. Uber den Grund von Arnalds Thingbesuch lassen sich nur Vermutungen anstellen. Falls Grönland zum isländischen Rechtsbereich gehört hatte, so könnte er sich - wie das die isländischen Bischöfe nach ihrer Ernennung zu tun pflegten - auf dem Allthing vorgestellt haben. Das Wenige, was der I>áttr über des Bischofs Charakter aussagt, ist nicht besonders positiv gezeichnet. Er legt Wert auf Kostbarkeiten („gorsimi"), wie z.B. das schöne Drachenschiff. Das ist allerdings verständlich. Seit 1030 hatten die Grönländer keine eigenen Hochseeschiffe mehr25, und dieses Schiff bot ihm die Möglichkeit, Grönland zu verlassen, wann immer er wollte. Schließlich gab es nur wenige grönländische Bischöfe, die es jemals lange auf der Insel ausgehalten hatten! Arnaldr identifiziert sich mit den Grönländern, weigert sich, das Nachlaßgut herauszugeben oder den Norwegern zu helfen, wird zornig, als er erfährt, daß das Drachenschiff beschädigt worden sei. Er billigt den Totschlag an dem norwegischen Kaufmann Qzurr, wird sogar ausdrücklich als Anstifter bezeichnet, weil er den zögernden Einarr an dessen geleisteten Eid erinnerte. Mit der Totenmesse für Qzurr läßt er sich viel Zeit, speist zuerst einmal ausgiebig zusammen mit den Kirchenbesuchern. Er weigert sich zunächst auch, Qzurr auf dem Friedhof begraben zu lassen. Dazu hatte er als Bischof offenbar das Recht. Das zwischen 1122 und 1133 gesetzte Kirchenrecht der Grágás (genau in diesen Jahren - 1125/26 - hatte sich Arnaldr einen Winter über auf Island aufgehalten)
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abgedruckt in : Óláfur Halldórsson wie Anm. 1, S. 66. Bruce E. Gelsinger, Icelandic Enterprise. Commerce and Economy in the Middle Ages. Univ. of Carolina 1981, S. 98.
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enthält die Bestimmung, daß man eine Leiche nicht bei der Kirche begraben darf, wenn der Bischof dies verweigerte. Daß der Totschlag an Qzurr bei der Kirche begangen worden war, wird im Mttr im übrigen nicht als besonders sträflich hervorgehoben. Nach 1164 waren Bestimmungen in das Christenrecht aufgenommen worden, die solche Totschläge, die in oder bei einer Kirche erfolgt waren, besonders bestraften26. Hier handelt es sich wohl eher um einen Schachzug des Erzählers. Einarr führt den Totschlag zwar aus, verantwortlich dafür ist jedoch der Bischof. Also lag es zumindest auf der Hand, eine räumliche Verbindung zum Bischof herzustellen. Auch für die folgenden Totschläge trifft ihn - vom Erzähler aus gesehen - eine gewisse Verantwortung. Als es zum Vergleich zwischen den Grönländern und den Norwegern kommen sollte, provoziert er die norwegischen Kaufleute noch einmal kräftig, indem er zu Einars Empfang die Kirchenglocken läuten läßt - eine Ehre, die üblicherweise nur dem Bischof selbst zuteil wurde. Dadurch wird die Stimmung natürlich schon im Vorfeld der Verhandlungen aufgeheizt, und der Konflikt kommt dann ja auch bei der ersten Gelegenheit offen zum Ausbruch. Das Bild, das der Erzähler von den Grönländern zeichnet, ist - oberflächlich gesehen - objektiv. Es wird von ihnen durch den Mund des Bischofs gesagt, sie stünden in dem Ruf, ein „torsóttligt folk" zu sein, doch wird das in der Folge durch den Erzähler nicht thematisiert. Einarr empfindet gegenüber dem Bischof Sympathien für das neue Recht - hier kommt der Erzähler selbst durch - ; er tötet den Norweger Qzurr nur deshalb, um nicht eidbrüchig zu werden. Die Grönländer bieten für die Erschlagung Qzurs Buße an, die Norweger lehnen zunächst ab. Nach dem mißglückten Vergleich sind es Grönländer, die zu vermitteln suchten, und schließlich ist es auch ein Grönländer, der zum Friedensschluß rät und den Vergleich zustande bringt. Als einer der norwegischen Kaufleute versucht, die Grönländer bei König Haraldr gilli zu verleumden, fällt er - nachdem der König den wahren Sachverhalt erfahren hat - in Ungnade und verliert kurz darauf sein Leben. Er hatte sich gegen den König gestellt und ist ertrunken. Der Erzähler scheint dies gewissermaßen als gerechte Strafe empfunden zu haben. Obwohl die Grönländer in dem f>áttr als Vertreter des alten Strandrechts auftreten und die Sympathien des Erzählers auf Seiten des neuen Rechts - weniger auf Seiten der norwegischen Kaufleute - zu sein scheinen, so werden sie doch in einem positiven Licht gezeichnet. Auch das Verhältnis zwischen den Grönländern und den norwegischen Königen wird als ungetrübt dargestellt. Die Grönländer brachten dem König typisch grönländische Waren als Geschenke, der König verhalf ihnen zu ihrem Bischof und hörte nicht auf Verleumdungen.
