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German Pages 576 [568] Year 2005
Festschrift für Hans Dahs
FESTSCHRIFT FÜR
HANS DAHS herausgegeben von
GUNTER WIDMAIER HEIKO LESCH BERND MOSSIG ROCHUS WALLAU
2005
oUs
Verlag
Dr.OttoSchmidt Köln
Vorwort Hans Dahs, der große Strafverteidiger und mitreißende Rhetoriker, gesegnet mit der seltenen Gabe des Humors, ist ein eher scheuer Mensch. Im Mittelpunkt zu stehen, als Jubilar gefeiert zu werden, ist eine Rolle, die er sich nicht freiwillig aussuchen würde. Die Laudatores hoffen dennoch auf freundlich-wohlwollende Entgegennahme ihrer Huldigungen. Mit dieser Festschrift wollen sie ihm zu seinem 70. Geburtstag eine Ehrung erweisen und ihm Freude bereiten. Die Ehrenbezeichnung „Doyen der deutschen Strafverteidiger“ ist im Hause Dahs erblich. Den Weg des Vaters, Hans Dahs sen., hat Hans Dahs jun. in gleicher Höhe fortgeführt und das gemeinsame Lebenswerk zur Vollendung gebracht. Im Jahr 1972, dem Todesjahr des Vaters, erschien die gemeinsam verfaßte 1. Auflage des inzwischen zum Standardwerk gewordenen Handbuchs über „Die Revision im Strafprozeß“. Heute liegt es in 6. Auflage vor. Das von Hans Dahs sen. anläßlich seines 40-jährigen Berufsjubiläums im Jahr 1969 veröffentlichte „Handbuch des Strafverteidigers“ führte Hans Dahs jun. bis heute zur 7. Auflage 2005 weiter und verfestigte den unangefochtenen Rang dieses Werkes über die Kunst der Strafverteidigung. Wegweisend ist auch seine Kommentierung zu den Vorschriften über den Zeugen in den §§ 48 bis 71 StPO im Großkommentar von Löwe-Rosenberg. Daneben hat Hans Dahs eine Vielzahl wissenschaftlicher Abhandlungen im Straf- und Strafprozeßrecht veröffentlicht, die gleichermaßen seine wissenschaftliche Gestaltungskraft und seine immensen Berufserfahrungen als Strafverteidiger zum Ausdruck bringen. Seine großen pädagogischen Fähigkeiten bewies er in jahrzehntelanger Lehrtätigkeit an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Im Jahr 1983 wurde er zum Honorarprofessor für Straf- und Strafprozeßrecht ernannt. Zugleich hat er in der Anwaltsfortbildung seinen jungen Berufskollegen in unvergeßlicher Weise fachliches Können und berufliches Ethos vermittelt. Seine brillante Rhetorik und die Kunst, aus dem Stegreif wissenschaftlich druckreif zu formulieren, sichern ihm in jeder Diskussion die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Mitstreiter, Zuhörer und Kontrahenten. Seine umfassenden Kenntnisse und Fähigkeiten brachte Hans Dahs – wiederum in Nachfolge seines Vaters – in den Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer ein, dem er von 1976 bis 2003 als Mitglied angehörte und den er von 1991 bis 1994 als Vorsitzender leitete. Sein rastloses Engagement für ein rechtsstaatlich faires Strafverfahren wirkt fort. Viele Gäste und Mitglieder des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer bezeugen mit tiefem Respekt ihren Dank durch Beiträge in dieser Festschrift. In den 41 Jahren der Anwaltstätigkeit von Hans Dahs hat sich unter dem Einfluß gesetzlicher und gesellschaftlicher Fortentwicklungen das Bild des V
Vorwort
Strafverteidigers und mancher Grundsatz der Strafverteidigung sehr gewandelt. Über alle Veränderungen hinweg verkörpert Hans Dahs in seinem persönlichen Stil, der absolute Seriosität und souveränes fachliches Können mit nobler Menschlichkeit verbindet, ein Leitbild des Berufsstandes. In Bewunderung und Ehrfurcht vor dieser Lebensleistung widmen seine Freunde dem Jubilar diese Festschrift und wünschen ihm ein langes und weiterhin erfülltes (Berufs-)Leben. November 2005
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Die Herausgeber
Inhalt Seite
Vorwort .......................................................................................................
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I. Ethik und Beruf des Strafverteidigers ECKHART MÜLLER Berufsfreiheit und Freiheit des Berufs – Der Strafverteidiger als Organ der Rechtspflege ......................................................................
3
MATTHIAS WEIHRAUCH Strafverteidigung und Berufsrecht – Fragmentarische Überlegungen zu einer Ethik der Strafverteidigung ......................................................
19
RAINER ZACZYK Über Theorie und Praxis im Recht ........................................................
33
II. Materielles Strafrecht GÜNTHER JAKOBS Bemerkungen zur subjektiven Tatseite der Untreue ............................
49
URS KINDHÄUSER Zur Vermögensverschiebung beim Betrug .............................................
65
HEIKO LESCH Die Notwehr ............................................................................................
81
BERND MÜSSIG Normativierung der Mordmerkmale durch den Bundesgerichtshof? Kriterien der Tatverantwortung bzw. Tatveranlassung als Interpretationsmuster für die Mordmerkmale .................................
117
HANS-ULLRICH PAEFFGEN Anmerkungen zum Beschluß des VerfGH Rheinland-Pfalz in der Causa Böhr. Ein Gericht verirrt sich – und zwei Generalstaatsanwälte rennen hinterher .......................................................................
143
INGEBORG PUPPE Der Versuch des mittelbaren Täters ......................................................
173
HARTMUT SCHNEIDER Zur Annahme von Tötungsvorsatz bei Abgabe von Schüssen auf Menschen ..........................................................................................
189 VII
Inhalt
III. Strafverfahrensrecht WERNER BEULKE Die unbenannten Auflagen und Weisungen des § 153a StPO ..............
209
REINHARD BÖTTCHER Reform des Ermittlungsverfahrens – Vorbild Österreich? ....................
229
KARL-HEINZ GROSS Zur Notwendigkeit des strafrechtlichen Anfangsverdachts – Keine falschen Umkehrschlüsse aus § 152 Abs. 2 StPO .......................
249
RAINER HAMM Rechtsgespräch oder Urteilsabsprachen? – Der Deal erreicht die Revision – .........................................................
267
ALEXANDER IGNOR Eigene Sachentscheidungen des Revisionsgerichts. Ein kritischer Überblick über die alte und neue Rechtslage unter besonderer Berücksichtigung der sog. Schuldspruchberichtigungen ...
281
THOMAS C. KNIERIM Entfällt das Richterprivileg für die Tatsachenfeststellung? ..................
313
DANIEL M. KRAUSE Die Befugnis zur Entbindung von der beruflichen Verschwiegenheitspflicht bei Mandatsverhältnissen juristischer Personen mit Wirtschaftsprüfern (§ 53 Abs. 1 Ziff. 3, Abs. 2 StPO) ............................
349
VOLKMAR MEHLE Die „Relativierung“ der absoluten Revisionsgründe – vom Niedergang der Formenstrenge ......................................................
381
HANS-JÖRG ODENTHAL Verteidigung wider vollstreckungssichernde Vermögensabschöpfung .............................................................................................
405
PETER RIESS Einige Bemerkungen über das sog. Adhäsionsverfahren .......................
425
GERHARD SCHÄFER Die Einlassung zur Sache durch den Verteidiger ...................................
441
REINHOLD SCHLOTHAUER Darf, sollte, muß sich ein Zeuge auf seine Vernehmung in der Hauptverhandlung vorbereiten? .............................................................
457
VIII
Inhalt
LOTHAR SENGE Die Entscheidung des Revisionsgerichts nach § 354 Abs. 1a und Abs. 1b StPO ....................................................................................
475
KLAUS VOLK Konfliktverteidigung, Konsensualverteidigung und die Strafrechtsdogmatik ..................................................................
495
ROCHUS WALLAU Rechtsschutz gegen die Akteneinsicht des ”Verletzten“ .....................
509
ANNE WEHNERT Deutsches und Europäisches Strafrecht – Fragen und Widersprüche – ..................................................................
523
GUNTER WIDMAIER Zum Zeugnisverweigerungsrecht der Berufsgeheimnisträger Grenzen und Grenzüberschreitungen ....................................................
543
Verzeichnis der Schriften von Hans Dahs .................................................
553
Autorenverzeichnis ....................................................................................
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IX
Eckhart Müller
Berufsfreiheit und Freiheit des Berufs – Der Strafverteidiger als Organ der Rechtspflege* Inhaltsübersicht I. Geschichtliche Entwicklung 1. Ehrengerichtshof für Rechtsanwälte und Reichsgericht 2. „Organ der Rechtspflege“ im Dritten Reich und der DDR 3. Bundesgerichtshof 4. Bundesverfassungsgericht
II. Der Strafverteidiger als Organ der Rechtspflege 1. Theorienstreit 2. Verteidigerausschluss 3. Überprüfung mitgeteilter Tatsachen 4. Geldwäscheentscheidung III. Hans Dahs und das Organ der Rechtspflege
* In seinem „Handbuch des Strafverteidigers“ gibt der Jubilar Erfahrungen, Einsichten und Überzeugungen weiter, die er in mehr als 30 Jahren Strafverteidigung gewonnen hat. Ein zentrales Thema war für ihn die innere Auseinandersetzung des Rechtsanwalts „mit seinem natürlichen Erfolgsstreben einerseits und dem ethischen Postulat seines Berufes andererseits.“1 Die Frage nach dem rechtlichen Inhalt der Stellung des Rechtsanwalts als „Organ der Rechtspflege“ ist „Gegenstand einer wohl nie endenden Diskussion.“2 Eine Konkretisierung kann jedoch insbesondere der Rechtsprechung des BVerfG entnommen werden, die dem Begriff „Organ der Rechtspflege“ im Laufe der Jahre eine freiheitliche Dimension vermittelt hat. Die anwaltliche Berufsausübung unterliegt unter der Herrschaft des Grundgesetzes der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des einzelnen Anwalts3. Der Rechtsanwalt übt keinen staatlich gebundenen Vertrauensberuf aus und hat keine beamtenähnlichen Treuepflichten4. Die Organstellung ist kein Einfallstor für die Beschneidung seiner Rechte5. Der Begriff „Organ der Rechtspflege“ umschreibt vielmehr gerade die Staatsferne des Anwalts und seine Kontrollbefugnis zugunsten des Mandanten6.
__________ * 1 2 3 4 5 6
Für die engagierte Mitarbeit von Rechtsreferendar Dr. S. Erik Buhlmann bei der Abfassung dieses Beitrages danke ich herzlich. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 6. Auflage, 1999, Einführung, S. 1. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rz. 11. BVerfG NJW 1988, 191 (192). Vgl. BVerfG NJW 1983, 1535 (1536). Vgl. BVerfGE 63, 266 (285); Beulke, Strafprozessrecht, 7. Auflage, 2004, Rz. 150. Vgl. Jaeger, Rechtsanwälte als Organ der Rechtspflege – Notwendig oder überflüssig? Bürde oder Schutz?, NJW 2004, S. 6.
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Eckhart Müller
I. Geschichtliche Entwicklung Diesem heutigen Verständnis liegt jedoch ein langer Prozess zugrunde. Zwar unterliegt nach dem Leitbild der RAO7 und der BRAO die anwaltliche Berufsausübung bereits seit 1878 der freien unreglementierten Selbstbestimmung des einzelnen Rechtsanwalts. Dennoch benutzte die Rechtsprechung den Begriff „Organ der Rechtspflege“ zunächst gerade für das Gegenteil, nämlich um dem Rechtsanwalt Schranken aufzuerlegen. 1. Ehrengerichtshof für Rechtsanwälte und Reichsgericht Der Ehrengerichtshof für Rechtsanwälte, der die Formulierung „Organ der Rechtspflege“ erstmals 1893 verwendete8, leitete daraus keinerlei besondere Rechte für den Rechtsanwalt ab, sondern gebrauchte den Begriff im Gegenteil nur im Zusammenhang mit Zuwiderhandlungen gegen anwaltliche Pflichten. Mit Hilfe dieses Begriffes wurden Verfehlungen des Anwalts verdeutlicht, um standesrechtliche Verstöße besser ahnden zu können. Besonders augenscheinlich wird dies im Urteil vom 8. Juni 18989: „… so ist ausschlaggebend schon die berechtigte Erwägung, daß es dem Rechtsanwalt als einem Organ der Rechtspflege nicht ansteht, in Ausübung seines Berufes selbsttätige Hilfe zu leisten zu dem Zweck, von Amts wegen zu verfolgende Verbrechen, zumal er von deren Begehung, wie im vorliegenden Fall geständlich überzeugt ist, den gesetzlichen Ahndungen zu entziehen …“
sowie der Entscheidung vom 17. Dezember 191010: „Eine schwere Verfehlung des Angeklagten liegt hierin aus dem Grunde, weil der Rechtsanwalt als Organ der öffentlichen Rechtspflege nicht befugt ist, eine Prozesshandlung aus Rücksichten vorzunehmen oder zu unterlassen, die ausschließlich in seinem Verhältnis zur Person des Gegenanwalts liegen und namentlich, wie vorliegend, nur den Zweck haben, der Person des Gegenanwalts Schaden zuzufügen“11,
und vom 28. September 192912: „Besonders erscheint es als eine Pflichtverletzung, daß er, als Rechtsanwalt selbst ein Organ der Rechtspflege, es über sich gebracht hat, ein derartiges Urteil über die Justiz im allgemeinen hier öffentlich im Gerichtssaal vor unbestimmt welchen Zuhörern auszusprechen.“13
__________ 7 Vgl. dazu im Einzelnen Müller, Der Rechtsanwalt als „Organ der Rechtspflege“ – Vom Instrument der Disziplinierung zum Argument gegen die Deregulierung, BRAK-Mitteilung 3/2004, Festschrift zum 125-jährigen Bestehen der Rechtsanwaltskammer für den OLG-Bezirk München, S. 64, 65. 8 Vgl. EGH, Band I, 140 ff. 9 EGH, Band IX, 212 (214). 10 EGH, Band XV, 128 ff. 11 EGH, Band XV, 128 (130). 12 EGH, Band XXIII, 121 ff. 13 EGH, Band XXIII, 121 (122).
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Der Strafverteidiger als Organ der Rechtspflege
Der Verteidiger hatte angekündigt, bei einer von seiner eigenen Beurteilung der Rechtslage abweichenden Entscheidung würde er den letzten Rest seines – sowieso nicht mehr großen – Vertrauens in die Justiz verlieren14. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts führte diese disziplinierende Begriffsverwendung fort und verwendete sie, um die Rechte des Anwalts einzuschränken, insbesondere um den damals gesetzlich nicht vorgesehenen Ausschluss des Verteidigers vom Verfahren zu begründen15. Das Reichsgericht war „der Auffassung, dass der Verteidiger neben dem Gericht und der Staatsanwaltschaft ein gleichberechtigtes Organ der Rechtspflege ist. Diese Auffassung muss notwendig dazu führen, an die Tätigkeit des Verteidigers einen strengeren Maßstab anzulegen, als wenn man ihn lediglich als einen Helfer des Angeklagten betrachten würde“.16
Den Verteidiger treffe daher eine Pflicht „zur unbefangenen…Beurteilung der Sachlage“.17
Mit dieser Begründung konnten Verteidiger, die im Verdacht der Teilnahme und Begünstigung standen oder nur als Belastungszeugen in Betracht kamen, ohne weitere gesetzliche Grundlage vom Verfahren ausgeschlossen werden. 2. „Organ der Rechtspflege“ im Dritten Reich und der DDR Die durch politische Herrschaft geformten Rechtsordnungen des Dritten Reiches18 und der DDR19 machten sich in der Folgezeit das Begriffsverständnis des Reichsgerichts zu Eigen. In beiden Rechtsordnungen wird der Rechtsanwalt als „Organ der Rechtspflege“20, in der DDR zudem als „gesellschaftliche Einrichtung der sozialistischen Rechtspflege“21 bezeichnet. Von den Rechtsanwälten wurde eine aktive Betätigung und ein entschlossenes Engagement für die von der Staatsführung propagierten Ziele sowie eine an diesen Zielen orientierte Verteidigung verlangt.
__________ 14 15 16 17 18
Vgl. EGH, Band XXIII, 121. Vgl. RG JW 1926, 2756 ff.; 1929, 568 f. RG JW 1926, 2756. RG JW 1929, 568. Vgl. dazu ausführlich Knapp, Der Verteidiger – Ein Organ der Rechtspflege?, 1974, S. 49–69. 19 Vgl. dazu ausführlich Knapp, S. 71–83. 20 Für die DDR vgl. insb. die Präambel der VO über die Bildung von Kollegien der Rechtsanwälte vom 15. 5. 1953 – vgl. NJ 1956, 213; für das Dritte Reich sind die Richtlinien für das Strafverfahren hervorzuheben, insb. Nr. 50, S. 20, vgl. AV d. RMdJ v. 13. 4. 1935 – Amtliche Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz, Nr. 7. 21 Rechtspflegeerlass, Zweiter Teil, 6. Abschnitt – Erlass des Staatsrates der DDR über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege v. 4. 4. 1963, GBl. I, S. 21.
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Eckhart Müller
3. Bundesgerichtshof Auch der BGH, der den Begriff „Organ der Rechtspflege“ erstmals in seiner Entscheidung vom 15. 2. 195622 gebrauchte, knüpfte an die Begriffsbestimmung des Reichsgerichts an und machte die Charakterisierung des Rechtsanwalts als „Organ der Rechtspflege“ zur Grundlage zahlreicher für den Anwalt nachteiliger Entscheidungen23. So heißt es z. B. in BGHSt 9, 20 ff. zur Frage des Verteidigerausschlusses: „Der Verteidiger ist nicht nur Vertreter des Angeklagten; er ist vielmehr ein mit besonderen Befugnissen ausgestattetes Organ der Rechtspflege … Entsprechend dieser ihm vom Gesetz eingeräumten Stellung hat er sein Verhalten einzurichten“.24
Seiner Tätigkeit seien daher insofern Grenzen gesetzt, „als er sich in keinem Fall der Wahrheitserforschung hindernd in der Weg stellen darf. Die Gefahr, dass er dieser Verpflichtung zuwiderhandelt, ist unabweislich gegeben, wenn er den von ihm vertretenen Angeklagten in der Form der Teilnahme oder der Begünstigung unterstützt hat“.25
Es sei daher „mit der Würde des Gerichts unvereinbar, dass ein Rechtsanwalt als „Organ der Rechtspflege“ auftritt und die ihm als Verteidiger zustehenden Rechte ausübt, der an sich neben den von ihm vertretenen Angeklagten gehört“,26
In BGHSt 15, 326 ff. wird zum Verteidigerausschluss ausgeführt: Die Charakterisierung des Anwalts als unabhängiges Organ der Rechtspflege „schließt Einfluss und Weisungen verfahrensfremder…Stellen an den Strafverteidiger aus, deren Befolgung den Beschuldigten, mit oder ohne sein Einverständnis, entgegen den Grundregeln des Strafverfahrens zum bloßen Spielball fremder…Interessen machen würde“.27
Diese disziplinierende Rechtsprechung wurde von den Instanzgerichten sogar dahingehend ausgeweitet, dass der Rechtsanwalt Fehler von Gericht und Staatsanwaltschaft auch gegen die Interessen seines Mandanten zu berichtigen hat und sich bei Verletzung dieser Pflicht schadensersatzpflichtig machen kann28. Der BGH führt zu diesem Problemkreis aus, dass der Verteidiger als unabhängiges Organ der Rechtspflege
__________ 22 23 24 25 26 27 28
6
Vgl. BGHSt 9, 20 ff. Vgl. dazu ausführlich Knapp, S. 94 ff. BGHSt 9, 20 (22). Ebda. Ebda. BGHSt 15, 326 (328). Vgl. z. B. LG Göttingen AnwBl. 1966, 405 f.; vgl. dazu Dahs, AnwBl. 1966, S. 371 ff.
Der Strafverteidiger als Organ der Rechtspflege „nach Kräften dazu beitragen soll, dass für den Beschuldigten sich ungünstig auswirkende Irrtümer des Gerichts vermieden werden“.29
Bis zuletzt hat der BGH sein für den Rechtsanwalt nachteiliges Begriffsverständnis aufrechterhalten. Noch in seinem – vom BVerfG nicht geteilten30 – Urteil vom 4. Juli 2001 begründet er die Strafbarkeit des Verteidigers gem. § 261 StGB, der Honorar annimmt, welches aus einer Katalogtat des § 261 I 2 StGB stammt u. a. mit folgender Erwägung: „Das durch Art. 12 I GG geschützte Recht des Rechtsanwalts, sich anwaltlich auf dem Gebiet der Strafverteidigung zu bewegen, ist nicht berührt. (…) Zudem liegt hier ein Eingriff schon deshalb nicht vor, weil es dem Berufsbild des Strafverteidigers nicht entspricht, Honorar entgegenzunehmen, von dem er weiß, dass es aus schwerwiegenden Straftaten herrührt. Dies folgt aus der Stellung des Verteidigers als Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) …“31
4. Bundesverfassungsgericht Auch das BVerfG tendierte anfangs zu einer amtsähnlichen Stellung des Rechtsanwalts. So formuliert es in einer Entscheidung aus dem Jahr 1974: „Nach § 1 BRAO ist der Rechtsanwalt ein unabhängiges Organ der Rechtspflege. Sein Beruf ist ein staatlich gebundener Vertrauensberuf, der ihm eine auf Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtete amtsähnliche Stellung zuweist“.32
Diese Rechtsprechung hat das BVerfG allerdings aufgegeben und dem Begriff des „Organs der Rechtspflege“ im Laufe der Zeit eine freiheitliche Dimension vermittelt. Den Grundstein für diesen Verständniswandel hat das BVerfG bereits in den sechziger Jahren gelegt, indem es ausführte: „Nach § 1 BRAO ist der Rechtsanwalt ein unabhängiges Organ der Rechtspflege und nach § 3 Abs. 1 der berufene unabhängige Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten. Diese Bestimmungen enthalten aber keinen Eingriffstatbestand für den Fall, dass ein Anwalt ihrem Leitbild nicht entspricht“.33
Als eine der wichtigsten in der folgenden Zeit ergangenen Entscheidungen verdient BVerfGE 63, 266 ff. besondere Aufmerksamkeit: „Die Herauslösung des Anwaltsberufs aus beamtenähnlichen Bindungen und seine Anerkennung als ein vom Staat unabhängiger freier Beruf kann als ein wesentliches Element des Bemühens um rechtsstaatliche Begrenzung der staatlichen Macht angesehen werden, das der Verfassungsgeber vorgefunden und in seinen Willen aufgenommen hat. Es entspricht dem Rechtsstaatsgedanken und dient der Rechtspflege, dass
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BGH MDR 1965, 26 (27). Vgl. unten Fn. 77. BGHSt 47, 69 (73 f.). BVerfGE 38, 105 (119) = NJW 1975, 103 (105). BVerfG NJW 1967, 2051 (2052); BVerfG NJW 1973, 696.
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Eckhart Müller dem Bürger … Rechtskundige zur Verfügung stehen … die seine Interessen möglichst frei und unabhängig von staatlicher Einflussnahme ausüben können“.34
Aus dem geltenden Recht lasse sich nichts dafür herleiten, dass der Anwalt „entgegen der rechtsstaatlichen Tradition der freien Advokatur an die Staatsorganisation herangeführt, beamtenähnlichen Treuepflichten unterworfen oder berufsrechtlich der Stellung von Richtern und Staatsanwälten angeglichen werden sollte“.35
Im Gegenteil: „Die…Anerkennung als Organ der Rechtspflege bringt zum Ausdruck, dass im freiheitlichen Rechtsstaat die Rechtsanwälte als berufene Berater und Vertreter der Rechtssuchenden neben Richtern und Staatsanwälten eine eigenständige wichtige Funktion im „Kampf um das Recht“ ausüben und dass ihnen deshalb weitergehende Befugnisse … als ihren Mandanten zukommen“.36
Neben den zahlreichen weiteren Entscheidungen, die die Auffassung des BVerfG von einer freien Advokatur bestätigen37, ist auch der Beschluss vom 14. 7. 198738 hervorzuheben. Denn neben der Bestätigung, dass grundsätzlich „die durch den Grundsatz der freien Advokatur gekennzeichnete anwaltliche Berufsausübung unter der Herrschaft des Grundgesetzes der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des einzelnen“39
Anwalts unterliegt, enthält die Entscheidung eine Präzisierung der mit dem Begriff „Organ der Rechtspflege“ verbundenen Eigenschaften: „Als unabhängiges Organ der Rechtspflege und als berufener Berater und Vertreter der Rechtssuchenden hat er (der Rechtsanwalt: der Verfasser) die Aufgabe, zum Finden einer sachgerechten Entscheidung beizutragen, das Gericht – und ebenso Staatsanwaltschaft und oder Behörden – vor Fehlentscheidungen zulasten seines Mandanten zu bewahren und diesen vor verfassungswidriger Beeinträchtigung oder staatlicher Machtüberschreitung zu sichern; insbesondere soll er die rechtsunkundige Partei vor der Gefahr des Rechtsverlustes schützen“.40
Dabei darf der Anwalt insbesondere „auch starke, eindringliche Ausdrücke…gebrauchen, Urteilsschelte üben oder „ad personam“ argumentieren“.41
Reglementierungen in diesem Bereich können grundsätzlich
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BVerfGE 63, 266 (283 f.) = NJW 1983, 1535 (1536). BVerfGE 63, 266 (285) = NJW 1983, 1535 (1536). BVerfGE 63, 266 (284) = NJW 1983, 1535 (1536). Vgl. insb. BVerfG NJW 1993, 317; NJW 1996, 709; NJW 1996, 3267; NJW 2003, 3263. BVerfGE 76, 171 ff. = NJW 1988, 191 ff. BVerfGE 76, 171 (188) = NJW 1988, 191 (192). BVerfGE 76, 171 (192) = NJW 1988, 191 (193). BVerfGE 76, 171 (193) = NJW 1988, 191 (193).
Der Strafverteidiger als Organ der Rechtspflege „nicht Sache der Standesorganisation für einen Beruf sein, zu dessen Aufgaben gerade das Äußern von Meinungen gehört und für den Wort und Schrift die wichtigsten ‚Berufswaffen’ sind42.
Eingriffe in die anwaltliche Berufsfreiheit seien daher einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen. Die Erforderlichkeit des Eingriffs muss kumulativ im Interesse des Rechtsstaates und des Mandanten bestehen. Zurückzustehen haben lediglich mit rechtsstaatlichen Zielen unvereinbare Mandanteninteressen, insbesondere die bewusste Verbreitung von Unwahrheiten und – nicht durch die Wahrnehmung berechtigter Interessen gedeckte – strafbare Beleidigungen43. Diese Entscheidung hat eine weitere Abkehr von der bis dahin eher objektivrechtlichen Beurteilung der Organfunktion44 bewirkt. Seitdem wird die subjektive Funktion des Verteidigers als Beistand seines Mandanten stärker betont45. Als weiterer Meilenstein der Entwicklung ist schließlich die Entscheidung BVerfG NJW 2003, 2520 zu nennen, mit der die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte weiter gestärkt wurde. Das BVerfG hatte sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob für eine Kanzlei die Verpflichtung zur Mandatsniederlegung besteht, wenn sie einen Rechtsanwalt anstellt, der zuvor bei einer anderen Kanzlei beschäftigt war, die in Bezug auf die fraglichen Mandate die Gegenseite vertritt. Im Kern ging es somit um die Frage, ob bereits ein abstrakter Interessenskonflikt ausreicht, um dem Anwalt die erforderliche Unabhängigkeit abzuerkennen. Dies hat das BVerfG mit folgender Argumentation verneint: „Der Gesetzgeber bezeichnet die Rechtsanwälte als unabhängige Organe der Rechtspflege (§ 1 BRAO). Auf deren Integrität, Professionalität und Zuverlässigkeit ist die Rechtspflege angewiesen…Das Gesetz geht nicht davon aus, dass ein berufswürdiges und gesetzeskonformes Handeln der Rechtsanwälte nur im Wege der Einzelkontrolle oder mit Mitteln des Strafrechts gewährleistet werden kann. Das anwaltliche Berufsrecht beruht auch nicht auf der Annahme, dass eine situationsgebundene Gelegenheit zur Pflichtverletzung im Regelfall pflichtwidriges Handeln zur Folge hat“.46
Das BVerfG bekräftigt somit, dass der Anwalt als Organ der Rechtspflege aufgrund seiner professionellen Unabhängigkeit verantwortungsvoll mit der jeweiligen konkreten Situation umgeht und somit selbst über die Notwendigkeit einer Mandatsniederlegung entscheiden kann.
__________ 42 43 44 45
Ebda. Vgl. BVerfGE 76, 171 (193 ff.) = NJW 1988, 191 (193 f.). Vgl. Kleine-Cosack, BRAO, 4. Auflage, 2003, § 1 Rz. 7. Vgl. insb. BVerfGE 87, 287 = NJW 1993, 317; BVerfGE 93, 213 = NJW 1996, 709; BVerfG NJW 1996, 3267; BVerfG NJW 2003, 2520 = BRAK-Mitteilung 5/2003, 231; BVerfG NJW 2003, 3263 = BRAK-Mitteilung 6/2003, S. 277. 46 BVerfG NJW 2003, 2520 (2521).
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Eckhart Müller
II. Der Strafverteidiger als Organ der Rechtspflege Die Diskussion um den rechtlichen Inhalt der Organstellung und die Entwicklung der daraus folgenden Rechte und Pflichten des Rechtsanwalts hat auch und insbesondere im Bereich der Strafverteidigung ihren Niederschlag gefunden. Dies beruht auf der dualen Funktion des Verteidigers im Rahmen der Strafrechtspflege. Auf der einen Seite sichert der Verteidiger die Subjektqualität des Beschuldigten47. Das Recht des Beschuldigten, sich jederzeit eines Anwalts zu bedienen, ist als Ausdruck des aus Art. 2 I i. V. m. Art. 20 III GG hergeleiteten Rechts auf ein faires Verfahren48 verfassungsrechtlich verbürgt49. Auf der anderen Seite ist der Verteidiger Organ der Rechtspflege, was einerseits aus dem Berufsrecht der Rechtsanwälte50, andererseits aus der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege51 hergeleitet wird. Der Verteidiger handelt somit nicht nur im Interesse des Beschuldigten, sondern auch im Interesse einer am Rechtsstaatsprinzip ausgerichteten Strafrechtspflege52. 1. Theorienstreit Dieses Spannungsverhältnis bildet auch die Grundlage für die bis heute anhaltende Kontroverse zwischen den Befürwortern der Organ- und denjenigen der Interessenvertreter- bzw. Vertragstheorie. Der Sinn der Organtheorie besteht darin, den Verteidiger neben seiner „Beistandsfunktion zugunsten des Beschuldigten in das System der Rechtspflege einzubinden“.53 Dadurch soll eine Trennung der Parteistellung des Verteidigers von der eines Komplizen des Beschuldigten erreicht werden54. Dem gegenüber geht die Interessenvertretertheorie55 davon aus, der Verteidiger habe den vom Beschuldigten autonom bestimmten Interessen lediglich Hilfestellung zu leisten. Die Konsequenz dieser Theorie ist, dass der Beschuldigte das Recht hätte, gegen den Willen des Verteidigers zu entscheiden
__________ 47 Vgl. Kempf, Der Rechtsanwalt als Strafverteidiger, in: Brüssow/Gatzweiler/ Krekeler/Mehle, Strafverteidigung in der Praxis, Band 1: Grundlagen des Strafverfahrens, 2. Auflage, 2000, S. 1–86, Rz. 3; Senge, Missbräuchliche Inanspruchnahme verfahrensrechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten – wesentliches Merkmal der Konfliktverteidigung? Abwehr der Konfliktverteidigung, NStZ 2002, S. 227. 48 Vgl. BVerfG NJW 84, 862 (863). 49 Vgl. BVerfGE 39, 156 (163); 66, 313 (318 f.). 50 Insb. aus §§ 138 Alt. 1 StPO, 1 BRAO, vgl. Kempf, Rz. 4. 51 Vgl. Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren – Funktionen und Rechtsstellung, 1980, S. 83 ff., 146 ff.; sog. eingeschränkte Organtheorie. 52 Vgl. Meyer-Goßner, 47. Auflage, 2004, vor § 137 Rz. 1 m. w. N. 53 Kempf, Rz. 24. 54 Vgl. Kempf, a. a. O. 55 Vgl. Ostendorf, Strafvereitelung durch Strafverteidigung, Zur Diskussion um Gründe und Leitbild berufsmäßiger Strafverteidigung, NJW 1978, S. 1345 ff.; Wolf, Das System des Rechts der Strafverteidigung, 2000, S. 426.
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Der Strafverteidiger als Organ der Rechtspflege
und die Wahrheitspflicht als „Essential der Strafverteidigung“56 auf der Strecke bliebe. Eine gemäßigtere Ansicht stellt die von Lüderssen geprägte57 Vertragstheorie dar. Diese knüpft an die in § 137 StPO verbürgte Autonomie des Beschuldigten an, sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes58 eines Verteidigers zu bedienen. Dieses Recht bzw. die Subjektstellung des Beschuldigten wäre nicht ausreichend gesichert, „wenn der beistehende Verteidiger die dienende Rolle verlassen würde und etwas ohne oder gegen den Willen des Beschuldigten tun dürfte“.59 Danach ist dem Verteidiger zwar – im Gegensatz zur Interessenvertretertheorie – das Recht zur Lüge versperrt, dennoch aber hat er sich nach den Wünschen des Mandanten zu richten. Allerdings ist gerade die Unabhängigkeit vom Mandanten für den Strafverteidiger unverzichtbar. Dies hat vor allem Dahs eindrucksvoll ausgeführt60. Auf der einen Seite ist es dem Verteidiger bereits aufgrund seines Berufsauftrags verboten, „die Verteidigung anders zu führen als es dem sachlich begründeten Schutzinteresse seines Auftraggebers entspricht. Der Aufgabe, dem Recht zu dienen, gebührt der unbedingte Vorrang vor sachfremden, politischen, ideologischen oder sonstigen Interessen des Mandanten, die dieser im Strafverfahren … vielleicht verfolgen will. Weisungen des Auftraggebers können den Verteidiger weder in seiner Rechtsüberzeugung binden noch ihn von der Verantwortlichkeit für sein Handeln freistellen“.61 Auf der anderen Seite muss der Verteidiger die Möglichkeit besitzen, unsachgemäßen Wünschen und Respektlosigkeiten seitens der Mandanten entgegenzutreten62. Auch berücksichtigt die Vertragstheorie nicht, dass eine Pflichtverteidigerbestellung auch gegen den Willen des Beschuldigten63 und sogar gegen den Willen des Rechtsanwalts64 möglich ist.
__________ 56 Beulke, Strafprozessrecht, Rz. 151. 57 Vgl. Löwe-Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 25. Auflage, 2002, vor § 137, Rz. 33 ff.; ders., Symposium für Egon Müller, Schriftenreihe der Bundesrechtsanwaltskammer Bd. 12, Redaktion: E. Wahle, 2000, S. 41; ders., Festschrift für Stanislav Waltos, hrsg. von Czapska, J./Gaberle, A./ Swiatlowski, A./Zoll, A., 2000, S. 324; ihm folgend Jahn, Anmerkung zu OLG Düsseldorf, Urt. v. 23. 6. 1998 – 24 U 161/97, StV 2000, S. 431. 58 Die Bezeichnung des Verteidigers als Beistand des Beschuldigten ist die vorzugswürdige Bezeichnung gegenüber dem Begriff Vertreter, denn der Anwalt kann den Beschuldigten grundsätzlich (Ausnahmen sind z. B. gem. §§ 145a, 234, 350 II, 387 I, 411 II StPO möglich) gerade nicht im zivilrechtlichen Sine vertreten, vgl. § 230 StPO. 59 Löwe/Rosenberg-Lüderssen, vor § 137 Rz. 33. 60 Vgl. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rz. 30 ff., 123 ff. 61 Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rz. 30. 62 Vgl. Dahs, a. a. O., Rz. 123. 63 Vgl. Beulke, Strafprozessrecht, Rz. 165 ff. 64 Vgl. BVerfG NJW 1998, 2205.
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Nach alledem gibt es – mit Dahs65 – gegen die Organtheorie keine stichhaltigen Einwände66. Damit ist jedoch noch nicht die Frage nach dem rechtlichen Inhalt der Organstellung des Strafverteidigers geklärt. Auch hier ist auf die Rechtsprechung des BVerfG zurückzugreifen, aus der sich die freiheitliche Dimension des Begriffs „Organ der Rechtspflege“ auch und gerade für den Strafverteidiger ergibt. 2. Verteidigerausschluss Eingeleitet wurde diese Entwicklung im strafrechtlichen Bereich durch die Entscheidungen des BVerfG67 zur Frage des Verteidigerausschlusses in den sechziger und siebziger Jahren. Mit diesen Entscheidungen wurden Nichtzulassungs- und Ausschließungsbeschlüsse des BGH68 aufgehoben. Grundlage der Aufhebung bildete dabei insbesondere die Feststellung, dass die Stellung des Rechtsanwalts als unabhängiges Organ der Rechtspflege keinen Eingriffstatbestand begründet69. Das Spannungsverhältnis, in dem sich der Verteidiger bewegt, ist demnach nicht über § 1 BRAO sondern über Art. 12 GG zu lösen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeit in engsten Grenzen zu halten. Denn als Eingriffsermächtigung in das Grundrecht der Berufsfreiheit kann mangels anderer gesetzlicher Grundlagen nur Gewohnheitsrecht herangezogen werden. Dazu hat das BVerfG jedoch festgestellt: „Im Bereich des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG findet die Weiterentwicklung durch Auslegung bereits bestehenden Gewohnheitsrechts dort ihre Grenze, wo sie im Ergebnis zu einem neuen Eingriffstatbestand führt. Bei der hohen Bedeutung der freien Advokatur sind besonders strenge Maßstäbe anzulegen“.70
Zudem hat das BVerfG die Existenz eines Gewohnheitsrechtssatzes zum Ausschluss von Verteidigern zunächst dahingestellt sein lassen. In BVerfG NJW 1973, 696 hat es diese Frage schließlich verneint71. Letztlich wurde der Verteidigerausschluss in den §§ 138a ff. StPO verankert72. Das BVerfG entwickelt seitdem aus der Organstellung des Verteidi-
__________ 65 Vgl. Dahs, a. a. O., Rz. 30. 66 Vgl. auch Meyer-Goßner, vor § 137, Rz. 1; Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren m. w. N. 67 BVerfGE 16, 214 ff.; BVerfGE 15, 226 ff.; BVerfG NJW 1967, 2051 ff.; BVerfG NJW 1973, 696 ff. 68 BGHSt 15, 326 ff. = NJW 1961, 613 ff. (vgl. oben Fn. 27); BGH NJW 1972, 2140 ff. 69 Vgl. BVerfG NJW 1967, 2051 (2052); BVerfG NJW 1973, 696, vgl. oben Fn. 33. 70 BVerfG NJW 1967, 2051 (2052). 71 Vgl. BVerfG NJW 1973, 696 (697 f.). 72 Vgl. dazu Dahs, Ausschließung und Überwachung des Strafverteidigers – Bilanz und Vorschau, NJW 1975, S. 1385 ff.
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gers zunehmend weitere, die Unabhängigkeit stärkende Grundsätze und erweitert die Verteidigerbefugnisse. 3. Überprüfung mitgeteilter Tatsachen Im Hinblick auf Art. 12 GG kritisiert das BVerfG die Auffassung der Instanzgerichte, durch die Weitergabe der vom Mandanten erlangten Informationen mache sich der Anwalt diese Information zu Eigen und könne daher persönlich zur Verantwortung gezogen werden. So formuliert es in seinem Beschluss vom 16. 7. 2003, in dem es seine bereits im Beschluss vom 27. 6. 1996 geäußerte Ansicht73 bestätigt: „Träfe diese Auffassung zu und müsste ein Rechtsanwalt befürchten, regelmäßig persönlich belangt zu werden, wenn er in seiner beruflichen Funktion Informationen seines Mandanten in gehöriger Form weitergibt, würde die ordnungsgemäße Interessenvertretung und damit ein wesentlicher Teil anwaltlicher Berufsausübung unterbunden“.74
Zwar sind diese Entscheidungen im Zivilrecht im Zusammenhang mit §§ 824, 1004 BGB ergangen. Jedoch sind Auswirkungen vor allem im Strafrecht nahe liegend. Denn gerade bei strafrechtlichen Mandaten wird der Verteidiger vom Mandanten nicht immer zwingend mit der Wahrheit bedient. Dementsprechend stellt auch das BVerfG unter Bezugnahme auf Zivilrechtsentscheidungen in seinem Beschluss vom 16. 3. 1999 klar: „Im strafrechtlichen Bereich gilt nichts anderes“.75
In dem zugrunde liegenden Sachverhalt hatte ein Verteidiger eine Beschwerde gegen einen im Ermittlungsverfahren ergangenen Durchsuchungsbeschluss ohne weitere Nachprüfung mit der – im Ergebnis unzutreffenden – Begründung seines Mandanten eingelegt, der Beschluss beruhe auf ungeprüften Behauptungen und Rivalitäten unter Staatsanwälten. Eine Strafbarkeit des Verteidigers wegen Beleidigung hatte vor dem BVerfG keinen Bestand, weil leichtfertig aufgestellte unwahre Tatsachenbehauptungen ehrenrühriger Art zwar zur Nichtanwendbarkeit des § 193 StGB führen, Anforderungen an die Leichtfertigkeit jedoch nicht überspannt werden dürfen. Insbesondere treffe den Verteidiger keine generelle Aufklärungspflicht, bevor er im Vertrauen auf die Auskunft eine ihm vom Mandanten mitgeteilte Information weiterleitet. Dies gelte vor allem auch deshalb, weil der Verteidiger „im Interesse des Beschuldigten – wie regelmäßig in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren – die Beschwerde so schnell wie möglich zu erheben hatte“.76
__________ 73 74 75 76
Vgl. BVerfG NJW 1996, 3267. BVerfG NJW 2003, 3262 (3264). BVerfG NJW 2000, 199 (200). BVerfG NJW 2000, 199 (200).
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4. Geldwäscheentscheidung Den derzeitigen Höhepunkt dieser verfassungsrechtlichen Rechtsprechung stellt die Geldwäscheentscheidung vom 30. 3. 200477 dar, in der das BVerfG eine Anwendung des § 261 II Nr. 1 StGB auf den Strafverteidiger nur in engen Grenzen für verfassungskonform erachtet. Zur Begründung hat es ausgeführt: „Die Gefahr möglicher eigener Strafbarkeit, die für den Strafverteidiger aus § 261 II Nr. 1 StGB folgt, wenn die Bestimmung auf ihn wie auf Angehörige beliebiger anderer Berufsgruppen angewandt wird, ist mit der Gefahr eines Interessenskonflikts verbunden, die die professionelle Arbeit des Strafverteidigers erheblich erschweren oder sogar unmöglich machen kann“.78
Insbesondere könne dem Verteidiger auch „nicht uneingeschränkt angesonnen werden, einer durch den Strafgesetzgeber geschaffenen Gefahrenlage mit Niederlegung des Wahlmandats und Pflichtverteidigerbeiordnung zu begegnen“.79
Der durch eine uneingeschränkte Anwendung des § 261 II Nr. 1 StGB bewirkte „Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Strafverteidiger wäre verfassungsrechtlich nicht in vollem Umfang gerechtfertigt. Er verstieße ohne verfassungskonforme Reduktion gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit …“80
Für eine Strafbarkeit sei daher zu fordern, dass „der Strafverteidiger im Zeitpunkt der Entgegennahme des Honorars (oder des Honorarvorschusses) sicher weiß, dass dieses aus einer Katalogtat herrührt“.81
Dieses Ergebnis fußt nicht zuletzt auf folgender Überlegung: „Der Rechtsanwalt ist ein unabhängiges Organ der Rechtspflege und unterliegt einer Reihe von besonderen Berufspflichten, die weit über das Maß an Rechtstreue hinausreichen, die von jedermann erwartet wird. Treuepflichten, das Zulassungsverfahren und die Überwachung durch spezielle Anwaltsgerichte bieten eine erhöhte Gewähr dafür, dass der Rechtsanwalt ein Berufsethos entwickelt und sich rechtstreu verhält“.82
Das BVerfG distanziert sich in der Geldwäscheentscheidung somit erneut von einer amtsähnlichen Bindung der Rechtsanwälte. Diese dürfte damit endgültig der Vergangenheit angehören83. Im Ergebnis hat die Entwicklung des Begriffs „Organ der Rechtspflege“ durch das BVerfG auch und gerade der rechtlichen Stellung des Strafverteidi-
__________ 77 78 79 80 81 82 83
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BVerfG NJW 2004, 1305 ff. BVerfG a. a. O., 1305 (1309). BVerfG a. a. O., 1305 (1310). BVerfG NJW 2004, 1305 (1310). BVerfG a. a. O., 1305 (1311). BVerfG NJW 2004, 1305 (1311). Vgl. Müller, Der Rechtsanwalt als „Organ der Rechtspflege“, S. 68.
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gers eine freiheitliche Dimension vermittelt. Das ist – mit Dahs84 – zu begrüßen, denn aus der „verfassungsrechtlichen, prozessualen und praktischen Funktion des Verteidigers folgt, dass er in Erfüllung seiner Aufgaben im Strafprozess vollständig, geradezu radikal unabhängig sein muss.“85 Ohne den Anwalt als unabhängigen Sachwalter des Mandanten ist ein Rechtsstaat nicht denkbar86. Trotz §§ 160 II, 244 II StPO ist eine ausreichende Verteidigung des Beschuldigten erst dann sichergestellt, „wenn sich ein eigens für die Verteidigung ausersehener Prozessbeteiligter, der im Verfahren formell besonders hervortritt, um die Belange des Beschuldigten kümmert.“87 Der Beschuldigte ist Verfahrenssubjekt88. Der Verteidiger sichert diese Subjektqualität und stellt somit ein parteiliches Gegengewicht zur inquisitorischen Struktur der StPO dar89. Der Beschuldigte kann selbst kein solches Gegengewicht darstellen, da er als Betroffener die Souveränität eines taktisch geschickt vorgehenden Prozessbeteiligten nicht hat, meist nicht über die erforderlichen Rechtskenntnisse verfügt und teilweise, z. B. als Untersuchungshäftling, in seinen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt ist.
III. Hans Dahs und das Organ der Rechtspflege Schon 1975 hat der Jubilar die von der Rechtsprechung ursprünglich vorgenommene disziplinierende Begriffsverwendung des „Organs der Rechtspflege“ kritisiert und die Anwaltschaft davor gewarnt, die Bezeichnung alleine als „Ehrentitel“ anzusehen90. Er hat auf die Gefahren hingewiesen, die mit dem Begriff „Organ der Rechtspflege“ verbunden sein können91 und eine Auslegung des Begriffs gefordert, die dem in der Judikatur des BVerfG heute herrschenden Verständnis entspricht. Ausgangspunkt war seine Kritik an der Entscheidung BVerfGE 38, 105 ff., in der dem Verteidiger eine amtsähnliche Stellung zugewiesen und seine Tätigkeit zu einem staatlich gebundenen Vertrauensberuf erklärt wurde92. Zutreffend führt Dahs aus, dass das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Gebot der „Waffengleichheit“ die Institution eines unabhängigen Verteidigers erfordert. Dafür sei insbesondere auch erforderlich, dass sich der Verteidiger in möglichst hohem Maße auf Art. 12 GG berufen könne. Je mehr man den Anwaltsberuf jedoch dem öffentlichen Dienst annähere, desto stärker mache
__________ 84 Vgl. Dahs/Krause/Widmaier, Anmerkung zu BVerfG, Urt. v. 30. 3. 2004 – 2 BvR 1520, 1521/01, NStZ 2004, S. 261. 85 Dahs, NJW 1975, S. 1388. 86 Vgl. Jaeger, NJW 2004, S. 7. 87 Beulke, Strafprozessrecht, Rz. 147. 88 Vgl. Beulke, a. a. O. 89 Vgl. Kempf, Rz. 3. 90 Vgl. Dahs, NJW 1975, S. 1387, 1388. 91 Vgl. Dahs, a. a. O. 92 BVerfGE 38, 105 (119) = BVerfG NJW 1975, 103 (105); vgl. oben Fn. 32.
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sich die Ausstrahlung des Art. 33 GG bemerkbar und ein umso stärkerer Regelungseingriff sei möglich93. Bei dieser Annäherung an einen staatlichen Beruf könne der „Titel ‚Organ der Rechtspflege’ eine verhängnisvolle Rolle spielen“.94 Denn durch Auslegung des Begriffs im Sinne der genannten Entscheidung könne der angebliche Ehrentitel dazu benutzt werden, die Freiheit und Unabhängigkeit der Anwaltschaft auszuhöhlen. Um dieser Entwicklung entgegenzutreten, wies der Jubilar zu Recht darauf hin, dass es dringend nötig sei, die Unabhängigkeit des Strafverteidigers vom Staat wieder ins allgemeine Bewusstsein zu rücken. Der Verteidiger erforsche „eben nicht die Wahrheit ‚gleich wem sie nütze oder schade’, sondern tritt dem durch den Staatsanwalt repräsentierten Strafanspruch des Staates, dem der Richter zur Geltung verhelfen soll, entgegen … Diese … justizhemmende Funktion bringt zwar für die Rechtsgemeinschaft, die stärkstes Interesse an der Rechtssicherheit hat, größte Vorteile, ist aber gerade keine staatliche oder staatsähnliche Tätigkeit. Mit Recht ist daher die Aufhebung des Beamtenstatus des Rechtsanwalts durch die RAO von 1878 als Ausdruck für die bewusste Entlassung aus der Staatskompetenz angesehen worden“.95 Dahs erhebt daher Bedenken gegen die Begrifflichkeiten „staatlich gebundener Beruf“ und „amtsähnliche Stellung“. Die Qualifizierung der Anwaltstätigkeit als „staatlich gebundener Beruf“ sei nicht akzeptabel96. Insbesondere „können aus dem Begriff ‚Organ der Rechtspflege’ keine Pflichten des Verteidigers hergeleitet werden, die über die Beachtung der Gesetze und der allgemeinen Standesvorschriften hinausgehen“.97 Die Bezeichnung „staatlich gebunden“ könne daher nur als Bindung an die Gesetze und Standesvorschriften bzw. als Hinweis auf eine notwendige – aber durch die berufsrechtliche Aufsicht der Anwaltskammern hinreichend gesicherte – Kontrolle verstanden werden98. Die „amtsähnliche Stellung“ könne man im Hinblick auf das genannte verfassungsrechtliche Erfordernis der Unabhängigkeit des Verteidigers verfassungskonform nur dahingehend auslegen, „dass der Strafverteidiger im Vergleich mit dem Richter und Staatsanwalt eine „amtsähnliche“, das heißt den Aufgaben der Staatsorgane vergleichbare, gleichwertige Stellung hat“.99 Diese Gedanken machte sich auch das BVerfG100 zur Begründung des genannten Verständniswandels zu Eigen, indem es feststellte, dass dem Vertei-
__________ 93 94 95 96 97 98 99 100
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Vgl. Dahs, NJW 1975, S. 1385 ff. Dahs, a. a. O., S. 1387. Dahs, a. a. O., S. 1388. Vgl. Dahs, a. a. O., S. 1388. Dahs, a. a. O., S. 1389. Ebda. Dahs, NJW 1975, S. 1389. Vgl. insbesondere BVerfGE 63, 266 ff. = NJW 1983, 1535 ff.
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diger „neben Richtern und Staatsanwälten eine eigenständige wichtige Funktion“101 zukommt. Dahs konkretisierte die anwaltliche Unabhängigkeit weiter dahingehend, dass zu ihren wesentlichen Elementen die freie Zulassung, Freizügigkeit, Freiheit von politischen Bindungen, Freiheit des Standes in möglichst weitreichender Selbstverwaltung und vor allem Freiheit vom Staat gehören102. Insbesondere die Freiheit von staatlicher Einflussnahme versetze den Verteidiger in die Lage, an der Staatstätigkeit ohne Scheu Kritik üben und damit einer seiner wesentlichen Aufgaben nachgehen zu können103. Auch diese Erkenntnisse finden sich in den Ausführungen des BVerfG wieder. Hier ist insbesondere die bereits diskutierte Entscheidung vom 14. 7. 1987104 zu nennen. Schon vor 30 Jahren hat Dahs folgende Forderung aufgestellt: „Die Kollision von Strafverfolgungsinteressen und Verteidigungsrecht ist in der neueren Gesetzgebung wiederholt zum Nachteil des letzteren mit der Folge eines schwerwiegenden Einbruchs in die Institution der rechtsstaatlichen Strafverteidigung gelöst worden. Der Gesetzgeber wäre gut beraten, den eingeschlagenen Gesetzesweg bald wieder zu verlassen“.105
In der überwiegend positiv aufgenommenen106 Geldwäscheentscheidung107 hat das BVerfG den Gesetzgeber im Sinne dieser Forderung korrigiert. Von überzogener Polemik geprägt ist dagegen die Kritik von Fischer108, der – nun vom BVerfG erhörte – Ruf nach strafrechtlicher Privilegierung sei vor allem von der Befürchtung der Verteidiger geprägt, selbst straffällig zu werden. Indem z. B. „Geldwäschebekämpfung unbedingt, aber nicht gegen Rechtsanwälte“109 gefordert werde, schleppe sich das Bekämpfungsstrafrecht durch „den Sumpf der Heuchelei.“110 Im Ergebnis bekomme so jeder, was er verdiene: „Der Räuber 8 Jahre, und sein Verteidiger ein Viertel der Beute“.111 Die Privilegierung der Strafverteidiger im Rahmen der Strafbarkeit wegen Geldwäsche hat demgegenüber durchaus ihre Berechtigung. Fischer ver-
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109 110 111
BVerfGE 63, 266 (284) = NJW 1983, 1535 (1536). Vgl. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rz. 27. Vgl. Dahs, a. a. O., Rz. 28. BVerfGE 76, 171 ff. = NJW 1988, 191 ff., vgl. oben Fn. 38. Dahs, NJW 1975, S. 1392. Vgl. Dahs/Krause/Widmaier, NStZ 2004, S. 261; DAV, Pressemitteilung Nr. 19/04 v. 30. 3. 2004; BRAK, Pressemitteilung 7/2004 v. 30. 3. 2004. BVerfG NJW 2004, 1305 ff., vgl. oben Fn. 77. Vgl. Fischer, Ersatzhehlerei als Beruf und rechtsstaatliche Verteidigung, NStZ 2004, S. 473 ff.; Fischer war als Richter an dem Urteil beteiligt, das Gegenstand der Geldwäscheentscheidung des BVerfG war, vgl. Fischer, NStZ 2004, S. 474, Fn. 13. Fischer, NStZ 2004, S. 478. Fischer, a. a. O. Ebda.
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kennt den verfassungsrechtlich verankerten112 Schutzauftrag des Verteidigers, den Beschuldigten vor der Strafverfolgung zu schützen113. Im Rahmen dieses Schutzauftrages ist der Verteidiger insbesondere auch auf den unmittelbaren Umgang mit dem Mandanten angewiesen. Die verfassungsrechtlich gebotene „Waffengleichheit“ von Ankläger und Beschuldigtem114 verlangt, dass der Beschuldigte, dem eine Katalogtat vorgeworfen wird, nicht dadurch benachteiligt wird, dass der Verteidiger eventuell „das Mandat aus Gründen vorsorglichen Selbstschutzes ablehnt oder es später niederlegt, weil er Ermittlungen gegen sich selbst zu gewärtigen hat“.115 Die Privilegierung des Strafverteidigers bei der Honorarannahme wird auch nicht – wie Fischer befürchtet – dadurch in ihr Gegenteil verkehrt, dass der Verteidiger vor endgültiger Erlangung des gesamten Honorars aus Eigeninteresse eine für den Mandanten nachteilige Verteidigungsstrategie verfolgen könnte – z. B. die im Einzelfall gebotene Hinwirkung auf ein Geständnis zu unterlassen116. Denn sein Schutzauftrag verbietet es dem Verteidiger gerade, Eigeninteressen zulasten seines Mandanten nachzugehen117. Von der ordnungsgemäßen Wahrnehmung dieses Auftrages muss grundsätzlich, insbesondere aufgrund des anwaltlichen Berufsethos118, ausgegangen werden. Die Zweifel von Fischer liegen neben der Sache und diskreditieren einen gesamten Berufsstand. Zu Recht bezeichnet der Jubilar die Geldwäscheentscheidung als einen juristischen „Paukenschlag, der Gesetzgeber und Strafjustiz den hohen verfassungsrechtlichen Rang der Strafverteidigung nachdrücklich ins Bewusstsein rücken soll.“119 Das Urteil „stärkt die Strafverteidigung als rechtsstaatliche Institution …“120 und hat daher „… besondere und über die Geldwäscheproblematik weit hinausreichende verfassungsrechtliche Bedeutung“121 für den Beruf des Strafverteidigers. Um diese verfassungsrechtliche und gesellschaftspolitische Bedeutung der Strafverteidigung hat sich Hans Dahs in seiner gesamten beruflichen Tätigkeit und in seinem literarischen Schaffen besonders verdient gemacht und die aktuelle Diskussion maßgeblich geprägt.
__________ 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121
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Vgl. Dahs, NJW 1975, S. 1386. Vgl. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rz. 3, 7, 53. Vgl. Dahs, NJW 1975, S. 1386. Dahs/Krause/Widmaier, NStZ 2004, S. 261. Vgl. Fischer, NStZ 2004, S. 476. Vgl. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rz. 10. Vgl. BVerfG NJW 2004, 1305 (1311). Dahs/Krause/Widmaier, NStZ 2004, S. 261. Ebda. Dahs/Krause/Widmaier, NStZ 2004, S. 261.
Matthias Weihrauch
Strafverteidigung und Berufsrecht – Fragmentarische Überlegungen zu einer Ethik der Strafverteidigung Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Begriffsbestimmung 1. Berufsrecht im weiteren Sinne 2. Berufsrecht im engeren Sinne 3. Ethik und ethische Werte III. Ethik im Berufsrecht 1. Vor dem 14. 7. 1987 2. Gegenwärtig a) Geschriebene Normen aa) §§ 43, 43a BRAO (1) Beleidigungen
(2) Herabsetzende Äußerungen (3) Wahrheitspflicht (4) Sonstige Pflichten bb) CCBE-Regeln cc) § 1 BRAO dd) § 138 BGB b) Ungeschriebene „Normen“ IV. Ergebnisse V. Ausblick
I. Einleitung In dem für jeden Verteidiger unverzichtbaren „Handbuch des Strafverteidigers“1 spricht Dahs expressis verbis nur kurz von einer „Ethik der Strafverteidigung“ und einem „Ethos der Strafverteidigung“ – unter Hinweis darauf, dass das Handbuch nicht der Ort für den Entwurf eines diesbezüglichen Konzepts sei2. Etwas nähere Ausführungen finden sich in seinem Vortrag „Ethische Aspekte im Strafverfahren – Ein Denkanstoß“ aus dem Jahre 2003, wenngleich auch nicht nur auf den Verteidiger bezogen3. Es reizt, sich mit diesem Thema näher zu beschäftigen. Zumal sich (überraschenderweise?) in Veröffentlichungen über anwaltliche Tätigkeit „eine zunehmende Verwendung ethischer Begriffe“ feststellen lässt4. Demgegenüber finden sich Sätze wie: „So bekommt auch in Zukunft ein jeder, was er verdient: Der Räuber 8 Jahre, und sein Verteidiger ein Viertel der Beute.“5 Nimmt man noch hinzu, dass ethische Grundsätze möglicherweise Inhalt des anwalt-
__________ 1 2 3 4 5
6. Aufl. 1999. – Dieses Werk hat mich schon in meiner Referendarzeit begleitet und mich geprägt. Auch dafür danke ich dem Jubilar. Rz. 36. JR 2004, 96 – 98. So auch Salditt, Grauzonen anwaltlicher Freiheit, kasuistisch betrachtet, BRAKMitt. 2001, 150 (152) mit Nachweisen. Fischer, Ersatzhehlerei als Beruf und rechtsstaatliche Verteidigung, NStZ 2004, 473 (478).
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Matthias Weihrauch
lichen Berufsrechts darstellen und damit auch Verstöße sanktionierbar wären, entsteht eine interessante Gemengelage, der nachzugehen sich lohnt.
II. Begriffsbestimmung Der Verteidiger, der Rechtsanwalt ist6, untersteht dem anwaltlichen Berufsrecht. (Die frühere Bezeichnung „Standesrecht“ ist überholt7.) Diese Feststellung ist sicherlich richtig, sagt aber für sich genommen nicht viel aus; zumindest solange nicht, bis nicht klar ist, was unter dem Berufsrecht zu verstehen ist. 1. Berufsrecht im weiteren Sinne Man könnte eine Definition dergestalt vornehmen, indem man formuliert: Berufsrecht ist die Gesamtheit aller geschriebenen und ungeschriebenen Normen in materieller und formeller Hinsicht, die die Berufsausübung des Rechtsanwalts (des Verteidigers) bestimmen. Diese Beschreibung eines „Berufsrechts im weiteren Sinne“ ist sicherlich per se nicht falsch, hilft aber in dieser Allgemeinheit auch nicht viel weiter. Viel schwerer wiegen jedoch verfassungsrechtliche Bedenken. Denn das Berufsrecht beinhaltet ja nicht nur Rechte, sondern vor allem (sanktionierbare) Pflichten. Und damit wird in die Berufsausübung des Rechtsanwalts eingegriffen. Diese anwaltliche Berufsausübung unterliegt jedoch grundsätzlich der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des einzelnen Anwalts; Eingriffe sind deshalb an Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG zu messen und folglich nur „durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes“ – also aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassenen Satzung – zulässig8. Also scheiden ungeschriebene Normen aus und damit auch vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht9; wobei dahinstehen kann ab wann, jedenfalls seit Existenz der durch die Satzungsversammlung der Rechtsanwälte geschaffenen Berufsordnung von 1997 (BORA)10. Damit wäre die oben gegebene Definition einzuschränken und zu formulieren: Berufsrecht ist die Gesamtheit aller auf Gesetz beruhenden geschriebenen Normen in materieller und formeller Hinsicht. Letztere, die die Art und Weise einer Sanktionierbarkeit anwaltlichen Fehlverhaltens betreffen, interessieren hier nicht. Bleibt also die Frage nach den geschriebenen Nor-
__________ 6 Nur von diesem ist in diesem Beitrag die Rede. – Und: die Bezeichnung ist geschlechtsneutral zu verstehen. 7 Siehe dazu Landry, Berufsrecht kontra Standesrecht, BRAK-Mitt. 2000, 120 (122). 8 Eylmann in Henssler/Prütting, Bundesrechtsanwaltsordnung, 2. Aufl. 2004, Vorbemerkung § 43 Rz. 1 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG; Hartung in Hartung/Holl, Anwaltliche Berufsordnung, 2. Aufl. 2001, Einführung Rz. 16. 9 Eylmann, (Fn. 8), Rz. 7; Hartung (Fn. 8), Rz. 25. 10 Zur Zeit in der Fassung v. 1. 7. 2003; zur Satzungskompetenz vgl. § 59 b BRAO.
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Strafverteidigung und Berufsrecht
men für anwaltliches Handeln und nach Beantwortung die weitere und eigentliche Frage, ob diese Normen dem Verteidiger ein (bestimmtes) ethisches Handeln vorschreiben, wobei dann noch vorab geklärt werden müsste, was unter ethischem Handeln bzw. (einer) Ethik (der Strafverteidigung) zu verstehen ist. 2. Berufsrecht im engeren Sinne Für den Verteidiger gelten grundsätzlich11 die allgemeinen Gesetze, insbesondere das Strafgesetzbuch in den Bestimmungen der §§ 185 ff., 201, 203, 258, 352, 356 StGB. Hinzu kommen die speziellen berufsrechtlichen Normen, also die Bundesrechtsanwaltsordnung12 (speziell die §§ 43, 43a BRAO), die Berufsordnung für Rechtsanwälte13 und die Fachanwaltsordnung14. Besondere Berufspflichten speziell für den Verteidiger sind hier nicht enthalten; soweit es die Berufsordnung betrifft, hatte die Satzungsversammlung bewusst davon abgesehen. Wörter wie „Ethik“ oder „ethisch“ sucht man vergebens in dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen. Möglich, dass sie jedoch in dem jeweiligen Sinngehalt zu finden sind. Das setzt freilich voraus, dass man weiß, was unter Ethik (und speziell unter Ethik der Strafverteidigung) zu verstehen ist. 3. Ethik und ethische Werte In der (speziellen) anwaltlichen Literatur findet man nur selten eine Definition von Ethik. In dem Beitrag von Prütting „Ethos anwaltlicher Berufsausübung“ aus dem Jahre 199415 wird Ethik als die Lehre vom sittlichen Wollen und Handeln des Menschen bzw. als die Lehre von den Normen menschlichen Handelns bezeichnet16. Letzterem schließt sich Busse in seinem Vortrag/Aufsatz „Anwaltsethik unter der Geltung des neuen Berufsrechts“ im Jahre 199817 an. Spezielle Veröffentlichungen von Strafverteidigern sucht man vergebens. Zwar findet man bei Salditt die Formulierung „Unabhängigkeit und persönliche Verantwortung, die man Anwaltsethik nennen darf“18
__________ 11 Mit dieser Einschränkung sind gemeint z. B. die Besonderheiten für Verteidiger bei § 261 StGB, die besonders strengen Anforderungen an den Nachweis des dolus eventualis strafbaren Handelns und die Diskussion über einen speziellen Rechtfertigungsgrund. 12 Vom 1. 8. 1959; zuletzt geändert 2002, BGBl. I, 2592, 2593. 13 Oben Fn. 10. 14 Zur Zeit in der Fassung v. 1. 9. 2003. 15 AnwBl. 1994, 315. 16 A. a. O. 315/316. 17 AnwBl. 1998, 231. 18 (Fn. 4), 156.
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und spricht Eckhart Müller von „Berufsethos“ und „Berufsethik“19 – jedoch ohne konkrete Definition. Soweit (allgemeine) Definitionen gegeben wurden, führen diese jedoch auch nicht weiter. Denn was „sittliches Wollen und Handeln“ eines Verteidigers bei seiner Berufsausübung ausmacht, ist ja gerade die hier interessierende Frage. Und so hat Busse völlig Recht, wenn er darauf hinweist, dass „alle diese Formeln …. erst dann einen greifbaren Inhalt (erhalten), wenn man sich über die Werte verständigen kann, die ein ethisch handelnder Mensch anstreben sollte und darüber, welche Gesinnung das Gewissen eines ethisch handelnden Menschen ausmachen müsste“20. Es liegt auf der Hand, dass sich „die Werte“, das Wertverständnis ändern im Laufe der Zeit, es mithin ein „jeweiliges“ Werteverständnis gibt, ein Werteverständnis in Relation oder als Ausfluss gesellschaftlicher/politischer/kultureller Vorgaben. Was nichts anderes heißt, als dass der Versuch einer allgemein und zeitlos gültigen Definition von Anwaltsethik zum Scheitern verurteilt ist. Also bleibt nur der Rückzug auf einzelne ethische Werte wie Gewissenhaftigkeit, Ehrlichkeit, Würde, Vertrauen, Anstand, Takt, Unabhängigkeit, Wahrheit. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass gerade junge Anwälte sich solchen Werten verpflichtet fühlen (sollen); hat doch die Vollversammlung des 42. Jahreskongresses der Association Internationale des Jeunes Avocats (AIJA)21 im August 2004 eine Charta verabschiedet, die u. a. Würde, Ehrlichkeit und Integrität als essentielle Qualitätsmerkmale des jungen Anwalts erwähnt22.
III. Ethik im Berufsrecht Aber kehren wir zurück zu der oben gestellten Frage, ob es geschriebene, sanktionsbewehrte, berufsrechtliche Normen gibt, die dem Anwalt/dem Verteidiger die Beachtung zumindest einzelner ethischer Werte vorschreiben – sei es expressis verbis, sei es von ihrem Sinngehalt her.
__________ 19 Der Rechtsanwalt als „Organ der Rechtspflege“ – vom Instrument der Disziplinierung zum Argument gegen die Deregulierung, in FS zum 125-jährigen Bestehen der Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk München, 2004, 64 (68, 69). 20 (Fn. 17), 231. 21 Die AIJA ist eine internationale Anwaltsorganisation mit jungen Anwälten bis zum 45. Lebensjahr. 22 Personal honor, honesty and integrity are for the Young Lawyer essential conditions for the discharge of his or her professional obligations. – Zitiert nach BRAK-Rundschreiben Nr. 522/2004.
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1. Vor dem 14. 7. 1987 Vor dem 14. 7. 1987 war die Frage relativ einfach zu beantworten. Es gab die „Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts/Richtlinien gem. § 177 Abs. 2 Nr. 2 BRAO“. Diese hat das Bundesverfassungsgericht unter dem erwähnten Datum für verfassungswidrig erklärt, da sie nicht als Rechtsnorm i. S. des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG anzusehen seien23. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht angemerkt, dass die „Standesrichtlinien … ihren guten Sinn darin haben (mögen), dass sie das Standesethos widerspiegeln“24. Für die hierzu erörternde Problematik sind sie jedoch nur noch von historischem Interesse. 2. Gegenwärtig a) Geschriebene Normen aa) §§ 43, 43a BRAO Das geltende Recht enthält unter der Überschrift „Allgemeine Berufspflicht“ in § 43 BRAO die grundlegende Norm: „Der Rechtsanwalt hat seinen Beruf gewissenhaft auszuüben. Er hat sich innerhalb und außerhalb des Berufes der Achtung und des Vertrauens, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, würdig zu erweisen.“ Da haben wir also die ethischen Werte wie Gewissenhaftigkeit, Achtung, Vertrauen, Würde. Nur: Die ganz h. M. legt diese Generalklausel dahingehend aus, dass sich aus ihr allein keine Berufspflicht mehr konstituieren lässt25; § 43 BRAO nur zusammen mit anderen Normen Grundlage einer Ahndung im anwaltsgerichtlichen Verfahren sein kann26; Verstöße gegen Rechtsnormen außerhalb der BRAO und der BORA nur noch über die Generalklausel des § 43 BRAO berufsrechtliche Relevanz gewinnen können27; § 43 BRAO somit eine Transformationsfunktion28 hat, für sich genommen aber leer läuft29, 30. Im Klartext heißt das: Eine Verletzung der in § 43 BRAO erwähnten ethischen Standards ist für sich genommen sanktionslos; eine Sanktion ist nur möglich, wenn der Rechtsanwalt gegen eine andere Norm verstößt; ob er gegen diese andere Norm verstößt, ist im Einzelfall zu prüfen, wobei Sinn und Zweck der Generalklausel eine Auslegungshilfe sein sollen31. Dies wird weiter unten durch Beispiele zu verdeutlichen sein. An
__________ 23 1 BvR 537/81 – u. a. NStZ 1988, 74. 24 (Fn. 23), 75. 25 Feuerich/Weyland, Bundesrechtsanwaltsordnung, 6. Aufl. 2003, § 43 Rz. 3; Eylmann in Henssler/Prütting, (Fn. 8), § 43 Rz. 8; Busse, (Fn. 17), 232. 26 Feuerich/Weyland, (Fn. 25), Rz. 5. 27 Feuerich/Weyland, (Fn. 25), Rz. 4. 28 Hartung in Hartung/Holl, (Fn. 8), Einführung zur Berufsordnung, Rz. 19. 29 Hartung in Hartung/Holl, (Fn. 8), § 43 Rz. 12. 30 A. M. Kleine-Cosack, Bundesrechtsanwaltsordnung, 4. Aufl. 2003, § 43 Rz. 9 ff. 31 Hartung in Hartung/Holl, (Fn. 8), § 43 Rz. 13.
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dieser Stelle genügt die zusammenfassende Feststellung, dass § 43 BRAO keine Norm ist, die die Beachtung ethischer Werte unter Sanktion stellt. Und § 43a BRAO? Unter der Überschrift „Grundpflichten des Rechtsanwalts“ werden Unabhängigkeit, Verschwiegenheit und das Verbot widerstreitender Interessen erwähnt; von besonderem Interesse für die hier anstehende Problematik ist jedoch der 3. Absatz: „Der Rechtsanwalt darf sich bei seiner Berufsausübung nicht unsachlich verhalten. Unsachlich ist insbesondere ein Verhalten, bei dem es sich um die bewusste Verbreitung von Unwahrheiten oder solche herabsetzende Äußerungen handelt, zu denen andere Beteiligte oder der Verfahrensverlauf keinen Anlass gegeben haben.“
Die Beurteilung dieser Vorschrift – wie des ganzen § 43a BRAO – ist streitig. Während einerseits von einem „Pathoskatalog“ gesprochen wird, dessen Inhalt weder justitiabel noch sanktionsfähig sei32, wird andererseits diese Norm als wichtiger Beitrag zur Ethikdiskussion bezeichnet33. Interessanterweise ist man sich jedoch in den Konsequenzen für die Praxis weitgehend einig. So wird dem § 43a Abs. 3 S. 1 BRAO lediglich der Charakter eines „Appells an das Berufsethos“ zugeschrieben, so dass ein Verstoß dagegen keine berufsrechtlichen Sanktionen auslöst34. Dem wird man schon unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Bestimmtheit zustimmen müssen. Einigkeit besteht ferner35 darin, dass der § 43a Abs. 3 S. 2 BRAO drei Fallgruppen umfasst, nämlich strafbare Beleidigungen (aa)), bewusste Verbreitung von Unwahrheiten (cc)) und herabsetzende Äußerungen, zu denen andere Beteiligte oder der Verfahrensablauf keinen Anlass gegeben haben (bb)). (1) Beleidigungen Ein Rechtsanwalt, der bei der Ausübung seines Berufes in strafbarer Weise beleidigt (§§ 185 ff. StGB), vernachlässigt „das berufsethische Minimum“36; er ist nicht nur strafrechtlich, sondern auch berufsrechtlich verantwortlich, wobei im Hinblick auf die Gesetzesgeschichte als Norm nicht § 43a BRAO, sondern § 43 BRAO herangezogen wird37. Für die hier interessierende Thematik kann das letztlich dahinstehen; entscheidend ist, dass hier die Verletzung einer ethischen Norm – Achtung der Ehre des Anderen/Sachlichkeit – berufsrechtlich geahndet wird. Freilich treten die eigentlichen Schwierigkeiten bei der Anwendung dieses Grundsatzes in der Praxis auf. So sind die in § 193 StGB enthaltenen Güter-
__________ 32 So Kleine-Cosack, (Fn. 30), § 43a Rz. 1; ähnlich Eylmann in Henssler/Prütting, (Fn. 8), § 43a Rz. 94, 100. 33 So Hartung in Hartung/Holl, (Fn. 8), § 43a Rz. 1. 34 Hartung in Hartung/Holl, (Fn. 8), § 43a Rz. 40. 35 Hartung in Hartung/Holl, (Fn. 8), § 43a Rz. 42 mit weiteren Nachweisen. 36 Eylmann in Henssler/Prütting, (Fn. 8), § 43a Rz. 103. 37 So Hartung in Hartung/Holl, (Fn. 8), § 43a Rz. 43.
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abwägungen auch bei der berufsrechtlichen Wertung anwaltlichen Verhaltens anzuwenden; was unstreitig ist38. Und es ist die Nähe zu der nächsten Fallgruppe zu beachten. (2) Herabsetzende Äußerungen Danach stellen herabsetzende Äußerungen, zu denen andere Beteiligte oder der Verfahrensverlauf keinen Anlass gegeben haben, sanktionierbare Verstöße gegen das Sachlichkeitsgebot dar. Hier könnte für den engagierten, „wortgewaltigen“ Verteidiger in seinem „Kampf um das Recht“ eine berufsrechtliche Gefahr lauern, sich Engagement und Ethik stoßen. Eine genauere Betrachtung nimmt diesem Konflikt jedoch viel von seiner begrifflichen Schärfe. So sieht die ganz h. M. in dieser Modalität keine eigenständige Bedeutung, zumal eine Abgrenzung zur Formalbeleidigung im Sinne des § 192 StGB kaum möglich sei39; hier hat der Gesetzesgeber die Formulierung aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts übernommen, ohne die praktischen Auswirkungen genügend zu bedenken. Kurzum: „Unter der Schwelle des Strafrechts sind herabsetzende Äußerungen berufsrechtlich nicht … sanktionsfähig“40. Damit fällt eine große Bandbreite engagierten anwaltlichen Handelns, das durchaus unter rein ethischen Gesichtspunkten fragwürdig sein kann, aus dem (sanktionsbewehrten) Berufsrecht heraus. Nämlich Stilwidrigkeit, Ungehörigkeit, Verstöße gegen den guten Ton, den Anstand und das Taktgefühl. All das – wird gesagt – mag unsachlich sein und auch dem Ansehen der Anwaltschaft abträglich; solange es unterhalb der von § 43a Abs. 3 S. 2 BRAO festgelegten Schwelle bleibt, muss es hingenommen werden41. Dies ist erst jüngst vom Bundesgerichtshof bestätigt worden42. Und die Bundesverfassungsrichterin Jaeger hat es vor kurzem noch einmal zusammengefasst43: „Schon die Fülle und die Art der Aufgaben erlauben es dem Anwalt nicht …. mit den Verfahrensbeteiligten immer so schonend umzugehen, dass diese sich nicht in ihrer Persönlichkeit beeinträchtigt fühlen. Im Kampf um das Recht dürfen auch starke, eindringliche Ausdrücke und Schlagworte benutzt werden; der Anwalt darf Urteilsschelte üben und ad personam argu-
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38 Siehe nur Feuerich/Weyland, (Fn. 25), § 43a Rz. 36. 39 Hartung in Hartung/Holl, (Fn. 8), § 43a Rz. 50 mit weiteren Nachweisen. 40 Hartung a. a. O.; Eylmann in Henssler/Prütting, (Fn. 8), § 43a Rz. 122; Feuerich/ Weyland, (Fn. 25), § 43a Rz. 52. 41 BVerfG, (Fn. 23), BVerfGE 76, 171 (191 f.); BVerfG v. 10. 7. 1996 – 1 BvR 873/94, StV 1996, 620; Feurich/Weyland, (Fn. 25), § 43a Rz. 34; Eylmann in Henssler/Prütting, (Fn. 8), § 43a Rz. 122; Hartung in Hartung/Holl, (Fn. 8), § 43a Rz. 38; KleineCosack, (Fn. 30), § 43a Rz. 72; Laufhütte in Karlsruher Kommentar, StPO, 5. Aufl. 2003, vor § 137 Rz. 5. 42 Beschluss v. 30. 3. 2004 – 3 StR 98/04, wistra 2004, 313. 43 Rechtsanwälte als Organ der Rechtspflege – Notwendig oder überflüssig? Bürde oder Schutz?, NJW 2004, 1 (3).
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mentieren, wenn es um mögliche Voreingenommenheit und Befangenheit von Richtern oder Sachverständigen geht. Auch die Form seiner Meinungsäußerung ist grundsätzlich dem Anwalt überlassen“ … Bei einem Beruf, zu dessen Auftrag gerade die Äußerung von Meinungen gehöre und für den Wort und Schrift die wichtigsten „Berufswaffen“ seien, gebiete die Verfassung hinsichtlich der Einmischung in das Wie der Aufgabenwahrnehmung Zurückhaltung. (3) Wahrheitspflicht Bleibt die dritte Fallgruppe des § 43a Abs. 3 S. 2 BRAO, das „bewusste Verbreiten von Unwahrheiten“. Die Einordnung dieses Verbots der Lüge unter das Sachlichkeitsgebot mag überraschen44, hat aber für die hier zu erörternde Thematik insoweit keine Bedeutung. Entscheidend ist vielmehr, dass hier der ohne Zweifel ethische Grundsatz der Pflicht zur Wahrheit45 als berufsrechtlich sanktionierbare Norm aufgestellt wird. Dabei ist allerdings nicht immer ganz eindeutig, ob die Wahrheitspflicht allein aus § 43a Abs. 3 S. 2 BRAO abzuleiten ist oder (nur) zusammen mit der Stellung des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege zu begründen ist; auch wird die Wahrheitspflicht teilweise ausschließlich aus der Organstellung abgeleitet46. Richtiger Auffassung nach ist § 43a Abs. 3 S. 2 BRAO sedes materiae der Wahrheitspflicht47; diese Vorschrift ist geschaffen worden anhand der Diskussion um die Wahrheitspflicht; dass hinter der Norm die Organstellung zu finden ist, mag durchaus sein und bei der Auslegung und Anwendung im konkreten Fall hilfreich sein. Der Strafverteidiger ist an dieser Stelle in besonderem Maße gefordert, sieht er sich jedoch fast täglich und in unzähligen Konstellationen mit der Wahrheitspflicht konfrontiert. Dahs hat dies in eindrucksvoller Weise 1999 in einem Vortrag geschildert48. So mag die Problematik hier nur an zwei Beispielen festgemacht werden: die Verteidigung des schuldigen Mandanten mit dem Ziel des Freispruchs und die sog. unwahre Verfahrensrüge. Es ist unstreitig und auch längst höchstrichterlich entschieden49, dass der Verteidiger seinen schuldigen Mandanten grundsätzlich mit dem Ziel eines
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44 Dazu Eylmann in Henssler/Prütting, (Fn. 8), § 43a Rz. 107. 45 Verbot der Lüge und Wahrheitspflicht werden hier – in Übereinstimmung mit der Literatur – synonym gebraucht. 46 Überblick bei Park, Die Beweiskraft des Protokolls und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten, StraFo 2004, 335 (336); Lüderssen in Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 2002, vor § 137 Rz. 170. – Dahs, Die Wahrheitspflicht des Strafverteidigers, StraFo 2000, 181 (186), meint, dass die Wahrheitspflicht des Strafverteidigers in der BRAO nicht normiert sei. 47 Eylmann in Henssler/Prütting, (Fn. 8), § 43a Rz. 102, 107 ff.; Feuerich/Weyland, (Fn. 25), § 43a Rz. 35, 38 ff. 48 (Fn. 46). 49 BGHSt 2, 375.
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Freispruchs verteidigen darf. Die Begründung – unsere Rechtsordnung will nicht eine Verurteilung um jeden Preis, sondern nur auf justizförmigem Weg – überzeugt. In dem „Ob“ liegt auch nicht das Problem; dies wird (erst) virulent, wenn es um das „Wie“ geht. Denn die höchstrichterliche Rechtsprechung verbietet ihm, die Ermittlungsorgane und das Gericht unter Vorspiegelung falscher Tatsachen bewusst irre zu führen, den Sachverhalt zugunsten seines Mandanten bewusst tätig zu verdunkeln und Beweisquellen zu trüben50. Kurzum: er hat die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit ist an dieser Stelle aber die Schuld des Mandanten! Offenbart er sie, verletzt er seine Beistands- und Schweigepflicht. Diesem schweren Konflikt wird gemeinhin mit der „Dahs’schen Formel“ begegnet: „Alles, was der Verteidiger sagt, muss war sein, aber er darf nicht alles sagen, was wahr ist.“51 Dahs hat selbst die Frage gestellt, ob dieser an sich griffige und verständliche Satz die Problematik wirklich umfassend erfasse52. Er tut es nicht, weil er (notgedrungen?) die neben der grundsätzlichen Zulässigkeit und der tatsächlichen Ausgestaltung dritte Komponente außen vor lässt: eben die moralische bzw. ethische. Es führt doch kein Weg daran vorbei, dass die Formel „gestattet, vieles zu verdecken und weniges zu enthüllen“53 und dass ein Verteidigereid, gäbe es ihn denn, lauten müsste: „Alles, was ich gesagt habe, ist wahr; aber ich habe einiges verschwiegen.“54 Und das nennt der „Volksmund“ gelogen. Nicht umsonst wird gerade von Laien diese Problematik immer wieder an den Verteidiger herangetragen. Sucht dieser nach einer Hilfestellung, wird er enttäuscht. Man verweist darauf, dass „er sein Verhalten an der eigenen Moralität ausrichten müsse“55 und dass er die Form der Verteidigung und den Inhalt seines Vortrages so wählen müsse, „dass das ehrenhaft bleibt, was (er) selbst dabei leistet“56. So führt eine berufsrechtliche Norm (§ 43a Abs. 3 S. 2 BRAO) – sei es mit oder ohne Organstellung – letztlich dazu, dass der einzelne Verteidiger im konkreten Fall sich anhand der von ihm für richtig gehaltenen moralischen/ethischen Maßstäben entscheiden muss; seine Berufsauffassung und sein Gewissen ihn dabei leiten werden57. Ein gutes Beispiel dafür, wie sich (geschriebenes) Berufsrecht, Ethik und allgemeines Recht (hier: Strafverfahrensrecht) „hart im Raume stoßen“, ist die Problematik der sog. unwahren Verfahrensrüge58. Damit sind die Fälle gemeint, in denen der Revisionsführer sich mit der Verfahrensrüge auf einen
__________ 50 51 52 53 54 55 56 57 58
BGHSt 2, 375 (377). Dahs, Handbuch (Fn. 1), Rz. 48. StraFo 2000, (Fn. 46), 181. Hammerstein, Verteidigung und Moralität, NStZ 1990, 261 (264). Hammerstein, (Fn. 53), 262. Hammerstein, (Fn. 53), 265. Hammerstein, Verteidigung wider besseres Wissen, NStZ 1997, 12 (15). Weihrauch, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 6. Aufl. 2002, Rz. 8 a. E. Dazu umfassend aus jüngster Zeit Park, (Fn. 46) und Detter, Die Beweiskraft des Protokolls und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten, StraFo 2004, 329; jeweils mit eingehenden Nachweisen.
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Verfahrensfehler beruft, der so im Protokoll der Hauptverhandlung dokumentiert ist, von dem er aber weiß, dass er tatsächlich nicht erfolgt ist; „erschwerend“ kommt hinzu, dass er im Hinblick auf § 344 Abs. 2 S. 2 StPO nicht „herumreden“ darf, sondern den Verfahrensverstoß als geschehen behaupten muss. Der Konflikt mit der Wahrheitspflicht liegt auf der Hand. Und so wird denn auch tatsächlich die berufsrechtliche Zulässigkeit einer solchen bewusst unwahr erhobenen Verfahrensrüge verneint59 – und/aber hinzugefügt, dass die Regeln des Revisionsrechts vorgehen und dass das Berufsrecht nicht in dessen Förmlichkeiten eingreifen darf. Man beachte: Kommt der Verteidiger seiner Pflicht zu einer ordnungsgemäßen Revisionsbegründung nach, begeht er automatisch einen Berufsrechtsverstoß! Anders formuliert: Was die StPO dem Verteidiger gebietet, verbietet ihm die BRAO. Es liegt auf der Hand, dass dieses Ergebnis unbefriedigend ist. Und so wird es denn auch mit den verschiedensten Begründungen „wegargumentiert“: Man müsse zwischen einem materiellen und einem formellen Wahrheitsbegriff unterscheiden; da die Wahrheitspflicht des Verteidigers durch seine Schutzaufgabe begrenzt sei60, gelte hier nicht der materielle Wahrheitsbegriff61; das Berufsrecht schränke den Verteidiger (grundsätzlich) „in keiner Weise ein; die Grenzen zulässiger Verteidigung bestimmen sich nach den allgemeinen Strafgesetzen und dem Strafverfahrensrecht.“62 Demgemäß verneint die ganz h. M. einen Verstoß gegen die Wahrheitspflicht63. (4) Sonstige Pflichten Die Wahrheitspflicht als wahrlich hohe ethische Norm findet sich – wie bereits ausgeführt – in § 43a BRAO unter der Überschrift „Grundpflichten des Rechtsanwalts“. Weitere Pflichten sind in dieser Vorschrift enthalten: Verschwiegenheit, Unabhängigkeit, Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen. Ohne Zweifel ethische Anforderungen; und so werden sie dann auch in den (wenigen) einschlägigen Veröffentlichungen zum „Ethos anwaltlicher Berufsausübung“64 und zur „Anwaltsethik unter der Geltung des neuen Berufsrechts“65 entsprechend vereinnahmt. Aber das sind „Grundpflichten“, die nicht die spezifischen Probleme der Ethik der Strafverteidigung betreffen: Ehrlichkeit, Würde, Vertrauen, Anstand, Takt, Wahrheit, Gewis-
__________ 59 So z. B. Detter, (Fn. 58), 334/335. 60 These 19 der Thesen zur Strafverteidigung, Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer, 1992. 61 Park, (Fn. 46), 338. 62 Mehle, Einschränkung der Strafverteidigung durch das Berufsrecht?, in FS für Peter Rieß, 2002, 317 (329). 63 Feuerich/Weyland, (Fn. 25), § 43a Rz. 42; Eylmann in Henssler/Prütting, (Fn. 8), § 43a Rz. 116; Park, (Fn. 46), 338; Dahs, (Fn. 46), StraFo 2000, 181 (185): „der Verteidiger darf nach Rechtslust lügen“; Laufhütte in KK, (Fn. 41), vor § 137 Rz. 13. 64 Prütting, AnwBl. 1994, 315. 65 Busse, AnwBl. 1998, 231.
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Strafverteidigung und Berufsrecht
senhaftigkeit66. Deshalb mag hier der Hinweis auf die Existenz dieser Vorschrift(en) genügen. bb) CCBE-Regeln Der „Rat der Anwaltschaften der Europäischen Gemeinschaft“ (CCBE)67 hat „Berufsregeln der Rechtsanwälte der Europäischen Gemeinschaft“ geschaffen68, die neben Vorschriften über Unabhängigkeit und Verschwiegenheit unter 2.2. mit der Überschrift „Vertrauen und Würde“ folgendes enthalten: „Das Vertrauensverhältnis setzt voraus, dass keine Zweifel über die Ehrenhaftigkeit, die Unbescholtenheit und die Rechtschaffenheit des Rechtsanwaltes bestehen. Diese traditionellen Werte des Anwaltsstandes sind für den Rechtsanwalt gleichzeitig Berufspflichten.“ Da hätten wir es eigentlich! Nur: Die CCBE-Berufsregeln finden zum einen nur Anwendung bei „grenzüberschreitender Tätigkeit“, wie § 29 BORA ausdrücklich bestimmt; und zum anderen ist ein Verstoß gegen die Europäischen Berufsregeln nur dann sanktionsbewehrt, wenn das nationale Recht dies vorsieht69. Damit wären wir wieder „am Anfang“. Trotzdem ist diese internationale Regelung sehr bemerkenswert. cc) § 1 BRAO § 1 BRAO bestimmt: „Der Rechtsanwalt ist ein unabhängiges Organ der Rechtspflege.“ Die Literatur dazu füllt Bibliotheken und führt zu fast weltanschaulichen Auseinandersetzungen. Besonders ist in der Praxis der Rückgriff auf diese Norm beliebt, wenn es um die „Disziplinierung“ des Rechtsanwalts geht. Speziell für die hier interessierende Thematik werden aus dieser Norm Anforderungen/Verpflichtungen abgeleitet und ein diesbezüglicher Verstoß auch sanktioniert70. Das aber ist schlicht falsch. Denn § 1 BRAO stellt nach heutigem berufsrechtlichen Verständnis – geprägt auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – keinen Eingriffstatbestand dar, regelt also selbst nichts71. Das ist schon im Hinblick auf Art. 12 GG und das Bestimmtheitsgebot sanktionsbewehrter Normen ohne weiteres einleuchtend.
__________ 66 67 68 69 70 71
Siehe auch oben II. 3. Dazu näher Lörcher in Hartung/Holl, (Fn. 8), Einführung CCBE, Rz. 1 ff. In der Fassung v. 28. 11. 1998. Lörcher, (Fn. 67), 1.2. CCBE, Rz. 2. Z. B. AnwG Hamburg, Urteil v. 1. 4. 1996 – II 14/96 EV 39/94, StraFo 1998, 142 (143). Koch in Henssler/Prütting, (Fn. 8), § 1 Rz. 21; Feuerich/Weyland, (Fn. 25), § 1 Rz. 8; Busse, (Fn. 65), 232 – jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung.
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dd) § 138 BGB Vereinzelt wird versucht, einer Verletzung des zivilrechtlichen Anwaltsvertrages berufsrechtliche Relevanz beizulegen. So soll beispielsweise ein Verstoß gegen die guten Sitten über die Transformationsfunktion des § 43 BRAO einen Berufsrechtsverstoß darstellen72. § 113 BRAO bestimmt jedoch, dass nur ein Verstoß gegen Pflichten berufsrechtlich geahndet werden darf, „die in diesem Gesetz oder in der Berufsordnung bestimmt sind“; dazu gehört das BGB nicht. Zudem regelt das BGB selbständig die Haftung bei der Verletzung zivilrechtlicher Pflichten, ist also insoweit (auch) als lex specialis anzusehen73. Fazit: Geschriebene berufsrechtliche Normen, die ein bestimmtes ethisches Handeln/Verhalten dem Strafverteidiger vorschreiben und deren Verletzung berufsrechtlich sanktioniert ist, sind also nur in dem beschriebenen Umfang vorhanden. Eine ernüchternde, enttäuschende Feststellung? b) Ungeschriebene „Normen“ Ist damit das Thema „erledigt“? Ein Blick auf verschiedene Veröffentlichungen lässt zweifeln. 1994 heißt es bei Prütting: „… dass anwaltliches Ethos nicht nur abstrakt notwendig ist, sondern dass in der Rechtsanwaltschaft durchaus ein ausgeprägtes Gespür für die Notwendigkeit ethischer Grundsätze vorhanden ist“74. 1998 stellt Busse die es auf den Punkt bringende Frage, „ob und inwieweit auch ohne Rückgriff auf normative Berufspflichten und ohne, dass dafür Sanktionen zur Verfügung stehen, sittliche Anforderungen an die anwaltliche Berufsausübung gestellt werden können“75. Landry konstatiert im Jahre 2000: „Jenseits des Berufsrechts bleiben Regeln der Ethik, des Anstands, des Stils und der guten Kinderstube, des Takts, der Höflichkeit, der Bescheidenheit und der menschlichen Rücksichtnahme sowie der Kollegialität.“76 2001 formuliert Salditt: „Wer meint, Ethik sei keine Kategorie der Dienst leistenden Berufsausübung, der sollte seinen Finger in den Wind halten.“77 Und keine Geringere als die (damalige) Bundesverfassungsrichterin Jaeger spricht 2003/2004 von „ethischen Grundsätzen“78 und „ethischen Standards“79. Selbst der Europäische Gerichtshof für Menschen-
__________ 72 73 74 75 76 77 78 79
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So Hartung in Hartung/Holl, (Fn. 8), Einführung Rz. 24. So zutreffend Kleine-Cosack, (Fn. 30), § 43 Rz. 16. (Fn. 64), 321. (Fn. 65), 232. (Fn. 7), 125. (Fn. 4), 151. (Fn. 43), 5. Künftige Stellung der Rechtsanwälte im System der Rechtspflege und in der Gesellschaft, NJW 2004, 1492 (1495).
Strafverteidigung und Berufsrecht
rechte verlangt von den Rechtsanwälten: „Ihr Verhalten muss …. zurückhaltend, ehrenhaft und würdig sein.“80 Das generelle Thema einer Ethik der Strafverteidigung ist also keineswegs erledigt – nur eben ihre Gründung, ihre Grundlage im geschriebenen, sanktionsbewehrten Recht. Wo die Grundlage, die Begründung dann aber zu suchen ist – damit tun sich alle Autoren schwer. Zwei Argumentationsstränge lassen sich feststellen, sie seien hier mit den Etiketten „Appellfunktion“ und „Pragmatismus“ versehen. Während Busse noch die „besonderen ethischen Anforderungen an einen Anwalt nur mit dem begründet …, was generell unverzichtbar ist, um diesen Beitrag zu einer funktionierenden Rechtspflege im weiteren Sinne leisten zu können“ und das „Grundvertrauen“ als die „Meßlatte ethischer Anforderungen an die Anwaltstätigkeit“ bezeichnet81, heißt es bei Landry, dass „die Beachtung“ (der ethischen Normen) „der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des einzelnen Rechtsanwalts“ unterliegt82, wobei er hinzufügt: „Das Berufsrecht verbietet es freilich auch nicht, ungeschriebene Regeln der Ethik und des guten menschlichen Zusammenlebens zu beachten.“ Salditt spricht zwar noch von Unabhängigkeit und persönlicher Verantwortung als der Anwaltethik, nähert sich dann aber schon einer pragmatischen Auffassung, wenn er meint, dass „es weniger auf die engeren straf- und berufsrechtlichen Regelungen“ ankomme, „sondern auf den freien und selbstbestimmenden Konsens darüber was vernünftig ist“, um dann – und nun ganz deutlich – fortzufahren: „Nur dieser Konsens sichert der Strafverteidigung im Interesse der Bürger eine starke Stellung im Strafprozess, die andernfalls rechtspolitisch gefährdet wäre“83. Und Prütting hatte schon vor 2 Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass die Bewahrung und Beachtung ethischer Grundsätze „eine wichtige Voraussetzung für eine langjährige und erfolgreiche Tätigkeit“ sei84. Unter der Überschrift „Verteidigung und Moralität“ weist Hammerstein darauf hin, dass das Ansehen, der gute Name des Verteidigers diesem den Prozesserfolg erleichtern85. Damit ist das gemeint, was Dahs unverblümt als „strategisches Kosten-Nutzen-Kalkül“ bezeichnet, dies nur als „halbe Wahrheit“ einordnet und „jedenfalls auf Dauer keine taugliche Grundlage“ für ein Handeln/Verhalten im Strafverfahren sieht86.
__________ 80 II. Sektion, Urteil v. 28. 10. 2003 – 39657/98 (Steur/Niederlande), NJW 2004, 3317 (3318). 81 (Fn. 65), 233. 82 (Fn. 7), 125. 83 (Fn. 4), 156. 84 (Fn. 64), 321. 85 NStZ 1990, 261 (263). 86 JR 2000, 96 (98).
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IV. Ergebnisse Daran anknüpfend kann zusammenfassend festgestellt werden: –
Eine Ethik der Strafverteidigung lässt sich nicht generell definieren; sie besteht aus unterschiedlichen Verhaltensweisen.
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Ethische Verhaltensweisen, deren Verletzung sanktionsbewehrt ist, finden sich im (geschriebenen) Berufsrecht nur minimalistisch.
–
Inwieweit sich der Verteidiger verpflichtet sieht, über das geschriebene Berufsrecht hinaus Grundsätzen der Ethik bei seiner Berufsausübung zu folgen, unterliegt seiner persönlichen Verantwortung und hängt von seiner persönlichen Integrität, Seriosität und Berufsauffassung ab.
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Damit einher gehen pragmatische Erwägungen, die anzustellen schon die Vernunft gebietet.
V. Ausblick Diese Ergebnisse und die ihnen zugrunde liegenden (fragmentarischen) Überlegungen vermögen aus manchen Gründen nicht zu befriedigen. Aber vielleicht gibt es gar keine anderen Ergebnisse und bleibt es bei dem, was vor fast 200 Jahren in einem Aufsatz über Berufspflichten der Verteidiger mit dem Titel „Über einige Missbräuche der öffentlichen Vertheidiger bei den Verhandlungen vor Geschworenen“ geschrieben wurde: Der Verteidiger sei nicht bloß verbunden „kein von den Gesetzen verwerfliches Mittel anzuwenden, die Wahrheit nicht absichtlich zu verdrehen, und sich von dem Anstande und der Achtung nicht zu entfernen, die er dem Gesetz, dem Gerichtshofe, der Moral und den guten Sitten schuldig ist“87. So bleibt denn abschließend die Erkenntnis, die Dahs in seinem eingangs erwähnten Vortrag/Aufsatz „Ethische Aspekte im Strafverfahren – Ein Denkanstoß“ schon formuliert hatte: „Das Recht lebt letzten Endes von Voraussetzungen … (die) sich schlechterdings der gerichtlichen Rechtskontrolle entziehen“88.
__________ 87 Rebmann; zitiert nach Schubert, Rebmanns Beiträge im „Magazin für deutsche und gerichtliche Polizeibeamte“ (1811 – 1813) über die rheinische Strafrechtspraxis, in Georg Friedrich Rebmann (1768 – 1824) – Autor, Jakobiner, Richter –, 1997, 190 (192). 88 JR 2000, 96 (98).
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Über Theorie und Praxis im Recht Inhaltsübersicht I. Vorbemerkungen II. Der „Gemeinspruch“ Kants III. Begriffsbestimmungen 1. Theorie und Praxis 2. Recht IV. Recht als Verwirklichung der Freiheit 1. Recht und Freiheit
2. Die freie Person als Ursprung von Theorie und Praxis 3. Differenz zwischen Theorie und Praxis V. Theorie und Praxis in der juristischen Ausbildung
I. Vorbemerkungen Hans Dahs, der mit dem folgenden Text zu Ehrende, ist Honorarprofessor an der Bonner Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät. Mit einer Honorarprofessur wird eine Leistung für die Gesamtheit des Rechts gewürdigt, die nicht aus der Universität selbst heraus erbracht wurde, sondern aus einem reflektierten und dadurch gegründeten Wirken für das Recht im Beruf, im Fall von Hans Dahs dem des Rechtsanwalts. Auf diese Weise erfährt die Universität und erfahren damit auch die Studierenden eine Bereicherung, die sie aus ihrer eigenen Kraft gar nicht gewinnen könnten. Auf den folgenden Seiten soll der Frage nachgegangen werden, ob in der Verbindung von Theorie und Praxis in einer Person nicht zugleich ein Zusammenhang in der Sache offenbar wird.
II. Der „Gemeinspruch“ Kants Anknüpfungspunkt für die folgenden Überlegungen ist ein Aufsatz von Immanuel Kant, der im September 1793 in der „Berlinischen Monatsschrift“1 erschienen ist unter dem Titel: „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“2. Kant reagierte damit auf Kritik an seiner Moralphilosophie, die darauf hinauslief, dass die von
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Zur Berlinischen Monatsschrift, die seit 1783 erschien und in der auch Kants berühmter Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ 1784 veröffentlicht wurde, siehe instruktiv Norbert Hinske, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, 3. Auflage 1981, XIII ff. Berlinische Monatsschrift 1793, 201 – 284. Der Text ist leicht zugänglich und wird hier auch zitiert (mit der Abkürzung „Gemeinspruch“) nach der Kant-Ausgabe in 10 Bänden von Wilhelm Weischedel, 1975 u. ö. Bd. 9, 125 ff.
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Kant geforderte Unbedingtheit des moralischen Gesetzes mit der Wirklichkeit menschlichen Handelns nicht in Einklang gebracht werden könne. Schon hier schimmert natürlich der von Kant zum Titel gemachte Gemeinspruch durch; die Moralphilosophie als Theorie, menschliche Handlungswirklichkeit als buchstäbliche Praxis. Aber der Gemeinspruch erhebt einen noch viel umfassenderen Geltungsanspruch für viele Felder menschlicher Betätigung. Und ein Gemeinspruch ist er noch heute, ja man könnte sogar sagen, dass er in unseren Zeiten besonders mächtig auftrumpft, in Zeiten, die sich besonders gern als nüchtern-pragmatisch verstehen und in denen Theorieferne von manchen geradezu als Qualitätsmerkmal begriffen wird. Zumal im Recht wird zwischen Theorie und Praxis oft eine tiefe Kluft gesehen. § 5 a Abs. 3 des Deutschen Richtergesetzes weist implizit darauf hin, indem er formuliert: „Die Inhalte des Studiums berücksichtigen die rechtsprechende, verwaltende und rechtsberatende Praxis …“ Das an der Universität gelehrte Recht, so kann man diesen Hinweis verstehen, hat nicht notwendig etwas mit der Praxis zu tun; gewiss gibt es Fälle, in denen es auf die Willens- oder Erklärungstheorie im Zivilrecht oder auf die Sitz- bzw. Gründungstheorie im Wirtschaftsrecht ankommt, aber in der Masse der Fälle spielt „Theorie“ keine Rolle. Nun bewegen sich die Überlegungen hier ganz offenkundig noch im Bereich von Vormeinungen. Das zeigt sich auch daran, dass der angebliche Gegensatz von Theorie und Praxis im Recht sich durchaus auch innerhalb der beteiligten Sphären von Universität und Rechtspraxis geltend machen kann. So müssen sich beispielsweise an der Universität die Grundlagenfächer wie Rechtsgeschichte und insbesondere Rechtsphilosophie des Verdachts erwehren, „Orchideenfächer“ zu sein3, die für das eigentliche Geschäft der juristischen Ausbildung in den Kernfächern des positiven Rechts keine selbständige Bedeutung mehr haben4. Und in der Rechtspraxis kann man bisweilen bei Amts- und Landgerichten, aber auch von Anwälten hören, die Revisionsgerichte entschieden an der Praxis vorbei. Wenn es also zu solchen Überspielungen des angeblichen Gegensatzes von Theorie und Praxis in die Gegensatzfelder selbst hinein kommen kann, dann wird offenkundig, dass noch eine genauere Begriffsklärung nötig ist, um erkennen zu können, worin denn dieser Gegensatz von Theorie und Praxis im Recht überhaupt besteht – wenn er denn besteht.
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Osterkamp/Thiesen Forum: Rechtsphilosophie – Orchideenfach oder juristische Grundausstattung? Ein Plädoyer für Grundlagenfächer, JuS 2004, 657 ff. Siehe z. B. die Bemerkungen von Röhl, Wozu Rechtsgeschichte?, Jura 1994, 173 ff., und Roellecke, Erziehung zum Bürokraten? – Zur Tradition der deutschen Juristenausbildung, JuS 1990, 337 ff., bes. 342. Als Analyse einer gegenwärtigen Geistesverfassung mögen die Aussagen in beiden Aufsätzen zutreffend sein, als Programm für den Anspruch einer Juristenausbildung sind sie mutlos.
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III. Begriffsbestimmungen 1. Theorie und Praxis „Theoria“ ist ein Wort aus dem Griechischen und bedeutet „Betrachtung“, aber auch „Erkenntnis“5. Schon hier aber ist festzuhalten, dass alle Erkenntnis einen Gegenstand hat, und soweit er ein Gegenstand der Erscheinungswelt oder aber der Welt mit anderen Personen (wie das Recht) ist, ergibt sich bereits an dieser Basis ein Hinweis darauf, dass „Theorie“ nicht etwas der Welt Entrücktes sein kann oder besser: sein muss. Doch schon bei Aristoteles entwickelt sich der Begriff der Theorie zur theoretischen Wissenschaft, die nach den Erklärungsgründen des Seienden fragt und sich damit abhebt vom einfachen Anschauen des sinnlich Erfahrbaren6. Scheinbar kann man schon allein dieser Begriffsbestimmung geradezu ansehen, wie das Leben aus der „Theorie“ entschwindet. Die Theorie leistet eine denkende, eine gedankliche Bestimmung der Gründe des Seins; Aristoteles stellt ihr dann auch konsequent die praktischen und poietischen Wissenschaften entgegen7. Einem solchen Begriff von Theorie entgegengesetzt ist der der Praxis. Ebenfalls ein Wort aus dem Griechischen, bedeutet es Handlung und Tat, als Verb aber auch: den Erfolg bewirken, etwas ausrichten, zustande bringen, erreichen8. Noch bevor man auf philosophische Bezüge dieses Begriffs näher eingehen muss, erkennt man allein an diesen Übersetzungen ins Deutsche, dass man gleichsam mitten im Leben steht. So klingt es dann auch an in der allbekannten Wendung einer der größten Dichtungen in deutscher Sprache: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum.“9 „Praxis“ hat aber auch eine vertiefte philosophische Bedeutung, und sie kann das Nachdenken über unser Thema weiter leiten. Praxis heißt die aus Gründen hervorgehende Handlung; Praxis ist, wie Kant im oben zitierten Aufsatz schreibt, nicht schon jede „Hantierung“10. Handeln ist vielmehr inhaltlich bewusste Zuwendung zur Welt; es setzt damit als spezifisch menschliches Verhalten Bewusstsein und Wissen voraus. An dieser Stelle erkennt man bereits eine Verbindung zwischen Theorie und Praxis, doch ist sie noch sehr vordergründig. Das sieht man gut, wenn man von dem nun entwickelten Punkt des Nachdenkens aus auf das Verhältnis von Theorie und Praxis im Recht blickt. Denn dass der Praktiker überhaupt Recht anwendet und somit aus sogar meist relativ präzisen Gründen heraus
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5 Zum Folgenden G. König, Art. Theorie, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Spalte 1128 ff. 6 Aristoteles, Metaphysik (hrsg. und übersetzt von Gohlke, 2. Auflage 1961), V, 1, 1026 a und X, 7, 1064 b; I, 2, 982 b. 7 Aristoteles, Metaphysik (wie Fn. 6), I, 1 b. 8 Zur Etymologie und zum Begriff siehe G. Bien, Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Fn. 5), Bd. 7, Spalte 1277 f. 9 J. W. Goethe, Faust I, Vers 2038 f. 10 Gemeinspruch (oben Fn. 2), 127.
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tätig wird, wird er gerne zugeben, schließlich kennzeichnet das ja seine Profession. Nur wird er darauf beharren, dass erst in seiner Tätigkeit das Recht sich mit Leben erfüllt: in der Gestaltung eines Vertrages, im Schreiben eines Schriftsatzes, im Auftreten vor Gericht oder im Abfassen des Urteils. Und dennoch kann man festhalten und wird es das Nachdenken auch voranbringen, dass es eine Praxis des Rechts ist und nicht der Gewalt. 2. Recht Damit treffen wir auf das dritte Substantiv im Thema dieses Aufsatzes, auf das Recht. Die Frage „Was ist Recht?“ ist die Ursprungsfrage der Rechtsphilosophie und die Qualität der Antwort macht zugleich die Qualität eines Rechtssystems aus. Diese Antwort kann hier nicht erschöpfend gegeben werden und sie kann auch nicht unmittelbar angegangen werden, sondern nur auf eine Weise, die in bestimmtem Sinn mit dem Problem von Theorie und Praxis zusammenhängt: In Deutschland ist das Verständnis dessen, was Recht ist, und das Verhältnis der Menschen zu ihm noch immer zu einem wesentlichen Teil dadurch geprägt, dass die Rezeption des Römischen Rechts, eines in Jahrhunderten wissenschaftlich bearbeiteten Rechts, stattfand. Dieses Recht war in seiner Sprache fremd, und es war das Recht des gelehrten Juristenstandes, der es in seiner Sprache und seiner Sache beherrschte und so dem Leben der Menschen gegenübertrat. Dieses Recht war fremd in einem umfassenden Sinn des Wortes; die in ihm enthaltene Gerechtigkeit war vorgeschrieben11. Noch heute ist das Bild des Juristen aus der Perspektive der so genannten juristischen Laien (die auch gelegentlich als „Rechtsunterworfene“ bezeichnet werden) auf diese Weise geprägt. Diese Fremdheit gegenüber dem Recht in Deutschland war wohl nur in den glücklichen Tagen der Herausbildung der Paulskirchen-Verfassung für einen historischen Moment aufgehoben – aber es ist bekannt, wie schnell dieser Moment vorüber war.
__________ 11 Bezeichnend ist, wie ein herausragender Kenner des römischen Rechts, Paul Koschaker, auf dieses Problem eingeht. In seinem Buch „Europa und das römische Recht“ findet er es ganz natürlich, dass eine „Minorität“ im Volk (die Juristen) dem Rest das Recht vorgibt, so wie ja auch die Ärzte ihren Patienten nicht alles verständlich machen könnten, was sie mit ihnen zur Therapie einer Krankheit anstellten (Europa und das römische Recht, 4. unveränderte Auflage 1966, 196 ff.). Nun muss man zwar berücksichtigen, dass Koschaker sich hier gegen eine mindestens genau so einseitige Lehre eines „Volksgeistes“ wendet, deren gewiss trivialste Form Koschaker selbst gerade durchlebt hatte (die 1. Auflage des Buches erschien 1947). Aber dennoch ist dabei verkannt, dass sich ein solches Verhältnis von Recht und Bürger, wie er sie vertritt, mit einem neuzeitlichen Rechts- und Staatsverständnis nicht mehr vereinbaren lässt: Das in die Antike eingebrochene tiefere Prinzip der Subjektivität verlangt anders geformte Begründungen. Dazu sogleich im Text.
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„Theorie“ war ein solches Recht in positiver wie in negativer Hinsicht: positiv insofern, als es ein staunenswert ausgearbeitetes System von Rechtsregeln war, die so viel an Rechtsweisheit enthalten, dass wir auch heute noch mit ihnen und aus ihnen sprechen können. Negativ war es „bloße Theorie“, weil es in seiner Fremdheit abstrakt erschien, losgelöst von den Lebensformen und Weltsichten der Menschen, für die es doch gelten, deren Recht es doch sein sollte und deren Selbstverständnis sich seit den Zeiten der Entstehung dieses Rechts im Fundament gewandelt hatte. Die Praxis solchen Rechts unterschied sich daher auch in ihrer Distanziertheit aus der Sicht derjenigen, auf deren Lebensverhältnisse diese Praxis sich bezog, gar nicht wesentlich von einer „Theorie“ des Rechts in einem abstrakten Sinne12. Es ist nicht bedeutungslos, dass wir noch heute die Zuordnung eines Lebenssachverhalts zu einer Norm als einen wesentlichen Teil der juristischen Arbeit betrachten und diesen Vorgang mit dem lateinischen Begriff der Subsumtion bezeichnen: da mihi facta, dabo tibi ius. Mit diesen Ausführungen soll keineswegs der Streit zwischen Deutschrechtlern und Romanisten aus dem 19. Jahrhundert wiederbelebt werden. Es ist nicht zu bezweifeln, dass das Römische Recht eine der gewaltigsten Kulturleistungen der Menschheit darstellt, und die Jurisprudenz würde sich ihre eigenen Wurzeln abschneiden, wenn sie die Einsichten der römischen Juristen nicht mehr als Teil der zu bewahrenden Tradition des Fachs begreifen würde. Der im Folgenden einzuschlagende Gedankengang hat jedoch etwas anderes im Blick, er zielt auf die prinzipielle Betrachtung des Rechts und damit auf die rechtsphilosophische Ausgangsfrage: Er will etwas zur Geltung bringen, was in seiner umfassenden Bedeutung auch im gegenwärtigen Rechtsverständnis noch nicht hinreichend berücksichtigt ist, obwohl es einen in der Geistesgeschichte entscheidenden Wendepunkt betrifft. Es geht um die Bedeutsamkeit der Einsicht des einzelnen für die Konstituierung des Rechts und damit auch seines Rechts; es geht also um das Verständnis des Rechts als Verwirklichung der Freiheit des Menschen.
__________ 12 Man könnte die Auffassung vertreten, dass in merkwürdiger Weise diese Rechtsdistanz übergesprungen ist auf die Rechtsetzung der Europäischen Union, die bekanntlich in ihrem Kern durch die Exekutive erfolgt und daher in einem staatstheoretisch-vertieften Sinn eine despotische Gesetzgebung ist (siehe dazu Kant, Zum ewigen Frieden, Werke [Fn. 2] Bd. 9, 207). Auffällig ist auch, dass der Entwurf von strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union von einer Gruppe von Strafrechtlern „Corpus Iuris“ genannt wurde. Siehe dazu auch Köhler, Form und Inhalt europäischer Strafrechtsangleichung, KritV 2001, 305 ff.; ders., Rechtsstaatliches Strafrecht und europäische Rechtsangleichung, Mangakis-FS, 751 ff.
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IV. Recht als Verwirklichung der Freiheit 1. Recht und Freiheit Die am Ende des letzten Abschnitts formulierte These dürfte auf den ersten Blick etwas merkwürdig erscheinen. „Freiheit“ war das Bannerwort der Aufklärung und dann der französischen Revolution, kraftvoll genug, um die Herrschaft des Absolutismus zu brechen und – im 20. Jahrhundert – das System des „realen Sozialismus“ zum Einsturz zu bringen. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat und die Europäische Union definiert sich als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts13. Wie also kann man die Behauptung aufstellen, das Recht, das wir haben, bedürfe zu seinem Verständnis noch der Ergänzung um den Begriff der Freiheit? Um die Berechtigung dieser These auszuweisen, muss in tiefere Schichten des Begriffs der Freiheit eingedrungen werden. Bahnbrechende Gedanken – wie es der Begriff der Freiheit als Ursprungsbedingung des Rechts ist – sind noch nicht die damit eröffnete Bahn selbst; Freiheit der Person als Fundament des Rechts und – in dessen Folge – der Politik sind nicht schon dann in die Wirklichkeit gebracht, wenn der Gedanke einmal gedacht ist. Denn wenn man die Freiheit des Menschen in ihrer Substanz erfasst, dann erkennt man, dass sie die Weise seines Lebens bezeichnet. Verbindet man sie mit dem Recht, wie es in der großen Philosophie eines Kant, eines Fichte und eines Hegel geschah, dann kennzeichnet man das Recht seinerseits als Lebensform; damit muss es aber geradezu notwendig die Eigenschaft verlieren, theoretisches Konstrukt zu sein, das über die scheinbar von ihm distanzierten Lebensformen der Menschen von einer Macht, die nicht die ihre ist, wie ein Netz geworfen wird. Recht und Leben sind dann verschiedene Seiten einer Einheit, „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“14. Ein solcher Wandel des Rechtsverständnisses geschieht nicht von heute auf morgen, ja noch nicht einmal in einer Generation. Dieser Wandel betrifft individuelle und kollektive Weltsichten zugleich, und weder ein Individuum noch eine politische Gemeinschaft wechseln solche Weltsichten wie Kleider. Zwingen dazu kann man sie schon gar nicht, wie aus dem Begriff der Freiheit selbst hervorgeht, die Grund und Ziel des gesamten Prozesses zugleich ist15.
__________ 13 Siehe zum Verhältnis von Freiheit und Recht auf derzeitiger europäischer Ebene kritisch aber auch Hoffmann, Über Freiheit als Ursprung des Rechts. 18 Thesen zur Rechtsbegründung mit Blick auf die Grundrechte-Charta der Europäischen Union, Zeitschrift für Rechtsphilosophie 2003, 16 ff. 14 J. W. Goethe, Urworte orphisch, Daimon/Dämon, in: Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, 6. Auflage 1988, 879 f. 15 Wie Kant richtig gesehen hat, kann daher in historischer Perspektive nur die Reform (allerdings nach Prinzipien, nicht das, was man heute so „Reform“ nennt) ein der Freiheit selbst angemessener Fortschritt aus ihr und zu ihr zugleich sein; vgl. z. B. Metaphysik der Sitten, Werke (Fn. 2) Bd. 7, 437 ff.; dazu auch Langer, Reform nach Prinzipien, Untersuchungen zur politischen Theorie Immanuel Kants, 1986.
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Wenn also auch die Epoche der Aufklärung sich selbst, ihrer Zukunft und unserer Gegenwart die Stichworte gegeben hat: Freiheit, Menschenrecht, Solidarität, so heißt das doch nicht, dass damit allein schon eine Tradition des Rechts und eine Form der Macht von heute auf morgen ersetzt worden wäre durch eine ganz neue; allein die Geschichte Frankreichs nach der Revolution von 1789 zeigt das ja ganz deutlich. Im Folgenden soll also die These vertreten werden, dass ein in seiner Substanz auf Freiheit beruhendes Recht allererst das Ziel ist, wobei freilich der Weg zu ihm seinerseits auf Freiheit gegründet ist. In diesem Zusammenhang muss dann auch das Verhältnis von Theorie und Praxis neu bestimmt werden. 2. Die freie Person als Ursprung von Theorie und Praxis In einem freiheitsgegründeten Begriff des Rechts wird das Recht auf einen Ursprung zurückgeführt und von ihm aus entwickelt, der es der bloßen äußeren, autoritären Macht endgültig entwindet: die freie und damit verantwortlich handelnde Person16. Zurückgeführt wird dabei aber das Recht nicht so, dass es unter bloßer Behauptung der Freiheit in eine künstlich-äußerliche Verbindung mit den Individuen gebracht wird. Es genügt dem Begriff der Freiheit keineswegs die Vorstellung, auf der einen Seite sei hier der Gesetzgeber und auf der anderen sei dort der Bürger, und nun müsse man diesem möglichst viel Vertrauen in die Güte von jenem einflößen. So würde die Person dem Recht nur subsumiert; solches Recht leistet auch eine väterliche Regierung, die Kant als den größten Despotismus gegeißelt hat, da sie die Bürger wie Kinder behandelt17. Auf die freie Person wird das Recht erst dann zurückgeführt und gegründet, wenn die Person in ihrem selbstbegründeten, selbstverantworteten Leben als Konstituent des Rechts begriffen wird. Ein Staat ist nach Kant die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen18 –, Rechtsgesetzen jedoch, die sie sich selbst gegeben haben. An der Basis wird durch diese Selbstgesetzgebung die Verfassung einer Rechtsgemeinschaft geschaffen, wobei die Verfassung ihrerseits aus Freiheitsprinzipien entwickelt sein muss, so dass in ihr der pouvoir constituant des Volkes seinen Ausdruck findet19. Das konkrete Rechtsleben eines Volkes formt sich dann durch die Vorgaben einer solchen Verfassung. Wie immer es dabei vermittelt ist über Repräsentationsorgane oder politische Parteien: immer muss gegenwärtig sein, dass das Volk der Souverän ist. Das Volk übt
__________ 16 Siehe dazu auch Verf., E. A. Wolff-FS, 1998, 509 ff. 17 Siehe Gemeinspruch, S. 145 f.; siehe auch Metaphysik der Sitten (Fn. 15), § 49 (435 f.). 18 Metaphysik der Sitten (Fn. 15), § 45 (431 f.). 19 Kant, Metaphysik der Sitten (Fn. 15), § 43 (429); dazu Köhler, Begriff der freiheitlichen Rechtsverfassung, Rechtstheorie 1995, 387 ff.; ders., Gesellschaft und Staat nach freiheitlichem Rechtsprinzip im Übergang zu einer internationalen Gerechtigkeitsverfassung, Mestmäcker-FS, 211 ff.
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die Staatsgewalt also nicht etwa nur in Wahlen aus, sondern – wie es das Grundgesetz in Art. 20 Abs. 2 auch formuliert – permanent durch seine besonderen Organe des Rechts: Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung20. Hält man allerdings diese Aussagen vor die Erfahrungen gegenwärtiger Zustände einer Parteien- und Mediendemokratie in ihrer kaum noch glaublichen Oberflächlichkeit, dann dürfte sich ganz besonders deutlich der Gemeinspruch aufdrängen: Das mag ja in der Theorie richtig sein, taugt aber doch nun wirklich nicht für die Praxis. Doch das verkennt, welche Dimensionen und welche Kraft der Begriff der Freiheit hat. Mit ihm unmittelbar verbunden ist die Einsicht in die Geistnatur des Menschen. Der Mensch hat das Vermögen, sich seine Gesetze selbst zu geben; sein Leben ist selbstbestimmt und bewusst jedenfalls seiner Grundverfassung nach21. Von dieser Basis aus lässt sich überhaupt erst sinnvoll von einem gelingenden Leben, von Freiheit reden und entsprechend dann auch von Verfehlung und Unrecht. Diese Aussagen gelten aber nicht nur für eine elitäre kleine Führungsschicht, sondern nach dem Erkenntnisgewinn der Neuzeit für jeden einzelnen. Eine jede Praxis, die sich auf dieses Leben und seine Grundverfassung bezieht (und Recht und Politik weisen im höchsten Maß diesen Bezug auf), muss diesem Grundzug des Menschen gerecht werden. Gelingt ihr dies nicht und behauptet sie trotzdem, dem Recht und der Freiheit zu dienen, wird der lügnerische Widerspruch irgendwann so deutlich empfunden werden, dass er – auf welche Weise auch immer – aufgehoben wird. Rechtliche und politische Praxis ruht also notwendig auf einer sehr gehaltvollen Theorie auf, soll sie richtige Praxis sein und Bestand haben. Vergisst man diesen Zusammenhang, dann wird „Praxis“ zum bloßen „Hantieren“, zum Herumtappen in Gestaltungen des Zufalls und damit selbst zum zufälligen Ereignis. Zumal die Praxis der Juristen wird Zwangsgewalt, wenn sie nicht auf dem Fundament der entwickelten Freiheit als Gerechtigkeit ruht. Wird das Recht also substantiell so gedacht, dass es für seine Geltung unmittelbar verbunden ist mit der Handlungsperspektive des je einzelnen in seiner Vernunftbegabung, dann nimmt das Recht die Praxis der Menschen in sich und notwendig in seine Theorie auf. Theorie des Rechts, Praxis des Rechts und das praktische Leben der Menschen bilden dann einen Zusammenhang, in dem zwar verschiedene Stufen von Abstraktion einerseits (zum Recht
__________ 20 Siehe zum Grundzusammenhang der drei Gewalten in freiheitsgesetzlicher Sicht, Kant, Metaphysik der Sitten (Fn. 15), § 45 (431 f.). 21 Siehe Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke (Fn. 2) Bd. 6, 41 ff., 49; ders., Kritik der praktischen Vernunft, Werke Bd. 6, 138 ff. Zum weitergehenden allgemeinen Zusammenhang auch Henrich, Der Mensch als Subjekt in den Weisen seines Mitseins, in: Hügli/Kaegi/Wiehl, Einsamkeit – Kommunikation – Öffentlichkeit, 2004, 27 ff.
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hin), und von einer Konkretisierung andererseits (zu den Lebensvollzügen hin) festzustellen sind, ohne dass dabei aber der gegebene Zusammenhang aufgelöst würde. Damit ist das Recht einer Gemeinschaft zugleich immer auch ein Faktor ihrer Identität, indem allgemeine Aussagen über das Richtige geschaffen und zugleich im Leben verwirklicht werden. Rechtsordnungen kann man nicht auf Schiffe verladen und exportieren. Deshalb sollte man auch Differenzen zwischen Rechtskulturen nicht mit so leichter Hand beiseite wischen, wie das heute bisweilen geschieht. Denn der innere Zusammenhang des Rechts mit der Selbstbestimmung des Menschen als lebendige Verbindung schafft Differenzen zwischen Gemeinschaften, genau wie sie verschiedene Sprachen, Kulturen und schließlich Religionen auch schaffen22. Auch freiheitliche Verhältnisse zwischen Völkern und Staaten selbst können aussichtsreich nur geschaffen werden, wenn diese Differenzen anerkannt werden und auf der Basis dieser Anerkennung eine höhere Einheit nach selbständigen Kriterien angestrebt wird. Die bloße Behauptung einer Welt-Identität bewirkt noch nicht deren Realität, noch nicht einmal in Europa. Indem so an der Basis das Recht mit dem bewussten Leben der Einzelnen verbunden ist, erfährt das Recht eine Neubestimmung. Das Recht ist kein formal-logisches Gefüge abstrakter Sollenssätze, die erst in einem zweiten zusätzlichen Schritt mit dem Bewusstsein und der Lebenswirklichkeit der Menschen verbunden werden, sondern es ist selbst begriffene vernünftige Praxis. Die „Anwendung“ einer Norm ist dann nicht mehr hinreichend beschrieben mit der Subsumtion eines Sachverhaltes unter sie, sondern sie ist Explikation dessen, was in der Norm immer schon enthalten ist23. Wenn also vor diesem Hintergrund von der Theorie und der Praxis des Rechts gesprochen wird, dann wird nicht von etwas in der Sache Unterschiedenem gesprochen, sondern immer schon umfassend vom Recht selbst. Eine Theorie des Rechts ohne Praxis wäre leer, eine Praxis ohne Theorie wäre blind. Eine welt- und lebensfremde Theorie kann keine Theorie des Rechts sein und eine Praxis ohne systematische Rechtsbegriffe wäre nur das zufällige Spiel mit dem Schicksal von Menschen in der Verkleidung des Rechts. Die Tatsache, dass gegenwärtig so viel von der Bedeutung der „Praxis“ und fast schon verächtlich von der „Theorie“ gesprochen wird, beide also in ein Widerspiel gebracht werden, ist nichts anderes als das Symptom eines intellektuellen Defekts einer Gesellschaft, die implizit damit nur eingesteht, dass sie auf das Denken am liebsten ganz verzichten würde.
__________ 22 Dazu auch Kant, Zum ewigen Frieden, Werke (Fn. 2) Bd. 9, 225/226. 23 Daher ist mit dem Gesagten auch mehr gemeint als der methodische Verweis auf die Hermeneutik als Auslegungskunst. Denn es geht nicht nur um Verständnisgewinn des Juristen im Verhältnis zu einem Text, sondern es geht um die Explikation von praktischer Orientierung an der Norm im wirklichen Handeln durch die „Normbetroffenen“ selbst.
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3. Differenz zwischen Theorie und Praxis Sind damit Theorie und Praxis im Recht auf einen beide gemeinsam begründenden Ursprungsgedanken zurückgeführt, so können nunmehr von diesem Boden aus spezifische Differenzen zwischen beiden genauer in den Blick genommen werden. Denn es gibt Unterschiede; diese sind in der Sache begründet und schließlich auch in den Menschen, die dieser Sache dienen. Um dies zu erläutern, soll wieder auf Kants Aufsatz über den „Gemeinspruch“ eingegangen werden. An dessen Anfang schreibt er folgendes: „Man nennt einen Inbegriff selbst von praktischen Regeln alsdann Theorie, wenn diese Regeln, als Prinzipien, in einer gewissen Allgemeinheit gedacht werden, und dabei von einer Menge Bedingungen abstrahiert wird, die doch auf ihre Ausübung notwendig Einfluss haben.“24 Eine Theorie praktischer Regeln fordert also eine gedankliche Arbeit, die das Herausbilden der Allgemeinheit solcher Regeln im Blick hat, wobei im Recht hinzukommt, dass die Gerechtigkeit den Oberbegriff dieser Allgemeinheit bildet und der Zusammenhang der Regeln die Entfaltung des Oberbegriffs bedeutet. Diese gedankliche Arbeit ist eine selbständige Arbeit, unterschieden von der Arbeit am Einzelfall. Denn bei der Arbeit am Einzelfall kommt ein Element hinzu, das jedem Juristen bei der Subsumtion wohl bekannt ist und das bei der Herausbildung von Prinzipien nicht in gleicher Stärke auftritt: die Urteilskraft. Mit ihr wird in der praktischen Rechtsanwendung ein Fall in all seinen Buntheiten einer Regel unterstellt – und dieser Akt der Urteilskraft kann durch keine neue allgemeine Regel selbst wieder generalisiert beschrieben werden; das ginge, wie Kant selbst sagt25, ins Unendliche26. Mithin fasst die theoretische Arbeit im Recht Leben in Begriffe, die praktische Arbeit lässt Begriffe wieder ins Leben treten. Deshalb kann weder der Praktiker auf Theorie verzichten, denn sonst wäre seine Arbeit rechtlose Willkür, noch kann der Theoretiker meinen, mit seiner Arbeit sei die Arbeit an der Gerechtigkeit schon vollständig geleistet: sie verharrte in der Abstraktion. Wenn dabei vom „Theoretiker“ und vom „Praktiker“ die Rede ist, wird damit nicht eine Klassifikation ausgesprochen, die den Vormeinungen zum Thema entspricht. Anerkannt wird damit vielmehr eine Differenz, die generell gesehen auch erlebbaren Menschentypen entspricht. Schon in der Antike
__________ 24 Gemeinspruch, 127. 25 Wie Fn. 24. 26 Die mittlerweile unzähligen Fallkompendien in der juristischen Ausbildung suggerieren vielen Studierenden das – unerreichbare – Gegenteil, nämlich die Entscheidung des Einzelfalls gleichsam als Gesetzmäßigkeit generalisieren zu können, die Urteilskraft also aus dem Zusammenhang zu entfernen. Urteilskraft kann man aber nicht lernen, sondern man muss sie üben.
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hat man die vita activa von der vita contemplativa unterschieden27. Dabei wurde zwar bisweilen eine höhere Würdigkeit der vita contemplativa behauptet, doch ist dem zu widersprechen. Beides sind Lebensformen des Menschen im Umgang mit der Welt, und man sollte anerkennen, dass die einen nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten, sich mehr der Theorie widmen müssen und andere mehr der Praxis. (Dass beides auch zusammenkommen kann, zeigt die Institution des Honorarprofessors.) Aufgrund des aufgewiesenen Zusammenhangs zwischen Theorie und Praxis sollte freilich jede Seite sich stets bewusst halten, was sie der jeweils anderen verdankt in der Arbeit an der gemeinsamen Sache.
V. Theorie und Praxis in der juristischen Ausbildung Diese Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis im Recht hat auch Auswirkungen auf die Art und Weise der juristischen Ausbildung, zumal an der Universität. Diesem Bezug soll abschließend im hier möglichen Umfang nachgegangen werden28. Die juristische Ausbildung muss beide Seiten des Verhältnisses im Blick halten und sie entsprechend (als „Ausbildungspraxis“) realisieren. Sie kann nur so erfolgen, dass sich der Student zuerst mit der „Theorie“ vertraut macht, das heißt systematische Kenntnisse in den Kernmaterien des Rechts und seinen Grundlagen erwirbt. Diese Materien sind aber ihrerseits nicht naturwissenschaftlich objektivierbare Realität, sondern begriffene Praxis eines freiheitlichen Rechtsstaats. Sich in sie einzuarbeiten heißt in bestimmter Weise sich in sie einzuleben. Das setzt einen Prozess voraus, der Zeit in Anspruch nimmt, und kann nicht geleistet werden durch ein Hetzen von Gegenstand zu Gegenstand; damit würden nur äußere Kenntnisse gleichsam touristischer Art erworben. Die Studienzeit mit 8 Semestern festzusetzen, wie § 5 a Abs. 1 des Deutschen Richtergesetzes dies vorsieht, bestimmt den Zeitaufwand ganz gewiss an der untersten Grenze. Die Erfahrung in Ausbildung und Prüfung zeigt, dass viele Studierende mit gutem Grund längere Zeit benötigen. Aber nicht nur gründliches Wissen ist zu erwerben, sondern auch die juristische Urteilskraft ist zu üben, als integraler Bestandteil juristischen Arbeitens. Die Juristenausbildung in Deutschland, die man doch prinzipiell nicht schlechtreden sollte, beruht auf dieser Verbindung. Diese Ausbildung als Richterausbildung beschreiben kann nur, wer nicht den allgemei-
__________ 27 Vgl. noch einmal die Stichworte „Theorie“ und „Praxis“ im historischen Wörterbuch der Philosophie (oben Fn. 5 und Fn. 8). Ferner Snell, Theorie und Praxis, in: ders., Die Entdeckung des Geistes, 6. Auflage 1986, 275 ff.; H. Arendt, Vita activa, München o. J., 18 ff. 28 Zum folgenden vor allem Köhler, Zur Reform des rechtswissenschaftlichen Studiums, JR 1991, 48 ff.; Kahlo, Wozu heute Rechtswissenschaften lehren und studieren?, in: Meurer-Gedächtnisschrift, 583 ff.
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nen Aspekt des Rechts bedenkt. Das Recht ist in einem Rechtsstaat allgemeinverbindlich und auch -verbindend. Es ist nicht das Recht der Anwälte oder allgemein der rechtsanwendenden Berufe, sondern zunächst Recht für alle Bürger: Es muss auch dann noch Recht sein, wenn man für die Gegenseite auftritt. Dass bei der genaueren Bestimmung der Inhalte der Ausbildung die Wirklichkeit des Rechts nicht aus dem Blick verloren werden darf, ist eine Selbstverständlichkeit, deren Berücksichtigung aber dem Wesen des Rechts nach dem oben Gesagten selbst inhärent ist. Ob sich nach der Universitätsausbildung sinnvollerweise noch eine praktische Ausbildungsphase anschließen sollte, wie es in Deutschland üblich ist, dieser Frage kann hier nicht mehr nachgegangen werden. Schließen sollen die Überlegungen vielmehr mit einer Betrachtung über die Essenz des Universitätsstudiums selbst und damit über sein Ziel und seine Idee. Wer von Wissenschaft und von Universität spricht, dem muss klar sein, dass er vom Streben nach Wahrheit spricht. Das betrifft nicht etwa nur die naturwissenschaftlichen Fächer, wie man in Folge bestimmter Denkströmungen des 19. Jahrhunderts immer noch gerne annimmt, sondern das gilt uneingeschränkt auch für das, was man mit dem Ehrentitel der Geisteswissenschaften versehen hat, wozu die Rechtswissenschaft zählt. Dass eine solche Aussage derzeit nicht populär ist, ja dass sie in geradem Gegensatz zur Intention all derer steht, die aus der Universität eine effizient arbeitende Produktionswerkstatt für vielseitig verwendbares Humankapital machen wollen, ändert nichts an ihrer Wahrheit. Um sie wieder – gegen unleugbar äußerst wirkmächtige Strömungen eines Zeit“geistes“ – in Geltung zu setzen, empfiehlt es sich, an Einsichten anzuknüpfen, die in der Tradition schon einmal gewonnen waren. Friedrich Schiller hat in seiner berühmten Jenaer Antrittsvorlesung „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalhistorie?“29 die Studenten eingeteilt in den Brotgelehrten und den philosophischen Kopf. Der Brotgelehrte sammelt Wissen allein zu dem Zweck an, es möglichst schnell und einfach im Erwerbsleben zu seinem Lebensunterhalt einsetzen zu können. Am Selbstdenken ist er nicht interessiert, denn das stört nur die Anhäufung äußeren Wissens. Dagegen setzt Schiller den philosophischen Kopf. Er studiert um der Sache selbst willen und sucht das Ganze einer Wissenschaft auch in ihren Zusammenhängen mit anderen Disziplinen zu verstehen. Ein neuer Gedanke ist für ihn nicht eine Qual wie für den Brotgelehrten, der dabei nur den Zwang sieht, sich noch etwas weiteres merken zu müssen; für den philosophischen Kopf liegt darin vielmehr die
__________ 29 Siehe Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. von Fricke/Göpfert, 1958, Bd. 4, 749 ff.
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Möglichkeit, die Einsicht in das Fach zu erweitern und zu vertiefen. Sein Studium ist letztlich Menschenbildung, nicht (bloße) Berufsbildung30. Dabei sollte man eines nicht missverstehen: Auch Schiller wusste natürlich, dass die „philosophischen Köpfe“ nach den Jahren an der Universität ihre dort erworbene Bildung im Erwerbsleben würden ausüben müssen. Ihm ging es – wie schon der Titel seiner Vorlesung zeigt – um etwas anderes: Er sah den unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Inhalt des Studiums und der Art und Weise, wie man sich mit dem Inhalt vertraut machen muss; die beiden Idealtypen von Studierenden stehen damit gerade auch für den Inhalt des Studiums selbst. Fragt man vordergründig danach, was später einmal im Beruf nützlich sein kann, versucht man notwendig vergeblich, programmatische Ordnung in die unabsehbaren Lebensfolgen einer Ausbildung zu bringen. Solches Vorhaben widerspricht auch eigentümlich den zumeist gleichzeitig erfolgenden Hinweisen, gerade heute befinde sich die Welt im permanenten Wandel. Maßgebend für die Aussagen über den Gehalt eines Studiums können nur Aussagen über die Sache selbst sein, um die es geht, in unserem Fall also über das Recht. Wie Schiller richtig schreibt, würde sich die Wissenschaft zu weit von ihrem höheren Endzweck entfernen, wenn sie bestrebt sei, sich dem Brotgelehrten nützlich zu machen31. Die Substanz der Rechtswissenschaft aber ist das freiheitsstiftende und -bewahrende Recht einer Republik, in Theorie und Praxis. Das Studium dieses Gebiets muss selbst freiheitssetzend sein, darf nicht die Oberflächlichkeit zum Programm erheben. Der „Nutzen“ einer substantiellen Ausbildung im Recht ist auf lange Sicht sehr viel sicherer für ein Gemeinwesen (Republik) gewährleistet als bei einer kurzatmigen Ausrichtung an diffus formulierten Interessen etwa eines so genannten Arbeitsmarkts.
__________ 30 Wäre man sich heute allgemein über die Essenz des Studiums im Klaren, sähe man auch deutlicher, wie lächerlich es ist, die in § 5 a Abs. 3 Deutsches Richtergesetz begriffslos aneinander gereihten „Schlüsselqualifikationen“ zum Gegenstand des Studiums zu machen. Sie können nur Ergebnisse einer humanistischen Bildung sein, eventuell durch bestimmte Techniken etwas verfeinert. 31 A. a. O. (Fn. 29), 754.
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Bemerkungen zur subjektiven Tatseite der Untreue Inhaltsübersicht I. Allgemeines zur subjektiven Tatseite 1. Anlaß 2. Zur Untrennbarkeit von Vorsatz und Unrechtsbewußtsein
II. Speziell zur Untreue 1. Treubruchstatbestand 2. Mißbrauchstatbestand III. „Mannesmann-Urteil“
Hans Dahs hat Praxis und Theorie des Strafrechts stets in fruchtbarer Weise miteinander zu verbinden gewußt. Deshalb sei ihm der folgende Beitrag eines Theoretikers zu einem praktischen Fall in der Hoffnung gewidmet, er werde die Ausführungen als Geschenk zu seinem 70. Geburtstag akzeptieren.
I. Allgemeines zur subjektiven Tatseite 1. Anlaß Die Praxis weiß sich – teils mit Hilfe des Gesetzgebers – bei der subjektiven Tatseite zu helfen: Wenn sich ein zu vermutender Vorsatz nicht beweisen läßt oder wenn trotz fehlender aktueller Tatbestandskenntnis ein schlichtes Fahrlässigkeitsdelikt „irgendwie“ ungenügend erscheint, bleibt in den wichtigsten Fällen der Rückgriff auf ein erfolgsqualifiziertes Delikt möglich, insbesondere bei der Körperverletzung, der Aussetzung und dem Raub mit Todesfolge (§§ 227, 221 Abs. 3, 251 StGB, jeweils mit § 18 StGB). Soll hingegen eine Strafe für ein vorsätzliches Delikt, hier insbesondere eine Tötung, vermieden werden, richtet man den Blick auf die „Hemmschwelle“1, die sich vor der Tat aufgebaut hätte, falls der Täter sehenden Auges gehandelt hätte. Hält man den Vorsatz für bewiesen, aber Strafe nicht für angebracht, läßt sich neuerdings selbst führenden Funktionären der deutschen Wirtschaft (also, wie man bislang annahm, bestens informierten Personen) ein unvermeidbarer (!) Verbotsirrtum attestieren, und zwar auf ihrem höchst eigenen Terrain, scil. demjenigen der Verwaltung von Aktiengesellschaften2, – als gehe es um Katechumenen, die, verwirrt von der Komplexität ihrer (?) Religion, Gut und Böse verwechseln.
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BGH 36, 1 ff., 15; bislang zuletzt BGH NStZ 2003, 603 f.; zutreffend kritisch NKPuppe (Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, Loseblatt, 1995) § 15 Rz. 135 ff.; Roxin Strafrecht AT, Bd. I, 3. Auflage, 1997, 12/73 ff., jeweils mit Nachweisen. LG Düsseldorf NJW 2004, 3275 ff., 3285 f.
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Dieser Elastizität der Praxis steht eine gewisse Starrheit der Theorie gegenüber: Die Unterschiedlichkeit der Regelungen bei Tatbestandsunkenntnis – jedenfalls keine Vorsatzstrafe, § 16 Abs. 1 StGB – und Unrechtsunkenntnis – bei Vermeidbarkeit bleibt die ungemilderte Strafe möglich, § 17 S. 2 StGB – wird registriert, teils auch bedacht3, aber selten grundsätzlich angegangen. Dabei liegt es auf der Hand, daß ein psychologisierender Vorsatzbegriff und ein normativierender Schuldbegriff nicht zueinander passen; denn der Täter, der „sein Verhalten in der relevanten Risikodimension erfaßt hat“4, mag zwar über „die besten Voraussetzungen für ein normgemäßes Handeln“ verfügen (das Problem des Sonderwissens sei hier ausgeklammert5), aber das besagt nichts über die Behandlung desjenigen, dem die „besten Voraussetzungen“ deshalb abgehen, weil er ihren Aufbau – etwa – aus Desinteresse an den Rechtsnormen unterlassen hat6. Eine Pflichtverletzung wiegt ja nicht weniger, weil sich der Pflichtige die Befolgung der Pflicht selbst erschwert. 2. Zur Untrennbarkeit von Vorsatz und Unrechtsbewußtsein Es liegt seit einiger Zeit aus einem weiteren Grund besonders nahe, diese starre Verbindung von Vorsatzdogmatik und einem überkommenen Gesetzesverständnis zu lösen oder, so man Argumente für ein Beharren zu haben meint, zumindest zu überprüfen und adäquat zu begründen. Die seit dreißig Jahren intensiv behandelte und mittlerweile hinreichend differenziert entwickelte Lehre vom unerlaubten Verhalten (als Teil der Lehre von der objektiven Zurechnung) hat den gesamten Tatbestand solchermaßen normativiert, daß die Tatbestandskenntnis7 von der Unrechtskenntnis jedenfalls dann nicht mehr geschieden werden kann, wenn die üblichen Regeln bei der Behandlung normativer Tatbestandsmerkmale eingehalten werden. Worum geht es? Die Lehre vom unerlaubten Verhalten hat in ihrer einfachsten Gestalt, beim Delikt gegen die Person, gegen einen „Eigentümer“, und darauf beschränken sich die hiesigen Ausführungen, zum Inhalt, daß für die Herbeiführung oder Nicht-Hinderung eines (an sich) tatbestandlichen Erfolgs (1) der Herbeiführende oder Nicht-Hindernde oder (2) ein anderer Herbeiführender oder Nicht-Hindernder8 oder (3) das Opfer selbst9 zuständig sein kann oder daß es sich (4) um Zufall handelt. Beispielhaft, (1) der Täter verletzt das Opfer oder (2) eine Person leiht einem Täter einen Hammer, mit
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NK-Neumann (Fn. 1) § 17 Rz. 55, 83 ff. mit Nachweisen. Hier und folgend: Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 101, auch S. 348 und passim. Dazu Jakobs, Strafrecht AT. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 2. Auflage, 1992, 7/49 f. Dazu Jakobs, Gleichgültigkeit als dolus indirectus, ZStW 114 (2002), 584 ff. Frisch (Fn. 4) S. 55 ff., 162 ff. stellt – richtiger – auf die Kenntnis vom unerlaubten Verhalten ab; auf die Differenz kommt es im hiesigen Zusammenhang nicht an. Beteiligung kommt hinzu. Eventuell mit einem Beteiligten zusammen.
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dem dieser das Opfer verletzt, oder (3) das Opfer verletzt sich mit einem entliehenen Hammer selbst, dies versehentlich oder sehenden Auges, oder (4) der Hammer gleitet bei einem Erdbeben aus seiner Halterung, und das Opfer wird verletzt. Soweit die im objektiven Tatbestand vollzogene Wandlung von der Kausalität für ein Ergebnis in Zuständigkeit für dasselbe bei der Bestimmung der subjektiven Tatseite überhaupt zur Kenntnis genommen wird10, beläßt man es bei einer Kenntnis der nicht-gesellschaftlichen und in diesem Sinn „natürlichen“ Bedingungen des Unerlaubten eines Verhaltens11. Beispielhaft, der Täter einer Vorsatztat weiß zwar nach dieser Lehre mindestens, daß er ein Risiko schafft oder um irgendeinen Prozent- oder Promillesatz erhöht, aber daß er damit gerade die Grenze zwischen dem Sozialadäquaten und dem gesellschaftlich Störenden überschreitet, das soll nicht zum Vorsatz gehören. Damit erscheint das unerlaubte Verhalten im subjektiven Tatbestand in wesentlich kastrierter Gestalt, nämlich ohne Bezug auf die normative Struktur der Gesellschaft. Es ist aber gerade der Witz der Lehre vom unerlaubten Verhalten, nicht nur die Bedingungen (potentieller) Kausalität eines Verhaltens festzulegen oder die Kausalität um eine Risikosteigerung oder ähnliches zu ergänzen, sondern Zuständigkeiten zu begründen. Beispielhaft, manches unerlaubte Risiko eines Brandes dürfte kleiner sein als es dasjenige brennender Wachskerzen an einem strohtrockenen Weihnachtsbaum ist, und wer soeben die Führerscheinprüfung mit Ach und Krach bestanden hat, fährt riskanter als ein Routinier in mäßiger Trunkenheit, und das Verleihen gefährlicher Gegenstände kann auch bei einem erheblichen Risiko noch erlaubt sein (Kettensägen) oder bei einem einigermaßen kleinen unerlaubt (Pistolen an zuverlässige Personen ohne Waffenschein) etc. Ein Täter, der nur die natürlichen Daten eines unerlaubten Verhaltens kennt und nicht den normativen Kontext, kennt allein damit nicht das Tatbestandsmerkmal „objektive Zurechenbarkeit“; wenn er aber auch diesen normativen Zusammenhang, seine Zuständigkeit für ein sozial störendes Geschehen, begriffen hat, weiß er um das – allenfalls noch in Rechtfertigungslagen ausgeschlossene – Unrecht. Abermals beispielhaft, wer seinem durchaus verläßlichen Nachbarn eine Pistole nebst Munition leiht, weil dieser bei einer harmlosen Gelegenheit damit renommieren möchte, mag um das Verbot nach dem WaffG wissen und sich auch die minimale Risikoerhöhung ausmalen; damit allein hat er aber die objektive Zurechenbarkeit nicht begriffen, dies vielmehr erst dann, wenn ihm zudem bewußt ist, daß (auch) er für die Risikosteigerung zuständig ist, und zwar nicht nur im moralischen Sinn, sondern rechtlich, und dieses Bewußtsein ist kein anderes als ein Unrechtsbewußtsein. Wer den Vorsatz nur auf äußere Tatsachen ohne deren normativen
__________ 10 Grundlegend Frisch (Fn. 4). 11 Frisch (Fn. 4) S. 55 ff., 207 ff., 340 ff. und passim.
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Kontext bezieht, bildet den Tatbestand definitionsgemäß wertfrei. Ob ein Täter aber Wertfreies zur Kenntnis nimmt, hängt von seinen Interessen ab und ist rechtlich zufällig, kann also keine rechtlichen Konsequenzen auslösen. In der Umkehrung trägt die Lehre vom unerlaubten Verhalten mit dem normativ bestimmten Begriff der Zuständigkeit das Unrechtsbewußtsein in den Vorsatz, und die gegenüber der Behandlung des Vorsatzes in § 16 StGB Abs. 1 StGB strengere Behandlung dieses Bewußtseins in § 17 S. 2 StGB kommt nicht mehr zur Geltung. Der Lehre, die Tatbestandsvorsatz und Unrechtsbewußtsein glaubt trennen zu können, liegt wohl die Annahme zugrunde, ein zunächst wertfreies Sammelsurium von nicht gesellschaftlich geprägten Daten werde sich unter dem prüfenden Blick einer rechtstreuen Person zu einer Tatbestandsverwirklichung ordnen. Diese Annahme ist richtig, aber die Daten werden zugleich zu einem Unrecht geordnet! Insbesondere geht von der Kenntnis des Sammelsuriums kein Appell aus, die Lage zu überprüfen; Quelle eines Appells (so es zu ihm überhaupt kommt) ist stets das Recht, also diejenige Welt, in der „werthaft“ und „unwerthaft“ nicht nur Namen, sondern Begriffe sind12, und nicht die Welt normfreier Daten- oder Faktensammlungen. Kraß, daß ein Mensch einen anderen erschlägt, ist im Hobbesschen Naturzustand ohne jede rechtliche Bedeutung, wenn es auch vielleicht unklug sein mag: Recht und Unrecht lernt man erst in einem Staat kennen13. Nur wenn das Erschlagen mittels eines normativen Rasters gedeutet wird, erscheint es als Mord. Die Annahme, in der Welt der Natur sei die gesellschaftliche Welt gleichsam präformiert, verkennt, daß die natürliche Welt (etwa der Hobbessche Naturzustand) den Code der Struktur der Gesellschaft, also den Rechtscode, nicht kennt. Das zuvor bereits skizzierte Dilemma, daß nämlich die Unrechtsunkenntnis, die bei Vermeidbarkeit die volle Vorsatzstrafe nicht ausschließen soll, bereits den Vorsatz ausschließen und damit allenfalls eine Strafe wegen einer fahrlässigen Tat zulassen kann, läßt sich nur durch eine Wiederbelebung des spätestens seit Feuerbach abgelebten dolus indirectus vermeiden14; das soll hier nicht weiter vertieft werden15. Bekannt ist das Dilemma
__________ 12 Es ist bei den hier allein untersuchten Delikten gegen die Person im weiteren Sinn nicht möglich, dem Unrechtsbewußtsein ein Bewußtsein der Sozialschädlichkeit vorzuschalten und dieses für den Vorsatz genügen zu lassen (so etwa Schroth, Vorsatz und Irrtum, 1998, S. 50); denn das Bewußtsein von der Usurpation des Bestands einer Person (ohne rechtfertigenden Kontext) ist bereits das Bewußtsein vom Unrecht. 13 Hobbes, Leviathan, 18. Kap., 4. These, nur in der lateinischen Fassung. 14 Zum dolus indirectus in der neueren dogmatischen Literatur siehe Lesch, Der Verbrechensbegriff, 1999, S. 61 ff., 140 ff. 15 Eingehender Jakobs (Fn. 6).
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von den normativen Tatbestandsmerkmalen16 her (und die Zuständigkeit als Ergebnis der objektiven Zurechenbarkeit ist nichts anderes als ein normatives Tatbestandsmerkmal). Das evidenteste Merkmal dieser Art ist „fremd“ bei den Eigentumsdelikten, dessen Kenntnis sich nicht aus der Beobachtung irgendwelcher Übereignungsriten oder -formen ergibt, sondern aus dem Begreifen, daß mit der Sache ein anderer nach seinem Belieben verfahren darf (§ 903 BGB), und dieses Begreifen ist nichts anderes als das Begreifen des Verbots, die Sache zu stehlen, zu unterschlagen, zu zerstören etc. Was für verfügbares Eigentum gilt, kann für (im weiteren Sinn) Eigentum höchstpersönlicher Art – Leben, Leib, Freiheit etc. – nur ebenso gelten: Der Täter hat erst dann einen Vorsatz der Verletzung, wenn er das Eingriffsobjekt als für sich selbst fremd und für den anderen eigen, mit anderen Worten, wenn er den anderen wie sich selbst als Person und nicht nur als Mensch im biologischen Sinn begriffen hat. Beispielhaft, wer aufgrund einer perversen Erziehung der Ansicht sein sollte, ein bestimmter anderer Mensch sei Sklave, hätte bei dessen Freiheitsberaubung keinen Vorsatz gemäß § 239 StGB, da ihm das Wissen abginge, daß die Freiheit des anderen Menschen diesem zu eigen, der andere also Person ist17. Entsprechendes gilt für die Garantenstellungen beim begehungsgleichen Unterlassungsdelikt (mit erheblichen Auswirkungen für die Untreue). Wer etwa weiß, daß er durch die Inanspruchnahme eines Sonderrisikos einen anderen in Gefahr gebracht hat, weiß auch um seine Pflicht, die Gefahr hintanzuhalten; denn mit dem Begreifen des Besonderen des Risikos begreift er seine Pflicht18. Tatbestandsverwirklichungen dürfen eben nicht als Vorgänge bloß in der Natur, sondern müssen als Störungen einer gesellschaftlichen Struktur interpretiert und vom Täter begriffen werden, so er Vorsatz haben soll. Das ist freilich für Garantenstellungen alles andere als unbestritten. Geläufig folgt man einer Entscheidung des BGH, wonach es zum Vorsatz hin-
__________ 16 Das heutige Problem der Merkmale liegt in ihrer Isolierung, als sei ein „Normalmerkmal“ etwas anderes. Insoweit zutreffend Arthur Kaufmann, Die Parallelwertung in der Laiensphäre, 1982, S. 10 f.; Schroth (Fn. 12) S. 49. – Eine „fremde Sache“ („Sache“ allein wäre als Tatbestandsmerkmal der Eigentumsdelikte zu weit gefaßt) als Gegenbegriff zu „ein Mensch“ (statt zu „eine Person“) kann nur das Ergebnis eines Wortlautfetischismus sein. – Es ist gleichgültig, ob man den Begriff der normativen Tatbestandsmerkmale durch den der institutionellen Tatsachen ersetzt (NK-Puppe, Fn. 1, § 16 Rz. 48 ff. mit zutreffenden Ausführungen dazu, daß es beim Erfassen solcher Tatsachen nicht um eine Wertung geht, sondern um das Verstehen, daß sie vorliegen). Wichtig ist, daß sich keine Tatbestandsverwirklichung bei Delikten gegen die Person im weiteren Sinn (gegen Eigentum, besser: Eigentümer) als vorrechtlicher Vorgang sinnvoll benennen läßt. 17 Jakobs, Dolus malus, in: Rogall u. a. (Hrsg.) FS für H.-J. Rudolphi, 2004, S. 107 ff., 115. 18 Jakobs (Fn. 17) S. 116 ff.
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reichen soll, wenn der Täter die Voraussetzungen der „Garantenpflicht“, nämlich die Merkmale der „Garantenstellung“ kenne19. Aber die „Stellung“ ist ohne die „Pflicht“ nur zu haben, wenn man sie ihres normativen Kontextes entkleidet, sie also auf „tatsächliche Gründe“ reduziert20. Doch was sind, beispielhaft gefragt, die „tatsächlichen Gründe“ einer Übernahme, wenn ein Meister erklärt, der Geselle solle zu Reparaturarbeiten in einen Schacht steigen, es werde schon für rechtzeitiges Herausziehen gesorgt, und wenn der Geselle, dem vertrauend, sich ans Werk macht? Eine Sequenz von Lauten und der danach erfolgende Abstieg? Oder eine Meinungskundgabe etc.? Eher doch wohl ein Versprechen und die daraufhin erfolgende Preisgabe der Sicherheit einer Person an den Versprechenden! Wer diese sozialen Tatsachen begriffen hat, kennt auch seine Pflicht und mag allenfalls über die Strafbarkeit der Pflichtverletzung in Unkenntnis bleiben. Wegen der normativen Struktur der sozialen Welt bleibt es im Ergebnis auch ohne Auswirkung, wenn eine verbreitete Lehre den Vorsatz bei sogenannten gesamttatbewertenden Merkmalen, etwa bei der Verwerflichkeitsklausel der Nötigung, § 240 Abs. 2 StGB, zur Vermeidung einer Konfusion mit der Unrechtskenntnis allein auf die Voraussetzungen der Verwerflichkeit beziehen will, nicht aber auf diese selbst21. Der Täter, der sich und sein Nötigungsopfer als Person begreift und zudem, daß er usurpiert, was dieser zusteht, hat damit auch das Unrecht seines Verhaltens begriffen. Beispielhaft, wer eine andere Person vorsätzlich mit dem Tod bedroht, damit sie Geld zahle, auf das er keinen Anspruch hat, weiß um die Beeinträchtigung fremder (!) Freiheit wie auch fremden (!) Vermögens, hat also das Bewußtsein vom Unrecht einer Erpressung22. – Gesellschaft läßt sich eben nicht ohne ihre Struktur beschreiben; wer die Struktur eskamotiert, verfehlt die „Etage“, auf der Gesellschaft stattfindet. Auch hierauf wird zur Untreue zurückzukommen sein.
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BGH 16, 155 ff., 158. NK-Puppe (Fn. 1) § 16 Rz. 30. Roxin (Fn. 1) 10/45 ff. Eine andere Frage ist es freilich, wie zu entscheiden ist, wenn der Täter ein an sich erlaubtes Verhalten androht, um das Opfer zu zwingen. Die weit überwiegende Lehre und die Rechtsprechung werten das – bei gegebener Verwerflichkeit – als Nötigung (zuletzt BGH, NJW 2004, 3724). Beispielhaft, einer Person wird „angedroht“, was sie isoliert klaglos dulden muß, und ihr wird angekündigt (oder sie selbst bittet darum), sich vom Dulden-Müssen durch eine Leistung freikaufen zu können, die der „Drohende“ nach seiner Willkür bestimmt; konkret, dem bislang unentdeckten Verbrecher wird eine Anzeige angekündigt, wenn er sich nicht durch eine Geldzahlung freikauft. – Solche Fälle betreffen kein Freiheitsdelikt, sondern sind der Sache nach Zwangslagenwucher, bei dem sich freilich mangels eines Marktes ein „auffälliges Mißverhältnis“ von Leistung und Gegenleistung nicht wird feststellen lassen (Jakobs, Fn. 5, 10/45, siehe auch 6/61 ff.). – Ein klares Unrecht mag sich für Amtsträger aus dem Bruch ihrer beschränkten (!) Rolle ergeben.
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II. Speziell zur Untreue 1. Treubruchstatbestand Bei dieser Lage kann der jüngst von der Praxis23 unternommene und literarisch24 gestützte Versuch, ausgerechnet bei dem mit normativen Tatbestandsmerkmalen dicht gespickten Tatbestand der Untreue den Tatbestandsvorsatz und das Unrechtsbewußtsein auseinanderzuhalten, zu keinem Erfolg führen, und zwar weder für den Mißbrauchs- noch für den Treubruchstatbestand. Nun ist bei der Interpretation der Untreue eine Menge umstritten, insbesondere was die für beide Tatbestände genannte Pflicht, Vermögensinteressen des Opfers zu betreuen, für den Mißbrauchstatbestand bedeutet und welche Treupflichtverletzungen dem Treubruchstatbestand genügen25. Der Weg aus dem Streit, der vor der Behandlung der subjektiven Seite skizziert werden muß, kann nicht sonderlich zweifelhaft sein: Es muß sich jeweils um Garantenpflichten handeln26. Diese abstrakte Aussage bedarf freilich erheblicher Konkretisierungen, die zunächst für den Treubruchstatbestand unternommen werden sollen. Der wunde Punkt ist hier insbesondere das durch Rechtsgeschäft oder gar nur „irgendwie“ entstandene Treueverhältnis. Wie soll es von einem bloßen Vertragsverhältnis und damit von einem potentiell nicht durch Vernunft, sondern allein durch Willkür bestimmten Verhältnis abgegrenzt werden? Zur Beantwortung der Frage ist es hilfreich, sich die Konstitution der Person als Inhaberin von Rechten und Pflichten zu vergegenwärtigen. Die Person ist die Adresse für Rechte und Pflichten, wobei hier, was die Rechte eines Opfers angeht (und analog verhält es sich bei den Pflichten eines Täters), zu unterscheiden ist, um welche Rechte es gehen kann. Die Konstitution kann durch das Recht auf den Inhalt einer zu erbringenden Leistung dergestalt erfolgen, daß der Verpflichtete die Person in ihrer aktuellen Konstitution verletzt, wenn er nicht leistet; ein entsprechend Verpflichteter ist Garant. Beispiele: die Mutter ernährt ihr Kind nicht, dessen Gesundheit daraufhin leidet, – Körperverletzung; der Dachdecker versäumt es, das Dach vor dem nächsten Regen abzudichten, wie er es übernommen hatte27, so daß einige Möbel verderben, – Sachbeschädigung. Wie stark der Inhalt eines garantierten Rechts ist, läßt sich gut an der strafrechtlichen Behandlung des Sach-
__________ 23 LG Düsseldorf (Fn. 2). 24 LK-Schünemann (Jähnke u. a., Hrsg., StGB. Leipziger Kommentar, 11. Auflage, 27. Lieferung, 1998) § 266 Rz. 153 ff.; NK-Kindhäuser (Fn. 1) § 266 Rz. 179. 25 Dazu Kindhäuser, Pflichtverletzung und Schadenszurechnung bei der Untreue (§ 266 StGB), in: Dölling (Hrsg.) FS für E.-J. Lampe, 2003, S. 709 ff., 710 ff.; NKKindhäuser (Fn. 1) § 266 Rz. 17 ff. 26 Im Ansatz ebenso NK-Kindhäuser (Fn. 1) § 266 Rz. 17, 36 und passim. – Hier wird jedoch der Garantie beim Mißbrauchstatbestand ein besonderer Inhalt gegeben (die Befugnis nicht zu mißbrauchen); dazu unten II. 2. 27 Zur Übernahme hier und nachfolgend Jakobs (Fn. 5) 29/46 ff.
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eigentums verdeutlichen: Selbst verlorenes Eigentum ist gegen Unterschlagung geschützt; es ist also auch bei faktischer Trennung vom Berechtigten noch dessen Dasein. – Die Person kann aber auch dergestalt durch ein Recht konstituiert werden, daß nur die Durchsetzbarkeit im Wege staatlicher Rechtspflege zu ihrer aktuellen Gestalt gehört; leistet der Verpflichtete nicht, kann er zur Leistung oder zum Schadensersatz in den vorgesehenen Verfahren gezwungen werden, aber er verletzt durch das Nicht-Leisten nicht die Person des Berechtigten. Beispiel: Die vertraglich zugesagte Lieferung des Lebensmittelhändlers bleibt aus, die Berechtigten hungern, einige fallen in ein Koma, – der Schaden ist zu ersetzen, aber es liegt keine Körperverletzung vor. Eine Garantenstellung hat stets einen rechtlich vernünftigen Inhalt, anders als ein Rechtsgeschäft per se; denn dieses kann auch reine Willkür umsetzen. Was eine Person konstituieren kann, legt das Recht fest und folgt deshalb nicht aus einem beliebigen Vertragsinhalt. So läßt es sich insbesondere nicht als Garantenpflicht übernehmen, ubiquitäre Risiken, die mit jeder Lebensführung verbunden sind, hintanzuhalten. Beispielhaft, wer die Vereinskasse mit 300 Euro Inhalt zu verwalten hat, wird auch dann nicht Garant dafür, daß die Kasse nur in Begleitung eines bewaffneten Wachmanns über die Straße getragen wird, wenn ihm seine Position wegen eines entsprechenden Versprechens übertragen wurde; die Pflicht bleibt bloße Vertragspflicht. Auf den Tatbestand der Untreue, und zwar zunächst auf den Treubruchstatbestand übertragen heißt das, jeder Treupflichtige, der eine Garantentreue zu leisten hat, sei tauglicher Täter, aber auch nur ein solcherart Verpflichteter. Woher sich die Garantie speist, sei es aus einer Organisation des Pflichtigen, sei es aus dessen besonderer Stellung, ist gleichgültig28. Alle Rollen unterhalb derjenigen eines Garanten reichen nicht hin, seien sie auch noch so stark vertraglich gesichert und geeignet, eingeklagt zu werden und gegebe-
__________ 28 Der Witz der Untreue besteht nicht darin, daß ein absolut geschützter Vermögensgegenstand verletzt würde, sondern daß der Täter einen Vermögensbestand zu garantieren hat. – Ebenso verhält es sich bei der Steuerhinterziehung: Nicht die Steuerforderung ist per se dem Staat garantiert, sondern der Pflichtige ist für den Vermögenswert Garant, soweit es um Zahlung geht, und zwar im Grundfall nicht wegen einer garantiebegründenden Organisation seiner Geschäfte, sondern als positiv zum „Mitbezahlen“ Verpflichteter, eben als Bürger oder als sonst zuständige (juristische) Person. Die Steuerpflicht knüpft freilich in der Regel eher willkürlich an Vorgänge ohne insoweit ausgeprägten normativen Gehalt an, deren Kenntnis rechtlich zufällig, nämlich von außerrechtlichen Interessen des Steuerpflichtigen, bestimmt wird. Ein rechtlich sinnvoller Beurteilungsgegenstand ergibt sich erst bei Kenntnis der Steuerpflicht selbst (Jakobs, Fn. 5, 8/56 mit Nachweisen). Die Gegenansicht (am gründlichsten Maiwald, Unrechtskenntnis und Vorsatz im Steuerstrafrecht, 1984) „lebt“ von der Annahme, Unrechtsbewußtsein und Vorsatz müßten trennbar sein; der Preis für die Trennbarkeit ist ein Vorsatz als Kenntnis eines Sammelsuriums.
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nenfalls Schadensersatzverpflichtungen auszulösen. In der Regel wird diese Interpretation des Untreuetatbestands (etwas unbeholfen) dahin formuliert, es müsse sich um die Verletzung einer wesentlichen Pflicht29, einer Hauptpflicht, handeln. Genauer muß es heißen, die Pflicht müsse eine andere Person (mit-) konstituieren. Ob die Garantenpflicht beim Treubruchstatbestand durch weitere Merkmale einzuschränken ist30 – Selbständigkeit des Treupflichtigen oder ähnliches31 –, ist sehr zweifelhaft (Bagatellfälle gibt es bei jedem Delikt), spielt aber bei der Antwort auf die hier anstehende Frage nach dem Vorsatzinhalt keine entscheidende Rolle. Wird dieses Teilergebnis (nur zum Treubruchstatbestand) auf die subjektive Tatseite bezogen, so ergibt sich geläufig, daß der Täter bei Begehung wie bei Unterlassung32 seinen Status als Garant begriffen haben muß, wenn er Vorsatztäter sein soll, mit anderen Worten, er muß um die Konstitution des anderen durch seine (des Täters) Leistung wissen, und dieses Wissen ist nichts anderes als Kenntnis des Unrechts für den Fall, daß die Leistung nicht erbracht wird. Konkret, der Treupflichtige hat nur Vorsatz, wenn er weiß, daß der Treunehmer wegen des Treueversprechens effektiven anderweitigen Schutz ausgeschaltet oder nicht besorgt hat, und damit kennt er seine rechtliche Zuständigkeit zur Vermeidung eines Vermögensschadens. Es wird freilich versucht, dieses Ergebnis zu vermeiden, indem die Pflichtwidrigkeit zum gesamttatbewertenden Merkmal33 stilisiert wird, um sodann dieses Merkmal zu „konkretisieren“, bis „der umgangssprachlich beschriebene Sachverhalt“ vorliegt, der zum „Bedeutungskern der konkretisierten
__________ 29 Kritisch Kindhäuser, Pflichtverletzung (Fn. 25) S. 715 f.; NK-Kindhäuser (Fn. 1) § 266 Rz. 69 ff. – Eine Einschränkung auf wesentliche Inhalte eines vertraglich mitbedingten Treuverhältnisses kann nicht überzeugen. Abgesehen davon, daß der Vertrag nur ein mitbestimmender Grund ist, ließe sich stets das Nicht-so-Wesentliche als wesentlicher Teil in einem Nebenvertrag unterbringen. Beispielhaft, wenn der Fahrer des Chefs auch den Verkauf von Produkten an Mitarbeiter zu organisieren hat, was vielleicht täglich nur einige Minuten in Anspruch nimmt, kommt es nicht darauf an, ob diese Aufgabe Teil des Hauptvertrags ist oder in einem Nebenvertrag geregelt wurde, dort freilich als wesentlicher Inhalt. 30 Besonders heikel ist die Antwort auf die Frage, ob und gegebenenfalls wann sowieso bestehende negative Pflichten – nicht zu stehlen, unterschlagen, betrügen etc. – nochmals über eine Treupflicht garantiert werden können. Die bloße Wiederholung dürfte ausgeschlossen sein, aber im Rahmen umfassender Sorgepflichten mögen auch negative Pflichten zu finden sein. Beispielhaft, der Lagerverwalter begeht auch dann Untreue, wenn er selbst stiehlt oder unterschlägt. 31 Kritisch zu diesem Merkmal LK-Schünemann (Fn. 24) § 266 Rz. 82 ff.; NKKindhäuser (Fn. 1) § 266 Rz. 73 ff. 32 Zur Notwendigkeit einer Garantenstellung beim Begehungsdelikt (die freilich sehr oft wegen der umfassenden Verkehrssicherungspflicht für die Bewegungen des eigenen Körpers nicht fraglich sein wird) Jakobs (Fn. 5) 7/56 ff., 58. 33 Dazu schon oben I. 2. letzter Absatz.
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Rechtsnorm“ paßt; das Begreifen dieses Sachverhalts sei Vorsatz34. So richtig die Beschreibung der Konkretisierung ist, so ungeeignet ist der Vorgang für die Austreibung des Normativen, genauer: des Rechtlichen, aus dem Tatbestand. Entweder werden alle gesellschaftlichen Elemente eliminiert und nicht nur konkretisiert; dann bleibt ein rechtlich bedeutungsloses Sammelsurium von Fakten, deren Zur-Kenntnis-Nahme oder Nicht-zur-KenntnisNahme von den Zufälligkeiten des Täterinteresses abhängt, wie schon oben dargetan wurde. Oder aber es gehen auch gesellschaftliche Tatsachen (diese Person, das Versprechen zwischen mir und ihr, ihr Vermögen etc.) in das Konkretisierte ein, genauer, bleiben darin enthalten, dann bleibt aber mit dem Gesellschaftlichen auch die Struktur der Gesellschaft, das Recht, erhalten, und die Störung der Struktur, das Unrecht, wird Vorsatzgegenstand. Eine Konkretisierung nimmt keine Qualität des Allgemeinen weg. So wie man ein Kunstmöbel zwar zu einem Schreibtisch von David Roentgen konkretisieren kann, nicht aber zu einem Stück Holz (das wäre eine Abstrahierung), so kann man die sogenannten gesamttatbewertenden Merkmale nicht zu nur-natürlichen Vorgängen konkretisieren. Deshalb muß auch der Versuch scheitern, den Einzelfall einer Treupflicht zu beschreiben und dabei jeden Bezug auf eine Bindung zu vermeiden. Bei solchen Versuchen soll ein System nebst seinem Code (Recht) durch seine Umwelt dargestellt werden, metaphorisch, es handelt sich um Versuche, Bewußtsein über den Mageninhalt zu beschreiben. 2. Mißbrauchstatbestand Beim Mißbrauchstatbestand handelt es sich nicht weniger um die Verletzung einer Garantenpflicht; denn diese Pflichtverletzung gehört zum Begriff des Delikts gegen den Bestand des (weit verstandenen) Eigentums einer Person und in diesem Sinn gegen deren ungeschmälerten Bestand35. Mit der Unterscheidung von Begehung und begehungsgleichem Unterlassen hat das nichts zu tun; allenfalls ist bei der Begehung wegen einer umfassenden Verkehrssicherungspflicht für Bewegungen des eigenen Körpers (als notwendiges Synallagma fehlender Fremdbestimmung) die Antwort auf die Frage nach einer Garantenstellung oft (aber nicht stets36) so selbstverständlich, daß nicht erst gefragt werden muß. Nur bei einem garantierten Recht, daß eine bestehende Befugnis nicht mißbraucht wird, liegt eine Tatbestandsverwirklichung nach dem Mißbrauchstatbestand vor; es gibt keine Per-se-Garantie gegen Befugnismißbrauch. Mit anderen Worten, die Befugnisse gehören nicht per se zum Eigentum (im weiteren Sinn) des Vermögensinhabers. Unrecht ist
__________ 34 LK-Schünemann (Fn. 24) § 266 Rz. 153 f. 35 Jakobs Zum Begriff des Delikts gegen die Person, in: Bernsmann (Hrsg.), Bochumer Beiträge zu aktuellen Strafrechtsthemen (Geilen-FS), 2003, S. 63 ff., 65 ff. 36 Fehlende objektive Zurechenbarkeit ist immer auch fehlende Garantie für die Vermeidung dieses Verlaufs.
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also nicht jeder Gebrauch der Befugnis ohne entsprechenden Auftrag, sondern nur der Gebrauch bei Mißachtung einer garantierten Bindung. Wer also eine ihm „zugeflossene“ isolierte Befugnis gebraucht, begeht keine Untreue und schuldet zivilrechtlich allein wegen des Gebrauchs keinen Schadensersatz wegen unerlaubter Handlung nach § 823 Abs. 2 BGB, § 266 Abs. 1 StGB. Es ließe sich auch eine andere Regelung der Garantie denken: Die Befugnis könnte in dem Umfang Eigentum (im weiteren Sinn) des Vermögensinhabers bleiben und ihre Nicht-Benutzung ihm also garantiert sein, wie er den Rahmen ihrer Benutzung nicht festgelegt hat. Der strafrechtliche Vermögensschutz bestünde dann bei einer isoliert weggegebenen oder „verlorenen“ Befugnis, wie der Eigentumsschutz bei weggegebenem oder verlorenem Eigentum nicht aufhört. Man wird freilich einen Gesetzgeber nicht schelten können, der ein rechtlich wirksam für Verfügungen Fremder geöffnetes Vermögen nicht per se gegen Verfügungsmißbrauch garantiert, obgleich selbst schlampig verwaltetes Eigentum garantiert bleibt. Das Gesetz macht die Notwendigkeit einer Garantenstellung mit den Worten deutlich, der Täter müsse die „Vermögensinteressen“ des Opfers „zu betreuen“ haben (§ 266 Abs. 1 StGB). Nach dem zuvor Ausgeführten sollte klar sein, daß zwar der Mißbrauchs- wie der Treubruchstatbestand auf eine Garantenstellung abheben, daß aber die Pflicht einen jeweils eigenen Inhalt hat, nämlich was den Mißbrauchstatbestand angeht, allein denjenigen, eine Befugnis nur im erlaubten Rahmen zu gebrauchen. Deshalb kann es sich um einen Mißbrauch handeln, wenn der Inhaber einer Scheckkarte durch deren Gebrauch die ihm eingeräumte Kreditlinie überschreitet; das Unterbleiben eines solchen Mißbrauchs hat er zu garantieren, obgleich ein Bankkunde Vermögensinteressen der Bank im Sinne des Treubruchstatbestands nicht zu betreuen hat37. – Wiederum spielen insoweit Einzelheiten für die Bestimmung der hier im Zentrum stehenden subjektiven Tatseite keine maßgebliche Rolle. Nach diesen Ausführungen zur objektiven Seite des Mißbrauchstatbestands liegt es auf der Hand, daß sich auch hier die subjektive Seite ohne Benutzung von Begriffen für gesellschaftliche Institutionen nicht etwa nur holprig oder mißverständlich, sondern überhaupt nicht benennen läßt, und abermals geraten über diese Institutionen Recht und Unrecht in den Vorsatz. Konkret, der Täter muß sich und das Opfer als Personen (!) begreifen, seine Rechtsmacht (!) kennen, ebenso daß er (im Fall der Übernahme) dem Opfer versprochen (!) hat, sie nur in Grenzen zu gebrauchen, und sie ihm nur wegen des Versprechens gegeben wurde, ferner daß er die Grenzen nicht beachtet und dadurch (und zwar durch die Grenzüberschreitung als wesentliche Ursache) das Vermögen des Opfers dezimiert (!). Das ist nichts anderes als ein Wissen
__________ 37 Bekanntlich a. A. BGH 24, 386 ff., 387 f.
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von einer folgenreichen Garantenpflichtverletzung in Vermögensangelegenheiten und somit Wissen vom Untreueunrecht des Verhaltens. Man mag den speziell gesellschaftlichen Bezug des Vorsatzgegenstandes durch geschickte Formulierung verborgener anführen, als es hier geschieht, – wenn man ihn aber ganz wegläßt, gelangt man zur Tätervorstellung von einem nicht mehr gesellschaftlichen Geschehen: Das wäre gewiß keine Vorstellung von untreuem Verhalten.