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Grethe Authén Blom wie Anm. 11, S. 99: Frost. II, 10 oder Gui. I, 1.
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Zusammenfassend ist festzustellen: In der bisherigen Forschung wurde angenommen, der I>áttr sei aufgrund mündlicher Berichte Beteiligter gegen 1200 auf Island schriftlich fixiert worden. Verschiedene Kriterien deuten darauf hin, daß eine Verbindung zur Familie der Sturlungen bestehen könnte. Es wird hervorgehoben, daß der f>áttr außerordentlich gut erzählt ist; bei dem Verfasser muß es sich um jemanden handeln, der durchaus mit einem voll entwickelten Sagastil vertraut war. Den beiden letztgenannten Punkten ist zuzustimmen, gegen die Annahme einer so frühen Entstehungszeit des I>áttr jedoch spricht einiges. Es geht in der Erzählung um zwei Rechtsauffassungen, die miteinander in Konflikt geraten. Auf der einen Seite steht das alte Strandrecht, Gewohnheitsrecht seit dem frühen Mittelalter, vertreten durch die Grönländer und ihren Bischof. Auf der anderen Seite versuchen die norwegischen Kaufleute, das nach römischem und danach kanonischem Vorbild entstandene neue Recht, das ihnen bei Schiffbruch ihr Eigentum beläßt, durchzusetzen. Das jedoch ist ein Problem, das erst mit der Einführung dieser neuen Rechtsbestimmungen - nämlich um die Mitte des 13. Jahrhunderts - aktuell werden konnte. Zu derselben Zeit traten in Norwegen auch Auseinandersetzungen zwischen König und Kirche auf. Der alte Investiturstreit flammte neu auf, der König pochte auf sein Mitspracherecht bei der Einsetzung von Bischöfen in seinem Machtbereich. Arnaldr ist vom norwegischen König zum Bischof für Grönland bestimmt worden; die kirchlichen Weihen erhielt er in Lund, ebenfalls auf Anordnung des Königs. Mit Arnaldr wird eine Person dargestellt, die sich mit den alten Rechtsverhältnissen identifiziert, die ihm hier natürlich einen Vorteil bringen. Wenn man die Parteienbildung im Groenlendinga Páttr analysiert, so stehen auf der einen Seite der norwegische König, der von ihm eingesetzte Bischof und die Grönländer, auf der Gegenseite finden sich die norwegischen Kaufleute. Daß der König Mitte des 13. Jahrhunderts den Grönländern Sympathien entgegenbringt, ist an und für sich nicht verwunderlich; haben sie sich doch gerade offenbar freiwillig unter seine Herrschaft begeben. Ihr Ruf, daß sie ein „torsóttligt folk" seien, scheint für den König keine Rolle zu spielen. Auch die sonst nirgendwo belegte Behauptung des t>attr-Erzählers, die Grönländer hätten von sich aus um einen Bischof gebeten, spricht eher für diese Zeit als für das 12. Jahrhundert, wo sie noch selbständig waren. Wer auch immer als Verfasser des Mttr in Betracht kommen könnte - wenn die Bezüge zum Sturlungengeschlecht zutreffen, so könnte man auch Snorris Neffen Sturla ï>ôrôarson ins Auge fassen - , so war es ein Isländer, der mit der Kunst des Sagaschreibens bestens vertraut war und der es verstand, alte mündlich überlieferte Begebenheiten in einen neuen aktuellen Bezug zu bringen. Der I>áttr ist nicht gegen 1200 aufgrund aktueller mündlicher Berichte über Begebenheiten aus den 20er- und 30er-Jahren des 12. Jahrhunderts entstanden, sondern seine Entstehungszeit fällt eher in die Mitte des 13. Jahrhunderts. Probleme dieser Jahre werden auf Ereignisse der Vergangenheit projiziert und veranschaulicht.