III. „Mannesmann-Urteil“ Das LG Düsseldorf hatte jüngst einen Fall zu entscheiden, in dem (unter anderem) das Präsidium einer Aktiengesellschaft einem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden eine Anerkennungsprämie zugesprochen hatte38. Das Gericht hat den Präsidiumsbeschluß als „gravierende“39 Pflichtverletzung40 gewertet, da es sich um „eine willkürliche Zuerkennung einer Anerkennungsprämie“ ohne irgendwie ersichtliches Interesse des Unternehmens an dieser Zahlung gehandelt habe41. Das Gericht hat auch den Untreuevorsatz, bezogen auf den Treubruchstatbestand42, bejaht, aber einen unvermeidbaren Verbotsirrtum angenommen. Der Vorsatz im Sinne eines „dolus directus 2. Grades“ soll sich aus der „Kenntnis der Vermögensfürsorgepflicht“ ergeben und auch die „Pflichtwidrigkeit … (des) Handelns“ umfassen; für letzteres genüge „die Kenntnis und das Bewußtsein sämtlicher die Pflichtwidrigkeit begründende(n) Tatsachen und Umstände“43. Ein unvermeidbarer Verbotsirrtum soll gegeben sein, weil „trotz Kenntnis aller die Pflichtwidrigkeit begründenden Tatsachen“ wegen einer „fehlerhaften aktienrechtlichen Gesamtbetrachtung“ eine „Unkenntnis der Strafbarkeit“ (!) vorgelegen habe, und zwar eine unvermeidbare Unkenntnis, da ein Rechtsrat, wäre er eingeholt worden, gelautet haben würde, das Verhalten sei „rechtlich möglich“44. Was den Inhalt einer hypothetischen Auskunft angeht, so harmoniert die Annahme des Gerichts schlecht mit seinen eigenen Darlegungen zur
__________ 38 Wie Fn. 2. 39 Das Gemeinte wird mit diesem Terminus schlecht bezeichnet: Es geht um die Eindeutigkeit der Pflichtverletzung, also um die offenbare Unmöglichkeit, das Verhalten als noch mit dem unternehmerischen Ermessen vereinbar darzustellen. Dazu Rönnau/Hohn, NStZ 2004, 113 ff., 118 mit Nachweisen. 40 (Fn. 2) 3284 f. 41 (Fn. 2) 3285. 42 Soweit aus der zum Sachverhalt lückenhaften Veröffentlichung ersichtlich ist, dürfte der Beschluß des Präsidiums wegen eines Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot, eben als Untreue, nichtig sein (§ 134 BGB), aber er bildete dessen ungeachtet den Anlaß für eine zwar causalose, aber trotzdem wirksame Auszahlung, war also der maßgebliche Grund für eine durch „Werkzeuge“ vollzogene Verfügung. Deshalb ist, soweit ersichtlich, auch der Mißbrauchstatbestand einschlägig. 43 (Fn. 2) 3285. 44 (Fn. 2) 3285.
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Bemerkungen zur subjektiven Tatseite der Untreue
„gravierenden Pflichtverletzung“; denn das Ergebnis zur Pflichtverletzung wird vom Gericht sine ira et studio gewonnen45 und solchermaßen klar und eindeutig begründet, daß die Prognose naheliegt, ein gestandener Aktienrechtler hätte, wenn er gefragt worden wäre, die Angelegenheit als zumindest rechtlich heikel darstellen müssen. Anders ist auch nicht zu erklären, weshalb die Täter überhaupt auf den Gedanken hätten kommen sollen, Auskunft einzuholen; dazu muß auch ihnen die Angelegenheit irgendwie anrüchig vorgekommen sein, oder sie hätte doch zumindest bei hinreichender Rechtstreue von ihnen so eingeschätzt werden müssen46. Bei dieser Lage wäre eine unbeschränkt die Legalität bestätigende Auskunft ein zurechenbarer Fehler des Befragten gewesen. Da freilich niemand befragt wurde, kam es zu keinem Fehler einer Auskunftsperson, und deshalb ist ein solcher hypothetisch gebliebener Fehler auch nicht geeignet, den wirklich entstandenen Konflikt zu erklären. Beispielhaft, wenn ein Täter sein Opfer erschlägt, kann er sich nicht entlastend darauf berufen, ansonsten – eben hypothetisch – hätte eine dritte Person das Opfer erschlagen47. Entsprechend verhält es sich hier: Wenn die Mitglieder des Präsidiums ihren Pflichten wirklich nicht nachkommen, können sie nicht auf eine hypothetische Pflichtverletzung anderer verweisen; denn keine Norm verliert ihre Verpflichtungskraft allein deshalb, weil eine dritte Person, verhielte man sich selbst korrekt, sie brechen würde. Bei der Wirkung einer Auskunft handelt es sich freilich nicht um ein Problem der Vermeidbarkeit der Unrechtsunkenntnis speziell bei der Untreue. Auf diese bezogen lautet die entscheidende Frage vielmehr, ob es begrifflich überhaupt möglich ist, einem Täter dieses Delikts den Vorsatz zuzusprechen, aber Unrechtskenntnis abzusprechen. Dabei soll zur Formulierung des Gerichts, die „Strafbarkeit“ ihres Verhaltens sei den Tätern verborgen geblieben48, eine knappe Bemerkung genügen: Die Kenntnis der Strafbarkeit ist allenfalls ein Indiz für die Kenntnis der Unrechtshöhe49, während für die Schuld Kenntnis oder Erkennbarkeit des Unrechts hinreicht. Beispielhaft, wer bei der Verwaltung eines Millionenvermögens 100 Euro für sich abzweigt und meint, das sei zwar Unrecht (was sonst?), aber als Bagatelldelikt nicht strafbar, handelt mit ungeminderter Schuld. Wenn die Täter sich entsprechendes gedacht haben sollten – „Zwar wird einiges Vermögen der
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45 Größere Zahlungen an den – ersichtlich nur noch für circa sechs Monate amtierenden – Vorstandsvorsitzenden wurden vom Gericht zwar als pflichtwidrig, aber nicht als gravierend pflichtwidrig (dazu oben Fn. 39) eingestuft und damit aus der Untreue ausgenommen. Eine insoweit strengere Entscheidung hätte gewiß gleichfalls dem Gesetz entsprochen. 46 Es handelt sich bei diesen Zahlungen nicht gerade um eine Alltäglichkeit; deshalb bestand ein Anlaß, sie nicht ohne Überprüfung zuzulassen; dazu NK-Neumann (Fn. 1) § 17 Rz. 55; Jakobs (Fn. 5) 18/35. 47 Normative Garantien bleiben erhalten; Jakobs (Fn. 5) 7/78. 48 (Fn. 2) 3285. 49 Stratenwerth, Strafrecht AT I, 4. Auflage, 2000, 10/60.
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Aktiengesellschaft entgegen der Aufgabe, für die wir bestellt sind, von uns kompensationslos und zu unternehmensfremden Zwecken verwendet, aber im Blick auf das Gesamtvermögen bleibt das im Bagatellbereich und ist nicht strafbar.“ – wäre am Unrechtsbewußtsein – „Wir verletzen eine Treupflicht und führen einen Schaden herbei.“ – nicht zu zweifeln. Einiges spricht freilich dafür, daß die Täter nicht bedacht haben, außerhalb ihres Aufgabenkreises zu agieren; denn homines oeconomici vermeiden es, aus altruistischen Motiven auch nur das kleinste Risiko einzugehen. Daß aber der Bedachte in der Lage gewesen wäre, die Großzügigkeit irgendwann zu erwidern, sei es durch ein begünstigendes Tun, sei es durch das Unterlassen eines schädigenden, ja daß überhaupt bestehende Bindungen die Zuwendung veranlaßt haben könnten, ist (bislang) eine juristisch nicht verwertbare Spekulation. Das Gericht kann nur (aber immerhin) in dubio pro reo davon ausgehen, die Täter hätten schlicht auf den Wunsch des Begünstigten hin gehandelt. Die bei dieser (Beweis-)Lage anzunehmende Tätervorstellung wäre also in etwa die folgende: „Die sehr gute Unternehmenslage nutzend machen wir, in Übereinstimmung mit internationalem Brauch, ein kompensationslos bleibendes Geschenk aus der Kasse der Aktiengesellschaft.“ Ins Volkstümliche übersetzt heißt das, die Täter hätten gedacht, solange sie es nicht allzu toll trieben, das Unternehmen – sit venia verbo – nach Gutsherrenart verwalten zu dürfen; und entsprechend verhielten sie sich ja auch. Freundlicher formuliert, die Täter wären davon ausgegangen, nicht nur die Interessen des Eigentümers verständig wahren zu sollen, sondern ihn auch, wenn auch nur in begrenztem Rahmen, in seiner Willkür durch ihre eigene Willkür vertreten zu dürfen. Hatten die Täter mit einer solchen Vorstellung überhaupt Vorsatz? Sie müßten dann – in der Formulierung des Gerichts – im Bewußtsein „sämtlicher die Pflichtwidrigkeit begründende(n) Tatsachen und Umstände“50 gehandelt haben, und bei diesen „Tatsachen und Umstände(n)“ können gesellschaftliche „Tatsachen und Umstände“ nicht ausgelassen werden, weil, wie bereits dargelegt wurde, ohne sie die Ebene des Rechts, auf der tatbestandsmäßige Untreue allein möglich ist, nicht erreicht wird. Es muß den Tätern also bewußt gewesen sein, daß sie entgegen einem Versprechen, das erst den Grund bildete, ihnen Zugriff auf das Gesellschaftsvermögen zu gewähren, einen Schaden herbeigeführt haben. Da die Täter aber bei der hier geprüften Hypothese zum subjektiven Tatbestand meinten, dem Unternehmen sei das Unterbleiben solcher Zahlungen per se nicht garantiert, insoweit sei also auch nichts zu versprechen, kannten sie nicht alle „Tatsachen und Umstände“, und sie handelten sowenig vorsätzlich, wie etwa der Verwalter eines großen Lagers von Delikatessen vorsätzlich handelt, wenn er meint, recht-
__________ 50 Wie Fn. 43.
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lich werde dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbunden51, und der sich demgemäß – köstlich, aber nicht unmäßig – nährt. Solche Täter kennen den Umfang des von ihnen geleisteten Versprechens nicht. Das Ergebnis ist nur bedingt zu beklagen. Soweit den Tätern attestiert wird, über die soziale Wirklichkeit und nicht nur über davon isolierbare Rechtsnormen geirrt zu haben, wird ihr mangelnder Überblick festgestellt, und zwar in ihrem ureigenen Bereich, demjenigen der Verwaltung von Aktiengesellschaften. Das mag als öffentliche Reaktion genügen. Soweit der Mangel aktueller Kenntnis der Täter freilich nicht auf einem Irrtum beruht, sondern ausgehend von der Sicherheit, im Ergebnis strafrechtlich nicht belangt zu werden, auf dem Desinteresse, die soziale Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen, bildet die gängige Interpretation des positiven Rechts einen Grund zur Klage: Die verfehlte psychologisierende Deutung des Vorsatzes unter Berufung auf § 16 StGB schließt Vorsatz auch bei einem Nicht-Bedenken aus belastenden Gründen (etwa Desinteresse) aus, so daß die modernere, normativierende Regelung zum Unrechtsbewußtsein in § 17 StGB leerläuft.
__________ 51 5. Mose 25, 4.
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Urs Kindhäuser
Zur Vermögensverschiebung beim Betrug Inhaltsübersicht I. Vermögensverschiebung und Bereicherungsabsicht II. Die Entwicklung des Betrugstatbestands III. Probleme der gängigen Bestimmung eines Vermögensschadens 1. Das sog. Prinzip der Gesamtsaldierung
2. Der sog. individuelle Schadenseinschlag 3. Die sog. Zweckverfehlung IV. Grundlagen einer dogmatischen Neubestimmung V. Dogmatische Folgerungen VI. Ergebnisse
I. Vermögensverschiebung und Bereicherungsabsicht Unter den Vermögensdelikten des Strafgesetzbuchs erfordern die Tatbestände der Erpressung, der Hehlerei und des Betrugs ein Handeln des Täters in Bereicherungsabsicht. Durch dieses Erfordernis erfahren alle drei Delikte eine nicht unerhebliche Einschränkung ihres Anwendungsbereichs, da es nicht ausreicht, wenn der Vorsatz des Täters nur – wie etwa bei der Untreue (§ 266 StGB) – auf die Schädigung fremden Vermögens gerichtet ist. Eine halbwegs klare Vorgabe, was unter einer Bereicherung zu verstehen ist, lässt sich den Tatbeständen jedoch nicht entnehmen. Die Formulierungen, mit denen das Bereicherungsmerkmal umschrieben wird, sind auch nicht einheitlich. Während es für den Hehlereitatbestand genügt, dass der Täter sich oder einen Dritten bereichern will, verlangt die Erpressung den Willen, sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern. Nach der Fassung des Betrugstatbestands muss die Absicht des Täters darauf gerichtet sein, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen. Dogmatisch wenig gewagt erscheint es, aus der Formulierung des Betrugstatbestands zu schließen, dass die Bereicherung bei allen drei Delikten jedenfalls auf einen Vermögensgegenstand bezogen sein muss. Hierfür spricht nicht nur der jeweilige Deliktscharakter, sondern auch die nahe liegende Vermutung, dass die subjektive Tatseite eine gewisse vermögensbezogene Unrechtsverwandtschaft mit dem objektiven Unrecht aufweisen müsse. Insoweit scheiden auch für Erpressung und Hehlerei immaterielle Vorteile als intendierte Objekte aus. Dagegen darf aus den Formulierungen von Betrug und Erpressung nicht geschlossen werden, dass auch bei der Hehlerei die erstrebte Bereicherung rechtswidrig zu sein habe. Nach h. M. soll vielmehr vom subjektiven Tatbestand der Hehlerei der Fall erfasst sein, dass der Täter 65
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einen fälligen und durchsetzbaren Anspruch auf den Vermögensvorteil hat, auf den er es absieht1. Das ändert freilich nichts an dem Umstand, dass die Hehlerei hinsichtlich des Tatobjekts selbst ein Vermögensverschiebungsdelikt ist. Denn durch die Handlung des Hehlers – mag dieser (wie beim Absetzen) auf der Seite des Vortäters oder (wie beim Verschaffen) auf der Seite des Erwerbers stehen – wird die durch die Vortat geschaffene rechtswidrige Vermögenslage perpetuiert. Wird durch den Erwerb ein Anspruch auf den Gegenstand der Vortat erfüllt oder sonst ein dem Recht entsprechender Zustand herbeigeführt, so ist objektiv kein Hehlereiunrecht verwirklicht. Den Charakter eines Vermögensverschiebungsdelikts hat die Hehlerei gewissermaßen „von Natur aus“. Sie ist ein Anschlussdelikt, das auf einen Schwarzmarkt bezogen ist und erst vor diesem Hintergrund ihre typisierte Gefährlichkeit erhält2. Insoweit berührt es die Struktur des Hehlereitatbestands nicht, wenn die vom Täter erstrebte Bereicherung nicht das verschobene Tatobjekt, sondern einen weiteren, nicht von dem durch die Vortat Geschädigten stammenden Vermögenswert zum Gegenstand hat, etwa eine dem Täter für die hehlerische Dienstleistung von dritter Seite gewährte Belohnung3. Dagegen weisen Betrug und Erpressung keine genuine Vorprägung als Vermögensverschiebungsdelikte auf. Mit Blick auf den Schutzzweck beider Delikte, den Vermögensbestand einer Person zu sichern, ist es ohne Belang, was mit dem eingebüßten Vermögensgegenstand geschieht, namentlich ob er jemandem mit Gewinn zuwächst oder durch Zerstörung verloren geht. Gleichwohl entspricht es heute fast einhelliger Auffassung, dass auch Betrug und Erpressung Vermögensverschiebungsdelikte seien4. Diese – vom Wortlaut beider Deliktstatbestände nicht gebotene – Deutung wird gewöhnlich auf die Formel gebracht, dass Schaden und erstrebter Vorteil „stoff-
__________ 1
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Vgl. nur Lackner/Kühl, 25. Aufl. 2004, § 259 Rz. 17; Mitsch BT II/1, 2. Aufl. 2003, § 10 Rz. 64; Nelles in Nomos Kommentar § 259 Rz. 42; Otto BT, 6. Aufl. 2002, § 58 Rz. 28; Ruß in Leipziger Kommentar, 11. Aufl. 1994, § 259 Rz. 37; Stree in Schönke/Schröder, 26. Aufl. 2001, § 259 Rz. 49; a. A. Arzt, Die Hehlerei als Vermögensdelikt, NStZ 1981, 10 (12 f.); Roth, Grundfragen der Hehlereitatbestände, JA 1988, 258 (259 f.). Vgl. BGH v. 20. 12. 1954 – GSSt 1/54, BGHSt 7, 134 (141 f.); BGH v. 25. 7. 1996 – 4 StR 202/96, BGHSt 42, 196 (198 ff.); Lenckner, Anm. zu OLG Stuttgart v. 4. 4. 1973 – 1 Ss 724/72, JZ 1973, 794 (797); Rudolphi, Grundprobleme der Hehlerei 1. Teil, JA 1981, 1 (4 ff.). BGH bei Holtz MDR 1977, 282 f.; Berz, Grundfragen der Hehlerei, Jura 1980, 57 (67); Rudolphi, Grundprobleme der Hehlerei 2. Teil, JA 1981, 90 (94); Maiwald in Maurach/Schröder/Maiwald, 9. Aufl. 2001, § 39 Rz. 40; a. A. Arzt, a. a. O. (Fn. 1), 13; Seelmann, Grundfälle zur Hehlerei, JuS 1988, 39 (41 f.). Vgl. nur BGH v. 6. 4. 1954 – 5 StR 74/54, BGHSt 6, 115 (116); BGH v. 19. 7. 2001 – 3 StR 203/01, NStZ 2001, 650; BGH v. 4. 12. 2002 – 2 StR 332/02, NStZ 2003, 264; Lackner in Leipziger Kommentar, 10. Aufl. 1988, § 263 Rz. 265 m. w. N.
Zur Vermögensverschiebung beim Betrug
gleich“ sein müssten5. Die Belohnung von dritter Seite scheidet demnach als Gegenstand einer tatbestandsmäßig erstrebten Bereicherung aus6.
II. Die Entwicklung des Betrugstatbestands Die Frage, ob der Betrug, auf den sich die Überlegungen im Folgenden konzentrieren sollen, ein Vermögensverschiebungsdelikt ist, lässt sich aus historischer Perspektive nur schwer beantworten. Dieses Delikt hat seinen Charakter als spezifische Straftat gegen das Vermögen erst im 19. Jahrhundert erhalten7. Zudem hat der Betrug seine heutige Fassung erst allmählich gewonnen und wurde in den Partikulargesetzbüchern – trotz des Einflusses der in Art. 405 des Code Pénal von 18108 formulierten „escroquerie“9 – formal wie auch sachlich in unterschiedlicher Weise ausgestaltet. Festgehalten werden kann nur, dass sich die Konstruktion des Betrugs in vielen Stadien der Entwicklung dieses Tatbestands mehr oder weniger deutlich an der Dogmatik des Diebstahls orientierte, der – wie die Hehlerei – per se den Charakter eines Vermögensverschiebungsdelikts aufweist10. Sofern der Betrug in der Partikulargesetzgebung überhaupt als Vermögensdelikt11 mit entsprechender gewinnsüchtiger Motivation ausgestaltet wird12,
__________ 5 Vgl. nur BGH v. 4. 12. 2002 – 2 StR 332/02, NStZ 2003, 264; Cramer in Schönke/ Schröder § 263 Rz. 168 m. w. N. 6 Cramer in Schönke/Schröder § 263 Rz. 168; Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich nebst dem Einführungsgesetz, 18. Aufl. 1931, § 263 Anm. VII 3; Hoyer in Systematischer Kommentar § 263 Rz. 268; Weidemann, Das Kompensationsproblem beim Betrug, Diss. Bonn 1972, S. 143. 7 Für Tittmann etwa kann der Betrug noch „gegen alle Arten der Rechte eines Andern gerichtet seyn, also gegen Leben, Gesundheit, Freiheit und Ehre so gut, als gegen das Eigenthum“ (Handbuch der Strafrechtswissenschaft und der deutschen Strafgesetzkunde, Bd. 2, 2. Aufl. 1823, S. 480). 8 Vgl. hierzu nur Schaffstein, Abhandlungen zur Strafrechtsgeschichte und zur Wissenschaftsgeschichte, 1986, S. 184 f.; vgl. auch Walter, Betrugsstrafrecht in Frankreich und Deutschland, 1999, S. 31 ff. 9 Der Einfluss des CP auf das deutsche Betrugsstrafrecht dürfte insbesondere darin liegen, dass dieses Delikt als reine Vermögensstraftat begriffen wird und sich damit von den allgemeinen Fälschungsdelikten löst. 10 Vgl. nur Temme, Die Lehre vom strafbaren Betruge nach Preußischem Rechte, 1841, S. 17 ff., 23 ff., 144 ff. 11 Näher zu den historischen Entwicklungslinien und zur zeitgenössischen Gesetzgebung Beseler, Kommentar über das Strafgesetzbuch für die preußischen Staaten und das Einführungsgesetz vom 14. April 1851: nach amtlichen Quellen, 1851, § 241; Köstlin, System des deutschen Strafrechts, Bd. II, 1858, S. 138 ff., 141 ff.; vgl. auch Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 4. Aufl. 1868, S. 307 f. mit Fn. 2–4. 12 Das Badische StGB von 1845/1851 kennt Tatbestände mit und (ausdrücklich) ohne Gewinnsucht, vgl. § 450 einerseits, § 458 andererseits (Stenglein, Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, 1857 und 1858).
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wird diese häufig – wie etwa in § 256 des Bayerischen StGB von 181313 – alternativ neben eine reine Schädigungsabsicht gestellt14. Teils wird sogar ausdrücklich hervorgehoben, dass der Täter nicht in der Absicht handeln müsse, sich oder einem anderen einen (vermögenswerten) Vorteil zu verschaffen15. Bisweilen wird auch nur eine Schädigungsabsicht verlangt16. Mit § 241 Preußisches StGB gewinnt der Betrugstatbestand zwar eine Fassung, die bis heute im Kern unverändert gilt; aber auch hier lässt sich den Gesetzesmaterialien einschließlich der Entwürfe keine klare Linie zum Verständnis des Betrugs als Vermögensverschiebungsdelikt entnehmen. Während der Entwurf von 1845 in § 280 noch von einem reinen Schädigungsdelikt ausgeht17, fügt zwar der Entwurf von 1847 in § 293 das Motiv der Gewinnsucht als konstitutives Merkmal18 ein19, ohne dass damit aber auch gesagt wäre, dass die Gewinnsucht gerade auf den Vermögensgegenstand bezogen sein müsste, den der Geschädigte verliert. Das Preußische Obertribunal jedenfalls interpretierte die Gewinnsucht als Absicht, eine Verbesserung der Vermögenslage zu erreichen20. Das StGB für den Norddeutschen Bund und das Reichsstrafgesetzbuch bringen keine sachlichen Änderungen des Gesetzestextes mehr. In der Wissenschaft sind jedoch zu diesem Zeitpunkt die Fundamente für das heutige Verständnis des Betrugs längst gelegt. Namentlich Merkel führt für die Deutung des Betrugs als Verschiebungsdelikt den Wortsinn wie auch die ratio legis als Argumente an: Von einem rechtswidrigen Vorteil lasse sich
__________ 13 „Wer, um einen Andern in Schaden zu bringen, oder sich selbst einen unerlaubten Vortheil zu verschaffen“ (Buschmann, Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit, 1998); vgl. ferner Art. 245 Sächsisch-Altenburgisches Criminalgesetzbuch von 1838 und 1841 sowie Art. 351 Württembergisches Strafgesetzbuch von 1839 (Stenglein, a. a. O. Fn. 12). 14 Das präzise Bayerische StGB wusste im Übrigen sehr genau zu formulieren, wenn es einen Fall der Bereicherung erfassen wollte, so z. B. in Art. 278: „… um sich rechtswidrig mit seiner Gläubiger Schaden zu bereichern, durch betrügerische Handlungen sich als zahlungsunfähig darstellt …“ (Buschmann, a. a. O. Fn. 13). 15 Vgl. etwa Art. 236 Thüringisches Strafgesetzbuch von 1849: „… ob der Verbrecher zugleich sich oder einem Anderen einen Vortheil verschaffen wollte, oder ob dieses nicht der Fall war“, ferner § 197 Österreichisches Strafgesetz von 1852 (Stenglein, a. a. O. Fn. 12). 16 So Art. 391 Hessisches Strafgesetzbuch von 1841: „… in der Absicht, die Rechte eines Anderen zu benachtheiligen“ (Stenglein, a. a. O. Fn. 12). 17 „… vorsätzlich einem Anderen dadurch Schaden zufügt, …“ (Regge/Schubert [Hrsg.], Gesetzesrevision. [1825–1848]. I. Abteilung, Band 6, Teil 1, unveränderter Nachdruck 1996). 18 „… in gewinnsüchtiger Absicht das Vermögen eines Anderen dadurch beschädigt, …“ (Regge/Schubert, a. a. O. Fn. 17, I. Abteilung, Band 6, Teil 2). 19 Näher zu den Gründen Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 1964, S. 80 ff. 20 Genauer: „jede Verbesserung“, vgl. PreußOT Rspr. 10 (1869), 598; nach PreußOT Rspr. 18 (1877), 10 f., sollte keine Wechselbeziehung zwischen Vor- und Nachteil erforderlich sein; anders PreußOT GA 2, 694. – Nach Naucke, a. a. O. (Fn. 19), S. 91, ist die Frage nicht gelöst.
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nur sprechen, wenn dieser durch eine Verletzung der Rechte desjenigen, von dem er stamme, erlangt worden sei. Insoweit beträfen Beschädigung und Vorteilserlangung denselben Vorgang. Strafrechtlich bedeutsam sei ferner nicht ein beliebiges Zusammenfallen der Schädigung eines anderen mit der Absicht, sich einen Vorteil zu verschaffen. Entscheidend sei vielmehr, dass „der Täter fremdes Gut ohne rechtlichen Grund und in rechtswidriger Weise den eigenen Interessen dienstbar“ mache: „Dies ist das charakteristische Merkmal der Bereicherungsverbrechen. Diebstahl, Unterschlagung, Raub, Erpressung und Betrug haben darin ihr gemeinsames Merkmal, von welchem sie ihren spezifisch ignominiösen Charakter herleiten und dem gegenüber die sie unterscheidenden Formen eine nur secundäre Bedeutung in Anspruch nehmen.“21 Die Rechtsprechung von RG und BGH lässt eine durchgängig klare Linie bei der Bestimmung des Verhältnisses von Schaden und erstrebtem Vorteil vermissen; selbst in Grundsatzentscheidungen22 bleibt dieses Verhältnis bisweilen unerwähnt. Zwar verlangte das RG schon früh Kausalität zwischen Täuschung, Schaden und beabsichtigter Bereicherung, lehnte aber zunächst eine Identität des Gegenstands von Schaden und Vorteil ab23. Bejaht wurde sogar ein Betrug in einem Fall, in dem der Täter für eine täuschungsbedingte Sachbeschädigung eine Belohnung von dritter Seite erhielt24. Im Gegensatz hierzu finden sich Judikate, in denen gefordert wurde, dass der erstrebte Vorteil aus dem Vermögen des Geschädigten stammen müsse. Dies wurde etwa mit dem Ausdruck umschrieben, der Vorteil müsse „auf Kosten“ des Geschädigten erstrebt werden25. Der Begriff der „Stoffgleichheit“ wird auch von der neueren Rechtsprechung, soweit er überhaupt gebraucht wird, jedenfalls nicht im Sinne einer (substantiellen) Identität des Gegenstands von Schaden und Vorteil gedeu-
__________ 21 Betrug und Untreue, in: Holtzendorff (Hrsg.), Handbuch des deutschen Strafrechts, 1874, S. 750 (773); vgl. auch Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, Bd. 2, Erste Abtheilung, 1884, S. 248, 268 f. 22 Beispielhaft erwähnt sei die Entscheidung zur unberechtigten Zeichnung von Volkswagenaktien, in welcher der BGH zur Begründung eines Schadens der Bundesrepublik auf die Zweckverfehlungslehre abstellt (BGH v. 18. 7. 1963 – 1StR 130/63, BGHSt 19, 37 [45]) und damit eigentlich gezwungen gewesen wäre, sich zum „stoffgleichen“ Bereicherungsgegenstand zu äußern. Denn hiermit nicht ohne weiteres zu vereinbaren ist der Hinweis auf das Verhältnis von Schaden und Vorteil bei den berechtigten bzw. unberechtigten Zeichnern: „… was jener erwarb, verloren diese“ (BGH a. a. O. 42). 23 Vgl. RG v. 13. 5. 1895 – Rep. 1140/95, RGSt 27, 217 (221 f.). 24 RG v. 23. 3. 1888 – Rep. 408/88, RGSt 17, 264 (266); vgl. ferner RG v. 21. 12. 1881 – Rep. 3078/81, RGSt 5, 277. 25 Vgl. RG v. 24. 4. 1933 – III 291/33, RGSt 67, 200 (201); vgl. auch OLG Rostock v. 7. 12. 1900, GA 49 (1903), 144 (145).
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tet26. Er dient vielmehr als Kürzel, mit dem der für erforderlich gehaltene besondere („funktionale“27) Zusammenhang zwischen Schaden und erstrebtem Vorteil zur Sprache gebracht wird. Zur näheren Bestimmung dienen vor allem zwei – häufig für äquivalent gehaltene28 – Formeln: Der vom Täter erstrebte Vorteil müsse in der Weise unmittelbar (direkt) aus dem Vermögen herrühren, dass er sich als Kehrseite des Schadens darstelle29, bzw. Vermögensvorteil und Vermögensschaden müssten einander dergestalt entsprechen, dass sie durch dieselbe Vermögensverfügung vermittelt werden30.
III. Probleme der gängigen Bestimmung eines Vermögensschadens Der kurze Blick auf die Entwicklung des Betrugstatbestands lehrt zwar, dass sich im Laufe der Zeit ein Verständnis dieses Delikts entwickelt hat, dem zufolge sich sein Unrecht nicht in einer reinen Vermögensschädigung mit zusätzlich erforderlicher gewinnsüchtiger Motivation erschöpft, sondern auf eine widerrechtliche Vermögensverschiebung bezogen ist; Form und Gegenstand dieser Verschiebung können aber nicht als geklärt angesehen werden. Gesichert ist allenfalls, dass Vermögensschäden, die bei Gelegenheit oder als weitere Folge einer schädigenden Vermögensverfügung eintreten, ohne tatbestandliche Relevanz sind31. Dies gilt für Nebenkosten wie Notargebühren, Reise- und Portokosten32. Mangels Stoffgleichheit wird es ferner nicht für
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26 So ausdrücklich OLG Köln v. 13. 10. 1959 – Ss 279/59, NJW 1960, 209; OLG Köln v. 22. 11. 1977 – Ss 397/77, NJW 1978, 713 (714); vgl. auch OLG Karlsruhe v. 16. 10. 1958 – 1Ss 142/58, NJW 1959, 398 (399). 27 So u. a. OLG Köln v. 22. 11. 1977 – Ss 397/77, NJW 1978, 713 (714); OLG Stuttgart v. 20. 2. 1985 – 1Ws 44/85, Die Justiz 1985, 217. 28 Beispielhaft BGH v. 4. 12. 2002 – 2Str 332/02, NStZ 2003, 264; vgl. auch Hoppenz, Die dogmatische Struktur des Betrugstatbestandes, Diss. Freiburg 1968, S. 113. 29 Vgl. nur RG v. 24. 4. 1933 – III 291/33, RGSt 67, 200 (201); RG v. 16. 7. 1937 – 1D 434/37, RGSt 71, 29l (292); BGH v. 16. 12. 1960 – 4 StR 401/60, NJW 1961, 685; OLG Düsseldorf v. 28. 6. 1974 – 3 Ss 312/74, NJW 1974, 1833 (1834); BayObLG v. 11. 3. 1994 – 1 StRR 16/94, NStZ 1994, 491 (492); ebenso Cramer in Schönke/ Schröder § 263 Rz. 168; Gerland, Deutsches Reichsstrafrecht, 2. Aufl. 1932, S. 632; Krey/Hellmann BT/2, 13. Aufl. 2002, Rz. 492; Lackner a. a. O. (Fn. 4), Rz. 274; Wessels/Hillenkamp, 27. Aufl. 2004, Rz. 585. 30 BGH v. 6. 4. 1954 – 5 StR 74/54, BGHSt 6, 115 (116); BGH v. 28. 11. 1967 – 5 StR 556/67, BGHSt 21, 384 (386); BGH v. 29. 5. 1987 – 3 StR 242/86, BGHSt 34, 379 (391); BayObLG v. 5. 2. 1987 – RReg. 3 St 174/86, NJW 1987, 1654 (1656); OLG Düsseldorf v. 17. 3. 1993 – 2 Ss 72/93 – 17/93 III, NJW 1993, 2694 (2695). 31 BGH v. 20. 7. 1988 – 2 StR 348/88, NJW 1989, 918 f.; BGH v. 2. 5. 2001 – 2 StR 128/01, NStZ 2001, 534; BGH v. 19. 7. 2001 – 3 StR 203/01, NStZ-RR 2002, 10; OLG Köln v. 28. 3. 2003 – 1Zs 120/03 – 19/03 –, NStZ-RR 2003, 212 (213); Tröndle/Fischer 52. Aufl. 2004 § 263 Rz. 108; Lackner/Kühl § 263 Rz. 59. 32 Vgl. nur BGH v. 18. 2. 1998 – 2 StR 531/97, NStZ 1998, 570; BGH v. 7. 2. 2002 – 1 StR 222/01, NStZ 2002, 433 (434); BGH v. 2. 12. 1987 – 3 StR 375/87, BGHR StGB § 263 Abs. 1 Stoffgleichheit 2; BayObLG v. 30. 7. 1998 – 3 St RR 54/98, NJW 1999, 663 (664); OLG Stuttgart v. 8. 6. 2001 – 2 Ws 68/2001, NJW 2002, 384 mit Anm. Erb JR 2002, 216 f.
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einschlägig gehalten, wenn eine Krankenkasse vom Versicherten getäuscht wird und darauf Leistungen für eine medizinisch nicht gebotene Therapie erbringt; hier entsprechen die (unterlassenen) Regressansprüche gegenüber dem Vertragsarzt nicht dem vom Täter erstrebten Vorteil33. Oder: An der Stoffgleichheit soll es fehlen, wenn der Täter einen Unfallbeteiligten durch Täuschung an der Geltendmachung eines Schadens hindert, um seinen Schadensfreiheitsrabatt bei der Versicherung zu erhalten34. 1. Das sog. Prinzip der Gesamtsaldierung Die mangelnde Klarheit bei der Bestimmung der betrugstypischen Vermögensverschiebung beruht freilich weniger auf spezifischen Problemen einer entsprechenden dogmatischen Konstruktion. Sie ist vielmehr die Konsequenz aus der Prämisse, dass die bei der Vermögensverschiebung relevanten Größen der Vermögensschaden auf der einen Seite und der erstrebte Vermögensvorteil auf der anderen Seite seien35. Folgt man der h. M., die den Schaden im „Normalfall“ als wirtschaftliche Einbuße im Sinne eines per Saldo ermittelten Defizits der durch die Tat bedingten Zu- und Abflüsse an Vermögenswerten ermittelt, kann diese Annahme nicht ohne weiteres zutreffen. Soll nämlich der Stand des Gesamtvermögens ermittelt werden, so können nicht nur solche Zuflüsse berücksichtigt werden, die gerade von demjenigen stammen, dem nach der Absicht des Täters der Gewinn zukommen soll. Allenfalls bei einem einfachen Sachbetrug, bei dem ein bestimmter Gegenstand von einer Hand in die andere gelangt, lässt sich nach den Prämissen der wirtschaftlichen Schadenslehre problemlos eine Entsprechung von Schaden und Vorteil feststellen. Ansonsten kann nur noch auf einen Wertvergleich von Schaden und Vorteil abgestellt werden36, von dem sich aber kaum sagen lässt, dass er auf einer Verschiebung beruht37. Aus den genannten Gründen passt bei einer Schadensberechnung nach dem Saldierungsprinzip nicht nur die Entsprechungs- bzw. Kehrseitenklausel nicht; auch das Kriterium der Unmittelbarkeit lässt sich nur bei ungenauer Begriffsverwendung heranziehen: Wird der Schaden durch eine Saldierung ermittelt, so müssen neben der Vermögensverfügung des Getäuschten u. a.
__________ 33 BGH v. 25. 11. 2003 – 4StR 239/03, NStZ 2004, 266 (267 f.). 34 BayObLG v. 11. 3. 1994 – 1St RR 16/94, JZ 1994, 584; Cramer in Schönke/Schröder § 263 Rz. 168. 35 Vgl. auch Naucke, a. a. O. (Fn. 19), S. 125 f. 36 Peltzer, Zur Stoffgleichheit beim Betrug, NJW 1960, 1562; Sauer, System des Strafrechts BT, 1954, S. 92; Seelmann, Grundfälle zu den Straftaten gegen das Vermögen als Ganzes, JuS 1982, 748 (749); Tiedemann in Leipziger Kommentar § 263 Rz. 256. 37 Vgl. auch Dencker in Grünwald-FS 1999, S. 75 (85): Einem per Saldo errechneten Schaden könne zwar eine komplementäre Rechengröße („Gewinn“) korrespondieren, eine solche Korrespondenz könne aber noch nicht einmal bildhaft im Wege der „Verschiebung“ dargestellt werden.
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auch die Gegenleistung des Täters und deren Annahme durch das Opfer, also weitere Verfügungen, berücksichtigt werden. Das Kriterium der „Unmittelbarkeit“ besagt dann allenfalls, dass alle sachlich mit einem bestimmten Geschäft zusammenhängenden Verfügungen bei wertender Betrachtung als Einheit verstanden werden. 2. Der sog. individuelle Schadenseinschlag Bereits begrifflich ausgeschlossen ist eine Entsprechung von Schaden und Vorteil in den Fällen, in denen die Rechtsprechung und die ihr folgende h. L. einen Schaden nach den Kriterien des sog. individuellen Schadenseinschlags begründen. Da, wie der BGH es formuliert, „die meisten Gegenstände nicht für alle Menschen den gleichen Vermögenswert haben, weil sie nicht für alle gleich brauchbar sind“38, soll unter bestimmten Voraussetzungen der Schaden in der Verminderung der individuellen Brauchbarkeit der einer Person zustehenden Güter bestehen. Eine Ausnahme vom Saldierungsprinzip soll zunächst dann zu machen sein, wenn der Vermögensinhaber die Gegenleistung „nach der Auffassung eines sachlichen Beurteilers nicht oder nicht in vollem Umfange für den von ihm vertraglich vorausgesetzten Zweck oder in anderer zumutbarer Weise verwenden kann“. Bei fehlender Verwendbarkeit in diesem Sinne sei „schon allein darin eine Vermögensschädigung zu erblicken, selbst wenn der Verkehrswert der Gegenleistung der Leistung des Getäuschten entspricht“39. Ferner soll es bei der Schadensbestimmung auf die individuelle wirtschaftliche Lage des Opfers ankommen, wenn der Vermögensinhaber durch die täuschungsbedingte Vermögensverfügung in eine erhebliche finanzielle Bedrängnis gerät, namentlich „durch die eingegangene Verpflichtung zu vermögensschädigenden Maßnahmen genötigt wird“, wie z. B. durch den unvorteilhaften Verkauf von Wertpapieren, den Abschluss ungünstiger Kreditverträge oder den Verzicht auf anderweitige sinnvolle Investitionen40. Schließlich soll eine Vermögenseinbuße im Sinne eines individuellen Schadenseinschlags zu bejahen sein, wenn dem Vermögensinhaber infolge der täuschungsbedingt eingegangenen Verpflichtung „die Mittel ent-
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38 BGH v. 16. 8. 1961 – 4 StR 166/61, BGHSt 16, 321 (325 f.); näher hierzu Berger, Der Schutz öffentlichen Vermögens durch § 263 StGB, 2000, S. 112 ff. 39 BGH v. 16. 8. 1961 (Fn. 38), 326; vgl. ferner BGH v. 20. 2. 1968 – 5 StR 694/67, BGHSt 22, 88 mit abl. Anm. Heinitz, JR 1968, 387; BGH v. 9. 3. 1999 – 1 StR 50/99, wistra 1999, 299 (300); OLG Köln v. 5. 4. 1957 – Ss 162/56, JR 1957, 351; OLG Köln v. 27. 1. 1976 – Ss 288/75, NJW 1976, 1222; Cramer in Schönke/ Schröder § 263 Rz. 123; Tröndle/Fischer, Rz. 86; Gössel BT/2, 1. Aufl. 1996, § 21/168; Wessels/Hillenkamp Rz. 547; Krey/Hellmann BT/2 Rz. 446, 464; Lackner/Kühl, § 263 Rz. 48a; Mitsch BT II/1 § 7 Rz. 102; Rengier BT/1, 6. Aufl. 2003, § 13/77; Schmoller, Ermittlung des Betrugsschadens bei Bezahlung des marktüblichen Preises, ZStW 103 (1991), 92; LK-Tiedemann § 263 Rz. 178; Waßmer, Untreue bei Risikogeschäften, 1997, S. 139 f.; Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 374. 40 BGH v. 16. 8. 1961 (Fn. 38).
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zogen werden, die für die Aufrechterhaltung einer seinen Verhältnissen angemessenen Wirtschafts- und Lebensführung unerlässlich sind“41. In allen drei genannten Konstellationen des individuellen Schadenseinschlags wird der Schaden nicht in der mangelnden Ausgeglichenheit des wirtschaftlichen Wertes von Leistung und Gegenleistung, sondern jeweils in der Beeinträchtigung der finanziellen Bewegungsfreiheit des Opfers gesehen, also unter Bezugnahme auf Umstände begründet, die mit dem eigentlichen Vermögensaustausch von täuschungsbedingter Leistung und Gegenleistung nichts zu tun haben. Dem Täter (oder einem Dritten) wächst in einem solchen Fall folglich kein Vorteil zu, dessen Kehrseite der fragliche Schaden wäre42. Teils wird ein Ausweg in dem Argument gesucht, dass der Täter durch die Geldleistung des Opfers einen größeren wirtschaftlichen Handlungsspielraum erhalte und das Opfer umgekehrt insoweit einen Nachteil erleide, als der erworbene Gegenstand in seiner Hand weniger wert sei als der gezahlte Preis43. Doch führt diese Überlegung in einen Selbstwiderspuch: Insbesondere in Fällen, in denen der Erwerber einer Sache ein Endverbraucher ist, geht der wirtschaftliche Wertvergleich von Leistungen regelmäßig zu Lasten des Käufers, da der Erwerbspreis gewöhnlich höher ist als der von ihm erzielbare Wiederverkaufswert. Folglich wäre auch bei einem Opfer, das täuschungsbedingt eine Sache kauft, ohne dass – etwa mangels wirtschaftlicher Bedrängnis – die Voraussetzungen des individuellen Schadenseinschlags vorliegen, ein Schaden zu bejahen. Die Lehre vom individuellen Schadenseinschlag wäre mithin überflüssig. 3. Die sog. Zweckverfehlung Schließlich entsprechen sich Schaden und Vorteil auch nicht bei der dritten Art der Schadensberechnung, die von der h. M. insbesondere in den Fällen einseitiger Leistungen des Getäuschten als weitere Ausnahme vom Saldierungsprinzip, von einer Mindermeinung als allein sachgerechte Methode angesehen wird: bei der Zweckverfehlungslehre44. Ein Schaden ist nach diesem Ansatz gegeben, wenn der mit der Vermögenshingabe verfolgte, objektiv im Geschäft zum Ausdruck gekommene (wirtschaftliche) Zweck nicht er-
__________ 41 BGH v. 16. 8. 1961 (Fn. 38), 328; vgl. auch RG v. 29. 1. 1942 – 3C 937/41 (3 St S 1/42), RGSt 76, 49 (51); BGH v. 9. 3. 1999 (Fn. 39); BayObLG v. 23. 11. 1972 – RReg. 7 St 219/72, NJW 1973, 633; OLG Hamm v. 3. 3. 1982 – 4 Ss 2472/81, wistra 1982, 152; Tröndle/Fischer, § 263 Rz. 86; Gössel BT/2 § 21/175; Rengier, BT/1 § 13/81; Maurach/Schroeder/Maiwald, I § 41/115. 42 Vgl. auch Wessels/Hillenkamp Rz. 549; Otto BT § 51 Rz. 74; Schmoller, a. a. O. (Fn. 39), 99 ff.; zur mangelnden Bestimmtheit vgl. Winkler, Der Vermögensbegriff beim Betrug und das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot, 1995, S. 79. 43 Vgl. SK-Hoyer, Rz. 270 f.; Samson, Grundprobleme des Betrugstatbestandes, JA 1978, 625 (630); Walter a. a. O. (Fn. 8), S. 284. 44 Eingehend zu einer funktionalen Zweckverfehlungslehre Kindhäuser in Nomos Kommentar § 263 Rz. 275 ff. m. w. N.
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reicht wird. Exemplarisch ist die Handschenkung unter falschen Voraussetzungen. Hier ist der Zweck die Wertgröße, die nach Art des Geschäfts die Vermögenshingabe des Verfügenden kompensieren soll. Da die Zweckerreichung nicht notwendig denjenigen (wirtschaftlich) belasten muss, der von der Verfügung profitiert, sind, wie bei der Saldierung, die Berechnungen von Schaden und Vorteil auch nicht kongruent, so dass wiederum der erstrebte Vorteil nicht (stets) als Kehrseite des Schadens begriffen werden kann.
IV. Grundlagen einer dogmatischen Neubestimmung Da sämtliche Methoden zur Ermittlung eines Vermögensschadens die Berücksichtigung von Umständen zulassen, die sich nicht notwendig auch bei demjenigen auswirken, der (nach der Intention des Täters) aus der Tat einen Vorteil ziehen soll, erfordert der Versuch, den Betrug in konsistenter Weise als Vermögensverschiebungsdelikt zu deuten, eine Preisgabe der Prämisse, dass sich die Vermögensverschiebung auf das Verhältnis von Schaden und Vorteil bezieht. Mit Blick auf den Diebstahl, der sich dogmengeschichtlich als Vorbild bei der Entwicklung des Betrugstatbestands durchgesetzt hat, ist es ohnehin nicht verständlich, wie es zu der Annahme kommen konnte, Schaden und (erstrebter) Vorteil seien die Bezugsgrößen der Vermögensverschiebung45. Denn beim Diebstahl, der – wie die Hehlerei – gewissermaßen von Natur aus ein Verschiebungsdelikt ist, kommt als Gegenstand nur die entwendete Sache in Betracht. Alle Formen, die der Diebstahl in seiner Geschichte gefunden hat – sei es als furtum usus, sei es als furtum possessionis, sei es als Aneignungsdelikt –, sind Varianten des Deliktskerns, dass der Täter den – eine Nutzung ermöglichenden – Besitz an einer Sache widerrechtlich annektiert46. Alle sonstigen Erfordernisse sind nur, mögen sie auch – wie die Zueignungsabsicht beim heutigen Diebstahlstatbestand47 – Strafbarkeitsvoraussetzung sein, Anreicherungen der Grundform eines Besitztransfers. Der Betrug ist – wie die Erpressung – jedenfalls dann, wenn er Sachen zum Tatobjekt hat, lediglich eine Variation der widerrechtlichen Verschiebung von Vermögensgegenständen. Der Unterschied zum Diebstahl liegt allein in
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45 Merkel jedenfalls, der als Vater der Lehre von der (substantiellen) Stoffgleichheit gilt, begründete seinen Ansatz mit einem Vergleich zum Diebstahl: Der Betrüger müsse sich das dem anderen rechtswidrig entzogene Vermögensobjekt zueignen (Kriminalistische Abhandlungen II, Die Lehre vom strafbaren Betruge, 1867, S. 115). 46 Schon in den Digesten umfasste das furtum auch ein betrügerisches Vorgehen, vgl. Dig. 47, 2, 1, 3: „furtum est contrectatio rei fraudulosa lucri faciendi gratia vel ipsius rei vel etiam usus eius possessionisve, quod lege naturali prohibitum est admittere“. 47 Dies gilt freilich nicht mehr, wenn man mit Wallau (Sachbeschädigung als Zueignung?, JA 2000, 248 ff.) die Zueignung auch auf die Zerstörung einer Sache bezieht und damit systematisch die Grenze zwischen Verschiebungs- und Beschädigungsdelikten aufgibt.
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der Form der Täterschaft. Wie das in § 25 StGB zum Ausdruck kommende Zurechnungsprinzip zeigt, trägt derjenige, der eigenhändig handelt (und so Vermögen verschiebt), gleichermaßen täterschaftliche Verantwortung wie derjenige, der einen anderen für sich handeln lässt (und so Vermögen verschiebt). Betrug, Erpressung und Diebstahl sind, so gesehen, zunächst nur unterschiedliche Formen eines Zugriffs auf fremdes Vermögen, der sich von anderen Schädigungen maßgeblich dadurch unterscheidet, dass er mit einer (widerrechtlichen) Übertragung von Verfügungsmacht einhergeht. Während der Dieb (im Verhältnis zum Sachbesitzer) als unmittelbarer Täter vorgeht und der Betrüger (im Verhältnis zum Sachbesitzer) tatbestandlich vertypt als mittelbarer Täter agiert48, kann der Erpresser – folgt man der h. M., die für dieses Delikt keine Verfügung des Genötigten verlangt49 – eigen- oder fremdhändig auf das Tatobjekt zugreifen. Dass bei der Erpressung die Täterschaft durch eine gesondert unter Strafe gestellte nötigende Beeinträchtigung der Willensfreiheit des Opfers erfolgt, führt nur zu einer weiteren Rechtsgutsverletzung, durch welche die auf Vermögenstransfer gerichtet Tat ihren Charakter nicht ändert. Die Nötigung ist – wie auch die Täuschung beim Betrug – lediglich eine Möglichkeit, die Tatherrschaft über die Verschiebung des Tatobjekts zu erlangen. Dass der Betrug – ebenso wie die Erpressung – einen weiteren Anwendungsbereich hat als der auf Sachen beschränkte Diebstahl, mag einer der Gründe dafür sein, dass sich die Dogmatik der Eigentumsdelikte gesondert neben den allgemeinen Vermögensdelikten entwickelt hat. So konnten sich auch einige Ungereimtheiten ergeben, die jedoch historisch leicht erklärlich sind. Beispielhaft ist der unbestrittene Lehrsatz, dass ein fälliger und durchsetzbarer schuldrechtlicher Anspruch auf Übereignung einer Sache die Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Zueignung ausschließt50, obgleich die Merkmale des Diebstahlstatbestands streng zivilrechtsakzessorisch ausgelegt werden51. Die Begründung, der Täter schaffe keinen der Rechtsordnung widersprechenden Zustand, ist daher nicht haltbar. Gleichwohl verdient die h. M. uneingeschränkt Zustimmung, weil der Gesetzgeber bei der Schaffung der ins RStGB eingegangenen Fassung des Diebstahlstatbestands auf das bis dahin übliche Merkmal der Gewinnsucht aufgrund der Überlegung verzichtete,
__________ 48 Näher hierzu Kindhäuser in Bemmann-FS, 1997, S. 399 ff. m. w. N. 49 RG v. 23. 9. 1881 – Rep. 1672/81, RGSt 4, 429 (432); RG v. 28. 1. 1932 – II 1274/31, RGSt 66, 117 f.; BGH v. 17. 3. 1955, BGHSt 7, 252 (255); BGH v. 5. 7. 1960, BGHSt 14, 386 (390); BGH v. 17. 8. 2004 – 5 StR 197/04, NStZ-RR 2004, 333 (334); Arzt/Weber, Strafrecht BT, 2000, § 18 Rz. 25; LK-Herdegen § 253 Rz. 9 f.; Mitsch, BT II/1 § 6, Rz. 37 ff. 50 RG v. 30. 1. 1930 – II 391/30, RGSt 64, 210 f.; BGH v. 12. 1. 1962 – 4 StR 346/61, BGHSt 17, 87 (89); OLG Schleswig v. 15. 7. 1985 – 1 Ss 163/85, StV 1986, 64; Otto, Die Struktur des strafrechtlichen Vermögensschutzes, 1970, S. 221. 51 Vgl. nur NK-Kindhäuser § 242 Rz. 15 ff. m. w. N.
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dass die Zueignungsabsicht das Moment der Gewinnsucht umfasse52. Ohne Gewinnsucht eignet sich wiederum jemand eine Sache zu, dem ein Übereignungsanspruch zusteht. Da eine dogmatische Sonderbehandlung der Eigentumsdelikte gegenüber den allgemeinen Vermögensdelikten nicht gerechtfertigt ist, ist auch die Auffassung der Rechtsprechung sachgerecht, im Raub (§ 249 StGB) nur einen Spezialfall der räuberischen Erpressung (§§ 253, 255 StGB) zu sehen. Der unterschiedlich weite Anwendungsbereich von Betrug (und Erpressung) einerseits und Diebstahl andererseits ist, jedenfalls aus historischer Perspektive, weniger das Resultat einer Differenz zwischen Sacheigentum und Vermögen als vielmehr eine Konsequenz aus den unterschiedlichen Tatmodalitäten dieser Delikte. So kann zwar jemand durch Täuschung (oder Nötigung) veranlasst werden, eine Forderung zu begründen oder zu übertragen, aber es gibt keine zivilrechtlichen Möglichkeiten des eigenhändigen Zugriffs auf fremde Forderungen. Insoweit ist es den beschränkten Möglichkeiten der Vermögensbeschädigung durch Wegnehmen geschuldet, dass sich der Schutz durch das Diebstahlsverbot auf bewegliche Sachen beschränkt53.
V. Dogmatische Folgerungen Eine Deutung von Betrug und Erpressung als Vermögensverschiebungsdelikte muss, wenn sie am Tatbestand des Diebstahls ausgerichtet ist, bei der Tathandlung ansetzen. Objekt der Vermögensverschiebung muss m. a. W. der Gegenstand sein, auf den der Täter durch die Tathandlung zugreift. Sofern der Getäuschte oder Genötigte als Werkzeug des Opfers agiert, bezieht sich die Vermögensverschiebung mithin auf den Gegenstand der Verfügung. Durch diesen Verfügungsgegenstand wird zwar der mögliche Umfang des Schadens abschließend festgelegt, aber er ist nicht notwendig mit dem Gegenstand des Schadens identisch. In den üblichen Prüfungsschritten wird beim (ungeschriebenen) Betrugsmerkmal der Vermögensverfügung geprüft, ob der Getäuschte über einen zu seinem Vermögen oder zum Vermögen eines Dritten gehörenden Gegenstand in der Weise disponiert hat, dass das fragliche Vermögen geschmälert wurde. Als Schaden ist diese Vermögensminderung aber erst anzusehen, wenn sie keinen Wertausgleich erfährt. Während es im Übrigen bereichsweise umstritten ist, wie eine Kompensa-
__________ 52 Vgl. hierzu Hälschner, a. a. O. (Fn. 21) S. 293 ff. m. w. N.; Hälschner seinerseits betrachtete den Diebstahl noch konsequent als (allgemeines) Vermögensdelikt (ebda.). Zur Partikulargesetzgebung vgl. Köstlin, a. a. O. (Fn. 11), S. 243 f. mit Fn. 5. 53 Dieser Schutz lässt sich hinsichtlich des Tatobjekts (vgl. § 248c StGB) wie auch hinsichtlich der Tatmodalitäten, wie etwa beim urheberrechtlichen Zugriff auf fremdes geistiges Eigentum, kaum durch eine Modifikation des Diebstahltatbestands, sondern nur durch Schaffung von Spezialdelikten zeitgemäß erweitern.
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tion beschaffen sein muss54, um schadensausgleichend zu wirken, herrscht hinsichtlich der relevanten Bestandteile55 eines Vermögens, die Gegenstand einer Vermögensverfügung sind, weitgehend Konsens. Wird die Vermögensverschiebung bei Betrug und Erpressung auf den Gegenstand der Vermögensverfügung bezogen, so wird insoweit auf der Opferseite nur die mit dem Merkmal der Verfügung erfasste Vermögensminderung erfasst, während die beim Schadensmerkmal zu prüfenden Vermögenszuflüsse und sonstige kompensierende Umstände nicht berücksichtigt werden. Eine solche auf das vermögensmindernde Moment beschränkte Deutung der Vermögensverschiebung ist schon deshalb sachgerecht, weil auch die Bereicherungsabsicht des Täters nur auf dieses Moment gerichtet ist; nicht das, was das Opfer erhält, sondern das, was das Opfer hergibt, ist für den Täter von Interesse56. Damit liegt zugleich der tatrelevante Vorteil fest: Als Vorteil ist alles anzusehen, was der Täter oder der begünstigte Dritte gerade durch die Verfügung erlangt. Diese Interpretation ist nicht als Rückkehr zur Identitätstheorie Merkels zu verstehen, der zufolge das dem Opfer Entzogene mit dem erlangten Vorteil substanzgleich sein muss57. Denn beim Forderungsbetrug oder bei der Forderungserpressung fehlt es notwendig an einer solchen substantiellen Identität des Gegenstands von Verfügung und Vorteil. Vielmehr kann die Vermögensverschiebung nach den zivilrechtlichen Regeln der ungerechtfertigten Bereicherung bestimmt werden: „Stoffgleich“ ist der Gegenstand, den der Täter (oder ein Dritter) durch die Verfügung auf Kosten des Opfervermögens erlangt. Im Grundsatz kann jede Vermögensminderung auf der Opferseite unter umgekehrtem Vorzeichen auf der Täterseite als Vermögensvorteil eingestuft werden. Beim Dreiecksbetrug etwa ist „stoffgleich“ der Vermögenswert, der auf Kosten des betroffenen Dritten verschoben wird. Der Vorteil setzt im Übrigen keine Vermehrung der Aktiva voraus; auch eine Forderungsstundung kommt z. B. in Betracht58. Ferner können das Ersparen von
__________ 54 Namentlich ob die Kriterien der Zweckverfehlung stets oder nur als Ausnahme zum Prinzip der wirtschaftlichen Saldierung heranzuziehen sind. 55 Umstritten ist freilich, ob die beim Verfügungsmerkmal noch nicht relevante Zuordnung des Gegenstands zu einem bestimmten Vermögen nach wirtschaftlichen und/oder (rein) rechtlichen Kriterien zu erfolgen hat. 56 Erhellend ist insoweit die Überlegung Denckers, a. a. O. (Fn. 37), S. 88, in Parallele zum Diebstahl im vermögensmindernden Entzug einer Sache das Enteignungsund im erstrebten Vorteil das Aneignungsmoment der Vermögensverschiebung zu sehen. 57 A. a. O. (Fn. 45), S. 118; vgl. auch Binding Lb BT/1, 1902, S. 340, 364; Eckstein, Strafrechtliche Studien, GS 78 (1911), S. 131 (151); Gallas in Schmidt, Eb.-FS, 1961, S. 401, (431); Hegler, Betrug, VDB VII (1907), S. 405 (433). 58 RG v. 2. 2. 1881 – Rep. 3240/80, RGSt 3, 332 (333); RG v. 25. 6. 1885 – Rep. 1534/85, RGSt 12, 395 (396).
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Aufwendungen59 oder die Verhinderung des Verlustes eines Vermögensgegenstands60 einschlägig sein. Der erstrebte Vorteil braucht sich, so gesehen, nicht als Vermögensmehrung darzustellen. Denn es besteht kein Grund, parallel zur Schädigung des Opfervermögens eine Gewinnberechnung beim Täter (oder Dritten) anzustellen, bei der auch eventuelle Vermögensabflüsse zu berücksichtigen wären61. Gegenstand des Vorteils ist allein das, was der Täter (oder Dritte) auf Kosten des Geschädigten durch die Verfügung erlangt hat, was also im Wege der Geltendmachung eines Anspruchs aus ungerechtfertigter Bereicherung herauszugeben wäre. Sofern die Stoffgleichheit des Vorteils auf den Verfügungsgegenstand beim Betrug bezogen wird, tritt nicht nur der Charakter dieser Straftat als Vermögensverschiebungsdelikt deutlich hervor, sondern es wird auch eine dogmatische Unklarheit behoben: Nach allgemeiner Auffassung ist die Rechtswidrigkeit der Bereicherung ein irrtumsrelevantes objektives Merkmal i. S. v. § 16 StGB62: Durch das Merkmal der „Rechtswidrigkeit der Bereicherung“ sollen diejenigen Fälle aus dem Betrugstatbestand ausgeschieden werden, in denen dem Täter (oder dem Dritten) unabhängig von der durch die Tat (anfechtbar) erworbenen Rechtsposition ein Anspruch auf den Vermögensvorteil zusteht63. Demnach ist keine Vollendung, sondern nur ein Versuch anzunehmen, wenn der Täter verkennt, dass ihm (oder dem Dritten) ein entsprechender Anspruch zusteht, obgleich die Rechtswidrigkeit im subjektiven Tatbestand steht und ihr objektives Fehlen damit eigentlich für den Täter keine entlastende Wirkung entfalten dürfte. Nach der üblichen Formel der h. M., der zufolge der Vorteil auf den Schaden bezogen wird, müsste freilich schon rätselhaft sein, was überhaupt unter der Rechtswidrigkeit des Vorteils zu verstehen ist. Denn der Vorteil soll nicht
__________ 59 Vgl. OLG Stuttgart v. 10. 11. 1971 – 1Ss 767/61, NJW 1962, 502 (503). 60 Vgl. RG v. 5. 2. 1884 – Rep. 59/84, RGSt 10, 76 (77 f.); RG v. 5. 7. 1900 – Rep. 1587/00, RGSt 33, 333 (334); RG v. 23. 5. 1917 – V 229/17, RGSt 50, 420 (423); RG v. 4. 10. 1918 – IV 533/18, RGSt 53, 109 (111); RG v. 19. 10. 1925 – III 939/24, RGSt 59, 38 (41). 61 Vgl. auch Dencker, a. a. O. (Fn. 37), S. 86 ff. 62 I. E. h. M., vgl. nur BGH v. 19. 9. 1952 – 2 StR 307/52, BGHSt 3, 160 (163); BGH v. 17. 10. 1996 – 4 StR 389/96, BGHSt 42, 268 (272 f.); BGH v. 9. 7. 2003 – 5 StR 62/102, wistra 2003, 383; BayObLG v. 28. 11. 1989 – RReg 4 St 188/89, StV 1990, 165; Wessels/Hillenkamp Rz. 578; SK-Hoyer Rz. 274; Lackner, a. a. O. (Fn. 4), Rz. 287; Maurach/Schroeder/Maiwald § 41 Rz. 146; Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 376. 63 Ganz h. M., vgl. nur Küper, Zur Problematik der betrügerischen Absicht, NStZ 1993, 313 (314 f.); a. A. noch Kitzinger Zur Lehre von der Rechtswidrigkeit im Strafrecht, GS 55 (1898), 1 (l02); Kohler, Über den Begriff der Erpressung, GA 56 (1909), 190 (195): allgemeines Rechtswidrigkeitsmerkmal.
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Zur Vermögensverschiebung beim Betrug
rechtswidrig sein, wenn er mit Rechtsgrund erlangt wird, wenn durch ihn also ein fälliger und einredefreier Anspruch erfüllt wird64 oder die Durchsetzung eines unbegründeten Anspruchs abgewehrt werden kann65. Für das Bestehen des Anspruchs soll wiederum das materielle (bürgerliche oder öffentliche) Recht entscheidend sein66. Versteht man nun, im Sinne der h. M., unter dem Vorteil das Gegenstück zum Vermögensschaden, scil. jede günstigere Gestaltung der Vermögenslage67, so müsste der die Rechtswidrigkeit des Vorteils ausschließende Anspruch auf eine Erhöhung des wirtschaftlichen Vermögenswertes gerichtet sein. Betrugsrelevante Ansprüche betreffen aber im Regelfall nicht eine per Saldo zu erzielende Steigerung des Vermögenswertes, sondern bestimmte Leistungen68. Auch insoweit zeigt sich, dass als Vorteil nur der Gegenstand in Betracht kommt, über den der Getäuschte irrtumsbedingt verfügt. Betreffen Vorteil und Verfügung denselben Gegenstand, so bezieht sich die Rechtswidrigkeit der Bereicherung auf den gesamten Vorgang der Vermögensverschiebung. Sofern der Täter (oder der Dritte) einen Anspruch auf die betreffende Leistung hat, erfüllt der Verfügende bereits mit der Verfügung den entsprechenden Anspruch, so dass nicht nur der Vorteil zu Recht erlangt wird, sondern bereits kein Schaden gegeben ist69. Denn ein solcher ist zu verneinen, wenn durch die Verfügung ein fälliger und einredefreier Anspruch erfüllt wird. Die Antwort auf die Frage, ob die erstrebte Bereicherung widerrechtlich ist, wird mithin bereits im objektiven Tatbestand bei
__________ 64 RG v. 17. 12. 1881 – Rep. 2945/81, RGSt 5, 352 (353 f.); RG v. 7. 1. 1895 – Rep. 4190/94, RGSt 26, 353 (354); RG v. 2. 1. 1911 – I 835/10, RGSt 44, 203; RG v. 27. 9. 1923 – II 624/23, RGSt 57, 370 f.; BGH v. 16. 12. 1963 – GSSt 11/63, BGHSt 19, 206 (215 f.); BGH v. 18. 12. 1964 – 2 StR 461/64, BGHSt 20, 136 (137 f.); BGH v. 17. 12. 1987 – 4 StR 628/87, BGH NStZ 1988, 216; BayObLG v. 28. 11. 1989 – RReg 4 St 188/89, StV 1990, 165; Cramer in Schönke/Schröder § 263 Rz. 172 f.; SK-Hoyer § 263 Rz. 274; Mitsch, BT II/1 § 7 Rz. 124; LK-Tiedemann § 263 Rz. 264. 65 RG v. 7. 6. 1884 – Rep. 1568/84, RGSt 11, 72 (76); RG v. 7. 10. 1930 – I 798/30, RGSt 64, 342 (344); RG v. 22. 3. 1938 – 1 D 827/37, RGSt 72, 133 (137); RG v. 9. 9. 1943 – 2 D 186/43, RGSt 77, 184; BGH v. 17. 10. 1996 – 4 StR 389/96, BGHSt 42, 268 (271); BGH v. 23. 6. 1965 – 2 StR 97/65, GA 1966, 52. 66 Ganz h. M., vgl. nur BGH v. 19. 9. 1952 – 2 StR 307/52, BGHSt 3, 160 (162); Tröndle/ Fischer Rz. 111; Lackner, a. a. O. (Fn. 4) Rz. 275. 67 So LK-Tiedemann § 263 Rz. 254. 68 Vgl. auch Dencker, a. a. O. (Fn. 37), S. 87. 69 So i. E. auch die h. M., vgl. nur RG v. 2. 6. 1884 – Rep. 1568/84, RGSt 11, 72 (76); RG v. 9. 9. 1943 – 2 D 186/43, RGSt 77, 184; BGH v. 20. 3. 1953 – 2 StR 60/53, BGHSt 4, 105; BGH v. 22. 11. 1982 – 1 StR 662/82, BGHSt 31, 178 (181); BGH v. 22. 11. 1991 – 2 StR 225/91, bei Holtz, MDR 1992, 320; BayObLG v. 28. 11. 1989 – RReg 4 St 188/89, StV 1990, 165; OLG Bamberg v. 26. 11. 1981 – Ws 424, 81, NJW 1982, 778; Tröndle/Fischer Rz. 112; Hälschner, a. a. O. (Fn. 21), S. 250; Otto BT § 51 Rz. 94 f.; Schröder, Anm. zu OLG Hamburg v. 8. 6. 1966 – I Ss 97/65, JR 1966, 471 (472); Welzel, Zum Schadensbegriff bei Erpressung und Betrug, NJW 1953, 652.
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der Prüfung des Tatbestandsmerkmals gegeben70. Verkennt der Täter das Eingreifen eines Anspruchs, so befindet er sich schon hinsichtlich des objektiven Tatbestands in einer Versuchssituation, die hinsichtlich der verkannten Berechtigung zur Erlangung des Vorteils im subjektiven Tatbestand nicht mehr zu einem vollendeten Delikt führen kann.
VI. Ergebnisse Die vorangegangenen Überlegungen seien kurz zusammengefasst: Der Betrug ist ein Vermögensverschiebungsdelikt, bei dem der Täter auf einen fremden Vermögensgegenstand zugreift, um diesen seinem Vermögen oder dem Vermögen eines Dritten einzuverleiben. Von den der Struktur nach gleichen Delikten des Diebstahls und der Erpressung unterscheidet sich der Betrug durch die spezifische Art und Weise des Vorgehens im Wege mittelbarer Täterschaft: Der Täter verschafft sich durch Täuschung die Tatherrschaft über denjenigen, der die Verfügungsgewalt über den fraglichen Vermögensgegenstand innehat, und veranlasst ihn so, diesen Gegenstand – als irrendes Werkzeug – zugunsten des Täters oder eines Dritten zu verschieben. Die Vermögensverschiebung hat demnach die Struktur einer ungerechtfertigten Bereicherung, bei der, nach der Vorstellung des Täters, der Täter selbst oder ein Dritter den Gegenstand der irrtumsbedingten Verfügung auf Kosten des Vermögensinhabers ohne Rechtsgrund erlangt. Ob sich diese Vermögensverschiebung für den Vermögensinhaber auch als tatbestandlicher Schaden darstellt, ist eine gesondert zu beantwortende Frage, bei der es um die Möglichkeit der Kompensation der verfügungsbedingten Vermögensminderung durch berücksichtigungsfähige Äquivalente geht. Die Vermögensverschiebung bezieht sich hingegen nicht auf das Verhältnis von Schaden und Vorteil, sondern auf die Bereicherung durch Erhalt des Verfügungsgegenstands.
__________ 70 Die Rechtsprechung zieht es jedoch in einschlägigen Fällen häufig vor, die Verwirklichung des Betrugstatbestands nicht am fehlenden Schaden, sondern an der mangelnden Widerrechtlichkeit scheitern zu lassen, vgl. nur BGH v. 18. 12. 1964 – 2 StR 628/87, BGHSt 20, 136 (137); BGH v. 16. 4. 1953, NJW 1953, 1479; OLG Koblenz v. 13. 11. 1975 – 1 Ss 199/75, NJW 1976, 63 ff.
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Die Notwehr Inhaltsübersicht I. Grundlagen des Notwehrrechts 1. Das „Interessen-“ oder „Güterabwägungsprinzip“ 2. Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen 3. Generalprävention? 4. Notwehr als Ausübung subjektiver Rechte 5. Notwehrhilfe zugunsten Dritter 6. Die Duldungspflicht des Angreifers II. Das Unrecht des Angreifers 1. Der Angriff 2. Objektiver Erfolgsunwert? 3. Schuldhafter Angriff?
4. Objektiv pflichtwidriges Verhalten? III. Die kleine (eingeschränkte) Notwehr 1. Angriffe von Kindern, Unzurechnungsfähigen und erkennbar schuldlos Irrenden 2. Angriffe beim Vorliegen besonderer institutioneller Beziehungen 3. Rechtswidrig provozierte Angriffe 4. Krasses Mißverhältnis zwischen Angriff und Verteidigung? 5. Die sog. „Präventivnotwehr“ IV. Notwehr und staatliches Gewaltmonopol
Der verehrte Jubilar hat stets Wert darauf gelegt, die Tätigkeit des Strafverteidigers auf ein gehöriges wissenschaftliches Fundament zu stützen. Er hat es auch immer wieder auf eine vorbildliche Art und Weise verstanden, dogmatisches Denken in der Praxis als Instrument für gerechte Lösungen einzusetzen. Der nachfolgende Beitrag ist dem hervorragenden Wissenschaftler Hans Dahs gewidmet.
I. Grundlagen des Notwehrrechts 1. Das „Interessen-“ oder „Güterabwägungsprinzip“ Es wird behauptet, daß allen Rechtfertigungsgründen das „Prinzip des überwiegenden Interesses“1, resp. – weil der Grundsatz des überwiegenden Interesses immer zu einer Abwägung führe2 – das „Interessen-“ oder „Güterabwägungsprinzip“ zugrunde liege3. Demnach sei bei der „Ermittlung der Rechtswidrigkeit“ jedenfalls auch eine Interessenabwägung anzustellen4. „Unter dem Gesichtspunkt der Rechtswidrigkeit“ könne dann – wie es bei-
__________ 1 2 3 4
Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 123 ff., 133 ff.; Roxin, Strafrecht AT/1, 3. Aufl. 1997, 16/3; Schmidhäuser, GA 1991, 102 und passim; MünchKommSchlehofer, 2003, Vor § 32 Rz. 52 ff. Lenckner, Notstand, S. 123. Vgl. etwa Noll, ZStW 77 (1965), 9 ff. Roxin, AT/1, 14/7.
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spielsweise bei Roxin heißt – „das materielle Unrecht der Rechtsgüterverletzung dadurch ausgeschlossen werden, daß bei einer Kollision zweier Rechtsgüter das höher bewertete Rechtsgutsinteresse dem geringer bewerteten vorgezogen“ werde, „so daß im Ergebnis trotz Aufopferung des einen Rechtsgutes ein sozialer Nutzen oder doch wenigstens kein strafrechtlich relevanter Sozialschaden“ entstehe5. Was hier ganz allgemein für die Rechtfertigungsgründe formuliert wird, muß im besonderen konsequenterweise die Notwehr einschließen: Auch die Notwehr soll also nach einer im Schrifttum vertretenen Auffassung auf dem „Prinzip des überwiegenden Interesses“6, resp. dem „Interessen-“7 bzw. „Güterabwägungsprinzip“8 beruhen. Sieht man das so, muß sich zur Begründung der besonderen „Schneidigkeit“ der Notwehr offenbar ein fundamental größeres Gewicht auf der Seite der Verteidigung als auf der Seite des Angriffs finden lassen9. Dabei soll dem sog. „Rechtsbewährungsprinzip“ die ausschlaggebende Bedeutung zukommen: „Notwehr dient“ – wie beispielsweise Herzog formuliert – „zum einen dem Schutz des Einzelnen und seiner Rechtsgüter (Individualschutzinteresse) und zum anderen dem Schutz der Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit (Rechtsbewährungsinteresse)“10. Den Wert, der in der Verteidigung des Rechts gegen das Unrecht liege, schätze der Gesetzgeber so hoch ein, daß er die Waagschale auf der Seite der Verteidigung sinken lasse11. 2. Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen Üblicherweise wird diese sog. „überindividuelle“ oder „sozialrechtliche“ Notwehrbegründung auf die Hegelianer zurückgeführt12 und primär mit dem
__________ 5 Roxin, AT/1, 14/4; für einen Teil der Rechtfertigungsgründe (nämlich soweit nicht – wie bei der Einwilligung – das „Prinzip des mangelnden Interesses“ eingreift) auch Mezger, Strafrecht, 2. Aufl. 1933, S. 206. 6 Mezger, Strafrecht, S. 206; Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, 26. Aufl. 2001, § 32 Rz. 1; Kühl, JuS 1993, 179; MünchKomm-Schlehofer, Vor § 32 Rz. 54. 7 NK-Herzog, Stand: 30. 11. 2001, § 32 Rz. 99; MünchKomm-Schlehofer, Vor § 32 Rz. 54. 8 Schaffstein, MDR 1952, 132. 9 Schmidhäuser, FS Honig, S. 193. 10 NK-Herzog, § 32 Rz. 99; ebenso Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, § 32 Rz. 1; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl. 1996, S. 336 f.; Kühl, JuS 1993, 179; Kühl, FS Triffterer, S. 150; Kühl, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2002, 7/6 ff.; Roxin, AT/1, 15/1 ff.; Otto, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. 2004, 8/17, 19; Geilen, Jura 1981, 200; Krause, GS Hilde Kaufmann, S. 675. Krit. dazu etwa Neumann, Zurechnung und Vorverschulden, 1985, S. 168 ff.; Lesch, Notwehrrecht und Beratungsschutz, 2000, S. 23 ff. 11 Roxin, ZStW 93 (1981), 71; Roxin, FS Jescheck I, S. 459. 12 Haas, Notwehr und Nothilfe, 1978, S. 113 ff.; Felber, Die Rechtswidrigkeit des Angriffs in den Notwehrbestimmungen, 1979, S. 92 ff.; Frister, GA 1988, 296; Kühl, FS Triffterer, S. 160.
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berühmten, der Sache nach schon bei Abegg angelegten13, aber so erst von Berner formulierten Satz14 umschrieben, „daß das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht“15. „Dieses Rechtssprichwort ist“ – so heißt es etwa bei Haas – „durchaus wörtlich zu nehmen: Es geht um ‚das’ Recht und ‚das’ Unrecht, nicht um das konkret bedrohte Einzelinteresse. Dies ist gemeint, wenn die h. M. davon spricht, daß allein das überindividuelle Moment der Notwehr ihre scharfen Befugnisse erklären könne“16. „Das Recht“ soll in diesem Zusammenhang also nicht etwa das subjektive Recht des Angegriffenen bezeichnen, sondern „die Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit“ bzw. „die überpersönliche Rechtsordnung als solche“17, und zwar offenbar in dem Sinne, daß es sich bei diesem Phänomen um ein jenseits des subjektiven Rechts des Einzelnen loziertes kollektives – eben „überindividuelles“ – Interesse handeln müsse. Der Hinweis auf den berühmten Satz Berners beruht jedoch offenbar auf einem Mißverständnis, denn dieser Satz läßt sich für ein derartiges „überindividuelles Rechtsbewährungsprinzip“ gerade nicht anführen. Nach Berners Auffassung „ist die Nothwehr darin begründet, daß das Unrecht das Nichtige, das Recht hingegen das Substantielle ist. Es wäre Unrecht, wenn das Recht dem Unrecht weichen müßte; es würde aber ohne die Befugnis des eigenmächtigen Schutzes in demjenigen Falle weichen müssen, wo der Staat nicht schützt“18. Mit diesen Worten hat Berner allerdings nur den Unterschied zwischen Not-stand und Not-wehr bezeichnet: „Es ist im Nothstande ein ausgedehnteres, höheres Recht, welches sich mit Kosten des mit ihm collidirenden geringeren Rechtes erhalten darf; es ist in der Nothwehr jedes Recht, welches sich gegen jedes Unrecht unbedingt vertheidigen darf.“19 Schon aus dieser Gegenüberstellung folgt, daß Berner die Notwehr gerade nicht als Verteidigung gegen einen Angriff auf „das – [objektive] – Recht“ (sc. auf die „Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit“ bzw. „die Rechtsordnung als solche“), sondern als Verteidigung gegen einen Angriff auf „jedes
__________ 13 Abegg, Lehrbuch der Strafrechtswissenschaft, 1836, S. 169. 14 Berner, ArchCrim NF 1848, 554, 557 f., 562 und passim; Berner, Lehrbuch des deutschen Strafrechtes, 18. Aufl., 1898, § 58 (S. 107). 15 Siehe etwa Kühl, Jura 1990, 247; Kühl, FS Triffterer, S. 160; Kühl, JuS 1993, 180, 181; Kargl, ZStW 110 (1998), 39; Bockelmann, FS Dreher, S. 243; Seelmann, ZStW 89 (1977), 44); NK-Herzog, § 32 Rz. 99; LK-Spendel, 11. Aufl. 2003, § 32 Rz. 13 f. 16 Haas, Notwehr, S. 144 f.; sachlich übereinstimmend Kühl, FS Triffterer, S. 160. 17 Roxin, ZStW 93 (1981), 70; NK-Herzog, § 32 Rz. 99; Kunz, ZStW 95 (1983), 987; Kühl, AT, 7/10. 18 Berner, ArchCrim NF 1848, 557 f.; vgl. dazu auch Abegg, Lehrbuch, S. 169; Abegg, KritV 1 (1859), 364 f.; ferner Wagner, Individualistische oder überindividualistische Notwehrbegründung, 1984, S. 23. 19 Berner, ArchCrim NF 1848, 554; im gleichen Sinne Berner, Lehrbuch, § 58 (S. 107); Stammler, Darstellung der strafrechtlichen Bedeutung des Nothstandes, 1878, S. 2; Löffler, ZStW 21 (1901), 543, 564, 567 ff.; Levita, Das Recht der Nothwehr, 1856, S. 17 f.
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– [einzelne] – Recht“, resp. auf ein „konkret bedrohtes Einzelinteresse“ oder Rechtsgut bzw. Rechtsgutsobjekt verstanden wissen will: Das einzelne – subjektive – Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen, weil es – wie man heute ohne Rekurs auf die Hegelsche Rechtsphilosophie sagen würde: angesichts der binären Codierung des Rechtssystems – ansonsten kein Recht wäre20. Mehr läßt sich dem viel zitierten Satz Berners nicht entnehmen21. „Die rechtsphilosophische Begründung der Notwehr“ ist also – wie Oetker in Übereinstimmung mit Berner festgestellt hat – „mit dem Rechtsschutzbedürfnisse in völlig ausreichender Weise gegeben. Das Recht würde sich selbst vernichten, wenn es dem Unrechte Platz einräumte.“22 Die Notwehr (einschließlich ihrer besonderen „Schneidigkeit“) orientiert sich also nicht an einer quasi kaufmännischen Kalkulation bei der Abwägung von Gütern, sondern allein an der normativen Unterscheidung von Recht und Unrecht23. Was an diesem Ansatz – wie Haas meint – „metaphysisch“ sein soll24, ist schlechterdings nicht zu erkennen. Wie Levita zutreffend ausgeführt hat, kann sogar, „wo das Recht dem Unrecht sich entgegenstellt“, nicht einmal von einer Kollision die Rede sein25, die einer Lösung nach dem „Prinzip des überwiegenden Interesses“ überhaupt zugänglich wäre. Auch aus Berners Behauptung, daß „Nothwehr … nicht Selbstvertheidigung, sondern Rechtsvertheidigung“ sein soll26, läßt sich – entgegen Haas27 – für eine „überindividuelle“ bzw. „sozialrechtliche“ Deutung im Sinne des „Rechtsbewährungsprinzips“ nichts herleiten, denn damit will Berner in diesem Zusammenhang einzig und allein zum Ausdruck bringen, daß das Notwehrrecht nicht nur „für sich selbst“ existiere, „sondern auch für jeden Fremden, dessen Recht angegriffen“ werde, ja daß man darüber hinaus sogar „den angegriffenen Rechten des Staates vertheidigend beispringen dürfe“28. Abgesehen davon ist aber die Notwehr auch nach Berners Auffassung immer „Selbsthülfe“ und „Selbstvertheidigung“, d. h. Verteidigung seiner subjektiven Rechte, sc. seiner Person, seiner Ehre und seines Vermögens29: „Die Be-
__________ 20 Siehe dazu auch Neumann, Zurechnung, S. 165 f. 21 Der Sache nach übereinstimmend NK-Neumann, Stand: 10. 1. 1997, § 34 Rz. 13; Neumann, in: Lüderssen/Nestler-Tremel/Weigend (Hrsg.), Modernes Strafrecht und ultima-ratio-Prinzip, 1990, S. 219 (mit Fn. 15), 225; Stratenwerth, Strafrecht AT, 4. Aufl. 2000, 9/56. 22 Oetker, Vergleichende Darstellung, Band II, 1908, S. 259; ebenso Sax, JZ 1977, 329 Rz. 18; Wagner, Notwehrbegründung, S. 29. 23 Neumann, in: Modernes Strafrecht, S. 219. 24 Haas, Notwehr, S. 147. 25 Levita, Nothwehr, S. 17. 26 Berner, Lehrbuch, § 58 Anm. 4 (S. 109). 27 Haas, Notwehr, S. 117 Fn. 107; andeutungsweise auch Kühl, FS Triffterer, S. 161. 28 Berner, ArchCrim NF 1848, 562; Berner, Lehrbuch, § 58 Anm. 4 (S. 109); dieser Begründungszusammenhang wird auch von Kühl, FS Triffterer, S. 161 nicht beachtet. 29 Berner, ArchCrim NF 1848, 569 ff.
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gründung der Nothwehr, daß das Recht dem Unrechte nicht zu weichen brauche, paßt offenbar auf jedes Recht. Nicht bloß zur Vertheidigung von Leib, Leben, Eigenthum und Ehre, sondern auch zur Vertheidigung der Familienrechte, z. B. zur Abwehr des bei der Frau ertappten Ehebrechers, desgleichen zur Vertheidigung der Freiheit, des Pfandbesitzes, einer Servitut, ist die Nothwehr am Orte.“30 Die „Rechtsbew-ä-hrung“ bedeutet demnach im Bernerschen Sinne immer bloß eine „Rechtsbew-e-hrung“, sc. die Verteidigung subjektiver Rechte31 – oder „modern“ gesprochen: die Verteidigung einzelner rechtlich geschützter Interessen bzw. Güter –, weiter nichts. Noch einmal mit den eigenen Worten Berners: „Die Unverletzlichkeit eines Rechtes hat nur darin ihren Grund, daß das Recht ein Recht ist. Dieser Grund ist aber bei jedem Rechte auf ganz gleiche Weise vorhanden.“32 Nun wäre es allerdings auch überhaupt verfehlt, anzunehmen, daß das objektive Recht eine von dem subjektiven Recht als dem Recht in seinem einzelnen äußerlichen Dasein abgeschiedene Existenz führen würde. Schon Adolf Merkel hat daher zutreffend jede „Verletzung eines subjektiven Rechts“ als „Verletzung des objektiven in einer einzelnen Beziehung“ bezeichnet: „Sollte es möglich sein, das subjektive Recht anzugreifen, ohne das objektive mitzutreffen, so müßte jenes eine von diesem abgesonderte Existenz haben. Nun besteht aber jenes nur durch dieses, ist nichts Anderes, als irgend ein Gut in seinem Zusammenhange gedacht mit dem objektiven Rechte … Unter dem objektiven Rechte verstehen wir die Rechtsvorschriften, aus welchen sich die subjektiven Rechte und Rechtspflichten ableiten; unter dem subjektiven Rechte die Willensmacht des Einzelnen, in ihrer Beziehung gedacht auf den sie schützenden, sich mit ihr identifizierenden, in jenen Normen objektivierten Gemeinwillen.“33 Die „Rechtsbewährung“ bzw. „Verteidigung der Rechtsordnung“ ist also zunächst nichts weiter als die Erhaltung des objektiven Rechts in seiner konkret bedrohten „einzelnen Beziehung“, d. h. nach heute üblicher Diktion: die Erhaltung des konkret bedrohten Rechtsguts oder Rechtsgutsobjekts selbst34. Insoweit fallen der sog. „überindividualistische“ und der sog. „individualistische“ Aspekt der Verteidigung in eins, ist das Notwehrrecht also schier „monistisch“ – und nicht „dualistisch“ – strukturiert. Jedenfalls kann die „Rechtsbewährung“ bei der angeblich gebotenen Interessen- bzw. Güterabwägung nicht gesondert zu Buche schlagen.
__________ 30 Berner, Lehrbuch, § 59 (S. 110). 31 Besonders deutlich hat das auch Hälschner, Das preußische Strafrecht, Teil 2, 1858, S. 252 f. herausgearbeitet. 32 Berner, ArchCrim NF 1848, 561. 33 Adolf Merkel, Kriminalistische Abhandlungen I, S. 3; siehe auch Hälschner, GS 21 (1869), 16, 19 und Passim; Nagler, FS-Binding II, S. 297, 305 f. 34 Im Ansatz übereinstimmend Jescheck/Weigend, AT, S. 337; Wagner, Notwehrbegründung, S. 29; Hirsch, FS-Dreher; S. 220 Fn. 29; Kühl, JuS 1993, 180.
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3. Generalprävention? Eine über den bloßen Gutserhalt bzw. die Verteidigung eines subjektiven Rechts hinausgehende, eigenständige Bedeutung könnte dem „Rechtsbewährungsprinzip“ mithin allenfalls dann zukommen, wenn es nicht auf die materielle, sondern auf die ideelle Seite des Rechts und damit auf das Geltungsphänomen bezogen würde35. Dementsprechend hat man das „Rechtsbewährungsprinzip“ im Schrifttum auch mit der negativen und/oder positiven Generalprävention in Verbindung gebracht: „Das Rechtsbewährungsprinzip dient“ – so heißt es etwa bei Roxin – „der Generalprävention, indem durch die Abwehr des Angriffs potentiellen anderen Rechtsbrechern gezeigt wird, daß man nicht ohne Risiko jemanden rechtswidrig angreift.“36 Der Verteidiger schreckt also – mit den Worten Kühls – „potentielle rechtswidrige Angreifer ab und stabilisiert die Rechtstreue der Bevölkerung.“37 Diese Auffassung kann jedoch schon deshalb nicht zutreffen, weil sich das Maß der Verteidigung bei der Notwehr definitiv nicht nach generalpräventiven Zwecken, sondern allein danach richtet, was im Hinblick auf die konkrete „Kampflage“ zur Abwehr des Angriffs auf das bedrohte Gut erforderlich ist38. Eine konsequent generalpräventive Ausgestaltung des Notwehrrechts hätte sich hingegen zumindest auch daran zu orientieren, in welchen Bereichen die Gefahr von Angriffen jeweils am größten, resp. die „rechtstreue Gesinnung“ der Bevölkerung am meisten gefährdet wäre. Das könnte dann beispielsweise dazu führen, daß bei massenhaft vorkommenden Angriffen mit Bagatellcharakter, etwa bei Beleidigungen, leichteren Sachbeschädigungen oder Ladendiebstählen besonders „schneidig“ zugeschlagen werden dürfte, während bei schwerwiegenden Angriffen mit relativ geringer Nachahmungsgefahr – etwa bei einem affektnahen Totschlag – mit äußerster Zurückhaltung vorzugehen und beispielsweise auch eine eventuell vorhandene Ausweichmöglichkeit zu nutzen wäre. Zudem erscheint es geradezu paradox, wenn der einzelne Angreifer ohne Beschränkung durch das Maß seiner Tatschuld39 und ohne jede Rücksicht auf Proportionalität für die Sozialisationsdefizite innerhalb der gesamten Gesellschaft büßen und zu dem Zweck „bestraft“ werden sollte, daß „andere“ potentielle Rechtsbrecher ihre rechtswidrigen Neigungen unterdrücken (zu-
__________ 35 Dafür etwa Haas, Notwehr, S. 157 ff., 216 ff., 249 und passim; Schmidhäuser, in: Merten (Hrsg.) Aktuelle Probleme des Polizeirechts, 1977, S. 57; Schmidhäuser, FS-Honig, S. 193 ff.; Otto, Grundkurs, 8/17, 19. 36 Roxin, ZStW 93 (1981), 73 f.; ebenso Roxin, FS Jescheck I, S. 459; Geilen, Jura 1981, 200. 37 Kühl, Jura 1990, 247; ebenso Suppert, Studien zur Notwehr und „notwehrähnlichen Lage“, 1973, S. 375. 38 Vgl. Berner, ArchCrim NF 1848, 579; Abegg, KritV 1 (1859), 366; Haas, Notwehr, S. 165; NK-Herzog, § 32 Rz. 60 a. 39 Siehe schon v. Buri, GS 30 (1878), 462.
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mal derartige „Fernwirkungen“ – wie Köhler reklamiert40 – durchaus „unklar“ sein dürften), womit der einzelne Angreifer – um es mit der geläufigen Wendung Kants zu formulieren – „unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt“ würde41. Die negativ und/oder positiv generalpräventive und insoweit – allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz: – quasi-pönale Deutung des Notwehrrechts scheitert also – cum grano salis – an denselben Einwänden wie die generalpräventive Begründung der Strafe selbst42. Schließlich ist auch zu reklamieren, daß kollektive („überindividuelle“) Interessen bzw. „Rechtsgüter der Allgemeinheit“ verbreitet (und mit Recht) für nicht notwehrfähig erachtet werden43, weil sich anderenfalls – wie namentlich Roxin ausführt – „jeder Bürger … zum Hilfspolizisten aufschwingen und das staatliche Gewaltmonopol außer Kraft setzen können soll.“ Wenn dieses Argument richtig ist – und das dürfte zumindest in Bezug auf die eigenmächtige Verteidigung der öffentlichen Ordnung der Fall sein44 –, dann läßt sich aber kaum nachvollziehen, warum es unter dem Aspekt der „Rechtsbewährung“ plötzlich keine Rolle mehr spielen soll45. Würde der einzelne Bürger als „Statthalter der Rechtsordnung“46 mit der negativen und/oder positiven Generalprävention wirklich einen polizeilich-gefahrenabwehrenden und d. h. im Sinne der heute herrschenden Strafzwecklehre quasi-pönalen Zweck verfolgen47, müßte er sich ja nicht nur zum HilfsPolizisten, sondern gar zum Hilfs-Richter aufschwingen und damit nicht nur das staatliche Gewaltmonopol, sondern darüber hinaus auch noch das formelle Rechtsstaatsprinzip konterkarieren48, und zwar nicht nur hinsichtlich der Legitimationsfunktion rechtlicher Verfahren, sondern gleichermaßen in Bezug auf die Garantiefunktion strafrechtlicher Tatbestände49. Dagegen hat schon Hegel betont, daß die Bestätigung der Normgeltung in der „Sphäre der Unmittelbarkeit des Rechts“ – also außerhalb einer institutionalisierten staatlichen Rechtspflege – immer nur „dem Inhalte nach gerecht“ sein und über die Form einer archaischen Rache nicht hinauskommen
__________ 40 Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 262; auch Kargl, ZStW 110 (1998), 54 f.; Klesczewski, FS-Wolff, S. 238. 41 Kant, Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Band 6, 1914, S. 331. 42 Siehe dazu Binding, ZSchr für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart IV (1877), 417 ff.; Lesch, JA 1994, 515 ff., 596. 43 Roxin, AT, 15/1; MünchKomm-Erb, § 32 Rz. 93; Stratenwerth, AT, 9/62; Jescheck/ Weigend, AT, S. 337, 340; a. A. noch Berner, ArchCrim NF 1848, 562. 44 Siehe insb. BGH, NJW 1975, 1162. 45 Krit. auch Neumann, in: Modernes Strafrecht, S. 220; Kargl, ZStW 110 (1998), 50; Stratenwerth, AT, 9/56; dieses Problem ist Roxin freilich nicht entgangen, wird aber von ihm kurzerhand als „kriminalpolitisches Problem de lege ferenda“ unter den Teppich gekehrt, ZStW 93 (1981), 75. 46 Kühl, JuS 1993, 181. 47 Vgl. Kargl, ZStW 110 (1998), 53 ff.; auch Levita, Notwehr, S. 186. 48 Siehe auch Neumann, Zurechnung S. 164 f. 49 Lesch, Notwehrrecht, S. 29 ff.
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kann50. Die Garantie einer Norm kann also allein durch ein formalisiertes Verfahren, nicht aber durch eine beliebige Sequenz zwischen dem von dem Verteidiger subjektiv wahrgenommenen äußeren Verhalten und einem Übel gegen den Angreifer erfolgen51. Mit den Worten Abeggs: „Da, wo es eine Wahrheit ist, tritt das Gebiet der Handhabung des Rechts durch den Staat und die objective Erklärung der Nichtigkeit des Unrechts ein, sey er durch das richterliche Urtheil im bürgerlichen Rechtssachen, sey es durch das Straferkenntniß.“52 Auch die generalpräventive Ausdeutung des „Rechtsbewährungsprinzips“ verdient also nach alledem keine Zustimmung. 4. Notwehr als Ausübung subjektiver Rechte Was die Legitimation der Notwehr angeht, ist der Rekurs auf ein „überindividuell“ bzw. „sozialrechtlich“ begründetes „Rechtsbewährungsprinzip“ allerdings ohnehin entbehrlich. Denn die Notwehr basiert überhaupt nicht auf dem „Prinzip des überwiegenden Interesses“ bzw. dem „Interessen-“ oder „Güterabwägungsprinzip“53. Es kann nämlich – mit den Worten Levitas – „von einer Collision da nicht geredet werden, wo das Recht dem Unrecht sich entgegenstellt“54. Das Recht würde sich vielmehr selbst vernichten und seinerseits zum Unrecht pervertieren, wenn es dem Unrecht weichen und ihm den Platz einräumen müßte55. Darüber hinaus hat Isensee darauf hingewiesen, daß der Gesetzgeber, wenn er das Notwehrrecht „abschaffen oder reduzieren“ würde, „in Widerspruch zu den Grundrechten der Angegriffenen“ geriete, „die er nötigte, grundrechtlich geschützte Positionen der privaten Gewalt preiszugeben“56. Das Recht der Notwehr geht deshalb als Recht zur Selbstverteidigung unmittelbar aus dem Recht an dem betroffenen Gut (sc. aus dem subjektiven Recht des Angegriffenen) hervor. Dies hat schon Hälschner treffend wie folgt auf den Nenner gebracht: „Der Grund davon liegt darin, daß die fragliche Beschädigung des Angreifers in der Ausübung eines Rechtes zugefügt wurde …, und daß auch innerhalb des Staates die Rechte der Privatperson sich nicht bloß als ohnmächtige Forderungen an den Willen Anderer darstellen, sondern zugleich auch nothwendig ihre Bethätigung durch die eigene Macht … in sich schließen, insofern sich dieselbe
__________ 50 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke VII (Red. Moldenhauer/Michel), 1993, §§ 102, 219, 220. 51 Vgl. auch Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 12/8. 52 Abegg, KritV 1 (1859), 364; ebenso Levita, Notwehr, S. 19. 53 Berner, ArchCrim NF 1848, 554, 579, 581 f.; Neumann, in: Modernes Strafrecht, S. 219; Lesch, Notwehr, S. 20. 54 Levita, Notwehr, S. 17. 55 Berner, ArchCrim NF 1848, 557 f.; Abegg, Lehrbuch, S. 169; Abegg, KritV 1 (1859), 364 f.; Oetker, Vergleichende Darstellung II, S. 259; Neumann, Zurechnung, S. 165 f.; Wagner, Notwehrbegründung, S. 23, 29; Sax, JZ 1977, 329 Rz. 18. 56 Isensee, FS Sendler, S. 52; ebenso Götz, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 3, 1988, § 79 Rz. 32.
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wirklich nur auf Ausübung des eigenen Rechtes beschränkt. Die Ausübung des dem Individuum zustehenden Rechtes umfaßt nicht bloß den Gebrauch, den es nach seiner Beschaffenheit zu gewähren vermag, sondern eben so sehr auch seine Bethätigung und Behauptung gegenüber dem Unrechte … Darum ist die Nothwehr nicht ein besonderes neben vielen anderen der Person zustehendes Recht, sondern ist nur die Form, in welcher das besondere im gegenwärtigen Falle angegriffene Recht bethätigt wird.“57 Weil das Notwehrrecht auf diese Weise voll und ganz im abstrakten Recht aufgeht, erscheint es – nebenbei bemerkt – auch ohne weiteres einsichtig, daß Hegel es in seiner Rechtsphilosophie nicht mehr eigens erwähnt und behandelt hat. Der Regelung des § 32 StGB kommt insofern ebenfalls nur eine rein deklaratorische Bedeutung zu58. Im übrigen ist der Vollständigkeit halber anzumerken, daß entgegen verschiedener Stimmen im Schrifttum59 ein „überindividuell“ bzw. „sozialrechtlich“ begründetes „Rechtsbewährungsprinzip“ auch nicht benötigt wird, um bei der Notwehr das Fehlen einer Ausweichpflicht zu begründen. Denn der Verteidiger setzt sich insoweit jedenfalls gegen den in jedem Angriff steckenden Nötungseffekt60 zur Wehr, handelt also in Ausübung seines Rechts auf Freiheit von Zwang und nimmt damit immer auch ein subjektives Recht wahr61. Auch das Fehlen einer Ausweichpflicht bei der Notwehr ist also unmittelbar aus dem subjektiven Recht des Angegriffenen zu erklären62. 5. Notwehrhilfe zugunsten Dritter Was die Konstellation der Notwehrhilfe zugunsten Dritter angeht, muß vorab geklärt werden, was überhaupt unter Selbstverteidigung einerseits und Fremdverteidigung andererseits zu verstehen ist. Schon in früheren Zeiten hat man die verschieden starken Bande unter den Menschen hervorgehoben und zwischen der Verteidigung besonders nahestehender Personen und sonstiger Dritter differenziert63. Beispielsweise heißt es bei Perneder: „So der thäter von dem entleibten angegriffen / auch zur notwehr und beschirmung seins lebens gedrungen worden waer / so hat er der thäter / ob ehr gleich inn sollicher Sein selbst leibs rettung ainen todtschlag begangen / damit nichts verwürckt … Es lassen auch alle recht und gesatz zu / das ain jeder sich selbs / und das so ime zugehoerig beschirme / und ist hierin alle schuld an
__________ 57 58 59 60
Hälschner, Das Preußische Strafrecht II, S. 252. Lesch, Notwehrrecht, S. 32. Roxin, AT, 15/2; Roxin, ZStW 93 (1981), 70 f.; Kühl, JuS 1993, 181. Vgl. Oetker, Vergleichende Darstellung II, S. 282; Haas, Notwehr, S. 283 f.; Kargl, ZStW 110 (1998), 41 f. 61 Vgl. Jakobs, AT, 12/36, Wagner, Notwehrbegründung, S. 57. 62 Jescheck/Weigend, AT, S. 337. 63 Haas, Notwehr, S. 60 ff.
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deme / der den gwalt oder die rumor erstlich erhebt / und zuschlagen angefangen hat / gelegen.“64 Mit dem „ihm Zugehörigen“ in diesem Sinne sind offenbar nur die eigenen Sachen und die Verwandten des Täters gemeint, weil Perneder an anderer Stelle bei der Nothilfe zugunsten eines Freundes oder Schwagers nicht die Strafe überhaupt („nichts verwürckt“) sondern lediglich die Todesstrafe entfallen lassen will65. Dabei läßt sich die Verteidigung des „ihm Zugehörigen“ wegen der mittelbaren eigenen Betroffenheit des Verteidigers auch ohne weiteres als eine Form des Selbstschutzes begreifen, was insbesondere zuletzt noch in der Notwehrregelung des ALR von 1794 zum Ausdruck gekommen ist, wo die „Seinigen“ und die „Mitbürger“ als mögliche Begünstigte der Nothilfe jeweils gesondert erwähnt worden sind66. Nach heutigem Recht ist eine rechtlich relevante Selbstbetroffenheit des Verteidigers jedenfalls immer dann zu begründen, wenn er mit dem Träger des bedrohten Guts als Garant kraft institutioneller Pflichtenbindung67 – beispielsweise im Eltern-Kind-Verhältnis – besonders verbunden ist und eine gemeinsame Welt herzustellen bzw. zu unterhalten hat, so daß den Verteidiger das bedrohte Gut ebenso viel angeht, wie wenn es sich um sein eigenes handelte. Die augenfälligste Form solcher Selbstbetroffenheit offenbart die Gefahr einer Tötung des Kindes, durch die die Existenz der gemeinsamen Welt überhaupt in Frage gestellt wird68. Halten wir also fest, daß sich die Notwehr als Recht zur Selbstverteidigung ohne weiteres aus dem eigenen Recht an oder aus einer besonderen institutionellen Beziehung zu dem betroffenen Gut ableiten läßt. Das Eintrittsrecht zugunsten fremder Güter ist demgegenüber seit jeher69 – vielfach auch als moralische oder rechtliche Pflicht70 und damit wiederum in offensichtlicher Parallele zu § 323 c StGB – aus dem christlichen Gebot der Nächstenliebe71 bzw. seit der Aufklärung aus dem Band der „gemeinsamen Menschennatur“ heraus begründet worden72. Anknüpfend daran läßt sich die Notwehr als Recht zur Fremdverteidigung (Notwehrhilfe) aus dem fremden Recht an
__________ 64 Perneder, Halßgerichtsordnung, zit. nach Institutiones, 1551, S. XVIII. 65 Haas, Notwehr, S. 61. 66 II.20. § 517 ALR lautet: „Jeder hat die Befugniß, die ihm, oder den Seinigen, oder seinen Mitbürgern drohende Gefahr einer unrechtmäßigen Beschädigung, durch der Sache angemessene Hülfsmittel abzuwenden“, zit. nach der Textausgabe von Hattenhauer, 1970. 67 Siehe dazu Jakobs, AT, 29/58. 68 Lesch, Notwehrrecht, S. 70. 69 Siehe dazu und zum folgenden eingehend Haas, Notwehr, S. 45 ff. mit zahlr. Nachw. 70 Vgl. von Jhering, Der Kampf ums Recht, hrsg. von Erik Wolf, 7. Aufl. 1989, S. 16 ff. 71 Vgl. Schaffstein, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen in ihrer Entwicklung durch die Wissenschaft des gemeinen Strafrechts, 1930, S. 80; Haas, Notwehr, S. 45 f., 60, 65, 66. 72 Grotius, De jure bellis ac pacis, 1. Buch, 5. Kap. II., 2.; auch ibid., 2. Buch, 25. Kap. VI; Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, übers. von Hoffmann, hrsg. von Euchner, 1977, 2. Kap., § 6; Pufendorf, Über die Pflicht, 1. Buch, Kap. 8, §§ 1 und 5; Schütze, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 2. Aufl. 1874, S. 108.
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dem betroffenen Gut in Verbindung mit der allgemeinen moralischen Mindestsolidarität ableiten73, die in den §§ 323 c und 34 StGB als rechtliche Handlungs- bzw. Duldungspflicht und im Fall der Nothilfe eben als Handlungsrecht institutionalisiert worden ist74. 6. Die Duldungspflicht des Angreifers Mit der Rechtsausübung des Verteidigers für sich selbst oder für einen Dritten ist – gleichsam als Kehrseite – eine entsprechende Duldungspflicht des Angreifers verbunden. Der besondere Grund dieser Duldungspflicht hat bei der Notwehr aber nichts mit einer „Interessen-“ oder „Güterabwägung“ zu tun, sondern liegt ausschließlich darin, daß das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht, weil es ansonsten selbst zum Unrecht pervertiert würde. Allerdings wird die Reichweite der subjektiven Berechtigung des Angegriffenen und der damit korrelierenden Duldungspflicht auch durch die normative Zuständigkeit des Angreifers für die Abwehr der drohenden Gutsverletzung definiert. Denn der Angreifer fällt ja nicht etwa – wie es der aufklärerisch-naturrechtlichen Interpretation der Notwehr entspräche – in einen Kriegszustand zurück, mit der Konsequenz, daß er als vogelfrei zu behandeln wäre75. Auf diesem Standpunkt ließe sich nämlich nicht einmal begründen, weshalb die Notwehr überhaupt bloß eine Wehr76 und als solche auf das Maß des Erforderlichen beschränkt sein sollte, denn der Kriegszustand ist nach Hobbes „ein feindlicher Zustand, wo alles erlaubt ist“77, wo „jedermann ein Recht auf alles hat, selbst auf den Körper eines anderen“78, wo also mit anderen Worten ohnehin jeder jeden kurzerhand erschlagen darf. Schon die Limitierung der Notwehr auf das Maß des Erforderlichen zeigt also, daß es sich bei der Notwehr nicht bloß um einen Naturvorgang, sondern um einen rechtlichen Akt zwischen rechtlich konstituierten Subjekten – sc. zwischen Personen – handelt. Die rechtlichen Verhältnisse zwischen Personen wiederum werden maßgeblich durch die Fixierung von Zuständigkeiten bestimmt. Die mit dem subjektiven Recht des Angegriffenen korrelierende Duldungspflicht des Angreifers setzt also jedenfalls die rechtliche Zuständigkeit des Angreifers für die Abwehr der drohenden Gutsverletzung voraus.
__________ 73 Lesch, Notwehrrecht, S. 33. Nach Auffassung von Schroeder, FS-Maurach, S. 127 soll der Gesetzgeber „mit der Gewährung des Rechts zur Verteidigung von Rechtsgütern anderer oder der Allgemeinheit“ auch heute noch „seine Wertschätzung sozialer Betätigung“ zu erkennen geben. 74 Siehe auch LK-Spendel, § 323 c, Rz. 20. 75 Vgl. etwa Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, übers. von Hoffmann, hrsg. von Euchner, 1977, II., 19. Kap., § 232. 76 Berner, ArchCrim NF 1848, 559. 77 Hobbes, Vom Bürger, hrsg. von Gawlick, 1959, 2. Kap. 18., auch ibid. 1. Kap. 10. 78 Hobbes, Leviathan, hrsg. von Fetscher, übers. von Euchner, 1984, 14. Kap. S. 99.
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Rechtliche Pflichten, die eine Zuständigkeit für die Verhinderung bestimmter Erfolge begründen, also Garantenpflichten, lassen sich grundsätzlich nur in zweierlei Hinsicht ausmachen79. Zum einen handelt es sich um die nurnegativ-ausgrenzende Pflicht des abstrakten Rechts80, also um die negative Institution „neminem laede“, d. h. um die „ursprüngliche Verbindlichkeit des Bürgers“81, die sich freilich nicht nur „auf Unterlassungen“, sondern auch auf Handlungen bezieht, und die die notwendige Kehrseite der Organisationsfreiheit bildet82. Zum anderen handelt es sich um die Pflicht zur umfassenden Fürsorge für ein Gut, die (als Rechtspflicht) nur durch eine solche Institution generiert werden kann, die dasselbe Gewicht wie diejenige des „neminem laede“ aufweist, namentlich die Pflicht aus der Eltern-Kind-Beziehung, aus der Ehe (in der heutigen Gesellschaft allerdings durchaus zweifelhaft) oder aus einem staatlichen Garantieverhältnis. Garantenpflichten in diesem Sinne sind unbedingte Einstandspflichten für die Vermeidung von Erfolgen. Wenn also der Verteidiger im Rahmen seines Notwehrrechts den Angreifer als Garanten für die Vermeidung der drohenden Gutsverletzung ohne Rücksicht auf jegliche Proportionalitätserwägungen in Anspruch nimmt, erfüllt er damit nur eine Pflicht, die der Angreifer an sich selbst zu erfüllen hätte83. Jenseits dieser besonderen institutionellen Pflichten zur Vermeidung von Erfolgen (Garantenpflichten) läßt sich die Sorge um das Wohl anderer prinzipiell nur als eine Tugendpflicht oder als ein moralisches Gebot begründen. Zwar ist es prinzipiell durchaus möglich, ein derartiges moralisches Gebot auch zu verrechtlichen84, allerdings nur in gewissen Grenzen, weil dem Verpflichteten damit immer ein Sonderopfer auferlegt wird und die grundrechtlich geschützten Positionen des Verpflichteten in einer freiheitlich orientierten Rechtsordnung nicht zur beliebigen Disposition eines am gesamtgesellschaftlichen Vorteil oder an den Belangen Dritter orientierten Nützlichkeitsdenkens stehen85. Eine solche Verrechtlichung der an sich nur als Tugendpflicht begründeten Mindestsolidarität hat der Gesetzgeber beispielsweise mit der Sanktionierung der unterlassenen Hilfeleistung in § 323c StGB vorgenommen86. Ebenso verhält es sich im Fall des Notstands, denn auch hier wird eine zunächst nur als moralisches Gebot begründete Pflicht
__________ 79 Vgl. dazu Jakobs, AT, 1/7; eingehend Jakobs, Die strafrechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen, 1996, S. 19 ff.; 30 ff. 80 Vgl. Jakobs, FS Arthur Kaufmann, S. 460 f.; eingehend Quante, Hegels Begriff der Handlung, 1993, S. 25 ff. 81 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Peinlichen Rechts, 14. Aufl. 1847, § 24; dazu auch Jakobs, Die strafrechtliche Zurechnung, S. 7 ff. 82 Sánchez-Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung, 1999, S. 77 ff. 83 Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003, 17/1. 84 Sánchez-Vera, Pflichtdelikt, S. 111 ff.; Wohlers, JZ 1999, 440 f.; Kühl, AT, 8/9; MünchKomm-Erb, § 34 Rz. 6; Lesch, Notwehrrecht, S. 33 ff. 85 MünchKomm-Erb, § 34 Rz. 5. 86 Jakobs, Rechtfertigung und Entschuldigung IV, S. 153; MünchKomm-Erb, § 34 Rz. 6.
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der im abstrakten Recht verankerten Institution „neminem laede“ untergeordnet, was wohl in aller Schärfe erstmals Hegel formuliert hat87. Das Recht des Notstands bedeutet also – mit den Worten Neumanns – primär eine „Absage an ein rein individualistisch-liberales Rechtsmodell“ und „die rechtliche Institutionalisierung einer moralischen Solidaritätspflicht“: Der Betroffene hat die Verletzung „an sich“ rechtlich geschützter Interessen „unter dem Gesichtspunkt der auch rechtlich geforderten mitmenschlichen Solidarität“ hinzunehmen, aber eben nicht – wie im Fall der Notwehr – unbedingt, sondern nur dann, wenn sie zur Rettung erheblich gewichtigerer Interessen eines anderen erforderlich ist88. Halten wir also fest: Die Duldungspflicht des Angreifers läßt sich bei der Notwehr als Kehrseite der subjektiven Rechte des Angegriffenen nur dann legitimieren, wenn der Angreifer als Garant für die Abwehr der drohenden Gutsverletzung zuständig ist. Im übrigen geht es aus der Perspektive des „Angreifers“ immer nur um Zufall, und insoweit läßt sich eine Duldungspflicht des „Angreifers“ bloß im Rahmen der allgemeinen Mindestsolidarität – sc. unter den Bedingungen des Notstands – begründen.
II. Das Unrecht des Angreifers 1. Der Angriff Das Unrecht des Angreifers, das den Verteidiger zur Notwehr berechtigt, wird im Gesetz als gegenwärtiger rechtswidriger Angriff bezeichnet. Ein Angriff ist nach dem zuvor Ausgeführten jede drohende Verletzung subjektiver Rechte (resp. rechtlich geschützter Interessen bzw. Güter). Zum Kreis der notwehrfähigen subjektiven Rechte gehören nicht nur die absoluten Rechte (z. B. auch das Recht auf den ungehinderten Gemeingebrauch89 sowie der berechtigte Besitz), sondern – jedenfalls prinzipiell – auch die relativen Rechte (Forderungen und sonstige vertragliche Ansprüche)90. Letzteres wird zwar in der Literatur mit dem Argument bestritten, daß anderenfalls „jeder Gläubiger sich mit Brachialgewalt zu seinem Recht verhelfen [könnte], während sich aus § 229 BGB ergibt, daß der Gesetzgeber die Selbsthilfe gegenüber Schuldnern nur in den engsten Grenzen zulassen will“91, jedoch trifft das nicht den Kern des Problems, wie das folgende Beispiel zeigt: Wer einem
__________ 87 Hegel, Grundlinien, § 127. Zum Stand der Dogmatik vor Hegel siehe Bockelmann, Hegels Notstandslehre, 1935, S. 3 ff. 88 NK-Neumann, § 34 Rz. 7, 9; Frister, GA 1988, 292; Ludwig, „Gegenwärtiger Angriff“, „drohende“ und „gegenwärtige Gefahr“ im Notwehr- und Notstandsrecht, 1991, S. 118 f.; Kühl, AT, 8/9; Lesch, Notwehrrecht, S. 53. 89 Siehe dazu i. e. Jakobs, AT, 12/4. 90 Lagodny, GA 1991, 306 ff. A. A. die h. M., vgl. LK-Spendel, § 32 Rz. 190; Jakobs, AT, 12/5. 91 Roxin, AT/1, 15/35.
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anderen eine Sache verleiht, kann sie nach dem Ende der Leihfrist sowohl aufgrund eines vertraglichen Anspruchs (d. h. aufgrund eines relativen Rechts) als auch aufgrund seines Eigentums (d. h. aufgrund eines absoluten Rechts) herausverlangen (vgl. § 985 BGB). Zweifelsfrei ist das Eigentum als absolutes Recht ein notwehrfähiges Recht, aber es wäre doch offenbar sinnlos, das absolute und das relative Recht hier ungleich zu behandeln und die Notwehr lediglich in Bezug auf den vertraglichen Anspruch auszuschließen. Es geht in diesem Zusammenhang also nicht um den Kreis der notwehrfähigen Rechte, sondern ganz allgemein um die Frage nach dem Vorrang staatlicher Verfahren, was an späterer Stelle noch ausführlich zu behandeln sein wird (siehe unten IV.). Im übrigen ist seit jeher heftig umstritten, wie das Unrecht des Angreifers definiert werden muß. 2. Objektiver Erfolgsunwert? Eine früher verbreitete Lehre hat das Unrecht des Angreifers rein objektiv bestimmt, und zwar als drohende, von dem Rechtsinhaber nicht zu duldende, den objektiven Bewertungsnormen des Rechts zuwiderlaufende Verletzung rechtlich geschützter Interessen, d. h. als drohenden Erfolgsunwert92. Dabei wird die Person des Angreifers jedoch auf einen bloßen Kausalfaktor reduziert93; – im Extremfall muß es sich – heute noch von Spendel vertreten – nicht einmal um einen Menschen handeln94. So hat man die Notwehr letztlich auf einen schieren Naturvorgang reduziert95, und damit läßt sich wiederum eine deutliche Parallele zur aufklärerisch-naturrechtlichen Interpretation der Notwehr ausmachen. Aber die Notwehr ist – wie wir gesehen haben – kein bloßer Naturvorgang, sondern ein rechtlicher Akt zwischen rechtlich konstituierten Subjekten, also zwischen Personen. Die rechtlichen Verhältnisse zwischen Personen werden aber durch Ursachenzusammenhänge nur höchst unvollkommen erfaßt. Vielmehr steht hier die Abgrenzung von Verantwortungsbereichen im Vordergrund. Diese wiederum ist das Produkt normativer Zuschreibungsprozesse96, die zwar in einer rational-aufgeklärten Gesellschaft auch mit Kausalitätserwägungen operieren, sich darin aber keineswegs erschöpfen. Deshalb kann auch die Definition des Unrechts nicht bei dem drohenden Erfolgsunwert stehen bleiben, vielmehr muß die normative Zuständigkeit des Angreifers für die Abwehr des Angriffs hinzukommen.
__________ 92 OGHSt 1, 273 (274); Mezger, Strafrecht, S. 234; LK-Spendel, § 32 Rz. 54 ff.; Jescheck/ Weigend, AT, S. 341. 93 Vgl. auch Jakobs, in: Rechtfertigung und Entschuldigung IV, S. 145, 147 f. 94 LK-Spendel, § 32 Rz. 44; aus früherer Zeit etwa Oetker, Vergleichende Darstellung II, S. 261, 263, 264 ff.; v. Hippel, Deutsches Strafrecht, 1. Band, 1930, S. 208. 95 Vgl. auch Berner, ArchCrim NF 1848, 553. 96 Müssig, ZStW 115 (2003), 231.
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3. Schuldhafter Angriff? Im anderen Extrem hat man die Person des Angreifers – nicht minder naturalistisch – auf ein bloßes Bündel Psyche reduziert und das Unrecht des Angreifers als schuldhaft-vorsätzlichen Angriff gedeutet97. Aber eine derartige Gesinnungsethik98 läßt sich schon mit den geltenden Grundprinzipien einer normativen Zurechnung nicht vereinbaren, die eine Verantwortung eben nicht nur für Vorsatz, sondern gleichermaßen für Fahrlässigkeit vorsehen: Auch für denjenigen, der die subjektiven Rechte eines anderen fahrlässig gefährdet, ist diese Situation und mit dieser Situation zugleich die Abwehrhandlung des Verteidigers ohne weiteres vermeidbar. Abgesehen davon trifft es auch nicht zu, daß das Unrecht des Angreifers ein schuldhaftes Verhalten voraussetze. Soweit im Schrifttum die gegenteilige Auffassung vertreten wird99, steht dabei offenbar eine quasi-pönale Deutung der Notwehr im Hintergrund, die eine quasi-strafrechtliche Deutung des rechtswidrigen Angriffs geradezu herausfordert. Teilweise hat man nämlich unter Verweis auf das „Rechtsbewährungsprinzip“ argumentiert, daß sich der Angriff „sowohl gegen ein individuelles Rechtsgut als auch gegen die Geltung der Rechtsordnung“ richten müsse100. Damit wird der Angriff – abgesehen von dem bei der Notwehr nicht in Betracht kommenden formellen Moment der Anbindung an einen speziellen Straftatbestand101 – prinzipiell im Sinne des allgemeinen Verbrechensbegriffs gedeutet102. Versteht man das Strafunrecht im Sinne des allgemeinen Verbrechensbegriffs als Geltungsangriff, setzt es in der Tat die Zurechnungsfähigkeit des Täters, d. h. die Eigenschaft des Täters als natürliche Person, die physische Fähigkeit zur Normbefolgung (d. i. die Willkürlichkeit oder abstrakte Handlungsfähigkeit) sowie darüber hinaus auch die intellektuelle Fähigkeit zur Normbefolgung (d. i. die Schuldfähigkeit im engeren Sinne gem. §§ 19, 20 StGB, 3 JGG und die Erkennbarkeit des Geltungsanspruchs der allgemeinen Norm für die besondere
__________ 97 Schütze, Lehrbuch, S. 108, 113; Schmidhäuser, Strafrecht AT, Studienbuch, 2. Aufl. 1984, 6/64 f.; H. Mayer, Strafrecht AT, 1967, S. 98; Otto, Grundkurs, 8/20; der Sache nach auch Köhler, AT, (unter Beschränkung der Notwehr auf „subjektiv-zurechenbare“, d. h. nach Köhler, ibid. S. 13, 177 f., 200: auf „bewußt fahrlässige“ und d. h. wiederum auf eigentlich vorsätzliche Angriffe); ebenso Klesczewski, FS Wolff, S. 244. Noch weitergehend Frister, GA 1988, 301 ff., 305 (zur Kritik dieser Position siehe Lesch, Notwehrrecht, S. 38 Fn. 71; Jakobs, AT, 12/18, Fn. 33). 98 „Gesinnungsethik“ heißt „bei den Handlungen die Konsequenzen verachten“, vgl. Hegel, Grundlinien, § 118 /Anm. 99 Jakobs, in: Rechtfertigung und Entschuldigung IV, S. 147; Jakobs, AT, 12/17 ff.; Hoyer, JuS 1988, 96; Schmidhäuser, AT StuB, 6/62 ff. 100 Otto, Grundkurs, 8/19; Schmidhäuser, AT StuB, 6/62. 101 Vgl. Lesch, Der Verbrechensbegriff, S. 212. 102 Zur Entfaltung des Verbrechensbegriffs als Geltungsangriff eingehend Lesch, Der Verbrechensbegriff, S. 190 ff. und passim.
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Tatsituation) voraus103. Aber die Notwehr läßt eben – wie oben unter I. 3. dargelegt – eine quasi-pönale Deutung nicht zu. Insoweit ist es deshalb nicht gerechtfertigt, die Notwehr nur gegen ein schuldhaftes Verhalten des Angreifers anzuerkennen. Entsprechendes gilt auch für die Argumentation, die Jakobs für das Erfordernis eines schuldhaften Angriffs vorbringt. Nach Jakobs’ Auffassung ist das rechtswidrige Verhalten des Angreifers „bei Schuldlosigkeit … gerade nicht zu verantworten und deshalb auch für denjenigen ein Unglück, der sich selbst – schuldlos – unrecht verhält. Wenn ein Kind oder ein geisteskranker Mensch einen anderen Menschen angreift, so ist das für das für das Kind oder den Geisteskranken ebenso Unglück, als wenn ein Tier, das sie besitzen, einen Schaden anzurichten droht. Dies stellt sich nicht nur aus deren Perspektive so dar, sondern auch aus der Perspektive des Angegriffenen: Wenn dieser die Zurechnungsunfähigkeit kennt, nimmt er die normative Erwartung, der andere habe sich rechtmäßig zu verhalten, zurück. Also setzt Notwehr einen schuldhaften Angriff voraus.“104 Auch diese Argumentation wird aus dem gedanklichen Reservoir eines genuin strafrechtlichen Systemdenkens, nämlich aus dem des funktionalen Zusammenspiels zwischen Straftat und Strafe resp. zwischen Enttäuschung und Bestätigung normativer Erwartungen105 gespeist. Denn „das Strafrecht garantiert“ – so Jakobs – „bei gesellschaftsfunktionaler Sicht nur eines: daß dem … Sinnausdruck, die Norm gelte nicht, widersprochen wird. Ein Sinnausdruck fehlerhaften Inhalts ist bei dieser Aussage ein zu verantwortender Ausdruck; jeder Fall fehlender Schuld bei gegebenem Unrecht … wandelt den kommunikativ relevanten Sinn in Nur-Individuelles, Zufälliges und in diesem Verständnis in Natur (in Umwelt der Kommunikation).“106 Aber erstens werden normative Erwartungen – entgegen der Behauptung von Jakobs – auch gegenüber Kindern und Geisteskranken garantiert, nur eben nicht per Strafrecht, und zweitens bleibt Jakobs jegliche Begründung für die Übertragung der strafrechtlichen Sichtweise auf die Interpretation der Notwehr im allgemeinen und auf die Definition des rechtswidrigen Angriffs im besonderen überhaupt schuldig. Eine solche Begründung ließe sich auch nicht finden. Denn bei der Notwehr geht es eben nicht um die Bestätigung enttäuschter normativer Erwartungen resp. um die Abwehr von Angriffen auf die Geltung von Normen, vielmehr geht es allein um die Abwehr von Angriffen auf subjektive Rechte. Subjektive Rechte aber haben auch unabhängig vom Strafrecht Bestand und können somit selbstverständlich auch von Kindern und Geisteskranken bedroht werden.
__________ 103 104 105 106
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Lesch, Der Verbrechensbegriff, S. 213 ff. Jakobs, in: Rechtfertigung und Entschuldigung IV, S. 148. Vgl. Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 8 ff.; Jakobs, AT, 1/4 ff. Jakobs, ZStW 107 (1995), 865.
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Daneben hat Jakobs das Erfordernis eines schuldhaften Angriffs mit einem Hinweis auf den sog. „Defensivnotstand“ begründet: Weil der „Defensivnotstand“ stets eine (nicht notwendig per Vermeidbarkeit begründete) Zuständigkeit des Eingriffsopfers für die Gefahrenlage voraussetze, müsse das noch schärfere Notwehrrecht „die Konsequenz von mehr als bloßer Zuständigkeit des Angreifers sein“, was eben nur in Betracht komme, wenn der Angreifer den Konflikt schuldhaft verursacht habe107. Aber das ist zunächst einmal nicht mehr als eine petitio principii, denn das Recht kennt in seinen mannigfaltigen Regelungsbereichen mitunter gänzlich verschiedene Formen von Zuständigkeit, und ein Grund dafür, weshalb es sich bei dieser, über die „bloße“ Zuständigkeit des Angreifers hinausgehenden, also „gesteigerten“ Zuständigkeit ausgerechnet um eine (quasi-) strafrechtliche Zuständigkeit handeln soll, wird auch in diesem Zusammenhang nicht benannt. Abgesehen davon handelt es sich bei dieser Argumentation auch nur um eine Tautologie, denn es ist ja gerade die Frage, ob es einen „Defensivnotstand“ in diesem Sinne überhaupt gibt, und ob es sich bei den von Jakobs unter der Flagge des „Defensivnotstands“ behandelten Fällen nicht vielmehr eigentlich um Fälle von Notwehr handelt. Tatsächlich ist der „Defensivnotstand“ eine relativ neue Erfindung, die nicht nur mehr Verwirrung als Nutzen stiftet108, sondern sich bei einer zutreffenden Interpretation der Notwehr auch als gänzlich entbehrlich erweist. Ortrun Lampe, die Roxin als die „eigentliche Erfinderin“ des „defensiven übergesetzlichen Notstandes“ bezeichnet109, hat einen Rückgriff auf diese Kategorie nur dann für erforderlich gehalten, „wenn die Gefahr weder von einem Menschen noch von einer Sache ausgeht, also vor allem bei einer Gefährdung durch die Leibesfrucht oder durch Gegenstände, die nicht Sachen im Sinne des § 90 BGB sind, wie etwa Strahlungen.“110 Aber als diese Kategorie erst einmal erfunden war, hat man in der Folgezeit damit begonnen, immer weitere Fallkonstellationen aus der Notwehr auszugliedern und dem „Defensivnotstand“ zuzuschlagen, und zwar namentlich in solchen Fällen, in denen die besondere „Schneidigkeit“ der Notwehr im Ergebnis keine Billigung mehr zu verdienen scheint, beispielsweise bei rechtswidrigen Angriffen ohne „Verhaltensunwert“, bei rechtswidrigen Angriffen unzurechnungsfähiger oder sonst schuldlos handelnder Subjekte, oder bei Angriffen in „notwehrähnlichen Situationen“, bei denen einerseits die Drastik des un-
__________ 107 Jakobs, AT, 12/18; Jakobs, in: Rechtfertigung und Entschuldigung IV, S. 148. 108 Das übersieht Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, 2002, S. 309, wenn er annimmt, daß es sich bei der Unterscheidung zwischen „Defensivnotstand“ und eingeschränkter Notwehr nur um eine „rein terminologische Frage“ handle. 109 Roxin, FS Jescheck I, S. 457. 110 Lampe, NJW 1968, 91.
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mittelbar drohenden Schadens fehlt, sich dieser Schaden jedoch andererseits nur noch durch sofortiges Eingreifen abwenden läßt111. Mit der Zuordnung dieser Fälle zum rechtfertigenden Notstand – insbesondere zur Regelung des § 34 StGB112 – wird die Lösung nach verbreiteter Auffassung wiederum dem „Güter-“ bzw. „Interessenabwägungsprinzip“ überantwortet113. Unter dem Diktat des „Güter-“ bzw. „Interessenabwägungsprinzips“ bleiben jedoch entscheidende Aspekte, die eine systematisch folgerichtige und axiologisch stimmige Differenzierung zwischen Notwehr und Notstand ausmachen, auf der Strecke, was dann mitunter auch den Blick für die angemessene Lösung verstellen mag. Beispielsweise wird argumentiert, daß sich das Rechtsgut Leben „als Basis der Menschenwürde und als Höchstwert der Verfassung“ jeglicher quantifizierenden oder qualifizierenden Beurteilung entziehe. Deshalb dürfe das menschliche Leben nicht als Rechnungsfaktor in eine Güter- und Interessenabwägung eingesetzt und dadurch relativiert werden, mit der Folge, daß sich die Tötung des „Angreifers“ auch im „defensiven“ Notstand verbiete, und zwar selbst dann, wenn „Leben gegen Leben“ stehe114. Bei dieser, durch das „Güter-“ bzw. „Interessenabwägungsprinzip“ geradezu herausgeforderten Argumentation werden jedoch das subjektive Recht des „Angegriffenen“ und die Zuständigkeit des „Angreifers“ für die Kollisionslage gänzlich mißachtet115. Es müßte beispielsweise der mit einer „Präventivnotwehrlage“ Konfrontierte oder der von einem schuldlos Handelnden Bedrohte von Rechts wegen (!) dem jeweiligen „Angreifer“, der sich seinerseits ins Unrecht setzt (!), sein Leben lassen, wenn er es in der konkreten Situation nur durch die Tötung des „Angreifers“ erhalten könnte – ein offenbar untragbares und auch gänzlich falsches Ergebnis. Demgegenüber hat schon Pufendorf auf folgendes hinwiesen: „Ebenso wie ich mich gegenüber jedem friedlich und freundlich verhalten soll, so muß auch jeder, der es wert sein soll, die Erfüllung dieser Pflicht von mir zu erwarten, mir in gleicher Weise gegenübertreten. Und weil das Gesetz des Lebens in der Gemeinschaft das Wohl der Menschen zum Ziel hat, muß es so ausgelegt werden, daß das Wohl der einzelnen nicht leidet. Wenn also ein anderer mein Leben bedroht, befiehlt das Gesetz nicht, daß ich mein Leben hingebe, damit die Schlechtigkeit des anderen ungestraft
__________ 111 Vgl. etwa Hirsch, JR 1980, 116; Jakobs, AT, 12/27; Schönke/Schröder-Lenckner/ Perron, § 32 Rz. 17. 112 Roxin, AT, 16/63 ff.; Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, § 34 Rz. 1; MünchKomm-Erb, § 34 Rz. 17 ff., 145 ff.; Jescheck/Weigend, AT, S. 365; LK-Hirsch, § 34 Rz. 1. 113 Roxin, AT, 16/3 ff.; Jescheck/Weigend, AT, S. 359, 360 f.; Schönke/SchröderLenckner/Perron, § 34 Rz. 1 f.; Lenckner, Notstand, S. 133 ff.; LK-Hirsch, § 34 Rz. 1 ff., 53 ff. 114 Günther, JR 1985, 273; Geilen, Jura 1981, 372; Rengier, NStZ 1984, 22; Beisel, JA 1998, 724; Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, § 34 Rz. 30. 115 Vgl. etwa LK-Hirsch, § 34 Rz. 74; MünchKomm-Erb, § 34 Rz. 156, 162; Jakobs, AT, 13/46; Pawlik, Notstand, S. 316.
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davonkommt. Und wer aus solchen Anlaß verletzt oder getötet wird, muß das seiner eigenen Schlechtigkeit zuschreiben, die mich erst in diese Zwangslage gebracht hat.“116 Es geht also bei den Fällen des sog. „Defensivnotstands“ – in Anlehnung an die Berner’sche Differenzierung – nicht um Notstand im eigentlichen Sinne, sc. um die Erhaltung eines höherrangigen Guts auf Kosten eines in die Entstehung des Konflikts nicht involvierten, relativ geringwertigen Guts, sondern um die Verteidigung des Rechts gegenüber dem Unrecht, d. h. um den Grundsatz, daß das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht, weil es anderenfalls seinerseits zum Unrecht pervertiert würde, und d. h. wiederum: an sich um Notwehr117. Schon v. Buri hat im Ansatz zutreffend ausgeführt, „daß, wenn man denn einen absoluten Unterschied zwischen Nothwehr und Nothstand behaupten will, derselbe doch wesentlich darin gefunden werden muß, daß die Nothstandshandlung ein fremdes Rechtsgut zur eigenen Erhaltung in Anspruch nimmt, dessen Inhaber die Gefahr nicht verursacht hat, während sich die Nothwehrhandlung nur gegen denjenigen richtet, von welchem auch die Gefahr bereitet worden ist“118. Im Fall des Notstands wird also von einer an dem Konflikt im rechtlichen Sinne gänzlich unbeteiligten Person ein Sonderopfer verlangt, das sich – ebenso wie die Hilfeleistungspflicht aus § 323c StGB – aus der rechtlichen Institutionalisierung einer moralischen Solidaritätspflicht legitimiert119. Der sog. „Defensivnotstand“ folgt aber – ebenso wie es bei der echten („schneidigen“) Notwehr der Fall ist – dem Verantwortungsprinzip und ist damit in sachlicher und rechtlicher Hinsicht allein der Regelung des § 32 StGB und nicht derjenigen des § 34 StGB zuzuschlagen120. Die damit skizzierte Differenzierung zwischen Notwehr und Notstand liegt auch der gegenwärtigen Systematik des BGB zugrunde. Hier ist nämlich die Notwehr mit § 227 BGB in dem Regelungskontext des 1. Buches, 6. Abschnitt über die „Ausübung der Rechte, Selbstverteidigung, Selbsthilfe“ erfaßt, während sich der auf dem Aufopferungsgedanken beruhende Notstand mit § 904 BGB in dem Regelungskontext des 3. Buches, 1. Abschnitt, 1. Titel über den „Inhalt des Eigentums“ wiederfindet. Auch die Sachwehr hat man mit § 228 BGB in denselben Regelungskontext wie die Notwehr gestellt. Wenn die Sachwehr heute verbreitet – im Gegensatz zum früheren Sprachgebrauch – als zivilrechtlicher „Verteidigungsnotstand“ bezeichnet wird121, ist das nicht nur sachlich verfehlt, sondern auch mit der von den Vätern des
__________ 116 Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, übers. und hrsg. von Luig, 1994, 1. Buch, Kap. 5, § 6. 117 Löffler, ZStW 21 (1901), 543, 564, 566 ff. und passim; Lesch, Notwehrrecht, S. 48 f. 118 v. Buri, GS 30 (1878), 471. 119 Vgl. dazu näher Lesch, Notwehrrecht, S. 51 ff. 120 Im Ansatz übereinstimmend NK-Neumann, § 34 Rz. 86, 88; Frister, GA 1988, 294 f.; Köhler, AT, S. 262. 121 Roxin, AT, 16/1; Palandt-Heinrichs, 63. Aufl. 2004, § 228 Rz. 1.
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BGB getroffenen Unterscheidung zwischen Sachwehr und Notstand nicht zu vereinbaren. Denn in den Gesetzesmaterialien heißt es dazu: „Begründet die Gefährdung durch fremde Sachen (Thiere oder sonstige Sachen) nicht die Nothwehrlage, so läßt sich andererseits ebensowenig, wie vielfach geschieht, ein Nothstandsfall (StGB. § 54) unterstellen. Die Beseitigung der drohenden Gefahr erfolgt nicht durch den Uebergriff in den Rechtskreis eines unbetheiligten Dritten, sondern dadurch, daß die gefahrdrohende Sache selbst verletzt wird. Die Verletzung derselben entspricht der Verletzung des Angreifers bei der Nothwehr.“122 Löffler hat sogar ausgeführt, daß § 228 überhaupt „einen Fall von Notwehr“, und zwar von „Notwehr im engeren Sinne“ regle123. Auch die polizeirechtliche Differenzierung zwischen der Inanspruchnahme von verantwortlichen (polizeipflichtigen) Personen (Verhaltens- und Zustandsstörern) und der Inanspruchnahme von Unbeteiligten (Nichtstörern) im „polizeilichen Notstand“ (vgl. etwa §§ 6 PolG NW, 18 OBG NW) ist strukturell parallel gelagert124: Maßnahmen im polizeilichen Notstand verweisen nicht einen Störer in seine Schranken, sondern muten Unbeteiligten im öffentlichen Interesse ein Sonderopfer zu. Halten wir also fest, daß ein „Defensivnotstand“ nicht anzuerkennen ist. Das Argument, ein schuldhafter Angriff sei erforderlich, weil die Notwehr eine gegenüber dem „Defensivnotstand“ gesteigerte Zuständigkeit voraussetze, geht deshalb ins Leere. Ein weiteres, von Jakobs vorgetragenes Argument lautet: „Der Angreifer hat die notwendigen Abwehrkosten zu tragen, auch wenn sie das Vielfache des Wertes des geretteten Interesses ausmachen. Wenn der Angreifer diese immense Duldungspflicht nicht als Willkür, außerhalb, sondern als Regel, innerhalb eines Rechtsverhältnisses, soll akzeptieren müssen und können, so kommt als Grund dafür nur in Betracht, daß der Angriff seine zurechenbare Entscheidung war, also ein schuldhaftes Verhalten.“125 Aber auch das ist eine petitio principii. Denn selbst wenn man voraussetzt, daß der Angriff eine „zurechenbare Entscheidung“ darstellt, so läßt sich daraus jedenfalls noch nicht schließen, daß dieses Kriterium nur von einem „schuldhaften Verhalten“ erfüllt wird. Das Recht kennt – wie gesagt – in seinen mannigfaltigen Regelungsbereichen mitunter gänzlich verschiedene Formen der Zurechnung, und es findet sich auch in diesem Zusammenhang keinerlei Begründung dafür, weshalb es ausgerechnet auf eine (quasi-) strafrechtliche Zurechnung ankommen soll. Im übrigen wird der Angreifer – wie wir gese-
__________ 122 Mugdan, Die gesamten Materialien zum BGB für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 544 f. 123 Löffler, ZStW 21 (1901), 573. 124 Siehe dazu im einzelnen Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S. 290 ff.; Grimm/Papier-Oldiges, Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, 1986, S. 276. 125 Jakobs, in: Rechtfertigung und Entschuldigung IV, S. 147.
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hen haben – schon dann von einer unbedingten Einstandspflicht getroffen, wenn er als Garant für die Vermeidung der drohenden Gutsverletzung zuständig ist. Diese unbedingte Einstandspflicht des Garanten bedarf als Kehrseite der subjektiven Rechte des Angegriffenen auch keiner besonderen Rechtfertigung. Es würde vielmehr gerade umgekehrt einer besonderen Rechtfertigung bedürfen, wenn das Recht des Angegriffenen dem drohenden Unrecht, für dessen Abwehr der Angreifer als Garant selbst verantwortlich zeichnet, weichen müßte, und auf diese Weise nun seinerseits zum Unrecht pervertiert würde. Die „immense Duldungspflicht“ des Angreifers als Garant ist also per se keine „Willkür“, sondern wesentlicher Inhalt des „Rechtsverhältnisses“ zwischen ihm und dem Angegriffenen. Der Garant ist Störer und wird als solcher nur von dem Verteidiger in seine Schranken verwiesen. Es bleibt also dabei, daß das Unrecht des Angreifers kein schuldhaftes Verhalten voraussetzt. 4. Objektiv pflichtwidriges Verhalten? Nach der heute vorherrschenden Auffassung setzt die Rechtswidrigkeit des Angriffs einen sog. „Handlungsunwert“126 bzw. ein objektiv pflichtwidriges Verhalten voraus127. Das ist im Ansatz zutreffend, allerdings bedarf es der Konkretisierung, welche Pflichten in diesem Zusammenhang maßgeblich sein sollen. Wie wir gesehen haben (oben I. 6.), läßt sich die unbedingte Einstandspflicht des Angreifers nicht schon im Rahmen der allgemeinen Mindestsolidarität legitimieren, sondern nur dann, wenn der Angreifer als Garant für die Erfolgsabwendung zuständig ist. Daraus folgt, daß ein Verstoß gegen die in § 323 c StGB sanktionierte Hilfeleistungspflicht keinen rechtswidrigen Angriff im Sinne des § 32 StGB zu begründen vermag128. Demnach läßt sich der rechtswidrige Angriff genauer als die drohende Verletzung sub-
__________ 126 Roxin, AT, 15/14; Baumann/Weber/Mitsch, AT, 17/17. Die Begründung Roxins stammt wiederum aus dem gedanklichen Reservoir eines genuin strafrechtlichen Systemdenkens: „Die Rechtswidrigkeit des Angriffs entspricht dem Rechtswidrigkeitsbegriff der allgemeinen Verbrechenslehre. Ein Angriff ist also nicht schon dann rechtswidrig, wenn er einen Erfolgsunwert herbeizuführen droht; er muß auch einen Handlungsunwert aufweisen.“ Aber das ist nicht mehr als eine petitio principii: Wieso soll eigentlich die Rechtswidrigkeit des Angriffs dem Rechtswidrigkeitsbegriff der allgemeinen Verbrechenslehre entsprechen? Abgesehen davon ist der Begriff des „Handlungsunwerts“ schillernd und im Schrifttum maßlos umstritten, siehe dazu i. e. Lesch, Das Problem der sukzessiven Beihilfe, 1992, S. 207 ff. m. w. N. Teilweise wird der „Handlungsunwert“ mit der tatbestandstypischen Finalität gleichgesetzt und damit im Sinne eines bloßen Intentionsunwerts verstanden, vgl. etwa Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973, S. 120 f. und passim; Suarez Montes, FS Welzel, S. 382; Rudolphi, FS Maurach, S. 55, 59, 64, 65. 127 Stratenwerth, AT, 9/69; Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, § 32 Rz. 21; MünchKomm-Erb, § 32 Rz. 55; Hirsch, Strafrechtliche Probleme, 1999, S. 301. 128 MünchKomm-Erb, § 32 Rz. 64 f. mit weit. Nachw. pro und contra.
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jektiver Rechte durch einen für die Vermeidung dieser Verletzung zuständigen Garanten definieren.
III. Die kleine (eingeschränkte) Notwehr Es besteht im Grundsatz weitgehend Einigkeit darüber, daß es neben der echten, also „scharfen“ bzw. „schneidigen“ Notwehr noch eine kleine, also „eingeschränkte“ Notwehr geben muß129. Zwar werden die entsprechenden Fallkonstellationen mitunter auch (mehr oder weniger weitgehend) dem sog. „Defensivnotstand“ überantwortet, aber das ist – wie wir gesehen haben – nicht nur irreführend und sachlich verfehlt, sondern bei einer zutreffenden Interpretation der Notwehr auch vollkommen entbehrlich. Fraglich ist also nur, in welchen Fallkonstellationen und mit welchem Umfang jeweils bloß eine kleine Notwehr Platz greift. 1. Angriffe von Kindern, Unzurechnungsfähigen und erkennbar schuldlos Irrenden Auch Angriffe von Kindern, Unzurechnungsfähigen und erkennbar schuldlos Irrenden sind Unrecht. Dies zeigt sich schon daran, daß derartige Angriffe – freilich nur theoretisch – mit zivilrechtlichen Rechtsbehelfen abgewehrt werden könnten und daß die Polizei – unter Beachtung der spezifisch polizeirechtlichen Kautelen – auch gegen solche Angriffe einschreiten dürfte. Das (subjektive) Recht des Angegriffenen braucht also auch hier dem Unrecht des Angreifers jedenfalls im Grundsatz nicht zu weichen, weil das (subjektive) Recht des Angegriffenen ansonsten seinerseits zum Unrecht pervertiert würde130. Sollte das (subjektive) Recht des Angegriffenen beschränkt und der Angegriffene damit letztlich in einem weiteren Sinne „enteignet“ werden, wäre das also für ihn jedenfalls ein Sonderopfer, das ihm – ebenso wie im Fall des Notstands gem. § 34 StGB oder wie im Fall der Hilfeleistungspflicht gem. § 323c StGB – als moralisch geschuldete Mindestsolidarität von Rechts wegen nur in eng begrenzten Ausnahmenfällen zugemutet werden dürfte und könnte. Noch einmal: Nicht das (subjektive) Recht des Angegriffenen, sondern – umgekehrt! – die Enteignung dieses Rechts bedarf einer besonderen Legitimation. Daß das Recht dem Angegriffenen gegenüber Kindern, Unzurechnungsfähigen und erkennbar schuldlos Irrenden überhaupt eine gewisse Rücksichtnahme auferlegt, ist im Prinzip nicht bestritten. Es geht hier aber jedenfalls nicht um eine angeblich fehlende generalpräventive Notwendigkeit (sc. um
__________ 129 Siehe aber H. Mayer, Strafrecht AT, 1953, S. 202: „Das Gesetz weiß davon nichts“. Ebenso LK-Spendel, § 32 Rz. 308. 130 Auch MünchKomm-Erb, § 32 Rz. 186 betont, daß „wir es nach wie vor mit einer Konfrontation zwischen dem Recht und dem … Unrecht zu tun haben“.
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ein zurücktretendes „Rechtsbewährungsinteresse“131 oder um eine Korrektur von normativen Erwartungen132). Es geht auch nicht um eine Interessenoder Güterabwägung (und deshalb ist es auch – um es noch einmal zu betonen – falsch, insoweit von einem „Defensivnotstand“ zu reden), schon gar nicht um das „Prinzip des überwiegenden Interesses“. Es geht vielmehr allein um die Frage, welche sozialrechtlichen Grenzen den subjektiven Rechten des Angegriffenen gezogen sind. Dabei ist stets von Bedeutung, inwieweit der Angreifer als Garant für die Erfolgsabwendung einzustehen hat. Denn bei der Zuschreibung von Verantwortung sind Abstufungen möglich133, und das Maß der dem Angegriffenen von Rechts wegen abverlangten Solidarität ist jeweils von dem Maß der Verantwortung des Angreifers abhängig134. Kinder, die das siebente Lebensjahr noch nicht vollendet haben, sind zwar im polizeirechtlichen Sinne, nicht aber im deliktsrechtlichen Sinne verantwortlich (vgl. § 828 Abs. 1 BGB). Sie haben deshalb zwar im Sinne des Notwehrrechts als Garanten für die Erfolgsabwendung einzustehen, jedoch ist die Reichweite ihrer Einstandspflicht deutlich eingeschränkt. Ihnen gegenüber wird dem Angegriffenen also von Rechts wegen ein erheblich höheres Maß an Solidarität auferlegt als es etwa bei der viel zitierten Bande von gewalttätigen Jugendlichen135 der Fall ist. Dasselbe gilt für Bewußtlose und Geisteskranke, die sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand befinden. Die Garantenpflicht von Kindern und Jugendlichen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, wird in ihrer Reichweite von dem jeweiligen Alter und der jeweiligen Einsichtsfähigkeit abhängen. Demgegenüber können solche Personen, die sich schuldhaft durch geistige Getränke oder ähnliche Mittel (z. B. Betäubungsmittel) in einen Zustand versetzt haben, der die freie Willensbestimmung ausschließt – wie das etwa bei Betrunkenen regelmäßig der Fall ist – als Garanten unbedingt und uneingeschränkt für die Erfolgsabwendung in Anspruch genommen werden. Aus alledem folgt, daß der Angegriffene gegenüber Kindern, die das siebente Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Bewußtlosen, Geisteskranken und erkennbar schuldlos Irrenden den in jedem Angriff steckenden Nötigungseffekt hinnehmen muß, wenn er den Angriff beispielsweise durch die Aufklärung eines Irrenden oder durch bloßes Ausweichen abwehren kann136. Auch eine solche Beeinträchtigung von Rechten, die für den Angegriffenen nur die Qualität einer Belästigung erreicht, beispielsweise die unberechtigte Benutzung eines Privatweges, hat der Angegriffene zu dulden. Dasselbe gilt
__________ 131 A. A. Krause, GS Hilde Kaufmann, S. 680; Jescheck/Weigend, AT, S. 345 f.; Otto, Grundkurs, 8/19. 132 A. A. Jakobs, in: Rechtfertigung und Entschuldigung IV, S. 148. 133 Müssig, ZStW 115 (2003), 234. 134 Jakobs, AT, 12/47, letzter Absatz. 135 Vgl. etwa LK-Spendel, § 32 Rz. 9; MünchKomm-Erb, § 32 Rz. 186. 136 MünchKomm-Erb, § 32 Rz. 185.
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für bloße Ehrangriffe. Eine schwerwiegende Beschränkung der Freiheit muß der Angegriffene aber jedenfalls ebensowenig dulden wie eine erhebliche Beeinträchtigung der Körperintegrität137 oder gar den Verlust des Lebens. Was den Bereich der tauschbaren Güter138 angeht, also insbesondere den Bereich der Vermögenswerte, ist zwar eine Enteignung des Angegriffenen prinzipiell möglich. Denn wenn das Recht den Angegriffenen insoweit auf das Prinzip „Dulde und liquidiere“ verweist, wird dadurch nur die formale, nicht aber die materielle Rechtsposition des Angegriffenen geschmälert. Allerdings ist die Hinnahme von Vermögensschäden dem Angegriffenen im Rahmen einer rechtlich institutionalisierten moralischen Mindestsolidarität nur insoweit zumutbar, als staatliche Ersatzleistungen bereitstehen und der Betroffene bei der späteren Durchsetzung seiner Ansprüche nicht dem Beweisrisiko ausgesetzt bleibt. Anders dürfte es sich im Bereich der Bagatellen verhalten (dazu näher unten III. 4.), allerdings nur, soweit der Angriff bloß unter erheblicher Verletzung oder gar Tötung des Angreifers abgewehrt werden kann. Gegenüber Kindern und Jugendlichen, die das siebente Lebensjahr zwar vollendet haben, aber noch nicht 18 Jahre alt sind, gilt das alles nur mit Abstrichen; – hier wird es stets auf die Umstände des Einzelfalls ankommen und dabei ist es durchaus denkbar, daß dem Angegriffenen eine Beschränkung seiner Rechte unter dem Aspekt der Solidarität möglicherweise nicht mehr zumutbar erscheint139. Gegenüber Betrunkenen und Personen, die unter dem Einfluß von Drogen stehen, läßt sich indes – wie schon gesagt – eine Beschränkung der Notwehr regelmäßig nicht rechtfertigen, nämlich dann nicht, wenn sie ihren Zustand schuldhaft herbeigeführt haben140. 2. Angriffe beim Vorliegen besonderer institutioneller Beziehungen Besteht zwischen dem Angegriffenen und dem Angreifer – wie im Fall der Ehe oder beim Vorliegen eines Eltern-Kind-Verhältnisses – eine besondere institutionelle Beziehung141, ist nicht nur der Angreifer als Garant für die Abwehr des Angriffs zuständig, sondern der Angegriffene seinerseits als Garant zur umfassenden Fürsorge für die Güter des Angreifers verpflichtet. Die Pflichten, die sich aus einer solchen besonderen institutionellen Beziehung ergeben, gehen prinzipiell deutlich über diejenigen Pflichten hinaus, die jedermann im Rahmen der allgemeinen Mindestsolidarität auferlegt sind. Insoweit besteht also eine erhöhte Opferpflicht des Angegriffenen gegenüber dem Angreifer. Zwar offenbart sich in dem Angriff immer auch eine partielle Zerrüttung der Institution, aber solange die Institution nicht insgesamt in Frage gestellt wird, bleibt die gegenüber der allgemeinen Mindest-
__________ 137 138 139 140 141
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Insoweit übereinstimmend MünchKomm-Erb, § 32 Rz. 186. Siehe dazu Jakobs, AT, 7/111. Siehe dazu LK-Spendel, § 32 Rz. 309. Krause, GS Hilde Kaufmann, S. 679; a. A. MünchKomm-Erb, § 32 Rz. 188. Vgl. dazu Sánchez-Vera, Pflichtdelikt, S. 76 ff.
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solidarität erhöhte Opferpflicht erhalten, wenn sie auch geringer ausfällt, als es bei einer vollständig intakten Institution der Fall wäre142. Eine gesteigerte Solidaritätspflicht gegenüber dem Angreifer kann demnach von Rechts wegen nur anerkannt werden, wo es sich – mit den Worten Roxins – „um eine Entgleisung im Rahmen konflikthafter Auseinandersetzungen handelt, wie sie auch und gerade bei engen persönlichen Beziehungen vorkommen“143. Der sich verteidigende Ehepartner muß dann also etwa, wo die Umstände dies erlauben, ausweichen, wenn eine Abwehr nur durch eine schwere Verletzung des Angreifers möglich ist. Darüber hinaus hat er leichtere Beeinträchtigungen seiner Güter – auch seiner Körperintegrität – hinzunehmen, bevor er existentielle Güter des Angreifers verletzt oder diesen gar tötet144. Das Risiko erheblicher eigener Verletzungen braucht der Angegriffene allerdings in keinem Fall zu tragen. 3. Rechtswidrig provozierte Angriffe Wer einen Angriff rechtswidrig herausfordert, ist für die Konfliktsituation jedenfalls mit zuständig und als Garant qua Ingerenz zur Revokation des Provokationsverhaltens verpflichtet. Die Position des Angegriffenen kann also in axiologischer Hinsicht durchaus mit der Position eines Angegriffenen verglichen werden, der mit dem Angreifer in einer besonderen institutionellen Beziehung verbunden ist. Auch bei einem rechtswidrig provozierten Angriff kommt deshalb nur eine kleine Notwehr in Betracht. Somit ist der Angegriffene jedenfalls zum Ausweichen und zur Hinnahme leichterer Beeinträchtigungen seiner Güter verpflichtet, bevor er dem Angreifer schwerwiegende Verletzungen zufügt. Die Hinnahme erheblicher eigener Verletzungen kann dem Angegriffenen allerdings auch in dieser Fallkonstellation nicht zugemutet werden145. Eine Einschränkung des Notwehrrechts kommt freilich nur in Betracht, wenn der Provokateur und der Angegriffene i. S. d. § 32 StGB identisch sind, nicht aber bei der Notwehrhilfe des Provokateurs zugunsten eines Dritten, denn in einem solchen Fall besteht kein Grund, den Dritten mit dem Provokationsverhalten des Verteidigers zu belasten146.
__________ 142 Jakobs, AT, 12/58; MünchKomm-Erb, § 32 Rz. 194 ff. 143 Roxin, ZStW 93 (1981), 103. 144 Jakobs, AT, 12/58; Roxin, ZStW 93 (1981), 101, 103; MünchKomm-Erb, § 32 Rz. 194 ff.; Geilen, JR 1976, 316, 318; a. A. Engels, GA 1982, 109 ff.; Frister, GA 1988, 308; LK-Spendel, § 32 Rz. 310. 145 BGHSt 24, 356 (358 f.); BGHSt 26, 143 (145 f.); die Frage der Notwehreinschränkung bei provozierten Angriffen ist völlig umstritten, vgl. dazu etwa Roxin, ZStW 93 (1981), 85 ff.; Roxin, AT, 15/61-72; Jakobs, AT, 12/49-56; Bertel, ZStW 84 (1973), 1 ff.; Bockelmann, FS Honig, S. 19 ff.; MünchKomm-Erb, § 32 Rz. 198 ff. 146 Jakobs, AT, 21/51; Mitsch, GA 1986, 533 ff.
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4. Krasses Mißverhältnis zwischen Angriff und Verteidigung? Verbreitet wird die Auffassung vertreten, daß das Notwehrrecht bei einem „unerheblichen Angriff“147 resp. bei einem „unerträglichen“ bzw. „besonders krassen Mißverhältnis“148 zwischen dem verteidigten und dem verletzten Gut einer „sozialethischen Einschränkung“149 unterliege. Zur Begründung dieser Auffassung hat Roxin angeführt, daß in einer solchen Fallkonstellation „das strafrechtliche Präventionserfordernis nur noch in sehr abgeschwächter Form anerkannt“ werde150. Aber diese Begründung beruht auf einer quasi-pönalen Deutung der Notwehr und scheitert somit daran, daß es – wie wir gesehen haben (oben I.3) – bei der Notwehr auf negativund/oder positiv-generalpräventive Erwägungen per se nicht ankommt. Mitunter wird zur Begründung einer „sozialethischen Einschränkung“ des Notwehrrechts in dieser Fallkonstellation auch auf den Gedanken des Rechtsmißbrauchs rekurriert151. Aber das liegt wiederum neben der Sache. Denn das Recht würde sich selbst vernichten und seinerseits zum Unrecht pervertieren, wenn es dem Unrecht weichen und ihm den Platz einräumen müßte152. Das Verbot des Rechtsmißbrauchs kann nicht dazu dienen, die von dem Angreifer willkürlich definierte Faktizität der Machtverhältnisse zum Maßstab über Recht und Unrecht zu erheben und auf diese Weise dem Rechtshohn zum Durchbruch zu verhelfen. „Es würde“ – mit den treffenden Worten Schmidhäusers – „einen unerträglichen Triumph des Rechtsbrechers über die Rechtsordnung bedeuten, wenn er trotz der Abwehrbereitschaft eines zur Abwehr fähigen Menschen ungehindert sein Ziel erreichen könnte.“153 Dies soll anhand eines Beispiels verdeutlicht werden: Der 18jährige schmächtige Enkel geht mit seiner 80jährigen Großmutter im Park spazieren. Plötzlich tritt ein muskelbepackter, bis an die Zähne bewaffneter Hüne auf die beiden zu. Der Hüne entreißt der Großmutter die Handtasche im Wert von 50 Euro. Dieser Wert von 50 Euro entspricht der Geringfügigkeitsschwelle des § 153 StPO154, die etwa Roxin zur Bestimmung eines „unerheblichen Angriffs“ heranzieht155. Als der Hüne sich abwendet, um sich mit seiner Beute zu entfernen, faßt sich der Enkel ein Herz, tritt von hinten
__________ 147 Roxin, ZStW 93 (1981), 94; MünchKomm-Erb, § 32 Rz. 189. 148 Geilen, Jura 1981, 374; Jescheck/Weigend, AT, S. 348; LK-Spendel, § 32 Rz. 313 ff.; Köhler, AT, S. 270; Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, § 32 Rz. 50. 149 Roxin, ZStW 93 (1981), 68; MünchKomm-Erb, § 32 Rz. 176. 150 Roxin, ZStW 93 (1981), 95. 151 Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, § 32 Rz. 46; Köhler, AT, S. 270; Kühl, AT, 7/178; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 34. Aufl. 2004, Rz. 343. 152 Berner, ArchCrim NF 1848, 557 f.; Abegg, Lehrbuch, S. 169; Abegg, KritV 1 (1859), 364 f.; Oetker, Vergleichende Darstellung II, S. 259; Neumann, Zurechnung, S. 165 f.; Wagner, Notwehrbegründung, S. 23, 29; Sax, JZ 1977, 329 Rz. 18. 153 Schmidhäuser, GA 1991, 121. 154 Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl. 2004, § 153 Rz. 17. 155 Roxin, AT, 15/81.
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an den Hünen heran, ergreift sein Fahrtenmesser und drückt es dem Hünen in den Rücken. Nunmehr entwickelt sich zwischen dem Enkel und dem Hünen folgender symbolischer Dialog. Enkel: „Gib meiner Großmutter die Handtasche wieder, sonst steche ich zu.“ Darauf der Hüne: „Ich rate Dir, so zuzustechen, daß Du mich sofort tötest, sonst schlage ich Dich brutal zusammen. Eine andere Chance, die Handtasche zurückzuerlangen, hast du nicht. Allerdings möchte ich Dich darauf hinweisen, daß Du mich gar nicht töten darfst, weil das wegen des krassen Mißverhältnisses zwischen meinem Leben und dem Eigentum Deiner Großmutter sozialethisch mißbilligt wäre. Deshalb mußt Du mich jetzt gewähren lassen. Wäre ich klein und schmächtig und du groß und stark, dann könntest du mich ohne Schwierigkeiten per Notwehr daran hindern, die Handtasche mitzunehmen, aber weil ich groß und stark bin und du klein und schmächtig bist, hat du kein Notwehrrecht. Da ich faktisch dazu in der Lage bin, die Situation so zu definieren, daß entweder mein Leben oder das Eigentum Deiner Großmutter weichen muß, haben die Rechte deiner Großmutter sich meiner Willkür zu beugen. Die Sozialethik besagt also: Ich bin im Recht und deine Großmutter ist im Unrecht. Das nennt man auch die normative Kraft des Faktischen.“ Es liegt auf der Hand, daß nicht zutrifft, was der Hüne in diesem symbolischen Dialog von sich gibt. Auch in Fällen einer erheblichen Disproportionalität zwischen Angriff und Verteidigung geht es niemals um den Miß-brauch, sondern immer nur um den Ge-brauch von Rechten. Sollte der Angegriffene hier enteignet und ihm insoweit ein Sonderopfer auferlegt werden, dann bedürfe das ihm gegenüber – wie auch sonst – einer besonderen Rechtfertigung. Als einziger erkennbarer Rechtfertigungsgrund könnte insoweit wiederum die rechtliche Garantie einer Mindestsolidarität in Betracht kommen156. Aber auch das trifft nicht zu. Denn die hier in Rede stehende Fallkonstellation unterscheidet sich erheblich von derjenigen Situation, die nach § 323 c StGB die allgemeine Hilfeleistungspflicht auslöst. Der Angreifer ist nämlich einem Dritten gegenüber gerade für die Beseitigung derjenigen Umstände zuständig, die für ihn selbst den Unglückfall auslösen. Er hat selbst als Garant unbedingt für die Erfolgsabwendung einzustehen. Wer den Angriff abwehrt, erfüllt damit also nur eine rechtlich begründete Pflicht des Angreifers. Soweit die Verletzung des Angreifers in Erfüllung dieser Pflicht geschieht, kann diese Verletzung nicht als Unglücksfall definiert werden. Erst wenn der Angriff abgewehrt und damit die Pflicht des Angreifers vollständig erfüllt worden ist, darf der Angreifer für sich die Mindestsolidarität einfordern. Erst dann ist seine Situation mit derjenigen vergleichbar, die § 323c StGB im Auge hat. Gem. § 323c StGB muß also zwar dem in Notwehr verletzten Angreifer grundsätzlich Hilfe geleistet werden157, aber dies gilt jedenfalls nicht,
__________ 156 Dafür Jakobs, AT, 12/47. 157 BGHSt 23, 327 (328); BGH, NStZ 1985, 501.
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wenn und so lange die – sei es auch noch so entfernte – Möglichkeit weiterer Angriffe besteht158. Somit bleibt festzuhalten, daß sich allein unter dem Aspekt der Disproportionalität zwischen dem verteidigten Gut und dem verletzten Gut des Angreifers eine Einschränkung des Notwehrrechts gegenüber dem Angegriffenen nicht legitimieren läßt159. Vielmehr kann eine solche Einschränkung immer nur unter anderen Aspekten in Betracht kommen. So liegt es beispielsweise in zwei Fällen, die das BayObLG vor einigen Jahrzehnten entschieden hat, und die üblicherweise als Exempel für ein „krasses Mißverhältnis“ herangezogen werden. In dem einen Fall160 hatte eine Frau ein Huhn ihrer Nachbarin eingefangen, das in ihren Gemüsegarten eingedrungen war. Mit der Inbesitznahme des Tieres erlangte die Frau nach dem damaligen bayerischen Feldschadensgesetz ein Pfandrecht an dem Huhn. Am Tag darauf erschien ein Polizeibeamter an der Tür der Frau, forderte die Herausgabe des Tieres und begann, die Wohnung zu durchsuchen. Als der Polizeibeamte das Huhn gefunden hatte und sich damit entfernen wollte, schlug die Frau ihn mit dem Stumpf einer Axt nieder. In diesem Fall scheitert die Rechtfertigung nicht am „krassen Mißverhältnis“, sondern an der fehlenden Angemessenheit der Verteidigung (siehe dazu näher unten IV.): Die Rechtsausübung gegenüber rechtswidrig handelnden Staatsorganen ist stets auf bestimmte Verfahren kanalisiert und darf deshalb prinzipiell nicht auf eigene Faust durchgesetzt werden. In dem anderen Fall161 hatte eine Gruppe Spaziergänger einen in der amtlichen Landkarte fälschlicherweise als öffentlich ausgewiesenen Privatweg benutzt. Als der Eigentümer die Spaziergänger aufforderte, seinen Grund und Boden zu verlassen, weigerten sich die Spaziergänger unter Hinweis auf ihre Karte. Daraufhin vertrieb der Eigentümer die Spaziergänger mit angelegter Schußwaffe und einer kaum noch zu bändigenden Hundemeute. In diesem Fall befanden sich die Spaziergänger in einem erkennbar unvermeidbaren Irrtum, so daß der Eigentümer, für den die Rechtsbeeinträchtigung lediglich die Qualität einer Belästigung erreichte, aufgrund der Pflicht zur Mindestsolidarität zur Duldung verpflichtet war (vgl. oben III. 1.). Nur eine kleine Notwehr kommt allerdings bei der sog. „Unfugabwehr“ in Betracht, d. h. bei solchen Bagatellangriffen, die an der Grenze zu den ubiquitären Belästigungen liegen und einem sozialadäquaten Verhalten an-
__________ 158 Schönke/Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben, § 323 c, Rz. 20; LK-Spendel, § 32 Rz. 334. 159 Zutreffend Oetker, Frank-Festgabe I, S. 360: „Der Reiche, dem der Verlust einer Mark nichts ausmacht, braucht sie sich doch nicht entreißen zu lassen.“ 160 BayObLG, NJW 1954, 1377. 161 BayObLG, NJW 1965, 163.
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genähert bleiben162, z. B. bei einer nächtlichen Ruhestörung durch das laute Singen heimkehrender Zecher auf der Straße, bei Streichen von Jugendlichen oder Studenten, bei leichten Zudringlichkeiten auf einer Tanzveranstaltung oder auch beim bloßen „Mundraub“ von Obst an Bäumen und Sträuchern, die am Wegesrand stehen. In diesen Fällen ist die Garantenpflicht des Angreifers aufgrund der Nähe des Angriffsverhaltens zur Sozialadäquanz jeweils in ähnlicher Weise gemindert wie bei Angriffen von Kindern oder Geisteskranken. 5. Die sog. „Präventivnotwehr“ Um was es bei der sog. „Präventivnotwehr“ geht, ist bekannt. Dazu ein Beispiel: Eine Frau befindet sich mit zwei Männern auf einem kleinen Motorboot außer Sichtweite der Küste auf hoher See. Am frühen Morgen hört sie durch Zufall ein Gespräch zwischen den beiden Männern mit, die glauben, sie würde noch schlafen. In dem Gespräch wird beschlossen, die Frau in dem haifischreichen Gewässer am Abend gemeinsam über Bord zu werfen. Nach den Umständen besteht nicht der geringste Zweifel daran, daß sich die beiden Männer durch nichts davon abhalten lassen werden, diesen Entschluß in die Tat umzusetzen. Da die Frau weder das Boot verlassen noch Hilfe herbeiholen kann und erst recht nicht imstande ist, den beiden Männern ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen, hält sie ihre Lage zunächst für aussichtslos. Als aber kurz nach dem Frühstück in einem Moment die beiden Männer gemeinsam an die äußerste Kante des Decks getreten sind, um ein Stück Treibgut zu betrachten, springt die Frau blitzschnell auf die beiden Männer zu und stößt sie von Bord. Beide Männer werden von Haifischen getötet. Die üblicherweise gestellte Frage lautet, ob hier ein gegenwärtiger Angriff im Sinne des § 32 StGB vorliegt. Im Schrifttum wird die Gegenwärtigkeit mitunter funktional bestimmt, und zwar anhand der Effizienz möglicher Verteidigungsmaßnahmen163. Nach der Auffassung Schmidhäusers etwa ist ein Angriff schon gegenwärtig, wenn der Angreifer den Angriff so vorbereitet, daß eine spätere Abwehr nicht mehr möglich ist164. Auch Welzel vertritt die Auffassung, daß „unter Umständen … sogar die Abwehr eines noch in der Zukunft liegenden rechtswidrigen Angriffs die erforderliche Verteidigung sein [kann], weil die Abwehrhandlung später nicht mehr möglich wäre (sog. notwehrähnliche Lage)“165. Allerdings soll sich die Rechtfertigung bei dieser sog. „notwehrähnlichen Lage“ nach der Auffassung Supperts nicht aus einer
__________ 162 Oetker, Frank-Festgabe I, S. 360 f.; Jakobs, AT, 12/48; Schönke/Schröder-Lenckner/ Perron, § 32 Rz. 49; Jescheck/Weigend, AT, S. 348. 163 Vgl. Suppert, Studien, S. 377. 164 Schmidhäuser, AT StuB, 6/61. 165 Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 87.
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unmittelbaren, sondern lediglich aus einer analogen Anwendung des § 32 StGB ergeben166. Außerdem will Suppert in einer „notwehrähnlichen Lage“ nur eingeschränkte Notwehrbefugnisse zulassen. Demgegenüber sollen derartige Fälle nach herrschender Auffassung über die Regeln des sog. „Defensivnotstands“ zu lösen sein167. Schon die unterschiedliche Bestimmung der Gegenwärtigkeit beim Angriff im Sinne des § 32 StGB und bei der Gefahr im Sinne des § 34 StGB168, die die herrschende Auffassung vornimmt, erscheint indes gekünstelt, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil ein Angriff eine drohende Verletzung subjektiver Rechte und mithin seinerseits eine Gefahr darstellt. Abgesehen davon wird bei der ganzen Diskussion um die sog. „Präventivnotwehr“ üblicherweise verkannt, daß dem Bedrohten auch die Freiheit, nicht mit der Gefahr einer künftigen Verletzung seiner Güter konfrontiert zu sein, rechtlich garantiert ist, und zwar immer schon hic et nunc. Bereits dann, wenn jemand einen Angriff so vorbereitet, daß mit dessen Ausführung objektiv ernsthaft gerechnet werden muß, ist das also für den Bedrohten mit einem Nötigungseffekt verbunden (vgl. §§ 240, 241 StGB), den der Bedrohte nicht zu dulden braucht, und gegen den ihm deshalb auch prinzipiell schon das Notwehrrecht zusteht. In unserem Beispielsfall etwa hat die Frau ein subjektives Recht darauf, von den beiden Männern nicht mit der Gefahr, am Abend getötet zu werden, bedroht zu sein, und deshalb befindet sich die Frau auch nicht erst am Abend, sondern bereits am Morgen – also zum Tatzeitpunkt – in einer Notwehrlage. Entsprechendes gilt für den in diesem Zusammenhang häufig erörterten „Spanner-Fall“169: Der Spanner war über einen längeren Zeitraum immer wieder in die Wohnung eines Mannes eingedrungen und hatte die gesamte Familie in Angst und Schrecken versetzt. Der Mann und seine Ehefrau gingen abends nicht mehr gemeinsam aus. Die Ehefrau, eine Ärztin, fürchtete sich davor, nächtliche Hausbesuche zu machen. Der Mann hatte die Vorkommnisse der Polizei angezeigt, die ihm schließlich zum Erwerb eines Waffenscheins und einer Schußwaffe riet. Eines Nachts stand der Spanner wieder am Fußende des Bettes. Der Mann sprang aus dem Bett, ergriff seine Pistole und lief dem Spanner hinterher, konnte diesen aber nicht einholen. Der Mann rief mehrfach „Halt oder ich schieße!“ und schoß schließlich, da der Spanner nicht stehenblieb, zweimal in dessen Richtung, wobei er ihm in die linke Gesäßhälfte und die linke Flanke traf. Auch in diesem Fall lag zum Zeitpunkt des Schusses noch ein gegenwärtiger Angriff vor, nämlich ein Angriff auf die rechtlich garantierte Freiheit des Mannes und seiner Familie, nicht dauernd mit der Gefahr leben zu müssen, daß der Spanner in ihre Privatsphäre eindringt.
__________ 166 167 168 169
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Suppert, Studien, S. 371 ff. MünchKomm-Erb, § 32 Rz. 97; Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, § 32 Rz. 17. Vgl. etwa Wessels/Beulke, AT, Rz. 328; MünchKomm-Erb, § 34 Rz. 76. BGH, NJW 1979, 2053.
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Tatsächlich handelt es sich also bei der sog. „Präventivnotwehr“ nicht um ein Problem der Gegenwärtigkeit des Angriffs, sondern um ein Problem der Erforderlichkeit und – weil die auch die Notwehr selbstverständlich nicht dazu dient, das staatliche Gewaltmonopol zu konterkarieren – um ein Problem der Angemessenheit der Verteidigung (siehe dazu sogleich unten IV.). Darüber hinausgehende besondere Beschränkungen seiner subjektiven Rechte sind dem Angegriffenen im Fall der sog. „Präventivnotwehr“ aber jedenfalls nicht zuzumuten.
IV. Notwehr und staatliches Gewaltmonopol Die prospektive Gefahrenabwehr ist eine genuin staatliche Aufgabe und kann deshalb als solche zur privaten „Rechtsverteidigung“ in Konkurrenz treten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Notwehr etwa als Ausnahme vom staatlichen Gewaltmonopol von vornherein dort enden soll, wo der Staat die Lösung von Konflikten auf bestimmte Verfahren kanalisiert hat170. Im Schrifttum wird die Auffassung vertreten, daß der Vorrang staatlicher Verfahren bei der Sicherung von Rechtsgütern Verfassungsrang besitzt171. Diesem Gedanken hat der Gesetzgeber in Form der Angemessenheitsklausel des § 34 Satz 2 StGB ausdrücklich Rechnung getragen. Bei dieser Regelung geht es freilich – entgegen dem ersten Anschein – nicht bloß um die Beschränkung rechtlich geforderter Solidarität, sondern darüber hinaus auch ganz allgemein um die Funktion der Systemstabilisierung: Die Notrechte sollen nicht dazu mißbraucht werden, das im formellen Rechtsstaat gebändigte, als „erste und wichtigste Vorbedingung [des] zivilisierten Gesellschaftszustands“ fungierende Gewaltmonopol172 zu unterlaufen und auszuhöhlen. Insoweit ist das Prinzip der Angemessenheit als generelles Regulativ sämtlicher Notrechte zu interpretieren. Es verhält sich also in der Tat so, daß die Notwehr von vornherein dort endet, wo die Durchsetzung einer Rechtsposition auf ein bestimmtes Verfahren kanalisiert oder – wie im Fall des § 888 Abs. 2 ZPO – ein Verfahren zur Durchsetzung einer Rechtsposition bewußt nicht vorgesehen ist. Auch polizeiliche Hilfe ist ein Rechtsschutzverfahren und muß deshalb – soweit die Polizei die Abwehr tatsächlich übernimmt – prinzipiell vorrangig zum
__________ 170 Siehe dazu eingehend Lesch, Notwehrrecht, S. 55 ff. 171 Hoffmann-Riehm, ZRP 1977, 281; vgl. auch Lagodny, GA 1991, 312; Kunz, ZStW 95 (1983), 976; Eberstein, BB 1980, 865. 172 Siehe dazu Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 65; Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 33; Isensee, FS Eichenberger, S. 23 ff.; Isensee, FS Sendler, S. 46 ff.; Hoffmann-Riem, ZRP 1977, 279; Haas, Notwehr, S. 293 f.; Burr, JR 1996, 230; Lesch, StV 1993, 581 f.
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Zuge kommen173. Das ist nicht nur eine Frage der Erforderlichkeit174, etwa weil die Polizei im Einzelfall über die milderen Mittel zur Gefahrenabwehr verfügen mag175. Vielmehr hat der Bürger insoweit auch den in jedem Angriff steckenden Nötigungseffekt176 hinzunehmen, der sich aus dem üblichen Abspielen der polizeirechtlichen Klaviatur nun einmal ergibt. Dasselbe gilt, wenn die Polizei herbeigeholt werden kann, ohne daß zwischenzeitlich die Chance der Abwehr im übrigen verlorengeht oder verschlechtert wird177. Wenn dagegen im Vorfeld des gegenwärtigen Angriffs das Herbeiholen der Polizei versäumt wurde und dann in der Notwehrlage selbst nicht mehr in Betracht kommt, ist eine Konkurrenzsituation zwischen privatem Notrecht und staatlich organisierter Gefahrenabwehr nicht gegeben und die nunmehr erforderliche Verteidigung nicht unangemessen178. Die Hinnahme von Vermögensschäden ist dem Bürger aber jedenfalls nur insoweit zumutbar, als staatliche Ersatzleistungen bereitstehen und der Betroffene bei der späteren Durchsetzung seiner Ansprüche nicht dem Beweisrisiko ausgesetzt bleibt179. Etwas anderes kann nur bei der sog. „Unfugabwehr“ gelten (vgl. oben III. 4.). Problematisch bleiben diejenigen Fälle, in denen das betreffende Verfahren, auf das die Lösung des Konflikts an sich kanalisiert sein soll, nicht nur zu einer verzögerten Rechtsdurchsetzung führt, sondern den erforderlichen Schutz des konkret gefährdeten Guts im Einzelfall überhaupt nicht leistet. Das gilt per se dort, wo – mit den Worten Isensees – „die Staatsorgane, unter Mißbrauch des Opportunitätsprinzips oder unter Mißachtung des Legalitätsprinzips, planmäßig und nachhaltig untätig bleiben und dem Angegriffenen den Schutz vorenthalten“180: „Der Staat, der die private Angriffsgewalt duldet, kann nicht die private Verteidigungsgewalt unterdrücken. Die parteiliche Handhabung des Gewaltmonopols führt dazu, daß mit dem Recht des Angegriffenen auch das Risiko des Angreifers beseitigt wird und der Rechtsbruch staatlichen Geleitschutz erhält“. Weil in derartigen Fällen der for-
__________ 173 Jeand’Heur, AöR 119 (1994), 127 f.; Hoffmann-Riem, ZRP 1977, 281; Pelz, NStZ 1995, 305 f.; Kunz, ZStW 95 (1983), 975 f.; Burr, JR 1996, 231 f.; a. A. Hälschner, Das Preußische Strafrecht II, S. 255 ff.; Kühl, JuS 1993, 178; Krause, FS Bruns, S. 77. 174 Lagodny, GA 1991, 301, 309; Jakobs, Rechtfertigung und Entschuldigung IV, S. 156; a. A. Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, § 32 Rz. 41; Schmidhäuser, GA 1991, 123; Suppert, Studien, S. 283. 175 Vgl. dazu Seebode, FS Krause, S. 385; Rudolphi, GS Armin Kaufmann, S. 391. 176 Siehe dazu Oetker, Vergleichende Darstellung II, S. 282; Haas, Notwehr, S. 283 f. 177 Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, § 32 Rz. 41; Kunz, ZStW 95 (1983), 975 f.; Jakobs, Rechtfertigung und Entschuldigung IV, S. 156; Burr, JR 1996, 232. 178 Lesch, StV 1993, 581 ff.; Jakobs, Rechtfertigung und Entschuldigung IV, S. 157 f.; a. A. BGHSt 39, 133 ff. 179 Lesch, Notwehrrecht, S. 62. 180 Siehe dazu Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 53 ff.; Isensee, FS Eichenberger, S. 38; Merten, Rechtsstaat, S. 63 ff. Ein vehementes Plädoyer gegen die Duldung von Rechtsbrüchen findet sich bei v. Jhering, Der Kampf ums Recht, S. 17 ff.