Wenn ein König liebeskrank wird: Der Fall Oláfr Haraldsson v o n ANNE HEINRICHS
Die Liebeskrankheit, in den medizinischen Beschreibungen des Mittelalters auch amor hereos genannt, ist eng verbunden mit dem Begriff der courtly love} In den medizinischen Kompendien wird sie zu den Geisteskrankheiten gerechnet und steht der melancholia am nächsten. Parallel zu ihrer Analyse und den Behandlungsanweisungen bestand schon seit der Antike eine literarische Tradition, die das Thema der Liebeskrankheit in Vers und Prosa behandelte. Beide Richtungen, die medizinische und die literarische, beeinflußten sich gegenseitig, verliefen aber auch unabhängig voneinander. Im europäischen Mittelalter etwa ab 1100 erreichten beide einen epochalen Aufschwung. Die Einflüsse der courtly love auf die altnordische Literatur wurden bisher in erster Linie anhand der Skaldensagas mit ihren zahlreich zitierten Liebesstrophen untersucht, und im Zusammenhang mit einer Episode in der Orkneyinga saga ergab sich eine Diskussion über die Möglichkeit einer Abhängigkeit dieser altnordischen Poesie von der altprovenzalischen, die zu keinem Konsens führte (siehe Einarsson 1961; Andersson 1969; von See 1977, 1980; Hofmann 1981, 1982). Aber erst die Verbindung von amor hereos und courtly lave bringt neue Gesichtspunkte zur Interpretation solcher Texte. Anhaltspunkte für den medizinischen Hintergrund der Liebeskrankheit sind die folgenden: (1) Ursache (causa) ist das starke Verlangen des Liebenden nach dem Besitz einer Frau, die ihm unerreichbar ist; (2) Symptome der Krankheit (signa) sind Schlaflosigkeit, Verweigerung von Essen und Trinken, der Wunsch nach Einsamkeit; (3) Heilung (cura) ist in einem frühen Stadium erreichbar, wenn der Patient von einer klugen Person zur Einsicht und damit zum Verzicht gebracht wird; (4) geschieht dies nicht, ist die Prognose Wahnsinn (oder Tod), und damit ist der Wahnsinn zugleich ein Symptom, wie gefährlich weit die Krankheit fortgeschritten ist. Daß ausgerechnet Olaf der Heilige dieser Krankheit verfällt, soll anhand der Texte gezeigt und erklärt werden. In diesen Texten wird Oláfr Haraldsson eine Reihe von Liebesliedern zugeschrieben (siehe Strophen 4, 5, 7, 8, 10, 11 in Jónsson 1912-15, Al:220-23, Bl: Über den medizinischen Aspekt dieses mittelalterlichen Phänomens habe ich zuletzt im Zusammenhang mit einer Interpretation der eddischen Skimismál gehandelt (Heinrichs 1997). Eine umfassende Darstellung gibt Wack 1990.
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210-12). Da die Strophen nur im Zusammenhang mit den Prosatexten behandelt werden, spielt die Frage ihrer Echtheit keine Rolle. Dichtungen dieser Art werden unter dem Gattungsbegriff mansqngr zusammengefaßt (siehe Holtsmark 1963). Philologisch bietet jedoch der Begriff seine Schwierigkeiten. Die erste Silbe man wird einem in christlicher Zeit nur noch poetisch und selten verwendeten Wort mit der ursprünglichen Bedeutung „unfreier Diener, männlich und weiblich" zugeordnet und hat vielleicht seinen pejorativen Beigeschmack nie ganz verloren. Die Silbe sqngr, in mansqngr immer als „Lied" übersetzt, deutet aber allgemeiner auf Singen, Gesang, Musik hin, also mehr auf musikalische Aktivitäten als auf Wort- oder Dichtkunst. Die Bezeichnung findet vorwiegend für den christlichen Gottesdienst Verwendung. Die merkwürdige Zusammensetzung dieser beiden Silben gibt dem Begriff etwas Vages, Unbestimmtes, und tatsächlich kommt er in dieser Zweisilbigkeit auch nur selten vor, und zwar in Texten, die ungefähr um 1200 entstanden sind und dem Begriff etwas Pejoratives zumessen. (1) In der oft zitierten Stelle aus der Grágás heißt es in dem Abschnitt „Vigslóói": „Ef madr yrkir mansöng vm cono oc waròar s cog Gang'' [Wenn einer mansqngr auf eine Frau dichtet, darauf steht Waldgang] (Finsen 1852, 2:184.10-11). Es ist heute kaum verständlich, wenn mansqngr als relativ harmloses Liebeslied aufgefaßt wird, daß darauf die härteste Strafe des isländischen Rechts stehen soll; es findet seine Erklärung durch das Umfeld im Kapitel „Um skáldskap", das hohe Strafen für alle Dichtungen für angemessen hält, die für eine Person niò, d.h. Spott und Hohn enthalten. Dies muß also hinter dem Begriff stehen. Ein Fall, in dem eine Frau, die durch mansqngr gekränkt wurde, Klage gegen einen Dichter erhoben hätte, ist aus der Literatur nicht bekannt. (2) In der Jóns saga belga, die in einer jüngeren und einer älteren Version vorliegt, ist ein weiteres Beispiel von mansqngr anzutreffen. Beide Fassungen schildern in einer ebenfalls schon oft zitierten Episode, wie Jon Qgmundarson, Bischof von Hólar (1106-1121), einen seiner Schüler bei der Ovid-Lektüre überrascht. In der älteren Version (Jónsson 1953, 38) wird sie als Ovids Ars amatoria („Ovidius de arte") bezeichnet, in der jüngeren als „Ovidius epistolarum" (Jónsson 1953, 97).2 Auf jeden Fall handelt es sich um erotische Lektüre, die in der älteren Version so umrissen wird: „En í Jjeiri bók talar meistari Ovidius um kvenna astir ok kennir meá hverjum haetti menn skulu jaa=r gilja ok nálgast Jjeira vilja" [Aber in diesem Buch redet der gelehrte Ovid über die Liebe zu den Frauen und lehrt, auf welche Weise die Männer sie verführen und sich zu Willen machen sollen] (Jónsson 1953, 38). An der entsprechenden Stelle in der jüngeren Version heißt es nur kurz: „I Jjeiri bók byr mansöngr mikill" [In diesem Buch ist starker mansqngr verborgen] (Jónsson 1953, 97). Daraus läßt sich
Genauere Angaben über das Vorhandensein der Werke Ovids in der bischöflichen Bibliothek fehlen; nicht ausgeschlossen wäre Remedia amoris, das oft an die Ars amatoria angebunden war und speziell für die Liebeskrankheit Aufschlüsse enthält.
Wenn ein König liebeskrank wird
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schließen, daß mansçngr nicht die Form der Dichtung, sondern ihren erotischen Inhalt bezeichnet. Natürlich verbietet der Bischof seinem Schüler die Lektüre: der menschliche Trieb zu Sinnengenuß und fleischlicher Liebe solle nicht auch noch durch unzüchtige Dichtungen aufgehitzt werden. 3 Daß für die eigentliche Gattung eine deutlichere Bestimmung nötig war, zeigen die in der Literatur viel häufigeren Komposita, wie mansQngskvœdi (längeres Gedicht), mansQngsvisur (lose Strophen) und mansçngsdrâpa (Preisgedicht). Das Dichten, Vortragen und Hören dieser Gattung gehörte zu den Aktivitäten, die sowohl bei den Gesetzesmachern als auch bei der Kirche Anstoß erregten, weil beide Instanzen dies als Sittenlosigkeit empfanden. Einleitend zur OvidEpisode berichten beide Versionen der Jons saga belga, daß zur Zeit des Bischofs eine Art Gesellschaftsspiel Mode war, bei dem Männer und Frauen Strophen aufeinander dichteten, „schändliche, höhnische Strophen, nicht zum Anhören!" [klaekiligar vísur ok haeáiligar ok óáheyriligar] (Jónsson 1953, 97). Sie werden als mansçngskveeôi oder -vísur bezeichnet, und obwohl der Bischof ihren Vortrag verbot, konnte er nicht viel dagegen ausrichten. U m zu einem Urteil zu gelangen, mußte man sich natürlich solche Vorträge anhören, besonders vor dem Gericht. In dem Abschnitt über skáldskapr heißt es in der Grágás für alle Fälle: „]?ar er madr vili stefna vm scáldscap oc sca\ hann q«eáa íyrir váttoπι sinowz" [Wo jemand um ein Gedicht vorladen will, da soll er es hersagen vor seinen Zeugen] (Finsen 1852, 2:184.16-17; Übers. Heusler 1937,408). Ähnliches würde wohl für eine Klage wegen mansçngr gelten. Als Zeiterscheinung wird auch im Málsháttakvceói der mansçngr angesprochen und halb spöttisch angeprangert. Ich zitiere Str. 20: Astblindir 'ro seggir svá sumir, at ¡Dykkja mjçk fás gá, Q^annig verör of mansçng maelt) marga hefr Jjat hyggna taelt. stef: Ekki var Jíat forôum farald, Finnan gat Jjó œrôan Harald, hçnum (sótti sólbjQrt sú, slíks dœmi verôr mçiigum nú. 0ónsson 1912-15, B2:143) [So liebesblind sind einige Männer, daß sie glauben, sie könnten völlig unbekümmert sein - in der Weise wird von mansçngr gesprochen -, das hat viele Verständige betrogen. Das war in früheren Zeiten keine ansteckende Krankheit, und doch konnte die Finnin den Harald wahnsinnig machen; denn diese erschien ihm sonnenhell; heute geht es vielen so.]
Mansçngr bedeutet auch hier keine Dichtung, sondern zielt auf den Zustand, in dem sich Liebeskranke befinden: sie verlieren den Verstand und werden schließlich wahnsinnig. Das stef, das im Ganzen dreimal erscheint, spielt auf den Zustand an, den Haraldr hárfagri in der Snjófríór-Episode erleben mußte,
In der Snorra Edda heißt es über die Liebesgöttin Freyja: „henne likajji vel mansa/ngr" (Gylfaginning Kap. 24; Jónsson 1931, 31.21); auch hier ist das Erotische an sich gemeint.
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und endet eben mit dem Hinweis, daß es sich in der Zeit des Autors um eine Modekrankheit handelt.4 In das 12. Jahrhundert fällt auch die Jómsvíkingadrápa des Bjarni Kolbeinsson, eines Bischofs auf den Orkney-Inseln. In eine lange narrative Dichtung schiebt der Autor eine persönliche Liebesklage ein (Str. 3), zu der auch das sechsmal eingesetzte stef paßt (Str. 15, 19, 23, 27, 31, 35). In ungewöhnlicher Weise ist dieses jeweils auf die Verszeilen 1, 4, 5 und 8 verteilt und lautet zusammengesetzt: Ein drepr fyr mér allri, itrmanns kona teiti; góÓ aett of kemr grimmu gceòings at mér striöi. (vgl. Jónsson 1912-15, B 2 : l - 1 0 ) [Einzig die Frau eines vornehmen Mannes verschlägt mir alle Freude; die gute Herkunft der hochgestellten Person verschafft mir grimmigen Schmerz.]