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melle Rechtsstaat bereits aufgelöst ist, fällt das Substrat des Prinzips der Angemessenheit hinweg, so daß die private Verteidigungsgewalt insoweit nicht unangemessen sein kann181. Allerdings hat schon Grotius darauf hingewiesen, daß „die Herrscher nicht verpflichtet [sind], schon immer einen Krieg zu beginnen, wenn in der Person von Untertanen ein Grund zum gerechten Krieg vorliegt, vielmehr nur dann, wenn dies ohne Nachteil für die Untertanen oder mindestens für ihre Mehrheit geschehen kann. Denn das Amt des Herrschers hat mehr das Ganze als den Teil im Auge, und je größer der Teil ist, desto mehr nähert er sich dem Ganzen“182. Der formelle Rechtsstaat ist also keineswegs gehalten, jedes einzelne Rechtsgut um schlechthin jeden Preis zu erhalten. Vielmehr kann und muß der Staat abwägen, wobei ihm auch ein gewisser Ermessensspielraum zusteht183. Über den Bereich derart extrem gelagerter Konstellationen hinaus, in denen der formelle Rechtsstaat bereits aufgelöst ist, wird von der im Schrifttum herrschenden Auffassung generell behauptet, daß das Notwehrrecht des einzelnen nur ausgeschlossen sei, soweit der Staat die nötige Verteidigung in vollem Maße bereits erbringe, nicht aber, soweit der staatliche Schutz versage184. Zur Begründung dieser Auffassung hat man zunächst einmal die Autorität des Thomas Hobbes in Anspruch genommen185. Nach Hobbes ist es nämlich der oberste Grundsatz des natürlichen Rechts, daß „wir befugt [sind], uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen“186. Auf „sein Recht, sich vor Tod, Verletzung und Gefangenschaft zu bewahren“, kann aber niemand verzichten, denn „das Vermeiden dieser Gefahren ist … der einzige Zweck jeden Rechtsverzichts“. Ein „Vertrag, sich nicht mit Gewalt gegen Gewalt zu verteidigen“, ist deshalb nach Hobbes „immer nichtig“187. Darüber hinaus wird gelegentlich auch auf das Grundgesetz rekurriert: „Dieselben Grundrechte“ – so heißt es bei Isensee –, „aus denen die staatlichen Schutzpflichten hervorgehen, geben dem Grundrechtsträger das Recht, sich und andere zu schützen, wenn der Staat als Garant der Sicherheit ausfällt.“188 Allerdings kann diese Argumentation nur für den Bereich der Selbstverteidigung, nicht aber (abgesehen vom Vorliegen einer institutionellen Beziehung
__________ 181 Lesch, Notwehrrecht, S. 64 f. 182 Grotius, De jure belli ac pacis, 2. Buch, 25. Kap. II. 183 Vgl. dazu Merten, Rechtsstaat, S. 63 ff.; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 53 ff. 184 Oetker, Vergleichende Darstellung II, S. 257; Seebode, FS Krause, S. 386 ff., 390 f.; Rudolphi, GS Armin Kaufmann, S. 391; Isensee, FS Eichenberger, S. 27, 40; Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, § 32 Rz. 41; Kunz, ZStW 95 (1983), 983 f., 989 f.; Burr, JR 1996, 232; Kargl, ZStW 110 (1998), 49. 185 Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 3 f., 58; Kunz, ZStW 95 (1983), 989 f. 186 Hobbes, Leviathan, 14. Kap., S. 100. 187 Hobbes, Leviathan, 14. Kap., S. 107. 188 Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 58.
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zu dem bedrohten Gut) für den Bereich der Nothilfe zugunsten Dritter gelten. Nach Hobbes ist nämlich die „Sicherheit … der Zweck, weshalb die Menschen sich andern unterwerfen, und wenn diese nicht erlangt werden kann, so gilt die Unterwerfung unter andere nicht als geschehen und das Recht der Selbstverteidigung nach eigenem Ermessen nicht als verloren; denn man kann nicht annehmen, daß jemand eher sich zu etwas verpflicht oder sein Recht auf alles aufgegeben habe, als bis für seine Sicherheit gesorgt ist“189. Hier ist also immer nur von den eigenen Rechten des Angegriffenen, nicht aber von dem Recht auf Fremdverteidigung die Rede. Ebenso läßt sich aus den Grundrechten allenfalls das Verteidigungsrecht desjenigen ableiten, dessen Grundrechte von dem Angriff überhaupt tangiert sind. Mit dieser Einschränkung verdient die h. M. im Ergebnis ausdrücklich Zustimmung. Allerdings ist die Berufung auf die Hobbes’sche Begründung des Notwehrrechts verfehlt, denn soweit die Notwehr bei Hobbes nur ein vorbehaltenes natürliches Recht darstellt, will das besagen, daß sie sich nicht im vertraglich gebundenen, sondern im Kriegszustand abspielt, d. h. in einem „Zustand, wo alles erlaubt ist“, wo der Angreifer also ohne weiteres erschlagen darf. Schon die Begrenzung der Notwehr auf das Maß des Erforderlichen zeigt aber, daß diese aufklärerisch-naturrechtliche Interpretation der Notwehr nicht zutrifft, und daß es sich bei der Notwehr gerade nicht um einen bloßen Naturvorgang, sondern um einen rechtlichen Akt zwischen rechtlich konstituierten Subjekten handelt (siehe oben I. 6.). Jedoch verhält es sich – mit den insoweit zutreffenden Worten Hälschners – „auch innerhalb des Staates“ so, daß „die Rechte der Privatperson sich nicht bloß als ohnmächtige Forderungen an den Willen Anderer darstellen, sondern zugleich auch notwendig ihre Bethätigung … in sich schließen“190. Die Selbstverteidigung ist – worauf Levita unter Berufung auf Heffter hingewiesen hat – „das letzte Recht des Individuums, mit dessen Aufhebung es überhaupt gar kein selbständiges Recht der Person weiter geben würde“191. Das Recht würde sich selbst vernichten, wenn es dem Unrecht weichen müßte, weil der Staat es nicht schützt. Eine entsprechende Beschränkung der Notwehr käme also für den Inhaber des bedrohten Rechts einer Aufopferung gleich, die bei ersetzbaren Gütern – namentlich bei Vermögen und Eigentum – und bei einer gleichzeitigen Kompensation durch entsprechende staatliche Entschädigungsleistungen unter Ausschaltung von Beweisrisiken zwar diskutabel erscheinen mag, ansonsten aber – zumal bei existentiellen Gütern! – nicht in Betracht kommt. Etwas anderes hat freilich – soweit nicht eine institutionelle Beziehung der Verteidiger zu dem bedrohten Gut begründet ist – für die Notwehrhilfe zu-
__________ 189 Hobbes, Vom Bürger, 6. Kap. Anm. 3, S. 133 (Hervorhebung durch den Verfasser). 190 Hälschner, Das Preußische Strafrecht II, S. 252. 191 Levita, Notwehr, S. 161.
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Die Notwehr
gunsten Dritter zu gelten192. Denn das Recht zur Fremdverteidigung ergibt sich erst aus der allgemeinen moralischen Mindestsolidarität, die in § 32 StGB als besondere Handlungsbefugnis verrechtlicht worden ist. Die moralische Solidarität muß aber überall dort, wo die bürgerliche Gesellschaft die Sorge um die Sicherheit und öffentliche Wohlfahrt institutionalisiert hat, um sie von der Zufälligkeit subjektiven Beliebens gerade zu befreien und – mit Hegel gesprochen – „das Allgemeine herauszufinden und zu veranstalten“193, nicht nur – wie im Fall des § 34 – als rechtlich geforderte, sondern auch als rechtlich gedurfte enden. Wo also der Staat bei einem allgemeinen rechtlichen Verfahren, auf das er die Lösung eines Konflikts abschließend kanalisiert hat, mehr das Ganze als den Teil im Auge behält und aus diesem Grund den Schutz des einzelnen zurückstellt, wäre es unangemessen, die Entscheidung unter Berufung auf die besondere moralische Solidarität zu unterlaufen, so daß insoweit zwar nicht das Recht auf Selbstverteidigung, wohl aber das Recht auf Fremdverteidigung ausgeschlossen sein kann.
__________ 192 Lesch, Notwehrrecht, S. 68 f. 193 Hegel, Grundlinien, § 242.
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Bernd Müssig
Normativierung der Mordmerkmale durch den Bundesgerichtshof? Kriterien der Tatverantwortung bzw. Tatveranlassung als Interpretationsmuster für die Mordmerkmale
Inhaltsübersicht I. Überblick II. Normative Leitlinien der bisherigen Rechtsprechung 1. Fehlende (faktische) Tatveranlassung durch das Opfer 2. Rechtlich irrelevanter Tatanlaß a) ‚Rassen-’ und ‚Fremdenhaß’ b) Einbruch in den Rechtskreis des Opfers c) Deliktischer Tatanlaß III. Normative Profilierung der Mordmerkmale durch Kriterien der Tatveranlassung (jüngere Rechtsprechung) 1. BGHSt 47, 128 (‚niedrige Beweggründe’) 2. BGHSt 48, 207 (‚Heimtücke’)
IV. Konsequenzen? 1. Objektive Zurechnungsmuster als Grundlage einer Normativierung von Mordmerkmalen – exklusive Verantwortung des Täters 2. Motivgeneralklausel: ‚niedrige Beweggründe’ als normativ nichtige Gründe 3. Spezielle Motivmordmerkmale 4. Entlastung bei zurechenbarer Verantwortung des Opfers für Tatkontext 5. Normativierung der ‚Heimtücke’? 6. Mindeststandards einer Mordverurteilung: Zuordnung von Zurechnungsmustern zu Mordmerkmalen 7. Ausblick V. Zusammenfassung
Revisionsrecht i. w. S., einschließlich des durch die Revisionsgerichte gesprochenen Rechts, ist – in gesellschaftstheoretischer Sicht – die Selbstbeobachtung des Rechtssystems als Praxis des Rechtssystems1. Personifiziert ist die ‚Position’ des Beobachters für das strafrechtliche Revisionsrecht in der Person des verehrten Jubilars: Die wissenschaftliche Aufarbeitung eines Themas setzt – sensibilisiert durch die Erfahrungen der Praxis – bei Hans Dahs zunächst auf die Beobachtung der Rechtsprechung, die feinfühlig Tendenzen und Wenden registriert, und endet regelmäßig mit einem Vorschlag oder Ausblick, der Wissenschaft und Praxis fruchtbar verbindet: i. e. ein Gesprächsangebot an die Rechtsprechung. Als ein Gesprächsangebot in diesem Sinne mag der folgende Beitrag verstanden werden.
__________ 1
Zum gesellschaftstheoretischen Status von Reflexionstheorien Luhmann Soziale Systeme (1987), S. 610 ff., 617 ff.
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I. Überblick Nachdem der Gesetzgeber sich auch im Rahmen der jüngeren Strafrechts(reform)gesetzgebung2 nicht zu einer Novellierung der Tötungsdelikte in der Lage sah – trotz angemahnten3 und erkannten4 Handlungsbedarfs –, richten sich die Blicke wieder und mit größerer Erwartung auf die Rechtsprechung – und werden, so scheint es, überraschend belohnt. Die jüngere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Mordtatbestand offenbart eine Tendenz, die man – vorsichtig – als Normativierung bezeichnen kann. Damit kann ein Weg eröffnet sein, die theoretisch wie auch praktisch unerträgliche Verklammerung einer unzeitgemäßen Mordkonzeption mit einer absoluten Strafandrohung für die Praxis aufzufangen. Die zu beobachtende Normativierung betrifft zunächst die Mordmotivgruppen: Der durch die Tatbestandsstruktur vorgegebene psychologisierende Zugriff wird durch normative Erwägungen der Tatverantwortung bzw. Tatveranlassung ergänzt; – dies weitgehend unabhängig von Verwerflichkeitsund Gefährlichkeitskonzepten, die regelmäßig als materielle Grundlage der Mordmerkmale gelten, selten jedoch mehr als grobe alltagstheoretisch fundierte (Täter-)Phänotypen zu bezeichnen vermögen5. Verfolgt man allerdings den Ansatz der Rechtsprechung weiter, dann kennzeichnen jene Mordmerkmale unter dieser Perspektive – auch – eine exklusive Verantwortung des Täters für die Tat und den Tatkontext und rechtfertigen so den Vorwurf schwersten Unrechts: ‚Beweggrund’ bzw. Tatziel sind für das Opfer, weil von ihm nicht zurechenbar veranlaßt, grundsätzlich normativ nichtige Tatgründe des Täters. In jüngeren Entscheidungen sind diese Erwägungen nunmehr explizit ausgewiesen und auf weitere Mordmerkmalsgruppen ausgedehnt worden. Mögliche dogmatische Konsequenzen (und weiterführende Interpretationsansätze) dieser Rechtsprechung sollen im folgenden aufgezeigt werden.
__________ 2 3
4 5
Sechstes Gesetz zur Reform des Strafrechts (6. StrRG) vom 26. 1. 1998 (BGBl. I, S. 164 ff.). Zuletzt Kargl JZ 2003, 1141 (1147 f.); ders. StraFo 2001, 365 (374 f.); Heine GA 2000, 305 f.; Grasberger MSchrKrim 82 (1999), 147 (158 f.); Saliger ZStW 109 (1997), 302 (334); grundlegend Eser 53. DJT-Gutachten (1980), D 34 ff., 61 f.; vgl. auch Lackner 53. DJT-Referat (1980), M 25 (28, 41) sowie die Beschlüsse 53. DJTSitzungsbericht (1980) M 163; allg. Lackner/Kühl Vor § 211 Rz. 25; Schönke/ Schröder/Eser § 211 Rz. 10b; NK-Neumann Vor § 211 Rz. 156; MK-Schneider § 211 Rz. 47; Tröndle/Fischer Vor § 211 Rz. 1; Wessels/Beulke BT/1, Rz. 74 ff. (jeweils m. w. N.). BT-Drs. 13/4830, S. 7; 13/8587, S. 55, 78; zum Arbeitsentwurf des BMJ vom 21. 3. 2001 Otto JURA 2003, 612 (621 f.). Zur Kritik ausführl. Verf. Mord und Totschlag (2005), S. 76 ff. (108 f.), 109 ff. (119 ff., 124 f.).
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Normativierung der Mordmerkmale durch den Bundesgerichtshof?
II. Normative Leitlinien der bisherigen Rechtsprechung 1. Fehlende (faktische) Tatveranlassung durch das Opfer Normative Erwägungen haben schon bisher Einfluß auf die Auslegung der Mordmerkmale durch die Rechtsprechung genommen. So ist die Verurteilung wegen Mordes nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sicher zu erwarten, wenn schon vom äußeren Geschehen her ein Anlaß der Tat nicht aufzuweisen ist, die Tat insoweit ‚mutwillig’ erscheint6. Dies betrifft zunächst die Fälle, in denen „der Tod des Opfers als solcher der einzige Zweck der Tat ist“7, also Fallkonstellationen, die nach der (neueren) Rechtsprechung8 im Konsens mit der Literatur9 dem Mordmerkmal der ‚Mordlust’ unterfallen: „Mit diesen Mordmerkmal sollen Fälle erfaßt werden, bei denen weder in der Person des Opfers oder in der besonderen Tatsituation liegender Anlaß noch ein über den Tötungsakt selbst hinausgehender Zweck die Tat bestimmt“10. In dieser – mit Blick auf das Mordmerkmal psychologisch gefärbten11 – Formulierung leuchten schon deutlich die relevanten normativen Erwägungen auf: Eine über den Zufall hinausgehende relevante Verbindung des Opfers mit Tat und Täter läßt sich nicht begründen. Eine ähnliche Begründungsstruktur, d. h. auch lediglich über eine Zufallskomponente vermittelte Verbindung von Tat und Opfer, liegt den Fällen zugrunde, in denen der Täter seine Opfer wahllos angreift. Die aus der Opferperspektive evidente Zufälligkeit der Tatbetroffenheit kennzeichnet dabei – beschränkt zunächst auf das Verhältnis von Täter und Opfer, d. h. ohne Blick auf eventuelle Sonderlagen – die Beziehungslosigkeit von Tat und Opfer. Der, wie auch immer (individual-)psychologisch vermittelbare, Tatanlaß kann dem Opfer gegenüber normativ nicht geltend gemacht werden. Diese zufällige Tatbetroffenheit wird zumeist im Zusammenhang mit dem Mordmerkmal der ‚Heimtücke’ erfaßt – die fehlende Tatveranlassung begründet die Arglosigkeit des Opfers –, liegt aber auch als Begründungsstruktur Entscheidungen zum Mordmerkmal der ‚niedrigen Beweggründen’ zugrunde.
__________ 6 Vgl. auch die Begründung zu AE § 100 II, Nr. 4 (BT I, S. 19): Unter einer mutwilligen (und absichtlichen) Tötung sei der Fall zu verstehen, „daß der Täter ohne ein ihn drängendes Motiv tötet, (…)“. 7 BGHSt 34, 59 (61). 8 BGHSt 34, 59 (60 f., in Abgrenzung zum Leitsatz bei BGH NJW 1953, 1440); BGHR StGB § 211 Abs. 2, Mordlust 1 (BGH NStZ 1994, 239). 9 Geerds JR 1986, 519; Otto Jura 1994, 140 (144); Lackner/Kühl § 211 Rz. 4; Schönke/ Schröder/Eser § 211 Rz. 15; SK-Horn § 211 Rz. 9 (jeweils m. w. N.); MK-Schneider § 211 Rz. 49. 10 BGHR StGB § 211 Abs. 2, Mordlust 1 (BGH NStZ 1994, 239). 11 Kritisch zur Attribution von ‚Mordlust‘ als „Reanimierung des Mörders als Tätertyp“, Fabricius StV 1995, 637.
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Heimtücke wegen der „hier offen zutage liegenden Arg- und Wehrlosigkeit der Opfer“ wurde z. Bsp. angenommen bei Steinwürfen auf fahrende Fahrzeuge von einer Brücke über einer Bundesautobahn12. Sowohl Heimtücke als auch niedrige Beweggründe kamen in Betracht, als der Angeklagte, „um sich abzureagieren und einem anderen Gasthausbesucher ‚eine zu verpassen’, diesen (…) mittels eines scharfen und spitzen Küchenmessers wuchtig in den Rücken stach“13. Niedrige Beweggründe lagen vor, wenn ein unbekannter Mensch getötet wurde, „um statt seiner als tot zu gelten, sich damit aus seinen familiären wie beruflichen Bindungen zu lösen und – frei von der damit einhergehenden Verantwortung – ein neues Leben beginnen zu können“: „Die Tötung des Opfers mit dem ihn keine andere als die erst durch den Tötungsplan selbst hergestellte Beziehung verband, war von ihm willkürlich zur Vorbedingung der Verwirklichung seines Lebensplanes gemacht und als dazu zwecktaugliches Mittel eingesetzt worden“14. Gleichfalls niedrige Beweggründe wurden konstatiert bei einem „von begleitenden Jugendlichen (…) als unbesiegbaren Schläger“ bewunderten Täter, der sein Opfer mit einem Messer attackierte „aus Wut und Enttäuschung darüber (…), daß er aus der von ihm provozierten Auseinandersetzung, in welcher der Angegriffene sich völlig rechtmäßig verhalten hatte, wider Erwarten nicht ‚als Sieger’ hervorgegangen war“15. 2. Rechtlich irrelevanter Tatanlaß Im Ansatz parallel, wenn auch den Umständen nach komplexer ist die Begründung des Mordvorwurfes gegenüber dem Täter, falls dieser zwar faktisch auf einen Tatanlaß verweisen kann, jener Umstand jedoch unter normativer Perspektive, mit Blick auf das Opfer, als ein rechtlich irrelevanter Tatanlaß angesehen wird. a) ‚Rassen-’ und ‚Fremdenhaß’ Evident, weil die Grundlagen der Person im Recht betreffend, ist – unter normativer Perspektive – die Mordverurteilung, wenn der Täter eine Eigenschaft des Opfers zum Tatanlaß nimmt, die nach den Konstitutionskriterien der Person im Recht keine Bedeutung hat (oder haben darf); so etwa in den
__________ 12 BGHR StGB § 211 Abs. 2, Heimtücke 25 (BGH NStZ-RR 1997, 294 f.). 13 BGHR StGB § 24 Abs. 1 S. 1, Versuch, unbeendeter 19 (BGH NStZ 1989, 317; welches Mordmerkmal schließlich die Verurteilung trug, wird nicht mitgeteilt); im Ansatz für niedrigen Beweggrund bei BGH NStE Nr. 35 zu § 211 StGB; – nur Heimtücke, nicht jedoch niedrige Beweggründe wurde problematisiert bei einem Angriff auf „den erstbesten Unbeteiligten (…), um sich abzureagieren“ (BGH StV 1981, 277). 14 BGH NStZ 1985, 454. 15 BGH MDR/Dall. 1975, 542.
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Fällen des ‚Fremden-’16 oder ‚Rassenhasses’17: Die Gruppeneigenschaft des Tatopfers bildet ein rechtlich irrelevantes Differenzierungskriterium und damit auch keinen Ansatz für die Berücksichtigung des Tatanlasses18. Die normative Allgemeinheit rechtlicher Personalität nimmt insoweit die Form eines rechtlichen Diskriminierungsverbots an. Der vom Täter ‚verfolgte’ Tatanlaß ist – daher – dem Opfer gegenüber ein normativ nichtiger, d. h. ein ‚niedriger Beweggrund’. Dabei kommt es auch nicht darauf an – wie man etwa mit Blick auf die psychologische Struktur des Mordmerkmals ‚niedrige Beweggründe’ meinen könnte –, daß die Diskriminierung subjektives Ziel der Tat ist; ausreichend ist, daß die Tat in einen Kontext19 geschieht bzw. eingefügt wird, wo die rechtlich irrelevante Eigenschaft des Opfers als (alleiniger) Tatanlaß genommen wird20.
__________ 16 BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 27 (BGH NJW 1994, 395 f.); NStZ, 1999, 129 (130), im Ansatz auch bei BGHSt 47, 128 (130 f.) – jeweils zu ‚niedrigen Beweggründen’. 17 BGHSt 2, 251 (254); 18, 37 (39); 22, 375 (376) – jeweils zu ‚niedrigen Beweggründen’; ebenso LK-Jähnke § 211 Rz. 26 f. („Mißachtung des personalen Eigenwerts des Opfers“); zur Funktion des Mordmerkmals bei der ‚strafrechtlichen Aufarbeitung’ nationalsozialistischer Gewaltverbrechen Hanack, Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher (1967), S. 10 ff. (m. w. N.). 18 BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 42. 19 Unberücksichtigt bleibt zunächst die Berufung auf Notlagen; dazu im Zusammenhang mit Massenerschießungen und anderen Vernichtungsmaßnahmen gegen jüdische Bevölkerung BGHSt 18, 311 f.; BGH NJW 1964, 730 f.; NJW 1972, 832 (834, mit Anm. Naucke); im Zusammenhang sog. ‚Sonderbehandlung’ von ‚Ostarbeitern’ durch die Gestapo BGHSt 3, 271 (274 ff.). 20 Im Ergebnis ebenso bei fremdenfeindlichen Progromtaten BGH NStZ 1999, 129 (130): Tötung aus niedrigem Beweggrund, um „einer von ihm als ausländerfeindlich erkannten Gruppe imponieren (zu) wollen“ bzw. „als gleichberechtigt anerkannt zu werden“ (BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 27 [NJW 1994, 395 f.]); im Zusammenhang nationalsozialistischer Gewalttaten BGHSt 18, 37 (39 [willkürliche Erschießung eines jüdischen Dolmetschers, ohne den Rassenhaß des Regimes zu teilen]); BGH NJW 1971, 571 (572 [Mitwirkung am willkürlichen Todesurteil gegen jüdischen Kaufmann wegen ‚Rassenschande’ in dem Bewußtsein, „daß K. als Jude (…) sowieso ein toter Mann gewesen sei“]), dazu Spendel NJW 1971, 537 (542); zur Problematik des Rückwirkungsverbots (Art. 103 II GG) – ‚Person im Recht’ war nach nationalsozialistischer Rechtspraxis lediglich der ‚Volksgenosse’, d. h. ein rassistisch geprägtes (Exklusions-)Schema war damit Grundlage einer innerstaatlichen, insbesondere auch ‚rechtlichen’ Feinderklärung – Hanack, Bestrafung (Fn. 16), S. 11 ff.; Jakobs, Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht, in: Isensee (Hrsg.) Vergangenheitsbewältigung durch Recht (1992), S. 37 (40 ff., 43 ff.).
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b) Einbruch in den Rechtskreis des Opfers Ebenso evident ist der Mordvorwurf, wenn die Tötung in Zusammenhang mit einem (weitergehenden) Einbruch in den Rechtskreis des Opfers steht, insbesondere – aber nicht notwendig – Mittel des Rechtsbruchs ist. Dies betrifft die normative Begründungsstruktur der Mordmerkmale ‚Habgier’ und ‚zur Befriedigung des Geschlechtstriebs’: Die Verletzung der dem Opfer garantierten Rechte, etwa Eigentum, Besitz bzw. Vermögen (bei der ‚Habgier’21) oder die sexuelle Integrität (bei der ‚Befriedigung des Geschlechtstriebs’), sind – offensichtlich – dem Opfer gegenüber rechtlich irrelevante Gründe der Tat. Der Mordvorwurf ist daher gegenüber dem Täter begründet, wenn der Widerstand des Opfers gegen eine Vergewaltigung mit – vom Täter erkannten – schließlich tödlichen Mitteln gebrochen wird (Drosselung22, Messerstiche23), aber auch dann, wenn der Täter die sexuelle Befriedigung an der Leiche sucht24. Mit Blick auf rechtlich garantierte Besitz- und Eigentums- bzw. Vermögensrechte25 ist der Tatanlaß dem Opfer gegenüber ein nichtiger, wenn es, das Opfer, auf letztlich tödliche Weise zum Schweigen gebracht wird, um die Suche nach wertvollen Gegenständen im Rahmen eines Überfalls26 oder Einbruchs27 fortzusetzen, bzw. um die Beute sichern zu können28 (insoweit
__________ 21 Nach der Rechtsprechung wird das Mordmerkmal der Habgier weiter gefaßt („Tat als Folge eines noch über bloße ‚Gewinnsucht’ hinaus gesteigerten abstoßenden Gewinnstrebens um jeden Preis“, BGH NJW 1995, 2365 [2366]; BGHR StGB § 211 Abs. 2, Habgier 6 [NStZ 2001, 194 (195)]), da die erstrebten Vermögensgegenstände nicht dem Opfer der Tötung zugehörig sein müssen, vgl. BGH NJW 1991, 1189 (im Zusammenhang mit Verdeckungsabsicht): Schuß auf eine Zivilstreife, um sich nach einem Banküberfall einer Routinekontrolle zu entziehen; ebenso im Zusammenhang mit dem Raub eines Fluchtfahrzeuges BGHR StGB § 211 Abs. 2, Habgier 5. Das Ergebnis – Mord – ist zutreffend; der Tatanlaß ist ein deliktischer (dazu gleich im Text). 22 BGHSt 19, 101 (105); BGHR StGB 211 Abs. 2, Befriedigung des Geschlechtstriebs 1, 2. 23 BGHR StGB § 211 Abs. 2, Befriedigung des Geschlechtstriebs 3; BGH NStE Nr. 16 zu § 211 StGB. 24 BGHSt 7, 353 (354); restriktiver allerdings wohl BGH NStZ 2001, 598 f. („Töten [selbst] als ein Mittel zur geschlechtlichen Befriedigung“). 25 Wird das über den Rechtskreis ‚definierte’ Mordmerkmal der ‚Habgier’ allein auf absolut garantierte Rechte bezogen, dann wäre die Tötung, „um sich einer Unterhaltpflicht zu entziehen“ (BGHSt 10, 399), nicht erfaßt. Jedoch ist die Verhinderung einer berechtigten bzw. begründeten Rechtsausübung dem Opfer gegenüber jedenfalls ein normativ nichtiger Anlaß und damit die entsprechende Motivation als ‚niedriger Beweggrund’ erfaßt (vgl. dazu später im Text). 26 BGHSt 39, 159 (160). 27 BGH NJW 1995, 2365 (2366 f.). 28 BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 7.
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also ein ‚klassischer Raubmord’29) – unabhängig vom Wert des Beuteguts30. Gleiches gilt, wenn das Opfer getötet wird, um es zu beerben31. c) Deliktischer Tatanlaß Unter normativer Perspektive ist der Mordvorwurf auch begründet bei einem deliktischen Tatanlaß, wenn also der Tatkontext vom Täter selbst deliktisch gestaltet wurde bzw. die Tat vom Täter in einen solchen Kontext eingefügt wird: Dem Opfer gegenüber ist der Tatanlaß ein rechtlich irrelevanter Grund. Als tragende (normative) Grundlage des Mordvorwurfes ist die Verbindung der Tötung mit einem rechtlich nichtigen, weil deliktischen Anlaß für die ‚Ermöglichungsabsicht’ nahezu unumstritten32. Unter Verwerflichkeit- bzw. Gefährlichkeitsaspekten wird es ganz überwiegend als qualifizierende Unrechtskumulation formuliert: „In der Bereitschaft, zur Durchsetzung krimineller Ziele ‚notfalls über Leichen zu gehen’, zeigt sich eine Geringschätzung fremden Lebens, die besonders verwerflich ist; darin kommt auch eine besonders hohe Gefährlichkeit des Täters zum Ausdruck“33.
__________ 29 OGHSt 1, 365 (366); dazu auch BGHR StGB § 211 Abs. 2, Habgier 6 (Verdeckung 14, BGH NStZ 2001, 194 f.). 30 BGHSt 29, 317 (318). Die Entscheidung im konkreten Fall – Habgier bei einem Süchtigen, der den Dealer niederstach, um in den Besitz von ca. 3 Gramm Heroin zu gelangen, deren Kaufpreis von 200 DM er nicht aufbringen konnte – ist mehrfach auf Kritik gestoßen. Paeffgen (GA 1982, S. 255 [261 ff.]) versteht Habgier streng psychologisch als das Motiv des „Haben-Wollen(s)/Müssen(s)“, das in dieser Form, mit Blick auf alsbaldigen Verbrauch, nicht vorgelegen habe (S. 265). Diese Interpretation rekonstruiert konsequent die psychologische Struktur des Mordmerkmals als einen restriktiv auszulegenden Qualifikationsgrund. Unter normativer Perspektive, mit Blick auf das Rechtsverhältnis zwischen Täter und Opfer, stellt sich aber gerade die Frage, ob und inwieweit psychische Dispositionen (bzw. -intensitäten) Ansatz für Qualifizierungen oder Privilegierungen sein müssen – es sei denn, Semantiken setzen hier Grenzen. Alwart (JR 1981, 293 [295]) sieht, wegen möglicher Entzugserscheinungen, nur eine „Gier im Sinne einer krankhaften Abhängigkeit“ walten, die der Habgier als „wertwidriger Gesinnung“ (in Anlehnung an Schmidhäuser Gesinnungsmerkmale im Strafrecht [1958], S. 294 f.) nicht entspreche. Mit dem BGH ist jedoch diese Problematik als eine Frage der Schuld im Zusammenhang des § 21 StGB zu verhandeln, d. h. als Problematik der normativen Kompetenz des Subjekts. 31 BGHSt 42, 301 (304). 32 So die Einschätzung bei LK-Jähnke § 211 Rz. 9; Wessels/Hettinger BT/1, Rz. 123; Otto ZStW 83 (1971), S. 39 (67); vgl. aber auch die kritischen Stellungnahmen von Koffka, Schwalm und Lackner (am Beispiel der Tötung eines Wächters zur Ermöglichung des ‚Tyrannenmordes’) Niederschriften Große Strafrechtskommission., Bd. 7 (1959), S. 49 f. 33 BGHSt 39, 159 (161); ebenso Stratenwerth JZ 1958, 545; Wessels/Hettinger BT/1, Rz. 123; Schönke/Schröder/Eser § 211 Rz. 31; LK-Jähnke § 211 Rz. 9; de lege ferenda Otto ZStW 83 (1971), S. 39 (67); Eser, 53. DJT-Gutachten, D 176 f.; ebenso E 1962 (§ 135 I, Nr. 4) Begründung, S. 273; AE (§ 100 II, Nr. 5) BT I, S. 19.
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Auch für die ‚Verdeckungsabsicht’ bietet diese normative Erwägung zur Begründung des Mordvorwurfs die materielle Grundlage. Die Vortat, der deliktische Tatanlaß, ist dem Opfer gegenüber ein rechtlich irrelevanter und damit normativ nicht zu berücksichtigender Tatanlaß: Die Tötung von (Vortat-)Opfern oder Tatzeugen, durch deren belastende Angaben der Täter die Aufdeckung seiner Tatbeteiligung fürchtet34, der Schuß auf einen Verfolger durch den auf frischer Tat ertappten Täter, um selbst unerkannt entkommen zu können35, und schließlich Gewaltaktionen gegen Angehörige der Strafverfolgungsorgane, die den Täter (der Vortat) überführen bzw. verhaften wollen – all diese für die Verdeckungsabsicht typischen Konstellationen sind dadurch ausgezeichnet, daß der Täter das Opfer wegen eines von ihm, dem Täter, zu verantwortenden deliktischen Tatkontextes – die Vortat – tötet. Der Mordvorwurf ist deshalb auch unter den aufgezeigten normativen Gesichtspunkten gerechtfertigt36, weil das Opfer den Kontext zur Tat, seine Tatbetroffenheit, nicht zu verantworten hat; eine für den Täter intuitiv nachvollziehbare Selbstbegünstigungstendenz kann – unabhängig davon, daß eine generelle strafrechtliche Privilegierung von Selbstbegünstigungshandlungen nicht aufzuweisen ist37 – jedenfalls dem (zufällig betroffenen) Opfer gegenüber nicht plausibel und geltend gemacht werden38.
__________ 34 BGHSt 15, 291 (295); 21 283 (284); 27, 281; 27 346 (347). 35 BGHSt 11, 268 (270); 15, 291 (295). 36 Bekanntlich hatte der 2. Strafsenat des BGH unter dem Eindruck des Urteils BVerfGE 45, 187 (265 f.) zunächst, orientiert an der „psychischen Lage des Täters“ (BGHSt 27, 346 [348]), eine Typologie von nicht besonders verwerflich zu wertenden Verdeckungstötungen auszuweisen versucht (Grenzfälle engen zeitlichen und räumlichen Zusammentreffens von Vortat und Verdeckungstötung) – ohne daß ihm die anderen Strafsenate gefolgt wären (Übersicht bei BGHSt 35, 116 [118 ff.]; ausführl. Weiß Die Problematik der Verdeckungsabsicht im Mordtatbestand [1997], S. 256 ff., 267 ff.). Diese Ansätze sind unter Hinweis auf die axiologische Gleichwertigkeit von ‚Verdeckungsabsicht’ und ‚niedrigen Beweggründen’ aufgegeben worden (BGHSt 35, 116 [121 ff.]; BGHR StGB § 211 Abs. 1, niedrige Beweggründe 21 [BGH NJW 1992, 919 f.]). So lange aber für die ‚niedrigen Beweggründe’ ein normatives Profil nicht aufweisbar ist, ist der dogmatische Gehalt dieser Gleichsetzung durchaus fraglich; es bleibt lediglich die Aufforderung zur wertenden „Gesamtwürdigung“ (BGHSt 35, 116 [127]). Auswirkungen hat die Judikatur des 2. Strafsenats allerdings noch heute, wenn nämlich die Möglichkeit eines „Verdeckungsmordes durch Unterlassen“ konstruktiv nahezu ausgeschlossen scheint: die bloße Untätigkeit bei (hinzugetretenem) Verdeckungsmotiv beziehe sich nicht auf eine „andere“ Straftat, vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2, Verdeckung 15 (BGH NStZ 2003, 312 f.). 37 Ausführlich dazu Verf. Mord und Totschlag (2005), S. 272 ff. 38 Vgl. auch BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 3, 8 (BGH MDR/Holtz 1988, 276 [277]).
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III. Normative Profilierung der Mordmerkmale durch Kriterien der Tatveranlassung (jüngere Rechtsprechung) 1. BGHSt 47, 128 (‚niedrige Beweggründe’) Diese für verschiedene Mordmerkmale (hauptsächlich der ersten und dritten Tatbestandsgruppe) herangezogenen normativen Erwägungen der Rechtsprechung mögen zunächst durch die konkrete Vorlage motiviert worden sein, ohne daß insgesamt ein systematischer Ansatz formuliert wurde. Durch eine jüngere Entscheidung des 2. Strafsenats aus dem Jahr 2001 zur Motivgeneralklausel des Mordtatbestands haben diese Erwägungen allerdings eine profilierte, wenn nicht gar eigenständige Bedeutung gewonnen39. Der 2. Strafsenat stellte für den tödlichen Gewaltausbruch von (Rußland-) Deutschen gegen einen Polen auf Grundlage dieser normativen Erwägungen einen Zusammenhang zwischen ‚niedrigen Beweggründen’ und ‚Mordlust’ her, der durch einen allein psychologisierenden Zugriff nicht (mehr) zu begründen war: Das Opfer war ursprünglich von den Tätern für einen Deutschen gehalten worden, hatte sich aber für den einen der Täter dann „durch sein polnisches Fluchen als jemand zu erkennen gegeben, der innerhalb der eigenen rußlanddeutschen, arbeitslosen und Alkohol trinkenden gesellschaftlichen Randgruppe zumindest intuitiv als sozial noch tiefer stehend angesehen wurde“40; ein weiterer Täter schloß sich den (exzessiven und schließlich tödlichen) Mißhandlungen als „Mitläufer“ an, der letzte schließlich, „ohne den Anlaß für die Tat zu kennen“41. Unter Bezugnahme auf die aufgezeigten normativen Erwägungen hob der 2. Strafsenat die Verurteilung (lediglich) wegen Totschlags auf, weil der (jeweilige) Tatanlaß für alle beteiligten Täter jeweils ein rechtlich irrelevanter, insoweit normativ nichtiger sein konnte: „Das bewußte Abreagieren von frustrationsbedingten Aggressionen (…) an einem unbeteiligten Opfer“, sei es allein deshalb, weil das Opfer „in der Wertvorstellung des Täters als geringer eingeordnet wird“, oder sei es – so beim Mitläufer – auch nur in dem Bewußtsein, „keinen Grund für die Tötung zu haben oder zu brauchen“, rechtfertige den Mordvorwurf: „weder durch das Verhalten des Opfers noch durch sonstige außerhalb seiner (des Täters) Person liegenden Umstände“ sei die Tat veranlaßt worden42. Dieser Entscheidung kommt für die Dogmatik des Mordtatbestands deshalb maßgebliches Gewicht zu, weil aufgrund dieses normativen Ansatzes eine Verurteilung wegen ‚niedriger Beweggründe’ auch dann auszusprechen ist, wenn „ein Motiv für die Tat fehlt“, bzw. „der Täter in dem Bewußtsein handelt, keinen Grund für eine Tötung zu haben oder zu brauchen“43. Damit hat
__________ 39 40 41 42 43
BGHSt 47, 128 ff. BGH (Fn. 39), S. 129. BGH (Fn. 39), S. 129. BGH (Fn. 39), S. 132. BGH (Fn. 39), S. 131 f.
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die normative Zuordnung des Tatanlasses sich als eigenständige Struktur der Mordtatbestandsdogmatik gegenüber allein psychologisierenden Wertungen unter Verwerflichkeitsaspekten etabliert44. Auf der Grundlage dieses Urteils – mit Blick auf die nunmehr profilierte Struktur der vom Bundesgerichtshof ausgewiesenen normativen Erwägungen – stellt sich dann allerdings die Frage, ob der Gegenschluß gerechtfertigt ist: Ist die Verurteilung wegen Mordes ausgeschlossen, wenn das Opfer die Tat mitveranlaßt hat, auch ihm also eine Verantwortung für den Tatkontext zugeschrieben werden muß? 2. BGHSt 48, 207 (‚Heimtücke’) Genau diesen Schluß hat der 1. Strafsenat in einem jüngsten Urteil für das Mordmerkmal der ‚Heimtücke’ in der Tat gezogen45; die Feststellungen zur – fehlenden – ‚Arglosigkeit’ wurden ausdrücklich durch normative Erwägungen gestützt: Das spätere Opfer (M.) versuchte den Angeklagten seit einiger Zeit wegen illegaler Geschäfte – der Vermarktung von CD-Raubkopien – zu erpressen und hatte mit Anzeigen und Prügeln gedroht. Am Tattag suchte M. zusammen mit einem Begleiter (Ma.) den Angeklagten in seiner Wohnung auf. Es wurde Wodka getrunken. M erneuerte seine ‚Forderungen’ und verlieh schließlich seinen Drohungen auch dadurch Nachdruck, daß er gegen die Wohnungseinrichtung trat. Der Angeklagte gab daraufhin eine Plastiktüte mit Ersparnissen in Höhe von ca. 5000 DM an den Begleiter Ma. heraus. M, schon deutlich betrunken, „stand zu diesem Zeitpunkt mit den Händen in den Hosentaschen im Wohnzimmer. Völlig überraschend für ihn, der ‚keinerlei Angriff erwartete’, trat der Angekl. hinter ihn, um ihn zu töten. Er war wütend darüber, daß M ihm das angesparte Geld wegnehmen wollte; er mochte sich von M nicht seine Existenz zerstören lassen. Blitzschnell riß er den Kopf des M zurück, schlug mehrfach auf denselben und schnitt mit einem aus der Hosentasche gezogenen (…) Küchenmesser mit einer Klinge von 5,8 cm sofort und mehrfach von links nach rechts durch den Hals. (…). M brach zusammen und verstarb umgehend“46. Die Verurteilung wegen Heimtückemordes wurde u. a. aufgehoben, weil die nicht ausschließbare Notwehrlage nach Auffassung des Senats auch Relevanz auf die Feststellung der ‚Arglosigkeit’ des M hatte, unabhängig davon, ob die Grenzen der Notwehr überschritten worden waren: „Mit seinem konkreten Angriff hat das spätere Opfer des Gegenangriffs in aller Regel seine Arglosigkeit bereits zuvor verloren. Er ist der wirkliche Angreifer. Dem An-
__________ 44 Vgl. nunmehr auch BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 44; kritisch zu dieser Rechtsprechung allerdings NK-Neumann § 211 Rz. 42; ders. JR 2002, 471 ff.; Saliger StV 2003, 38 ff. 45 BGHSt 48, 207 (211). 46 BGH (Fn. 45), S. 208.
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gegriffenen gesteht die Rechtsordnung das Notwehrrecht zu. Mit dessen Ausübung muß jeder Angreifer in solcher Lage grundsätzlich rechnen. (…). Der Erpresser ist deshalb unter den hier gegebenen Umständen regelmäßig nicht gänzlich arglos (…)“47. Die Begründung des 1. Strafsenats stellt die Bedeutung und Eigenständigkeit der normativen Erwägungen in aller Deutlichkeit heraus – dies für ein Mordmerkmal, das nach bisheriger Rechtsprechung einer Normativierung kaum zugänglich schien: „Das Mordmerkmal der Heimtücke ist einer solchen, auch normativ orientierten einschränkenden Auslegung zugänglich. Diese gründet mit darin, daß der Gegenwehr hier ersichtlich nicht das Tückische in einem Maße innewohnt, welches den gesteigerten Unwert dieses Mordmerkmals kennzeichnet (…). Es gilt zudem einen Wertungsgleichklang mit dem Notwehrrecht zu gewährleisten. Gerade für ein zunächst unterlegenes Opfer kann es sich als unausweichlich erweisen, gegenüber dem überlegenen Rechtsbrecher, der gar noch von einem Tatteilnehmer unterstützt wird, bei der Verteidigung einen Überraschungseffekt auszunutzen, soll die Notwehr überhaupt Aussicht auf Erfolg haben. Unter solchen Umständen erscheint es bei wertender Betrachtung nicht systemgerecht, dem sich wehrenden Opfer, wenn es in der gegebenen Lage – in der Regel plötzlich – in den Randbereich der erforderlichen und gebotenen Verteidigung gerät oder gar exzessiv handelt, das Risiko aufzulasten, bei Überschreitung der rechtlichen Grenzen der Rechtfertigung oder auch der Entschuldigung sogleich das Mordmerkmal der Heimtücke zu verwirklichen“48. Auch hier ist zunächst festzuhalten, daß unter allein psychologierender Perspektive die Ablehnung der Arglosigkeit des – zudem erheblich betrunkenen – M kaum bzw. nicht zu begründen war. Mit seiner Begründung unterstellt daher der BGH das Mordmerkmal der Heimtücke in einem zentralen Punkt (und Begriffsmerkmal) einem normativen Ansatz – zur Entlastung des Täters. Ob mit diesem Ansatz lediglich Randkorrekturen für ‚außergewöhnliche Umstände’ angestrebt werden, oder aber sich tatsächlich Konturen einer Normativierung abzeichnen, bleibt abzuwarten.
IV. Konsequenzen? Sieht man allerdings beide jüngeren Entscheidungen in dem durch die normativen Erwägungen begründeten engen Zusammenhang, so eröffnen sich für die – jedenfalls in der Praxis relevanten – Mordmerkmale, i. e. ‚niedrige Beweggründe’ und ‚Heimtücke’, Ansätze einer (begriffsinternen) Differenzierung, die gerade die Verantwortung für den Tatkontext zur Grundlage einer
__________ 47 BGH (Fn. 45), S. 210 f. 48 BGH (Fn. 45), S. 211.
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Zuschreibung von Mordmerkmalen macht. In dieser Perspektive verweisen Mordmerkmale so – auch – auf Zurechnungsmuster. 1. Objektive Zurechnungsmuster als Grundlage einer Normativierung von Mordmerkmalen – exklusive Verantwortung des Täters Aus der Perspektive der Strafrechtsdogmatik können nämlich die von der Rechtsprechung – zunächst fallweise – angeführten normativen Erwägungen zur Tatveranlassung bekannten Mustern der objektiven Zurechnung zugeordnet werden. Mit objektiver Zurechnung sind, grob gekennzeichnet, diejenigen Regeln im Strafrecht gemeint, nach denen zu entscheiden ist, welche (sozialschädlichen) Folgen sozialer Interaktion in die Verantwortung des Handelnden gestellt werden und für welche er auf andere (oder auf Unglück bzw. allgemeines Lebensrisiko) verweisen kann49. Die Kriterien der objektiven Zurechnung sind insoweit normative Muster einer (straf)rechtlichen Interpretation sozialen Geschehens; d.i. die Rekonstruktion sozialer Interaktion unter dem Blickwinkel rechtlicher Folgenverantwortung50: es geht um die Kennzeichnung von Verantwortungssphären für die Gestaltung der sozialen Welt. So wird etwa im Bild des Organisationskreises jeder Person, dem Täter wie auch dem Opfer, nach gleichen Maßstäben jeweils ein Rechtskreis zugeordnet, und damit zugleich auch jeweils eine Verantwortungssphäre für die Risiken und Folgen sozialer Interaktion bestimmt. Dies bedeutet aber auch, daß die allgemeinen Zurechnungskriterien nicht nur die Verantwortungsbzw. Zuständigkeitsbegründung zum Täter sondern auch für dessen Entlastung leiten51, sei es daß die vorrangige Zuständigkeit des Tatbetroffenen – als Folge eben dessen Organisationsgestaltung – begründet wird (Notwehr, defensiver Notstand), oder dem Täter die Wahrnehmung von (beispielsweise hoheitlich begründeten) Sonderrechten – als Folge besonderer institutioneller Einbindung – übertragen wurde. Kurz: Objektive Zurechnung kennzeichnet,
__________ 49 Zur historisch ursprünglichen Deutung als „objektive Zweckhaftigkeit“ Honig FS-v.Frank, Bd. I (1930), S. 174 (179, 184) im Anschluss an die Terminologie Larenz’ (Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurechnung [1927], S. 60 ff. [61 f., 66 f.]) im Ansatz ebenso Welzel ZStW 51 (1931), S. 703 (718); für diesen Ansatz noch heute Maiwald, FS-Miyazawa (1995), S. 465 (477 ff.), ähnlich Otto, Grundkurs AT, 6/5 ff., 45 ff. (Differenzierung zwischen der Steuerbarkeit als Kriterium der objektiven Zurechnung und dem Unrechtsurteil). Zur objektiven Zurechnung im Sinne einer normativen Zuständigkeitsbegründung Jakobs AT 7/4 ff., 35 ff., 39 ff.; Verf. FS-Rudolphi (2004), S. 165 f. (172 ff.); im Ansatz ebenso Schürer-Mohr Erlaubte Risiken (1998), S. 93 ff., 100 ff., 105 ff.; ähnlich auch Maurach/Zipf AT 1 § 18/46; als umfassende Systematik der Haftungsbegründung auch bei Reyes Alvarado ZStW 105 (1993), S. 108 (128 ff.). 50 Dazu Verf. FS-Rudolphi (2004), S. 165 (170 ff.). 51 Dazu Verf. ZStW 115 (2003), 224 (231 ff.).
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was als Rechtsverletzung in wessen Verantwortung fällt – und mit welchem Gewicht. Wenn nun für die Interpretation des Mordtatbestands auf Kriterien der objektiven Zurechnung zurückgegriffen würde – und die jüngere höchstrichterliche Rechtsprechung zeigt, daß dieses durchaus informativ sein kann –, so ginge es zunächst auch um die Abgrenzung von Verantwortungssphären bzw. Organisationskreisen; es wäre zu ermitteln, in wessen Verantwortung Tat und Tatkontext fallen. Die These ist nun, daß auf dieser Grundlage Mordmerkmale – jedenfalls auch – für eine alleinige, exklusive Verantwortung des Täters stehen; die Verurteilung wegen Mordes ist (nur dann) begründet, wenn die Tat und der Tatkontext allein dem Täter zuzurechnen ist. Die durch Mordmerkmale gekennzeichneten Tatanlässe und Tatumstände müssen in die alleinige, exklusive Verantwortung des Täters fallen, dürfen nur seiner Verantwortungssphäre zuzuordnen sein – und sind deshalb für das Opfer rechtlich irrelevante Gründe der Tat. 2. Motivgeneralklausel: ‚niedrige Beweggründe’ als normativ nichtige Gründe Der Vorteil eines solchen Rückgriffs auf die Kriterien der objektiven Zurechnung zeigt sich für die Motivgeneralklausel des Mordtatbestands unmittelbar: Die in ihrem moralisierenden Pathos mehr als tönern klingende Verwerflichkeitsformel zur Bestimmung der ‚niedrigen Beweggründe’ – ein Tatgrund, „der nach allgemeiner sittlichen Wertung auf tiefster Stufe steht, (…) und deshalb besonders verwerflich, ja verachtenswert ist“52 – könnte auf eine objektive, und mittlerweile ausdifferenzierte Grundlage bezogen werden: ‚Niedrige Beweggründe’ sind dem Opfer gegenüber rechtlich irrelevante Gründe, weil allein vom Täter zu verantworten; Tatanlaß, Tatumstände und Tatmotive bzw. Tatziele sind normativ allein der Verantwortungssphäre des Täters zuzuordnen. Kurz: ‚Niedrige Beweggründe’ sind – auf der Ebene subjektiver Zurechnung – normativ nichtige Gründe. Dieser Interpretationsansatz ist der Rechtsprechung keineswegs fern; einige Beispiele mögen dies belegen: So erwog der Bundesgerichtshof53 – neben Heimtücke – auch die Annahme ‚niedriger Beweggründe’ für den Fall einer Tötung aus Rache wegen eines erlittenen Schlags in die Magengegend, nachdem zuvor der Täter dem ihm unbekannten schlafenden Opfer Papiere und Brieftasche abgenommen hatte. Der Senat urteilte in der Sache zutreffend, „daß der Angeklagte nicht den mindesten Anlaß haben konnte, sich für die erlittene Tätlichkeit eines angetrunkenen älteren Mannes zu rächen, welche
__________ 52 Ständige Rechtsprechung BGHSt 3, 132 (133), 35, 116 (126 f.); 47, 128 (130); BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 44. Ebenso MK-Schneider § 211 Rz. 69; LK-Jähnke § 211 Rz. 24; Lackner/Kühl § 211 Rz. 5; Tröndle/Fischer § 211 Rz. 9. 53 BGHSt 28, 210.
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er durch seine unverschämte Provokation selbst ausgelöst hatte“54. Ebenso zutreffend stellte der Bundesgerichtshof in anderer Sache auf die vom Täter „verschuldete Schreck- und Unmutsäußerung“ einer ihm unbekannten Passantin ab, die er auf einer dunklen Landstraße mit seiner öffentlichen sexuellen Selbstbefriedigung konfrontierte55. Gleichfalls auf die Nichtigkeit des Tatanlasses stützte der Bundesgerichtshof die Verurteilung eines Mannes, der einen Stadtstreicher erschossen hatte, „aus Wut darüber, daß der Stadtstreicher trotz des früheren Vorfalls“ – der Täter hatte sein Opfer schon Tage vorher gewaltsam aus den Grünanlagen verjagt – „wieder an die alte Stelle zurückgekehrt war und aus Verärgerung über die Personen – zu denen er sein Opfer rechnete –, die für die Verunreinigung der Grünanlagen im Bereich des Tatortes verantwortlich waren“56. Als entscheidend hielt der Senat fest, daß der Täter „seine Ansichten und Überzeugungen zum alleingültigen Maßstab für Recht und Ordnung macht und sich deshalb zum Herrn über Leben und Tod eines aufgrund seiner Lebensweise ihm mißliebigen Mitmenschen aufschwingt“57. Der Hinweis auf die irrelevanten Vorstellungen des Täters von Recht und Ordnung trifft den Kern der Sache, da die Verunreinigungen zwar als Belästigungen, d. h. als Verstoß gegen allgemeine Ordnungsregeln zu sehen sein mögen, die aber einen spezifischen vom Opfer gestalteten Bezug zum Rechtskreis des Täters nicht beinhalteten, also möglicherweise ein Einschreiten der Polizei, nicht aber des Täters rechtfertigten. Auch die Verurteilung ‚auf mehrdeutiger Grundlage’ ist gerechtfertigt, wenn jeder für den Täter in Betracht kommende Tatanlaß sich als nichtiger erweist. So hatte beispielsweise ein Täter seine geschiedene Ehefrau und ihren neuen Ehemann sowie dessen Sohn Andreas erschossen: „Das Landgericht wertet die Tötung An. R’s als Mord, weil der Angeklagte den jungen Mann entweder deswegen erschoß, weil er nur so die geplante ‚Hinrichtung’ der Eheleute A. und J. R. verwirklichen zu können glaubte, also um eine andere Straftat zu ermöglichen, oder deswegen, weil er der Sohn des ‚Verbrechers’ J. R. war, mithin zu dessen ‚Sippe’ gehörte, oder weil er sich geweigert hatte, anhand von Urlaubsfotos die Ehe des Angeklagten als sehr gut zu qualifizieren und diesem zu helfen, deshalb seine Frau zurückzugewinnen (in beiden zuletzt genannten Fällen habe der Angeklagte aus niedrigen Beweggründen gehandelt), oder aus einer Bündelung dieser drei Motive heraus. Gegen diese Verurteilung auf mehrdeutiger Grundlage bestehen in einem Fall der vorliegenden Art keine Bedenken“58. Hinzuweisen ist insbesondere auch auf Judikate, welche die oben genannte Entscheidung des 2. Strafsenats zur ‚grundlosen Tötung’ in der Sache vorbe-
__________ 54 55 56 57 58
BGH (Fn. 53), S. 212. BGH NJW 1954, 565. BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 23 (BGH NStZ 1993, 182 f.). BGH (Fn. 56). BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 6 (mit Verweis auf BGHSt 22, 12).
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reiteten: So bestätigte der 4. Strafsenat die Verurteilung wegen ‚niedriger Beweggründe’ für einen Angeklagten, der „tötete, um seine Unzufriedenheit mit seinen äußeren Verhältnissen und seiner inneren Leere an dem Opfer abzureagieren. Er behandelte dieses als bloßes Objekt, dem er gegenüber seinen Unlustgefühlen kein Lebensrecht zugestand“59. 3. Spezielle Motivmordmerkmale Bezieht man die Motivgeneralklausel auf die Kriterien der objektiven Zurechnung, so ergibt sich damit zugleich ein Ansatz für die normative Profilierung der weiteren (Motiv-)Mordmerkmale (der ersten und zweiten Tatbestandsgruppe). Auch auf der Grundlage dieses normativen Interpretationsansatzes erweisen sich diese speziellen Mordmerkmale – wie vom Bundesgerichtshof judiziert – als gesetzlich benannte Sonderfälle der Motivgeneralklausel. Die eingangs referierten Entscheidungen zeigten dies schon beispielhaft: ‚Habgier’ und die Tötung ‚zur Befriedung des Geschlechtstriebs’ etwa kennzeichnen den Einbruch in den Rechtskreis (zumeist) des Opfers als tatrelevanten Grund bzw. Umstand; die Verletzung der dem Opfer (oder Dritter) garantierten Rechte ist der alleinige vom Täter organisierte und zu verantwortende Kontext – und deshalb ein offensichtlich rechtlich irrelevanter Grund der Tat. Die Verantwortungszuschreibung wegen des vom Täter organisierten Einbruchs in den Rechtskreis des Opfers trifft – unter normativer Perspektive – auch das allgemeine Zurechnungsmuster der ‚niedrigen Beweggründe’, wenn etwa andere oder weitere Rechtspositionen, als die phänotypisch über die Mordmerkmale ‚Habgier’ und ‚Geschlechtstriebbefriedigung’ erfaßten, betroffen sind. Drastisch: Nachdem die Verwalterin einer Gaststätte zunächst bedroht worden war, um aus Spielautomaten und der Kasse Geld zu entwenden, zwang der Täter die Frau, „sich weitgehend zu entkleiden und (hatte sie) schließlich getötet“60. Das Instanzgericht hatte die Verurteilung wegen Habgier, Verdeckungsabsicht und insbesondere niedriger Beweggründe unter anderen mit der Begründung abgelehnt, „man könne nicht (…) feststellen, ob A Frau W tötete, um den vorangegangenen Raub zu verdecken, oder aus Wut über die Weigerung der Frau, sich weiter auszuziehen (…)“. Mit Blick auf die aufgezeigten Zurechnungsmuster ist der Urteilsaufhebung durch den Bundesgerichtshof auch hier im Ergebnis zuzustimmen: Jede vom Instanzgericht aufgewiesene Feststellungsalternative ist vom besonderen Kontext einer Rechtsverletzung geprägt, die insoweit auch die alleinige Tatverantwortung des Täters und damit dessen Verurteilung wegen Mordes begründet.
__________ 59 BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 19; vgl. auch BGH NStE Nr. 28 zu § 211 StGB. 60 BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 22 (BGH MDR/Holtz 1992, 632).
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Ähnliches gilt für die Ermöglichungs- bzw. Verdeckungsabsicht; der deliktische Tatanlaß ist dem Opfer gegenüber ein normativ nichtiger Tatanlaß, weil gleichfalls (und soweit) allein der Verantwortungssphäre des Täters zuzurechnen. Über diese normative Begründungsstruktur sind allerdings nicht nur die – typischerweise der Verdeckungsabsicht zugewiesenen – Fälle einer „kenntnisentziehenden Verdeckungstötung“ erfaßt, sondern auch die der „Verfolgungsvereitelung“61, ein Bereich, der von der Rechtsprechung regelmäßig innerhalb der ‚niedrigen Beweggründe’ katalogisiert wird62. Die Verantwortungszuschreibung über den deliktischen Tatanlaß erweist sich insoweit auch als Ausschnitt des allgemeinen, die Motivgeneralklausel tragenden Zurechnungsmusters. Daß entsprechende normative Erwägungen der Rechtsprechung zugrunde liegen, ist oben schon gezeigt worden63. 4. Entlastung bei zurechenbarer Verantwortung des Opfers für Tatkontext Wenn man Mordmerkmale auf normative Zurechnungsmuster bezieht, dann ergeben sich nicht nur Ansätze für eine differenzierte Mordbegründung, sondern – und darauf soll es im weiteren ankommen – auch solche einer Entlastung vom Mordvorwurf, so wenn etwa dem Täter gerade nicht die alleinige Verantwortung für die Tat bzw. den Tatkontext zugeschrieben werden kann. Auch dieses zeichnete sich schon in der jüngeren Rechtssprechung ab; und auch hier kann der Rückgriff auf Kriterien der objektiven Zurechnung allgemeinere Begründungsmuster sichtbar machen.
__________ 61 Zur Differenzierung BGHSt 35, 116, (121 ff.). 62 BGH MDR/Dall. 1971, 722; BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 7 (BGH MDR/Holtz 1987, 280), 38; Verdeckung 6; BGH GA 1979, 108; StV 1989, 151; NJW 1999, 1039 (1040 f.); zu tödlichen Angriffen beim Gefangenenausbruch BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 3, 8 (BGH MDR/Holtz 1988, 276 [277]). Unter dem normativen Gesichtspunkt des deliktischen Tatanlasses ist die grundsätzliche Beschränkung des Tatbestandsmerkmals auf eine zu verdeckende Straftat nicht zwingend; auch eine Ordnungswidrigkeit ist als zu verdeckender Tatanlaß dem Opfer gegenüber ein rechtlich nichtiger Grund. Im Ergebnis – Verurteilung wegen Mordes – ist dieses anerkannt, denn nach der Rechtsprechung des BGH kommen insoweit ‚niedrige Beweggründe’ in Betracht, vgl. BGHSt 28 93 (94 f.); BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 21 (BGH NJW 1992, 919 f.). Zutreffend für die Verdeckung ‚einer peinlichen Situation’ – wenn wohl auch nicht unter dem Gesichtspunkt des deliktischen Tatanlasses, sondern wegen der alleinigen Verantwortung für die (relativ geringfügigen) Tatanlässe gegenüber einem Kleinkind – BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 37. 63 Die axiologisch inspirierte Gleichsetzung der ‚Verdeckungsabsicht’ mit den ‚niedrigen Beweggründen’ (BGHSt 35, 116 [121 ff.]; BGHR StGB § 211 Abs. 1, Niedrige Beweggründe 21 [BGH NJW 1992, 919 f.]) wird durch die aufgezeigten normativen Erwägungen gestützt – ohne daß insoweit auf weder quantitativ noch qualitativ faßbare Verwerflichkeitsurteile zurückgegriffen werden müßte (vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 21, 38; zur Abgrenzung BGHR a. a. O., Verdeckung 2).
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Am Beispiel der Verdeckungsabsicht: Die Tragfähigkeit des Mordvorwurfes wegen Verdeckungsabsicht wird – unter normativen Gesichtspunkten – dann fraglich, wenn das Opfer entweder den deliktischen Kontext mitzuverantworten hatte oder die Tatsituation selbst aggressiv gestaltete. Bekanntes Beispiel64: Im Laufe einer Auseinandersetzung wurde der Täter vom späteren Opfer an den Haaren ‚gepackt’ und ‚niedergehalten’, worauf er, der Täter, das Opfer mit einer Wasserflasche für kurze Zeit bewußtlos schlug. „Als G. (das Opfer) wieder zu sich kam und dem Angeklagten Vorwürfe machte, tötete ihn dieser, um zu verhindern, daß er (…) angezeigt und bestraft werde“. Abgesehen von der Frage, ob die eventuell wahndeliktische Vorstellung einer Straftat65 überhaupt schon als ‚Verdeckungsabsicht’ zu werten war66, führt jedenfalls – in normativer Perspektive – die vom Opfer (zumindest) mit zu verantwortende Eskalation der Auseinandersetzung dazu, daß der über die ‚Vortat’ geprägte Kontext der Tötung nicht allein dem Täter zuzurechnen ist. Insoweit muß also die Verantwortung des Opfers für die Situation der ‚Verdeckungstat’ für den Täter entlastend wirken67; die Verurteilung wegen Mordes war – mit Blick auf die normativen Erwägungen zur Tatverantwortung – deshalb aufzuheben68. Ähnliches gilt für den Fall, welcher der oben genannten jüngeren Heimtückeentscheidung des 1. Strafsenats zugrunde lag69: Nach Aufhebung und Zurückverweisung durch den Bundesgerichtshof im Jahr 2003, hatte das Instanzgericht nunmehr den Angeklagten wegen Verdeckungsmordes (nicht ausschließbar im Zustand erheblicher verminderter Schuldfähigkeit) verurteilt. Nach den nunmehrigen Feststellungen hatte der Angeklagte zwar objektiv in einer Notwehrlage gehandelt; das Opfer (M) – mit dem er zunächst
__________ 64 BGHSt 11, 226. 65 Der BGH konnte „nicht ausschließen, daß der Schlag mit der Wasserflasche durch Notwehr geboten war (…) oder in Überschreitung einer gegebenen (…) oder in irrtümlicher Annahme einer vermeintlichen (…) Notwehrlage geführt worden ist“ (BGH [Fn. 64], S. 227); zu den Kriterien der subjektiven Zurechnung bei normativen Tatbestandsmerkmalen vgl. Jakobs AT 25/40 ff. (im Anschluß an Burkhardt JZ 1981, 681 [685 f.]; ebenso Schönke/Schröder/Eser § 22 Rz. 89) einerseits und NKPuppe Vor § 13 Rz. 32, § 16 Rz. 61 ff., 170 f. (im Ergebnis ebenso SK-Rudolphi § 22 Rz. 32a) andererseits. 66 So BGH (Fn. 64), S. 228; zust. Stratenwerth JZ 1958, 545 f.; LK-Jähnke (10.A.) § 211 Rz. 18; im Ansatz kritisch Weiß Verdeckungsabsicht (Fn. 36), S. 221. 67 Ähnliches gilt für BGH MDR 1974, 366 f.: Zwischen der Täterin und ihrer Schwiegermutter, dem Opfer, war es häufig zu Streitigkeiten mit Beschimpfungen gekommen; bei der letzten Auseinandersetzung war die Schwiegertochter vom Opfer erstmals ins Gesicht geschlagen worden. „In starker Erregung und heftigen Zorn“ schlug diese dann mittels eines „Kartoffelstampfers“ kräftig auf ihr Opfer ein, bis das Gerät zerbrach, um dann – nunmehr in ‚Verdeckungsabsicht’ – die Schwiegermutter zu erdrosseln: Auch hier ist für die Täterin entlastend zu berücksichtigen, daß das Opfer die Vortat zurechenbar veranlaßte. 68 Zutreffend daher BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 11. 69 BGH (Fn. 45) S. 207 ff.
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überein gekommen war, den illegalen Handel mit CD-Raubkopien gemeinsam zu organisieren – habe keinen Anspruch auf Geldzahlungen gehabt. Getötet habe er allerdings sein Opfer, um „M. als Mitwisser seiner illegalen Geschäfte“ auszuschalten und so zu verhindern, „daß dieser ihn anzeige“. „Sachbeschädigungen und die Wegnahme von Gegenständen aus seiner Wohnung hätten ihm unmittelbar nicht gedroht. Das Geld habe er Ma. im Vorbeigehen ‚freiwillig’ gegeben“70. Unter zwei Gesichtspunkten konnte hier allerdings – in normativer Perspektive – die Verdeckungsabsicht in Frage gestellt sein. Einerseits hatte das Opfer am deliktischen Tatkontext mitgewirkt und instrumentalisierte diesen nun gegen den Täter; andererseits war die unmittelbare Tatsituation vom Opfer gleichfalls aggressiv gestaltet worden, der Angeklagte handelte immerhin objektiv in einer Notwehrsituation. Hinsichtlich der Mitwirkung an den Vortaten mag man darüber streiten, ob jede Involvierung des Opfers in den deliktischen (Vor-)Tatkontext schon eine Verantwortung für diesen Kontext begründet, die unter normativen Gesichtspunkten eine Verurteilung wegen Verdeckungsmordes ausschließt71. Jedenfalls, wenn das Opfer diesen Kontext gegen den Täter instrumentalisiert, es sein durch die eigene Beteiligung gewonnenes ‚Insider’-Wissen gegen ihn einsetzt, kann es nicht vom deliktischen Kontext distanziert werden. Anders liegt der Fall sicherlich, wenn das Opfer – nunmehr geläutert – den Täter von seinem (weiteren) deliktischem Handeln abbringen will, oder aber – als früherer Tatbeteiligter – lediglich als potentiell gefährlicher Mitwisser ausgeschaltet werden soll, ohne den deliktischen Kontext in die aktuelle Situation eingebracht zu haben. – Diese Ausnahmesituationen lagen jedenfalls für den konkreten Fall nicht vor. Unabhängig davon handelte der Angeklagte in einer vom Opfer geschaffenen Notwehrlage. Der unmittelbare Tatanlaß – der Tritt gegen die Wohnungseinrichtung – war vom Opfer zu verantworten; es hatte den relevanten Tatkontext aggressiv, d. h. dem Angeklagten gegenüber rechtsverletzend gestaltet. Bei dieser Lage war zu erwägen, ob die vom 1. Strafsenat für die Heimtücke ausgewiesenen normativen Erwägungen als übergreifende auch unter dem Gesichtspunkt der Verdeckungsabsicht Geltung beanspruchen können: „Unter solchen Umständen erscheint es bei wertender Betrachtung nicht systemgerecht, dem sich wehrenden Opfer, wenn es in der gegebenen Lage (…) in den Randbereich der erforderlichen und gebotenen Verteidigung gerät oder gar exzessiv handelt, das Risiko aufzulasten, bei Überschreitung der rechtlichen Grenzen der Rechtfertigung oder auch der Entschuldigung sogleich (ein) Mordmerkmal (…) zu verwirklichen“72. Kurz: Wenn Mord-
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70 BGH v. 6. 10. 2004 – 1 StR 286/04, NStZ 2005, 332 (334). 71 Für den Ausschluß niedriger Beweggründe vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 30. 72 BGH (Fn. 45), S. 211.
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merkmale schwerstes Unrecht kennzeichnen, dann müssen Umstände, die allgemein Unrecht erheblich herabsetzen, auch bei der Zuschreibung der Mordmerkmale Berücksichtigung finden. Dennoch hat der Strafsenat die Verurteilung wegen Verdeckungsabsicht durch die Feststellungen (noch) als gedeckt angesehen73; – eine vom Instanzgericht nunmehr aufgedeckte ‚undifferenzierte Schizophrenie’ hatte die Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe schon im Vorfeld ausgeschlossen. 5. Normativierung der ‚Heimtücke’? Die in dieser Sache vorangegangene Entscheidung des 1. Strafsenats aus dem Jahr 2003 – zum Heimtückemerkmal – ist teils erheblicher Kritik ausgesetzt gewesen74; de facto habe der Senat unter dem Stichwort des ‚Tückischen’ eine negative Typenkorrektur vorgenommen und damit die Grundlinien der bisherigen Rechtsprechung verlassen. Dem ist zu widersprechen. Die begrifflich rigide Abgrenzung des Heimtückemerkmals insbesondere durch die Rechtsprechung – bewußte Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers in feindlicher Willensrichtung75 – ist auch von dem erklärten Anliegen geprägt, „bedenkliche Tatbestandsverschiebungen“ auszuschließen, „durch die (…) Terrain heimtückischen Handelns unnötig preisgegeben worden ist“76. Das Mordmerkmal der Heimtücke erhielt so zwar begrifflich geschärfte Konturen, zugleich aber setzte sich die Rechtsprechung außer Stande, über kasuistisch angeregte – „punktuelle“77 – Korrekturen hinaus, eine tatbestandlich konzeptionelle Einschränkung des Mordmerkmals zu formulieren bzw. eine solche zu akzeptieren – um schließlich den im Namen der Rechtssicherheit selbst geknüpften gordischen Knoten der „Begriffslogik“ im Wege der „richterlichen Rechtsschöpfung“ mit einer Rechtsfolgenlösung zu zerschlagen78.
__________ 73 BGH v. 6. 10. 2004 – 1 StR 286/04, NStZ 2005, 332 (333 f.). 74 Überblick bei Tröndle/Fischer § 211 Rz. 22b; Schneider NStZ 2003, 428 (430 f.); Zaczyk JuS 2004, 750 (752 f.); Hillenkamp JZ 2004, 48 (49 f.); Quentin NStZ 2005, 128 ff. 75 BGHSt 9, 385; 11, 139 (143); 39, 353 (368); 41, 72 (78 f.); BGH NStZ-RR 2001, 14. 76 BGHSt 30, 105 (114). 77 BGHSt 30, 105 (119). 78 BGHSt 30, 105 (121). Zur Kritik der Rechtsfolgenlösung insbesondere im Hinblick auf die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung Köhler JuS 1984, 762 (767 ff.); Bruns JR 1981, 358 (360 ff.); Günther NJW 1982, 353 (356 f.); Spendel JR 1983, 269 (271 ff.); Schmidhäuser NStZ 1989, 58; Mitsch JuS 1996, 121 (122 f.); Paeffgen FSPeters (1984), S. 61 (69 f.); Hirsch FS-Tröndle (1989), S. 19 (28 f.); NK-Neumann Vor § 211 Rz. 149; zurückhaltend Tröndle/Fischer § 211 Rz. 22; Überblick bei Otto Jura 1994, 141 (143); Fünfsinn Jura, 1986, 136 ff.; Schlechtriem Das Mordmerkmal der Heimtücke und die lebenslange Freiheitsstrafe (Diss., 1986), S. 44 ff. Die unter kompetenzrechtlicher Perspektive berechtigte Kritik erfährt allerdings eine – fak-
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Vor diesem Hintergrund bedeutet die Entscheidung des 1. Strafsenats zunächst ein Neuansatz für begriffsinterne Differenzierungsmöglichkeiten beim Heimtückemerkmal. Allerdings hat der Strafsenat für eine „normativ orientierte einschränkende Auslegung“ maßgeblich auf „das Tückische (…), welches den gesteigerten Unwert des Mordmerkmals kennzeichnet“, abgestellt, damit jedoch nicht einer negativen Typenkorrektur das Wort geredet, sondern den Weg für eine normative Begriffsdifferenzierung auf Grundlage allgemeiner strafrechtlicher Zurechnungskriterien eröffnet: Das in der Heimtücke begrifflich vorausgesetzte ‚Tückische’ läßt sich – in der Sicht dieser Entscheidung – dahingehend zusammenfassen, daß entweder die allgemeine Erwartung des Opfers, sich in einer normalen Lebenssituation zu befinden, bzw. (jedenfalls) nicht gefährdet zu sein, zum tödlichen Anschlag ausgenutzt wird, oder diese soziale Grunderwartung für eine Manipulation der Situation genutzt wird, um den späteren offenen Angriff vorzubreiten. In beiden Fällen geht es um den Mißbrauch eines (zugeschriebenen) allgemeinen Vertrauens in die Normalität der Lebenslage (bzw. der aktuellen Lebenssituation) als einer Grunderwartung im sozialen Umgang mit Mitmenschen. Die normative Grundlage für dieses soziale Grundvertrauen oder Grunderwartung besteht jedoch nicht, wenn das (spätere) Opfer seinerseits zurechenbar die aktuelle Normalität der Situation durch einen Angriff in Frage stellt. Der vom Senat in Anspruch genommene „Wertungsgleichklang mit dem Notwehrrecht“79 trifft insoweit einen entscheidenden Punkt: Notwehr steht nicht lediglich für eine drastische Sequenz (wechselseitiger) aggressiver Handlungen, sondern für ein Zurechnungsmuster; es geht – auch hier – um Folgenzurechnung80: Der Angreifer hat die Abwehrfolgen wegen seines Angriffs als ‚(selbst)verschuldete’ zu tragen, d. h. zu verantworten; insoweit ist der sich Wehrende von der Haftung entlastet. Wenn nun diese Grundsätze im ‚Wertungsgleichklang’ auch auf das Mordmerkmal der Heimtücke Anwendung finden, dann gilt auch für dieses Mordmerkmal: Mordverurteilung setzt nach allgemeinen Zurechnungsmustern feststellbare exklusive Verantwortung voraus. – Diese aber ist nicht nur durch einen unmittelbaren Angriff oder aggressiven Konfrontation81 in Frage gestellt, sondern auch bei einer vom (späteren) Opfer ausgehenden (insoweit zurechenbaren) Dauerge-
__________ tische – Relativierung durch die Tatsache, daß der Gesetzgeber sich einer Reformierung der Tötungstatbestände mehr oder weniger deutlich verweigert (dazu unter dem Stichwort des „Rechtsnotstandes“ Köhler a. a. O., S. 769 [m. w. N.]). Dem BGH stimmen daher zu: Frommel StV 1982, 533 f.; Kratzsch JA 1982, 401 ff.; Rengier NStZ 1982, 225 (226 f., 230); Jähnke FS-Spendel (1992), S. 537 ff.; MKSchneider § 211 Rz. 43 ff. (m. w. N.); differenzierend Gössel BT 1, 4/13 ff., 15 f. 79 BGHSt 48, 207 (211). 80 Vgl. Verf. ZStW 115 (2003), 224 (231 ff.). 81 BGHR StGB § 211 Abs. 2, Heimtücke 29.
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fahr: beispielsweise die ‚heimtückische’ Tötung des ‚äußerst gewalttätigen Familientyrannen’82. Entscheidend ist: Eine begriffsinterne Normativierung der Heimtücke kann und muß bei der Differenzierung von Verantwortungssphären ansetzen; soweit Tatumstände der Verantwortung des Tatopfers zuzuschreiben sind, entfällt die normative Grundlage für die Verurteilung wegen Heimtückemordes. 6. Mindeststandards einer Mordverurteilung: Zuordnung von Zurechnungsmustern zu Mordmerkmalen Auf Grundlage objektiver Zurechnungsmuster ließe sich eine weiterreichende, normativ deutlichere Profilierung jedenfalls der forensisch relevanten Mordmerkmale – insbesondere der Heimtücke – erreichen, die freilich bekannte erhebliche Vorbehalte gegen Normativierungen – auch gerade bei der Heimtücke unter dem Stichwort des ‚Vertrauensbruchs’ – zu gegenwärtigen hätte; insoweit kann das Folgende nur skizzenhaft als ein Gesprächsangebot unterbreitet werden: Es geht um die Zuordnung von spezifischen Zurechnungsmustern – personales und institutionelles – zu einzelnen Mordmerkmalen. Objektive Zurechnung läßt sich auf zwei grundlegende Muster zurückführen, die zunächst zur Begründung und Systematisierung von Garantenstellungen entwickelt wurden, mittlerweile aber die Dogmatik der objektiven Zurechnung insgesamt prägen83: einerseits das personale Zurechnungsmuster der Organisationszuständigkeit, d. i. die Verantwortungszuschreibung über die Gestaltung des jeweiligen Organisationskreises als rechtliche Jedermannsrolle, und andererseits das institutionelle Zurechnungsmuster als Kennzeichnung von rechtlichen Sonderrollen, die für die Einbindung der Person in herausgehobene normative Kontexte stehen: einseitige Garantieverhältnisse, die nicht anknüpfen an die Kriterien der personalen Selbstorganisation, sondern beruhen auf der Einbindung des Verpflichteten in besondere Organisationsstrukturen. Letztere, die besonderen Organisationsstrukturen – Institutionen im engeren Sinne –, erfahren wegen ihrer gesellschaftlich konstitutiven Funktion, d. h. im Regelfall mit Blick auf deren generelle Alternativlosigkeit, besondere staatliche Garantien. Zwei Bereiche sind zu nennen84; einerseits die Voraussetzungen organisierter Rechtsgeltung (Organisationsstrukturen der ‚äußeren’ und ‚inneren’ Sicherheit, machtbasierte Infrastrukturen der Rechts[durch]setzung) und andererseits die Garantie der elementaren Bedingungen personaler Existenz (Organisation der ‚elementaren Versorgung’ und ausdifferenzierte Fürsorgeverhältnisse, etwa das Eltern-Kind-Verhältnis).
__________ 82 Anders BGHSt 48, 255 ff.; dazu Rengier NStZ 2004, 233 (236 f.). 83 Ausführlich Verf. FS-Rudolphi (2004), S. 165 (175 ff.). 84 Weitere Nachweise Verf. (Fn. 83), S. 177 ff.
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Beide Zurechnungsmuster, das personale und das institutionelle, stehen für unterschiedliche Begründungsansätze einer Tatverantwortung; aber: es geht immer und nur um Verantwortungszuschreibung. Will man nun die Mordmerkmale – in der Konsequenz normativer Erwägungen der Rechtsprechung – auf objektive Zurechnungsmuster zur Begründung von exklusiver Tatverantwortung zurückführen, so kann einerseits die Motivgeneralklausel, der ‚niedrige Beweggrund’, auf das personale Zurechnungsmuster bezogen werden: Tat und Tatkontext, der (nichtige) Tatanlaß, sind alleine dem Organisationskreis des Täters zuzuordnen; ‚niedrige Beweggründe’ kennzeichnen damit den ‚nichtigen Tatanlaß’ auf der Ebene der subjektiven Zurechnung, sei es als intentionales Element subjektiver Handlungsdeutung und -orientierung – Absicht im dogmatischen Sinn –, oder als reaktives Moment, über das der ‚nichtige Tatanlaß’ als handlungsrelevante Ursache der Tat subjektiv zugerechnet wird. Die weiteren genannten Motivmordmerkmale – ‚Mordlust’, ‚Habgier’, ‚zur Befriedigung des Geschlechtstriebs’ oder in ‚Ermöglichungs-‚ bzw. ‚Verdeckungsabsicht’ – bleiben auch unter dieser Perspektive gesetzlich ausgezeichnete Sonderfälle der Motivgeneralklausel: die bloße Lebensvernichtung als Tatzweck, der Einbruch in den Rechtskreis eines anderen als Tatgrund wie auch der deliktische Tatanlaß sind Ausschnitte des hier relevanten personalen Zurechnungsmusters: normativ nichtige, weil allein in die Verantwortung des Täters fallende Tatanlässe oder -gründe. Das ‚Heimtückemerkmal’ kann dann andererseits auf das institutionelle Zurechnungsmuster bezogen werden; dies in Fortführung von Literaturpositionen, die heimtückisches Vorgehen durch die Verletzung besonderen bzw. garantierten Vertrauens qualifiziert sehen85: Heimtücke liegt vor beim Bruch eines institutionell begründeten Garantieverhältnisses, durch das dem Täter der Schutz des Opfers, insbesondere die Sorge für dessen Leben aufgegeben ist. Beispielsweise: Feuerwehr, (Unfall)Rettungsdiensten und notärztlichen Bereitschaftsdiensten in Krankenhäusern obliegt eine strafrechtlich gestützte Garantie für fremdes Leben, wie auch der Polizei im Rahmen entsprechender Gefahrenabwehr. Gleiches gilt für institutionelle Fürsorgepflichten in öffentlich-rechtlichen Sonderrechtsverhältnissen, soweit das Grundverhältnis zum Unterworfenen betroffen ist: Strafvollzugsbedienstete sind Garanten für das Leben des Häftlings, wie auch Lehrer für das ihrer Schüler im Schulbetrieb. Ein entsprechendes Garantieverhältnis ist auch für die Polizei festzustellen, soweit
__________ 85 Schmidhäuser Gesinnungsmerkmale (Fn. 30), S. 232 (233 f.); Schaffstein FSH. Mayer (1966), S. 419 (427 ff.); Lange GedS-Schröder (1978), S. 217 (233); Hassemer JuS 1971, 626 (630); M.-K.Meyer JR 1979, 485 ff.; Jakobs JZ 1984, 996 (997 f.); Otto, Strafrecht BT, 4/25 f.; SK-Horn § 211 Rz. 32; Schönke/Schröder/Eser § 211 Rz. 26 (jeweils m. w. N.). Zum Vertrauensbruch als Differenzierungskriterium de lege ferenda Eser, 53. DJT-Gutachten, D 180 ff.; Lackner (Seminar) JZ 1977, 502 (504); Otto ZStW 83 (1971), S. 39 (62 ff.).
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sie zur Verhinderung von Straftaten verpflichtet ist; sie ist Garant für das Leben des Bürgers, wenn dieser aktuell entsprechenden deliktischen Angriffen ausgesetzt ist. Eine regelmäßig ‚natürlich’ begründete Garantie obliegt schließlich den Eltern für das Leben ihrer Kinder. Dem bekannten bisher gegenüber Normativierungen des Heimtückemerkmals erhobenen Einwand der begrifflichen Konturenlosigkeit und materiellen Vagheit86 sollte mit der Rückführung auf ein differenziertes Zurechnungsmuster, insbesondere auch im Zusammenhang und in Abgrenzung zum personalen Zurechnungsmuster, standgehalten werden können. Allerdings wird auf dieser normativen Grundlage – im Vergleich zu phänotypisierenden Charakterisierungen der Tatsituation bzw. Tatausführung – der Tatbestandsbereich des Merkmals in der Tendenz eher eingeschränkt; Leitbild ist nicht der verdeckte überraschende, i. d. Sinne ‚verschlagene’ Angriff, sondern die besondere Verantwortung für das Leben des Opfers. Daß damit „Terrain heimtückischen Handelns unnötig preisgegeben“ werde, ist jedoch solange nicht einzuräumen, wie die Qualifizierung einer phänotypisch bestimmten Schutzlosigkeit zum Mordmerkmal insgesamt in Zweifel steht: Konkret, das heißt bei jeweils erfolgreicher Tat, erweist sich die durch ‚Tücke’ verursachte Schutzlosigkeit des Opfers äquivalent, und das heißt im Ergebnis als gleich gefährlich bzw. erfolgsgeeignet, zu der durch körperliche oder instrumentelle Gewalt verursachten Schutzlosigkeit87 – und kann generell durch entsprechende ‚funktionale Äquivalente’ ersetzt werden88. Selbst wo die generelle Ersetzbarkeit im konkreten Fall in Frage gestellt sein sollte, ist die tatbestandliche Qualifizierung einer mit ‚Tücke’ veranlaßten Schutzlosigkeit keineswegs selbstverständlich oder plausibel; zu erinnern ist lediglich an den – bekannten – Einwurf, die Qualifizierung der Heimtücke zum Mordmerkmal diskriminiere die Waffen des Schwachen und Wehrlosen gegen Übermacht, Gewalt und Brutalität89.
__________ 86 BGHSt 30, 105 (116); Geilen GedS-Schröder (1978), S. 235 (249 ff.); Schmoller ZStW 99 (1987), S. 389 (404 ff.); Rengier MDR 1980, 1 (4); Mitsch JuS 1996, 213 (214); Arzt JR 1979, 7 (11, „zieharmonikaartige Dehnbarkeit der Vertrauensmißbrauchsdefinition“); LK-Jähnke § 211 Rz. 48 f.; MK-Schneider § 211 Rz. 155 ff.; NK-Neumann § 211 Rz. 49; Lackner/Kühl § 211 Rz. 6; Tröndle/Fischer (50. A.) § 211 Rz. 20; Wessels/Hettinger BT/1, Rz. 108. 87 Vgl. etwa BGHSt 19, 231: Keine Heimtücke, wenn die Wehrlosigkeit auf Erschöpfung bzw. Entkräftung wegen eines vorausgegangenen Kampfes mit dem Täter beruht. 88 Jakobs JZ 1984, 996 (997); vgl. auch Köhler JuS 1984, 762 (763 f.); ebenso bereits Schaffstein FS-H.Mayer (1966), S. 419 (425 f.); im Erg. auch bei Eser, 53. DJTGutachten, D 180 f; Lackner NStZ 1981, 348 (349); M.-K.Meyer JR 1979, 441 (444); zust. auch Veh, Mordtatbestand und verfassungskonforme Rechtsanwendung (1986), S. 143 f.; Schmoller ZStW 99 (1987), S. 389 (401); NK-Neumann § 211 Rz. 48. 89 Für den konkreten Fall eingeräumt bei BGH NStZ 1995, 231 (232), ohne daß allerdings die Legitimität des Merkmals insgesamt in Frage gestellt sein soll (Konsequenz: Rechtsfolgenlösung); vgl. im übrigen schon Jescheck JZ 1957, 386 (387); ebenso Eser, 53. DJT-Gutachten, D 180 f.; Frommel StV 1987, 292 (293 f.); Lackner
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Dies ist insbesondere hervorzuheben gegen den – beinahe als Allgemeinplatz anzusehenden – Einwand, die Tatbestandsreduzierung führe zu einer Privilegierung des ‚Meuchelmords’, d. h. der Attentate aus dem Hinterhalt90. Der (terroristische) Anschlag aus dem Hinterhalt ist und bleibt – auch auf Grundlage eines normativen Interpretationsansatzes – Mord, da ein zwischen Täter und Opfer vermittelter Tatanlaß nicht besteht, bzw. der von den Täter(n) geltend gemachte (politische) Anlaß im Verhältnis zum Opfer ein rechtlich irrelevanter, zur Verantwortungssphäre des Täters zu rechnen ist; eine weitergehende Verantwortungszuschreibung via ‚Heimtücke’ ist nicht notwendig. Nachdem in der Rechtsprechung die grundlose Tötung als ein möglicher Fall der ‚niedrigen Beweggründe’ anerkannt ist91, dürfte die Kategorisierung dieser Fälle kaum noch fraglich sein92. Besteht allerdings ein Tatanlaß, dann ist auch die Verurteilung wegen ‚Heimtückemordes’ nach traditionellen Kriterien alles andere als plausibel; auf den Sachverhalt, welcher der Entscheidung des Großen Senats zur Rechtsfolgenlösung93 zugrunde lag, sei nur beispielsweise verwiesen. 7. Ausblick Eine konsequente Zuordnung der genannten Mordmerkmale – die Motivmordmerkmale der ersten und dritten Tatbestandsgruppe sowie der Heimtücke – zu den aufgezeigten Mustern objektiver Zurechnung eröffnet für die forensisch mit Abstand relevanten Mordmerkmale94 zunächst einmal den
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NStZ 1981, 348 (349); Geilen JR 1980, 309 (312); Woesner NJW 1980, 1136 (1138); Rüping JZ 1979, 617 (620); M.-K.Meyer JR 1979, 441 (444); sowie schließlich Otto Jura, 1994, 141 (147); insbesondere zur geschlechtsspezifischen „Deprivilegierung“ von Frauen Legnaro/Aengenheister KJ 1995, 188 (190 ff. [m. w. N.]). Vgl. BGHSt 30, 105 (116); Geilen GedS-Schröder (1978), S. 235 (253); Schmoller ZStW 99 (1987), S. 389 (405 f.); Rengier MDR 1980, 1 (4); Mitsch JuS 1996, 213 (214); LK-Jähnke § 211 Rz. 48; MK-Schneider § 211 Rz. 155; Tröndle/Fischer (50. A.) § 211 Rz. 20. BGHSt 47, 128 (132). Vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2, Niedrige Beweggründe 43. BGHSt 30, 105 ff. Eine spezifische Zuordnung der ‚grausamen’ oder ‚gemeingefährlichen’ Tatausführung zu bestimmten Zurechnungsmustern zeichnet sich nicht ab. Eine eigenständige Bedeutung kommt diesen Mordmerkmalen – unter normativer Perspektive – zu, wenn die alleinige Tatverantwortung des Täters nicht schon aufgrund anderer Kriterien begründet ist, wenn also auch dem Opfer der Tatkontext zuzurechnen ist – beispielsweise: der Vater foltert den Vergewaltiger der Tochter zu Tode, der Erpresser wird durch eine manipulierte Gasexplosion im eigenen Haus getötet, mehrere Familienmitglieder und Hausbewohner werden verletzt. Dann muß der Tatausführung gegenüber der Lebensvernichtung ein weiteres eigenständiges (deliktsähnliches) Gewicht zukommen, das den vom Opfer zu verantwortenden Tatkontext aufzuwiegen vermag, so etwa das gravierende Gewicht der vom Täter zugefügten Schmerzen und Qualen bei der ‚grausamen’ Tötung, oder die konkrete Lebensgefahr für weitere Personen bei der Tötung ‚mit gemeingefährlichen Mitteln’.
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Weg für einen gemeinsamen Interpretationsansatz. Erschlossen wäre des weiteren ein beträchtliches Argumentationspotential – im Grundsatz die Strukturen der objektiven Zurechnung insgesamt – für merkmalsinterne Differenzierungen; jedenfalls aber wäre eine dogmatisch gefestigte Grundlage für allgemeine Mindeststandards einer Mordverurteilung, die Zuschreibung von Mordmerkmalen, aufgezeigt: die exklusive Verantwortung des Täters für die Tat und den Tatkontext. Vor dem Hintergrund einer absoluten Strafandrohung rechtfertigen die damit verbundenen Differenzierungsmöglichkeiten möglicherweise das Gesprächsangebot. Offen geblieben ist bisher die Frage, ob Sondersituationen, die nicht im Rechtsverhältnis zwischen Täter und Opfer begründet sind, den Täter vom Mordvorwurf entlasten können; beispielsweise: der Täter wird unter Lebensbedrohung dazu veranlaßt, einen unbeteiligten Dritten zu töten. Gegen eine (tatbestandliche) Entlastung sprechen offensichtlich die Entschuldigungsgründe, § 35 StGB95; für das Opfer ist dieser Tatanlaß unter keiner Perspektive rechtlich verbindlich. Nicht zu verkennen ist aber auch, daß dem Täter der Tatkontext insoweit nicht verfügbar und von ihm objektiv nicht zu verantworten ist. Im Rahmen einer mit absoluter Strafandrohung verknüpften Mordqualifizierung mag dieses für eine Berücksichtigung schon auf der Tatbestandsebene sprechen96.
V. Zusammenfassung 1. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den (Motiv-)Mordmerkmalen haben sich normative Erwägungen zur Tatverantwortung bzw. zur Tatveranlassung als eigenständige Struktur – sowohl zur Begründung des Mordvorwurfs, wie auch zur Entlastung – gegenüber psychologisierenden Wertungen unter Verwerflichkeitsaspekten etabliert. 2. Unter strafrechtsdogmatischer Perspektive lassen sich diese normativen Erwägungen bekannten Mustern der objektiven Zurechnung zuordnen. Werden Mordmerkmale auf diese Zurechnungsmuster bezogen, dann stehen jene, die Mordmerkmale, – auch – für eine alleinige, exklusive Verantwortung des Täters für die Tat und den Tatkontext. Umgekehrt ist eine Mordverurteilung nicht begründet, wenn eine exklusive Tatverantwortung des Täters nicht begründet werden kann, so etwa wenn auch das Opfer für den Tatkontext (teilweise) verantwortlich ist. 3. Auf dieser Grundlage, das heißt in Fortschreibung der von der Rechtsprechung aufgewiesenen normativen Erwägungen, läßt sich für die foren-
__________ 95 Dazu Verf. in MK § 35 Rz. 1 ff. 96 Zur Diskussion – allerdings im Rahmen eines Privilegierungsansatzes de lege ferenda – vgl. Verf. Mord und Totschlag (Fn. 5), S. 375 ff., 385 ff.
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sisch (mit Abstand) relevanten Mordmerkmale der ersten und dritten Tatbestandsgruppe, sowie für das Heimtückemerkmal ein systematisch einheitlicher Interpretationsansatz aufzeigen. Es geht um Mindeststandards einer Mordverurteilung im Sinne einer exklusiven Verantwortungszuschreibung über objektive Zurechnungsmuster. Die Motivgeneralklausel, der ‚niedrige Beweggrund’, ist zu beziehen auf den normativ nichtigen (subjektiven) Tatanlaß, d.i. der Handlungsanlaß, der allein in den Organisationskreis des Täters fällt (personales Zurechnungsmuster). Heimtücke steht für den Bruch eines institutionell begründeten Garantieverhältnisses für das Leben des Opfers (institutionelles Zurechnungsmuster).
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Hans-Ullrich Paeffgen Ein Gericht verirrt sich – und zwei Generalstaatsanwälte rennen hinterher
Anmerkungen zum Beschluß des VerfGH RheinlandPfalz in der Causa Böhr* Inhaltsübersicht I. Sachverhalt II. Untreue durch Verwendung staatlicher Fraktionszuschüsse: Der rechtliche Rahmen 1. Fraktionszuschüsse als allgemeine Haushaltsmittel 2. Fraktionen als rechtsfähige Einheiten: (Aus)Wirkungen des Einverständnisses der Fraktionsmitglieder 3. Untreue zu Lasten der Landes- und Bundespartei
4. Subjektive Tatseite 5. Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen III. Erledigung eines Ermittlungsverfahrens im Organstreit? IV. Selbstbeschränkung des Strafrechts im parlamentarisch-politischen Raum V. Weitere (verfahrensrechtliche) Monita VI. Ausblick
* Der Jubilar1 und „sein Haus“2 haben sich zu dem hier vorzustellenden Thema – und vor dem Hintergrund jenes erst jüngst entschiedenen Falles3 – selbst zu Fragen der „Politiker-“ und „Fraktions-Untreue“ zu Wort gemeldet. In hoher Wertschätzung für den Jubilar und seine Verdienste um die wissenschaftliche wie auch die dialektische Durchdringung des materiellen und formalen Strafrechts in der forensischen Praxis wollen die nachfolgenden Zeilen jenes Judikat zum Anlaß nehmen, die vielfältigen, dort anklingenden Themen noch einmal anzureißen und das Ringen um das rechtlich Sinnvoll-Plausible fortzusetzen, dem sich gerade auch der Jubilar so sehr verpflichtet fühlt. Vorausgeschickt werden muß freilich, daß ich – trotz der nachfolgend zu beleuchtenden Meinungs-Differenzen in concreto – dessen Skepsis gegen die reinigende Kraft von Strafverfolgungen mittels des § 266 StGB4 teile. Unklare Tatbestände gebären eben unklare Rechtspraktiken und
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Meinen studentischen Hilfskräften Thomas Grosse-Wilde und Alexandra Kießling darf ich auch an dieser Stelle für die Zuarbeiten danken. Dahs, NJW 2002, 272 f. Lesch, ZRP 2002, 159 ff. RhPfVerfGH (v. 19. 8. 2002, VGH O 3/02) DöV 2002, 992 = DVBl. 2002, 1567 (LS) = NVwZ 2003, 75 ff.; dazu auch Braun/Benterbusch, ZParl 2002, 653 ff.; Heintzen, DVBl. 2003, 706 ff. (aufgrund seines für Böhr erstatteten Gutachtens). Paragraphen ohne Kennzeichnung sind im folgenden solche des StGB.
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laden zu Überdehnungen – wie zu unsachgemäßen Restriktionen5 – geradezu ein6.
I. Sachverhalt Der Sachverhalt der Entscheidung, die Ausgangspunkt allgemeinerer Überlegungen sein soll, ist schnell rekapituliert: Der Fraktionsvorsitzende der rheinland-pfälzischen CDU, Dr. Böhr, seinerzeit noch nicht übermäßig bekannt, versuchte, diesem Zustand mit einer Imagewerbung abzuhelfen: Er wollte sich im Vorfeld der Fußball-WM 1998 als Sportsfreund profilieren und ließ eine Broschüre mit dem WM-Spielplan verteilen. Titel: „Nix Politik, Fußball“. Auflage: 1, 2 Millionen Exemplare, die verschiedenen Tageszeitungen beigelegt wurden. „Die WM geht mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf. Auf welche Stürmer setzt Berti Vogts?“, fragte sich Böhr in jener Broschüre. Die Kosten in Höhe von 145 000 Mark übernahmen je zur Hälfte die Landespartei und die CDU-Landtagsfraktion. Daraufhin wurde u. a. ein Ermittlungsverfahren gegen ihn angestrengt und der Landesrechnungshof mit dieser Frage befaßt. Die Causa wurde dann später auch noch vor das rheinland-pfälzische Landesverfassungsgericht gebracht – in einem Organstreitverfahren: Die CDU-Landtagsfraktion verlangte vom rheinland-pfälzischen Parlament eine Stellungnahme zu der Frage, ob ihre Ausgaben für die
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Exemplarisch: das Urteil des LG Düsseldorf in rebus Ackermann, Esser et al., NJW 2003, 2536 f. = NZG 2004, 1057 ff. (noch nicht rechtskräftig, der GBA hat sich der Revision angeschlossen); dazu Rönnau/Hohn, NStZ 2004, 113 ff. Erhellend zu den aktienrechtlichen Hintergründen jener denkwürdigen Dotationen (nicht zu Lasten der kurzfristig begünstigten Aktionäre, sondern zu Lasten des zu vertretenden und auszuliefernden Unternehmens): Lutter/Zöllner, FAZ v. 10. 2. 2004, S. 12; die Problemkreise zusammenfassend Jahn, ZRP 2004, 179 ff.; mit Erwiderung von Daniels, ZRP 2004, 270 ff.; vgl. auch Braum, KritV 2004, 67 ff.; Hüffer, BB 2003, Beilage 7 zu Heft 43 (Gutachten im Auftrag der Deutschen Bank); krit.: Tiedemann, ZIP 2004, 2056 ff. – Daß diese Aktion noch von den Akteuren unter das Etikett: „WerteSchaffen“ rubriziert wurde, deren „Schaffende“ sich – fassungslos – vor Gericht gezerrt sahen (so Deutsche-Bank-Vorstandsvorsitzender Ackermann, vgl. Zeise, Financial Times Deutschland v. 26. 5. 2004, S. 34; Konrad Adam, Die Welt, 29. 1. 2004, S. 9), ist bei einem nunmehr von Vodafone reklamierten Abschreibungsbedarf von bis zu 25 Mrd. Euro (taz v. 7. 6. 2005, S. 1, 8) ein besonders pikantes Beispiel für die Fähigkeit unserer führenden Wirtschaftsfunktionäre, die Welt wahrzunehmen. Ein durchaus bedenklicher Fall von Zweckentfremdung des Strafverfahrens unter Berufung auf den § 266 StGB findet sich jüngst wieder in dem Fall, der von BGH 4 StR 294/04 v. 9. 12. 2004 (www.bundesgerichtshof.de und BGH PM Nr. 148/2004) ziemlich kurz durch einen Freispruch (i. S. d. Vorinstanz, aber gegen eine verfolgungswütige StA) entschieden wurde, in dem der Ex-Oberbürgermeister von Schwerin, Kwaschik, einen der nicht seltenen Fälle eines aus dem Westen weggelobten Organwalters, der den neuen Ämtern im Osten erst recht nicht gewachsen war, mittels einer Abfindung aus seinem neuen Amtsleiter-Posten herauszulocken versuchte, und sich für diese – angesichts unserer arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung – pragmatischen Lösung eine Untreue-Anklage einhandelte.
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Anm. zum Beschluß des VerfGH Rheinland-Pfalz in der Causa Böhr
Erstellung eines Prospekts zur Fußballweltmeisterschaft 1998 und von Plakaten eine bestimmungsgemäße Verwendung staatlicher Fraktionszuschüsse darstellten, und hielt den Landtag für verpflichtet, seine Rechtsauffassung hierzu mitzuteilen. Dieses Ansinnen lehnte das Landesverfassungsgericht nur insoweit ab, als die CDU-Fraktion auch noch die Gesetzeskonformität der Prospekt-Aktion vom Landtag testiert zu bekommen verlangte. Jedoch stellte der VerfGH dessen Pflicht zur Stellungnahme ausdrücklich fest. I. ü. prüfte er inzident die Strafbarkeit des Verhaltens von Herrn Böhr und verneint diese gleichfalls – und gab dann, durchaus nicht durch die Blume, zu verstehen, daß die zuständigen Stellen die Strafverfolgung einzustellen hätten – wegen mangelnden Vorsatzes des Fraktionsvorsitzenden angesichts einer äußerst unklaren Rechtslage. Der zuständige LOStA in Mainz, Puderbach, stellte daraufhin das Verfahren – zunächst – wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums ein7. Auf eine empörte Reaktion des Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs8 beauftragte der Justizminister9 den Generalstaatsanwalt von Koblenz, die Äußerungen des Behördenleiters unter dienstrechtlichen Aspekten zu untersuchen. Nachdem der Generalstaatsanwalt seinem Untergebenen eine fehlerhafte Rechtsauffassung attestiert hatte, und Puderbach eine Fehlinterpretation einräumte10, hatte es mit dem publizistischen Inzidenttadel sein Bewenden. – Der Entscheid zog aber noch weitere Kreise – über die rheinland-pfälzischen Landesgrenzen hinweg. Denn der Generalstaatsanwalt von Mecklenburg-Vorpommern hat in einem äußerlich ähnlich liegenden Sachverhalt die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen zahl-
__________ 7 Ausweislich eines Artikels der Allgemeinen Zeitung Mainz v. 28. 8. 2002, S. 5. Dabei ging er, laut Zeitungsbericht ausdrücklich von dem VerfGH-Urteil abweichend, davon aus, daß Böhr den Tatbestand des § 266 objektiv verwirklicht habe. Puderbach wies, laut dieses Artikels, darauf hin, daß das LVerfG „nicht für strafrechtliche Fragen zuständig“ und „’Der Landesrechnungshof keine Staatsanwaltschaft für Abgeordnete’“ sei. 8 Ausweislich eines Artikels der Allgemeinen Zeitung Mainz v. 29. 8. 2002, S. 5, meinte Präsident Karl-Friedrich Meyer, „empört“ feststellen zu sollen, daß nach dem Urteil des VerfGH „der Tatbestand der Untreue nicht gegeben“ sei. „Der Präsident sprach von einer ‚Respektlosigkeit gegenüber dem Verfassungsorgan’“. 9 Der, wiederum ausweislich des Artikels der Allgemeinen Zeitung Mainz v. 29. 8. 2002, S. 5, ebenso sinniger- wie bezeichnenderweise, von einem „Freispruch erster Klasse“ für Herrn Böhr gesprochen hatte. Zu dem Fehlverständnis von Minister Mertin über den Typus des Streitgegenstandes (dazu sogleich mehr) hatten freilich Formulierungen des Judikats eingeladen. Trotzdem bleibt es eine erschütternde Fehlzuordnung durch den obersten Landesjuristen. 10 Die Allgemeine Zeitung Mainz v. 5. 9. 2002, S. 5, zitiert den GStA Weise mit den Worten: „Wenn Puderbach dennoch festgestellt habe, dass Böhr objektiv gegen die Strafbestimmung der Untreue verstoßen hätte, dann beruhe dies auf einer Fehlinterpretation des VGH-Urteils“. „‚Keineswegs handelt es sich um eine Korrektur oder Missachtung des Verfassungsgerichtshofs’.“ Vgl. auch schon Allgemeinen Zeitung Mainz v. 28. 8. 2002, S. 5.
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reiche Landtagsabgeordnete mit dem Urteil des rheinland-pfälzischen Verfassungsgerichtshofes vom 19. 8. 2003 begründet11.
II. Untreue durch Verwendung staatlicher Fraktionszuschüsse: Der rechtliche Rahmen Nun sei nicht im geringsten bestritten, daß es in der Abgrenzung von Fraktions- und Parteienfinanzierung eine Vielzahl von Problemen und forensischen wie literarischen Streitigkeiten gibt12. Läßt man sich freilich nicht den Blick durch umstrittene Nuancen trüben, sondern nimmt nur nüchtern den Sachverhalt in den Blick, so müssen einen die Ausführungen des Landesverfassungsgerichts doch schon wunder nehmen. Dazu braucht man sich eigentlich nur die, insoweit gefestigte, bundes- und obergerichtliche Rechtsprechung vor Augen zu halten: Nachfolgend seien die wesentlichen Abgrenzungskriterien wiedergegeben, auf die sich die Präsidenten der Rechnungshöfe als „kleinsten gemeinsamen Nenner“ als Orientierungsrahmen für ihre künftige Prüfungen verständigt
__________ 11 Meldung der Presseagentur AFP vom 26. 4. 2002 http://www.123recht.net/ article.asp?a=2745&f=nachrichten_aktuelles_schwerinspduntreue&p=1 bzw. vom 28. 8. 2002; abrufbar auf http://www.123recht.net/article.asp?a=3313&f=nachrich ten_aktuelles_boehreingestellt&p=1. – Beide Fälle sind allerdings in der Sache dann doch noch graduell unterschiedlich: Wenn sie auch polemisch waren, so kann man die beiden von der CDU und der SPD in der BILD-Zeitung geschalteten Anzeigen nicht als reine Sympathiewerbung bezeichnen (wie im rheinlandpfälzischen Fall); sie weisen immerhin einen gewissen politischen Bezug (einerseits hatte die CDU den Ministerpräsidenten Ringstorff zu einem „’Ja’ zur Rente! Zu ihrer eigenen!“ aufgefordert; in der Gegenschlag-Anzeige der SPD wurde die CDU als „ignorant und selbstgefällig“ charakterisiert und u. a. von „Toten Vögeln im Landtag“ gesprochen) auf – zum Wortlaut siehe H.H.Klein, Badura-FS (2004), S. 263 (264). – Ob dieser Bezug zum Politischen allerdings ausreicht, um von einer zweckgemäßen Verwendung sprechen zu können, ist zweifelhaft; vgl. auch Linde, Fraktionsfinanzierung in der parlamentarischen Demokratie (2000), S. 160: „Eine Zweckverfehlung liegt sicherlich dann vor, wenn großflächige Zeitungsanzeigen aus Fraktionsmitteln finanziert werden, wie dies die FDP-Fraktion im Januar 1994 mit halbseitigen Format in der FAZ tat.“ – Sicherlich tadelnswert war (an dem StA-Vorgehen) allerdings die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen alle Fraktionsmitglieder (der SPD), da das einzelne MdL i. d. R. keine generelle Vermögensbetreuungspflicht gegenüber der Fraktion (Braun/Benterbusch, ZParl 2002, 653, [666]) oder dem Parlament (OLG Koblenz, NJW 99, 3277 [3278]) trifft. 12 Vgl. dazu nur Heintzen, DVBl. 2003, 706 ff.; Morlock in: Dreier, GG Band 2 (1998) Art. 21 Rz. 1 ff., 44, 70 (Parteien und Parteifinanzierung); Art. 38 Rz. 161 ff. (Fraktionen); ders., NJW 2000, 761 (763 ff.); Kretschmer, ZG 2003, 1 ff. (Fraktionen); Schwarzer, Staatliche Öffentlichkeitsarbeit (Diss. Tübingen, 1999), S. 233 ff.; H. H. Klein, Badura-FS (2004), S. 263 ff.
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haben13. Für die Zulässigkeit staatsfinanzierter Öffentlichkeitsarbeit der Fraktionen soll danach gelten: 1. Sie muß sich wesentlich (m. E.: ausschließlich) auf die Tätigkeit der Fraktion im Parlament beziehen (keine Umfragen wie die „Sonntagsfrage“ oder die Ermittlung der Sympathiewerte von Politikern zum Beispiel). 2. Die Fraktion muß als solche in der Öffentlichkeitsarbeit in Erscheinung treten. 3. In der engeren Vorwahlzeit (sechs Monate vor dem Wahltag) darf das bisherige Niveau an Öffentlichkeitsarbeit in Art und Umfang fortgesetzt, nicht aber gezielt verstärkt werden. Sie darf keine Wahlwerbung enthalten. Besonders strenge Maßstäbe gelten in der Schlußphase des Wahlkampfes (in den letzten sechs Wochen vor dem Wahltag). 4. Der Sachinhalt der Öffentlichkeitsarbeit darf nicht eindeutig hinter die werbende Form zurücktreten (unzulässig also: Sympathiewerbung für die Fraktion/einzelne Fraktionsmitglieder). 5. Bereits der Eindruck der Wahlwerbung ist zu vermeiden. Indizien für eine Grenzüberschreitung können Form (Plakat- und Flugblattaktion, Postwurfsendungen, Werbeartikel) und Umfang (Auflagenhöhe) sein. 6. Die Fraktion muß verhindern, daß die Produkte ihrer staatsfinanzierten Öffentlichkeitsarbeit von der Partei (zum Beispiel für Wahlwerbung) eingesetzt werden. 7. Mischfinanzierte Öffentlichkeitsarbeit (Fraktion und Partei) stößt an die Grenzen der Zulässigkeit (Verbot der Parteifinanzierung)14. Auch wenn das RhPfFraktG – wohlweislich (?)15 – keine sonderlich aussagekräftigen ausdrücklichen Regelungen über die staatsfinanzierte Öffentlich-
__________ 13 Braun/Benterbusch, ZParl 2002, 653 (659). – Vgl. i. ü. schon 1990 den Präsidenten des hessischen Landesrechnungshof Müller, NJW 1990, 2046 (2049): „Als ständige Gliederung des Bundestages (Landtages) sind die Fraktionen der organisierten Staatlichkeit eingefügt.(…) So wie aber dem Bundestag (Landtag) Gelder für die Öffentlichkeitsarbeit zustehen, so müssen den Fraktionen für den sie betreffenden Teil der übernommenen Tätigkeit ebenso Gelder zur Verfügung stehen. …, allerdings vom Umfang her in der Darstellung eng auf die Ergebnisse der koordinierenden Tätigkeit der Fraktionen beschränkt sein.“ 14 Braun/Benterbusch, ZParl 2002, 653 (659). – I. E. werden damit die vom BVerfG für die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung entwickelten Grundsätze (BVerfGE 44, 124 [148 – 155]; 63, 230 [243 – 244]) schlicht auf die Fraktionen übertragen. Eine Orientierung an den einfachgesetzlichen Grundlagen der Fraktionsöffentlichkeitsarbeit ist nicht erkennbar, Braun/Benterbusch, ebenda. – Sehr viel großzügiger: Depenheuer, Selbstdarstellung der Politik (2002), S. 57 (68 ff.). 15 Immerhin konkretisiert das geltende RhPfFraktG den möglichen Verwendungszweck für staatliche Geldleistungen § 1 Abs. 2 Nr. 5 (Öffentlichkeitsarbeit) i. V. m. § 2 Abs. 1 Satz 2, wobei es in letzterem ausdrücklich die Verwendung für Parteizwecke untersagt (!).
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keitsarbeit der Fraktionen enthält, ist doch ein Blick auf die Bundes-Rechtslage erhellend: Gemäß §§ 47 Abs. 3, 50 Abs. 4 Satz 1 und 2 (Bundes)AbgG gilt: –
Fraktionen dürfen die Öffentlichkeit nur über „ihre“ Tätigkeit „unterrichten“ (§ 47 Abs. 3 AbgG).
–
Die Öffentlichkeitsarbeit darf nur Aufgaben betreffen, die den Fraktionen nach dem Grundgesetz, nach dem AbgG und nach der Geschäftsordnung des Bundestages obliegen (§ 50 Abs. 4 Satz 1 AbgG).
–
„Jegliche“ Öffentlichkeitsarbeit für Parteiaufgaben ist unzulässig (§ 50 Abs. 4 Satz 2 AbgG)16.
So, wie die Finanzierung von Theater-, oder, fiktiver Fall, aber vielleicht durch die Drastik erhellend: Bordellbesuchen für Parteimitglieder oder solche, die es werden sollen, durch die Fraktion nicht zur „Öffentlichkeitsarbeit“ der Fraktion gehören, sowenig gehört es hierher, zu zeigen, daß der Fraktionsvorsitzende ein Fußballfan – oder, um beliebiges anderes zu nennen, Weinkenner oder Bierdeckelsammler ist – oder zuhause unter Bettzeug mit USFlaggen-Dessin schläft. Eine derartige Feststellung sollte eigentlich eine Platitüde sein. Wen das freilich nicht eo ipso überzeugt, der sollte wenigstens die gewählten Worte, zu denen ja Böhr bekanntlich niemand gezwungen hatte17, ernst nehmen. Wie man bei den Worten: „Nix Politik, Fußball!“ ernsthaft noch behaupten können will, das habe – auch nur entfernt – etwas mit der Tätigkeit der Fraktion zu tun18, wird wohl ein ewiges Geheimnis der
__________ 16 Staatsfinanzierte Öffentlichkeitsarbeit einer Fraktion für die jeweilige Mutterpartei kann den Spendenbegriff der §§ 25, 27 Abs. 1 PartG erfüllen und Sanktionen nach § 23a Abs. 1 PartG auslösen, vgl. dazu näher Morlok, NJW 2000, 761 ff.; U. Müller/S. Albrecht, DVBl. 2000, 1315 ff. So denn jetzt auch VG Berlin in der Klage der CDU gegen diesbezügliche Sanktionen des Bundestagspräsidenten in re Böhr, Aktenzeichen VG 2. Kammer vom 26. 11. 2004 – VG 2 A 146.03, zitiert in Die Welt, 27. 11. 2004, S. 4 (Guido Heinen); lt. FAZ vom 14. 1. 2005, S. 4; GeneralAnzeiger vom 14. 1. 2005, S. 5, hat die CDU nach Angaben des rheinland-pfälzischen Landesverbandes das Strafgeld akzeptiert und keine Revision eingelegt, wodurch das Urteil rechtskräftig geworden ist. Die für diese Parteiwerbung aufgewandten Fraktionszuschüsse in Höhe von 33.745,26 Euro hätten die Landes-CDU finanziell entlastet beziehungsweise die Parteiwerbung überhaupt erst ermöglicht. Deswegen liege ein Verstoß der CDU gegen das Spendenannahmeverbot nach dem PartG vor. Dies löse eine Sanktion in Höhe des dreifachen Spendenbetrages aus. Vgl. dazu § 31c Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 25 Abs. 2 Nr. 1 PartG: Die Zweckentfremdung der Fraktionsgelder stellt zugleich eine „Spende“ an den Landesverband der CDU i. S. d. PartG dar; vgl. i. ü. Müller/Albrecht, DVBl. 2000, 1315 (1323 f.). 17 Jedenfalls wurde Gegenteiliges nirgends vorgetragen. 18 Auch der Satz: „Fair Play … ist in der Politik gefragt. Der Name Christoph Böhr steht für Menschlichkeit und fairen Umgang miteinander“, macht aus dem Flugblatt (mit den – vorgeblich – von Böhr gestalteten Spielpaarungs-Tabellen) noch keine Information über die Fraktionsarbeit, – zumal dies, nach dem oben Ausgeführten, gar nicht reichen könnte, um den Fraktions-Bezug herzustellen. – Permissiv demgegenüber auch Kretschmer, ZG 2003, 1 (11).
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Exegeten bleiben müssen. Difficile est satiram non scribere, meinte schon Juvenal19. Man muß schon Nebelkerzen werfen20, um im vorliegenden Fall den Eindruck zu erwecken, die – in der Tat problematische – Grenzziehung zwischen Parteien- und Fraktionsfinanzierung sei hier thematisch21, 22. Man mag die Position des Vorprüfungsausschusses des BVerfG23 oder auch die Rechtsprechung des BGH für falsch halten, aber dann sollte man das offen sagen – und gegen sie ankämpfen. Ob dies für den strafrechtlichen Vorwurf der Untreue24 reicht, ist zunächst einmal eine ganz andere, im Organstreit-Verfahren gar nicht (oder allenfalls als psychisches Movens) belangreiche Frage. Dennoch sei diese Frage, weil sie das Gericht anscheinend besonders umtrieb, vorab beleuchtet.
__________ 19 Es ist schwierig, keine Satire zu schreiben! Juvenal Satire 1, Zeile 30. 20 So in der Tat Heintzen, DVBl. 2003, 706. Generell äußerst großzügig Depenheuer, Selbstdarstellung der Politik (2002), S. 57 ff. – Vgl. demgegenüber Müller, NJW 1990, 2046, 2047: „So hat das BVerfG in seinem Beschluß vom 19. 5. 1982“ (BVerfG [Vorprüfungsausschuß] NVwZ 1982, 613 = DÖV 1983, 153 mit allgemein krit., aber insoweit zust. Anm. v. Arnim) den Einsatz von öffentlichen Fraktionsmitteln zu Wahlkampfzwecken für unzulässig erklärt, da die anvertrauten öffentlichen Mittel von einem Teil eines Staatsorgans nicht zu einseitiger Parteinahme verwendet werden dürfen.“ 21 Vgl. aber auch Kretschmer, ZG 2003, 1 (7), der den „politischen Ermessensspielraum“ (vgl. § 5 I 3 FraktG RhPf) der Fraktion gegenüber dem (Landes-)Rechnungshof/Staatsanwaltschaft bei der Verwendung der Fraktionsgelder grundsätzlich betont, sich jedoch im Falle der WM-Prospekte nicht entscheiden mag, ob dies noch dem „prüfungsfreie(n) Arkanbereich“ (BT-Drucksache 12/4756, S. 9) der Fraktionen unterfalle. 22 Vgl. auch Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen (2001), S. 643, der die bundes- und landesrechtlichen Prüfungsbeschränkungen für die Rechnungshöfe für „etwas Selbstverständliches“ und damit Überflüssiges hält; ihre Erwähnung im Gesetz sei damit zu erklären, „daß sich die Gesetzgeber nicht überwinden konnten, sich in vollem Umfang von ihrer jahrzehntelangen (ungerechtfertigten) weitgehenden Prüfungsfreiheit zu verabschieden.“ 23 BVerfG DöV 1983, 153 (m. krit. Anm. v. Arnim) [= NVwZ 1982, 613]; so schon BVerfGE 20, 56 (105). Um den dort beanstandeten Verwendungen von Fraktionsgeldern zur „verschleierten Parteienfinanzierung“ entgegenzuwirken, haben § 50 Abs. 4 Satz 2 (Bundes)AbgG, § 25 Abs. 2 PartG (ähnlich: § 2 Abs. 1 Satz 2 PhPf FraktG) derartiges für unzulässig erklärt. 24 Eine erneute Einstellung des Verfahrens wäre wohl nicht eben leicht gefallen, da gegen Böhr, wie auch gegen andere prominente MdL, auch anderer Parteien, 1997 im Zusammenhang mit der ominösen sogenannten Besucherkontenaffäre (generöse Einladung und Bewirtung von einfachen Parteimitgliedern und sonstigen Interessieren, etwa zu Theater- oder Kabarett-Aufführungen, zu Lasten der parlamentarischen Besucher-Etats) schon einmal ein Verfahren nach § 153a StPO eingestellt worden war, vgl. FAZ v. 25. 6. 1999 und v. 22. 9. 1997; Böhr hatte seinerzeit 10 400 DM an eine gemeinnützige Organisation und ein vierstelliges Bußgeld gezahlt; vgl. zur Phänomenologie auch OLG Koblenz NJW 1999, 3277, vgl. i. ü. Welt v. 6. 1. 2001.
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Fragen läßt sich, ob in Fällen wie diesem Untreue vorliegen kann, in denen eine Fraktion selbst per Fraktionsbeschluß (oder einer ihrer Organwalter, ob nun innerhalb dessen per Fraktionsbeschluß fixierten Handlungsspielraums, wie Lesch unterstellt, oder außerhalb, wie man vielleicht, mit Blick auf die harschen finanziellen Sanktionen, die derartige finanziellen Übergriffe neuerdings nach sich ziehen können25, eher wird unterstellen dürfen) über die Verwendung von Fraktionszuschüssen entscheidet und dabei die externen Grenzen des Zulässigen überschreitet, – wie z. B., wenn man eine Zeitungsanzeige schalten läßt, die auf Grund ihres (vorrangig/ausschließlich) werbenden Charakters für einen einzelnen Mandatsträger nicht mehr durch das „Recht auf Öffentlichkeitsarbeit“ gedeckt ist. 1. Fraktionszuschüsse als allgemeine Haushaltsmittel Nun hat gerade Lesch26 differenziert zu zeigen versucht, daß Fraktionszuschüsse nicht als allgemeine Haushaltsmittel des Parlaments anzusehen seien, sondern dem Vermögen der Fraktion unterfielen. Daß den Fraktionen die Geldmittel dergestalt zur Verfügung gestellt werden, daß die zuständigen Fraktions-Organwalter darüber verfügen können, hindert m. E. freilich nicht notwendig die Treubruchs-Variante. Das Handeln im Rahmen des rechtlichen Könnens im Außenverhältnis, unter Überschreitung des rechtlichen Dürfens im Innenverhältnis gegenüber dem Befugnisgeber i. w. S. ist ein – elementares – Tatbestands-Kriterium des § 266 – in der Mißbrauchsvariante; in der Treubruchsvariante bedarf es – „nur“ – der Verletzung einer garanten-ähnlichen „Vermögensfürsorgepflicht“27.
__________ 25 Die Rechtsgrundlage ergibt sich aus § 31c Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 25 Abs. 2 Nr. 1 PartG: Die Zweckentfremdung der Fraktionsgelder stellt zugleich eine „Spende“ an den Landesverband der CDU i. S. d. PartG dar – vgl. Müller/Albrecht, DVBl. 2000, 1315 (1323 f.): „Die Zuwendung geldwerter Leistungen, insbesondere auch in Form selbst erbrachter … Dienstleistungen durch Fraktionen an die hinter ihnen stehenden Parteien fällt somit ohne weiteres unter den Spendenbegriff der §§ 25, 27 Abs. 1 PartG. Damit eröffnet sich das weite Feld der üblichen parteinützlichen Aktivitäten der Fraktionen für die Anwendung des parteienrechtlichen Fraktionsspendenbegriffs.“ Das Verhalten von Böhr zieht somit eine doppelte Konsequenz nach sich: Anspruch des Landtages/LT-Präsidenten gegen die CDU-LT-Fraktion aus § 6 Abs. 1 FraktG RhPf auf Rückerstattung der zweckwidrig verwendeten Gelder nach den Regeln der ungerechtfertigten Bereicherung und Anspruch des BTPräsidenten nach dem Parteiengesetz (s. o.) gegen die Landespartei in dreifacher Höhe. (Das Parteienrecht unterfällt der ausschließlichen Bundeskompetenz, Art. 21 Abs. 3 GG.) 26 Lesch, ZRP 2002, 159 ff. 27 So, plakativ, Welzel, Lb11, § 56 B (S. 386); Sax, JZ 1977, 702 (706); zust. LK11Schünemann (1998), § 266 Rz. 58 f.; vgl. aber auch NK-Kindhäuser, § 266 Rz. 92: Tathandlung: ein im Pflichtenkreis des Täters liegendes Verhalten, das nicht mehr von dessem rechtlichen Dürfen im Innenverhältnis gedeckt sei.
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Allerdings werden die Zuschüsse an die Fraktionen nicht als Haushaltsmittel zugewiesen, sondern durch „Auszahlung von Geldern“ zur Verfügung gestellt28, obwohl sie (‚natürlich’) haushaltsmäßig veranschlagt werden müssen29. Sie werden also als eine Zuwendungsform sui generis behandelt30. Nun ist an zahlreichen Stellen im Gesetz den Fraktionen die Pflicht auferlegt, ausgezahlte Gelder „zurückzuzahlen“ bzw. „zurückzuerstatten“, soweit sie nicht oder nicht zweckgerecht verbraucht worden sind31. Gerade dieser letztgenannte Sachverhalt (wie auch der nachfolgende) nähren aber m. E. durchaus – entgegen Lesch32 – die Annahme von einer treuhänderischen Bindung des Geldes: Das Geld wird mit einer bestimmten Maßgabe – und nur zu Erfüllung dieser Maßgabe – seitens des Staates bereitgestellt. Dafür spricht auch die in vielen Gesetzen angeordnete Buchführungspflicht33 wie auch die Tatsache, daß wohl alle Fraktions- und Abgeordnetengesetze, als leges speciales gegenüber der Bundes- bzw. der jeweiligen Landeshaushaltsordnung, Regelungen enthalten, die detailliert den Umfang so-
__________ 28 § 10 Abs. 1 Satz 1 BerlFraktG; § 8 Abs. 1 BbgFraktG; § 54 Abs. 3 Satz 2 MVAbgG; § 4 Abs. 1 Satz 1 FraktG NW (wo nicht mehr von nicht von Auszahlung oder Anspruch die Rede ist, sondern es nunmehr heißt, daß die Fraktionen monatlich im Voraus Zuschüsse erhalten); § 2 Abs. 5 RhPfFraktG; §§ 50 Abs. 1, 59 Abs. 3 ThürAbgG. 29 Vgl. für die Bundestagsfraktionen die ausdrückliche Regelung des § 50 Abs. 1 AbgG. 30 Denn es handelt sich nach Braun/Jantsch/Klante, Abgeordnetengesetz (2002), § 50 Rz. 7, haushaltsrechtlich um eine Sonderform der Bereitstellung von Haushaltsmitteln, die in dieser Form ohne Beispiel sei. Weder sei eine Qualifizierung als Haushaltsmittel (Fraktionen seien zwar in die Staatlichkeit eingefügt, aber nicht mit dieser gleichzusetzen) noch als Zuwendungen i. S. d. § 23 BHO (Fraktionen sind ein Teil des Staates und stehen nicht außerhalb von diesem) oder Zuschüsse (da ein Rechtsanspruch besteht). S. dazu auch BT-Drs. 12/4756, S. 5 (wo die Gelder als „gemeinschaftliche Amtsausstattung der in der Fraktion zusammengeschlossenen Parlamentsmitglieder“ bezeichnet werden) und Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen (2001), S. 501. 31 Art. 4 Abs. 1 BayFraktG; § 4 Abs. 1 BadWürttFraktG; § 6 Abs. 1 BbgFraktG; § 4 Abs. 1 HessFraktG; § 33c Abs. 1 NdsAbgG; § 6 Abs. 1 RhPfFraktG; § 10 Abs. 1 SaarlFraktG; § 4 Abs. 1 SachsAnhFraktG; § 4 SächsFraktG; § 56 Abs. 1 ThürAbgG. – Allerdings folgt aus einer Rückzahlungspflicht alleine noch nicht die apostrophierte Vermögensfürsorgepflicht. 32 Lesch, ZRP 2002, 159 (161), der, unter Berufung auf Fensch, ZRP 1993, 209 f.; Papier, BayVBl. 1998, 513 (517); Schneider, Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen als staatliche Aufgabe (1997), S. 104, besonders – und mit Recht – betont, daß die Fraktionszuschüsse in der Staatspraxis eine deutlich andere rechtliche Behandlung als die allgemeinen Etatmittel des Bundes und der Länder erführen. – I. E. ebenso: Tröndle/Fischer52, § 266 Rz. 48. 33 § 51 Abs. 1 AbgG; Art. 5 BayFraktG; § 5 BadWürttFraktG; § 9 BbgFraktG; § 3 Abs. 1 HbgFraktG; § 5 HessFraktG; § 33 NdsAbgG; § 3 Abs. 2 RhPfFraktG; § 4 SächsFraktG; § 5 SachsAnhFraktG; § 53 ThürAbgG.
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wie die Art und Weise der Rechnungslegung festlegen34. Gerade weil es sich nicht um private Geld-Transfers handelt, scheinen mir die von Lesch35 herangezogenen ‚Parallelen im Negativen’ nicht vergleichbar: Weder handelt es sich um (z. B. private) Spenden, die der Nehmer, den Auflagen des Spenders zuwider, verwendet, – noch um Schenkungen unter Auflagen, die der Beschenkte nicht erfüllt – in welchen Fällen eine Untreue tatsächlich zu verneinen ist. Vielmehr handelt es sich um hoheitliche Mittelvergabe, die stets und ausschließlich im Rahmen der Gesetze stattfinden darf36. Deswegen halte ich die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur „Haushaltuntreue“ für Fälle des vorliegenden Typs immerhin für erwägenswert37, 38.
__________ 34 Lesch, ZRP 2002, 159 (161); ebenso für die Regelung in Art. 6 BayFraktG: SchmidtBens, ZRP 1992, 281 (282). Vgl. auch Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, S. 634, der die besonders umfangreiche Vorgabe für die Rechnungslegung in Rh-Pf (§ 4 Abs. 3 FraktG RhPf) mit der knappen bundesrechtlichen (§ 52 Abs. 2 Nr. 1 AbgG) vergleicht. 35 Lesch, ZRP 2002, 159 (161). 36 Vgl. Kretschmer, ZG 2003 1 (20) „Fraktionen sind der »organisierten Staatlichkeit eingefügt« (BVerfGE 20, 56 (104) und operieren im Bereich des öffentlichen Rechts, genauer des Parlamentsrechts.“ 37 Vgl. BVerfG (Wüppesahl-Urteil): „Der verfassungsrechtliche Prüfungsauftrag des Bundesrechnungshofes umfaßt die Rechtmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Verwendung von Fraktionszuschüssen in gleicher Weise und nach den gleichen verfassungsrechtlichen und haushaltsrechtlichen Maßstäben wie bei anderen Etatmitteln auch“, BVerfGE 80, 188 (214); so auch Müller/Albrecht, DVBl. 2000, 1315 (1318). – Kretschmer, ZG 2003, 1 (27) hält jedoch diese Passage für „beiläufig“ und leicht fehlzuinterpretieren (ähnlich Martin, Staatliche Fraktionsfinanzierung in Rheinland-Pfalz, S. 120 f. – bloßes „obiter dictum“) – die Anwendung der einschlägigen haushaltsrechtlichen und strafprozessualen Vorschriften müßten „parlamentsrechtliche Besonderheiten“ berücksichtigen (womit er sich inzident gegen Haushaltsuntreue ausspricht). Auch Schneider, Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen als staatliche Aufgabe (1997), S. 187, hält diesen Passus für problematisch, da er vor der Gesetzesänderung formuliert worden sei, derzufolge Fraktionen Gelder nicht mehr als bloße Zuwendungen, sondern aufgrund eines gesetzlichen Anspruchs erhalten. Dagegen aber wiederum Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen (2001), S. 632 f.: „Es handelt sich bei den Fraktionsmitteln insofern um eine „Sonderform der Bereitstellung von Haushaltsmitteln“, … Diese „Sonderform“ schließt aber die Anwendung des Haushaltsrechts nicht aus, so daß keine Lücke besteht, die mit Hilfe einer partiellen Anwendbarkeitserklärung von haushaltsrechtlichen Normen geschlossen werden müßte, …“ 38 Man mag diese Grundsätze kritisieren; vgl. dazu u. a. Bieneck, wistra 1998, 249 (250 f.); Brauns, JR 1998, 381 (384), Munz, Haushaltsuntreue (Diss. Greifswald, 2000), S. 158 (die sich alle kritisch mit der Entscheidung BGHSt 43, 293 ff. [„Intendanten-Fall“] beschäftigen, die wegen der dort vorgenommenen Übertragung der Regeln über den individuellen Schadenseinschlag auf den Nachteilsbegriff des § 266 heftig kritisiert wurde. Allgemein: LK11-Schünemann (1998), § 266 Rz. 121, 143 f. – Da sich der Gesetzgeber in ungenierter Selbstbegünstigung nicht nur gegen die Vertatbestandlichung der „Amtsträgeruntreue“ sperrt, sondern auch – z. T. im offenen Widerspruch zu den Anforderungen des BVerfG – sich immer neue Fluchtwege aus einer geordneten, kontrollierbaren, also „demo-
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Lesch hält dem entgegen, die Fraktionen seien als „rechtlich verselbständigte und auf Grund ihrer spezifischen Funktion gegenüber der Staatlichkeit eigenständige, d. h. außerhalb der öffentlichen Verwaltung stehende39 Empfänger staatlicher Leistungen zu qualifizieren40, obgleich sie als notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens und Gliederungen des Parlaments in den staatlichen Willensbildungs- und Kontrollprozeß und damit – aber eben nur insoweit, scil. nur im politischen Sinne! – der organisierten Staatlichkeit eingefügt“41 seien. Aber selbst wenn man, mit Lesch, der Auffassung ist, daß das Geld in die vollständige Verfügungsmacht der Fraktion übergegangen sei und somit keine treunehmerischen Bindungen mehr verletzt werden könnten, bliebe doch noch zu erwägen, ob nicht die Fraktion selbst die Geschädigte der Aktionen von ihrem Fraktions- (und Partei-)vorsitzenden sein könnte. 2. Fraktionen als rechtsfähige Einheiten: (Aus)Wirkungen des Einverständnisses der Fraktionsmitglieder Auch dies verneint Lesch – in bemerkenswerter teilweiser Umkehr der bisherigen Argumentation42, freilich mit besonderem Scharfsinn: Während er soeben noch die rechtliche Eigenständigkeit der Fraktion (gegenüber dem
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kratischen“, Parteien- und Fraktions-Finanzierung zu schlagen sucht (vgl. zu dem letzten, ziemlich schamlosen Anlauf der Finanz-Obleute der meisten Parteien – die Grünen bilden hier gelegentlich eine rühmliche Ausnahme – hierzu Spiegel v. 20. 9. 2004, S. 38 f.; SZ v. 17. 9. 2005, S. 2; vgl. i. ü. schon Spiegel v. 2. 1. 2002, S. 28 ff.), handelt es sich um einen – metaphorisch gesprochenen – Akt justitieller Nothilfe, um das verbreitete „Enrichissez-vous“ der Politiker-Kaste auf ein Maß zurückzudämmen, das mit deren gleichzeitigen politischen Verlautbarungen, der Bürger müsse den Gürtel enger schnallen (Schröders „Vollkasko-Mentalität“), noch in einen sozial-erträglichen Accord gebracht werden kann. Ernüchternd auch die (trotz Bitte um Stellungnahme undementierte) Aufzählung von Beispielsfällen, wie ungeniert man sich bei der hoch verschuldeten rheinland-pfälzischen CDU des nie versiegenden Topfes der Fraktionskasse bediente, um Partei-Unkosten zu begleichen, Wilfried Voigt, Der Spiegel v. 7. 5. 2001, S. 30 (Überschrift: „Edler Käse mit Brezel“). – Zu früheren Usancen der rheinland-pfälzischen CDU vgl. etwa Klingenschmitt, taz 8. 5. 2001, S. 3. Allgemein zu den – parteiübergreifenden – Mißbräuchen auf diesem Feld: v. Arnim, Die Partei, der Abgeordnete und das Geld (1996), S. 131 ff.; ders., Finanzierung der Fraktionen … (1993), S. 1 f. und passim. – Mit der nächstliegenden These, daß sich die Öffentlichkeitsarbeit der Fraktionen im Parlament abzuspielen habe, und alle andere der jeweiligen Partei obliege, wird man – angesichts der bisherigen, gewachsenen Deformationen – wohl nicht mehr auf Gehör rechnen dürfen. Vgl. auch etwa Art. 1 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BayFraktG und § 1 Abs. 1 RhPfFraktG. Schneider, Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen als staatliche Aufgabe (1997), S. 104; Martin, Staatliche Fraktionsfinanzierung in Rheinland-Pfalz (1995), S. 118; Papier, BayVBl. 1998, 513 (518). Lesch, ZRP 2002, 159 (161) unter Berufung auf Fensch, ZRP 1993, 209 (210). Lesch, ZRP 2002, 159 (162 f.).
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Parlament)43 besonders betont hat, streicht er nunmehr heraus, daß die Fraktion keine Juristische Person sei und deswegen die bei dieser gelegentlich praktizierten Untreue-Regeln (§ 266 sei bei vermögensschädigenden Transaktionen trotz Zustimmung der Außenvertretungs-Befugten zu bejahen)44 hier nicht einschlügen. Nun läßt sich schwerlich bestreiten, daß Fraktionen nicht notwendig den Rechtsstatus einer Juristischen Person haben müssen45.
__________ 43 Lesch, ZRP 2002, 159 (161, bei Fn. 37), in der Sache durchaus mit Recht, vgl. nur Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen (2001), S. 326; Kretschmer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG10 (2004), Art. 40 Rz. 54; Papier, BayVBl. 1998, 513 (518); Schneider, Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen als staatliche Aufgabe (1997), S. 104. – A. A. freilich Depenheuer, Selbstdarstellung der Politik (2002), S. 57 (64), der die Fraktion für vollständig akzessorisch zu den Abgeordneten hält. 44 Etwa bei einer Zustimmung der Gesellschafter zu einer (das durch § 30 GmbHG geschützte Stammkapital angreifenden) Verfügung über das Vermögen einer GmbH (BGHSt 35, 333 [336 f.] = NJW 1989, 112; BGH wistra 1990, 99; BGH NJW 2000, 154), zu einer rechtswidrigen Verwendung von Mitteln einer verfaßten Studentenschaft als öffentlich-rechtlicher Körperschaft mit Zwangsmitgliedschaft (BGHSt 30, 247 = NJW 1982, 346; OLG Hamm NJW 1982, 190 ff.) oder zu einer satzungswidrigen Verwendung von Mitteln eines rechtsfähigen Vereins (OLG Hamm wistra 1999, 350). 45 Allerdings spricht § 1 Abs. 1 RhPf FraktG davon, daß die Fraktion eine „rechtsfähige Vereinigung“ sei. – Siehe auch § 46 AbgG für BT-Fraktionen (Absatz 1 „rechtsfähige Vereinigungen“; Absatz 2 „Die Fraktionen können klagen und verklagt werden“). Kretschmer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG10 (2004), Art. 40 Rz. 63: „Die Fraktionen sind im Organstreit parteifähig, außerdem auch in Verfahren vor den ordentlichen Gerichten, Arbeitsgerichten oder Verwaltungsgerichten (§ 46 Abs. 2 AbgG).“ – Über die Rechtsnatur der Fraktionen bestand und besteht bis heute nicht unerheblicher Streit (vgl. nur Jekewitz, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis [1989], § 37 Rz. 53 f.; Wolters, Der FraktionsStatus [1996], S. 251 f.). Vom nichtrechtsfähigen Verein des Privatrechts bis hin zur Körperschaft des Öffentlichen Rechts wird hier eine Menge an kuriosen bis erwägenswerten Varianten vertreten. – Daraus ergaben sich erhebliche Unsicherheiten für die Rechte und Pflichten der Fraktionen im Rechtsverkehr, insbesondere deren Stellung als Arbeitgeber, deren Fähigkeit, Vermögen zu erwerben, und deren Parteifähigkeit vor Gericht. Um diesbezüglich partielle Klarheit zu schaffen (vgl. BT-Drs. 12/4756, S. 4), schuf der Bundesgesetzgeber 1994 § 46 AbgG, der bestimmt, daß – die Fraktion eine rechtsfähige Vereinigung von Abgeordneten sei (Abs. 1) und – klagen und verklagt werden könne (Abs. 2). – Ausweislich der Motive des Gesetzgebers sollte damit jedoch nicht der Rechtsstatus der Fraktionen geregelt, sondern nur den genannten Defiziten im Rechtsverkehr abgeholfen werden (siehe Braun/Jantsch/Klante, Abgeordnetengesetz [2002], § 46 Rz. 1 ff.; Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen [2001], S. 174 f.), indem ihnen eigenständige Rechte und Pflichte zu begründen ermöglicht wurden, die nicht dem Bund zugerechnet werden. Die oben bezeichneten Streitigkeiten über die Rechtsnatur der Fraktion leben daher weiter (Braun/Jantsch/Klante, Abgeordnetengesetz [2002], § 46 Rz. 1; Maurer, StaatsR3 [2003], § 13 Rz. 108), haben aber an praktischer Bedeutung verloren. – Wenn Lesch, ZRP 2002, 159 (162), behauptet, die Fraktionen seien nur gegenüber der Staatlichkeit rechtlich verselbständigt, so ist das jedenfalls falsch: Vgl. etwa Morlok, NJW 1995, 29 (31), der darauf hinweist, daß mit
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Aber ebensowenig wird man bestreiten dürfen, daß in Rheinland-Pfalz46 diese Frage zugunsten einer – wie auch immer im Detail zu beschreibenden und zu klassifizierenden – Rechtsfähigkeit aufgelöst ist47. Ein wichtiger Fingerzeig hierfür dürfte Art. 85a RhPfVerf zu entnehmen sein48. Daß die dortigen Fraktionen selbständige Trägerinnen von Rechten und Pflichten sein und Vermögen bilden können, welches wiederum durch ein nach § 266 verbotenes Verhalten geschädigt werden könnte, sollte man daher eigentlich nicht in Zweifel ziehen. Auf die präzise dogmatische Einordnung ihrer Rechtsfähigkeit dürfte es daher in concreto dabei nicht ankommen49.
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der Novellierung des AbgG und der damit einhergehenden Verleihung der „Rechtsfähigkeit“ (!) das Problem gelöst sei, daß Streitigkeiten zwischen Fraktion und -mitarbeitern nunmehr eindeutig dem Arbeitsrecht zuzurechnen seien, die Fraktionen seien selbst Arbeitgeber. Vgl. ferner etwa Kretschmer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG10 (2004), Art. 40 Rz. 54: „Das BVerfG hat allerdings die Rechtsnatur der Fraktionen noch nicht ausdrücklich definiert. Der Rechtsstatus der Fraktionen ist bisher auch umstritten geblieben. Die Rechtsstellung von Fraktionen wird teilweise dem Zivilrecht, teilweise dem öffentlichen Recht zugeordnet. Da die Mandatsrechte zum öffentlichen Recht, genauer zum Verfassungsrecht, gehören, läßt sich die These nicht mehr aufrechterhalten, Fraktionen seien nichtrechtsfähige Vereine des Privatrechts (so aber noch jüngst OLG Stuttgart, NJW-RR 2004, 619 [620]; a. A. [wie rechtsfähige Verein zu behandeln]: Winterhoff, Rechtsnachfolge in den Liquidationssaldo?, ZParl 2003, 730 [740 f.]). Inzwischen haben im Gegenteil die Gesetze des Bundes und der Länder … eine Zuordnung der Fraktionen zum öffentlichen Recht bestätigt und ihnen ausdrücklich Rechtsfähigkeit zugestanden (vgl. § 46 AbgG).“ Später spricht aber auch er von einem Rechtscharakter „sui generis“. Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen [2001], S. 326, bezeichnet sie als „juristische Personen des Parlamentsrechts“. … wie im Bund und in allen anderen Bundesländern, vgl. im einzelnen Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen [2001], S. 180 ff., speziell für Rheinland-Pfalz S. 218. Vgl. auch Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen [2001], S. 218 f.: Mit § 1 Abs. 1 RhPfFraktG „wird – ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs – klargestellt, daß die Fraktionen auch gegenüber dem Parlament und seiner Verwaltung rechtlich selbständig sind, nicht als Organe des Parlaments für das Land handeln, sondern unter ihrem eigenen Namen am Rechtsverkehr teilnehmen.“ (unter Hinweis auf RhPfLT-Drs. 12/3756, S. 8). „… die Fraktionen wirken mit eigenen Rechten und Pflichten an der Willensbildung des Landtages mit …“. Auch in der Kommentierung von Schneider, in: Grimm/Caesar, Verfassung für Rheinland-Pfalz [2001], Art. 85a Rz. 4, wird betont, daß es sich bei den Fraktionsrechten um eigene „originäre Rechte“ handelt, „die den Fraktionen auf Grund Parlamentsrechts zustehen, und nicht etwa um Rechte, die von den Abgeordneten abgeleitet, übertragen oder treuhänderisch übertragen werden.“ An diesem Passus wird deutlich, daß das Vermögen der Fraktion als solcher zusteht und nicht etwa den einzelnen Mitgliedern bruchteilig. – Um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, vor einer „sauberen Zuordnung“ zurückgeschreckt zu sein, sei die eigene Sicht immerhin mitgeteilt: Es handelt sich bei der Fraktion um eine Juristische Person des Parlamentsrechts, und damit um ein ganz eigentümliches Rechtssubjekt, aber eben ein Rechtssubjekt. So auch § 2 Abs. 4 BerlFraktG: „Die Fraktionen sind, so-
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aa) Dann bleibt aber immer noch der Lesch’sche Einwand, die Fraktion habe der Mittel-Verwendung doch zugestimmt. Ein solches tatbestands-ausschließendes Einverständnis mag man bei einer reinen Personen-Vereinigung erwägen. Sobald wir in den Bereich der Juristischen Person gelangen, verschieben sich die Akzente. Bei den wirtschaftlich tätigen Juristischen Personen ist jener Schutz der Rechtsperson vor ihren eigenen Vertretungsberechtigten wohl völlig unstrittig50. Der eigentliche – freilich von der Rechtsprechung geraume Zeit verschämt verheimlichte51 – Grund hierfür ist der Gläubiger-Schutz. Dieser Aspekt spielt bei einer nicht werblich-wirtschaftlich auftretenden Rechtsperson vielleicht keine so zentrale Rolle. Vernachlässigbar ist er aber auch hier keineswegs. Selbst wenn den Fraktionen – zweifelhafterweise – immer wieder Geld „nachwächst“, können sie sich finanziell übernehmen – etwa durch Imponiergehabe bei Fraktionsausstattungen o. ä. Deswegen wird man diesen Leitgedanken nicht völlig vernachlässigen dürfen. Daneben besteht aber die grundsätzliche Notwendigkeit, eine Rechtsperson, die nur durch andere, natürliche Personen zu handeln imstande ist, vor dem kollusivem oder sonst rechtswidrigen Befugnis-Gebrauch der Letztgenannten zu schützen. Nun geht aus dem Urteil des RhPfVerfGH – wie auch aus der seinerzeitigen Berichterstattung über den Vorgang – nicht hervor, daß der Vorstand überhaupt mit der Vergabe des Auftrags befaßt, geschweige denn, daß sie von der Fraktionsführung in Mehrheit oder gar in Gänze gebilligt worden ist. Insofern sind die Überlegungen zu einem tatbestands-ausschließenden Einverständnis der Berechtigten (infolge Zustimmung zu der Auftrags-Vergabe durch die vertretungsberechtigten Vorständler) eher eine Hilfserwägung52.
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weit sie am allgemeinen Rechtsverkehr teilnehmen, juristische Personen des Parlamentsrechts mit originärem Rechtscharakter, die unter ihrem Namen klagen und verklagt werden können.“; vgl. auch § 1 Abs. 2 Satz 1 SächsFraktG. 50 BGHSt 35, 333 (336 ff.); vgl. auch BGHZ 31, 258 (278); 95, 330 (340); ähnlich BGH NStZ 1995, 185 f.; 1996, 540 (542); NJW 2003, 2996 (2998); Krekeler/Werner, StraFo 2003, 374 (376 f.); Lackner/Kühl25 (2004), § 266 Rz. 20; Ransiek, Kohlmann-FS (2003), S. 207; Wessels/Hillenkamp, BT II27 (2004), Rz. 761. Ratio ist der Mißbrauchs-Gedanke: Man könne nicht als Gesellschafter sich einerseits auf die Vorteile der Vermögenstrennung berufen, wenn es um die Haftung gehe, andererseits sich aber wie der Vermögensinhaber benehme, wenn man der GmbH willkürlich wirtschaftliche Vorteile zu eigenem Vorteil entziehe, Birkholz, Untreuestrafbarkeit (1996), S. 84. – Dagegen aber, unter dem Gesichtspunkt der „Schutzzweckverlagerung“ bzw. „Rechtsgutsvertauschung“, Schönke/Schröder26-Lenckner/Perron (2001), § 266 Rz. 21; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht (1997), S. 565 f.; Tröndle/Fischer52 (2004), § 266 Rz. 53. 51 Birkholz, Untreuestrafbarkeit (1996), S. 41 f. 52 Der VerfGH spricht nur davon, daß Böhr „sowohl in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Ast. als auch als Vorsitzender des Landesverbands der CDU RheinlandPfalz eine Werbeagentur mit der Erstellung eines neuen gemeinsamen Erscheinungsbildes von Landesverband und Fraktion sowie mit der Produktion verschiedener Rahmenmaterialien (Briefpapier, Grußwortkarten etc.) beauftragt“ habe. Aber möglicherweise weiß Lesch, der mutmaßlich in das Verfahren involviert war,
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Aber selbst wenn man die von Lesch ventilierte Variante als tatsächlich gegeben unterstellt, bleibt doch immer noch die Frage zu beantworten, ob dann nicht – möglicherweise – der Vorstand/die Zustimmenden in seiner/ ihrer Gesamtheit, also mittäterschaftlich53, den Tatbestand verwirklicht haben könnte(n). Die kruziale Frage ist also, ob – bei Einigkeit der Vertretungsberechtigten – selbst die unsinnigste, schädlichste Vermögenstransaktion aus dem Bereich des Untreue-Erheblichen eskamotiert ist – oder nicht. Die Frage zu stellen heißt, sie zu verneinen – jedenfalls auf der Basis der h. M., die eine Untreue qua Handeln der Vertretungsberechtigten für möglich hält!54 Auch wenn die Fraktion eine Juristische Person sui generis ist, so ist sie doch öffentlich-rechtliche Trägerin von Rechten und Pflichten. Der Schaden besteht darin, daß ihr Liquidität infolge einer Transaktion entzogen wird, zu der die Vertretungsberechtigten – wegen Gesetzeswidrigkeit – niemals ihre Zustimmung hätten geben dürfen. bb) Einzuräumen ist freilich, daß die Vergleiche mit der Haftung von Vertretungsberechtigten qua § 266 für schädigende Transaktionen bei wirtschaftlich tätigen Juristischen Personen wegen des dort im Vordergrund stehenden Gläubigerschutzes hinken55. Doch ist die Rspr. des BGH auch in anderen Bereichen von Juristischen Personen bisweilen recht hemdsärmelig. Darüber
__________ mehr zu dem Sachverhalt, als das Gericht kundgetan hat. – Immerhin mag das Auftragsvolumen von 150 000 DM dafür sprechen, daß zumindest noch ein weiteres vertretungsberechtigtes Organ zugestimmt hat. 53 Bzw., je nach der faktischen Art, in der der fragliche Beschluß zustande gekommen ist, – nebentäterschaftlich. 54 Vgl. Nw in Fn. 50. 55 Die Unwirksamkeit eines Einverständnisses selbst aller Geschäftsherrn/Gesellschafter wird ausschließlich mit dem Schutz der eigenen Rechtspersönlichkeit der Juristischen Person begründet, so etwa bei der GmbH die Existenzgefährdung der Gesellschaft, etwa bei Beeinträchtigung des Stammkapitals (Verstoß gegen § 30 GmbHG), etwa BGH NJW 2003, 2996 (2998) – wohl, um die in Fn. 50 referierten Gegenargumente nicht behandeln zu müssen. – Eine solche Existenzgefährdung droht aber einer Fraktion aufgrund der permanent zufließenden und als gesetzlicher Anspruch gesicherten Haushaltszuschüsse wohl nicht. (Ob die rechtliche Existenz einer Fraktion de lege lata, selbst durch noch so waghalsige und vermögensschädigende Dispositionen, nicht gefährdet werden kann, ist in den FraktGen und dem [Bundes-]AbgG nicht geregelt. Das wird freilich rechtspolitisch – und mit Recht – kritisiert, so Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen [2001], S. 647. Für eine analoge Anwendung der Insolvenzordnung via §§ 47, 42 BGB – freilich von der dubiosen Prämisse, Fraktionen seien wie zivilrechtliche Vereine zu behandeln, Winterhoff, Rechtsnachfolge in den Liquidationssaldo?, ZParl 2003, 730 [744]. Aus zivilistischer Sicht wird mit dem bloßen Verweis auf den „eindeutigen Wortlaut“ des § 11 Abs. 1 Satz 1 InsO, der ausnahmslos von juristischen Personen spricht, nonchalant (und frei von verfassungsrechtlichen Bedenken) für eine Insolvenzfähigkeit von Parlamentsfraktionen plädiert, Hirte, in: Uhlenbruck, Insolvenzordnung12 [2003], § 12 Rz. 4. – Schließlich wird noch vertreten, juristische Personen des öffentlichen Rechts seien zwar prinzipiell insolvenzfähig, dadurch werde aber ihre Existenz nicht tangiert, vgl. Lehmann, Die Konkursfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts [1999], S. 26).
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hinaus dürfte die bisherige h. M., daß bei Schutz-Destinatären in der Form von bloß verselbständigten Vermögensmassen (z. B. OHG, KG, GbR, VorGmbH) Untreue nicht in Betracht komme56, ins Wanken geraten, seit die Zivilrechtsprechung die Rechtssubjektivität der Außengesellschaft des Bürgerlichen Rechts anerkennt57. Jedenfalls wird jetzt ein dementsprechender (erweiterter) Schutz gefordert58. – Dennoch bleiben weitere Differenzen, die eine platte Parallelisierung der Rechtsprechung zu den wirtschaftlichen Juristischen Personen und ihrer sich diesen annähernden Behandlung von weiteren, werblich tätigen verselbständigten Vermögensmassen nicht unmittelbar nahelegen59 60. – Auch noch andere Unterschiede erscheinen bei den Anleihen an das Zivilrecht berücksichtigenswert: Während Gesellschafter der GbR unbeschränkt persönlich haften, ist die Haftung von Fraktionsmitgliedern weitgehend ausgeschlossen, gerade unter Hinweis auf die rechtliche Selbständigkeit der Fraktion61. Auch steht bei Personengesellschaften
__________ 56 Vgl. nur Lackner/Kühl25 (2004), § 266 Rz. 3. Argument ist zumeist, daß diese keine selbständigen Vermögensträger seien, sondern den Beteiligten gemeinschaftlich zustünden. Hier komme es also darauf an, ob ein vom Täter verschiedener (Mit-) Träger der Vermögensmasse betroffen sei. 57 Vgl. das Grundsatzurteil des II. Zivilsenats des BGHZ 146, 341 [= BB 2001, 374 = NJW 2001, 1056 m.zust.Bespr. K.Schmidt NJW 2001, 993 ff.]. 58 Grunst, BB 2001, 1537 (1540): „Die nunmehr auch für die (Außen-)GbR anerkannte Rechtsfähigkeit und Rechtssubjektivität der Gesamthandsgesellschaften sollte dazu führen, OHG, KG und die Vor-GmbH selbst als Geschädigte anzusehen.“ Für die Vor-GmbH auch Hentschke, Der Untreueschutz der Vor-GmbH vor einverständlichen Schädigungen (2002), S. 150, 220. – Allerdings hat der BGH (St) NJW 2003, 2996 (2999) kürzlich erst apodiktisch festgestellt, eine Untreue bzgl. einer GmbH & Co.KG komme nicht in Betracht – freilich ohne sich mit dem zivilistischen Rechtsprechungs-Wandel oder sonst mit dem Sachproblem auseinanderzusetzen. Als Ausnahme erkennt er nur, wenig stimmig, die existenzgefährdende Vermögensverschiebung an, a. a. O, S. 2998 (entweder besteht die Vermögensfürsorgepflicht, dann kann es jenseits der Bagatellschwelle nicht auf die Schadenshöhe ankommen, – oder sie besteht nicht, dann kann die Schadenshöhe allein, selbst in dem amorphen § 266, keine Tatbestandsmäßigkeit begründen!?). 59 So sind nach Beendigung der Liquidation einer Fraktion verbleibende Geldleistungen oder damit angeschaffte Vermögenswerte an den Landtag zurückzuführen und Sachleistungen zurückzugeben, § 10 Abs. 4 RhPf FraktG. Zu weiteren Ähnlichkeiten und Unterschieden Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen (2001), S. 303 ff. 60 Wenn etwa § 54 Abs. 6 AbgG wie auch der nicht wort-, aber inhaltsgleiche § 10 Abs. 6 Satz 2 FraktG RhPf auf das zivilrechtliche VereinsR (auf § 52 BGB) verweisen, also Teile des Fraktionsrechts dem zivilrechtlichen Vereinsrecht nachempfunden sind (Winterhoff, Rechtsnachfolge in den Liquidationssaldo, ZParl 2003, 730 [741]), so hat das wohl für die oben angeschnittene Thematik der Rechtsnatur keine Aussagekraft. Denn diese Regelung betrifft nur die Liquidation eines Vereins und beruht wohl allein auf dem Umstand, daß das Vereinsrecht ausdifferenzierte Vorschriften über die Liquidation bereitstellt. 61 Martin, Staatliche Fraktionsfinanzierung… (1995), S. 130, – und unter Betonung, daß das Haftungsrisiko bei Mitgliedschaft in einer Fraktion nicht größer sein dürfe als bei einem nicht rechtsfähigen Verein.
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und (nichtrechtsfähigen) Vereinen das persönliche Vertrauensverhältnis zwischen den Gesellschaftern/Mitgliedern im Vordergrund, während für die Juristische Person/den Verein die Veränderlichkeit des Gesellschafter-/Mitgliederbestandes wesentlich ist62. Letzteres gilt aber auch für die Fraktion, deren Existenz nicht vom Bestand ihrer Mitglieder (bis auf ein Mitgliederminimum) abhängt63. Allerdings hat der BGH bei einem (rechtsfähigen) Verein mit ideeller, also (phänotypisch) nicht-wirtschaftlicher Zielsetzung (Deutsches Rotes Kreuz) in dem Fall einer bloß satzungswidrigen Zustimmung der Mitgliederversammlung eines Kreisverbandes eine entsprechende Unwirksamkeit angenommen64. Daß derartige Anleihen aus der Zivilistik sowohl gegenüber dem Verein als auch gegenüber der öffentlich-rechtlichen Körperschaft zu Problemen führen können, zeigt sich zudem in einem besonderen Aspekt der Rechtsnachfolge der „Fraktion“ im Bund und manchen Ländern (allerdings nicht in Rheinland-Pfalz): Aufgrund der Diskontinuität des Parlaments endet die Rechtsstellung einer Fraktion im Bundestag automatisch mit Ende der Wahlperiode, § 54 Abs. 1 Nr. 3 AbgG. Im Gegensatz zum FraktG RhPf (siehe § 9 FraktG) verlangt das (Bundes)AbgG zur Rechtsnachfolge allerdings zusätzlich in § 54 Abs. 7 eine (konstitutive) Nachfolgeerklärung der neugewählten Fraktion65. Auf diese Weise wird also zu Beginn jeder Legislaturperiode eine neue juristi-
__________ 62 Palandt/Heinrichs, BGB63 (2004), Einf. vor § 21 Rz. 13. 63 Das betont auch Lesch, ZRP 2002, 159 (160 ff.) – mit Recht. – Die Fraktion folgt überdies auch, wie jene Juristischen Personen, dem Mehrheitsprinzip, während für die BGB-Gesellschaft das Einstimmigkeitsprinzip gilt. 64 BGH wistra 1999, 350 (353): „Der zustimmende Beschluß der Mitgliederversammlung, der Auswirkungen auf das Vermögen hat, muß also selbst an der Satzung gemessen werden. Verstößt er gegen Bestimmungen der Satzung, ist er nicht nur zivilrechtlich nichtig. Er steht auch der Annahme pflichtwidrigen Handelns der ausführenden Organe nicht entgegen.“ – Allerdings könnte man mittelbar auch hier den (unausgesprochenen) Hintergrund für die Unwirksamkeitserklärung darin sehen, die juristischen Person „Verein“ Existenz zu sichern. Denn der Verein wird gemäß § 42 BGB durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgelöst, „wobei als Eröffnungsgrund sowohl die Zahlungsunfähigkeit als auch die Überschuldung in Betracht kommt (§§ 17, 19 InsO)“, K. Schmidt, GesellschaftsR4 (2002), § 24 Abs. 7 Satz 3 a. – Der BGH hat freilich gerade nicht die Existenzgefährdung, sondern die bloße Satzungswidrigkeit als ausreichend für die Unwirksamkeit der Zustimmung gesehen. – Eisele, GA 2001, 377 (392 f.) hat jedoch mit überzeugenden Argumenten begründet, daß die bloße Satzungswidrigkeit für eine Unwirksamkeitserklärung nicht hinreichend ist. Vielmehr entfaltet auch das satzungswidrige Einverständnis grundsätzlich tatbestandsausschließende Wirkung, solange es einstimmig gefaßt worden ist und dadurch keine mitgliedschaftlichen Rechte der Minderheit verkürzt werden. 65 Die Rechtslage in den übrigen Bundesländern ist unterschiedlich, nach Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen (2001), S. 648 verzichten auch BadenWürttemberg, Bayern, Hessen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen auf eine solche Erklärung einer neu konstituierten Fraktion.
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sche Person des Parlamentsrechts „Fraktion“ geschaffen. Man müßte aber wohl in jenen Ländern, die die Frage wie der Bund geregelt haben, ein Mißbrauchsverbot annehmen, welches verhindert, die Rechtsnachfolge allein wegen der Überschuldung der Vorgängerin (nicht aus politischen Gründen) zu verweigern66. cc) Näher als die Anleihen an das zivilistische Denken und der Befreiung von diesem liegt daher, auf die Juristischen Personen oder sonstige rechtlich Verselbständigungen des Öffentlichen Rechts zu blicken. Hier hat die Rechtsprechung schon wiederholt etwa die konsentierten, aber gesetzes- oder satzungswidrigen vermögenserheblichen Entscheidungen von an sich vertretungsbefugten Institutionen thematisieren müssen67. Ein Beispiel bildet etwa der AStA. Dabei hat der BGH – ohne das Erfordernis einer Existenzgefährdung der juristischen Person der Studentenschaft (öffentlich-rechtliche Körperschaft68) auch nur zu erwähnen – Ultra-vires-Beschlüsse des Studentenparlaments umstandslos aufgrund bloßer Gesetzeswidrigkeit für unwirksam – und allfällige einstimme Zustimmung der Vertretenen für belanglos erklärt69. Nun ist nicht zu verkennen, daß der AStA, im Unterschied zur Fraktion, nicht auf freiwilligem Zusammenschluß beruht. Daraus resultie-
__________ 66 Vgl. auch Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen (2001), S. 648 zur ratio, freilich ohne Problembewußtsein in Bezug auf den o. a. Mißbrauchs-Aspekt. 67 BGHSt 30, 247; OLG Hamm NJW 82, 190. 68 Maurer, Allg. VerwR15 (2004), § 23, Rz. 34; die Bildung und nähere Ausgestaltung der sog. verfaßten Studentenschaften bzw. Studierendenschaften, denen alle Studierende einer Hochschule kraft Gesetzes angehören, ist nach Maßgabe des § 41 HRG den Landesgesetzgebern überlassen. 69 BGH 30, 247 (249): „Da die von der Studentenschaft erhobenen Mitgliedsbeiträge, …, nur zur Erfüllung der gesetzlichen festgelegten Aufgaben verwendet werden durften, konnte bereits deshalb Beschlüssen des Studentenparlaments, die die Anerkennung des allgemeinpolitischen Mandats zum Ziel hatten, keine tatbestandsoder unrechtsausschließende Wirkung zukommen.“ – Oder OLG Hamm NJW 1982, 190 (191 f.): „Die Pflichtwidrigkeit dieser Handlungen entfiele nicht etwa dann, wenn in allen Fällen entsprechende Mehrheitsbeschlüsse des Studentenparlaments vorausgegangen wären. … Jedoch müssen die den AStA ermächtigenden Beschlüsse des Studentenparlaments, die Auswirkungen auf das Vermögen der Studentenschaft haben, durch die gesetzlichen und satzungsgemäßen Aufgaben oder Zwecke begrenzt sein; anderenfalls beseitigen sie ein pflichtwidriges Handeln der ausführenden Organe nicht.“ – Oder LG Marburg, NVwZ 2000, 353 (354): „Ferner wäre die Pflichtwidrigkeit der jeweiligen Handlungen selbst dann nicht entfallen, wenn in allen Fällen entsprechende Mehrheitsbeschlüsse des Studentenparlaments oder des AStA-Plenums vorausgegangen wären.“ – Das nämliche gilt im Öffentlichen Recht für sämtliche rein innenwirksame Entscheidungen von Kollegialorganen (z. B. Gemeinderat, Kreistag, Verbandversammlung, etc.), soweit nicht gesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Die Figur der Unterscheidung zwischen Rechtmäßigkeit und Wirksamkeit wurde für Außenrechtsverhältnisse vor dem Hintergrund der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Vollziehbarkeit entwickelt, nicht hingegen für innenwirksame Ermächtigungen zur Vornahme von Handlungen.
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ren auch Differenzen beim Konstituierungsakt70. Doch erscheint mir ein kategorialer Aspekt vorgreiflich: Es handelt sich nicht um einen bloßen Verband von Individuen, sondern um eine Juristische Person des Öffentlichen Rechts (wenn auch eine sehr besondere, eben des Parlamentsrechts)71. Juristische Personen werden aber nicht nur ausschließlich vom Recht geformt, greifen also nicht bloß reglementierend empirisch Vorfindliches auf. Für sie gibt es überdies keine Existenz außerhalb des Rechts: Alles, was nicht innerhalb des Rechts der Juristischen Person geschieht, ist nicht-rechtlich – und damit in jeder Hinsicht legitimationsuntauglich72, 73. – Ähnliches gilt für den
__________ 70 Vgl. nur Martin, Staatliche Fraktionsfinanzierung in Rheinland-Pfalz, S. 118 Fn. 407: „Fraktionen werden außerdem – im Gegensatz zu Körperschaften oder anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts – nicht durch staatlichen Hoheitsakt errichtet, sondern durch freiwilligen Zusammenschluß ihrer Mitglieder.“ – Zu weiteren Unterschieden öffentlich-rechtliche Körperschaft – Fraktion (etwa Staatsaufsicht) siehe Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen (2001), S. 313 f. 71 Es handelt sich hierbei nicht um ein Problem des Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes für die öffentliche Verwaltung; vgl. nur § 1 Abs. 1 Satz 2 FraktG RhPf: Die Fraktionen „sind nicht Teil der Landesverwaltung und üben keine öffentliche Gewalt aus.“ 72 I. E. vielleicht ähnlich wie hier: Tröndle/Fischer52 (2004), § 266 Rz. 48 (wenn auch für eine etwas andere Konstellation): „Untreue ist auch im Hinblick auf eine zweckwidrige Verwendung von Mitteln aus Fraktionszuschüssen des Parlaments möglich, soweit von Mitgliedern des Fraktionsvorstands Mittel entgegen Bindungen durch FraktionsGeschO oder internen Beschlüssen eigenmächtig verwendet werden; insoweit gelten die allg. Regeln“. – Vgl. zu dem Problem – und von einem gänzlich anderen Ausgangspunkt als dem der h. M. – Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925), S. 70. Vgl. i. ü.BGHZ 20, 119 (126); Forsthoff,VerwR 10 (1973), § 25 I d („Überschreitung des Wirkungskreises hat unter allen Umständen Nichtigkeit zur Folge“). Differenzierend H.J. Wolff, Juristische Person und Staatsperson (1933), S. 187 (195 f., 207 f.; 217 ff.). 73 Da der BGHZ die Gefahr einer Existenzgefährdung gar nicht erörtert, dürfte Grund der Unwirksamkeits-Erklärung des Einverständnisses allein die Gesetzesgebundenheit im öffentlichen Recht sein. Maurer ist der Auffassung, eine öffentlichrechtliche Körperschaft könne allein durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes liquidiert werden (actus contrarius zur Errichtung), Maurer, Allg. VerwR15 (2004), § 23, Rz. 38. Ergo dürfte eine noch so hohe Überschuldung nicht hinreichen. Dies ist allerdings umstritten: Eine Beendigung durch Insolvenz ist nach § 12 Abs. 1 InsO für Bund/Länder vollständig ausgeschlossen, für sonstige juristische Personen des öffentlichen Rechts, die der Landesaufsicht unterstehen, kann die Insolvenzfähigkeit qua Landesrecht ausgeschlossen werden und ist es (nicht selten) auch, Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht III5 (2004), § 87 Rz. 22. Jenseits des zweifellos zulässigen und bei den meisten öffentlich-rechtlichen juristischen Personen verfassungsrechtlich gebotenen (Stichwort: institutionelle Garantie), einfachrechtlichen Ausschlusses der Insolvenzfähigkeit bleibt aber diese Möglichkeit, etwa die Insolvenzfähigkeit von Studentenwerk, Sparkassen und Trägern der Sozialversicherung, vgl. etwa Lehmann, Die Konkursfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts (1999), S. 126 ff., 156 ff., 166 f.
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Fall des Mißbrauchs von vom Staat abgestellten Bediensteten der Fraktion, die für diese reine Parteiarbeit leisten74. Deswegen scheint mir eine objektive Verletzung des Untreue-Tatbestandes zu Lasten der Fraktion im angesprochenen Fall ausgesprochen naheliegend. 3. Untreue zu Lasten der Landes- und Bundespartei Zumindest angetippt sei noch eine weitere Beziehung, innerhalb derer § 266 thematisch werden könnte: das Verhältnis des Landespartei-Vorsitzenden Böhr zur rheinland-pfälzischen wie zur Bundes-Partei. Denn zu den Aufgaben des Parteivorsitzenden gehört auch, finanzielle Schäden von seiner Partei abzuwenden. Kurzfristige Vermögensmehrungen bei der Partei, die aber – nachgerade zwangsläufig (im Fall der Entdeckung) – Sanktionen in der Höhe des Dreifachen des vorübergehenden Vorteils nach sich ziehen (§ 23a, § 25 Abs. 2, Abs. 4, § 31c Abs. 1 PartG), sind aber schadensgleiche Vermögensgefährdungen. Deshalb dürfte hier § 266 zumindest objektiv ernsthaft in Betracht zu ziehen sein. – Immerhin hingewiesen sei auch auf eine entsprechende Argumentation des BGH in bezug auf die Stellung eines (Landes-) Parteivorsitzenden gegenüber seinem Landesverband75. 4. Subjektive Tatseite Zur subjektiven Tatseite kann man selbstverständlich als Außenstehender ohne detaillierte Aktenkenntnis wenig sagen. Immerhin sei aber nur an das kurz zuvor stattgehabte Ermittlungsverfahren gegen Böhr erinnert, daß Ahnungslosigkeit auf diesem Gebiet weit weniger plausibel macht als bei manchem bloßen Zeitungsleser76. Überdies ist Böhr ein nicht nur politisch, sondern auch philosophisch gebildeter Kopf77.
__________ 74 Vgl. den – ähnlich liegenden – Fall von Bediensteten in Ministerien, die dort zur Erfüllung von Parteiaufgaben herangezogen werden; vgl. jüngst den Fall des Büroleiters Maximilan Prangerl im bayrischen Ministerium von Monika Hohlmeier, der diese in den CSU-Kreis-Sitzungen vertreten hat, freilich – nach eigenem Bekunden – auf freiwilliger Basis außerhalb seiner Dienstzeit, dazu etwa Hilberth, FR v. 28.7.2004, S. 4; vgl. auch taz v. 2. 8. 2004, S. 7, sowie die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses, der auch die diesbezüglichen Fragen klären soll, taz Nr. 7542 v. 17. 12. 2004, S. 6. 75 BGH wistra 1986, 256 – aber nur als obiter dictum mit Verweis auf BGH NJW 1975, 1234, wo es allerdings um die Untreuehandlung des Vorsitzenden eines Bundesligavereins geht. 76 Ob der Mangel am Vorsatz, den das LVerfG dem Fraktions- und Landesvorsitzenden so bereitwillig testierte, wirklich so zweifelsfrei ist, hätte man vielleicht doch einmal der Feuerprobe einer Strafgerichts-Verhandlung unterziehen sollen (vgl. i. ü. BVerfGE 104, 310 [333] Pofalla II: Der Bundestag „darf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Ermittlungsmaßnahmen den hierfür zuständigen Gerichten überlassen. Das gilt selbst dann, wenn sich Anhaltspunkte für eine politische Motivierung des Strafverfahrens nicht ausschließen lassen.“) – Immerhin sind Strafgerich-
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5. Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen Das Vorstehende dürfte vielleicht die Selbstgewißheit des Gerichts und einiger Autoren, die sich zum Thema geäußert haben, in einem etwas anderen Licht erscheinen lassen. Doch mag man über diese Fragen unter den verschiedensten Aspekten – und in der Sache durchaus heftig – weiterhin streiten können. Immerhin will der vorgelegte Beitrag auch dazu eine Anregung bieten, diesem für das Ansehen der Parlamente so bedeutsamen Aspekt mehr Aufmerksamkeit zu widmen und, wie schon manch anderer zuvor, eine gesetzliche Regelung einzufordern. – Das Bemerkenswerte an dem Judikat des VerfGH liegt freilich auf einem anderen Felde, – nämlich in dem Umstand, daß dessen – insoweit sehr dezidierte – Äußerungen gar nicht den Streitgegenstand betrafen.
__________ te nicht gezwungen, jede Beschuldigten-Aussage für bare Münze – oder auch nur für nicht widerlegbar – zu halten. Schließlich war Böhr ja noch kurze Zeit zuvor mit den Implikationen des § 266 konfrontiert gewesen – und hatte mit der Zahlung von 10 400 DM an eine gemeinnützige Organisation und ein vierstelliges Bußgeld (vgl. o. Fn. 24) eine Strafverfolgung abgewendet. Daß es einer solchen Person am dolus eventualis mangelt, müßte dann doch erst einmal plausibilisiert werden. In die gleiche Richtung Braun/Benterbusch, ZParl 2002, 653 (668). – Erwägungen, die Weite des objektiven Tatbestandes des § 266 durch besondere Anforderungen an den subjektiven zu korrigieren, wird verbreitet – und mit Recht – abgelehnt; vgl. etwa Wessels/Hillenkamp, BT II27 (2004), Rz. 778: „Für ihren Zweck, die Weiten und Vagheiten des objektiven Tatbestandes über die subjektive Tatseite zu korrigieren, ist sie {die Forderung strengerer Regeln, H.-U. P.} das falsche Mittel. Die Grenzen des objektiven Tatbestandes sind diesem selbst zu setzen.“ Ebenso: Dierlamm, NStZ 1997, 535; LK11-Schünemann (1998), § 266 Rz. 151 ff.; Schönke/ Schröder26-Lenckner/Perron (2001), § 266 Rz. 50; Tröndle/Fischer52 (2004), § 266 Rz. 78a; Waßmer, Untreue bei Risikogeschäften (1996), S. 156 ff. – A. A. allerdings die h. M., etwa BGH wistra 2000, 60 (61); 2003, 463 (464); ohne Stellungnahme NKKindhäuser (2003), § 266 Rz. 180. Krit. zu den Unabgestimmtheiten zwischen objektiver und subjektiver Tatseite bei § 266 in der Rspr. auch Achenbach, NStZ 2001, 525 (527); ders., NStZ 2002, 523 (524); Keller/Sauer, wistra 2002, 365 (368). 77 Vgl. seine – laut Spiegel (online vom 6. 3. 2001, 08:51 URL: http://www.spiegel.de/ politik/deutschland/0,1518,120965, 00.html) – mit „magna cum laude“ (sehr gut) – bewertete philosophische Dissertation zu dem Thema: „Philosophie für die Welt – Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants“ (2003). Vgl. dort etwa die Ausführungen S. 218: „… Der Popularphilosoph begnügt sich, so heißt es ausdrücklich, die sichtbaren Dinge, wie sie uns scheinen, nach ihrer nahen und fernen Beziehung auf das menschliche Wohl und Wehe kennenzulernen. Diese Argumentation, die dem Popularphilosophen so viel bedeutet, erschöpft sich weitgehend in Hinweisen auf die so oder so gearteten unterschiedlichen Folgen dieser oder jener Philosophie, deren Wert sich vor allem anderen am Kriterium ihrer Lebensnähe bemißt.“ – „… Sie {i. e. die Popularphilosophie, H.-U. P.} wird praktisch. Die populäre oder praktische Behandlung eines Themas unterscheidet sich von der wissenschaftlichen Methode, weil es ihr nicht um die Frage der Wahrheit oder Erweislichkeit einer Lehre geht, sondern lediglich um ihre ‚Nutzbarkeit und Zweckmäßigkeit in dem zur Erbauung bestimmten Vortrage’.“ (S. 219).
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III. Erledigung eines Ermittlungsverfahrens im Organstreit? Zumindest dürfte sich der geneigte Leser des Judikats diese Frage vorlegen: Wieso nahm der Gerichtshof zu einer Frage Stellung, die gar nicht Gegenstand des Organstreites war? Wie erinnerlich, wollte die CDU-Fraktion des rheinland-pfälzischen Landtages den Landtag als Verfassungsorgan zu einer Stellungnahme darüber zwingen, ob die Ausgaben-Praxis der CDU mit dem Recht vereinbar gewesen sei – also zu einer authentischen Interpretation des § 2 Abs. 1 RhPfFraktG. In diesem Kontext müssen die durchaus ins einzelne gehenden Erwägungen zu der – gegebenen oder mangelnden – Straftatbestandsmäßigkeit des Verhaltens von Herrn Böhr78 doch wunder nehmen. Nun ist es nicht so, daß die Landesverfassungsgerichte zu den Grundrechten ihrer Landesbürger vor den Schranken der (Landes-)Gerichte oder gegenüber den Ermittlungsmaßnahmen der (Landes-)Staatsanwaltschaften keine Jurisdiktionsmacht hätten – auch wenn das dort angewendete Recht ausschließliches Bundesrecht ist79, 80. Nur, Grundrechte eines Abgeordneten spielen bekanntlich im Rahmen des Organstreits keine Rolle81.
__________ 78 RhPfVerfGH NVwZ 2003, 75 (80 f.) (in DöV 2002, 992 insoweit nicht abgedruckt). 79 Vgl. dazu jüngst ausführlich Gärditz, AöR 129 (2004), S. 584 ff. (auch zu diesem Verfahren, S. 599 f.). – Ich selbst habe mich seinerzeit in dem ominösen HoneckerVerfahren vor den Berliner Gerichten und dem LandesVerfG Berlin für diese Kompetenz starkgemacht, NJ 1993, 152 (157 ff.). Doch ging es dort um die Wahrung von Individualgrundrechten im Rahmen einer (Landes-)Verfassungsbeschwerde. Streitgegenstand des verfassungsrechtlichen Verfahrens war also gerade die Frage nach der Reichweite von (Landesverfassungs-)Grundrechten des Betroffenen. – Die Jurisdiktionskompetenz des Landesverfassungsgerichtes war damals eine hochumstrittene Frage. Während ich sie seinerzeit mit bejahender Tendenz beantwortet hatte (Paeffgen, NJ 1993, 152 [157 ff.]; tendenziell ähnl. Graf von Pestalozza, NVwZ 1993, 340 [344]; ähnlich Zierlein AöR 120 [1995], 205 [244]), bestritt sie eine große Zahl renommierter öffentlich-rechtlicher Kollegen (vgl. etwa Löwer, SächsVerwBl 1993, 73 [76]; Rozek, AöR 121 [1994], 450 [456]; Starck, JZ 1993, 231 ff.; Wilke, NJW 1993, 887 ff.). Durch die Rechtsprechung des BVerfG (seit E 96, 345 ff. [= NJW 1998, 1296 ff.] [m. weitgehend zust. Anm. Hain, JZ 1998, 620 (621) (jedoch krit. zu den Ausführungen des BVerfG zum Verhältnis von Landes- zu den Bundesgrundrechten); Tietje, AöR 124 (1999), 282 (287 f.)] auf Vorlage des SächsVerfGH wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs i.R.d. ZPO, NJW 1996, 1736) ist dieser Kompetenzstreit weitgehend, jedenfalls für gleiche Grundrechtsgewährleistungen auf Länder- wie auf der Bundesebene, in dem seinerzeit von mir befürworteten Sinne entschärft. 80 Für Rheinland-Pfalz besteht jedoch, die im föderalen Vergleich wohl einmalige „Bundesrechtsklausel“ in § 44 Abs. 2 RhPfVerfGHG, derzufolge eine Verfassungsbeschwerde unzulässig ist, soweit die öffentliche Gewalt des Landes Bundesrecht ausführt oder anwendet, es sei denn, die Landesverfassung gewährt weitergehende Rechte als das Grundgesetz – oder es geht um „die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens“ (Die Rückausnahme ist jüngeren Datums [GVBl RhPf 2000, S. 207]); bis 1995 hat der RhPfVerfGH eine Prüfungszuständigkeit bei der Ausübung und Anwendung von Bundesrecht noch nicht bejaht und eine größere Zahl von Fällen abgewiesen, vgl. Held, NVwZ 1995, 534 (537); so auch jüngst wieder
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Zwar sind Verfassungsgerichte sehr viel freier in der „Abrundung“ des Prozeßstoffes – und nicht etwa wie Zivilgerichte an ein „Ne eat ultra petita“ gebunden (§ 308 ZPO). Aber auch wenn das Gericht freier auf die Stellung sachdienlicher Anträge hinwirken und den Prozeßstoff mitgestalten kann82, so gibt es doch Schranken: Die Umwandlung des Prozeßtypus von einem Organstreit in eine Inzident-Verfassungsbeschwerde überschreitet auch die Freiheiten, die sich ein Verfassungsgericht in prozeduralen Dingen erlauben darf; und dies insbesondere vor dem Hintergrund der restriktiveren Begrenzung des Verfahrensgegenstandes bei Organstreitigkeiten in der verfassungsrechtlichen Judikatur auf Bundesebene83. – Man mag zwar der Meinung sein, daß derartiges unter dem Aspekt „Koordination und Kooperation von unterschiedlichen Kontrollinstanzen“ zu rubrizieren sei84. Und in der Tat müssen Rechnungshöfe und Staatsanwaltschaften die Rechtsmeinungen und Amtshandlungen des jeweils anderen, wie – selbstverständlich – auch die des jeweiligen Landesverfassungsgerichts genauestens in ihre Sach- und Rechtsanalyse einbeziehen. Daß sie dadurch aber zu „Rechtstatsachen“ würden85, was doch wohl so etwas wie eine Tatbestandswirkung insinuiert, ist aber nur dort möglich, wo das Gesetz eine solche vorsieht – oder die zuständigen obersten Gerichte in einer schlüssigen Interpretation des Gesetzes derartiges vorgeben. Davon kann hier aber gar keine Rede sein, da der VerfGH RhPf das
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RhPfVerfGH NJW 2001, 2621 f. Kritischer gegenüber der Normvalenz des § 44 Abs. 2 vor dem Hintergrund von BVerfGE 96, 345 ff. Menzel, Landesverfassungsrecht (2002), S. 534 f. Bethge, Organstreitigkeiten des Landesverfassungsrechts, in: Starck/Stern, Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Teilband III (1983), S. 17 (27). So ausdrücklich Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht2 (2001), § 9 Rz. 187; Graf Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht3 (1991) § 2 Rz. 36: „Der Grundsatz des ne ultra petita wird jedoch durch das Gesetz (Anm.: BVerfGG) oder die Rechtsprechung in einzelnen Verfahrensarten verschiedentlich gelockert“; vgl. aber auch Hillgruber/ Goos, Verfassungsprozessrecht (2004) Rz. 20 ff. („Das Bundesverfassungsgericht vermag auch durch strengere oder großzügigere Handhabung der Zulässigkeitsvoraussetzungen der einzelnen Verfahrensarten den Zugang zu ihm selbst zu verschließen bzw zu öffnen.“); Umbach/Clemens, BVerfGG (1992), § 23 Rz. 14; Roellecke, in: Isensee/Kirchhof, HdBStaatsR Bd. II2 (1998), § 54 Rz. 4 („relative Verselbständigung des Streitgegenstandes“). – Aber die, oben bereits eingeräumte, Großzügigkeit in der Verfahrensgestaltung dürfte selbst von den hier erwähnten, zu mehr Flexibilität neigenden Autoren nicht in dem Sinne verstanden worden sein, wie es im vorliegenden Fall vom VerfGH zweckentfremdet wurde. Graf Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht3 (1991) § 2 Rz. 40: „Bei Organstreitigkeiten scheint das Bundesverfassungsgericht dem Antrag mehr Einfluß als in den anderen Verfahrensarten auf den Verfahrensgegenstand einzuräumen.“ mit Hinweis auf BVerfGE 2, 347 (367 f.); 68, 1 (63); 73, 1 (28): „Der Streitgegenstand im Organstreitverfahren wird durch die im Antrag genannte Maßnahme oder Unterlassung und durch die Bestimmungen des Grundgesetzes begrenzt, gegen die die Maßnahme oder Unterlassung verstoßen haben soll (§ 64 Abs. 2 BVerfGG). An diese Begrenzung des Streitstoffes ist das Bundesverfassungsgericht gebunden.“ Kretschmer, ZG 2003, 1 (29), der gerade deshalb diese Passage des Urteils gutheißt. So Kretschmer, a. a. O.
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Sachproblem überhaupt nicht gesehen zu haben scheint, es jedenfalls nirgends ausdrücklich thematisiert. Jedenfalls so kann jener – in einer KonsensDemokratie persuasiv wirkende – Begriff schwerlich legitimieren, ein Ermittlungsverfahren im Organstreit en passant zu erledigen. Denn, wie vielleicht erinnerlich, ist die rechtsprechende Gewalt, zu der insoweit auch die Verfassungsgerichte gehören, an Recht und die Gesetze gebunden, Art. 20 Abs. 3 GG86. Daher ist die „Erledigung“ eines gar nicht anhängigen Streites, gleichsam en passant, auch für ein Verfassungsgericht, dem prozedural einige Freiheiten eröffnet sind, schlicht nur eins – ein „Nebenbei-Bemerkt“ (obiter dictum), dem folglich auch keinerlei Bindungswirkung zukommt! Streng formal betrachtet sind allerdings auch exuberante obiter dicta keine Fälle von Entscheidungen ultra vires, also von Formen prozeßordnungswidriger (Entscheidungs-)Kompetenz-Anmaßung87. Denn die Gerichte wissen – in der Regel –, daß sie nicht zum konkreten Fall sprechen – und insoweit auch keine Bindungswirkung beanspruchen (können). Rechtstatsächlich sieht das freilich nicht selten anders aus. Ausgestattet mit der Gloriole des Gerichts kommt solchen Sentenzen rechts(bewußtseins)gestaltende Wirkung zu.87a Im übrigen zeigt die oben berichtete Art, wie der Justizminister
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Vgl. insoweit auch im umgekehrten Fall – relativ deutlich – BVerfG NJW 2003, 3401 f. (Durchsuchung): „bb) Der Bf. kann nicht auf das Organstreitverfahren als vorrangige Rechtsschutzmöglichkeit verwiesen werden. Zwar muss der einzelne Abgeordnete die mit seinem verfassungsrechtlichen Status verbundenen Rechte grundsätzlich in dem dafür vorgesehenen Organstreitverfahren gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG geltend machen (vgl. BVerfGE 6, 445 [448] [= NJW 1957, 1025, 1026]; 43, 142 [148]; 64, 301 [313] [= NJW 1984, 165]). Dies gilt jedoch nur, soweit der Abgeordnete mit obersten Staats- oder Verfassungsorganen, mit denen er in einem dem Organstreitverfahren zugänglichen Verfassungsrechtsverhältnis steht, um seine Statusrechte streitet. Insoweit steht zum Schutz seiner Rechte ausschließlich das Organstreitverfahren zur Verfügung, denn die als außerordentlicher Rechtsbehelf des Bürgers gegen den Staat ausgestaltete Verfassungsbeschwerde ist kein Mittel zur Austragung von Meinungsunterschieden zwischen Staatsorganen (vgl. BVerfGE 15, 298 [302] = NJW 1963, 899; BVerfGE 43, 142 [148]; BVerfGE 64, 301 [312] = NJW 1984, 165). – Hier macht der Bf. zu 1 jedoch nicht seine organschaftliche Stellung gegenüber einem im Organstreitverfahren parteifähigen Verfassungsorgan geltend. Vielmehr rügt er die Verletzung eines im fachgerichtlichen Verfahren zu berücksichtigenden subjektiven öffentlichen Rechts durch die öffentliche Gewalt. In diesem Fall muss dem Abgeordneten die verfassungsrechtliche Klärung der Frage, ob seine Rechte aus Art. 47 S. 2 GG verletzt sind, im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde möglich sein. Anderenfalls würde der Abgeordnete gegenüber dem Berufsgeheimnisträger benachteiligt; dieser hat die Möglichkeit, gegen eine Beeinträchtigung seines Zeugnisverweigerungsrechts durch staatliche Behörden nach Erschöpfung des Rechtswegs Verfassungsbeschwerde einzulegen.“ 87 Ausführlich zu dem Phänomen des und den Problemen des obiter dictums, allerdings auf der Ebene der Obersten Gerichte des Bundes, speziell des BAG, Schlüter Das Obiter dictum (1973), passim. 87a Die Tatsache, daß es sich um ein obiter dictum handelt, verflüchtigt sich bisweilen recht schnell. Es bleibt aber die Zitierbarkeit der Aussage!
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und der Präsident des VerfGH das Judikat einstuften, daß sich obiter dicta in Fremd- und Selbstwahrnehmung von Beteiligten und Beobachtern sehr schnell zu forensischen Entitäten hochmendeln. Dann steht ein halb normatives, halb faktisches Handeln ultra vires durchaus im Raum. Zusammenfassend kann man die (vielleicht nicht ausdrücklich ausgesprochene, aber sicher klar gemeinte) Etikettierung der diesbezüglichen Ausführungen des Judikats als obiter dictum nur nachhaltig hervorstreichen. Unverdientermaßen ist der Mainzer Leitende OStA Puderbach für diese Prädikatisierung88 vielfältig gescholten worden89 – sinnigerweise auch von seinem Generalstaatsanwalt90.
IV. Selbstbeschränkung des Strafrechts im parlamentarischpolitischen Raum Eine weitere Frage, die hier freilich nur angerissen werden kann, ist, ob die in jenem obiter dictum geäußerte Rechtsauffassung, das RhPfFraktG habe im Rahmen des Regelungsauftrages des Art. 85a Abs. 3 Satz 2 RhPfVerf die Rechtsfolgen zweckwidriger Verwendung von staatlichen Subsidien abschließend geregelt91, einer genaueren Nachschau standhält. Ob Landesrecht, selbst Landesverfassungsrecht, Bundesrecht (StGB) in dessen Anwendungsbereichen begrenzen kann, müßte doch wohl erst einmal an der Elle des Art. 31 GG gemessen werden!?
__________ 88 Vgl. oben Fn. 7. 89 Exemplarisch die o. a. Aufgeregtheit des VerfGH-Präsidenten (Fn. 8). – Die staatstragende FAZ v. 28. 8. 2002, S. 10 (G.H.), kleidete es in den Tadel, daß die armen Politiker nicht wüßten, woran sie rechtlich seien (‚Ei, wie kommt’s?’, fragt sich da manch’ schlichtes Gemüt! Vielleicht sollte man einmal Gesetze von solch hanebüchener Deutlichkeit anstreben, wie sie der ehemalige SPD-„Kronjurist“ Adolf Arndt für die Staatsschutzdelikte verlangt hatte, NJW 1963, 24 ff.; leider kann man nicht den geringsten Drang der Politiker erkennen, auf diesem Gebiet für Klarheit zu sorgen, die mit den verfassungsgerichtlichen Vorgaben im Einklang stünde) – aber sie hätten „auch ein Recht(,) zu wissen, woran sie mit ihren Rechten“ seien. – Von Juristen, die keine Parteibrille aufhaben, hätte man höchstwahrscheinlich eine entsprechende klarstellende Information bekommen können. 90 Laut FAZ v. 5. 2. 2002, S. 2, hat der Generalstaatsanwalt ihm eine „Fehlinterpretation“ in Bezug auf das LVerfGH-Urteil vorgeworfen, – ein, für sich genommen, fraglos schwerer Tadel für einen Spitzenjuristen, der sich um das Amt des LGPräsidenten beworben hatte, FAZ v. 8. 12. 2001, S. 4. – Immerhin hat jener Dienstvorgesetzte in der (objektiv zutreffenden) Umschreibung der Rechtslage kein Dienstvergehen gesehen, FAZ v. 5. 2. 2002, S. 2; vgl. auch Nw. oben in Fn. 10. 91 RhPfVerfGH DöV 2002, 992 (995 ff.) = DVBl 2002, 1567 = NVwZ 2003, 75 (79 ff.).
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Für den schlichten Betrachter der Szenerie liegt jedoch eine KompetenzKollision92 eher fern: Für den homunculus normalis stellt sich die Situation eher so dar: Derselbe Sachverhalt stellt zum einen –
eine zweckwidrige Verwendung von Fraktionsgeldern dar, das vorgeblich „grundsätzlich abschließende System der Kontrolle und Korrektur der Mittelverwendung“ (so das Gericht) des FraktG hat als alleinigen Adressaten die Landtags-Fraktion, die (mögliche, im Verstoß-Falle aber aus Gründen der Gleichbehandlung93 und des Gesetzesgehorsams gebotene) Reaktion des Landtags-Präsidenten hat keinen direkten Pönalisierungscharakter (Rückerstattung des zweckwidrig Verwandten, ungerechtfertigte Bereicherung, vgl. § 6 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Abs. 3 FraktG)94; zum zweiten
–
eine rechtswidrige erlangte Spende i. S. d. bundesrechtlichen PartG, die das entsprechende Sanktionensystem (eine Art administrative Sanktion) gegenüber der juristisch distinkten Person des Landesverbandes der CDU/Partei (nichtrechtsfähiger Verein); und drittens
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bleibt davon unberührt eine allfällige persönliche strafrechtliche Verantwortlichkeit des Herrn Böhr – sei es über § 266 StGB, sei es über andere Normen.
Wenn demgegenüber Lesch glaubt, konstatieren zu sollen: „Solange nach objektiven Maßstäben irgendein Zusammenhang mit dem politischen Willensbildungsprozess festgestellt werden kann, ist die zweckwidrige Verwendung von Fraktionszuschüssen abschließend den spezifischen Schutz- und Kontrollmechanismen des politisch-parlamentarischen Systems unterworfen. Daran hat sich auch die Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 266 StGB zu orientieren. Der Anwendungsbereich des Strafrechts beginnt demgegen-
__________ 92 Art. 31 GG griffe formal nur dann ein, wenn die Anwendung verschiedener Rechtssätze unterschiedlicher Rechtsetzungs-Ebenen auf den konkreten Fall (auf dasselbe Rechtsverhältnis) zu unterschiedlichen Rechtsfolgen führten, BVerfGE 36, 342 (363), Huber, in: Sachs, GG3 (2003), Art. 31 Rz. 10. 93 Der Wortlaut des § 6 Abs. 1 Satz 1 FraktG RhPf („Geldleistungen, die …nicht für die in § 2 Abs. 1 bestimmten Zwecke verwendet worden sind, sind zurückzuerstatten.“) spricht neben einer Pflicht des „Bereicherungsschuldners“, der Fraktion, auch für eine Pflicht zur Geltendmachung durch den Landtags-Präsidenten. Im übrigen ist eine Prüfpflicht des Parlamentspräsidenten umstritten, Kretschmer, ZG 2003, 1 (26 mit Fn. 102). Der VerfGH RhPf spricht von einem ergänzenden Beanstandungsrecht (neben Landesrechnungshof) ohne eine eigenständige Prüfungspflicht aus § 6 Abs. 2 Satz 2 FraktG RhPf, NVwZ 2003, 75 (77). 94 Je nach Finanzvolumen ist das dann doch eine poena naturalis, da das ausgegebene Geld ja bereits weg ist, den Fraktionstopf also gleichsam zweimal belastet.
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über erst mit dem so genannten ‚Griff in die Kasse’, d. h. mit dem Exzess95, bei dem sich ein Zusammenhang mit dem politischen Willensbildungsprozess schlechterdings nicht mehr denken lässt“96, so erscheint das durchaus zweifelhaft. Es klingt ein wenig so, als ob es einen Tatbestandsausschließungsgrund der ‚politisch sensiblen Materie’ bzw. ein Gebot zum ‚political self-restraint’ des deutschen Strafrechts gäbe. – Eine Restriktion des § 266 im politischen Bereich ist aber, jedenfalls wenn man ansonsten keineswegs zurückhaltend mit dem Untreuevorwurf umgeht, gleichheitssatzwidrig: Der Schutz der Arbeits- und Funktionsfähigkeit der Parlamente wird durch die Grundsätze der Indemnität und Immunität geschützt (Art. 46 GG, Landesverfassungen, etwa Art. 93, 94 RhPf Verf, §§ 36, 78 Abs. 2, §§ 97, 152a StPO). Darüber hinaus gibt es kein Sonderstrafrecht für Parlamentarier97. – Und die Indemnität könnte hier durchaus einschlägig sein, da von dem Begriff der „Abstimmung“ in Art. 46 Abs. 1 GG auch alle Voten erfaßt sind, die ein Abgeordneter in seiner Fraktion abgibt (Fraktion hier verfassungsrechtlich verstanden als Organteil des Parlaments)98. Falls es also ein Votum im Fraktionsvorstand/in der Fraktion über die Flyer gegeben haben sollte, so lägen
__________ 95 I. ü.: Wenn es sich bei den rheinland-pfälzischen landesrechtlichen Regelungen doch um eine abschließende Regelung handelt, wieso gilt diese nicht für den ExzeßFall? 96 Dieselbe Tendenz klingt leider – aus meiner Sicht – auch beim Jubilar an: Dahs, NJW 2002, 272 (273): „Auch im politischen Bereich sollte sich die Untreue des § 266 StGB weniger einmischen und dem ultima-ratio-Charakter des Strafrechts Rechnung tragen! Parlamentarische Kontrollen, Rechnungshöfe, Parteiengesetze, Landesverfassungen und parlamentarische Satzungen bieten teilweise ein sehr ausgefeiltes Instrumentarium, um fehlgeleitete Gelder oder die unkorrekte Inanspruchnahme anderer Leistungen durch (Rück-)Zahlungen, parlamentarische Missbilligung und andere Sanktionen auszugleichen.“ – Nochmals: In vielen Fällen richtet die mangelnde Bestimmtheit des Untreue-Tatbestandes erheblichen Schaden an; dennoch gibt es immer wieder Fälle, in denen die Sachlage klar ist. M. E. gehört der Fall Böhr – jedenfalls objektiv – zu den letztgenannten. 97 Für eine Koordinierung von Rechnungshof und Staatsanwaltschaft in Fällen von (Haushalts-/Fraktions-)Untreue Kretschmer, ZG 2003, 1 (31 f.), der ein Verfahren der formellen Anhörung des Rechnungshofes durch die StA verlangt. – Das mag man so legiferieren. Aber wegen der sehr unterschiedlichen Aufgabenstellung der beiden Institutionen ist ein solcher Kontroll-/Verfolgungs-Nachrang nicht grundsätzlich anzuerkennen. Sicherlich bedarf es gewisser betriebswirtschaftlicher Kenntnisse bei der StA. Aber es geht keineswegs um Spezialkenntnisse, wie sie in komplizierten steuer- oder wirtschaftsstrafrechtlichen Verfahren vorauszusetzen sind. – Den Schutz vor regierungsfrommem Übereifer der StA gegenüber der Opposition unterhalb der Schwelle des § 344 kann man ohnehin nur über die politische Verantwortung der zuständigen Minister gewährleisten, dazu Paeffgen, SchlüchterGS (2002), S. 563 ff. – und einer Ernennungs-Politik unter völliger Vernachlässigung der politischen Präferenzen der Kandidaten (jenseits des verfassungsfeindlichen Spektrums). 98 Kretschmer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG10 (2004), Art. 46 Rz. 3.
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Hans-Ullrich Paeffgen
hier die Schutzbarrieren für Herrn Böhr und die betroffenen Mitglieder des Landtages99.
V. Weitere (verfahrensrechtliche) Monita Ferner sei auf ein weiteres Problem der Entscheidung hingewiesen, das hier gleichfalls nur angedeutet werden kann: Inwieweit durfte das Gericht eigentlich die Zulässigkeit der Klage bejahen – vor dem Hintergrund der Entscheidungsmaximen der Urteile des BVerfG in der Pofalla-Entscheidung?100 Ist das Parlament wirklich in einer so peripheren Frage (verfassungs-)rechtlich verpflichtet, Stellung zu nehmen?101
__________ 99 Dieselbe Frage stellt auch H.H.Klein, Badura-FS (2004), 263 (265), ohne sie beantworten zu wollen, in Bezug auf den dem Böhr-Fall ähnelnden Fall aus Mecklenburg-Vorpommern, o. bei Fn. 11, betreffend zweier unsachlicher Anzeigen gegen den politischen Gegner, die, aus Fraktionsmitteln, in der BILD-Zeitung v. 5. 5. 2001 geschaltet worden waren. Hier nahm die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen § 266 gegen eine Mitarbeiterin der CDU-Fraktion und gegen die gesamte SPD-Fraktion (darunter den amtierenden Ministerpräsidenten) auf. Der Landtag lehnte auf Empfehlung seines Rechtsausschusses bei zwei Enthaltungen die Genehmigung zur Fortsetzung des Strafverfahrens gegen seine Mitglieder ab. (vgl. H. H. Klein, in: Badura-FS [2004], S. 263 ff.). Hier zeigt sich also, daß Immunität und Indemnität die entscheidenden topoi sind, nicht angebliche Sperrwirkungen etwaiger Landes-FraktG auf Strafgesetze oder Befugnisse der Landesrechnungshöfe. Auch Kretschmer, ZG 2003, 1 (28 mit Fn. 110) hält sowohl den Aussetzungsbeschluß des Landtages betreffs Ermittlungsverfahrens für gerechtfertigt als auch die Grundsätze der Indemnität für einschlägig. Ebenso in der entsprechenden Landtags-Debatte das Mitglied des Landtags Heinrich (CDU), Plenarprotokoll 3/82 vom 20. 5. 2002, S. 5377 f. 100 BVerfGE 104, 310 (332) Pofalla II: „Die Genehmigung der Durchführung von Strafverfahren gegen seine Mitglieder ist eine eigene Angelegenheit des Parlaments; der Genehmigungsvorbehalt dient vornehmlich dazu, die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments zu erhalten. Daher entscheidet das Parlament grundsätzlich in eigener Verantwortung, ob es die Genehmigung erteilt oder versagt. – Nach Nr. 4 Satz 2 der vom Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung beschlossenen Grundsätze ist die Entscheidung über die Aufrechterhaltung oder Aufhebung der Immunität eine „politische Entscheidung“. Der Kern dieser Entscheidung beruht auf einer Interessenabwägung zwischen den Belangen des Parlaments und den Belangen der anderen hoheitlichen Gewalten (Nr. 4 Satz 3 der Grundsätze). Bei dieser Abwägung kommt dem Bundestag ein weiter Entscheidungsspielraum zu (vgl. BVerfGE 80, 188 [220]; 84, 304 [322]). Der Abgeordnete hat keinen Anspruch darauf, dass im Rahmen der Abwägung eine Überprüfung stattfindet, die seine Interessen in den Vordergrund rückt. Denn in erster Linie dient der Genehmigungsvorbehalt für die strafrechtliche Verfolgung eines Abgeordneten dem Schutz des Parlaments als Ganzes. Der Anspruch des Abgeordneten auf eine willkürfreie Entscheidung über die Genehmigung der gegen ihn gerichteten Strafverfolgungsmaßnahmen ist erst dann verletzt, wenn das Parlament bei der erforderlichen Interessenabwägung den verfassungsrechtlichen Status des betroffenen Abgeordneten in grundlegender Weise verkannt hat.“ 101 Vgl. allgemein zur organgerechten Verteilung von Kompetenzen Wolf-Rüdiger Schenke, Verfassungsorgantreue (1977).
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Anm. zum Beschluß des VerfGH Rheinland-Pfalz in der Causa Böhr
VI. Ausblick Nicht zuletzt dieser Punkt zeigt, daß es in dem Verfahren durchaus Fragen gab, zu denen man subtilere Erläuterungen hätte erwarten dürfen. Exkurse über die Berechtigung des Strafverfahrens gegen den Fraktionsvorsitzenden gehörten demgegenüber sicher nicht dazu – wie immer man zu der oben angesprochenen Frage auch stehen mag, ob ein Vorsitzender gegenüber seiner Fraktion Untreue begehen kann. In einer Typologie der (höchst- und verfassungs-)gerichtlichen obiter dicta scheint es nach allem mindestens vier Kategorien zu geben: die notwendigen102, die sinnvollen103, – die (in einer immer stärker ausufernden Belehrungsrhetorik gängigsten) schlicht überflüssigen – und die prozedural verfehlten104. Ein selten schönes Exemplar der letztgenannten Species findet sich im angezogenen Judikat. Man muß den Lakonismus der durchschnittlichen Reichsgerichts-Entscheidungen nicht als Vorbild preisen, um sich gelegentlich eine Portion dieser Zurückhaltung für unsere heutige Judikatur zu wünschen.
__________ 102 Dazu würde ich die „Vorwegweiser“ auf eine Rechtsprechungs-Änderung zählen wollen. 103 Hierher wird man die gelegentlichen Ausführungen darüber rechnen dürfen, was mit dem ausdrücklich Entschiedenen nicht gemeint/nicht mitentschieden ist. – Vgl. zur Phänomenologie des (nicht-verfassungsgerichtlichen) obiter dictums allgemein, mit anderen Kriterien und Unterteilungen, ausführlich Schlüter, Obiter dictum (1973) S. 94 (122 f.; 124 ff.). 104 Vgl. zu diesem Typus auch BVerfG NStZ 2000, 96 (= StV 2000, 1) (BrechmittelEinsatz) mit scharf abl. Anm. Naucke, StV 2000, 1 ff. und BVerfG NStZ 2000, 489 (Sedelmayr) m. ebenso abl. Anm. Rogall.
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Ingeborg Puppe
Der Versuch des mittelbaren Täters Inhaltsübersicht I. Streitstand 1. Lehre von der Gesamttat 2. Lehre von der persönlichen Versuchshandlung (Einzellösung) 3. Rechtsprechung
II. Kritik der Lehre von der Gesamttat III. Kritik der Lehre von der persönlichen Versuchshandlung IV. Zusammenfassung
I. Streitstand 1. Lehre von der Gesamttat Kaum ein Problem des allgemeinen Teils ist in den theoretischen Grundlagen wie in den praktischen Lösungsvorschlägen so umstritten wie der Versuch bei mittelbarer Täterschaft. Der Streit beginnt bereits bei der Frage, welcher Sachverhalt überhaupt unter den Begriff des Versuchs subsumiert werden soll. Nach der sog. Gesamtlösung bildet das Verhalten des mittelbaren Täters mit dem des Werkzeugs eine Gesamttat, auf die der gleiche Begriff des Versuchs und die gleiche Unterscheidung zwischen Vorbereitung und Versuch anwendbar sein sollen, wie bei der Tat eines einzelnen unmittelbaren Täters.1 Da die Figur der mittelbaren Täterschaft nur dann überhaupt benötigt wird, wenn der für das Delikt Verantwortliche nicht selbst in das Versuchsstadium tritt, läuft dies darauf hinaus, dass die Unterscheidung zwischen Vorbereitung und Versuch auf das Handeln des Werkzeugs anzuwenden ist. Die Schwierigkeiten, die sich dabei daraus ergeben, dass das Werkzeug entweder unfrei oder unwissentlich den Tatbestand verwirklicht, werden dadurch behoben, dass man dem Werkzeug die Freiheit oder das Wissen des Täters substituiert. Ein Versuch liegt danach erst dann vor, wenn das Handeln des Werkzeugs nach den allgemeinen Kriterien ein Anfang der Ausführung wäre, sofern das Werkzeug in seiner Entscheidung frei gewesen wäre und über das Wissen des Täters verfügt hätte. Unter den Anhängern der sog. Gesamtlösung ist streitig, ob die so bestimmte Versuchshandlung des Werkzeugs in Wirklichkeit stattgefunden haben muss2 oder nur in der Vorstellung des Täters bzw. nur in seinem „schlafenden Bewusstsein“3.
__________ 1
2 3
LK-Hillenkamp § 22 Rz. 156 ff.; NK-Zaczyk § 22, Rz. 30; Stratenwerth/Kuhlen AT, 12/105; Herzberg FS Roxin (2001), 749 (750); Krack ZStW 110 (1998), 611 (628); Küper JZ 1983, 361 (369). LK-Hillenkamp § 22 Rz. 160; NK-Zaczyk § 22; Rz. 30; Krack ZStW 110 (1998), 611 (638); Küper JZ 1983, 361 (369). Herzberg FS Roxin (2001), 749 (768).
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Ingeborg Puppe
2. Lehre von der persönlichen Versuchshandlung (Einzellösung) Die im Gegensatz zur Gesamtlösung als Einzellösung bezeichnete Gegenmeinung würde besser als Lehre von der persönlichen Versuchshandlung charakterisiert. Denn ihr Ausgangspunkt ist, dass diejenige Tatsache, von der es abhängt, ob der Täter sich wegen eines Versuchs strafbar macht oder nicht, nur eine Handlung des Täters selbst sein kann. Deshalb subsumiert sie unter den Begriff des Versuchs diejenige Handlung, durch die der Täter den Tatmittler zu seinem Werkzeug macht, also dessen Bedrohung, Täuschung oder bei einem schuldunfähigen Tatmittler dessen Anstiftung.4 Diese Handlung ist bei mittelbarer Täterschaft niemals eine Ausführungshandlung im Sinne des verwirklichten Tatbestandes. Denn wenn der Täter eine solche Ausführungshandlung selbst begeht, liegt gar kein Fall der mittelbaren Täterschaft vor, auch wenn im weiteren Kausalverlauf nicht tatbestandsmäßige Handlungen anderer Personen vorkommen. Wenn man es bereits unter den Begriff des Tötens subsumiert, dass der Täter dem Opfer ein vergiftetes Getränkt reicht, so liegt nicht deshalb ein Fall der mittelbaren Täterschaft vor, weil das Opfer das Glas ahnungslos austrinkt. Die Lehre von der persönlichen Versuchshandlung kann also bei mittelbarer Täterschaft den Begriff des Versuchs nicht genauso bestimmen, wie bei unmittelbarer. Streit herrscht unter den Anhängern dieser Lehre darüber, ob der Versuch erst dann beginnt, wenn der Täter den Tatmittler, den er zum Werkzeug gemacht hat, aus seinem Machtbereich entlässt5, oder bereits dann, wenn er beginnt, ihn zu seinem Werkzeug zu machen.6 3. Rechtsprechung Der BGH hatte in neuerer Zeit mehrfach Gelegenheit, sich zu dieser Frage zu äußern.7 Im sog. Salzsäurefall verurteilte er den Angeklagten wegen eines Tötungsversuchs in mittelbarer Täterschaft, weil er zwei Personen überredet hatte, auf sein Opfer einen Raubüberfall zu begehen und ihnen zu diesem Zweck ein angeblich harmloses Betäubungsmittel übergeben hatte, das in Wirklichkeit hochkonzentrierte Salzsäure war. Dieses angebliche Betäubungsmittel sollten sie dem Opfer gewaltsam einflößen, so dass es an Magenblutungen gestorben wäre. Die potentiellen Räuber wurden auf der Fahrt
__________ 4
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Lackner/Kühl § 22 Rz. 9; LK-Roxin § 25 Rz. 152; ders. AT/2, 29/244; ders. FS Maurach (1972), 213 (218); SK-Rudolphi § 22 Rz. 20a; Baumann/Weber/Mitsch AT, 29/155; Jakobs AT, 21/105; Jescheck/Weigend AT, S. 673; Puppe AT/2, 35/44; dies. JuS 1989, 361 (362), Böse JA 1999, 342 (344). Lackner/Kühl § 22 Rz. 9; LK-Roxin § 25 Rz. 152; ders. AT/2, 29/244; ders. FS Maurach (1972), 213 (218); SK-Rudolphi § 22 Rz. 20a; Jescheck/Weigend AT S. 673. Baumann/Weber/Mitsch AT, 29/155; Jakobs AT, 21/105; Puppe AT/2, 35/44; dies. JuS 1989, 361 (362). BGHSt 30, 363; 40, 257 (268); 43, 177 (181); BGH NStZ 2001, 475 (476); BGH StV 2001, 272 f.
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Der Versuch des mittelbaren Täters
zum Tatort neugierig auf den Inhalt der ihnen übergebenen Flasche und öffneten sie. Als ihnen der ätzende Geruch der Salzsäure entgegen stieg, sahen sie von der weiteren Durchführung ihres Raubplanes ab. Die Annahme einer versuchten Tötung in mittelbarer Täterschaft begründet der BGH wie folgt: „Denn wer die Tat durch einen anderen begehen will, setzt zur Verwirklichung des Tatbestandes der geplanten Straftat unmittelbar an, wenn er den Tatmittler zur Tatausführung bestimmt hat und ihn aus seinem Einwirkungsbereich in der Vorstellung entlässt, dass er die tatbestandsmäßige Handlung nunmehr vornehmen werde.“8 Damit hat der BGH die Theorie von der persönlichen Versuchshandlung, die sog. Einzellösung, anerkannt. Dreizehn Jahre später hatte der BGH folgenden Fall zu entscheiden: Der Angeklagte, ein Apotheker, war in seinem offenbar nicht ständig bewohnten Haus von Einbrechern heimgesucht worden, die sich an seiner Hausbar bedient hatten und einige Gegenstände, offenbar zur späteren Abholung, in das von außen leichter zugängliche Obergeschoß getragen hatten. In der Erwartung, dass sie in einer der nächsten Nächte in das Haus zurückkehren würden, stellte der Angeklagte in den Flur eine Flasche mit der Aufschrift „Echter … Bayerwald Bärwurz“, die aber in Wirklichkeit ein tödliches Gift enthielt. Als der Angeklagte erfuhr, dass Polizisten in seinem Hause Posten bezogen hatten, um die Einbrecher abzufangen, meldete er das Vorhandensein der Giftflasche und erklärte sich mit deren Entfernung einverstanden. Der BGH lehnt einen Versuch in mittelbarer Täterschaft ab. Dieses Ergebnis wird wie folgt begründet: „Zwar setzt der Täter bereits zur Tat an, wenn er seine Falle aufstellt, doch wirkt dieser Angriff auf das geschützte Rechtsgut erst dann unmittelbar, wenn sich das Opfer in den Wirkungsbereich des vorbereiteten Tatmittels begibt. Ob das der Fall ist, richtet sich nach dem Tatplan. Steht für den Täter fest, das Opfer werde erscheinen und sein für den Taterfolg eingeplantes Verhalten bewirken, so liegt eine unmittelbare Gefährdung (nach dem Tatplan) bereits mit Abschluss der Tathandlung vor (etwa wenn der Täter eine Zeitbombe an einem belebten Platz deponiert). Hält der Täter – wie hier – ein Erscheinen des Opfers im Wirkungskreis des Tatmittels hingegen für lediglich möglich, aber noch ungewiss oder gar für wenig wahrscheinlich (etwa beim Wegwerfen einer mit Gift gefüllten Schnapsflasche im Wald), so tritt eine unmittelbare Rechtsgutsgefährdung nach dem Tatplan erst dann ein, wenn das Opfer tatsächlich erscheint, dabei Anstalten trifft, die erwartete selbstschädigende Handlung vorzunehmen, und sich deshalb die Gefahr für das Opfer verdichtet.“9 Es scheint, dass sich diese Kombination von Einzellösung und Gesamtlösung in der Rechtsprechung des BGH verfestigt.10
__________ 8 BGHSt 30, 363 (365). 9 BGHSt 43, 177 (181). 10 BGH NStZ 2001, 475 (476); BGH StV 2001, 272 (273); ähnlich differenziert Zaczyk in NK § 22 Rz. 30.
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Aber diese Entscheidung ist mit der im Salzsäure-Fall getroffenen nicht vereinbar. Auch im Salzsäurefall stand es keineswegs fest, dass die Tatmittler das angebliche Betäubungsmittel gegen das Opfer einsetzen würden. Abgesehen von der Möglichkeit, dass sie, wie tatsächlich geschehen, aus Neugier den Inhalt untersuchen würden, bestand die weitere Möglichkeit, dass sie sich schließlich zu dem ihnen angesonnenen Raubüberfall nicht würden entschließen können. Auch sollte zwischen der Einwirkung des mittelbaren Täters auf die Tatmittler und der Gefährdung des Opfers nach dem Tatplan noch einige Zeit vergehen. Das Opfer befand sich noch gar nicht im Wirkungsbereich der Tatmittler und war noch nicht in dem Sinne unmittelbar gefährdet, wie es die Entscheidung im Bärwurz-Fall für den Versuch der mittelbaren Täterschaft verlangt. In der Begründung der Bärwurz-Entscheidung hat der Senat die Salzsäure-Entscheidung nicht erwähnt, geschweige denn sich mit ihr auseinander gesetzt. Aber die Bärwurz-Entscheidung ist auch in sich nicht konsistent, weil der BGH hier die Lehre von der persönlichen Versuchshandlung und die Lehre von der Gesamttat nebeneinander alternativ für anwendbar erklärt. Die Theorie von der persönlichen Versuchshandlung wird angewandt, wenn der Täter sich sicher ist (wann kann er das sein?), dass das Werkzeug funktionieren bzw. das Opfer in seine Falle gehen wird. Dann soll der Versuch schon mit seiner eigenen Handlung vorliegen. Reicht aber diese seine Handlung nicht aus, um eine hinreichend große Gefahr für das Opfer zu begründen, so soll gemäß der Lehre von der Gesamttat die Handlung des Werkzeuges bzw. des Opfers selbst diese Gefahr begründen können. Nach der Lehre von der persönlichen Versuchshandlung ist das ausgeschlossen. Reicht die Handlung des Täters nicht aus, um eine Gefahr zu begründen, um derentwillen der etwaige Erfolg zum Vorsatz zugerechnet werden kann, so liegt kein Versuch vor. Auch wenn sich die Gefahr dann durch die Handlung des Werkzeugs bzw. des Opfers ohne Zutun des Täters steigert und schließlich zum Erfolg führt, so kann dies dem Täter allenfalls zur Fahrlässigkeit zugerechnet werden.11 In dem vom BGH hinzugezogenen eindeutigen Hilfsfall, dass der Täter eine vergiftete Schnapsflasche im Wald wegwarf und dabei an die Möglichkeit denkt, dass ein ahnungsloser Spaziergänger sie findet, davon trinkt und stirbt, würde die vom Täter gesetzte Gefahr nur bewusste Fahrlässigkeit begründen. Dann kann der Vorsatz und die Zurechnung des Erfolges zum Vorsatz auch nicht dadurch begründet werden, dass irgendwann ohne Wissen des Täters ein alkoholsüchtiger Wanderer tatsächlich die Flasche findet und davon trinkt. Nach der Lehre von der Gesamttat tritt die für den Versuch erforderliche unmittelbare Gefährdung des Rechtsgutsobjekts durch die Handlung des Täters auch dann nicht ein, wenn diese in Wirklichkeit oder nach der Vorstellung
__________ 11 Puppe AT/2, 35/48 f.
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Der Versuch des mittelbaren Täters
des Täters mit Sicherheit dazu führen wird, dass das Werkzeug oder das Opfer selbst den Erfolg herbeiführen wird. Denn nach der Lehre von der Gesamttat ist unter Unmittelbarkeit der Gefährdung nicht nur eine hohe Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts zu verstehen, sondern auch sein zeitlich unmittelbares Bevorstehen. Dass die Lehre von der persönlichen Versuchshandlung bei der mittelbaren Täterschaft den Versuchsbeginn und auch die Versuchsbeendigung zeitlich zu weit vor dem Vollendungszeitpunkt ansetzt, ist gerade der Vorwurf, den die Anhänger der Lehre von der Gesamtbetrachtung der Lehre von der persönlichen Versuchshandlung machen.12 Man könnte die beiden vom BGH anerkannten Alternativen der Versuchsbestimmung bei mittelbarer Täterschaft allenfalls dadurch miteinander vereinbaren, dass man generell für den Versuch in mittelbarer Täterschaft fordert, dass der Täter sich des Eintritts des Erfolges sicher ist.13 Aber abgesehen davon, dass eine solche Forderung sonst an den Versuch auch nicht gestellt wird, würde das bedeuten, dass ein Versuch der mittelbaren Täterschaft durch das Handeln des Werkzeugs oder des Opfers nur dann begründet würde, wenn der Täter dieses Handeln bewusst selbst erlebt. Ein solches Erlebnis des mittelbaren Täters verlangt aber der BGH nicht. Es hätte auch in der Begründung des Unrechts der mittelbaren Täterschaft keine Funktion, sofern der mittelbare Täter in dem Zeitpunkt, in dem das Werkzeug zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt, keinen Einfluss mehr auf diese hat. Die beiden dogmatischen Konzeptionen des Versuchs der mittelbaren Täterschaft, die Gesamtlösung und die sog. Einzellösung sind also miteinander unvereinbar und lassen sich nicht, wie der BGH dies in neuerer Zeit tut, je nach Bedarf alternativ auf einen Fall anwenden. Es muss zwischen ihnen entschieden werden.
II. Kritik der Lehre von der Gesamttat Die Lehre von der Gesamttat nimmt als Vorzug für sich in Anspruch, den Versuch des mittelbaren Täters genau so zu bestimmen, wie der Versuch des unmittelbaren Täters bestimmt wird und zwar gemäß dem Wortlaut des § 22.14 Danach liegt ein Versuch vor, wenn die Handlung unter die tatbestandsmäßige Handlungsbeschreibung subsumierbar ist oder doch unmittelbar in eine solche tatbestandsmäßige Handlung übergeht. Da nur die Handlung des Werkzeugs die äußere Gestalt der tatbestandsmäßigen Versuchshandlung aufweist, wird sie mit der Handlung des mittelbaren Täters zu einer Gesamttat zusammengefasst.
__________
12 LK-Hillenkamp § 22 Rz. 159; Herzberg FS Roxin (2001), 749 (757); Krack ZStW 110 (1998), 611 (629 ff.); Küper JZ 1983, 361 (368); vgl. auch NK-Zaczyk § 22 Rz. 31. 13 So wohl Zaczyk in NK § 22 Rz. 30. 14 LK-Hillenkamp § 22 Rz. 157 f.; NK-Zaczyk § 22 Rz. 30; Stratenwerth/Kuhlen AT, 12/105; Herzberg FS Roxin (2001), 749 (751); Krack ZStW 110 (1998), 611 (628); Küper JZ 1983, 361 (369).
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Aber die Handlung des Werkzeugs kann allenfalls dann unter den Begriff des tatbestandsmäßigen Versuchs subsumiert werden, wenn das Werkzeug vorsätzlich handelt. Eine unvorsätzliche Handlung ist kein Wegnehmen, kein Nötigen, kein Täuschen und auch kein Töten. Aber auch wenn das Werkzeug im natürlichen Sinne vorsätzlich handelt, ist seine Handlung nur in einem verbrechenssystematisch vorläufigen Sinne ein Versuch. Dem schuldlos handelnden Werkzeug oder dem kindlichen Werkzeug fehlt die Kompetenz, dem genötigten Werkzeug fehlt die Freiheit, um jene Entscheidung über das Wie und Ob der Tat zu fällen, die den Versuch ausmacht und seine Strafbarkeit begründet. Das Manko der Kompetenz, der Freiheit oder des Vorsatzes des Werkzeugs soll nun dadurch wettgemacht werden, dass die Handlung des Werkzeugs dem mittelbaren Täter so zugerechnet wird, als sei es seine eigene Handlung.15 Stellen wir zunächst die Frage zurück, wie die Lehre von der Gesamttat diese Zurechnung legitimieren will, nachdem sie dem mittelbaren Täter noch attestiert hat, dass diejenige Gefahr, die er durch sein eigenes Handeln gesetzt hat, nicht hinreicht, ihm den vom Tatmittler verursachten tatbestandsmäßigen Erfolg zum Vorsatz zuzurechnen. Eine Zurechnung der Handlung des Werkzeugs zum mittelbaren Täter würde nichts daran ändern, dass dessen Vorsatz mit dieser Handlung zeitlich nicht zusammenfällt. Es wäre ein dolus antecedens. Aber ein dolus antecedens ist eben kein Vorsatz. Ein Vorsatz ist nicht ein mehr oder weniger bestimmter Tatplan, den der Täter vor der Tat mit sich herumträgt, sondern der tatmächtige Wille. Er konstituiert sich in der Tat und mit der Tat.16 Diesen tatmächtigen Vorsatz von einem straflosen Tatplan zu unterscheiden ist eine der Funktionen des Versuchsbegriffs. Mit dieser Funktion des Versuchsbegriffs ist es unvereinbar, dass nach der Lehre von der Gesamttat der Täter von seinem Werkzeug, in der Regel ohne dies überhaupt zu bemerken, über die Schwelle zum Jetztgeht-es-los gewissermaßen getragen wird.17 Dagegen hält auch das von manchen Verfechtern der Gesamtlösung vorgeschlagene umgekehrte Verfahren nicht, dem Werkzeug den Vorsatz zu substituieren, den der Täter in dem Moment hatte, als er es zum Werkzeug machte.18 Außerdem wäre dieser Vorsatz doch eine reine Fiktion und deshalb als Grundlage der Strafbarkeit eines Versuchs ebensowenig geeignet wie als Grundlage der Zurechnung des Deliktserfolges. Das Bestreben, eine versuchte und auch eine vollendete Tat in mittelbarer Täterschaft als eine Gesamttat aus objektiven und subjektiven Verbrechenselementen, die teils vom Täter, teils vom Werkzeug verwirklicht werden, wie ein Mosaik zu-
__________ 15 Herzberg FS Roxin (2001), 749 (751); Krack ZStW 110 (1998), 611 (639); Küper JZ 1983, 361 (369). 16 NK-Puppe § 15 Rz. 100; dies. AT/2, 35/35; dies. JuS 1989, 361 (364). 17 Roxin FS Maurach (1972), 213 (224); Puppe AT/2, 44/8; dies. JuS 1989, 361 (364). 18 Herzberg FS Roxin (2001), 749 (768).
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sammenzusetzen, ist also schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil diese Mosaiksteine ihren Sinn und ihre Funktion im Aufbau des Verbrechens verlieren, sobald man sie aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang löst. Aber wie ist es nun mit dem Kitt bestellt, der dieses Mosaik zusammenhalten soll? Er heißt Zurechnung. Ausgehend von der These, dass die Handlung des mittelbaren Täters, durch die er sich den Tatmittler zum Werkzeug macht, noch nicht dazu ausreicht, die Zurechnung des Erfolges zu seinem Vorsatz zu begründen, wird diese Zurechnung dadurch begründet, dass dem mittelbaren Täter die Handlung des Werkzeugs als quasi eigene zugerechnet wird.19 Aber man kann Zurechnung nicht dadurch begründen, dass man zurechnet. Dieser Zirkelschluss wird in neuerer Zeit in der Teilnahmelehre nicht selten begangen. Der krasseste Fall dieser Art ist die Begründung von Kausalität der Handlung eines Angeklagten damit, dass man sein Handeln mit dem anderer zur Mittäterschaft zusammenfasst, um sodann festzustellen, dass das Handeln aller Mittäter zusammen nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele, um sodann die Mittäterschaft des einzelnen mit der auf diese Weise festgestellten Kausalität seiner Handlung für den Erfolg zu begründen.20 Auch die sog. Gesamtlösung bei der Mittäterschaft21 unterliegt diesem Einwand. Wenn ein Mittäter eben dadurch zum Mittäter wird, dass ein anderer mit der Ausführung des gemeinsamen Tatplans beginnt, so kann man dies nicht damit begründen, dass man ihm die Handlung des Tatgenossen mit der Begründung zurechnet, dass er Mittäter ist. Man muss dann vielmehr die Voraussetzungen der Zurechnung kraft Mittäterschaft neu und unabhängig vom Anfang der Ausführung im Vorbereitungsstadium begründen. Ebenso muss die Lehre von der Gesamttat bei der mittelbaren Täterschaft verfahren. Die Zurechnung der Handlung des Werkzeugs zum mittelbaren Täter kann nur damit begründet werden, dass dieser den Tatmittler zuvor zu seinem Werkzeug gemacht hat. Diese seine eigene Handlung reicht aber nach der Ausgangsthese der Lehre von der Gesamttat nicht aus, um die Zurechnung der Tatvollendung durch das Werkzeug zu begründen. Wie kann sie dann dazu ausreichen, die Zurechnung der Handlung des Werkzeugs zu begründen? Wenn es richtig ist, dass die vom mittelbaren Täter selbst geschaffene Erfolgsgefahr nicht groß genug ist, um
__________ 19 LK-Hillenkamp § 22 Rz. 156 ff.; NK-Zaczyk § 22 Rz. 30; Stratenwerth/Kuhlen AT, 12/105; Herzberg FS Roxin (2001), 749 (750); Krack ZStW 110 (1998), 611 (628); Küper JZ 1983, 361 (369). 20 BGHSt 37; 106 (126 ff.); Brammsen Jura 1991, 533 (537); Beulke/Bachmann JuS 1992, 737 (743 ff.); Dencker (1996), 120 ff.; Hilgendorf (1993), 125 f.; ders. NStZ 1994, 561 (563); Kuhlen NStZ 1990, 566 (570); Otto WiB 1995, 929 (934); Ransiek (1996), 59 ff.; Toepel (1992), 71 f.; Roxin AT/2, 25/213, anders noch ders. AT/1, 11/18, dagegen NK-Puppe vor § 13 Rz. 93; dies. JR 1992, 27 (32). 21 BGHSt 36, 249 (250); 39, 236 (237); 40, 299 (301), wistra 1987, 26 (27); Jescheck/ Weigend AT, S. 681; Wessels/Beulke AT, Rz. 611; Krack ZStW 110 (1998), 611 (621), Maiwald ZStW 93 (1981), 879 (883 ff.); Otto JA 1980, 641 (646); Stoffers MDR 1989, 208 (213).
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ihm den schließlichen Eintritt des Erfolges als sein Werk zum Vorsatz zuzurechnen, so kann eine solche Zurechnung nicht dadurch begründet werden, dass sich diese Gefahr im weiteren Verlauf ohne Zutun des mittelbaren Täters zu einer hundertprozentigen Gefahr und schließlich zum Erfolg entwickelt.22 Das gleiche geschieht ja auch beim Fahrlässigkeitsdelikt, wenn es schließlich zum Eintritt des Erfolges kommt. Wer also bestreitet, dass die Handlung des mittelbaren Täters geeignet ist, die Zurechnung des weiteren Kausalverlaufs bis hin zum Erfolg zu begründen, der entzieht nicht nur der Lehre von der persönlichen Versuchshandlung des mittelbaren Täters (sog. Einzellösung) die Grundlage, sondern der Zurechnungsfigur der mittelbaren Täterschaft insgesamt. Diesem Einwand versuchen Vertreter der Lehre von der Gesamttat dadurch zu begegnen, dass sie eine Parallele zur Anstiftung ziehen und die Zurechnung der Handlung des Werkzeugs zum mittelbaren Täter als Form der Akzessorietät begründen.23 Aber der Vergleich hinkt. Grundlage der Zurechnung des Versuchs der Haupttat an den Anstifter ist dessen vorsätzliche Anstiftungshandlung. Vorsatz und Handlung treffen zeitlich und inhaltlich zusammen. Der Vorsatz des Haupttäters ist ebenso wie sein Ansetzen zur Haupttat für den Anstifter nichts anderes als ein äußerer Erfolg seiner Tat, ebenso wie die etwa nachfolgende Vollendung der Haupttat. Ein Versuch der Anstiftung liegt bereits vor, wenn der Anstifter es unternommen hat, den Täter zur Tat zu bestimmen, nur dass dieser Versuch bei Vergehen nicht strafbar ist. Auch das akzessorische Zurechnungsmuster der Anstiftung führt also, auf die mittelbare Täterschaft angewandt, zu dem Ergebnis, dass ein Versuch der mittelbaren Täterschaft bereits dann vorliegt, wenn der mittelbare Täter es unternommen hat, den Tatmittler zu seinem Werkzeug zu machen.
III. Kritik der Lehre von der persönlichen Versuchshandlung Die sog. Einzellösung geht davon aus, dass der Versuch eines mittelbaren Täters derjenige Sachverhalt ist, der die Zurechnung des weiteren Geschehens zum Vorsatz des mittelbaren Täters begründet. Dies kann nur die Handlung des mittelbaren Täters selbst sein. Sie lehnt es ab, die Handlung des Werkzeugs dem mittelbaren Täter wie eigenes Handeln zuzurechnen, um sie dann mit der eigenen Handlung des mittelbaren Täters zu einer Gesamthandlung zu verbinden. Als Handlung und als vorwerfbares Handlungsunrecht kann der Person nur ihre eigene Handlung zugerechnet werden. Fremdes Handeln ist und bleibt für die Person nur ein äußeres Ereignis und kann ihr deshalb nur als Erfolg und als Erfolgsunrecht zugerechnet werden. Danach muss der Versuch des mittelbaren Täters spätestens in dem Moment
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22 Puppe AT/2, 35/48. 23 LK-Hillenkamp § 22 Rz. 159; Küper JZ 1983, 361 (369).
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Der Versuch des mittelbaren Täters
beginnen, wo dieser zu Handeln aufhört, also wenn er das Werkzeug tatbereit gemacht hat.24 Dem hält die Lehre von der Gesamttat entgegen, dass in diesem Zeitpunkt das Rechtsgutsobjekt noch gar nicht gefährdet, noch gar nicht „in der Krise“ sei.25 Deshalb will sie die Voraussetzungen des Anfangs der Ausführung von der Voraussetzung der Zurechnung des weiteren Geschehens zum Vorsatz des mittelbaren Täters trennen.26 Aber auch das Urteil, dass das Rechtsgutsobjekt dadurch noch nicht gefährdet wird, dass der Täter einen Tatmittler zu seinem Tatwerkzeug macht, ist allzu äußerlich. Hat der Täter das Werkzeug tatbereit gemacht, so hat er denjenigen Kausalverlauf angestoßen, der, sofern er zum Erfolg führt, auch nach der Lehre von der Gesamttat hinreicht, um die Zurechnung dieses Erfolges zum Vorsatz des Täters zu begründen obwohl sein Beitrag zu diesem Kausalverlauf nur eine Vorbereitungshandlung sein soll. Dieser Kausalverlauf selbst ist ebenso „blind“ wie ein natürlicher Kausalprozess. Zwischen der Handlung des mittelbaren Täters und der Verletzung des Rechtsgutsobjekts steht keine bewusste und freiverantwortliche Entscheidung, die die Verletzung des Rechtsgutsobjekts zum Gegenstand hat. Das gilt auch dann, wenn das Werkzeug eine andere rechtliche oder moralische Entscheidung noch zu treffen hat, z. B. im Salzsäure-Fall die, ob es einen Raub begeht. Wenn die so verursachte Gefährdung des Rechtsgutsobjekts nun nicht genügen soll, um den Anfang der Ausführung zu begründen, so fragt es sich, was noch hinzukommen könnte. In dieser Frage ist die Lehre von der Gesamttat gespalten. Ein Teil ihrer Vertreter fordert für einen Versuch des mittelbaren Täters, dass das Werkzeug tatsächlich zu der ihm angesonnenen Handlung angesetzt hat.27 Ein anderer Teil verlangt unter Hinweis auf den Wortlaut des § 22, dass dies in der Vorstellung des Täters geschehen sei.28 Der Anfang der Ausführung wird also bis zu dem Zeitpunkt hinausgeschoben, zu dem nach dem Plan des Täters das Werkzeug handeln soll. Erfährt der Täter vor diesem Zeitpunkt, dass sein Plan gescheitert ist, so soll kein Versuch vorliegen, denn dann kann der Täter im maßgeblichen Zeitpunkt die Vorstellung, dass das Werkzeug nunmehr zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt, gar nicht mehr haben. Die Konsequenz daraus wäre, dass der Versuch nicht beginnen würde, wenn der mittelbare Täter in diesem Zeitpunkt überhaupt nicht mehr an seine Tat denkt, die weitere Konsequenz, dass für
__________ 24 Lackner/Kühl § 22 Rz. 9; LK-Roxin § 25 Rz. 152; Roxin AT/2, 29/244; ders. FS Maurach (1972), 213 (218); SK-Rudolphi § 22 Rz. 20a; Jescheck/Weigend AT, S. 673. 25 LK-Hillenkamp § 22 Rz. 159; NK-Zaczyk § 22 Rz. 31; Krack ZStW 110 (1998), 611 (629 ff.); Küper JZ 1983, 361 (376). 26 Küper JZ 1983, 361 (369); wohl auch NK Zaczyk § 22 Rz. 31. 27 So Krack ZStW 110 (1998), 611 (638); Küper JZ 1983, 361 (369); LK-Hillenkamp § 22 Rz. 160; NK-Zaczyk § 22 Rz. 30. 28 So Herzberg FS Roxin (2001), 749 (768).
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diesen Fall dem mittelbaren Täter die Vollendung nicht zugerechnet werden könnte, falls das Werkzeug tatsächlich funktioniert. Denn die Zurechnung eines Taterfolges zum Vorsatz setzt voraus, dass ein strafbarer Versuch vorliegt. Verursacht der Täter den Erfolg lediglich durch eine Vorbereitungshandlung, so kann er ihm allenfalls zur Fahrlässigkeit zugerechnet werden.29 Für die unmittelbare Täterschaft ist das unstreitig.30 Um dieses Ergebnis zu vermeiden soll es nun genügen, dass die Vorstellung vom unmittelbaren Ansetzen des Werkzeugs im „schlafenden Bewusstsein“ des Täters vorhanden ist.31 Das soll dann der Fall sein, wenn er nicht zuvor vom Scheitern seines Tatplans erfahren hat. Dieses schlafende Bewusstsein wird gleich gesetzt mit dem sog. sachgedanklichen Mitbewusstsein.32 Diese keineswegs unumstrittene Figur wird angewandt auf persönliche Eigenschaften und Verhältnisse des Täters, etwa seine Eigenschaft als Amtsträger, als Vater oder als Vorgesetzter,33 um ihn den Einwand zu verlegen, er habe in dem Moment, in dem er ein Sonderdelikt beging, an seine Sondereigenschaft gerade nicht gedacht, z. B. an seine Amtsträgereigenschaft in dem Moment, als er sich bestechen ließ. Mag es noch hingehen, einem Täter ein solches sachgedankliches Mitbewusstsein im Bezug auf seine eigenen ständigen Eigenschaften oder Verhältnisse zu unterstellen, so kann diese Figur doch jedenfalls nicht auf plötzliche Einzelereignisse angewandt werden, die außerhalb des Machtbereichs des Täters stattfinden. Ein solches Ereignis ist die sog. „Zuspitzungshandlung“34 des Werkzeugs bei der mittelbaren Täterschaft. Wenn der Täter in dem Augenblick, in dem sie nach seinem Tatplan eintreten soll oder auch tatsächlich eintritt, nicht an sie denkt, so ist nichts davon in seinem Bewusstsein vorhanden. Aber selbst wenn er daran denkt, so stellt sich doch die Frage, was sein daran Denken dem Unrechtsgehalt seines bisherigen Verhaltens dem noch hinzufügen soll, um aus der Vorbereitungshandlung einen Versuch zu machen. Dieses daran Denken hat in Wirklichkeit und auch nach der Vorstellung des Täters nicht mehr den geringsten Einfluss auf Eintritt oder Ausbleiben des Erfolges. Es ist kein Erfolgsunrecht, weil es nur in der Vorstellung des Täters, nicht aber in Wirklichkeit stattfindet, es ist auch kein Handlungsunrecht,
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29 Puppe AT/2, 35/45. 30 BGHSt 23, 133 (135); NStZ 1991, 537; NStZ 2000, 309; NStZ 2002, 309; 475 (476); Lackner/Kühl § 15 Rz. 11; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben § 15 Rz. 55; SK-Rudolphi § 16 Rz. 34; Tröndle/Fischer § 16 Rz. 7; Stratenwerth/Kuhlen AT, 8/94; NK-Puppe § 16 Rz. 88; dies. AT/1, 20/2; dies. (1992), (37); Roxin GA 2003, 257 (260 f.); Schlehofer (1996), 37 f. 31 Herzberg FS Roxin (2001), 749 (768). 32 Herzberg FS Roxin (2001), 749 (768). 33 MüKo-Joecks § 16 Rz. 46; NK-Puppe § 16 Rz. 165; Schönke/Schröder/Cramer/ Sternberg-Lieben § 15 Rz. 51; SK-Rudolphi § 16 Rz. 24; Tröndle/Fischer § 15 Rz. 3; Bockelmann/Volk AT, S. 73; Haft AT S. 147; Maurach/Zipf AT/1, 22/48; Welzel Lb (1969), 65; kritisch Frisch, GS Armin Kaufmann (1989), 311 ff. 34 Herzberg FS Roxin (2001), 749 (768).
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Der Versuch des mittelbaren Täters
weil der Täter in diesem Moment nicht mehr handelt. Die Zurechnung des Taterfolges kann, sofern er wirklich eintritt, nicht von einem solchen daran Denken abhängen und demgemäß auch nicht der Eintritt des Versuchs. Was zur Tat eines mittelbaren Täters an Unrecht noch hinzukommen kann, nachdem dieser den Tatmittler zu seinem Werkzeug gemacht hat, ist das äußerlich tatbestandsmäßige Handeln des Tatmittlers, also ein reines Erfolgsunrecht. Einige Anhänger der Lehre von der Gesamttat machen den Versuch des mittelbaren Täters denn auch von einem solchen objektiven Unrechtserfolg abhängig, nämlich davon, dass der Tatmittler seinerseits tatsächlich zur äußeren Verwirklichung des Tatbestandes ansetzt.35 Sie können sich dabei jedenfalls nicht auf den Wortlaut des § 22 berufen, der die Versuchsbestimmung ausschließlich an der Vorstellung des Täters, nicht an objektiven Begebenheiten orientiert. Sie können sich auch nicht auf die allgemein anerkannte Versuchsdogmatik berufen, die dies ebenfalls tut. Unter Berufung auf den Wortlaut des Gesetzes, aber auch auf die Unmöglichkeit allgemein gültiger Kriterien zur Unterscheidung zwischen einem tauglichen und einem untauglichen Versuch anzugeben, lehnt die h.L. diese Unterscheidung ab.36 Für diejenigen Autoren, die praeter legem die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs ablehnen,37 ist aber damit noch nicht entschieden, dass der Versuch des mittelbaren Täters, der nicht zu einem äußerlich tatbestandsmäßigen Handeln des Werkzeugs führt, als untauglicher Versuch straflos ist. Als untauglich gilt ein Versuch doch nur dann, wenn er von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, weil der Täter völlig untaugliche Mittel einsetzt. In diesem Sinne wäre der Versuch eines mittelbaren Täters z. B. dann untauglich, wenn entweder die dem Werkzeug angesonnene Handlung zur Erfolgsherbeiführung absolut ungeeignet ist oder die Mittel, mit denen der mittelbare Täter den Tatmittler zu seinem Werkzeug zu machen versucht, so töricht sind, dass sie von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Dagegen würde man einen Versuch, der nur durch Zufall scheitert oder gar deshalb, weil eine in den Tatplan eingeschaltete Person einen anderen Entschluss fasst, als vom Täter erwartet, wohl kaum als untauglich bezeichnen. War etwa der Tötungsversuch im Salzsäure-Fall deshalb ein untauglicher, weil sich die Tatmittler wider Erwarten des mittelbaren Täters aus Neugier entschlossen, einmal an der Flasche mit den angeblichen K.O.-Tropfen zu riechen? Hätten sie das bleiben lassen und wären sie bei ihrem Raubentschluss geblieben, so wäre der Tötungsversuch des mittelbaren Täters erfolgreich gewesen. Die Kritiker der Lehre von der persönlichen Versuchshandlung müssen also dartun, warum bei der mittelbaren Täterschaft, und nur bei die-
__________ 35 LK-Hillenkamp § 22 Rz. 160; NK-Zaczyk § 22 Rz. 31; Krack ZStW 110 (1998), 611 (638); Küper JZ 1983, 361 (370); Streng ZStW 109 (1997), 862 (888 Fn. 90). 36 Otto AT, 18/58 ff.; Roxin AT/2, 29/346. 37 Köhler AT (1997), 458; differenzierend NK-Zaczyk § 22 Rz. 48; ders. (1989), 255.
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ser, außer der den Vorsatz und letztlich die Erfolgszurechnung begründenden Handlung des Täters noch ein besonderer Gefährdungserfolg erforderlich sein soll, um seine Strafbarkeit wegen Versuchs zu begründen. Auch zu diesem Zweck wird die Parallele zur Anstiftung gezogen,38 was deshalb nahe liegt, weil es für die Anstiftung wie für die mittelbare Täterschaft charakteristisch ist, dass der Erfolg erst eine gewisse Zeit nach der Handlung des Hintermannes eintreten kann. Eben das ist ja der Grund dafür, dass die Gegner der sog. Einzellösung die Annahme eines Versuchs bei Beendigung der Handlung des mittelbaren Täters für verfrüht halten. Aber sofern man den Vergleich mit der Anstiftung akzeptiert, spricht er sowohl begrifflich als auch wertmäßig gegen die These, dass der Versuch des mittelbaren Täters in der Handlung des Werkzeugs bestehen soll. Begrifflich besteht der Versuch des Anstifters unstreitig in der Handlung, durch die er den Haupttäter zur Tat zu Bestimmen trachtet. Nach § 30 ist dieser Versuch auch strafbar, sofern es sich um ein Verbrechen handelt. Der Angriff des mittelbaren Täters auf das Rechtsgut ist aber sogar intensiver als der des Anstifters, weil letzterer die Rechtsgutsverletzung immerhin noch von der freien Entscheidung des Haupttäters abhängig macht.39 Soll nun bei einem Verbrechen die Strafbarkeit des mittelbaren Täters später einsetzen, als die des Anstifters? Auch wenn man die Entscheidung des Gesetzgebers für die Strafbarkeit der versuchten Anstiftung zu einem Verbrechen nicht für richtig hält,40 so muss man ihre Konsequenzen für das geltende Recht gleichwohl ziehen und darf nicht bei anderen Formen der Verbrechensteilnahme oder Täterschaft Rechtssätze anwenden, die zu ihr in einem Wertungswiderspruch stehen.41 Aber der Vergleich zwischen Anstiftung und mittelbarer Täterschaft hinkt ohnehin. Die Haupttat wird dem Anstifter zwar nach den Regeln der Akzessorietät zugerechnet, aber eben nicht als seine eigene, sondern als eine fremde Handlung. Die akzessorische Zurechnung soll dem Phänomen der Zusammenarbeit zwischen entscheidungskompetenten Personen Rechnung tragen, die sich dafür entschieden haben, gemeinsam ein Unrecht zu begehen, aber nur einem oder einigen von ihnen, den Haupttätern, die letzte Entscheidung darüber überlassen. Bei der mittelbaren Täterschaft handelt es sich nicht um solche Zusammenarbeit. Der Tatmittler ist, was die Entscheidung über das tatbestandsmäßige Unrecht anbelangt nicht wissend, nicht frei oder nicht kompetent. Sein Handeln wird dem mittelbaren Täter nicht als Teil einer Zusammenarbeit akzessorisch zugerechnet, sondern nur als ein Kausalfaktor, nicht anders als natürliche Kausalfaktoren, deren er sich zur Verwirklichung seines Planes bedient. Deshalb ist sein Handeln, durch
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LK-Hillenkamp § 22 Rz. 159; Küper JZ 1983, 361 (369). Roxin AT/2, 29/255. Küper JZ 1983, 361 (372). Roxin AT/2, 29/255.
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das er sich den Tatmittler zum Werkzeug macht, der vollwertige Versuch der Tatbegehung. Das einzige, was diesen Versuch von einem Versuch des unmittelbaren Täters unterscheiden mag, ist der zeitliche Abstand zwischen der Handlung des Täters und dem Eintritt des Erfolges. Dieser Abstand zwischen Handlung und Erfolg ist es, von dem her die Appelle an das Rechtsgefühl ihre Wirkung beziehen, mit denen der Vorwurf gegen die sog. Einzellösung erhoben wird, dass sie den Versuch des mittelbaren Täters viel zu früh ansetze.42 Als Beispiele für die Unbilligkeit dieser Lösung werden dabei vorzugsweise Fälle herangezogen, in denen der Täter ein älteres Kind zu einer Straftat bestimmt.43 Dies ist ein Grenzfall der mittelbaren Täterschaft, der damit begründet wird, dass auch einem älteren Kind kraft Gesetzes nach § 3 JGG die Fähigkeit abgesprochen wird, sich strafrechtlich verantwortlich zu machen, obwohl ein solches Kind durchaus die Einsichtsfähigkeit in Recht und Unrecht besitzen kann. Wenn man der Ansicht ist, dass die Gefahr der Rechtsgutsverletzung, die der Erwachsene durch Überredung eines älteren Kindes zu einer Straftat geschaffen hat, nicht groß genug ist, um einen Versuch zu begründen, so ist sie auch nicht groß genug, die Zurechnung der Handlung des Kindes zum Erwachsenen als vorsätzliche Vollendung zu begründen. Denn zum Vorsatz zugerechnet wird dem Täter nur das, was er durch einen vorsätzlichen Versuch verursacht hat. Dann muss man für diesen Fall die Anwendung der Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft insgesamt ablehnen, kann nun aber den Erwachsenen immer noch wegen Anstiftung eines schuldlos handelnden Haupttäters verurteilen. Das Phänomen, dass zwischen der Handlung des Täters und dem Eintritt des Erfolges einige Zeit vergeht, tritt auch bei unmittelbarer Täterschaft auf, man spricht dann von einem „Distanzdelikt“44. Zwischen dem Legen einer Bombe mit Zeitzünder und dem Tod des Opfers durch deren Explosion können Stunden, sogar Tage vergehen. Trotzdem liegt der Versuch des Bombenattentats in dem Legen der Bombe und ist beendet, sobald der Attentäter den Ort verlässt. Ich kenne nur einen Autor, der dafür plädiert, den Versuch des Bombenattentats erst beginnen zu lassen, kurz bevor die Bombe explodiert.45 Ein typisches Distanzdelikt ist der Betrug. Zwischen der Täuschung und der auf dieser beruhenden vermögensschädigenden Verfügung können Tage und Wochen vergehen. Der Betrug ist auch gewissermaßen ein vertatbestandlichter Fall von Schädigung des Opfers in mittelbarer Täterschaft.46 Und doch besteht Einigkeit darüber, dass der Betrugsversuch ausschließlich in der
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42 MüKo-Herzberg § 22 Rz. 138; ders. JuS 1985, 3; ders. FS Roxin (2001), 749 (756); Krack ZStW 101 (1998), 911 (631); Küper JZ 1983, 361 (372). 43 Herzberg FS Roxin (2001), 749 (756). 44 Roxin AT/2 29/192, 229. 45 Krack ZStW 110 (1998), 611 (632 f.). 46 Kindhäuser LPK § 263 Rz. 33; ders. FS Bemmann (1997), 339 (348); Schönke/ Schröder-Cramer § 263 Rz. 3; Küper JZ 1992, 338 (347); Lenckner NJW 1971, 600.
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Täuschung des Betrogenen besteht.47 Niemand verlangt, dass der Betrugsversuch erst mit der selbstschädigenden Vermögensverfügung des Getäuschten beginnen soll.48 Die bloße zeitliche Distanz zwischen der Handlung und dem Erfolg ist also entgegen der neuen Rechtsprechung des BGH49 auch bei der mittelbaren Täterschaft kein Grund, den Versuchszeitpunkt hinauszuzögern.50 Kann also ein Versuch nur in einer Handlung des Täters selbst bestehen und besteht das Wesen der mittelbaren Täterschaft gerade darin, dass das Werkzeug die tatbestandsmäßige Handlung übernimmt, so muss bei der Bestimmung des Versuchs in mittelbarer Täterschaft an die Stelle der tatbestandsmäßigen Handlungsbeschreibung diejenige Handlung treten, durch die der Täter den Tatmittler zu seinem Werkzeug macht, also die Täuschung, die Nötigung oder die Überredung des Schuldunfähigen. Der Versuch der mittelbaren Täterschaft beginnt also, wenn der mittelbare Täter zu derjenigen Täuschung, Drohung oder Überredung ansetzt, die unmittelbar zur Tatbereitschaft des Werkzeugs führen soll.51 Auch bei dieser Versuchsform ist also zu unterscheiden zwischen Vorbereitungshandlungen und derjenigen Handlung, durch die der Täter i. S. von § 22 unmittelbar zu seiner Tatbestandsverwirklichung als mittelbarer Täter ansetzt. Zwischen dieser Handlung und dem Moment, in dem der Täter das Werkzeug aus seinem Herrschaftsbereich entlässt muss also zeitliche Kontinuität bestehen. Im Gegensatz zum Versuch des unmittelbaren Täters will Roxin den Versuch des mittelbaren Täters erst in dem Moment beginnen lassen, in dem dieser das Werkzeug aus seinem Einflussbereich entlässt. Das soll ein Ausgleich dafür sein, dass zwischen der Handlung des mittelbaren Täters und der unmittelbaren Gefährdung des Rechtsgutsobjekts durch das Werkzeug noch einige Zeit vergehen kann.52 Es fragt sich aber doch, warum ein solcher Ausgleich überhaupt stattfinden soll, nachdem sich herausgestellt hat, dass der zeitliche Abstand zwischen Täterhandlung und Erfolgseintritt gerade kein Grund dafür ist, den Versuchszeitpunkt hinaus zu schieben. Der Versuch des mittelbaren Täters ist eine vollwertige Versuchshandlung, denn er hat damit eine für die Vorsatzzurechnung ausreichende Gefahr für das Rechtsgutsobjekt geschaffen, mag sich diese auch erst in einem gewissen zeitlichen Abstand realisieren. Es besteht kein Grund, bei der Bestimmung der Grenze zwischen Vorberei-
__________ 47 RGSt 70, 157; 72, 66; BGH 2, 380; 4, 272; NJW 1989, 1436; OLG Karlsruhe NJW 1982, 59; Lackner/Kühl § 263 Rz. 65; Schönke/Schröder-Cramer § 263 Rz. 179; Tröndle/Fischer § 263 Rz. 44. 48 BGHSt 40, 257 (268); BGH NStZ 2001, 475 (476); BGH StV 2001, 272 (273). 49 BGHSt 40, 257 (268); 43, 177; BGH NStZ 2001, 475 (476); BGH StV 2001, 272 (273). 50 Roxin AT/2, 29/263. 51 Bockelmann/Volk AT, § 22 II 3 b, § 27 VII 2 b; Maurach AT, § 41 II 5; Meyer ZStW 87 (1975), 598 (609); Baumann JuS 1963, 92 f.; Bockelmann JZ 1954, 473; Puppe JuS 1989, 361 (363 f.); Schilling 1975, 100 ff., 112 f. 52 Roxin AT/2, 29/244.
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tung und Versuch den mittelbaren Täter gegenüber dem unmittelbaren zu bevorzugen. Man sollte die Bedeutung dieses Streites innerhalb der Anhänger der Lehre von der persönlichen Versuchhandlung allerdings auch nicht überschätzen. Einigkeit besteht darüber, dass nicht jede Handlung, durch die der mittelbare Täter das Werkzeug tatbereit zu machen trachtet, schon eine Versuchshandlung ist, sondern erst diejenige, die nach seiner Vorstellung unmittelbar in die Tatbereitschaft des Werkzeugs übergeht.
IV. Zusammenfassung Es verstößt gegen das Prinzip der persönlichen Verantwortung, also das Schuldprinzip, einer Person die Handlung einer anderen wie eigenes Handeln zuzurechnen. Die Handlung einer anderen Person kann dem Täter nur als sein Erfolg zugerechnet werden. Das schließt es auch aus, Handlungen mehrerer Personen zu einer sog. Gesamthandlung zu verbinden, um diese dann allen gleichermaßen „wie eigenes Handeln“ zuzurechnen. Die Lehre von der Gesamttat ist eine der unglücklichsten Erfindungen der neueren Strafrechtsdogmatik. Das gilt für ihre Anwendung bei der Mittäterschaft ebenso wie für ihre Anwendung bei der mittelbaren Täterschaft. Als Versuch eines mittelbaren Täters kommt also nur seine eigene Handlung in Betracht, durch die er den Tatmittler zu seinem Werkzeug macht. Was dieser Handlung folgt, inklusive der Handlung des Werkzeuges, wird dem Täter nur als Erfolg seiner Handlung und als Teil des Kausalverlaufs zugerechnet, der schließlich zum tatbestandsmäßigen Erfolg führt. Die Grenze zwischen strafloser Vorbereitung und strafbarer Handlung zu bestimmen, ist zwar eine wichtige, aber nicht die einzige Funktion des strafrechtlichen Versuchsbegriffs. Erst mit dem Versuchsbeginn konstituiert sich der Vorsatz. Was der Täter vor diesem Zeitpunkt denkt und plant ist ebensowenig tatbestandsmäßig wie das, was er zur Vorbereitung der Tat tut. Die Verursachung des Erfolges durch den Versuch ist Voraussetzung dafür, dass dem Täter der Erfolg zum Vorsatz zugerechnet wird. Verursacht er ihn durch eine Vorbereitungshandlung, so kann er ihm nur zur Fahrlässigkeit zugerechnet werden, auch wenn er danach noch ins Versuchsstadium eintritt. Nur eine Handlung des mittelbaren Täters, nicht die äußerlich tatbestandsmäßige Handlung des Werkzeuges kann diese Funktion des Versuchs erfüllen. Insbesondere kann, entgegen BGHSt 43, 177 die Zurechnung des Erfolges als vorsätzlich verursacht nicht dadurch begründet werden, dass die zu geringe Gefahr sich ohne weiteres Zutun des Täters, etwa durch ein Verhalten des „Werkzeugs“ oder des Opfers erhöht. Da der Täter durch seine eigene Handlung eine Vorsatzgefahr für den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges geschaffen haben muss, kann nicht davon die Rede sein, dass das Rechtsgut noch gar nicht gefährdet ist, wenn er das Werkzeug aus seinem Einflussbereich entlassen hat. Die Tatsache, 187
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dass zwischen der Handlung des mittelbaren Täters und der durch sie ermöglichten Verletzung des Rechtsgutsobjekts erhebliche Zeit vergehen kann, ist deshalb kein Grund, den Beginn der Strafbarkeit des mittelbaren Täters bis zur Handlung des Werkzeuges hinauszuschieben. Auch der Vergleich mit der Anstiftung begründet eine solche Verzögerung des Versuchsbeginns nicht. Erstens hinkt dieser Vergleich, weil die akzessorische Zurechnung der Täterhandlung zum Anstifter als Teil einer gemeinsamen verbrecherischen Zusammenarbeit auf den Einsatz des Werkzeugs durch den mittelbaren Täter gerade nicht passt. Außerdem begeht der Anstifter im Vergleich zum mittelbaren Täter geringeres Unrecht, weil er die letzte Entscheidung über die Tat dem Haupttäter überlässt und würde doch, sofern es sich um ein Verbrechen handelt nach jener These strenger behandelt als der mittelbare Täter, weil bei der Anstiftung zu einem Verbrechen nach § 30 bereits der Versuch strafbar ist. Da mittelbare Täterschaft nur dann vorliegt, wenn das Werkzeug dem Täter die äußerlich tatbestandsmäßige Handlung abnimmt, kann die tatbestandsmäßige Handlung, zu der der mittelbare Täter i. S. von § 22 unmittelbar ansetzen muss, nur diejenige sein, durch die er das Werkzeug unmittelbar tatbereit macht, also die Täuschung, Drohung oder Überredung des Werkzeuges. Es muss diejenige Handlung sein, die nach der Vorstellung des Täters auch zeitlich unmittelbar die Tatbereitschaft des Werkzeugs zur Folge hat. Allerdings beginnt der Versuch gem. § 22 bereits dann, wenn der Täter unmittelbar zu dieser Handlung ansetzt, nicht erst, wenn er sie beendet, also nach seiner Vorstellung das Werkzeug tatbereit gemacht hat. Auch in diesem Kontext ist die Tatsache, dass der Erfolg unter Umständen erst deutlich später eintreten kann, kein Grund, den Eintritt des Versuchsbeginn bis zur Entlassung des Werkzeugs aus dem Einflussbereich des mittelbaren Täters hinauszuzögern. Beim mittelbaren Täter kann also ebenso wie beim unmittelbaren zwischen dem Beginn und der Beendigung des Versuchs unterschieden werden.
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Zur Annahme von Tötungsvorsatz bei Abgabe von Schüssen auf Menschen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Ausgangslage III. Neuere Entwicklungen 1. Sachverhalte 2. Stellenwert und Grenzen vorsatzkritischer Bewertungsumstände
a) Absenken der Waffe b) Querschläger bei Schüssen auf die Tür einer Gaststätte c) Schüsse in den Innenraum eines Fahrzeugs IV. Zusammenfassung
I. Einleitung Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Tötungsvorsatz wird von Staatsanwälten, Richtern und Verteidigern mit großem Interesse verfolgt. Obschon dem kontinentaleuropäischen Strafrecht eine strikte Orientierung an Präjudizien fremd ist, kommt den höchstrichterlichen Entscheidungen faktisch eine herausragende Bedeutung zu. Die Verfahrensbeteiligten sind bemüht, ihre Bewertung der im Vorsatzkontext aussagekräftigen Tatsachen mit Aussagen des Bundesgerichtshofs zu untermauern. Dabei lassen sich häufig sowohl für die eine als auch für die andere Einschätzung mehr oder weniger „passende“ Erkenntnisse finden. Dass dadurch zuweilen der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit entsteht, kann nicht rundweg bestritten werden. Freilich fördert die Sichtung des Entscheidungsmaterials zutage, dass die Strafsenate des Bundesgerichtshofs fallgruppenspezifisch bestimmte Kriterien herausgearbeitet haben, deren Beachtung bei der Erörterung des Tötungsvorsatzes im Urteil von Rechts wegen erwartet wird1. Vor diesem Hintergrund gebührt drei jüngst ergangenen Entscheidungen des 2. Strafsenats zur rechtsfehlerfreien Begründung von Tötungsvorsatz in Fällen des Schießens auf Menschen mit Faustfeuerwaffen besondere Aufmerksamkeit.
II. Ausgangslage Die strafrechtliche Bewertung von Schüssen auf Menschen wird geheimhin von der Grundannahme geleitet, dass jede Form des Schießens in Richtung auf eine Person mit einer scharfen Waffe den Schluss auf das Vorliegen be-
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Ausführlich hierzu Schneider in MünchKomm, 1. Aufl. 2003, § 212 Rz. 12–45.
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dingten Tötungsvorsatzes nahe legt. Ausschlaggebend hierfür ist die Erfahrung, dass derartige Aktionen eine außergewöhnlich hohe Lebensgefahr aufweisen und vielfach zum Tode führen2. Allerdings verbietet sich eine schematische Handhabung dieses Grundsatzes3. Auch in den Fällen des Einsatzes von Schusswaffen ist die Herleitung des voluntativen Vorsatzelements allein aus der schlichten Kenntnis der zutreffend wahrgenommenen Risikodimension des Vorgehens in aller Regel rechtlich nicht angängig4. Zwar stellt die hohe und offensichtliche Lebensgefährlichkeit der Tathandlung sowohl auf der kognitiven als auch auf der voluntativen Vorsatzebene das zentrale Beweisanzeichen dar5. Gegenläufige Faktoren können jedoch die Verneinung von Tötungsvorsatz selbst in kritischen Situationen nahe legen. Praxisrelevant sind vor allem affektive Erregungszustände, unüberlegte Spontanaktionen sowie Beeinträchtigungen der Steuerungsfähigkeit durch Alkoholoder Drogenkonsum6. Darüber hinaus kann der Umstand, dass die Tat vor Zeugen begangen wurde, vorsatzkritische Bedeutung erlangen7. Schließlich ist auch in den sogenannten „Denkzettel-Fällen“ eine sorgfältige Prüfung des voluntativen Vorsatzelements angezeigt8. Der Bundesgerichtshof ver-
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BGH v. 20. 3. 1996 – 5 StR 623/95, NStZ-RR 1996, 323; BGH v. 17. 5. 2001 – 4 StR 520/00, NStZ-RR 2001, 296 (297). Instruktiv BGH v. 16. 9. 2004 – 1 StR 233/04, bei Altvater, Rechtsprechung des BGH zu den Tötungsdelikten, NStZ 2005, 22 (23) = NStZ 2005, 92 f. Aufschlussreich BGH v. 28. 11. 1995 – 4 StR 624/95, StV 1997, 7. Siehe auch BGH v. 1. 4. 1998 – 2 StR 620/97 sowie BGH v. 15. 4. 1998 – 2 StR 650/97, jeweils bei Altvater, Rechtsprechung des BGH zu den Tötungsdelikten, NStZ 1999, 18. Zur Beurteilung von Schüssen auf Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze BGH v. 18. 5. 1995 – 5 StR 139/95, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 46; BGH v. 17. 12. 1996 – 5 StR 137/96, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 49; BGH v. 15. 10. 2003 – 5 StR 305/03, bei Altvater NStZ 2005, 22 (23); für die letztgenannte Fallgruppe war die Beantwortung der Frage entscheidend, ob der Angeklagte gezielt auf den Flüchtling schoss oder gleichsam nur pro forma – äußerlich der Befehlslage entsprechend – Schüsse abgab. BGH v. 28. 11. 1995 (Fn. 3). BGH v. 16. 1. 2003 – 4 StR 422/02, NStZ 2003, 431 f.; BGH v. 22. 2. 2000 – 5 StR 573/99, NStZ-RR 2000, 165 (166); BGH v. 8. 3. 2001 – 4 StR 477/00, StV 2001, 572; BGH v. 23. 4. 2003 – 2 StR 52/03, NStZ 2003, 603 (604). BGH v. 16. 7. 1996 – 4 StR 326/96, StV 1997, 7 (8); BGH v. 28. 3. 1995 – 4 StR 96/94, StV 1997, 8 (9); BGH v. 22. 2. 2000 (Fn. 5); BGH v. 18. 9. 2002 – 2 StR 125/02, NStZ-RR 2003, 8 f.; BGH v. 23. 4. 2003 – 2 StR 52/03, NStZ 2003, 603 f.; BGH v. 20. 1. 2004 – 4 StR 464/03, NStZ-RR 2004, 204 (205); BGH v. 10. 12. 2002 – 4 StR 370/02, StV 2004, 74 (75). Freilich bleibt darauf hinzuweisen, dass affektive Erregungszustände auf das voluntative Vorsatzelement keinen und auf die kognitive Komponente allenfalls einen sehr geringen Einfluss haben. Weiterführend Truck, NStZ 2005, 233 (236 ff.). BGH v. 14. 1. 2003 – 4 StR 526/02 – NStZ 2003, 369 (370). BGH v. 28. 11. 1995 (Fn. 3); BGH v. 10. 12. 2002 (Fn. 6). Zu Recht kritisch zu diesem von zahlreichen Beschuldigten immer wieder „leichter Hand“ angeführten schillernden Argument Trück, Die Problematik der Rechtsprechung des BGH zum be-
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langt vom Tatrichter, in seine vorsatzspezifische Gesamtbetrachtung von Tat und Täter sämtliche Umstände einzustellen und zu gewichten, die Tötungsvorsatz infrage stellen können. Die Notwendigkeit dieses im Urteil zu dokumentierenden Prüfungsvorgangs wird mit der hohen natürlichen Hemmschwelle vor der Auslöschung eines Menschenlebens gerechtfertigt9. Ob diese so genannte „Hemmschwelle-Theorie“ aussagekräftig ist und strafrechtsdogmatischen Erkenntnisgewinn verbürgt, ist zu bezweifeln, mag an dieser Stelle jedoch dahinstehen10. Wichtig ist jedenfalls das strafprozessuale Postulat der sorgfältigen einzelfallspezifischen Prüfung des Tötungsvorsatzes unter Berücksichtigung tendenziell vorsatzausschließender Faktoren11. In den Fällen der Abgabe von Schüssen auf Menschen sind unbeschadet der vorsatzindiziell wirkenden hohen Grundgefahr die näheren Gegebenheiten genau in den Blick zu nehmen. Bedeutsam sind vor allem die Entfernung des Schützen vom Tatobjekt, die Bewegungsabläufe der Tatbeteiligten und die Sichtverhältnisse12. Darüber hinaus müssen die Geübtheit des Täters im Umgang mit der von ihm verwendeten Waffe sowie dessen Gemüts- und Erregungszustand im Zeitpunkt der Schussabgabe bedacht werden. Schießt der Täter aus kurzer Entfernung auf Kopf oder Oberkörper des Opfers, liegt Tötungsvorsatz in aller Regel vor; gegenläufige Indizien von Gewicht sind angesichts der hochgradigen, überaus anschaulichen und innerlich leicht zu verarbeitenden Lebensgefährlichkeit des Vorgehens kaum vorstellbar13. Bei aufgesetzten Kopfschüssen dürfte die Erörterung vorsatzkritischer Erwägungen im Urteil entbehrlich sein. Anders wird es sich hingegen verhalten, wenn der Täter aus kurzer Entfernung auf die Beine oder das Gesäß eines ruhig verharrenden, aufrecht stehenden Opfers schießt: Hier liegt die Annahme von Tötungsvorsatz nicht nahe, sofern der Täter zur kontrollierten Schussabgabe in der Lage ist14. Freilich können bereits geringfügige Nuancen der Tatsituation eine abweichende rechtliche Beurteilung gebieten.
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dingten Tötungsvorsatz, NStZ 2005, 233 (235 f.). Auf derart floskelhafte Einwände sollte nicht viel gegeben werden: Genau genommen sind sie lediglich geeignet, direkten Tötungsvorsatz auszuschließen. BGH v. 28. 3. 1995 – 4 StR 96/95, StV 1997, 8 (9); BGH v. 8. 5. 2001 – 1 StR 137/01, NStZ 2001, 475 (476); BGH v. 16. 1. 2003 – 4 StR 422/02, NStZ 2003, 431 f. Kritisch hierzu Verrel, (Noch kein) Ende der Hemmschwellentheorie, NStZ 2004, 309 (310 ff.); Trück (Fn. 8); Roxin AT/I § 12 Rz. 173; Schneider in MünchKomm § 212 Rz. 48–51. Grundlegend Mühlbauer, Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Tötungshemmschwelle, 1999, S. 41–52. Eingehend hierzu Schneider in MünchKomm § 212 Rz. 10 f., 48. BGH v. 24. 4. 1996 – 5 StR 318/95, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 44. Siehe aber BGH v. 14. 11. 1989 – 4 StR 568/89, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 19. BGH v. 28. 11. 1995 (Fn. 3). Siehe hierzu aber auch BGH v. 16.9.2004 (Fn. 3), wonach in der Dunkelheit abgegebene Schüsse „aus der Hüfte“ anders zu bewerten sind, zumal wenn auf eine Personengruppe geschossen wird.
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Die folgenden Sachverhalte geben den Blick frei auf die Bandbreite des Spektrums möglicher Beurteilung vorsatzrelevanter Indizien; sie demonstrieren die relative Offenheit des Wertungsvorgangs.
III. Neuere Entwicklungen 1. Sachverhalte Der Beschluss des 2. Strafsenats vom 23. Mai 2003 stellt einen vielschichtigen Beitrag zur Konturierung der rechtlichen Anforderungen an die Feststellung bedingten Tötungsvorsatzes bei Einsatz manipulierter Schussgeräte dar. Der Entscheidung liegt im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde15: Der Angeklagte begab sich unter Mitführung einer Schusswaffe in ein Ladengeschäft, um sich durch einen Raubüberfall Geld zu beschaffen. Die Waffe hatte er durch Umbau einer Gaspistole hergestellt, indem er den Lauf und einen Teil des Patronenlagers absägte und durch eine mittels Klebeband befestigte Kugelschreiberhülse ersetzte. Hiermit konnte er scharfe Munition verschießen. Allerdings war eine gezielte Schussabgabe mangels Stabilisierung der Waffe weitgehend zufällig. Dass der Angeklagte die umgebaute Waffe vor der Tat auf ihre Funktionsfähigkeit überprüft hatte, ist nicht festgestellt. Im Ladengeschäft ging der Angeklagte auf die dort als Verkäuferin tätige Nebenklägerin zu, zog die Waffe, zielte mit ausgestrecktem Arm aus 4 bis 6 Metern Entfernung zunächst auf den Rumpf der Frau, senkte dann im letzten Moment den Arm und schoss. Die Nebenklägerin wurde am Oberschenkel getroffen. Bei seiner polizeilichen Vernehmung gab der aus dem Obdachlosenmilieu stammende Angeklagte an, eigentlich gar nicht richtig gezielt zu haben. Ihm sei klar gewesen, dass die Verkäuferin hätte sterben können; er habe aber unbedingt an die Kasse gewollt; das mit dem Lauf sei eine unsichere Sache gewesen; er habe gehofft, dass die Verkäuferin nicht sterbe. In der Hauptverhandlung hat sich der eher „wirr“ erscheinende Angeklagte abweichend eingelassen.
Das Landgericht hatte den Angeklagten unter anderem wegen versuchten Mordes verurteilt. Seine Revision führte zur Aufhebung des Urteils, weil die Beweiswürdigung zum Tötungsvorsatz rechtsfehlerhaft war. Der Bundesgerichtshof monierte insbesondere das Fehlen einer Auseinandersetzung mit dem willentlich vollzogenen Absenken der Waffe unmittelbar vor der Schussabgabe16. Dieser unter dem Stichwort „Zielrichtung“ einzuordnende Einwand spielt auch im Beschluss des 2. Strafsenats vom 17. Dezember 2003 eine zentrale Rolle17:
__________ 15 BGH v. 23. 5. 2003 – 2 StR 141/03, NStZ 2003, 53 f. 16 BGH v. 23. 5. 2003 (Fn. 15), NStZ 2003, 536 f. 17 BGH v. 17. 12. 2003 – 2 StR 331/03, NStZ-RR 2004, 140 f.
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Zur Annahme von Tötungsvorsatz bei Abgabe von Schüssen auf Menschen Der Angeklagte gab gegen 1.00 Uhr nachts aus Verärgerung über ein ihm erteiltes Lokalverbot aus einer Maschinenpistole von der Straße aus 9 Schüsse auf die verschlossene Tür einer Gastwirtschaft ab. Dabei erkannte er, dass in dem Lokal noch Licht brannte. Er rechnete aufgrund früherer Besuche damit, dass sich trotz Versperrens der Außentür um diese Zeit noch Personen in dem Lokal befanden. Zu den – dem Angeklagten bekannten – räumlichen Gegebenheiten ist festgestellt, dass sich etwa ein Meter hinter der Außentür eine Sichtschutzwand befand; links davon war eine Dartscheibe aufgehängt. Zum Zeitpunkt der Schussabgabe standen zwei Gäste links neben der Sichtschutzwand. Die Schüsse wurden mit schräg nach unten abfallender Schussrichtung auf den tiefer gelegenen linken Türbereich abgegeben. Fünf Projektile durchschlugen die Außentür und trafen die dahinter gelegene Sichtschutzwand. Ein Gast wurde von einem Querschläger oder Holzsplitter am Fuß, ein anderer an der Wange getroffen; beide erlitten leichte Verletzungen. Das Landgericht hatte festgestellt, dass der Angeklagte in einem weiteren abgeurteilten Fall aus demonstrativen Zwecken folgenlos auf eine bereits geschlossene und leere Gaststätte geschossen hatte. In einem eingestellten Fall hatte er 15 Schüsse auf die dunklen Fenster eines Lokals abgefeuert.
Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen versuchten Mordes verurteilt. Es hatte den Tötungsvorsatz insbesondere mit der Erwägung begründet, dieser habe in Kenntnis der Gefahrenlage nicht darauf vertrauen können, dass die im Lokal aufhältlichen Gäste nicht tödlich verletzt würden. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf, weil sich das Landgericht in den Entscheidungsgründen nicht mit sämtlichen gegen die Annahme von Tötungsvorsatz sprechenden Aspekten auseinandergesetzt habe. Vermisst wurde vor allem die Erörterung des Umstands, dass die Schüsse mit nach unten verlaufener Zielrichtung abgegeben worden waren. Darüber hinaus wurde beanstandet, dass das Landgericht die zurückliegende vergleichbare Tat mit glimpflichem Ausgang im Vorsatzkontext nicht bedacht hatte. Weiterhin sei mit Blick auf ähnlich gelagerte Fälle als ein gegen Tötungsvorsatz sprechendes Indiz zu berücksichtigen, dass der Angeklagte (nur) auf die Außentür geschossen habe, obschon er durch die Fenster Licht in den Räumlichkeiten wahrgenommen habe18. Während die beiden vorstehend referierten Beschlüsse statische Tatverläufe betreffen, geht es in der dritten Entscheidung des 2. Strafsenats um ein dynamisches Geschehen. Dem Urteil vom 24. 3. 2004 liegen folgende Feststellungen zugrunde19: Die Nebenklägerin traf sich am Abend mit einem Bekannten auf einem spärlich beleuchteten Parkplatz. Der Angeklagte, der das Geschehen eifersüchtig beobachtete, war hierüber verärgert und wollte seine frühere Lebensgefährtin deswegen bestrafen. Er fuhr neben den Wagen der Nebenklägerin, öffnete das Fenster auf der Beifahrerseite und richtete eine einsatzbereite halbautomatische Selbstladepistole auf die Nebenklägerin und deren Begleiter, um ihnen Angst einzujagen. Als der Angeklagte auf den
__________ 18 BGH v. 17. 12. 2003 (Fn. 16, 17), NStZ-RR 2004, 140 (141). 19 BGH v. 31. 3. 2004 – 2 StR 2/04 (unveröffentlicht).
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Hartmut Schneider Wagen der Nebenklägerin zuging und die Beifahrertür öffnete, fuhr die Nebenklägerin los. Nach etwa 150 Metern blieb die in panischer Angst handelnde Frau mit ihrem Wagen auf einem Gleiskörper liegen. Der Angeklagte folgte dem Fahrzeug. Er lief mit der Waffe in der Hand um das Auto herum und forderte die Nebenklägerin zum Aussteigen auf. Als diese dem Ansinnen nicht nachkam, hielt er ihr die Pistole an den Kopf und repetierte zur Einschüchterung einmal. Kurz darauf zog er sie an den Haaren aus dem Fahrzeug. Hierbei rief er: „Du Hure, Du sollst sterben für das, was Du mir angetan hast“. Die um ihr Leben fürchtende Nebenklägerin zog sich in das Auto zurück und versuchte, in den hinteren Bereich zu gelangen. Der Angeklagte stand direkt vor der geöffneten Fahrertür; er hatte den rechten Arm mit der Waffe in den durch die Innenbeleuchtung erhellten vorderen Innenraum ausgestreckt. Als sich die Nebenklägerin mit den Füßen auf bzw. zwischen den vorderen Sitzen befand und ihr Oberkörper an der Fahrzeugdecke anlag, drehte sie ihren Oberkörper zur Fahrertür, wobei ihr Kopf in Höhe der Kopfstützen war. In diesem Moment schoss der Angeklagte zweimal. Einer der Schüsse ging nicht in den Innenraum des Fahrzeugs; bei dem zweiten Schuss zielte der Angeklagte auf den unteren Körperbereich der Nebenklägerin, welche sich in diesem Moment in seinem Blickfeld befand. Der Schuss streifte den rechten Unterschenkel und durchschlug den linken Fuß des Opfers. Als die Nebenklägerin laut und schmerzerfüllt zu wimmern begann, verließ der Angeklagte den Parkplatz, weil er meinte, die Nebenklägerin ausreichend bestraft zu haben. Er nahm wahr, dass sein Opfer nur leicht am Bein verletzt war.
Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe zu Freiheitsstrafe verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision der Nebenklägerin hatte keinen Erfolg. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs stellte fest, dass die Erwägungen, mit denen das Landgericht ein Handeln mit (bedingtem) Tötungsvorsatz verneint hatte, keinen Rechtsfehler erkennen ließen. Die Annahme des Landgerichts, der im Umgang mit Waffen (angeblich) geübte Angeklagte habe genau die von ihm wahrgenommenen Beine treffen wollen, sei eingedenk der nach unten abfallenden Schussrichtung nicht zu beanstanden. Hiergegen spreche auch nicht die Dynamik des Geschehens, weil die Nebenklägerin im Zeitpunkt der Schussabgabe nur ihren Oberkörper bewegt, ansonsten aber in ihrer aufrecht nach hinten gewandten Position verharrt habe. Das Urteil des Bundesgerichtshofs geht im Ergebnis in Ordnung, weil die tatrichterlichen Feststellungen zum Verhalten des Angeklagten nach Abgabe der Schüsse jedenfalls einen strafbefreienden Rücktritt vom unbeendeten Tötungsversuch belegen. Nachdenklich stimmen allerdings die Überlegungen zur Verneinung von Tötungsvorsatz. Sie lassen eine stark verkürzte, allein auf einen bestimmten Ausschnitt des Geschehens fixierte Vorsatzbetrachtung besorgen. 2. Stellenwert und Grenzen vorsatzkritischer Bewertungsumstände Die in allen drei Entscheidungen anzutreffenden vorsatzkritischen Erwägungen des Bundesgerichtshofs lassen vor dem Hintergrund der an sich strengen 194
Zur Annahme von Tötungsvorsatz bei Abgabe von Schüssen auf Menschen
Bewertung des gezielten Einsatzes von Schusswaffen aufhorchen. Interessant ist, dass die höchstrichterliche Skepsis gegenüber der Annahme von Tötungsvorsatz weder auf konstellative Einflüsse (Alkohol, Drogen) noch auf psychopathologische Aspekte oder auf Affekt gestützt wird. Vor dem Hintergrund eines zunehmend forensisch-psychiatrisch geprägten Schwurgerichtsalltags ist es bemerkenswert, dass diese zwar nicht beliebig, aber bis zu einem gewissen Maße formbaren und rechtlich nur beschränkt kontrollierbaren „weichen“ Faktoren keine Rolle spielen. Vielmehr rekurriert der 2. Strafsenat vorwiegend auf objektive Tatumstände, um hieraus entweder das kognitive Element des Tötungsvorsatzes oder aber die Willentlichkeit der Erfolgsherbeiführung in Zweifel zu ziehen. Aufgezeigt werden damit gleichsam „klassische“ Verteidigungsoptionen, die aufgrund der modernistischen Fixierung auf psychiatrische Erklärungsansätze vielfach unterschätzt werden. a) Absenken der Waffe Relativ übersichtlich gestaltet sich die Rechtslage im Fall des Überfalls auf das Ladengeschäft. In objektiver Hinsicht war das Vorgehen des Angeklagten lebensgefährlich, weil infolge der Instabilität des Laufs der Waffe eine gezielte Schussabgabe ausgeschlossen war. Der Schuss auf die Beine hätte unbeschadet der abwärts verlaufenen Schussrichtung durchaus höher gelegene Körperpartien treffen können. Fraglich ist allerdings, ob der Angeklagte um die hohe Lebensgefahr seines Vorgehens wusste und sich mit der Möglichkeit eines tödlichen Ausgangs des Überfalls innerlich abgefunden hatte. Beides ist zweifelhaft: Hätte der Angeklagte aufgrund früherer Schießübungen Kenntnis von der Unzuverlässigkeit der Waffe gehabt, wäre die Vorsatzfrage vergleichsweise einfach zu beantworten. Da er über entsprechendes Erfahrungswissen jedoch nicht verfügte, lässt sich die individuelle Einschätzung der Gefahrendimension nicht aus spezieller Vorkenntnis, sondern allein aus den näheren Tatumständen in Zusammenschau mit den Einlassungen des Angeklagten gegenüber der Polizei herleiten. Das Landgericht sah insoweit keine Schwierigkeiten, weil der Angeklagte in seiner tatnahen Vernehmung eingeräumt hatte, die Möglichkeit einer tödlichen Verletzung des Opfers erkannt zu haben. Darüber hinaus berücksichtigte es zu seinem Nachteil, dass ihm die mangelnde Zuverlässigkeit der manipulierten Waffe jedenfalls in allgemeiner Form geläufig war. Diese Beweisführung hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck, weil die Angaben des Angeklagten einseitig und isoliert gewürdigt wurden:
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Gegen die Berücksichtigung tatzeitnah unterbreiteter selbstbelastender Angaben ist grundsätzlich nichts einzuwenden20. Der Täter ist eher als Außenstehende kompetent, seine Wahrnehmung und Einschätzung der Tatsituation zu schildern. Allerdings dürfen derartige Mitteilungen nicht unbesehen – gleichsam eins zu eins – umgesetzt werden21. Zum einen gilt es die konkrete Befragungssituation und die damit einhergehenden Gestaltungsmöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden in Rechnung zu stellen; zum anderen müssen die Angaben des Angeklagten über zurückliegende innere Vorgänge nicht unbedingt zuverlässig sein. Bei der gedanklichen Rekonstruktion seines damaligen Vorstellungsbildes kann der Täter aufgrund später erlangter Zusatzinformationen unbemerkt Wahrnehmungsverschiebungen unterliegen, so dass sich wirklich und vermeintlich Erlebtes vermengen. Ein Mittel zur Aufdeckung solcher verdeckter Gemengelagen ist der konsequente Abgleich der selbstbelastenden Einlassung mit dem äußeren Tatablauf. Treten hierbei Momente zutage, die das vom Täter vorgetragene Erinnerungsbild in Frage stellen können, muss sich der Tatrichter mit ihnen im Urteil auseinandersetzen. Bereits an dieser Stelle wird der Mangel der tatrichterlichen Beweiswürdigung offenkundig. Selbst wenn man aus den Einlassungen des Angeklagten mit einigem sprachlichen Aufwand eine rudimentäre Kenntnis der konkreten Gefahr für das Leben des Opfers herauslesen mag, darf bei Erörterung des kognitiven Vorsatzelements die Änderung der Zielrichtung unmittelbar vor Abgabe des Schusses nicht ausgeklammert werden. Das bewusste Absenken der Waffe vom zunächst anvisierten Rumpf auf die Beine des stehenden Opfers kann als Akt einer erheblichen Gefahrenreduktion verstanden werden. Vieles spricht dafür, dass auch der Angeklagte dies gedanklich so umgesetzt hat; denn wäre er unbeschadet der Zielrichtung von der objektiv gegebenen hohen Gefahr einer tödlichen Verletzung ausgegangen, so wäre die im letzten Moment korrigierte Zielauswahl aus seiner Sicht sinnlos gewesen. Erklärbar ist dieses Verhalten, wenn der Angeklagte hierdurch die zunächst in Rechnung gestellte tödliche Verletzung des Opfers verhindern wollte. Eine vollständige Würdigung der Tatsachen mit Indizwert deutet aus Sicht des Angeklagten demzufolge eher auf eine Verkennung der wirklichen Gefahrenlage hin. Natürlich kann das Absenken der Waffe auch als ein unbewusster, vielleicht sogar irrationaler Akt ohne weiterführenden Aussagegehalt gedeutet werden. Allerdings muss sich der Tatrichter damit im Urteil erkennbar auseinander setzen. Fehlen Ausführungen hierzu, liegen erwartungswidrige Defizite vor; sie begründen einen sachlich-rechtlichen Mangel.
__________ 20 Zur Berücksichtigung von Äußerungen nach der Tatbegehung siehe BGH v. 4. 11. 1988 – 1 StR 262/88, St 36, 1 (10); BGH v. 2. 12. 2003 – 4 StR 385/03, NStZ 2004, 329 (330). 21 Instruktiv BGH v. 2. 12. 2003 (Fn. 20).
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Mit ähnlicher Begründung muss auch die tatrichterliche Annahme des voluntativen Vorsatzelements beanstandet werden. Zwar hatte der Angeklagte bei seiner polizeilichen Vernehmung geäußert, er habe gehofft, das Oper werde nicht sterben; er habe insoweit Glück gehabt. Diese Einlassung des mit nur geringer sozialer Handlungskompetenz ausgestatteten Angeklagten trifft verdächtig passgenau die höchstrichterlichen Wendungen zur Umschreibung der Willenskomponente des bedingten Tötungsvorsatzes. Hieraus lässt sich bei der gebotenen Gesamtwürdigung der im Vorsatzkontext aussagekräftigen Umstände vorliegend nur wenig herleiten. Denn auch insoweit dominiert die markante Zielkorrektur die Bewertung des Tatsachenmaterials. Die Verhaltensänderung des Angeklagten erweist sich bei unbefangener Betrachtung als sinnfällige Manifestation seines Willens zur Erfolgsvermeidung22. Eine billigende Inkaufnahme des Todes der Nebenklägerin ist fern liegend. Es ist nur schwer vorstellbar, dass der neue Tatrichter unter Beachtung der höchstrichterlichen Vorgaben erneut zur Annahme von Tötungsvorsatz gelangt. Insgesamt verdient der Beschluss des 2. Strafsenats sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung uneingeschränkt Zustimmung. Sein weiterführender Ertrag für die strafrechtliche Beurteilung von Schusswaffen-Fällen besteht vor allem in der Betonung des Stellenwerts der Schussrichtung sowie einer Zieländerung durch Absenken der Waffe von hochsensiblen auf weniger exponierte Körperpartien. Diese Aspekte muss der Tatrichter bei der Prüfung des Vorliegens von Tötungsvorsatz berücksichtigen und im Rahmen der Beweiswürdigung erwägen, selbst wenn das Tatgeschehen objektiv betrachtet hochgradig lebensgefährlich ist. Erörterungsdefizite machen das Urteil fehleranfällig. b) Querschläger bei Schüssen auf die Tür einer Gaststätte Der zweite geschilderte Fall unterscheidet sich vom ersten dadurch, dass der Täter nicht gezielt auf Menschen schoss. Vergegenwärtigt man sich, dass der Angeklagte zur Nachtzeit mit seiner Maschinenpistole insgesamt neun
__________ 22 Der Geschehensverlauf erweckt den Eindruck eines geradezu mustergültigen Beispielsfalles für die von Armin Kaufmann zur Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit entwickelte „Theorie des nicht betätigten Vermeidewillens“. Danach scheidet bedingter Tötungsvorsatz aus, wenn der Täter bei Vornahme der gefährlichen Handlung gleichzeitig Gegenfaktoren einsetzt, mit deren Hilfe er den Ablauf so zu steuern versucht, dass eine als möglich vorgestellte Nebenfolge nicht eintritt. Dabei wird vorausgesetzt, dass der Täter seiner eigenen Geschicklichkeit eine reelle Chance einräumt. Siehe hierzu Armin Kaufmann, Der dolus eventualis im Deliktsaufbau. Die Auswirkungen der Handlungs- und der Schuldlehre auf die Vorsatzgrenze, ZStW Bd. 70 (1958), 64 (77 f.). Roxin, AT/I, § 12 Rz. 47 f. stellt zutreffend klar, dass die Formel des nicht betätigten Vermeidewillens keine taugliche Abgrenzungstheorie, wohl aber ein wichtiges Indiz für das Vorliegen bedingten Vorsatzes darstellt.
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Schüsse auf die Eingangstür der Gaststätte abgab, in der sich Personen befanden, die nicht nur beim Verlassen des Lokals, sondern auch sonst – etwa beim Dartspiel – jederzeit in das Schussfeld hätten geraten können, so drängt sich gleichwohl die Annahme bedingten Tötungsvorsatzes bei vordergründiger, allein am Gefahrenpotential ausgerichteter Betrachtung auf. Der Umstand, dass der Angeklagte keinen Einfluss auf das Verhalten der Gäste hatte und daher den Verlauf des Geschehens zuverlässig letztlich nicht kontrollieren konnte, scheint jede Basis für tatsachenfundiertes Vertrauen auf einen glimpflichen Ausgang zu zerstören23. Man ist geneigt zu formulieren: „Wer wie der Angeklagte vorgeht und dabei die von ihm geschaffene hohe Lebensgefahr zutreffend erkennt, kann nur noch hoffen, niemanden tödlich zu verletzen. Eine solche Einstellung zum drohenden Eintritt des tatbestandlichen Erfolges begründet Tötungsvorsatz.“ Das Landgericht hat offenbar genau die vorstehend skizzierten Erwägungen angestellt. Es hat mit erfahrungssatzähnlichen Wendungen aus dem Wissen um die Gefahr den Willen des Angeklagten zur Erfolgsherbeiführung gefolgert. Der Bundesgerichtshof hielt die Konstellation hingegen nicht für derart eindeutig, dass allein aus der objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung auf das voluntative Element des Tötungsvorsatzes geschlossen werden darf. Als gegenläufige Faktoren, mit denen sich der Tatrichter in seiner Gesamtwürdigung auseinandersetzen muss, benannte der 2. Strafsenat die nach unten verlaufende Schussrichtung, die Sichtschutzwand zwischen Tür und Schankraum sowie das Erfahrungswissen des Angeklagten aus (vermeintlich) vergleichbaren Vorfällen ohne tödlichen Ausgang. Diese Aspekte haben unterschiedliches Gewicht: Die höchstrichterlichen Hinweise auf das Vorverhalten des Angeklagten entfalten nur geringe Überzeugungskraft. Gewiss können einschlägige Erfahrungen zu einer Gefahrengewöhnung dergestalt führen, dass der Täter hierauf gestützt die Einschätzung gewinnt, er könne selbst hoch gefährliche Situationen meistern24. Der Sache nach verschiebt sich dann das Gefahrenbewusstsein, indem der Täter die Eignung seiner Handlung zur Rechtsgutsverletzung in spontanem gedanklichen Rückgriff auf zurückliegende Vorkommnisse subjektiv geringer veranschlagt, als sie es objektiv ist25. Eine solche Transferleistung setzt die Vergleichbarkeit der in Relation gestellten Sachverhalte voraus. Nur wenn eine situativ leicht zu realisierende Übereinstimmung in den markanten Einzelheiten des Geschehens besteht, liegt es
__________ 23 Zum Aspekt der Tatsachenfundiertheit als Schlüsselbegriff zur Konkretisierung vorsatztypischen bloßen Hoffens in Abgrenzung zu fahrlässigkeitsspezifischem ernsthaften Vertrauen auf das Ausbleiben des Erfolges Schneider in MünchKomm § 212 Rz. 34. 24 Zur Gefahrengewöhnung Roxin, AT/I § 12 Rz. 67. 25 Zu derartigen Prozessen der Umwertung von Gefahren siehe Schroth, Vorsatz als Aneignung, 1994, S. 128 f.; Ziegert, Vorsatz, Schuld und Vorverschulden, 1987, S. 149–155.
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nahe, dass der den Vorsatz ausschließende Umwertungsprozess in der Person des Täters abläuft. Bei wesentlichen tatsächlichen Unterschieden dürfte sich demgegenüber das innerlich nicht mehr wegzudiskutierende Bewusstsein um die Gefährlichkeit der Tathandlung auf beiden Vorsatzebenen durchsetzen. Ausgehend hiervon erhellt im vorliegenden Fall die Fragwürdigkeit des Verweises auf andere Taten des Angeklagten. Die daraus ableitbaren Erkenntnisse sind im Vorsatzkontext nicht aussagekräftig, weil die Sachverhalte ersichtlich nicht vergleichbar sind und daher den Vorgang des Handelns in Gefahrengewöhnung nicht belegen können. Pointiert: Wer aus demonstrativen Zwecken nachts in die dunklen Fenster eines geschlossenen Lokals schießt, kalkuliert allenfalls mit einer nicht mehr vorsatzrelevanten statistischen Gefahr des tödlichen Ausgangs für unerwartet anwesende Personen. Gänzlich anders liegt es bei der Abgabe von Schüssen auf eine Gaststätte, in der sich erkennbar Menschen aufhalten: Hier wird die vom Täter wahrgenommene Gefahr real, so dass er sich mit ihr (normalerweise) innerlich näher auseinandersetzt. Insoweit ist es im Übrigen ohne Belang, dass der Angeklagte – anders als in einem zurückliegenden Fall – nicht durch die (erhellten) Fenster des Lokals geschossen, sondern „nur“ auf die Tür gezielt hat. Belegt wird mit der Nichtwahrnehmung besserer Verletzungsmöglichkeiten allenfalls fehlender direkter Tötungsvorsatz26. Hierum geht es im vorliegenden Fall allerdings nicht. Daher ist es verfehlt, bedingten Tötungsvorsatz unter Bezugnahme auf zurückliegende Taten in Frage zu stellen. Demgegenüber haben die auf die Art der Tatausführung abstellenden Erwägungen des 2. Strafsenats das Potential zur Verneinung bedingten Tötungsvorsatzes. Freilich lässt sich eine abschließende Einschätzung der Indizienlage nicht treffen, weil die tatrichterlichen Feststellungen zur Beschaffenheit der Sichtschutzwand in der Gaststätte unzulänglich sind. Hierzu in aller Kürze immerhin so viel: Im Ausgangspunkt bleibt festzuhalten, dass die Tat des Angeklagten demonstrativen Charakter hatte. Mit den Schüssen auf die verschlossene Tür wollte er gegen ein ihm erteiltes Lokalverbot protestieren. Unter Zugrundelegung dieser Zielsetzung liegt der Wille zur Tötung von Lokalbesuchern nicht nahe; vielmehr dürfte eine Sachbeschädigung aus Sicht des Angeklagten ausreichend gewesen sein, um seine Verärgerung gegenüber dem Wirt sinnfällig zu demonstrieren. Indes darf die mit der Tatbegehung untrennbar verbundene und auch vom Angeklagten erkannte Gefahrenschaffung für die im Lokal anwesenden Personen hiervon nicht einfach abgespalten werden. Dem Angeklagten war klar, dass er sein Ziel einer effektvollen Sachbeschädigung ohne Gefährdung von Menschen nicht erreichen konnte. Diese innere Verknüpfung von Handlungsziel und Begleitumstand lässt aber noch
__________ 26 Anders, aber sachlich ebenfalls nicht überzeugend, BGH v. 28. 11. 1995 (Fn. 3).
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nicht hinreichend deutlich werden, ob er im Zeitpunkt der Schussabgabe mit bloßem Lebensgefährdungs- oder mit bedingtem Tötungsvorsatz handelte. Gegen die letztgenannte Alternative stehen sowohl die Zielauswahl als auch die nach unten verlaufende Schussrichtung. Beides unterstreicht, dass dem Angeklagten eine tödliche Verletzung der Gäste keineswegs gleichgültig war; andernfalls hätte er ohne weiteres auf die Tür in Mannhöhe schießen können. Vielmehr war der Angeklagte erkennbar darum bemüht, das Risiko eines tödlichen Ausgangs zu minimieren. Zwar hatte er keinen Einfluss auf die Ereignisse im Lokal; insbesondere konnte er die Bewegungen der Gäste jedenfalls nicht durchgängig beobachten. Insgesamt war er also nicht in der Lage, die von ihm bewirkte Lebensgefahr steuernd abzuschirmen. Hinzu kommt, dass ein Verreißen der Maschinenpistole durchaus nahe liegt. Dadurch wird die vorsatzkritische Aussagekraft der Schussrichtung relativiert. Gleichwohl lässt das Vorgehen des Angeklagten auch Rückschlüsse auf einen situativ betätigten Willen zur Erfolgsvermeidung zu. Dies spricht eher für Gefährdungs- und gegen Verletzungsvorsatz. Allerdings bleibt in dieser Gleichung eine Unbekannte. Angesprochen ist die von Querschlägern ausgehende Lebensgefahr. Hätte der Angeklagte auf freiem Feld gezielt auf einen momentan ruhig verharrenden Menschen geschossen, so wäre im Absenken der Waffe eine keineswegs sichere, ab immerhin realistische und daher im Vorsatzkontext belangvolle Maßnahme der Gefährdungsreduktion zu erblicken. Anders verhält es sich bei ungezielter Schussabgabe in Räumlichkeiten. Dort können die Projektile von Gegenständen oder Wänden in unberechenbarer Weise abgelenkt werden; relativ ungefährlich erscheinende Schüsse können als Querschläger großen Schaden anrichten. Eingedenk dessen muss sich die Gesamtbetrachtung zur Feststellung von Tötungsvorsatz im vorliegenden Fall auch der Frage der Lebensgefährdung durch Querschläger zuwenden. Für die Beurteilung der objektiven Risikodimension sind insoweit genaue Kenntnisse über die Beschaffenheit der Räumlichkeiten erforderlich; darüber hinaus müssen Feststellungen dazu getroffen werden, wie der Schütze die von möglichen Querschlägern ausgehende Gefahr für das Leben Dritter wahrgenommen und innerlich verarbeitet hat. Die Lebenserfahrung streitet dafür, dass das Risiko von Querschlägern trotz Unberechenbarkeit der ballistischen Verläufe im Vergleich zu „Direkt-Schüssen“ grundsätzlich weniger hoch veranschlagt wird. Die Konfrontation durch gezieltes Schießen auf Personen wirkt als unmittelbarer Angriff gemeinhin anschaulicher und zugleich gefährlicher als die jedenfalls nicht ohne weiteres gleichermaßen nachdrücklich präsenten mittelbaren Folgewirkungen von Schüssen. Aufbauend auf dieser an den Kategorien „unmittelbar/mittelbar“ ausgerichteten Leitlinie zur Vorsatzbeurteilung kommt es im Zusammenhang mit Querschlägern stets auf die näheren Umstände des Einzelfalles an. In Betracht zu ziehen sind die Anzahl der abgegebenen Schüsse sowie die Größe der Räumlichkeiten und das Material der Wände. Darüber hinaus hängt die Beurteilung auch von der Anzahl der in 200
Zur Annahme von Tötungsvorsatz bei Abgabe von Schüssen auf Menschen
dem unter Beschuss genommenen Raum anwesenden Personen ab. Vor diesem Hintergrund ist es sachgerecht, dass der 2. Strafsenat dem neuen Tatrichter nähere Feststellungen zur Beschaffenheit der möglicherweise als Kugelfang wirkenden, möglicherweise aber auch Querschläger ablenkenden Sichtschutzwand aufgegeben hat. Fasst man den fallübergreifenden Ertrag dieser Entscheidung des Bundesgerichtshofs zusammen, so zeigt sich für die Beurteilung des Vorliegens von bedingtem Tötungsvorsatz einmal mehr die große Bedeutung der Schussrichtung. Richtet der Täter die Waffe nach unten, wird dies tendenziell auf fehlenden Willen zur Verursachung tödlicher Verletzungen hindeuten. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Schütze nicht gezielt gegen Menschen vorgeht, sondern „nur“ damit rechnet, dass Dritte möglicherweise in den Gefahrenbereich der aus anderem Grunde abgegebenen Schüsse gelangen können. Schießt der Täter in Räumlichkeiten, ist die von Querschlägern ausgehende Lebensgefahr in Ansatz zu bringen. Deren Stellenwert für die Annahme von Tötungsvorsatz hängt maßgeblich von der zutreffend wahrgenommenen Beschaffenheit der Räume sowie der Anzahl der abgegebenen Schüsse ab. c) Schüsse in den Innenraum eines Fahrzeugs Während die beiden ersten Beschlüsse des Bundesgerichtshofs überzeugen oder doch zumindest gute Gründe gegen die Annahme bedingten Tötungsvorsatzes anführen, hinterlässt die dritte Entscheidung bei einfühlsamer Verarbeitung des Lebenssachverhalts im Vorsatzkontext einen unbefriedigenden Eindruck. Die Lektüre der Urteilsgründe macht in gewisser Weise ratlos. Die vom 2. Strafsenat revisionsrechtlich gebilligte tatrichterliche Auseinandersetzung mit belangvollen vorsatzbegründenden Tatsachen degradiert den Programmsatz, wonach jede Form des Schießens auf Menschen wegen der außergewöhnlich großen Lebensgefahr den Schluss auf Tötungsvorsatz nahe legt, zu einer bloßen façon de parler. Im Rahmen der vorsatzspezifischen Gesamtbetrachtung wurde zugunsten des Angeklagten dessen Erfahrung im Umgang mit Waffen sowie die Tatsache berücksichtigt, dass er im Zeitpunkt der Schussabgabe die Beine der Nebenklägerin im Blick hatte und auf diese gezielt schoss. Der vom Tatrichter hieraus gezogene Schluss, der Angeklagte habe darauf vertraut, die Nebenklägerin nur im Bereich der Beine zu verletzen, wurde vom Bundesgerichtshof auch vor dem Hintergrund der hektischen Bewegungen der um ihr Leben fürchtenden Nebenklägerin hingenommen27. Zur Untermauerung dieser Sichtweise hob der 2. Strafsenat hervor, dass sich die Nebenklägerin im Zeitpunkt der Schussabgabe dem Angeklagten zuwandte, ohne den ganzen Körper in Richtung des vorderen Fahrzeuginnenraums zu lenken. Damit
__________
27 BGH v. 31. 3. 2004 (Fn. 19), UA S. 7.
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soll offenbar zum einen verdeutlicht werden, dass das vom Angeklagten anvisierte Ziel relativ fix war; zum anderen soll dieser Hinweis die situativ eher geringe Gefahr des Fehlgehens eines Schusses in höher gelegene Körperpartien belegen. Hinsichtlich einer möglichen Lebensgefahr durch Querschläger stellte der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs fest, dass sich für die Aufnahme einer derartigen Verlaufsvariante in das Vorstellungsbild des Angeklagten aus den tatrichterlichen Feststellungen keine Anhaltspunkte ergäben. Mit dieser zeitlupenähnlichen Zuspitzung auf eine isoliert gewürdigte Momentaufnahme verbaut sich der Bundesgerichtshof den lebensnahen Zugang zum Gesamtgeschehen. Gewiss mag der Angeklagte in einem bestimmten Zeitpunkt vor der Schussabgabe die Beine des Tatopfers im Visier gehabt haben. Doch angesichts der Enge des Fahrzeuginnenraums und der Panik der Nebenklägerin hätte diese sich bereits im nächsten Moment innerhalb von Sekundenbruchteilen in einer ganz anderen, für sie weitaus gefährlicheren Haltung befinden können, ohne dass der Angeklagte hierauf in irgendeiner Weise kontrollierend Einfluss nehmen konnte. Hinzu kommt die situative Erregung des Angeklagten. Vor diesem Hintergrund ist für eine tatsachenfundierte Vertrauensbasis auf einen glimpflichen Ausgang des hochdynamischen, einerseits von Todesfurcht, andererseits von unkontrollierter Wut geprägten Geschehens nichts ersichtlich. Pointiert: Dass der Angeklagte das evidente Risiko eines tödlichen „Fehlschusses“ in seinem sachgedanklichen Mitbewusstsein nicht realisiert haben könnte, erscheint fernliegend. Wer abweichend urteilt, mag sich den (fiktiven) Fall der Tatvollendung vorlegen: Unterstellt, das Opfer wäre im Zeitpunkt der Schussabgabe von den Sitzen abgerutscht und tödlich getroffen worden, so dürfte der Angeklagte nach forensischer Erfahrung mit seinem Einwand, er habe lediglich das Bein des Opfers anvisiert, wohl kaum Erfolg haben. Vieles spricht dafür, dass die Tatrichter bei derartigen erkennbar lebensgefährlichen Tatverläufen in Ansehung des gravierenden Ausgangs nicht etwa nur auf Körperverletzung mit Todesfolge, sondern zu Recht auf Totschlag oder gar Mord erkennen würden. Dies sollte auch in Versuchsfällen nachdenklich stimmen. Eine täterfreundliche rechtliche Bewertung nach dem Motto „Ende gut, alles gut“ ist nicht nur unbefriedigend; sie ist im schlechten Sinne des Wortes „undogmatisch“. Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte die Sachlage in Überschätzung seiner eigenen Fähigkeiten verkannt oder sich sonst hiervon mit intersubjektiv vermittelbaren Gründen innerlich distanziert haben könnte, lassen sich den Urteilsfeststellungen nicht entnehmen. Zwar wird ihm Übung im Umgang mit Waffen attestiert. Aber was besagt das schon in der konkreten Tatsituation! Es ist kaum vorstellbar, dass ein Schütze auf eine derart dramatische Lage so vorbereitet ist, dass er trotz der ihn beherrschenden Erregung und Wut überlegt und zuverlässig gezielt auf die Beine eines vor ihm hektisch fliehenden Opfers schießen kann. Vielleicht gibt es einige 202
Zur Annahme von Tötungsvorsatz bei Abgabe von Schüssen auf Menschen
wenige Angehörige polizeilicher oder militärischer Sondereinheiten, die hierzu imstande sind. Der Angeklagte zählt zu dieser Gruppe von Präzisionsschützen nicht. Insgesamt hatte er also nur Glück, dass das Opfer lediglich am Bein verletzt und nicht tödlich getroffen wurde. Glück allein reicht zur rechtsfehlerfreien Verneinung von Tötungsvorsatz indes nicht aus. Für die Beantwortung der Vorsatzfrage ist im Übrigen auch der zweite Schuss aufschlussreich. Hierüber erfährt man nur, dass er nicht in den Innenraum gegangen sei. Es überrascht, dass der Bundesgerichtshof auf diesen Aspekt nicht eingeht, obschon man gerne Näheres dazu erfahren hätte. Eine rechtsfehlerfreie Gesamtwürdigung der Tatumstände muss sich hiermit auseinandersetzen und darlegen, ob es sich um einen bloßen Warnschuss, um ein vorzeitiges unbeabsichtigtes Auslösen der Waffe oder aber um einen krassen Fehlschuss gehandelt hat. Sollte der zweite Schuss nicht demonstrativen Charakter gehabt haben, verlöre die zur Verneinung von Tötungsvorsatz führende Beweiswürdigung nachhaltig an Überzeugungskraft, weil dann offensichtlich wird, dass der Angeklagte zur sicheren Beherrschung der lebensgefährlichen Situation eben nicht in der Lage war. Die Würdigung des Urteils des 2. Strafsenats soll an dieser Stelle abgebrochen werden, obschon an sich noch einiges Kritisches zur eher etwas stiefmütterlich behandelten „Querschläger-Gefahr“ zu sagen wäre28. Festzuhalten bleibt, dass die tatrichterliche Verneinung von Tötungsvorsatz auf einer Übergewichtung potentiell vorsatzausschließender Umstände bei gleichzeitiger Unterschätzung der zutreffend erkannten hohen Lebensgefahr für das unter Beschuss genommene Opfer beruht. Bei Schussabgabe aus Faustfeuerwaffen auf einen sich in panischer Todesangst bewegenden Menschen kann der vom Täter gegebene bloße Hinweis, er habe auf die Beine des kurzzeitig verharrenden Opfers gezielt und diese getroffen, zum Ausschluss von Tötungsvorsatz grundsätzlich nicht ausreichen. Wer jemals mit einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe geschossen, den Rückschlag der Waffe und damit verbunden das Verreißen des Schusses erlebt hat, weiß um die Fragwürdigkeit einer solch schlichten Sichtweise. In bewegten Schussszenarien müssen zur Verneinung von Tötungsvorsatz Indizien mit Gewicht hinzukommen, die das Vertrauen des Schützen auf einen glimpflichen Ausgang trotz Erkennens der hochgradigen Lebensgefahr plausibel werden lassen. Da dem tatrichterlichen Urteil hierzu nichts Aussagekräftiges zu ent-
__________ 28 Im tatrichterlichen Urteil wird die Gefahr von Querschlägern im Rahmen der Erörterungen zu § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB angesprochen. Im Kontext des versuchten Tötungsdeliktes verliert das Tatgericht hierzu kein Wort. Hierin könnte man – anders als der 2. Strafsenat – einen sachlich-rechtlichen Erörterungsmangel erblicken, obschon für die Annahme einer lebensgefährdenden Körperverletzung Vorsatz hinsichtlich der generellen Eignung zur Todesverursachung ausreicht, während für das Tötungsdelikt eine konkretere einzelfallspezifische Gefährdungsvorstellung geboten ist.
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nehmen ist, hätte der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs an dieser Stelle zumindest klarstellend eingreifen können29.
IV. Zusammenfassung Die erfahrungsgestützte Grundannahme, dass jede Form des Schießens auf Menschen mit einer scharfen Waffe hochgradig lebensgefährlich ist und daher den Schluss auf (bedingten) Tötungsvorsatz nahe legt, ist die Basis für die strafrechtliche Beurteilung einschlägiger Sachverhalte. Indes darf dieser Grundsatz nicht schematisch angewendet werden. Jenseits von Evidenzfällen aufgesetzter oder unmittelbarer Nahschüssen auf sensible Körperregionen bleibt zu erörtern, ob der Schütze die von ihm geschaffene Gefahrenlage zutreffend erkannt und sich mit der nahe liegenden Möglichkeit des tödlichen Geschehensausgangs innerlich abgefunden hat. Bei der insoweit anzustellenden Gesamtbetrachtung sind gefahrenreduzierende Maßnahmen des Täters wie beispielsweise das Absenken der Waffe auf weniger sensible Körperpartien in Rechnung zu stellen. Zudem ist die Zielrichtung zu berücksichtigen, zumal wenn die unteren Körperregionen betroffen sind. Diese Faktoren können Tötungsvorsatz ausschließen, sofern sie Ergebnis einer bewussten, den Tatverlauf kontrollierenden Verhaltenssteuerung sind. Andererseits ist die Dynamik des Tatgeschehens als ein gefahrenerhöhendes Moment in Ansatz zu bringen. Bedenkt man die jedermann einsichtige generelle Gefährlichkeit von Schusswaffen sowie die Schwierigkeit einer sicheren Schussabgabe auf ein bewegtes Ziel, so sollte in derartigen Konstellationen die Verneinung von Tötungsvorsatz nur bei Vorliegen gewichtiger gegenläufiger Umstände in Betracht kommen. Bei lebensnaher Betrachtung gibt es in solchen Fällen nur eine sehr schmale tatsachenfundierte Vertrauensbasis für die vorsatzausschließende Spekulation auf einen glimpflichen Ausgang. Dies gilt umso mehr, wenn man den Rückschlag von Schusswaffen in Rechnung stellt. Nicht wenige vorsatzkritische Wendungen lassen besorgen, dass vielen Richtern das für die realistische Beurteilung einschlägiger Fälle wünschenswerte eigene Erfahrungswissen abgeht. Dadurch wird die Gefahr heraufbeschworen, das Zerrbild des „Kunstschützen“ zum Gradmesser des Tötungsvorsatzes avancieren zu lassen. Dem muss die Staatsanwaltschaft – gegebenenfalls durch Heranziehung von Sachverständigen – engagiert und mit Nachdruck entgegenwirken.
__________ 29 Ein Grund für die höchstrichterliche Zurückhaltung mag darin liegen, dass das von der Nebenklägerin angefochtene Urteil auf einer rechtsfehlerhaften Verneinung des Tötungsvorsatzes nicht beruhen kann. Denn wie sich den Ausführungen des 2. Strafsenats zu der von der Bundesanwaltschaft erwogenen Unterlassungsstrafbarkeit wegen Zurücklassens der verletzten Nebenklägerin entnehmen lässt, wäre der Angeklagte von seinem (unbeendeten) Tötungsversuch durch freiwillige Aufgabe weiterer Ausführungshandlungen strafbefreiend zurückgetreten.
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Zur Annahme von Tötungsvorsatz bei Abgabe von Schüssen auf Menschen
Hingegen bietet sich für die Verteidigung ein eher „dankbares“ Feld, wenn Tötungsvorsatz nicht aus der Abgabe direkter Schüsse auf Menschen, sondern aus der lebensbedrohlichen Gefahr von Querschlägern hergeleitet werden soll. Die nicht ohne weiteres antizipierte Mittelbarkeit des Gefahrenverlaufs ist im Ausgangspunkt ein belangvoller vorsatzkritischer Umstand. Er kann auf eine lediglich abstrakte, für die Annahme bedingten Tötungsvorsatzes nicht ausreichende Risikokenntnis hindeuten. Allerdings kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an. Die Vielzahl der Schüsse, die Größe und Beschaffenheit des Raumes sowie die Anzahl der dort aufhältlichen Personen sind gleichermaßen als gegenläufige, Tötungsvorsatz begründende Aspekte in den Blick zu nehmen. Hans Dahs hat sowohl in seinem von Rechtsanwälten und Staatsanwälten gleichermaßen intensiv genutzten Handbuch des Strafverteidigers als auch in seinem vortrefflichen Werk zur Revision im Strafverfahren Wege und Möglichkeiten für einen einfallsreichen, kreativen, aber stets realistischen Umgang mit dem Tatsachenstoff aufgezeigt. Dieses Potential ist in „Querschläger-Fällen“ noch lange nicht ausgeschöpft.
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Die unbenannten Auflagen und Weisungen des § 153a StPO Inhaltsübersicht I. Zur Bedeutung des § 153a StPO und der Eröffnung des Auflagen- und Weisungskataloges durch Regelbeispieltechnik II. Zur Kritik an der Neuregelung III. Rechtliche Anforderungen an nicht geregelte Auflagen und Weisungen
1. Einhaltung des Rechtscharakters von Auflagen und Weisungen 2. Der Beschuldigte als Adressat 3. Grundrechtskonformität 4. Keine Umgehung spezialgesetzlicher Normen 5. Konnexität IV. Zusammenfassung und Ausblick
1
I. Zur Bedeutung des § 153a StPO und der Eröffnung des Auflagenund Weisungskataloges durch Regelbeispieltechnik Als § 153a StPO durch Art. 21 Nr. 74 EGStGB 1974 eingeführt wurde, war die ablehnende Reaktion seitens der Strafrechtswissenschaft von einer ansonsten nur selten erzielten Einmütigkeit. Die Möglichkeit einer Einstellung des Verfahrens durch die Gerichte oder gar durch die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Beschuldigten auf Grund der Erbringung bestimmter Wiedergutmachungsleistungen oder unter Weisungen wurde, um nur wenige Stimmen wiederzugeben, als ein „Irrweg“2 und eine „missglückte Vorschrift“3 beschrieben, durch die der Strafprozess zu einem „Tuschelverfahren“ verkomme und innerhalb dessen der staatliche Strafanspruch „in den Bereich gemeinsamer Manipulation durch die Prozesssubjekte“4 gerückt werde. Die Bedenken reichten von den Konsequenzen einer Übertragung richterlicher Befugnisse auf den Staatsanwalt über die Gefahr eines Klassenstrafrechts bis hin zu dem Schreckgespenst, dass sich der begüterte Beschuldigte einfach von der Strafverfolgung durch Leistung von Auflagen oder Weisungen loskaufen könne5.
__________ 1 2 3 4 5
Für seine besonders wertvollen Anregungen zu diesem Beitrag danke ich meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Herrn Christoph Paglotke. Schmidhäuser, Freikaufverfahren mit Strafcharakter im Strafprozess?, JZ 1973, 529 (533). Walter, Wandlungen in der Reaktion auf Kriminalität, ZStW 95 (1983), 32 (58). Schmidhäuser, JZ 1973, 529 (535). Vgl. Hanack in FS Gallas, 1973, S. 339 (347 f.); Schmidhäuser, JZ 1973, 529 (535); Walter, ZStW 95 (1983), 32 (54).
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Dreißig Jahre später sind diese Einwendungen größtenteils verstummt oder beugen sich zumindest der großen Akzeptanz, die § 153a StPO in der Praxis gefunden hat6. In der Tat ist der „Irrweg“ des § 153a StPO heute aus dem Rechtsalltag nicht mehr hinwegzudenken. Dem § 153a StPO ist ein Siegeszug zuteil geworden, der ihn, in den Worten des verehrten Jubilars „zum vielleicht erfolgreichsten Instrument der Entlastung der Strafjustiz sowohl im Bereich der Staatsanwaltschaft als auch der Gerichte“ werden ließ7. Der Vorteil des § 153a StPO liegt nicht nur in seiner Entlastungsfunktion, sondern vor allem auch in der den Gerichten und Staatsanwaltschaften hierdurch ermöglichten Flexibilisierung ihrer Möglichkeiten, strafbarem Verhalten auf der unteren oder mittleren Ebene zu begegnen8. Auf der einen Seite zeigen die Strafverfolgungsorgane dadurch, dass ein solches Verhalten nicht völlig folgenlos bleibt, wie dies etwa im Rahmen einer Einstellung gem. § 153 StPO der Fall wäre, dass also die Rechtsgemeinschaft vor diesem Verhalten die Augen nicht verschließt. Der Staat „zeigt Flagge“ und macht klar, dass ein derartiges Verhalten nicht toleriert wird9. Auf der anderen Seite ist den Strafverfolgungsbehörden aber die Möglichkeit gegeben, ein Strafverfahren auch anders als mit einer Bestrafung des Beschuldigten abzuschließen, nämlich durch die Auferlegung von Wiedergutmachungsleistungen (Auflagen) oder spezialpräventiven Anordnungen zur Vermeidung einer künftigen Delinquenz des Beschuldigten (Weisungen). Eine solche Reaktionsweise wird sich häufig sowohl für die Rechtsgemeinschaft insgesamt als die zweckmäßigere Reaktion im Vergleich zu einer Bestrafung darstellen, als auch dem Interesse des individuellen Geschädigten der Tat entgegen kommen, da es Letzterem im Rahmen eines Strafverfahrens oft gar nicht so sehr um die Auferlegung staatlicher Sanktionen gegenüber dem Täter geht, sondern um die Feststellung der Verantwortlichkeit des Täters. Durch eine Wiedergutmachungsleistung oder durch Maßnahmen, die eine erneute Deliktsbegehung verhindern, ist dem Opfer u. U. mehr geholfen als durch eine Ahndung des Täters mittels Geld- oder Freiheitsstrafe, die im Extremfall keinerlei positive Rückwirkungen für das Opfer aufweist10. Die Möglichkeit der Verfahrenseinstellung unter Auflagen oder Weisungen wird also mehrheitlich völlig zu Recht als eine sinnvolle staatliche Reaktionsmöglichkeit auf kriminelles Verhalten angesehen, die aus unserem
__________ 6 Ausführlich Beulke in Löwe/Rosenberg, Strafprozessordnung, 25. Aufl. 2002, § 153a Rz. 14 f.; zur heutigen Kritik an § 153a vgl. statt aller etwa Horstmann, Zur Präzisierung und Kontrolle von Opportunitätseinstellungen, Jur. Diss. Köln 2002, S. 166 ff.; Weßlau, ZStW 116 [2004], 150, 162 sowie den Tagungsbericht von Kreß, ZStW 116 [2004], 172, 175. 7 Dahs, § 153a StPO – ein „Allheilmittel“ der Strafrechtspflege, NJW 1996, 1192. 8 Britz/Jung in FS Meyer-Goßner, 2001, S. 307 (310). 9 Vgl. Beulke in FS Kaiser, 1998, S. 1421 (1423). 10 Vgl. nur Fezer, Vereinfachte Verfahren im Strafprozess, ZStW 106 (1994), 1 (44); Roxin in GS Zipf, 1999, S. 135 (142).
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Die unbenannten Auflagen und Weisungen des § 153a StPO
Rechtsalltag nicht mehr wegzudenken ist und deren Abschaffung sowohl von Staatsanwaltschaft und Gericht als auch in den Reihen der Strafverteidiger als herber Verlust empfunden werden würde. Mit dieser positiven Grundeinstellung korrespondieren die Erweiterungen des § 153a StPO in der Vergangenheit, insbesondere die Ausdehnung dessen Anwendungsbereichs durch Art. 2 Nr. 3 RPflEntlG11, durch den eine Einstellung unter Auflagen nun nicht mehr unter dem Vorbehalt einer geringen Schuld des Beschuldigten steht, sondern auch bereits dann möglich ist, wenn die Schwere der Schuld nicht entgegensteht, wodurch eine Anwendung des § 153a StPO im Segment der „mittleren Kriminalität“ ermöglicht wurde. Ferner ist durch das „Gesetz zur verfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs und zur Änderung des Gesetzes über Fernmeldeanlagen“ vom 20. 12. 199912 auch die Rechtsfolgenseite grundlegend umgestaltet worden13. Die Bedeutung dieser Neuregelung ergibt sich nicht so sehr aus der nunmehr auch verfahrensrechtlichen Einbringung des Täter-Opfer-Ausgleichs in den Katalog der möglichen Auflagen und Weisungen des § 153a StPO, sondern vielmehr aus der Öffnung des früher geschlossenen Kataloges aller in Frage kommenden Auflagen und Weisungen. Durch die Einführung des Wortes „insbesondere“ in den Text des § 153a Abs. 1 S. 2 StPO sind die in den Nr. 1–6 genannten Maßnahmen gleichsam zu Regelbeispielen degradiert worden, die nunmehr lediglich noch die Funktion haben sollen, den über die bereits genannten Anordnungen möglich gewordenen Auflagen und Weisungen eine bessere Kontur zu verschaffen14. Diese Ausweitung des Reaktionsspektrums ist im Gesetzgebungsverfahren damit begründet worden, dass sich in der Praxis auch andere, als die zuvor enumerativ aufgeführten Auflagen und Weisungen zur Beseitigung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung als sachgerecht und wünschenswert herauskristallisiert hätten. Der abschließend formulierte Katalog des § 153a StPO habe den Bedürfnissen der Praxis nicht ausreichend Rechnung getragen15. Hierzu ist zunächst Folgendes zu bemerken: Durch den § 153a StPO wird je nach Verfahrensstadium dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft die Befugnis erteilt, dem Beschuldigten mit dessen Zustimmung Auflagen und Weisungen zu erteilen, deren Befolgung dazu geeignet ist, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen. Dabei sind
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11 BGBl. I 1993, S. 50. 12 BGBl. I 1999, S. 2491; der Zusammenhang zwischen diesen beiden Regelungsinhalten wird wahrscheinlich auf immer unerfindlich bleiben. 13 Die zuvor bereits auf der Rechtsfolgenseite des § 153a StPO durch Art. 4 Nr. 2 des „Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze“ vom 24. 4. 1998 (BGBl. I 1998, S. 779) zusätzlich eingefügte Weisung der Teilnahme an einem Aufbauseminar nach §§ 2b Abs. 2 S. 2, 4 Abs. 8 S. 4 StVG hat bereits auf Grund ihrer Anwendbarkeit allein auf Straßenverkehrsdelikte kraft Natur der Sache nur geringe Bedeutung. 14 BT-Drs. 14/1928, S. 8. 15 BT-Drs. 14/1928, S. 6 ff.
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Auflagen Handlungsverpflichtungen, die das Gericht bzw. auch die Staatsanwaltschaft dem Beschuldigten zum Zwecke der Wiedergutmachung begangenen Unrechts auferlegt16. Dem Beschuldigten soll hierdurch die Gelegenheit gegeben werden, ein bereits verwirklichtes und somit bestehendes Unrecht wieder auszugleichen17. Dagegen haben Weisungen einen spezialpräventiven Inhalt und dienen dazu, die Begehung künftiger Straftaten durch den Beschuldigten dadurch zu verhindern, dass in geeigneter Weise auf seine künftige Lebensführung eingewirkt wird18. Weisungen stellen sich daher als Hilfen zur Rückfallverhinderung19 dar, die auf die Verhinderung künftigen Unrechts abzielen, was letztendlich ebenfalls im unmittelbaren Interesse der Gesellschaft liegt. Die Unterscheidung von Auflagen und Weisungen erfolgt also mittels der hinter der jeweiligen Anordnung stehenden Intention. Soll die vorzunehmende Handlung der Wiedergutmachung dienen, so liegt eine Auflage vor, ist sie dagegen auf die Verhinderung einer künftigen Delinquenz gerichtet, so handelt es sich um eine Weisung. Untersucht man den bis dato geschlossenen Katalog des § 153a StPO dabei etwas genauer, so stellt sich sehr schnell heraus, warum dieser den Anforderungen der Praxis nicht in ausreichendem Maße gerecht werden konnte. Zunächst fällt auf, dass § 153a StPO, anders etwa als die dem Gericht gegebene Möglichkeit zur Anordnung von Auflagen (§ 56 StGB) und Weisungen (§ 56c StGB) im Rahmen der Strafaussetzung zur Bewährung, nicht zwischen Auflagen und Weisungen trennt, sondern beide Anordnungsformen innerhalb einer Vorschrift behandelt. Ein zweiter Blick offenbart jedoch, dass es sich bei den im Rahmen des § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 1–6 StPO aufgelisteten Anordnungsmöglichkeiten, entgegen der Wortwahl innerhalb des Gesetzestextes des § 153a StPO, überwiegend um Auflagen und nicht um Weisungen handelt, da sie größtenteils nur auf die Wiedergutmachung eines bereits begangenen Unrechts gerichtet sein können. Ausnahmen hiervon bilden allein die Anordnung nach Nr. 6, ein Aufbauseminar nach dem StVG zu besuchen, und die Anordnung nach Nr. 4 zur Zahlung von Unterhaltsleistungen, wobei diese Weisungen von vornherein auf Grund ihrer Beschränkung auf bestimmte Delikte nur einen stark begrenzten Anwendungsbereich haben. Dagegen sind die übrigen Maßnahmen allesamt Auflagen, die auch als spezielle Regelungen der Nr. 1 charakterisiert werden können, nämlich die Verpflichtung des Beschuldigten zur Erbringung von mehr oder weniger genau beschriebenen Wiedergutmachungsleistungen. Die wohl in der Praxis bedeutsamste Auflage zur Zahlung eines Geldbetrages in Nr. 2 ist vorrangig ebenso auf die
__________ 16 BVerfG v. 21. 4. 1993 – 2 BvR 930/92, StV 1993, 465; LG Frankfurt v. 6. 12. 2000 – 5/27 Qs 64/00, NJW 2001, 697; Mrozynski, Zur Problematik strafrechtlicher Weisungen, JR 1983, 397. 17 BVerfG v. 21. 10. 1981 – 1 BvR 52/81, BVerfGE 58, 358. 18 BVerfG (Fn. 16) StV 1993, 465; OLG Koblenz v. 7. 1. 1985 – 1 Ws 862/84, NStZ 1987, 24; LG Würzburg v. 24. 6. 1982 – Qs 317/82 jug., NJW 1983, 463 (464). 19 Mrozynski, JR 1983, 397.
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Die unbenannten Auflagen und Weisungen des § 153a StPO
Wiedergutmachung eines Schadens und somit auf Genugtuung gerichtet, wie die Verpflichtung zur Erbringung gemeinnütziger Leistungen in Nr. 3 oder die Wiedergutmachung der Tat im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs gem. Nr. 5. Auch die Verpflichtung zur Erbringung von Unterhaltsleistungen in Nr. 4 kann sich als eine Auflage erweisen, wenn diese Leistung nicht die Verhinderung einer künftigen Delinquenz des Beschuldigten bezwecken soll, sondern allein auf den Ausgleich eines bereits entstandenen Schadens gerichtet ist. Die gesetzliche Aussage, dem Beschuldigten könnten zur Beseitigung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung Auflagen und Weisungen auferlegt werden, überzeugt somit nicht so recht, da eine Einstellung bis zur Öffnung des Kataloges tatsächlich größtenteils nur unter Auflagen, nicht aber unter Weisungen möglich war. Dadurch kam der Gesichtspunkt zu kurz, dass viele Fälle denkbar sind, in denen das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung eines Bagatell- oder zumindest Alltagsdeliktes nicht nur dadurch beseitigt werden kann, dass der Beschuldigte die Folgen der bereits begangenen Tat rückgängig macht, sondern auch dadurch, dass durch eine präventive Weisung sichergestellt wird, dass eine erneute Begehung dieses Delikts durch den Beschuldigten nicht wieder vorkommen wird. Bis zur Öffnung des Auflagen- und Weisungskataloges war eine Anordnung präventiver Maßnahmen im Rahmen des § 153a StPO nur im Rahmen einer ausgesprochen „wohlwollenden Auslegung“ des Merkmals der Wiedergutmachung möglich. So wurde beispielsweise im Rahmen des von mir betreuten Passauer Modellprojekts „Gewalt im sozialen Nahraum“ die dort praktizierte „Beratungsauflage“ bei Delikten innerhalb familiärer Konfliktsituationen als immaterielle Wiedergutmachungsleistung zur Beseitigung der psychischen Folgen des begangenen Delikts angesehen20, obwohl doch eine solche Beratung ganz offensichtlich auf die Lösung der familiären Konflikte hinwirken soll, in denen die Straftat ihren Ursprung hat und somit auf die Vermeidung ähnlicher Straftaten in der Zukunft gerichtet ist. Die Beratung soll gerade als Hilfestellung für die zukünftige Lebensführung der Beteiligten dienen, nicht aber als Sühneleistung für eine bereits begangene Tat. Eine derartige, gewissermaßen halb-legale Gesetzesanwendung zur Ermöglichung von in der Praxis als erforderlich angesehenen präventiv wirkenden Anordnungen zur Einstellung des Verfahrens wurde allgemein als unbefriedigend angesehen. So waren die positiven Erfahrungen des Passauer Modellprojekts ein Motor für die Reform des § 153a StPO. Nach Öffnung des Katalogs des § 153a StPO bedarf es keiner mutigen Justizministerin mehr, die sinnvolle Lösungen notfalls auch „praeter legem“ sucht. In der Ermög-
__________ 20 Vgl. hierzu Beulke, Gewalt im sozialen Nahraum – Zwischenbericht eines Modellprojektes, MschrKrim 1994, 360 (363); ders., in FS Kaiser, S. 1419 ff.; Beulke/ Theerkorn, Gewalt im sozialen Nahraum – Beratungsauflage als (ein) Ausweg?, NStZ 1995, 474 (476).
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lichung unbenannter Weisungen, also einer präventiven Einflussnahme auf den Beschuldigten, liegt somit die wirkliche Bedeutung der Beendigung des Enumerationsprinzips innerhalb des § 153a StPO. Für die Möglichkeit zur Auferlegung von Auflagen hat die Öffnung des Kataloges innerhalb des § 153a StPO hingegen eine sehr viel geringere Bedeutung, weil jede Auflage sowieso schon wesensmäßig eine Verpflichtung zur Erbringung von Wiedergutmachungsleistungen i. S. v. § 153a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO beinhaltet.
II. Zur Kritik an der Neuregelung Die wissenschaftliche Diskussion über die Änderungen innerhalb des § 153a StPO durch das Gesetz vom 20. 12. 1999 hat sich bisher fast ausschließlich auf die Einbeziehung des Täter-Opfer-Ausgleichs fokussiert21, wohingegen die Öffnung des Auflagen- und Weisungskataloges eher peripher behandelt worden ist. Dabei hat die Neuregelung bezüglich der Öffnung des Katalogs kaum Zustimmung, wohl aber z. T. deutliche Kritik erfahren22. Problematisiert wird vor allem die Vereinbarkeit eines geöffneten Maßnahmenkataloges mit dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG. Da es sich bei den Auflagen und Weisungen um eine Art informelle Sanktion zur Ahndung von Bagatelldelikten handele, müsse der Art. 103 Abs. 2 GG im Sinne einer optimalen Wirkkraft auch auf die Vorschrift des § 153a StPO Anwendung finden, obwohl diese formal dem Strafverfahrensrecht und nicht dem materiellen Recht zuzurechnen sei. Ein offener Katalog möglicher Auflagen und Weisungen sei dabei zu unberechenbar und folglich nicht hinreichend bestimmt. Diese Kritik überzeugt nicht. Bereits im materiellen Strafrecht ist für Weisungen gem. § 56c StGB ein offener Katalog möglicher Maßnahmen vorgesehen, was aber gemeinhin als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen wird, da es sich bei einer Weisung in keinem Fall um eine Strafe oder eine strafähnliche Ahndungsform handelt, sondern um eine Hilfe an den Adressaten zur Vermeidung künftiger Straftaten23. Für die Vorschrift des § 153a StPO sollte nichts anderes gelten, so dass gegen die Öffnung des Weisungskataloges von vornherein auch vor dem Hintergrund des Art. 103 Abs. 2 GG keine Bedenken bestehen. Aber auch hinsichtlich der Öffnung des Auflagenkataloges greift die Argumentation einer fehlenden Vereinbarkeit mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz zu kurz. Die dem Beschuldigten auferlegten Wiedergutmachungsleistungen stellen zwar für diesen einen – möglicherweise
__________ 21 Vgl. z. B. Tolmein, Neue Hoffnung für den Täter-Opfer-Ausgleich?, ZRP 1999, 408; schon zuvor gegen eine Einfügung des Täter-Opfer-Ausgleichs in die möglichen Wiedergutmachungsleistungen Fezer, ZStW 95 (1983), 32 (46). 22 Insbesondere Britz/Jung in FS Meyer-Goßner, 2001, S. 307 ff. 23 BVerfG (Fn. 16) StV 1993, 465; Mrozynski, JR 1983, 397 (398 f.).
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sogar ganz erheblichen – Nachteil dar, sind aber dennoch nicht als Strafe anzusehen24. Was die Auflage vor allem aus dem Spektrum von Strafen und Sanktionen herauslöst, ist der Umstand, dass es ein konstitutives Merkmal jedweder Sanktion ist, dass sie autoritativ dem Betroffenen gegenüber festgelegt wird. Gerade diese Voraussetzung fehlt den Auflagen im Rahmen des § 153a StPO, deren Anordnung stets von der Zustimmung des Beschuldigten abhängt25. Man mag hiergegen einwenden, dass der Entscheidungsspielraum des Beschuldigten in diesen Fällen sehr eng sei, da mit einer Ablehnung der Einstellung unter Auflagen zumeist die Fortführung des Verfahrens verbunden ist und sich hieraus wiederum für den Beschuldigten die Gefahr einer strafrechtlichen Verurteilung ergibt, die er auch dann, wenn er unschuldig ist, in Anbetracht der dennoch bestehenden Möglichkeit einer materiell falschen Verurteilung kaum einzugehen gewillt sein wird. Dieser Einwand verwechselt aber die erforderliche Zustimmung des Beschuldigten zur Erteilung von Auflagen mit einer Freiwilligkeit der als Auflage erbrachten Leistung. Von Freiwilligkeit kann man gewiss nur dann sprechen, wenn auch mit der Ablehnung einer bestimmten Handlung für den Handelnden keinerlei negative Konsequenzen verbunden wären. Für die Beurteilung der Frage, ob dem Beschuldigten ein Nachteil autoritativ auferlegt wird oder ob der Eintritt dieser Beeinträchtigung von seiner Zustimmung abhängig ist, kann dagegen lediglich maßgeblich sein, ob die Zustimmung auf einer freien Willensentschließung beruht oder nicht. Die Freiheit der Willensentschließung wird aber nicht dadurch beeinträchtigt, dass dem Beschuldigten auch für den Fall einer Ablehnung der Einstellung unter Auflagen Nachteile drohen. Vielmehr sind es doch gerade diese verschieden schwer wiegenden Vor- und Nachteile der beiden Handlungsmöglichkeiten – in dieser Situation die Aussicht auf einen Freispruch und die Gefahr einer Verurteilung für den Fall einer Ablehnung, die Beendigung des Verfahrens und die Beeinträchtigung durch die Auflage im Falle einer Zustimmung – auf die sich jede freie Willensentscheidung stützt. Der Wille des Beschuldigten wird hierbei durch das Inaussichtstellen einer Verfahrensbeendigung, wenn dieser einer Auflage zustimmt, auch keineswegs gebeugt, da selbst im Falle einer Ablehnung seine Position nicht verschlechtert würde, sondern lediglich das bereits bestehende Verfahren genau in der Weise weiter liefe, als ob das Angebot der Einstellung nie gemacht worden wäre26.
__________ 24 Zutreffend Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 48. Aufl. 2005, § 153a Rz. 12. 25 Somit lassen sich im Gegensatz hierzu die Auflagen des § 56b StGB durchaus als sanktionsähnliche Nachteile für den Verurteilten auffassen, da diese tatsächlich ohne Zutun des Betroffenen angeordnet werden; vgl. BT-Drs. 14/1928, S. 8. 26 Anders aber wohl Britz/Jung in FS Meyer-Goßner, 2001, S. 315 f.
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III. Rechtliche Anforderungen an nicht geregelte Auflagen und Weisungen Stellt sich die Öffnung des Auflagen- und Weisungskataloges in § 153a StPO damit sowohl als verfassungsrechtlich unbedenklich wie auch als in der Praxis wünschenswert dar, so ist mit der Öffnung jedoch nicht gleichzeitig auch die Aussage verbunden, dass nunmehr sämtliche nur irgend denkbare Anordnungen möglich wären. Vielmehr bestehen auch für die unbenannten Auflagen und Weisungen Zulässigkeitsschranken. Einige besonders relevante Streitfragen sollen insoweit im Folgenden behandelt werden27. 1. Einhaltung des Rechtscharakters von Auflagen und Weisungen Ein erstes bedeutsames Erfordernis für die Zulässigkeit unbenannter Auflagen und Weisungen besteht in der – eigentlich selbstverständlichen – Anforderung, dass es sich bei der Anordnung an den Beschuldigten überhaupt um eine Auflage oder Weisung handeln muss. Da insbesondere die Möglichkeit von Gericht und Staatsanwaltschaft zur Anordnung von Weisungen durch die Öffnung des Kataloges erheblich erweitert wurde, soll hier ein besonderes Augenmerk auf die Anforderungen geworfen werden, die in diesem Zusammenhang an die Zulässigkeit gerade von Weisungen zu stellen sind. Das Handlungs- bzw. das Unterlassungsgebot, das an den Beschuldigten ergeht, muss, um als Weisung betrachtet werden zu können, darauf gerichtet sein, ihm eine Hilfe zur Verhinderung künftigen strafbaren Verhaltens an die Hand zu geben. So wäre etwa eine Weisung dergestalt, dass der Beschuldigte künftig bestimmte strafbare Handlungen zu unterlassen habe, unzulässig, da ihm hierdurch keine Hilfe zur Vermeidung künftiger Straftaten gegeben, sondern er lediglich allgemein zur Gesetzestreue angehalten wird28. Die Weisung muss somit auf ein Verhalten im Vorfeld des eigentlich strafbaren Verhaltens einwirken und darf nicht das Unterlassen der strafbaren Handlung selbst zum Gegenstand haben29. Aus dem gleichen Grunde sind Anordnungen unzulässig, die dem Beschuldigten lediglich tatsächlich die Möglichkeit nehmen, strafbare Handlungen zu begehen. So wäre beispielsweise die Anordnung an einen Ausländer, das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, nicht als Weisung einzustufen und daher im Rahmen des § 153a StPO nicht möglich, da eine solche Anordnung zwar verhindern würde, dass der Beschuldigte in der Zukunft strafbare Handlungen im Geltungs-
__________ 27 Ausführlich LR-Beulke (Fn. 6), § 153a Rz. 69 ff. 28 Hoferer, Zur Frage der Rechtmäßigkeit von Weisungen nach dem Jugendgerichtsgesetz, sich des Umganges mit Betäubungsmitteln zu enthalten und zum Nachweis der Drogenfreiheit für eine bestimmte Zeit Urinproben abzugeben, NStZ 1997, 172 (173). 29 BVerfG (Fn. 16) StV 1993, 465.
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bereich des StGB begeht, dies aber nicht dadurch, dass ihm eine Hilfestellung zur Vermeidung einer solchen Handlung gegeben würde, sondern allein aufgrund der Tatsache, dass die Befolgung dieser Anordnung die faktische Unmöglichkeit künftigen strafbaren Verhaltens in Deutschland zur Folge hätte30. Des Weiteren dürfen die Anordnungen nicht ausschließlich der Überwachung des Beschuldigten dienen, da auch einer solchen Anordnung der Hilfscharakter fehlen würde31. Hier sind in vergangener Zeit im Rahmen des § 56c StGB vor allem zwei Konstellationen in das Blickfeld der Diskussion gerückt, die nunmehr nach der Öffnung des Weisungskataloges für § 153a StPO ebenfalls Bedeutung erlangt haben: Zum einen die Verbindung der Weisung, in der Zukunft den Konsum von Betäubungsmitteln zu unterlassen, um hierdurch eine Verhinderung künftiger Straftaten im Rahmen der Beschaffungskriminalität zu verhindern, mit der Verpflichtung zur regelmäßigen Abgabe von Urinproben über einen gewissen Zeitraum. Zum anderen die Kombination der Weisung, sich zu bestimmten Zeiten in der eigenen Wohnung aufzuhalten, mit der Anordnung einer „elektronischen Fußfessel“ zwecks Überwachung der angeordneten Weisung (sog. elektronisch überwachter Hausarrest). In beiden Fallgruppen steht die Zulässigkeit der primären Weisung außer Frage. Sowohl die Anordnung, in der Zukunft keine Betäubungsmittel mehr zu konsumieren als auch aufenthaltsbeschränkende Maßnahmen können je nach Fallkonstellation als tauglich angesehen werden, dem Adressaten eine Hilfestellung zur Vermeidung künftigen strafbaren Verhaltens zu geben. Umstritten ist jedoch, inwieweit dies auch noch auf diejenigen Anordnungen zutrifft, mit Hilfe derer die Einhaltung dieser primären Weisungen kontrolliert werden soll. Im Schrifttum ist die Zulässigkeit solcher Anordnungen bisweilen verneint worden, da es sich hierbei nicht mehr um eine Hilfe zur Rückfallverhinderung, sondern nur noch um einen Kontroll- und Abschreckungsmechanismus handele32. Jedoch ist dem mit der überwiegenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur zu widersprechen33. Zum einen ergibt sich die Zulässigkeit einer Anordnung der Abgabe von Urinproben zur Sicherstellung des unterlassenen Betäubungsmittelkonsums bereits daraus, dass das Gericht sogar die Weisung erteilen könnte, dass sich der Angeklagte einer Entziehungskur zu unterwerfen habe. Eine solche Weisung würde die
__________ 30 OLG Koblenz (Fn. 18) NStZ 1987, 24 (26); OLG Karlsruhe v. 4. 7. 1963 – 1 Ws 90/63, Justiz 1964, 90. 31 BVerfG (Fn. 16) StV 1993, 465; Mrozynski, JR 1983, 397 (402). 32 Hoferer, NStZ 1997, 172; Mrozynski, a. a. O. 33 Statt aller BVerfG (Fn. 16) StV 1993, 465 (466); OLG Stuttgart v. 31. 3. 1987 – 4 Ws 92/87, Justiz 1987, 234; LG Frankfurt (Fn. 16) NJW 2001, 697; Bammann, Anwendbarkeit des elektronisch überwachten Hausarrests in Deutschland?, JA 2001, 471 (476).
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Freiheit jedoch in sehr viel stärkerem Maße einschränken als die Anordnung, durch Abgabe regelmäßiger Urinproben den unterlassenen Betäubungsmittelkonsum nachzuweisen, was somit als die minder schwere Maßnahme ebenfalls möglich sein sollte34. Zum anderen spricht für die Zulässigkeit einer solchen Anordnung als Weisung aber auch, dass es sich hierbei zwar nicht direkt um eine Hilfe zur Rückfallverhinderung handelt, sehr wohl aber um ein Mittel zur Sicherstellung der Wirksamkeit einer solchen Hilfe. Es ist kein Grund erkennbar, warum nur solche Regelungen zulässig sein sollten, die direkt als Hilfestellungen anzusehen sind. Im Hinblick auf Sinn und Zweck der Weisungen spricht alles dafür, auch Maßnahmen zu ermöglichen, die der mittelbaren Absicherung der verordneten Hilfe dienen35. Insoweit ist die Anordnung zur Abgabe von Urinproben ebenso wie die Anordnung zum Tragen einer „elektronischen Fußfessel“ eine mittelbare Hilfsmaßnahme und somit eine zulässige Weisung, da die unmittelbare Hilfsmaßnahme, nämlich die Anordnung, keine Drogen zu konsumieren oder sich zu bestimmten Zeiten in der eigenen Wohnung aufzuhalten, ohne diese zusätzliche Absicherung wegen ihrer Unkontrollierbarkeit wenig Erfolg verspräche. Lebhaft diskutiert wird ferner, ob auch ein Arbeitsgebot, also die Anordnung an den Beschuldigten, sich arbeitslos zu melden und sobald als möglich ein Arbeitsverhältnis einzugehen, eine zulässige Weisung darstellt. Abgesehen von der verfassungsrechtlichen Problematik einer solchen Anordnung im Hinblick auf Art. 12 GG, auf die erst später eingegangen werden soll36, ist zu beachten, dass diese jedenfalls als Weisung im Erwachsenenstrafrecht nur dann zulässig sein kann, wenn sie tatsächlich zwecks Rückfallverhinderung angeordnet wird. Bei der strafbaren Handlung, um deren künftige Verhinderung es geht, muss es sich also um eine solche handeln, die durch eine regelmäßige künftige Arbeit verhütet werden kann und auch gerade verhütet werden soll. Anknüpfungspunkt könnte etwa sein, dass der Beschuldigte sein strafbares Tun zu Erwerbszwecken eingesetzt hat, da in einem solchen Fall ein gesichertes Einkommen aufgrund legaler Arbeit eine Hilfestellung an den Beschuldigten wäre, diese strafbaren Handlungen in Zukunft zu unterlassen. Zu beachten ist dabei auch, dass ein festes Arbeitsverhältnis häufig überhaupt eine grundlegende Voraussetzung für eine soziale Integration ist und somit als Basis für einen stabiles Leben angesehen werden kann37. Soll die Anordnung einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen dagegen nur sicherstellen, dass der Beschuldigte in der Lage ist, eine bestehende Wiedergutmachungsauflage – etwa eine Geldleistung – zu erfüllen, so fehlt die-
__________ 34 OLG Stuttgart a. a. O. 35 Ähnlich LG Würzburg (Fn. 18) NJW 1983, 463 (464). 36 Vgl. hierzu auch Krehl in Lemke u. a., Heidelberger Kommentar zur Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2001, § 153a Rz. 23; Schoreit, in Pfeiffer, Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 5. Aufl. 2003, § 153a Rz. 22. 37 LG Würzburg (Fn. 18) NJW 1983, 463 (464).
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ser Anordnung der Hilfeleistungscharakter und ist stattdessen als eine Auflage zu betrachten38. Auch bei den Auflagen können wir aus ihrem Rechtscharakter grundsätzliche Aussagen über die Zulässigkeit der festgesetzten Rechtsfolge ableiten. Eine solche Anordnung ist nur dann zulässig, wenn ihr tatsächlich ein Wiedergutmachungscharakter innewohnt. Die dem Beschuldigten auferlegten Handlungsverpflichtungen dürfen sich nicht nur als reine Nachteilszufügungen diesem gegenüber darstellen, sondern müssen darüber hinaus immer auch geeignet sein, dem Geschädigten Genugtuung zu verschaffen. Daher kann die Auflage an den Beschuldigten, sich persönlich beim Geschädigten zu entschuldigen oder diesem ein Schmerzensgeld zu zahlen, durchaus als Wiedergutmachungsleistung und somit als Auflage aufgefasst werden39, nicht aber die Anordnung, die verletzte Strafrechtsnorm hundertmal abzuschreiben, da einem solchen Verhalten des Beschuldigten jegliche Genugtuungsfunktion fehlen würde. Dass eine solche Anordnung auch als Weisung nicht zulässig wäre, ergibt sich quasi von selbst, da sie schon nicht geeignet ist, die künftige Lebensführung des Beschuldigten überhaupt zu beeinflussen und noch weniger eine Hilfe zur Vermeidung künftiger Straftaten darstellt. 2. Der Beschuldigte als Adressat Eine weitere grundlegende Anforderung an die möglichen Anordnungen, die das Gericht bzw. die Staatsanwaltschaft im Rahmen des § 153a StPO mit Zustimmung des Beschuldigten treffen können, liegt darin, dass von dieser Anordnung rechtlich nur der Beschuldigte betroffen sein darf. Eine Anordnung, die entweder bereits an Dritte adressiert ist oder bei der eine Einstellung nicht nur von einer Handlung des Beschuldigten, sondern auch von einer hinzu tretenden Handlung eines Dritten abhängig gemacht wird, ist demnach von vornherein unzulässig40. Eine solche Unzulässigkeit ist dabei nicht nur dann anzunehmen, wenn bereits formal auch ein Dritter als Adressat betroffen ist, sondern auch dann, wenn die Anordnung zwar nur an den Beschuldigten ergeht, diese jedoch nicht befolgbar ist, ohne dass in gleicher Weise auch in den Rechtskreis Dritter eingegriffen wird. So wäre bei einem Beschuldigten, dem auf Grund einverständlichen Geschlechtsverkehrs mit einer Fünfzehnjährigen ein Vergehen nach § 182 Abs. 2 Nr. 1 StGB zur Last gelegt wird, die Weisung, die Beziehung zu der Minderjährigen auch nach Vollendung deren sechzehnten Lebensjahres nicht wieder aufzunehmen, schon deshalb unzulässig, weil von dieser Anordnung nicht nur der Beschuldigte, sondern ebenso auch die Minderjährige betroffen wäre, ganz abgesehen von dem Gesichtspunkt, dass ein strafrechtlich unproblematisches Sexual-
__________ 38 Dies war der Fall in der Entscheidung BVerfGE 58, 358 (Fn. 17). 39 Vgl. KK-Schoreit (Fn. 36), § 153a Rz. 17. 40 Vgl. Dahs, NJW 1996, 1192.