Das Thema ist Liebeskummer wegen einer für ihn unerreichbaren Frau. Der Begriff mansöngur wurde im späten Mittelalter auf die isländischen rtmur übertragen, bezieht sich dort inhaltlich aber nur auf den Kehrreim. Die eben gezeigte Verwendung des stef i η Dichtungen mit stofflich anderen Inhalten weist m.E. schon in diese Richtung. Alle diese Beobachtungen deuten darauf hin, daß die Liebesthematik im 12. Jahrhundert eine große Rolle spielte. Für die früheren Jahrhunderte (Wikingerzeit) muß der Nachweis anders geführt werden, da die Skaldensagas ihre besondere Problematik bieten und hier nicht berücksichtigt werden können. In den Konungasögur gibt es eine Reihe von norwegischen Königen, denen ebenfalls mansçngsvisur zugeschrieben werden. In der Forschung wird allgemein angenommen, daß es sich nicht um individuelle historische Dichtungen handelt; sie müssen jedoch in den (eher fiktiven) Lebenszusammenhängen dieser Könige als solche aufgefaßt werden. Neben Oláfr Haraldsson handelt es sich um Haraldr hárfagri (Jónsson 1912-15, Al:5, Bl:5), Haraldr hardráói (Jónsson 1912-15, Al:357-58, Bl:328-29, Str. 3-7), Magnus góói Qónsson 1912-15, Al:330, Bl:304, Str. 2) und Magnús berfcettr Qónsson 1912-15, Al:432-33, Bl:402-3, Str. 3-6). Alle diese Strophen sind in dróttkvcztt verfaßt und oft schwierig zu deuten.5
Die Snjófríár-Episode aus der Biographie des Haraldr hárfagri ist in drei Varianten überliefert: (1) Agrip af Nóregskonungasqgum Kap. 2 - 4 (Driscoll 1995, 4-6), (2) Heimskringla (Haralds saga ins hárfagra Kap. 25; Adalbjarnarson 1941-51, 1:125-27), (3) Flateyjarbók (Vigfússon und Unger 1860-68, 1:582-83). In der letzten Variante werden zwei Strophen zitiert; die erste soll die Anfangsstrophe einer angeblich von Haraldr hárfagri selbst gedichteten S ηjófríáa rdrápa sein, und am Schluß ist in fast unveränderter F o r m das stef aus Málsháttakvieói zitiert. Roberta Frank (1978, 174-77) analysiert zwei Liebesstrophen norwegischer Könige, eine von Oláfr Haraldsson (Jónsson 1912-15, Bl:212, Str. 11) und eine von Magnus berfoettr (Jónsson 1912-15, Bl:403, Str. 6). Russell Poole (1985) befaßt sich mit Strophen von
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Diese Untersuchung befaßt sich nur mit inhaltlichen Hinweisen in den Strophen, soweit sie auf amor hereos deuten, und beschränkt sich, wie schon erwähnt, auf Dichtungen von Oláfr Haraldsson. Im Vordergrund stehen die Episoden, deren Bestandteil sie bilden, und ebenfalls reine Prosa-Episoden, die das Thema der Liebeskrankheit behandeln. Es ist auffällig, daß das gesamte
Thema in Snorris Heimskringla und besonders in seiner Olafs saga belga6 so gut
wie ausgespart bleibt. Es spielt eine wichtige Rolle in den vor- und nachklassischen Werken, nämlich in der Legendarischen Saga, in Styrmirs lifssaga und in den Sammelhandschriften des 14./15. Jahrhunderts. Warum aber gerade die geistlichen Autoren der vorsnorronischen Sagas sich dieses weltlichen Themas annehmen, wird sich bei der Betrachtung der einzelnen Episoden ergeben.7 Oláfrs Verhältnis zu den Frauen und zur Frauenliebe durchzieht sozusagen als Biographie seines privaten Lebens seine öffentliche politische Karriere als König von Norwegen und seine heilsgeschichtliche Laufbahn als Festiger des christlichen Glaubens und als rex sanctus aeternus seines Landes. In der Legendarischen Saga ergibt sich hinsichtlich seines Verhältnisses zu den Frauen folgendes Bild: Schon vor seiner Geburt hatte sich sein Vater, Haraldr grenski, von seiner Mutter, Asta Guòbrandsdóttir, getrennt und sie nach Hause zurückgeschickt. Er wollte eine andere Frau, Sigríár stórrááa, heiraten, wurde aber von ihr abgewiesen und getötet. Die Geburt selbst, die beim Großvater stattfand, verlief unter Schwierigkeiten, und erst unter dem Einfluß eines magischen Gürtels verließ der Kleine den schützenden Mutterleib. Im kindlichen Alter, als er lieber spielen wollte, zieht ihn die Mutter zu ernstlicher Beratung heran, da sie zwischen zwei neuen Freiern zu wählen hat, und er - halb unwillig gegenüber der Aufgabe - trifft die Entscheidung für Sigurôr syr, seinen baldigen Stiefvater. In dem Gespräch zwischen Mutter und Sohn fällt das Wort vergjqrn (mannstoll), bezogen auf Asta, auch für den Leser etwas unklar und nicht gerade passend für die Ohren des Frühreifen, aber vielleicht irgendwie symptomatisch. Bald darauf überläßt sie das Schwert seines Vaters, genannt Biesingr, dem Jungen, und als er zwölfjährig auf Wikingfahrt auszieht, sorgt sie dafür,
Magnus góòi, Magnus berfoettr und Óláfr Haraldsson, indem er aufgrund des dróttkvcettMaterials neue Zuordnungen der Sprecher herstellt. Theodore M. Andersson (1969, 21-24) stellt eine Ubersicht über sämtliche Strophen der altnordischen Liebespoesie her. Inna Matyushina (1997) versucht, in einer Übersicht über mansqngr und skaldische Liebespoesie in Verbindung mit Oláfr helgi auf die magischen und folkloristischen Ursprünge dieser Gattung hinzuführen. Snorri Sturlusons Olafs saga helga ist in doppelter Form überliefert, einmal als Selbständige Óláfs saga helga und einmal als mittlerer Teil der Heimskringla. Styrmirs „Articuli" (in Flateyjarbók, Gks 1005 fol.; Vigfússon und Unger 1860-68, 3:237-48) sowie die Paralleltexte aus den Sammelhandschriften zitiere ich nach Johnsen und Helgason 1941. Während in der Edition Vigfússon und Unger 1860-68 die „Articuli" in 11 Abschnitte gegliedert sind, erforderte die vergleichende Methode in Nordal 1914 und in Johnsen und Helgason 1941 eine größere Differenzierung in 28 Artikel; auf die dortige Numerierung von Styrmirs „Artikeln" beziehen sich meine Angaben im Folgenden.
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daß der Stiefvater ihn standesgemäß ausstattet. Der heutige Leser könnte meinen, daß diese im Freudschen Sinne ödipalen Jugenderfahrungen Óláfrs Verhältnis zu den Frauen geprägt hätten.8 Es ist bezeichnend, daß gerade die erst in Flateyjarbók (1387-1395) verzeichneten „Articuli" des Geistlichen Styrmir Kárason inn fróòi die für meinen Ansatz wichtigen Frauenbeziehungen des späteren Heiligen einbringen und auf diese Weise, wenn auch fragmentarisch, Inhalte einer vorsnorronischen Olafssaga überliefern; denn weitere Kompilatoren der nachklassischen Olafs sçgur helga fanden es wichtig, diese von Snorri vernachlässigte Linie der Olafschen Biographie fortzusetzen. Gleich in Artikel 1 erfahren wir, daß Óláfr in seiner Wikingerperiode eine norwegische Geliebte (pokkakona) namens Steinvçr hatte. Wo, wann und wie sich das Liebesverhältnis gestaltete, bleibt unbekannt. Doch es wird durch Oláfrs Verhalten angedeutet, daß es intensiv war. Weit entfernt von seiner Geliebten, in England nämlich nach der Eroberung Londons (Motiv der Unerreichbarkeit), trifft Óláfr einige norwegische Kaufleute und kommt mit ihnen in ein Gespräch. Er fragt zuerst nach seiner Mutter(!), dann nach seinem Stiefvater und zuletzt, als wäre es mehr zufällig, nach SteinvQr. Nun muß er erfahren, daß sie inzwischen einen Bauern namens t>orvarôr galli geheiratet und nördlich von Staôr in Norwegen ihre Wohnung habe. Óláfr reagiert mit einer mansQngsvisa, in der er bedauert, daß seine Geliebte mit Galli dahinwelken muß. Die Stereotype zu amor hereos, daß die Frau ihm Kummer bereite, lautet hier: „alin erumk bjçrk at bçlvi bands" [die Birke des Bandes, d.h. die Frau, wurde geboren, mir Kummer zu bereiten] (Jónsson 1912-15, B l : 210-11, Str. 4). Stereotyp bzw. formelhaft ist nicht die Wortwahl - ganz im Gegenteil - , sondern die Vorstellung der seelischen Verfassung des Dichters. Artikel 2 bringt wie auch die Legendarische Saga (Heinrichs et al. 1982, 48.6-52.30) die zehn Strophen des Lidsmannaflokkr, und wie in dieser Saga werden sie von Styrmir Óláfr zugeschrieben. Das ist zwar wissenschaftlich unhaltbar, doch in diesem Kontext aussagekräftig.9 Neben Kampfesschilderungen anläßlich der Einnahme Londons durch Knútr inn ríki finden sich mehrere Passagen, in denen Frauen erwähnt sind (Johnsen und Helgason 1941, 684, Str. 3, 5, 7, 8 und 9), und Str. 10 richtet sich zweimal an eine Frau. Aber die Beziehungen des Skalden zu diesen Frauen - sind es zwei oder ist es eine? - bleiben rätselhaft. Zwar gibt es viele dróttkvxtt-Beispiele, in denen Männerkämpfe mit Frauenanreden verbunden sind (siehe Frank 1990), doch im Liòsmannaflokkr
Die Episoden aus Óláfrs Kindheit finden sich in Heinrichs et al. 1982, 3 0 - 4 1 ; siehe auch weitere Ausführungen zum Thema Kindheit in Heinrichs 1989, 74-77, und Kreutzer 1987. Mit dem Liòsmannaflokkr befassen sich Frank (1990, 70-72, wo sie Str. 8 und 10, den zweiten helmingr von Str. 7 und den ersten helmingr von Str. 9 einbringt) und Poole (1990), der den ganzen flokkr mit Ubersetzung voranstellt. Im Gegensatz zu Poole ergibt sich aus meiner Analyse, daß das dichtende Individuum sich im gegebenen Zusammenhang hinter einem Kollektiv verbirgt.