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verhalten sowieso nicht untersagt werden dürfte. Wird hingegen ein Dritter nur faktisch betroffen, etwa durch die Anordnung einer Zahlungsauflage gem. § 153a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO, die der Beschuldigte nicht ohne Einschränkungen von Leistungen, etwa im Rahmen des Familienunterhalts, erfüllen kann, liegt in diesen mittelbaren Nachteilen lediglich eine Betroffenheit, die aus der allgemeinen Sozialverflochtenheit des Beschuldigten mit seiner Umwelt, nicht aber aus der Auflage direkt resultiert. 3. Grundrechtskonformität Jede Auflage oder Weisung ist, da sie sich trotz des Erfordernisses einer Zustimmung des Beschuldigten wenn auch nicht als Strafe, so aber doch als staatlicher Eingriff darstellt, an den hierfür speziell einschlägigen Grundrechten oder zumindest an Art. 2 Abs. 1 GG zu prüfen. Handelt es sich bei dem Grundrecht, dessen Schutzbereich durch die Anordnung betroffen wird, um ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht, so kommt eine Einschränkung dieses Grundrechts durch eine Auflage oder Weisung nicht in Frage. Daher bleibt auch nach Öffnung des Kataloges des § 153a StPO etwa die Weisung regelmäßigen Kirchgangs an den Beschuldigten unzulässig, da hierin ein Verstoß gegen die vorbehaltlos gewährte negative Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) zu sehen ist. Ebenso bleiben entwürdigende oder den Beschuldigten stigmatisierende Anordnungen aufgrund des damit verbundenen Eingriffs in die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) ausgeschlossen. Auflagen oder Weisungen dergestalt, dass der Beschuldigte für die Tat öffentlich Buße zu tun habe, sind wegen des damit verbundenen Verstoßes gegen die Menschenwürde unzulässig. Nicht angeordnet werden darf deshalb beispielsweise das Tragen eines „Büßerhemdes“, also dass der Beschuldigte sich ein Schild mit der ihm zur Last gelegten Straftat umhängt. Ebenso sind m. E. viele andere prangerähnliche Maßnahmen, sich zu der Tat in der Öffentlichkeit zu bekennen – etwa durch die in einigen Rechtsordnungen wohl mögliche Weisung, die eigene Nachbarschaft durch Hinweistafeln vor dem Haus oder via Internet über die ihm zur Last gelegte Tat zu informieren – unzulässig. Eine Verletzung der Menschenwürde läge auch bei Eingriffen in Lebensbereiche vor, die generell keinem staatlichen Zwang ausgesetzt sein sollen und über die der Beschuldigte nur selbst bestimmen kann41. So dürfte z. B. einem beschuldigten Ehemann nicht die Anordnung erteilt werden, die eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner Frau herzustellen, und ein unverheirateter Mann könnte nicht angewiesen werden, seine Verlobte zu heiraten. Hingegen ist die Ermächtigung zur Auferlegung von Auflagen und Weisungen i. S. v. § 153a StPO durch den grundrechtseinschränkenden Gesetzesvorbehalt gedeckt, sofern ein solcher in den grundrechtlichen Bestimmungen
__________ 41 HansOLG v. 10. 7. 1964 – 2 Ws 186/64, JR 1965, 28 (29).
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Die unbenannten Auflagen und Weisungen des § 153a StPO
vorgesehen ist42. Es gilt hierbei aber zunächst zu beachten, dass sich die konkrete Anordnung stets im Rahmen dieser – praktisch generalklauselartig durch die Befugnis zur Erteilung von Auflagen und Weisungen erteilten – Ermächtigung zu Grundrechtseinschränkungen halten muss43. Je weniger genau die möglichen Anordnungen bezeichnet sind, desto sensibler müssen wir der Frage der Grenzziehung nachgehen. Daher besteht gerade im Hinblick auf die unbenannten Auflagen und Weisungen ein Gebot besonderer Zurückhaltung. Ferner können nur solche Auflagen und Weisungen ein Grundrecht in verfassungsmäßiger Weise einschränken, die sich als verhältnismäßig darstellen. Es ist also in jedem Fall zu prüfen, ob sich die Anordnung sowohl in Bezug auf die angestrebte Wirkung als auch in ihrem Verhältnis zu der dem Beschuldigten zur Last gelegten Tat als angemessen darstellt44. Wenn beispielsweise der Beschuldigte offenbar dazu neigt, unter Alkoholeinfluss in Gaststätten Körperverletzungen zu begehen, so wäre die Weisung, in Zukunft überhaupt keine Gaststätte mehr zu besuchen, unverhältnismäßig, wenn im konkreten Fall bereits die Weisung, in Gaststätten zumindest keinen Alkohol mehr zu konsumieren, ausreichen würde, ein zukünftiges straffreies Verhalten des Täters sicher zu stellen. Im Rahmen des § 56c StGB wurde dabei unter anderem die Weisung, künftig keine fremden Kinder oder Jugendlichen anzusprechen, als mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG im Einklang stehend betrachtet, wenn die Tat in einem entsprechenden Sexualdelikt bestand45. Nichts anderes kann für § 153a StPO gelten. Deshalb wäre eine Weisung rechtmäßig, die den Umgang des Beschuldigten mit bestimmten Personen bzw. Personengruppen oder seinen Aufenthalt in einem gewissen Milieu beschränkt, sofern ein solches Umgangsverbot spezialpräventiv erforderlich erscheint. Ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG wäre hingegen wiederum dann anzunehmen, wenn diejenigen Personen, mit denen der Beschuldigte keinen Umgang mehr pflegen soll, solche Personen wären, zu denen er in einem schützenswerten Näheverhältnis stünde, wenn es sich also beispielsweise um Familienangehörige handelte. Des Weiteren ist auch bei Anordnungen, die mit Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder die persönliche Freiheit verbunden sind, stets genau zu prüfen, ob sich diese Maßnahme noch innerhalb des grundrechtseinschränkenden Gesetzesvorbehalts bewegt. So dürfte etwa die Weisung an den Beschuldigten, sich kastrieren zu lassen, ebenso wie die Auflage, Organe zu spenden, verfassungsrechtlich ausgeschlossen sein. Keinerlei verfassungs-
__________ 42 Vgl. HansOLG v. 16. 11. 1971 – 1 Ws 315/71, NJW 1972, 168; OLG Jena v. 6. 1. 2004 – 1 Ws 293/03, NStZ-RR 2004, 138 (139); LG Würzburg (Fn. 18) NJW 1983, 463 (464). 43 Mrozynski, JR 1983, 397 (398). 44 Vgl. HK-Krehl (Fn. 36), § 153a Rz. 23. 45 HansOLG (Fn. 41) JR 1965, 28.
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rechtliche Probleme sehe ich hingegen bei der Auflage einer Blutspende als Wiedergutmachungsleistung, etwa bei Verkehrsdelikten oder bei der Verpflichtung zur Abgabe von Urinproben zwecks Überwachung der Weisung, künftig keine Betäubungsmittel mehr zu konsumieren. Als besonders problematisch gestaltet sich die Behandlung von Eingriffen in die Berufsfreiheit des Art. 12 GG durch Auflagen oder Weisungen. Einschlägige Verhaltensanleitungen für den Beschuldigten scheinen wegen ihrer kriminalpolitischen Zweckmäßigkeit auf die Gerichte eine nicht unerhebliche Attraktivität auszuüben. Bezüglich ihrer rechtlichen Zulässigkeit muss differenziert werden: Erfolgt die Anordnung eines Arbeitsgebotes als Weisung, also zum Zwecke der Verhinderung der Begehung künftiger Straftaten durch den Beschuldigten, so bestehen gegen die Annahme, dass eine solche Anordnung sich im Rahmen der Ermächtigung zu Beschränkungen des Art. 12 GG hält, so lange keine Bedenken, als der Beschuldigte durch die Weisung lediglich überhaupt zur Aufnahme irgendeiner Arbeit, nicht aber auch zur Ausübung einer bestimmten Tätigkeit verpflichtet wird46. In gleicher Weise ist dabei auch die Weisung, sich um eine Ausbildungsstelle zu bemühen zulässig, weil auch hiermit kein Zwang zur Aufnahme einer näher bestimmten Arbeit verbunden wäre47. Da eine solche Weisung bereits explizit im Rahmen des § 56c Abs. 2 Nr. 1 StGB auch ohne Einwilligung des Verurteilten ermöglicht wird, kann für § 153a StPO, der zusätzlich die Zustimmung des Beschuldigten erfordert, nichts anderes gelten. Problematisch erscheint hingegen die Zulässigkeit eines Arbeitsgebotes als Auflage. Hier fehlt die entsprechende Möglichkeit des Schlusses von der Zulässigkeit in § 56b StGB auf die Zulässigkeit im Rahmen des § 153a StPO, da der geschlossene Katalog des § 56b StGB im Unterschied zu § 56c StGB gerade keine arbeitsbezogenen Auflagen als mögliche Anordnungen umfasst. Jetzt ist erstrangig entscheidend, dass die Arbeitsauflage eine Wiedergutmachungsleistung darstellen müsste. Davon kann in der Regel nur dann ausgegangen werden, wenn die Arbeitsauflage verhängt wird, um eine daneben auferlegte Geldzahlung gem. § 153a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO indirekt sicherzustellen. Dafür ist es aber erforderlich, dass es dieser Absicherung überhaupt bedarf. Besteht nämlich die Möglichkeit, dass der Beschuldigte die ihm auferlegte Zahlungsverpflichtung auch auf andere Weise erfüllen kann, etwa weil er über ein entsprechendes Vermögen verfügt, so kann der Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit durch die Arbeitsauflage schon deshalb nicht gerechtfertigt sein, weil dieser Eingriff nicht erforderlich und somit
__________ 46 Vgl. nur OLG Jena (Fn. 42), NStZ 2004, 138 (139); LG Würzburg (Fn. 18) NJW 1983, 463 (464); bestätigt durch BVerfG v. 13. 10. 1982 – 1 BvR 955/82, NJW 1983, 442; LR-Beulke (Fn. 6), § 153a Rz. 76; aA HK-Krehl (Fn. 36), § 153a Rz. 23; KK-Schoreit (Fn. 36), § 153a Rz. 22. 47 OLG Jena (Fn. 42) NStZ 2004, 138 (138 f.).
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unverhältnismäßig wäre. Bedarf es somit zur Sicherstellung der Zahlung bei einer Geldauflage nicht der Anweisung, eine Arbeit aufzunehmen, so kann dem Betroffenen keine spezielle Anweisung gegeben werden, wie er sich dieses Geld zu beschaffen hat48. Durch die Öffnung des Auflagenkatalogs in § 153a StPO sind also im Erwachsenenstrafrecht Arbeitsauflagen nach wie vor nur in begrenztem Umfang zulässig, nämlich im Regelfall nur insoweit, als sich deren Anordnung auch als ein verhältnismäßiges Mittel zur Sicherstellung einer Geldauflage darstellt. Zu behandeln bleibt noch die Beurteilung einer Anordnung im Rahmen des § 153a StPO, die sich nicht als Arbeitsgebot, sondern im Gegenteil als partielles oder gar vollständiges Arbeitsverbot darstellt. Wie bereits ausgeführt, dürfen solche Verbote in Form der Einschränkungen der Berufstätigkeit des Beschuldigten allein zum Zwecke einer Verhinderung künftigen strafbaren Verhaltens des Beschuldigten dienen. In diesem Zusammenhang wurde etwa die Weisung an einen Verurteilten im Rahmen des § 56c StGB, der auf Grund seiner Beschäftigung im Gaststättengewerbe regelmäßig nicht unerhebliche Mengen Alkohol zu sich genommen hatte und in diesem Zustand besonders affektlabil und reizbar war, in Zukunft keinem Beruf innerhalb des Gaststättengewerbes nachzugehen, als mit Art. 12 GG vereinbar angesehen49. Da im Rahmen des § 56c StGB eine solche Weisung dem Betroffenen gegen seinen Willen auferlegt werden kann, muss auch bei § 153a StPO, ähnlich wie in den Fällen eines Arbeitsgebotes, eine Weisung mit Zustimmung des Beschuldigten erst recht möglich sein. In ähnlicher Weise dürfen daher auch andere, mit Einschränkungen der Berufsfreiheit verbundene Weisungen angeordnet werden, wenn die Ausübung eines solchen Berufes mit einem verstärkten Kontakt zu Personen oder Gegenständen verbunden ist, die für den Beschuldigten einen Anreiz zur Begehung künftiger Taten darstellen oder deren Begehung erleichtern. 4. Keine Umgehung spezialgesetzlicher Normen Den Möglichkeiten von Gericht und Staatsanwaltschaft zur „Erfindung“ neuer Auflagen und Weisungen durch die Öffnung des Maßnahmenkataloges in § 153a StPO sind außerdem dadurch Grenzen gesetzt, dass es durch diese Anordnungen nicht zu einer Umgehung speziellerer Normen kommen darf. Ein solcher Widerspruch zu spezialgesetzlichen Regelungen kann sich vor allem daraus ergeben, dass die Möglichkeit des Gerichtes zur Anordnung derartiger Maßnahmen bereits anderweitig abschließend geregelt ist. Die Voraussetzungen, die dabei im Rahmen dieser speziellen Ermächtigung aufgestellt werden, dürfen nicht dadurch umgangen werden, dass dem Beschuldigten eine inhaltsgleiche Anordnung als Auflage oder Weisung erteilt wird.
__________ 48 BVerfGE 58, 358 (362 und 366 f.) (Fn. 17). 49 HansOLG (Fn. 42) NJW 1972, 168.
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Hierzu gehört unter anderem die Regelung zur Übernahme der Verfahrenskosten im GKG, so dass die Auflage an den Beschuldigten zur Kostenübernahme auch nach Öffnung des Auflagen- und Weisungskataloges unzulässig bleibt50. In gleicher Weise scheiden auch Weisungen aus, durch die der Umgang von Eltern mit ihren Kindern geregelt werden soll, da hierfür allein familienrechtliche Vorschriften maßgeblich sind. Dagegen sind Anordnungen in Bezug auf Unterhaltspflichten durchaus möglich, da sich hierzu eine Befugnis direkt aus § 153a Abs. 1 S. 1 Nr. 4 StPO ergibt. Als problematisch können sich aus dem gleichen Grunde auch Arbeitsverbote an den Beschuldigten erweisen, selbst wenn diese im Einzelfall als verfassungsrechtlich unbedenklich einzustufen wären, da nämlich in § 70 StGB insoweit eine speziellere Regelung des Berufsverbots vorhanden ist. Keine Probleme ergeben sich dann, wenn durch eine Weisung die Möglichkeit einer künftigen Berufsausübung durch den Beschuldigten lediglich eingeschränkt, nicht aber diesem die Ausübung eines bestimmten Berufs vollständig untersagt werden soll. So ist etwa die Weisung an einen Masseur, künftig keine Frauen mehr zu massieren, unbedenklich, wenn die ihm zur Last gelegte Tat auf einem dementsprechenden Übergriff anlässlich seiner Berufsausübung beruht. Eine Konkurrenz zu § 70 StGB entsteht nicht, weil dort nur die Anordnung eines gänzlichen Ausübungsverbotes bezüglich eines bestimmten Berufs, Gewerbes oder Gewerbezweiges geregelt ist, nicht aber das Verbot, einzelne zu einem solchen Beruf gehörende Tätigkeiten auszuführen. Soll aber tatsächlich gegen den Beschuldigten im Rahmen des § 153a StPO ein vollständiges Berufsverbot angeordnet werden, so ist im Anwendungsbereich des § 70 StGB für Weisungen nach § 153a StPO kein Raum. Ein Widerspruch zu spezialgesetzlichen Regeln kann sich ferner auch daraus ergeben, dass für eine spezielle Anordnung, die ein Gericht oder die Staatsanwaltschaft im Wege einer Auflage oder Weisung gem. § 153a StPO mit Zustimmung des Beschuldigten vornimmt, eine ausschließliche Zuständigkeit anderer staatlicher Stellen besteht. Auch insoweit ist dann die Befugnis der Gerichte oder der Staatsanwaltschaften beschränkt. Plakativstes Beispiel hierfür sind ausländerpolizeiliche Befugnisse, die ausschließlich den Ordnungsämtern der Landkreise zustehen. Die Weisung an einen Ausländer, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, wäre also nicht nur bereits deshalb unwirksam, weil es sich bei dieser Anordnung auf Grund des fehlenden Hilfeleistungscharakters gar nicht um eine Weisung handelt, sondern auch deshalb, weil für den Erlass einer solchen Anordnung nicht das Gericht, sondern ausschließlich die kommunalen Ausländerbehörden zuständig sind, in deren Bezirk sich das Erfordernis ausländerpolizeilicher Maßnahmen ergibt51.
__________ 50 LR-Beulke (Fn. 6), § 153a Rz. 74; KK-Schoreit (Fn. 36), § 153a Rz. 16; a. A. LG Aachen v. 28. 9. 1981 – 17 Qs 704/81, JurBüro 1982, 583. 51 OLG Karlsruhe (Fn. 30) Justiz 1964, 90; OLG Koblenz (Fn. 18) NStZ 1987, 24 (25).
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5. Konnexität Eine letzte bedeutsame Einschränkung des gerichtlichen Auflagen- und Weisungsrechts stellt schließlich die Anforderung dar, dass die Handlung, zu der ein Beschuldigter verpflichtet werden soll, einen Zusammenhang mit der ihm zur Last gelegten Tat aufweisen muss. Dies gilt in gleicher Weise für Auflagen wie auch für Weisungen. Die Zulässigkeit einer inkonnexen Auflage dürfte allerdings zumeist bereits daran scheitern, dass sich die Vornahme einer Handlung, die in keinem Zusammenhang mit dem entstandenen Schaden steht, nicht als Wiedergutmachung eben dieses Schadens begreifen lässt und der Anordnung einer solchen Handlung daher die für Auflagen konstitutive Genugtuungsfunktion fehlt. So ist etwa eine Geldzahlung oder auch eine Realleistung an einen beliebigen, mit der Tat in keinerlei Beziehung stehenden Dritten regelmäßig nicht zulässig52. Die durch § 153a Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 3 StPO geschaffenen Möglichkeiten der Zahlungsauflage zugunsten des Staates oder einer gemeinnützigen Einrichtung bzw. der Auflage einer gemeinnützigen Arbeitsleistung stellen keine Ausnahme von diesem Prinzip dar, sondern bestätigen es vielmehr, da sich die Genugtuungsfunktion bei einer solchen Handlung aus ihrer Geeignetheit zur generellen Förderung des Gemeinwohls ergibt. Bedeutsam ist das Erfordernis einer inneren Verknüpfung von Tat und Anordnung aber vor allem bei Weisungen. Da eine Weisung nicht dazu dienen soll, aus dem Beschuldigten allgemein einen besseren Menschen zu machen, sondern einer Vermeidung der Wiederholung des begangenen bzw. ähnlicher Delikte bezweckt, muss zwischen der Weisung und der konkreten Tat ein Zusammenhang bestehen53. So dürfte die Weisung, in der Zukunft keinen Alkohol mehr zu sich zu nehmen ebenso wie die Anordnung, sich des Betäubungsmittelkonsums zu enthalten und sich nicht mehr an Orten aufzuhalten, die zu einem solchen Verhalten einen besonderen Anreiz bieten (z. B. Kneipen im Falle des Alkoholkonsums) durchgängig zulässig sein, wenn sich die Tat gerade auch als Folge dieses Verhaltens darstellt oder mit einem solchen Verhalten regelmäßig verbunden ist (z. B. Beschaffungskriminalität im Falle des Betäubungsmittelkonsums)54. Eine solche Weisung wäre auch keinesfalls unzumutbar, da es sich hierbei jeweils um Tätigkeiten handelt, die im unmittelbaren Vorfeld der Straftatbegehung und mit dieser in einem ursächlichen Zusammenhang stehen. Dagegen wäre ein Alkoholverbot als Weisung unzulässig, wenn bei der Tat Alkohol keine Rolle gespielt hat, selbst wenn es sich um ein Körperverletzungsdelikt gehandelt haben sollte,
__________ 52 KK-Schoreit (Fn. 36), § 153a Rz. 18. 53 Meyer-Goßner (Fn. 24), § 153a Rz. 14; Mrozynski, JR 1983, 397 (399). 54 BVerfG (Fn. 16) StV 1993, 465; OLG Düsseldorf v. 20. 3. 1984 – 3 Ws 68 und 159/84, NStZ 1984, 332; OLG Stuttgart (Fn. 33) Justiz 1987, 234 (235); LR-Beulke (Fn. 6), § 153a Rz. 76; aA HK-Krehl (Fn. 36), § 153a Rz. 23; KK-Schoreit (Fn. 36), § 153a Rz. 15; Mrozynski, JR 1983, 397 (398).
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da es nicht ausreicht, dass das für die Zukunft untersagte Verhalten abstrakt Einfluss auf die Begehung derartiger Taten hat. In gleicher Weise kann dem Beschuldigten auch die Weisung erteilt werden, bestimmte Gegenstände, die für eine künftige Deliktsbegehung nötig sind, nicht mehr zu besitzen. Dies kann von Diebstahlswerkzeugen bis hin zu Mobiltelefonen im Bereich der organisierten Kriminalität reichen, die auf die ständige Kommunikation mit ihren Mitgliedern zum Zwecke der Informations- und Befehlsweiterleitung angewiesen ist55. Ein Zusammenhang kann sich auch über den Begehungsort der Tat ergeben. Daher sind auch aufenthaltsbeschränkende Weisungen zulässig, wenn es sich bei den Orten, die aufzusuchen dem Beschuldigten untersagt wird, um solche handelt, die typischerweise als Ausgangspunkte für die Begehung derartiger Delikte anzusehen sind, wie sie ihm zur Last gelegt werden oder die dem Beschuldigten einen besonderen Anreiz zur Tatbegehung geben. Dies ist etwa bezüglich eines Kaufhauses zu Zeiten des Schlussverkaufs bei einem Ladendieb denkbar56. Deshalb ist es z. B. auch zulässig, einem Beschuldigten, dessen Tat in Zusammenhang mit Spielsucht steht anzuweisen, künftig keine Kasinos, Spielhallen oder ähnliche Lokalitäten aufzusuchen. Entsprechendes gilt für jedes andere Suchtverhalten, das als Grundlage der Begehung von Straftaten anzusehen ist. Deshalb kann dem Beschuldigten, dem Straftaten im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln zur Last gelegt werden, verboten werden, sich künftig an Orten aufzuhalten, die als Umschlagplatz von Drogen bekannt sind.
IV. Zusammenfassung und Ausblick Durch die Öffnung des Auflagen- und Weisungskataloges ist es also vor allem zu einer erheblichen Erweiterung der Möglichkeit für Gerichte und Staatsanwaltschaften gekommen, dem Beschuldigten mit dessen Zustimmung Weisungen zu erteilen und somit darauf hinzuwirken, dass eine Wiederholung strafbaren Verhaltens unterbleibt. Betrachtet man die zuvor nur sehr eingeschränkten Weisungsmöglichkeiten, so stellt die Öffnung des Kataloges eine bedeutsame Verbesserung der staatlichen Reaktionsmöglichkeiten dar. So war es bis zur Beendigung des Enumerationsprinzips nicht möglich, dem Beschuldigten generell mit dessen Zustimmung Anordnungen zu erteilen, durch die ihm eine Hilfe zur Unterlassung künftiger Straftaten gegeben wird. Gerade aber durch solche Hilfestellungen an den Beschuldigten kann sowohl dem Allgemeininteresse als auch dem Interesse des Geschädigten häufig wesentlich besser entsprochen werden als dies im Rahmen einer Sanktionierung durch Strafe geschehen würde. Staatsanwaltschaft und
__________ 55 LR-Beulke (Fn. 6), § 153a Rz. 70; Lutz, Handy-Verbot für organisierte Straftäter?, NStZ 2000, 127 (128 f.). 56 OLG Koblenz (Fn. 18) NStZ 1987, 24 (25).
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Gericht können jetzt auf die konkrete Situation eingehen und ihre Anordnungen hierauf abstimmen. Durch die Öffnung des Kataloges ist nunmehr bezüglich der Weisungen § 153a StPO dem § 56c StGB angenähert worden, so dass diejenigen Weisungen, die bisher nur im Rahmen des § 56c StGB möglich waren, wie etwa Aufenthaltsbeschränkungen, Umgangsverbote in Bezug auf bestimmte Personengruppen, die Nichtvornahme typischer Handlungen im Vorfeld strafbaren Verhaltens, arbeitsbezogene Anordnungen oder auch die Teilnahme an sozialen Trainingskursen jetzt auch im Rahmen des § 153a StPO festgelegt werden dürfen. Dabei haben die möglichen Anordnungen durch die zahlreichen Anforderungen, die an deren Zulässigkeit gestellt werden, auch weiterhin eine Kontur, die klar genug ist, die Grenzen der gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Anordnungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Insgesamt betrachtet stellt sich die Öffnung des Auflagen- und Weisungskataloges somit als eine begrüßenswerte Ergänzung des § 153a StPO dar, mit deren Hilfe die staatlichen Möglichkeiten bei einer Reaktion auf strafbares Verhalten nicht nur erweitert, sondern vor allem auch den jeweiligen Bedürfnissen besser angepasst wurden. Für einen guten Anwalt ergeben sich hier wichtige Verteidigungsmöglichkeiten. Unser Jubilar ist dafür bekannt, dass er sie zu Gunsten seiner Mandanten in großartiger Weise genutzt hat. Ich wünsche ihm, dem ungekrönten Oberhaupt der deutschen Strafverteidigerzunft, weiterhin ungebrochene Schaffenskraft und ein langes, glückliches Leben in Gesundheit und Zufriedenheit!
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Reinhard Böttcher
Reform des Ermittlungsverfahrens – Vorbild Österreich? Inhaltsübersicht I. Diskussion in Deutschland II. Das österreichische Strafprozessreformgesetz 1. Information des Beschuldigten 2. Akteneinsicht des Beschuldigten
3. Beweisanträge des Beschuldigten 4. Mitwirkung an Vernehmungen 5. Einstellungserzwingungsverfahren III. Vorbild Österreich?
I. Diskussion in Deutschland Im Spätsommer 2004 hat der Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer seine Denkschrift „Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren“1 vorgelegt. Hans Dahs hat die Arbeit an der Denkschrift, die sich über viele Jahre erstreckte, massgeblich beeinflusst. In welchem Geiste dies geschah, lässt die wunderbar austarierte Einführung erkennen, die er für die Denkschrift zur Verfügung gestellt hat. Aufbauend auf der breiten Berufserfahrung und herausragenden Kompetenz seiner Mitglieder hat der Ausschuss in der Denkschrift zahlreiche Anstöße zu einer Weiterentwicklung und Optimierung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegeben. Sie zielen teilweise auf bloße Veränderungen der Rechtspraxis. In erheblichem Umfang werden jedoch auch Gesetzesänderungen vorgeschlagen. Wie die in der Vergangenheit vorgelegten Denkschriften des Ausschusses2 wird auch diese Einfluss auf die Rechtsentwicklung haben. Soweit die Denkschrift Rechtsänderungen für das Ermittlungsverfahren vorschlägt, trifft sie auf eine lebhafte Reformdiskussion, die seit einigen Jahren nicht nur die Wissenschaft, sondern auch Rechtspraxis und Rechtspolitik intensiv beschäftigt. Im Jahre 2001 haben deutsche, österreichische und schweizerische Strafrechtslehrer den Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens vorgelegt3. Ungefähr gleichzeitig veröffentlichte der Deutsche Anwaltverein seine Vorstellungen zu einer Reform der Strafjustiz mit
__________ 1 2 3
Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer, Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Schriftenreihe der Bundesrechtsanwaltskammer Band 13, 2004. Vgl. den Rückblick bei Dahs, Denkschrift, Fn. 1, 1. Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV), Entwurf eines Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer (Arbeitskreis AE), 2001.
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Vorschlägen auch zur Reform des Ermittlungsverfahrens4. Ebenfalls 2001 stellte das Bundesministerium der Justiz seine „Eckpunkte einer Reform des Strafverfahrens“5 vor und schlug darin ebenfalls Rechtsänderungen für das Ermittlungsverfahren vor. Die damalige Bundesministerin der Justiz Frau Däubler-Gmelin hat die Vorschläge in einem gleichzeitig erschienenen Aufsatz6 erläutert und konkretisiert. Die Reformanstöße führten zu einer kontroversen Diskussion in Praxis und Berufsverbänden, aber auch in der Wissenschaft7. Das war für die Ständige Deputation des Deutschen Juristentags Anlass, die Reform des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens auf die Tagesordnung des 65. Deutschen Juristentags zu setzen, der im September 2004 in Bonn stattfand. Man hatte vorsichtig formuliert: „Chancen und Risiken einer Reform des Ermittlungsverfahrens“ war das Thema, das der strafrechtlichen Abteilung gestellt war. Das Gutachten von Satzger8 sorgte dann für eine lebhafte Kontroverse; es zeigte sich reformfreudig und innovativ, befürwortete tiefgreifende Änderungen des geltenden Rechts und bereicherte die Reformdiskussion um neue Varianten. Die publizistische Auseinandersetzung mit den Thesen des Gutachters, eine schöne und für die Rechtsentwicklung wichtige Tradition im Vorfeld der Juristentage, konnte dieses Mal verbunden werden mit der Besprechung eines Diskussionsentwurfs, den das Bundesministerium der Justiz gemeinsam mit den Berliner Koalitionsfraktionen in Fortentwicklung des Eckpunktepapiers erarbeitet und im Februar 2004 vorgelegt hat9. Das geschah teilweise auch10.
__________ 4 Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins zur Reform der Strafjustiz, Anw.Bl. 2001, 30 ff. 5 Veröffentlicht in StV 2001, 314. 6 Däubler-Gmelin, Überlegungen zur Reform des Strafprozesses, StV 2001, 359. 7 Vgl. Freund, Stellungnahme eines Arbeitskreises der Strafrechtslehrer zum „Eckpunktepapier“ zur Reform des Strafverfahrens, GA 2002, 82; Bittmann, Das Eckpunktepapier zur Reform des Strafverfahrens, ZRP 2001, 441; Salditt, Eckpunkte – Streitfragen des partizipatorischen Strafprozesses, StV 2001, 311; von Galen/ Wattenberg, Eckpunkte einer Reform des Strafverfahrens. Reform des reformierten Strafprozesses oder Gefahr für rechtsstaatliche Standards?, ZRP 2001, 445. 8 Satzger, Chancen und Risiken einer Reform des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, Gutachten C zum 65. Deutschen Juristentag, 2004. 9 Vgl. StV 2004, 228. 10 Vgl. Meier, Die Reform des Ermittlungsverfahrens. Zur notwendigen Stärkung der Rechtsstellung der Beteiligten, GA 2004, 441; Vogel, Chancen und Risiken einer Reform des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, JZ 2004, 827; Gössel, Parteiöffentlichkeit statt Verfahrensöffentlichkeit – oder: der Rückzug aus der Kontrolle der Öffentlichkeit, JR 2004, 313; Schlothauer/Weider, Erweiterte Handlungsspielräume – gesteigerte Verantwortung der Verteidigung im künftigen Ermittlungsverfahren. Zum Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens, StV 2004, 504; Freyschmidt/Ignor, Mehr Verteidigung im Ermittlungsverfahren? Anmerkungen zum Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens, NStZ 2004, 465; Haller, Anmerkungen zum Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens des Bundesministeriums der Justiz v. 18. 2. 2004, DRiZ 2004, 184.
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Grundgedanke des Diskussionsentwurfs ist, was das Ermittlungsverfahren angeht, den Verteidiger stärker „in die Ermittlungen einzubinden“, ihm insbesondere weitergehende Rechte zur Mitwirkung an Vernehmungen einzuräumen, und korrespondierend dafür die Möglichkeit des Transfers von Vernehmungsprotokollen in die Hauptverhandlung zu erweitern. Der Verteidiger soll an Vernehmungen des Beschuldigten stets, auch bei Vernehmungen durch die Polizei, Gelegenheit zur Mitwirkung erhalten. Bei der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen durch die Staatsanwaltschaft soll ihm grundsätzlich Gelegenheit zur Mitwirkung gegeben werden, ebenso bei der Vernehmung von Mitbeschuldigten durch Richter oder Staatsanwalt. Und schließlich soll er Gelegenheit zur Mitwirkung an Vernehmungen von Zeugen erhalten, die auf seiner, des Verteidigers, Benennung beruhen, auch wenn die Polizei die Vernehmung durchführt. Die Verteidigung soll dadurch, wie die Entwurfsbegründung sagt, „aus der Reserve gelockt“, zur frühzeitigen Benennung von Entlastungszeugen veranlasst werden. Auch soll der Verteidiger vor der Auswahl von Sachverständigen grundsätzlich Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Den erweiterten Mitwirkungsbefugnissen soll ein erweitertes Akteneinsichtsrecht des Verteidigers entsprechen. In den Fällen notwendiger Verteidigung, die durch Streichung des Drei-MonatsErfordernisses in § 117 Abs. 4 StPO erweitert werden sollen, wird auf eine Verteidigerbestellung bereits im Ermittlungsverfahren hingewirkt. Um diesen Kern gruppieren sich weitere Vorschläge. Verglichen mit den Thesen, mit denen das Juristentagsgutachten von Satzger schliesst11, sind das keine revolutionären Vorstellungen. Andererseits haben sie bei den Praktikern der Strafverfolgung in Staatsanwaltschaft und Polizei und bei ihren vorgesetzten Dienststellen, das war vielfach zu hören, doch eine gewisse Aufregung hervorgerufen, die besorgte Frage veranlasst, wie mit solchermaßen geändertem Recht zukünftig noch eine funktionstüchtige Strafverfolgung gewährleistet werden soll, und das vor dem Hintergrund der auch bei Justiz und Polizei tendenziell geringer werdenden personellen Ressourcen. Den Strafverteidigern auf der anderen Seite erschien der erleichterte Beweistransfer in die Hauptverhandlung ein Problem. Klar war jedenfalls alsbald, dass der Bonner Juristentag sich ganz wesentlich auch mit den Vorschlägen des Diskussionsentwurfs aus Berlin würde auseinandersetzen müssen, wie es sich dessen Autoren in der Entwurfsbegründung gewünscht hatten. Die Auseinandersetzung mit dem Diskussionsentwurf hat, wie man in den Verhandlungen des 65. Deutschen Juristentags wird nachlesen können, stattgefunden, auch wenn nicht alle relevanten Gesichtspunkte dabei angesprochen wurden. Anhänger und Gegner des Diskussionsentwurfs, Staatsanwälte
__________ 11 Satzger, Gutachten, Fn. 8, C 146 ff.
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Reinhard Böttcher
und Verteidiger lieferten sich heftige Debatten. Schon die drei Referenten Pflieger, Belker und Salditt hatten sehr kontroverse Akzente gesetzt. Die Beschlüsse12 haben dann viele, auch viele Teilnehmer des Juristentags, überrascht. Zwar fand das Konzept des Diskussionsentwurfs, dem Verteidiger im Ermittlungsverfahren weitergehende Mitwirkungsbefugnisse zu geben und ihn damit „einzubinden“, überwiegend Ablehnung. Ein Recht zur Mitwirkung an Zeugenvernehmungen durch die Staatsanwaltschaft wurde nur als Sollgebot befürwortet, ein Recht zur Mitwirkung an der Vernehmung von Mitbeschuldigten ganz abgelehnt, ebenso ein Recht, an der Vernehmung durch die Verteidigung benannter Zeugen in jedem Falle mitzuwirken. Umgekehrt wurde auch der vom Diskussionsentwurf vorgeschlagene erweiterte Beweistransfer in die Hauptverhandlung abgelehnt. Dass der Verteidiger an der Vernehmung des Beschuldigten stets mitwirken darf, wurde aber ebenso mit großer Mehrheit zur Regelung empfohlen, wie dass der Verteidiger vor Auswahl eines Sachverständigen grundsätzlich zu hören ist. Eine vorsichtige Erweiterung des Akteneinsichtsrechts für den Verteidiger wurde mehrheitlich gutgeheißen, ebenso die vom Diskussionsentwurf vorgeschlagene Ausweitung und Vorverlagerung der notwendigen Verteidigung. Nimmt man hinzu, dass die möglichst frühzeitige Bekanntgabe der Ermittlungen an den Beschuldigten, wie der Diskussionsentwurf sie zu regeln vorschlägt, gebilligt wurde und dass der Juristentag über den Vorschlagskatalog des Diskussionsentwurfs hinaus unter anderem eine Stärkung der Stellung und der Befugnisse des Ermittlungsrichters sowie der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft empfahl, so kann man nicht davon sprechen, dass der Juristentag Reformen im Ermittlungsverfahren grundsätzlich abgelehnt hat. Er hat sich allerdings gegen Strukturänderungen gewandt und einer behutsamen Weiterentwicklung des Bestehenden das Wort geredet. In diesem Rahmen wurden jedoch eine Verbesserung der Rechtsstellung des Beschuldigten und eine Stärkung der rechtsstaatlichen Sicherungen des Ermittlungsverfahrens eindeutig befürwortet. Was weitgehend, aber keineswegs vollständig der Ablehnung verfiel, war der „partizipatorische Ansatz“, von dem Satzger in seinem Gutachten13 freilich gemeint hatte, er gehöre zu den wichtigsten Reformüberlegungen. Welche Folgerungen die Rechtspolitik aus dem Verlauf des Juristentags zieht, ist zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser Beitrag abgeschlossen werden muss, noch nicht klar erkennbar. Einiges spricht dafür, dass die weniger strittigen Vorschläge des Diskussionsentwurfs noch in dieser Wahlperiode des Bundes verwirklicht werden sollen. Bevor tiefergreifende Änderungen angegangen werden, sollte jedenfalls Gelegenheit sein, den Aspekt des europäischen Rechtsvergleichs stärker einzube-
__________ 12 Beschlüsse des 65. Deutschen Juristentags Bonn 2004, Abteilung Strafrecht, NJW 2004, 3241, 3244/3245. 13 Satzger, Gutachten, Fn. 8, C 32.
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ziehen, als dies bisher möglich war. Satzger hat in seinem Gutachten einen kurzen Blick auf Reformentwicklungen in einigen Nachbarländern, darunter Österreich, geworfen, außerdem auf das Grünbuch der Kommission über die Verfahrensgarantien in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union14; mehr war angesichts der engen Vorgaben für den Umfang des Gutachtens nicht möglich. Weil das österreichische Reformgesetz im Frühjahr 2004 nach jahrelangen Vorarbeiten verabschiedet wurde und es sich dabei um eine umfassende Neuregelung des Ermittlungsverfahrens handelt15, hat die Ständige Deputation Pilnacek, zuständiger Referatsleiter im österreichischen Bundesministerium für Justiz, gebeten, beim Bonner Juristentag über das österreichische Reformgesetz kurz zu berichten, was auch eindrucksvoll geschah. Dabei konnte natürlich nur ein allererster Eindruck vermittelt werden. Als umfassendes Reformwerk in einer nahe verwandten Strafverfahrensordnung, die wie die unsere den europäischen Vorgaben verpflichtet ist und aus einem Reformprozess hervorging, der viele Ähnlichkeiten mit den Reformprozessen in Deutschland hat16, wobei sich die Wissenschaft in Österreich an solchen Reformprozessen traditionell vorbildlich beteiligt, verdient das österreichische Gesetz sorgfältige Betrachtung. Einen kleinen Beitrag dazu will dieser Hans Dahs gewidmete Aufsatz leisten. Praktische Erfahrungen mit dem österreichischen Reformgesetz gibt es freilich noch nicht; es tritt erst am 1. Januar 2008 in Kraft.
II. Das österreichische Strafprozessreformgesetz Zu einigen der Reformfragen, die in Deutschland diskutiert werden, wird im folgenden jeweils die Regelung des österreichischen Strafprozessreformgesetzes vorgestellt und überlegt, ob sie eine Antwort auch für uns bereithält. Bei Darstellung der deutschen Reformdiskussion wird der neuen Denkschrift des Strafrechtsausschusses der BRAK17, an der Hans Dahs mitgewirkt hat, besonderes Gewicht gegeben. 1. Information des Beschuldigten Es besteht in Deutschland weitgehend Übereinstimmung, dass im Gesetz ausdrücklich geregelt werden sollte, dass der Beschuldigte unabhängig von einer Vernehmung von dem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren unterrichtet werden muss, sobald dies ohne Gefährdung des Ermittlungs-
__________ 14 Satzger, Gutachten, Fn. 8 C 27 ff. 15 Bundesgesetz, mit dem die Strafprozessordnung 1975 neu gestaltet wird (Strafprozessreformgesetz), BGBl. I Nr. 19/2004. 16 Vgl. die der Reform des Ermittlungsverfahrens gewidmeten Beratungen des 14. Österreichischen Juristentags im Jahre 2000 in Wien, Verhandlungen des 14. Österreichischen Juristentags 2000, Band IV, 2. 17 Denkschrift, Fn. 1.
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zwecks möglich ist. Die Strafprozessordnung schreibt dies bisher nicht vor. Ob sich eine entsprechende Verpflichtung aus Art. 6 MRK ergibt, ist strittig18. Der Alternativ-Entwurf19 hat vorgeschlagen, in § 163a StPO eine entsprechende Verpflichtung aufzunehmen. Der Diskussionsentwurf des Bundesministeriums der Justiz und der Koalitionsfraktionen20 schlägt vor, in § 160 StPO zu bestimmen, dass, wenn Ermittlungen geführt werden, dies dem Beschuldigten bekanntzugeben ist, sobald eine Gefährdung des Untersuchungszwecks nicht zu befürchten ist; die Mitteilung soll unterbleiben können, wenn das Verfahren alsbald eingestellt wird. Eine solche Regelung fand Zustimmung beim Bonner Juristentag21. Die Denkschrift22 will mehr. Nicht bereits die bloße Befürchtung einer Gefährdung des Ermittlungszwecks soll ein Absehen von der Unterrichtung rechtfertigen, sondern erst die Gefährdung selbst. Im übrigen wird für ein Absehen von der Mitteilung nicht darauf abgestellt, ob das Verfahren alsbald eingestellt wird, sondern darauf, ob der Beschuldigte an der Unterrichtung mutmaßlich kein Interesse hat. Das stellt deutlicher als der Diskussionsentwurf auf die Interessenlage des Beschuldigten ab. Andererseits wird die vom Diskussionsentwurf erstrebte Entlastung für die Strafverfolgungsbehörden nicht erreicht, die Feststellung eines fehlenden Informationsinteresses des Beschuldigten ist tendenziell aufwändig. Das österreichische Strafprozessreformgesetz verpflichtet die Strafverfolgungsbehörden in § 50 öStPO nicht nur, den Beschuldigten sobald wie möglich über das gegen ihn geführte Ermittlungsverfahren und den gegen ihn bestehenden Tatverdacht zu informieren. Zugleich ist er über seine Rechte im Verfahren zu belehren. Diese sind in § 49 öStPO beispielhaft („insbesondere“) aufgelistet; sie reichen über das gesamte Verfahren, vom Recht auf Akteneinsicht und Übersetzungshilfe über das Recht zur Verteidigerwahl bis zum Rechtsmittelrecht. Dazu kommen die in § 164 Abs. 1 öStPO genannten Rechte bei der Beschuldigtenvernehmung. Die Unterrichtung des Beschuldigten darf nur so lange unterbleiben, als besondere Umstände befürchten lassen, dass andernfalls der Zweck der Ermittlungen gefährdet wäre. Diese Ausnahmeregelung ist gegenüber der Regierungvorlage im Parlament einengend konkretisiert worden23. Ursprünglich war das Vorliegen besonderer Umstände, aus denen sich die Gefährdung ergibt, nicht verlangt worden24.
__________ 18 Vgl. LR-Gollwitzer, Art. 6 MRK, Art. 14 JPBPR Rz. 165 ff.; LR-Rieß, StPO, § 163a Rn. 29a; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, Art. 6 MRK Rn. 7, je mit Nw. 19 AE-EV, Fn. 3, 124. 20 Diskussionsentwurf, Fn. 9. 21 Beschlüsse, Fn. 12, C II 1. 22 Denkschrift, Fn. 1, 33. 23 Bericht des Justizausschusses, 406 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrats XXII. GP, 9. 24 Vgl. Bundesministerium für Justiz, 578.017/10-II.3/2001, Entwurf eines Strafprozessreformgesetzes, 1. Teil: Gesetzestext, 27, 28.
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Mit dem Gebot einer umfassenden Rechtsbelehrung wird der in § 6 Abs. 2 öStPO enthaltene Grundsatz aufgenommen und konkretisiert, dass jede am Strafverfahren beteiligte oder von ihm betroffene Person ein Recht auf Information u. a. auch über ihre wesentlichen Rechte im Verfahren hat, eine Regelung, die der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs dienen will. Eine entsprechende Regelung ist in Deutschland kein aktuelles Reformthema. Rechtsstaatlichen Charme hat sie. Freilich muss man hinterfragen, ob der Aufwand auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden – das Bundesministerium für Justiz hat die Verwendung eines „zu individualisierenden“ Formblatts empfohlen25 – gerechtfertigt ist. Beim unverteidigten Beschuldigten wird man das nicht leicht verneinen können. Jedenfalls geht die österreichische Regelung in bemerkenswerter Weise weiter als das, was derzeit in Deutschland überwiegend gefordert wird, weil sie eine Rechtsbelehrung einschliesst und weil sie die Ausnahmen von der Mitteilungspflicht eng fasst. Die Reformer in Deutschland, nicht zuletzt die im Strafrechtssausschuss der BRAK, können darin eine Ermutigung sehen. 2. Akteneinsicht des Beschuldigten Eine Ausweitung der Akteneinsicht für den Beschuldigten selbst wird in Deutschland weithin nicht als vorrangiges Reformthema empfunden, so hoch eine Ausweitung des Akteneinsichtsrechts für den Verteidiger auf der Reformagenda angesetzt wird. Die rudimentäre Regelung in § 147 Abs. 7 StPO, wonach dem unverteidigten Beschuldigten Auskünfte und Abschriften aus den Akten erteilt werden können, soweit nicht der Untersuchungszweck gefährdet wird oder überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen, wird weithin nicht als Problem empfunden. Zwar hat der Alternativ-Entwurf vorgeschlagen, dem Beschuldigten grundsätzlich ebenso ein Akteneinsichtsrecht zu geben wie dem Verteidiger26; er hat die Auffassung vertreten, die Konzeption des geltenden Rechts sei überholt und rechtsstaatlich bedenklich. Der Alternativkreis hat für sein Anliegen auch Mitstreiter. Satzger etwa hat sich in seinem Gutachten für den Bonner Juristentag mit Vehemenz dafür ausgesprochen, dem Beschuldigten – verteidigt oder nicht – im selben Umfang wie dem Verteidiger ein Akteneinsichtsrecht einzuräumen27. Er hält die geltende Rechtslage und ihre Interpretation dahin, dass der Beschuldigte zwar Träger des Rechts auf Akteneinsicht sei, dem Verteidiger aber die Ausübung dieses Rechts vorbehalten sei28, für „kaum haltbar“. Der Bonner Juristentag jedoch hielt es für angezeigt, sich mit diesem An-
__________ 25 26 27 28
Bundesministerium für Justiz, Fn. 24, 2. Teil: Erläuterungen, 81. AE-EV, Fn. 3, 53. Satzger, Gutachten, Fn. 8, C 62. Vgl. Beulke, Strafprozessrecht, 6. Aufl., 2002 Rn. 160: LR-Lüderssen, StPO, § 147 Rz. 9, je mit Nw.
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liegen seines Gutachters überhaupt nicht zu befassen. Der Diskussionsentwurf29 äussert sich zu einem Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten mit keinem Wort. Dass auch die Denkschrift30 nicht darauf zu sprechen kommt, wird man mit ihrer Zielsetzung erklären können, die Verteidigung im Ermittlungsverfahren zu stärken. Ganz anders das österreichische Recht. Wie schon bisher ist dort auch nach neuem Recht (§ 51 öStPO) das Recht auf Akteneinsicht als Recht des Beschuldigten ausgebildet. Die Ausübung des Rechts durch den Verteidiger ist, wie bei anderen Verfahrensrechten auch (vgl. § 57 Abs. 2 öStPO), lediglich davon abgeleitet. Eine Privilegierung des verteidigten Beschuldigten, wie sie das deutsche Akteneinsichtsrecht kennzeichnet, besteht in Österreich nicht. Hinsichtlich des Umfang der Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren entspricht die österreichische Regelung im Ansatz der des § 147 Abs. 2 StPO. Nach § 51 Abs. 2 öStPO darf die Akteneinsicht freilich nur insoweit beschränkt werden, als besondere Umstände befürchten lassen, dass durch eine sofortige Kenntnisnahme von bestimmten Aktenstücken der Zweck der Ermittlungen gefährdet würde. Das konkretisierende Abstellen auf besondere Umstände ist während des parlamentarischen Verfahrens in den Gesetzestext gelangt31. Mit dieser Konkretisierung ist ein Reformanliegn verwirklicht, das auch in Deutschland Anhänger hat. Der Alternativ-Entwurf32 will in § 147 Abs. 2 StPO normiert haben, dass bestimmte Tatsachen die Annahme begründen müssen, dass die Akteneinsicht den Zweck der Ermittlungen gefährden würde. Noch weitergehend wird teilweise verlangt, dass sich aufgrund bestimmter Tatsachen der dringende Verdacht ergeben müsse, dass die Ermittlungen erheblich behindert werden. Satzger hat sich diese Forderung in seinem Juristentagsgutachten zu eigen gemacht33. Auch die Denkschrift34 hält eine einengende Konkretisierung des § 147 Abs. 2 StPO für erforderlich. Der Diskussionsentwurf35 schweigt dazu. Beim Bonner Juristentag fand sich für eine entsprechende Rechtsänderung keine Mehrheit36. Dass der österreichische Reformgesetzgeber mutiger war, ist umso bemerkenswerter, als er bei seiner Regelung primär den Beschuldigten selbst vor Augen haben musste, nicht den Verteidiger37. Eine § 147 Abs. 3 StPO entsprechende Regelung kennt das österreichische Recht nicht. Die im Diskussionsentwurf38 vorgeschlagene Erweiterung die-
__________ 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Vgl. Diskussionsentwurf Fn. 9. Vgl. Denkschrift, Fn. 1. Vgl. Bundesministerium für Justiz, Fn. 24, 1. Teil: Gesetzestext, 28. AE-EV, Fn. 3, 55. Satzger, Gutachten, Fn. 8, C 60 mit Nw. Denkschrift, Fn. 1, 14, 52. Diskussionsentwurf, Fn. 9. Beschlüsse, Fn. 12, II 6 c. Zu diesem Unterschied vgl. die Erwägungen in der Denkschrift, Fn. 1, 52. Diskussionsentwurf, Fn. 9.
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ser Bestimmung, Konsequenz der vorgeschlagenen erweiterten Mitwirkungsbefugnisse des Verteidigers bei Vernehmungen (dazu unten), kann deshalb zur Regelung in Österreich nicht in Bezug gesetzt werden. Anders verhält es sich beim Thema des Rechtsschutzes gegen eine durch die Staatsanwaltschaft versagte Akteneinsicht. § 147 Abs. 5 StPO gewährt Rechtsschutz bei Versagung der Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren nur, wenn sich die Versagung auf die Fälle des § 147 Abs. 3 StPO bezieht oder wenn sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß befindet. Im praktischen Regelfall ist eine gerichtliche Kontrolle nicht vorgesehen. Der Alternativ-Entwurf hat vorgeschlagen39, für alle Fälle der Versagung einen Rechtsbehelf vorzusehen. Satzger, der den geltenden Rechtszustand als „unakzeptabel“ bewertet, will – unter Berufung auf das österreichische Vorbild (dazu unten) – ein Abhilfeverfahren bei der Staatsanwaltschaft und anschließend den Antrag auf gerichtliche Entscheidung zum Ermittlungsrichter vorsehen40. Der Diskussionsentwurf41 möchte es beim geltenden Recht belassen. Der Bonner Juristentag hat eine Ausweitung des Rechtsschutzes mit knapper Mehrheit abgelehnt42. Interessant ist, dass auch die Denkschrift einer Ausweitung des Rechtsschutzes widerrät43 und stattdessen vorschlägt zu bestimmen, dass die Versagung nach Ablauf von drei Monaten der Zustimmung des Behördenleiters bedarf. Nach Einschätzung des Strafrechtsausschusses der BRAK wäre der Richter in zahlreichen Einzelfällen überfordert, der Rechtsschutz könne nicht leisten, was von ihm erwartet wird. Der österreichische Reformgesetzgeber hat in § 106 öStPO für alle Fälle der Verletzung eines subjektiven Rechts im Ermittlungsverfahren den Rechtsbehelf des Einspruchs wegen Rechtsverletzung eröffnet, über den nach vorgängigem Abhilfeverfahren bei der Staatsanwaltschaft (§ 106 Abs. 3 öStPO) der Einzelrichter des Landesgerichts entscheidet, § 31 Abs. 1 Nr. 3 öStPO; gegen seine Entscheidung ist Beschwerde zum Oberlandesgericht möglich, § 107 Abs. 3 ÖStPO. Da das Recht auf Akteneinsicht nach § 49 Nr. 3 öStPO zu den Rechten des Beschuldigten im Verfahren zählt, ist der Rechtsbehelf also eröffnet, wenn die Staatsanwaltschaft oder die Kriminalpolizei die Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren versagt44. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten kann man Österreich zur Einführung eines so umfassenden Rechtsschutzes, wie § 106 öStPO ihn vorsieht, nur beglückwünschen. Die gegen eine solche Regelung in Deutschland vorgetragenen Bedenken sind vor allem praktischer Art (Ressourcenproblem,
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AE-EV, Fn. 3, 53, 54. Satzger, Gutachten, Fn. 8, C 61. Diskussionsentwurf, Fn. 9. Beschlüsse, Fn. 12, II 6 e. Denkschrift, Fn. 1, 52. Vgl. Bundesministerium für Justiz, Fn. 24, 2. Teil.: Erläuterungen, 88, 175.
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Gefahr einer Verzögerung und Erschwerung der Ermittlungen). Es wird deshalb wichtig sein, in einigen Jahren zu erfahren, wie sich die österreichische Regelung praktisch bewährt hat. Tendenziell ermutigt sie, eine Ausweitung des Rechtsschutzes in diesem Punkt nicht für undenkbar zu halten. 3. Beweisanträge des Beschuldigten In § 163a Abs. 2 StPO erkennt das Gesetz an, dass der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren gegenüber Staatsanwaltschaft und Polizei ein Beweisantragsrecht hat45. Freilich ist das nicht unstrittig46. Deshalb und weil das Gesetz die Ablehnung von Beweisanträgen und deren Folgen nicht ausdrücklich regelt47, die Regelung im Kontext des § 163a StPO („Vernehmungen“) und des § 166 StPO auch nicht angemessen untergebracht ist, wird in der Reformdiskussion eine eigenständige Regelung des Beweisantragsrechts des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren gefordert. Ein Streitpunkt ist dabei, ob gegen ablehnende Entscheidungen der Staatsanwaltschaft eine Anrufung des Richters ermöglicht werden soll, was das geltende Recht nicht vorsieht48. Der Alternativ-Entwurf hat eine Regelung vorgeschlagen, wonach die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten bei Ablehnung eines Beweisantrags zwar schriftlich und mit Begründung bescheiden muss, ein Rechtsbehelf dagegen aber nicht gegeben ist49. In eingehender Auseinandersetzung mit dieser Position und der gegenteiligen Auffassung, dass ein Rechtsbehelf notwendig ist, hat Satzger in seinem Juristentagsgutachten50 eine vermittelnde Position entwickelt: Im Regelfall soll es dabei bewenden, dass die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten begründet bescheiden muss, wenn sie seinen Beweisantrag ablehnt; hiergegen hat der Beschuldigte nur die Möglichkeit der Dienstaufsichtsbeschwerde. Droht dagegen ein Beweismittelverlust, ist nach vorgängigem ergebnislosen Abhilfeverfahren bei der Staatsanwaltschaft der Antrag auf Entscheidung des Richters eröffnet. Leider hat der Bonner Juristentag auch diesen Vorschlag seines Gutachters keiner Abstimmung gewürdigt. Der Diskussionsentwurf51 geht auf die Thematik nicht ein. Die Denkschrift52 erstrebt zwar eine Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zu begründeter Bescheidung, lehnt aber eine richterliche Kontrolle ab; der Richter werde mit der Entscheidung übermäßig belastet, er könne der Staatsanwaltschaft auch keine Vorgaben für die Würdigung erhobener Beweise machen.
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Vgl. LR-Rieß, StPO, § 163a StPO Rz. 107 mit Nw. Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, § 163a Rn. 15 mit Nw. Dazu LR-Rieß, StPO, § 163a Rn. 112 ff. LR-Rieß, StPO, § 163a Rn. 117. AE-EV, Fn. 3, 124. Satzger, Gutachten, Fn. 8, C 67 ff. Diskussionsentwurf, Fn. 9. Denkschrift, Fn. 1, 86 ff.
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Das österreichische Reformgesetz zählt in § 49 Nr. 6 öStPO das Beweisantragsrecht als eines der grundlegenden Verfahrensrechte des Beschuldigten auf, über das der Beschuldigte gemäß § 50 öStPO frühzeitig zu informieren ist. § 55 Abs. 2 öStPO regelt minutiös und eng gefasst die Ablehnungsgründe. Die Regelung erklärt sich daraus, dass sie auch für die Hauptverhandlung gilt53. Für das Ermittlungsverfahren sieht § 55 Abs. 3 öStPO ergänzend vor, dass die Aufnahme eines beantragten Beweises der Hauptverhandlung vorbehalten werden kann. Das ist allerdings unzulässig, wenn die Beweisaufnahme geeignet sein könnte, den Tatverdacht unmittelbar zu beseitigen oder wenn die Gefahr eines erheblichen Beweismittelverlusts droht. Unterbleibt eine beantragte Beweiserhebung, muss die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten begründet verbescheiden, § 55 Abs. 4 Satz 2 öStPO. Gegen die Ablehnung einer beantragten Beweisaufnahme ist grundsätzlich der Einspruch wegen Rechtsverletzung nach § 106 öStPO eröffnet. Dabei ist das Gericht, das kann etwa bei Zurückstellung einer Beweisaufnahme in die Hauptverhandlung Bedeutung erlangen, freilich auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt, § 106 Abs. 1 Satz 2 öStPO54. Auch hier gilt aus deutscher Sicht, dass wir eine rechtsstaatlich vorbildliche Regelung vor uns sehen. Ob die Regelung praktisch funktioniert, ob der Aufwand, den sie erfordert, mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen geleistet werden kann, wäre unsere Frage. Insbesondere wäre interessant, welche praktische Bedeutung das Zurückstellen einer beantragten Beweiserhebung in die Hauptverhandlung hat. Das sollte nach Inkrafttreten des österreichischen Reformgesetzes von uns beobachtet werden. 4. Mitwirkung an Vernehmungen Ausgehend davon, dass die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens vielfach den Ausgang des Strafverfahrens prägen55 – Hans Dahs spricht von einer Erkenntnis, die aus dem Erfahrungsgut von Strafverteidigern gewonnen wurde56 – wird in Deutschland seit geraumer Zeit der Ausbau der Mitwirkungsbefugnisse der Verteidigung (und des Beschuldigten) zum Kern des Reformprogramms für das Ermittlungsverfahren gezählt. Weil das Ermittlungsverfahren heute weit mehr sei als ein Vorverfahren – in Umkehrung einer früher für die Hauptverhandlung verwendeten Charakteristik wird inzwischen davon gesprochen, das Ermittlungsverfahren sei „Kern und Höhepunkt des Strafprozesses“57 – gehe ein Verweis auf die umfassenden Mitwir-
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Bundesministerium für Justiz, Fn. 24, 2. Teil: Erläuterungen, 91. Dazu Bundesministerium für Justiz, Fn. 24, 2. Teil: Erläuterungen, 176. Vgl. Satzger, Gutachten, Fn. 8, C 32 ff. Dahs in Denkschrift, Fn. 1, 2. Schlothauer/Weider, Fn. 10, StV 2004, 504; kritisch dazu Gössel, Fn. 10, JR 2004, 313, Fn. 10.
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kungsmöglichkeiten der Verteidigung in der Hauptverhandlung an der Realität vorbei58. Es bestehe ein Teilhaberechtsdefizit59, das durch erweiterte Mitwirkungsbefugnisse im Ermittlungsverfahren auszugleichen sei. Die Vorschläge gehen unterschiedlich weit, je nach dem, welches Gewicht man den konkurrierenden Interessen, insbesondere der Effektivität der Strafverfolgung60 gibt. Teilweise wird die Forderung nach einer Erweiterung der Teilhaberechte mit dem Vorschlag verbunden, die in einem „partizipatorischen Verfahren“ gewonnenen Ermittlungsergebnisse unabhängig von der Zustimmung des Beschuldigten in der Hauptverhandlung zu verwerten61. Auch dies beeinflusst, in welchem Umfang zusätzliche Mitwirkungsrechte erstrebt werden. Natürlich stellt sich, wenn erweiterte Mitwirkungsbefugnisse gefordert werden, auch die Frage nach den Folgen einer Nichtbeachtung, also die Frage nach einem Rechtsbehelf oder nach einem Verwertungsverbot62. Einen besonders großen Schritt tat der Alternativ-Entwurf63, der dem Beschuldigten wie dem Verteidiger grundsätzlich bei allen Vernehmungen des Beschuldigten sowie von Zeugen und Sachverständigen ein Anwesenheitsund Fragerecht geben will, auch bei Vernehmungen durch die Polizei; bei Gefährdung des Untersuchungszwecks soll freilich ein Ausschluss möglich sein. Die Denkschrift64 erstrebt ein Mitwirkungsrecht bei der polizeilichen Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen grundsätzlich nicht. Sie fordert aber ein Mitwirkungsrecht bei allen Vernehmungen des Beschuldigten, ferner bei staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen von Zeugen und Sachverständigen, bei der Vernehmung von Mitbeschuldigten durch Staatsanwalt oder Richter und schließlich bei Vernehmungen von Zeugen, die der Verteidiger benannt hat. Die Beachtung der Mitwirkungsrechte soll durch ein Verwertungsverbot nach Massgabe der Widerspruchslösung gesichert werden. Satzger65 hat für den Bonner Juristentag ein neues Modell entwickelt, das bei der Verwertbarkeit der Ermittlungsergebnisse ansetzt: Nur partizipatorisch durchgeführte Vernehmungen sollen in einer Hauptverhandlung verwertbar sein. Mit diesem Modell hat er den Juristentag überfordert; zu einer ernsthaften Diskussion und zu einer Abstimmung kam es nicht. Der Diskussionsentwurf66 sieht, wie oben ausgeführt, einen Schwerpunkt der Reform in der stärkeren Einbindung des Verteidigers in das Ermittlungs-
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Satzger, Gutachten, Fn. 8, C. 36. Satzger, Gutachten, Fn. 8, C 38. Dazu Satzger, Gutachten, Fn. 8, C 40. Dazu eingehend Satzger, Gutachten, Fn. 8, C 43 ff. Satzger, Gutachten, Fn. 8, C 51. AE-EV, Fn. 3, 132 ff. Denkschrift, Fn. 1, 47 ff., 88. Satzger, Gutachten, Fn. 8, C 52 ff. Diskussionsentwurf, Fn. 9.
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Reform des Ermittlungsverfahrens – Vorbild Österreich?
verfahren. Der Verteidiger „soll durch erweiterte Mitwirkungsbefugnisse angeregt werden, sich stärker im Ermittlungsverfahren zu engagieren mit der Folge eines Entlastungseffekts für das weitere Ermittlungsverfahren oder für eine mögliche spätere Hauptverhandlung“. Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung ist vorgesehen, dass der Verteidiger an der Vernehmung des Beschuldigten stets mitwirken darf, ferner grundsätzlich auch an der Vernehmung von Zeugen, Sachverständigen und Mitbeschuldigten durch den Staatsanwalt und den Richter, schließlich an der Vernehmung von ihm selbst gestellter Zeugen, gleich durch welches Organ die Vernehmung erfolgt. Mit den erweiterten Mitwirkungsrechten wird eine erweiterte Möglichkeit verknüpft, Vernehmungsprotokolle in der Hauptverhandlung zu verlesen, die zugleich als Sanktion bei Nichtbeachtung der Mitwirkungsrechte wirken soll: Nur bei stattgefundener Mitwirkung des Verteidigers soll eine Verlesung des Protokolls vernehmungsersetzend ohne Zustimmung des Angeklagten zulässig sein. Beim Bonner Juristentag hat dieses Konzept überwiegend Ablehnung erfahren. Breite Ablehnung fand insbesondere ein „Beweistransfer“ in die Hauptverhandlung67. Zugestimmt wurde, wie oben erwähnt, nur einem Mitwirkungsrecht der Verteidigung an der Beschuldigtenvernehmung auch durch die Polizei und einem Sollgebot, dem Verteidiger die Mitwirkung an der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen durch die Staatsanwaltschaft zu ermöglichen68. Bedenkt man, dass ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung heute schon von einer im Vordringen befindlichen Meinung in der Literatur angenommen wird69 und dass bei der staatsanwaltschaftlichen Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen dem Verteidiger schon heute die Anwesenheit nach pflichtgemäßem Ermessen gestattet werden kann70, so ist es nur ein verhältnismäßig kleiner Schritt, den der Juristentag zu tun empfiehlt. Der Blick auf das österreichische Strafprozessreformgesetz ermuntert nicht weiter zu gehen. Es zeigt sich gegenüber Mitwirkungsrechten des Verteidigers bei Vernehmungen im Ermittlungsverfahren außerordentlich zurückhaltend. Wie jedermann ist auch der Beschuldigte in Österreich verpflichtet, eine Ladung durch die Polizei zu befolgen, § 153 Abs. 2 Satz 3 öStPO71. Er hat zwar das Recht, zu seiner Vernehmung einen Verteidiger beizuziehen. Dieser darf, wie § 164 Abs. 2 öStPO ausdrücklich sagt, sich an der Vernehmung selbst aber auf keine Weise beteiligen. Insbesondere darf sich der Beschuldigte während der Vernehmung nicht mit dem Verteidiger über die Beantwortung einzelner Fragen beraten. Der Verteidiger ist vielmehr darauf be-
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Beschlüsse, Fn. 12, III. Beschlüsse, Fn. 12, II 2 und 3 c. Vgl. LR-Rieß, StPO, § 163a Rz. 95 a mit Nw. LR-Rieß, StPO, § 161a Rz. 31 ff. Vgl. Bundesministerium für Justiz, Fn. 24, 2. Teil: Erläuterungen, 244.
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schränkt, nach Abschluss der Vernehmung ergänzende Fragen an den Beschuldigten zu richten. Die Beiziehung des Verteidiges kann im übrigen unterbunden werden, wenn dies erforderlich erscheint, um eine Gefahr für die Ermittlungen oder die Beeinträchtigung von Beweismitteln abzuwenden. Bei der Vernehmung von Zeugen ist die Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten, also auch des Verteidigers, ausgeschlossen, § 160 Abs. 1 öStPO; nur einer Vertrauensperson des Zeugen ist auf Antrag die Anwesenheit zu gestatten. Eine Ausnahme von dieser Abschirmung der Ermittlungen gegenüber Verteidiger und Beschuldigtem gilt nur für zwei Formen einer förmlichen richterlichen Vernehmung: Die eine ist die sogenannte kontradiktorische Vernehmung von Beschuldigten und Zeugen durch das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft, die zulässig ist, wenn zu besorgen ist, dass die Vernehmung in der Hauptverhandlung aus tatsächlichen Gründen (etwa Krankheit) oder rechtlichen Gründen (etwa Zeugnisverweigerung) nicht möglich sein wird, § 165 öStPO. An der kontradiktorischen Vernehmung können die Verfahrensbeteiligten mitwirken. Ziel ist es, ein Protokoll (bzw. eine Ton- oder Bildaufzeichnung) zu schaffen, das in der Hauptverhandlung unter Beachtung von Art. 6 Abs. 3 lit. d MRK verlesen werden kann72. Der andere Fall, bei dem eine Mitwirkung des Beschuldigten und seines Verteidigers vorgesehen ist, ist die sogenannte Tatrekonstruktion nach §§ 149, 150 öStPO. Es handelt sich dabei um eine auf Antrag der Staatsanwaltschaft durchgeführte richterliche Vernehmung einer Person im Zuge eines Nachstellens des wahrscheinlichen Tatverlaufs am Tatort oder an einem anderen mit der Straftat in Zusammenhang stehenden Ort sowie um die Ton- oder Bildaufzeichnung dieses Vorgangs, § 149 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 öStPO. Die Beteiligten haben das Recht, Fragen zu stellen und ergänzende Ermittlungen und Feststellungen zu verlangen, § 150 Abs. 1 Satz 2 öStPO. Der Beschuldigte, nicht aber der Verteidiger, kann wegen Gefährdung des Verfahrenszwecks vorübergehend ausgeschlossen werden, § 150 Abs. 2 Sätze 1, 4 öStPO. Die Mitwirkung des Verteidigers an Vernehmungen im Ermittlungsverfahren wird in Österreich also auf das rechtsstaatlich gebotene Minimum beschränkt, insbesondere auf das durch die MRK gebotene Mindestmaß. Ganz im Gegensatz zu den Reformstimmen in Deutschland, die sich von einer verstärkten Mitwirkung des Verteidigers an den Ermittlungen qualitativ bessere Ergebnisse, eine Beschleunigung des Verfahrens und eine Förderung konsensualer Erledigungen versprechen73, geht der österreichische Reform-
__________ 72 Vgl. Bundesministerium für Justiz, Fn. 24, 2. Teil: Erläuterungen, 263. 73 Kritisch dazu etwa Haller, Fn. 10, DRiZ 2004, 184, 185; kritisch ebenfalls Gössel, Fn. 10, JR 2004, 313, unter Hinweis auf die andersartige, dem Ziel der Strafverfolgung nicht verpflichtete Aufgabe des Verteidigers; zu diesem Gesichtspunkt
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gesetzgeber ersichtlich davon aus, dass die Ermittlungen bei den Strafverfolgungsbehörden am besten aufgehoben sind und von diesen möglichst ohne Einflussnahme der Verteidigung geführt werden sollten. Da der österreichische Gesetzgeber sich bei andern Reformthemen des Ermittlungsverfahrens rechtsstaatlich besonders sensibel zeigt, gibt dies Anlass zu fragen, ob die deutsche Reformdiskussion in diesem Punkt den Kontakt zur Realität vielleicht ein wenig verloren hat, ein Prozessmodell verfolgt, das zu schön ist um wahr zu sein. Darauf ist zurückzukommen. 5. Einstellungserzwingungsverfahren Ist ein Ermittlungsverfahren „einstellungsreif“, d. h. ist nicht zu erwarten, dass ein hinreichender Tatverdacht im Sinn des § 203 StPO erlangt werden kann, weil sich die Unschuld des Beschuldigten ergeben hat oder jedenfalls keine realistische Möglichkeit besteht, mit zumutbarem Aufwand zur Anklagereife zu kommen, so trifft die Staatsanwaltschaft, das ist im Anschluss an Hilger74 herrschende Meinung75, die Pflicht zur unverzögerten Einstellung des Verfahrens. Wird dagegen verstoßen, kann dies nach der Rechtsprechung des BGH in Zivilsachen76 einen Schadensersatzanspruch wegen Amtspflichtverletzung begründen. Das Strafverfahrensrecht sieht einen Rechtsbehelf nicht vor. Nach der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte greift auch der Rechtsbehelf nach §§ 23 ff. EGGVG nicht77. Die herrschende Meinung stimmt dem zu78. Die Auffassung, dass jedenfalls bei willkürlicher Verzögerung der Einstellung Rechtsschutz nach §§ 23 ff. EGGVG gegeben ist79, hat sich bisher nicht durchgesetzt.
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vgl. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 6. Aufl., 1999, Rz. 5, 222; anders Freyschmidt/Ignor, Fn. 10, NStZ 2004, 465, 467: „Für die Strafvcrfolgung besteht mitnichten ein Anlass zur Besorgnis“. Hilger, Über die Pflicht der Staatsanwaltschaft zur unverzögerten Einstellung gemäss § 170 Abs. 2 StPO, JR 1985, 93. Füßer/Viertel, Der Anspruch auf Abschlussverfügung im Ermittlungsverfahren und seine Durchsetzung, NStZ 1999, 116; Rieß, Plädoyer für ein Einstellungserzwingungsverfahren, FS Roxin, 2001, 1319, 1321; Böttcher, Zur Instrumentalisierung des Ermittlungsverfahrens im politischen Meinungskampf, GS Schlüchter, 2002, 435, 439, je mit Nw.; LR-Graalmann-Scheerer, § 170 StPO Rz. 11; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 170 StPO Rz. 6. BGHZ 20, 178; dazu Steffen, Haftung für Amtsplichtverletzungen des Staatsanwalts, DRiZ 1972, 153 und, mit zahlreichen Nachweisen, Füßer/Viertel, Fn. 75, 116, 119. Nachweise bei LR- Böttcher, § 23 EGGVG Rz. 53 ff. KK- Kissel, § 23 EGGVG Rz. 32; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 23 EGGVG Rz. 9; LR-Graalmann-Scheerer, § 170 StPO Rz. 12; Rieß, Fn. 75, 1322 mit weiteren Nw. LR-Böttcher, § 23 EGGVG Rz. 112; Böttcher, Fn. 75, 446 ff.; weitergehend Füßer/ Viertel, Fn. 75, 117.
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Jedoch ist die Einführung eines gerichtlichen Einstellungserzwingungsverfahrens Thema der Reformdiskussion geworden. Rieß80 hat ein Konzept erarbeitet, das, nach vorgängiger Selbstkontrolle der Staatsanwaltschaft, eine Anrufung des OLG vorsieht, das über eine Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Verfahrenseinstellung entscheiden soll. Der Rechtsbehelf soll voraussetzen, dass das Ermittlungsverfahren länger als ein Jahr gedauert hat. Satzger hat dieses Reformanliegen in seinem Gutachten für den 65. Deutschen Juristentag81 aufgegriffen. Als zuständigen Richter hat er den Ermittlungsrichter vorgeschlagen, macht sich den Vorschlag, eine Mindestdauer des Ermittlungsverfahrens von einem Jahr zu verlangen, aber zu eigen82. Die Denkschrift83 setzt sich mit eingehender Begründung ebenfalls für eine gesetzliche Regelung ein, die nach erfolgter Selbstkontrolle der Staatsanwaltschaft und Überprüfung durch den Generalstaatsanwalt eine Entscheidung durch das OLG vorsieht. Zur Mindestdauer des Ermittlungsverfahrens, die abzuwarten ist, sagt die Denkschrift nur, dass sie angemessen sein muss84. Der Diskussionsentwurf85 hat das Anliegen nicht aufgegriffen. Der Bonner Juristentag hat sich gegen ein Einstellungserzwingungsverfahren ausgesprochen86. Während die Reformbewegung in Deutschland also noch weit davon entfernt scheint, den Gesetzgeber zu überzeugen, auch wenn sie mit dem Strafrechtsausschuss der BRAK einen allseits hochangesehenen Fürsprecher gefunden hat, wurde in Österreich nach intensiver Diskussion eine entsprechende Regelung verabschiedet. Nach § 108 Abs. 1 öStPO in der ab 1. 1. 2008 geltenden Fassung hat das Gericht auf Antrag des Beschuldigten das Ermittlungsverfahren einzustellen, wenn entweder feststeht, dass eine Straftat des Beschuldigten nicht vorliegt oder die weitere Verfolgung des Beschuldigten sonst aus Rechtsgründen nicht in Betracht kommt, oder wenn der bestehende Tatverdacht nach Dringlichkeit und Gewicht sowie im Hinblick auf die bisherige Dauer und den Umfang des Ermittlungsverfahrens dessen Fortsetzung nicht rechtfertigt und von einer weiteren Klärung des Sachverhalts eine Intensivierung des Verdachts nicht zu erwarten ist. Der Antrag auf Einstellung ist frühestens nach drei Monaten, bei Verbrechen nach sechs Monaten ab Beginn des Ermittlungsverfahrens zulässig. Er ist bei der Staatsanwaltschaft zu stellen, die ihn, wenn sie das Verfahren nicht einstellt, und sei es wegen Geringfügigkeit nach § 191 öStPO, dem Gericht mit einer Stellungnahme vorlegt. Es entscheidet der Einzelrichter des Landesgerichts, § 31
__________ 80 Rieß, Fn. 75; für ein gerichtliches Einstellungserzwingungsverfahren auch Gössel, Fn. 10, JR 2004, 313, 319. 81 Satzger, Gutachten, Fn. 8, C 81 ff. 82 Satzger, Gutachten, Fn. 8, C 83. 83 Denkschrift, Fn. 1, 38 ff.; ebenfalls befürwortend Gössel, JR 2004, 313, 319, Fn. 10. 84 Denkschrift, Fn. 1, 41. 85 Diskussionsentwurf, Fn. 9. 86 Beschlüsse, Fn. 12, II 7.
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Reform des Ermittlungsverfahrens – Vorbild Österreich?
Abs. 1 Nr. 4 öStPO. Gegen seine Entscheidung ist die Beschwerde zum Oberlandesgericht (§ 33 Abs. 1 Nr. 1 öStPO) statthaft, § 87 öStPO. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen eine auf Einstellung lautende Entscheidung hat aufschiebende Wirkung, § 108 Abs. 4 öStPO. Dass Wartefristen bestehen, ist bei den Beratungen im Nationalrat in das Gesetz gekommen87. Die übrigen Änderungen gegenüber der Regierungsvorlage hat der Justizausschuss des Nationalrats als bloß sprachlicher Natur gewertet88. Ob das zutrifft, ist zweifelhaft. Anders als ursprünglich vorgesehen reicht es für einen Erfolg des Antrags nicht mehr, dass der bestehende Tatverdacht nach Dringlichkeit und Gewicht sowie im Hinblick auf die bisherige Dauer und den Umfang des Ermittlungsverfahrens dessen Fortsetzung nicht rechtfertigt89. Es muss dazu kommen, dass eine weitere Intensivierung des Verdachts nicht zu erwarten ist. Konnte man die ursprünglich beabsichtigte Regelung so verstehen, dass über die Fälle der „Einstellungsreife“ hinaus auch solche Fälle erfasst werden sollen, in denen das Erreichen der Anklagereife zwar möglich erscheint, eine Fortsetzung des Ermittlungsverfahrens bei Würdigung aller Umstände aber unverhältnismäßig erscheint, so stellt das verabschiedete Gesetz außer Zweifel, dass die Prognose in Bezug auf das Erreichen der Anklagereife negativ sein muss. Das entspricht dem Begriff der Einstellungsreife in der deutschen Reformdiskussion. An der Bedeutung der österreichischen Regelung für die deutsche Reformdiskussion ändert sich durch diese Akzentverschiebung nichts. In der Begründung zur Regierungsvorlage ist ausgeführt, es wäre widersprüchlich, wollte man Rechtsbehelfe gegen punktuelle Rechtsverletzungen im Ermittlungsverfahren zulassen, einen Rechtsbehelf gegen die unberechtigte Fortführung eines Ermittlungsverfahrens aber versagen. Der Beschuldigte könne durch ein ohne hinreichenden rechtlichen Grund gegen ihn geführtes Ermittlungsverfahren stärker betroffen sein als durch einzelne Rechtsverletzungen im Ermittlungsverfahren, gegen die unproblematisch ein Rechtsbehelf gegeben ist. In diesem Zusammenhang müsse man etwa an eine Suspendierung, an schlechte Aussichten in einer Bewerbungssituation, an ein beeinträchtigtes Ansehen in der sozialen Umgebung und in der Öffentlichkeit denken90. Das sind Gründe, die auch die Reformdiskussion in Deutschland bestimmen. Der Beschuldigte hat, vor allem wenn das Ermittlungsverfahren medienöffentlich wird, ein vitales, berechtigtes Interesse, dass ein einstellungsreifes Verfahren alsbald eingestellt wird91. Es geht nicht an, den Schutz dieses Interesses auf die Zivilgerichte abzuschieben, die die-
__________ 87 Bericht des Justizausschusses, Fn. 23, 16. 88 Bericht des Justizausschusses, Fn. 23, 16. 89 So der Entwurf des Bundesministeriums für Justiz – vgl. Bundesministerium für Justiz, Fn. 24, 1. Teil: Gesetzestext, 66. 90 Bundesministerium für Justiz, Fn. 24, 2. Teil: Erläuterungen, 180. 91 Vgl. Böttcher, Fn. 75, 435.
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sen Schutz nur unvollkommen leisten können. Art. 19 Abs. 4 GG drängt dazu, eine Rechtsschutzmöglichkeit zu schaffen92, und zwar über die Fälle der Willkür hinaus, die nach Meinung des Verfassers schon heute über §§ 23 ff. EGGVG gelöst werden können93. Viel spricht dafür, es nicht bei dem Rechtsbehelf nach §§ 23 ff. EGGVG zu belassen, sondern in Entsprechung zum Klageerzwingungsverfahren einen eigenen Rechtsbehelf zu schaffen94. Die österreichische Regelung sieht relativ kurze Fristen vor. Auch eine Regelung mit deutlich längeren Fristen, wie sie Rieß95 und Satzger96 vorschlagen, wäre ein deutlicher Fortschritt. Der Strafrechtsausschuss der BRAK hat sich in diesem Punkt weise zurückgehalten („angemessene Frist“)97.
III. Vorbild Österreich? Rieß98 hat vor kurzem mit Recht zu Zurückhaltung gemahnt, wenn in der Reformdiskussion um das Ermittlungsverfahren auf ausländische Regelungen zurückgegriffen wird. Der Kontext, in dem sie funktionieren, ist vielfach ein anderer. Dementsprechend muss der Versuch, das Reformwerk des österreichischen Strafprozessreformgesetzes aus dem Jahr 2004 für die Reformdiskussion in Deutschland nutzbar zu machen, vorsichtig zu Werke gehen. Freilich: Der Strafprozess in Österreich ist dem deutschen verwandt, eher als bei entfernter liegenden Rechtsordnungen ist es deshalb gerechtfertigt, das österreichische Modell als Anregung, als Ermutigung, aber auch als Mahnung zur Nüchternheit auf sich wirken zu lassen. Unser Blick auf einige Einzelfragen hat gezeigt, dass der österreichische Reformgesetzgeber mutig vorangeschritten ist mit dem Ziel, das Ermittlungsverfahren in einer Weise zu regeln, die keinen rechtsstaatlichen Wunsch offen lässt. Das wird in plakativer Weise schon deutlich in den allgemeinen Verfahrensgrundsätzen, die in §§ 1 bis 17 öStPO den Einzelregelungen des Gesetzes vorangestellt sind99 – auf sie ist vorstehend nicht eingegangen. Es zeigt sich auch in den untersuchten Einzelregelungen. Der Beschuldigte, und zwar er selbst, ohne dass die Ausübung dem Verteidiger vorbehalten wäre, erhält eine Reihe ausdrücklich genannter und übersichtlich dargestellter
__________ 92 Denkschrift, Fn. 1, 39; Rieß, Fn. 75, 1325; vgl. auch Böttcher, Fn. 75, 435, 436; zweifelnd Ambos, Zur Reform des strafprozessualen Vorverfahrens in Österreich, ÖJZ 2003, 661, 668. 93 Dazu Böttcher, Fn. 75, 446 ff. 94 So zutreffend Rieß, Fn. 75, 1323. 95 Rieß, Fn. 75, 1331. 96 Satzger, Gutachten, Fn. 8, C 84. 97 Denkschrift, Fn. 1, 41. 98 Rieß, Grundfragen zur Reform des Ermittlungsverfahrens, GS Schlüchter 2002, 15, 19. 99 Ähnlich §§ 150 bis 150 g StPO des AE-EV, Fn. 3.
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Reform des Ermittlungsverfahrens – Vorbild Österreich?
Rechte im Verfahren (§ 49 öStPO), über die er belehrt wird, darunter das Recht auf möglichst frühzeitige Information über das Verfahren (§ 50 öStPO), das Recht auf Akteneinsicht, soweit nicht besondere Umstände eine Gefährdung des Ermittlungszwecks befürchten lassen (§§ 51 bis 53 öStPO), das Recht, zu seiner Vernehmung den Verteidiger beizuziehen (§ 164 Abs. 2 öStPO), und das Beweisantragsrecht (§ 55 öStPO). Wird der Beschuldigte durch Staatsanwaltschaft oder Polizei in diesen Rechten verletzt, steht ihm nach § 106 öStPO der Einspruch wegen Rechtsverletzung zum Richter offen. Der Beschuldigte hat auch einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf Einstellung eines einstellungsreifen Ermittlungsverfahrens. Für die Diskussion in Deutschland hat sich schon aus der in Österreich geführten Reformdiskussion, die seit 1998 sehr intensiv war, manche Anregung ergeben100. Das verabschiedete Gesetz sollte ermutigen, nicht zu ängstlich zu sein, wenn es darum geht, die unerlässliche Effektivität der Strafverfolgung auch bei einer rechtsstaatlich weiter ausgebauten und gesicherten Position des Beschuldigten zu gewährleisten. Umgekehrt sollte die Zurückhaltung des österreichischen Reformgesetzgebers, was die Einräumung von Teilnahme- und Mitwirkungsrechten an die Verteidigung und den Beschuldigten bei den Ermittlungen betrifft, ebenfalls sorgfältig bedacht werden, nicht unbedingt in dem Sinne, dass das Ziel eines partizipatorischer gestalteten Ermittlungsverfahrens aufgegeben wird, aber doch in dem Sinne, dass Chancen und Risiken noch einmal abgewogen und die ja auch in der deutschen Reformdiskussion geäußerten Bedenken und Fragen101 ernst genommen werden. Es geht um die Effizienz der Strafverfolgung. Es ist illusorisch zu glauben, man könne ein Mitwirkungsrecht der Verteidigung bei allen polizeilichen Zeugenvernehmungen statuieren, ohne dass dies negative Rückwirkungen auf die Aufklärung von Straftaten hat. Ein Mitwirkungsrecht bei Zeugenvernehmungen durch die Staatsanwaltschaft hat, weil diese selten sind und weil im Verhältnis von Verteidiger und vernehmendem Staatsanwalt in aller Regel kein Kompetenzgefälle auftritt, weitaus geringere Auswirkungen. Aber muss man nicht befürchten, dass staatsanwaltschaftliche Zeugenvernehmungen noch etwas seltener sein werden als bisher? Ist das erwünscht? Das Effizienzproblem hängt mit dem Ressourcenproblem zusammen, ohne sich freilich darin zu erschöpfen. Auch wenn nennenswerte Personalverstärkungen bei Polizei und Staatsanwaltschaft erreichbar schienen, wäre ein Mitwirkungsrecht der Verteidigung an allen polizeilichen Zeugenvernehmungen nicht ohne Schaden für die Ermittlungen zu verkraften. So aber, wo
__________ 100 So auch Dahs, Denkschrift, Fn. 1, 2. 101 Vgl. etwa Rieß, Fn. 98, GS Schlüchter, 23; sehr kritisch Gössel, Fn. 10, JR 2004, 313.
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Reinhard Böttcher
alles auf weitere Personaleinsparungen hindeutet, wäre es schlechterdings nicht zu verantworten. Die Ressourcenknappheit führt zu der Frage der Prioritäten, zu der Frage, welche der personalaufwändigen Reformideen besonders wichtig sind, in welchem Bereich der Leidensdruck am grössten ist. Dazu bedarf es eines Maßstabs. Dieser kann wohl nur die rechtsstaatliche Qualität des Verfahrens sein sowie die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege. Auch von daher erscheint fraglich, ob die partizipatorische Ausgestaltung des Ermittlungsverfahrens, wie Satzger102 meint, unter den Reformüberlegungen eine besonders wichtige ist. Schließlich sind die Rückwirkungen auf Zwischen- und Hauptverfahren, insbesondere auf die Hauptverhandlung zu bedenken. Rieß meint, und das Eckpunktepapier wie der Diskussionsentwurf bestätigen das, es wäre eine Illusion anzunehmen, dass die Einräumung größeren Einflusses auf die Gewinnung der Beweise und die Gestaltung der Sachverhaltsaufklärung im Ermittlungsverfahren an den Verteidiger mittel- und langfristig ohne Auswirkungen auf die Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Hauptverhandlung bleiben könnte103. Wenn man das nicht will, und ein „Zwangstransfer“ von Beweisergebnissen aus dem Ermittlungsverfahren ist beim Bonner Juristentag mit einer breiten Mehrheit von Anwälten und Richtern abgelehnt worden104, kann man die Mitwirkungsrechte im Ermittlungsverfahren allenfalls sehr behutsam ausweiten. Den Beratungen und Beschlüssen des Bonner Juristentags, die Widmaier moderiert hat, wohnt zu diesem Punkt deshalb eine gewisse Folgerichtigkeit inne.
__________ 102 Satzger, Gutachten, Fn. 8, C 32 mit Nw. 103 Rieß, Fn. 98, GS Schlüchter, 23, 24. 104 Beschlüsse, Fn. 12, III.
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Karl-Heinz Groß
Zur Notwendigkeit des strafrechtlichen Anfangsverdachts – Keine falschen Umkehrschlüsse aus § 152 Abs. 2 StPO* Inhaltsübersicht I. Umkehrschluss aus § 152 Abs. 2 StPO? 1. Analyse des Wortlauts 2. Systematischer Kontext 3. Entstehungsgeschichte II. Begründung aus anderen Vorschriften? 1. Materielles Strafrecht 2. Strafprozessrecht III. Verfassungsrechtliche Überlegungen 1. Der grundgesetzliche Gesetzesvorbehalt
2. Benannte Eingriffsformen 3. Unbenannte Eingriffsformen 4. Zwischenergebnis IV. Ermittlungen ohne Verdacht? 1. Begriffliche Klärung 2. Die Regelungslücke 3. Gewohnheitsrecht als Ermächtigung 4. Grenzziehungen 5. Folgerungen V. Zusammenfassung
* Dass es nicht nur auf das Ergebnis, sondern auch auf die Begründung ankommt, ist juristisches Allgemeingut. In einer Disziplin, die vom Diskurs geprägt ist, erscheinen überzeugendes Argumentieren und schlüssige Begründungen zumindest als unabdingbares Handwerkszeug, das gelegentlich sogar, wenn auch noch, etwa vom Jubilar, rhetorisch elegant gehandhabt, zum intellektuellen Genusserlebnis werden kann. Nachfolgend soll – allerdings ohne jeden Anspruch auf diese Eleganz – ein Problem angesprochen werden, das zwar den Verteidiger eher weniger beschäftigen wird, das aber exemplarisch sein dürfte dafür, dass selbst vielfach wiederholte und allgemein hingenommene Begründungen manchmal kritisch durchleuchtet werden sollten.
I. Umkehrschluss aus § 152 Abs. 2 StPO? Niemand wird bestreiten können, dass strafrechtliche Ermittlungen nicht ohne jeden respektablen Grund, vielleicht nur aus Antipathie des Staatsan-
__________ *
Verf. fühlt sich zu seinen nachfolgenden Überlegungen angeregt durch eine Diskussion auf der Tagung des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer am 11. 10. 2003, an der auch der Jubilar teilnahm und zu deren Vorbereitung die Herren RA Dr. Daniel M. Krause, LL.M. (Berlin) und BA Senge (Karlsruhe) sehr informative Referate vorgelegt hatten.
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walts gegen einen Bürger, also: willkürlich geführt werden dürfen. Zur rechtlichen Begründung hierfür stützen sich Rechtsprechung und Literatur auf § 152 Abs. 2 StPO. Aus dieser Vorschrift „folge“, dass – abgesehen vom Sonderfall des § 1591 – die Strafverfolgungsbehörden erst bei Vorliegen eines sog. Anfangsverdachts aufklärend und strafverfolgend tätig werden dürften2. Schöch spricht im Alternativkommentar zu § 152 Abs. 2 vom „Anfangsverdacht, der die Verfolgungspflicht auslöst, zugleich aber Voraussetzung für die Befugnis zu Ermittlungen ist.“3 Hund leitet aus § 152 Abs. 2 „denknotwendig“ ab, dass ohne seine Voraussetzungen die Aufnahme von Ermittlungen nicht zulässig ist4. Der Bundesgerichtshof prüfte, ob ein Ermittlungsverfahren nach § 152 Abs. 2 „vertretbar“ sei5. Oftmals wird, mehr oder weniger deutlich unter Bezugnahme auf § 152 Abs. 2, von der „begrenzenden Funktion des Anfangsverdachts“ gesprochen6. Eine Rundverfügung des Generalstaatsanwalts von Brandenburg vom 21. 8. 19987 beginnt mit den Worten „Der zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens erforderliche Anfangsverdacht liegt gem. § 152 Abs. 2 vor, wenn …“. Vorsichtiger bleibt Dahs, der den in § 152 Abs. 2 beschriebenen Anfangsverdacht als „Basis für die Einleitung jedes Ermittlungsverfahrens“ ansieht8. 1. Analyse des Wortlauts Eine genauere Betrachtung des § 152 Abs. 2 zeigt, dass es jedoch nicht möglich ist, eine Limitierung der Strafverfolgungsbefugnis aus dieser Vorschrift (allein) abzuleiten. § 152 Abs. 2 lautet: „Sie ist, soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller verfolgbarer Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.“ Diese Bestimmung, die, zu Recht, als normative Grundlage für die (grundsätzliche) Geltung des Legalitätsprinzips im deut-
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§§ ohne Gesetzesangabe sind solche der StPO. So LR/Beulke (25. Aufl.) § 152 StPO Rz. 22, der zusammen mit § 152 II auch § 160 I nennt; vgl. auch BGH v. 29. 8. 1989 – 1 StR 453/89, StV 1989, 518; Arndt NJW 1962, 2000; Meyer-Goßner (47. Aufl.) § 152 Rz. 4. Bei Walder ZStW 95 (1983), 862, 866 wird in Fn. 27 Roxin mit der Formulierung vom Verdacht einer Straftat als „eigentliche Verfahrens- oder Prozessvoraussetzung“ zitiert. AK/Schöch § 152 Rz. 10. ZRP 1991, 463. BGH v. 21. 4. 1988 – III ZR 255/86, NStZ 1988, 510, wo es in einem Amtshaftungsprozess darum ging, ob die StA das Ermittlungsverfahren rechtzeitig nach § 170 Abs. 2 eingestellt hatte. So Keller/Griesbaum NStZ 1990, 417 u. Wölfl JuS 2001, 478. Vgl. auch Roxin, Strafverfahrensrecht, § 37 B; Rogall, Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozessrecht, 1992, S. 87; Haas, Vorermittlungen und Anfangsverdacht (2003), S. 11; Nicole Lange DRiZ 2002, 264; Schäfer/Sander, Die Praxis des Strafverfahrens, § 18 I; Eisenberg/Conen NJW 1998, 2241. BbgJMBl. 1998, 106. NJW 1985, 1113.
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schen Strafprozessrecht angesehen wird9, ist in der bei Rechtssätzen üblichen Form von Voraussetzung und Folge aufgebaut: . Die o. g. Autoren bedienen sich eines Umkehrschlusses:10 . Es besteht Anlass, zu prüfen, ob ein solcher Umkehrschluss zulässig ist und was er, falls zulässig, bringt. Ein Umkehrschluss ist eine logische Operation, die sich formelhaft darstellen lässt:11 Aus der vorgegebenen wahren Aussage soll per Umkehrschluss die wahre Aussage folgen. Es ist leicht einzusehen, dass nicht aus jedem gegebenen Satz ein solcher Umkehrschluss zu einer wahren Aussage führt, dass dies vielmehr davon abhängt, ob es sich bei A um eine bloß zureichende oder um eine notwendige Bedingung handelt. Bei der bloß zureichenden Bedingung, die formelhaft darzustellen wäre12, ist es möglich, dass E auch dann vorliegt, wenn A nicht gegeben ist. Hier kann nicht aus dem Fehlen von A auf das Fehlen von E geschlossen werden. Aus dem Satz „Wenn der Verteidiger eine zulässige Revision eingelegt hat, wird das Urteil vom Revisionsgericht geprüft“ kann nicht geschlossen werden, dass bei der Nichteinlegung einer Revision durch den Verteidiger keine revisionsrechtliche Überprüfung stattfände, denn dieses Rechtsmittel kann ja auch die Staatsanwaltschaft eingelegt haben. Anders ist es bei der notwendigen Bedingung 13: Wenn hier A fehlt, kann auch E nicht gegeben sein. Die Aussage „Wenn das Revisionsgericht die Revision für begründet erachtet, hebt es das angefochtene Urteil auf“ erlaubt den Umkehrschluss, dass das Urteil nicht aufgehoben wird, wenn das Revisionsgericht das Rechtsmittel nicht für begründet hält14. Vor der Verwertung solcher Überlegungen für § 152 Abs. 2 ist zunächst festzuhalten, dass der Wortlaut dieser Vorschrift nicht generell das Einschreiten, sondern die Pflicht zum Einschreiten betrifft15. Die vorangehende Darstellung des § 152 Abs. 2 als logische Implikation bedarf daher der Präzisierung: In der Formel ist nicht E für „Einschreiten“, sondern EP für „Einschreitenspflicht“ zu verwenden, so dass sie lautet . Es ist völlig un-
__________ 9 Vgl. LR/Beulke (25. Aufl.) § 152 Rz. 1; Meyer-Goßner (47. Aufl.) § 152 Rz. 2. 10 Ausdrücklich hiervon spricht Nicole Lange DRiZ 2002, 265. 11 Zu den nachfolgenden Ausführungen vgl. auch Klug, Juristische Logik, 4. Aufl., 1982, S. 26, 141 f. 12 Klug, a. a. O. (Fn. 11) S. 26 spricht hier von einer „extensiven Implikation“. 13 Nach Klug, a. a. O. (Fn. 11) eine „intensive Implikation“. 14 Zur Zulässigkeit von Umkehrschlüssen vgl. auch Klug a. a. O. (Fn. 11) S. 141 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 209. 15 Leider wird die Vorschrift nur selten ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der „Verpflichtung“ diskutiert, z. B. bei KMR-Plöd Rz. 19; Silke Döhring, Ist das Strafverfahren vom Legalitätsprinzip beherrscht? (1999); vgl. auch Gössel, FS Dünnebier (1982) S. 121 (124 ff.).
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streitig, dass das Vorliegen zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte für eine verfolgbare Straftat in § 152 Abs. 2 nicht nur eine zureichende, sondern auch eine notwendige Bedingung darstellt: Nur beim Vorliegen zureichender Anhaltspunkte besteht eine Verfolgungspflicht, oder: . Ein Umkehrschluss aus dieser Vorschrift ist also zulässig. Dieser Umkehrschluss lautet: , deutlicher: . Dies wird vorliegend auch gar nicht bestritten. Nicht hinnehmbar ist jedoch, dass in der Literatur die Verfolgungspflicht – man möchte fast sagen: klammheimlich – mit dem Verfolgungsrecht gleichgesetzt wird. Es überschreitet ganz klar das von den Schlussregeln der Logik Erlaubte, wenn aus der Aussage hergeleitet wird: . Dass Recht und Pflicht etwas völlig Verschiedenes darstellen, dass also, um in den Formeln zu bleiben, EP nicht mit ER vertauscht werden darf, wird gerade einem Juristen schnell einleuchten16. Um den hier kritisierten Umkehrschluss zu ermöglichen, müsste der eingangs zitierte § 152 Abs. 2 also wie folgt gelesen werden: „Die Staatsanwaltschaft ist, soweit …, (nur dann) verpflichtet und (nur dann) berechtigt, wegen … einzuschreiten.“ Zwischen einer gesetzlichen Verpflichtung und der Berechtigung besteht zwar insofern ein Bezug, als eine Verpflichtung immer die Berechtigung nach sich zieht. Um wieder formelhaft zu werden: . Aber die Verpflichtung ist bloß eine zureichende Bedingung, keine notwendige für die Berechtigung; man kann selbstverständlich auch berechtigt sein, ohne hierzu einer Pflicht zu unterliegen. Der (Umkehr-)Schluss „Wenn keine Verpflichtung besteht, besteht auch keine Berechtigung“ wäre also falsch. Übertragen auf § 152 Abs. 2 heißt das, dass diese Vorschrift keine nach den logischen Schlussgesetzen erkennbare Aussage zur Nicht-Berechtigung des Einschreitens trifft. Die Behauptung, aus § 152 Abs. 2 folge, dass ohne zureichende tatsächliche Anhaltspunkte ein Einschreiten von Strafverfolgungsorganen nicht erlaubt sei, ist also logisch nicht haltbar. 2. Systematischer Kontext Der Jurist pflegt nicht immer nur am Wortlaut einer Vorschrift zu kleben, und die logischen Schlusssätze sind beim Umgang mit Normen nicht das einzige Instrument, wenn es darum geht, einen über die semantische Wortbedeutung hinausgehenden Sinn in einer Norm zu erkennen. So stellt sich die Frage, ob sich etwa aus dem systematischen Kontext des § 152 Abs. 2 etwas zur Verfolgungsberechtigung herleiten lasse. Die Vorschrift steht in
__________ 16 Ausdrückliche Unterscheidung zwischen Pflicht und Recht zur Strafverfolgung gem. § 152 Abs. 2 bei Lohner, Der Tatverdacht im Ermittlungsverfahren, 1994, S. 142.
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einem Abschnitt, dessen Überschrift „Öffentliche Klage“ für diese Frage nichts hergibt. Einige (wenige) Paragraphen dieses Abschnitts befassen sich mit dem Prozessstadium zum Beginn und nach der Anklageerhebung (§§ 151, 152 Abs. 1, 155, 156) oder mit der Nomenklatur (§ 157). § 152a erklärt gewisse Immunitätsvorschriften der Landesrechte für verbindlich und betrifft damit den Inhalt des Begriffs „verfolgbare Straftaten“ in § 152 Abs. 2. Die meisten Normen widmen sich der Frage, wann und unter welchen überaus detailliert geregelten Voraussetzungen die Verpflichtung nach § 152 Abs. 2 ausnahmsweise nicht gilt. Das Verständnis dieser Bestimmung als ausschließliche Pflichtennorm und nicht als Berechtigungsvorschrift wird dadurch geradezu noch verfestigt. Interessant ist auch, dass § 155 Abs. 2 – ein anderes Thema betreffend, aber immerhin im selben Abschnitt wie § 152 – die Formulierung „berechtigt und verpflichtet“ enthält: Auch das spricht dagegen, in § 152 Abs. 2 die Berechtigung einfach hinzuzudenken. § 152 Abs. 2 ist zu sehen zusammen mit Vorschriften außerhalb des 1. Abschnittes des 2. Buches der StPO, die ebenfalls die Verfolgungspflicht betreffen: §§ 159, 160 und bzgl. der Polizei § 163 Abs. 1 S. 1. Diesen Bestimmungen, die alle nur sicherstellen wollen, dass der Staat (möglicherweise) strafbarem Verhalten nachgeht, stehen viele Vorschriften gegenüber, die Ermittlungsmaßnahmen, also Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden vom Vorliegen bestimmter Voraussetzungen abhängig machen; zu denken ist z. B. an die neueren Vorschriften der §§ 163b ff., 100a ff., aber auch an die klassischen Bestimmungen der §§ 94 ff. oder 112 ff. Sie haben den logischen Aufbau . Von einer Pflicht ist dabei nirgendwo die Rede, und die jeweilige Rechtseinräumung an die Strafverfolgungsbehörden betrifft nicht das Recht zur Strafverfolgung an sich, sondern nur das Recht zu einem bestimmten Vorgehen bei der Strafverfolgung. Die StPO unterscheidet also (selbstverständlich) ganz klar zwischen Rechten und Pflichten, und sie unterscheidet zwischen (a) der Strafverfolgung als Gesamtheit und (b) einzelnen Strafverfolgungsmaßnahmen. Bzgl. (b) gibt es partiell Berechtigungsvorschriften, bzgl. (a) ist nur eine Verpflichtung statuiert, nämlich in § 152 Abs. 2 (und § 160 Abs. 1). Damit erweist sich der Versuch, diese Bestimmung unter Bezugnahme auf die Systematik auf die Kategorie der Berechtigung auszuweiten, als verfehlt. 3. Entstehungsgeschichte Auch die Entstehungsgeschichte des § 152 Abs. 2, den die StPO von Anfang an17 enthielt, spricht dafür, die Vorschrift als reine Verpflichtungsnorm zu verstehen. Der Gesetzgeber aus dem 19. Jahrhundert hatte an Staatsanwälte und Polizeibeamte zu denken, die offenbar durchaus nach Gutdünken und
__________ 17 Vgl. LR/Beulke (25. Aufl.) § 152 Entstehungsgeschichte.
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Opportunitätsgründen, vielleicht auch mit dem Blick auf den Willen ihres Monarchen gegen Straftaten einschritten oder auch nicht einschritten. Die Einführung des Legalitätsprinzips zielte nicht nur auf ein höheres Maß an Objektivität und eine Anhebung des Ansehens der Staatsanwälte;18 zugleich sollte auch mittels einer konsequenteren und damit umfangreicheren Durchsetzung strafrechtlicher Ahndungen ein größerer Schutz vor der (auch) damals beklagten zunehmenden Kriminalität erreicht werden19. Es ging also nur und ausschließlich um die Pflicht und nicht um das Recht zur Strafverfolgung. Das Legalitätsprinzip, also § 152 Abs. 2, wird auch heute als Garant für eine einheitliche Strafverfolgung verstanden und damit in einen Zusammenhang mit dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) gebracht20. Sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfolgbare Straftat vorliegen, hat die Staatsanwaltschaft oder die Polizei „einzuschreiten“, d. h. jedermann ohne Ansehen der Person kann ggf. Beschuldigter werden. Das Legalitätsprinzip soll ausschließen, dass eine Straftat aus Gründen der Willkür oder aus parteipolitischer Rücksichtnahme „unter den Teppich gekehrt wird“ oder dass sich ein Straftäter mit guten Beziehungen zu den Strafverfolgungsbehörden vor seiner Verantwortung sicher fühlen kann21. Wenn das BVerfG vom Legalitätsprinzip als der „Aktualisierung des Willkürverbots“ spricht22, meint es, dass kein Straftäter ohne Rechtsgrund der Verfolgung entgehen darf. Die Funktion des Legalitätsprinzips geht also nur in eine Richtung: Verfolgungszwang, Pflicht zur Verfolgung. Mit einer Begrenzung der Verfolgungserlaubnis hat das nichts zu tun23.
II. Begründung aus anderen Vorschriften? Die Erkenntnis, wonach es falsch ist, aus § 152 Abs. 2 ein Verbot strafprozessualer Ermittlungen ohne den sog. Anfangsverdacht herzuleiten, bezieht sich nur auf die Begründung für ein solches Verbot, nicht auf dieses selbst. Damit stellt sich die Frage, ob und wie weit andere strafrechtliche oder strafprozessuale Vorschriften für eine Begrenzung der Ermittlungsfreiheit sprechen.
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18 Vgl. Schmidt-Jortzig NJW 1989, 129, 130. Zur Geschichte des Legalitätsprinzips auch Roxin, Strafverfahrensrecht § 14 A. 19 Vgl. hierzu Roth, Kriminalitätsbekämpfung in deutschen Großstädten 1850 – 1914 (1997), S. 428. 20 Zu den verschiedenen Überlegungen zu den Grundlagen des Legalitätsprinzips vgl. LR/Beulke (25. Aufl.) § 152 Rz. 12. 21 Zur Gebotenheit des Legalitätsprinzips aus Gründen der Objektivität vgl. auch Eb. Schmidt, Lehrkommentar I Rz. 386; KMR/Plöd § 152 Rz. 3; Schmidt-Jortzig NJW 1989, 132 f. 22 BVerfG v. 23. 7. 1982 – 2 BvR 8/82, NStZ 1982, 430. Ähnlich KK/Schoreit (4. Aufl.) § 152 Rz. 13. 23 So i. E. auch Lohner, Der Tatverdacht im Ermittlungsverfahren (1994), S. 140.
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1. Materielles Strafrecht Schon eingangs wurde erwähnt, dass ein Staatsanwalt selbstverständlich nicht willkürlich gegen einen ihm missliebigen Bürger einfach ein Ermittlungsverfahren einleiten darf. Man kann hierzu auf § 344 StGB verweisen, der die Verfolgung Unschuldiger sogar unter Strafe stellt. Allerdings verlangt diese Vorschrift, dass es sich bei dem Tatopfer um einen „Unschuldigen oder um jemanden, der sonst nach dem Gesetz nicht strafrechtlich verfolgt werden darf,“ handelt, und auf der subjektiven Seite wird absichtliches oder wissentliches Handeln vorausgesetzt. Zwar wird der Begriff „Unschuldiger“ hier weit ausgelegt, indem er auch den trifft, der wegen einer schwereren als der begangenen Tat verfolgt wird24. Der Fall, dass der Staatsanwalt unterhalb eines Anfangsverdachts nach § 152 Abs. 2 nur ganz vage die Möglichkeit eines strafbaren Verhaltens nicht ausschließt und deshalb ein Ermittlungsverfahren einleitet, wird aber von § 344 StGB keineswegs erfasst. Logisch unzulässig wäre es allerdings, aus der Tatsache, dass ein Verhalten nicht strafbar ist, auf die rechtliche Erlaubnis dieses Verhaltens zu schließen. Die Strafvorschrift wegen der Verfolgung Unschuldiger ist nicht mehr als gewissermaßen ein Pflock für den Extremfall des Missbrauchs: Dieser ist – als strafbar – geregelt, aber ein allgemeiner Satz, wonach auch unterhalb dieses Extremfalles Ermittlungen ohne Anfangsverdacht nicht erlaubt seien, ist hieraus nicht herzuleiten. 2. Strafprozessrecht Das geltende Recht hält für einzelne Maßnahmen innerhalb eines Ermittlungsverfahrens noch weitere Pflöcke vor, um Erlaubtes von Nicht-Erlaubtem abzugrenzen: Wenn eine Intensivierung der Ermittlungen stattfinden soll, die zu einem nicht mehr nur unerheblichen Eingriff in das Recht einer Person führte, müssen nach der StPO jeweils bestimmte Voraussetzungen gegeben sein. Erinnert wird hierzu (erneut, vgl. oben I. 2.) etwa an die Vorschriften über die Festnahme und die Verhaftung (§§ 112 ff. StPO), die Durchsuchung und Beschlagnahme (§§ 94 ff. StPO) oder an den Einsatz moderner technischer Geräte (§§ 100a ff. StPO). Daraus, dass solche Maßnahmen beim Fehlen jener Voraussetzungen nicht erlaubt sind, kann aber, natürlich, nicht darauf geschlossen werden, dass Ermittlungshandlungen, die an keine solchen expliziten Voraussetzungen gebunden sind, verboten wären. Insgesamt zeigt sich also, dass das Straf(prozess)recht nur punktuell strafrechtliche Ermittlungen oder Ermittlungshandlungen untersagt, dass es aber keinerlei allgemeine Voraussetzungen zur Einleitung oder Durchführung eines Ermittlungsverfahrens enthält.
__________ 24 Vgl. Tröndle/Fischer (52. Aufl.) § 344 Rz. 4.
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III. Verfassungsrechtliche Überlegungen Wenn das „einfache Recht“ zu einer Rechtsfrage nichts hergibt, ist der Blick auf das Verfassungsrecht indiziert. 1. Der grundgesetzliche Gesetzesvorbehalt Nach Art. 20 Art. 3 GG sind Exekutive und Judikative, also auch die Strafverfolgungsorgane, an „Gesetz und Recht“ gebunden. Diese Bestimmung ist die Grundlage für das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und, darüber hinausgehend, für den Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes25. Das Prinzip des Gesetzesvorbehalts besagt aber nicht, dass jedwede staatliche Tätigkeit von einer Rechtsnorm – Gesetz oder Rechtsverordnung – abhängig ist; beispielsweise bedarf die interne Neuorganisation einer Behörde, etwa der neue Zuschnitt der Abteilungen einer Staatsanwaltschaft, natürlich keiner Rechtsgrundlage, selbst wenn sie die örtliche Verlegung von Diensträumen zur Folge hat und damit von manchen Bürgern einen erhöhten Zeitaufwand zum Aufsuchen dieser Diensträume verlangen kann. Wie weit das Postulat des Gesetzesvorbehalts geht, ist dem Wortlaut des GG nicht zu entnehmen. So hat das BVerfG z. B. einmal ausgeführt, „dass die Entscheidung aller grundsätzlichen Fragen, die den Bürger unmittelbar betreffen, durch Gesetz erfolgen muss.“26 Auch hielt es den parlamentarischen Gesetzgeber „verplichtet, im Bereich der Grundrechtsausübung alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.“27 Vorliegend muss der rechtsdogmatische Streit über die richtige Abgrenzung staatlichen Handelns, das einer gesetzlichen Rechtsgrundlage bedarf, von gesetzesfreiem Handeln nicht dargestellt und ausgetragen werden28. Denn unter den Intentionen, die dem Institut des Gesetzesvorbehaltes zugrundeliegen29, spielt, wie die beiden vorangehenden Zitate bereits zeigen, der Schutz des Bürgers vor Eingriffen in seine grundrechtlich geschützten Rechtspositionen eine essentielle Rolle, und dass strafrechtliche Ermittlungen, die vielfach erheblich in Grundrechte eingreifen können und die mit der bloßen Datensammlung zumindest das Recht auf informationelle Selbstbestimmung30 tangieren, in den Bereich der staat-
__________ 25 Vgl. zum Gesetzesvorbehalt BVerfG v. 28. 10. 1975 – 2 BvR 883/73 pp., BVerfGE 40, 237 (248 f.) = NJW 1976, 34 sowie zu beiden Prinzipien Maunz/Dürig/Herzog Art. 20 GG Abschn. VI Rz. 33, v. Mangoldt/Klein/Starck/Sommermann (4. Aufl.) Art. 20 GG Rz. 261 ff. 26 BVerfG v. 28. 10. 1975 a. a. O. (Fn. 25). 27 BVerfG v. 6. 6. 1989 – 1 BvR 727/84, BVerfGE 80, 124 (130) = NJW 1989, 2877. 28 Vgl. zur Abgrenzung z. B. Maunz/Dürig/Herzog Art. 20 Abschn. VI Rz. 85; v. Mangoldt/Klein/Starck/Sommermann (4. Aufl.), Art. 20 GG Rz. 263 ff. 29 Dass es auch darum geht, „die politische Führungsaufgabe des Parlaments zu stärken und den Steuerungsanspruch des Gesetzes im Rechtsstaat zu fördern“ (so Wolff/Bachof/Stober, VerwR I § 30 III), ist vorliegend ohne Interesse. 30 Vgl. BVerfG v. 15. 12. 1983 – 1 BvR 209/83 pp., BVerfGE 65, 1 ff.
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lichen Handlungen zählen, auf die der Gesetzesvorbehalt zutrifft, ist heute nicht mehr zu bestreiten. 2. Benannte Eingriffsformen Die Eingriffsschwere strafrechtlicher Ermittlungshandlungen lässt sich skalieren: Dabei stehen Festnahme und Verhaftung an der Spitze, und es folgen körperliche Eingriffe, Durchsuchung und Beschlagnahme, Vorladungen und, eher im unteren Bereich der Skala, heimliche Überwachungs- und Fahndungsmaßnahmen, wobei die genaue Reihenfolge der Eingriffsintensität dahingestellt bleiben kann. Soweit es um den Entzug der Freiheit, einen der schwersten Beeinträchtigungen, geht, verlangt sogar Art. 104 GG ausdrücklich eine gesetzliche Regelung; sie findet sich in den §§ 112 ff. Das Strafprozessrecht beachtet in der StPO das Prinzip des Gesetzesvorbehalts auch für alle anderen Eingriffe, deren Schweregrad höher zu bewerten ist; man denke z. B. an die §§ 81a (Körperliche Untersuchung), §§ 102 ff. (Durchsuchung), §§ 94 ff. (Beschlagnahme). Aber auch für eine Reihe anderer Ermittlungshandlungen, die auf der Skala der fühlbaren Eingriffsintensität eher nur im mittleren oder gar im unteren Bereich anzusiedeln wären, enthält das Gesetz Regelungen, etwa zum Einsatz technischer Mittel (§§ 100a ff.), zur DNAAnalyse (§ 81g) oder zur längerfristigen Observation (§ 163f). Nur unter den in den jeweiligen Vorschriften genannten Voraussetzungen – die oberhalb der Schwelle des Anfangsverdachts liegen – sind solche Handlungen also erlaubt; liegen sie nicht vor, sind sie nicht erlaubt. 3. Unbenannte Eingriffsformen Was ist aber mit den Ermittlungshandlungen, deren Erlaubnis nicht spezifisch geregelt ist? Man denke z. B. an die Anhörung eines Zeugen oder an die Einsicht in Unterlagen oder auch an die bloß einmalige (und daher von § 163f nicht erfasste) Observation. Zweifel daran, ob hier überhaupt ein Eingriff in grundgesetzlich geschützte Freiheitsrechte zu befürchten sei, können angesichts der Rechtsprechung des BVerfG zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung31 nicht (mehr) als berechtigt angesehen werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass bereits die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens „eine erhebliche Belastung darstellen kann.“32 Datensammlungen aller Art – strafrechtliche Ermittlungen sind Datensammlungen – durch staatliche Organe bedürfen einer Rechtsgrundlage. Diese Rechtsgrundlage muss allerdings nicht immer in einer spezifisch auf die jeweilige Art des Eingriffs abstellenden Regelung bestehen. Wenn es sich um Eingriffe handelt, die auf der Schwereskala im eher unteren Bereich liegen, langt auch eine allgemein
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31 Vgl. BVerfG v. 15. 12. 1983, a. a. O. (Fn. 30). 32 So in Abschn. I 2 der RdVfg. des GStA Brandenburg v. 21. 8. 1998 (BbgJMBl. 1998, 106).
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gehaltene, hinreichend klare Bestimmung, um dem Grundsatz des Gesetzesvorbehaltes Rechnung zu tragen. Eine solche Generalklausel stellt § 161 Abs. 1 S. 1 dar. Hiernach ist die Staatsanwaltschaft befugt, „Ermittlungen jeder Art … vorzunehmen oder … vornehmen zu lassen.“33 Am (bereits genannten) Beispiel der Observation lässt sich die Anforderung an die Regelungsdichte gut exemplifizieren: Die mehrmalige Observation als schwererer Eingriff bedarf engerer Voraussetzungen als die einmalige Observation, für die die Generalklausel für Ermittlungshandlungen ausreicht34. Selbstverständlich ist die Generalklausel des § 161 nicht voraussetzungslos. Die „Ermittlungen jeder Art“ erfolgen hiernach „zu dem in § 160 Abs. 1 bis 3 bezeichneten Zweck“ – präziser: dürfen nur zu diesem Zweck erfolgen. Dieser Zweck ist in Abs. 1 des § 160 genannt und besteht in der Pflicht, „den Sachverhalt zu erforschen“35. Die Erforschungspflicht = der Zweck des § 160 ist aber wiederum an eine Bedingung geknüpft: Die Staatsanwaltschaft muss „durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis“ erhalten haben; es muss also ein sog. Anfangsverdacht bestehen. Hier ist nun folgende Überlegung logisch zwingend: Nur bei Verdacht besteht die Erforschungspflicht → Besteht kein Verdacht, besteht auch keine Erforschungspflicht → Besteht keine Erforschungspflicht, besteht auch kein „in § 160 bezeichneter Zweck“ → Besteht kein solcher Zweck, besteht keine Befugnis zu allgemeinen Ermittlungen → Besteht keine solche Befugnis, dann sind solche allgemeine Ermittlungen wegen des Grundsatzes des Gesetzesvorbehaltes nicht zulässig. 4. Zwischenergebnis Diese Ableitung kann nicht durch die am Anfang dargestellte, vielfach übliche bloße Bezugnahme auf § 152 Abs. 2 verkürzt werden. Zwar enthält die in dieser Vorschrift statuierte Verpflichtung zum „Einschreiten“ zugleich auch die Berechtigung hierzu (vgl. oben I. 1.). Aber zum einen bleibt hierbei der im vorliegenden Zusammenhang essentielle Grundsatz des Gesetzesvorbehaltes für strafprozessuale Ermittlungshandlungen unerwähnt, und zum anderen ist der Schluss von der Verpflichtung auf die Berechtigung trotz seiner logischen Richtigkeit als Rechtsgrundlage für „Ermittlungen jeder Art“ nicht ausreichend, weshalb ja auch mit der Neuformulierung des § 161 Abs. 1 S. 1 durch das StVÄndG 199936 eine ausdrückliche Eingriffsermächti-
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33 Zur Funktion des § 161 als Ermittlungsgeneralklausel vgl. Hilger NStZ 2000, 561, 563; ders. FS Rieß (2002) S. 180 ff. Vgl. auch Meyer-Goßner (47. Aufl.) § 161 Rz. 1; KMR/Plöd § 161 Rz. 1. 34 Hilger weist allerdings in FS Rieß (2002) S. 181 auf die Bedenken hin, dass die Generalklausel bei „nicht leicht liegenden“ Grundrechtseingriffen unzureichend sein könne. 35 Die nachfolgenden Absätze des § 160 stellen nur eine Präzisierung dieser Erforschungspflicht dar. 36 Gesetz v. 2. 8. 2000, BGBl. I S. 1253.
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gung geschaffen wurde. „Keine strafrechtliche Ermittlungen ohne Anfangsverdacht“: Dieser letztlich ja auch unbestrittene Satz ist also richtig, aber er beruht nicht auf § 152 Abs. 2, sondern auf dem aus Art. 20 Abs. 3 GG hergeleiteten Grundsatz des Gesetzesvorbehaltes in Verbindung mit der Generalklausel des § 161 Abs. 1 S. 1 und ggf. speziellen Eingriffsermächtigungen der StPO.
IV. Ermittlungen ohne Verdacht? Die Problematik der Ermittlungsberechtigung ist damit aber noch nicht abgeschlossen. 1. Begriffliche Klärung Setzt das Ermittlungsverfahren, einen sog. Anfangsverdacht voraus, hat der Staatsanwalt vor Beginn des Verfahrens zu prüfen, ob ein solcher Verdacht besteht. Geht eine Anzeige ein, hat er also zunächst zu überlegen, ob die hierin behaupteten Tatsachen überhaupt zutreffen könnten und ob sie, wenn sie zuträfen, eine Straftat darstellten. Sind die Behauptungen völlig unglaubwürdig, etwa weil die angeblichen Tatsachen außerhalb der physikalischen Möglichkeiten liegen, oder betreffen sie einen Sachverhalt, der in keiner Weise strafbar ist, dann ist das Vorliegen eines Anfangsverdachts zu verneinen, und es dürfen keine Ermittlungen begonnen werden. Indes ist leicht vorstellbar, dass eine solche Vorab-Prüfung zu einem nicht klaren Ergebnis führt. Man denke an folgende Fälle: Eine Anzeige ist zwar nicht völlig absurd, aber doch so wirr, dass man nicht bereits vom Vorliegen eines Anfangsverdachts i. S. d. § 160 ausgehen kann. Oder: Der Anzeiger beschuldigt jemanden sehr pauschal, sexuelle Kontakte zu einem Mädchen zu unterhalten, „das hierfür noch viel zu jung ist“, ohne dass er das Alter des Mädchens angibt. Oder: Der Anzeiger fühlt sich durch Emissionen eines Industriebetriebes erheblich beeinträchtigt und bittet die Staatsanwaltschaft um Prüfung, ob denn das Unternehmen wirklich eine entsprechende Schadstofferlaubnis besitze. Oder: Das Insolvenzgericht schickt der Staatsanwaltschaft gem. Nr. XII 2 u. 3 des 2. Teils der Anordnung über Mitteilungen in Zivilsachen (MiZi)37 eine Mitteilung über die Eröffnung oder Nichteröffnung eines Insolvenzverfahrens. Oder, bei Prüfungen von Amts wegen: Dem auf Streife gehenden Polizeibeamten fällt auf, dass vor dem Haus, in dem eine wegen Schmuggelei vorbestrafte Person wohnt, ein „eigenartiger“ Lieferwagen aus Osteuropa parkt. Wäre es dem Staatsanwalt erlaubt, den Verfasser der wirren Anzeige zu befragen, um genauer zu erfahren, was dieser eigentlich meint? Dürfte er das Alter des Mädchens beim Einwohnermeldeamt er-
__________ 37 Neufassung v. 1. 6. 1998, veröffentlicht im BAnz. 1998, Nr. 138.
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mitteln? Dürfte er von der Umweltschutzbehörde verlangen, den Vorgang über die Schadstofferlaubnis einzusehen? Dürfte er die Insolvenzakten beiziehen und systematisch auf den Verdacht von Insolvenzstraftaten durchsehen? Wäre es der Polizei erlaubt, zu observieren, was es mit dem Lieferwagen auf sich hat? Der Staatsanwalt oder der Polizist würden dabei Daten erheben, was doch wohl einer Rechtsgrundlage bedarf. Zwar ist die Messlatte für die Bejahung des Anfangsverdachts in den §§ 160, 152 Abs. 2 schon äußerst tief anzulegen38, aber diese Messlatte müsste gleichsam auf dem Boden liegen, wenn man in jenen Beispielsfällen den Verdacht einer Straftat annähme. Es besteht dort nicht ein Verdacht, sondern die konkrete Möglichkeit des Verdachts eines strafbaren Verhaltens. Die bloße Verdachtsmöglichkeit erfüllt aber nicht die Voraussetzungen für § 161. Das Thema, das hier angesprochen ist, bedarf noch einer präzisierenden Abschichtung von verwandten Problemen: Es geht nicht um die Durchführung strafprozessualer Zwangsmaßnahmen, die selbstverständlich niemals ohne (gesteigerten)39 Tatverdacht zulässig sind40. Es geht auch nicht um sog. polizeiliche Initiativ- oder Vorfeldermittlungen, bei denen der Gesichtspunkt der Prävention und damit das Polizeirecht ausschlaggebend sein dürften41. Schließlich soll hier auch nicht die unsägliche Praxis einiger Staatsanwaltschaften, bei manchen Personen ein sog. Vorermittlungsverfahren einzuleiten, das nur in das AR- und nicht in das JS-Register eingetragen wird, das aber in Wirklichkeit bereits ein strafprozessuales Ermittlungsverfahren darstellt, thematisiert werden42. Gegenstand der vorliegenden Überlegungen ist allein die Prüfungssituation des Ermittlers im Vorfeld des Verdachts, also vor Beginn eines strafprozessualen Ermittlungsverfahrens, wobei auch dahingestellt bleibt, ob man hier von „Vorermittlungen“ sprechen soll43, ob man diese konstruktiv sogar als einen „dem Strafverfahren zuzuordnenden
__________ 38 Vgl. LR/Beulke (25. Aufl.) § 152 Rz. 21; KMR/Plöd § 152 Rz. 2; BVerfG v. 5. 8. 1966 – 1 BvR 586/62 pp, BVerfGE 20, 162 (Spiegel-Urteil) zum Verdacht aufgrund eines Presseartikels; Keller/Griesbaum NStZ 1990, 416. 39 Vgl. hierzu die Kritik von Dahs NJW 1985, 1113 an einer gelegentlich recht forschen Praxis. 40 Vgl. LR/Beulke (25. Aufl.) § 152 Rz. 34. Unverständlich lax LG Offenburg v. 25. 5. 1993 – Qs 41/93, NStZ 1993, 506; zutreffend hingegen z. B. LG WaldshutTiengen v. 8. 3. 2000 – 2 Qs 18/00, wistra 2000, 354. 41 Vgl. die Auseinandersetzung zu „Vorfeldstrategien“ der Polizei zwischen Hund ZRP 1991, 463, Kniesel ZRP 1992, 164 u. Lisken ZRP 1994, 264. Großzügiger Lohner, Der Tatverdacht im Ermittlungsverfahren (1994) S. 142 f.; Rogall, Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozessrecht (1992), S. 88. Vgl. auch Roxin, Strafverfahrensrecht § 37 B. Eingehend Edda Weßlau, Vorfeldermittlungen (1989). 42 Kritisch hierzu z. B. LR/Beulke (25. Aufl.) § 152 Rz. 33; KMR/Plöd § 152 Rz. 24; vgl. auch Meyer-Goßner (47. Aufl.) § 152 Rz. 5. 43 So z. B. LR/Beulke (25. Aufl.) § 152 Rz. 33; Meyer-Goßner (47. Aufl.) § 152 Rz. 4a; KMR/Plöd § 152 Rz. 25; Wölfl JuS 2001, 478; Keller/Griesbaum NStZ 1990, 416.
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selbständigen Verfahrensabschnitt“44 zu begreifen hat und ob es angezeigt wäre, die Bejahung des Anfangsverdachts de lege ferenda sogar einer gerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen45. 2. Die Regelungslücke Zur Diskussion steht also einzig die Frage, was der Staatsanwalt vor der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens tun darf, um zu klären, ob ein Anfangsverdacht, den er für konkret möglich, aber noch nicht für gewiss hält, besteht oder nicht. Das Gesetz sagt hierzu nichts. Zum Vorschein kommt eine Lücke, die der Gesetzgeber alsbald schließen sollte46. Denn de lege lata könnte man die Frage stellen, ob in den obigen Beipielsfällen der Staatsanwalt wegen mangelnder Rechtsgrundlage die Anzeigen oder Mitteilungen lediglich abheften und ob der Polizist seiner Beobachtung nicht weiter nachgehen dürfte. Dass dies weltfremd wäre, liegt auf der Hand und wird, soweit ersichtlich, auch von niemandem verlangt. Zwar will niemand eine „Schnüffeljustiz“47, und kein Bürger darf „ohne Anlass zum Objekt der Ausforschung werden“48. Aber dieser Anlass ist in den Beispielsfällen gegeben, und er ist auch gegeben, wenn der Polizist aufgrund seiner kriminalistischen Erfahrungen in einer generell kriminogenen Situation, z. B. im Bahnhofsviertel einer Großstadt, „genauer hinsieht“, um zu erkennen, ob etwa ein Anfangsverdacht besteht. Die vom BVerfG immer wieder anerkannten „unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung“49 und das „Interesse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege“50 verlangen zwingend, dass auch zur Klärung des Vorliegens eines Anfangsverdachtes Aufklärungshandlungen – das Wort „Ermittlungen“ wird bewusst vermieden – durchgeführt werden können51.
__________ 44 So Nicole Lange DRiZ 2002, 264; auch Haas, Vorermittlungen und Anfangsverdacht (2003), S. 35 spricht von „zwei Abschnitten“ des Ermittlungsverfahrens. 45 So Eisenberg/Conen NJW 1998, 2241 (2246); vgl. auch Nicole Lange DRiZ 2002, 264 (267). 46 Vgl. auch Nicole Lange DRiZ 2002, 264 (272 f.). – In § 59 Abs. 2 StPO-DDR bestand zur Verdachtsprüfung vor Einleitung eines Ermittlungsverfahrens folgende Regelung: „Zu diesem Zweck sind die notwendigen Prüfungshandlungen vorzunehmen. Der Verdächtige kann befragt und, wenn es zu diesem Zweck unumgänglich ist, zugeführt werden. Eine Vernehmung als Beschuldigter sowie die Vornahme prozessualer Zwangsmaßnahmen sind unzulässig.“ 47 Vgl. Wölfl JuS 2001, 478 (481). 48 So Hund ZRP 1991, 463. 49 So (erstmals) BVerfG v. 15. 12. 1965 – 1 BvR 513/65, BVerfGE 19, 343 (349). 50 Z. B. BVerfG v. 8. 11. 1983 – 2 BvR 1138/83, NStZ 1984, 228. 51 So i. E. auch LR/Beulke (25. Aufl.) § 152 Rz. 34; Meyer-Goßner (47. Aufl.) § 152 Rz. 4a; KMR/Plöd § 152 Rz. 3, 25; Nicole Lange DRiZ 2002, 264 (271); Keller/ Griesbaum NStZ 1990, 416 sprechen sogar von einer „Vorermittlungspflicht“; Wölfl JuS 2001, 478 (482) will diese Pflicht auf Fälle schwerster Kriminalität beschränken.
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3. Gewohnheitsrecht als Ermächtigung Dieses unbestreitbare Bedürfnis begründet selbstverständlich noch keine Rechtsgrundlage; es bedarf ihrer. Nr. 6. 2 von Anl. E der RiStBV52, in der Aufklärungen zur Verdachtsklärung erwähnt werden, scheidet als bloße Verwaltungsvorschrift hierfür aus. Die Rechtsgrundlage liegt auch nicht gewissermaßen immanent in § 152 Abs. 2 mit der Überlegung, wenn das Gesetz unter gewissen Voraussetzungen eine Pflicht auferlege, dann erlaube es dem potentiell Verpflichteten zwangsläufig, zu prüfen, ob diese Voraussetzungen gegeben sind53. Denn es ist zu unterscheiden zwischen der ohne jede Außenwirkung verlaufenden, rein intellektuellen (und natürlich unproblematischen) Prüfung dessen, was dem Staatsanwalt auf den Tisch gelegt wird, und den weiteren Aufklärungshandlungen, wenn diese „Binnen-“Prüfung zu keinem eindeutigen Ergebnis bzgl. des Anfangsverdachts geführt hat – gerade um diese Aufklärungshandlungen geht es. § 159 kann als Rechtsgrundlage nicht in Anspruch genommen werden54, handelt es sich bei dieser Vorschrift doch um eine Spezialregelung für unnatürliche Todesfälle, die keinen generellen Schluss auf andere Fälle zulässt55. Solange also keine gesetzliche Regelung geschaffen ist, wird man sich mit einer juristischen Hilfskonstruktion, nämlich dem Gewohnheitsrecht, begnügen müssen: Seit es staatliche Strafverfolgung gibt, ist es üblich und entspricht der communis opinio, dass die hierfür eingesetzten Staatsorgane Hinweisen auf einen möglichen Tatverdacht nachgehen, dass sie offenen Auges agieren und ihre Antennen ausfahren, wenn ihnen etwas „nicht koscher“ erscheint. Gewohnheitsrecht ist auch unter den Begriff „Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG subsumierbar56, so dass die Bindung der Ermittlungsbehörden „an Recht und Gesetz“ bei ihren Aufklärungen zur Verdachtsprüfung gewahrt ist. Gewohnheitsrecht als Rechtsgrundlage ist allerdings dort unzureichend, wo es um Grundrechtseingriffe geht, wo also der Gesetzesvorbehalt gilt. Indes muss man hier nicht von einer harten Grenze für dessen Geltung ausgehen. Noch einmal (vgl. oben II. 2.) wird an die Skala der Eingriffsschwere bei der Aufklärungsarbeit der Ermittlungsbehörden erinnert: Schwerere Eingriffe bedürfen einer expliziten gesetzlichen Regelung, und für weniger schwere reicht eine Generalklausel aus. Es ist gut vorstellbar (und entspricht der Lebenswirklichkeit), dass diese Skala ganz unten an ihrem Beginn gleichsam ausfranst, dass es hier also einen Bereich gibt, in dem die Aufklärungsmaßnahmen noch so schwach sind, dass sie sich nicht bereits zu einem „Eingriff“ verfestigt haben. Dass auch für diese Grauzone eine gesetzliche Regelung angezeigt wäre, wurde bereits ausgeführt. Aber es muss nicht als Verstoß gegen das Prinzip des Ge-
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Abgedruckt bei Meyer-Goßner (47. Aufl.) unter A 15. So etwa Keller/Griesbaum NStZ 1990, 417. So aber Keller/Griesbaum NStZ 1990, 416. So auch Wölfl JuS 2001, 478 (480). Vgl. Maunz/Dürig/Herzog Art. 20 Abschn. VI Rz. 52; v. Mangoldt/Klein/Starck/ Sommermann (4. Aufl.) Art. 20 GG Rz. 255.
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setzesvorbehalts angesehen werden, wenn bis dahin auf das Gewohnheitsrecht als Rechtsgrundlage zurückgegriffen wird57. 4. Grenzziehungen Das Gewohnheitsrecht erlaubt also, einer per se noch nicht verdachtsindizierenden Strafanzeige zwar nicht auf den Grund, aber insoweit nachzugehen, als es darum geht, ob sie wirklich einen Verdacht begründet, und es erlaubt ebenso, eine Situation, die nur aufgrund allgemeiner kriminalistischer Erfahrungen als kriminogen bekannt ist, z. B. den Treffpunkt von Dealern, aufmerksam zu beobachten. Allerdings ist das auf eine lange Tradition zurückzuführende Gewohnheitsrecht heute in den Schranken zu verstehen, die die gewachsene und durch die Rechtsprechung des BVerfG geförderte Sensibilität gegenüber staatlichem Handeln verlangt. Erlaubt ist danach nicht ein weitschweifiges Herumermitteln, sondern nur, in möglichst dezenter Weise, das unbedingt Notwendige, um zu klären, ob ein Anfangsverdacht angenommen werden kann und ein „formelles“ strafrechtliches Ermittlungsverfahren zu beginnen ist. Hierzu ist die Einsicht in Akten und Unterlagen erlaubt, aber nur dann, wenn diese freiwillig herausgegeben werden58. Tendenziell zutreffend ist die Formulierung in einer RdVfg. des GStA Brandenburg v. 21. 8. 199859 wonach zulässig seien „informatorische, formlose Befragungen zur Gewinnung eines groben Bildes“60. Diese dürfen aber, wie Hilger zu Recht ausführt61, nicht in „diskrete Erkundigungen nach Lebensumfeld und -gewohnheiten einer bestimmten Person“ münden; zulässig sind, neben der „Nutzung eigenen Materials“, „nicht-hoheitliche sozialadäquate Handlungen, wie sie jedem Bürger erlaubt wären“62. Nach Wölfl darf es sich nur um „einfache Informationsmittel, informatorische Befragungen, Einsichtnahme in freiwillig herausgegebene Unterlagen handeln.“63 An den oben genannten Beispielsfällen lässt sich das gut exemplifizieren: Der Staatsanwalt darf den Anzeiger anhören, um zu klären, was dieser mit seiner Anzeige überhaupt meinte. Er darf auch beim Einwohnermeldeamt
__________ 57 Kritik an jeder Abschichtung nach Eingriffsintensität bei Edda Weßlau, Vorfeldermittlungen (1989), S. 167 ff., die konsequent ganz weitgehend spezielle gesetzliche Eingriffsbefugnisse verlangt. 58 So auch Abschn. IV 5 der RdVfg. des GStA Brandenburg v. 21. 8. 1998, JMBl. Brandenburg 1998, 106; Wölfl JuS 2001, 478 (481). 59 Abschn. IV 4 der RdVfg. v. 21. 8. 1998, JMBl. Brandenburg 1998, 106. 60 Zur Zulässigkeit informatorischer Befragungen vgl. auch BGH v. 27. 10. 1982 – 3 StR 364/82, NStZ 1983, 86 sowie LR/Rieß § 163a Rz. 15 ff. 61 Festgabe für Hilger (2003), S. 13 f. 62 Hilger a. a. O. (Fn. 61) S. 14. 63 So Wölfl JuS 2001, 478 (481). Vgl. auch LR/Beulke (25. Aufl.) § 152 Rz. 34. Bedenklich Meyer-Goßner (47. Aufl.) § 152 Rz. 4a, der wohl Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ohne Einschränkung zulassen will. Nicole Lange DRiZ 2002, 264 (271) verlangt wenigstens die Dokumentation solcher Eingriffe.
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das Alter des Kindes eruieren. Die Anzeige wegen unerlaubter Immissionen hat er jedoch an die zuständige Verwaltungsbehörde zu senden, da er nicht der Kontrolleur für die Einhaltung von Emissionsschutzbestimmungen ist, es sei denn, er bejaht einen Anfangsverdacht u. a. deshalb, weil der Gewerbebetrieb schon in der Vergangenheit des öfteren in Verdacht geraten war, sich wegen Missachtung von Umweltschutzvorschriften strafbar gemacht zu haben. Der nach den MiZi informierte Staatsanwalt darf andere bei der Justiz vorhandene Akten beiziehen, um zu prüfen, ob sich aus dem Insolvenzvorgang im Zusammenhang mit diesen etwa ein Tatverdacht ergibt64. Der Polizeibeamte, dem der osteuropäische Lieferwagen auffiel, darf bei seinen Rundgängen immer wieder ein Augenmerk auf diesen werfen; er darf auch seine Kollegen auf den Wagen aufmerksam machen, und die Szenerie – nicht ein Verdächtiger, vgl. § 163f! – darf auch längerfristig beobachtet werden. Nicht erlaubt wäre es, zur Klärung des Anfangsverdachtes, also noch vor der „offiziellen“ Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, das angeblich verführte Kind oder Personen aus seiner Nachbarschaft „informatorisch“ zu hören, Akteneinsicht bei der Umweltschutzbehörde zu verlangen oder bei osteuropäischen Polizeikollegen nachzufragen, ob dort bzgl. der Person, auf die der Lieferwagen zugelassen ist, „etwas vorliegt“. Das so verstandene Gewohnheitsrecht erlaubt also den Strafverfolgungsbehörden nur Erkundigungen auf niedrigstem Eingriffsniveau. Alles, was darüber hinausgeht, darf nur auf der Rechtsgrundlage des § 161 stattfinden, setzt also die Bejahung eines Verdachts i. S. d. § 160 (insoweit = § 152 Abs. 2) voraus. 5. Folgerungen Dass die Anforderungen an den sog. Anfangsverdacht sehr gering sind und sogar Zweifel an der Richtigkeit des Tatverdachts nicht ausschließen, ist unstreitig65. Der niedrige Anfangsverdacht hat sogar rechtsstaatlich positive Auswirkungen: Mit der Einleitung eines offiziellen Ermittlungsverfahrens erhält der Verdächtige den prozessualen Status eines Beschuldigten, dem damit zwangsläufig die strafprozessualen Belehrungs- und Verteidigungsrechte zukommen66. Auf das bereits oben angesprochene leidige Problem, dass manche Staatsanwaltschaften nicht selten das Verfahren „nur“ im ARRegister führen, um insbes. Personen des öffentlichen Lebens vor dem „Makel“ eines Js-Verfahrens zu schützen, soll hier nicht näher eingegangen werden. Es bleibt aber festzuhalten: Alles, was über das gewohnheitsrechtlich erlaubte Aufklären hinausgeht, ist materiell strafprozessuales Er-
__________ 64 Dass MiZi-Mitteilungen per se noch keinen Tatverdacht indizieren, wird auch bei Keller/Griesbaum NStZ 1990, 416 anerkannt. 65 Vgl. LR/Beulke (25. Aufl.) § 152 Rz. 23. 66 Gegen die Umgehung der Beschuldigtengarantien mittels der Deklarierung von Aufklärungen als „Vorermittlungen“ vgl. LR/Beulke (25. Aufl.) § 152 Rz. 33.
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Zur Notwendigkeit des strafrechtlichen Anfangsverdachts
mitteln innerhalb eines Ermittlungsverfahrens, unabhängig von der registermäßigen Eintragung.
V. Zusammenfassung Es ist richtig, dass strafprozessuale Ermittlungen (außerhalb einer Spezialvorschrift wie § 159) den Verdacht einer Straftat voraussetzen. Dies ist aber weder aus § 152 Abs. 2 noch allein aus einer anderen straf(prozess)rechtlichen Vorschrift herzuleiten. Maßgebend ist vielmehr der auf Art. 20 Abs. 3 GG beruhende Grundsatz des Gesetzesvorbehalts. Danach sind strafprozessuale Ermittlungen nur beim Bestehen einer Rechtsgrundlage erlaubt. Die einschlägige Rechtsgrundlage findet sich in der Generalklausel des § 161. Diese Vorschrift verweist auf den in § 160 bezeichneten Zweck, und dabei wird der sog. Anfangsverdacht vorausgesetzt. Für notwendige Aufklärungen zur Prüfung, ob ein solcher Anfangsverdacht besteht, muss bis zu einer wünschenswerten Regelung durch den Gesetzgeber auf das Gewohnheitsrecht zurückgegriffen werden. Erlaubt sind dabei nur Erkundigungen auf niedrigstem Eingriffsniveau. Alle darüber hinausgehenden Maßnahmen sind nur im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens zulässig.
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Rainer Hamm
Rechtsgespräch oder Urteilsabsprachen? – Der Deal erreicht die Revision –
Inhaltsübersicht I. Kleine Geschichte des Rechtsgesprächs II. Die Praxis der Urteilsabsprachen
IV. Die neue Gesetzeslage V. Deal in der Revision VI. Ausblick
III. Revision und Rechtsgespräch
I. Kleine Geschichte des Rechtsgesprächs Zu der Zeit, als der verehrte Jubilar seinen Referendardienst leistete, waren die StPO und die Strafprozesswirklichkeit noch ganz anders als heute. Der Bundesgerichtshof war noch für Hauptverhandlungen in erster Instanz zuständig, die Schwurgerichte waren noch mit drei Berufsrichtern und sechs Schöffen besetzt, zwischen dem Abschluss des Ermittlungsverfahrens und der Eröffnung des Hauptverfahrens gab es noch die gerichtliche Voruntersuchung. Eine Praxisliteratur für die Strafverteidigung gab es – von einzelnen Beiträgen in der NJW abgesehen – noch nicht. In den Gesetzeskommentaren zur StPO wäre damals kein Autor auf den Gedanken gekommen, etwas über „Urteilsabsprachen“ zu schreiben. Die Kommunikation zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten war zu Beginn der 60er Jahre noch streng formalisiert. Dabei bestand weitgehend Einigkeit darüber, wie und worüber nicht gesprochen werden durfte. Die positiven Kommunikationsinhalte im prozessordnungsgeregelten Verfahren waren durch die jeweiligen rollenspezifischen Mitteilungspflichten, Antrags- Fragerechte und Entscheidungsbefugnisse diktiert. Darüber hinaus gab es in Literatur und Rechtsprechung durchaus auch schon eine Diskussion darüber, wieweit die aus dem Verfassungsgebot des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) folgenden Erörterungspflichten gehen, und ob die Gerichte ihre jeweiligen Meinungen und Entscheidungstendenzen einschließlich ihrer Bewertungen von Rechts- und Beweisfragen während der Hauptverhandlung offen zur Diskussion stellen müssen. Adolf Arndt hatte 1959 die Auffassung vertreten, das Grundrecht auf rechtliches Gehör erschöpfe sich nicht in dem Anspruch darauf, dass die in gerichtlichen Entscheidungen verwerteten Tatsachen zuvor bekannt gegeben werden, damit Gelegenheit bestehe, dazu noch vor der Entscheidung Stellung zu nehmen; vielmehr er267
Rainer Hamm
wachse aus Art. 103 Abs. 1 GG die prinzipielle Aufgabe der Gerichte, mit den Beteiligten Rechtsgespräche zu führen1. Während die Justizpraxis und die überwiegende Auffassung im Schrifttum dieses Postulat als zu weitgehend ablehnten, machte der BGH im Jahre 1960 aus Anlass einer aus heutiger Sicht etwas absonderlich wirkenden Fallkonstellation2 eine die Hinweispflicht erfreulich weitgehend bejahende Andeutung, die wie ein Initialzünder für das literarische Werk des damaligen Referendars Hans Dahs gewirkt haben muss. Sein Interesse an der Entscheidung führte nicht nur zu seinem allerersten fachpublizierten Aufsatz3, sondern auch zu seiner Doktorarbeit über das gleiche (etwas weiter gefasste) Thema4. In beiden Arbeiten zeigte Dahs eine starke Sympathie für die Forderung von Adolf Arndt nach einer an Art. 103 Abs. 1 GG anknüpfenden Pflicht zum Rechtsgespräch, ohne freilich sich und seinen Lesern Illusionen darüber zu machen, woran die Durchsetzung letztlich scheitern wird: An der Unfähigkeit der meisten Diskussionsteilnehmer, „das Problem der praktischen Durchführbarkeit des Verfassungsbefehls scharf … von der zuerst zu entscheidenden Frage (zu trennen), ob Sinn und Zweck des Art. 103 Abs. 1 GG ein Rechtsgespräch grundsätzlich erfordern“5. Letzteres bejahte der Autor schon in seinem Erstlingsaufsatz mit Augenmaß für die praktischen Grenzen, aber mit dem durchaus schon Weichen stellenden verfassungsrechtlichen Hinweis auf die Subjektstellung des Beschuldigten und den Fairtrial-Grundsatz6. Aus heutiger Sicht lässt sich die Frage stellen, ob uns vielleicht die gesamte Fehlentwicklung mit dem Auseinanderdriften zweier nebeneinander existierender Prozesstypen (der gesetzlich geleitete Strafrechtsstreit und das informelle Dealverfahren) erspart geblieben wäre, wenn die Strafprozesswissenschaft und die Rechtsprechung diesen Gedanken aufgegriffen und in eine Kultur des offenen Rechtsgesprächs weiterentwickelt hätten. Um diesen Zusammenhang zu plausibilisieren, ist es hilfreich, die Anfänge und die Entwicklungsgeschichte des Abspracheverfahrens an weiteren Veröffentlichungen des Jubilars zu spiegeln. Das erste gezielt an Strafverteidiger gerichtete Handbuch kam 1969 aus der Feder seines Vaters Hans Dahs in erster Auflage heraus und enthielt unter der Überschrift „Verteidiger, Richter und Staatsanwalt“ einige aus vier Absätzen bestehende Ausführungen zu „vielerlei Formen eines Gentlemen’s
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Adolf Arndt NJW 1959, 6 ff.; und vertiefend NJW 1959, 1297 ff. Es ging um ein Verfahren gegen einen Strafverteidiger, der sich zur Entlastung seines Mandanten selbst als Zeuge angeboten hatte, nachdem die Strafkammer die Ergebnisse einer gerichtlichen Voruntersuchung zu Lasten seines Mandanten gegen den Antrag der StA gewertet hatte. BGH NJW 1960, 2106. Hans Dahs, Rechtsgespräch im Strafverfahren?, NJW 1961, 1244. Hans Dahs, Das rechtliche Gehör im Strafprozess, München 1965. A. a. O (1965) S. 25 f. NJW 1961, 1245 f.
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Rechtsgespräch oder Urteilsabsprachen?
Agreement zwischen Richtern, Staatsanwälten und vertrauenswürdigen Verteidigern“. Darin finden wir die beiden folgenden Sätze: „Es kommt sogar vor, dass Gericht, Staatsanwalt und Verteidiger über Schuld und Strafausspruch oder Ausscheiden von Anklagepunkten und dgl. im Voraus verhandeln. Das ist etwas außerhalb der Legalität, aber praktisch.“7 Nach dem Tode des Erstautors strich der neue Bearbeiter des Handbuchs den Hinweis auf die „praktische Illegalität“ und ersetzte ihn durch eine etwas ausführlichere, gleichwohl aber eher beiläufige Bemerkung zu den Gründen für die damals schon zunehmende Tendenz zu solchen Verhandlungen. Dahs hatte nämlich erkannt, dass die inzwischen offenbar wachsende Zahl derartiger „Agreements“ mit dem Sanktionssystem des materiellen Rechts und der 1974 neu eingeführten prozessualen Sanktionsmöglichkeit nach § 153a StPO zusammenhing. Das Verdikt der Illegalität hatte sich weitgehend durch das Entgegenkommen des Gesetzgebers selbst entschärft. Nun las sich die betreffende Passage so: „Es kommt sogar vor, dass Gericht, Staatsanwalt und Verteidiger über Schuld und Strafausspruch oder Ausscheiden von Anklagepunkten und dgl. im Voraus verhandeln, wozu das neue Strafrecht und Strafprozessrecht mit dem breit gefächerten Katalog von Sanktionen und den diversen Modalitäten der Einstellung des Verfahrens sowie der Beschränkung des Verfahrensstoffs besondere Möglichkeiten bieten.“8 Aber immer noch war hier nur von „verhandeln“ und nicht von vertragsähnlichen Einigungen die Rede. Immer noch lag nämlich die heutige Praxis der Urteilsabsprachen weit außerhalb der Vorstellungskraft der Strafjuristen in den 70er Jahren. Dies zeigt auch der Umstand, dass sich Hans Dahs noch im Jahre 1977 in seinem Beitrag für die Schmidt-Leichner-Festschrift mit der Unsitte des „herausgefragten“ Rechtsmittelverzichts befasste, ohne dass die damalige Praxis einen Anlass gab, sich mit der später sehr viel brisanteren Frage des „ausgehandelten“ Rechtsmittelverzichts zu befassen9. Hätte sich damals schon ein fantasiebegabter Lehrbuchautor einen Fall ausgedacht, wie er kürzlich vom BGH entschieden werden musste10, und der vom missglückten Versuch eines Strafkammervorsitzenden handelt, einen bestreitenden Angeklagten mit der Verlockung einer Strafmilderung im Falle eines Geständnisses und der unverhohlenen Drohung mit U-Haft bei Aufrechterhaltung eines Beweisantrages in einen Deal zu nötigen, so wäre das vermutlich als theoretischer Modellfall und Beispiel für eine Rechtsbeugung und Aussageerpressung materiellrechtlich behandelt worden. Der Verstoß gegen § 136a StPO hätte sich aus damaliger Sicht so sehr von selbst verstanden, dass sich einem StPO-Kommentator vermutlich die Feder gesträubt
__________ 7 Hans Dahs sen., Handbuch des Strafverteidigers, 1. bis 3. Aufl., Rz. 105. 8 Hans Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 5. Aufl. Rz. 136. 9 Hans Dahs, Zur Rechtswirksamkeit des nach der Urteilsverkündung „herausgefragten“ Rechtsmittelverzichts, in: Festschrift für Schmidt-Leichner, 1977, 17 ff. 10 BGH 4 StR 84/04, Urt. v. 16. 9. 2004, StV 2004, 636.
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hätte, wenn er die Problematik am Beispiel eines Vorsitzenden Richters in der Hauptverhandlung hätte behandeln sollen11.
II. Die Praxis der Urteilsabsprachen Hätten sich zu Beginn der 60er Jahre Adolf Arndt und Hans Dahs mit der Idee durchgesetzt, Rechtsgespräche in jeder Lage des Verfahrens als verfassungsrechtlich gestützten und revisionsrechtlich überprüfbaren Standard anzuerkennen, wäre die Rechtswirklichkeit sicherlich in zwei Wirkungszusammenhängen anders verlaufen als geschehen: 1. Das Recht der Richterablehnung hätte sich an dem Grundsatz orientieren müssen, dass die von Verfassungs wegen notwendigen Rechtsgespräche nur dann ihren Zweck erfüllen können, wenn sie auch eine sachliche Prognose des Verfahrensergebnisses durch das Gericht einschließen dürfen. Das hätte sich nicht nur auf das Ablehnungsverhalten der Verfahrensbeteiligten, sondern auch auf die präventive Ablehnungsvermeidung der Richter ausgewirkt. Der von den 70er Jahren an bei einigen Verteidigern verbreiteten Methode, jeden noch so vorsichtigen Versuch des Gerichts, in ein Rechtsgespräch einzutreten, zum Anlass für eine Ablehnung zu nehmen, korrespondierte vielfach eine Bunkermentalität der Richter, die sich mit „Pokerface“ die Einlassungen der Angeklagten, die Aussagen der Zeugen und die Ausführungen des Staatsanwalts und des Verteidigers in den Schlussvorträgen anhörten und erst im Urteil verrieten, was sie von all dem hielten12. Wären alle Beteiligten zu Rechtsgesprächen verpflichtet, hätten sich diese Grabenkriege vermeiden lassen. 2. Es hätten sich die neuen gesetzlich vorgesehenen kommunikativen Erledigungsformen (Ausweitung des Strafbefehlverfahrens bis in die Hauptverhandlung hinein, § 408a StPO, Verfahrenseinstellung gegen sanktionsgleiche Auflagen, § 153a Abs. 2 StPO) in das institutionalisierte und deshalb offene Rechtsgespräch einfügen lassen, ohne dass dabei die jeweiligen Einschätzungen der Beweislage und der konkreten Mindest- und Höchststrafen hätten ausgespart oder in Geheimverhandlungen abgedrängt werden müssen. Diesen Zusammenhang griff z. B. im Jahre 1987 Jürgen Baumann auf, indem er vorschlug, im Wege der Ergänzung des § 265 StPO eine Pflicht zum Rechtsgespräch einzuführen, und zwar ausdrücklich mit dem Ziel, den Komplex
__________ 11 LR-Sarstedt, 21. Aufl. § 136 a StPO Anm. 4k behandelt 1963 die Verknüpfung zwischen U-Haft-Vollzug und Geständnisbereitschaft noch unter dem Aspekt, ob das Tatgericht bei der Behauptung des Angeklagten, die Polizei habe ihm in dieser Weise mitgespielt, „in dubio pro reo“ anwenden müsse, was der Kommentator verneint mit dem Zusatz: „immerhin kommt dergleichen vor“. 12 Dagegen Dahs, Handbuch, 6. Aufl. Rz. 162; vgl. auch Hamm, Festschr. für Karl Peters 1984, S. 169 ff.
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der Absprachen „von der Grauzone zur rechtsstaatlichen Regelung hin aufzulösen“13. Statt dessen winden sich heute die Kommentatoren und Lehrbuchautoren um die stets mehr oder weniger deutlich zugestandene Unvereinbarkeit der verbreiteten Praxis der Urteilsabsprachen mit den eigentlich immer noch geltenden Verfahrensprinzipien und Prozessmaximen auf der einen Seite und um die normative Kraft des Faktischen bei der Handhabung der aus dem Prozessleben nicht mehr wegzudenkenden Deals14. Die Literatur zu dem Thema ist umfangreich15, um nicht zu sagen: unübersehbar. Ein Juristentag hatte es zum alleinigen Gegenstand der Beratungen in der strafrechtlichen Abteilung gemacht16, andere mussten es incidenter als Vorfrage zu den gestellten Themen behandeln17. Die revisionsrichterliche Rechtsprechung nahm sich des Themas zunächst nur zögernd an, was auch an der kleinen Zahl der zum BGH gekommenen Fälle gelegen haben dürfte. Die späteren Versuche der Strafsenate des BGH, den formellen Strafprozess und den informellen wieder zu vereinigen, scheiterten und werden auch weiterhin scheitern, weil erstens der BGH nicht bereit ist, sich auch mit der Fair-trial-Dimension der nicht zustande gekommenen „Deals“ zu befassen18 und weil zweitens die zustande gekommenen Urteilsabsprachen im Regelfall gerade auf der Vereinbarung basieren, dass das Revisionsgericht tunlichst „herauszuhalten“ sei. Dass ein solcher Vertragsbestandteil nach der bekannten Leitentscheidung des 4. Strafsenats19 unzulässig ist, wird von der Praxis durchweg ignoriert oder mit Scheinmanövern ebenso umgangen wie das Verbot, „punktgenaue“ Strafen zu vereinbaren. Ob dies durch den jetzt vom Großen Senat entschiedenden Streit der Strafsenate über die Rechtsfolgen der Verletzung des Verbotes des vereinbarten Rechtsmittelverzichts20 eher be- oder widerlegt werden wird, muss abgewartet werden. Wie sehr auf diese Weise eine inzwischen schon in der Deutschen Richterzeitung beklagte „Kluft zwischen den Strafsenaten des BGH und den Tatgerichten“ entstanden ist, zeigt das jetzt vorgeschlagene „Modell einer außer-
__________ 13 14 15 16 17 18 19 20
Baumann NStZ 1987, 157 ff. Vgl. z. B. Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl., Einl. Rz. 119, 119a ff. Nachw. bei Meyer-Goßner, a. a. O. 58. DJT 1990 in München. Gutachter Schünemann, Referenten Böttcher, Widmaier und G. Schäfer. Z. B. der 65. DJT 2004 in Bonn zur Thematik der Reform des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens. Eine Gelegenheit dazu hätte im Falle BGH 1 StR 420/03 – Urt. v. 16. 12. 2004, NJW 2005, 445 ff., bestanden. BGHSt 43, 195 Anmerkungen: Rönnau, Thomas, wistra 1998, 49; Kintzi, Heinrich, JR 1998, 249; Satzger, Helmut, JA 1998, 98; Lemke, Michael, NJ 1998, 42; Weigend, Thomas NStZ 1999, 57. BGH GSSt 1/04 v. 3. 3. 2005, NJW 2005, 1440.
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halb der Hauptverhandlung vorbereiteten Verständigung“21. Und es ist durchaus kennzeichnend für die derzeitige Situation, mit welcher geradezu Schwindel erregenden Bedenkenlosigkeit dabei ein Regelwerk außerhalb jeglicher normativen Bezugspunkte vorgestellt wird, in dem die Geständnisbereitschaft des (nicht notwendig von Anfang an beteiligten) bisher bestreitenden Angeklagten wie eine beliebig von den „professionellen Akteuren“ einsetzbare Verhandlungsmasse nur noch formal unter den „Vorbehalt der Zustimmung des Angeklagten bzw. der Konsultation der Laienrichter stehen“22 soll. Parallel zu diesen Vorschlägen, die in der Praxis eingerissene Normalität zur untergesetzlichen Norm werden zu lassen, wird neuerdings der Ruf nach dem Gesetzgeber und einer Anpassung der StPO an die Praxis lauter22a , ohne dass freilich schon jemand einen konsistenten Vorschlag gemacht hätte, was eigentlich der Regelungsgegenstand sein könnte. Nachdem man sich weitgehend darüber einig ist, dass die Praxis nicht mehr der Rechtslage anzunähern ist, müsste die gesetzliche Aufweichung der Verfahrensgrundsätze in der StPO legalisiert werden, was aber bedeuten würde, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Derzeit befindet sich ein Gesetzentwurf in der Diskussion, der den Versuch unternimmt, durch vorsichtiges Ermuntern der Strafgerichte zu mehr Offenheit bei der Bekanntgabe vorläufiger Bewertungen und Ergebnisprognosen bei gleichzeitiger Einführung eines gesetzlichen Verbots zum vorab vereinbarten Rechtsmittelverzicht das Dealverfahren legislatorisch einzufangen23. Er enthält aber auch nur Selbstverständlichkeiten, soweit er dem Gericht erlaubt, in der Hauptverhandlung den Stand des Verfahrens mit den Beteiligten zu erörtern und dabei auch Strafzumessungserwägungen und eine Strafobergrenze anzugeben. Bis dahin hätte er mit dem Thema der praktizierten Absprachen nur so viel zu tun, dass der die Täterschaft und/oder Schuld bestreitende Angeklagte dies in durchaus bedenklicher Weise zum Anlass nehmen kann, sich der „Strafobergrenze“ zu unterwerfen, ohne wirklich die
__________ 21 Altenhain/Haimerl, Vom Vorgespräch zur Urteilsabsprache DRiZ 2005, 56 ff. 22 DRiZ 2005, 59. 22a So jetzt sogar der Große Senat für Strafsachen des BGH, NJW 2005, 1440 (1447), der an den Gesetzgeber „appelliert“, Urteilsabsprachen (wie?) zu regeln. 23 Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens der SPD-Fraktion, der Fraktion der Grünen im Deutschen Bundestag und des BMJ. Danach soll § 257b StPO folgenden Wortlaut erhalten: „§ 257b (1) In geeigneten Fällen kann das Gericht in der Hauptverhandlung den Stand des Verfahrens mit den Beteiligten erörtern. (2) Diese Erörterung kann sich auf die vorläufige Beurteilung des Verfahrensergebnisses erstrecken. Das Gericht kann dabei im Einverständnis des Angeklagten unter freier Würdigung aller Umstände des Falles sowie der allgemeinen Strafzumessungserwägungen eine Strafobergrenze angeben, die unter dem Vorbehalt einer Bewertungsänderung im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung steht. Der Angeklagte ist auf eine Veränderung der Bewertung hinzuweisen. Ein Rechtsmittelverzicht des Angeklagten darf nicht Gegenstand einer Verständigung sein.“
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Richtigkeit des Schuldspruchs zu akzeptieren. Der letzte Satz, wonach ein Rechtsmittelverzicht „nicht Gegenstand einer Verständigung“ sein dürfe (was nach dem Entwurf noch durch eine entsprechende Unwirksamkeitsbestimmung in § 302 StPO flankiert werden soll), würde vermutlich auch künftig umgangen werden.
III. Revision und Rechtsgespräch Der Teil der Strafjustizwelt, in dem das Rechtsgespräch schon immer zu Hause war, ist die Hauptverhandlung im Revisionsrechtszug. In der Revisionsinstanz gab es dafür weder Deals noch Richterablehnungen. Kaum jemals sind Fälle bekannt geworden, in denen ein Revisionsrichter einmal deshalb abgelehnt worden wäre, weil er während der Hauptverhandlung zu erkennen gegeben hat, in welche Richtung er denkt und welcher Entscheidung er zuneigt24. Er darf auch den Staatsanwalt oder Verteidiger bei seinem Plädoyer unterbrechen, ihm entgegenhalten, in welcher Hinsicht er anderer Meinung ist, und weshalb er das soeben Gesagte richtig oder falsch findet. Und in unseren Büchern über das Revisionsverfahren empfehlen wir den Verteidigern, die das noch nicht allzu häufig mitgemacht haben, davor nicht erschrocken zurückzuweichen, sondern dies als Einladung zum Rechtsgespräch, ja sogar als Chance zur Mitwirkung an der Beratung des Senats zu verstehen25. Nun ist das freilich in einer Instanz, die per definitionem sich auf die Behandlung von Rechtsfragen zu beschränken hat, leichter als beim Tatgericht, wo noch die Schlachten um „die Wahrheit“ geschlagen werden. Aber es ist immerhin doch auffällig, dass im Zuge der Erweiterung des revisionsgerichtlichen Prüfungsstoffs in Richtung auf die Beweiswürdigung und die Strafzumessung in den letzten Jahrzehnten sich weder etwas an der Offenheit der Rechtsgespräche in der Hauptverhandlung noch etwas an der durchgehend praktizierten Regel geändert hat, dass die Entscheidung über den Erfolg der Revision allein dem Gericht obliegt und der Disposition der Verfahrensbeteiligten entzogen ist. Als Grundlage dieser Tabuisierung informeller Erledigungsmuster in der Revisionsinstanz konnte bis vor kurzer Zeit die Regel gelten, dass jede Ausweitung des Prüfungsstoffs der reinen Rechtsinstanz in Richtung auf die Begründungsanforderungen tatrichterlicher Beweiswürdigung und Strafzumessung vor einer Grenze halt gemacht hat: Das Revisionsgericht durfte keine eigene Beweiswürdigung und keine eigene Strafzumessung vornehmen. Ersteres gilt nach wie vor, auch wenn seit einiger Zeit zu beobachten ist, dass über die Beruhensfrage sich zunehmend eine Art hypothetischer Kausalitätsprüfung einschleicht. Indem das Revisionsgericht in einem Einzelfall
__________ 24 Ausnahme im Fall Mielke BGHSt 40, 168. 25 Dahs/Dahs, Die Revision im Strafprozess, 6. Aufl. Rz. 568; Sarstedt/Hamm, Die Revision im Strafverfahren, 6. Aufl. Rz. 1280.
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ausspricht, dass das Tatgericht mutmaßlich zu keiner anderen Überzeugung gelangt wäre, wenn es den (nachgewiesenen) Rechtsfehler nicht begangen hätte, kann es sich in gefährliche Nähe zu einer eigenen Beweiswürdigung begeben. Aber solange der Gesetzgeber den Revisionsgerichten nicht ausdrücklich erlaubt, durch Beschluss oder Urteil den vom Tatgericht festgestellten Sachverhalt durch einen eigenen zu ersetzen, wird auch keine Praxis entstehen, bei der Staatsanwaltschaft, Revisionsgericht und Verteidigung einen solchen Ersatzsachverhalt aushandeln.
IV. Die neue Gesetzeslage Bei der Strafzumessung ist das anders. Hier hat der Gesetzgeber am 1. 9. 2004 die Tür zur eigenen Zumessung durch das Revisionsgericht weit aufgestoßen26. Nach § 354 Abs. 1 Nr. 1a StPO darf das Revisionsgericht in Fällen einer „Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen“ von der Urteilsaufhebung absehen, „sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist“ (Satz 1), und auf einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft darf es sogar selbst die Rechtsfolgen „angemessen herabsetzen“ (Satz 2). Die Neuregelung des § 354 Abs. 1 Nr. 1a Satz 1 StPO legalisiert eine langjährige Praxis, die unter dem Aspekt des gesetzlichen Richters zu einer Kontroverse zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Strafsenaten des Bundesgerichtshofs geführt hatte. Parallel zu der Beruhensfrage der Beweiswürdigung bei der Strafzumessung hatte der BGH stets dann von einer Aufhebung und Zurückverweisung abgesehen, wenn das angefochtene Urteil zwar hinsichtlich einzelner Einsatzstrafen unter Rechtsfehlern litt, jedoch die Aufhebung der Einzelstrafen gegenüber der Summe der übrigen Einzelstrafen so wenig ins Gewicht fiel, dass jedenfalls bei einem großen Abstand zu der verhängten Gesamtstrafe es aus der Sicht des Revisionsgerichts ausgeschlossen erschien, dass der Tatrichter zu einer geringeren Gesamtstrafe gekommen wäre, wenn er erkannt hätte, dass er die fehlerbehaftete Einzelstrafe nicht berücksichtigen durfte. Diese Praxis verwarf das Bundesverfassungsgericht durch Beschluss vom 7. 1. 200427 als verfassungswidrig, weil sie letztlich auf eine Strafzumessung durch das Revisionsgericht hinauslaufe, das aber insoweit nicht gesetzlicher Richter ist. Nachdem der BGH in einigen Entscheidungen danach seinen Unmut über diesen harten Vorwurf des BVerfG angedeutet hatte28, schob es
__________ 26 1. JuMOG v. 24. 8. 2004 (BGBl. I S. 2198), in Kraft getreten am 1. 9. 2004. 27 BVerfG NJW 2004, 1790 = StraFo 2004, 131 mit Anm. Junker. 28 Vgl. z. B. BGH 2 StR 366/03 v. 6. 2. 2004: „Angesichts der weiteren erheblichen Einzelstrafen hatte der Senat aus prozessökonomischen Erwägungen die Einstellung des Verfahrens hinsichtlich dieses Falls nach § 154 Abs. 2 StPO unter Aufrechterhaltung der Gesamtstrafe erwogen, sieht sich daran aber durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. 1. 2004 – 2 BvR 1704/01 – gehindert.“
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kurz darauf eine gewisse Relativierung nach29, aber die Problematik war damit in der Diskussion. Dies rief nun den Gesetzgeber auf den Plan, der den Streit hätte dadurch schlichten können, dass er etwa eine an § 154 StPO angelehnte Formel gefunden hätte, die in den Fällen die Rechtsprechungspraxis sanktionierte, in denen der von einem Rechtsfehler betroffene Aspekt der Strafzumessung gegenüber der Gesamtstrafenbildung durch das Tatgericht nicht „ins Gewicht fällt“. Ohne dass dies im Gesetzgebungsverfahren hinreichend erörtert oder vorbereitend fachöffentlich diskutiert worden wäre, ging der Gesetzgeber aber sehr viel weiter und erlaubte nunmehr in § 354 Abs. 1 Nr. 1a StPO dem Revisionsgericht nicht nur, es trotz Wegfalls von Einzelstrafen bei der Strafzumessung des Tatrichters zu belassen, sondern weit darüber hinaus, dass das Revisionsgericht selbst die Strafe „angemessen“ herabsetzt, wenn diese Art von Strafzumessung im Einklang mit der dies beantragenden Staatsanwaltschaft erfolgt. Dabei griff man einen auf dem 63. DJT im Jahre 2000 von G. Schäfer und G. Widmaier gemachten Vorschlag30 auf und erlaubte kurzerhand die Festsetzung der Strafe durch ein Gericht, das im Regelfall keinerlei Gelegenheit hatte, den davon betroffenen Angeklagten auch nur zu Gesicht zu bekommen.
V. Deal in der Revision Dabei hätte man voraussehen können, dass dieser Schritt den Einzug der Absprachepraxis in die Revisionsinstanz bedeuten musste. Wenn nämlich das auf reine Rechtsfragen beschränkte Gericht mit seiner strengen Bindung an die von einem anderen Gericht erhobenen Tatsachen nun auf einmal selbst in die Lage versetzt wird, die Angemessenheit eines Rechtsfolgenausspruchs mit Hilfe der Staatsanwaltschaft festzulegen, so liegt es nahe, dass das Maß der Herabsetzung der Strafe und die Frage nach der Beseitigung des Hinderungsgrundes (nicht aussichtslose Anfechtung auch des Schuldspruchs) zur Verhandlungsmasse werden. Kaum war diese Vorschrift in Kraft, musste der Verfasser dieser Zeilen sich mit einem „Angebot“ einer Revisionsstaatsanwaltschaft befassen: Herabsetzung einer Freiheitsstrafe von drei Jahren auf zwei Jahre, ausgesetzt zur Bewährung, Zug um Zug gegen die Beschränkung der bis dahin durchaus auch gegen den Schuldspruch (Frage der Täterschaft des Angeklagten) geführten Revision auf den Strafausspruch.
__________ 29 BVerfG, Beschl. v. 1. 3. 2004 – 2 BvR 2251/03. 30 Diskussionsbeitrag G. Schäfer und Beschlussantrag Widmaier, sowie Beschluss der großen Mehrheit der strafrechtlichen Abteilung in: Verhandlungen des 63. DJT 2000, Sitzungsberichte II 2 S. M 137 f., 205, 215; dagegen Meyer-Goßner M 139.
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Der Fall hatte eine lange und wechselvolle Vorgeschichte, die auch fachöffentlich beachtet worden war. Das Landgericht Ingolstadt hatte einen die Tat heftig bestreitenden Angeklagten in der Berufungsinstanz anstelle der vom Amtsgericht verhängten Freiheitsstrafe von 2 ½ Jahren zu einer solchen von 3½ Jahren verurteilt. Dagegen hatte der Angeklagte Revision eingelegt und mehrere Verfahrensfehler sowie eine zirkuläre und deshalb rechtsfehlerhafte Argumentation in der Beweiswürdigung des Berufungsgerichts gerügt. Die Revision wurde vom Bayerischen Obersten Landesgericht in seiner damaligen Besetzung als offensichtlich unbegründet verworfen. Hiergegen erhob der Verurteilte Verfassungsbeschwerde. Sie führte zu der viel beachteten Entscheidung der 2. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts31, das den Verwerfungsbeschlusses des BayObLG u. a. mit der Begründung aufhob: „Die Würdigung des Zirkelschlusses, der den zentralen Punkt der Beweiswürdigung betraf, mit einem erneuten Zirkelschluss und dahingehend, es handele sich nur um eine nicht tragende Erwägung, ist sachwidrig und damit objektiv willkürlich.“ Dasselbe gelte für die durch eine ordnungsgemäß erhobene Verfahrensrüge beanstandeten, aber vom Revisionsgericht nicht erkannten Aufklärungsmängel. Die Sache wurde an das Revisionsgericht zurückverwiesen, dem nun seinerseits nichts anderes übrig blieb als die Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung an das Landgericht. Da es um ein Sexualdelikt ging, bei dem zur Frage der Täterschaft des Angeklagten bzw. der Verwechslung mit seinem ihm ähnlich sehenden und eines gleichartigen Delikt überführten Bruder Aussage (des Tatopfers) gegen Aussage (des bestreitenden Angeklagten) stand, blieb nun der Nebenklägerin eine dritte Konfrontation mit dem inzwischen fast 4 Jahre zurückliegenden Geschehen nicht erspart. Die kleine Strafkammer, vor der nun zum dritten Mal eine Hauptverhandlung mit ausführlicherer Beweisaufnahme stattfand, zeigte wenig Neigung, in der Kritik des Bundesverfassungsgerichts mehr als nur einen Appell zu sehen, das nächste Mal zu dem gleichen Ergebnis ohne Verletzung der Aufklärungspflicht und mit ausführlicherer Begründung ohne Zirkelschluss zu kommen. Der erneute Schuldspruch basierte wiederum auf der Annahme, die glaubwürdige Belastungszeugin und Nebenklägerin habe den Angeklagten irrtumsfrei und zuverlässig als Täter identifiziert. Sie habe sich offenbar das Gesicht und das sonstige Aussehen des Angeklagten während der Tat so genau eingeprägt, dass sie ihn auch nach wiederholten Konfrontationen und nun auch im Vergleich mit seinem ihr ebenfalls gegenüber gestellten Bruder eindeutig wieder erkannt habe. Die Freiheitsstrafe wurde dieses Mal auf drei Jahre und die der Nebenklägerin zugesprochene Adhäsionssumme auf 6000 Euro festgesetzt.
__________ 31 BVerfG, Beschl. v. 30. 4. 2003 – 2 BvR 2045/02 NJW 2003, 2444; dazu Besprechungsaufsatz G. Herdegen, NJW 2003, 3513.
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Die Begründung und das Verfahren gaben aber erneut genügend Ansatzpunkte für Verfahrensrügen32 und Beanstandungen der die Feststellungen zum Schuldspruch tragenden Erwägungen. Nach dem Eingang der Revisionsbegründungsschrift vom 19. 1. 2004 benötigte die Staatsanwaltschaft den für bayrische Verhältnisse ungewöhnlich langen Zeitraum von nahezu 9 Monaten, um auch dieses Mal wieder einen Antrag nach § 349 Abs. 2 StPO zu stellen und ihn auch verhältnismäßig ausführlich zu begründen. Einen Monat nach dem Eingang der Gegenerklärung gemäß § 349 Abs. 3 Satz 2 StPO beim Senat meldete sich am 27. 10. 2004 der Sachbearbeiter der Generalstaatsanwaltschaft beim Verteidiger und machte unter Hinweis auf die am 1. 9. 2004 in Kraft getretene Neuregelung des § 354 Abs. 1 StPO den Vorschlag, wie folgt zu verfahren: –
Beschränkung der Revision auf den Rechtsfolgenausspruch mit einer Erklärung, dass es dabei dem Angeklagten (zumindest auch) darum gehe, dem Tatopfer die erneute Hauptverhandlung im Falle einer Zurückverweisung zu ersparen. Gleichzeitig sollte ein Entschädigungsbetrag in Höhe von 2500 Euro angeboten werden.
–
Antrag der Staatsanwaltschaft an den Senat, die Strafe auf 2 Jahre herabzusetzen und sie ohne Zahlungsauflagen zur Bewährung auszusetzen.
–
Mitteilung an den Nebenklägervertreter und Anfrage, ob zwischenzeitlich eine Einigung über die Entschädigung erzielt und ob bereits die Zahlung erfolgt sei.
–
Antragsgemäße Entscheidung durch den Senat.
Die daraufhin notwendig gewordene Beratung des Mandanten gehörte zu den schwierigsten Aufgaben, die man sich als Verteidiger vorstellen kann: Einerseits bestreitet er nach wie vor, die ihm angelastete Tat begangen zu haben. Andererseits ist nach dem Verlauf des Verfahrens nur schwer vorstellbar, dass am Ende einer vierten tatrichterlichen Hauptverhandlung ein drittes Berufungsgericht der sich in ihrer vermeintlichen Wiedererkennungssicherheit immer mehr verfestigenden Belastungszeugin nicht glauben werde. Und
__________ 32 Die Kammer hatte beispielsweise den Bruder des Angeklagten dieses Mal in Augenschein genommen und als Zeugen geladen, sich dann aber geweigert, ihn auch nach § 55 StPO zu belehren und die (im Urteil dokumentierte!) Erklärung seines anwaltlichen Beistandes, die Auskunftsverweigerung beruhe auf § 55 StPO, ignoriert, so dass seine früheren Aussagen nicht in die Hauptverhandlung eingeführt wurden, obwohl § 252 StPO nur dann ein Beweiserhebungs- und Verwertungsverbot begründet, wenn sich der Zeuge auf § 52 StPO beruft. Nach Lektüre der Revisionsbegründung verfasste der Vorsitzende eine ausführliche dienstliche Erklärung, in der er offenbarte, dass das Absehen von einer Beweiserhebung über die früheren Aussagen des (konkret als Alternativtäter verdächtigen) Zeugen auf intensiven Beratungen über die Frage beruhte, ob ggflls. sich die Inhalte der polizeilichen Vernehmungsprotokolle zum Vorteil oder Nachteil des Angeklagten auswirken würden, ohne dass dies zur Gewährung von rechtlichem Gehör in der Hauptverhandlung erörtert worden wäre.