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ist von einer ganz anderen Mischung die Rede: Hier verbanden sich zwei Traditionen, die nach der Meinung Styrmirs und seines Vorgängers auf Oláfr als Verfasser zielten, nämlich seine Teilnahme an der Einnahme Londons und verschlüsselte Hinweise auf eine Liebesbeziehung. Strophe 9 schien die Lösung zu bringen, da sie ofljóst den Namen der schon erwähnten Geliebten verriet; denn GrjótvQr meint SteinvQr, und sie wohnte „nördlich von Stadr". Für Styrmir waren diese Hinweise deutlich genug, wie aus Artikel 3 und 5 hervorgeht; die Legendarische Saga hält sich mit Ausdeutungen zurück; ihrem Autor genügte der Hinweis, daß Oláfr Kampf- und Frauengeschichten in einem flokkr dichterisch verbunden hatte. In Artikel 5 (Johnsen und Helgason 1941, 685-86) erzählt Styrmir, daß Oláfr, als er schon König von Norwegen war, mit Schiffen an Staâr vorbeisegelte, wo t>orvariath mer somer framar at gera gwds uilia ok geyma hans bodorda en ganga fram j ollum hlvtvm epter ravngvm girndum mins likama ok holldzins fvstvm ok uuirwrrens aeggian er jafnan stunckr med sinura falsleguw prettvm at fella oss i uoru uid skipti" [Denn eher geziemt es mir, Gottes Willen zu erfüllen und seine Gebote zu achten, als weiterhin den falschen Begierden meines Leibes und den Lüsten meines Fleisches und Aufreizungen des Teufels zu folgen, der immer bereit ist, uns in unserem Umgang mit Menschen mit falschen Listen zu Fall zu bringen] (Johnsen und Helgason 1941, 696.9-13). An diese fromme Einsicht des Königs schließt sich dann ein langer Kommentar des Kompilators an, in dem dieser sich weitgehend an Styrmirs Kommentar nach dem Liòsmannaflokkr hält. Aus Artikel 3 geht deutlich hervor, daß Styrmir - sozusagen als erster Interpret - den Liòsmannaflokkr gleichsam metaphorisch auffaßt; den mannigfachen Wechsel von Kampf- und Frauenstrophen im flokkr überträgt Styrmir auf Oláfrs weltliche und geistlich-moralische Kämpfe: „sua opt s em hann sigradizst likamliga a winuwz sinum. J)a sigradi hann JJO optar vhreinanw anda i andligri holm goragu" [so oft wie er körperlich über seine Feinde siegte, so besiegte er doch öfter den unreinen Geist im spirituellen Holmgang] (Johnsen und Helgason 1941, 685. 3-5). Die spirituellen Kämpfe gegen den unreinen Geist beziehen sich auf das Faktum, daß Oláfr die Tugend der Keuschheit (castitas) nicht gewahrt hat, sondern dem Laster derfornicatio (Unzucht) durch fleischliche Lüste und Begierden frönte.11 Nach Styrmirs und Bergsbóks geistlicher Betrachtung dienten beide Kampfarten der Erprobung von Oláfrs Tapferkeit (fortitude), die er in beiden Richtungen schließlich glorreich bestand.
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Es wäre zu überlegen, warum der Kompilator die Strophe nicht wörtlich wiedergibt. Eine Möglichkeit wäre, daß er den zweiten Helming nicht verstanden hat, eine andere, daß dieser, wie ich angedeutet habe, tatsächlich sexuelle, eventuell obszöne Umschreibungen enthält. Die Strophe müßte m.E. von einem Skaldikforscher neu überprüft werden. Über die moralische Abwertung von amor hereos durch die Kirche siehe Heinrichs 1997, 22-24.