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dann gibt es auch noch die Besonderheit, dass nach Lage der Dinge nur der eigene Bruder des Angeklagten als Alternativtäter in Betracht kommt, der diese Tat ebenfalls bestreitet, aber für eine bis in die Details der Tatausführung gleichartige Tat aufgrund eines Geständnisses zu ebenfalls 2 Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt wurde und möglicherweise schon deshalb kein seinen Bruder entlastendes Geständnis ablegen kann, weil dann der Bewährungswiderruf sicher wäre. Es wurde sodann nach Abwägung aller Chancen und Risiken mit folgenden beiden Abweichungen so verfahren, wie es der Oberstaatsanwalt vorgeschlagen hatte: 1. Die Beschränkung der Revision auf den Rechtsfolgenausspruch erfolgte mit der ausdrücklichen Erklärung, dass es dabei dem Angeklagten (nur) darauf ankomme, „nicht nur sich und seiner Familie, sondern auch der Zeugin und Nebenklägerin die Belastung einer erneuten tatrichterlichen Hauptverhandlung im Falle einer erneuten Zurückverweisung zu ersparen“. 2. Größten Wert legten wir auch darauf, dass das Angebot auf Zahlung eines Geldbetrages von 2.500 Euro nicht etwa von dem Angeklagten, sondern von seiner Familie mit der Zwecksetzung an die Nebenklägerin gerichtet wurde, „ihr über alle Streitfragen des bisherigen Verfahrens hinweg eine finanzielle Genugtuung zu verschaffen“. Das Bayerische Oberste Landesgericht fasste sodann am 25. 1. 2005 (5 St RR 258/04) einen Beschluss mit dem Tenor: „Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 3. 11. 2003 im Rechtsfolgenausspruch dahin abgeändert, dass der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt wird, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. … (Kosten und Auslagen) Von einer Entscheidung im Adhäsionsverfahren wird abgesehen.“ In der Begründung wird ausgeführt, die Strafzumessung des Berufungsurteils sei rechtsfehlerhaft, weil strafschärfend berücksichtigt wurde, dass der Angeklagte, der sein Opfer nicht kannte, damit habe rechnen müssen, dass es weniger psychisch stabil ist als der Durchschnitt der weiblichen Bevölkerung, ohne dass in den Urteilsgründen belegt sei, woraus die Kammer diese Vorhersehbarkeit hergeleitet habe. Die Zahlung der Familie des Angeklagten an die Nebenklägerin wertet der Senat als Täter-Opfer-Ausgleich und die Beschränkung der Revision als „Geständnis“.
VI. Ausblick Diese Entscheidung als fehlerhaft oder gar als bewusste Inkaufnahme eines Fehlurteils zu kritisieren, steht einem Verteidiger, der sich auf den Handel 278
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(wenn auch schweren Herzens) mit eingelassen hat, nicht an. Andererseits wird keiner der Beteiligten des Verfahrens bestreiten, dass es sich hier um ein eklatantes Beispiel dafür handelt, wie schnell nach der Änderung des § 354 StPO die bisher auf die Tatgerichte beschränkte Welle der Urteilsabsprachen jetzt auch auf die Revisionsgerichte zurollt. Der BGH hat auch bereits damit begonnen, die neue Legalisierung der eigenen Strafzumessung in § 354 Abs. 1 Nr. 1a Satz 1 StPO auf Fallkonstellationen, die vom Wortlaut eigentlich nicht erfasst werden, auszuweiten33. Es ist abzusehen, dass auch von der Möglichkeit des § 354 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 StPO reger Gebrauch gemacht wird und dies früher oder später auch zu einer Praxis führen wird, die mit „Tausche Revisionsbeschränkung gegen Bewährung“ nicht mehr ganz falsch gekennzeichnet werden kann. Es wird eine bange Frage sein, was eine solche Entwicklung für die Kultur der Rechtsgespräche vor den Revisionsgerichten bedeuten würde. Und ob sich die bisher erfreulich kritische Haltung der Revisionsgerichte gegenüber bestimmten Erscheinungsformen der „konsensualen Erledigung“ von Strafverfahren in der Tatsacheninstanz aufrecht erhalten lässt, wenn erst einmal die „Vorzüge“ und Entlastungseffekte der ausgehandelten Gerichtsentscheidungen von den Revisionsrichtern selbst erlebt werden, muss man abwarten. Sollte es jemals notwendig und sinnvoll werden, dass sich der Gesetzgeber der Problematik annimmt, wäre wünschenswert, dass man mehr als bei der Änderung des § 354 StPO auch die mittelbaren und vom Gesetzgeber gerade nicht intendierten praktischen Folgen mit ins Auge fasst. Die Ersetzung des Rechtsgesprächs in der Revisionsinstanz durch noch weitergehende Legalisierungen der nur dem Tatrichter möglichen Ermessensentscheidungen wäre das Gegenteil dessen, was Hans Dahs nun schon seit 45 Jahren fordert: Mehr Rechtsgespräche und offenen Meinungsaustausch in allen Instanzen. Der Gesetzgeber sollte jetzt seine Aufgabe darin sehen, klarzustellen, dass eine Pflicht zum und ein Anspruch auf Rechtsgespräche besteht, nachdem die Praxis nicht imstande war, dies aus Art. 103 Abs. 1 GG herzuleiten.
__________ 33 BGH, Beschl. v. 16. 11. 2004 – 4 StR 392/04, NJW 2005, 376 = StV 2005, 76, Leitsatz: „§ 354 Abs. 1 b Satz 1 StPO ist auch dann anwendbar, wenn im Revisionsverfahren eine Teileinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO erfolgt und deshalb über die Gesamtstrafe neu zu befinden ist.“ Vgl. auch BGH, Beschl. v. 9. 11. 2004 – 4 StR 426/04, NJW 2005, 1205.
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Eigene Sachentscheidungen des Revisionsgerichts. Ein kritischer Überblick über die alte und neue Rechtslage unter besonderer Berücksichtigung der sog. Schuldspruchberichtigungen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Regelung des § 354 StPO 1. Regelungsgehalt und Normzweck 2. Die fünf Alternativen des § 354 Abs. 1 StPO a) Freispruch b) Einstellung c) Absolute Strafe d) Gesetzlich niedrigste Strafe e) Absehen von Strafe III. Analoge Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO in der Rechtsprechung des BGH 1. Überblick 2. Einzelne Varianten 3. Voraussetzungen 4. Typische Schuldspruchänderungen a) Auswechslungen von Strafvorschriften aa) Auswechslung von Straftatbeständen bb) Qualifikation statt Grundtatbestand bzw. umgekehrt cc) Versuch statt Vollendung
dd) Beihilfe statt Täterschaft b) Konkurrenzkorrekturen c) Wegfall einzelner von mehreren Verurteilungen 5. Änderungen des Rechtsfolgenausspruchs ohne Schuldspruchänderung IV. Zur Methode des BGH V. Die Entscheidungen des BVerfG vom 7. Januar 2004 (2 BvR 1704/01) und vom 1. März 2004 (2 BvR 2251/03) VI. Entscheidungen des BGH aus dem Jahre 2004 vor den gesetzlichen Neuregelungen VII. Die gesetzlichen Neuregelungen § 354 Abs. 1a und 1b StPO VIII. Anwendung des § 354 Abs. 1a und 1b StPO auch bei Schuldspruchberichtigungen? IX. Fazit
I. Einleitung1 Im Rahmen des ersten Gesetzes zur Modernisierung der Justiz, das am 1. September 2004 in Kraft getreten ist2, hat der Gesetzgeber mit den Neuregelungen des § 354 Abs. 1a und 1b StPO die gesetzlichen Möglichkeiten des Revisionsgerichts, in der Sache selbst zu entscheiden (sog. Durchentscheiden), über den Bereich des bisherigen (und unverändert gebliebenen)
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Für tatkräftige Mithilfe insb. bei der Zusammenstellung und Auswertung der Rspr. und der Anfertigung des Anmerkungsapparats danke ich Frau Rechtsanwältin Inga Paster. BGBl. I, 2198 ff.
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§ 354 Abs. 1 StPO hinaus erweitert. Er hat damit rechtspolitische Forderungen aufgegriffen, wie sie zuvor u. a. vom Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer unter maßgeblicher Mitwirkung des verehrten Jubilars erhoben worden waren3. Zugleich hat er an eine höchstrichterliche Rechtsprechung angeknüpft, die solche Möglichkeiten bislang schon in nicht geringem Umfang praeter legem eröffnet und praktiziert hat. Allerdings hat sich der Gesetzgeber der Materie nur fragmentarisch angenommen. Die Neuregelungen gehen teils über die bisherige Rechtspraxis hinaus, teils bleiben sie dahinter zurück, was insgesamt leider nicht zur Übersichtlichkeit der ohnehin nicht sehr übersichtlichen Rechtslage beigetragen hat. Alte Fragen bleiben offen, neue sind hinzugekommen. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die alte und neue Rechtslage. Vollständigkeit wird nicht angestrebt, wohl aber kritische Reflexion. Die Rechtsprechung zur „entsprechenden“ oder „analogen“ Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO ist zwar durchgängig von einem verständlichen Bemühen um Verfahrensvereinfachung getragen, jedoch durchaus nicht immer dogmatisch stringent und zudem methodisch, z. T. auch verfassungsrechtlich fragwürdig (im folg. unter IV. und V.). Das zeigt sich insbesondere angesichts des § 354 Abs. 1 StPO, der eine in sich geschlossene Regelung darstellt (im folg. unter II.). Im Zentrum der Übersicht stehen die sog. Schuldspruchberichtigungen mit und ohne Rechtsfolgenberichtigung. Die insoweit von der Rechtsprechung entwickelten Fallgruppen bildeten bisher den größten Teil der eigenen Sachentscheidungen der Revisionsgerichte (im folg. unter III.). Obwohl der Gesetzgeber insofern im Zuge des ersten Gesetzes zur Modernisierung der Justiz keine expliziten Regelungen getroffen hat (im folg. unter VII.), wird sich an diesem Befund voraussichtlich nichts ändern, weil der BGH die Neuregelungen des § 354 Abs. 1a und 1b StPO auch bei Schuldspruchberichtigungen für einschlägig erachtet (im folg. unter VIII.). Verf. plädiert dafür, dass die Revisionsgerichte in diesen Fällen von der Möglichkeit der Aufrechterhaltung des angefochtenen Urteils (§ 354 Abs. 1a Satz 1, Abs. 1b Satz 2 und Satz 3 jew. i. V. m. Abs. 1a Satz 1 StPO) nur restriktiv Gebrauch machen, eine Herabsetzung der Rechtsfolge (§ 354 Abs. 1a Satz 2, Abs. 1b Satz 2 und Satz 3 jew. i. V. m. Abs. 1a Satz 2 StPO) nicht ohne Antrag der Staatsanwaltschaft und das damit verbundene rechtliche Gehör des Beschuldigten (§ 349 Abs. 3 Satz 2 StPO) vornehmen und beim sog. Durchent-
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Siehe Stellungnahme des Strafrechtsausschusses der BRAK zu den Gesetzesvorschlägen im Bericht des Strafrechtsausschusses für die 65. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 22./23. November 1994 zur Vorbereitung eines weiteren Rechtspflegentlastungsgesetzes (RS 38/95, unveröffentl.), S. 19 f., wiedergegeben von Senge in seinem Beitrag im vorliegenden Band. Dort auch nähere Einzelheiten zur Entstehungsgeschichte der Neuregelungen. Zum Vorschlag des Strafrechtsausschusses der BRAK siehe ferner die Ausführungen im Fazit.
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scheiden insgesamt verstärkt mit den Verfahrensbeteiligten kommunizieren (Fazit).
II. Die Regelung des § 354 StPO 1. Regelungsgehalt und Normzweck Die von der Reform unverändert gebliebene Vorschrift des § 354 Abs. 1 StPO knüpft systematisch an die Regelungen des § 353 StPO an. Gemäß § 353 Abs. 1 StPO hat das Revisionsgericht, soweit es eine Revision für begründet erachtet, das angefochtene Urteil, d. h. den Urteilsspruch, aufzuheben. Gemäß § 353 Abs. 2 StPO hat es gleichzeitig mit dem Urteilsspruch die dem Urteil zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben, sofern sie durch die Gesetzesverletzung betroffen werden, derentwegen das Urteil aufgehoben wird. Ist letzteres der Fall, dann hat das Revisionsgericht gemäß § 354 Abs. 2 StPO zurückzuverweisen. Das folgt aus der Konzeption des Revisionsverfahrens als Rechtsbeschwerdeverfahren mit der Folge einer strengen Trennung zwischen den Aufgaben des Tat- und Revisionsgerichts. Sind hingegen die Feststellungen von der Gesetzesverletzung nicht betroffen, so hat das Revisionsgericht gemäß § 354 Abs. 1 StPO in der Sache selbst zu entscheiden, sofern „ohne weitere tatsächliche Erörterungen“ entweder auf „Freispruch“ oder auf „Einstellung“ oder auf „eine absolut bestimmte Strafe“ zu erkennen ist oder aber das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft „die gesetzlich niedrigste Strafe“ oder das „Absehen von Strafe“ für „angemessen“ erachtet. Was in der Praxis als Ausnahme erscheint, die eigene Sachentscheidung des Revisionsgerichts, geht nach der Gesetzessystematik dem praktischem Regelfall, der Zurückverweisung, vor. Auch das folgt aus der (von der Neuregelung insoweit unberührten) Logik des Revisionsrechts. Danach handelt es sich bei den Fällen des § 354 Abs. 1 StPO um die unter den gegebenen Umständen einzig richtigen Entscheidungen in der Sache; das heißt: die Feststellungen des Tatgerichts lassen nach Bereinigung der Gesetzesverletzung keine andere Entscheidung zu als Freispruch, Einstellung oder absolute Strafe bzw. keine andere angemessene Sanktion als die niedrigste Strafe oder das Absehen von Strafe. Die Fälle des § 354 Abs. 1 StPO stellen damit keinen Eingriff in die Strafzumessungskompetenz der Tatgerichte dar. Das Tatgericht ist unter der Voraussetzung, dass es die Feststellungen einwandfrei getroffen hat, insoweit nicht gefordert. Das Revisionsgericht spricht nur aus, was das Tatgericht „ohne weitere tatsächliche Erörterungen“ rechtsfehlerfrei seinerseits aussprechen müsste. Damit überschreitet das Revisionsgericht nicht seine Stellung als reine Rechts(-kontroll)instanz. Es fungiert nur, mit einem berühmten Bild zu sprechen, als „Mund des Gesetzes“. 283
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Aus Vorstehendem folgt, dass eigene Sachentscheidungen des Revisionsgerichts gemäß § 354 Abs. 1 StPO grundsätzlich nur bei begründeten Sachrügen in Betracht kommen, nicht bei begründeten Verfahrensrügen. Letzterenfalls sind die Feststellungen ja gerade nicht einwandfrei getroffen und müssen in einer neuen Verhandlung vor dem Tatrichter in fehlerfreier Weise getroffen werden. Damit liegt auch der Normzweck des § 354 Abs. 1 StPO auf der Hand. Durch die eigene Sachentscheidung des Revisionsgerichts wird eine überflüssige Neuverhandlung vermieden4. Letztlich geht es also um Verfahrensverkürzung. 2. Die fünf Alternativen des § 354 Abs. 1 StPO Betrachten wir kurz die fünf Alternativen des § 354 Abs. 1 StPO etwas genauer. a) Freispruch Ein Freispruch durch das Revisionsgericht kommt immer dann in Betracht, wenn die fehlerfrei getroffenen Feststellungen des Tatrichters ergeben, dass sich der Angeklagte weder aus dem rechtlichen Gesichtspunkt des angefochtenen Urteils noch aus einem anderem solchen strafbar gemacht hat. Gleichzeitig muss anhand der bestehenden Beweislage auszuschließen sein, dass eine neue Hauptverhandlung noch Aufschlüsse zu erbringen vermag5. In der Praxis des BGH kommt es meist dann zu Freisprechungen, wenn der BGH im Gegensatz zum Tatgericht den objektiven Tatbestand als nicht verwirklicht ansieht6. Häufiger erfolgen auch Freisprüche, weil der BGH den subjektiven Tatbestand als nicht erfüllt an sieht7. Seltener, aber zuweilen doch, spricht der BGH bei fehlender Rechtswidrigkeit, fehlender Schuld, beim strafbefreienden Rücktritt vom Versuch oder fehlerhafter Beweiswürdigung frei8.
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Hanack in LR, StPO, 25. Aufl., § 354 Rz. 15; Junker, Die Ausdehnung der eigenen Sachentscheidung in der strafrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, 2002, S. 19; Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen des Revisionsgerichts in Strafsachen, 1997, S. 47ff.; Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen, 1999, S. 225; Scheffler, Anmerkung zum BGH, Beschl. v. 9. 7. 1991 – 4 StR 291/91, NStZ 1992, 297 (297). Kuckein in KK-StPO, 5. Aufl. 2003, § 354 Rz. 3; Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl. 2004, § 354 Rz. 3; Hanack in LR (Fn. 4), § 354 Rz. 2. BGH, Beschl. v. 5. 9. 2002 – 4 StR 253/02; BGH, Beschl. v. 5. 11. 1996 – 4 StR 490/96, NStZ 1997, 123 (124); BGH, Urt. v. 30. 4. 1997 – 2 StR 670/96, NStZ 1997, 597 (599); BGH, Urt. v. 18. 9. 1997 – 5 StR 331/07, NStZ 1998, 85 (86); alle Entscheidungen in: BGH-Nack. BGH, Urt. v. 31. 8. 1995 – 4 StR 283/95 (Münchner Fahrbahngänger), BGHSt 41, 231 (239f., 242). BGH, Urt. v. 25. 10. 2001 – 1 StR 435/01 (gerechtfertigt aus Notwehr gem. § 32 StGB), StV 2002, 422 (423); BGH, Urt. v. 22. 4. 2004 – 5 StR 534/02 (fehlerhafte Beweiswürdigung), in: BGH-Nack = HRRS 2004, Nr. 687; BGH, Urt. v. 19. 1. 1999 –
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b) Einstellung Gemäß § 260 Abs. 3 StPO ist das Verfahren einzustellen, wenn ein Verfahrenshindernis besteht. Nur diese Verfahrenseinstellung, nicht etwa die nach §§ 153 ff. StPO ist in § 354 Abs. 1 StPO gemeint9. Das versteht sich von selbst, denn anderenfalls würde das Revisionsgericht Rechtsfolgenermessen ausüben, was es als bloße Rechtsinstanz nicht soll. Eine Einstellung des Verfahrens hat z. B. zu erfolgen, wenn der Eintritt der Verjährung übersehen wurde, der Angeklagte während des Revisionsverfahrens stirbt und kommt ferner wegen Strafklageverbrauchs oder fehlenden Strafantrags in Betracht10. c) Absolute Strafe Eine absolute, nämlich lebenslängliche Strafe sehen nur noch die Tatbestände des Mordes (§ 211 StGB) und des Völkermordes (§ 6 VStGB) vor. Die Fälle, in denen der BGH auf diese Strafe erkennt, sind ausgesprochen selten11. d) Gesetzlich niedrigste Strafe In Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft kann das Revisionsgericht auch die gesetzlich niedrigste – also für den Angeklagten günstigste – Strafe verhängen12. Diese Variante kommt in Betracht, wenn die in den Urteilsfeststellungen und die im Rahmen der Strafzumessung verwerteten Tatsachen nicht im Einklang stehen, bspw. der Tatrichter bei der Strafzumessung eine Tatsache zu Lasten des Angeklagten gewertet hat, die nicht von den Urteilsfeststellungen gedeckt ist13. Der umgekehrte Fall liegt vor, wenn die gesetzliche Mindeststrafe des für einen besonders schweren Fall vorgesehenen Strafrahmens unterschritten wird, obwohl der Tatrichter den Urteilsfeststellungen zufolge keinen Anlass gesehen hat, vom erhöhten Strafrahmen abzuweichen14.
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1 StR 171/98 (Pistazieneis-Fall, fehlerhafte Beweiswürdigung), NJW 1999 1562 (1564); hinsichtlich weiterer Einzelheiten zum Freispruch durch BGH siehe Junker, (Fn. 4), S. 19ff. Hanack in LR (Fn. 4), § 354 Rz. 7; Kuckein in KK-StPO (Fn. 5), § 354 Rz. 7; MeyerGoßner (Fn. 5), § 354 Rz. 6. BGH, Beschl. v. 1. 4. 1996 – 1 StR 145/96 (Verjährung), in: BGH-Nack; BGH, Beschl. v. 7. 5. 1996 – 4 StR 687/95 (Verjährung), wistra 1996, 260 und in: BGHNack; BGH, Beschl. v. 16. 5. 2002 – 1 StR 553/01 (Angeklagter stirbt während des Revisionsverfahrens) in: BGH-Nack. Junker (Fn. 4, S. 28) zitiert in seiner Monographie lediglich eine Entscheidung: BGH, Urt. v. 2. 2. 2000 – 2 StR 550/99, NStZ-RR 2000, 168 (169); jüngst BGH, Urt. v. 28. 10. 2004 – 4 StR 268/04 in: BGH-Nack. Kuckein in: KK-StPO (Fn. 5), § 354 Rz. 10; Junker (Fn. 4), S. 29. BGH, Urt. v. 11. 7. 1996 – 1 StR 365/96, in: BGH-Nack. BGH, Urt. v. 15. 10. 1997 – 2 StR 272/97, in: BGH-Nack. Hinsichtlich weiterer Einzelheiten zur Festsetzung der gesetzlich niedrigsten Strafe durch den BGH siehe Junker (Fn. 4), S. 29ff.
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e) Absehen von Strafe Schließlich eröffnet § 354 Abs. 1 StPO dem Revisionsgericht auch die Möglichkeit, in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft von einer Strafe überhaupt abzusehen. Das StGB sieht diese Möglichkeit in einigen Fällen vor, gleichwohl machen auch die Revisionsgerichte hiervon nahezu keinen Gebrauch15.
III. Analoge Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO in der Rechtsprechung des BGH 1. Überblick Obwohl der Wortlaut, die Gesetzesmaterialien, der Normzweck und jedenfalls bis zu den gesetzlichen Neuregelungen des § 354 Abs. 1a und 1b StPO auch die Gesetzessystematik es nahe legten, die Vorschrift des § 354 Abs. 1 StPO als eine abschließende Regelung anzusehen, sind Rechtsprechung und Lehre seit langem andere Wege gegangen. Mit weitgehender Zustimmung der Literatur haben die Revisionsgerichte, namentlich der BGH – auf dessen Rechtsprechung sich der vorliegende Beitrag konzentriert – in ihrer Spruchpraxis die Grenzen von § 354 Abs. 1 StPO überschritten und wenden die Vorschrift „entsprechend“ oder „analog“ auf weitere Fälle begründeter Sachrügen an, in denen ihrer Auffassung nach von Rechts wegen nur ganz bestimmte Sachentscheidungen in Betracht kommen16. Sie ändern in diesen Fällen, gleichsam im Zuge der Bereinigung des festgestellten materiellen Rechtsfehlers, einesteils den Schuldspruch des Tatgerichts (sog. Schuldspruchänderung, -berichtigung), wobei sie dessen Rechtsfolgenentscheidung entweder bestehen lassen oder zugunsten des Angeklagten ändern, anderenteils nehmen sie solche Rechtsfolgenänderungen auch ohne Schuldspruchberichtigungen vor. Dadurch erübrigt sich jeweils eine Zurückverweisung an das Tatgericht, was ersichtlich Sinn und Zweck dieser Vorgehensweise ist17. Barton hat bereits in seiner im Jahre 1999 veröffentlichten Studie über die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen auf den hohen zahlenmäßigen Anteil von Entscheidungen gem. § 354 StPO analog in der Recht-
__________ 15 Junker (Fn. 4), S. 32f. 16 Zur analogen bzw. entsprechenden Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO siehe die in Fn. 4 angegebene Literatur; ferner Schwarz, Die eigene Sachentscheidung des BGH in Strafsachen (§ 354 Abs. 1 StPO), 2002; dazu die Rezension v. Rissing-van Saan, GA 2003, 901. 17 Barton (Fn. 4), S. 225; Kuckein in KK-StPO (Fn. 5), § 354 Rz. 12.
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sprechung des höchsten Fachgerichts hingewiesen.18 In jüngerer Zeit hat Junker in seiner Monographie über „Die Ausdehnung der eigenen Sachentscheidung in der strafrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs“ (2002) aufschlussreiche Zahlen veröffentlicht. Junker hat in seiner Arbeit die einschlägige BGH-Rechtsprechung der Jahre 1992 bis 1999 vollständig ausgewertet und für diesen Zeitraum insgesamt 1.697 Fälle eigener Sachentscheidungen des BGH gezählt, d. h. durchschnittlich 200 pro Jahr. Hierbei handelte es sich in 1.275 Fällen um so genannte Schuldspruchberichtigungen, im Schnitt also um 160 pro Jahr, was einen Anteil von 80 % aller eigenen Sachentscheidungen des BGH in dem untersuchten Zeitraum ausmacht.19 2. Einzelne Varianten Im Einzelnen lassen sich bei Betrachtung der bisherigen Rechtspraxis der Revisionsgerichte, speziell des BGH, vier Varianten eigener Sachentscheidungen analog § 354 Abs. 1 StPO unterscheiden. Erste Variante: Die nach Junker und Barton häufigste – und für den Revisionsführer enttäuschendste – Variante stellen jene Fälle dar, in denen der BGH den Schuldspruch geändert, aber den Rechtsfolgenausspruch des Tatgerichts ohne Änderung aufrecht erhalten hat20 mit der Folge, dass ungeachtet der Schuldspruchänderung der Rechtsfolgenausspruch des Tatgerichts rechtskräftig wurde (Schuldspruchänderung unter Beibehaltung des Rechtsfolgenausspruchs des Tatgerichts).21 Zweite Variante: Eher selten waren Fälle, in denen der BGH den Schuldspruch geändert, das Urteil im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben und die Sache gem. § 354 Abs. 2 StPO zurückverwiesen hat (Schuldspruchänderung und Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs sowie Zurückverweisung).22
__________ 18 Barton hat in seiner Studie die BGH-Rechtsprechung der Jahre 1995 und 1996 ausgewertet. Danach betrugen die aufgrund entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO ergangenen Entscheidungen ca. das Vierfache derjenigen, die auf direkte Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO zurückzuführen waren, Barton (Fn. 4), S. 226 f. 19 Junker (Fn. 4), S. 14, 34. 20 Junker (Fn. 4), S. 127ff., vgl. auch ebd. S. 39, 63, 75f.; Barton (Fn. 4), S. 227ff. 21 Der typische Tenor in diesen Fällen lautet wie folgt: „Auf die Revision … wird das Urteil des LG … (Schuldspruch) dahin abgeändert, dass der Angeklagte wegen … zu … verurteilt wird. Die weitergehende Revision wird verworfen.“, so z. B. BGH, Beschl. v. 24. 3. 1999 – 3 StR 636/98 in: BGH-Nack; BGH, Beschl. v. 12. 3. 1997 – 3 StR 5/97 in: BGH-Nack. 22 In diesen Fällen tenoriert der BGH: „Auf die Revision … wird das Urteil des LG … (a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte wegen … verurteilt wird; und (b) im Strafausspruch … aufgehoben.“, so z. B. BGH, Beschl. v. 1. 9. 2004 – 2 StR 313/04 und BGH, Beschl. v. 15. 9. 2004 – 2 StR 232/04 jew. in: BGH-Nack.
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Dritte Variante: Häufiger hingegen hat der BGH neben der Schuldspruchänderung einen eigenen Rechtsfolgenausspruch zugunsten des Angeklagten getroffen, der in Rechtskraft erwachsen ist (Schuldspruchänderung und eigener Rechtsfolgenausspruch des Revisionsgerichts).23 Vierte Variante: Schließlich ist der BGH auch dergestalt verfahren, dass er den Schuldspruch unverändert gelassen und nur den Rechtsfolgenausspruch des Tatgerichts geändert hat mit der Folge, dass dieser in Rechtskraft erwachsen ist (Eigener Rechtsfolgenausspruch des Revisionsgerichts ohne Schuldspruchänderung).24 Allerdings war diese Fallgruppe, die nunmehr in § 354 Abs. 1a und Abs. 1b StPO ausdrückliche Regelungen erfahren hat, in der Vergangenheit eher seltener zu verzeichnen. In dem von Junker ausgewerteten Zeitraum lag ihr Anteil bei ca. 14 %25. 3. Voraussetzungen Als allgemeine und grundsätzliche Voraussetzung eigener Sachentscheidungen des Revisionsgerichts gilt, dass (neben einer zulässigen und begründeten Sachrüge, s. o.) vollständige und tragfähige Urteilsfeststellungen vorliegen müssen26, d. h. solche, deren Änderung oder Ergänzung in einer neuen Hauptverhandlung ausgeschlossen werden kann27. Eben darin liegt zugleich eine dogmatische Begründung für die Fälle des „Durchentscheidens“ im Wege einer entsprechenden Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO: eine neue Hauptverhandlung sei entbehrlich, weil die Entscheidung ohne Änderung und Ergänzung der tatrichterlichen Feststellungen getroffen werden könne28. Damit korrespondiert der Ausschluss des „Beruhens“ (§ 337 StPO) in diesen Fällen. Die Revisionsgerichte pflegen die Aufrechterhaltung des angefochtenen Urteils bzw. eine eigene Rechtsfolgenentscheidung damit zu begründen,
__________ 23 Der BGH tenoriert dann wie folgt: „Auf die Revision des A … wird das Urteil des LG vom … (a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte … schuldig ist; (b) im Strafausspruch dahingehend geändert, dass der Angeklagte zu … verurteilt wird.“, so z. B. BGH, Beschl. v. 1. 10. 1998 – 4 StR 347/98 = NStZ 1999, 83. 24 Der Tenor kann dann wie folgt lauten: „Auf die Revision … wird das Urteil des LG vom … im Strafausspruch dahin geändert, dass der Angeklagte zu … verurteilt wird.“ so z. B. BGH, Beschl. v. 13. 4. 1999 – 4 StR 199/99; BGH, Beschl. v. 20. 9. 2000 – 5 StR 382/00 = wistra 2001, 57 (Herabsetzung des Strafausspruchs wegen Verfahrensverzögerung). 25 Junker (Fn. 4, S. 101): 240 von insg. 1.697 ausgewerteten BGH-Entscheidungen im Zeitraum von 1992–1999 betreffen die Fallvariante der alleinigen Änderung des Rechtsfolgenausspruchs. 26 Meyer-Goßner (Fn. 4), § 354 Rz. 13ff.; Hanack in: LR (Fn. 4), § 354 Rz. 17f., Junker (Fn. 4), S. 35 m. Hw. u. a. auf BGHSt 32, 357, 361 ff. 27 BGHSt 3, 62 (64); BGHSt 6, 251 (257). 28 Siehe Kuckein in: KK-StPO (Fn. 5), § 354 Rz. 12 m. w. N.
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es sei auszuschließen, dass der Tatrichter eine andere Entscheidung getroffen hätte, wenn er von zutreffenden tatsächlichen oder rechtlichen Würdigungen ausgegangen wäre29. Für die sog. Schuldspruchänderungen wird des weiteren vorausgesetzt, dass § 265 StPO nicht entgegenstehen dürfe30. Dazu bemerkt Junker in seiner Monographie, dass in den von ihm untersuchten Fällen der BGH zwar nur selten auf einen ausdrücklichen richterlichen Hinweis bzgl. der nach der Schuldspruchänderung zur Anwendung kommenden Strafvorschriften Bezug nehmen konnte; jedoch sei der BGH regelmäßig davon ausgegangen, dass § 265 StPO einer Änderung des Schuldspruchs nicht entgegenstehe, weil sich der Angeklagte nicht anders als geschehen hätte verteidigen können.31 Das Verschlechterungsverbot des § 358 Abs. 2 StPO steht nach Auffassung des BGH Schuldspruchberichtigungen zuungunsten des Angeklagten nicht entgegen, denn „durch das Verschlechterungsverbot ist der Angeklagte nur davor geschützt, dass das Urteil in Art und Höhe der Strafe zu seinem Nachteil geändert wird. Eine Verschärfung im Schuldspruch muss er dagegen mit der Einlegung des Rechtsmittels in Kauf nehmen.“32
4. Typische Schuldspruchänderungen Betrachten wir im Folgenden näher die sog. Schuldspruchberichtigungen, also jene Fälle eigener Sachentscheidungen, die, wie bereits bemerkt, in der Vergangenheit mit etwa 80 % den weitaus größten Teil solcher Entscheidungen in der Praxis des BGH bildeten. An den Schuldspruchänderungen wird die rechtliche Problematik der bisherigen Spruchpraxis, die sich auf eine „entsprechende“ Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO stützt, besonders
__________ 29 Z. B. BGH, Beschl. v. 21. 12. 1995 – 5 StR 392/95, NStZ 1996, 296f.; BGH, Beschl. v. 12. 3. 1997 – 3 StR 5/95, wistra 1997, 181f.; BGH, Beschl. v. 4. 5. 2004 – 5 StR 575/03 in: BGH-Nack. 30 Siehe Kuckein in: KK-StPO (Fn. 5), § 354 Rz. 15. 31 Junker (Fn. 4),S. 36. Oftmals begründete der BGH die Entbehrlichkeit des richterlichen Hinweises gemäß § 265 Abs. 1 StPO lediglich mit der stets ähnlichen und pauschalen Begründung, dass davon ausgegangen werde, dass sich der Angeklagte nicht anders als geschehen hätte verteidigen können, so z. B. BGH, Beschl. v. 16. 5. 2000 – 4 StR 89/00; BGH, Beschl. v. 1. 2. 2000 – 4 StR 564/99. Mit unter schließt der BGH die Möglichkeit einer anderen Verteidigung in solchen Fällen aus, in denen der Angeklagte geständig ist (z. B. BGH, Beschl. v. 11. 6. 2003 – 2 StR 83/03 = NStZ 2004, 38; BGH, Beschl. v. 24. 2. 2005 – 1 StR 33/05), die Tatbegehung insgesamt bestreitet oder der Vorwurf bereits in der Anklage enthalten war (z. B. BGH, Beschl. v. 28. 10. 2004 – 4 StR 268/04; Beschl. v. 15. 9. 2004 – 2 StR 232/04). Alle Entscheidungen in: BGH-Nack. 32 BGHSt 37, 5 (9) unter Hw. auf BGHSt 21, 256 (260).
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deutlich. Sie liegt darin, dass der BGH nicht selten „tatrichterlichähnliches Ermessen“ ausübt33. Inhaltlich lassen sich drei Fallgruppen von Schuldspruchänderungen unterscheiden, nämlich – – –
Auswechselungen der angewandten Strafvorschriften Änderung der Konkurrenzverhältnisse und Fälle des Wegfalls einzelner von mehreren Verurteilungen.
a) Auswechslungen von Strafvorschriften Viele der vom BGH vorgenommenen Schuldspruchberichtigungen bestehen darin, dass er die vom Tatgericht falsch angewandte materielle Rechtsvorschrift durch die richtige ersetzt hat. Dabei handelt es sich sowohl um materielle Straftatbestände des Besonderen Teils des StGB als auch um die im Allgemeinen Teil geregelten Begehungsformen. aa) Auswechslung von Straftatbeständen Typische Auswechselungen von materiellen Straftatbeständen sind z. B. Änderungen des Schuldspruchs von Diebstahl in Betrug, von veruntreuender Unterschlagung in Betrug, von räuberischem Diebstahl in schweren Raub oder von Hehlerei in Begünstigung.34 Man möchte meinen, dass durch einen solchen Austausch verschiedenartiger Delikte dem Strafausspruch des Tatgerichts die rechtliche Grundlage entzogen ist. Der BGH hält jedoch gerade in diesen Fällen den Strafausspruch des Tatgerichts nach Möglichkeit aufrecht, verfährt also nach der o. g. ersten Variante. Dabei orientiert er sich am Strafrahmen und den Strafzumessungstatsachen. Der BGH belässt es beim Strafausspruch des Tatgerichts, wenn das „alte“ und das „neue“ Delikt denselben Strafrahmen haben und der BGH ungeachtet der Auswechselung die Strafzumessungstatsachen für unverändert hält35. Bei abweichenden Strafrahmen hingegen hebt er in
__________ 33 So die Formulierung in der Stellungnahme der Unterkommission I des Strafrechtsausschusses der BRAK „Möglichkeiten der Beschleunigung von Strafverfahren“ vom November 1994, abgedruckt in der Monographie von Junker (Fn. 4), S. 139 f. 34 Junker (Fn. 4), S. 38; so z. B. BGH, Beschl. v. 28. 11. 2001 – 2 StR 477/01 (Änderung des Schuldspruchs von Unterschlagung in Betrug); BGH, Beschl. v. 27. 2. 1996 – 1 StR 66/96 (Änderung des Schuldspruchs von Diebstahl in Betrug); BGH, Beschl. v. 16. 5. 2000 – 4 StR 89/00 (Änderung des Schuldspruchs von schwerem Raub in räuberische Erpressung). Alle Entscheidungen in: BGH-Nack. 35 Vgl. Junker (Fn. 4), S. 39 ff., so z. B. BGH, Beschl. v. 4. 9. 1992 – 2 StR 358/92, in: BGH-Nack
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Eigene Sachentscheidungen des Revisionsgerichts
der Regel den Strafausspruch auf36, allerdings dann nicht, wenn die durch die Schuldspruchberichtigung veranlasste Verschiebung der Strafrahmengrenze seiner Ansicht nach nur „geringfügig“ ist37. bb) Qualifikation statt Grundtatbestand bzw. umgekehrt Zahlenmäßig seltener zu registrieren, aber dogmatisch besonders brisant sind die Fälle, in denen der BGH den Schuldspruch von einer Qualifikation in den Grundtatbestand oder umgekehrt vom Grundtatbestand in eine Qualifikation abändert. Mit solchen Schuldspruchänderungen gehen typischerweise Strafrahmenverschiebungen einher. Gleichwohl lässt der BGH auch in diesen Fällen den Strafausspruch oftmals bestehen.38 cc) Versuch statt Vollendung Auch in Fällen, in denen der BGH statt eines vollendeten Deliktes nur ein versuchtes annimmt und den Schuldspruch des Tatgerichts entsprechend ändert, lässt er häufiger den Rechtsfolgenausspruch unverändert39. Trotz gegenteiliger Bekundungen trifft der BGH hier offensichtlich eigene Strafzumessungsentscheidungen, denn § 23 Abs. 2 StGB ermöglicht lediglich eine fakultative Strafmilderung. Die Begründungen des BGH für die Aufrechterhaltung des Rechtsfolgenausspruchs in diesen Fällen sind unterschiedlich und nicht immer überzeugend, wie folgende Beispiele zeigen mögen. So heißt es in einem Beschluss des 1. Senats vom 16. Juni 1996: „Der Strafausspruch wird durch die Änderung des Schuldspruchs nicht berührt. Es kann ausgeschlossen werden, dass die Strafkammer, die einen minder schweren Fall im Sinne des § 250 Abs. 2 StGB [a. F.] bejaht hat, wegen des Versuchs eine weitere Minderung vorgenommen hätte.“40
__________ 36 So z. B. BGH, Urt. v. 21. 12. 2000 – 4 StR 499/00 (Änderung des Schuldspruchs von Totschlag in Mord), StV 2001, 571f; BGH, Urt. v. 19. 9. 2000 – 4 StR 311/00 (Änderung des Schuldspruchs von Totschlag in Mord), in: BGH-Nack. 37 So z. B. BGH, Urt. v. 5. 7. 2000 – 5 StR 629/99 (Änderung des Schuldspruchs von Totschlag in Mord), NJW 2000, 3079; BGH, Beschl. v. 21. 4. 1998 – 5 StR 79/98, in: BGH-Nack. 38 BGH, Beschl. v. 20. 6. 1996 – 4 StR 147/96 (Änderung des Schuldspruchs von einer schweren räuberischen Erpressung in eine räuberische Erpressung), NStZ 1997, 184 = StV 1996, 545 mit folgender Begründung: „Die Schuldspruchänderung berührt den Ausspruch über die im Fall II 1 verhängte Einzelstrafe nicht. Der Senat schließt aus, dass die dem nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen des § 250 Abs. 2 StGB entnommene Einzelstrafe von zehn Monaten Freiheitsstrafe noch niedriger ausgefallen wäre, wenn das Landgericht bei zutreffender rechtlicher Würdigung von den in § 249 StGB eröffneten Strafrahmen ausgegangen wäre.“ 39 So z. B. BGH, Beschl. v. 1. 2. 2000 – 4 StR 564/99 = NStZ 2000, 531; BGH, Beschl. v. 17. 9. 1997 – 5 StR 470/97, in: BGH-Nack. 40 BGH, Beschl. v. 16. 6. 1996 – 1 StR 343/96 = BGHR StGB § 255 Kausalität 1.
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Diese Begründung ist unbefriedigend, weil eine weitere Minderung nur ausgeschlossen ist, wenn ein Fall des § 50 StGB vorliegt, worauf der BGH in seinem Beschluss nicht eingegangen ist. Der 5. Senat hat in einem Beschluss vom 21. März 1995 einen Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte statt eines vollendeten Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (nur) des versuchten Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig sei, und den Rechtsfolgenausspruch des Tatgerichts mit der Begründung bestehen lassen, dass „im Hinblick auf die Schwere der Gewaltanwendung und das Bild der vorliegenden Versuchstat“ eine Versuchsmilderung nicht in Betracht komme. „Die Tatsache, dass der Angeklagte keinen Schmuck erbeutet hat, hat der Tatrichter bei der Strafzumessung schon berücksichtigt.“41 Auch diese Begründung ist befremdlich. Die fakultative Strafmilderung bei Versuch ist doch wohl etwas anderes als eine bloße Strafzumessungserwägung bei einem fälschlicherweise als vollendet angenommenen Delikt. dd) Beihilfe statt Täterschaft Anders als bei der Änderung von Vollendung zu Versuch hebt der BGH bei der Änderung von Täterschaft in Beihilfe mit der Schuldspruchänderung zumeist den Rechtsfolgenausspruch auf und verweist die Sache an das Tatgericht zurück.42 Der Grund hierfür liegt ersichtlich in der obligatorischen Strafmilderung des § 27 Abs. 2 S. 2 StGB. Allerdings ist der BGH in einigen Fällen dieser Art auch anders verfahren. So hat z. B. der 2. Strafsenat in zwei Fällen43 – darunter in einem Fall aus dem Jahr 2004 – den Strafausspruch des Tatgerichts unverändert gelassen, obwohl er Verurteilungen wegen täterschaftlichen Handelns in solche wegen bloßer Beihilfe abgeändert hat. In beiden Fällen stand das abgeänderte Delikt in Tateinheit mit einem anderen täterschaftlich begangenen Delikt. Die Beibehaltung des Rechtsfolgenausspruches des Tatgerichts wäre in diesen Fällen m. E. nur dann in Betracht gekommen, wenn der BGH hätte ausschließen können, dass der Tatrichter das fälschlicherweise als täterschaftlich begangen gewürdigte Delikt im Verhältnis zu dem anderen Delikt nicht strafschärfend berücksichtigt hatte, was § 52 Abs. 2 StGB anerkanntermaßen zulässt. Anderenfalls, also bei strafschärfender Berücksichtigung durch den Tatrichter, musste zwingend § 27 Abs. 2 Satz 2 StGB zur Anwendung kommen und damit eine neue Strafzumessung vorgenommen werden.
__________ 41 BGH, Beschl. v. 21. 3. 1995 – 5 StR 110/95, in: BGH-Nack. Siehe hierzu auch Junker (Fn. 4), S. 51ff. 42 So z. B. BGH, Beschl. v. 11. 2. 2003 – 3 StR 391/02; BGH, Beschl. v. 9. 10. 2001 – 5 StR 375/01; BGH, Beschl. v. 23. 10. 1996 – 4 StR 469/96; jew in: BGH-Nack. 43 BGH, Beschl. v. 4. 9. 1992 – 2 StR 358/92; BGH, Beschl. v. 13. 2. 2004 – 2 StR 517/03; jew. in: BGH-Nack.
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Zwei Entscheidungen des 5. Senats aus dem Jahr 200144 verdeutlichen die Unterschiedlichkeit des Vorgehens des BGH. In beiden Beschlüssen ging es um die Strafbarkeit von (stellvertretenden) Kompaniechefs der ehemaligen DDR, die für die „Vergatterung“ ihnen unterstellter Grenzsoldaten verantwortlich gewesen waren. Die Soldaten hatten während ihres Wachdienstes auf Flüchtlinge geschossen und diese getötet. In der ersten Entscheidung vom 7. August 2001 hat der 5. Senat die Verurteilung des Vorgesetzten von Anstiftung in Beihilfe geändert, in der zweiten Entscheidung vom 9. Oktober 2001 hat er statt auf Täterschaft auf Beihilfe erkannt. Im ersten Fall hat der 5. Senat mittels eigener Straffestsetzung „durchentschieden“, im zweiten Fall hat er lediglich den Schuldspruch geändert und im übrigen aufgehoben. In dem Beschluss vom 7. August 2001 hat der 5. Senat die von ihm vorgenommene Strafmilderung von 11 Monaten Freiheitsstrafe auf 9 Monate Freiheitsstrafe mit der Begründung vorgenommen, er könne ausschließen, „dass die Strafe noch milder hätte ausfallen können als bei den unmittelbar tätig gewordenen Soldaten, die einen erheblich niedrigeren Dienstgrad hatten und deren durch Befehlsbindung und vermeidbaren Verbotsirrtum sowie affektive Anspannung geprägte aktuelle Tatsituation einer Entschuldigung erheblich näher standen“45.
Zwei Monate später dagegen sah der 5. Senat anders als bei der vorgenannten Entscheidung, „bei der ausnahmsweise in der milderen Bestrafung der als Täter verantwortlichen Grenzsoldaten im selben erstinstanzlichen Urteil ein hinreichend konkreter Anhalt für einen bestimmten Strafabschlag zu finden war“, nunmehr „keine rechtlich zulässige Möglichkeit zur Durchentscheidung.“46
b) Konkurrenzkorrekturen Die wohl häufigsten Fälle eigener Sachentscheidungen des BGH analog § 354 Abs. 1 StPO bilden die sog. Konkurrenzkorrekturen, d. h. Änderungen des Konkurrenzverhältnisses der verurteilten Straftaten. Bei fast einem Viertel aller eigenen Sachentscheidungen des BGH in dem von Junker ausgewerteten Zeitraum handelt es sich um Schuldspruchberichtigungen dieser Art, wobei überwiegend eine Änderung des Schuldspruchs von Tatmehrheit in Tateinheit erfolgte47. Obwohl das StGB bei der Tateinheit (§ 52 StGB) einerseits und bei der Tatmehrheit (§ 53 StGB) andererseits unterschiedliche Straferkenntnisse vor-
__________ 44 BGH, Beschl. v. 7. 8. 2001 – 5 StR 259/01 = NJW 2001, 3060 = NStZ 2001, 589; BGH, Beschl. v. 9. 10. 2001 – 5 StR 375/01, in: BGH-Nack. 45 BGH, Beschl. v. 7. 8. 2001 – 5 StR 259/01 =NJW 2001, 3060 = NStZ 2001, 589. 46 BGH, Beschl. v. 9. 10. 2001 – 5 StR 375/01. Zwar hat sich die Strafe des Gehilfen gemäß § 27 StGB an der des Täters zu orientieren, sie ist aber obligatorisch zu mildern. In dem Beschluss vom 7. 8. 2001 hatte der 5. Senat für Täter und Gehilfen auf die gleiche Strafhöhe erkannt. 47 Vgl. Junker, (Fn. 4), S. 128.
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schreibt – nämlich zum einen „eine Strafe“ und zum anderen eine „Gesamtstrafe“ – belässt es der BGH in diesen Fällen zumeist beim Strafausspruch, indem er die bisherige Gesamtstrafe als alleinige Strafe aufrecht erhält.48 Bisweilen setzt er aber auch die höchste gegen den Angeklagten verhängte Einzelstrafe, also die Einsatzstrafe, als alleinige Strafe für die einheitliche Tat fest.49 Wie Junker zutreffend ausgeführt hat, lässt sich hierbei ein schlüssiges Konzept des BGH nicht erkennen. Der BGH scheint primär ergebnisorientiert zu verfahren, mit der Absicht, eine neue Hauptverhandlung zu vermeiden. Lässt man die einschlägigen Entscheidungen Revue passieren, so hat es für den BGH in einzelnen Fällen keinen Unterschied gemacht, ob durch die Konkurrenzänderung nur eine50 oder drei Einzelstrafen51 in Wegfall geraten sind oder aber 21, 84, 137 oder sogar 14452 Einzelstrafen. In allen solchen Fällen hat es der BGH bei der Strafe mehr oder weniger mit der Begründung belassen, es sei ausgeschlossen, dass das Instanzgericht, wenn es richtig statt x nur y selbständige Taten seiner Strafzumessung zugrundegelegt hätte, eine niedrigere Gesamtstrafe verhängt hätte. Wenn der BGH dagegen in der Weise verfährt, dass er die Einsatzstrafe der vom Instanzgericht gebildeten Gesamtstrafe nach der Schuldspruchänderung als alleinige Einzelstrafe bestehen lässt, argumentiert er z. B. wie folgt: „In entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO setzt der Senat, um jede mögliche Benachteiligung der Angeklagten auszuschließen, gegen die Angeklagten jeweils die höchste der gegen sie verhängten Einzelstrafen als Freiheitsstrafe fest, […].“53
Ein plausibler Grund, warum der BGH es einesteils bei der Gesamtstrafe belässt, anderenteils die ursprünglich höchste Einsatzstrafe als Einzelstrafe verhängt, erschließt sich aus den Entscheidungen nicht. Ein besonders krasser Fall einer eigenen Strafzumessung ist eine Entscheidung aus dem Jahr 1997, in welcher der 3. Senat der Auffassung war, dass in einem Landgerichtsurteil der Urteilstenor und die Urteilsgründe nicht über-
__________ 48 BGH, Beschl. v. 21. 12. 1995 – 5 StR 392/95 = NStZ 1996, 296 f. Gliederungspunkt 2a) und 2b); BGH, BGH, Beschl.v. 12. 3. 1997 – 3 StR 5/97 = wistra 1997, 181; Beschl. 18. 3. 1998 – 3 StR 545/97 = wistra 1998, 224; BGH, Beschl. v. 14. 1. 2004 – 2 StR 445/03 in: BGH-Nack; BGH, Beschl. v. 17. 8. 2004 – 1 StR 325/04 in: BGHNack. 49 BGH, Beschl. v. 23. 9. 1997 – 1 StR 516/96 – 1 StR; BGH, Beschl. v. 20. 8. 1998 – 4 StR 328/98; BGH, Beschl. v. 1. 10. 1998 – 4 StR 347/98; alle Entscheidungen in: BGH-Nack. 50 BGH, Beschl. v. 7. 1. 1993 – 4 StR 592/92, in: BGH-Nack. 51 BGH, Beschl. v. 21. 12. 1995 – 5 StR 392/95 = NStZ 1996, 296f. Gliederungspunkt 2 e); BGH, Beschl. v. 23. 11. 1994 – 3 StR 482/94, in: BGH-Nack. 52 BGH, Beschl. v. 12. 3. 1997 – 3 StR 5/97 = wistra 1997, 181; BGH, Beschl. v. 21. 12. 1995 – 5 StR 392/95 = NStZ 1996, 296f. Gliederungspunkte 2 a), 2 b), 2 c) und 2 d); BGH, Beschl. v. 24. 3. 1999 – 3 StR 636/98, in: BGH-Nack. 53 Beschl. v. 1. 10. 1998 – 4 StR 347/98, in: BGH-Nack.
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einstimmten. Das LG war in seinen Entscheidungsgründen nach Ansicht des BGH unrichtigerweise von einer Bewertungseinheit ausgegangen; im Urteilstenor hatte es dagegen nach Auffassung des Senats richtigerweise wegen Tatmehrheit verurteilt. Der 3. Senat sah von einer Aufhebung des Strafausspruchs ab und begründete dies wie folgt: „Es ist ausgeschlossen, dass das Landgericht eine mildere Gesamtstrafe verhängt, wenn statt der von ihm zugrundegelegten Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr sechs Einzelstrafen gebildet würden. Deshalb hat der Senat in der an sich richtigen Urteilsformel die Worte „in sechs Fällen“ gestrichen.“54
c) Wegfall einzelner von mehreren Verurteilungen Besonders erstaunlich ist, dass der BGH auch dann, wenn er einzelne Verurteilungen gänzlich wegfallen lässt – durch Teileinstellung wegen Verfahrenshindernissen55 oder durch Einstellungen gemäß der §§ 154 f. StPO56 oder aber durch Teilfreispruch57 – oftmals am Rechtsfolgenausspruch des Tatgerichts festhält. Auch in diesen Fällen lässt sich der BGH offensichtlich stark von der Absicht leiten, eine neue Hauptverhandlung zu vermeiden, wie dies der 4. Strafsenat in einem Beschluss vom 24. Juli 1997 mit bemerkenswerter Deutlichkeit ausgesprochen hat. Der Senat hat hierin eine Teileinstellung gemäß § 154 a Abs. 2 StPO verfügt und zur Begründung explizit ausgeführt, sie erfolge „zur Vermeidung einer neuen Hauptverhandlung“58. Allerdings ist auch bei dieser Fallgruppe kein klares Kriterium erkennbar, wonach der BGH den Strafausspruch entweder aufrechterhält oder wegen des Wegfalls von Einzelstrafen eine Zurückverweisung für angezeigt hält59.
__________ 54 BGH, Beschl. v. 22. 1. 1997 – 3 StR 608/96 = NStZ 1997, 243 = StV 1997, 470 = BGHR BtMG § 29 Bewertungseinheit 10. Schließlich änderte der BGH in einer Entscheidung auch zusätzlich den Rechtsfolgenausspruch, indem er unter Verstoß gegen § 54 Abs. 1 S. 2 StGB die entfallenden Einzelstrafen in voller Höhe von der Gesamtstrafe in Abzug brachte: „Der Senat ändert den Schuldspruch entsprechend. Die Schuldspruchänderung führt zum Wegfall der im Fall 7 der Anklage verhängten Einzelfreiheitsstrafe von sechs Monaten, die der Senat in voller Höhe von der erkannten Gesamtfreiheitsstrafe in Abzug bringt, um jede Benachteiligung des Angeklagten auszuschließen.“, BGH, Beschl. v. 3. 12. 1998 – 4 StR 569/98, Entscheidungssammlung BGH-Nack. 55 BGH, Beschl. v. 8. 8. 2002 – 4 StR 250/02 (Teileinstellung wegen Verjährung); BGH, Beschl. v. 4. 5. 2004 – 5 StR 575/03 (Teileinstellung mangels Anklageerhebung); BGH, Beschl. v. 11. 5. 2004 – 1 StR 181/04 (Teileinstellung wegen Verjährung). Alle Entscheidungen in: BGH-Nack. 56 BGH, Beschl. v. 13. 9. 2002 – 1 StR 316/02; BGH, Beschl. v. 21. 7. 2004 – 5 StR 256/04; BGH, Beschl. v. 10. 8. 2004 – 4 StR 212/04; alle Entscheidungen in: BGHNack. 57 BGH, Beschl. v. 18. 2. 1993 – 1 StR 907/92, in: BGH-Nack. 58 Junker (Fn. 2), S. 78; BGH Beschl. v. 24. 7. 1997 – 4 StR 259/97, in: BGH-Nack. 59 So zu Recht auch Junker (Fn. 4), S. 82f.
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Im Übrigen ändert der BGH auch bei Teileinstellungen gemäß § 154 Abs. 2 StPO häufiger neben dem Schuldausspruch den Rechtsfolgenausspruch, indem er unter Verstoß gegen § 54 Abs. 1 Satz 2 StGB die entfallenen Einzelstrafen in voller Höhe von der Gesamtstrafe in Abzug bringt60 oder in sonstige „Abschläge“ vornimmt61. 5. Änderungen des Rechtsfolgenausspruchs ohne Schuldspruchänderung Neben reinen Schuldspruchänderungen oder Kombinationen von Schuldspruchänderungen und Rechtsfolgenentscheidungen finden sich bereits in der bisherigen Rechtsprechung des BGH zu § 354 Abs. 1 StPO analog bloße Änderungen des Rechtsfolgenausspruchs, also solche ohne Schuldspruchänderung. Das Spektrum der Entscheidungen ist breit. Der BGH hat Einzelstrafen ebenso wie Gesamtstrafen korrigiert, nachträgliche Gesamtstrafenbildungen berichtigt, über Bewährungsfragen, Maßregeln der Besserung und Sicherung, über Verfall und Einziehung oder die Schwere der Schuld entschieden oder den Strafausspruch wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung herabgesetzt.62 Diese Fallgruppe hat nunmehr in Absatz 1a des § 354 StPO eine ausdrückliche gesetzliche Regelung erhalten, die nahezu alle von der Rechtsprechung bisher vorgenommenen Varianten bloßer Änderungen des Rechtsfolgenausspruchs erfasst.63
__________
60 BGH, Beschl. v. 18. 3. 2003 – 4 StR 39/03 in: BGH-Nack. Teilweise hat der BGH – wie auch bei der Fallvariante der Konkurrenzkorrekturen – bei Wegfall bis auf eine Einzelstrafe durch Teileinstellung gemäß § 154 StPO die bisherige Einsatzstrafe als nunmehr einzige Strafe festgesetzt, so z. B. BGH, Beschl. v. 11. 2. 2003 – 4 StR 9/03, in: BGH-Nack. 61 So z. B. BGH, Beschl. v. 27. 8. 2003 – 5 StR 329/03, in: BGH-Nack: „Nach der Einstellung der Fälle II.1 bis 5 der Urteilsgründe gemäß § 154 StPO war der Schuldspruch entsprechend zu berichtigen; die insoweit verhängten Einzelgeldstrafen entfallen. Der Senat hat bei der ersten Gesamtfreiheitsstrafe einen danach gebotenen Abschlag von drei Monaten vorgenommen. Die zweite Gesamtstrafe bleibt davon unberührt. Es ist auszuschließen, dass ein neuer Tatrichter zu einer noch milderen Bestrafung gelangt wäre.“. Solche Entscheidungen des BGH sind auch bei einer Teileinstellung wegen Verjährung oder bei einem Teilfreispruch zu finden: BGH, Beschl. v. 30. 6. 2004 – 1 StR 526/03, in: BGH-Nack; BGH, Beschl. v. 10. 5. 2001 – 4 StR 113/01 = Becker, Aus der Rechtsprechung des BGH zum Strafverfahrensrecht, NStZ-RR 2002, 97 (101). 62 LR-Hanack (Fn. 4), § 354 StPO Rz. 35ff.; Meyer-Goßner (Fn. 5), § 354 Rz. 24ff.; Kuckein in: KK-StPO (Fn. 5), § 354 Rz. 19; Junker (Fn. 4), S. 101ff. so z. B. folgende jüngst ergangenen Entscheidungen: BGH, Beschl. v. 14. 1. 2004 – 2 StR 435/03 (Reduzierungen des Strafausspruchs wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung), in: BGH-Nack; BGH, Beschl. v. 16. 1. 2004 – 2 StR 515/03 (Korrektur der fehlerhaften Gesamtstrafenbildung), in: BGH-Nack; BGH, Beschl. v. 28. 1. 2004 – 2 StR 493/03 (Wegfall einer Unterbringungsanordnung), in: BGH-Nack. 63 Siehe dazu unten VII; ferner ausführlich Senge (Fn. 3). Senge weist in seinem Beitrag zu Recht daraufhin, dass der in der Praxis nicht seltene Fall, dass der Tatrichter es versehentlich unterlassen hat, für eine von mehreren festgestellten Straf-
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Als Würdigung der bisherigen Rechtsprechung mag der Hinweis auf eine Bemerkung von Hanack genügen, der insoweit einmal befand, es bestehe die Gefahr, dass die Revision des heutigen Rechts sich in Richtung auf eine verkürzte Berufungsinstanz hin verändere.64
IV. Zur Methode des BGH Vor einer näheren Betrachtung der neuesten Rechtsentwicklung seien einige kritische Worte zum methodischen Ansatz des BGH erlaubt, die engen Fallgruppen des § 354 Abs. 1 StPO zu überschreiten. Wie bereits mehrfach angesprochen, beruft sich der BGH hierbei regelmäßig auf eine „entsprechende“ bzw. „analoge“ Anwendung dieser Norm. Man wird jedoch bezweifeln dürfen, dass es sich um eine echte Analogie handelte. Eine solche setzt ja eine Lücke im Gesetz voraus, die angesichts der vorstehend unter I. dargestellten Gesetzeslage schwer auszumachen ist. Auch hat der Gesetzgeber nichts übersehen. Vielmehr haben die Verfasser des Entwurfs der StPO von 1874 nachfolgenden Generationen ins Stammbuch geschrieben, dass die Aufgabe des Revisionsrichters „nur in der rechtlichen Beurtheilung in der Sache“ bestehe, wozu nicht „die Abmessung der Strafe“ zähle, „da dieselbe dem Gebiete des Thatsächlichen angehört“65. Das
__________ taten eine Einzelstrafe festzusetzen, keine gesetzliche Regelung erfahren hat. Bei dieser Fallkonstellation pflegt der BGH die Festsetzung einer Einzelstrafe nachzuholen, und zwar ohne Veränderung des Gesamtstrafmaßes, wenn der Angeklagte Revision eingelegt hatte oder der BGH Auswirkungen auf die Gesamtstrafe ausschließt, so z. B. BGH, Beschl. v. 22. 4. 1997 – 1 StR 73/97 und BGH, Urt. v. 26. 8. 1997 – 1 StR 431/97, in: BGH-Nack. Entweder setzt der BGH für die fehlende Einzelstrafe die gesetzliche Mindeststrafe fest (BGH, Beschl. v. 27. 3. 2003 – 3 StR 42/03), in: BGH-Nack) oder er orientiert sich an den vom Tatgericht für ähnlich gelagerte Taten ausgesprochenen Strafe (BGH, Beschl. v. 17. 12. 2002 – 1 StR 412/02), in: BGH-Nack. 64 Hanack, Anmerkung zum BGH, Urt. v. 17. 12. 1991 – 5 StR 569/91, StV 1993, 62 (64): In diesem Fall erkannte der 1. Strafsenat auf die gesetzliche Höchststrafe nach einer vom ihm vorgenommenen Strafrahmenverschiebung und schloss eine niedrigere Strafe aus. Diese Entscheidung ist auch sonst in der Literatur mehrfach kritisiert worden: Hamm, Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl. 1998, Rz. 1292; Junker (Fn. 4), S. 101f. 65 In der Urfassung des § 354 Abs. 1 StPO, § 316 Abs. 1 des Entwurfs für zur RStPO, war demgemäß als einzige Möglichkeit der eigenen Sachentscheidung die Freisprechung vorgesehen. In den Motiven (bei Hahn/Mugdan, Die gesamten Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Bd. 3, Abt. 1, 2. Aufl. 1885 (Nachdruck 1983), S. 258 f. heißt es dazu: „Aus dem, was […] über die Stellung des Revisionsrichters gesagt worden ist, folgt, daß derselbe, wenn er das angefochtene Urtheil aufhebt, regelmäßig die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Gericht erster Instanz zurückverweisen muss; denn alle thatsächlichen Erörterungen sind in der Thätigkeit des Revisionsrichters ausgeschlossen. Derselbe ist ebensowenig zu einer Änderung der thatsächlichen Feststellungen befugt, wie zur Vornahme einer neuen Feststel-
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richtige Strafmaß lasse sich nur aufgrund der mündlichen Beweisverhandlung finden; das aufgehobene Urteil biete hierfür keine Grundlage, denn die Menge größerer und kleinerer Momente, die für den ersten Richter bei Abmessung der Strafe bestimmend gewesen seien, entzögen sich häufig jeder Feststellung durch die Schrift. Schließlich erscheint die Art und Weise des vermeintlichen Lückenschlusses fragwürdig. Die Vorschrift des § 354 Abs. 1 StPO betrifft solche Fälle, bei denen unter den gegebenen Umständen nur eine Entscheidung möglich ist, die Sachentscheidung sich bei richtiger Rechtsanwendung also gleichsam von selbst ergibt. Dem Revisionsgericht wird lediglich hinsichtlich des Erkenntnisses auf die gesetzlich niedrigste Strafe oder das Absehen von Strafe – in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft – Ermessen eingeräumt, aber nur dergestalt, dass es diese Rechtsfolgen als objektiv „angemessene“ Rechtsfolge herbeiführen soll. Bei den oben dargestellten Fällen entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO hingegen hat der BGH oft genug eigenes „tatrichterlichähnliches Ermessen“ ausgeübt, ist also gerade nicht im Sinne der Norm verfahren.
__________ lung. Auch eine bloße Ergänzung der ersteren steht ihm nicht zu, und zwar selbst dann nicht, wenn der dem Urtheil innewohnende Mangel in der bloßen Omission einer zweifellos erscheinenden Thatsache besteht. Auch die Abmessung der Strafe kann dem Revisionsrichter nicht übertragen werden, da dieselbe lediglich dem Gebiete des Thatsächlichen angehört. Das richtige Strafmaß lässt sich nur aufgrund der mündlichen Beweisverhandlung finden und dem Revisionsrichter wird, wenn er die Strafe abmessen sollte, jede Grundlage und jeder Maßstab hierfür fehlen. Das aufgehobene Urtheil kann eine solche Grundlage nicht darstellen; die Menge größerer und kleinerer Momente, die für den ersten Richter bei Abmessung der Strafe bestimmend gewesen sind, entzieht sich häufig jeder Feststellung durch die Schrift. Gerade hinsichtlich des Strafmaßes gelangt man sehr oft zu den verschiedensten Ergebnissen, je nachdem man aufgrund der mündlichen Verhandlung oder aber aufgrund der Akten urtheilt; es wird dies durch das gegenwärtig bestehende Appelationsverfahren unwiderleglich bewiesen. Übrigens würde bei einer Strafzumessung durch den Revisionsrichter auch die Gefahr obwalten, daß derselbe, zumal er nur selten in die Lage kommen würde, eine Strafe abzumessen, auch in abstracto von einem ganz anderen Maßstabe aus ausgehen würde, als die Gerichte erster Instanz. Hiernach kann eine Entscheidung des Revisionsgerichts in der Sache selbst überhaupt nur unter der Voraussetzung ergehen, daß die Gesetzesverletzung lediglich bei Anwendung des Gesetzes auf das festgestellte Sachverhältniß erfolgt war und daß unter unveränderter Feststellung des letzteren lediglich auf Freisprechung zu erkennen ist“. Im Verlauf der 1. Lesung kam es sodann zur Erweiterung der Vorschrift um die Möglichkeiten, auch bei einer absolut bestimmten Strafe und in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf die niedrigste Strafe selbst zu erkennen. Während in der ersten der beiden Möglichkeiten eine unbedenkliche Erweiterung und Abkürzung der Verfahren erblickt wurde, wurden bereits gegen die zweite Möglichkeit Bedenken laut, weil die Strafzumessung als solche nicht die Aufgabe des Revisionsgericht sei.
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Man wird daher bei den aufgezeigten Fällen eher von einer richterlichen Rechtsfortbildung sprechen müssen. Allerdings ist zweifelhaft, ob die strengen Voraussetzungen, die das BVerfG an ein solches Vorgehen stellt, insoweit vorliegen. Das BVerfG hat solche Voraussetzungen beispielsweise in der berühmten Entscheidung zum Schadensersatz für Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes benannt und bejaht66. Das BVerfG hat hierin ausgeführt, die Aufgabe der Rechtsprechung könne es insbesondere erfordern, „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akte des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und Entscheidungen zu realisieren“.
Es müsse aber einsichtig gemacht werden können, „dass das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt“. Letzteres wird man bei der Masse eigener Sachentscheidungen der Revisionsgerichte jenseits § 354 Abs. 1 StPO schwerlich behaupten können. Es ging hierbei erklärtermaßen nicht darum, bestimmte Wertvorstellungen des Grundgesetzes zu realisieren, sondern „prozessökonomisch“ zu verfahren.67 Auch dass das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfülle, lässt sich nicht ohne weiteres behaupten68. Die gesetzliche Lösung der Frage, welche Rechtsfolge bei fehlerhaften Schuldsprüchen richtigerweise zuzumessen ist, ist die der Zurückverweisung (§ 354 Abs. 2 StPO). In vielen Fällen des „Durchentscheidens“ hat der BGH davon schlicht abgesehen.
V. Die Entscheidungen des BVerfG vom 7. Januar 2004 (2 BvR 1704/01) und vom 1. März 2004 (2 BvR 2251/03) In jüngster Zeit hat sich die 3. Kammer des 2. Senats des BVerfG gleich zweimal mit der in Rede stehenden Spruchpraxis des BGH im Hinblick auf das grundrechtsgleiche Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) befasst.69 Im ersten Fall, einem Beschluß vom 7. Januar 2004, gelangte das höchste Gericht zu Verfassungswidrigkeit der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen BGH-Entscheidung. Rückblickend scheint es, dass dieser eher unerwartete Richterspruch zur Aufnahme der Neuregelungen des § 354 Abs. 1a und 1b StPO, die auf einen Gesetzesvorschlag aus
__________ 66 BVerfGE 34, 269 (287). 67 So z. B. BGH, Beschl. v. 14. 3. 1993 – 5 StR 695/93; BGH, Beschl. v. 3. 9. 1998 – 4 StR 397/98; BGH, Beschl. v. 13. 4. 1999 – 4 StR 119/99; alle in: BGH-Nack. 68 So auch Steinmetz (Fn. 4), S. 376. 69 BVerfG, Beschl. v. 7. 1. 2004 – 2 BvR 1704/01, NStZ 2004, 273f.; BVerfG, Beschl. v. 1. 3. 2004 – 2 BvR 2251/03, in: BGH-Nack.
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dem Jahre 1996 zurückgehen, in das Erste Gesetz zur Modernisierung der Justiz beigetragen hat.70 Bei der BGH-Entscheidung, die dem Beschluss des BVerfG vom 7. Januar 2004 zugrunde lag, ging es um den Wegfall von zwei von insgesamt 13 Einzeltaten. Der BGH hatte den Schuldspruch des Tatgerichts insoweit berichtigt, die Gesamtstrafe aber aufrechterhalten und deswegen von einer Zurückverweisung abgesehen71. Die Fallgruppe Wegfall einer bzw. einzelner von mehreren Verurteilungen (oben unter III.4c) war nicht lange zuvor Gegenstand einer Entscheidung des BVerfG vom März 2000 gewesen72. In dem damals zugrunde liegenden Fall hatte der BGH die Gesamtstrafe des Tatgerichts trotz einer von ihm gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorgenommenen Teileinstellung einer von fünf Einzelstrafen aufrechterhalten.73 Die damalige Verfassungsbeschwerde hatte die 3. Kammer des 2. Senats des BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen mit der Begründung: „Die das Verfahren vereinfachende Schuldspruchberichtigung zu Gunsten wie auch zu Ungunsten des Angeklagten durch ein Revisionsgericht entsprechend §§ 349 Abs. 2, 354 Abs. 1 StPO ist grundsätzlich verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.“
So war es einigermaßen überraschend, dass das BVerfG in seinem Beschluss vom 7. Januar 2004 zu dem Ergebnis gelangte, der BGH habe vorliegend „willkürlich eine nicht ihm, sondern dem Tatgericht zustehende Strafzumessungskompetenz wahrgenommen und damit die Bedeutung von Art. 101 Abs. 2 Satz 1 GG verkannt“.74
__________ 70 So Senge in seinem Beitrag im vorliegenden Band, der sich i. ü. sehr kritisch mit der Entscheidung auseinandersetzt und den BGH gegen den Vorwurf willkürlicher Rechtsanwendung in Schutz nimmt. 71 Das LG hatte den Bf. wegen insg. 13 Straftaten zur Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Jahren verurteilt. Die Revision des Bf. führte zum Wegfall von 2 Einzelstrafen von 1 Jahr und von 4 Monaten Freiheitsstrafe. Insoweit wurde das Verfahren an das AG zurückverwiesen. Mit Blick auf die verbleibende Einzelstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten sowie auf die Summe der übrigen Einzelfreiheitsstrafen von 7 Jahren und 2 Monaten schloss der BGH aus, dass der Tatrichter ohne die ausgeschiedenen Einzelstrafen zu einer niedrigeren Gesamtfreiheitsstrafe gelangt wäre und sah deswegen von der Aufhebung der Gesamtstrafe ab (BGH, Beschl. v. 25. 7. 2001 – 2 StR 290/01). 72 BVerfG, Beschl. v. 1. 3. 2000 – 2 BvR 2049/99, in: BGH-Nack. 73 BGH, Beschl. v. 14. 9. 1999 – 4 StR 57/99, in: BGH-Nack. 74 BVerfG, Beschl. v. 7. 1. 2004 – 2 BvR 1704/01, Rz. 14 = StV 2004, 189. Ganz überraschend ist die Entscheidung des BVerfG freilich nicht. Das BVerfG hat bereits in früheren Entscheidungen, auf die es vorliegend Bezug nimmt, entschieden, dass Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt sein kann, „wenn ein Revisionsgericht eine nach dem Stand des Verfahrens gebotene Zurückverweisung an das Tatsachengericht unterlässt“, und ferner: dass die über die gesetzlich normierten Fälle des § 354 Abs. 1 StPO hinausgehende Strafzumessung durch das Revisionsgericht, die zugleich die Entscheidung des Tatgerichts zur Festsetzung der konkret verwirkten
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Auch wenn das BVerfG erklärtermaßen einzelfallbezogen entschieden hat, lässt sich der Beschluss kaum anders als das Gebot einer restriktiven entsprechenden Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO verstehen, heißt es doch darin: „Immer dann, wenn für die Entscheidung mehr als eine reine Rechtsprüfung, also insbesondere eine Ermessenserwägung, notwendig ist, sollte das Revisionsgericht – so § 354 StPO – keine eigene Sachentscheidung treffen“.75
Für das Gebot einer restriktiven entsprechenden Anwendung des § 354 StPO spricht auch der Umstand, dass die der Verfassungsbeschwerde zugrundeliegende Entscheidung des BGH einerseits und der Beschluss des BVerfG andererseits im Kern darin differieren, inwieweit die weggefallenen Einzelstrafen die Gesamtstrafenbildung des LG geprägt haben. Während das BVerfG davon ausging, dass es sich hierbei nicht um unwesentliche, sprich: um wesentliche Einzelstrafen handelte, war der BGH nach der Logik seiner Entscheidung gerade vom Gegenteil ausgegangen. Eben dies erschien dem BVerfG als willkürlich: „Die Begründung des Revisionsgerichts, es könne ausgeschlossen werden, dass der neue Tatrichter eine mildere Strafe verhängen werde, ist angesichts des Wegfalls der zwei nicht unwesentlichen Einzelstrafen, von denen eine die dritthöchste der 13 Einzelstrafen war, nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar.“76
Das war eine deutliche Absage an die Praxis des BGH, auf der Grundlage des geltenden Rechts – damals nur § 354 Abs. 1 StPO – in weitem Umfang eigene Strafzumessungen vorzunehmen.77 Angesichts dieser Entscheidung musste es wiederum überraschen, dass dieselbe Kammer des BVerfG in einem Beschluss vom 1. März 200478 diejenige
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Strafe verhindert, eine „Verkennung der dem Revisionsgerichts gezogenen Grenzen“ enthält. „Sie verletzt jedenfalls dann das Recht auf den gesetzlichen Richter, wenn sie von willkürlichen Erwägungen bestimmt ist“. Ob dies der Fall sei, „ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu entscheiden“. BVerfG, Beschl. v. 7. 1. 2004 – 2 BvR 1704/01, Rz. 17 = StV 2004, 189 (190). BVerfG, Beschl. v. 7. 1. 2004 – 2 BvR 1704/01, Rz. 21 = StV 2004, 189 (190). Nicht einmal vom Ergebnis her will das BVerfG die Entscheidung des BGH gelten lassen, nämlich auch dann nicht, wenn der BGH „die vom Landgericht unter Einbeziehung aller 13 Einzelstrafen verhängten Gesamtstrafe für rechtsfehlerhaft hielt, weil diese von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, so stark nach unten abweiche, dass ein grobes Missverhältnis zwischen Schuld und Strafe bestünde, und deshalb die aus 11 Einzelstrafen zu bildende neue Gesamtstrafe nicht weniger als sechs Jahre betragen dürfe (eine höhere Strafe war vorliegend gemäß § 358 Abs. 2 StPO ausgeschlossen)“. Auch in diesem Fall, so das BVerfG, sei der BGH lediglich befugt gewesen, wegen des Wegfalls zweier Einzeltaten auch die Gesamtstrafe aufzuheben und die Sache zur erneuten Prüfung an die Vorinstanz zurückzuverweisen. „Er war jedoch nicht berechtigt, selbst eine Strafzumessung vorzunehmen“. Vgl. Junker, Anmerkung zum BVerfG, Beschl. v. 7. 1. 2004 – 2 BvR 1704/01, StraFo 2004, 132 (133). BVerfG, Beschl. v. 1. 3. 2004 – 2 BvR 2251/03, in: BGH-Nack.
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Spruchpraxis des BGH verfassungsrechtlich gebilligt hat, wonach die sog. Konkurrenzkorrekturen in aller Regel keine Verringerung des verwirklichten Tatunrechts bedeuten, mithin das Revisionsgericht es im Falle solcher Korrekturen bei im Übrigen unverändertem Schuldumfang bei dem Gesamtstrafenausspruch des Tatgerichts belassen dürfe. Konkret ging es um eine Verurteilung wegen Untreue in 916 Fällen, die das OLG Stuttgart auf die Revision hin in 335 Fälle abgeändert hatte „bei unverändertem Unrechtsgehalt der Gesamtheit der Taten“. Außerdem hatte das OLG Stuttgart die Einzelstrafen neu festgesetzt. Trotzdem war nach Auffassung des OLG der Gesamtstrafenausspruch von der Neubewertung der Konkurrenzen und der Neufestsetzung der Einzelstrafen unberührt geblieben. Die 3. Kammer des 2. Senats des BVerfG hat in ihrem Beschluss vom 1. März 2004 diese Auffassung des OLG Stuttgart für nachvollziehbar erachtet „angesichts des straffen Zusammenzugs bei der Gesamtstrafenbildung durch das Landgericht, der nach wie vor hohen Anzahl von Einzeltaten sowie der Tatsache, dass die Kammer die Vielzahl der Einzeltaten nicht zu Lasten der Beschwerdeführerin berücksichtigt hat“.
Die Entscheidung vom 7. Januar 2004 sei im Ergebnis nicht von Bedeutung, denn: „Der Beschluss des Oberlandesgerichts unterscheidet sich maßgeblich von der im zitierten Verfahren angegriffenen Entscheidung. Hier erfolgte eine Änderung der rechtlichen Bewertung der Konkurrenzverhältnisse bei unverändertem Unrechtsgehalt der Gesamtheit der Taten. Dort betraf die Entscheidung ein Verfahren, in dem das Revisionsgericht die Gesamtstrafe aufrechterhielt, obwohl es durch isolierte Zurückverweisung einzelne Taten herausgenommen hat, die das Landgericht bei der Bildung der Gesamtstrafe als wesentlich erachtet hatte“79.
VI. Entscheidungen des BGH aus dem Jahre 2004 vor den gesetzlichen Neuregelungen Der BGH hat sich vom Beschluss des BVerfG vom 7. Januar 2004 wenig beeindruckt gezeigt, wie ein Blick auf die Entscheidungen der nachfolgenden Monate zeigt. So hat der 2. Strafsenat in einer Entscheidung vom 14. Januar 2004 eine vom Tatgericht verhängte Gesamtfreiheitsstrafe wegen rechtsstaatswidriger Verzögerung des Verfahrens gemäß § 354 Abs. 1 StPO analog reduziert, damit der Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Behandlung seiner Sache in angemessener Frist nicht erneut beeinträchtigt werde. Der vom Senat vorgenommene Rechtsfolgenausspruch ist auch insofern bemerkenswert, als er sowohl in Übereinstimmung mit dem Antrag des GBA als auch mit Zu-
__________ 79 BVerfG, Beschl. v. 1. 3. 2004 – 2 BvR 2251/03 Rz. 6, in: BGH-Nack.
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stimmung des Verteidigers des Angeklagten erfolgte, und damit den wohl ersten Fall einer sog. Urteilsabsprache beim BGH darstellt80. Ebenfalls am 14. Januar 2004 korrigierte der 2. Strafsenat ein Konkurrenzverhältnis von Tatmehrheit zu Tateinheit. Nach Auffassung des Senats stand der Schuldspruchänderung § 265 StPO nicht entgegen, weil sich der Angeklagte nicht anders als geschehen hätte verteidigen können. Die vom Landgericht verhängte Gesamtfreiheitsstrafe habe als Einzelstrafe bestehen bleiben können, weil die Konkurrenzkorrektur den Unrechts- und Schuldgehalt der Taten, so wie er in der angesprochenen Gesamtfreiheitsstrafe zum Ausdruck gekommen sei, nicht berührt habe81. Am 28. Januar 2004 kassierte der 2. Strafsenat eine Maßregelanordnung nach § 64 StGB, weil er meinte ausschließen zu können, dass eine neue Verhandlung Feststellungen ergebe, die ein anderes Ergebnis rechtfertigen würden82. Am 5. Februar 2004 hob der 5. Strafsenat in einer Steuersache einen Schuldspruch teilweise auf, ohne wegen des damit verbundenen Wegfalls dreier Einzelstrafen die Gesamtstrafe aufzuheben. Der Senat schloss aus, dass der Tatrichter auf der Grundlage der verbleibenden Einzelstrafen bei zutreffender rechtlicher Würdigung eine noch mildere Gesamtstrafe verhängt hätte. In diesem Zusammenhang bemerkte der Senat, dass der Beschluss des BVerfG vom 7. Januar 2004 nicht zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache „nötigt“. Die vom Landgericht festgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe könne aus Rechtsgründen nicht noch niedriger bemessen werden, anderenfalls würde sie das Maß des noch Schuldangemessenen in nicht mehr hinnehmbarer Weise unterschreiten83. Am 13. Februar 2004 wechselte der 2. Strafsenat eine Verurteilung wegen § 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG gegen eine solche nach § 29 Abs. 1 und 3 BtMG aus, ohne den Strafausspruch zu ändern, weil sich seiner Auffassung nach der Angeklagte nicht anders hätte verteidigen können. Gleichzeitig stellte er in einem Fall den Schuldspruch von täterschaftlichem Handeln auf Beihilfe um. Auch dies gab dem Senat keinen Anlass zu einer Änderung des Strafausspruchs, weil er angesichts des unveränderten Strafrahmens und der dem unterem Bereich entnommenen maßvollen Sanktion meinte ausschließen zu können, dass das Tatgericht bei richtiger Rechtsanwendung auf eine noch mildere Einzel- oder Gesamtstrafe erkannt hätte84. Hingegen kamen dem 2. Strafsenat am 6. Februar 2004 und am 7. April 2004 Bedenken, die bisherige Praxis fortzuführen. Der Senat sah sich durch die Entscheidung des BVerfG vom 7. Januar 2004 daran gehindert, bei teilweiser
__________ 80 81 82 83 84
BGH, Beschl. v. 14. 1. 2004 – 2 StR 435/03, in: BGH-Nack. BGH, Beschl. v. 14. 1. 2004 – 2 StR 445/03, in: BGH-Nack. BGH, Beschl. v. 28. 1. 2004 – 2 StR 493/03, in: BGH-Nack. BGH, Urt. v. 5. 2. 2004 – 5 StR 580/03 = wistra 2004, 185 (186), in: BGH-Nack. BGH, Beschl. v. 13. 2. 2004 – 2 StR 517/03 = StV 2004, 604.
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Aufhebung des Schuldspruchs gemäß § 154 Abs. 2 StPO die Gesamtstrafe aufrechterhalten. Er hob mit dem Schuldspruch auch den Strafausspruch auf und verwies die Sache zurück85. Mit Hilfe der Suchmaske für BGH-Entscheidungen auf der Homepage des BGH lässt sich feststellen, dass bis zum 31. August 2004 deutlich über 50 Entscheidungen ergangen sind, die auf einer entsprechenden Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO beruhen. Lediglich vier dieser Entscheidungen haben sich ausdrücklich mit dem Beschluss des BVerfG vom 7. Januar auseinandergesetzt, zusätzlich zu den drei bereits genannten Entscheidungen ein Beschluss des 1. Senats vom 30. Juni 200486. Darin hat der Senat ein „Durchentscheiden“ – Einstellung des Verfahrens hinsichtlich einer von fünf Taten wegen Strafverfolgungsverjährung und Reduzierung des Strafausspruchs in vollem Umfang um die weggefallene Strafe – damit begründet, dass die niedrigste mögliche Gesamtstrafe festgesetzt werde und insoweit für die Ausübung des dem Tatrichter vorbehaltenen Ermessens durch das Revisionsgericht kein Raum mehr sei.
VII. Die gesetzlichen Neuregelungen § 354 Abs. 1a und 1b StPO Mit den Neuregelungen des § 354 Abs. 1a und 1b StPO hat der Gesetzgeber die Kompetenz des Revisionsgerichts zur eigenen Sachentscheidung lediglich im Rechtsfolgenausspruch erweitert, insoweit allerdings in einem nicht unbeträchtlichen Umfang, der über die bisherige Rechtslage und -praxis hinausgeht87. Gemäß § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO kann das Revisionsgericht „wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen“ von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge „angemessen“ ist. Das Revisionsgericht kann es in diesem Fall also bei dem Rechtsfolgenausspruch des Tatgerichts belassen, der demzufolge in Rechtskraft erwächst. Ferner kann das Revisionsgericht gemäß Satz 2 der Vorschrift auf Antrag der Staatsanwaltschaft „die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen“. Die Gesetzessystematik lässt keinen Zweifel daran, dass diese Möglichkeit ebf. (lediglich) im Fall einer Gesetzesverletzung „nur bei Zumessung der Rechtsfolgen“ eröffnet ist. Solche Gesetzesverletzungen sind typischerweise die „klassischen“ Strafzumessungsfehler nach § 46 Abs. 2
__________ 85 BGH, Beschl. v. 6. 2. 2004 – 2 StR 366/03; BGH, Urt. v. 7. 4. 2004 – 2 StR 436/03; jew. in: BGH-Nack. 86 BGH, Beschl. v. 30. 6. 2004 – 1 StR 526/03, in: BGH-Nack. 87 Näher zu den Neuregelungen der Beitrag von Senge im vorliegenden Band; ferner Knauer/Wolf, NJW 2004, 2936; Schubert/Moebius, NJ 2004, 436; Eisenberg/ Haeseler, StraFo 2005, 221; Langrock, StraFo 2005, 226.
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Eigene Sachentscheidungen des Revisionsgerichts
und 3 StGB88. (Zur Frage, ob die Vorschrift auch auf Schuldspruchberichtigungen Anwendung findet siehe sogleich unter VIII.). Die Erweiterung der Entscheidungsmöglichkeiten des Revisionsgerichts besteht darin, dass das Revisionsgericht die „Angemessenheit“ der Strafe selbständig beurteilen kann. Nach bisherigem Recht durfte das Revisionsgericht das angefochtene Urteil hinsichtlich der Rechtsfolgen nur dann aufrecht erhalten, wenn es zu der Überzeugung gelangte, dass das Urteil auf dem Strafzumessungsfehler nicht i. S. d. § 337 StPO beruhte, der erstinstanzliche Tatrichter bei zutreffender rechtlicher und tatsächlicher Würdigung also zu keinem anderen Ergebnis gelangt wäre89. Darauf kommt es jetzt nicht mehr an90. Die Vorschrift des § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO entbindet das Revisionsgericht von der Beruhensprüfung und eröffnet ihm ein eigenes Strafzumessungsermessen. Fraglich ist, wie weit das Strafzumessungsermessen des Revisionsgerichts reicht. Nach einer neueren Entscheidung des OLG Celle vom 2. 11. 200491 soll die Vorschrift des § 354 Abs. 1a StPO „grundsätzlich eng auszulegen“ sein. Ob eine Strafe angemessen ist oder nicht, könne vom Revisionsgericht nur „in eindeutigen Fällen“ beantwortet werden, „nämlich dann, wenn zwar nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Tatrichter zu einer anderen Bewertung hätte kommen können, diese Möglichkeit aber eher fern liegend ist“.
Diese Meinung ist vom Ansatz her zu begrüßen92, gerade im Hinblick auf die Schuldspruchberichtigungen. Der BGH hat insoweit in der Vergangenheit, wie oben dargestellt, von der (selbst geschaffenen) Möglichkeit der Aufrechterhaltung der Rechtsfolge des angefochtenen Urteils nicht selten zu großzügig Gebrauch gemacht und die Maßgabe des historischen Gesetzgebers, dass die Abmessung der Strafe dem Gebiete des Tatsächlichen angehöre, aus dem Blick verloren. Aus demselben Grund ist die genannte Entscheidung des OLG Celle vom 2. 11. 2004 allerdings insoweit abzulehnen, als das Gericht eine eigene Strafzumessung des Revisionsgerichts gem. § 354 Abs. 1a StPO auch für zulässig hält, wenn Rechtsfehler im Bereich der Feststellung (und nicht nur bei der Bewertung) der Strafzumessungstatsachen vorliegen. So war es im konkreten Fall. Das OLG Celle hat die vom Tatgericht ausgesprochene Strafe für angemessen erachtet, obwohl es die Strafzumessungstatsachen als unvollstän-
__________ 88 Vgl. Senge in seinem Beitrag im vorliegenden Band. 89 Siehe oben unter III. 3. 90 Vgl. Senge in seinem Beitrag im vorliegenden Band; ferner Eisenberg/Haeseler, StraFo 2005, 221, jeweils unter zutreffendem Hw. auf die Gesetzgebungsmaterialien, insb. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 15/3482. 91 OLG Celle, Urt. v. 2. 11. 2004 – 21 Ss 58/04 = StraFo 2005, 77 m. Anm. Junker. 92 Kritisch Senge in seinem Beitrag im vorliegendem Band.
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dig erkannt hat93. Dieses Vorgehen steht im Widerspruch zur (bisher) einhelligen Ansicht, dass eigene Sachentscheidungen des Revisionsgerichts überhaupt nur dann in Betracht kommen, wenn ungeachtet des Rechtsfehlers vollständige und tragfähige Urteilsfeststellungen vorliegen94. An dieser Voraussetzung ist auch in den Fällen des § 354 Abs. 1a (und 1b) StPO festzuhalten. Das angefochtene Urteil muss ungeachtet des Strafzumessungsfehlers eine hinreichend sichere Grundlage für die Prüfung der Angemessenheit der verhängten Rechtsfolge bieten95. Das gebietet bereits der Schuldgrundsatz. Ohne vollständige Feststellung der Strafzumessungstatsachen kann die schuldangemessene Strafe nicht bestimmt werden96. Die Neuregelung des § 354 Abs. 1b StPO betrifft „Gesetzesverletzung[en] bei Bildung einer Gesamtstrafe (§§ 53, 54, 55 StGB)“. Die Vorschrift gibt dem Revisionsgericht in diesen – praktisch sehr relevanten – Fällen mehrere Möglichkeiten an die Hand97. Es kann –
gem. Abs. 1b Satz 1 die Gesamtstrafe mit der Maßgabe aufheben, dass die infolge der Aufhebung notwendig gewordene nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe im Beschlussverfahren nach den §§ 460, 462 StPO zu treffen ist (was eine neue Hauptverhandlung erspart) und
–
gem. Abs. 1b Satz 2 i. V. m. Satz 1 und Abs. 1 oder Abs. 1a in dieser Weise auch dann verfahren, wenn Einzelstrafen z. B. durch Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses oder Freispruch wegfallen oder es selbst eine Einzelstrafe auf Antrag der Staatsanwaltschaft herabsetzt (und es also nur noch um die konkrete Bildung der Gesamtstrafe geht)98.
__________ 93 Siehe dazu die zutreffende Kritik von Junker in seiner Anm. zum Urt. des OLG Celle, StraFo 2005, 76 (78) („ein Unding“). 94 Siehe oben unter III. 3. 95 Vgl. Senge in seinem Beitrag im vorliegenden Band. So auch bereits die Stellungnahme des Strafrechtsausschusses der BRAK zu den Gesetzesvorschlägen im Bericht des Strafrechtsausschusses für die 65. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 22./23. November 1994 zur Vorbereitung eines weiteren Rechtspflegeentlastungsgesetzes (dazu oben Fn. 3): „Im Bereich der Strafzumessung sollte dem Revisionsgericht die Möglichkeit eigener Entscheidung grundsätzlich dann gewährt werden, wenn die endgültige Festsetzung einer (an sich aus Rechtsgründen aufzuhebenden) Strafe auf der Grundlage der Feststellungen und der Strafzumessungserwägungen des tatrichterlichen Urteils ohne weiteres möglich ist.“ Zu der speziellen Frage, ob das Revisionsgericht hierbei solche Feststellungen einbeziehen darf, auf die der Tatrichter selbst ersichtlich nicht abgestellt hat und die nicht Gegenstand der Revision sind, siehe Langrock, StraFo 2005, 226. 96 Junker in seiner Anm. zum Urt. des OLG Celle, StraFo 2005, 76 (78). 97 Zu Einzelheiten der Neuregelung des § 354 Abs. 1b StPO siehe den Beitrag von Senge im vorliegenden Band. Kritik an der Regelung üben Eisenberg/Haeseler, StraFo 2005, 221. 98 Vgl. BT-Drucks. 15/3482, S. 22.
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Das Revisionsgericht kann in den vorgenannten Fällen aber auch gem. Abs. 1b Satz 3 eine eigene Entscheidung über die Gesamtstrafe treffen99, nämlich – –
i. V. m. Abs. 1a von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, wenn die Gesamtstrafe „angemessen“ ist, oder i. V. m. Abs. 1a auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Gesamtstrafe „angemessen herabsetzen“.
Schließlich ist es dem Revisionsgericht unbenommen, gem. § 354 Abs. 2 StPO zu verfahren und unter Aufhebung der Gesamtstrafe die Sache zurückverweisen.
VIII. Anwendung des § 354 Abs. 1a und 1b StPO auch bei Schuldspruchberichtigungen? Im vorliegenden Zusammenhang ist insbesondere die Frage von Interesse, ob die Neuregelungen des § 354 Abs. 1a und 1b StPO auch im Falle von Schuldspruchberichtigungen Anwendung finden, also nicht nur bei „klassischen Strafzumessungsfehlern“ nach § 46 Abs. 1 und 3 StGB, sondern auch beim Austausch von materiellen Straftatbeständen und Begehungsformen, bei Konkurrenzkorrekturen und beim Wegfall einzelner Verurteilungen (oben unter III.). Senge hat in seinem Beitrag im vorliegenden Band die Gründe, die für und gegen eine Anwendung des Abs. 1a im Falle von Schuldspruchberichtigungen sprechen, diskutiert und sich für erstere und damit für die Fortsetzung der bisherigen Spruchpraxis ausgesprochen. Ein Rechtsfolgenausspruch infolge eines rechtlich unzutreffenden Schuldspruchs sei von Anfang an mit einem Rechtsfehler bemakelt, der erst mit der Schuldspruchkorrektur offenbar werde; speziell im Falle einer (vom Revisionsgericht vorgenommenen) Teileinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO liege ihm ein zu großer Schuldumfang zugrunde. Mit der Einfügung der Bestimmung des § 354 Abs. 1a StPO habe der Gesetzgeber ersichtlich revisionsrechtliche Entscheidungen wie jene des 2. Senats des BGH vom 25. Juli 2001, die zu der Kammergerichtsentscheidung des BVerfG vom 7. Januar 2004 führte (s. o. unter VI.), dem Vorwurf des Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entziehen wollen. Schließlich kann Senge auf die Entscheidung des 3. Strafsenats vom 2. Dezember 2004 verweisen100. Der 3. Senat hat in dieser Entscheidung den Strafausspruch des Tatgerichts gem. § 354 Abs. 1a StPO als angemessene Rechtsfolge bestehen lassen (und damit im Ergebnis die Revision verworfen), obwohl er den Schuldspruch wegen Betruges in Tateinheit mit Beihilfe zur Untreue dahin abänderte, dass der Angeklagte nur des Betruges schuldig sei.
__________ 99 Vgl. BT-Drucks. 15/3482, S. 22. 100 BGH, Beschl. v. 2. 12. 2004 – 3 StR 273/04 = StV 2005, 75 = wistra 2005, 185.
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Nach Auffassung des 3. Senats ist § 354 Abs. 1a StPO nicht so zu verstehen, „dass nach dieser Vorschrift nur verfahren werden kann, wenn ein Rechtsfehler ausschließlich bei der Zumessung der Strafe aufgetreten ist, die Nachprüfung des Urteils zum Schuldspruch hingegen keinen Rechtsfehler ergeben hat und dieser unverändert stehen bleibt“.
Eine derartige Auslegung würde den Anwendungsbereich der Vorschrift den Intentionen des Gesetzgebers zuwider beschränken. Erklärtes Ziel der gesetzlichen Neuregelung sei es, zum Zwecke der Ressourcenschonung und der Verfahrensbeschleunigung Zurückverweisungen nicht nur in den Fällen zu vermeiden, in denen das Revisionsgericht ausschließen kann, dass die konkret verhängte Strafe auf dem vom Tatrichter bei der Strafzumessung begangenen Rechtsfehler beruht, § 337 Abs. 1 StPO. Vielmehr solle das Urteil auch dann rechtskräftig werden, wenn das Revisionsgericht die verhängte Strafe trotz des Rechtsfehlers bei ihrer Zumessung im Ergebnis für angemessen erachtet, selbst wenn nicht festgestellt werden kann, dass der Tatrichter ohne den Fehler auf dieselbe Strafe erkannt hätte101. Man mag all diese Argumente gewichten, wie man will. Jedenfalls stehen sie im Ergebnis nicht im Einklang mit dem Wortlaut der Vorschrift des § 354 Abs. 1a StPO, wonach dem Revisionsgericht das eigene Strafzumessungsermessen (s. o.) wegen Gesetzesverletzungen „nur bei Zumessung der Rechtsfolgen“ eingeräumt wird. Bei Schuldspruchberichtigungen liegt die Gesetzesverletzung gerade nicht „nur“ bei der Rechtsfolge, sondern im Schuldspruch und (ggf.) erst infolgedessen auch im Rechtsfolgenausspruch. Die vorgenannten Argumente besagen letztlich nicht mehr, als dass eine Auslegung des § 354 Abs. 1a StPO, die sich am Wortlaut orientiert, unpraktikabel ist. Favorisiert wird demgegenüber eine Auslegung, die den Zweck der Neuregelung, die Verfahrensbeschleunigung, nachdrücklich befördert. Das ist eine zeitgemäße, gleichwohl nicht unproblematische Interpretation. Der Gesetzgeber wollte die Möglichkeiten, von einer Aufhebung des Urteils abzusehen, erklärtermaßen nur „behutsam“ erweitern102. Gewiss lässt sich den Gesetzgebungsmaterialien nicht entnehmen, dass bei Rechtsfehlern, die zu einer Änderung des Schuldspruchs führen, für eine Bewertung der Angemessenheit durch das Revisionsgericht generell kein Raum sein kann103. Aber es lässt sich den Materialien ebenso wenig entnehmen, dass der Gesetzgeber dies wollte. Der Bundesrat ist in seinem Entwurf eines Justizbeschleunigungsgesetzes, der eine Neuregelung des § 354 Abs. 1a und 1b vorsah, die sich weitgehend an die des Regierungsentwurfs des Justizmodernisierungsgesetzes anlehnte, davon ausgegangen, dass die Neuregelung der Erfahrung der Praxis Rechnung trage, dass es „bei unverändertem Schuldspruch und Zurückverweisung wegen der Strafzumessung“ häufig nicht zu wesentlich
__________ 101 Hinweis auf BT-Drucks. 15/3482 S. 21 f. 102 BT-Drucks. 15/3482, S. 22. 103 BGH, Beschl. v. 2. 12. 2004 – 3 StR 273/04 = StV 2005, 75 = wistra 2005, 185.
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Eigene Sachentscheidungen des Revisionsgerichts
anderen Rechtsfolgenentscheidungen komme104. Allerdings heißt ebendort auch: „Soweit die Rechtsprechung Absatz 1 extensiv auslegt, wird auch dies von der Neuregelung nicht berührt.“ Damit hat die Spruchpraxis der analogen Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO als solche eine gewisse legislatorische Weihe erfahren. Kurz vor der o. g. Entscheidung des 3. Senat hat der 4. Strafsenat hat in einem Beschluss vom 16. November 2004 die Neuregelung des § 354 Abs. 1b StPO auf den Fall einer Schuldspruchberichtigung – Wegfall einer Einzelstrafe durch Teileinstellung gem. § 154 Abs. 2 StPO – angewendet und dies mit den Gesetzesmaterialien begründet105. Vor einer abschließenden Würdigung der Rechtslage sei kurz ein Blick auf die Spruchpraxis des BGH seit Inkrafttreten des Justizmodernisierungsgesetzes am 1. September 2004 geworfen. Er zeigt, dass sich bei der Anwendung der Neuregelungen auf Schuldspruchberichtigungen noch keine klaren dogmatischen Linien herausgebildet haben. Im Zeitraum vom 1. September 2004 bis zum 15. März 2005 sind auf der Homepage des BGH insgesamt 434 Entscheidungen der Strafsenate des BGH veröffentlicht. Bei etwa 12 % der Fälle (51 Entscheidungen) handelt es sich um eigene Sachentscheidungen. Von diesen 51 Entscheidungen betreffen lediglich 12 Entscheidungen die in den Neuregelungen ausdrücklich normierten Fälle der eigenen Sachentscheidung „nur bei Zumessung der Rechtsfolgen“106. Von der Möglichkeit des Beschlussverfahrens gemäß § 354 Abs. 1b Satz 1 StPO hat der BGH im genannten Zeitraum viermal Gebrauch gemacht. Bei etwa der Hälfte der eigenen Sachentscheidungen ist der BGH nach den alten Begründungsmustern zur analogen Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO verfahren, wobei er auf die neue Gesetzeslage nicht eingeht und für das „Durchentscheiden“ in der Regel keine Rechtsgrundlage benennt107.
__________ 104 BT-Drucks. 15/1491 (v. 28. 8. 2003), S. 26. 105 BGH, Beschl. v. 16. 11. 2004 – 4 StR 392/04 = wistra 2005, 111 = StV 2005, 76 unter Hw. auf BT-Drucks. 13/4541 und 15/3482. M. E. trägt die Begründung nicht, weil der Gesetzgeber bei der Schaffung der Neuregelung als Fälle des Wegfalls von Einzelstrafen erkennbar nur solche gem. § 354 Abs. 1 StPO vor Augen hatte. Mit „Einstellung“ meint § 354 Abs. 1 StPO aber nur eine solche wegen eines Verfahrenshindernisses, nicht hingegen Einstellungen gem. §§ 153 ff. StPO (vgl. oben unter II. 2. b)). 106 Darüber hinaus gibt es noch vier weitere Entscheidungen, bei denen es zum Wegfall von Einzelstrafen wegen Teileinstellung aufgrund von Verfahrenshindernissen kam. Diese fallen – wie sich den Gesetzesmotiven entnehmen lässt (BTDrucks. 13/4541 u. BT-Drucks. 15/3482) – ebenfalls unter die gesetzlichen Neuregelungen. 107 Z. B. BGH, Urt. v. 28. 10. 2004 – 3 StR 460/03; BGH, Beschl. v. 15. 10. 2004 – 2 StR 316/04; BGH, Beschl. v. 16. 11. 2004 – 3 StR 391/04; BGH, Urt. v. 1. 2. 2005 – 1 StR 327/02; BGH, Beschl. v. 14. 9. 2004 – 4 StR 230/04 (wendet ausdrücklich § 354 Abs. 1 StPO analog an). Alle Entscheidungen unter www.bundesgerichts hof.de
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Hierbei hat er mit Ausnahme von zwei Fällen den Rechtsfolgenausspruch des Tatgerichts aufrecht erhalten. Schließlich gibt es 7 Entscheidungen, in denen der BGH die Schuldspruchberichtigung mit oder ohne Änderung des Rechtsfolgenausspruchs auf die direkte108 oder entsprechende Anwendung der gesetzlichen Neuregelungen stützt109.
IX. Fazit Die in der Praxis des BGH so beliebte „analoge“ Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO ist eine stark ergebnisorientierte Rechtsprechung. Sie steht methodisch auf schwachen Füßen, ist teilweise sogar verfassungsrechtlich bedenklich. Das gilt namentlich für die so genannten Schuldspruchberichtigungen mit oder ohne Rechtsfolgenentscheidung, weil die Revisionsgerichte hierbei nicht selten ein tatrichterlichähnliches Ermessen ausüben, das ihnen von ihrer Funktion her grundsätzlich nicht zukommt. Das heißt nicht, dass eigene Strafzumessungsermessungsentscheidungen des Revisionsgerichtes nicht wünschenswert wären. Der Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsrechtsanwaltskammer hat sich, wie einleitend bemerkt, unter der Mitwirkung des Jubilars schon vor Jahren für eine Erweiterung der eigenen Sachentscheidungen des Revisionsgerichts im Bereich der Strafzumessung in „geeigneten Fälle“ ausgesprochen, nicht zuletzt mit dem Argument, dass die Interessen des Beschuldigten beim Revisionsgericht oft besser aufgehoben sein werden als beim Tatgericht, an das die Sache zurückverwiesen wird und das nicht selten unangemessene „Solidarität“ mit dem Erstgericht wahrt110. Fraglich ist indessen, ob alle Fälle von Schuldspruchberichtigungen „geeignete Fälle“ sind. Zweifel sind angebracht. Fraglich ist ferner, ob die Neuregelung des § 354 Abs. 1a StPO auch bei Schuldspruchberichtigungen gilt. Nimmt man dies mit der o. g. Rechtsprechung an111, dann sind die Revisionsgerichte jedenfalls gehalten, „behutsam“ zu verfahren, wenn sie von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen wollen112. Insoweit ist die Vorschrift „eng“ auszulegen113. Meist
__________
108 Z. B. BGH, Beschl. v. 29. 9. 2004- 1 StR 565/03; BGH, Beschl. v. 9. 11. 2004 – 3 StR 382/04; BGH, Beschl. v. 22. 12. 2004 – 3 StR 403/03. Alle Entscheidungen unter www.bundesgerichtshof.de 109 Z. B. BGH, Beschl. v. 2. 12. 2004 – 3 StR 273/04; BGH, Beschl. v. 23. 2. 2005 – 1 StR 554/04. Alle Entscheidungen unter www.bundesgerichtshof.de 110 Stellungnahme des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer zu den Gesetzesvorschlägen im Bericht des Strafrechtsausschusses für die 65. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 22./23. November 1994 zur Vorbereitung eines weitere Rechtspflegeentlastungsgesetzes, dazu oben Fn. 3. 111 BGH, Beschl. v. 2. 12. 2004 – 3 StR 273/04; siehe ferner BGH, Beschl. v. 12. 8. 2004 – 1 StR 483/04; BGH, Beschl. v. 23. 2. 2005 – 1 StR 554/04; BGH, Beschl. v. 24. 2. 2005 – 1 StR 33/05. 112 BT-Drucks. 15/3482, S. 21f. 113 OLG Celle, Urt. v. 2. 11. 2004 – 21 Ss 58/04, StraFo 2005, 76f.
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Eigene Sachentscheidungen des Revisionsgerichts
wird entweder eine Strafmilderung durch das Revisionsgericht selbst – dazu sogleich – oder aber eine Zurückverweisung in Betracht kommen. Hierzu hat der 3. Senat in seiner Entscheidung vom 2. 12. 2004 ausgeführt, dass sich die Aufhebung des Strafausspruchs regelmäßig auch dann empfehlen werde, wenn das Revisionsgericht die Strafe im Ergebnis zwar für angemessen erachtet, jedoch die abgeurteilte Straftat als Folge der Schuldspruchänderung „ein anderes Gepräge“ erfahre. Bei einer „gravierenden Änderung des Schuldspruchs“ werde sich die verhängte Rechtsfolge des Instanzgerichts in aller Regel nicht mehr als angemessen darstellen114. Entsprechendes gilt im Falle einer Schuldspruchberichtigung gem. § 354 Abs. 1b StPO115. Auch insoweit sollten die Revisionsgerichte von der Möglichkeit, den Rechtsfolgenausspruch aufrecht zu erhalten (§ 354 Abs. 1 b Satz 2 und Satz 3 i. V. m. Abs. 1 a Satz 1 StPO) nur zurückhaltend Gebrauch machen. Hält das Revisionsgericht eine Strafmilderung für angezeigt, dann muss es entweder zurückverweisen oder auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft hinwirken (§ 354 Abs. 1a Satz 2 StPO). Für Strafmilderungen ohne einen solchen Antrag, wie sie in der Vergangenheit nicht selten der Fall waren116, ist kein Raum mehr; denn es gibt keinen sachlichen Grund dafür, weshalb im Falle von Schuldspruchberichtigungen zwar § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO Anwendung finden soll, nicht aber Satz 2. Dasselbe gilt in Fällen des § 354 Abs. 1b Satz 2 und Satz 3 i. V. m. Abs. 1a StPO. Entsprechende Anregungen sollte das Revisionsgericht nicht scheuen, aber es sollte gleichzeitig den Angeklagten bzw. dessen Verteidiger darüber unterrichten, damit dieser sich dazu äußern kann. Selbstverständlich kann der Verteidiger in Absprache mit seinem Mandanten auch von sich aus einen Antrag der Staatsanwaltschaft anregen, worüber er seinerseits das Revisionsgericht informieren sollte. Wenn die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf angemessene Herabsetzung der Rechtsfolge stellt, dann sollte dieser einen konkreten Inhalt haben, um dem Angeklagten und seinem Verteidiger Gelegenheit zu geben, sich inhaltlich damit auseinanderzusetzen und eigene Vorstellungen darzulegen117. Die Mitteilung hat gem. § 349 Abs. 2 StPO zu erfolgen. Was das Maß der Herabsetzung des Rechtsfolgenausspruches anbelangt, so ist das Revisionsgericht an den Antrag der Staatsanwaltschaft allerdings nicht gebunden118. Das folgt schon aus seiner Stellung als Gericht. Ungeachtet dessen wird sich nicht
__________ 114 BGH, Urt. v. 2. 12. 2004 – 3 StR 273/04 = StV 2005, 75 = wistra 2005, 185 (186). 115 Dazu BGH, Beschl. v. 16. 11. 2004 – 4 StR 392/04 (Teileinstellung gem. § 154 Abs. 2 StPO) = StV 2005, 76 = wistra 2005, 111. 116 Z. B. BGH, Beschl. 20. 8. 1998 – 4 StR 328/98; BGH, Beschl. 1. 10. 1998 – 4 StR 347/98; BGH, Beschl. v. 7. 8. 2001 – 5 StR 259/01; BGH, Beschl. v. 27. 8. 2003 – 5 StR 329/03. Alle Entscheidungen in: BGH-Nack. 117 So überzeugend Senge in seinem Beitrag im vorliegenden Band. 118 BT-Drucks. 15/3482, S. 22.
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selten empfehlen, aus Gründen der Akzeptanz eine Verständigung zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung anzustreben, wie dies im Fall eines Beschluss des 2. Senats vom 14. Januar 2004 geschehen ist119. Generell sei auch für den Umgang mit den Neuregelungen „Selbstbescheidung“ und Augenmaß angemahnt120.
__________ 119 BGH, Beschl. v. 14. 1. 2004 – 2 StR 435/04, in: BGH-Nack. 120 So bereits im Hinblick auf die alte Rechtslage Rissing-van Saan, GA 2003, 902.
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Entfällt das Richterprivileg für die Tatsachenfeststellung? Inhaltsübersicht I. Widersprüchlichkeiten bei der heimlichen Tatsachenfindung 1. Tagespolitische Blüten oder System? a) Heimliche Feststellung von Personenmerkmalen durch DNA b) Heimliche Ausforschung von Finanz- und Steuerdaten c) Heimliche Telefon- und GPSAufzeichnungen d) Folgerungen 2. Stille Aufforderung zum Rechtstourismus? II. Notwendigkeit vollständiger Tatsachenfeststellungen 1. Erwartungen an eine zutreffende Entscheidungsgrundlage im Strafverfahren a) Kulturelle Grundlagen b) Höchstrichterliche Vorgaben c) Fürsorgepflicht des Staates statt Aufforderung zur Privatfehde 2. Erwartungen aufgrund der gesetzlichen Normierung III. Beschränkung der Strafjustiz – auf allen Ebenen 1. Zurückdrängung richterlicher Tatsachenfeststellungen 2. Einschränkungen der richterlichen Tatsachenfeststellung in der Rechtsentwicklung a) Schranken im positiven Recht b) Schranken aus Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten c) Schranken aus dem Rechtsstaatsund Verhältnismäßigkeitsprinzip d) Zeitliche, räumliche und institutionelle Schranken
e) Schranken im europäischen Einigungsprozeß 3. Das Dilemma der gesetzlichen Vereinfachungs- und Abschaffungsvorschläge a) Reduzierung der Unmittelbarkeit b) Reduzierung der Gerichtsbarkeiten, Verlagerung von Zuständigkeiten auf Einzelrichter c) Reduzierung der Personalausstattung und der Kosten d) Reduzierung auf technisch nachweisbare Massenphänomene 4. Der beliebige Umgang mit dem Beweisantragsrecht a) Anregungen durch Einlassungen und Erklärungen b) Anträge im Ermittlungsverfahren c) Anträge nach §§ 245 Abs. 2, 244 StPO d) Anträge nach § 244 StPO 5. Folgerungen IV. Vorschläge für eine qualifizierte Tatsachenfeststellung im Strafverfahren 1. Private Erhebungen und ihre Schranken a) Bedürfnis für private Erhebungen b) Gegenstand der Privatermittlungen c) Verwertungsprobleme 2. Qualifizierung der Erhebungen 3. Reformenbedarf: Einführung eines Anerkennungsverfahrens a) Ausgangspunkt: Justizgewährleistungsanspruch b) Einführung eines selbständigen Anerkennungsverfahrens
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In der Ausbildung und der täglichen Begegnung mit jungen Strafjuristen ist es Rechtsanwalt Prof. Dr. Hans Dahs nicht nur beeindruckend gelungen, Erfolgsrezepte für eine fundierte Strafverteidigung zu vermitteln. Durch die Betonung einer werteorientierten Strafjustiz ist er einer der Vordenker für ein menschliches und bürgernahes Strafverfahren geworden1. Ausgezeichnet hat er es verstanden, allen Prozessbeteiligten mahnend vor Augen zu führen, dass die Feststellung der historischen Wirklichkeit und damit der materiellen Wahrheit nicht an formalen Hürden scheitern darf2. Dass diese materielle Wahrheit nur durch eine vollständige, unmittelbare richterliche Tatsachenfeststellung gefunden werden kann, wird von den Reformern eines „modernen und schlanken“ Strafverfahrens in dem Bestreben, die Maximen der Schnelligkeit und Kostenreduzierung durchzusetzen, gerne übersehen. Dieser Beitrag widmet sich deshalb der Notwendigkeit einer gerichtsverwertbaren Tatsachenfeststellung für ein rechtsstaatliches Strafverfahren. Ausgehend von den aktuellen Widersprüchlichkeiten bei der heimlichen Tatsachenfindung (dazu Teil I.), und den Erwartungen an gerechte Justizentscheidungen (dazu Teil II.) werden die das Richterprivileg für Tatsachenfeststellungen zurückdrängenden Entwicklungen aufgezeigt (dazu Teil III.). Maßnahmen zur Gegensteuerung müssen sowohl durch private Initiative als auch durch neue gesetzliche Möglichkeiten ergriffen werden (dazu Teil IV.).
I. Widersprüchlichkeiten bei der heimlichen Tatsachenfindung 1. Tagespolitische Blüten oder System? Die Politik profiliert sich zurzeit durch Strafrecht. Vorschläge zur Verbesserung der Opferrechte, der Aufklärungsquote von Straftaten oder zur Einführung neuer Straftatbestände jagen durch die Medien. Zum Schutz der Bürger soll strafrechtlich gegen die „Abzocker der Sozialsysteme“3, GraffitiSprayer4, Schwarzarbeit5, „Stalking“6 u. a. vorgegangen werden. Die Einfüh-
__________ 1
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Vgl. zur Wahrheitspflicht des Verteidigers Dahs, StraFo 2000, 101; zum Schweigerecht des Beschuldigten ders., NStZ 1999, 386 und NStZ 1992, 448; zu Absprachen im Strafprozeß ders., NStZ 1988, 153; zur Disziplinierung des Strafverteidigers s. a. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 6. Aufl. 1999, Rz. 29. Zur Verwerfung von Revisionen NStZ 1981, 205 und NStZ 2001,298; zur Rechtsmittelreform und den Problemen der Verteidiger mit der Revision NStZ 1999, 321. Tagung des BKA v. 6./7. 9. 2000 zum Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen; Maaß, Wieviel Reform braucht die gesetzliche Krankenversicherung in ZRP 2002, 462; Haft, Reformbedarf beim System der gesetzlichen Sozialversicherung in ZRP 2002, 457; Bauer, Falschabrechnungen, AusR 2002,101. Gesetzentwürfe des Bundesrates BR-Drs. 14/8013 und 15/404, der FDP-Fraktion (15/63) der CDU/CSU Fraktion (15/302). Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit v. 23. 7. 2004, BGBl. I S. 1842. Kleine Anfrage der BT-Fraktion CDU/CSU v. 24. 2. 2003, BT-Drs. 15/477; Gesetzesantrag des Landes Hessen, BR-Drs. 551/04 v. 5.7.04; Stalking-Maßnahmekatalog der Bundesregierung v. 15. 4. 2005 unter www.bmj.bund.de.
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Entfällt das Richterprivileg für die Tatsachenfeststellung?
rung neuer „modischer“ Delikte geht einher mit ausgeweiteten polizeilichen Ermittlungsmethoden und der Einführung und Ausgestaltung von Ermittlungsdatenbanken7, aber auch mit dem Abbau von Rechtsschutzmöglichkeiten und Justizfunktionen. Freiheits- und Eigentumsrechte Einzelner werden beschnitten, der Überwachungsstaat wird ausgebaut. Immer mehr untereinander vernetzte Verfolgungsinstrumentarien sollen die Kriminalitätsbekämpfung perfektionieren. Dagegen werden Verteidigungschancen gegen Vorwürfe durch den Abbau justizieller Kontrollen oder die Nichtakzeptanz von Beweismitteln erschwert. Die folgenden Beispiele demonstrieren das. a) Heimliche Feststellung von Personenmerkmalen durch DNA Seit Einführung der zentralen DNA-Analyse-Datei des BKA am 17. April 1998 wird verstärkt die Abschaffung des Richterprivilegs für DNA-Untersuchungen gefordert8. Über 3 Millionen Personen sollen bereits in der Datenbank erfasst sein, 1400 kommen täglich dazu, so Recherchen von SPIEGELOnline und Expertenbefragungen9. Über die Abschaffung des Richterprivilegs für „anonyme“ DNA-Spuren und bei Einwilligung von Betroffenen sind sich Politiker schon einig10. Polizeibeamte sollen nach dem Willen der CDU/CSU-Fraktion eine originäre Ermittlungszuständigkeit für die Abnahme und Speicherung von DNA bekommen11, andere Verfechter gehen noch weiter und fordern schon von Geburt an die Speicherung von DNAInformationen über jeden Bürger in einer Datenbank. Verlockend ist die Aussicht, alle chemisch-biologischen Eigenschaften einer Person, ja auch die anonyme Durchleuchtung und gerasterte Erforschung der gesamten Datenbank zur Kiminalitätsbekämpfung nutzbar zu machen. Kann derjenige, der nichts zu verbergen hat, seine Teilnahme an DNA-Ringfahndungen noch mit Anstand ablehnen? Kann er eine Einwilligung in eine DNA-Analyse unter dem Druck der anderen Teilnehmer ablehnen? Angesichts solcher Argumente werden Richter verzichtbar. Im seltsamen Gegensatz zu diesem Eifer wird die private Initiative gebrandmarkt. Privat initiierte, heimliche DNA-Untersuchungen zur Aufklärung
__________ 7 Anschaulich bspw. die Berichterstattung des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (bdk) zum Gesetz über die Bekämpfung der Schwarzarbeit mit den Titeln: „Tiger mit Paradontose (Mitteilung Nr. 5/2004) und „Wir sind keine Polizei“, www.bdk. de/aktuell. 8 BDK-Pressemitteilung v. 17. 1. 2005 zum „Fall Mooshammer: DNA bei jeder erkennungsdienstlichen Behandlung abnehmen“. 9 Spiegel 4/2005 v. 24. 1. 2005; Spiegel 51/2004 v. 13. 12. 2004; Bundesratsinitiative des Landes Bayern vom Januar 2005; Tagesschau-Online v. 14. 4. 2005. 10 Rede von Frau Bundesjustizministerin Zypries am 18. 3. 2005 im Deutschen Bundestag, www.bmj.bund.de/reden; dazu auch die Beratung BT-Prot. 15/167 S. 15630–15644. 11 Gesetzentwurf v. 22. 2. 2005, BT-Drs. 15/4926 und BT-Drs. 15/4136.
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der wahren Abstammungsverhältnisse sind nach Auffassung des Bundesjustizministeriums zu verbieten12. Mit einem Verbot solcher Untersuchungen will man angeblich erreichen, dass der Umgang zwischen Eltern und Kind vertrauensvoll bleibt13. Doch wie kann ein Vertrauen bestehen, wenn über Jahre hinweg der Scheinvater um Liebe, Geld und Elternpflichten betrogen worden ist? Gerichte dürfen die wahre Abstammung nach dem höchstrichterlichen Spruch des BGH vom 12. 1. 2005 ignorieren14. Wenn Gerichte bewusst die Augen vor der Wahrheit verschließen und ein eindeutiges Beweisergebnis als unverwertbar bezeichnen, dann ergeben sich nicht nur für die Familien, sondern auch für die staatliche Ordnung schwerwiegende Verwerfungen. Die Erkenntnis der biologischen Merkmale soll im ersten Fall einen (vermeintlichen) Täter sicher überführen, im zweiten Fall beispielsweise für Personenstandszuordnungen nicht wahrzunehmen sein. Die Aufklärung von Straftaten wegen mittelbarer Falschbeurkundung (§ 271 StGB), die Unrichtigkeiten von Ausweisen, Personenstandsurkunden, Familienbücher, Erbscheinen etc. wird schwieriger. Es scheint nicht bedacht worden zu sein, dass mit der Ablehnung eines heimlich erhobenen Beweismittels die Opfer von Straftaten schlechter gestellt werden als die Täter15. b) Heimliche Ausforschung von Finanz- und Steuerdaten Ebenfalls Tagesgespräch sind die mit dem Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit vom 23. 12. 2003 eingeführten Bestimmungen über die Abfrage von Finanzdaten gem. § 93 Abs. 7 und 8, § 93b AO. Danach ist allen Behörden Deutschlands, vom Finanzbeamten über den Kirchensteuerbeamten bis zum Verwaltungsmitarbeiter, der Zugriff auf die bei dem Bundesamt für Finanzen gespeicherten bundesweiten Konteninformationen der Kredit- und Finanzinstitute (§ 24c KWG) gestattet16. Der Abruf erfolgt anonymisiert, d. h. niemand weiß, wer, wann und zu welchem Zweck die Daten abgerufen hat. Solche Daten sind weder auf ihre Aktualität, Richtigkeit und Vollständigkeit zu prüfen, noch kann der von den abgerufenen Datensätzen Beschriebene wissen, welche Daten analysiert und für die Verwaltungsarbeit verwendet
__________ 12 Spiegel-Online v. 11. 1. 2005 „Kuckuckskinder: Wattestäbchen auf Irrwegen“; Spiegel-Online v. 11. 1. 2005 „Vaterschaftstest: Datenschützer für Verbot geheimer Tests“. 13 Vgl. dazu die Rede von Frau Bundesjustizministerin Zypries vom 11. 3. 2005, www.bmj.bund.de/reden. 14 Der BGH erklärte heimliche Vaterschaftstests zu ungeeigneten Beweismitteln. Urteile v. 12. 1. 2005 – XII ZR 60/03 u. 227/03, NJW 2005, 497; Rittner/Rittner, NJW 2005, 945. 15 Ob sich daraus aber eine Kriminalisierung der Dritten Gewalt ableiten lässt, ist fraglich, vgl. zur Problemstellung allgemein Albrecht ZRP 2004, 259. 16 Hillenbrand in Spiegel-Online v. 19. 11. 2004: „Kritik an der Online-Abfrage: Völlige Durchleuchtung des Bürgers“; ders. in Spiegel-Online v. 9. 2. 2005: „Abschaffung des Bankgeheimnisses: Chancen für Verfassungsbeschwerde steigen“.
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wird. Es gab bis zu einem im März 2005 veröffentlichten Anwendungserlaß17, der als einzige Hürde gegen einen beliebigen Zugriff ein Abrufformular einführt, keine Informations-, Dokumentations- und Prüfungspflichten. Anwendungsbeschränkungen sind dem Gesetz nicht zu entnehmen. Nachkontrollen und Qualitätssicherungsmaßnahmen werden nicht betrieben18. Niemand muss geheimniskrämerisch mit solchem Wissen umgehen. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits zwei Eilanträge gegen das Inkrafttreten der Vorschriften am 1.April 2005 zurückgewiesen19. Was dem Staat erlaubt sein soll, wird einem Bürger nicht ermöglicht. Eine Einsichtnahme in diese Datensammlungen ist nicht vorgesehen. Schlimmer kommt es noch, wenn in diesen Daten Falsches steht oder der Einzelne von Missliebigen, Neidern oder Wichtigtuern aus seiner privaten Umgebung bei Behörden heimlich denunziert wird. Obwohl solche Verhaltensweisen beispielsweise durch Strafnormen wie strafbare Verleumdung, üble Nachrede, falsche Verdächtigung (§§ 185 ff., 164 StGB) oder durch das Wettbewerbsrecht (§§ 3, 4 Nr. 8 UWG) unterbunden werden sollen, soll eine Behörde mit solchen Informationen arbeiten dürfen. Eine etwaige Unverwertbarkeit wegen der „Störung des privaten Lebensbereiches“ wird nicht erwogen, weil das Interesse an einer effizienten Verwaltung „Vorfahrt“ haben soll. Dem so Mitgespielten wird höchstrichterlich versagt, die Quelle kennen zu lernen, es sei denn, er beweist, dass ihm Falsches nachgesagt wurde20. Wie kann man das, wenn man nicht weiß, was da von wem mitgeteilt wurde? Wiederum mit zweierlei Maß wird also gemessen, wenn es um Interessensdurchsetzung der Verwaltung geht. c) Heimliche Telefon- und GPS-Aufzeichnungen Der Kanon heimlicher Ermittlungsmaßnahmen, die von der Polizei und/oder der Staatsanwaltschaft für die Aufklärung von Straftaten oder präventiver Kriminalitätsbekämpfung genutzt werden können, ist seit 2001 deutlich ausgeweitet worden21. Damit das Ziel verfolgt werden kann, Straftaten mit hohen Dunkelziffern aufzuklären, werden technische Hilfsmittel für das Aufspüren von Telefonen, d. h. Telefon-Scanner, IMSI-Catcher, stille SMS etc. möglichst ohne Richterbeteiligung eingesetzt. Auch die „Rundum-Über-
__________ 17 BMF-Rundschreiben v. 10. 3. 2005, abrufbar unter www.bundesfinanzministerium. de/aktuell. 18 Vgl. dazu auch den Frage-/Antwortkatalog des Bundesfinanzministeriums v. 10. 2. 2005, abrufbar unter www.bundesfinanzministerium.de/aktuell. 19 BVerfG Beschluss v. 22. 3. 2005 – 1 BvR 2357/04 und 1 BvQ 2/05. 20 RhPfVerfGH v. 4. 11. 1998, NJW 1999,2264 unter Hinweis auf BFHE 174, 197; BGH NStZ 1998, 97; NJW 1989, 3291; NJW 1988, 2187; zu Recht kritisch Schumann, wistra 1996, 16. 21 Gesetzliche Erlaubnisse der Datenspeicherung von Telefonverbindungsdaten, der „stillen“ SMS-Überwachung, der §§ 100g, 100h, 100i StPO.
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wachung“ durch GPS-Systeme, Peilsender und Richtfunkmikrofone wird gefordert, teilweise ist sie bereits erlaubt22. Verbindungsdaten über Telefonanschlüsse sollen für den Zugriff von Ermittlungsbehörden nach dem Wunsch der Politik wenigstens 1 Jahr aufgehoben werden (bislang sind es nur 80 Tage)23. Besonders die akustische Wohnraumüberwachung wird von den Polizeibehörden für unverzichtbar gehalten24. Wer dagegen privat abhört – auch nur durch ein Mithören am Telefonlautsprecher – oder ein nichtöffentliches Gespräch heimlich aufzeichnet, ohne dafür schwerwiegende Rechtfertigungsgründe zu haben, muß mit Bestrafung rechnen (§ 201 Abs. 1, Abs. 2 StGB, § 89 TKG). Auch für Datenausspähung oder Datenkopieren wird man bestraft (§ 202a StGB), selbst wenn man zum eigenen Schutz vorgegangen ist. Zu den gespeicherten Verbindungsdaten der Telekommunikationsanbieter hat der Private keinen Zugang (§ 88 TKG). Auch die Verwendung von kopierten Gerichtsakten an der falschen Stelle kann strafbar sein (§ 353d StGB). Durch private Aufzeichnungen gewonnene Erkenntnisse werden von Gerichten als unverwertbar angesehen25. Gerichte wollen gar nicht zur Kenntnis nehmen, was da im Einzelnen festgestellt wurde und weisen regelmäßig Beweisanträge, die sich auf solche privat ermittelten und recherchierten Erkenntnisse gründen, als unverwertbar zurück26. Selbst ein für das Gericht unerreichbares Beweismittel, das seriös aber durch nichtstaatliche Einrichtungen oder Private erhoben wurde, soll ignoriert werden27. Diese Ungleichbehandlung bei der Aufzeichnung spezifischer Daten liegt auf der Hand, zumal die Behörden und Telekommunikationsanbieter nicht gezwungen werden können, solche Daten herauszugeben.
__________ 22 Vgl. die Urteile des BVerfG zum großen Lauschangriff v. 3. 3. 2004 – 1 BvR 2378/98 und 1 BvR 1084/99 sowie zur GPS-Überwachung v. 12. 4. 2005 – 1 BvR 581/01; dazu auch den Gesetzentwurf zur akustischen Wohnraumüberwachung v. 22. 9. 2004 und die Stellungnahme des Bundesrates v. 5. 11. 2004; dazu LeutheusserSchnarrenberger ZRP 2005, 1 ff. 23 Meldungen zu den Empfehlungen des Dt. Bundesrates unter www.dslteam.de und www.bitkom.org. 24 Vgl. die Expertenanhörung des Rechtsausschusses des Dt. Bundestages am 16. 3. 2005. 25 Rechtfertigung wird nur angenommen bei einem Missstand von erheblichem Gewicht und einem überragendem Interesse der Allgemeinheit an deren Aufdeckung, BVerfGE 66, 139; BGHZ 73, 124; BGHSt. 34, 39/51; BGHSt. 19, 193; 332; Kramer, NJW 1990, 1760. 26 BVerfG Urteil v. 9. 10. 2002, 1 BvR 1611/96 und 1 BvR 805/98; BGHSt. 14, 358 heimliches Tonbandprotokoll; BGH Urteil v. 1. 8. 2002 – 3 StR 122/02 Telefonüberwachung; abwägend zum Kfz-Raumgespräch BGH Urteil v. 14. 3. 2002 – 2 StR 341/02. 27 Unverwertbarkeit eines Schreibens des Sohnes, BGH v. 28. 8. 2000 – 5 StR 300/00 = NStZ-RR 2001, 171; BGH Urteil v. 10. 2. 2000, NStZ 2001, 49 m. Anm. Schnitthelm; Verwertbarkeit einer richterlichen Zeugenaussage auch wenn sich der Zeuge auf das Recht nach § 52 StPO beruft, BGH Urteil v. 28. 5. 2003 – 2 StR 445/02; Unverwertbarkeit einer anwaltlich eingeholten Zeugenaussage, BGHSt. 46, 1/4.
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Entfällt das Richterprivileg für die Tatsachenfeststellung?
d) Folgerungen In allen drei Beispielen machen Gerichte an sich gleiche Tatsachen mal zur Grundlage wichtiger, einschneidender Entscheidungen, mal ignorieren sie diese vollständig. Dass eine DNA-Untersuchung, die eine Vaterschaft widerlegt, oder eine schriftliche Zeugenanhörung durch einen Verteidiger nicht vom Gericht zur Kenntnis genommen werden, wohl aber eine unter Verstoß gegen die Genehmigungspflicht zustande gekommene Tonbandaufnahme28 oder die anonyme Denunziation durch den Staat gedeckt und ausgebaut wird, lässt sich durch den staatlichen Ordnungs- und Justizgewährungsauftrag nicht rechtfertigen. 2. Stille Aufforderung zum Rechtstourismus? Alternativen könnten sich anbieten, indem die Rechtsverteidigung in andere Staaten „verlagert“ wird, also ein „Rechtstourismus“ einsetzt. Vorausgesetzt, es wäre aus rechtlichen, wirtschaftlichen und persönlichen Gründen überhaupt möglich, die benötigte Anerkennung der privat erhobenen Beweise durch (natürlich zuständige) ausländische Behörden oder Gerichte zu erreichen, wäre über die grundsätzlich denkbare Amts- oder Vollzugshilfe neue Möglichkeiten geschaffen, diese Ungleichbehandlungen durch deutsche Gerichte zu umgehen. Da könnte man bspw. den Wohnsitz ins europäische Ausland verlegen, um dort ein Gerichtsurteil zu erstreiten. Auch wäre durchaus daran zu denken, eine Zuständigkeit einer in einem anderen europäischen Staat gelegenen Ermittlungsbehörde zu „schaffen“, um durch ein Amtshilfeersuchen beim deutschen „Kollegen“ doch an die Information oder Maßnahme zu kommen, die in Deutschland dem Bürger verweigert wird. Ein so verstandener Umgang mit Tatsachen wäre eher ein Verzweiflungsakt. Ist der demokratische Rechtsstaat nicht mehr in der Lage, gleiche Sachverhalte auch gleich zu beurteilen oder dem rechtsuchenden Bürger auch Recht zu verschaffen? In der – im 21. Jahrhundert – an europäischen (Mindest-) Standards orientierten Justizpolitik wird die fundierte richterliche Tatsachenfeststellung im Strafverfahren als überteuert, ineffizient, ja überflüssig angesehen. An deren Stelle tritt zunehmend die Rezeption der Beweismittelsammlungen der Polizei- und Ordnungsbehörden. Parlament, Justiz- und Finanzverwaltung signalisieren mit ihren „Entlastungsüberlegungen“ zur „Reform des Strafverfahrens“, dass sich der Staat eine gründliche, umfassende und eigenständige richterliche Tatsachenfeststellung nicht mehr leisten will. Die Strafjustiz wird – als unwirtschaftlicher Teil des traditionellen Staatswesens – auf ihr „Kerngeschäft“ reduziert. Haushaltsmotivierte gesetzliche Eingriffe in das Verfahren und die Justizausstattung,
__________ 28 Nack in KK-StPO, § 100a Rz. 37 unter Hinweis auf BGHSt. 28, 122/124; BGH NJW 1979, 1370/1371.
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der (Irr-)Glaube an eine Überlegenheit der Technik, die (gefährliche) Reduzierung staatlicher Schutzmechanismen tragen ihren Teil zur Erosion des Strafprozesses bei. Zwischen den tatsächlichen Entwicklungen und den Erwartungen an Qualität, Effizienz und Bürgernähe richterlicher Arbeit besteht aber eine tiefe Kluft. Diese Entwicklung lässt auch eine weitere Sorge aufkommen. Mit der Reduktion des Justizgewährleistungsanspruches geht eine schwere Benachteiligung von Menschen (und Unternehmen) einher, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, „Privatermittlungen“ anstellen oder „Rechtstourismus“ betreiben zu können.
II. Notwendigkeit vollständiger Tatsachenfeststellungen Wenn in der Tagespolitik ambivalente Beurteilungen der an sich gleichen Sachverhalte auftauchen, dann ist eine Wertorientierung gefragt. Im Zeitalter vielfältiger moderner Kommunikation und dem unerschütterlichen Glauben an die Machbarkeit des Seins muss man sich aber von der tagespolitischen Momentaufnahme lösen und den Sinn und Zweck richterlicher Arbeit herausarbeiten. 1. Erwartungen an eine zutreffende Entscheidungsgrundlage im Strafverfahren a) Kulturelle Grundlagen Die Findung des richtigen, des gerechten Ergebnisses ist kein rechtsphilosophisches Axiom. In alten Hochkulturen diente der Strafprozess der Wiederherstellung eines gestörten Rechtsfriedens durch einen Richterspruch, der nur auf der Grundlage umfassender Anhörung der Prozessparteien, unvoreingenommener bestmöglicher Sachverhaltserforschung in einem weitgehend freien, unbeeinflussten Verfahrensverlauf auf der Grundlage richtiger Rechtsanwendung gefunden werden konnte29. Unter einer richtigen, gerechten Entscheidung verstanden die urchristlichen Quellen eine am ganzheitlichen Menschen orientierte Sachentscheidung, die formalistische Hürden überwindet30. Nicht ohne Grund wird in zeitgenössischen Quellen wieder zunehmend auf die Notwendigkeit einer solchen Wertorientierung verwiesen. Eine den normierten Regelungen entsprechende wertorientierte
__________ 29 Vgl. z. B. die hebräischen Vorschriften über Richtertätigkeiten in der Bibel, 5. Buch Mose, Kapitel 1, Verse 16 bis 19 und im gleichen Buch Kapitel 16, Verse 18 bis 20. 30 Vgl. z. B. in der Bibel das Buch Amos Kap. 5 Vers 15: Hasst das Böse und liebt das Gute, richtet das Recht auf im Tor (d. h. auf dem örtlichen Gerichtsplatz); s. a. Johannes-Evangelium Kap. 7 Vers 24: Richtet nicht nach dem, was vor Augen ist, sondern richtet gerecht.
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Rechtsauslegung ohne Ansehen der Person, unabhängig von Meinungen, Strömungen und von mannigfaltigen finanziellen Interessen durch Gerichtsentscheidungen zustande zu bringen, ist ein unverzichtbares Gut des demokratischen Rechtsstaates31. Die Einrichtung des IStGH wie auch der anderen UN-Tribunale wäre nicht möglich gewesen, wenn es nicht eine an gemeinsamen Werten ausgerichtete Überzeugung der Völker gäbe, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Rassismus gesühnt werden müssen. Diese Werteorientierung ist auch im heutigen Justizalltag unverzichtbar. b) Höchstrichterliche Vorgaben Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen gerade in der jüngsten Vergangenheit die Stellung des Richters als Garant für die Erhaltung bürgerlicher Freiheiten betont32. Die richterliche Kontrolle von Ermittlungshandlungen allein gewährleistet eine angemessene Interessenwahrnehmung in einem (bis dahin jedenfalls noch) heimlichen staatlichen Verfahren. Richter haben mithin den grundsätzlichen Vorrang bürgerlicher Freiheiten und Grundrechte vor staatlichen Eingriffen zu gewährleisten. c) Fürsorgepflicht des Staates statt Aufforderung zur Privatfehde Der Bürger erwartet eine faire und menschliche Justizarbeit, wahrheits- und gerechtigkeitsliebend, gleichzeitig auch gnädig und trotzdem konsequent und qualitätsbewußt. Er erwartet bestmögliche und vollständige richterliche Aufklärung eines strafrechtlichen Vorwurfs, bevor ein Urteil gesprochen wird. Gerade weil Richter keine Maschinen sind, verlangt ein auf dem Postulat der Wahrheit beruhendes Judiz eine möglichst vollständige Klärung des Sachverhaltes mit dem Ziel der umfassenden Wahrheitsfindung durch das unmittelbar mit der Entscheidung befasste Gericht. Die folgende Abbildung vermittelt nur einen ungefähren Eindruck von der allgemeinen Akzeptanz solcher Entscheidungen. Die erst im Diskurs zwischen allen Prozessbeteiligten sich bewährende Beweislage lässt eine zutreffende rechtliche Würdigung des Sachverhaltes zu.
__________ 31 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. Berlin 1983, S. 26 ff. unter Hinweis auf die rechtstheoretischen Arbeiten Essers, Arthur Kaufmanns und Fikentschers. 32 BVerfGE 103,142 = NJW 2001, 1121; BVerfG NJW 2002, 1333; BVerfG Beschluss v. 3. 3. 2004, 1 BvF 3/92.
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Thomas C. Knierim Strafprozess Erkenntnisverfahren
Richterliche Tatsachenfeststellung
Richterähnliche Aufklärung
Aufklärung durch eine Gremienuntersuchung, z. B. Untersuchungsausschuss
Ermittlungsund vorläufige Verfahren
Außerhalb eines Gerichtsverfahrens:
Verdachtsgrade der StPO/Glaubhaftmachung i. S. d. ZPO
Gerüchte, Presseberichte, Parteigutachten (Merkmal: wenige kaum überprüfte Quellen)
aufgrund einer vollständigen, aktuellen und geprüften Tatsachenbasis
auf geprüften aber d. d. Zweck/die Auswahl begrenzten Tatsachenmaterialien und Personenbeweisen
setzen hinreichende Anzahl geprüfter Beweismittel voraus
Abbildung 1
Die Erwartung an strafrechtlich kompetentes Handeln des Staates ist eng verbunden mit dem Verbot, „das Recht selbst in die Hand zu nehmen“. Wer zur Selbstjustiz greift, wird seinerseits verfolgt und von der Gemeinschaft bestraft. Zieht sich der Staat aber aus dem strafrechtlichen Schutz der Werteordnung zurück, obwohl er vorgibt diese zu verteidigen, dann öffnet er den Raum für neue Formen der nicht justiziellen Auseinandersetzung. Die Privatfehde wird so ermöglicht. Solche Erwartungsbündel fächern sich bei den verschiedensten an einem Verfahren Beteiligten nochmals auf. Wollen sich möglichst viele Prozessbeteiligte – Staatsanwaltschaften, Polizei oder andere Behörden, Opfer und Opferanwalt33, Angeklagte und Verteidiger – in dem Ergebnis des Strafprozesses verwirklicht sehen, dann müssen sie Einfluß auf die Tatsachengrundlagen und den Tatsachenumfang der in der Abbildung gezeigten zweiten, aber besonders auch der vierten Stufe nehmen. Da sich alle diese Beteiligten von dem Ausgang des Strafprozesses nicht nur Genugtuung, Resozialisierung
__________ 33 Z. B. durch die Opferrechtsreformgesetze, zuletzt v. 24. 6. 2004, dazu Neuhaus, StV 2004, 620.
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oder Abschreckung versprechen, sondern sich die verschiedensten Auswirkungen auf z. B. laufende Zivilprozesse, Finanz-, Sozial- oder allgemeinen Verwaltungsverfahren, auf Dienstaufsichtsverfahren oder auch auf politische Diskussionen, Untersuchungskommissionen und auch auf unternehmerische Anknüpfungspunkte ergeben, wird mitunter heftig um Tatsachengrundlagen gerungen. Auch hier zielen die Aktivitäten der Verfahrensbeteiligten und die eigenen richterlichen Sach- und Verfahrensentscheidungen auf ein möglichst optimales Ergebnis, wobei sich die Intentionen nicht an einer objektiven Rechtsfindung orientieren, sondern an den jeweils verfolgten subjektiven Absichten. 2. Erwartungen aufgrund der gesetzlichen Normierung Da es zu den staatlichen Aufgaben gehört, Unrecht zu definieren (Art. 103 Abs. 2 GG)34, in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu verfolgen und zu bestrafen35, muss der Staat auch die Mittel bereitstellen, diese Aufgabe vollständig und kompetent zu erfüllen. Teil einer effektiven staatlichen Strafverfolgung ist nicht nur die Ermittlung des historischen Geschehens durch Ermittlungsbehörden und Gerichte (vgl. §§ 160, 161, 163, 244 StPO), sondern auch die Befugnis dieser Behörden, andere von ihren legitimen Ermittlungen zur Durchsetzung des Strafanspruches auszuschließen (vgl. §§ 95, 164 StPO)36. Effektiv angewandtes Strafrecht dient der Sicherheit der Bürger, der Sicherheit staatlicher und privater Einrichtungen, der Durchsetzung der Rechtsordnung. Nur ein in seinen Institutionen gerecht, fair und effektiv handelnder Rechtsstaat kann das Recht in Anspruch nehmen, verbindlich für alle die Feststellungen zu treffen, die die Anwendung der Gesetze ermöglichen. Da richterliche Entscheidungen im Idealfall auf vollständiger, aktueller und zutreffender Tatsachengrundlage beruhen sollen, ordnet die Strafprozessordnung neben der Vorlage der Akten und Beweismittel mit der Anklage (§§ 199 Abs. 2 S. 2, 214 Abs. 4 S. 1 StPO, Nr. 111 RiStBV) das Recht des Gerichtes zu weiteren Erhebungen im Zwischenverfahren und für die Vorbereitung der Hauptverhandlung (§§ 202, 214 Abs. 4 S. 2, 219, 221, 223–225 StPO) an. In der Hauptverhandlung selbst dominiert die Amtsaufklärungspflicht aus § 244 Abs. 2 StPO für die richterliche Tätigkeit. Diese Pflicht zur Erforschung des wahren Sachverhaltes erstreckt sich auf alle durch das Gericht und die Staatsanwaltschaft herbeigeschafften Beweismittel (§ 245 Abs. 1 StPO). Auch andere Beweismittel sind aufgrund eines zulässigen Beweisantrags regelmäßig zu erheben (§ 245 Abs. 2 StPO). An Beweisregeln ist das
__________ 34 BVerfGE 51, 343 = NJW 79, 2349; BVerfG NJW 1993, 581 (Sitzblockade I); BVerfGE 78, 374/381 (Fernmeldeanlage); Sachs, Verfassungsrecht II, 2000, Art. 103 Rz. 19 ff. 35 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 2; LK-Jescheck, 11. Aufl., Einl. Rz. 2, 9. 36 Krey, Private Ermittlungen, S. 49.
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Gericht nicht gebunden, so dass es nach freier Überzeugung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung entscheiden kann (§ 261 StPO). Die Bedeutung, der Umfang und die Wirkungen richterlicher Entscheidungen in der Abgrenzung zu sonstigen Gremien- und Verwaltungsentscheidungen verlangen ein unterschiedliches Maß an Tatsachenfeststellungen und Prüfungsmaßnahmen, wie die folgende Abbildung verdeutlicht.
Anfangsverdacht aufgrund plausibler Gerücht Hinweise
Verdacht aufgrund zureichender Tatsachen
Hinreichender Verdacht aufgrund einer qualifizierten Bewertung förmlich erhobener Beweismittel
Dringender Verdacht aufgrund besonders starker aber nicht notwendig umfassender Beweismittel
Volle richterliche Überzeugung aufgrund vollständiger Aufklärung und qualifizierter Bewertung
Abbildung 2
Solche sicheren und verbindlichen Feststellungen eines Sachverhaltes durch Strafgerichte sind indessen nur möglich, wenn die Prozesse der Informationsgewinnung und -konservierung (Ermittlungen), der Informationsvermittlung (Beweisaufnahme) und der Informationsverarbeitung (richterliche Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung) möglichst umfassend, uneingeschränkt und reibungslos ablaufen können. Zwar soll und darf nicht „Wahrheit um jeden Preis“ Ziel der Gerichtsverfahren sein. Jedoch darf auch eine knappe Mittelplanung nicht Maßstab für die Anforderungen an den Tatsachen- und Schuldnachweis sein. In diesem Dilemma befindet sich das moderne (deutsche und europäische) Strafgerichtsverfahren.
III. Beschränkung der Strafjustiz – auf allen Ebenen 1. Zurückdrängung richterlicher Tatsachenfeststellungen Den richterlichen Tatsachenfeststellungen droht nicht nur seit neuerer Zeit der Exitus. In vier Bereichen wird dem Strafverfahren herkömmlicher Prägung zurzeit „der Prozeß“ gemacht: –
Der Anwendungsbereich strafrichterlicher Aufgaben wird zugunsten einer Ausweitung des Verwaltungsunrechts eingeschränkt37.
–
Der Umfang richterlicher Tätigkeit im Strafprozeß wird durch Verfahrensvereinfachungen38, verklausulierte oder richterrechtlich sanktionier-
__________ 37 So bspw. Bittmann, ZRP 2005, 15.
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te Beweisregeln, Beschränkungen der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und des Beweisantragsrechts wie auch der Rechtsmittelmöglichkeiten (Abschaffung des Instanzenzuges) begrenzt39. –
Die Personal-, Finanz- und Sachmittelausstattung der Justizverwaltung wird verknappt. Justizfunktionen werden auf Ermittlungsbehörden verlagert, deutsche Strafjustiz reagiert im europäischen Umfeld zunehmend fremdbestimmt40.
–
Statt eine dringende Neubestimmung der Aufgabenverteilung positiv anzugehen, scheinen die Betroffenen verschreckt und konzeptionslos zu reagieren41. Die Folge ist eine Selbstbeschränkung der Praxis auf die Abarbeitung von Formalien, statt auftragsgemäß die materielle Wahrheit zu erarbeiten.
2. Einschränkungen der richterlichen Tatsachenfeststellung in der Rechtsentwicklung a) Schranken im positiven Recht Die Schranken des geltenden Rechtes ergeben sich aus dem materiellen Strafund Ordnungswidrigkeitsrecht (als Handlungsanleitung), aus dem Strafverfahrensrecht (als Rahmenregelung über das bei der Stoffsammlung zu beachtende Verfahren) sowie aus der polizeilichen Kriminalpraxis (als polizeiverwaltungsrechtlicher Aufgaben- und Organisationskatalog). Die historische Entwicklung dieser drei Rechtsgebiete zeigt die Zunahme von Ermittlungsgrenzen. (1) Das materielle Straf- und Verwaltungsunrecht gründet sich historisch gesehen auf die Strafrechtslehren des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Zwar enthielt die Peinliche Halsgerichtsordnung (Carolina) von 1532 bereits einzelne Straftatbestände, erst die positive Ausformulierung von Straftatbeständen durch das preußische ALR von 1794, fortgesetzt im preußischen StGB von 1851 und im Reichsstrafgesetzbuch von 1870/1871, verwirklichte den Grundsatz „Nulla poena sine lege“. Allerdings definierte seitdem ausschließlich der Staat, welches Verhalten bestraft werden soll. Erst nach dem 2. Weltkrieg42 ist der Weg der Entkriminalisierung der sog. Bagatellkriminalität, der Sexualdelikte und der Ehrdelikte eingeschlagen worden. Das Ver-
__________ 38 Z. B. das Erste Justizmodernisierungsgesetz v. 24. 8. 2004; vgl. dazu Neuhaus, StV 2005, 47. 39 Vorschläge für eine „Große Justizreform“, Kap. IV.2., vgl. dazu die nds. Justizministerin Heister-Neumann, ZRP 2005,12/14; so bspw. auch Bittmann, ZRP 2005, 15/16. 40 Vorschläge für eine „Große Justizreform“, Kap. VI., dazu Heister-Neumann, a. a. O., S. 14. 41 Z. B. durch eine „Kriminalisierung“ der Richterschaft, vgl. Albrecht, ZRP 2004, 259. 42 LK-Jescheck, a. a. O., Rz. 44 ff.
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waltungsunrecht ist durch das Recht der Ordnungswidrigkeiten43 sukzessive (1952, 1968) ersetzt worden. Die Neueinführung von Straftatbeständen oder Strafschärfungen gegen die organisierte Kriminalität, Geldwäsche-, Umwelt-, Wirtschafts-, Kapitalmarkt-, Computer- und Korruptionskriminalität spricht nicht gegen diese Entwicklung, sondern zeigt, dass der Staat den Schwerpunkt des Strafrechtsschutzes auf technisch nachweisbare, umweltbedingte und wirtschaftliche Sachverhalte verlagert hat44, woraus sich u. a. eine zunehmende Bedeutung des Sachbeweises ergibt, der den (arbeits- und kostenintensiven aber auch unsichereren) Personalbeweis verdrängt. In den Bereichen, in denen sich der Gesetzgeber aus dem Bereich des materiellen Strafrechtes zurückgezogen hat, hat er zugleich einen Anspruch auf Feststellung von Tatsachen durch Richter für das Strafverfahren weitgehend aufgegeben. Zudem signalisiert der Gesetzgeber im Bereich der Antragsdelikte, dass er sich auf eine disponible Rolle zurückzieht, indem er das Strafrechtssystem nur noch auf privaten Antrag hin zur Verfügung stellt. Zwar ergibt sich bei Antragsdelikten mit Offizialcharakter (z. B. §§ 194 Abs. 4, 205, 247, 294, 301 StGB) eine Ermittlungspflicht, jedoch geht die Praxis angesichts fehlender Personal- und Sachkapazitäten bei Polizei und Staatsanwaltschaft immer mehr dazu über, in solchen Fällen zunächst überhaupt keine Tätigkeit zu entfalten. Bei Antragsdelikten mit Privatklagecharakter (§ 374 Abs. 1 StPO) gibt der Staat dem Privatkläger sogar auf, die Ermittlungshandlungen selbst zu führen45. Einen Ermittlungsvorrang kann man daher für den gesamten Bereich der Antragsdelikte nicht mehr postulieren. Das ist gravierend, wenn man beispielsweise an die Massenphänomene der Produktpiraterie oder der Betriebsspionage denkt, deren Aufklärung praktisch dem Geschädigten selbst überlassen bleibt. (2) Auch aus dem Strafverfahrensrecht ergeben sich Schranken der Ermittlungstätigkeit. Mit den Landfriedensgesetzen46, der Einführung des Reichskammergerichtes 1495 und der Carolina etablierte sich ein staatliches Untersuchungs- und Bestrafungssystem, das das bis dahin bestehende System der Privatfehde ablöste. Die Beweisführung in diesem ersten staatlichen System fester Beweisregeln diente als Voraussetzung für Ermittlungshandlungen, insbes. für die Folter. Gesetzliche Beweisregeln wurden erst durch den Grundsatz freier Beweiswürdigung in den territorialen Strafprozeßgesetzen nach 1848 abgelöst. Mit den Reichsjustizgesetzen von 1877 sind die Grundsätze des reformierten Strafprozesses für ganz Deutschland verbind-
__________ 43 Dazu ebenfalls Dannecker in Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 1. Kap. C. Rz. 39 ff. 44 Anschaulich: Dannecker, a. a. O Rz. 19 ff. 45 Bohlander, Anforderungen an die Privatklageschrift, NStZ 1994, 420/421; Roxin, a. a. O., § 64, F II. 46 Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 3. Aufl., Rz. 94 ff.
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lich geworden47. Die umfassende gerichtliche Sachverhaltserforschung in der Hauptverhandlung nach vorangegangener Anklage der Staatsanwaltschaft steht im Mittelpunkt des Strafverfahrens nach dem Vorbild der RStPO48. Die Regelungen über die Sachverhaltserforschung stellten für den derart reformierten Strafprozeß keine Barriere sondern den Rahmen und die Basis der Wahrheitsfindung dar. Sie gaben der Sachverhaltserforschung die Glaubwürdigkeit eines justizförmigen Verfahrens49. Während um 1900 herum ein staatlicher Vorrang für Tatsachenfeststellungen unangefochten gewesen zu sein scheint50, pervertierte das Justizsystem zwischen 1933 und 1945 von einer unabhängigen Institution zum staatlichen Machtinstrument. Mit der Einführung des Grundgesetzes mußte sich auch das Strafverfahrensrecht einer neuen Werteordnung, die bürgerliche Grundrechte über staatliches Tun stellte, auseinandersetzen. Die Erkenntnis, dass staatliches Handeln einer gesetzlichen Rechtfertigung bedarf, förderte besonders die Lehre von den Beweisverboten51, die ihre erste gesetzliche Ausprägung 1964 durch die Belehrungspflicht des Beschuldigten durch alle Vernehmungsbehörden erhielt. Inzwischen werden Beweisthemenverbote (vgl. §§ 61 f. BBG, 39 BRRG), Beweismittelverbote (§§ 52–55, 81c Abs. 3 StPO) Beweismethodenverbote (§ 136a StPO) und relative Beweisverbote (fehlende Anordnungskompetenz, §§ 81a, 98, 100, 105, 111e, 111n StPO) anerkannt. Die Rechtsprechung zum Verfahrensrecht wird zunehmend mit Beweisverboten befaßt52. (3) Die Begrenzung des staatlichen Strafverfolgungsanspruches in der polizeilichen Praxis stellt keine positiv-rechtliche Schranke dar, besitzt aber normative Kraft. Erst die Strafprozeßreformen des 19. Jahrhunderts mit der Abschaffung von Beweisregeln bereiteten den Boden für eine umfassende Kriminalwissenschaft, die den Tatnachweis immer stärker in sachlichen Beweismitteln suchte53. Die Begründer der wissenschaftlichen Kriminalistik, Franz von Liszt und Hans Groß forderten die rationelle, wissenschaftliche Durchdringung der Stoffsammlung im strafrechtlichen Verfahren. Es entwickelte sich eine rein polizeiliche Kriminalistik, zu der Außenstehende
__________ 47 Roxin, a. a. O., § 77 u. 78. 48 Müller, Erich, Gedanken zur Verteidigung im Ermittlungsverfahren, in Ebert (Hrsg.) Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege, S. 62. 49 Strate, Gerhard, Rechtshistorische Fragen der Beweisverbote, in ARGE Strafrecht (Hrsg.) Wahrheitsfindung und ihre Schranken, S. 14. 50 Vgl. das Zitat von v. Liszt, bei Jungfer, StV 1981, 100. 51 Strate, a. a. O., S. 17. 52 Zum Begriff: Pfeiffer, a. a. O., Einl. Rz. 14; Gössel, Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote, NStZ 1998, 126; Bernsmann, Verwertungsverbote, StraFo 1998, 73; vgl. dazu auch die Tagung der ARGE Strafrecht, Wahrheitsfindung und ihre Schranken, 1988; Herdegen, NStZ 2000, 1 ff.; BGH NStZ 1998, 157; BGH NStZ 2001, 49; Gaede, Beweiswürdigungsverbote, StraFo 2004, 195. 53 Eisenhardt, a. a. O., Rz. 550 f., 569; Zbinden, Kriminalistik, § 5.
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kaum Zugang haben. Die heutigen Möglichkeiten der Kriminalistik werden indessen durch Mittel- und Personalknappheit begrenzt. (4) Zunehmend wird das Verwaltungsunrecht ausgeweitet. Vorschriften über ordnungswidriges Verhalten in der gewerblichen Wirtschaft, der produzierenden Industrie, im Handel, bei Banken und Versicherungen, im Handwerk, in der Landwirtschaft, der Lebensmittelwirtschaft, dem Umweltschutz- und Abfallrecht und im Sozialwesen sind verstärkt geschaffen worden, um Anzeige-, Mitteilungs- und Meldepflichten abzusichern. Weil man indessen nicht den Bürger dafür bestrafen kann, dass die Verwaltung nicht mit ausreichenden Mitteln und Instrumentarien ausgestattet ist, sanktioniert man – nicht nur durch Versagung von Leistungen sondern auch durch Kriminalunrecht – eine unzureichende Informationsgewinnung. Der Bürger trägt dafür die Verantwortung, dass die verschiedenen Verwaltungsstellen trotz zahlreicher Datensammlungsbefugnisse nicht effizient arbeiten (man vergleiche nur den Umfang der vom Bürger verlangten Information über seine privaten Verhältnisse in einem früheren Antrag auf Arbeitslosengeld mit dem Antragsformular der „Hartz IV-Reform“). Allerdings ist es dem rechtsunkundigen Bürger nicht zuzumuten, das komplizierte Verwaltungsrecht in all seinen Strukturen und Sondernormen zu überschauen. Statt die Leistungsverwaltung radikal zu vereinfachen und Leistungssysteme zusammen zu legen, werden neue Verwaltungseinheiten geschaffen. Indessen droht dem Bürger durch heimliche Kontrollen, über deren Umfang und Ergebnis er auch nachträglich nicht unterrichtet wird, Ungemach. Durch versteckte Dateiabfragen wird seine Privatsphäre ausgeforscht. Ermittlungsverfahren werden sozusagen „auf Knopfdruck“ eingeleitet54. Dass es sich bei solchen Verfahren gerade nicht um richterliche Feststellungen der Schuld oder Unschuld handelt, sondern um verwaltungspolizeiliche Ermittlungen, wirft ein Schlaglicht auf das Vertrauen des Staates in seine Justizorgane. Die Justiz steht abseits. Angesichts der nicht überschaubaren Zahl an Spezialregelungen und der für ihre Einhaltung und Kontrolle zuständigen Verwaltungspolizeien müßte man erwarten, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte über zahlreiche Spezialisten zur Beurteilung solcher Materien verfügen. Das ist indessen nicht der Fall. Nur die verwaltungspolizeilichen Abteilungen der Arbeitsverwaltung, der Finanz- und Zollverwaltung sowie das Bundeskriminalamt verfügen über spezialisierte Stellen. Die Unterbesetzung und fehlende Qualifikation der Polizeibehörden im Bereich des allgemeinen Wirtschaftslebens läßt oft eine kompetente Verfolgung von Unrecht nicht zu.
__________ 54 Z. B. in BAföG-Fällen finden seit 2003 flächendeckend Ermittlungen aufgrund von technisierten und automatisierten Abfragen von Bankendaten der BAföG-Empfänger statt; Rau/Zieschack, StV 2004, 669; Krapp, ZRP 2004, 261.
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b) Schranken aus Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten (1) Die Grundrechte, insbes. Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde), Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht) und Art. 2 Abs. 2 GG (Leben, Gesundheit, persönliche Freiheit), Art. 5 GG (Meinungsäußerung), Art. 8 GG (Demonstrationsfreiheit), Art. 14 GG (Eigentum) können zwar durch gesetzlich normiertes Straf- und Strafverfahrensrecht eingeschränkt werden, die Einschränkung darf jedoch den Kern der Grundrechte nicht beseitigen. Die strafprozessuale Einzelmaßnahme muß sich daher immer auch an dem Kernbereich des Grundrechtes messen lassen, was in der Praxis zur Einschränkung der Ermittlungstätigkeit von Strafverfolgungsbehörden führen kann55. Das „nemo-tenetur-Prinzip“ beruht auf der Menschenwürde56. (2) Aus Art. 103 Abs. 2 GG (Keine Strafe ohne Gesetz) in Verbindung mit § 1 StGB folgt eine weitere Schranke für die Ermittlungstätigkeit. Eine Strafverfolgung und die darauf bezogene vorbereitende Ermittlungstätigkeit sind unzulässig, wenn der Inhalt eines Strafgesetzes nicht hinreichend bestimmt ist57. Auch wenn in der strafrechtlichen Rechtsanwendung einer Blankettnorm nicht die Rechtmäßigkeit der ausfüllenden Vorschriften geprüft wird, wird Art. 103 Abs. 2 GG verletzt58. In der strafrechtlichen Praxis führen beispielsweise die Entscheidungen des BVerfG zur Vermögensstrafe, zur Verfassungswidrigkeit von § 39 AWG und zur Korrektur des § 261 StGB bei Verteidigern vor Augen, dass die richterliche Rechtsanwendung durch den Grundrechtsschutz begrenzt wird. (3) Aus dem Grundrecht auf rechtliches Gehör folgt das Recht auf rechtzeitige, vollständige Information, auf Äußerung und Antragstellung sowie der Anspruch darauf, dass ein Gericht erst unter Beachtung dieser Rechte und Äußerungen über einen Sachverhalt entscheidet. Diese (notwendige) Rechtsgewährung muß allerdings durch einen eingerichteten und funktionierenden Justizapparat gewährleistet werden. Wird der Justizapparat aber verkleinert, Personal abgebaut und sind die Ausstattungen der Justizeinrichtungen veraltet, wird die Rechtsgewährung daran scheitern. c) Schranken aus dem Rechtsstaats- und Verhältnismäßigkeitsprinzip Art. 20 Abs. 3 GG unterwirft Verwaltung und Gerichte den Vorgaben von Gesetz und Recht. Hierzu gehören die Grundrechtsbindung der drei Gewalten (Art. 1 Abs. 3 GG), die Unabhängigkeit der Justiz (Art. 97 Abs. 1 GG) sowie Gerichtsschutz gegen Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt. Das BVerfG betont in ständiger Rechtsprechung die Gebote der
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BVerfG NStZ 1993, 581 (Art. 8 GG). Pfeiffer, a. a. O., § 136 Rz. 4. LK-Gribbohm, § 1 Rz. 5 ff. LK-Gribbohm, § 1 Rz. 34 ff.
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Rechtssicherheit, materiellen Gerechtigkeit und der Verhältnismäßigkeit der Mittel59. Daraus folgt, dass der Eingriff in die Grundrechte des Einzelnen durch Strafrecht und Strafverfahrensrecht einschließlich der Kriminalistik im Einklang mit gesetzlichen Regelungen zu erfolgen hat, dass das mildeste Mittel und der schonendste Eingriff gewählt werden muß und den Ermittlungsbehörden bei der Stoffsammlung nicht jede Art der Beweisgewinnung erlaubt ist (vgl. z. B. die Diskussion um DNA-Untersuchungen). d) Zeitliche, räumliche und institutionelle Schranken Nicht zu vergessen sind auch die zeitlichen und räumlichen Schranken. Eine Polizeipräsenz kann weder zeitlich noch örtlich aufrecht erhalten werden. Auch die Strafverfolgungsbehörden können einen Sachverhalt nur dann verfolgen, wenn sie ihn wahrnehmen und als mögliches strafbares Verhalten einschätzen60. Regelmäßig erfahren andere Personen zuvor davon, können auf die Spurenlage Einfluß nehmen, müssen unter Umständen sogar aus anderen Aufgabenstellungen heraus (z. B. Betriebssicherheit, Unfallverhütung, behördliche Auflage, Finanzaufsicht, Ad-hoc-Pflicht, Schadenbegrenzung etc.) Untersuchungen anstellen, so dass eine polizeiliche Reaktion erst erfolgen kann, wenn die Spurenlage bereits beeinflußt oder gar beseitigt worden ist. Außerdem bezieht sich ein „Vorrang“ räumlich und sachlich immer nur auf Gegenstände oder Räume in amtlicher Verwahrung. Ist der konkrete Zugriff auf einen Tat- oder Durchsuchungsort beendet, entfällt auch ein strafprozessualer Duldungsanspruch. e) Schranken im europäischen Einigungsprozeß U. a. durch das Vehikel europäischer Regelungen werden „Hemmschwellen“ in einem als zu teuer empfundenen langsamen und umständlichen Rechtsfindungssystem abgebaut61. Durch die „Hintertür“ der europäischen Reglementierungen und Lockerungen wie beispielsweise den Europäischen Haftbefehl62, demnächst die Europäische Beweisanordnung63 und wohl bald ein einheitlicher Europäischer Strafprozess64 für bestimmte Delikte wird auch
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Seifert/Hömig, GG, 3. Aufl. Art. 20 Rz. 9. Ackermann/Clages/Roll, a. a. O., S. 2 ff. Kritisch z. B. Schünemann, ZRP 2003, 185. G. zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl EuHbG v. 21. 4. 2004; vgl. dazu statt vieler Albrecht, StV 2005, 40. 63 Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rats über die Europäische Beweisanordnung im Strafverfahren v. 14. 11. 2003, KOM (2003) 688 endg.; vgl. dazu bspw. Gazeas, ZRP 2005, 18. 64 Vorläufer sind bspw. Rahmenbeschluss 2003/577/JI über die Vollstreckung von Entscheidungen zur Sicherstellung von Vermögensgegenständen und Beweismitteln in der Europäischen Union, ABl Nr. L 196 v. 2. 8. 2003; Grünbuch über die gegenseitige Anerkennung von Überwachungsmaßnahmen ohne Freiheitsentzug im
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eine Reduzierung originärer Richterfunktionen betrieben. Länderübergreifende Taten können nur im Wege der Rechtshilfe in einen anderen Staat verfolgt werden65. 3. Das Dilemma der gesetzlichen Vereinfachungs- und Abschaffungsvorschläge a) Reduzierung der Unmittelbarkeit Gerade im Strafprozess erlebt man anschaulich die Reduzierung der richterlichen Sachverhaltswahrnehmung durch die Vorschläge zur Begrenzung von Zuständigkeiten, zur Zusammenlegung von Gerichtszweigen und zur Abschaffung von Instanzen. Soll durch das am 1. Mai 2005 in Kraft getretene Justizkommunikationsgesetz das Papier in der Justiz abgeschafft werden66, so sind bereits andere „archaische“ Strukturen „entschlackt“ worden: die unmittelbare Begegnung von Richtern mit Zeugen und Anwälten67, der Zwang zu häufigen Zusammenkünften68, die Pflicht zur juristischen Prüfung des polizeilichen Ermittlungsaufwandes bei der Durchsicht von Papieren69 sind schon Vergangenheit. Jüngst konnte gerade noch die „Entlastung“ der Strafgerichte durch den Vorschlag verhindert werden, in allen Verfahren ausschließlich nur noch nach Aktenlage70 entscheiden zu lassen, Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens automatisch in eine Hauptverhandlung einzuführen und auch Zivilgerichten nur dann noch eine Beweisaufnahme zu erlauben, wenn vorher kein rechtskräftig abgeschlossenes Strafverfahren stattgefunden hat. Erst recht – so wird von den Protagonisten der „Justiz-Verschlankung“ argumentiert – könne der Strafrichter sich doch getrost auf ein solches Ermittlungsergebnis verlassen, das dadurch zustande gekommen sei, dass ein Anwalt, der nicht Beteiligter an dem untersuchten Geschehen war, Gelegenheit hatte, eine Terminsmit-
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65 66 67 68 69 70
Ermittlungsverfahren v. 17. 8. 2004 KOM (2004) 562 endg.; Grünbuch über die Angleichung, die gegenseitige Anerkennung und die Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen in der Europäischen Union v. 30. 4. 2004, KOM (2004) 334 endg. Dannecker in Wabnitz/Janovsky, Hdb. WiStStrR, Kap. 1 Rz. 22, 113. Justizkommunikationsgesetz BGBl I. Nr. 18 v. 29. 3. 2005, Bl. 387 ff.; Viefhues, NJW 2005, 1009; damit kein falscher Eindruck entsteht: auch dieses Manuskript wurde elektronisch verfasst! Einführung der Videovernehmungen durch G. v. 30. 4. 1998 in den §§ 247a, 255a StPO (sog. Mainzer Modell) – glücklich das Gericht, das 2005 schon über eine solche Technik verfügt! Ausweitung der Aussetzungsmöglichkeiten bei der Hauptverhandlung seit dem 1. 9. 2004! Neuorientierung der „Ermittlungsbeamten“ gem. § 110 StPO seit dem 1. 9. 2004! Nach der Aktenlage wird sowieso schon viel zu häufig entscheiden: bei der Anwendung von Ermessensnormen für eine Verfahrensbeendigung oder -beschränkung, im Strafbefehlsverfahren, im Beschwerdeverfahren, bei den Urkundenverlesungen, z. B. nach §§ 249 ff., 257a StPO.
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teilung der Staatsanwaltschaft (ohne Ladungsfrist) zur Kenntnis zu nehmen oder gar der Umstand, dass er zufällig Zeit hatte, an dem kurzfristig mitgeteilten Termin (ohne Aktenkenntnis) teilzunehmen. Man verschweigt mit solchen Vorschlägen aber, dass ein solcher Alibitermin kein zusätzliches Mehr an Wahrheitsfindung oder Rechtssicherheit bedeutet gegenüber einer qualifizierten Befragung unter den Bedingungen einer Hauptverhandlung, also nachdem sich alle Fragesteller ausreichend vorbereiten konnten, Akten einsehen konnten und Gelegenheit zu eigenen Erkundigungen hatten71. Doch wie lange noch? Die Versuchung ist stark, allein deshalb, weil die polizeilichen Ermittlungsergebnisse nominell von einem als Staatsanwalt bezeichneten Volljuristen entgegengenommen werden, auf eine Überprüfung solcher Ergebnisse durch ein unabhängiges Gericht in einer unmittelbaren, mündlichen und kontradiktorischen Hauptverhandlung zu verzichten. b) Reduzierung der Gerichtsbarkeiten, Verlagerung von Zuständigkeiten auf Einzelrichter Seit mehreren Jahren ist es gang und gäbe, dass angeblich „schnellere“ und effizientere Verfahren bei Einzelstrafrichtern geführt werden können, dass reduzierte Besetzungen von Strafkammern zu einer verbesserten oder effizienteren Wahrnehmung der Richteraufgaben führen soll. In der Praxis stellt sich diese Personalreduzierung als Bumerang dar. Strafrichter, die in ihren Dezernaten gleichzeitig 300 oder mehr Strafverfahren pro Jahr zu bewältigen haben – auch dann, wenn sie mehreren Spruchkörpern angehören und vielleicht sogar nur eine halbe Stelle haben – sind deutlich unkonzentrierter und unvorbereiteter. Sie neigen in der Tendenz eher dazu, einen komplizierten Fall nicht mehr zu untersuchen, sondern solange hinzuziehen, bis sich die „Parteien“ geeinigt haben. c) Reduzierung der Personalausstattung und der Kosten Die Einsichtsmöglichkeiten derart mit Arbeit belasteter Richter hängen von individuellen Fähigkeiten und Kenntnissen der Rechtsauslegung und Rechtsanwendung, von der funktionierenden oder schwierigen „Teamarbeit“ in einer Kammer oder – viel profaner – von der Psyche, der sachlichen Ausstattung des Gerichts72 und der Tagesform ab. Persönlichkeit und Arbeitseinstellung von Richtern werden seit alter Zeit in Karikaturen, Satiren und Anekdoten – wie auch in Fest- und Denkschriften, Ehrungen und Beförderungen – zu Recht hervorgehoben. Dass sich Politiker aller Parteien
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71 Die Verfasser solcher Vorschläge nehmen allerdings für sich dann derartige Rechte selbstverständlich in Anspruch, wenn es sich um die Aufklärung einer politischen Frage in einem Untersuchungsausschuss handelt. 72 Es soll schon mal vorkommen, dass Gerichte nicht über Zeitschriften wie die „NStZ-RR“ oder den „Strafverteidiger“ oder die „wistra“ verfügen.
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und aller politischen Instanzen in Halbzeitwerten von Legislaturperioden Sorgen über den finanziellen, zeitlichen und personellen Zustand der Justiz machen, die Reformierbarkeit und die Entlastung der so mit Interesse bedachten Staatsdiener auf die Tagesordnung nehmen, zeigt sich in den nicht enden wollenden Neuauflagen der Justizreformgesetze, Vereinfachungs- und Abschaffungsvorschlägen. Dennoch oder vielleicht deswegen stehen Rechtssuchende einer mehrjährigen Prozessdauer ohnmächtig gegenüber. Die idealtypisch den Instanzgerichten zugeschriebene Aufgabe, zu tragfähigen Feststellungen bei einem streitigen Sachverhalt zu kommen, wird zunehmend belastet durch Ausbildungsdefizite, Arbeitsbelastung, Verfahrensbeschränkungen und fehlende Sachmittel. Frustration in den Amtsstuben macht sich angesichts steigender Anforderungen an Ergebnisqualität, Zeitbedarf und Kosten breit. d) Reduzierung auf technisch nachweisbare Massenphänomene Wenn durch Kameras in Fußgängerzonen, Hotelhallen, Firmengebäuden und Straßenkreuzungen, durch Scanner an den Leitplanken der Autobahn (für Fahrzeuge) und in Polizeifahrzeugen, IMSI-Catcher, elektronische Fußfesseln etc. der Staat den Bürger kontrollieren und überwachen kann, braucht man keine Richter mehr. Es geistert die Vorstellung herum, durch technische Maßnahmen wie DNA – Untersuchungen einen potentiellen Straftäter bereits überführen zu können. Der so Verdächtigte ist sozusagen schuldig ohne Gegenbeweis. Das macht Richter scheinbar entbehrlich, mindestens aber drastisch reduzierbar. Richtertätigkeit wird für den, der so denkt, zur unproduktiven Kostenstelle, also zu einem Aufwand, der keine Erträge bringen kann und folglich eingespart werden muss. Die klassische Beweismittelquadriga Zeuge, Sachverständiger, Urkunde, Augenschein stellt längst nicht mehr den Standard richterlicher Aufklärungsarbeit dar. In der Mehrzahl aller Hauptverhandlungsverfahren spielt der Augenschein eine untergeordnete, der Sachverständigenbeweis eine verschwindend geringe Rolle. Dominiert wird das Verfahren von mehr oder weniger schlechten Kopien und Zeugen vom Hören(nach)sagen. Insbesondere die an den Ermittlungen beteiligten Polizei- und Verwaltungsbeamten treten als Zeugen auf. Neuerdings nehmen auch Datenträger, Videobänder und andere technische Erzeugnisse einigen Raum ein. Das Gesamtbild der Beweisaufnahme wandelt sich – weg von einer umfassenden Aufklärung – hin zu einer Rezeption der von den Ermittlungsbehörden vorgelegten Informationsmittel – auch der schriftlichen Aussagen-„protokolle“ (besser: Verständnismitschriften der Vernehmungsbeamten). Ein im Ermittlungsverfahren eingeholtes Sachverständigengutachten wird nur noch verlesen, umfangreichere Gutachten und Urkundensammlungen sogar im (dafür an sich nicht vorgesehenen) Selbstleseverfahren. Telefonabhörprotokolle werden ohne Rücksicht auf eine (an sich notwendige) Befragung der Telefonteilnehmer in 333
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einer Hauptverhandlung abgespielt oder nur deren (mehr oder weniger gute) Übertragung in eine Mitschrift verlesen. Folglich werden die klassischen drei Fehlerquellen bei der richterlichen Beweisaufnahme nicht vermieden, sondern gefördert: Fehler bei der Auswahl- und Eignungsprüfung, Fehler bei der inhaltlichen Deutung des Beweismittels und Fehler bei der Rezeption und Würdigung in der Hauptverhandlung73. 4. Der beliebige Umgang mit dem Beweisantragsrecht Das justizielle Problem der Verschlankung von Hauptverhandlungsprozessen durch zunehmende Rezeption von Beweisergebnissen des Ermittlungsverfahrens ist es, dass die eigenen Erhebungen eines Verteidigers oder des von den Ermittlungen betroffenen Unternehmens im Strafverfahren nicht verbindlich werden, wenn sie nicht in einem ordnungsgemäßen Verfahren gem. §§ 224, 244, 245 Abs. 2 StPO in das Verfahren eingeführt werden. Dabei liegt in der Natur der konkurrierenden Tätigkeit von Verteidigung und Ermittlungsbehörden im Ermittlungsverfahren, dass die gegen das Verdachtsbild vorgelegten Ergebnisse nur mit Widerstreben zur Kenntnis genommen werden. Zunächst soll ein Überblick über die gesetzlichen Möglichkeiten der Verfahrenseinführung gegeben werden. Der Verteidiger hat nach dem geltenden Recht die Möglichkeit, einen ihm zur Verfügung stehenden Sachbeweis in das Verfahren einzuführen durch Einlassung des Beschuldigten, Verteidigererklärung, Beweisanträge im Ermittlungs- und Zwischenverfahren, Beweisantrag nach §§ 245 Abs. 2 i. V. m. 244 StPO und durch Beweisermittlungsanträge. a) Anregungen durch Einlassungen und Erklärungen In der Einlassung des Beschuldigten oder einer Erklärung während der Hauptverhandlung (§ 257 StPO) können Tatsachen erklärt werden, über die grundsätzlich Beweis zu erheben ist. Die Einführung einer Tatsache durch den Beschuldigten hat den Vorteil, dass mit der Einführung eine Erläuterung aus der Sicht des unmittelbar damit Befaßten erfolgen kann. Nachteile der Einlassung oder der Verteidigererklärung bestehen aber einmal darin, dass die Strafverfolger Einlassungen des Beschuldigten erhebliche Skepsis entgegenbringen. Zum anderen kann der Beschuldigte oft nicht übersehen, welche Implikationen die eine oder andere Erläuterung einer Tatsache für die Beweissituation haben kann. Die Gefahr der „Umpolung“ der Beweisrichtung durch Gericht oder Staatsanwaltschaft besteht. Der Verteidiger wird seinen
__________ 73 Vgl. zu den Fehlerquellen im Strafverfahren Deckers, Kriminaltechnik, Bonn 1997; Neuhaus, Kriminaltechnik für den Strafverteidiger, StraFo 2001, 8 ff.; 115 ff.; 406 ff.; StraFo 2002, 255 ff.; StraFo 2005, 148; Tondorf, StV 1993, 39; Bender/ Röder/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht I 2. Aufl. 1995, S. 1 ff.
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Mandanten im Übrigen über etwaige schädliche Folgewirkungen auf den Prozeßverlauf und die Entscheidung aufzuklären haben. b) Anträge im Ermittlungsverfahren (1) Zu Beginn und im Verlauf des Mandates hat der Verteidiger mit dem Mandanten abzustimmen, wie man sich gegenüber amtlichen Stellen zu dem Vorwurf verhalten will. Diese Abstimmung wird laufend aktualisiert und konkretisiert. Die Art der Verteidigung (z. B. Verteidigung eines schweigenden, bestreitenden oder geständigen Mandanten) kann in der Regel nur auf der Kenntnis des Vorwurfes und der ihn begründenden Tatsachen und Beweismittel entschieden werden. Der Verteidiger muß den richtigen Zeitpunkt, in dem er entlastende Tatsachen und Beweismittel in das Verfahren einführt, abschätzen74. Wenn er keine Akteneinsicht hatte, ist die Wirkung eines Beweismittels auf die gesamte Beweislage nicht abzusehen. Für entlastende Beweismittel wird vertreten, dass der Verteidiger diese in jedem Fall einzuführen habe. Problematisch ist diese Auffassung in Fällen, in denen der Beschuldigte mit oder ohne Wissen des Verteidigers einen Vorwurf auf sich nehmen will, der inhaltlich zwar unzutreffend ist, der aber zu schwerwiegenderen Folgen für den Beschuldigten und Dritte führen könnte, würde er entdeckt werden. Beispielsweise kann man hier die Fälle des Strafklageverbrauchs anführen75. Der Verteidiger ist somit nur in Abstimmung mit dem Mandanten berechtigt und verpflichtet, entlastende Beweismittel einzuführen. (2) Beweisanträge und Beweisermittlungsanträge der Verteidigung im Ermittlungsverfahren sind in der Praxis beinahe aussichtslos. Die Beweisantragsrechte (§§ 136 Abs. 1 S. 3, 163a Abs. 2, 166 Abs. 1 StPO) des Beschuldigten haben keinen Einfluß auf den Inhalt der Ermittlungen. Gestellte Beweisanträge werden von Polizei und Staatsanwaltschaft schlicht nicht beantwortet und bei den Ermittlungen ignoriert. Die Verletzung der Verpflichtung aus § 160 Abs. 2 StPO ist sanktionslos. Wenn die Verteidigung aus dieser Erfahrung heraus in der Praxis dem Mandanten zur Einholung eines Privatgutachtens rät76, ist das aus dieser Beobachtung heraus konsequent. (3) Strafrechtliche Grenzen der Einführung von Beweismitteln ergeben sich aus § 258 StGB und ebenfalls aus §§ 164, 145d StGB. Außerdem ist die Gefahr einer Umdeutung oder „Umpolung“ eines mittels Zeugen oder Sachverständigen verwerteten Entlastungsbeweises im Ermittlungsverfahren groß. Die Staatsanwaltschaft kann unabhängig vom Verteidiger und in seiner Abwesenheit einen Zeugen oder Sachverständigen, der Erkenntnisse vermit-
__________ 74 Dahs, Handbuch, Rz. 292. 75 BVerfG NJW 1978, 414; BGH NJW 1980, 2718; StV 1981, 116. 76 Dahs, Handbuch, Rz. 289; Tondorf/Waider, Sachverständige, StV 1997, 493/494.
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teln soll und der nicht schweigeberechtigt ist, vernehmen77. Dabei kann sich eine (durchaus legale) „Vergiftung“ des Beweismittels ergeben, die es für die Verteidigung unbrauchbar macht. Bei der Einführung von Beweismitteln durch Detektive in ein Ermittlungsverfahren muß bedacht werden, dass Strafverfolger den privaten Ermittlern sehr skeptisch gegenüber stehen78, obwohl es sich meist um aus dem Dienst ausgeschiedene Ermittlungsbeamte handelt. c) Anträge nach §§ 245 Abs. 2, 244 StPO Die Verwertung von Beweismitteln mittels präsentem Sachverständigen oder herbeigeschafftem sachlichen Beweismittel nach § 245 Abs. 2 StPO setzt einen Beweisantrag nach § 244 StPO voraus, der wiederum die Bezeichnung konkreter Tatsachen verlangt, die das Beweisziel stützen79. Nach der Änderung des § 245 durch das StVÄG 1979 hat der Antrag in der Praxis seine Bedeutung weitgehend verloren80. Die Rechtsprechung legt die Norm restriktiv aus: –
Der BGH hat einen nicht ausreichenden Antrag angenommen, wenn angegeben wird, entgegen den bereits dem Gericht vorliegenden Gutachten lägen bei dem Angeklagten die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB vor81.
–
Ein nicht präsentes Beweismittel soll vorliegen, wenn der Sachverständige nicht förmlich geladen war82.
–
Ebenfalls kein präsentes Beweismittel sollen Kopien sein, die in einem von der Staatsanwaltschaft dem Gericht mit der Anklage vorgelegten Ordner abgelegt waren, obwohl das Gericht aus diesem Ordner Schriftstücke zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht hat und der Verteidiger in seinem Antrag die Kopien einzeln bezeichnet hatte83.
Diese letzte Entscheidung ist besonders in Umfangsverfahren problematisch, wenn eine Urkunde aus einer Vielzahl von sichergestellten Unterlagen oder gar aus einem Bestand an elektronisch erfaßten Schriftstücken eingeführt werden soll. Die Staatsanwaltschaft hat es hier in der Hand, durch Bezeichnung der Beweisstücke nach § 200 StPO einen Beweisumfang vorzugeben (z. B. Auflistung der mit dem Ordnerrücken bezeichneten Schriftstücke), während von dem Verteidiger erwartet wird, die einzelnen Papierseiten eines Ordners genau zu bezeichnen. Folglich wird dem Verteidiger in seinem Beweisantrag eine genaue Schilderung des Urkundeninhaltes und die Beifügung
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77 78 79 80 81 82 83
Krause, Gehilfe der Verteidigung, StraFo 1998, 1 ff.; Dahs, Handbuch, Rz. 287, 289. Dahs, Handbuch, Rz. 293. Pfeiffer, a. a. O., § 245 Rz. 5; BGH NStZ 1994, 400. Dahs, Handbuch, Rz. 658. BGH NStZ 1999, 632. BGH NStZ 1981, 401. BGH NStZ 1994, 593.
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von Urkundenkopien abverlangt, die der zu Amtsermittlungen verpflichtete Staatsanwalt oder Richter nicht erbringen muss. Die Rechtsprechung ist auch dann problematisch, wenn dem Beschuldigten und der Verteidigung im Ermittlungsverfahren nicht die Möglichkeit eigener Erhebungen aus den Beweisstücken der staatlichen Behörden gegeben worden ist. Verlangt man von einem derart schlecht informierten Verteidiger, er müsse neue Tatsachen vorbringen, dann überfordert man seine Beistandsfunktion. Er kann nicht aktiv werden, er soll auch nicht ins Blaue hinein Anträge stellen. Die Ladung und Präsenz eines Sachverständigen der Verteidigung scheitert oft an der Unzugänglichkeit von Untersuchungsmaterial und den Kosten eines Sachverständigen84. Hier muß die Möglichkeit geschaffen werden, die beantragte Beweiserhebung durchzuführen, gerade weil dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren keine Möglichkeit zur Prüfung der Sachbeweise gegeben worden ist. d) Anträge nach § 244 StPO (1) Ein Beweisantrag nach § 244 Abs. 4 StPO kann noch leichter abgelehnt werden, als der Antrag nach § 245 Abs. 2 StPO. Die Vernehmung eines Sachverständigen kann nicht nur aus den Gründen des § 244 Abs. 3 StPO (Unzulässigkeit, Offenkundigkeit, Erwiesenheit, Nichteignung, Unerreichbarkeit, Prozeßverschleppung oder Wahrunterstellung) abgelehnt werden, sondern auch wegen eigener Sachkunde des Gerichts (§ 244 Abs. 4 S. 1 StPO) oder der Erwiesenheit des Gegenteils. Da sich das Gericht die Sachkunde, aus der heraus es einen Beweisantrag ablehnen kann, von einem Sachverständigen vermitteln lassen kann85, durch außerberufliche Tätigkeit oder durch Studium der Fachliteratur aneignen kann, und eine Beweisaufnahme über die Sachkunde des Gerichtes nicht stattfindet86, kann der Beweisantrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens (fast) problemlos abgewiesen werden. Wer als Verteidiger in das sachliche Fachgebiet des Sachverständigen eingearbeitet ist, wird einige Geduld, Energie und Überzeugungsarbeit aufwenden müssen, um einen nicht sachverständigen Strafrichter von dem Vorliegen der Ausnahmetatbestände zu überzeugen. Ein mangelnder Stand der Forschung87, logische oder methodische Fehler88, nicht nachgewiesene Sachkunde89, unrichtige Anknüpfungstatsachen oder unaufklärbare Widersprüche werden selten als Grund für die erneute Einholung eines Sachverständigengutachtens anerkannt.
__________ 84 85 86 87 88 89
Tondorf, a. a. O., S. 406; E.Müller, NJW 1976, 1067; Sarstedt, JR 1951, 193. Pfeiffer, a. a. O., § 244 StPO, Rz. 41; BGH NStZ 1984, 211. BGH NStZ 2000, 156. BGH StV 1989, 335. Pfeiffer, a. a. O., § 244 StPO Rz. 44. Eisenberg, Beweisrecht, 3. Aufl., Rz. 257.
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(2) Der Beweisantrag nach § 244 Abs. 5 StPO fristet ein Schattendasein, weil zusätzlich zu den Gründen des Abs. 3 das pflichtgemäße Ermessen des Gerichtes für eine Ablehnung ausreicht. Nach Ansicht des BGH soll es darauf ankommen, ob von der Beweisaufnahme durch Augenschein eine vernünftige Sachaufklärung erwartet werden kann90. Daher kann sich das Gericht auch von einem Zeugen oder Sachverständigen den Augenschein vermitteln lassen. Will der Verteidiger dagegen halten und nicht an § 244 Abs. 3 StPO scheitern, dann muß er möglichst auf Lichtbildern, Zeichnungen und Videoband seine Recherchen festhalten. (3) Die Anregung an das Gericht, seiner Amtsaufklärungspflicht nachzukommen, ist die schwächste Form des Appells der Verteidigung, die Beweise zu überprüfen. Das gleiche gilt für Beweisermittlungsanträge. Die Amtsaufklärungspflicht des Gerichtes erstreckt sich nur auf die von dem Gericht und der Staatsanwaltschaft herbeigeschafften Beweismittel (§ 245 Abs. 1 StPO). Das Gewicht der vom Gericht herbeigeschafften Beweismittel ist dabei eher bescheiden, in der Praxis wird die Beweismittelliste der Anklageschrift abgearbeitet. Lediglich dann, wenn es in dem Ermittlungsverfahren an einer geeigneten Ermittlung fehlte (z. B. der erforderliche Sachverständige wurde nicht bestellt) bleibt dem Gericht ein praktischer Handlungsspielraum. Eine fundierte Anregung an die Amtsaufklärungspflicht durch die von dem Verteidiger erhobenen Sachbeweise setzt voraus, dass der Verteidiger entweder über das sachliche Beweismittel verfügt, oder dessen Verbleib genau angeben kann. (4) Die strafprozessualen Regelungen begünstigen daher tendenziell den Ausschluß der Verteidigung von der Beweisführung. Mit der Subjektstellung des Beschuldigten und dem Anspruch auf rechtliches Gehör ist dies nicht vereinbar. 5. Folgerungen Mag der staatliche Strafverfolgungsanspruch und damit der Vorrang richterlicher Tatsachenfeststellungen vor etwa 100 Jahren noch unumstritten gewesen sein, so hat sich nach dem Mißbrauch des Justizsystems durch die Nationalsozialisten91 mit dem Grundgesetz eine neue Werteordnung etabliert, an der sich jede Strafverfolgungstätigkeit messen lassen muß. Das richterliche Privileg, die richtigen, wahren und vollständigen Tatsachen für eine strafrechtliche Würdigung selbst festzustellen, ist in einer Vielzahl alltäglicher Fallgestaltungen durchbrochen, zurückgedrängt oder gar entfallen. Die Gesetzesentwicklung und die öffentlichen Diskussionen über die Effizienz der Justiz signalisieren dem Rechtsuchenden, dass der Staat jedenfalls für das Strafverfahren keinen gesteigerten Wert auf eine vollständige Stoffsammlung
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90 BGHSt 8, 181; Ersetzung durch Lichtbilder: BGH NStZ 1984, 565. 91 Eisenhardt, a. a. O., Rz. 660 f.; 665 ff.; 672b.
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von Amts wegen legt. Ein Privileg staatlicher und richterlicher Tatsachenfeststellungen kann aber dort nicht postuliert werden, wo sich die staatliche Ordnung selbst begrenzt oder gar auf Aktivitäten verzichtet. Der Beschuldigte eines Verfahrens ist nicht Objekt, sondern Subjekt des Erkenntnisprozesses. Eine Welt voller Technik – daran glaubte man auch schon zu Zeiten der Folterkammer – kann (und darf auch nicht) mit der Erforschung der materiellen Wahrheit verwechselt werden. Zu Recht ist der demokratische Staat stolz auf seine Rechtstraditionen und wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse über die Psyche des Menschen, über Schuld und Unschuld, Rechtfertigungsgründe und die über den staatlichen Interessen stehenden Grundfreiheiten des Einzelnen. Dem vom Staat auf vielen Ebenen beschlossenen Rückzug von der richterlichen und damit fundierten Tatsachenfeststellung muss ein Äquivalent gegenüber gestellt werden, das dem Einzelnen auch und gerade im Strafrecht gestattet, seine Rechte, sein Ansehen und seine Würde zu verteidigen. Das ist zunehmend dann erforderlich, wenn die Ermittlungsbehörden den Beweisanträgen des Beschuldigten erkennbar nicht nachgehen, wenn der Verlust von Beweismitteln zu besorgen ist oder wenn gerade aus Sicht des Betroffenen eine richterliche Beweisführung erforderlich ist. Dafür gibt es in strafrechtlichen Großverfahren ein starkes praktisches Bedürfnis. Ob die aufgezeigten Entwicklungslinien umkehrbar sind, ist mehr als fraglich. Sowohl die europäische Entwicklung als auch die Bemühungen um eine „Justizmodernisierung“ aus Kostengründen im Strafprozeß sind nicht aufzuhalten. Solche Privatermittlungen sind für die Betroffenen, die sich gegen Vorwürfe aktiv verteidigen wollen, unerlässlich. Aber auch Opfer, besonders geschädigte Unternehmen, wollen nicht nur Schadenersatzforderungen einklagen können, sondern auch auf dem Gebiet des Strafrechts mit eigenen, fundierten Tatsachenermittlungen aufwarten und das Strafverfahren damit dynamischer gestalten können. Folglich sind zur Verteidigung der Interessen und Rechte vom Einzelnen und Unternehmen Privatermittlungen nötig und zuzulassen. Im Folgenden werden daher Vorschläge für eine Anerkennung solcher Feststellungen außerhalb eines Beweisantragsrechts im Ermittlungsverfahren gemacht.
IV. Vorschläge für eine qualifizierte Tatsachenfeststellung im Strafverfahren 1. Private Erhebungen und ihre Schranken a) Bedürfnis für private Erhebungen Angesichts der hohen Erwartungen, wie sie im Teil II. beschrieben wurden, enttäuschen die vielfältigen Maßnahmen zur Reduzierung der Justizfunktionen einschließlich der Aberkennung von Beweismöglichkeiten, wie das im 339
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Teil III. deutlich geworden ist. Dabei besteht ein Bedürfnis für private Initiativen in mehrfacher Hinsicht. Privatermittlungen sind nötig, –
um sich angemessen verteidigen zu können (vgl. §§ 224, 362, 364b StPO), so beispielsweise für die Recherche entlastender Beweismittel wie z. B. Alibizeugen, Aufklärung alternativer Handlungsstränge, Erforschung von Sachverhalten, die einer besonderen Fachkunde bedürfen;
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um die Beweiserhebungs-, -verarbeitungs- und -verwertungsfehler der Ermittlungsbehörden aufdecken zu können;
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um die Chancen auf eine Ermittlung des wahren Täters zu verbessern;
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um den Forderungen des Gesetzes nach frühzeitiger Berichterstattung an Aufsichtsbehörden, Aufsichts- und Kontrollgremien und die Öffentlichkeit nachkommen zu können;
–
um schnellstmöglich Schaden von sich selbst, einem Unternehmen und Dritten abwenden zu können, auch und gerade dann, wenn Ermittlungsbehörden verzögerlich handeln oder desinteressiert sind.
Die Suche nach einer Lösung ist nicht einfach. Das Grundgesetz setzt dem Staat Schranken, nicht dem Handeln des Einzelnen, der seine Freiheiten verteidigen will. Angesichts der erkennbaren Wertungswidersprüche stellt sich der Ausschluss privater Erhebungen von einer richterlichen Beweisaufnahme und -würdigung als unvertretbar dar. Die nach den aufgezeigten Schwierigkeiten im geltenden Recht angelegte Abwehrmöglichkeit besteht in der Geltendmachung von Amtshaftungsansprüchen gegen staatliche Organe und Gerichte. Obwohl Beweismöglichkeiten vereitelt werden oder durch verspäteten Zugriff eine an sich mögliche Aufklärung verschleppt wird, haben Amtshaftungsklagen kaum Aussicht auf Erfolg, weil es regelmäßig dem beweisbelasteten Bürger nicht gelingt, einen vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Ermessensfehlgebrauch nachzuweisen92. Eine Gegensteuerung durch den Ausbau von Akteneinsichts- und Informationsrechten, durch Pressearbeit wie auch durch ein geplantes Informationsfreiheitsgesetz wird zu einer Flut an Informationen, Daten- und Wissenssammlungen führen. Wegen der Schwierigkeit, diese Flut an Informationen in einer immer komplexeren Multimediagesellschaft sachgerecht und nutzbringend zu analysieren, werden die von der Justizarbeit enttäuschten Bürger zunehmend gewerbliche Dienstleister in Anspruch nehmen. Eine neue Form der Dienstleistung etabliert sich, nämlich die der privaten Erforschungen, Ermittlungen und Informationsbeschaffungen. So haben die privaten Recher-
__________ 92 Die Prüfung hat nach h. M. nur auf eine Vertretbarkeit des Verhaltens hinzuarbeiten, BGH NJW 1989, 96; NJW 2000, 2672; NJW 1998, 751; OLG Hamm NJW 1993, 1209; MK-Papier, § 839 BGB Rz. 191; LG Düsseldorf NJW 2003, 2536.
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Entfällt das Richterprivileg für die Tatsachenfeststellung?
cheure – Detekteien, Finanz- und Unternehmensberater, Rechtsanwälte – Hochkonjunktur. Das neudeutsche Zauberwort dafür heißt übrigens „Knowledge Management“. Wenn das (bereits vorhandene) Angebot an fundierter, an Grundwerten orientierter Tatsachenfeststellung staatliche wie gerichtliche Anerkennung findet, lassen sich Erwartungen der Bürger und Leistungen der Justiz wieder zur Deckung bringen. Der Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer hat zum Deutschen Juristentag 2004 „Thesen zur Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren“ veröffentlicht, die u. a. wesentliche Forderungen nach einer Anerkennung forensischer Verteidigungsarbeit enthalten. b) Gegenstand der Privatermittlungen Tatsachen sind überprüfbare, beweisbare Ereignisse, Zustände oder Verhältnisse, die einer Nachprüfung zugänglich sind, ohne dass es auf eine naturwissenschaftliche oder technische Möglichkeit ankommt93. Sie sind eingebettet in alle Lebensumstände, ereignen sich auf allen Kommunikationsebenen und werden in den unterschiedlichsten Formen wahrgenommen. Die folgende Aufstellung unternimmt den Versuch einer Systematisierung von Informationen nach Art ihres Vorkommens und dem Grad der Schutzanforderungen, allerdings begrenzt auf äußere Tatsachen. Die Abstufung wird unabhängig von demjenigen, der die jeweilige Tatsache erhebt bzw. ermittelt einem im Grundgesetz angelegten Wertekanon gerecht. Durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung und zum Recht auf den persönlichen Geheimnisbereich werden Lebensbereiche voneinander abgegrenzt, auf die ein staatlicher Zugriff nicht oder nur in Abstufungen und Einschränkungen erfolgen darf. Auch bei dem staatlichen Zugriff führt die Einwilligung eines Betroffenen in der Regel zum Wegfall der rechtlichen Schranke, es sei denn, die unaufgebbaren Rechte eines Dritten sind zu beachten. Der o. g. persönliche Geheimbereich im engeren Sinne ist in jeder Hinsicht den gerichtlichen Feststellungen entzogen. Soweit ein gesetzlicher Geheimnisschutz angeordnet ist – durch das jeweilige Fachgesetz oder durch allgemeines Strafrecht – muss eine Durchbrechung des Schutzes grundsätzlich auf einer richterlichen Anordnung beruhen. In der Privatsphäre im weiteren Sinne können nach Dauer und Intensität des Eingriffes abgestufte Genehmigungsschwellen vorgesehen werden. Die Ebene der „Bereichsöffentlichkeit“ sieht bereits klassischer Weise eine Zugangshürde durch den Nachweis „berechtigter Interessen“ vor (z. B. Meldedaten, Registerdaten etc.). Frei zugängliche Informationen bedürfen weder bei staatlichen noch privaten Er-
__________ 93 RGSt. 56, 227; Koblenz NJW 1976, 63; BGHZ 3, 273; BGHZ 45, 304; Tröndle/ Fischer, StGB 52. Aufl., § 186 Rz. 2 f.; § 263 StGB Rz. 6 f.
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Thomas C. Knierim
hebungen eines Schutzes. Die Feststellung innerer Tatsachen, also Absichten, Motive, ist nur unter den gleichen Beschränkungen wie bei der Feststellung äußerer Tatsachen möglich. Schutzbereich
Verbale Information
Schriftliche Information
Chemischbiologische Information
Physikalischtechnische Information
Persönlicher Geheimbereich i. e. S.
Schlafzimmergespräche, Ehe und Familiengespräche
Tagebuch
DNA, Persönlichkeitsmerkmale
Patientenkarten
Gesetzlicher Geheimnisschutz
Arzt, Apotheker, Anwalt, Notar, Steuerberater, Seelsorger
Dito; Betriebsund Geschäftsgeheimnis
Blut-, SamenOrganspender, Fingerabdruck, Körpermaße
Minderjährigenschutz, Datengeheimnis, Steuergeheimnis, Sozialgeheimnis, Telefondaten
Privatsphäre i. w. S.
Nichtöffentliche Gespräche, Telefonate
Briefgeheimnis
Bereichsöffentlichkeit
Nichtöffentliche Reden, Telefonieren mit Lautsprecher
Mitteilungen an Behörden allg.
Frei zugängliche Informationen
Bild-/Tonaufnahmen
Veröffentlichungen, Berichte über die Person
Meldedaten, Registereinträge, Mitgliedschaften, Patent-, Urheberrechte
Abbildung 3
Ein privater Zugriff auf solchen Ebenen kann nicht unzulässiger sein, als es ein staatlicher Zugriff sein kann. Dies setzt allerdings voraus, dass die dem Staat gesetzten Schranken auch durch den Privaten überwunden werden, d. h. sowohl eine qualitativ angemessene Erarbeitung der Tatsache erfolgt als auch eine Genehmigungssituation vergleichbar der Arbeit der Ermittlungsbehörden erreicht wird. Eine Feststellung von zugangsgeschützten Tatsachen durch Private mit Einwilligung des Betroffenen könnte eine gesetzliche Hürde entbehrlich machen, ohne dass die dann festgestellten Ergebnisse als unverwertbar bezeichnet werden könnten. Wenn Schutzpositionen freiwillig aufgegeben werden, besteht kein rechtsstaatliches Geheimhaltungs- oder Nichtanerkennungsbedürfnis. 342
Entfällt das Richterprivileg für die Tatsachenfeststellung?
c) Verwertungsprobleme Die Rechtsprechung tendierte bisher dazu, die Verwertung eines Beweismittels zuzulassen, wenn sie nicht ausdrücklich untersagt wurde94. Allerdings sind nach den eingangs genannten Beispielen Zweifel angebracht, ob das auch in Zukunft so sein wird. (1) Es kann dem Verteidiger nicht nur gestattet, sondern es kann auch für die sachgerechte Verteidigung geboten sein, auch solche Beweismittel zur Verteidigung des Beschuldigten in das Verfahren einzuführen, von denen der Verteidiger nicht sicher weiß, ob das Beweismittel echt oder unecht ist, ob es unverfälscht oder verfälscht, unter Beachtung von Rechtsregeln oder in rechtswidriger Weise beschafft worden ist95. Der Verteidiger übernimmt nicht die Verantwortung für die Unanfechtbarkeit und Richtigkeit des Beweismittels sofern er es nicht selbst verändert, sondern er trägt Tatsachen und Beweismittel dem Gericht zur Prüfung vor. Es liegt also nicht in seinem Risikobereich, ob und in welchem Umfang das Gericht den Vortrag berücksichtigen, die Beweisaufnahme darauf erstrecken und sich auf ein erhobenes Beweismittel bei der Entscheidungsfindung stützen wird. (2) Aus dem Mitteleinsatz zur Erlangung eines Beweismittels kann die Unverwertbarkeit in der Regel nicht abgeleitet werden. Gerade Inhalt und Aussagekraft eines sachlichen Beweismittels ändern sich durch den Mitteleinsatz zu seiner Erlangung nicht. Allerdings sollte der Verteidiger das Beweismittel kritisch danach untersuchen, ob es „untergeschoben“ oder gefälscht wurde. Bei Personenbeweisen sollen Aussagen nicht „gekauft“ werden. Daher erscheint eine Vergütung nach den Entschädigungsregelungen für Zeugen und Sachverständige akzeptabel. Mit den begrenzten Mitteln der Verteidigung mag eine genaue Feststellung schwierig sein. Daher sind verwertbar: –
die schriftliche Äußerung von Zeugnisverweigerungsberechtigten gegenüber dem Verteidiger, auch wenn diese Personen das Zeugnis im Verfahren verweigern;
–
Ergebnisse heimlicher Recherchen im geschäftlichen und öffentlichen Bereich (Lichtbilder, Filme, Mitschnitte);
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sog. Hörfallen, d. h. das Ausforschen eines Dritten durch mithörende Privatpersonen am Telefon96;
__________ 94 Krey, Private Ermittlungen, BGHSt. 38, 214/219; Gössel, GA 1991, 483; Roxin, a. a. O., § 24 Rz. 13. 95 BGHSt. 38, 345/349 f. 96 Hörfallen-Beschlüsse des BGH NStZ 1995, 410, NStZ 1996, 200, NStZ 1996, 502; dazu Roxin, NStZ 1997, 18.
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–
private Recherchen, auch wenn sie unter Verstoß gegen den Sinn und Zweck des § 136a StPO durchgeführt werden97;
–
begrenzte körperliche Eingriffe unter Verstoß gegen § 136a, die zu Untersuchungsergebnissen nach § 81a Abs. 1 StPO führen98.
In Fällen extremer Menschenrechtswidrigkeit besteht allerdings ein Verwertungsverbot. Etwas Derartiges wäre anzunehmen bei der Anwendung von Zwang und Folter, der Ausforschung des persönlichen Geheimbereichs i. e. S. oder bei einer Erlangung durch eine schwerwiegende Straftat. 2. Qualifizierung der Erhebungen Typischerweise ist in Ermittlungsverfahren mit wirtschaftlich am Existenzminimum lebenden oder an Sprachbarrieren scheiternden Beschuldigten keine Eigenaktivität der Betroffenen oder etwaiger Geschädigter zu beobachten. Dagegen laufen in strafrechtlichen Großverfahren, besonders bei der Beurteilung großer Schadenspositionen nach §§ 263, 266 StGB, bei Umweltund Korruptionsverfahren oder im Nebenstrafrecht nach Kapitalmarkt- oder Publizitätsdelikten zunehmend Verteidigeraktivitäten darauf hinaus, dem Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft eigene Erhebungen gegenüber zu stellen. Natur- oder betriebswirtschaftlich umstrittene Fragen im kriminalistischen Verdachtsbild der Staatsanwaltschaft werden durch von der Verteidigung und/oder dem betroffenen Unternehmen beauftragte Sachverständige, die unternehmenseigene Revision oder die für das Unternehmen tätige Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Frage gestellt. Um durch nichtstaatliche Organisationen erhobene Tatsachen verwertbar zu machen, sollte es an sich genügen, diese zu bezeichnen, in eine verständliche Form zu bringen und dem Gericht zur Kenntnis zu geben. Die Ermittlungspraxis stellt an ein solches Verteidigungsvorbringen aber höhere Anforderungen als an die Bejahung eines Tatverdachts, z. B. aufgrund einer anonymen Mitteilung. Danach soll ein Beweisantrag personalisiert artikuliert werden, er soll Tatsachen und Beweismittel benennen, damit die Ermittlungsbeamten entscheiden können, ob sie dem nachgehen wollen oder nicht (§§ 136 Abs. 1 S. 3, 163a Abs. 2, 166 Abs. 1 StPO)99. Es ist hier kein Raum, auf die Qualitätsanforderungen im Einzelnen einzugehen. In der 2004 veröffentlichten Denkschrift „Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren“ des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer werden folgende Qualitätsanforderungen genannt:
__________ 97 Pfeiffer, § 136a StPO, Rz. 2; BGHSt 27, 357; 34, 52; 40, 213; 42,145; HörfallenBeschlüsse des BGH NStZ 1995, 410, NStZ 1996, 200, NStZ 1996, 502; dazu Roxin, NStZ 1997, 18. 98 BGHSt 24, 129. 99 Meyer-Goßner, StPO 47. Aufl. § 136 Rz. 11; § 163a Rz. 8, 15; Krekeler, NStZ 91, 367; Nelles, StV 86, 77.
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Entfällt das Richterprivileg für die Tatsachenfeststellung?
Beweismittelschonung (These 59)
1) Erhaltung eines Beweismittels in der Eignung, Aussagekraft und Aussagerichtung; 2) Vermeidung einer „Kontamination“ von Aussagen oder Sachbeweismitteln durch fehlerhafte Vorgaben oder Wissensvermittlung; 3) Keine Einflussnahme durch unausgewogene Zuwendungen an Personen, d. h. Zeugen oder Sachverständige
Substanzerhalt (These 60)
Erhaltung der Substanz und Qualität sachlicher Beweismittel für eine möglichst wissenschaftliche Nachprüfbarkeit
Dokumentation (These 65)
Aufnahme, Durchführung und Ergebnisse eigener Erhebungen sind zu dokumentieren, um eine intersubjektive Transparenz zu erreichen, allerdings ohne den Anschein eines „amtlichen“ Handelns
3. Reformenbedarf: Einführung eines Anerkennungsverfahrens a) Ausgangspunkt: Justizgewährleistungsanspruch Die Verfahrensgarantie eines rechtsstaatlichen, vom Unschuldsgrundsatz ausgehenden öffentlichen Verhandlungsverfahrens ist gefährdet100. Die rechtsstaatliche Funktion einer Verteidigung und die Subjektstellung des Beschuldigten müssen angesichts des Befundes unter I. und III. durch normierte Regeln zum Schutz der zeitnahen, objektiven Tatsachenfeststellung – schon im Ermittlungsverfahren – ergänzt werden. Die Ermittlungsbehörden genügen durch ihre spezifisch auf Verdachtsbilder ausgerichtete Ermittlungstätigkeit nicht mehr den Anforderungen an eine Interessenwahrnehmung des Beschuldigten, weil entlastende Tatsachen nicht ermittelt werden oder trotz Ermittlung durch Kosten- und/oder Ergebnisdruck ausgeblendet werden. (1) Ein Beispiel verdeutlicht das Dilemma: Der beschuldigte Arzt soll einen ärztlichen Kunstfehler begangen haben, der dem Vorwurf nach zum Tod des Patienten geführt haben soll. Die Leiche wird oberflächlich obduziert, es wird festgestellt, dass tatsächlich ein Kunstfehler vorlag, der im normalen Verlauf der Behandlung erkannt worden wäre. Die Untersuchung stellt auf eine
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100 Dahs, Der Standpunkt des Verteidigers zum Sachbeweis, BKA-Nr. 24, S. 21; Müller, Gedanken zur Verteidigung im Ermittlungsverfahren in Ebert (Hrsg.), S. 64; Rieß, Verwertungsprobleme bei der Aufklärung von Katalogtaten, in ARGE StrafR, S. 158.
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Thomas C. Knierim Kausalität der Nichtbehandlung ab. Nicht entdeckt wird die eigentliche Todesursache, nämlich eine hochkomplizierte Blutvergiftung, die sich der Patient am Tag vor seiner Aufnahme in das Krankenhaus zugezogen hatte. Eine vom Verteidiger beantragte Obduktion wird abgelehnt. In der Hauptverhandlung wird das mit der Anklage vorgelegte Gutachten nach § 256 StPO verlesen, der Beweisantrag nach § 244 Abs. 4 StPO auf Vernehmung des Obduzenten wird wegen eigener Sachkunde des Gerichts (der Berichterstatter hatte sich „eingelesen“) und der Erwiesenheit des Gegenteils abgelehnt. Der Arzt wird verurteilt.
Wäre den Hinweisen und Anträgen der Verteidigung nachgegangen worden, hätte der Arzt vom Vorwurf fahrlässiger Tötung freigesprochen werden können, denn der Kunstfehler war nicht kausal für den Tod des Patienten. Die Verfahrensordnung sieht keine rechtliche Möglichkeit für den Beschuldigten oder seinen Verteidiger vor, Zugang zum unmittelbaren Sachbeweis zu erhalten, um einen anderen Kausalverlauf belegen zu können. Ein solcher Beschuldigter wird heute schlechter gestellt, als er im Inquisitionsverfahren mit einem Gottesurteil stehen würde. Damals hatte der Täter noch die Bahrprobe verlangen könne, die Gegenüberstellung mit der Leiche. Wenn diese sich nicht veränderte, war er frei101. (2) In Zeiten stark ausgeweiteter heimlicher staatlicher Beweisgewinnung und -auswertung mit hochkomplizierter Technik102, der Trennung von Polizei- und Verfahrensakten, kaum kontrollierbarer Benachrichtigungspflichten, fehlender Teilhaberechte der Verteidigung an Beweisgegenständen (Leichen, Geräte, Materialien, Datenbestände, Spuren) sowie der Abwendung vom Unmittelbarkeitsprinzip der Hauptverhandlung durch zunehmende Verlesung wird der Beschuldigte nur noch Objekt von Ermittlungen, ohne dass er sich wirksam gegen die Verhandlungsführung wehren kann. Das Strafverfahren mutiert dann zum geheimen Inquisitionsverfahren, dem ein öffentlicher aber verkürzter Schauprozeß folgt. Dieser Entwicklung muß gegengesteuert werden. Die Hauptverhandlung wird bei einer Vorwegnahme der Beweisaufnahme im Ermittlungsverfahren ihrer Funktion beraubt, erst durch öffentliche, mündliche und unmittelbare Beweisaufnahme zu einer richterlichen Erkenntnis über den zu würdigenden Sachverhalt zu gelangen. Da Menschenwürde und Rechtsstaatsfunktion dem Beschuldigten das Recht zubilligen, die staatliche Beweisführung anzuzweifeln, zu hinterfragen und belastenden Ermittlungsergebnissen die Unschuldsvermutung entgegen zu halten, muss ein darauf gestütztes Sachvorbringen im Falle einer Vorwegnahme der Hauptverhandlung durch die Beweissammlung im Ermittlungsverfahren durch neue Regelungen verhindert werden.
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101 Berichtet im Rechtsbuch von Ruprecht von Freising 1328, dazu Fellmann, … doch das Messer sieht man nicht, (Leipziger Kriminalfälle) Augsburg 1999, S. 14. 102 Bernsmann/Jansen, Heimliche Ermittlungsmethoden, StV 1998, 217; Dencker, Über Heimlichkeit, Offenheit und Täuschung bei der Beweisgewinnung im Strafverfahren, StV 1994, 667 zu BGH StV 1994, 58 und BGH StV 1994, 282.
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Entfällt das Richterprivileg für die Tatsachenfeststellung?
Für Personenbeweise hat die Entscheidung des 1. Strafsenates des BGH vom 25. 7. 2000103 eine Lösung für den Fall der Abwesenheit von der Beweiserhebung in der Bestellung eines Pflichtverteidigers zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten und in der Reduzierung des Beweiswertes bei seiner Nichtbestellung gesehen. Für Sachbeweise müssen – wegen ihrer grundsätzlichen Verwertbarkeit – gesetzliche Regelungen über die Dokumentation der Beweisgewinnung und der Auswertung, sowie Informations-, Anwesenheitsund Befragungsrechte der Verteidigung gefordert werden. b) Einführung eines selbständigen Anerkennungsverfahrens Das Zivilprozessrecht kennt ein den Parteien zur Verfügung gestelltes selbständiges Beweisverfahren in den §§ 485 ff. ZPO. Wer erwägt, parallel zu einem Ermittlungs- oder Hauptverhandlungsverfahren ein solches Verfahren gegen das zuständige Land als Organisationsträger der Ermittlungsbehörden wegen einer Amtspflichtverletzung zu führen, wird schon an der fehlenden Pflicht eines Strafgerichtes scheitern, die Ergebnisse eines solchen Beweisverfahrens im Vorfeld eines etwaigen Amtshaftungsprozesses zur Kenntnis zu nehmen. Auch wäre es sehr ungewöhnlich, die gesetzestheoretisch vorrangigen Möglichkeiten des Strafverfahrens nicht auszuschöpfen. Mit dem Anhörungsrügegesetz vom 9. 12. 2004104 hat der Bund zwar für weite Teile des Verfahrensrechts Vorschriften in den §§ 33a, 356a StPO geschaffen, aufgrund derer Gerichte auf Anträge reagieren müssen. Die unter dem Vorbehalt fehlender sonstiger Rechtsbehelfsmöglichkeiten, der Entscheidungserheblichkeit des Vorbringens und der fortdauernden Beschwer stehenden Normen lösen leider das Problem der Einführung von privat ermittelten Tatsachen in das Strafverfahren nicht. Der Rechtsschutz, der durch diese Normen zugesagt wird, greift zu spät ein, weil im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Landgericht nur diese Instanz für die Berücksichtigung von Tatsachen zur Verfügung steht und im Revisionsverfahren nur eine eingeschränkte Prüfung der Rechtsfragen zu erfolgen hat. Aber auch im Verfahren vor den Amtsgerichten stellt das Gesetz keine ausreichende Lösung dar, weil die Rechtsbehelfsmöglichkeiten ausgeschöpft werden müssen. Wie das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, sind Fehler der Amtsaufklärung und der Beweiswürdigung aber Verletzungen des Gebots bestmöglicher Sachaufklärung105. Diese Sachaufklärung muß möglichst frühzeitig im Verfahren einsetzen und notfalls auch gegen den Willen der Ermittlungsbehörde durchsetzbar sein. Mit der Feststellung entlastender Tatsachen darf
__________ 103 BGH Urteil v. 25. 7. 2000 – 1 StR 169/00 (Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 d EMRK). 104 BGBl. I S. 3220, in Kraft seit dem 1. 1. 2005; das Gesetz ist auf den Plenumsbeschluss des BVerfG v. 30. 4. 2003 – 1 PBvÜ 1/02, zurückzuführen. 105 BVerfG Urteil v. 30. 4. 2003 – 2 BvR 2045/02, Rz. 34 ff.; BVerfGE 57, 250/277; Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Aufl. Rz. 472; Herdegen in KK-StPO, 4. Aufl., § 244 Rz. 36 ff.
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nicht gewartet werden, bis die durch ein Ermittlungsverfahren sonst verbundenen Nachteile (Rufschädigung, Ansehensverlust, Verlust der Kreditfähigkeit etc.) eingetreten sind. Dem „aktiven“ Betroffenen muß es deshalb ermöglicht werden, verbindlich und unmittelbar auf Ermittlungen der Behörden zu reagieren. Ein geeigneter Ansatz könnte die Ausweitung des § 166 StPO sein. Zwar sieht § 166 StPO nach derzeit geltendem Recht eine objektive Ermittlungszuständigkeit des Ermittlungsrichters auch zugunsten des Beschuldigten vor. Dabei handelt es sich aber nur um eine Notzuständigkeit106. De lege ferenda besteht ein Bedürfnis an einer richterlichen Beweisanerkennung, die von der Staatsanwaltschaft bzw. den Ermittlungsbehörden nicht vereitelt oder kontaminiert werden kann. Dadurch wäre es – zur Rechtswahrung des Beschuldigten – möglich, verbindlich bereits in einem frühen Stadium der Ermittlungen Tatsachen einzuführen und richterlich feststellen zu lassen, die mit gleicher Berechtigung in das Hauptverfahren eingeführt werden können. Ein solches Verfahren wäre auch geeignet, die oben unter I. und III.4. aufgezeigten Bedenken zu beseitigen, sofern im Anwendungsbereich der Norm die Staatsanwaltschaft in die Funktion eines Verhandlungsbeteiligten ohne eigenes Ermittlungsrecht zurücktritt. Dass die Staatsanwaltschaft im Zuständigkeitsbereich des Ermittlungsrichters bei derartigen Beweiserhebungen keine Verfahrensführerschaft haben darf, ist notwendiges Äquivalent zu dem ansonsten nur schwer in einer Hauptverhandlung durchsetzbaren Beweisantragsrecht des Betroffenen.
__________ 106 Meyer-Goßner, a. a. O., § 166 Rz. 1; ebenso Hamm, StraFo 2002, 100; a. A. Schlothauer, StV 1995, 158.
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Daniel M. Krause
Die Befugnis zur Entbindung von der beruflichen Verschwiegenheitspflicht bei Mandatsverhältnissen juristischer Personen mit Wirtschaftsprüfern (§ 53 Abs. 1 Ziff. 3, Abs. 2 StPO) Inhaltsübersicht I. Einleitung und Problemstellung II. Charakter und Normzweck des Zeugnisverweigerungsrechts für Berufsträger, insbesondere Wirtschaftsprüfer, gemäß § 53 Abs. 1 StPO 1. Der Normzweck des § 53 Abs. 1 StPO 2. Zeitliche Dauer und Umfang des Zeugnisverweigerungsrechts 3. Die Verschwiegenheitspflicht des Wirtschaftsprüfers a) Berufsrechtlicher Grundwert (§ 43 Abs. 1 WPO) b) Verfassungsrechtliche Bezüge c) Sachliche Reichweite: gesamte Wirtschaftsprüfertätigkeit (§ 2 WPO) d) Gesetzliche und strafrechtliche Absicherung III. Die Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht (§ 53 Abs. 2 StPO) 1. Bedeutung, Rechtsfolgen 2. Befugnis zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht 3. Die Befugnis zur Entbindung von der Schweigepflicht nach einem Wechsel der Verantwortlichen der juristischen Person a) Die zivilgerichtliche Rechtsprechung b) Die strafgerichtliche Rechtsprechung aa) Befugnis zur Entbindung von Insolvenzverwalter bzw. gegenwärtigen Organen und bisherigem Organ (überwiegende Ansicht der Oberlandesgerichte)
bb) Ausschließliche Befugnis des Insolvenzverwalters bzw. der gegenwärtigen Organe (OLG Oldenburg, LG Hamburg, LG Lübeck) c) Stellungnahme aa) Richtigkeit der überwiegenden oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung bb) Unzutreffende Prämissen der Gegenauffassung zu Normzweck und Regelungsgegenstand des § 53 Abs. 2 StPO cc) Gesetzesgeschichte und personaler Bezug des geschützten „Vertrauens“ dd) Besonderheiten der prüfenden Tätigkeit des Wirtschaftsprüfers ee) Unerheblichkeit der inhaltlichen Qualität der anvertrauten Tatsachen, insbesondere ihrer (möglichen) strafrechtlichen Relevanz ff) Keine unvertretbare Beschränkung der Wahrheitsfindung im Strafverfahren d) Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. 10. 2003 e) Zur Notwendigkeit der Entbindung durch Insolvenzverwalter bzw. gegenwärtiges Organ f) Zwischenergebnis
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Daniel M. Krause IV. Folgefragen: Mehrköpfige Organe einer juristischen Person/faktisches Organ/Mandatserteilung durch Aufsichtsgremien 1. Besonderheiten bei mehrköpfigen Organen
2. Entbindungsbefugnis des faktischen Organs 3. Entbindung bei Aufträgen durch Aufsichtsgremien V. Zusammenfassung
I. Einleitung und Problemstellung Wirtschaftsprüfer erlangen im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit üblicherweise tiefe Einblicke in die wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer Auftraggeber, die für die Strafverfolgungsbehörden im Rahmen ihrer Ermittlungen von besonderem Interesse sein können. Es verläuft kaum ein Strafverfahren gegen Verantwortliche einer juristischen Person, bei dem nicht zu irgendeinem Zeitpunkt die bei ihrem Wirtschaftsprüfer gesammelten und erstellten Unterlagen als Beweismittel von den Ermittlungsbehörden angefordert bzw. sichergestellt werden oder der Wirtschaftsprüfer als Zeuge über seine Wahrnehmungen anlässlich seiner beruflichen Tätigkeit vernommen werden soll. Aufsehen erregende Strafverfahren gegen Vorstände von Kapitalgesellschaften in der jüngsten Vergangenheit, in denen die Ermittlungsbehörden zur Beweisführung das Zeugnis von Wirtschaftsprüfern zu von diesen durchgeführten Jahresabschlussprüfungen und Sonderprüfungen (§ 142 AktG) heranzuziehen suchten, haben die enorme praktische Bedeutung abermals augenfällig werden lassen. Entsprechendes gilt für die gegenwärtig zahlreich geführten Ermittlungsverfahren gegen Verantwortliche von Unternehmen des sog. Neuen Marktes im Zusammenhang mit Vorwürfen der unrichtigen Bilanzierung (§ 331 HGB) sowie unrichtiger Ad-Hoc-Mitteilungen (§ 39 Abs. 2 Ziff. 5 WpHG) bzw. des Kursbetruges (§ 38 Abs. 2 WpHG). Das Ansinnen der Ermittlungsbehörden auf Vernehmung von Wirtschaftsprüfern bzw. die Sicherstellung bei ihnen vorhandener Unterlagen bringt stets die Notwendigkeit der Entbindung von der beruflichen Verschwiegenheitspflicht (§ 53 Abs. 2 StPO) mit sich, denn die unbefugte Herausgabe von Unterlagen durch den Wirtschaftsprüfer stellt ebenso wie unbefugte Angaben zu anlässlich seiner Tätigkeit erfolgten Wahrnehmungen eine Pflichtverletzung im Rahmen des ihm erteilten Mandates gegenüber dem Auftraggeber dar wie auch eine Verletzung seiner berufsrechtlichen Pflichten zur Verschwiegenheit, ggf. sogar eine Straftat (§ 203 StGB). Mit der Notwendigkeit des Vorliegens einer Erklärung zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht ist indes allein der Ausgangspunkt bezeichnet. Denn nicht abschließend geklärt ist, wer zur Erteilung der Entbindungserklärung im Einzelfall befugt ist bzw. – anders gewendet – von wem eine solche Erklärung einzuholen ist, damit der Wirtschaftsprüfer bei Vermeidung von Pflichtverletzungen Unterlagen an Ermittlungsbehörden herausgeben 350
Entbindung von der beruflichen Verschwiegenheitspflicht
bzw. diesen gegenüber Angaben machen darf. Unklarheiten bestehen namentlich in solchen Konstellationen, in denen Auftraggeber des Wirtschaftsprüfers keine natürliche, sondern eine juristische Person ist und sich nach der Beauftragung Änderungen in der Geschäftsführung der juristischen Person ergeben. Ein solcher Wechsel erfolgt beispielsweise nach Eintritt ihrer Insolvenz und der Bestellung eines Insolvenzverwalters, häufiger indes sind schlichte Wechsel in der Geschäftsführung bzw. den Organen der juristischen Person. Die Thematik ist von erheblicher praktischer Relevanz und betrifft eines der wesentlichen Elemente des Berufsbildes der Wirtschaftsprüfer, ihre berufliche Verschwiegenheitspflicht. Die Rechtsprechung hatte sich insoweit bislang im wesentlichen mit Insolvenzfällen zu befassen. Während die ältere, wohl noch überwiegende Rechtsprechung der Oberlandesgerichte1 und auch die überwiegende Literatur2 nach eingetretener Insolvenz sowohl eine Entbindungserklärung des Insolvenzverwalters als auch der ehemaligen Organe der Gesellschaft als Auftraggeber des Wirtschaftsprüfers für erforderlich halten, erachten das OLG Oldenburg3 und diverse Landgerichte4 in jüngeren Judikaten eine Entbindungserklärung allein des Insolvenzverwalters für ausreichend. Auf die Zustimmung der früheren Organe komme es nicht an. Vereinzelt ist darüber hinaus vertreten worden, dass es ausschließlich auf die Entbindungserklärung der bisherigen Organe, nicht aber auf die des Insolvenzverwalters ankomme5. Entscheidungen des Bundesgerichtshofs für Strafsachen zu dieser Frage liegen bislang nicht vor. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem obiter dictum die Ansicht, nach der es allein auf die Entbindungserklärung durch den Insolvenzverwalter ankommen soll, für verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten6. Eine jüngst ergangene Entscheidung der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts zu § 97 StPO hat die Beschlagnahme von Unterlagen einer Mandantin (Aktiengesellschaft) einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft für rechtmäßig gehalten, da das Beschlagnahmeverbot des § 97 StPO als Schutznorm nicht das Verhältnis eines Wirtschaftsprüfers zu
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OLG Schleswig NJW 1981, 294; OLG Koblenz NStZ 1985, 426; OLG Celle wistra 1986, 83; OLG Düsseldorf StV 1993, 346; ferner LG Berlin wistra 1993, 278; LG Saarbrücken wistra 1995, 239. Dahs FS Kleinknecht, S. 63, 68 ff.; derselbe in Löwe-Rosenberg, StPO § 53 Rz. 71; Meyer-Goßner, StPO, § 53 Rz. 46; Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, § 399 Rz. 40; zu § 203 StGB: Lenckner in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch § 203 Rz. 23 zur befugten Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen. StraFo 2004, 351. LG Düsseldorf Beschluss vom 3. 2. 2004 III Qs 5, 6 und 7/04; LG Hamburg NStZRR 2002, 12; früher bereits LG Lübeck NJW 1978, 1014; so auch Häcker in MüllerGugenberger, Wirtschaftsstrafrecht, § 92 Rz. 9; Schäfer wistra 1985, 209, 210 ff. LG Düsseldorf NJW 1958, 1152; LG Kaiserslautern AnwBl 1979, 119; ebenso Schmitt, wistra 1993; 9, 13 f.; Weihrauch JZ 1978, 300, 302. NVwZ 1994, 54.
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einem Nichtbeschuldigten betreffe. Auftraggeberin der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft sei – wenn auch durch ihre Organe handelnd – die Aktiengesellschaft. Diese sei Nichtbeschuldigte; § 97 StPO greife infolgedessen nicht ein. Das durch § 97 StPO geschützte Vertrauensverhältnis zwischen juristischer Person und Berufsgeheimnisträger erstrecke sich nicht auf deren Organe7. Diese Tendenzen in der jüngeren Rechtsprechung geben Veranlassung, der Frage der Entbindungsbefugnis (§ 53 Abs. 2 StPO) bei Mandatsverhältnissen von Wirtschaftsprüfern mit juristischen Personen erneut nachzugehen. Hans Dahs hat sich der Thematik bereits vor zwanzig Jahren in der Festschrift für Theodor Kleinknecht im Zusammenhang mit der Verschwiegenheitspflicht von Rechtsanwälten wissenschaftlich gewidmet8. Sein Interesse an der Thematik mag ihre Ursache auch darin gehabt haben, dass sie zahlreiche Schnittpunkte zu Grundfragen aufweist, die das überaus weit gespannte berufliche Wirken von Hans Dahs als Strafverteidiger, Wissenschaftler, Vertreter des Anwaltsstandes und Mentor begleitet und geprägt haben, namentlich zu den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen, die Rechte der Betroffenen achtenden Strafverfahrens, zu Grundlagen und Stellung der freien Berufe sowie deren besonderer Verantwortung für die ihren Rat und Beistand Suchenden. Sie weist aber auch Bezüge auf zu Grundwerten in der Mandats- und Vertrauensbeziehung zwischen Verteidiger bzw. Anwalt und Mandant, die für Hans Dahs nach außen stets wachsam gegen das Eindringen des Staates zu schützen ist, deren Gelingen und innere Gestaltung jedoch eine immer neu zu bewältigende Aufgabe bleibt, derer sich der Verteidiger mit persönlicher Zuwendung, sachlicher Distanz, unbedingter Ausrichtung an den Mandanteninteressen, Loyalität und Seriosität anzunehmen hat. Dass Hans Dahs nie müde geworden ist, dieses Verständnis des Verteidigerberufes als fördernder Mentor an jüngere Berufskollegen weiterzugeben, hat der Verfasser bei zahlreichen Gelegenheiten erfahren und aufnehmen dürfen. Deshalb ist es ihm eine Ehre, mit den nachfolgenden, von diesem Verständnis geprägten Überlegungen zu der Festschrift für Hans Dahs beizutragen.
II. Charakter und Normzweck des Zeugnisverweigerungsrechts für Berufsträger, insbesondere Wirtschaftsprüfer, gemäß § 53 Abs. 1 StPO Zum Kreis der in § 53 StPO abschließend normierten zeugnisverweigerungsberechtigten Berufsträger zählen gemäß § 53 Abs. 1 Ziff. 3 StPO unter anderem Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwälte und Steuerberater. Die gesetzliche Verankerung eines Zeugnisverweigerungsrechts für diese Berufsgruppen
__________ 7 8
BVerfG NStZ-RR 2004, 83 unter Hinweis auf BVerfG NVwZ 1994, 54, 56; Nack in Karlsruher Kommentar, StPO, § 97 Rz. 6; Schäfer in Löwe-Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 97 Rz. 8. FS Kleinknecht, S. 63 ff.
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führt zu einer Beschränkung der Beweisführungsmöglichkeiten im Strafverfahren, die vielfach als Beeinträchtigung der Belange einer effektiven Strafverfolgung wahrgenommen wird. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht verschiedentlich das öffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafprozess als Ausfluss des Rechtsstaatsgebots hervorgehoben9. Ungeachtet dessen hat es jedoch darauf erkannt, dass die Einbeziehung wirtschaftsberatender Berufe in den Kreis der zeugnisverweigerungsberechtigten Berufsträger wegen der überragenden Bedeutung der beruflichen Verschwiegenheitspflicht bestimmter Berufsgruppen für die Funktionsfähigkeit ihrer Tätigkeit mit dem Grundgesetz vereinbar ist. 1. Der Normzweck des § 53 Abs. 1 StPO Die gesetzliche Anerkennung der beruflichen Verschwiegenheitspflicht in § 53 StPO dient dem Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Berater und den seine Hilfe und Sachkunde in Anspruch Nehmenden. Dieses Vertrauensverhältnis soll nicht durch die Besorgnis belastet werden, der Berufsträger könnte zu späterer Zeit als Zeuge darüber vernommen werden, was ihm in seiner beruflichen Eigenschaft durch den Ratsuchenden anvertraut oder bekannt gegeben worden ist. Nur bei einer im Vertrauen auf den Geheimnisschutz erfolgten rückhaltlosen Offenbarung von Tatsachen kann eine optimale professionelle Hilfe des Beraters erfolgen. Ein (ggf. auch nur potenzieller) Nachteil aus der Inanspruchnahme der Hilfe und Sachkunde des Berufsträgers soll dem Offenbarenden nicht entstehen. Über die einzelne Mandatsbeziehung weist das Berufsgeheimnis des in Anspruch genommenen Beraters insoweit hinaus, als die Gewährleistung bestimmter Rahmenbedingungen – auch der Verschwiegenheitspflicht – das Berufsbild der jeweiligen Berufsträger prägt und ihnen eine effektive Wahrnehmung ihrer beruflichen Aufgaben erst ermöglicht. Das Zeugnisverweigerungsrecht bewirkt den Schutz des außerprozessualen Kommunikationsverhältnisses als solchem10. Von der Zustimmung des Mandanten unabhängige Mitwirkungspflichten der in § 53 StPO aufgeführten Berufsträger an staatlichen Ermittlungstätigkeiten würden infolgedessen nicht lediglich den Interessen der Mandanten, sondern auch einer sachgerechten Aufgabenerfüllung und damit dem Berufsbild der betroffenen Berufsgruppen überhaupt zuwiderlaufen. Die Funktionsfähigkeit des geschützten Vertrauensverhältnisses liegt daher auch im öffentlichen Interesse11. Das Bundesverfassungsgericht sieht dieses allgemeine Interesse darin begründet, dass die von den in § 53 Abs. 1 Ziff. 3 StPO genannten Berufsgruppen erbrachten Leistungen Bereiche be-
__________ 9 BVerfG NJW 1972, 2214, 2216 m. w. N.; NVwZ 1994, 54, 56. 10 Schmitt, wistra 1993, 9, 10. 11 BVerfG NJW 1975, 588, 589; Pfeiffer, StPO, § 53 Rz. 1; Pelchen in Karlsruher Kommentar, StPO, § 53 Rz. 1.
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rühren, in denen – stärker als bei anderen Berufen – schutzwürdige Geheimhaltungsinteressen des Einzelnen Beachtung verlangen. Sie seien daher in besonderem Maße davon abhängig, dass derjenige, der sie in Anspruch nimmt, die Möglichkeit hat, sich seinem Gegenüber frei, offen und rückhaltlos anzuvertrauen, ohne befürchten zu müssen, dass Tatsachen oder Umstände, die der andere dadurch kraft seines Berufes erfährt, offenbart werden könnten12. Ungeachtet dieser grundlegenden berufsbezogenen Erwägungen befreit § 53 StPO auch den Berufsträger aus der sich ggf. ergebenden Zwangslage, die sich aus dem Pflichtenwiderstreit der Wahrung des Vertrauens einerseits und der Berücksichtigung des Allgemeininteresses an der Aufklärung von Straftaten andererseits ergibt13. 2. Zeitliche Dauer und Umfang des Zeugnisverweigerungsrechts Das Zeugnisverweigerungsrecht des § 53 StPO setzt mit Beginn des Auftragsverhältnisses ein und dauert – wie das Berufsgeheimnis – über die Beendigung des Auftrags hinaus an14. Es erstreckt sich auch auf Erkenntnisse, welche der Berufsträger aus der Phase der Anbahnung des Vertragsverhältnisses erlangt hat15, und erlischt nicht dadurch, dass der Berufsträger zwischenzeitlich aus seinem Beruf ausgeschieden ist; § 54 Abs. 4 StPO gilt insoweit entsprechend16. In Analogie zu § 203 Abs. 4 StGB besteht das Zeugnisverweigerungsrecht auch nach dem Tod des Auftraggebers noch fort. Die Gewährleistung der Vertraulichkeit entfaltet ihre Wirkung im Übrigen gänzlich unabhängig davon, ob eine Einvernahme des Berufsgeheimnisträgers als Zeuge überhaupt irgendwann in Betracht kommt bzw. das Bestehen und die Reichweite eines Zeugnisverweigerungsrechts konkret im Raum steht. Der Umfang des Zeugnisverweigerungsrechts erstreckt sich auf diejenigen Tatsachen, die dem Berufsträger im Rahmen seiner Berufsausübung anvertraut, d. h. im Rahmen des von ihm bearbeiteten Mandats übermittelt oder sonst bekannt geworden sind. Die Erlangung des Wissens muss in die Berufsausübung fallen oder wenigstens mit ihr zusammenhängen17. Unerheblich ist dabei, ob die Tatsachen aufgrund mündlicher oder schriftlicher Äußerung, von dem Auftraggeber selbst oder von einem Dritten anvertraut18 worden sind und ob sie der Geheimhaltungssphäre des Auftraggebers oder
__________ 12 NJW 1975, 588, 589. 13 BGHSt 9, 59, 61. 14 LG Düsseldorf NJW 1958, 1152; vgl. auch § 9 Abs. 3 Berufssatzung für Wirtschaftsprüfer. 15 BGHSt 33, 148; 36, 298, 301; allgemein Dahs in Löwe-Rosenberg, § 53 Rz. 15, 31. 16 Dahs in Löwe-Rosenberg, § 53 Rz. 19. 17 Dahs in Löwe-Rosenberg, § 53 Rz. 15. 18 BGHZ 40, 288, 293 f.; 91, 392, 397; BGH (Zivilsachen) Beschluss vom 9. 12. 2004 (IX ZB 279/03, zu Notar), st. Rspr.
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eines anderen entstammen. Von dem Zeugnisverweigerungsrecht werden auch solche Umstände mitumfasst, die dem Berufsträger dadurch zur Kenntnis gelangt sind, dass ihm Gelegenheit zu Beobachtungen und Untersuchungen gegeben wird19. Dies gilt selbst dann, wenn dem Auftraggeber die festzustellenden Tatsachen selbst nicht bekannt sind20. Diese allgemeinen Grundsätze gelten auch für den Umfang des Zeugnisverweigerungsrechtes von Wirtschaftsprüfern, die von einer juristischen Person, beispielsweise mit der Prüfung ihres Jahresabschlusses, der Erteilung steuerlichen Rates oder in anderer Weise beauftragt worden sind. Alle Erkenntnisse des Wirtschaftsprüfers, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der beauftragenden Gesellschaft stehen, werden von der Verschwiegenheitspflicht erfasst. Insbesondere erfolgt keine Abschichtung der geheim zu haltenden Informationen nach ihrer Qualität. Das Zeugnisverweigerungsrecht des Wirtschaftsprüfers ist unteilbar und gilt einheitlich. Einem Wirtschaftsprüfer anvertraute Tatsachen sind auch solche, die dadurch preisgegeben werden, dass ihm Gelegenheit zur Beobachtung und Untersuchung gegeben wird. Dazu gehört auch zufällig erlangtes Wissen, dass im Zusammenhang mit dem Mandatsverhältnis bzw. Prüfungsauftrag erworben wurde. Es kommt daher nicht darauf an, ob die zu ermittelnden Tatsachen unmittelbar durch ein Organ dem Wirtschaftsprüfer mitgeteilt oder die Tatsachen ihm auf andere Weise anlässlich seiner Tätigkeit bekannt geworden sind21. Besonderer Hervorhebung bedarf im vorliegenden Zusammenhang, dass die Verschwiegenheitspflicht des § 53 StPO unabhängig davon besteht, ob die im Rahmen des erteilten Auftrags anvertrauten oder bekannt gewordenen Tatsachen strafrechtliche Relevanz besitzen. Zwar werden Wirtschaftsprüfern – wie auch anderen Beratern – im Rahmen der ihnen erteilten Aufträge ggf. auch Umstände bekannt, die für eine spätere Strafverfolgung des Anvertrauenden bedeutsam sein können. Dies besitzt jedoch für den Normzweck und den Umfang des Zeugnisverweigerungsrechtes keine Relevanz. Dies verdeutlicht ein systematischer Vergleich der §§ 52, 53 StPO mit § 55 StPO. §§ 52 und 53 StPO beziehen sich auf bestehende Angehörigenverhältnisse bzw. Beziehungen des Beschuldigten zu bestimmten Berufsträgern, mithin gerade nicht auf die spezifische Qualität der (potenziell beweisrelevanten) Information, insbesondere nicht darauf, ob die Preisgabe dieser Umstände den Auftraggeber der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aussetzen könnte. Im Gegensatz hierzu knüpft § 55 StPO an die Art der an den Zeugen zu richtenden Fragen an, also gerade an die inhaltliche Qualität der von dem Zeugen abgefragten Information; § 55 StPO billigt dem Zeugen ein Auskunfts-
__________ 19 So bereits RGZ 66, 273, 274. 20 Meyer-Goßner, § 53 Rz. 7–9; Dahs in Löwe-Rosenberg, StPO, § 53 Rz. 16–18 m. w. N. 21 AG Tiergarten Beschluss vom 10. 6. 2003, 351 Gs 4495/02 (unveröffentlicht); LG Berlin Beschluss vom 14. 7. 2003, 522 Qs 109.03 (unveröffentlicht).
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verweigerungsrecht zu, wenn er sich oder einen Angehörigen bei seiner Aussage in die Gefahr einer Strafverfolgung brächte. Eine derartige Schutzrichtung verfolgt § 53 StPO nicht. Deshalb ist bereits hier hervorzuheben, dass Erwägungen, die für die Entscheidung der aufgeworfenen Frage im Rahmen der Auslegung des § 53 Abs. 1 bzw. 2 StPO auf eine besondere prozessuale Gefahrenlage bzw. auf das (beim früheren Organ vermeintlich nicht schutzwürdige) Interesse an der Vermeidung einer strafrechtlichen Verfolgung abstellen, im Normzweck des § 53 StPO keine Stütze finden (näher noch unten). Nach Sinn und Zweck des Gesetzes soll § 53 StPO – entgegen einer verbreiteten Annahme – nicht vor Strafverfolgung schützen. Vielmehr setzt die Vorschrift weitaus früher an: auf der Grundlage der Erkenntnis, dass die Vertraulichkeit der übermittelten bzw. bekannt gewordenen Information unabdingbare Voraussetzung für die sachgerechte Erteilung von Rat und seiner Inanspruchnahme ist, soll § 53 StPO die Vertraulichkeit als Voraussetzung der Begründung solcher Beratungsverhältnisse durch den Bürger und damit die Effektivität bestimmter Beratungsverhältnisse insgesamt gewährleisten. 3. Die Verschwiegenheitspflicht des Wirtschaftsprüfers a) Berufsrechtlicher Grundwert (§ 43 Abs. 1 WPO) Die Verschwiegenheitspflicht von Wirtschaftsprüfern ist als ein berufsrechtlicher Grundwert in § 43 Abs. 1 WPO neben der Unabhängigkeit, Gewissenhaftigkeit und Eigenverantwortlichkeit ausdrücklich aufgeführt. Sie wird in §§ 1 und 9 der Berufssatzung für Wirtschaftsprüfer dahingehend konkretisiert, dass die Wirtschaftsprüfern bei ihrer Berufstätigkeit anvertrauten oder bekannt gewordenen Tatsachen nicht unbefugt offenbart werden dürfen und die Wirtschaftsprüfer Vorkehrungen zu treffen haben, die einem Bekanntwerden der übermittelten Tatsachen und Umstände entgegenwirken. Die die Berufsausübung näher bestimmenden Regelungen verdeutlichen den hohen Stellenwert, welcher der Verschwiegenheitspflicht als Grundlage des für die Berufsausübung erforderlichen Vertrauens zwischen Auftraggeber und Wirtschaftsprüfer und damit einer sachgerechten Berufswahrnehmung und Aufgabenerfüllung zukommt. b) Verfassungsrechtliche Bezüge Das Bundesverfassungsgericht hat das Berufsgeheimnis und die berufliche Verschwiegenheitspflicht als unverzichtbares Element des Berufs des Wirtschaftsprüfers hervorgehoben und die Beschränkung der Aussagepflicht durch das Zeugnisverweigerungsrecht und den damit einhergehenden Vorrang des geschützten Vertrauensverhältnisses vor der umfassenden Aufklärung im
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Strafprozess für wirtschafts- und steuerberatende Berufe anerkannt22. In seiner Entscheidung zur Geldwäsche durch Strafverteidiger hat das Bundesverfassungsgericht für den Beruf des Verteidigers abermals hervorgehoben, dass die Verschwiegenheit Vorbedingung für das Entstehen eines Vertrauensverhältnisses ist, ohne das dessen Tätigkeit nicht wirkungsvoll sein könne23; in einer jüngst ergangenen Entscheidung hat es dies auch für den Beruf des Steuerberaters bekräftigt24. Diese Erwägungen gelten sinngemäß ohne Einschränkung auch für den Beruf des Wirtschaftsprüfers. Der aufgeworfenen Frage der Auslegung des § 53 Abs. 2 StPO hat für den Beruf des Wirtschaftsprüfers hiernach wesentliche Bedeutung und für die verfassungsrechtliche Gewährleistung seiner Berufsfreiheit (Art. 12 GG) erhebliche Relevanz. Zwar mag den strafprozessualen Normen keine berufsregelnde Tendenz entnommen werden können und deshalb der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG nicht unmittelbar tangiert sein. Gleichwohl sind bei der Anwendung strafprozessualer Vorschriften mittelbare Beeinträchtigungen der beruflichen Tätigkeit der in § 53 Abs. 1 StPO genannten Berufsgruppen zu berücksichtigen25. Solche Beeinträchtigungen sind auch hier zu besorgen. Denn es geht der Sache nach darum, ob sich ein Wechsel in den Vertretungsverhältnissen einer juristischen Person unter dem Aspekt des § 53 Abs. 2 StPO rechtlich dahingehend auswirkt, dass eine Aufhebung der Verschwiegenheitspflicht durch an dem ursprünglichen Vertrauensverhältnis Unbeteiligte ermöglicht wird. Dass die Beantwortung dieser Frage sich faktisch auf die berufliche Tätigkeit von Wirtschaftsprüfern in erheblichem Umfang auswirkt, ergibt sich daraus, dass jeder Verantwortliche einer juristischen Person den Umfang und den Inhalt der von ihm an den Wirtschaftsprüfer übermittelten Information (auch) daran ausrichten wird, ob die Entscheidung über die Preisgabe dieser Information ihm auch noch nach seinem Ausscheiden als Organ obliegt oder nicht. c) Sachliche Reichweite: gesamte Wirtschaftsprüfertätigkeit (§ 2 WPO) Die Verschwiegenheitspflicht wird berufsrechtlich ohne Differenzierung nach dem konkreten Inhalt der wahrgenommenen Aufgabe normiert. Sie erstreckt sich auf sämtliche dem Wirtschaftsprüfer im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit anvertrauten oder bekannt gewordenen Umstände26 und besteht für sämtliche berufliche Betätigungen eines Wirtschaftsprüfers, insbesondere
__________ 22 NJW 1972, 2214, 2216. 23 BVerfG wistra 2004, 217; BVerfGE 13, 181, 185; 36, 47, 58; 61, 291, 308. 24 BVerfG Urteil v. 12. 4. 2005, Umbruch Rz. 94 ff. unter Hinweis auf BVerfGE 80, 269, 280. 25 BVerfG Urteil v. 12. 4. 2005, Umbruch Rz. 92. 26 OLG Schleswig StB 1982, 163; OLG Stuttgart NJW 1983, 1744.
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ohne Unterscheidung zwischen prüfender und beratender Tätigkeit27. Gemäß § 2 Abs. 1 WPO haben Wirtschaftsprüfer die Aufgabe, betriebswirtschaftliche Prüfungen durchzuführen und hierüber Bestätigungsvermerke zu erteilen. Darüber hinaus sind sie befugt, ihre Mandanten in steuerlichen Angelegenheiten zu beraten und zu vertreten (§ 2 Abs. 2 WPO); auch die Wahrnehmung fremder Interessen sowie die Beratung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, ebenso die treuhänderische Verwaltung sind Teil des Berufsbildes des Wirtschaftsprüfers (§ 2 Abs. 3 WPO). Auf alle in § 2 WPO genannten Aufgaben und Tätigkeiten bezieht sich die berufsrechtliche Verschwiegenheitspflicht. Hinsichtlich der Tätigkeitsinhalte des § 2 Abs. 2 und 3 WPO (Beratung, Vertretung, treuhänderische Verwaltung) bedarf keiner näheren Erörterung, dass die Wahrung der Verschwiegenheit durch den Wirtschaftsprüfer eine wesentliche Voraussetzung für die effektive und sachgerechte Beratung und Begleitung des Mandanten sowie die Wahrnehmung seiner Interessen darstellt. Nichts anderes gilt indes auch für die Prüfertätigkeit nach § 2 Abs. 1 WPO und alle sonstigen mit dem Beruf des Wirtschaftsprüfers zu vereinbarenden Tätigkeiten nach § 43a Abs. 4 WPO28. Im Rahmen der Auslegung von § 53 StPO wird – soweit ersichtlich – auch zurecht nirgendwo vertreten, dass hinsichtlich des Umfangs der Verschwiegenheitspflicht danach zu differenzieren sei, in welcher der von § 2 WPO aufgeführten – unterschiedlichen – Aufgabengebiete der Wirtschaftsprüfer im Einzelfall tätig wird. Dies ist auch sachgerecht. Denn auch und insbesondere bei der Prüfung von Jahres- und sonstigen Abschlüssen, die in die Erteilung eines Testates mündet, wie auch bei sonstigen Prüfungen hat der Wirtschaftsprüfer interne Beurteilungen und Einschätzungen wirtschaftlicher Sachverhalte durch den Auftraggeber nachzuvollziehen und zu beurteilen. Um ihn hierzu zu befähigen, hat ihm der Auftraggeber die für die Prüfung maßgeblichen Informationen mitzuteilen bzw. entsprechende Untersuchungen zu gestatten. Das Erfordernis der Vertraulichkeit der hierbei übermittelten bzw. bekannt gewordenen Umstände besteht in derselben Weise wie bei einer beratenden, vertretenden oder verwaltenden Tätigkeit des Wirtschaftsprüfers29. d) Gesetzliche und strafrechtliche Absicherung Der hohe Stellenwert der Verschwiegenheitspflicht bei der Prüfungstätigkeit von Wirtschaftsprüfern hat in § 323 HGB für Abschlussprüfer, ihre Gehilfen
__________ 27 Trotz zwischenzeitlich erfolgter Änderungen der WPO insoweit weiterhin maßgeblich OLG Nürnberg BB 1964, 827. 28 Zur Entwicklung des Berufsbildes des Wirtschaftsprüfers eingehend OLG Nürnberg BB 1964, 827. 29 Der Tendenz nach so wohl auch BVerfG NStZ-RR 2004, 83.
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und die bei der Abschlussprüfung mitwirkenden gesetzlichen Vertreter einer Prüfergesellschaft im Hinblick auf Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse der geprüften Gesellschaft auch im Gesetz ihren Niederschlag gefunden. Diese besonders gesetzlich verankerte Verschwiegenheitspflicht gilt allgemein und ohne Einschränkung. Sie ist das gesetzliche Korrelat zu den Vorlage- und Auskunftpflichten der geprüften Gesellschaft bei der gesetzlich vorgeschriebenen Prüfung von Jahresabschlüssen bei Kapitalgesellschaften (§§ 316 ff., 320 HGB). Die schuldhafte Verletzung dieser Verhaltenspflicht löst über die berufsrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten hinausgehend eine Schadensersatzhaftung aus (§ 323 Abs. 1 Satz 3 HGB). Berufsrechtlich ist die Einhaltung der Verschwiegenheitspflicht als wesentliches Prinzip der Wirtschaftsprüfertätigkeit durch verwaltungsrechtliche Aufsichtsverfahren der Wirtschaftsprüferkammer (§§ 57 ff. WPO) und/oder berufsgerichtliche Verfahren (§§ 67 ff. WPO) abgesichert. Die Verschwiegenheitspflicht, die gegenüber jedermann besteht30, ist grundsätzlich durch den Wirtschaftsprüfer auch gegenüber der Wirtschaftsprüferkammer oder anderen Wirtschaftsprüfern zu beachten. Im Aufsichtsverfahren der Wirtschaftsprüferkammer besteht die Pflicht des jeweiligen Wirtschaftsprüfers zur Auskunftserteilung und Aktenvorlage nur, sofern der Berufsträger dadurch nicht seine Verschwiegenheitspflicht verletzt (§ 62 Satz 2 WPO). Die den Wirtschaftsprüfer im Rahmen der Qualitätskontrolle nach §§ 57a ff. WPO treffenden Mitwirkungspflichten sind demgegenüber nicht durch die Verschwiegenheitspflicht begrenzt (§ 57d WPO), da anderenfalls das der Qualitätssicherung der beruflichen Prüfungstätigkeit dienende Verfahren unterlaufen würde. Als Korrelat zu den Aufklärungs- und Nachweispflichten des Wirtschaftsprüfers im Rahmen der Qualitätskontrolle ist zusätzlich zur allgemeinen Verschwiegenheitspflicht des § 43 WPO in § 57b WPO eine gesonderte Verschwiegenheitspflicht der Qualitätsprüfer normiert. Der Befund, wonach die Gesamtheit der Wirtschaftsprüfertätigkeit von dem Grundsatz der Vertraulichkeit der ihm übermittelten Informationen geprägt ist, findet seinen Ausdruck überdies in der Strafbewehrung der Verletzung der Verschwiegenheitspflicht in § 203 StGB. Gemäß § 203 Abs. 1 Ziff. 3 StGB macht sich ein Wirtschaftsprüfer strafbar, wenn er ein Geheimnis, welches ihm im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit von Mandanten anvertraut worden ist, unbefugt offenbart. Die Strafbarkeit besteht ohne jegliche Differenzierung nach dem konkreten Inhalt ihres jeweiligen Tätigkeitsfeldes. Aufbauend auf § 323 HGB wird in § 333 HGB die Verletzung der Verschwiegenheitspflicht für Abschlussprüfer und ihre Gehilfen mit Strafe bedroht, sofern sie Geheimnisse offenbaren, die ihnen bei der Prüfung des Jahresabschlusses oder des Konzernabschlusses bekannt geworden sind. § 333 HGB ist im Hinblick auf die prüfende Tätigkeit von Wirtschaftsprüfern Spe-
__________ 30 LG Hannover StB 1991, 14.
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zialvorschrift zu § 203 StGB31, lässt aber die Anwendbarkeit des § 203 StGB unberührt, soweit dem Wirtschaftsprüfer Privatgeheimnisse im Rahmen der Prüfung bekannt geworden sind und er diese offenbart32. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Zeugnisverweigerungsrecht für Wirtschaftsprüfer nach § 53 Abs. 1 Ziff. 3 StPO bezweckt, die Effektivität der beruflichen Tätigkeit der Wirtschaftsprüfer für ihre Mandanten zu gewährleisten. Diese Gewährleistung gilt umfassend und ohne Rücksicht darauf, ob das dem Wirtschaftsprüfer Mitgeteilte oder Bekanntgewordene zur Aufklärung von Straftaten beitragen kann. Die Verschwiegenheitspflicht besteht im Rahmen aller Tätigkeitsbereiche (§ 2 WPO), in denen ein Wirtschaftsprüfer tätig werden kann, also auch – und insbesondere – bei der prüfenden Tätigkeit des Wirtschaftsprüfers. Der Schutz der Effektivität des Kommunikationsverhältnisses zu dem Wirtschaftsprüfer besteht nicht lediglich im Interesse des Auftraggebers, sondern darüber hinaus auch im öffentlichen Interesse. Dies zeigt sich schon daran, dass der Wirtschaftsprüfer zu seiner Tätigkeit seinerseits öffentlich bestellt ist (§ 1 Abs. 1 WPO).
III. Die Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht (§ 53 Abs. 2 StPO) 1. Bedeutung, Rechtsfolgen Gemäß § 53 Abs. 2 StPO entfällt für Berufsträger die mit dem Zeugnisverweigerungsrecht einhergehende Beschränkung der Aussagepflicht, wenn der Geheimnisträger von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden ist. Da die Zeugnispflicht bei Vorliegen einer Entbindungserklärung wieder auflebt, ist eine Zeugnisverweigerung in einem solchen Fall unberechtigt und zieht die Sanktionsmöglichkeit des § 70 StPO nach sich. Die Preisgabe der ihm im Rahmen des Mandats bekannt gewordenen Umstände als Zeuge z. B. im Strafverfahren bringt für den Geheimnisträger bei vorliegender Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht auch nicht die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung gemäß § 203 StGB mit sich, da die Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht die Zeugnispflicht aufleben lässt, was nach herrschender Ansicht rechtfertigend wirkt, so dass die Offenbarung der vertraulichen Informationen nicht „unbefugt“ im Sinne des § 203 StGB erfolgt33.
__________ 31 Cierniak in Münchener Kommentar, StGB, § 203 Rz. 135. 32 Cierniak in Münchener Kommentar, StGB, § 203 Rz. 135. 33 Vgl. nur Fischer, StGB, § 203 Rz. 27 m. w. N.
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2. Befugnis zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht Zur Entbindung des Berufsgeheimnisträgers von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit ist im Hinblick auf den erwähnten Schutzzweck des § 53 StPO grundsätzlich derjenige befugt, zu dessen Gunsten die Verschwiegenheitspflicht besteht. Sind mehrere Personen geschützt, so ist ebenfalls im Grundsatz anerkannt, dass jeder von ihnen die entsprechende Entbindungserklärung abgeben muss34. Sofern der Auftraggeber des Berufsträgers eine juristische Person ist, sind der Wirtschaftsprüfer sowie die anderen in § 53 Abs. 1 Ziff. 3 StPO genannten Berufsträger in gleicher Weise wie bei einer Beauftragung durch eine natürliche Person verpflichtet, über die innerhalb des Mandatsverhältnisses offenbarten Tatsachen Verschwiegenheit zu bewahren. Die Befugnis zur Entbindung von der berufsbezogenen Schweigepflicht obliegt in diesem Fall dem vertretungsberechtigten Organ der juristischen Person, welches den Auftrag erteilt und im Rahmen des Mandates dem Wirtschaftsprüfer Umstände anvertraut bzw. ihm bekannt werden lässt. Dies ist bei der GmbH der Geschäftführer (§ 35 Abs. 1 GmbHG), bei der Aktiengesellschaft ebenso wie bei der Genossenschaft und dem Verein der Vorstand (§ 78 Abs. 1 AktG, § 24 Abs. 1 GenG, § 26 Abs. 1 BGB). Bei Handelsgesellschaften, die keine rechtsfähigen juristischen Personen sind, so etwa bei der OHG und der KG, sind die (persönlich haftenden) Gesellschafter entbindungsbefugt (§§ 125 Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB). Wenig Schwierigkeiten bereitet die Bestimmung der Befugnis zur Schweigepflichtentbindung bei juristischen Personen in den Fällen, in denen zwischen der Erteilung des Auftrages und dem Zeitpunkt der Entbindungserklärung kein personeller Wechsel in dem vertretungsberechtigten Organ erfolgt ist (vgl. aber auch unten IV.1. zu mehrköpfigen Organen). Weniger eindeutig ist die Situation, wenn zwischen Begründung des Mandats und dem Zeitpunkt der erwogenen Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht ein personeller Wechsel in der gesetzlichen Vertretung der juristischen Person erfolgt ist. 3. Die Befugnis zur Entbindung von der Schweigepflicht nach einem Wechsel der Verantwortlichen der juristischen Person Die Rechtsprechung hatte sich mit der Problematik der Entbindungsbefugnis bei personellen Wechseln bislang nur selten zu befassen; auch die Literatur hat sich hierzu nicht näher geäußert. Erhebliche Aufmerksamkeit in Rechtsprechung und Literatur hat indes die in der Praxis bedeutsame – und sachlich verwandte – Problematik der Entbindungsbefugnis in solchen Konstellationen erfahren, in denen die juristische Person nach Erteilung des Man-
__________ 34 OLG Celle wistra 1986, 83; Dahs in Löwe-Rosenberg, StPO, § 53 Rz. 71.
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dates an den schweigepflichtigen Berater in Insolvenz (ehemals: Konkurs) geraten ist35. a) Die zivilgerichtliche Rechtsprechung In der Rechtsprechung haben sich zunächst die Zivilgerichte mit der Frage beschäftigt, wer den Berufsgeheimnisträger gemäß § 385 Abs. 2 in Verbindung mit § 383 Abs. 1 Ziff. 6 ZPO in der Insolvenz der juristischen Person von der Schweigepflicht zu entbinden hat36. Die Zivilgerichte unterscheiden – bis heute – zwischen vermögensrechtlichen und höchstpersönlichen Interessen und vertreten die Ansicht, dass dem Insolvenzverwalter die alleinige Entbindungsbefugnis zusteht, sofern sich die Schweigepflicht auf die vermögensrechtliche Sphäre der Gemeinschuldnerin bezieht. Der Insolvenzverwalter könne die ihm kraft Gesetzes gemäß § 22 InsO (vormals § 6 KO) übertragene Aufgabe der Vermögensverwaltung nur erfüllen, sofern ihm unter Ausschluss der Gemeinschuldnerin die dafür notwendigen Befugnisse zustünden. Sofern die Aufklärung der Tatsache, über die der Zeuge (Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwalt) vernommen werden soll, für die Insolvenzmasse von Bedeutung ist und die Ausübung des Verfügungs- und Verwaltungsrechts des Insolvenzverwalters beeinflusst, wird dem ehemaligen vertretungsberechtigten Organ keine Entbindungsbefugnis zugestanden. Nur wenn die Gemeinschuldnerin oder ihr vertretungsberechtigtes Organ ein selbständiges schutzwürdiges Interesse an der Verschwiegenheit des Berufsträgers habe – was etwa bejaht wird, wenn der Berufsträger nicht allein die juristische Person, sondern auch das Organ persönlich beraten hat – wird ein höchstpersönliche Interesse des Organs und eine daraus resultierende Entbindungsbefugnis anerkannt37. b) Die strafgerichtliche Rechtsprechung Die Strafgerichte hatten sich mit der Thematik aus Anlass von Insolvenzfällen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu befassen, namentlich unter den Aspekten des Zeugnisverweigerungsrechtes bzw. der Beschlagnahmefähigkeit von Unterlagen (§§ 53 bzw. 97 StPO) sowie der Strafbarkeit wegen Geheimnisverrats (§ 203 StGB). Im Gegensatz zum Zivilrecht hatte sich im Strafrecht als herrschende Meinung die Ansicht herausgebildet, dass eine wirksame Schweigepflichtentbindung sowohl eine entsprechende Erklärung des Insolvenzverwalters als auch eine der früheren Organmitglieder voraus-
__________ 35 Hierzu eingehend Dahs, FS Kleinknecht, S. 63 ff. 36 Vgl. RGZ 59, 85, 86 f; OLG Nürnberg MDR 1977, 144. 37 Vgl. BGHZ 109, 260, 270 ff.; Dahs, FS Kleinknecht, S. 63, 65 ff. mit Nachweisen zur älteren Rechtsprechung; Zöller, ZPO 23. Auflage 2002, § 385 Rz. 10; Damrau in Münchener Kommentar, ZPO, Bd. 2, 1992, § 385 Rz. 7–9; Ganter in Münchener Kommentar InsO, § 5 Rz. 27 ff.; dagegen Schmitt, wistra 1993, 9, 13.
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setzt (näher sogleich unter aa). Abweichend hiervon siedeln das OLG Oldenburg und einige Strafgerichte diese Befugnis ausschließlich bei dem Insolvenzverwalter des Gemeinschuldners an (unten bb). Nur vereinzelt hatte die Rechtsprechung zu entscheiden, wer zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht (§ 53 Abs. 2 StPO) nach einem erfolgten Wechsel des vertretungsberechtigten Organs befugt ist. Obergerichtliche Rechtsprechung liegt nicht vor, wohl aber (überwiegend unveröffentlichte) Entscheidungen von Instanzgerichten38. In der Literatur hat sich bislang lediglich Schmitt39 näher mit der Thematik befasst. Die Herausbildung einer herrschenden Auffassung lässt sich hierzu bislang nicht feststellen. Dies mag darin begründet sein, dass die Konstellation nach einem Wechsel des Organs und die erwähnten Insolvenzfälle sachlich vergleichbar sind und die Gerichte in der Praxis auch bei Fällen eines Wechsels von Verantwortlichen der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung zu den Insolvenzkonstellationen folgen. In beiden Fällen steht eine nachträgliche Änderung der materiell-rechtlichen Vertretungsbefugnis in Rede, die sich auch auf die Rechtsbeziehung zu dem beauftragten Berufsträger erstreckt. Für den vorliegenden Kontext erhebliche Unterschiede bestehen zwischen beiden Konstellationen nicht. aa) Befugnis zur Entbindung von Insolvenzverwalter bzw. gegenwärtigen Organen und bisherigem Organ (überwiegende Ansicht der Oberlandesgerichte) In ständiger Rechtsprechung vertritt die überwiegende Zahl der Oberlandesgerichte und die überwiegende Zahl der Landgerichte die Auffassung, für eine wirksame Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht sei nicht allein die Entbindung durch den Insolvenzverwalter der juristische Person, sondern zusätzlich die Entbindung durch die früheren vertretungsberechtigten Organe der Gesellschaft erforderlich. Die juristische Person werde als Auftraggeber zwar Vertragspartei. Zur Vermittlung von Informationen im Rahmen eines erteilten Mandats bediene sie sich aber notwendigerweise ihrer Organe, die diese Informationen entweder selbst übermitteln oder dies veranlassen. Die Verfügungsfreiheit darüber, ob die Vertraulichkeit der Beziehung zu dem Berufsträger durchbrochen werden darf, obliege zusätzlich zur juristischen Person denjenigen Mitgliedern ihrer Organe, welche in das berufliche Vertrauensverhältnis durch die Erteilung des Mandats ehemals einbezogen worden sind. Nur auf diese Weise werde gewährleistet, dass der für eine juristische Person Handelnde deren Berater ohne Furcht vor Nachteilen in-
__________ 38 LG Berlin wistra 1993, 278 (die ausschließliche Entbindungserklärung des früheren Organs ist ausreichend); ferner AG Berlin Beschluss vom 10. 6. 2003, 351 Gs 4495/02 (jedenfalls auch die Entbindungserklärung des früheren Organs ist erforderlich). 39 wistra 1993, 9; angedeutet wird das Problem bei Dahs, FS Kleinknecht, 63, 64.
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formieren und in Anspruch nehmen kann40. Diese Position haben die Oberlandesgerichte und Landgerichte in nachfolgenden Fallkonstellationen eingenommen: –
in Strafverfahren gegen die bisherigen Organe einer in Insolvenz geratenen GmbH wird für Angaben des zur Verschwiegenheit verpflichteten Zeugen die Entbindungserklärung der bisherigen Geschäftsführer neben der Erklärung des Insolvenzverwalters für erforderlich gehalten41;
–
für die Aufhebung der Beschlagnahmefreiheit der dem Berufsträger übermittelten Unterlagen (§ 97 Abs. 1 StPO) sollen neben der Entbindungserklärung des Insolvenzverwalters zusätzlich die Entbindungserklärungen der ehemaligen Vorstandsmitglieder einer AG erforderlich sein42.
Auch das überwiegende Schrifttum verlangt bei einer in Insolvenz geratenen Gesellschaft aus den skizzierten Gründen Entbindungserklärungen nicht nur des Insolvenzverwalters, sondern auch der in das berufliche Vertrauensverhältnis einbezogenen Organmitglieder43. bb) Ausschließliche Befugnis des Insolvenzverwalters bzw. der gegenwärtigen Organe (OLG Oldenburg, LG Hamburg, LG Lübeck) Das OLG Oldenburg wie einige Landgerichte und Teile der strafrechtlichen Literatur vertreten demgegenüber die Auffassung, für die Entbindung eines Berufsträgers bedürfe es nach Insolvenzeintritt der juristischen Person lediglich der Entbindung durch den Insolvenzverwalter44. Eine zusätzliche Entbindungserklärung seitens des Organs sei nicht erforderlich. Diesen Rückschluss könnte auch die Entscheidung der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. 10. 2003 nahe legen, wonach die Organe einer juristischen Person nicht in das von § 97 StPO geschützte Vertrauensverhältnis einbezogen seien (näher unten d)45. Die Entscheidungen des OLG Oldenburg und der Landgerichte knüpfen für die Befugnis zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht ausschließlich an dem (zivilrechtlichen) Rechtsverhältnis an, in dessen Rahmen die anvertrauten Tatsachen übermittelt wurden. Das jeweilige Auftragsverhältnis komme zwischen juristischer Person und dem Berufsträger zustande, so
__________ 40 Vgl. nur OLG Schleswig NJW 1981, 294; OLG Koblenz NStZ 1985, 426; OLG Düsseldorf StV 1993, 346; vgl. auch LG Saarbrücken wistra 1995, 239. 41 OLG Düsseldorf StV 1993, 346 mit zust. Anm. Münchhalffen; OLG Schleswig NJW 1981, 294; LG Saarbrücken wistra 1995, 239 mit abl. Anm. Weyand. 42 OLG Koblenz NStZ 1985, 426, 427 f. 43 Vgl. oben Fn. 2. 44 OLG Oldenburg StraFo 2004, 351; LG Hamburg StV 2002, 647 m. w. N.; LG Lübeck NJW 1978, 1014; Häcker in Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht, § 92 Rz. 9; Schäfer, wistra 1985, 209, 210 ff. 45 BVerfG NStZ-RR 2004, 83.
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dass Anvertrauende ausschließlich die juristische Person sei. Die gesetzliche Verschwiegenheitspflicht bestehe allein im Interesse der juristischen Person, da ihre „Geheimnisse“ übermittelt und geschützt würden, wohingegen die Organe außerhalb des Vertrauensverhältnis stehende Dritte seien. Die Geschäftführer bzw. Vorstände übermittelten die vertraulichen Tatsachen im Rahmen des begründeten Mandats in ihrer Funktion als Organ der Gesellschaft, so dass ihre Erklärungen als solche der Gesellschaft zu gelten hätten. Die Gegenansicht führe zu einer sachlich nicht mehr vertretbaren Beeinträchtigung der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren, der im Interesse der Allgemeinheit höchste Bedeutung zukomme46. Nach Ansicht des LG Lübeck47 soll dies auch dann gelten, wenn die Organe dem Berufsträger Mitteilung über eigene, ihre zivil- oder strafrechtliche Verantwortung begründende Handlungen gemacht haben. Ein eigenständiges schutzwürdiges Interesse der Organe an der Verschwiegenheit der schweigepflichtigen Berater sei nicht anzuerkennen, da die Befugnis zur Entbindung von der Verschwiegenheit kein höchstpersönliches Recht der Organe sei. Dies gelte insbesondere dann, wenn die beauftragten Wirtschaftsprüfer vornehmlich über die Erstellung und Prüfung von Jahresabschlüssen der Gesellschaft Angaben machen sollen. In diesem Fall stünden Rechtsbeziehungen und Pflichten der juristischen Person gegenüber der Rechtsordnung allgemein im Vordergrund. Die Überprüfung dieses Pflichtenkreises sei Aufgabe des Insolvenzverwalters. Dieser könne die ihm kraft Gesetzes übertragene Aufgabe nur erfüllen, wenn ihm unter Ausschluss der Gemeinschuldnerin alle dafür erforderlichen Befugnisse eingeräumt würden. Eine Ausnahme hiervon gelte nur dann, wenn an der Geheimhaltung eigenständige schutzwürdige Interessen der Gemeinschuldnerin oder der Organe bestehen. Nach Ansicht des LG Hamburg48 kann die Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht jedenfalls in den Fällen alleine durch den Insolvenzverwalter erfolgen, in denen der Gegenstand der Befragung des Wirtschaftsprüfers lediglich wirtschaftliche Angelegenheiten der Gesellschaft sein sollen, etwa Tatsachen zu der laufenden Buchhaltung und Bilanzerstellung einschließlich Bewertungsfragen. In diesem Fall sei ausschließlich ein „Geheimnis“ der juristischen Person betroffen, so dass dieser insofern die alleinige Dispositionsbefugnis zustehe. Ein Interesse des Organs an der Geheimhaltung der von ihm übermittelten Tatsachen sieht das LG Hamburg ausschließlich darin, strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen zu werden. Dieses „private Interesse“ des Organs unterfalle aber nicht dem Schutzbereich des § 53 Abs. 1 Ziff. 3 StPO, der vornehmlich den Berufsangehörigen vor dem Konflikt zwischen seiner uneingeschränkten Auskunftspflicht und seinen
__________ 46 OLG Oldenburg StraFo 2004, 351. 47 NJW 1978, 1014, 1015, so auch OLG Nürnberg MDR 1977, 144 (für das Zivilverfahren). 48 LG Hamburg StV 2002, 647 m. w. N.
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standes- und strafrechtlich sanktionierten Verschwiegenheitspflichten bewahren wolle. Festzuhalten ist hinsichtlich dieser von der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung abweichenden Judikate zunächst, dass auch sie nicht pauschal die Entbindung durch den Insolvenzverwalter für ausreichend halten, sondern eine Differenzierung nach den vom Wirtschaftsprüfer jeweils zu bekundenden Umständen vornehmen. Soweit Bekundungen des Wirtschaftsprüfers zu wirtschaftlichen Umständen in Rede stehen, werden diese durch die Landgerichte allein der Dispositionsbefugnis der juristischen Person zugeordnet und infolgedessen ein höchstpersönliches Interesse des Organs an der Vertraulichkeit dieser Umstände und darauf aufbauend eine Befugnis des bisherigen Organs zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht verneint. c) Stellungnahme aa) Richtigkeit der überwiegenden oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung Auf der Grundlage des eingangs im einzelnen dargestellten Normzwecks des § 53 StPO begegnet die Ansicht des OLG Oldenburg und der jeweiligen Landgerichte durchgreifenden Bedenken; ihr kann nicht gefolgt werden. Die Befugnis zur Abgabe der Entbindungserklärung (§ 53 Abs. 2 StPO) steht sowohl den in das Vertrauensverhältnis zum Wirtschaftsprüfer einbezogenen bisherigen Organen wie auch den gegenwärtig Verantwortlichen bzw. dem Insolvenzverwalter der juristischen Person zu. Für eine wirksame Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht bedarf es des Vorliegens entsprechender Erklärungen von sämtlichen zu ihrer Abgabe Befugten. Im Einzelnen: bb) Unzutreffende Prämissen der Gegenauffassung zu Normzweck und Regelungsgegenstand des § 53 Abs. 2 StPO Die Auffassung des OLG Oldenburg und der betreffenden Landgerichte verkennt den Schutzzweck des § 53 StPO. Entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Meinung zur ratio legis des § 53 StPO wird der Normzweck des § 53 StPO in diesen Judikaten ausschließlich in der Auflösung des Interessenkonflikts des Berufsträgers zwischen der grundsätzlich bestehenden uneingeschränkten Aussagepflicht und der standes- und strafrechtlich sanktionierten Verschwiegenheitspflicht gesehen. Dadurch wird der Zweck der Norm auf die Regelung eines Konflikts in der Person des Berufsträgers eingeengt. Das greift zu kurz. § 53 StPO schützt das Kommunikationsverhältnis zwischen Ratsuchendem und Berufsträger um seiner Funktionsfähigkeit willen als Ganzes. Es entfaltet seine die Funktionsfähigkeit des Beratungsverhältnisses gewährleistende Wirkung mit der Beauftragung des Berufsträgers schon zu einem Zeitpunkt, zu dem eine zeugenschaftliche Einvernahme des Berufsträgers überhaupt noch nicht absehbar ist und regelmäßig überaus unwahrscheinlich sein wird. Schon die366
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ser Umstand zwingt dazu, bei der Auslegung des § 53 Abs. 2 StPO von einer Verengung der Perspektive auf die Konfliktlage des Berufsträgers im Fall einer zeugenschaftlichen Vernehmung abzusehen und demgegenüber das Interesse beider, des Ratsuchenden und des Berufsträgers, an der Funktionsfähigkeit des Beratungsverhältnisses bei der Entscheidung darüber zu berücksichtigen, wer für die Abgabe der Schweigepflichtentbindungserklärung rechtlich berufen ist. Soweit das LG Hamburg zur Stützung seiner Ansicht meint darauf abstellen zu können, dass durch das Zeugnisverweigerungsrecht die „geschäftlichen Geheimnisse“ der juristischen Person geschützt werden49, entbehrt auch dies der Grundlage. Diese Annahme steht im Widerspruch zu dem aufgezeigten Umstand, dass nicht die Geheimnisse und damit das Geheimhaltungsinteresse der Grund für die Einräumung des Zeugnisverweigerungsrechts sind, sondern das dem jeweiligen Auftrag des Berufsträgers zugrunde liegende Vertrauensverhältnis als solches. Dem entspricht auch der Wortlaut des § 53 Abs. 1 Ziff. 3 StPO, der sich allgemein auf „Umstände“ bezieht, die dem Berufsträger in seiner beruflichen Eigenschaft „anvertraut“ worden sind. Eine Beschränkung auf eine besondere Qualität dieser Umstände, z. B. als „Geheimnis“, lässt sich dem Wortlaut nicht entnehmen. Die Verschwiegenheitspflicht der Berufsträger besteht nach einhelliger Auffassung auch, sofern innerhalb der Mandatsbeziehung Tatsachen offenbart werden, die keine Geheimnisse sind. Das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht geht daher weiter als der materiell-(straf)rechtliche Geheimnisschutz nach § 203 StGB50. Das schützenswerte Interesse an der Vertraulichkeit der übermittelten Umstände kann daher nicht mit dem Geheimhaltungsinteresse in Bezug auf Geschäftsgeheimnisse gleichgesetzt werden. Daraus folgt auch, dass es für die Befugnis zur Schweigepflichtentbindung nicht maßgeblich sein kann, ob und inwieweit „Geheimnisse“ übermittelt werden und aus welcher Sphäre das jeweilige „Geheimnis“ ggf. stammt, weshalb die materielle Dispositionsbefugnis über die jeweilige (ggf. geheime) Information für die Befugnis zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht nicht ausschlaggebend ist. Entscheidend ist vielmehr nach dem Sinn und Zweck des § 53 StPO, wer Beteiligter des spezifischen Vertrauensverhältnisses geworden ist, welches durch die Inanspruchnahme des Berufsträgers entsteht. cc) Gesetzesgeschichte und personaler Bezug des geschützten „Vertrauens“ Auch der historische Gesetzgeber hatte bei Schaffung des Zeugnisverweigerungsrechts nicht den Schutz des Vertragsverhältnisses vor Augen, sondern das diesem zugrunde liegende Vertrauensverhältnis51. Für die Entstehung
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49 StV 2002, 647. 50 Meyer-Goßner, § 53 Rz. 4; Senge in Karlsruher Kommentar, StPO, § 53 Rz. 3. 51 Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Band 3, StPO, S. 106 zu § 43; Dahs, FS Kleinknecht, S. 63, 73 f.
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eines Vertrauensverhältnisses ist indes das personale Element von zentraler Bedeutung. Dies gilt auch dann, wenn das Rechtsverhältnis als solches mit einer juristischen Person begründet wird. Es tritt hinzu, daß nur das handelnde Organ die Übermittlung der vertraulichen Tatsachen vornehmen, also anvertrauen kann. Eine juristische Person ist dagegen bereits begrifflich nicht in der Lage, Tatsachen preiszugeben oder anzuvertrauen. Sie ist ihrer Natur nach nicht imstande, Partner eines Vertrauensverhältnisses zu sein, das allein durch eine Beziehung zwischen natürlichen Personen entstehen kann. Da das handelnde Organ die Informationen übermittelt und aufgrund der personalisierten Beziehung zum Berater über die Begründung, Fortsetzung oder – etwa wegen eingetretenen Vertrauensverlustes – die Beendigung des Auftragsverhältnisses entscheidet, ist allein das individuelle Organ und nicht die juristische Person Träger des von § 53 StPO in Bezug genommenen Vertrauensverhältnisses52. Untermauert wird dieser Befund durch die Erkenntnisse der Soziologie zur Bedeutung des Vertrauens im gesellschaftlichen Zusammenleben. Nach diesen Erkenntnissen wird der Mensch erst durch Vertrauen in der konkreten Situation entscheidungsfähig und werden bestimmte Entwicklungsmöglichkeiten des Geschehensablaufes, die sich aus dem Verhalten anderer Menschen ergeben können, von der Berücksichtigung bei den eigenen Entscheidungen ausgeschlossen53. In dem der Vertrauende sich auf ein bestimmtes Verhalten anderer Menschen verlässt, neutralisiert er (bestimmte) von diesen Menschen ausgehende Gefahren, die er nicht ausräumen kann, die aber seine Entscheidung nicht irritieren sollen. Auf den vorliegenden Kontext gewendet: das durch die berufliche Verschwiegenheitspflicht abgesicherte Vertrauen des ratsuchenden Organs, der Wirtschaftsprüfer werde die von ihm anvertrauten Umstände vertraulich behandeln und ohne seine Einwilligung nicht offenbaren, versetzt das Organ erst in die Lage, sich für das Einholen sachkundigen Rates und für die Offenbarung aller hierfür erforderlichen Informationen entscheiden zu können. Durch die berechtigte Erwartung in die Verschwiegenheit wird die Gefahr einer Offenbarung dieser Umstände für das anvertrauende Organ bei seinen Entscheidungen eliminiert, weshalb es diese Gefahr für sein weiteres Vorgehen außer Betracht lassen darf. Genau dies ist nach der eingangs skizzierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Sinn und Zweck des § 53 Abs. 1 StPO. dd) Besonderheiten der prüfenden Tätigkeit des Wirtschaftsprüfers Im Hinblick auf die von Wirtschaftsprüfern vorgenommenen Tätigkeiten gewinnt überdies Bedeutung, dass die Prüfung der wirtschaftlichen Verhält-
__________ 52 Zutreffend Dahs, FS Kleinknecht, S. 63, 74. 53 Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 3. Aufl. 1989, S. 23 ff.
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nisse einer juristischen Person das Nachvollziehen subjektiver Einschätzungen der jeweiligen Organe und die Auseinandersetzung mit diesen Einschätzungen erfordert. Diese Einschätzungen können allein von den für die juristische Person verantwortlich handelnden Personen gebildet werden. So sind beispielsweise bei der Bewertung von Wirtschaftsgütern (z. B. bei der Bestimmung des Umfangs der Risikovorsorge in der Bilanz bzw. der Bildung von Rückstellungen für drohende Inanspruchnahmen) Einschätzungen über die künftige Entwicklung bestimmter Geschäftszweige oder Vertragsverhältnisse vorzunehmen, die naturgemäß subjektive Einschätzungen der handelnden Verantwortlichen darstellen. Diese subjektiven Einschätzungen der Unternehmensleiter werden der juristischen Person erst als eigene zugerechnet. Daher ginge die Annahme fehl, einem Wirtschaftsprüfer würden im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit bestimmungsgemäß ausschließlich rein objektive Daten zur wirtschaftlichen Lage der juristischen Person bekannt, die sich von den handelnden Organen abgelöst betrachten ließen. Tatsächlich trifft das Gegenteil zu, namentlich der Befund, dass die Tätigkeit eines Wirtschaftsprüfers in erheblichem Umfang untrennbar mit der Entgegennahme und Bearbeitung subjektiv geprägter Informationen verknüpft ist. ee) Unerheblichkeit der inhaltlichen Qualität der anvertrauten Tatsachen, insbesondere ihrer (möglichen) strafrechtlichen Relevanz Sowohl die überwiegende Ansicht der Oberlandesgerichte wie auch die Vertreter der Gegenauffassung leiten aus der besonderen (ggf. strafrechtlich relevanten) Qualität der anvertrauten Information ab, dass zwischen Rechten höchstpersönlicher Art und solchen der Gesellschaft, insbesondere Vermögensrechten, zu differenzieren sei. Aus dieser Differenzierung werden sodann Folgerungen für die Entbindungsbefugnis gezogen54: So wird einerseits abgeleitet, dass Umstände, aus denen sich eine Strafbarkeit des früheren Organs ergeben kann, höchstpersönlicher Natur seien, hinsichtlich derer die Dispositionsbefugnis bei dem früheren Organ verbleibe55. Andererseits wird angenommen, dass auch insoweit allein Rechte der juristischen Person betroffen seien, da die anvertrauten Tatsachen aus ihrer Sphäre stammten56 und das private Interesse des ehemaligen Organs an einer Vermeidung der Strafverfolgung nicht von § 53 StPO erfasst werde57. Teile der Literatur meinen, es könne danach differenziert werden, ob ein strafrechtlich relevantes
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54 Vgl. zu diesem Ansatz mit unterschiedlichen Ergebnissen OLG Koblenz NStZ 1985, 426, 428; OLG Düsseldorf StV 1993, 346; OLG Schleswig NJW 1981, 294; LG Saarbrücken wistra 1995, 239; LG Düsseldorf NJW 1958, 1152; LG Hamburg StV 2002, 647; LG Lübeck NJW 1978, 1014, 1015. 55 OLG Koblenz NStZ 1985, 426, 428; OLG Schleswig NJW 1981, 294, LG Saarbrücken wistra 1995, 239. 56 LG Hamburg StV 2002, 647; LG Lübeck NJW 1978, 1014, 1015. 57 LG Hamburg a. a. O.
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Verhalten des früheren Organs zum Nachteil der juristischen Person oder zum Nachteil Dritter in Betracht kommt58. Der Ansatz, wonach es für die Entbindungsbefugnis auf die jeweilige Qualität der vom Wirtschaftsprüfer ggf. zu offenbarenden Umstände ankommen soll, insbesondere auf deren potenzielle strafrechtliche Relevanz, vermag in Gänze nicht zu überzeugen: Abgesehen davon, dass eine exakte Zuordnung der dem Wirtschaftsprüfer bekannt gewordenen Umstände zu den in Rechtsprechung und Literatur in diesem Zusammenhang diskutierten Kategorien regelmäßig kaum möglich und daher praktisch nicht umsetzbar sein wird59, begegnet dieser Ansatz grundsätzlichen Bedenken. Denn die von § 53 StPO erstrebte Funktionsfähigkeit des Kommunikationsverhältnisses zwischen Ratsuchendem und Berufsträger ist ihrerseits unabhängig von der Qualität der innerhalb dieses Kommunikationsverhältnisses im einzelnen übermittelten oder bekannt gewordenen Information (s. o.). Darüber hinaus führt die aus diesem Begründungsansatz gezogene Folgerung, das „private“ Interesse des früheren Organs an der Vermeidung einer Strafverfolgung sei für § 53 Abs. 2 StPO irrelevant, weshalb dem früheren Organ eine Entbindungsbefugnis nicht zukomme, zu untragbaren und mit anerkannten strafrechtlichen Grundsätzen nicht vereinbarenden Konsequenzen: Jeder Bürger ist befugt, zur Klärung der Frage, ob ein von ihm erwogenes oder vorgenommenes Verhalten strafrechtlich relevant ist, fachlichen Rat – z. B. bei einem Rechtsanwalt oder einem Wirtschaftsprüfer/Steuerberater – einzuholen. In der strafrechtlichen Dogmatik des Verbotsirrtums ist gesichert, dass der Bürger hierzu sogar gehalten ist, um sich ggf. gegen ein strafbares Verhalten entscheiden zu können, und dass das Unterlassen der Einholung fachkundigen Rates regelmäßig die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums (§ 17 StGB) begründet60. Im Rahmen der strafrechtlichen Beraterhaftung entspricht es überdies ständiger Rechtsprechung, dass ein Berater sich durch die Erteilung rechtlicher Auskünfte zu einer möglichen Strafbarkeit eines ihm geschilderten Vorgehens nicht der Beihilfe an Straftaten des Ratsuchenden verdächtig macht, da davon ausgegangen werden muss, dass der Berater lediglich seiner aus dem Auftragsverhältnis folgenden Pflicht zur Erteilung kompetenten Rats nachkommen und sich nicht an Straftaten seines Mandanten beteiligen will61. Wenn aber der Bürger gehalten ist, im Hinblick auf potenziell strafrechtlich relevante Umstände fachlichen Rat einzuholen, und für den Berater in derar-
__________ 58 So etwa Gülzow, NJW 1981, 265, 267 f. 59 So schon Dahs, FS Kleinknecht, S. 63, 75; ferner Schmitt, wistra 1993, 9, 12. 60 BGHSt 40, 257, 264; BayObLG NJW 1989, 1744; LG Düsseldorf NJW 2004, 3275 (Mannesmann). 61 BGH NJW 1992, 3047; RGSt 37, 321.
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tigen Konstellationen (subjektive) Privilegierungen anerkannt werden, lässt sich daraus entnehmen, dass die Rechtsordnung die Übermittlung bzw. das Bekanntwerden potenziell strafrechtlich relevanter Umstände in den Vertrauensverhältnissen zwischen Bürgern und Berufsträgern nicht nur voraussetzt, sondern hieraus den Betroffenen günstige Rechtsfolgen ableitet, die Offenbarung potenziell strafrechtlich relevanter Umstände also positiv bewertet. Hierzu begründete es einen nicht lösbaren Widerspruch, wenn gerade aus der Offenbarung potenziell strafrechtlich relevanter Umstände gegenüber einem Berater der Verlust der Dispositionsbefugnis über die Vertraulichkeit dieser Informationen auf Seiten des Anvertrauenden hergeleitet würde. In der Konsequenz führte eine solche Sichtweise dazu, faktisch eben das zu vereiteln, was die Rechtsordnung – auch und gerade im Hinblick auf potentiell strafrechtlich relevante Verhaltensoptionen – vom Bürger verlangt, nämlich die Einholung fachkundigen Rats. So wird beispielsweise die in der Praxis (auch) von Wirtschaftsprüfern vielfach erbetene Beratung zur Frage der Erstattung einer strafbefreienden Selbstanzeige (§ 371 AO) tatsächlich kaum erfolgen können, wenn das dem Berater die Steuerstraftat anvertrauende Organ über diese Information im Hinblick auf § 53 Abs. 2 StPO nicht dispositionsbefugt bliebe62. Ob ggf. strafrechtlich relevante Umstände dem Berater offenbart worden sind, ist für die Auslegung des § 53 Abs. 2 StPO daher unerheblich. ff) Keine unvertretbare Beschränkung der Wahrheitsfindung im Strafverfahren Der hier vertretenen Ansicht kann auch nicht entgegengehalten werden, sie führe zu unvertretbaren Beschränkungen der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren63. Denn ein solcher Ansatz verkehrte den gesetzlichen Zweck des Zeugnisverweigerungsrechts für die vorliegende Konstellation in ihr Gegenteil. Das Gesetz entzieht die in § 53 Abs. 1 StPO aufgeführten Beziehungen in ihrer Gesamtheit um ihrer Effektivität willen der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren, mag dies auch zu im Einzelfall kaum behebbaren Defiziten in den Beweisführungsmöglichkeiten führen. Diese gesetzliche – vom Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich legitimierte (s. o.) – Grundentscheidung würde missachtet, wenn eine schlichte oftmals rein zufällige und mit dem Vertrauensverhältnis regelmäßig in keinerlei Zusammenhang stehende Änderung der Vertretungsbefugnisse auf Seiten der juristischen Person zum Anlass und als Rechtfertigung dafür genommen würde, über § 53 Abs. 2 StPO die Möglichkeiten der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren auszuweiten.
__________ 62 Zu einer „Berater“-Konstellation bezüglich § 371 AO: BGHSt 2, 378. 63 So aber OLG Oldenburg StraFo 2004, 351.
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Daran ändert auch nichts, dass die Tätigkeit des Wirtschaftsprüfers in Teilen – beispielsweise bei den nach dem HGB vorgeschriebenen Prüfungen von Jahresabschlüssen (§§ 316 ff. HGB) – faktisch auch im öffentlichen Interesse bzw. im Interesse des allgemeinen Verkehrs liegen mag. Denn dieses Interesse erstreckt sich allein auf die Bestätigung der Richtigkeit der Wiedergabe der wirtschaftlichen Verhältnisse der jeweiligen Gesellschaft im Jahresabschluss, erfasst aber nicht ein gesondertes Interesse an der Sammlung von Informationen durch den Wirtschaftsprüfer im Rahmen der Abschlussprüfung, damit diese in besonderen staatlichen Verfahren als Beweismittel zur Verfügung gestellt werden können. Dies erschließt sich schon daraus, dass der Prüfungsbericht durch den Prüfer lediglich den Organen der Gesellschaft (Vorstand bzw. Aufsichtsrat) vorzulegen ist (§ 321 Abs. 5 HGB), ferner auch daraus, dass dem Abschlussprüfer bei der Feststellung von Unregelmäßigkeiten im Rahmen der Abschlussprüfung als Verhaltensoptionen lediglich die Versagung oder Beschränkung des Testats eröffnet sind (§ 322 Abs. 4 Satz 1 HGB) und er über die ggf. warnenden Angaben in seinem Prüfungsbericht (§ 321 Abs. 1 Satz 3 HGB) hinaus – aufgrund seiner Verschwiegenheitspflicht – nicht befugt ist, Dritten, auch Behörden, Mitteilung über den Gegenstand der von ihm gewonnenen Erkenntnisse zu machen. d) Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. 10. 2003 Die Richtigkeit der hier vertretenen Position wird schließlich auch nicht durch die Entscheidung der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. 10. 200364 zu § 97 StPO in Frage gestellt. Die Entscheidung betraf die Beschlagnahme von Unterlagen, die eine Aktiengesellschaft einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Rahmen eines Auftrages zur Überprüfung bestimmter, durch den Vorstand vorgenommener Geschäfte im Hinblick auf deren Rechtmäßigkeit übermittelt hatte. In einem späteren Ermittlungsverfahren gegen einige der Vorstandsmitglieder der Aktiengesellschaft waren diese Unterlagen beschlagnahmt worden, wogegen sich die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft unter Hinweis auf einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 2 Abs. 1 GG, Recht auf ein faires Verfahren) und die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) gewandt hatte. Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hielt die Verfassungsbeschwerde für unbegründet und verwies darauf, dass § 97 StPO das Verhältnis des Berufsgeheimnisträgers zu der rechtlich selbständigen juristischen Person, die nicht Beschuldigte sei, nicht erfasse. Die einzelnen Organmitglieder seien nicht in das Vertrauensverhältnis zu dem Zeugnisverweigerungsberechtigten einbezogen. Ein Beschlagnahmeverbot aus anderen, insbesondere verfassungsrechtlichen Gründen sei nicht ersichtlich.
__________ 64 BVerfG NStZ-RR 2004, 83.
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Zum Verständnis der Entscheidung ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sie sich mit der hier maßgeblichen Frage der Befugnis zur einer Entbindung von der beruflichen Verschwiegenheitspflicht (§ 53 Abs. 2 StPO) nicht befasst hat und auch nicht zu befassen hatte. Für die Entscheidung kam es aus Sicht des Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf § 97 StPO (lediglich) darauf an, ob die bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft befindlichen Unterlagen aus einer Beziehung dieser zu den Beschuldigten des Verfahrens herrührte (dann Beschlagnahmefreiheit, § 97 Abs. 1 Ziff. 1 bzw. 2 StPO) oder aus dem Verhältnis zu einem Nichtbeschuldigten (dann Beschlagnahmefähigkeit). Hierzu erkannte die 3. Kammer darauf, dass das für § 97 StPO maßgebliche Verhältnis zwischen der Aktiengesellschaft als Nichtbeschuldigter – mag diese auch durch ihre Organe gehandelt haben – und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zustande gekommen sei. Die Entscheidung besitzt daher für die vorliegende Frage keine unmittelbare Bedeutung65. Gleichwohl lässt die Entscheidung Rückschlüsse auch für die Befugnis zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht (§ 53 Abs. 2 StPO) denkbar erscheinen. Denn in ihrer Begründung vertritt die 3. Kammer die Ansicht, dass Auftraggeberin und Anvertrauende die Aktiengesellschaft als rechtlich selbständige juristische Person sei und sich das in § 97 StPO geschützte Vertrauensverhältnis nicht auf die Organe der Aktiengesellschaft erstrecke. Diese Wendungen könnten auf die Möglichkeit einer entsprechenden Würdigung im Rahmen von § 53 Abs. 2 StPO schließen lassen. Derartige Rückschlüsse begegnen indes aus unterschiedlichen Gründen erheblichen Bedenken. Zum einen ist anerkannt, dass die Beschränkung des Beschlagnahmeverbots auf das Vertrauensverhältnis zwischen dem im konkreten Fall Beschuldigten und dem Berufsgeheimnisträger mit dem Zweck der Vorschrift des § 97 StPO, eine Umgehung des Zeugnisverweigerungsrechts zu verhindern, schwer zu vereinbaren ist66. Schon deshalb ist mit einer Übertragung von bei § 97 StPO für maßgeblich gehaltenen Gesichtspunkten auf § 53 Abs. 2 StPO Zurückhaltung geboten. Für eine solche Zurückhaltung spricht auch, dass die 3. Kammer in diesem Zusammenhang (lediglich) das „gemäß § 97 StPO geschützte Vertrauensverhältnis“ in Bezug nimmt67, ein Hinweis auf § 53 StPO bzw. eine verallgemeinernde Aussage
__________ 65 Ob die Sichtweise der 3. Kammer des Zweiten Senats, wonach die Aktiengesellschaft Nichtbeschuldigte im Sinn des § 97 StPO ist, überhaupt in dieser Allgemeinheit zutrifft, erscheint nicht unzweifelhaft. Denn bei dem in Rede stehenden Verfahren sollen die vom Vorstand begangenen Straftaten wirtschaftlich (auch) der Gesellschaft zu Gute gekommen sein, was es nicht ausgeschlossen erscheinen lässt, dass die Gesellschaft über § 30 OWiG bzw. als mögliche Verfallsbeteiligte (§ 73 Abs. 3 StGB) eine Position inne hatte, in der ihr auch in bestimmtem Umfang die für einen Beschuldigten geltenden Schutzwirkungen der StPO zuzugestehen gewesen wären. 66 Schäfer in Löwe-Rosenberg, StPO,§ 97 Rz. 21 unter Hinweis auf BGHSt 38, 144. 67 BVerfG a. a. O.
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zu dem Verhältnis zum Berufsgeheimnisträger in der Entscheidung also nicht erfolgt68. Zum anderen stehen einer Übertragung der vom Bundesverfassungsgericht zu § 97 StPO angestellten Erwägungen auf § 53 Abs. 2 StPO die oben eingehend dargelegten Gesichtspunkte entgegen. Soweit das Bundesverfassungsgericht anführt, dass die Rechtsordnung nicht von einem schützenswerten Interesse der juristischen Person an strafbaren Handlungen zu ihren Gunsten oder in ihrem Interesse ausgehe, und dies als Grund dafür ansieht, dass die Organe nicht in das von § 97 StPO geschützte Vertrauensverhältnis einbezogen seien, ist der Gedanke der fehlenden Schutzwürdigkeit eines Interesses der Gesellschaft an der Begehung von Straftaten zwar einerseits evident richtig, andererseits trägt er aber nicht die hieraus durch die 3. Kammer gezogene Schlussfolgerung zur personalen Reichweite des Vertrauensverhältnisses zu dem Berufsgeheimnisträger. Denn die fehlende Schutzwürdigkeit eines vermeintlichen Interesses einer juristischen Person besagt nichts über die möglicherweise anzuerkennende Schutzbedürftigkeit ganz anderer Interessen ihrer jeweiligen Organe. Überdies stellt auch diese Erwägung des Bundesverfassungsgerichts auf die zum Zeitpunkt der Beschlagnahmeentscheidung bestehenden Interessenlage von Gesellschaft bzw. Organ hinsichtlich einer möglichen Strafverfolgung ab und trägt damit dem Sinn und Zweck des § 53 StPO als Gewährleistung eines effektiven Kommunikationsverhältnisses der Ratsuchenden zu den Berufsgeheimnisträgern nicht hinreichend Rechnung (s. o.). Schließlich geriete eine allein auf die zivilrechtliche Vertragsbeziehung und die rechtliche Selbständigkeit der Kapitalgesellschaft abstellende Sicht in schwer lösbare Widersprüche zum Zivilrecht selbst, namentlich zu den dort anerkannten Grundsätzen zum sog. Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter bei von Kapitalgesellschaften mit Dritten abgeschlossenen Verträgen. Insbesondere bei Verträgen zwischen diesen und Steuerberatern bzw. Wirtschaftsprüfern soll sich die Schutzwirkung des Vertrages über die gesellschaftliche Sphäre im engeren Sinn hinaus sogar auf die Gesellschafter erstrecken69. Zu diesen im Zivilrecht anerkannten erweiterten Schutzwirkungen, die ihre Rechtfertigung gerade in dem Näheverhältnis des Geschützten zur juristischen Person finden, stünde die Heranziehung der zivilrechtlichen Vertragsbeziehung und der rechtlichen Selbständigkeit als ausschlaggebende Kategorien für die Beschränkung des Vertrauensverhältnisses
__________ 68 Eine solche Aussage lässt sich auch dem obiter dictum des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung vom 13. 9. 1993 (NVwZ 1994, 54) nicht entnehmen. Denn dort hat das Bundesverfassungsgericht allein darauf erkannt, dass die durch das seinerzeitige Beschwerdegericht vertretene Ansicht, es bedürfe in der dort zugrundeliegenden Insolvenzkonstellation zur einer wirksamen Entbindungserklärung nach § 53 Abs. 2 StPO lediglich einer Entbindungserklärung durch den Insolvenzverwalter, nicht willkürlich ist und damit nicht gegen Art. 3 GG verstößt. 69 BGH NJW 1982, 1516; 1983, 1053; OLG Düsseldorf NJW-RR 2000, 932 st. Rspr.
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im Sinn des § 53 StPO in einem bemerkenswerten Spannungsverhältnis. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass ein vom Geschäftsführer für die GmbH erteilter Auftrag an einen Wirtschaftsprüfer, gegenüber der Gesellschaft zur Notwendigkeit der Insolvenzantragstellung in ihrer konkreten wirtschaftlichen Lage Stellung zu nehmen, sich in seiner Schutzwirkung auch auf den Geschäftsführer selbst erstreckt mit der Folge, dass dieser bei einer fehlerhaften Auskunft und einer infolge dessen verspäteten Antragstellung den gegen ihn persönlich nach § 64 Abs. 2 GmbHG gerichteten Ersatzanspruch auf den Wirtschaftsprüfer abwälzen und von diesem Freistellung verlangen könnte. Dies verdeutlicht, dass die zivilrechtlichen Wertungen für eine Begrenzung des Vertrauensverhältnisses im Sinne des § 53 Abs. 2 StPO nicht nur wenig beitragen können, sondern ihr eher entgegenstehen. Hiernach kommt eine Übertragung der vom Bundesverfassungsgericht zu § 97 StPO angestellten Erwägungen, die ihrerseits den aufgezeigten Bedenken ausgesetzt sind, auf die Bestimmung der Befugnis zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht (§ 53 Abs. 2 StPO) nicht in Betracht. e) Zur Notwendigkeit der Entbindung durch Insolvenzverwalter bzw. gegenwärtiges Organ Aus dem Vorstehenden ist deutlich geworden, dass es für eine wirksame Entbindung von der Verschwiegenheit jedenfalls einer Erklärung des früheren Organs bedarf. Zu klären bleibt aber, ob auch und ggf. warum eine Entbindungserklärung des Insolvenzverwalters bzw. des gegenwärtigen Organs zusätzlich erforderlich ist. Aus den nachstehenden Gründen wird eine solche Erklärung von den Oberlandesgerichten zu recht verlangt. Zwar mag (ausschließlich) vor dem Hintergrund des Normzwecks des § 53 StPO vieles dafür sprechen, allein den bisherigen Organen der Gemeinschuldnerin die Befugnis zur Schweigepflichtentbindung einzuräumen. Denn nur die anvertrauenden Organe sind – wie ausgeführt – in die usprüngliche Vertrauensbeziehung zum Wirtschaftsprüfer einbezogen, wohingegen ein Insolvenzverwalter vielfach erst zu einem Zeitpunkt in seine Position eintritt, wenn das Auftragsverhältnis zwischen Berufsträger und Mandant, häufig gerade aufgrund der Insolvenz, beendet ist. Der Insolvenzverwalter tritt daher in keine Vertrauensbeziehung mit dem (ggf. früheren) Wirtschaftsprüfer. Entsprechende Konstellationen ergeben sich auch bei einem zwischenzeitlich erfolgten Wechsel der Verantwortlichen der juristischen Person, insbesondere bei länger zurückliegenden Aufträgen an Wirtschaftsprüfer. Die Notwendigkeit einer Entbindung auch durch den Insolvenzverwalter folgt in derartigen Konstellationen aus der Tatsache, dass die dem Wirtschaftsprüfer mitgeteilten oder bekannt gewordenen Umstände aufgrund ihrer inhaltlichen Qualität den Charakter vertraulicher Informationen der juristischen Person selbst besitzen. In materieller Hinsicht ist über diese Informationen zum Zeitpunkt der erforderlichen Entbindungserklärung allein 375
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der Insolvenzverwalter bzw. die gegenwärtig verantwortlichen Organe dispositionsbefugt. Augenfällig ist dies bei Geschäftsgeheimnissen der juristischen Person: sie verlieren ihren Charakter als Geschäftsgeheimnis der juristischen Person nicht dadurch, dass derjenige, der sie dem Berufsträger anvertraut, aus seiner Position als Verantwortlicher der juristischen Person ausscheidet. Vielmehr bleiben sie Geschäftsgeheimnisse der juristischen Person, über deren Preisgabe jeweils nur in Einklang mit dem materiellen Recht entschieden werden darf. Den vormaligen Organen der juristischen Person kommt eine Befugnis zur Preisgabe von Geschäftsgeheimnissen oder vertraulichen Informationen der juristischen Person nicht mehr zu. Dies entspricht auch der materiell-strafrechtlichen Lage, nach der die Verfügungsbefugnis über Geheimnisse der juristischen Person im Hinblick auf § 203 StGB bei juristischen Personen angesiedelt wird. Es ist einhellige Auffassung, dass bei Mandatsverhältnissen juristischer Personen diese selbst verfügungsberechtigt ist, weshalb das den Tatbestand des § 203 StGB ausschließende Einverständnis durch das jeweils vertretungsberechtigte Organ zu erteilen ist, auch wenn das Geheimnis dem Schweigepflichtigen durch eine andere für die juristische Person handelnde Person (z. B. Angestellter, früherer Vorstand) anvertraut worden ist70. Dem entspricht ferner, dass die Antragsbefugnis für einen Strafantrag auf Verfolgung eines Vergehens nach § 333 HGB (Verletzung der Geheimhaltungspflicht durch Abschlussprüfer) bei der Kapitalgesellschaft liegt (§ 333 Abs. 3 HGB), der Antrag also von den zum Antragszeitpunkt Vertretungsberechtigten zu stellen ist. Auf diese materiell-rechtlichen Vorgaben hat auch der Bundesgerichtshof (Zivilsachen) – zur Rechtslage nach der Konkursordnung – hingewiesen und hervorgehoben, dass die Verfügungsbefugnis beim Konkurs im Rahmen seiner Aufgaben auf den Konkursverwalter übergeht71. Hiernach ist stets auch eine Entbindungserklärung durch den Insolvenzverwalter erforderlich, um den Schutz der Geheimnisse der juristischen Person zu gewährleisten72. f) Zwischenergebnis Aus dem Normzweck des § 53 Abs. 2 StPO, die Funktionsfähigkeit und Effektivität der Beratungsverhältnisse von Bürgern und Berufsträgern zu gewährleisten, folgt, dass den ursprünglich in diese Beratungsverhältnisse ein-
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70 Vgl. nur Lenckner in Schönke/Schröder, StGB, § 203 Rz. 23. 71 BGHZ 109, 270, ferner OLG Nürnberg NJW 1977, 303. 72 Hingewiesen sei ergänzend darauf, dass die hier zu § 53 Abs. 2 StPO vertretene Auffassung auch materiell-rechtlich im Rahmen der Geheimnisschutzregelungen im Vordringen befindlich ist. So werden beispielsweise von dem Anvertrauenden übermittelte Umstände – soweit sie rechtlich als dessen Geheimnis zu qualifizieren sind – im Rahmen von § 203 StGB als „Drittgeheimnisse“ angesehen, über die die juristische Person nicht verfügungsbefugt sei, was die zusätzliche Entbindungserklärung des Anvertrauenden erforderlich mache (näher Cierniak in Münchener Kommentar, StGB, § 203 Rz. 79 f. m. N.).
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gebundenen Verantwortlichen von juristischen Personen die Befugnis zur Entbindung von der beruflichen Verschwiegenheitspflicht des Wirtschaftsprüfers gemäß § 53 Abs. 2 StPO zusteht. Entsprechend lehnt die herrschende Ansicht zu Recht eine alleinige Befugnis des Insolvenzverwalters bzw. der gegenwärtigen Organe zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht ab. Neben der Entbindungserklärung der eingebundenen Organe ist auch eine solche des Insolvenzverwalters bzw. der gegenwärtig Verantwortlichen erforderlich. Dies folgt daraus, dass es sich bei den anvertrauten Umständen ihrer Qualität nach um vertrauliche Informationen oder Geschäftsgeheimnisse der juristischen Person handelt, über deren Preisgabe allein der Insolvenzverwalter bzw. die gegenwärtigen Verantwortlichen materiell-rechtlich dispositionsbefugt sind.
IV. Folgefragen: Mehrköpfige Organe einer juristischen Person/faktisches Organ/Mandatserteilung durch Aufsichtsgremien 1. Besonderheiten bei mehrköpfigen Organen Die Bestimmung der Befugnis zur Abgabe der Erklärung nach § 53 Abs. 2 StPO gebietet Differenzierungen in solchen Fällen, in denen das vertretungsberechtigte Organ der juristischen Person nicht aus einer, sondern aus einer Mehrzahl von Personen besteht. Aus dem zum Normzweck des § 53 Abs. 2 StPO Ausgeführten folgt, dass nur demjenigen früheren Verantwortlichen eine Entbindungsbefugnis nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens bzw. seinem Ausscheiden zukommen kann, der in das Vertrauensverhältnis – sei es auch zeitlich und inhaltlich begrenzt – tatsächlich einbezogen war, was auch der Wortlaut des § 53 Abs. 2 StPO nahelegt („anvertraut“)73. Hieraus können sich Einschränkungen etwa dergestalt ergeben, dass bei einem mehrköpfigen Organ nicht alle, sondern nur diejenigen (früheren) Organmitglieder eine Entbindungserklärung zu erteilen haben, die mit dem Auftragsverhältnis zu dem Wirtschaftsprüfer in Berührung gestanden haben. Das wird insbesondere in solchen Fällen relevant, in denen Beratungsaufträge eines Wirtschaftsprüfers in Rede stehen, die beispielsweise lediglich in ein Vorstandsressort einer Aktiengesellschaft fallen und auch auf Seiten der Gesellschaft nur vom zuständigen Ressortvorstand bzw. durch von ihm Beauftragte begleitet worden sind (z. B. Beratung zu steuerlichen Konsequenzen einer bestimmten Transaktion). In derartigen Konstellationen wäre es nicht mehr vom Normzweck des § 53 Abs. 2 StPO gedeckt, Entbindungserklärun-
__________ 73 OLG Koblenz NStZ 1985, 427 f, AG Tiergarten Beschluss vom 10. 6. 2003, 351 Gs 4495/02, Dahs FS Kleinknecht, 63, 77.
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gen von sämtlichen zum Zeitpunkt der Auftragserteilung aktiven Vorstandsmitgliedern zu verlangen, wenn Teile des Vorstands mit dem dem Beratungsverhältnis zugrunde liegenden Vorgang bzw. dem Beratungsverhältnis selbst nicht in Berührung gelangt sind. In solchen Fällen genügt – neben der Entbindungserklärung des/der gegenwärtig Vertretungsberechtigten – die Entbindungserklärung des (früheren) tatsächlich befassten Ressortvorstands. Maßgeblich sind insoweit die Umstände des Einzelfalles. Jedes Organmitglied kann die Entbindung nur hinsichtlich der Tatsachen erklären, die er dem Berater anvertraut hat oder die dem Berufsträger durch das Verhältnis zu ihm bzw. in seinem Auftrag bekannt geworden sind. Auch insoweit kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an. Sofern eines von mehreren Organmitgliedern die Entbindungsbefugnis verweigert hat, führt dies im übrigen nicht zwangsläufig dazu, dass sich der Wirtschaftsprüfer vollumfänglich auf das Zeugnisverweigerungsrecht berufen könnte74. Kann der Wirtschaftsprüfer zum Vernehmungsgegenstand aussagen, ohne die ihm von dem die Entbindung verweigernden Organ übermittelten Informationen preiszugeben, so trifft den Wirtschaftsprüfer – sofern alle weiteren erforderlichen Entbindungserklärungen vorliegen – insoweit eine Aussagepflicht. Das in Anspruch genommene Vertrauen des nicht entbindenden Organmitglieds wird auf diese Weise nicht beeinträchtigt, so dass keine Nachteile aus der Inanspruchnahme der professionellen Hilfe aus den von ihm individuell preisgegebenen vertraulichen Information folgen. Sofern die Informationsübermittlung des die Entbindung verweigernden früheren Verantwortlichen nicht einen sachlich abtrennbaren Tatsachenkomplex des zugrundeliegenden Beratungsauftrags betrifft, besteht das Zeugnisverweigerungsrecht des Berufsträgers hingegen vollumfänglich. 2. Entbindungsbefugnis des faktischen Organs Ferner sei darauf hingewiesen, dass die Rechtsprechung auch dem sog. faktischen Organ, also dem förmlich nicht bestellten, indes faktisch die Geschäfte führenden Organ, die Befugnis zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht zubilligt75. Die vorstehenden Ausführungen gelten infolge dessen bei Vorhandensein eines faktischen (vormaligen) Organs entsprechend. 3. Entbindung bei Aufträgen durch Aufsichtsgremien Zu erwähnen sind schließlich Konstellationen, in denen der Auftraggeber des Wirtschaftsprüfers der Aufsichtsrat einer juristischen Person ist, die für die Prüfung erforderlichen Informationen jedoch aufgrund gesetzlicher Verpflichtung (§ 320 Abs. 1 HGB) oder aufgrund des Auftrages durch den Vorstand
__________ 74 Vgl. Dahs, FS Kleinknecht, 63, 77; Schmitt, wistra 1993, 9, 11. 75 Vgl. nur OLG Celle wistra 1986, 83 m. N.
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erteilt werden (müssen). Für sie gelten nach dem zur Effektivität des Vertrauensverhältnisses Ausgeführten indes keine Besonderheiten. In solchen Fällen sind – neben dem Aufsichtsrat als Auftraggeber – auch und insbesondere die vormaligen Vorstandsmitglieder zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht (§ 53 Abs. 2 StPO) befugt, mögen sie auch zivilrechtlich nicht Vertragspartner des Wirtschaftsprüfers sein. Denn sie sind aufgrund gesetzlicher oder (dienst)vertraglicher Pflichten diejenigen, die dem Wirtschaftsprüfer die für seine Tätigkeit erforderlichen Informationen anvertrauen.
V. Zusammenfassung Bei einem Mandatsverhältnis eines Wirtschaftsprüfers zu einer juristischen Person bedarf es für eine wirksame Entbindung von der beruflichen Verschwiegenheitspflicht (§ 53 Abs. 2 StPO) sowohl einer Entbindungserklärung des/der gegenwärtig Vertretungsberechtigten als auch einer solchen derjenigen (früheren) Vertretungsberechtigten, die dem Wirtschaftsprüfer im Rahmen des Mandates Umstände anvertraut haben oder in deren Auftrag dem Wirtschaftsprüfer Umstände bekannt geworden sind. Dies gilt sowohl in Fällen der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens wie auch beim Wechsel/Ausscheiden eines (früheren) Vertretungsberechtigten. Das Zeugnisverweigerungsrecht des Wirtschaftsprüfers bezieht sich auf alle Umstände, die ihm im Rahmen des Mandates anvertraut oder sonst bekannt geworden sind. Liegen nicht alle erforderlichen Entbindungserklärungen für eine umfassende Aussage des Wirtschaftsprüfers vor oder wird ihm die Entbindung von einzelnen zu ihrer Erteilung Befugten verweigert, so kann sich eine beschränkte Aussagepflicht in dem Umfang ergeben, als solche Umstände zu bekunden sind, die dem Wirtschaftsprüfer nicht durch den Verweigernden anvertraut oder in dessen Auftrag bekannt geworden sind bzw. die dem Wirtschaftsprüfer vor oder nach der Zeit mitgeteilt oder bekannt geworden sind, in der der Verweigernde vertretungsbefugt war. Macht ein Wirtschaftsprüfer Angaben gegenüber Gerichten, Ermittlungsbehörden o. a., ohne in der erforderlichen Weise von der Verschwiegenheitspflicht entbunden worden zu sein (§ 53 Abs. 2 StPO), drohen ihm berufs- und strafrechtliche Sanktionen. Dass wesentliche der diese Ergebnisse tragenden Erwägungen durch Hans Dahs bereits vor fast zwanzig Jahren in der Festschrift für Theodor Kleinknecht angesprochen worden sind, wird der aufmerksame Betrachter der Thematik unschwer erkennen. Das aber zeigt beispielhaft nur, wie grundlegend und über den Moment hinaus die Beiträge von Hans Dahs in der wissenschaftlichen Diskussion wirken. Mögen ihm noch viele gesunde und erfüllte Jahre geschenkt sein.
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Die „Relativierung“ der absoluten Revisionsgründe – vom Niedergang der Formenstrenge Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Kurze Geschichte der absoluten Revisionsgründe III. Weitere gesetzliche Entwicklung IV. Praxis der Einschränkung der absoluten Revisionsgründe 1. Wiedereinführung der Ursächlichkeit 2. Notwendige Abgrenzungen a) Gesetzesverletzung b) Verletzung eigenen Rechts 3. Ursächlichkeit „in abstracto“
4. „Wesentlicher Teil“ der Hauptverhandlung 5. Regelungsgehalt von § 338 Nr. 8 StPO 6. Denkgesetzlicher Ausschluss 7. Abwägungslehre 8. Relativierung des Anwesenheitsrechts 9. Besetzungsrüge 10. Verwirkung absoluter Revisionsgründe V. Ergebnis VI. Ausblick
I. Einleitung In einer grundlegenden Abhandlung aus dem Jahre 19761 hat der verehrte Kollege Dahs den Begriff der „Relativierung“ absoluter Revisionsgründe geprägt und als Erster die bedenkliche Rechtsprechung, namentlich die des Bundesgerichtshofs, zur Einschränkung der absoluten Revisionsgründe des § 3382 aufgezeigt und systematisiert. In nach gerade prophetischer Vorausschau der zukünftigen Entwicklung dieser Rechtsprechung stellt er fest, der Bundesgerichtshof habe sich nicht nur durch die Anwendung des Willkürprinzips auf die Rüge der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts (auch) im voll durchnormierten Bereich die Möglichkeit einer Einschränkung auch bei einigen anderen absoluten Revisionsgründen geschaffen. Dieser habe vielmehr bei einem weiteren Teil „ohnehin“ – auf anderen Wegen – die „Relativierung“ eingeleitet3. Letztlich erfasse diese Rechtsprechung alle absoluten Revisionsgründe, soweit diese nur von ihrer inhaltlichen Ausgestaltung her überhaupt einer „Relativierung“ zugänglich seien; dies gelte für die Nrn. 1 bis 3, 4, 5 und 64.
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Die Relativierung absoluter Revisionsgründe, GA 1976, 353. §§ ohne Gesetzesangabe sind solche der StPO. (Fn. 1), 357. (Fn. 1), 355 f.
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Die tatsächliche Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat diese vor nahezu drei Jahrzehnten geäußerte Besorgnis in vollem Umfang bestätigt.
II. Kurze Geschichte der absoluten Revisionsgründe Die grundlegende Norm des Revisionsrechts im deutschen Strafprozess ist § 337. Danach kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruht. Der Gesetzgeber unterscheidet hier nicht zwischen Verstößen gegen materielle Rechtsnormen und solche gegen Verfahrensnormen. In § 338, der Vorschrift über die sog. absoluten Revisionsgründe, hebt der Gesetzgeber eine Reihe von Verfahrensvorschriften aus der Gruppe sämtlicher das Strafverfahren regelnden Normen heraus. Er ordnet hier an, bei einem Verstoß gegen diese Bestimmungen sei das Urteil als „stets auf der Verletzung beruhend anzusehen“. Der Einfluss des Verfahrensfehlers auf das Urteil wird dabei unterstellt, wobei dies nach h. M. für die Nrn. 1 bis 6, 8 im Wege einer unwiderleglichen Vermutung und für die Nr. 7 einer Fiktion geschieht5. Eine Prüfung, ob der Verstoß tatsächlich oder auch nur möglicherweise den Urteilsinhalt beeinflusst hat, findet nicht statt. Nach dem eindeutigen und keiner anderen Auslegung zugänglichen Wortlaut des Gesetzes hat es mit der Feststellung des Verstoßes (Rechtsfehlers), der per Legaldefinition in der nicht richtigen Anwendung des Gesetzes besteht, sein Bewenden. Die Urteilsaufhebung ist zwingende Folge. Damit – so schien es jedenfalls – war das Rechtsinstitut der absoluten Revisionsgründe hinreichend abgesichert, und nur dem Gesetzgeber selbst würde es möglich sein, die zwingend notwendige Folge der Urteilsaufhebung bei einem Verstoß gegen die durch die absoluten Revisionsgründe geschützten Verfahrensnormen zu beseitigen. Alle Versuche der Einschränkung der Revisibilität von Verfahrensverstößen – wie sie seit Schaffung der Reichsjustizgesetze diskutiert wurden6 – würden von Anfang an erfolglos bleiben. Denn mit der genannten eindeutigen Formulierung wurde ein Zweifaches erreicht: Zunächst wurde der Kreis der revisiblen Normen festgeschrieben, also jener Verfahrensbestimmungen, deren Verletzung die Revision zu begründen geeignet ist. Die im Übrigen im Bereich der Verfahrensrevision schon seinerzeit diskutierten, heute zur Legion gewordenen Ansätze zur Beschränkung der Revisibilität7 mussten angesichts dieser gesetzlichen Eindeutigkeit zum Scheitern verurteilt sein.
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Vgl. statt aller Kuckein, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 5. Aufl., § 338 Rz. 1, 2. Vgl. etwa RG Rspr. 3, 685, zum Begriff der „Ordnungsvorschrift“. Als besonders gravierende Beschränkungen sind etwa zu nennen die Begriffe der „Ordnungsvorschrift“ – vgl. dazu RGSt 42, 168; BGHSt 6, 328; 9, 29; 30, 257; 31, 295 (hinsichtlich der fehlenden Belehrung über die Aussagefreiheit ausdrücklich
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Darüber hinaus – und welcher jemals mit dem Revisionsrecht befasste Verteidiger dankte es nicht dem Gesetzgeber! – wurde das Erfordernis der Beruhensprüfung für diesen Bereich abgeschafft. Die Frage, ob eine Auswirkung des Verfahrensmangels auf den Urteilsinhalt auszuschließen und damit die Revision unbegründet sei, stellt sich im Bereich der absoluten Revisionsgründe nicht. Die vielfältigen Versuche, das „Beruhen“ normativ zu definieren8, berührten den Bereich der absoluten Revisionsgründe nicht. Und zusätzlich hat der Gesetzgeber von 1877 auch in den Motiven knapp und bündig und ohne jeden Raum für Zweifel festgehalten: „Gewisse Prozessvorschriften sind, obgleich sie außerhalb jeder Beziehung zu dem materiellen Inhalt des Urteils stehen, dennoch solche, welche die Grundlagen des Verfahrens berühren. Diese Vorschriften sind in den bestehenden deutschen Gesetzgebungen meistens als absolut wesentliche, d. h. als solche bezeichnet, deren Verletzung stets die Nichtigkeit des Verfahrens zur Folge haben soll. Auch der Entwurf musste hinsichtlich der Bestimmungen der gedachten Art jeden Zweifel darüber ausschließen, dass eine Verletzung derselben stets die Aufhebung des Urteils nach sich ziehe, gleichviel, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Verletzung und dem Inhalt des Urteils für möglich zu erachten sei oder nicht. Er schreibt deshalb vor, dass bei gewissen Verletzungen das Urteil stets als auf denselben beruhend anzusehen sei (§ 301).“9
An dieser Begründung fallen insbesondere zwei Formulierungen auf. Zunächst: Es handele sich um Prozessvorschriften, die „außerhalb jeder
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8 9
a. A. BGHSt 25, 325; 38, 214; so immer schon die h. M. im Schrifttum, Übersicht bei Hanack, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., § 337, Rz. 20 – 24; besonders eindrucksvoll Grünwald, Anm. zu BGH JZ 1968, 752); „Rechtskreistheorie“ – vgl. dazu grundlegend BGHSt 11, 213 – GSSt –, dagegen die h. M. im Schrifttum Dahs/ Dahs, Die Revision im Strafprozess, 6. Aufl., Rz. 34; Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl., Rz. 252 f.; Blomeyer, Die Revisibilität von Verfahrensfehlern im Strafprozess (Kausalität und Finalität im Revisionsrecht), JR 1971, 142; Hanack a. a. O. § 337 Rz. 97 m. w. N.; – sowie das Erfordernis eines Verschuldens des Gerichts – vgl. dazu BGHSt 21, 74; 22, 301; BGH bei Hilger, NStZ 1983, 341 f.; dagegen Dahs (Fn. 1), 356; Beulke, Strafprozessrecht, 6. Aufl., Rz. 376, 380, 400; eingehend Mehle, Einschränkende Tendenzen im Bereich der absoluten Revisionsgründe (§ 338 StPO), 1981, 147 ff.; Beck, Anm. zu BGH NJW 1966, 1576, NJW 1966, 1976; – oder eines rechtzeitigen „Widerspruchs“ gegen die Verwertung eines rechtswidrig gewonnenen Beweises – vgl. dazu BGHSt 26, 332; 38, 214, 226; 39, 349, 352; BGH StV 1996, 187, 189; dagegen Widmaier, Mitwirkungspflicht des Verteidigers in der Hauptverhandlung und Rügeverlust (?), NStZ 1992, 519; Maul/Eschelbach, Zur „Widerspruchslösung“ von Beweisverwertungsproblemen in der Rechtsprechung, StraFo 1996, 66; Beulke, Muss die Polizei dem Beschuldigten vor der Vernehmung „Erste Hilfe“ bei der Verteidigerkonsultation leisten?, NStZ 1996, 257, 262; oder die „Verwirkung“ von Verfahrensrügen, vgl. dazu grundlegend Schmid, Die Verwirkung von Verfahrensrügen im Strafprozess (1967). Vgl. dazu Frisch, Inhalt und Hintergrund des „Beruhens“ im Revisionsrecht“, in: Festschrift für Rudolphi, 2004, 609 ff. Hahn, Die gesammten Materialien zur Strafprozessordnung und dem Einführungsgesetz zu derselben vom 1. 2. 1877, 1. Abt., 2. Aufl. 1885; 2. Abt., 2. Aufl. 1886, Motive 133.
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Beziehung zum materiellen Inhalt des Urteils stehen“. Damit wird die Bedeutung einer Verletzung dieser Normen gerade nicht in der möglichen Auswirkung auf das Urteil erblickt. Vielmehr kommt hier schon unzweifelhaft zum Ausdruck, dass die genannten Vorschriften als „Grundlagen des Verfahrens“, also als solche zu werten seien, die das Verfahren überhaupt erst legitimieren. Bei ihrer Verletzung sei das Urteil stets aufzuheben. In der Abkehr vom ursächlichen Zusammenhang zwischen Verfahrensfehler und Urteil liegt nicht etwa ein Versehen. Dies lässt sich zunächst mit der an Eindeutigkeit nicht zu überbietenden Formulierung in der Sache belegen. Zusätzlich aber ergibt sich dies auch durch den ausdrücklichen Bezug auf die Partikulargesetzgebungen. Diese zeichneten sich durchweg dadurch aus, dass dort die als wesentlich bezeichneten Verfahrensnormen gerade nicht in Bezug zum Urteil, sondern nur in ihrer grundlegenden Bedeutung für das Verfahren gesehen wurden10. Sodann: Der zitierte Auszug aus den Motiven endet mit der Begründung des vorgeschlagenen – und insoweit auch Gesetz gewordenen – Wortlauts. Gerade und nur weil es auf eine auch nur denkmögliche Auswirkung des Fehlers auf den materiellen Inhalt des Urteils nicht ankomme, vielmehr wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Normen für das Verfahren stets die Aufhebung geboten sei, schreibe der Entwurf „deshalb“ vor, dass bei den nämlichen Gesetzesverletzungen das Urteil „stets als auf demselben beruhend anzusehen sei“. Selten in der Gesetzgebung finden wir eine solche unzweifelhafte und umfassende Konkordanz zwischen den Motiven und dem Gesetzeswortlaut vor. Der Gesetzgeber löst die enumerativ aufgezählten Verfahrensmängel vollständig von deren möglichem Einfluss auf das Urteil. Diese grundsätzliche Bewertung der absoluten Revisionsgründe, deren Bedeutung in ihrer das Verfahren als solches legitimierenden Wirkung gesehen wurde, erfuhr auch im Laufe der Gesetzesberatungen keine Änderung. So fasste in der Kommissionsberatung ein Abgeordneter die Meinung dahin zusammen „dass zwischen denjenigen Fällen, wo die Gerechtigkeit feste Formen für jeden verlange, wo es sich um die formalia essentialia processus handele, und zwischen denjenigen Fällen unterschieden werden müsse, wo nur eine zu Gunsten und zum Schutz der Anklage des Angeklagten getroffene Vorschrift in Frage komme“11.
Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass der Wortlaut des Gesetzes, seine ratio und seine Entstehungsgeschichte nur die eine Auslegung zulassen, wonach bei Verletzung der durch die absoluten Revisionsgründe aus der Masse der Verfahrensnormen herausgehobenen Vorschriften Grund für die Aufhebung des Urteils nicht der (auch in einem solchen Fall mögliche und denkbare) Einfluss der Gesetzesverletzung auf das Urteil ist. Vielmehr ist es
__________ 10 Vgl. dazu näher Mehle (Fn. 7), 68 ff. 11 Hahn (Fn. 9) I, 1032.
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die Unzulänglichkeit der Grundlage des Verfahrens selbst, die die Aufhebung rechtfertigt12. Der zitierten Begründung im Entwurf ist in keinem Stadium der Gesetzesberatung widersprochen worden. Die Begründung als ratio der so gewählten Gesetzesfassung wurde vielmehr ausdrücklich bestätigt.
III. Weitere gesetzliche Entwicklung Ein kurzer Blick auf die weitere gesetzliche Entwicklung: Die absoluten Revisionsgründe des heutigen § 338 sind trotz vielfacher Angriffe, die darauf abzielten, sie entweder gänzlich als Institut abzuschaffen oder ihren Bereich entscheidend einzuengen13, nahezu unverändert Gesetz geblieben. Eine Erweiterung haben sie durch das 1. Strafverfahrensreformgesetz von 197414 dahin erfahren, dass gem. § 338 Nr. 7 nicht nurmehr das Fehlen der Entscheidungsgründe zwingender Aufhebungsgrund sein sollte. Die gleiche Rechtsfolge trat nunmehr auch bei Überschreitung der gleichzeitig neu und zwingend vorgeschriebenen Fristen des § 275 für das Verbringen des Urteils mit Gründen zu den Akten ein. Ratio dieser Ergänzung des § 338 Nr. 7 war, dass die bloße Einführung zwingender Vorschriften für die schriftliche Absetzung der Urteilsgründe nicht vermocht hätte, den nötigen Zwang auszuüben, um den Normadressaten, das Gericht, zur Einhaltung der Vorschrift zu bewegen. Schließlich ist durch das Strafverfahrensänderungsgesetz von 197815 für die erstinstanzlichen Landgerichts- und OLG-Sachen eine Rügepräklusion eingeführt worden. Es war einmütige Meinung, dass diese Rügepräklusion grundsätzlich nichts am Institut der absoluten Revisionsgründe ändern sollte16. Sie sei also nicht etwa als Abkehr von den Grundsätzen zu sehen, die den historischen Gesetzgeber zu ihrer Einführung bewogen hätten, nämlich den besonderen prozessualen Schutz grundlegender Verfahrensnormen. Insbesondere bedeute sie nicht etwa eine Hinwendung zu einer Anerkennung des im Rahmen der relativen Revision, § 337, umstrittenen Problems der Verwirkung von Verfahrensrechten17.
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12 Ullmann, Lehrbuch des deutschen Strafproceßrechts (1893) 603, 604; von Schwarze, Commentar zur deutschen Strafproceßordnung (1878) § 377 Anm. 1. 13 Vgl. dazu beispielhaft Schwinge, Die Fortbildung des Revisionsrechts durch die Rechtsprechung des Reichgerichts, JW 1938, 767; Schäfer, Die Stellung der Revision im künftigen Strafverfahren, in: Festschrift für Schlegelberger (1936), 139; Cramer, Zur Berechtigung absoluter Revisionsgründe in: Festschrift für Karl Peters (1974), 239; Miebach, Der Ausschluss der Öffentlichkeit im Strafverfahren, DRiZ 1977, 271. 14 BGBl. I 3393, 3533. 15 BGBl. I 1645. 16 Vgl. dazu Riedel, Zur geplanten Einführung der vorgezogenen Besetzungsrüge im Strafverfahren, JZ 1978, 374; Müller, Gesetzgeberische Maßnahmen auf dem Gebiete des § 338 Nr. 1 StPO, JR 1978, 361; Rieß, Die Besetzungsrüge in Strafsachen in der neuen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, DRiZ 1977, 289. 17 Nachweise vgl. Fn. 7.
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Auch der Bundesgerichtshof hat – allerdings in einer vereinzelt gebliebenen Entscheidung – die Wichtigkeit der absoluten Revisionsgründe für den Schutz grundlegender prozessualer Normen postuliert. Für den Öffentlichkeitsgrundsatz trifft er die Feststellung, dessen hohe Bedeutung für den Strafprozess komme gerade darin zum Ausdruck, dass seine Verletzung einen absoluten Revisionsgrund darstelle18. Analysiert man die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den absoluten Revisionsgründen, namentlich auch zu § 338 Nr. 6, wird deutlich, dass von einer „hohen Bedeutung“ der durch § 338 geschützten Prozessmaximen nur noch wenig geblieben ist.
IV. Praxis der Einschränkung der absoluten Revisionsgründe Der Blick auf die historische Entwicklung der absoluten Revisionsgründe war erforderlich um zu zeigen, welche Diskrepanz zwischen den eindeutigen gesetzlichen Vorgaben und der durch die Rechtsprechung geschaffenen Rechtswirklichkeit entstanden ist. Die schon in Ansätzen von der reichsgerichtlichen Rechtsprechung begonnenen19, namentlich aber durch den Bundesgerichtshof ausgeweiteten Einschränkungen der absoluten Revisionsgründe erscheinen durchweg als „contra legem“ erfolgt. Diese Wertung gilt jedenfalls für den Bereich, wo die Einschränkung nicht an der Auslegung der den einzelnen absoluten Revisionsgründen zu Grunde liegenden Verfahrensnormen ansetzt. Allen zu beanstandenden Ansätzen ist zu Eigen, dass es als misslich beklagt wird, ein nach Aktenlage „offenbar richtiges“ Urteil, oder ein solches, auf dessen Inhalt der Verfahrensverstoß erkennbar keinen Einfluss gehabt haben könne, aufheben zu müssen20. Einige dieser „generellen“ Einschränkungen des Bereichs der absoluten Revisionsgründe durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind hier vorzustellen. Gerade im direkten Vergleich zum Gesetzeswortlaut, zur ratio des § 338 und auch zu seiner Entstehungsgeschichte zeigt sich die Unvereinbarkeit dieser Rechtsprechung mit den gesetzlichen Vorgaben. Empfindet man die Aufhebung eines nach Aktenlage „offenbar richtigen“ Urteils als misslich – wobei zu fragen bleibt, welcher Erkenntnismaßstab bei dieser Richtigkeitsbewertung angesetzt wird –, so mag man an den Gesetzgeber appellieren, hier Abhilfe zu schaffen. Eine Korrektur durch den Richter ist untersagt.
__________ 18 BGHSt 28, 341, 344. 19 Vgl. etwa RGSt 2, 301; 23, 218; 43, 188, zum Verschuldenserfordernis bei der Verletzung der Öffentlichkeitsvorschriften (§ 338 Nr. 6). 20 Besonders eindrucksvoll BGHSt 45, 117; vgl. dazu unten IV. 7.
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1. Wiedereinführung der Ursächlichkeit Der Ansatz, der im Ergebnis nahezu allen systematischen Einschränkungen der absoluten Revisionsgründe zu Grunde liegt, wie sie in der Rechtsprechung vorgenommen werden, erfolgt über eine mehr oder minder offene Wiedereinführung der Frage nach der Ursächlichkeit zwischen Verfahrensverstoß und Urteilsinhalt. Zwar wird als Ausgangspunkt die grundlegende Besonderheit der Verfahrensverletzungen, wie sie in § 338 normiert sind, allgemein – und ausdrücklich auch von der Rechtsprechung – akzeptiert. Das Revisionsgericht solle der Notwendigkeit enthoben werden, die Beruhensfrage zu prüfen21. Diese Feststellung wird aber sogleich wieder dahin eingeschränkt, das Urteil sei dann nicht aufzuheben, wenn „denkgesetzlich ausgeschlossen“ werden könne, dass das Urteil zum Nachteil des Beschwerdeführers vom Verfahrensmangel beeinflusst worden sei22. Gerade ein solcher Ansatz muss durchgreifenden Bedenken begegnen. Denn hier wird augenscheinlich die entscheidende Differenzierung zwischen § 338 und § 337 gegen den Wortlaut des § 338 für einen Teilbereich wieder in Frage gestellt. Zwar wird eine „konkrete“ Beruhensmöglichkeit nicht gefordert. Jedoch müsse der kausale Zusammenhang als ein „überhaupt denkbarer“ bestehen. Diese Differenzierung zwischen lediglich „denkgesetzlicher Möglichkeit“ einer ursächlichen Verknüpfung zwischen Verfahrensfehler und Urteil auf der einen Seite und auf der anderen Seite eine Auswirkung des Verstoßes auf den Urteilsinhalt „in concreto“, birgt schon von ihrem unpräzisen Ansatz her die Gefahr in sich, die Grenzziehung könne sich je nach Bedarf im Einzelfall beliebig zu Lasten der absoluten Revisionsgründe verschieben. Die neueste Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat diese Gefahr Wirklichkeit werden lassen. 2. Notwendige Abgrenzungen Um der so kritisierten Rechtsprechung nur das anzulasten, was ihr in der Tat systematisch vorwerfbar ist, sind zunächst Fallgestaltungen auszuscheiden, die in der Sache das Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes mit einer anderen Erwägung als der des denkgesetzlichen Ausschlusses zwischen Verfahrensfehler und Urteilsinhalt stützen.
__________ 21 RGSt 44, 345; BGH VRS 35, 132. 22 Vgl. BGHSt 10, 199; BGH NJW 1962, 261; BGH NJW 1977, 443; BGH StV 1996, 133; BGH StraFo 2003, 134; BGH NStZ-RR 2002, 102. So auch z. T. das Schrifttum Kuckein (Fn. 5), Rz. 6; Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl., § 338 Rz. 1; a. A. Weiler, Die Beeinträchtigung der Verteidigung durch Gerichtsbeschluss als Revisionsgrund, NStZ 1999, 105, 107; Mehle (Fn. 7), 38 ff., 51 ff., 74 ff.
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a) Gesetzesverletzung Zunächst ist gegen die Entscheidungen nichts zu erinnern, die Verstöße gegen die die Gerichtsbesetzung regelnden Vorschriften nicht sanktioniert haben, weil sich diese Verstöße nicht auf die tatsächliche Besetzung der Richterbank ausgewirkt hatten. Im Schrifttum23 wird fehlerhaft die Entscheidung des 3. Strafsenats aus dem Jahre 197724 als Beleg für die These vom „denkgesetzlichen Zusammenhang“ herangezogen. Hier hatte der BGH den Fall zu entscheiden, dass eine Hilfsschöffin fehlerhaft von ihrer Pflicht zum Erscheinen entbunden worden war. Das vorgelegte Attest nahm nur pauschal auf „gesundheitliche Gründe“ Bezug. Noch während der gegen den Revisionsführer laufenden Hauptverhandlung wurde die Schöffin dann auf Grund der Vorlage eines weiteren ärztlichen Attestes mit konkreter Angabe der gesundheitlichen Schäden von der Schöffenliste gestrichen. Hierzu der Senat: „Die Schöffin hätte auch dann von der Teilnahme an der Verhandlung gegen den Angeklagten entbunden werden müssen, wenn man der Art der summarisch vorgebrachten Hinderungsgründe nachgegangen wäre. Der Berücksichtigung dieses Umstandes steht nicht entgegen, dass es sich in § 338 Nr. 1 StPO um einen absoluten Revisionsgrund handelt. Damit wird nämlich nicht das Beruhen des Urteils auf einem etwaigen Verfahrensfehler verneint, sondern nur das Beruhen der Befreiung der Schöffin. An deren Stelle wäre auf jeden Fall der nächstberufene Schöffe getreten.“
In den nämlichen Sachzusammenhang fällt die Entscheidung des 1. Strafsenats vom 28. 11. 195825, soweit sie die Verwerfung der auf § 338 Nr. 1 gestützten Revision zusätzlich damit begründet, es könne angesichts der vorliegenden Einstimmigkeit ausgeschlossen werden, dass der den fraglichen Strafkammervorsitz regelnde Beschluss des – objektiv fehlerhaft gebildeten – Präsidiums anders ausgefallen wäre, wenn an Stelle der zugewählten Direktoren zwei Landgerichtsräte gestimmt hätten26. Die grundsätzliche Bedeutung dieser Entscheidung liegt in der Fortführung der in BGHSt 11, 206 begonnenen Rechtsprechung zum Rügeausschluss nach § 338 Nr. 1 bei „irriger, aber vertretbarer“ Auslegung einer die Besetzung des Präsidiums regelnden Bestimmung27. Schließlich ist auf eine Entscheidung des 1. Strafsenats aus dem Jahre 1952 hinzuweisen28, wonach auch im Rahmen eines absoluten Revisionsgrundes es nicht auf die Fehlerhaftigkeit im „procedere“ ankomme, wenn nur auch bei ordnungsgemäßem Vorgehen eine andere Besetzung der Richterbank nicht zu verzeichnen wäre.
__________ 23 24 25 26 27 28
Für viele Kuckein (Fn. 5), Rz. 5. BGH NJW 1977, 443. BGHSt 12, 227, 232, 235. BGH a. a. O. 235. Dazu näher unten IV. 9. BGH NJW 1952, 1987.
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Die Zitate machen deutlich, dass der Bundesgerichtshof hier gerade nicht darauf abstellt, es sei denkgesetzlich ausgeschlossen, dass der Verfahrensmangel das Urteil beeinflusst haben könne. Die Kausalitätserwägungen setzen bereits bei der Frage ein, ob durch fehlerhaftes Vorgehen bei der Richterauswahl eine nicht vorschriftsmäßige Besetzung bewirkt wurde, und verneinen dies. Damit wird bereits das Vorliegen einer Gesetzesverletzung i. S. v. § 338 verneint. Mangels einer solchen stellt sich dann die weitere Frage nicht mehr, ob denkgesetzlich ausgeschlossen werden könne, der Fehler im „procedere“ habe das Urteil beeinflusst. b) Verletzung eigenen Rechts Auch die Behandlung von Verfahrensverstößen gegen Mitangeklagte sind von der hier geübten Kritik auszunehmen. Betroffen sind hier etwa nicht öffentliche Zeugenaussagen, wenn sie den der Revisionsführer nicht berühren29, eine nicht öffentliche Verhandlung gegen Jugendliche und Heranwachsende oder Erwachsene, wenn der Revisionsführer Jugendlicher ist30, die unrechtmäßige Ablehnung eines Ablehnungsgesuchs gegen einen Richter, wenn nur ein anderer Angeklagter das Gesuch gestellt hat31, die unzulässige Abwesenheit eines Mitangeklagten32. Diesen Fällen ist gemeinsam, dass die Verfahrensverstöße sich nicht gegen den Betroffenen selbst, sondern gegen andere Beteiligte richten. Der Anspruch des Angeklagten auf Öffentlichkeit der Hauptverhandlung ist durch eine nicht öffentliche Zeugenaussage dann nicht verletzt, wenn sich diese Aussage auf einen den Angeklagten nicht berührenden abtrennbaren Vorgang bezieht. Denn der Angeklagte hat nur einen Anspruch darauf, dass seine Sache öffentlich verhandelt wird. Ebenso eindeutig fehlt es schon an der Gesetzesverletzung, nicht erst an einem denkmöglichen Zusammenhang zwischen Verfahrensverstoß und Urteil in den anderen genannten Fällen. Tragend ist allen gemeinsam die Erwägung, jedenfalls gegenüber dem Beschwerdeführer sei nicht i. S. d. § 338 vorschriftswidrig verfahren worden. Dagegen ist nichts zu erinnern. Auch im Bereich der absoluten Revisionsgründe muss in die den Betroffenen selbst gewährten Rechte eingegriffen sein33. 3. Ursächlichkeit „in abstracto“ Als Fallgruppen, bei denen im Ergebnis die Notwendigkeit der Urteilsaufhebung mit der Begründung verneint wird, die Auswirkung des Verfahrens-
__________ 29 30 31 32 33
BGH NJW 1962, 261. BGHSt 10, 119. BGH bei Dallinger, MDR 1973, 730. RG JW 1924, 1250. RGSt 62, 259, 261.
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mangels auf das Urteil könne denkgesetzlich ausgeschlossen werden, verbleiben demnach –
Verfahrensverstöße nach Verkündung des Urteilstenors34; der Entscheidung liegt eine kaum nachvollziehbare Verfahrenswirklichkeit zu Grunde: Die Urteilsverkündung spielte sich in der Weise ab, dass die Dolmetscherin zunächst abschnittsweise übersetzte. Dann wurde sie vom Vorsitzenden gebeten, sich die Urteilsverkündung insgesamt anzuhören, um anschließend die Übertragung für den Angeklagten vorzunehmen. So wurde auch verfahren. Während der Übertragung in die chinesische Sprache entfernten sich sämtliche Richter und der Staatsanwalt aus dem Sitzungssaal, kamen jedoch später wieder zurück. Der erste Strafsenat hat in seiner Entscheidung die Revision sowohl hinsichtlich der Nr. 5 als auch der Nr. 1 von § 338 für nicht begründet erachtet. Die Eröffnung der mündlichen Urteilsgründe sei für den Urteilsspruch nicht wesentlich. Im Übrigen sei das Beruhen auf der Abwesenheit auszuschließen, weil die Gesetzesverletzung der Urteilsfindung erst nachfolge35;
–
Teilweise Abwesenheit des Verteidigers oder Nichtbestellung bei notwendiger Verteidigung, wenn während dieses Zeitraums abtrennbare Vorgänge erörtert werden, die ausschließlich einen Mitangeklagten betreffen36;
–
Abwesenheit des Verteidigers bei notwendiger Verteidigung, soweit der Verfahrensverstoß zeitlich auf einen abtrennbaren Teil der Hauptverhandlung beschränkt war, hinsichtlich der davon nicht betroffenen Entscheidungsteile37;
–
Abwesenheit des Angeklagten während der Vernehmung eines Sachverständigen, sofern diese Vernehmung sich auf einen abtrennbaren Teil der Hauptverhandlung bezog, hinsichtlich der von dieser Vernehmung nicht betroffenen Entscheidungsteile38;
–
Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz nur während eines abtrennbaren Teils der Hauptverhandlung, hinsichtlich der Entscheidungsteile, auf die sich der Gesetzesverstoß „denkgesetzlich“ nicht auswirken konnte39.
__________ 34 Vgl. dazu BGHR, StPO § 338 Nr. 1 „Gericht 1 – Anwesenheit bei Urteilsübersetzung“. 35 Vgl. dazu auch BGHSt 8, 41; 15, 263. 36 BGHSt 21, 180. 37 RGSt 44, 16, 19. 38 RGSt 69, 253, 256. 39 BGH StV 1981, 3; BGH NJW 1996, 138 (rechtswidriger Ausschluss der Öffentlichkeit bei Hinweis nach § 265 und später hierauf bezogene Einstellung gem. § 154a); BGH StV 2000, 248 m. Anm. Ventzke (Hinweis nach § 265 auf veränderte Tatzeit).
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Diesen Fallgruppen ist gemeinsam, dass sich die Einschränkung der absoluten Revisionsgründe nicht wie in den ausgeschiedenen Fallgruppen damit begründen lässt, der Angeklagte sei nicht in seinen Rechten verletzt. Denn das Anwesenheitsrecht des Angeklagten oder seines Verteidigers erstreckt sich auf die gesamte Hauptverhandlung. Daraus resultiert die Pflicht des Gerichts, für diese Anwesenheit zu sorgen. Die Hauptverhandlung als solche dauert so lange, wie sie nicht endet, ausgesetzt, unterbrochen oder das Verfahren gegen einen Angeklagten abgetrennt ist. Als materieller Grund für die Nichtaufhebung des Urteils bleibt damit im Ergebnis bei allen genannten Fallgestaltungen nur eine im Ergebnis darauf hinauslaufende Prüfung, ob sich „in abstracto“ der Verfahrensverstoß auf das Urteil ausgewirkt haben könne, was in den genannten Fallkonstellationen verneint wird40. 4. „Wesentlicher Teil“ der Hauptverhandlung Eine weitere Fallgruppe lässt die unzulässige „Relativierung“ der absoluten Revisionsgründe, d. h. ihre Rückführung auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Verfahrensverstoß und Urteilsinhalt, noch deutlicher aufscheinen. Diese Fallgruppe zeichnet sich dadurch aus, dass der Bundesgerichtshof – in nunmehr ständiger Rechtsprechung – den Verstoß gegen die von § 338 StPO geschützten zwingenden Verfahrensnormen nur dann als erheblich ansieht, wenn dieser Verfahrensverstoß sich auf einen so bezeichneten „wesentlichen Teil“ der Hauptverhandlung bezog41. Diese Einschränkung gilt sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sowohl hinsichtlich der Nr. 1 – unvorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts – als auch hinsichtlich der Nrn. 5 und 6, durchgängige Anwesenheit notwendiger Verfahrensbeteiligter und Öffentlichkeitsgrundsatz. Auch diese Rechtsprechung ist eine klare Abkehr vom eindeutigen Gesetz. Ein „unwesentlicher Verfahrensteil“ – was immer unter diesem Begriff verstanden werden mag, auch nur annähernd exakte Konkretisierungen durch die Rechtsprechung fehlen – ist gleichfalls Teil der Hauptverhandlung. Dies ergibt sich aus dem Gesetz. Nach § 243 Abs. 1 S. 1 beginnt die Hauptverhandlung mit dem Aufruf der Sache. Sie schließt mit der auf die Beratung folgenden Verkündung des Urteils, nicht etwa nur des Urteilstenors, § 260 Abs. 1 StPO.
__________ 40 Dazu grundlegend RGSt 29, 294, 297, 299; Widmaier, Wohin entwickeln sich die absoluten Revisionsgründe?, in: Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege (1991), 76, 84, 87, prägt hierzu den Begriff der „gegenstandsbezogenen Betroffenheitsprüfung“. 41 BGHSt 26, 91; BGH, GA 1963; 19; BGH, NStZ 1983, 36; BGH, bei Holtz MDR 1978, 460; 1983, 92; BGH, bei Hilger NStZ 1983, 34; BGH, bei Pfeiffer/Miebach NStZ 1987, 16; zustimmend Kuckein (Fn. 5), Rz. 70; Meyer-Goßner (Fn. 22), Rz. 36; a. A. Hanack (Fn. 7), § 338 Rz. 84; Sarstedt/Hamm (Fn. 7), Rz. 379; Mehle (Fn. 7), 138 ff.
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5. Regelungsgehalt von § 338 Nr. 8 StPO Neben den angesprochenen grundsätzlichen Bedenken gegen eine derartige Rechtsprechung, die in besonderem Maße die absoluten Revisionsgründe „relativiert“, spricht zwingend eine systematische Betrachtung gegen die genannten Einschränkungen durch die Rechtsprechung: Die Regelung des § 338 Nr. 7 StPO erklärt einen nachträglichen Beurkundungsmangel zum absoluten Revisionsgrund. Ein derartiger Beurkundungsmangel kann sich aber auch rein denkgesetzlich nicht auf das Urteil ausgewirkt haben, eben weil er der Urteilsverkündung nachfolgt. Die systematische Gesamtbetrachtung der Einzelregelungen des § 338 belegt mithin – zusätzlich –, dass es im Bereich der absoluten Revisionsgründe eine allgemeine Beschränkung im Wege eines „denkgesetzlichen Ausschlusses“ nicht geben kann42. Auch aus § 338 Nr. 8 StPO, wonach die Revision begründet ist, wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluss des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist, lässt sich kein Ansatz für eine „Relativierung“ der absoluten Revisionsgründe unter dem Gesichtspunkt eines denkgesetzlichen Beruhensausschlusses gewinnen. Selbst wenn man zunächst mit der – zu falsifizierenden – Auffassung43 davon ausgeht, bei § 338 Nr. 8 handele es sich um einen relativen Revisionsgrund, weil über den Begriff der Wesentlichkeit eine indirekte Beruhensprüfung wieder eingeführt werde, bedeutet dies allein noch nicht, dass hier ein systematischer Ansatz zur „Relativierung“ sämtlicher absoluten Revisionsgründe gewonnen werden könnte. Denn die Vertreter jener Auffassung betrachten diese Bestimmung als insoweit „systemfremd“; sie hätte § 337 zugeordnet werden müssen44. Im Ergebnis bietet § 338 Nr. 8 sowohl seinem materiellen Inhalt nach als auch hinsichtlich der vom Gesetzgeber intendierten Zweckbestimmung keinen systematischen Ansatz für eine generelle Relativierung der absoluten Revisionsgründe in Form der Annäherung an den den § 337 beherrschenden Grundsatz des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Verfahrensfehler und Urteil. Dabei darf die Nr. 8 nicht nur als formelle Verweisung auf andere prozessuale Normen verstanden werden. Vielmehr ist in ihr ein allgemeiner und umfassender Anspruch auf sachgerechte Verteidigung normiert und damit § 338 als unmittelbar wirksame Norm verstanden worden, soweit nicht das Verteidigungsbedürfnis des Beschuldigten durch eine Einzelbestimmung geschützt ist45. Dieser Bestimmung kommt mithin eine materielle Doppel-
__________ 42 Burgmüller, Das Beruhen des Urteils auf der Gesetzesverletzung als Regulativ, in: Revisionsrecht (1989), 81; Weiler (Fn. 22), 107; Mehle (Fn. 7), 75. 43 BGHSt 30, 131; BGH NStZ 1982, 158; Meyer-Goßner (Fn. 22), § 338 Rz. 58. 44 Vgl. Fn. 42. 45 Schlüchter, Das Strafverfahren, Köln 1981, Rz. 741, 743.