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In der Steinvçr-Episode mit ihren drei mansçngsvtsur wird durch die Kommentare die ablehnende Haltung der Kirche gegenüber außerehelicher Liebe, ob nun ausgeübt oder in krankhaftem Wahn erstrebt, ganz deutlich. Die drei weiteren mansqngsvisur, die Oláfr zugeschrieben werden (Jónsson 1912-15, Bl:211-12, Str. 8, 10, 11), erscheinen in weniger sinnvoll gestalteten Zusammenhängen. Gleichsam versteckt und fast ganz ohne Begleitprosa findet sich die Ingibjçrg-Strophe (Nr. 8). Aus der letzten Zeile geht ofljóst der Name der Angebeteten hervor: „Gramr ok brattir hamrar" (gramr gleich Ingi und „steile Felsen" gleich bjçrg). So wird die Strophe als Huldigung für Ingibjçrg Finnsdóttir gedeutet; sie war die Schwester Finnr Arnasons, der zu Oláfrs besten Freunden gehörte. Die Strophe spricht von einer plötzlich auftauchenden Leidenschaft, die das für amor hereos eindringlichste Merkmal - die Lichtsymbolik - enthält: „Nser er sem loga braegôe upp or zisu" [Fast ist es, als bräche eine Flamme aus der glühenden Asche hervor]. Diese Liebe, die von den Augen ausgeht, führt dazu, daß dem Betroffenen die Sprache versagt: „In kurzer Zeit hat Ingibjçrg mich fast ganz der Sprache beraubt" [Mik haevir gramr ok bratter hamrar mest svikit male a skammu fraeste] (Heinrichs et al. 1982, 135.23-24). Und doch bleibt die Leidenschaft biographisch und literarisch folgenlos. Die Strophe ist in der Legendarischen Saga in ein merkwürdiges Umfeld eingeordnet (132,26-138,23). Es zeigt den König im Kreise seiner Hofskalden, durchweg in fröhlicher Stimmung, als Dichter unter Dichtern. Aber dies lose Bündel von acht drôttkvœtt-Strophen mit spärlicher Begleitprosa ist weder räumlich noch zeitlich zu einem Ganzen geordnet worden; nur der Bezug auf den König ist ihnen gemeinsam.12 An die Ingibjçrg-Strophe schließt sich ein Wechselgesang an: Ein Skalde - Ottarr svarti in der Legendarischen Saga, Sighvatr t>óròarson bei Styrmir (Artikel 8) - erzählt, wie er die Ehefrau eines gewissen Karli auf Island verführt habe, und der König äußert sich amüsiert zu diesem Sachverhalt. Auch Styrmir sieht den thematischen Zusammenhang mit der Ingibjçrg-Strophe und läßt sie dem Karli-Wechsel folgen (Artikel 9). Nur Tómasskinna übernimmt diese Tradition, und zwar in gleicher Reihenfolge wie Styrmir. Und so verklingt ein schönes Lied. Auch Str. 10 und 11 haben nur wenig Begleitprosa und nehmen sich in der Großen Olafs saga helga in Flateyjarbók recht verloren aus (Vigfússon und Unger 1860-68, 2:341; Johnsen und Helgason 1941, 820, no. 72). Sie sind paarweise angeordnet, und Str. 11 ist überhaupt nur hier überliefert. Poole (1985, 118-25) hat sehr schön gezeigt, wie sie formal und inhaltlich einander zugeordnet werden können. Sie haben mit ihren Assoziationen auf Bäume, Blätter, Blüten und das in jedem Frühling erwachende Grün einen fast bukolischen Hintergrund; aber das lyrische Ich, das in Str. 10 direkt erscheint und
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Das Strophenbündel der Legendarischen Saga wurde in der weiteren Überlieferung aufgelöst. Teile gab es auch bruchstückhaft in der Ältesten Saga. Styrmir versuchte dann, einzelne Strophen und Wechsellieder in einen sinnvolleren Zusammenhang zu bringen.
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sich quasi auf Str. 11 überträgt, ein schöner junger Mann, fühlt umsomehr seinen Liebesschmerz, als er die Frau davonreiten sieht: „Oss lét ynáis missa augfçgr kona" [Die schönäugige Frau ließ mich Freude vermissen, hat mir Kummer bereitet] (Jónsson 1912-15, Bl:212, Str. 10.3-4). Für ihn ist ihre Schönheit plötzlich verblichen: „nú hefir bekkjar tré bliknat brátt Mardallar grati" [Nun ist die Frau plötzlich bleich geworden durch die Tränen der Mardçll] (Str. 11.5-6). Der Ausdruck „Tränen der Mardçll" (gleich Freyja) ist eine Kenning für „Gold". Durch das Gold ihres Schmuckes - für ihn ein trauriger Anblick, das Zeichen ihrer Entfremdung - ist in seinen Augen ihre natürliche Schönheit verschwunden (siehe auch die ausführliche Interpretation dieser Strophe in Frank 1978, 174-77). So verstanden, bekommt die Einordnung in Flateyjarbók doch einen Sinn. Aus der Begleitprosa ergibt sich, daß Oláfr seinen mansQngr auf Ingigerár, Prinzessin aus Schweden, Königin in Kiew, seine ehemalige Verlobte, bezieht. Der Kompilator wird diesen Hinweis aus den (von ihm so gelesenen) Anklängen an Rußland (Garáaríki) entnommen haben: „Gefn ór GarcSi" (Str. 10.5) - die Göttin aus Rußland - , und es heißt: die Dame besitzt „j