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funktion zu, indem sie einen Anspruch des Beschuldigten auf allumfassende Verteidigung begründet, soweit nicht dieser Schutz durch andere spezielle Normen bereits gewährleistet ist, und zugleich auch die Sanktion einer Verletzung dieses Verteidigungsbedürfnisses aufführt46. Dem entspricht auch die Entstehungsgeschichte der Nr. 8. Sie war im ursprünglichen Entwurf noch nicht enthalten und wurde erst im Bemühen des Gesetzgebers eingeführt, dem Fall vorzubeugen, dass das System der StPO im konkreten Einzelfall bei der Gewährung umfassender Verteidigungsmöglichkeiten eine Lücke aufwies, die sodann über § 338 Nr. 8 zu füllen wäre47. Zunächst enthielt der in der Kommission gestellte Antrag, als weiteren absoluten Revisionsgrund den Fall aufzunehmen, dass „die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt beschränkt worden ist“, das Wort „unzulässig“ noch nicht. Dieser Begriff wurde – wie die Abhängigkeit der Revisionsrüge von einem Gerichtsbeschluss – erst auf Vorschlag eines Regierungsvertreters aufgenommen48. Den Materialien ist an keiner Stelle zu entnehmen, dass die Antragsteller, die mit dem Zusatz des Begriffs „unzulässig“ einverstanden waren49, ihren Vorschlag zur Aufnahme der Nr. 8 dahin qualifiziert wissen wollten, es sei die Verletzung einer bestimmten anderen Verfahrensnorm erforderlich. Denn dann hätte es jedenfalls näher gelegen, auf eine Einfügung der Nr. 8 zu verzichten; sie wäre in der Tat durch § 337 in vollem Umfang abgedeckt und damit inhaltsleer gewesen. Diese Auffassung wird schließlich durch einen Blick auf Art. 108 Nr. 5 des Preußischen Gesetzes vom 3. 5. 185250 gestützt, wonach die wegen Verletzung wesentlicher Vorschriften oder Grundsätzen des Verfahrens vorgesehene Nichtigkeitsbeschwerde dann gegeben war, wenn „unzulässigerweise“ dem Angeklagten die Verteidigung abgeschnitten oder wesentlich beschränkt worden war. Baldus51 zeigt auf, dass diese Vorschrift vom Preußischen Obertribunal nicht dahin interpretiert wurde, es müsse zunächst ein Verstoß gegen andere Vorschriften des Gesetzes vorliegen. Vielmehr wurde in Art. 108 Nr. 5 unmittelbar die Grundlage für die Annahme eines Verfahrensverstoßes gesehen, wenn eine andere einschlägige Vorschrift nicht verletzt war. Auch die Rechtsprechung des Reichsgerichts hat die Bestimmung des § 338 Nr. 8 stets in dem Sinne ausgelegt, die Vorschrift besitze materielle Eigen-
__________ 46 Mehle (Fn. 7), 96. 47 Vgl. dazu Beling (Anm. zur Entscheidung des 3. Strafsenats vom 3. 12. 1925), JW 1926, 1227, der insoweit eine „übertriebene Ängstlichkeit“ des Gesetzgebers annimmt. 48 Hahn (Fn. 9), 1027, 1029, 1416. 49 Hahn (Fn. 9), 1029, 1416. 50 Gesetzes-Sammlung S. 209. 51 Versäumte Gelegenheiten; Zur Auslegung des § 338 Nr. 8 und des § 267 Abs. 1 S. 2 StPO, in: Ehrengabe für Bruno Heusinger (1968), 373.
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ständigkeit. Insbesondere die Entwicklung des Beweisantragsrechts vollzog sich über § 338 Nr. 852. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass § 338 Nr. 8 sowohl von seinem materiellen Gehalt als auch nach seiner Zweckbestimmung keinen systematischen Ansatz für eine vom Gesetzgeber intendierte Annäherung der absoluten Revisionsgründe an die Grundnorm des § 337 bietet. Aber auch die Ausgangsthese ist zu falsifizieren, wonach der Wortlaut von Nr. 8, die Verteidigung müsse in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt eingeschränkt sein, indirekt zur Beruhensprüfung zurückführe. Der Wortlaut zwingt zu einer solchen Annahme nicht. Das Merkmal der Beschränkung in einem „für die Entscheidung wesentlichen Punkt“ lässt sich auch dahin begreifen, die Vorschrift lehne sich nach ihrer ratio an die der Aufgabe der Verteidigung immanente Zweckbestimmung an, nämlich der Verantwortung für eine bestimmte, nach Lage der Dinge nicht nachteilige Entscheidung53. Wenn § 338 Nr. 8 zutreffend als Norm mit eigenem materiellen Gehalt gesehen wird, soweit nicht Einzelvorschriften der Prozessordnung verletzt sind, so ist das Merkmal der Verteidigungsbeschränkung in einem „für die Entscheidung wesentlichen Punkt“ systematisch nicht als – verdeckte – Wiedereinführung der Beruhensprüfung zu begreifen. Es ist vielmehr tatbestandliches Merkmal, das vorliegen muss, damit in dem durch Einzelvorschriften nicht abgedeckten Bereich überhaupt von einer „Verletzung“ einer prozessualen Vorschrift gesprochen werden kann, mithin von einer „Gesetzesverletzung“ i. S. sowohl von § 337 als auch von § 338. Sodann schließt sich der Aufhebungsmechanismus des § 338 erst an, indem eine Beruhensprüfung wie in den übrigen enumerativ aufgeführten Fällen der Nrn. 1 bis 7 ausdrücklich für entbehrlich bezeichnet wird. Wenn festzustellen ist, dass die Verteidigung im konkreten Fall i. S. der genannten zielgerichteten Tätigkeit unzulässig beschränkt wurde, verfällt das Urteil ohne weiteres der Aufhebung. 6. Denkgesetzlicher Ausschluss In der Entscheidung des 4. Strafsenats vom 31. 7. 199254 wird die immer stärker werdende Abkehr des Bundesgerichtshofs vom System der absoluten Revisionsgründe hin zu einem nahezu ausschließlich von Kausalitätserwägungen getragenen Denken besonders deutlich: An einem Fortsetzungstermin nahm statt der beigeordneten Rechtsanwältin eine für diesen Terminstag bestellte Rechtsreferendarin teil, was nach § 142 Abs. 2 nicht zulässig war. An diesem Tage wurde der Strafregisterauszug des Angeklagten verlesen. Der 4. Strafsenat stellte fest, dass der Angeklagte in
__________
52 RGSt 1, 51; 1, 61; 1, 138; 3, 298; 7, 76; RG Rspr. 7, 534; 8, 462; 8, 693; 10, 29. 53 Baldus (Fn. 50), 379; Mehle (Fn. 7), 98 f. 54 BGHR, StPO, § 338, „Beruhen 1, denkgesetzlicher Ausschluss“.
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diesem Termin nicht ordnungsgemäß verteidigt war. Dieser Verfahrensverstoß führe aber nicht zur Aufhebung des Urteils. Mit der These vom „unwesentlichen“ Verhandlungsteil konnte der Senat die Revision nicht verwerfen, denn die Feststellung der Vorstrafen ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein wesentlicher Verhandlungsteil55. War dieser Weg verwehrt, so bot der Rekurs auf die These vom „denkgesetzlichen Ausschluss des Verfahrensfehlers auf den Urteilsinhalt“ den Ausweg. Die Vorstrafen des Angeklagten seien nur bei der Strafzumessung berücksichtigt worden. Ausweislich des Urteilsinhalts habe die Kammer es als strafmildernd bewertet, dass der Angeklagte nicht einschlägig vorbestraft sei. Eine derartige Begründung würde im Übrigen auch im Zusammenhang relativer Revisionsgründe nicht tragen, weil sich daraus ergibt, dass der Tatrichter die Vorstrafen des Angeklagten eben strafschärfend berücksichtigt hat und nur diese Strafschärfung wegen fehlender einschlägiger Vorstrafen relativiert hat. 7. Abwägungslehre Ein weiteres, besonders krasses Beispiel unzulässiger Beschränkung der absoluten Revisionsgründe bietet die Entscheidung des 1. Strafsenats vom 9. 6. 199956 zur Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes. Auch hier wird die zwingend notwendige Konsequenz einer Urteilsaufhebung durch eine Einschränkung der „Absolutheit“ der Verfahrensverstöße des § 338 vermieden. Dabei greift der Senat allerdings nicht auf das weithin verwandte Kriterium des „denkgesetzlichen Ausschlusses“ zurück, sondern gewinnt aus der behaupteten ratio der zu Grunde liegenden Verfahrensnorm Erkenntnisse über die Schwere der geschehenen Rechtsverletzung und gelangt auf diesem Wege zu einer Relativierung des absoluten Revisionsgrundes von § 338 Nr. 6. Betroffen war die Frage, ob der Beschluss, mit dem das Gericht die Öffentlichkeit ausschließt, in jedem Fall zu begründen sei (vgl. § 174 Abs. 1 S. 3 GVG), oder ob hiervon dann eine Ausnahme zu machen sei, wenn für die vorhandene Öffentlichkeit im Gerichtssaal ohne weiteres erkennbar sei, auf welche Prozesshandlungen sich die Ausschließung beziehe und welche Bedeutung diesen Prozesshandlungen zukomme. Bis zu dieser Entscheidung ging die Rechtsprechung aller Strafsenate des Bundesgerichtshofs ausnahmslos davon aus, auf die genaue Bezeichnung im Gerichtsbeschluss dürfe auch dann nicht verzichtet werden, wenn für Verfahrensbeteiligte und Zuhörer der Ausschließungsgrund auf der Hand liege57. Von dieser Rechtsprechung mochte der 1. Strafsenat im Ergebnis nicht abrücken und bejahte daher
__________ 55 Vgl. etwa BGH NJW 1972, 2006. 56 BGHSt 45, 117 = StV 2000, 244 m. Anm. Park = JR 2000, 251 m. Anm. Rieß. 57 BGHSt 1, 334, 335; 3, 344, 345; 27, 117, 118; 30, 298, 301; 38, 248; 41, 145; BGH NJW 1977, 1643; BGH StV 1981, 3; BGH NStZ 1983, 324.
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einen Verstoß gegen die gesetzlich vorgeschriebene Begründungspflicht58. Die zwingend gebotene Konsequenz einer Aufhebung des Urteils gem. § 338 Nr. 6 – auch ein Verstoß gegen die Vorschriften, die das Verfahren über den Ausschluss der Öffentlichkeit regeln bedeutet nach einmütiger Meinung eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes i. S. von § 338 Nr. 659 – zieht der Senat jedoch nicht. Vielmehr gewichtet er den betroffenen Verstoß und wägt ihn – ohne dies allerdings ausdrücklich so darzustellen – gegen die weitreichende Konsequenz einer Urteilsaufhebung ab: „Angesichts des Zwecks der Begründungspflicht nach § 174 Abs. 1 S. 3 GVG ist der Verstoß, der zudem nur das Verfahren über den Ausschluss der Öffentlichkeit betraf und nicht zu deren unzulässiger Beschränkung geführt hat, nicht so schwer, dass deshalb der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO zu bejahen wäre.“60
Deutlicher kann man die Abkehr vom Institut der absoluten Revisionsgründe nicht dokumentieren. Es genügt nicht mehr der festgestellte Gesetzesverstoß, sondern es wird ein zusätzliches, den Geltungsbereich der absoluten Revisionsgründe einschränkendes Kriterium der Abwägung zwischen der Schwere des festgestellten Verstoßes und der sich zwingend daraus ergebenden Konsequenz einer Urteilsaufhebung aufgestellt. Begründbar ist dies, wie die vorstehenden Ausführungen belegt haben, weder nach dem Wortlaut des Gesetzes, noch aus der Entstehungsgeschichte, noch aus der ratio der absoluten Revisionsgründe61. Damit bleibt auch das Institut der absoluten Revisionsgründe, deren Existenz der historische Gesetzgeber hinreichend abgesichert glaubte, nicht von der im Prozessrecht allgemein sich krakenhaft ausbildenden „Abwägungslehre“ verschont, die zwischenzeitlich nahezu jeden Verstoß gegen Verfahrensvorschriften nach seiner Schwere gewichtet und ihn in Relation zur Schwere der verfolgten Straftat setzt62. Gössel63 bringt es in der Besprechung der Entscheidung des 1. Strafsenats auf den Punkt: Das „bekannte Dilemma“ revisionsrichterlicher Überprüfung, ein Urteil trotz seiner unbestreitbaren Übereinstimmung mit der Einzelfallgerechtigkeit aufheben zu müssen, habe der Senat mit Gründen gelöst, die mit dem Gesetz nicht zu vereinbaren seien und zudem im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stünden64.
__________ 58 BGHSt 45, 120. 59 Vgl. dazu die in Fn. 57 zitierte BGH-Rechtsprechung sowie die einmütige Meinung im Schrifttum; vgl. statt aller Hanack (Fn. 7), § 338 Rz. 109, 110 m. w. N. 60 BGHSt 45, 120. 61 Vgl. auch Park (Fn. 56), 246; Ventzke (Fn. 39), 251. 62 Vgl. dazu BGHSt 45, 321; 46, 93, 103; 47, 44; Kutzner, Bemerkungen zur Vereinbarkeit der sog. Strafzumessungs-Lösung des BGH mit den Grundsätzen des Strafzumessungsrechts, StV 2002, 277; Sowada, Zur Notwendigkeit der Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren, NStZ 2005, 1. 63 Über die revisionsrichterliche Nachprüfung von Beschlüssen über den Ausschluss der Öffentlichkeit, NStZ 2000, 181. 64 (Fn. 63), 183.
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8. Relativierung des Anwesenheitsrechts Ein weiteres Beispiel offensichtlicher Abkehr der Rechtsprechung vom Institut der absoluten Revisionsgründe bietet die Entscheidung des 5. Strafsenats vom 8. 2. 200065. Mit dieser Entscheidung schränkt der 5. Strafsenat den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 – Anwesenheit notwendiger Verfahrensbeteiligter – in unerträglicher Weise ein; er schafft ihn – jedenfalls in Teilbereichen – praktisch ab. Die Verletzung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten wird relativer Revisionsgrund. Es muss also die konkrete Möglichkeit bestehen, dass der Verfahrensfehler den Urteilsinhalt zum Nachteil des Beschwerdeführers beeinflusst hat. Der Senat lässt zwar die Rüge vorschriftswidriger Abwesenheit im konkreten Fall wegen nicht hinreichenden Sachvortrages an § 344 Abs. 2 S. 2 scheitern. Die hierzu angestellten Überlegungen belegen aber eindeutig die These von der Abschaffung des absoluten Revisionsgrundes. Die Revision hatte beanstandet, die Verhandlung über die Entlassung des kindlichen Zeugen sei zu Unrecht in Abwesenheit des Angeklagten erfolgt. Der kindliche Zeuge war zunächst in Abwesenheit des Angeklagten befragt worden. Dieser verließ den Sitzungssaal und wurde nach § 247 S. 4 über den wesentlichen Inhalt der Aussage unterrichtet. Danach wurde er in Ausführung des Beschlusses wieder aus dem Sitzungssaal entfernt. Sodann wurde der kindliche Zeuge ergänzend befragt. Anschließend wurde dieser Zeuge nach erneuter Anordnung seiner Nichtvereidigung „im Einverständnis sämtlicher Beteiligter“ entlassen. Im Ergebnis nimmt der Senat an, es sei nach dem gesamten Sachvortrag und auf Grund der übrigen Erkenntnisquellen nicht ausgeschlossen, der Angeklagte habe sein Einverständnis mit der Entlassung „vorab“ erklärt. Danach stehe nicht fest, es sei nach der in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführten ergänzenden Befragung des Kindes überhaupt eine Verhandlung über die danach sofort erfolgte Entlassung erfolgt. Nur in einem solchen Fall komme in Betracht, dass der Angeklagte bei einem wesentlichen, von der Anordnung nach § 247 nicht erfassten Teil der Hauptverhandlung abwesend gewesen sei. Im Übrigen neigt der Senat einem – in unserem Zusammenhang entscheidenden – obiter dictum des 3. Strafsenats zu, das dieser in einer früheren Entscheidung66 geäußert hatte. Danach erwäge der (3.) Senat „unter Berücksichtigung des Zeugen- und Opferschutzes dazu, die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen generell nicht mehr als wesentlichen Teil der Hauptverhandlung anzusehen“, weil es der Anwesenheit des Angeklagten dabei nicht bedürfe, um das Fragerecht zu sichern. Der 5. Strafsenat führt in diesem Zusammenhang weiter aus: Die Abwesenheit des Angeklagten sei daher regelmäßig nicht geeignet, den absoluten Revisionsgrund des § 338
__________ 65 StV 2000, 240. 66 Beschluss v. 8. 4. 1998 = StV 2000, 238.
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Nr. 5 zu begründen. Der prozessuale Vorgang der Entlassung habe eher organisatorischen Charakter; wie die freibeweisliche Vorbereitung einer Beweiserhebung diene er nicht unmittelbar der Urteilsfindung. Als wesentlich seien nur die Beweiserhebungen anzusehen. Eine derartige Auslegung des Verfahrensrechts beschränke nicht etwa das Fragerecht des bei der Verhandlung über die Entlassung abwesenden Angeklagten. Dieser könne ja die erneute Vorladung eines ohne seine Anhörung entlassenen Zeugen zum Zwecke weiterer zulässiger Befragung verlangen. Mit der Revision könne der Angeklagte eine etwaige Versagung dieser Möglichkeit über den „relativen“ Revisionsgrund der Verletzung seines Fragerechts beanstanden. Allein diese Auslegung des Verfahrensrechts erscheine dem Senat angemessen als Lösung von Fragen im Spannungsfeld zwischen gebotener Wahrung aktiver Mitwirkungsbefugnisse des Angeklagten einerseits sowie Zeugen- und Opferschutz im Strafverfahren andererseits. Schon die Prämisse, der Angeklagte könne die erneute Vorladung eines ohne seine Anhörung entlassenen Zeugen zum Zwecke weiterer zulässiger Befragung verlangen, erscheint fehlerhaft. Ein Anspruch auf erneute Anhörung eines entlassenen Zeugen setzt einen entsprechenden Beweisantrag voraus67. Jedem Verteidiger ist die prozessuale Situation gegenwärtig, wonach derartige Anträge in aller Regel mit der Begründung zurückgewiesen werden, der Zeuge habe bereits zu dem benannten Beweisthema bekundet. In unserem Zusammenhang bedeutsamer aber ist die offenkundige Abwertung der absoluten Revisionsgründe hin zu lediglich „relativen“. Die Begründung dieser – gesetzeswidrigen und zudem mit der bis dahin ständigen (im Übrigen auch zu beanstandenden) Rechtsprechung zu den „wesentlichen“ Verfahrensvorgängen68 in Widerspruch stehenden – Auslegung mit Opferschutzerwägungen erreicht eine neue Qualität. 9. Besetzungsrüge Eine Kritik an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den absoluten Revisionsgründen wäre unvollkommen, würde sie sich nicht auch mit deren Thesen zum Ausschluss der Besetzungsrüge bei irriger, aber vertretbarer Rechtsanwendung befassen. Man mag zwar resignierend feststellen, dass diese Rechtsprechung sich seit Jahrzehnten verfestigt habe. Das erhöht gleichwohl nicht ihre Akzeptanz mit Blick auf das geltende Recht. Dabei befasst sich die Kritik nur mit der Fallgestaltung, dass die Revisionsrüge der nicht vorschriftsmäßigen Gerichtsbesetzung unter Berufung auf die zu Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG entwickelten Grundsätze auch für den Bereich eingeschränkt
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67 Allgemeine Meinung, vgl. schon RG JW 1922, 301; RGSt 47, 321; BGHSt 14, 21; 15, 161; 17, 351; für das Schrifttum Gollwitzer, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., § 244 Rz. 133, 351, 352; § 248 Rz. 15. 68 Die die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen zu den „wesentlichen“ Verfahrensvorgängen rechnet, vgl. BGH (2. Strafsenat) StV 2000, 238.
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wird, der durch gesetzliche Bestimmungen bindend geregelt ist, also im sog. „durchnormierten“ Bereich69. Geht man vom Wortlaut des § 338 Nr. 1 aus, so knüpft diese Vorschrift – wie die anderen absoluten Revisionsgründe – an objektiv-abstrakte Kriterien an, aus denen sich der Gesetzesverstoß ergeben muss. Dahs70 weist in seiner bereits erwähnten grundlegenden Abhandlung aus dem Jahre 1976 zutreffend darauf hin, von daher sei kein Anhaltspunkt zu finden, es komme nach dem Willen des Gesetzgebers entscheidend darauf an, auf welche Weise der Gesetzesverstoß zustande gekommen sei, ob irrtümlich-fahrlässig, bewusstvorsätzlich oder gänzlich unverschuldet. Wenn das Gesetz lediglich den objektiven Zustand der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung verlange, so werde allein auf das Ergebnis abgestellt, dass sich aus einem Vergleich der Besetzungen bei sachlich richtiger Anwendung und bei fehlerhafter Gesetzesauslegung ergebe. Gerade der Vergleich zur Verfassungsnorm des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG stützt diese Auffassung. Während § 338 Nr. 1 lediglich vom Ergebnis einer unter objektiver Verletzung von Verfahrensvorschriften zustande gekommenen Besetzung des Gerichts spricht, stellt die Grundgesetznorm darauf ab, dass niemand seinem gesetzlichen Richter „entzogen“ werden dürfe. Wie Dahs71 zutreffend hervorhebt, liegt dem Begriff des „Entziehens“ ein Sprachund Sinngehalt zu Grunde, der ein zielgerichtetes Eingreifen darlegt. Bestätigt wird diese Überlegung von der Zielsetzung der Verfassungsbestimmung, die nicht von ihrem geschichtlichen Zusammenhang getrennt werden kann. Danach sollte sie ursprünglich gegen Eingriffe der staatlichen Exekutive in die Justiz schützen72. Der von einem Strafverfahren betroffene Bürger darf nicht vor ein anderes Gericht gestellt werden als das nach Gesetz für ihn zuständige. Und dieses Gericht darf nicht mit anderen als den abstrakt nach dem Gesetz bestimmten Richtern besetzt sein. Von daher mag es gut vertretbar erscheinen, dass das Bundesverfassungsgericht die sachliche Unvertretbarkeit der Gerichtsbesetzung als objektives Kriterium zur Ausfüllung des Willkürbegriffs, also als Ausdruck sachfremder Erwägungen herangezogen hat73. Auf die Besetzungsrüge übertragbar sind diese Überlegungen jedoch nicht. Sie wären es nur, wenn beide Normen deckungsgleich wären. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht zu keiner Zeit angenommen. Gegen eine solche Identität der Norminhalte spricht auch die Überlegung, dass das Bundesverfassungsgericht sodann für Besetzungsrügen die Stellung eines
__________ 69 70 71 72 73
Vgl. BGHSt 11, 206; 12, 227; BGH StV 1987, 93. (Fn. 1), 358. (Fn. 1), 357. Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 22) § 169 GVG Rz. 1. BVerfGE 29, 49.
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„Superrevisionsgerichts“74 erhalten würde, weil ihm eben wegen dieser Gleichsetzung kein eigener Bereich der Rechtsfindung verbliebe. Auch die von Rieß75 vorsichtig entwickelte Rechtfertigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs76 erweist sich im Ergebnis als nicht tragfähig. Rieß sieht generell in der Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften, die vom Gesetzgeber zur Erreichung einer optimalen Sachaufklärung aufgestellt worden seien, die Gefahr, dass die Chance verringert werde, die richtige Entscheidung zu treffen. Ein möglicherweise bei richtiger Rechtsanwendung anders lautendes Urteil sei wegen der auf zutreffende Sachentscheidung gerichteten Intention der meisten Verfahrensvorschriften ein potentiell richtigeres. Dies gelte jedoch nicht in gleichem Maße für die Besetzungsvorschriften. Das Urteil, das bei richtiger Besetzung ergangen wäre, wäre kein möglicherweise richtigeres. Daher sei mit einer richtigen Anwendung der Besetzungsvorschriften, sofern die unrichtige Anwendung nicht auf (objektiver) Willkür beruhe, keine größere Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit verbunden. Daher verlange der Revisionszweck der Einzelfallgerechtigkeit kein revisionsrechtliches Eingreifen bei zwar fehlerhafter, aber vertretbarer Anwendung der Besetzungsvorschriften. Das objektive Willkürverbot schütze die „bloße Justizförmigkeit“ durchaus hinreichend. Sofern Rieß mit dieser Begründung darauf hinweist, die sachliche „Richtigkeitsgewähr“ bleibe unberührt, so ist dieser Ansatz als im Rahmen des § 338 generell unzutreffendes Kriterium bereits verworfen worden. Denn mit dem Institut der absoluten Revisionsgründe und der durch sie bedingten zwingenden Urteilsaufhebung wird keine größere Richtigkeitsgewähr bezweckt, jedenfalls nicht als vorrangiger Gesichtspunkt. Es geht also nicht darum, ob eine bei ordnungsgemäßer Besetzung ergangene Entscheidung die Vermutung in sich trägt, sie sei inhaltlich „richtiger“. Denn die Einhaltung prozessualer Regeln ist selbst Zweck, auch wenn sie der Auffindung der materiellen Wahrheit im Einzelfall nach gerade entgegenstehen können. Dies ist etwa für den Bereich der Zeugnisverweigerungsrechte zu keiner Zeit bestritten worden. Richterliche Erkenntnis führt nur zu einer relativen Sicherheit, zu einer „subjektiven“ Wahrheit77. Das nämliche Beweisergebnis, das etwa den fälschlich mit der Entscheidung beauftragten Richter zur Überzeugung von der Schuld des Angeklagten gelangen lässt, kann durchaus beim gesetzlich berufenen Richter noch letzte Zweifel offen lassen, die für ihn aus seiner subjektiven Sicht unüberwindbar sind. In beiden Fällen hätte der jeweilige
__________ 74 So zutreffend Dahs (Fn. 1), 358. 75 Ausschluss der Besetzungsrüge (§ 338 Nr. 1 StPO) bei irriger, aber vertretbarer Rechtsanwendung, GA 1976, 133. 76 (Fn. 69). 77 Von Stackelberg, Ist § 338 Ziff. 1 StPO wirklich reformbedürftig?, NJW 1959, 469, 470.
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Richter „richtig“ entschieden, ohne dass eine revisionsrechtliche Korrektur dieser Entscheidung möglich wäre. Von daher ist im Grunde ein anderes Ergebnis bei richtiger Besetzung der Richterbank nie auszuschließen. Diese auch dem Beschuldigten offenbare Erkenntnis, die „schicksalhafte Bedeutung“78 in der Person des Tatrichters, lässt für jenen den Schuldspruch nur dann als erträglich erscheinen, wenn es die Rechtsüberzeugung seines gesetzlichen Richters ist, die das Urteil trägt79. Nur dann ist das Urteil ein auch für ihn verbindliches, dem er sich in eigener Einsicht unterwerfen kann und das daher auch für ihn den Rechtsfrieden herstellt80. 10. Verwirkung absoluter Revisionsgründe Den letzten Damm gegen eine beliebige Handhabung der durch § 338 geschützten Verfahrensnormen bricht der Beschluss des 5. Strafsenats vom 16. 11. 199781. Bislang war es opinio communis, dass das Rechtsinstitut der Verwirkung – so man es überhaupt anerkennt82 und unabhängig von weiteren Erfordernissen – jedenfalls voraussetzt, es handele sich um eine verzichtbare Verfahrensvorschrift, gegen die vom Gericht verstoßen worden sei83. Und ebenso einmütig wurden in Rechtsprechung84 und Schrifttum85 die Vorschriften als unverzichtbar angesehen, deren Verletzung zu den absoluten Revisionsgründen führt86. Als ob eine derartige, auf das Reichsgericht zurückgehende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs überhaupt nicht existiere – und ohne den mindesten dogmatischen Ansatz –, noch dazu höchst überflüssigerweise, weil in einem „obiter dictum“, stellt der 5. Strafsenat apodiktisch und ex cathedra fest: „Entfernt sich der Verteidiger eigenmächtig von der Urteilsverkündung, so ist eine hierauf gestützte Rüge nach § 338 Nr. 5 StPO verwirkt. Eine etwa vorangegangene Verfahrensrechtsverletzung durch das Gericht ändert nichts an der Pflichtwidrigkeit des Verteidigerverhaltens.“87
__________ 78 von Stackelberg (Fn. 52), 470. 79 Kießling, Verzögerung statt Beschleunigung, DRiZ 1977, 350. 80 Vgl. dazu eingehend Mehle (Fn. 7), 129 ff., ders. Anm. zu BGH 5 StR 114/86 = StV 1987, 93. 81 NStZ 1998, 209. 82 Kritisch Meyer-Goßner (Fn. 22), § 337 Rz. 47. 83 BGHSt 15, 308; Hanack (Fn. 22), § 337 Rz. 283; Kuckein (Fn. 5), § 344 Rz. 61, jeweils m. w. N. 84 RGSt 38, 216; BGHSt 15, 308; 22, 83. 85 Hanack (Fn. 22), § 337 Rz. 271; Meyer-Goßner (Fn. 22), § 337 Rz. 47; Schmid (Fn. 7), 99 ff. 86 Vgl. Fn. 85. 87 NStZ 1998, 209; der 3. Strafsenat (NStZ 1998, 267) lässt dies unter Bezug auf die Entscheidung des 5. Senats ausdrücklich offen.
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Es wiegt schon schwer, dass der Senat allein auf eine – behauptete88 – Pflichtverletzung des Verteidigers abstellt, um die Voraussetzungen einer Verwirkung anzunehmen, ohne auch auf – zumindest – ein Einverständnis des Angeklagten zu rekurrieren89. Gravierender noch ist jedoch der Einbruch dieser Entscheidung in das System der absoluten Revisionsgründe. Ausdrücklich zwar nur zu § 338 Nr. 5 ergangen, vorschriftswidrige Abwesenheit eines notwendigen Verfahrensbeteiligten, degradiert der Senat die gesetzlich zwingend vorgeschriebene Anwesenheitspflicht zur verzichtbaren Verfahrensnorm und schafft somit die Voraussetzung dafür, in künftigen Entscheidungen das Institut der absoluten Revisionsgründe insgesamt auszuhebeln.
V. Ergebnis Vergeblich sucht man in den die absoluten Revisionsgründe „relativierenden“ Entscheidungen nach tragfähigen Begründungen oder zumindest Begründungsansätzen90. Ventzke91 hat eindrucksvoll anhand der Leitentscheidung des 4. Strafsenats vom 31. 7. 199292 belegt, dass nicht nur diese Entscheidung jeder eigenständigen Begründung entbehrt. Dies gilt auch für alle anderen, auf die sich der Senat zur Rechtfertigung seines Versuchs beruft, einer Revision bei Vorliegen eines der absoluten Revisionsgründe den Erfolg doch wieder abzusprechen, wenn ein Einfluss des Verfahrensfehlers auf das Urteil „denkgesetzlich ausgeschlossen“ werden könne. Er spricht zu Recht von einem „Zitatenkarussell“, an dem sich auch das Schrifttum „beifällig“ beteilige, indem es diese Rechtsprechung kritiklos übernehme und damit wiederum Belege liefere, auf die die Rechtsprechung zur Begründung der eigenen Auffassung rekurriere93. Kuckein94 hat – soweit ersichtlich bislang als Einziger – versucht, die hier beanstandete Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dogmatisch zu rechtfertigen und ihr eine – gewisse – Systematik zu verleihen. Er plädiert zwar einerseits gegen das ersatzlose Abschaffen der absoluten Revisionsgründe,
__________ 88 Das „Ausziehen der Robe“ ist als ultima ratio bei schweren, nicht anders anzugehenden prozessrechtlichen Verstößen des Gerichts anerkannt, vgl. dazu BGH (Anwaltssenat) StV 1981, 133, 136; eingehend Mehle, Einschränkung der Strafverteidigung durch das Berufsrecht?, in: Festschrift für Rieß (2002), 317, 322, 326 f. 89 So BGH, NStZ 1993, 198; BGH, StV 2001, 101; NStZ-RR 2001, 265; Kuckein (Fn. 5), § 344 Rz. 61. 90 BGHR, StPO, § 338, „Beruhen 1 denkgesetzlicher Ausschluss“; vgl. auch Ausführungen oben IV. 6. 91 (Fn. 39), 251. 92 Vgl. Fn. 90. 93 Ähnlich ist die Rechtsprechung im Übrigen jahrzehntelang mit der Begründung verfahren, die in § 136 Abs. 1 S. 1 statuierte Belehrungspflicht über die Aussagefreiheit sei nur eine „Ordnungsvorschrift“, vgl. dazu Grünwald, JZ 1968, 752. 94 Relativierung absoluter Revisionsgründe, StraFo 2000, 397.
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weil dies unserer Rechtskultur schade95. Er gewinnt aber eine generelle und systematisierende Einschränkung dadurch, dass er den Zweck der absoluten Revisionsgründe, nämlich den Schutz der Einhaltung der zu Grunde liegenden Vorschriften, die dem Verfahren „das Signum der Rechtsstaatlichkeit“ verleihen, als generell einschränkendes Kriterium berücksichtigt wissen will. Ein Verfahrensmangel sei erst dann so gravierend, dass der betroffene Prozess – ohne Beruhensprüfung – neu aufgerollt werden müsse, wenn das Verfahren durch den Mangel „das Signum der Rechtsstaatlichkeit“ verliere. Kuckein argumentiert damit letztlich vom Ergebnis her – was auch sein Hinweis auf die „Zeiten abnehmender Finanz- und Justizressourcen“96 belegt. Die schwer wiegende Folge einer Aufhebung des Urteils insgesamt – ohne Beruhensprüfung – dürfe nur greifen, wenn der Verstoß ein solches Gewicht habe, dass er „aus rechtsstaatlichen Gründen“ regelmäßig nicht hinnehmbar sei. Dies sei etwa beim Aufruf von Zeugen und Sachverständigen, bei der Belehrung nach § 57, der Festsetzung von Ordnungsmitteln nach § 51 oder bei der mündlichen Urteilsbegründung nicht der Fall97. Dieser Argumentation ist nicht erst das Bedenken entgegenzuhalten, dass das Merkmal eines „Signums der Rechtsstaatlichkeit“ völlig konturlos ist und willkürlichen Entscheidungen im Einzelfall den Weg ebnet. Es bedarf keiner prophetischen Gabe vorherzusagen, dass der Kernbereich des „rechtsstaatlichen Verfahrens“ umso mehr begrenzt wird, je länger im Einzelfall die Hauptverhandlung angedauert hat, deren Wiederholung zu besorgen ist, und je schwerer die Tat wiegt, derentwegen das Verfahren stattfindet. Schon der systematische Ansatz von Kuckein ist offensichtlich verfehlt: Der Gesetzgeber hat die Gesamtheit der in § 338 aufgeführten prozessualen Bestimmungen dem Schutz dieser Norm unterstellt. Deren unverbrüchliche Einhaltung ist Voraussetzung für das Etikett der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens. Dieses wird ausschließlich und abschließend durch die Normgeltung definiert. Nicht umgekehrt dient der Begriff der Rechtsstaatlichkeit dazu, die Normgeltung einzuschränken. „Auch der Entwurf musste hinsichtlich der Bestimmungen der gedachten Art jeden Zweifel darüber ausschließen, dass eine Verletzung derselben stets die Aufhebung des Urteils nach sich ziehe“98.
Eine Abwägung – welcher Art auch immer – findet nicht statt.
__________ 95 A. a. O. (Fn. 94), 400. 96 A. a. O. (Fn. 94). 97 A. a. O. (Fn. 94), zur Rechtfertigung der jeweils in Bezug genommenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. 98 Hahn (Fn. 9), Motive 133.
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VI. Ausblick Die Bestandsaufnahme ist eindeutig99. Sie zeigt den Bundesgerichtshof auf dem Weg, die absoluten Revisionsgründe contra legem praktisch abzuschaffen. Dies entspricht zwar auch Forderungen im Schrifttum100. Das Etikett einer Unvereinbarkeit mit der lex lata wird ihr hierdurch jedoch nicht genommen. Rieß101 stellt diese Rechtsprechung in einen größeren Kontext. Er spricht – zu Recht – von einer Entwicklungstendenz, die die Erfolgsaussichten der Verfahrensrüge durch ein ganzes Bündel von in der Rechtsprechung entwickelter und verschärfter Anforderungen deutlich verringert, und weist hierbei auf eine „zunehmend kritische Behandlung der Beruhensfrage“ hin, ferner auf die Einführung der sog. Widerspruchslösung sowie auf eine Steigerung der Anforderungen an den Vortrag der revisionsbegründenden Tatsachen (dies auch bei § 338). Dabei beklagt Rieß ausdrücklich, dass das Gefühl für den Eigenwert schützender Förmlichkeiten und ihrer Sicherung namentlich durch die Revisionsrechtsprechung nachlasse102. Eberhard Schmidt103 hat wie kein anderer die Bedeutung dieser Formenstrenge für die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens ausgedrückt: „Es ist daher die große Idee des Rechtsstaates, dass der Staat sich selbst misstraut, seine eigene Macht zügelt und bindet … Es ist der Gedanke der Rechtssicherheit, der um der Menschenwürde und der Freiheit des Einzelnen willen den Staat zwingt, die Betätigung seiner Strafgewalt nicht nur an materiell-strafrechtliche Voraussetzungen zu binden …, sondern auch ihrem Walten im einzelnen Fall durch wohltätige Formen und Regeln eine rechtliche Ordnung zu sichern.“
__________ 99 Noch im Jahre 1991 mit skeptischem Optimismus dagegen Widmaier (Fn. 40), der bei seiner Analyse der Rechtsprechung dem Bundesgerichtshof „ergebnisbezogene Willensentscheidungen“ attestiert, die zwar dem Gesetzeswillen zuwider liefen, gleichwohl Raum für Hoffnung auf Änderung ließen. 100 Vgl. etwa Cramer, Zur Berechtigung absoluter Revisionsgründe, in: Festschrift für Karl Peters (1974), 239; Schwinge, Zur Neugestaltung der Revision wegen verfahrensrechtlicher Verstöße, in: Festgabe für Erich Jung (1937), 212; Gutachten der Großen Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes zur „Reform der Rechtsmittel im Strafverfahren“ (1999), 29, 37. 101 (Fn. 56), 255. 102 (Fn. 56), 256. 103 Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil I, 2. Aufl., Rz. 22 f.
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Verteidigung wider vollstreckungssichernde Vermögensabschöpfung Inhaltsübersicht I. Zur Problematik vollstreckungssichernder Maßnahmen II. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Verfahrensrechtliche Garantien 2. Materielle Anforderungen
III. Der dingliche Arrest 1. Arrestanspruch 2. Arrestgrund 3. Verhältnismäßigkeit IV. Fazit
I. Zur Problematik vollstreckungssichernder Maßnahmen Verfall und Einziehung sowie die zur Sicherung ihrer Vollstreckung durch Beschlagnahme und Arrest erfolgenden vorläufigen Maßnahmen haben in den letzten Jahren im Strafverfahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Es gibt kaum noch ein Wirtschaftsstrafverfahren, in dem die Verteidigung nicht mit vollstreckungssichernden Zugriffen der Strafverfolgungsbehörden auf das Vermögen des Beschuldigten nach Maßgabe der §§ 111b ff. StPO rechnen muss1. Dabei sieht sie sich vor die Aufgabe gestellt, der Unschuldsvermutung und den Rechten des Beschuldigten in einem Geflecht aus materiellund verfahrensrechtlichen Vorschriften Geltung zu verschaffen2, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass die sich aus der Rechtsfolgenweite der materiell-rechtlichen Vorschriften ergebenden Probleme noch dadurch verschärft werden, dass an die Zulässigkeit vollstreckungssichernder Maßnahmen in der Praxis zum Teil erschreckend geringe Anforderungen gestellt werden. Der mit der Vermögensabschöpfung verfolgte Zweck, unrechtmäßige Vermögensverschiebungen aus einer kriminellen Tat rückgängig zu machen3,
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Vgl. Schmid/Winter, Vermögensabschöpfung in Wirtschaftsstrafverfahren – Rechtsfragen und Praktische Erfahrungen, NStZ 2002, 8; Hetzer, Gewinnabschöpfung und Rückgewinnung, Kriminalistik 2003, 153 bezeichnet die Vermögensabschöpfung gar als „Königsweg“ zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. Achenbach, Vermögensrechtlicher Opferschutz im strafprozessualen Vorverfahren, FS Blau (1985), 7, 11 spricht von einem „legislatorischen Monstrum“. Vgl. Herzog in Nomos Kommentar zum StGB (30. 11. 2003), Vorbem. §§ 73 ff., Rz. 5; Horn in Systematischer Kommentar zum StGB (Stand Juni 2004), § 73 Rz. 4; W. Schmidt in Leipziger Kommentar StGB, 11. Aufl. 2000, § 73 Rz. 7. Dagegen kann es entgegen Berthel, Vermögensabschöpfung im Lichte der Kriminalstrategie, Kriminalistik 2002, 29 nicht Aufgabe der Vermögensabschöpfung sein, der Wirt-
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ist zweifellos berechtigt4. Das bedeutet jedoch nicht, dass die gesetzliche Regelung allein unter dem Gesichtspunkt ihrer Effizienz beurteilt und diese im Wesentlichen an der absoluten Höhe der eingezogenen Vermögenswerte gemessen werden darf. In der rechtspolitischen Diskussion wird jeder Vorschlag zur Verschärfung der Vorschriften mit der Bekämpfung der organisierten Kriminalität begründet, der die finanziellen Grundlagen entzogen werden sollen5. Statistiken über die Höhe der abgeschöpften Vermögenswerte sollen dabei den Erfolg der Vorschriften dokumentieren und zugleich die Erwartung wecken, dass sich noch weit mehr kriminelles Vermögen einziehen ließe, wenn die gesetzlichen Vorschriften nur noch „effizienter“ gestaltet und angewendet würden6. Dabei wird das vorläufig sichergestellte Vermögen gleichrangig neben dem aufgrund eines rechtskräftigen Urteils endgültig für verfallen erklärten aufgeführt, so als sei schon die Anordnung bloß sichernder und ihrer Natur nach vorläufiger Maßnahmen gegen einen möglicherweise Unschuldigen ein Erfolg bei der Kriminalitätsbekämpfung7. Park8 spricht davon, dass zwischen zahlreichen Finanzermittlungsbehörden ein regelrechter Wettbewerb über die sichergestellten Vermögenswerte ausgetragen wird, indem behördenintern sogar „Rennlisten“ geführt werden sollen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Strafverfolgungsbehörden es als ihre Aufgabe ansehen, schon im Ermittlungsverfahren möglichst früh möglichst viele Vermögenswerte des Beschuldigten zu arrestieren, um im Falle einer Verurteilung die Vollstreckung einer Verfallsanordnung oder, sofern diese nach § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB wegen vorrangiger Ansprüche eines Ver-
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schafts- und organisierten Kriminalität die finanzielle Grundlage für weiteres kriminelles Handeln zu entziehen; dagegen zu Recht Bohne, Zielrichtung der Vermögensabschöpfung, Kriminalistik 2002, 694. Zur kriminalpolitischen Berechtigung s. Weßlau, Neue Methoden der Gewinnabschöpfung? – Vermögensstrafe, Beweislastumkehr, StV 1991, 226, 227 f. Vgl. z. B. Hetzer, Magna Charta der Mafia? ZRP 1999, 471; Mainzer, Gewinnabschöpfung im Strafverfahren, DRiZ 2002, 97; Meyer/Hetzer, Neue Gesetze gegen die organisierte Kriminalität, NJW 1998, 1017; Kaiser, Strafrechtliche Gewinnabschöpfung im Dilemma zwischen Rechtsstaatlichkeit und Effektivität, ZRP 1999, 144; derselbe, Gewinnabschöpfung als kriminologisches Problem und kriminalpolitischer Aufgabe, FS Tröndle (1989), 685; s. dazu auch Rönnau, Vermögensabschöpfung im Wandel, ZRP 2004, 191. So berichtet z. B. Mainzer, DRiZ 2002, 98 von dem „ehrgeizigen Aktionsprogramm zur Verbesserung der Vermögensabschöpfung“ des Landes Nordrhein-Westfalen, wonach für das Jahr 2000 schon eine Summe von über 170 Millionen DM gemeldet seien und für 2001 eine weitere Steigerung erwartet werde, so als handele es sich hierbei um Umsatzzahlen eines Wirtschaftsunternehmens. Kritisch zu dieser „Kommerzialisierung“ Herzog, Gewinnabschöpfung und Vermögenssanktionen, Lüderssen – FS (2002), 241 ff. Vgl. z. B. Kilchling, Die vermögensbezogene Bekämpfung der organisierten Kriminalität, wistra 2000, 241; Windolph, Vermögens- und Gewinnabschöpfung aus der Sicht der Strafverfolgungsbehörden (Polizei), StraFo 2003, 115, 120. Finanzermittlungen und vorläufiger Zugriff auf das Vermögen, StraFo 2002, 73.
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letzten unterbleiben muss, deren Vollstreckung zu sichern. Dabei wird kaum berücksichtigt, dass schon die vorläufigen Sicherungsmaßnahmen, auch wenn sie nicht wie die auf einem rechtskräftigen Urteil beruhende Anordnung des Verfalls eine endgültige Entziehung des Eigentums bedeuten, einen schwerwiegenden Eingriff in die Rechte des Beschuldigten darstellen, für den immerhin die Unschuldsvermutung gilt. Arrest und Beschlagnahme dienen eben nicht nur, wie es verharmlosend heißt, der Feststellung der Herkunft des Vermögens, weshalb sie nicht an der Unschuldsvermutung zu messen sein sollen9, sondern entziehen dem Beschuldigten für eine nicht unerhebliche Zeit jegliche Zugriffsmöglichkeit auf sein Vermögen. Dem Beschuldigten wird hierdurch unter Umständen seine wirtschaftliche Existenzgrundlage genommen10, und das auf der Grundlage eines bloßen Tatverdachts, der sich später als unrichtig oder zumindest korrekturbedürftig erweisen kann11. Die Auswirkungen sind vor allem in Wirtschaftsstrafverfahren problematisch, weil diese sich oft durch tatsächlich und rechtlich komplexe Sachverhalte auszeichnen, bei denen jede vermeintlich noch so zuverlässige Verdachtsprognose mit einer erheblichen Unsicherheit behaftet bleibt, die lange Verfahrensdauer dazu führt, dass die zur Vollstreckungssicherung ergriffenen Maßnahmen über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden und wegen der Höhe des möglichen Schadens nicht selten das gesamte – auch zweifellos legal erworbene – Vermögen des Beschuldigten mit entsprechenden Konsequenzen für seine Lebensverhältnisse und den Fortbestand seines Geschäftsbetriebes beschlagnahmt wird. Die Folge ist, dass dem Beschuldigten faktisch die Möglichkeit genommen wird, seine Rechte effektiv wahrzunehmen12, und er deshalb darauf angewiesen sein kann, um nahezu jeden Preis eine einvernehmliche Verfahrenserledigung anzustreben. Die Situation ist nicht unähnlich der, die dem Verteidiger aus der Praxis der Untersuchungshaft geläufig ist. So wie dem Beschuldigten dort gelegentlich vermittelt wird, dass er durch ein aus Sicht der Staatsanwaltschaft glaubhaftes Geständnis die für die Aufrechterhaltung des Haftbefehls erforderliche Fluchtgefahr auszuräumen vermag13, wird ihm hier signalisiert, dass im Falle
__________ 9 So aber Hetzer, ZRP 1999, 471; ders., Gewinnabschöpfung durch Beweislastumkehr?, wistra 2000, 368 ff. 10 S. dazu auch die Ergebnisse der Arbeitsgruppen des 25. Strafverteidigertages, StV 2001, 483, 484, wonach die extensive Anwendung des Wertersatzverfalls in Verbindung mit dem Bruttoprinzip „tendenziell auf die Vernichtung der bürgerlichen Existenz“ des Beschuldigten gerichtet ist. 11 Das Argument z. B. von Jekewitz, Verfassungrechtliche Aspekte des strafgerichtlichen Zugriffs auf Geldvermögen und seine Rückgängigmachung auf dem Gnadenweg, GA 1998, 290, wonach die hiervon ausgehende Entsozialisierung als Folge des durch die Straftat verwirklichten Unrechts hinzunehmen sei, gilt für die Folgen einer auf einem bloßen Tatverdacht beruhenden vollstreckungssichernden Vermögensabschöpfung eben nicht. 12 Auf diesen Aspekt weist Berndt, StV 2001, 446, zutreffend hin. 13 S. dazu Dahs, Apokryphe Haftgründe – Erwartung einer hohen Strafe = Fluchtgefahr; Charakter der Straftat = Verdunkelungsgefahr, FS Dünnebier (1982), 227.
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eines Geständnisses vollstreckungssichernde Maßnahmen nicht oder nicht mehr in dem bisherigen Umfang für erforderlich gehalten werden könnten14. Das ist vielleicht nicht generell, jedenfalls aber dann bedenklich, wenn deshalb auf eine notwendige Aufklärung des Sachverhalts oder die Entscheidung strittiger Rechtsfragen verzichtet wird. Wenn Joecks15 feststellt, dass „die §§ 73 bis 73f (StGB) überwiegend als verfahrensrechtliches Vehikel genutzt (werden), um über § 111b StPO Vermögensvorteile zunächst einmal zu sichern“, ist dies ein äußerst alarmierender Befund! Daher ist es aus rechtsstaatlichen Gründen erforderlich, den in der Entziehung der Verfügungsbefugnis über das Eigentum liegenden Eingriff nur unter Voraussetzungen zuzulassen, die seine Schwere berücksichtigen, und die Einhaltung dieser Voraussetzungen in einer dem Gebot effektiven Rechtsschutzes entsprechenden Weise sicher zu stellen. Das ist vornehmlich Aufgabe des Ermittlungsrichters, der im Ermittlungsverfahren nach § 111e StPO über die Anordnung von Beschlagnahme und Arrest zu entscheiden hat. Dieser kann seine Entscheidung jedoch allein anhand des Antrages der Staatsanwaltschaft treffen, weil wegen § 33 Abs. 4 StPO eine vorherige Anhörung des Betroffenen regelmäßig nicht stattfindet. Nach dem Gesetz reicht für die Anordnung einfacher Tatverdacht, also kein höherer Tatverdacht als für den Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses, aus. Diese niedrige Verdachtsschwelle ist kaum geeignet, den Eingriff zu begrenzen. Wenn dann aus dem Anfangsverdacht zugleich auch noch das Sicherungsbedürfnis abgeleitet wird, weil von demjenigen, der im Verdacht steht, durch eine Straftat einen Vermögensvorteil erlangt zu haben, und der befürchten muss, dass ihm dieser Vorteil im Falle einer Verurteilung wieder entzogen wird, erwartet werden können soll, dass er versuchen wird, sein Vermögen dem staatlichen Zugriff zu entziehen, wird der Erlass der Anordnung zum „Selbstläufer“. Ist die Anordnung erst einmal erlassen, erfährt der Beschuldigte hiervon in der Regel erst durch ihren Vollzug16. Beim dinglichen Arrest zur Sicherung des Verfalls von Wertersatz, dem praktisch häufigsten Fall, wird ihm durch die Vollstreckung nicht selten der Zugriff auf sein gesamtes, von den Strafverfolgungsbehörden vorab sorgfältig ermitteltes Vermögen entzogen. In die-
__________ 14 Herzog, StV 2004, 100, spricht drastisch davon, dass „der ruinöse Zugriff auf das Vermögen von Tatverdächtigen als Daumenschraube im Ermittlungsverfahren Verwendung findet.“ Zu den Gründen für solch informelle Absprachen aus Sicht der Strafverfolger s. Heghmanns, Praktische Probleme der Zurückgewinnungshilfe im Strafverfahren – Ursachen und Auswege, ZRP 1998, 475, 477; Malitz, Die Berücksichtigung privater Interessen bei vorläufigen strafprozessualen Maßnahmen gemäß §§ 111b ff. StPO, NStZ 2002, 337, 338. Kritisch zu der mit solchen Absprachen oft einhergehenden außergerichtlichen Einziehung Thode, Die außergerichtliche Einziehung von Gegenständen im Strafprozess, NStZ 2000, 62. 15 In Münchener Kommentar zum StGB, Band 2/1 (2005), Vor §§ 73 ff. Rz. 34. 16 Vgl. Mayer in KMR (Stand Januar 2003), § 111d Rz. 4; Nack in Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl. 2003, § 111e Rz. 9.
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ser Situation erhält er erstmals Gelegenheit, sich nachträglich durch eine Beschwerde gegen den den Arrest anordnenden Beschluss Gehör zu verschaffen. Eine kritische Überprüfung der Anordnungsvoraussetzungen, die auch Einwendungen des Betroffenen berücksichtigen und die Folgen der Vollstreckung für seine Lebensverhältnisse wahrnehmen kann, erfolgt somit erstmals und, weil der Instanzenzug hier endet, zugleich abschließend im Beschwerdeverfahren. Die Verantwortung für einen effektiven Rechtsschutz und eine wirksame Kontrolle liegt damit bei den Beschwerdegerichten. Ihre Rechtsprechung wird dieser Verantwortung nicht immer gerecht. Gelegentlich muss man als Verteidiger den Eindruck gewinnen, dass die angesichts der Intensität des Eingriffs gebotene umfassende Prüfung und Abwägung unterbleibt, weil die Arrestierung des Vermögens nur vorläufiger Natur ist und die Entscheidung über den endgültigen Entzug des Eigentums erst im Urteil fällt. Diese Verlagerung der Verantwortung auf die endgültige Entscheidung entspricht der Schwere des in dem Entzug der Verfügungsbefugnis über das Vermögen liegenden Zugriffs in keiner Weise. Sie berücksichtigt auch nicht, dass das Fehlen eines effektiven Rechtsschutzes – wie die jahrzehntelange Praxis der aufgrund der Kunstfigur der „prozessualen Überholung“ faktisch für unanfechtbar erklärten richterlichen Durchsuchungsbeschlüsse gezeigt hat – auf die Dauer dazu führt, dass die Eingriffsvoraussetzungen sich in der praktischen Handhabung abschleifen und die Sensibilität für eine aus rechtsstaatlichen Gründen notwendige sorgfältige Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen schwindet.
II. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren wiederholt die Rechte des Beschuldigten im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegenüber einer einseitig das staatliche Strafverfolgungsinteresse betonenden Praxis gestärkt17. Diese Rechtsprechung hat es durch zwei bemerkenswerte Beschlüsse zur Zulässigkeit vollstreckungssichernder Maßnahmen im Strafverfahren fortgeführt18. In beiden Entscheidungen stellt das Bundesverfassungsgericht heraus, dass der im Wege vorläufiger Sicherungsmaßnahmen erfolgende staatliche Zugriff auf das Vermögen am Maßstab des Grundrechts aus
__________ 17 BVerfG v. 11. 7. 1994 – 2 BVR 777/94, NStZ 1994, 551 = StV 1994, 465 = wistra 1994, 342 (Akteneinsicht bei Untersuchungshaft); v. 30. 4. 1997 – 2 BVR 817/90 u. a., BVerfGE 96, 27 = NJW 1997, 2163 = NStZ 1997, 447 = StV 1997, 393 = wistra 1997, 219 (Rechtsschutz gegen beendete Durchsuchungsmaßnahmen); v. 27. 5. 1997 – 2 BVR 1992/92, BVerfGE 95, 44 = NJW 1997, 2165 = StV 1997; 394 = wistra 1997, 223 (Gültigkeitsdauer richterlicher Untersuchungsanordnungen); v. 20. 2. 2001 – 2 BVR 1444/00, BVerfGE 103, 142 = NStZ 2001, 382 = StV 2001, 207 = wistra 2001, 143 (Gefahr in Verzug). 18 V. 5. 5. 2004 – 2 BVR 1012/03, StV 2004, 411 = StraFo 2004, 309 m. Anm. Kempf; v. 14. 6. 2004 – 2 BVR 1136/03, StV 2004, 407 = wistra 2004, 378.
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Art. 14 Abs. 1 GG zu messen ist, dessen enge Verzahnung mit der Garantie der persönlichen Freiheit herausgestellt wird. Wer als Verteidiger erlebt, welches Gefühl der Ausgeliefertheit gegenüber dem seine gesamten Machtmittel entfaltenden Strafverfolgungsapparat der Betroffene empfindet, dem die Zugriffsmöglichkeit auf sein gesamtes, unter Umständen über Jahre hinweg legal erworbenes Vermögen mit einem Schlag entzogen wird, kann diesen Zusammenhang zwischen Eigentumsgarantie und Freiheitsrecht nur unterstreichen. Mit Ausnahme des Freiheitsentzuges aufgrund von Untersuchungshaft gibt es keinen auch nur annähernd vergleichbar schweren staatlichen Eingriff, der gegenüber einem möglicherweise Unschuldigen allein aufgrund eines Tatverdachtes erfolgt. Während die Anordnung von Untersuchungshaft allerdings von sehr strengen Voraussetzungen, wie das Vorliegen eines dringenden Tatverdachtes sowie eines Haftgrundes abhängig ist, deren Einhaltung durch zahlreiche flankierende Regelungen, wie z. B. das in seiner disziplinierenden Wirkung nicht zu unterschätzende Beschleunigungsverbot sowie den umfassenden, die sofortige Beschwerde zum Oberlandesgericht einschließenden Rechtsschutz gewährleistet werden soll, ist demgegenüber bei der Vermögensbeschlagnahme sowohl die Eingriffsschwelle als auch die Kontrolldichte weitaus geringer. Dabei ist auch die Vermögensbeschlagnahme ein schwerer und, wie das Bundesverfassungsgericht betont, mit Blick auf den Beruf und die Kreditwürdigkeit des Betroffenen oft irreparabler Eingriff. Daher leitet das Gericht aus dem Gewährleistungsgehalt des Eigentumsrechts sowie dem Anspruch auf faire Verfahrensführung besondere Anforderungen sowohl an die materiellen Voraussetzungen für die Anordnung vollstreckungssichernder Maßnahmen als auch die verfahrensrechtliche Form ihres Zustandekommens ab. 1. Verfahrensrechtliche Garantien In verfahrensrechtlicher Hinsicht lassen sich den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts folgende Anforderungen entnehmen, deren Einhaltung der Verteidiger einzufordern hat: a) Das Bundesverfassungsgericht verlangt eine eigenverantwortliche Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen durch das Gericht und betont, dass eine Bindung an die im Verfahren der Exekutive getroffenen Feststellungen und Wertungen grundsätzlich ausgeschlossen sei. Das mag auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen, weil das Gericht aufgrund der ihm im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zugewiesenen Kontrollaufgabe formal an Vorgaben der Staatsanwaltschaft oder anderer Behörden nicht gebunden ist. Gemeint sein kann also nicht eine formale Unabhängigkeit, die aufgrund der gesetzlichen Vorschriften ohnehin gewährleistet ist, sondern eine inhaltliche, die aufgrund des Informations- und Wissensvorsprungs der Staatsanwaltschaft gefährdet ist. Damit führt das Gericht einen Gedanken fort, den es bereits in einer früheren Entscheidung zu richterlichen Durchsuchungs410
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beschlüssen entwickelt hat19. In umfangreichen und komplexen Verfahren ist es für den Ermittlungsrichter, der nur punktuell im Zusammenhang mit der Anordnung einzelner Maßnahmen mit dem Sachverhalt befasst wird, äußerst schwierig, sich ein eigenständiges Bild von der Verdachtslage und der Erforderlichkeit der beantragten Maßnahmen zu verschaffen. Entsprechend groß ist die Gefahr, dass der von der Staatsanwaltschaft plausibel dargelegte Tatverdacht einfach übernommen wird. Hierauf bezieht sich der deutliche Hinweis des Verfassungsgerichts auf die Notwendigkeit einer selbständigen und von Vorgaben der Exekutive unabhängigen Prüfung des Gerichts. Dasselbe gilt folgerichtig auch für Berechnungen der Finanzermittler der Staatsanwaltschaft. Auch wenn diese dem Ermittlungsrichter als „äußerst vorsichtig“ präsentiert werden, muss er sie einer selbständigen Prüfung unterziehen. b) Des Weiteren leitet das Gericht aus dem Anspruch auf eine faire Verfahrensführung und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ab, dass der Betroffene sich effektiv rechtliches Gehör verschaffen können muss. Denn eine eigenverantwortliche Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen ist auf der Grundlage der Darstellung nur einer Seite nicht möglich. Die Wahrnehmung des Gehörsanspruchs setzt voraus, dass der Beschuldigte sich zu denjenigen Tatsachen und Beweismitteln äußern kann, auf die die Entscheidung gestützt wird. Daraus folgert das Gericht, „dass eine dem Betroffenen nachteilige Gerichtsentscheidung jedenfalls in der Beschwerdeinstanz nur auf der Grundlage solcher Tatsachen und Beweismittel getroffen werden kann, über die dieser zuvor sachgemäß unterrichtet wurde und zu denen er sich äußern konnte20. Damit hat der Beschuldigte einen Anspruch auf in der Regel vollständige Akteneinsicht, den er spätestens mit einem Rechtsmittel gegen den die Sicherungsmaßnahme anordnenden Beschluss geltend machen kann und muss. Hinsichtlich der Ausgestaltung im Einzelnen wird man auf die Rechtsprechung zur Akteneinsicht im Untersuchungshaftverfahren zurückgreifen können, zumal das Bundesverfassungsgericht diesen Bezug selbst herstellt. Danach muss der Beschuldigte so unterrichtet werden, dass er in die Lage versetzt wird, die Verdachts- und Arrestgründe zu entkräften. Dazu ist ihm das gesamte gegen ihn vorliegende be- und entlastende Beweismaterial, soweit für die Entscheidung von Bedeutung, mitzuteilen. Auf Tatsachen und Beweismittel, über die der Beschuldigte nicht so substantiiert unterrichtet worden ist, dass er in die Lage versetzt wird, sich zu entlasten, darf die Entscheidung nicht gestützt werden21. Im Arrestverfahren muss der Beschuldigte daher mindestens über die Grundlagen des gegen ihn bestehenden Tatverdachts, die die Gefahr einer Vollstreckungsvereitelung begründenden
__________ 19 Beschl. v. 27. 5. 1997 (Fn. 17). 20 Beschl. v. 5. 5. 2004 (Fn. 18). 21 S. dazu Hilger in Löwe-Rosenberg, 25. Aufl. 1997, vor § 112 Rz. 23.
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Umstände sowie die Berechnung der aus der vorgeworfenen Straftat erlangten Vermögensvorteile unterrichtet werden22. c) Wenn das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass dem Betroffenen „jedenfalls“ in der Beschwerdeinstanz rechtliches Gehör gewährt werden muss, bedeutet dies spätestens, schließt also nicht aus, dass dies nicht schon vorher durch den die Anordnung treffenden Ermittlungsrichter geschehen muss. Nach § 33 Abs. 4 StPO ist zwar eine vorherige Anhörung des Beschuldigten nicht vorgeschrieben, wenn sie den Zweck der Anordnung gefährden würde. In der Praxis wird diese Vorschrift so gelesen, als sei eine Anhörung des Beschuldigten vor Anordnungen des Ermittlungsrichters grundsätzlich nicht notwendig. Das ist nicht richtig. Von der Gewährung rechtlichen Gehörs vor der Entscheidung kann nur abgesehen werden, wenn der Zweck der Anordnung tatsächlich gefährdet würde23. Das ist nicht schon immer deshalb der Fall, weil Beschlagnahme oder dinglicher Arrest nur bei Vorliegen eines Arrestgrundes angeordnet werden dürfen, also die Annahme voraussetzen, dass der Betroffene sein Vermögen dem Zugriff entziehen könnte. Denn auch im zivilprozessualen Arrestverfahren, für das insoweit dieselben Voraussetzungen gelten, kann, muss der Arrest aber nicht zwingend ohne vorherige mündliche Verhandlung erlassen werden. Es gibt also keinen Rechtssatz, wonach eine vorherige Anhörung des Betroffenen dem Zweck des Arrestes generell zuwider liefe. Daher ist der Ermittlungsrichter verpflichtet, anhand der konkreten Umstände des jeweiligen Falles sorgfältig zu prüfen, ob eine vorherige Anhörung des Beschuldigten mit dem Zweck der Maßnahme vereinbar ist. Das gilt umso mehr, als der durch den Vollzug der Anordnung eintretende Schaden für den Ruf und die Kreditwürdigkeit des Betroffenen durch eine spätere Aufhebung nur bedingt wieder gut gemacht werden kann. Insbesondere dann, wenn auf Vermögensgegenstände eines Geschäftsbetriebes Zugriff genommen werden soll und aufgrund der Zusammensetzung des Vermögens eine Verschiebung nicht oder nicht ohne weiteres kurzfristig wahrscheinlich erscheint, kann eine Anhörung schon vor der Entscheidung über den Antrag geboten sein. Geschieht dies nicht, ist das rechtliche Gehör nachträglich zu gewähren (§ 33a StPO)24. Daraus folgt, dass der Ermittlungsrichter, wenn der Betroffene gegen die Entscheidung Beschwerde einlegt, die Verantwortung für die Nachholung des rechtlichen Gehörs nicht auf das Beschwerdegericht abwälzen darf. Spätestens auf die Beschwerde und einen entsprechenden Antrag ist daher Akteneinsicht zu gewähren. Der Verteidiger kann unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit Einlegung der Beschwerde Akteneinsicht verlangen und beanspruchen, dass ihm
__________ 22 Das schließt den Anspruch auf Einsicht in die Finanzermittlungsakte ein, s. dazu Marberth-Kubicki, Die Akteneinsicht in der Praxis, StraFo 2003, 366, 369. 23 LR-Wendisch (Fn. 21) § 33 Rz. 42. 24 Vgl. dazu LR-Schäfer (Fn. 21), § 98 Rz. 17.
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eine ausreichende Frist zur Begründung der Beschwerde nach Akteneinsicht gewährt wird25. d) Eng mit dem Gehörsanspruch verknüpft ist die von dem Bundesverfassungsgericht erhobene Forderung, die Entscheidung sorgfältig, mit auf den Einzelfall bezogenen, nicht bloß formelhaften Ausführungen zu begründen: „Zur richterlichen Einzelentscheidung gehört eine sorgfältige Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und eine umfassende Abwägung zur Feststellung der Angemessenheit des Eingriffs im konkreten Fall. Schematisch vorgenommene Anordnungen vertragen sich mit dieser Aufgabe nicht.“26 Das ist gleich unter zwei Aspekten bedeutsam: Zum Einen wirkt sich die Verpflichtung, eine Entscheidung sorgfältig und streng Einzelfall bezogen zu begründen, auf denjenigen, der sie zu treffen hat, disziplinierend aus. Sie zwingt dazu, sich über das Vorliegen der Eingriffsvoraussetzungen detailliert Rechenschaft abzulegen. Zum Anderen eröffnet eine solche auf den Einzelfall bezogene Begründung für den Betroffenen überhaupt erst die Möglichkeit, seine Verfahrensrechte effektiv wahrzunehmen. Anhand dieser Begründung muss er entscheiden, ob er sich von einem Rechtsmittel gegen die Entscheidung Erfolg versprechen kann. Zugleich ermöglicht sie es ihm, sich mit der Entscheidung inhaltlich und argumentativ auseinanderzusetzen. 2. Materielle Anforderungen Erst die Einhaltung dieser verfahrensrechtlichen Garantien bietet Gewähr für eine inhaltlich richtige Entscheidung. Was schließlich deren materielle Voraussetzungen anbelangt, verlangt das Bundesverfassungsgericht bei vorläufigen Sicherungsmaßnahmen, die das gesamte oder nahezu das gesamte Vermögen der Verfügungsbefugnis des Betroffenen entziehen, eine am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgerichtete besonders sorgfältige Prüfung. Je intensiver der Staat schon allein mit Sicherungsmaßnahmen in den vermögensrechtlichen Freiheitsbereich des Einzelnen eingreift, desto höher sind die Anforderungen an die Rechtfertigung dieses Eingriffs27. Dass seit Herabsetzen der Eingriffsvoraussetzungen auf die Schwelle des einfachen Tatverdachtes dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besondere Bedeutung zukommt, ist zwar schon vorher im Schrifttum betont worden28. Neu an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist jedoch, dass aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Konsequenzen für die Auslegung und Anwendung jeder einzelnen Eingriffsvoraussetzung abgeleitet werden, er also nicht erst zur nachträglichen Überprüfung und gegebenenfalls Korrektur eines zuvor an-
__________
25 26 27 28
Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 6. Aufl. 1999, Rz. 234, 821. Beschl. v. 14. 6. 2004, wistra 2004, 381. Beschl. v. 14. 6. 2004, a. a. O. Vgl. LR-Schäfer (Fn. 21) § 111b Rz. 19.
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hand der gesetzlichen Voraussetzungen für zulässig befundenen Eingriffs herangezogen wird29. Es liegt auf der Hand, dass, wenn man die Eingriffsschwelle zunächst niedrig ansetzt, kaum einmal Anlass gesehen wird, diesen – aufgrund der vorangegangenen Prüfung scheinbar dem Gesetz entsprechenden – Eingriff als unverhältnismäßig zu qualifizieren. Demgegenüber kommt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein ganz anderer Stellenwert zu, wenn man ihn mit dem Bundesverfassungsgericht schon für die Auslegung der einzelnen Eingriffsvoraussetzungen fruchtbar macht. Nachfolgend soll versucht werden, hieraus für den dinglichen Arrest Konsequenzen zu ziehen.
III. Der dingliche Arrest Der dingliche Arrest zur Sicherung des Verfalls oder der Einziehung von Wertersatz nach § 111b Abs. 2 StPO ist der praktisch weitaus häufigste Fall einer vollstreckungssichernden Vermögensbeschlagnahme30. Er ist zugleich der problematischste, weil er den Zugriff auf das gesamte, auch rechtmäßig erworbene Vermögen des Beschuldigten eröffnet und, was häufig übersehen wird, das Vorhandensein des Vermögens, anders als bei der Sicherstellung von tatverstrickten Vermögensgegenständen keinerlei verdachtserhöhenden Indizwert hat. 1. Arrestanspruch Nach § 111b Abs. 2 StPO kann der dingliche Arrest angeordnet werden, wenn Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass die Voraussetzungen des Verfalls von Wertersatz oder der Einziehung von Wertersatz vorliegen. Greift man zur Systematisierung des strafprozessualen Arrestes, der dem zivilprozessualen Arrestverfahren nachgebildet ist und auf dessen Vorschriften an verschiedenen Stellen Bezug genommen wird, auf die aus dem Zivilrecht geläufige Unterscheidung zwischen Arrestanspruch und Arrestgrund zurück, handelt es sich hierbei um den Arrestanspruch. Dessen Voraussetzungen ergeben sich aus den §§ 73 ff. StGB, insbesondere § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB. Danach muss eine rechtswidrige Tat begangen worden sein und der Täter oder Teilnehmer hieraus etwas erlangt haben. a) Ob das der Fall ist, steht naturgemäß nicht fest, wenn der dingliche Arrest angeordnet wird. Er ergeht auf der Grundlage eines Tatverdachts, der sich als
__________ 29 Der Ansatz, aus Art. 14 GG Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitsabwägung abzuleiten, findet sich allerdings u. a. schon bei Perron, Vermögensstrafe und erweiterter Verfall, JZ 1993, 918 und Julius, Einziehung, Verfall und Art. 14 GG, ZStW 109 (1997), 58 ff. 30 Park, Handbuch Durchsuchung und Beschlagnahme (2002), Rz. 777; Rönnau, Vermögensabschöpfung in der Praxis (2003), Rz. 14.
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richtig, aber auch als falsch erweisen kann. Das macht es notwendig, die an diesen Tatverdacht zu stellenden Anforderungen zu konkretisieren. § 111b Abs. 2 StPO verlangt „Gründe für die Annahme“, dass die Voraussetzungen des Verfalls etc. vorliegen. Bis zu seiner Änderung durch Gesetz vom 11. 5. 199831 musste es sich noch um dringende Gründe handeln. Diese sind jetzt nur noch erforderlich, wenn der Arrest länger als sechs – in besonders schwierigen oder umfangreichen Fällen länger als neun – Monate aufrechterhalten werden soll (§ 111 Abs. 3 StPO). Das bedeutet jedoch entgegen verbreiteter Auffassung32 nicht, dass für die Anordnung eines Arrestes stets einfacher Tatverdacht i. S. d. § 152 Abs. 2 StPO ausreicht33. Vielmehr ist die Stärke des erforderlichen Tatverdachts abhängig von der Schwere des Eingriffs. Je intensiver die Strafverfolgungsbehörden schon allein mit Sicherungsmaßnahmen in das Vermögen des Beschuldigten eingreifen, desto höher sind die Anforderungen an die Rechtfertigung dieses Eingriffs und damit u. a. an die Stärke des Tatverdachts34. Gerade in einem frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens beruht der Tatverdacht, auch wenn er den Ermittlungsbehörden als gesichert erscheinen mag, auf einem höchst unvollständigen Ermittlungsergebnis, das, wenn der Beschuldigte zum Tatvorwurf nicht gehört worden ist, entlastende Gesichtspunkte nicht oder kaum berücksichtigen konnte. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass gerade bei umfangreichen und rechtlich komplexen Sachverhalten sich der am Anfang der Ermittlungen stehende Tatverdacht nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens, erst recht aber nach einer sich hieran eventuell anschließenden Hauptverhandlung, häufig erheblich relativiert. Dem muss wegen der weitreichenden, manchmal irreparablen, immer aber schwer wiegenden Folgen, die schon die Vollziehung des dinglichen Arrestes in das Vermögen des Beschuldigten für dessen wirtschaftliche Existenz, berufliche Stellung und damit nicht zuletzt auch für seine Verteidigungsmöglichkeiten im Verfahren haben, Rechnung getragen werden. Die an die Stärke des Tatverdachts zu stellenden Anforderungen sind daher abhängig zu machen von der Schwere des in der Vollziehung des dinglichen Arrestes liegenden Eingriffs und seinen Folgen für den Beschuldigten. Hierzu muss der Beschluss, mit dem der dingliche Arrest angeordnet wird, jedenfalls dann Ausführungen machen, wenn sich aufgrund des Umfangs der Vermögensbeschlagnahme aufdrängen muss, dass der Eingriff existenzgefährdend sein kann.
__________ 31 BGBl. I 845, 847. 32 Vgl. Lemke in Heidelberger Kommentar zur StPO, 3. Aufl. 2001, § 111b Rz. 7; Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl. 2004, § 111b Rz. 8; KK-Nack (Fn. 16), § 111b Rz. 8; Podolsky/Brenner, Vermögensabschöpfung im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren, 2. Aufl. 2004, 101. 33 Zutreffend Lesch, Sicherung des Verfalls von Wertersatz durch dinglichen Arrest beim Vorliegen eines Anfangsverdachts, StraFo 2003, 6, 7. 34 BVerfG v. 14. 6. 2004 (Fn. 18).
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b) Mit dem Tatverdacht zwar verzahnt, hiervon aber zu unterscheiden ist, was der Beschuldigte aus der Tat erlangt hat und worauf sich der Arrest daher wertmäßig erstrecken darf. Obwohl bei einem auf der Grundlage eines bloßen Tatverdachts erfolgenden Eingriff aller Anlass zu einem vorsichtigen, die Rechte des Beschuldigten möglichst schonenden Vorgehen besteht, neigen die Ermittlungsbehörden im Gegenteil dazu, das aus der (möglichen) Straftat Erlangte sehr weit zu fassen, um „vorsorglich“ das Vermögen des Beschuldigten umfassend in Beschlag nehmen zu können. Dabei wird häufig das „Bruttoprinzip“ zu Unrecht für ein weites Verständnis dessen, was der Beschuldigte aus der Straftat voraussichtlich erlangt hat und was daher an Vermögen in Beschlag zu nehmen ist, in Anspruch genommen. Seit der Neufassung des § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB35 ist bekanntlich nicht mehr der aus einer Straftat erzielte Vermögensvorteil abzuschöpfen, sondern das hieraus „Erlangte“. Mit dieser sprachlich eher missglückten Formulierung hat der Gesetzgeber nach allgemeiner Meinung zum Ausdruck bringen wollen, dass das aus einer Straftat Erlangte („brutto“) abzuschöpfen ist, ohne dass damit in Zusammenhang stehende tatbezogene Aufwendungen in Abzug zu bringen sind. Darin erschöpft sich die Bedeutung des Bruttoprinzips. Es macht die bei komplexen wirtschaftlichen Zusammenhängen nicht einfache Bestimmung dessen, was aus einer Straftat unmittelbar als erlangt anzusehen ist, nicht überflüssig. Gelegentlich muss man den Eindruck gewinnen, dass aus dem Übergang vom Netto- zum Bruttoprinzip auf einen gesetzgeberischen Auftrag geschlossen wird, das Erlangte möglichst weit und im Zweifel für den Beschuldigten nachteilig zu interpretieren. Das ist auch dann nicht richtig, wenn man mit der umstrittenen, vom Bundesverfassungsgericht aber gebilligten Rechtsprechung den Verfall nicht als strafähnliche Sanktion, sondern als eine dem Bereicherungsrecht nachempfundene quasi-kondiktionelle Ausgleichsmaßnahme qualifiziert, für die die Unschuldsvermutung nicht gelten soll36. Die Einführung des Bruttoprinzips hat nichts daran geändert, dass der Vorteil dem Täter durch die Tatbegehung unmittelbar zufließen und die Abschöpfung daher spiegelbildlich dem Vermögenswert entsprechen muss, den der Täter oder Teilnehmer aus der Tat erlangt hat37.
__________ 35 Durch Gesetz v. 28. 2. 1992, BGBl. I 372. 36 Vgl. BVerfG v. 14. 1. 2004 – 2 BVR 564/95, NJW 2004, 2073 m. w. N. 37 BGH v. 21. 3. 2002 – 5 StR 138/01, BGHSt 47, 260 = NStZ 2002, 477 = StV 2002, 483 = wistra 2002, 255 m. Anm. Odenthal, wistra 2002, 338; OLG Hamburg v. 10. 12. 2004 – 1 Ws 216/04, wistra 2005, 157, 159; Lackner/Kühl, StGB, 24. Aufl. 2001, § 73 Rz. 5; LK-W. Schmidt (Fn. 3) § 73 Rz. 26; Nack, Aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Verfall, GA 2003, 879, 880 f.; Podolsky/ Brenner, Vermögensabschöpfung (Fn. 32), 19 ff.; zur Ermittlung des Erlangten s. eingehend (mit Beispielen) Büttner, Ermittlung illegaler Vermögensvorteile (2005), 45 ff.
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Das ist auch bei der Anordnung des dinglichen Arrestes zu beachten. Das, was der Beschuldigte aus der Straftat erlangt haben könnte, muss zutreffend ermittelt werden38. Das ist zu einem erheblichen Teil Rechtsanwendung. Nur hinsichtlich ihrer tatsächlichen Grundlagen reicht insoweit der – je nach Schwere des Eingriffs nach den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts abgestuft qualifizierte – Tatverdacht des § 111b StPO. Daher ist es nicht zulässig, in einem ersten Schritt das Erlangte unter Berufung auf das Bruttoprinzip möglichst weit zu definieren, um in einem zweiten Schritt den im Ermittlungsverfahren bestehenden Unwägbarkeiten durch einen vermeintlich „großzügigen“ Sicherheitsabschlag Rechnung zu tragen39, zumal sich die praktische Bedeutung dieses Abschlags oft darin erschöpft, dass nicht mehr arrestiert wird, als an zugriffsgeeignetem Vermögen des Beschuldigten vorhanden ist. Dass die zutreffende Bestimmung dessen, was aus einer Straftat als erlangt anzusehen ist, im Einzelfall äußerst schwierig sein kann und die hierbei bestehenden Probleme nicht durch das „Bruttoprinzip“ gelöst werden, belegen exemplarisch die Fälle, in denen der Täter durch Bestechung Einfluss auf die Vergabe von Aufträgen nimmt. Das „Erlangte“ ist hier sicher nicht der Vergütungsanspruch40, wohl auch nicht der durch den Auftrag erzielte Betriebsgewinn41, sondern richtigerweise die durch die Gewährung des Vorteils unlauter bewirkte Chancenerhöhung42, deren Wert gemäß § 73b StGB geschätzt werden muss. Bei wirtschaftlichen Austauschverhältnissen, wie sie häufig dem Vorwurf des Betruges oder unter Umständen auch dem der Untreue zugrunde liegen, rechtfertigt es das Bruttoprinzip nicht, die von dem Beschuldigten erbrachte Gegenleistung gänzlich außer Betracht zu lassen. Das ist evident, wenn man berücksichtigt, das sich auch der Verletzte, dessen Ansprüche nach § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB Vorrang haben, eine erhaltene Gegenleistung anrechnen lassen muss. Bislang hat die Rechtsprechung kaum Anstalten unternommen, den von ihr betonten kondikatorischen Charakter der Verfallsvorschriften, der eine Anlehnung an die Grundsätze der §§ 812 ff. BGB nahe legt43, für eine inhaltliche Eingrenzung
__________ 38 S. dazu Rönnau, Vermögensabschöpfung (Fn. 30), Rz. 170 ff.; Hohn, Die Bestimmung des erlangten Etwas i. S. d. § 73 StGB durch den BGH, wistra 2003, 321 ff.; MünchKommStGB – Joecks (Fn. 15), § 73 Rz. 25 ff. 39 S. dazu OLG Hamm v. 7. 1. 1993 – 3 Ss OWi 930/92, GewArch 1993, 246 (zur Gewinnabschöpfung im Bußgeldverfahren). 40 So aber OLG Thüringen v. 27. 7. 2004 – 1 Ws 234-236/04, wistra 2005, 114 = StV 2005, 90; LG Köln, Beschl. v. 17. 5. 2002 – 109 Qs 131/01. 41 So MünchKommStGB – Joecks (Fn. 15), § 73 Rz. 30 u. § 73a Rz. 6; ähnlich Sedemund, Der Verfall von Unternehmensvermögen bei Schmiergeldzahlungen durch die Geschäftsleitung von Organgesellschaften, DB 2003, 323, 328 („Wert des Auftrags“). 42 Vgl. Rönnau, Vermögensabschöpfung (Fn. 30), Rz. 178; a. A. Podolsky in Wabnitz/ Janowsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 2. Aufl. 2004, 26/21 f.; differenzierend allerdings Podolsky/Brenner, Vermögensabschöpfung (Fn. 32), 20 f. 43 S. Kracht, Gewinnabschöpfung und Wiedergutmachung bei Umweltdelikten, wistra 2000, 326, 329; Wallschläger, Die strafrechtlichen Verfallsvorschriften (2002), 104 f.
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des Verfallsgegenstandes fruchtbar zu machen. Dabei wendet die neuere zivilgerichtliche Rechtsprechung die bereicherungsrechtliche Saldotheorie auch auf durch eine strafbare Handlung ausgelöste Ansprüche an44. Die sich hieraus ergebenden Argumentationsmöglichkeiten muss die Verteidigung nutzen. Das verspricht insbesondere bei unbilligen Ergebnissen, wie sie oft Folge eines missverstandenen „Bruttoprinzips“ sind, mehr Erfolg als eine Berufung auf die – grundsätzlich auch bei vorläufigen Maßnahmen zu beachtende – Härtevorschrift des § 73c StGB, die zu unbestimmt ist und in der restriktiven Auslegung durch die Rechtsprechung45 einen völlig unzureichenden Schutz bietet. Die Anordnung des dinglichen Arrestes kommt nicht in Betracht, wenn der Beschuldigte selbst keinen unmittelbaren Vorteil erlangt hat46. Das hat vor allem dann Bedeutung, wenn der Vorteil einer juristischen Person zugeflossen sein soll. Regelmäßig ist davon auszugehen, dass die juristische Person über eine eigene Vermögenssphäre verfügt, die von dem Privatvermögen des Organs zu trennen ist. So stellen die dem Gesellschaftsvermögen einer GmbH zugeflossenen Vorteile trotz Zugriffsmöglichkeit des Geschäftsführers nicht ohne weiteres auch zugleich dessen private Vermögensvorteile dar47. Das wird im Eifer des Gefechts schon einmal übersehen und der dingliche Arrest „vorsorglich“ im Vertrauen darauf angeordnet, dass die richtige Zuordnung des Vermögens der endgültigen Entscheidung über die Entziehung des Eigentums in einem späteren Urteil vorbehalten bleiben könne. Das ist nicht zulässig. 2. Arrestgrund Der strafrechtliche Arrest erfordert wie jeder vorläufige Eingriff in die Rechte des Beschuldigten ein Sicherungsbedürfnis in Gestalt des Arrestgrundes i. S. d. über § 111d Abs. 2 StPO in Bezug genommenen § 917 ZPO. Danach findet der Arrest nur statt, wenn zu besorgen ist, dass ohne seine Verhängung die Vollstreckung des Urteils vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde. Der Verdacht einer Straftat allein reicht hierfür nicht aus48. Die Auffassung, dass schon die bloße – wohl niemals ausschließbare – Möglichkeit, Vermögensverschiebungen vorzunehmen, einen Arrest-
__________ 44 Vgl. BGH v. 24. 10. 2003 – V ZR 24/03, NJW-RR 2004, 229; Finkenauer, Vindikation, Saldotheorie und Arglisteinwand, NJW 2004, 1704. 45 Vgl. BGH v. 2. 12. 2004 – 3 StR 246/04, NStZ-RR 2005, 104 = wistra 2005, 137 m. w. N.; MünchKommStGB – Joecks (Fn. 15), § 73c Rz. 9 („hohe Anforderungen“). 46 LG Osnabrück v. 7. 4. 2004 – 2 Qs 34/04, StraFo 2004, 275. 47 BVerfG v. 14. 6. 2004 (Fn. 18); LG Landshut v. 4. 11. 2002 – 3 Qs 364/02, wistra 2003, 199, 200; Hellerbrand, Der dingliche Arrest zur Sicherung des Verfalls von Wertersatz im Ermittlungsverfahren, wistra 2003, 201, 202. 48 LG Hamburg v. 13. 4. 2004 – 620 Qs 13/04, NStZ-RR 2004, 215; LG Halle v. 19. 5. 2000 – 22 Qs 5/00; HK-Lemke (Fn. 32), § 111d Rz. 6.
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grund schaffen soll49, ist mit dem Gesetz nicht zu vereinbaren50. § 111d Abs. 2 StPO stellt durch die Verweisung auf § 917 ZPO klar, dass der Arrestgrund zusätzlich zu dem Verdacht einer Straftat vorliegen muss, also durch diesen Verdacht nicht ersetzt oder überflüssig wird51. Daher kann – solange es an einem ausreichenden Fundus originärer strafrechtlicher Entscheidungen fehlt – auf die Rechtsprechung und Literatur zu § 917 ZPO zurückgegriffen werden. Danach liegt ein den vorzeitigen Zugriff auf das Schuldnervermögen rechtfertigender Arrestgrund nur dann vor, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das Schuldnervermögen durch Abflüsse, denen keine oder keine gleichwertige Gegenleistung gegenübersteht, verringert zu werden droht52. Das solche Veränderungen unmittelbar bevorstehen oder jedenfalls nicht abgeschlossen sind, muss durch Tatsachen belegt sein. Es besteht keine Veranlassung, im Strafverfahren an das Vorliegen eines Arrestgrundes geringere Anforderungen zu stellen. Insbesondere lässt sich dies nicht damit rechtfertigen, dass Voraussetzung für die Anordnung des strafprozessualen Arrestes der Verdacht einer Straftat ist. Denn auch beim zivilprozessualen Arrest begründet die Behauptung des Gläubigers, dass der Schuldner vorsätzlich eine dessen Vermögen schädigende strafbare Handlung begangen haben soll, einen Arrestgrund nur dann, wenn konkrete Anhaltspunkte53 dafür vorliegen, dass Wiederholungsgefahr droht54 oder sonst mit Unredlichkeiten zur Vereitelung der wegen der Ersatzforderung drohenden Zwangsvollstreckung zu rechnen ist55. Das Vorliegen einer strafbaren Handlung zum Nachteil des Gläubigers begründet also nicht schlechthin einen Arrestgrund56. Wenn es hiervon scheinbar abweichend gelegentlich heißt, dass bei Vermögensstraftaten eine Vermutung für das Vorliegen eines
__________ 49 Bittmann/Kühn, Der Arrestgrund beim strafprozessualen dinglichen Arrest, wistra 2002, 248, 249; Podolsky/Brenner, Vermögensabschöpfung (Fn. 32), 115. 50 Richtig Park, StrafFo 2002, 75. 51 LR-Schäfer (Fn. 21) § 111d Rz. 17. 52 Vgl. BGH v. 19. 10. 1995 – IX ZR 82/94, BGHZ 131, 95, 105 f. = NJW 1996, 321; Grunsky in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl. 2002, § 917 Rz. 4; Huber in Musielak, ZPO, 3. Aufl. 2002, § 917 Rz. 2. 53 BGH v. 24. 3. 1983 – III ZR 116/82, WM 1983, 614; OLG Köln v. 16. 8. 1985 – 13 W 35/85, MDR 1986, 595; Heinze in Münchener Kommentar zur ZPO, 2. Aufl. 2000; § 917 Rz. 6. 54 OLG Düsseldorf v. 9. 6. 1986 – 4 U 69/86, NJW-RR 1986, 1192; OLG Schleswig v. 27. 9. 1982 – 11 U 214/82, MDR 1983, 141; Thomas/Putzo, ZPO, 26. Aufl. 2004, § 917 Rz. 1. 55 OLG Köln v. 2. 6. 1999 – 16 W 14/99, NJW-RR 2000, 69; OLG Koblenz v. 28. 5. 1986 – 6 U 140 u. 141/86, WM 1987, 310, 313; Vollkommer in Zöller, ZPO, 24. Aufl. 2004, § 917 Rz. 6. 56 OLG Düsseldorf v. 18. 9. 1979 – 4 U 119/79, MDR 1980, 150; OLG Köln v. 16. 8. 1985 (Fn. 53); Thümmel in Wieczorek-Schütze, ZPO, 3. Aufl. 1995, § 917 Rz. 11.
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Arrestgrundes bestehen soll57, ist zu berücksichtigen, dass in diesen Fällen das Vorliegen einer Straftat selbst nicht zweifelhaft war. Allein dadurch, dass eine Straftat oder unerlaubte Handlung nur behauptet wird, kann kein Arrestgrund dargelegt werden58. Die die Besorgnis der Zwangsvollstreckungsvereitelung oder -erschwerung rechtfertigenden Tatsachen müssen zwar nicht zur Überzeugung des Gerichts feststehen, aber überwiegend wahrscheinlich sein59. Auch für den strafrechtlichen Arrest müssen daher vergleichbar gewichtige Anhaltspunkte für Vereitelungshandlungen vorliegen, die sich allerdings nicht nur aus dem Verhalten nach Bekanntwerden der Einleitung des Ermittlungsverfahrens, sondern auch aus einer Gesamtwürdigung der Person und der Lebensverhältnisse des Beschuldigten sowie den Umständen der ihm vorgeworfenen Straftat ergeben können. Dabei spielt eine wesentliche Rolle, woher das Vermögen stammt, auf das zugegriffen werden soll. Es liegt auf der Hand, dass bei demjenigen, der augenscheinlich über keine legale Einkunftsquelle verfügt, aus dem das Vermögen, auf das Zugriff genommen werden soll, erwirtschaftet worden sein kann, die Schwelle für die Annahme von Vereitelungsgefahr niedriger anzusetzen ist als bei dem, der das Vermögen rechtmäßig erworben hat. Überhaupt ist die Transparenz der Vermögens- und Einkommensverhältnisse ein gegen die Annahme von Vereitelungsgefahr sprechender Umstand60. Ist der Beschuldigte bereit, seine Vermögensverhältnisse offen zu legen, kann dies der Annahme eines Arrestgrundes entgegenstehen61. Dasselbe gilt, wenn der Beschuldigte sich erkennbar dem Verfahren stellt und in Kenntnis der gegen ihn anhängigen Ermittlungen keinerlei Anstalten unternimmt, sein Vermögen zu verschieben oder zu verschleiern62. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass dies nur darauf zurückzuführen sein könne, dass der Beschuldigte darauf vertraut habe, dass ihm die Straftat nicht nachgewiesen werden könne und er deshalb, wenn er merke, dass es „ernst“ werde, Vermögensverschiebungen vornehmen werde63 – ein aus der Praxis der Untersuchungshaft bekanntes Argument. Abgesehen davon, dass man als Verteidiger immer wieder erlebt, wie „ernst“ allein schon die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens vor allem von Betroffenen genommen wird, die noch nicht mit der Strafjustiz in Be-
__________ 57 OLG München v. 9. 1. 1970 – 12 W 1707/69, MDR 1970, 934; s. auch Hartmann in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 62. Aufl. 2004, § 917 Rz. 11: „Anscheinsbeweis“. 58 Vollkommer (Fn. 55), § 917 Rz. 6. 59 Leipold in Stein-Jonas, ZPO, 21. Aufl. 1997, § 294 Rz. 6; Huber (Fn. 51) § 920 Rz. 2; Thümmel (Fn. 56) § 920 Rz. 14; MünchKommZPO–Heinze (Fn. 53) § 920 Rz. 13. 60 Vgl. LG Kiel v. 22. 7. 1998 – 36 Qs 28/98, wistra 1998, 363 m. Anm. Wulf (Sparkasse). 61 LG Lübeck v. 5. 12. 2003 – 2b Qs 141/03, wistra 2004, 400. 62 OLG Thüringen v. 27. 7. 2004 (Fn. 40). 63 So aber Bittmann/Kühn, wistra 2002, 248.
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rührung gekommen sind, kann schon aus logischen Gründen eine dem Beschuldigten unterstellte Einstellung („es wird ernst“), die überhaupt erst durch die Vollstreckung des Arrestes ausgelöst werden soll, unmöglich seine Anordnung rechtfertigen. Schlechte Vermögensverhältnisse allein sind ebenfalls kein Arrestgrund64. Allerdings können sich aus den Umständen der dem Beschuldigten vorgeworfenen Straftat, wenn diese z. B. auf Verschleierung der Vermögens- und Einkommensverhältnisse angelegt ist, zugleich Anhaltspunkte für einen Arrestgrund ergeben65. Die Anforderungen, die an den Nachweis der Umstände zu stellen sind, aus denen auf eine Vereitelungsgefahr geschlossen werden soll, sind allerdings hoch anzusetzen. Hierfür reichen nicht, wie unter Umständen hinsichtlich des Tatverdachts, einfache Gründe aus, sondern diese müssen analog der an die Glaubhaftmachung des Arrestgrundes im Zivilprozess zu stellenden Anforderungen überwiegend wahrscheinlich sein. Das ist, wie sich aus der Verweisung in § 111b Abs. 2 StPO auf § 920 Abs. 1 ZPO ergibt, schon im Antrag der Staatsanwaltschaft darzulegen66. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sich die Anordnung des Arrestes verselbständigt, indem allein aus dem Verdacht einer Straftat auf das Vorliegen eines Arrestgrundes geschlossen wird. Weitergehende Anforderungen sind an den Arrestgrund zu stellen, wenn er zum Zwecke der Zurückgewinnungshilfe erfolgt. Denn der Verletzte hat selbst die Möglichkeit, seine möglichen Ansprüche durch einen zivilprozessualen Arrest zu sichern. Zwar schließt dies einen strafprozessualen Arrest selbst dann nicht aus, wenn der Verletzte – wie z. B. der Fiskus – sich selbst unschwer einen Titel verschaffen kann67. Jedoch fehlt es an einem Sicherungsbedürfnis, wenn der (mögliche) Verletzte seinerseits nicht alle zumutbaren Maßnahmen unternimmt, um seine Ansprüche zu sichern68. Das muss nicht aus Nachlässigkeit oder, wie von Strafverfolgern vorschnell vermutet wird, aus Angst vor der Aufdeckung eigener (Steuer-)Verfehlungen („Schwarzgeld“) geschehen. Vielmehr kann es durchaus sein, dass der mögliche Verletzte die Rechts- oder Beweislage kritischer als die Staatsanwaltschaft be-
__________ 64 OLG Frankfurt v. 19. 10. 1993 – 3 Ws 614/93, StV 1994, 234; s. auch LG Bonn v. 9. 11. 2004 – 31 Qs 137/04, StV 2005, 123 = StraFo 2005, 111 (Verbrauch vorhandener Geldmittel im Rahmen normaler Lebensführung). 65 OLG Frankfurt v. 21. 1. 2005 – 3 Ws 42/05, NStZ-RR 2005, 111 (Fluchtgefahr, unklare Vermögensverhältnisse); OLG Hamburg v. 10. 12. 2004 (Fn. 37; Transfer von Geldern ins Ausland; Fluchtvorbereitungen); LG Kiel v. 16. 7. 2004 – 37 Qs 44/04, wistra 2004, 440. 66 Park, StraFo 2002, 75. 67 LG Hamburg v. 13. 11. 2003 – 620 Qs 99/103, wistra 2004, 116 m. Anm. Webel; kritisch Käbisch, Zum Vorgehen der Steuerfahndung gem. §§ 73 ff. StGB, § 111b StPO, wistra 1984, 10. 68 Vgl. OLG Köln v. 30. 3. 2004 – 2 Ws 105/04, NStZ 2004, 571; OLG Düsseldorf v. 20. 2. 2002 – 2 Ws 375-377/01, StV 2003, 547 = NStZ-RR 2002, 173; LG Düsseldorf v. 13. 12. 2000 – III – 8/00 SH 6, StV 2001, 446 m. Anm. Berndt.
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urteilt. Der Antragsteller trägt im zivilprozessualen Arrestverfahren das Risiko, sich nach § 945 ZPO verschuldensunabhängig schadensersatzpflichtig zu machen, wenn auf seinen Antrag ein Arrest zu Unrecht erlassen wird. Es ist nicht Aufgabe der strafprozessualen Vorschriften, dem Gläubiger dieses – durchaus disziplinierend wirkende – Risiko abzunehmen. 3. Verhältnismäßigkeit Der strafprozessuale Arrest hat schließlich wie jede strafprozessuale Zwangsmaßnahme den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Das gilt für alle Phasen, also für Anordnung, Vollzug und Aufrechterhaltung des Arrestes. Grundsätzlich ist eine zeitliche Beschränkung des strafprozessualen Arrestes nicht vorgesehen, wenn erst einmal die dringenden Gründe des § 111b Abs. 3 StPO bejaht worden sind. Die Aufrechterhaltung eines Arrestes kann aber wegen Zeitablaufs oder zwischenzeitlich eingetretener Umstände unverhältnismäßig werden69. Je länger der Arrest andauert und je nachhaltiger er die wirtschaftliche Dispositionsfreiheit des Betroffenen einschränkt, desto höher sind die Anforderungen, die an seine Notwendigkeit zu stellen sind. Unnötige Verfahrensverzögerungen erheblichen Ausmaßes können zur Unzulässigkeit und damit zur Aufhebung vollstreckungssichernder Maßnahmen führen70. Aber auch unterhalb dieser Schwelle kann der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dazu zwingen, den Zugriff auf das Vermögen des Beschuldigten zu lockern und z. B. Teile des beschlagnahmten Vermögens wieder freizugeben oder dem Beschuldigten zu gestatten, hierüber unter bestimmten, vollstreckungsvereitelnde Vermögensverschiebungen erschwerenden Bedingungen wieder zu verfügen71. Da die Maßnahmen von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens aufzuheben sind, wenn ihre Voraussetzungen nicht mehr vorliegen72, kann der Beschuldigte jederzeit wegen veränderter Umstände ihre Aufhebung oder Abänderung beantragen73. Wird der Arrest zum Zwecke der Zurückgewinnungshilfe angeordnet, dürfte demgegenüber nicht allein auf die Dauer bzw. die Verzögerung des Verfahrens abzustellen sein, sondern darauf, ob der Verletzte, der trotz des strafprozessualen Arrestes selbst einen zivilprozessualen Arrest erwirken kann74,
__________ 69 Vgl. OLG Köln v. 18. 6. 2003 – 2 Ws 343/03 – StV 2004, 121 m. Anm. Mosiek (im konkreten Fall verneint). 70 OLG Köln v. 10. 2. 2004 – 2 Ws 704/03, StV 2004, 413; s. auch OLG Thüringen v. 27.7.2004 (Fn. 40). 71 Vgl. LG Lübeck v. 5. 12. 2003 (Fn. 62). 72 LR-Schäfer (Fn. 21) § 111b Rz. 21. 73 Zur Aufhebungskompetenz s. Malitz, Beendigung von Zwangsmaßnahmen und Freigabe von Vermögenswerten, NStZ 2003, 61, 62; Rönnau, Vermögensabschöpfung (Fn. 30), Rz. 108, Fn. 28. 74 Vgl. Köper, Auswirkungen der strafprozessualen Rückgewinnungshilfe auf den zivilprozessualen Arrestgrund, NJW 2004, 2485.
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keines Schutzes durch die Strafjustiz mehr bedarf, also kein Sicherungsbedürfnis mehr besteht. Daher ist der Arrest aufzuheben, wenn der Verletzte die ihm zustehenden Ansprüche über einen längeren Zeitraum nicht geltend macht75. In diesem Fall kann nicht etwa der Arrestgrund ausgetauscht werden, indem an die Stelle der Sicherung von Ansprüchen möglicher Verletzter die Sicherung des staatlichen Verfallsanspruchs tritt76. Denn nach der Ausschlussklausel des § 73 Abs. 2 Satz 2 StGB schließt bereits die bloße rechtliche Existenz eines Ausgleichsanspruchs des Verletzten die Anordnung des Verfalls aus77. Die hiervon abweichende Auffassung des OLG München78, wonach der Verfall des Wertersatzes trotz grundsätzlich bestehender Ausgleichsansprüche Verletzter jedenfalls dann angeordnet werden können soll, wenn die Verletzten von der Durchsetzungsmöglichkeit ihrer bestehenden Ausgleichsansprüche wissen, aber dennoch auf ihre Ansprüche verzichten oder sie zumindest über einen längeren Zeitraum nicht geltend machen, ist mit dem Gesetz unvereinbar. Der Tendenz, den sich aus § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB ergebenen Vorrang von Ansprüchen des Verletzten auszuhöhlen, ist entgegenzutreten. Die oft zitierte Abwertung der Vorschrift als „Totengräber des Verfalls“79 ist sachlich nicht gerechtfertigt. Der Ausschluss des Verfalls durch Drittrechte ist logische Konsequenz seines Wesens80. Wenn man mit der Rechtsprechung annimmt, dass der Verfall keine Strafe oder strafähnliche Maßnahme, sondern eine der Rückgängigmachung unrechtmäßiger Vermögensverschiebungen dienende quasi-kondiktionelle Ausgleichsmaßnahme ist, ist es nur folgerichtig, dass schon die bloße Existenz von Verletztenansprüchen der Anordnung des Verfalls entgegenstehen müssen. Daher ist, wenn solche Ansprüche bestehen können, ein Arrest ausschließlich zu deren Sicherung zulässig. Ist aufgrund des Tatvorwurfs, z. B. bei massenhaften Betrugsfällen mit für die einzelnen Opfer jeweils minimalen Schäden, absehbar, dass kein Geschädigter Erstattungsansprüche geltend machen wird, sind demzufolge vorläufige Sicherungsmaßnahmen unzulässig.
__________ 75 OLG Düsseldorf v. 20. 2. 2002 (Fn. 68); eingehend dazu Rönnau, Zeitliche Grenzen der Aufrechterhaltung von Maßnahmen zur Sicherung von Ansprüchen Tatgeschädigter, StV 2003, 581. 76 Zur Unzulässigkeit eines Austauschs des Arrestanspruchs s. auch LG Hildesheim v. 11. 12. 2002 – 15 Qs 38/02, StraFo 2003, 166. 77 BGH v. 15. 3. 1984 – 1 StR 819/83, JZ 1984, 683 = NStZ 1984, 409; v. 7. 12. 2000 – 4 StR 485/00, NStZ 2001, 257; Lackner/Kühl (Fn. 37) § 73 Rz. 6; vgl. auch Tröndle/ Fischer, StGB, 52. Aufl. 2004, § 73 Rz. 11. 78 Beschl. v. 19. 4. 2004 – 2 Ws 167-168/04, wistra 2004, 353; in der Sache ebenso Eser in Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl. 2001, § 73 Rz. 26. 79 Eberbach, Zwischen Sanktion und Prävention, NStZ 1987, 486, 491. 80 Richtig LK-W. Schmidt (Fn. 3) § 73 Rz. 33. S. dazu auch Müller, Welche Rechte des Verletzten hindern den Verfall? Oder: Gnadenfrist für einen Totengräber, MSchrKrim 2001, 244, der dafür plädiert, § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB nicht nur auf solche Opfer-Ansprüche zu beschränken, die auf eine Rückgewähr des Tatvorteils gerichtet sind, sondern z. B. auch Schmerzensgeldansprüche einzubeziehen.
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Schließlich kann der Beschuldigte jederzeit beanspruchen, dass der Vollzug des Arrestes ganz oder teilweise aufgehoben wird, wenn und soweit er eine geeignete Sicherheit stellt. Dafür bedarf es weder eines Entgegenkommens der Strafverfolgungsbehörde noch muss hierfür der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bemüht werden. Vielmehr folgt dies aus dem Rechtsgedanken des über § 111d Abs. 2 StPO anwendbaren § 934 ZPO81. In geeigneten Fällen kann es sich für den Verteidiger anbieten, frühzeitig mit der Staatsanwaltschaft zu erörtern, inwieweit schon die Anordnung oder jedenfalls der Vollzug eines Arrestes dadurch verhindert werden kann, dass der Beschuldigte Sicherheiten anbietet oder seine Vermögensverhältnisse offen legt. Allerdings geht er dabei stets das Risiko ein, die Maßnahme, die er eigentlich verhindern will, erst heraufzubeschwören. Als Alternative kommt in Betracht, z. B. vorsorglich eine Bankbürgschaft oder ähnliche Sicherheit bereit zu halten, um, wenn nicht schon die Anordnung, so dann doch wenigstens den Vollzug eines Arrestes abwenden zu können.
IV. Fazit Die Anordnung des dinglichen Arrestes zum Zwecke der Vollstreckungssicherung im Strafverfahren stellt einen schweren strafprozessualen Eingriff dar. Daher bedarf es einer sorgfältigen Prüfung sämtlicher Eingriffsvoraussetzungen unter strenger Beachtung der Unschuldsvermutung, des Grundrechtes aus Art. 14 GG sowie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Stets ist eine Abwägung erforderlich zwischen dem Interesse des Staates, die Vollstreckung einer später möglicherweise erfolgenden Verfallsanordnung zu sichern, und den Belangen des Beschuldigten, nicht schon auf der Grundlage eines bloßen Tatverdachts die Verfügungsbefugnis über Teile seines Vermögens oder sogar sein gesamtes Vermögen entzogen zu bekommen. Je umfassender der Zugriff ist, desto dringender müssen die den Eingriff legitimierenden Gründe sein. Es ist das Verdienst des Bundesverfassungsgerichts, eine das Sicherungsinteresse des Staates einseitig betonende und die Rechte des Beschuldigten vernachlässigende Strafverfolgungspraxis hieran erinnert zu haben. Aufgabe der Verteidigung ist es, den vom Bundesverfassungsgericht herausgestellten Grundsätzen Geltung zu verschaffen und, wie Hans Dahs es formuliert hat „den stattlichen Zugriff auf den zunächst nur Verdächtigen rückhaltlos mit allen gesetzlichen Mitteln zu begegnen82.
__________ 81 Rudolphi in Systematischer Kommentar zur StPO (Stand: April 1994), § 111d Rz. 14. 82 Dahs, Handbuch (Fn. 25) Rz. 1.
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Einige Bemerkungen über das sog. Adhäsionsverfahren Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Struktur des Adhäsionsverfahrens III. Adhäsionsverfahren in der Praxis IV. Das Adhäsionsverfahren im System der Schadenswiedergutmachung
V. Risiken im Adhäsionsverfahren für den Verletzten VI. Verteidigungsposition des Beschuldigten im Adhäsionsverfahren VII. Zur Bewertung der jüngsten Reform VIII. Ausblick
I. Einleitung Das sog. Adhäsionsverfahren, also die Möglichkeit der Geltendmachung des zivilrechtlichen Anspruchs des Verletzten im Strafverfahren, findet sich seit 1943 im deutschen Strafverfahrensrecht in den §§ 403–406c StPO1. Die Ursprungsfassung blieb bis Ende 1986, also mehr als 40 Jahre, im Wesentlichen unverändert. Der verehrte Jubilar bewertet es im theoretischen Ansatz positiv, vermerkt aber, dass es äußerst selten praktiziert werde2. Das zu diesem Rechtsinstitut reichhaltige strafverfahrensrechtliche Schrifttum steht ihm durchweg, wenn auch nicht uneingeschränkt, positiv gegenüber, gleiches gilt für die rechtspolitische Einschätzung. In der Rechtspraxis ist seine Akzeptanz dagegen allenfalls verhalten. Jeweils im Zusammenhang mit der Verbesserung des „Opferschutzes“ hat der Gesetzgeber in den letzten 2 Jahrzehnten zweimal, zunächst 19863 und dann 20044 nicht unerhebliche legislatorische Veränderungen mit dem Ziel vorgenommen, den Anwendungsbereich zu erweitern.
__________ 1
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Trotz dieses Entstehungszeitpunkts verkörpert das Verfahren kein nationalsozialistisches Gedankengut. S. näher mit weit. Nachw. zur Entstehungsgeschichte LRHilger, 25. Aufl., 1999, Vor § 404, Rz. 1 – 6; SK-StPO-Velten, 2004, Vor § 403, Rz. 1 f.; Rieß, Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren (Gutachten zum 55. DJT, Teil C), 1984, S. C 35 Fn. 150. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 6. Aufl., 1999, Rz. 1036. Erstes Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren (Opferschutzgesetz) v. 18. 12. 1986 (BGBl. I S. 2496), Art. 1 Nr. 12 – 14. Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren (Opferrechtsreformgesetz – OpferRRG) v. 24. Juni 2004 (BGBl. I S. 1354), Art. 1 Nr. 13 – 18. Zur Entstehungsgeschichte und den Materialien ausführlich Hilger, GA 2004, 478 f.; Übersicht über den Gesamtinhalt auch bei Ferber, NJW 2004, 2562 ff.; Neuhaus, StV 2004, 620 ff.; speziell zu den Änderungen im Adhäsionsverfahren Kuhn, JR 2004, 397 ff.
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Eine vollständige Auseinandersetzung mit den Problemen, die mit dem Adhäsionsverfahren verbunden sind, ist mit den nachfolgenden Ausführungen ebenso wenig beabsichtigt wie eine genauere Darstellung dieser Verfahrensart, ihrer Besonderheiten und der mit ihr verbundenen Zweifelsfragen. Ihr Ziel ist es, auf einige Zusammenhänge und Abhängigkeiten hinzuweisen, die in der bisherigen Diskussion nicht immer deutlich geworden sind; ihr Ziel ist es aber auch, die durchweg positive Bewertung etwas kritisch zu hinterfragen und namentlich auf einige mit der letzten Reform verbundenen Probleme näher einzugehen.
II. Struktur des Adhäsionsverfahrens Die wesentlichen Elemente und Regelungen des Adhäsionsverfahrens in seiner neuesten Fassung sind zunächst kurz in die Erinnerung zu rufen. Einen aus der dem Beschuldigten vorgeworfenen, den Gegenstand des Verfahrens bildenden Straftat erwachsenen zivilrechtlichen Anspruch kann der Verletzte oder sein Erbe, die hierauf hinzuweisen sind5, nicht aber ein Dritter, auf den dieser Anspruch übergegangen ist, durch einen hierauf gerichteten Antrag, dessen Inhalt im Wesentlichen den Anforderungen an eine zivilrechtliche Klage entsprechend muss, mit der Wirkung einer Klageerhebung im Zivilprozess6 im Strafverfahren geltend machen und zwar, wenn das Verfahren vor dem Amtsgericht anhängig ist oder wird, ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes7. Deliktsbezogene Ersatzansprüche, die in die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte gehören, scheiden aus8. Anwaltszwang besteht, auch bei einer Geltendmachung vor dem Landgericht, nicht; der Verletzte kann sich aber durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen9, und ihm kann Prozesskostenhilfe gewährt werden10. Über diesen Anspruch entscheidet das Strafgericht nach strafprozessualen Regeln, also insbesondere nach den Grundsätzen der Amtsaufklärungspflicht, nicht nach dem zivilprozessualen Beibringungsgrundsatz. Teil- und Grundurteile sind seit 1987 zulässig; die Neuregelung von 2004 hat auch das
__________ 5 Bisher § 403 Abs. 2 StPO als Sollvorschrift, nunmehr in verschärfter Form („ist in der Regel“) in § 406 h Abs. 2 StPO; s. auch unten bei Fn. 50. 6 Die Ergänzung des § 404 Abs. 2 StPO durch Satz 2 durch das OpferRRG hat auch gesetzlich klargestellt, dass für die Rechtshängigkeit der Eingang des (auch schon im Ermittlungsverfahren möglichen) Antrags bei Gericht maßgebend ist. 7 Soweit sich die landgerichtliche Zuständigkeit aus anderen Gründen ergibt, gilt dies nach allg. M. nicht. 8 Der Versuch, im OpferRRG insoweit eine Änderung herbeizuführen, ist im Gesetzgebungsverfahren gescheitert; s. näher unten bei Fn. 49. 9 Seit der Neufassung durch das VereinhG vom 12. 9. 1950; s. LR-Hilger, § 404, Entstehungsgeschichte. 10 § 404 Abs. 5 StPO seit der Änderung durch das OpferschutzG von 1986.
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Anerkenntnisurteil mit seinen zivilprozessualen Konsequenzen ermöglicht11; sie hat ferner einen im Adhäsionsverfahren geschlossenen Vergleich einem solchen im Zivilprozess gleichgestellt und das Gericht (als Sollvorschrift) verpflichtet, auf Antrag einen Vergleichsvorschlag zu unterbreiten12. Der Verletzte kann, macht er vom Adhäsionsverfahren Gebrauch, rechtlich gesehen nur gewinnen, aber nicht verlieren. Sein Schadensersatzanspruch kann vom Strafgericht nur (ganz, teilweise oder dem Grunde nach) zuerkannt werden; nach der Neuregelung richtet sich auch die Möglichkeit einer vorläufigen Vollstreckbarkeit nach den zivilprozessualen Vorschriften13. Dagegen kann der Strafrichter den Anspruch nicht aberkennen. Denn seine negative Entscheidung besteht allein darin, dass er von einer Entscheidung über ihn absieht, was nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung seine anderweitige Geltendmachung in keinem Fall ausschließt. Von der Entscheidung ist abzusehen, wenn der Beschuldigte nicht wegen der anspruchsbegründenden Straftat verurteilt wird, wenn der Ersatzanspruch unbegründet oder wenn der Antrag unzulässig ist. Die mangelnde Eignung des Anspruchs für seine Erledigung im jeweiligen Strafverfahren ist nach der letzten Neuregelung14 nur noch ein fakultativer Ablehnungsgrund, auf den bei der Geltendmachung eines Schmerzensgeldsanspruchs nicht, und im übrigen nur unter gegenüber dem früheren Rechtszustand deutlich verengten Voraussetzungen zurückgegriffen werden kann15. Da das Absehen von der Entscheidung die materiell-rechtliche Position des Antragstellers nicht beeinträchtigt, ist es dogmatisch konsequent, ihm hiergegen ein Rechtsmittel zu versagen; das Gesetz hat dies bis zur letzten Neuregelung auch so vorgesehen. Seither kann der Antragsteller jedoch die Absehensentscheidung in eingeschränktem Umfang16 mit der sofortigen Beschwerde anfechten; auf die damit verbundenen Probleme wird noch einzugehen sein17. Der verurteilte Angeklagte kann die Adhäsionsentscheidung selbständig und unabhängig vom strafrechtlichen Teil anfechten; in diesem Fall kann im Berufungsverfahren ohne Hauptverhandlung durch Beschluss entschieden werden. Nach der letzten Neuregelung ist jedoch auf Antrag
__________ 11 § 406 Abs. 2 StPO n. F; entgegen der bisher ganz h. M.; s. dazu auch unten bei Fn. 51. 12 § 405 StPO n. F; bereits vorher wurde die Zulässigkeit eines Vergleichs ganz überwiegend bejaht. 13 § 406 Abs. 3 Satz 2 StPO n. F. Die bisherige Fassung (§ 406 Abs. 2) stellte die Entscheidung hierüber in das Ermessen des Gerichts. 14 § 406 Abs. 1 Satz 4, 5 StPO n. F. Die bisherige Regelung (§ 405 Satz 2 StPO) war vom Gesetzeswortlaut her zwingend formuliert. 15 Es ist ausdrücklich bestimmt, dass bei der Frage, ob sich der Antrag zur Erledigung im Strafverfahren nicht eignet, die „berechtigten Belange des Antragstellers“ zu berücksichtigen sind und dass die durch die Behandlung eintretende Verzögerung „erheblich“ sein muss, auch soweit ein Grund- oder Teilurteil möglich ist. 16 § 406a Abs. 1 n. F. Nur dann, wenn der Antrag vor Beginn der Hauptverhandlung gestellt wird und solange noch keine abschließende Entscheidung ergangen ist. 17 S. unten bei Fn. 55.
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eines der Beteiligten eine mündliche Anhörung durch das Berufungsgericht vorgeschrieben18. Dass das Adhäsionsurteil, auch wenn es nicht selbständig angefochten wird, nicht bestehen bleiben kann, wenn die strafgerichtliche Verurteilung im Rechtsmittelzug aufgehoben wird, versteht sich nahezu von selbst, das Gesetz spricht dies seit jeher ausdrücklich aus (§ 406a Abs. 3 StPO).
III. Adhäsionsverfahren in der Praxis Die verbreitete Auffassung, dass das Adhäsionsverfahren ohne jede praktische Bedeutung sei19, trifft in dieser Pauschalität nicht zu, auch wenn sein relativer Anteil an allen Strafverfahren gering ist. Seit 1989 verzeichnet die amtliche Justizstatistik die Zahl der in den erstinstanzlichen Strafverfahren ergangenen Adhäsionsurteile; die sich daraus ergebenden Zahlen sind in einem Zeitreihenvergleich in den am Ende dieses Beitrags abgedruckten Tabellen näher dargestellt. Leider fehlt es an darüber hinausgehenden speziellen empirischen Untersuchungen. So ist unbekannt, wie viele Adhäsionsanträge gestellt worden sind, in welchen Fällen solche Anträge mangels Eignung abgelehnt wurden und aus welchen Gründen dies geschehen ist. Die im Schrifttum vertretenen unterschiedlichen Meinungen über die Gründe für die geringe Inanspruchnahme20 sind daher etwas spekulativ. Bundesweit, also unter Einschluss der neuen Länder, sind in den 9 Jahren von 1995 bis 200321 in der ersten Instanz insgesamt 31 735 Adhäsionsurteile ergangen; davon handelte es sich bei 1 850 (= 5,83 %) um Grundurteile. Im Jahresdurchschnitt sind das 3 626 Adhäsionsurteile, darunter 206 Grundurteile. Bezogen auf die Gesamtzahl aller erstinstanzlichen Verurteilungen22 macht dies allerdings lediglich 0,84 % aus; der Forderung nach einem breiten
__________ 18 § 406a Abs. 2 Satz 3 n. F. Das ist, worauf die Entwurfsbegründung (BT-Drucks. 15/1976, S. 17 r. Sp.) ausdrücklich hinweist, keine Berufungshauptverhandlung, was zur Folge hat, dass diese Anhörung allein vom Vorsitzenden ohne die Mitwirkung von Schöffen vorzunehmen ist. 19 So etwa, statt Vieler mit Nachw. SK-StPO-Velten, 2003, Vor § 403 Rz. 4; LR-Hilger, Vor § 403 Rz. 8; Kühne, Strafprozessrecht, 5. Aufl., 1999, Rz. 1136; Volk, Strafprozessrecht, 3. Aufl., 2003, Rz. 30. 20 Teilweise wird hierfür eine zu zögerliche Antragstellung durch die Verletzten und ihre Anwälte, teilweise (und verbreitet) eine zu großzügige Verneinung der Eignung durch die Gerichte genannt, von der auch der Gesetzgeber bei der letzten Reform ausgegangen sein dürfte. 21 Eine alle neuen Länder umfassende Statistik gibt es erst seit 1995; für 2004 liegen die Daten noch nicht vor. 22 Methodisch ist dies deshalb nicht ganz korrekt, weil die Verurteilungen die Zahl der verurteilten Beschuldigten wiedergibt, also mehrere Beschuldigte in einem Verfahren gesondert erfasst. Der an sich korrektere Vergleich mit der Zahl der im Strafverfahren ergangenen Urteile scheitert jedoch daran, dass die Statistik insoweit nicht zwischen verurteilenden, freisprechenden und einstellenden Erkenntnissen unterscheidet.
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Einsatz dieser Verfahrensart entspricht dies sicherlich nicht. Adhäsionsurteile begegnen sowohl in den amtsgerichtlichen als auch in den erstinstanzlichen Verfahren23 vor den Landgerichten24, bei der zweiten Gruppe ist der relative Anteil um etwa die Hälfte höher. In einem Zeitreihenvergleich von 1989 bis 2003 (bezogen auf die alten Bundesländer) wird erkennbar, dass der relative Anteil der Adhäsionsurteile innerhalb einer Bandbreite von etwa 0,5 bis 1,0 % der Verurteilungen schwankt. Eine steigende Tendenz lässt sich nicht verlässlich feststellen. Gewisse, wenn auch schwache Indizien hierfür sind allerdings vorhanden; so ist im Fünfjahresvergleich der Anteil insgesamt von 0,65 % über 0,68 % auf 0,76 % gestiegen. Eine ausgeprägtere Differenz besteht zwischen den alten und den neuen Bundesländern, bei denen der Anteil durchweg signifikant höher ist25. Er liegt insgesamt etwa doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern; der Unterschied hat sich in den letzten Jahren eher vergrößert als verringert. Eine gesicherte Erklärung für diesen Unterschied lässt sich nicht geben. Als Hypothese bietet sich der Umstand an, dass nach dem Strafprozessrecht der DDR die Geltendmachung und Zuerkennung der Schadensersatzansprüche des Verletzten als Bestandteil des Strafverfahrens und des strafgerichtlichen Urteils vorgesehen war und in der Rechtspraxis vielfach genutzt wurde26. Jedenfalls zeigt diese Differenz, dass der Spielraum für den Einsatz des Adhäsionsverfahrens in den alten Bundesländern noch nicht ausgeschöpft sein dürfte. Andererseits ist Skepsis gegenüber den Bemühungen angebracht, das Adhäsionsverfahren in seiner gegenwärtigen Struktur und Gestalt zu einem regelmäßigen Bestandteil des Strafverfahrens zu machen. Das betrifft nicht nur die Aussicht auf den Erfolg solcher Versuche, sondern teilweise auch deren Wünschbarkeit. Darauf ist nunmehr näher einzugehen.
IV. Das Adhäsionsverfahren im System der Schadenswiedergutmachung Von seiner Funktion und rechtspolitischen Zielsetzung her bezweckt das Adhäsionsverfahren eine Schadloshaltung des Verletzten in Bezug auf den ihm durch die Straftat entstandenen materiellen und deshalb auch zivil-
__________ 23 Das (rechtlich mögliche) erstmalige Adhäsionsurteil in der Berufungsinstanz wird in der Statistik nicht erfasst; seine Bedeutung dürfte gering sein. 24 Die vernachlässigbar kleine Zahl der erstinstanzlichen Verfahren vor den Oberlandesgerichten ist mit einbezogen. 25 Das gilt gleichermaßen für die amtsgerichtlichen und die landgerichtlichen Verfahren. Eine atypische Ausnahme findet sich lediglich für das Jahr 1999. 26 Vgl. dazu Luther e.a. (Autorenkollektiv), Strafverfahrensrecht, 3. Aufl., 1987, S. 98 ff., 273; §§ 17, 198, 244 Abs. 5 StPO DDR und dazu die Erl. im Kommentar zur Strafprozessordnung, 2. Aufl., 1987.
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rechtlich auszugleichenden Schaden und damit ein Anliegen, dem Legitimität nicht abzusprechen ist. Mit ihm wird vielfach ferner die Erwartung einer justizentlastenden Funktion verbunden; es soll dazu beitragen, zusätzliche Zivilprozesse und die Gefahr divergierender Entscheidungen zu verringern; auch dies wird man im Grundsatz als ein legitimes Ziel ansehen können. In seiner Funktion der Schadloshaltung des Verletzten tritt das Adhäsionsverfahren in Konkurrenz mit einer Reihe weiterer Institutionen und Möglichkeiten, die gegenüber der Zeit seiner Einführung nicht unerheblich zugenommen haben. Bezieht man sie in die Bewertung mit ein, so ist die Bedeutung des Adhäsionsverfahrens ambivalent, insgesamt aber wohl gegenüber dem früheren Rechtszustand gemindert. Es handelt sich dabei einmal um die Schadenswiedergutmachungsauflage nach § 56b Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StGB27, deren Vorrang vor sonstigen Bewährungsauflagen 199428 ausdrücklich gesetzlich bestimmt worden ist (§ 56b Abs. 2 Satz 2 StGB), sowie um die Schadenswiedergutmachungsauflage nach § 153a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO, deren praktische Anwendungshäufigkeit innerhalb der nach dieser Vorschrift möglichen Maßnahmen allerdings gering ist29. Hinzu tritt die in jüngerer Zeit zunehmend betonte strafmildernde Strafzumessungsrelevanz der Schadenswiedergutmachung durch die allgemeine Strafzumessungsregel des § 46 Abs. 2 StGB sowie durch die inzwischen strafprozessual durch §§ 155a, 155b StPO flankierte30 Heraushebung des Wiedergutmachungsaspekts im Täter-Opferausgleich nach dem 199431 eingeführten § 46a StGB. Gegenüber dem Adhäsionsverfahren, das dem Verletzten lediglich einen Vollstreckungstitel verschafft, dessen Realisierung ihm überlassen bleibt, liegt der Vorteil dieser Möglichkeiten darin, dass sie darauf abzielen, die tatsächliche Schadloshaltung des Verletzten zu bewirken; sie erscheinen insoweit effektiver32. Die strafzumessungsrelevante
__________ 27 Für die Verwarnung mit Strafvorbehalt enthält § 59a StGB eine vergleichbare Regelung; ebenso für die Bewährungsauflagen bei der bedingten Aussetzung des Strafrestes nach § 57 StGB. 28 Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. 10. 1994 (BGBl. I S. 3186). 29 Vgl. dazu mit Nachw. LR-Beulke, 25. Aufl., 2002, § 153a Rz. 29. 30 Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs vom 28. 12. 1999 (BGBl. I S. 2491). 31 Ebenfalls durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. 10. 1994 (BGBl. I S. 3186). 32 Es ist eine generelle, durch Adhäsionsverfahren nicht behebbare Schwäche (nicht nur) des deutschen Straf- und Strafverfahrensrechts, dass die strafrechtliche Sanktion, namentlich bei der nicht zur Bewährung aussetzbaren Geldstrafe mit ihrem durch die Ersatzfreiheitsstrafe besonders nachdrücklich angemahnten Vorrang Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit des Verurteilen, was den Schadensersatzanspruch angeht, erheblich beeinträchtigen kann. Die neueren, rein vollstreckungsrechtlichen Korrekturen (s. etwa § 459a Abs. 1 Satz 2 StPO) reichen als Abhilfe schwerlich aus. Ansätze zu einer Verbesserung im Regierungsentwurf eines
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Wiedergutmachung muss regelmäßig notwendiger Weise vor dem Urteil erfolgen und nimmt damit, soweit sie reicht, dem Adhäsionsurteil seine Anwendungsmöglichkeit (und -notwendigkeit). Anders liegen die Dinge dann, wenn bereits das Bemühen um eine Schadenswiedergutmachung strafmildernd wirkt. Für dieses kann das Verhalten des Angeklagten gegenüber dem Adhäsionsanspruch indizielle Bedeutung haben, etwa, indem er ihn anerkennt oder sich auf einen Vergleich einlässt33. Auch mit den unter dem Stichwort Zurückgewinnungshilfe bekannten strafprozessualen Maßnahmen weist das Adhäsionsverfahren Beziehungen auf. Die im Interesse des Verletzten bestehenden Möglichkeiten, Einziehungsbeschlagnahmen nach den §§ 111b, 111c StPO aufrecht zu erhalten oder dem Verletzten ein Vollstreckungsvorrecht zu gewähren, setzen vielfach einen gerichtlichen Vollstreckungstitel voraus34, der auch im Adhäsionsverfahren erwirkt werden kann. Freilich kann dessen Eignung hierfür zweifelhaft sein, weil erst das verurteilende Erkenntnis diese Möglichkeit eröffnet, die Notwendigkeit einer Vollstreckung aber bereits vorher eintreten kann, so dass aus praktischer Sicht nicht selten der zivilprozessuale Weg vorzuziehen sein dürfte. Zu relativieren ist schließlich auch die verbreitete Meinung, dass die Durchführung des Adhäsionsverfahrens in erheblichem Umfang Zivilprozesse über den gleichen Streitgegenstand erspare. Das wird vorkommen. Es ist aber nicht die Regel, dass einem Strafverfahren wegen einer Tat, aus der einem individuellen Verletzten ein Schaden erwachsen ist, ein aus dessen Ersatz gerichteter Zivilprozess folgt. Auch ohne die – zu Recht – nicht Gesetz gewordene Bindungswirkung strafrichterlicher Urteile für einen nachfolgenden Zivilprozess35 haben diese vielfach faktische präjudizielle Wirkung, jedenfalls, was den Anspruchsgrund angeht. Das gilt namentlich für die – ohnehin dem Adhäsionsverfahren nicht zugänglichen – Fälle, in denen der Schaden versicherungsmäßig gedeckt ist.
V. Risiken im Adhäsionsverfahren für den Verletzten Trotz der gegenüber der Beschreitung des zivilprozessualen Rechtswegs vielfach in mancher Hinsicht bestehenden Vorteile und auch nach der Abschwächung der Eignungsklausel ist für den Verletzten der Weg über das
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Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts (BT-Drucks. 15/2725) in den dort vorgeschlagenen Änderungen der §§ 42, 55a StGB, 459d StPO, dessen (umstrittene) Verabschiedung bei Abschluss dieses Beitrags ungewiss ist. 33 Darüber, dass sich gerade gegen diese Neuregelungen aus anderen Gründen Bedenken erheben lassen, s. unten bei Fn. 51. 34 Vgl. etwa § 111g Abs. 1, 3; § 111h Abs. 1 StPO. 35 So ursprünglich vorgeschlagen im RegE des Justizmodernisierungsgesetzes (BTDrucks. 15/1508); s. dazu mit Nachw. Knauer/Wolf, NJW 2004, 2857; ferner Lange/ Müller, ZRP 2003, 410.
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Adhäsionsverfahren nicht ohne Risiko und der Erfolg ist oft ungewiss. Bei der anwaltlichen Beratung dürfte das eine Rolle spielen, und auch hierin mag eine Erklärung für die teilweise beklagte geringe Antragshäufigkeit zu sehen sein. Das gilt namentlich für die frühzeitige Antragstellung, die die jüngsten Reformen erkennbar favoritisieren, und es gilt vor allem für die einfach gelagerten Verfahren der kleineren und mittleren Kriminalität, für die das Verfahren auf den ersten Blick besonders geeignet zu sein scheint. Der Verletzte kann sich namentlich, trotz der vom Gesetzgeber soeben eingeschränkten Eignungsklausel, nicht hinreichend sicher sein, ob es zu einer strafrechtlichen Verurteilung kommt, die eine notwendige Voraussetzung für das zivilrechtliche Adhäsionsurteil ist. Stellt der Verletzte seinen Adhäsionsantrag bereits im Ermittlungsverfahren, so kann er auch dann nicht sicher sein, eine solche Verurteilung zu erreichen, wenn die Schuld des Beschuldigten aus seiner Sicht klar zu Tage liegt. Denn er muss – was wegen der quantitativen Bedeutung36 ins Gewicht fallen kann – in Rechnung stellen, dass bereits die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach den §§ 153, 153a oder 154 einstellt. Wartet er bis zur Anklageerhebung ab, so muss er ebenfalls mit einer solchen Verfahrenserledigung rechnen37; für die Verbindung des Adhäsionsverfahrens mit einer Privatklage38 muss sich der Verletzte auf eine Urteilsquote von allenfalls 15 % einrichten39. Selbst wenn die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage erhebt und der Beschuldigte verurteilt wird, scheitert das Adhäsionsverfahren dann, wenn dies durch Strafbefehl geschieht, also in mehr als der Hälfte aller Fälle40. Nach bis vor kurzem einhelliger, immer noch ganz herrschender Meinung41 kann im Strafbefehlsverfahren durch Strafbefehl über den Adhäsionsanspruch nicht entschieden werden42. Die neuerdings vertretene Gegenmeinung43 ver-
__________ 36 Rund die Hälfte aller staatsanwaltschaftlichen Einstellungen (etwa ein Viertel aller Ermittlungsverfahren) beruhen auf den §§ 153 ff. StPO; vgl. LR-GraalmannScheerer, 25. Aufl., 2001, § 170 Rz. 4. 37 Nach der Justizstatistik standen beispielsweise im Jahre 2003 im amtsgerichtlichen Verfahren rund 420 000 Erledigungen durch Urteil rund 137 000 Einstellungen nach den §§ 153 ff. StPO gegenüber. 38 LR-Hilger, § 403 Rz. 19 hält gerade das Privatklageverfahren für das Adhäsionsverfahren für besonders geeignet. 39 S. dazu, auch generell zur Entwicklung des Privatklageverfahrens in jüngerer Zeit und seiner zunehmenden Bedeutungslosigkeit, Rieß, Schiedsamtszeitung 2000, 306 ff. 40 Vgl. LR-Graalmann-Scheerer, § 170 Rz. 4. 41 Vgl. die umfassenden Nachw. bei Sommerfeld/Guhra, NStZ 2004, 420 ff. Fn. 14. 42 Dies wird man auch in den Fällen annehmen müssen, in denen nach Eröffnung des Hauptverfahrens nach § 408a StPO ein Übergang in das Strafbefehlsverfahren erfolgt; auch dies ist keine quantité negliable, sondern betraf 2003 immerhin rund 22 000 Verfahren. 43 So mit eingehender Begründung Sommerfeld/Guhra, NStZ 2004, 420 ff.; dem folgend Kuhn, JR 2004, 397, 400.
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dient jedenfalls de lege lata keine Zustimmung. Ihr stehen unabhängig vom Wortlaut und der systematischen Stellung der §§ 403 ff. StPO kaum überwindbare strukturelle Schwierigkeiten entgegen, namentlich würde die unverzichtbare Einfachheit des Strafbefehlsverfahrens gefährdet werden44. Man wird ferner jedenfalls nach der letzten umfassenden Reform des Adhäsionsverfahrens durch das OpferRRG von einer ungewollten Gesetzeslücke nicht mehr ausgehen können, weil der Gesetzgeber, dem die Unanwendbarkeit im Strafbefehlsverfahren bekannt war, eine abweichende Regelung unterlassen hat. Prekär ist diese Situation für den Antragsteller namentlich deshalb, weil die aus diesen Gründen ungewisse Realisierungschance wegen der mit dem Eingang des Antrags bei Gericht verbundene Rechtshängigkeit ein zivilprozessuales Vorgehen so lange sperrt, wie das Strafverfahren noch anhängig ist. Soweit eine gesicherte Rechtsposition für eine Anspruchstitulierung zeitnah erforderlich ist, wird bei der Beratung des Verletzten daher oft ein Verzicht auf das Adhäsionsverfahren ins Auge zu fassen sein.
VI. Verteidigungsposition des Beschuldigten im Adhäsionsverfahren Die durch das Strafprozessrecht vielfach bezweckte und gesicherte Schutzposition des Beschuldigten kann durch das Adhäsionsverfahren nicht unerheblich beeinträchtigt werden; ein Umstand, mit dem sich die gegenwärtige „opferzentrierte“ Strafrechtspflege und Gesetzgebung nicht immer ausreichend auseinandersetzt45. Im Kern handelt es sich darum, dass er sich einem zweiten Streitgegenstand, nämlich dem zivilrechtlichen Ersatzanspruch ausgesetzt sieht, bei dem die zivilprozessuale „Waffengleichheit“ nicht in allen Punkten gewahrt ist46 und dessen Abwehr seine Verteidigungsposition und Verteidigungsmöglichkeiten beträchtlich beeinträchtigen kann. Für den bestreitenden und namentlich den sich durch Schweigen verteidigenden Beschuldigten gilt, dass er die Glaubwürdigkeit dieser (prozessual
__________ 44 Ausnahmen sind allenfalls für die Fälle denkbar, in denen es sich um einen „vereinbarten“ Strafbefehl handelt; es geht aber nicht an, das Ergebnis von solchen insgesamt atypischen Konstellationen abhängig zu machen. 45 Kritische Bemerkungen aus diesem Grunde etwa bei AK-StPO-Schöch, 1996, Vor § 403 Rz. 8; LR-Hilger, Vor § 403 Rz. 9; SK-StPO-Velten, Vor § 403 Rz. 5; und bereits früher Rieß (Fn. 1), Rz. 80 ff. Nicht recht nachvollziehbar ist die apodiktische Behauptung von Kuhn, JR 2004, 397, 400 l. Sp., für den Angeklagten sei ein Interessenkonflikt zwischen straf- und zivilrechtlicher Verteidigung in der Regel nicht zu erwarten. 46 So ist der Antragsteller anders als im Zivilprozess Zeuge und nicht Partei und ihm obliegt keine Darlegungs- und Beweisführungslast, sondern ihm kommen auch insoweit die Grundsätze der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht zugute.
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legitimen) Verteidigungsposition gefährdet, wenn er die Berechtigung des materiellen Ersatzanspruchs des (in dieser Verfahrenslage nur potentiell) Verletzten substantiiert bekämpfen will. Weder kann er ein auch zivilrechtlich relevantes Mitverschulden effektiv geltend machen noch kann er die (möglicherweise durchaus zweifelhafte) Schadenshöhe wirksam bekämpfen. Für den geständigen Beschuldigten gilt, dass es sich auf die Straferwartung positiv auswirken kann, wenn er sich dem Ersatzanspruch gegenüber freundlicher verhält, als dies nach der Sachlage geboten ist und möglich wäre, wenn die zivilrechtliche Verteidigung außerhalb des Strafverfahrens und nach dessen Erledigung stattfinden könnte47. Uneingeschränkt gelten diese Vorbehalte freilich nicht. Es sind (auch in der Praxis) Fallkonstellationen vorhanden, in denen auch für den Beschuldigten eine Art „Gesamtbereinigung“ des Tatgeschehens prozessual nützlich, von ihm gewollt und deshalb das Adhäsionsverfahren auch für ihn vorteilhaft ist; dazu mögen auch Fälle von Urteilsabsprachen gehören. Ein Ausgleich dieses Konflikts für den Beschuldigten zwischen problematischem und wünschenswertem Einsatz des Adhäsionsverfahrens ist nicht ganz einfach. Wünschenswert erscheint es, auch hierfür auf die Eignungsklausel des § 406 Abs. 1 Satz 4 StPO (§ 405 Satz 2 a. F) zurückzugreifen. Das würde bedeuten, dass sich der Adhäsionsantrag auch dann nicht zur Erledigung im Strafverfahren eignet, wenn die strafverfahrensrechtlich anerkannten Verteidigungspositionen des Beschuldigten dadurch erheblich beeinträchtigt werden würden48. Dafür gibt es der Sache nach gute Gründe. Angesichts der Verengung des Eignungsmerkmals und seiner gänzliche Verneinung für die Geltendmachung eines Schmerzensgeldanspruchs durch die neue Gesetzgebung im OpferRRG spricht allerdings wenig dafür, dass diese Interpretation sich in der Rechtswirklichkeit durchsetzen wird.
VII. Zur Bewertung der jüngsten Reform Nach den vorstehenden Überlegungen muss die Bewertung der vom Gesetzgeber als eine breit angelegte Reform des Adhäsionsverfahrens verstandene jüngste Neugestaltung durch das OpferRRG ambivalent ausfallen. Der generelle Ansatz, vermeidbare Anwendungshindernisse, die aus Sachgründen
__________ 47 Dieser Gefahr ist namentlich das zivilprozessuale Anerkenntnisurteil ausgesetzt, was den Gesetzgeber bis zur letzten Änderung durch das OpferRRG davon abgehalten hat, es im Adhäsionsverfahren vorzusehen. Kritisch zur Neuregelung auch aus diesen Gründen etwa Hilger, GA 2004, 478, 485; Neuhaus, StV 2004, 620, 626. 48 Ansätze zu einer solchen Interpretation etwa bei LR-Hilger, § 405 Rz. 10; SK-StPOVelten, § 405 Rz. 7 (beide sehr zurückhaltend); Rieß (Fn. 1), Rz. 153.
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nicht zu rechtfertigen sind, zurückzudrängen, verdient zwar Zustimmung49; nicht immer unzweifelhaft ist dagegen der Weg, auf dem dies im Einzelnen geschieht. Bedenken erwecken insbesondere Regelungen die die Verteidigungsposition des Beschuldigten beeinträchtigen können oder deren Praktikabilität problematisch erscheint. Soweit die Reform vorwiegend klarstellende Regelungen vorgenommen hat, sind sie zu begrüßen. Das gilt im Grundsatz auch für den neuen § 405 StPO, der die bisher schon weitgehend bejahte Möglichkeit eines Vergleichs gesetzlich festschreibt. Noch tolerabel erscheint auch die in § 405 Abs. 1 Satz 2 StPO vorgesehene (als Sollvorschrift eingeschränkte) Pflicht des Gerichts, auf übereinstimmenden Antrag einen Vergleichsvorschlag zu unterbreiten, weil sich dies als eine sinnvolle Ergänzung des den Täter-Opfer-Ausgleich befördernden neuen § 155a StPO verstehen lässt. Ob dies in der Rechtspraxis nennenswerte Bedeutung erlangen wird, bleibt freilich abzuwarten. Auch wenn die mangelhafte Befolgung der im § 403 Abs. 2 StPO vorgesehenen Information des Verletzten im Schrifttum vielfach als einer der Gründe für die geringe Anwendung des Adhäsionsverfahrens betrachtet wird50, erscheint die im neuen § 406h Abs. 2 StPO deutlich verstärkte Pflicht nicht ganz unproblematisch. Bedenkt man die trotz der Einschränkung der Eignungsklausel verbleibenden Risiken, dass gerade der sehr früh gestellte Adhäsionsantrag ins Leere gehen kann, so kann dies beim Verletzten unberechtigte Erwartungen und Enttäuschung auslösen. Was die Zulässigkeit des Anerkenntnisurteils durch den neuen § 406 Abs. 2 StPO angeht, so setzt sich die Entwurfsbegründung51 über die dagegen verbreitet erhobenen Bedenken, die insbesondere auf die Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten abheben, einigermaßen souverän hinweg52. Die Verschärfung der Eignungsklausel unter Einschluss der verfahrensrechtlichen Behandlung erweist sich in mancherlei Hinsicht als problematisch; zudem bleibt zweifelhaft, ob sie ihre praktische Bewährungsprobe bestehen wird. Der Gesetzgeber konnte sich hierbei zwar auf die verbreitete Auffassung im Schrifttum stützen, wonach die bisherige Fassung die eigentliche Achillesferse des Adhäsionsverfahrens sei53. Dass die Neuregelung im neuen
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49 Es ist deshalb etwas zu bedauern, dass die Unanwendbarkeit des Verfahrens für arbeitsgerichtliche Deliktsansprüche entgegen dem Entwurfsvorschlag in den parlamentarischen Beratungen gestrichen worden ist. Die hierfür gegebene Begründung im Streichungsantrag des Bundesrates (BT-Drucks. 15/2636, S. 10 r. Sp.), die im Vermittlungsverfahren zur Streichung geführt hat, überzeugt nicht. 50 S. etwa SK-StPO-Velten, § 403 Rz. 10. 51 BT-Drucks. 15/1976, S. 17, l. Sp. Der Hinweis auf die nunmehr auch gesetzlich anerkannte Möglichkeit eines Vergleichs und die darauf gestützte Parallelisierung überzeugt nicht so recht. 52 Wegen der Anwendungsschwierigkeiten, die hieraus entstehen können, s. etwa Neuhaus, StV 2004, 620, 626; kritisch auch Hilger, GA 2004, 478, 485. 53 So etwa HK-StPO-Kurth, 3. Aufl., 2001, § 403 Rz. 1 a. E.; Granderath, NStZ 1984, 399, 400 r. Sp.
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§ 406 Abs. 1 Satz 5 StPO bei der Erwähnung der Verfahrensverzögerung ausdrücklich auf die Möglichkeit eines Teil- oder Grundurteils hinweist, dürfte angesichts des geringen und sicher steigerungsfähigen Anteils der Grundurteile sachgerecht sein. Es ist auch noch hinnehmbar, wenn die durch die Prüfung des zivilrechtlichen Ersatzanspruchs zu befürchtende Verfahrensverzögerung künftig „erheblich“ sein muss. Dagegen erweckt es Bedenken, wenn die Neuregelung das Absehen von der Entscheidung mangels Eignung lediglich als Kannvorschrift in das Ermessen des Gerichts stellt und diesem damit auch eine Adhäsionsentscheidung in ungeeigneten Fällen zu gestatten scheint, wenn es die Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Antragstellers ausdrücklich gebietet, über die berechtigten Interessen des Beschuldigten aber kein Wort verliert, und wenn es schließlich im neuen § 406 Abs. 1 Satz 6 StPO für den Schmerzensgeldanspruch, auch wenn sich für ihn eine etwas großzügigere Behandlung vertreten ließe, die Eignungsprüfung ausnahmslos ausschließt54. Unbefriedend und wenig praktikabel erscheint auch die nach der Neuregelung vorgesehene verfahrensrechtliche Behandlung, wie sie sich in dem neuen § 406 Abs. 5 und in § 406a Abs. 1 Satz 1 StPO darstellt. Ihr Ziel geht erkennbar dahin, die negative Entscheidung über den Adhäsionsantrag möglichst frühzeitig herbeizuführen; sie übersieht dabei aber, dass sich die Frage der Begründetheit und Eignung des Antrags regelmäßig erst nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung, namentlich nach der Einlassung des Angeklagten und dem Ablauf der Beweisaufnahme wird verlässlich beantworten lassen. Die im Prinzip verlangte gesonderte Negativentscheidung führt für das Gericht, wenn es sich hierauf einlässt, zu vermeidbarer Mehrarbeit; nach dem Gesetzeswortlaut hat sie ferner entgegen dem bisherigen § 405 Satz 1 StPO zur Folge, dass auch dann, wenn das Gericht erst zusammen mit dem Urteil von der Entscheidung absieht, dies durch einen gesonderten Beschluss aussprechen muss, ohne dass ein sachlicher Grund hierfür erkennbar ist. Missglückt erscheint schließlich auch die durch den neuen § 406 Abs. 1 Satz 1 eröffnete Möglichkeit der sofortigen Beschwerde gegen das Absehen von der Entscheidung, sofern der Antrag vor dem Beginn der Hauptverhand-
__________ 54 Soweit die Entwurfsbegründung darauf abhebt, dass in diesen Fällen regelmäßig jedenfalls ein Grundurteil möglich sei (BT-Drucks. 15/1916 S. 16 r. Sp. a. E), trifft dies zwar zu. Dem Verletzten hilft dies gerade in solchen Fällen allerdings regelmäßig wenig, weil er um das Betragsverfahren im Zivilprozess oft nicht herumkommen wird. De lege ferenda ließe sich vielmehr erwägen, im materiellen Strafrecht einen immateriellen Schadensersatzanspruch des Verletzten zu schaffen, der auf dessen Antrag auch ohne ein formelles Adhäsionsverfahren zuerkannt werden könnte und auf einen etwa später geltend gemachten Schmerzensgeldanspruch anzurechnen wäre. Als gedanklicher Ansatzpunkt, nicht aber als ohne weiteres übernahmefähiges Vorbild, bietet sich insoweit die bis 1975 in den §§ 188, 231 StGB vorgesehene Buße an, deren Beseitigung bei der damaligen Strafrechtsreform nicht unumstritten war.
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lung gestellt wird und ein Urteil in der Sache noch nicht ergangen ist55. Die Regelung überbetont das Rechtsschutzinteresse des Antragstellers, dem stets der Zivilrechtsweg eröffnet ist; sie führt, da die Beschwerde keine aufschiebende Wirkung hat, vielfach dazu, dass sie im Laufe des Beschwerdeverfahrens unzulässig wird und kann insgesamt eine verfahrensrechtliche Mehrbelastung zur Folge haben, die in einem eigenartigen Widerspruch zu den sonstigen Bemühungen des neueren Gesetzgebers steht, die Gerichte zu entlasten und den Umfang von Rechtsmitteln einzuschränken. Es ist freilich nicht zu erwarten, dass diese wenig praktikable Regelung in der Praxis sonderliche Bedeutung erlangen und dazu beitragen wird, das Adhäsionsverfahren zu beleben56.
VIII. Ausblick Die Zukunft des Adhäsionsverfahrens, auch in seiner durch die jüngste Gesetzgebung reformierten Form, erscheint nach allem zweifelhaft. Damit, dass die Erledigung des zivilrechtlichen Ersatzanspruchs des Verletzten zum regelmäßigen Bestandteil der strafgerichtlichen Verurteilung werden wird, ist nicht zu rechnen; dem stehen nicht nur eingeschliffene Verhaltensmuster aller Beteiligter entgegen, sondern auch systematische und strukturelle Gründe, die in unserer Rechtsordnung angelegt sind und nicht isoliert in diesem Bereich überwunden werden können. Damit soll nicht gesagt werden, dass das Adhäsionsverfahren bedeutungslos sei und bleiben müsse. Es hat sich gezeigt, dass es als ein gezielt eingesetztes Mittel im Gesamtbereich des Schadensausgleichs namentlich im Kontext weiterer darauf abzielender Möglichkeiten ein zweckmäßiges Institut darstellen kann, und seine bescheidene Anwendungshäufigkeit erscheint in Grenzen steigerungsfähig. Wollte der Gesetzgeber aber weiterhin sein Bemühen, die Schadloshaltung des Verletzten zu verbessern, auf dieses Rechtsinstitut konzentrieren, so liefe er Gefahr, seine Ressourcen zu verschwenden.
__________ 55 Es handelt sich bei der Gesetz gewordenen Fassung um eine im Gesetzgebungsverfahren entstandene Kompromisslösung zwischen dem ursprünglich die sofortige Beschwerde in allen Fällen vorsehenden Vorschlag des Koalitions- und des Regierungsentwurfs und dem Streichungsantrag des Bundesrates, vgl. dazu BT-Drucks. 15/1976, Art. 1 Nr. 17 Buchst. c, BT-Drucks. 15/2576, S. 11, 16; BT-Drucks. 15/2506, Nr. 18. 56 Ebenso Hilger, GA 2004, 478, 485.
437
438
342.248
350.895
1.701.173
4.952.416
2002
2003
99–03
Summe
10
11
34.007
12.873
2.506
3.513
2.344
2.342
2.168
10.933
1.642
1.933
2.326
2.439
2.593
10.201
2.338
0,69
0,76
0,71
1,03
0,71
0,70
0,64
0,67
0,52
0,61
0,91
0,77
0,84
0,63
0,75
0,83
0,75
0,43
0,46
% v. 2
1.892
910
315
169
208
62
156
432
135
79
81
72
65
550
103
105
104
131
107
N
5,56
7,08
12,58
4,81
8,87
2,64
7,20
3,95
8,22
4,09
3,48
2,95
2,51
5,39
4,42
4,01
4,45
9,32
6,79
% v. 3
dar. Grundurt.
184.848
59.190
12.042
11.642
11.729
12.088
11.689
62.123
12.066
12.232
12.299
11.883
13.643
63.535
13.312
13.286
13.727
11.629
11.581
Verurt.
1.959
589
143
128
127
85
106
741
144
135
163
155
144
629
117
104
127
169
112
N
1,06
1,00
1,19
1,10
1,08
0,70
0,91
1,19
1,19
1,10
1,33
1,30
1,06
0,99
0,88
0,78
0,93
1,45
0,97
% v. 7
257
58
12
16
11
5
14
135
17
22
39
33
24
64
18
2
19
6
19
N
13,13
9,85
8,39
12,50
8,66
5,88
13,20
18,22
11,81
16,30
23,92
21,29
16,47
10,17
15.36
1,92
14,97
3,55
14,30
% v. 8
dar. Grundurt.
13
14
15
16
5.137.170
1.760.163
362.937
353.890
344.134
347.455
351.747
1.706.067
356.337
347.749
340.505
329.835
331.641
1.670.940
333.837
326.239
323.732
335.932
351.200
Verurt.
35.963
13.462
2.649
3.641
2.471
2.427
2.274
11.671
1.786
2.068
2.489
2.594
2.734
10.833
2.396
2.705
2.465
1.575
1.689
N
0,70
0,76
0,73
1,03
0,72
0,70
0,65
0,68
0,50
0,59
0,73
0,79
0,82
0,65
0,72
0,83
0,76
0,47
0,57
% v. 12
Insgesamt
Adhäsionsurteile
2.099
918
327
185
219
67
120
567
152
101
120
105
89
614
121
107
123
137
126
N
5,83
6,82
12,34
5,08
8,86
2,76
5,28
4,86
8,51
4,88
4,82
4,05
3,38
5,67
5,05
3,96
4,99
8,70
7,46
% v. 13
dar. Grundurt.
Strafgerichte, erste Instanz, insgesamt
12
Tabelle 1: Entwicklung des Anteils der Adhäsionsurteile, Bundesrepublik Deutschland, alte Bundesländer, 1989 bis 2003.
332.405
1.643.944
94–98
2001
344.271
1998
340.058
335.517
1997
335.567
328.206
1996
2000
317.952
1995
1999
317.998
1994
2.279
320.525
1.607.299
1993
1992
89–93
2.601
310.005
312.953
1991
1.577
1.406
339.513
324.303
N
1990
Verurt.
Jahr
9
Insgesamt
8
Insgesamt
7
Adhäsionsurteile
6
Amtsgerichte
5
Adhäsionsurteile
4 Landgerichte und Oberlandesgerichte, 1. Instanz
3
1989
2
1
Peter Rieß
Verurt.
59.040
64.178
68.840
73.671
74.711
72.768
70.588
72.163
74.557
630.516
Jahr
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
Summe
9
10
11
9.079
1.524
1.536
1.166
796
371
786
1.018
986
896
N
1,44
2,04
2,13
1,65
1,09
0,50
1,07
1,48
1,54
1,52
% v. 2
388
78
104
38
12
7
24
32
49
44
N
4,27
5,12
6,77
3,26
1,51
1,89
3,05
3,14
4,97
4,91
% v. 3
dar. Grundurt.
16.966
1.781
1.735
1.754
1.761
1.974
1.816
1.971
2.019
2.155
Verurt.
239
12
39
39
19
18
15
10
27
60
N
1,41
0,67
2,25
2,22
1,08
0,91
0,83
0,51
1,34
2,78
% v. 7
66
1
6
4
2
2
4
2
26
19
N
27,60
8,33
15,38
10,26
10,53
11,11
26,70
20,00
96,30
31,67
% v. 8
dar. Grundurt.
Insgesamt
8
Insgesamt
7
Adhäsionsurteile
6
Amtsgerichte
5
Adhäsionsurteile
4 Landgerichte und Oberlandesgerichte, 1. Instanz
3
13
14
15
16
647.502
76.338
73.893
72.342
74.549
76.685
75.487
70.811
66.197
61.195
Verurt.
9.338
1.536
1.575
1.225
815
389
801
1.028
1.013
956
N
1,44
2,01
2,13
1,73
1,09
0,51
1,07
1,45
1,53
1,58
% v. 12
Insgesamt
Adhäsionsurteile
454
79
110
42
14
9
28
34
76
63
N
4,86
5,14
6.97
3,43
1,72
2,31
3.50
3,31
7,40
6,59
% v. 13
dar. Grundurt.
Strafgerichte, erste Instanz, insgesamt
12
Tabelle 2: Entwicklung des Anteils der Adhäsionsurteile, Bundesrepublik Deutschland, neue Bundesländer, 1995 bis 2003.
2
1
Einige Bemerkungen über das sog. Adhäsionsverfahren
439
Gerhard Schäfer
Die Einlassung zur Sache durch den Verteidiger Inhaltsübersicht I. Die Bedeutung der Beratung durch den Verteidiger
II. Schriftliche Einlassung und ihre Verwertbarkeit III. Einlassung durch den Verteidiger
I. Die Bedeutung der Beratung durch den Verteidiger 1. In seinem großen, nicht nur für den Verteidiger, sondern für jeden mit Strafverfahren Befassten unentbehrlichen Werk zur Strafverteidigung1 hat Hans Dahs an vielen Stellen auf die große Bedeutung der Einlassung des Beschuldigten für den gerichtlichen Erkenntnisprozess und damit auf die Verantwortung des Verteidigers, seinen Mandanten bei der Vorbereitung dieser Einlassung zu beraten, hingewiesen. Er legt für das Ermittlungsverfahren eindrucksvoll die Vor- und Nachteile des Schweigens und die Möglichkeiten und Konsequenzen einer Einlassung dar (Handbuch Rdn. 264 ff.). Hans Dahs behandelt die Sacheinlassung im Zwischenverfahren zwischen „Prozessdummheit“ und gelungener Verteidigungsstrategie (Handbuch Rdn. 403)2 und er hebt die Frage der Einlassung seines Mandanten als wichtigsten Teil der Vorbereitung der Hauptverhandlung hervor (Handbuch Rdn. 447). 2. Es liegt auf der Hand, dass der Mandant zur Vorbereitung seiner Einlassung der Beratung durch seinen Verteidiger bedarf. a) Das gilt in jeder Lage des Verfahrens. Zutreffend weist Dahs im Handbuch (Rdn. 447) darauf hin, dass es dabei nicht nur um das Grundproblem gehe, ob eine Einlassung erfolgen solle oder nicht, „sondern um eine Vielzahl von Varianten, z. B. Zeitpunkt der Einlassung, Teileinlassung, schriftliche oder mündliche Verteidigererklärung u. a.“, kurz wie eine Einlassung aussehen soll. Eindrucksvoll ist im Handbuch (Rdn. 18 und 53) die Darlegung der Fallgestaltungen, wann es im Interesse effektiver Verteidigung „ein Akt der Klugheit sein“ kann, dem Mandanten das Eingeständnis etwa vorhandener Schuld nahe zu legen um die Möglichkeiten sachgerechter Verteidigung zu erweitern. Der Verfasser kennt viele Schwurgerichtssachen, in denen das Gericht bei schweigenden Angeklagten vor der schwierigen Situation stand, gewichtige strafmildernde Umstände zu ahnen, sie aber mangels tatsäch-
__________ 1 2
Hans Dahs, Handbuch des Strafverteidigers 6. Aufl. 1999; im folgenden als „Handbuch“ zitiert. Dazu siehe auch Hamm, StV 1982, 490, 491.
441
Gerhard Schäfer
licher Anhaltspunkte auch nach den Grundsätzen des Zweifelssatzes nicht bejahen zu können. Ein sachgerechter, und vor allem: vom Mandanten akzeptierter, Rat des Verteidigers hätte hier für alle Beteiligten zu einem befriedigenderen, weil gerechteren Ergebnis führen können. Ein frühes Geständnis ist für die spätere Strafzumessung als wichtiger Milderungsgrund von erheblicher Bedeutung. Es hat auch, was nicht zu unterschätzen ist, faktischen Einfluss auf die Feststellung des Schuldumfangs, weil die Ermittlungsbehörden sich nicht gezwungen sehen, den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei womöglich noch belastende Umstände ans Tageslicht zu bringen. Andererseits nimmt ein solches Geständnis der Verteidigung die Möglichkeit, einen Schuldspruch zu bekämpfen. Die erforderliche Abwägung kann nur der Verteidiger vornehmen. Will der Angeklagte mit oder ohne Verständigung ein Geständnis ablegen, bedarf er des Rats, wie detailliert dieses sein muss. Eine zu „schlanke“ Formulierung könnte insbesondere bei Vorliegen gravierender Belastungsumstände vom Gericht nicht als strafmildernde Einlassung gewertet werden3 oder diese zu einer vielleicht unerwünschten weiteren Beweiserhebung veranlassen. Bestreitet der Angeklagte den Vorwurf, wird es Aufgabe des Verteidigers sein, unsinniges Vorbringen zu verhindern und seinem Mandanten klar zu machen, dass es auch hier auf die Glaubhaftigkeit seines Vorbringens ankommt. Dass diese Beratung für den Verteidiger gefährlich werden kann, liegt auf der Hand. Zwar hat der Bundesgerichtshof in den letzten Jahren die Stellung des Verteidigers gestärkt4. Zu Recht warnt aber Hans Dahs an vielen Stellen (siehe nur Handbuch Rdn. 52 und 269) vor den gerade bei der Beratung des Mandanten über die Einlassung bestehenden Konfliktsituationen, denn der Vorwurf der Verdunkelung und der Strafvereitelung liegt hier besonders nahe. In seiner Beistandsfunktion darf der Verteidiger sich nur der prozessual- und standesrechtlich erlaubten Mittel bedienen, ein Recht zur Lüge hat er ebenso wenig5 wie ein Recht zur Beratung bei der Lüge6. Die Beratung darf nicht dahin gehen, dass der sachliche Gehalt der Aussage verfälscht wird. Einen vom Mandanten geschilderten, diesen belastenden Sachverhalt darf der Verteidiger nicht „umbiegen“, er muss aber auch nicht dafür sorgen, dass die belastenden Umstände offenbart werden, wenn nicht mit ihrer Unter-
__________ 3 4 5 6
Zum schlanken Geständnis bei einer Verständigung s. jetzt BGH GSSt Beschl. v. 3. 3. 2005 – GSSt 1/04 – unter B III 3 b der Gründe. BGHSt 38, 345; 46, 36; 46, 53; 47, 278. Vgl. nur BGH NStZ 1999, 188 = StV 1999, 153; Lackner/Kühl, StGB 25. Aufl. § 258 Rz. 9 NStZ 1999, 188 = StV 1999, 153; Beulke JR 1994, 116 ff.; Bottke ZStW 96 (1984), 726, 757.
442
Die Einlassung zur Sache durch den Verteidiger
drückung die Sachdarstellung zur Unwahrheit verfälscht wird7. Für die Beratung seines Mandanten zur Einlassung gilt also dasselbe wie für Äußerungen des Verteidigers selbst8. Im Handbuch ist dies bei Rdn. 44 klassisch formuliert und so auch wörtlich in die Thesen zur Strafverteidigung des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer9 eingegangen: „Alles was der Verteidiger sagt, muss wahr sein, aber er darf nicht alles sagen, was wahr ist“. In der Begründung zu den Thesen ist klar gestellt, dass dieser Grundsatz auch für die Mitwirkung des Verteidigers bei der Gestaltung der Einlassung seines Mandanten gilt. Dabei ist unter Wahrheit natürlich nicht die objektive Wahrheit zu verstehen, die niemand kennt, sondern das, was der Verteidiger auf Grund der Information seines Mandanten vom Geschehen erfahren hat. Daraus folgt aber zugleich, dass der Verteidiger, um in diesem Sinne von Wahrheit korrekt verteidigen zu können, sich sehr sorgfältig um Information durch seinen Mandanten bemühen muss, soweit dieser dazu bereit ist. Nur wenn dem Verteidiger durch diese Information klar ist, was sein Mandant sagen will, kann er ihn bei seiner Einlassung beraten, ohne sich selbst der Gefahr der Strafvereitelung auszusetzen. Beim Rat zu einer bestimmten, nicht auf eindeutiger Information seines Mandanten beruhenden Einlassung könnte dies der Fall sein. b) Bei der Beratung zur Einlassung im Ermittlungsverfahren ist zunächst zu bedenken, dass Schweigen zwar gesetzlich zulässig ist, dass aber andererseits eine gezielte Einlassung häufig Verdunklungsgefahr ausräumt (vgl. Handbuch Rdn. 268) und die Ermittlungsbehörden auch in der Sache zufrieden stellt, sie also vor weiteren Maßnahmen, wie Durchsuchung, abhält. Letzteres hängt natürlich von deren Informationsstand ab, welcher nur durch Akteneinsicht erfahren werden kann. Die im Handbuch (Rdn. 268) vorgeschlagene Erklärung des Verteidigers, der Mandant lege Wert darauf, sich zur Sache zu äußern, dies setze aber vorherige Akteneinsicht voraus, mag in vielen Fällen helfen. Ohne Aktenkenntnis weiß der Verteidiger schließlich nur soviel, wie ihm sein Mandant, notwendigerweise aus seiner Sicht des Geschehens, berichtet hat. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch eine neuere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts10. Danach muss bei nachträglicher Gewährung rechtlichen Gehörs gerade bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen deutlich werden, dass das Gericht sich mit der Einlassung des Beschuldigten auseinandergesetzt hat. Diese Verpflichtung wirkt natürlich auf den Zeitpunkt der Anordnung der Maßnahme zurück, das heißt, die Ermittlungsbehörden und der Ermittlungsrichter werden eine Maßnahme nicht anordnen,
__________ 7 Vgl. BGHSt 9, 20, 22; 38, 345, 348; BGH NStZ 1999, 188 = StV 1999, 153. 8 Vgl. den Fall BGH NStZ 1999, 188 = StV 1999, 153. 9 Bundesrechtsanwaltskammer (Strafrechtsausschuss), Thesen zur Strafverteidigung, 1992. 10 BVerfG – Kammer – NJW 2004, 1519.
443
Gerhard Schäfer
die vor dem Hintergrund der Einlassung nicht begründbar ist. Der Verteidiger wird gut daran tun, bei der Vorbereitung der Einlassung seines Mandanten darauf zu achten, dass sie auch in dieser Richtung vollständig und ausführlich ist. Dies kann sich auf die Äußerung zur Sache, aber auch auf das procedere beziehen. Das Angebot, bestimmte Unterlagen jederzeit den Behörden zur Verfügung zu stellen, wird spätestens den Ermittlungsrichter bremsen, ohne weiteres einen Durchsuchungsbeschluss zu erlassen. c) Hans Dahs beurteilt die Möglichkeiten, im Zwischenverfahren erfolgreich zu agieren, skeptisch (Handbuch Rdn. 403). Das hat sicher gute Gründe. Entscheidungen über die Nichteröffnung des Hauptverfahrens werden durch die Oberlandesgerichte weit kritischer beurteilt als Freisprüche durch den Bundesgerichtshof. Auch ist die Neigung vieler Gerichte nicht zu verkennen, kritische und schwierigere Fragen, insbesondere zum Tatsächlichen in der Hauptverhandlung zu klären. Es gibt aber auch hier Räume für erfolgreiche Verteidigeraktivitäten. Nicht jede Anklage wurde seitens der Staatsanwaltschaft mit dem unabdingbaren Anspruch erhoben, sie müsse zu einer Verurteilung führen. Es gibt Fälle, in denen die weitere Entscheidung dem Gericht überlassen werden soll. Hierher gehören nicht nur die auf Beschwerde gegen eine Einstellungsverfügung angeklagten Sachen, sondern auch solche, bei denen ein öffentliches Interesse an der Entscheidung durch ein Gericht angenommen wird. Man mag aus allgemeinen rechtspolitischen Gründen bedauern, dass manche Staatsanwaltschaft nicht immer den Mut hat, hier selbst zu entscheiden. Liegt ein solcher Sachverhalt vor, ist der Verteidigung Tür und Tor geöffnet. Viele Fälle konnten in dieser Lage des Verfahrens nach einer zusammenfassenden rechtlichen und tatsächlichen Beurteilung durch den Verteidiger, in der die Sacheinlassung des Mandanten präzisiert wurde, etwa nach § 153a StPO erledigt werden. d) Zutreffend bezeichnet Hans Dahs (Handbuch Rdn. 447) die Frage der Einlassung seines Mandanten als wichtigsten Teil der Vorbereitung der Hauptverhandlung. Vielfach werden hier bereits die Weichen für das gesamte weitere Verfahren gestellt. „In vielen Fällen vermag nichts bei den Richtern den Boden für eine skeptisch-kritische Haltung gegenüber später folgenden belastenden Beweiserhebungen so zu bereiten, wie eine gut präsentierte, überzeugende Erklärung zur Sache“, heißt es im Handbuch (Rdn. 457). Schließlich gibt das Gesetz durch die Regelung in § 243 Abs. 4 StPO dem Angeklagten das Recht, auf den Vorwurf der Staatsanwaltschaft unmittelbar zu erwidern. Die auf die Verlesung des Anklagesatz und die Belehrung über sein Schweigerecht unmittelbar folgende Vernehmung des Angeklagten erfolgt, wie § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO ausdrücklich vorschreibt, nach § 136 Abs. 2 StPO. Sie soll also, so steht es dort, dem Angeklagten Gelegenheit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen. Der Angeklagte soll
444
Die Einlassung zur Sache durch den Verteidiger
also zunächst einmal seine eigene Darstellung von der Sache geben können11. Sachgerecht und von Rechts wegen geboten12 ist es deshalb, dass er zunächst sich zusammenhängend äußern kann13. Der Vorsitzende darf in dieser Phase nur eingreifen, um den Angeklagten zu führen, soweit dies erforderlich ist, im Interesse der Verständlichkeit Zusammenhänge herzustellen oder Weitschweifigkeiten „abzubiegen“14. Dieser Verfahrensabschnitt dient nicht der Überführung des Angeklagten, sondern in erster Linie seiner Verteidigung. Salditt15 weist zu Recht darauf hin, dass demgegenüber viele Vorsitzende die Vernehmung zur Sache bereits zu einer inquisitorischen Befragung unter wenig zweckmäßiger oder gar unzulässiger Verwendung von Vorhalten ausbauen. Die Einlassung des Angeklagten zur Sache ist zwar nach dem Wortlaut des § 244 Abs. 1 StPO nicht Teil der Beweisaufnahme. Darunter versteht das Gesetz nur die Beweiserhebung im Strengbeweis mit den im Gesetz abgeschlossen bezeichneten Beweismitteln. Die Einlassung ist aber Teil des Inbegriffs der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO16 und für die Wahrheitsfindung des Gerichts von größter Bedeutung. So kann ein schlüssiges, durch die Aktenlage belegtes Geständnis zur Überzeugungsbildung bei einer Verurteilung ausreichen17 und umgekehrt kann eine in sich glaubhafte Einlassung Zweifel an der Glaubwürdigkeit einer entgegenstehenden Zeugenaussage begründen. Einer möglicherweise gefährlichen, weil zusätzliche Sachverhalte aufdeckenden, weiteren Beweiserhebung über die Wahrheit des Geständnisses bedarf es um so weniger, je detaillierter dieses ist und je eher es deshalb einer Glaubwürdigkeitsüberprüfung unterzogen werden kann, als ein bloßes Einräumen des Anklagevorwurfs. Bestreitet der Angeklagte, muss das Gericht im Falle einer Verurteilung die Einlassung widerlegen. Im Urteil muss deshalb diese vorweg mitgeteilt werden und im Rahmen der eigentlichen Beweiswürdigung muss das Gericht sich mit ihr im einzelnen an Hand der sonstigen Beweisgründe auseinandersetzen und darlegen, warum es diese für widerlegt hält18.
__________
11 G. Schäfer, Praxis des Strafverfahrens 6. Aufl. Rz. 900 ff.; Salditt, StV 1993, 442, 444. 12 Vgl. § 69 Abs. 1 Satz 1, wo ein allgemeiner Grundsatz für sachgerechte Vernehmungen ausdrücklich Eingang in das Gesetz gefunden hat; a. A. Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. § 243, 31. 13 BGHSt 13, 358, 361; BGHR StPO § 243 Abs. 4 Äußerung 1; LR-Gollwitzer, § 243, 79 f. 14 G. Schäfer, Praxis des Strafverfahrens 6. Aufl. Rz. 907; siehe dort auch Weiteres zur begrenzten Befugnis des Vorsitzenden, in dieser Phase Vorhalte zu machen oder Urkunden zu verlesen. Zum Ganzen auch Salditt, StV 1993, 442, 443. 15 StV 1993, 442, 444. 16 Handbuch Rz. 505; Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. § 261, 5; Eb. Schmidt, StPO Teil II Vorbem 8 zu §§ 244 bis 256. 17 BGH NJW 1999, 370; vgl. auch BGH GSSt Beschl. v. 3. 3. 2005. – GSSt 1/04 – unter B II 3 b der Gründe. 18 Vgl. nur BGH NStZ 2004, 51 und StV 2000, 243.
445
Gerhard Schäfer
II. Schriftliche Einlassung und ihre Verwertbarkeit Angesichts der aufgezeigten großen Bedeutung der Einlassung für das Verfahren in jeder Lage, der vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten und der unterschiedlichen persönlichen Fähigkeiten, einfache oder komplexere Sachverhalte darzustellen, ohne dabei wichtiges zu übersehen oder sich in Unwesentlichem zu verlieren, kann es sich anbieten, an Stelle der Vernehmung die Form einer schriftlichen Einlassung zu wählen. Dem Verfasser fiel erst vor kurzem eine Akte in die Hand, in der ein hochrangiger Beamter überraschend mit einem schwerem Vorwurf konfrontiert, bei seiner Vernehmung, die auf seinen Wunsch ohne Verteidiger stattfand, wichtige Entlastungsgesichtspunkte nicht vorbrachte und diese erst später in einem Schreiben nachreichte. Da er diese Umstände belegen konnte, konnte die Glaubhaftigkeit seines nachträglichen Vorbringens nicht in Zweifel gezogen werden. Bei einer nach Beratung durch einen Verteidiger vorbereiteten, möglicherweise sogar schriftlich formulierten Einlassung wäre dieses Versäumnis sicher nicht geschehen. Dieser Beamte hatte wie viele Beschuldigte die Vernehmungssituation selbst und die Überlegenheit der professionellen Verhörsperson mit dem ganzen Wissen der bereits stattgefundenen Ermittlungen unterschätzt. Er hat übersehen, dass er als Beschuldigter sich in einer Verteidigungslage befindet und nicht weiß und erfährt, welches Gewicht sein Vorbringen hat. Er ist psychologisch der Schwächere19. Auf diese Besonderheiten der Vernehmungssituation hat der Bundesgerichtshof wiederholt hingewiesen. So heißt es etwa in Entscheidungen zur Belehrungspflicht gegenüber dem Beschuldigten, dass auch der, welcher mit der Rechtslage vertraut ist, wegen der besonderen Situation der Vernehmung im Ermittlungsverfahren des Hinweises nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO bedürfe, um »klare Gedanken« fassen zu können20. 1. Für das Ermittlungsverfahren sieht das Gesetz ausdrücklich die Möglichkeit einer schriftlichen Äußerung des Beschuldigten an Stelle einer Vernehmung vor, darüber ist er in geeigneten Fällen sogar ausdrücklich zu belehren (§ 136 Abs. 1 Satz 3 StPO). Als geeignet werden in der Literatur und auch in der staatsanwaltschaftlichen Praxis vor allem Fälle angesehen, in denen die Einlassung, wie etwa in Wirtschaftsstrafsachen, sehr umfangreich werden wird, die Auswertung umfangreicher Unterlagen erforderlich ist und wenn vor allem der Beschuldigte sich zunächst mit seinem Verteidiger beraten will21. Der Vorteil dieser Form liegt auf der Hand, heißt es im Handbuch (Rdn. 269): Der Beschuldigte kann seine eigenen Worte gebrauchen, er kann sich seine
__________ 19 Zu ähnlichen Beobachtungen Bandisch, Strafverteidigung in der Praxis 3. Aufl. § 9, 56. 20 BGHSt 47, 172, 173; 38, 214, 224. 21 Vgl. Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. § 136, 12.
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Einlassung in Ruhe überlegen und die Punkte hervorheben, auf die es zu seiner Entlastung ankommt. Er kann auch den Verteidiger um Formulierungshilfe bitten. Vor allem aber sitzt der Beschuldigte nicht einer Verhörsperson gegenüber, deren Detailkenntnisse ihm unbekannt sind. Auch für die Hauptverhandlung kann das Bedürfnis nach schriftlicher Einlassung bestehen (Handbuch Rdn. 456). Will und soll der Mandant Angaben zur Sache machen, ist oder fühlt sich dieser aber von seiner Persönlichkeitsstruktur her dem Vorsitzenden nicht gewachsen, könne der Mandant vor der Hauptverhandlung eine inhaltlich mit dem Verteidiger beratene Stellungnahme zur Sache dem Gericht schriftlich zukommen lassen. Schweige der Mandant dann in der Hauptverhandlung, könne diese schriftliche Erklärung von Amts wegen, auf Anregung oder auf Antrag des Verteidigers in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Ob dieser Weg freilich gangbar ist, sei sogleich untersucht. 2. Für das Ermittlungsverfahren ist die Verwertbarkeit schriftlicher Einlassungen des Beschuldigten unproblematisch. Dass diese für das Ermittlungsverfahren dieselbe Bedeutung haben müssen wie Vernehmungen, folgt schon aus der gesetzlichen Regelung in § 136 Abs. 1 Satz 4 StPO, nach der Vernehmung und schriftliche Erklärung gleichwertig nebeneinander möglich sind. Für den Strengbeweis in der Hauptverhandlung gilt: Werden durch den Angeklagten Sacheinlassungen im Ermittlungs- oder Zwischenverfahren abgegeben, handelt es sich um Urkunden im Sinne des § 249 StPO. Diese erbringen Beweis über den Inhalt der Äußerung des Beschuldigten. Sie sind in der Hauptverhandlung auch dann verlesbar, wenn der Angeklagte jetzt die Aussage verweigert und von seinem Schweigerecht Gebrauch macht22. Die Rechtsprechung begründet dies zutreffend damit, dass das Gesetz den Urkundenbeweis zulässt, wo es ihn nicht ausdrücklich untersagt23. Eine solche Regelung fehlt. § 252 StPO gilt nur für die Zeugnisverweigerung. Das Ersetzungsverbot des § 250 Satz 2 StPO erfasst nur Zeugen und Sachverständige, nicht aber den Angeklagten24, sodass die Frage, ob bei Ausübung des gesetzlichen Schweigerechts nach § 243 Abs. 4 StPO überhaupt ein Fall der Ersetzung vorliegen würde, sich gar nicht erst stellt25. Nicht ganz so eindeutig ist die Rechtslage für schriftliche Einlassungen zur Sache, die an Stelle der persönlichen Einlassung in der Hauptverhandlung
__________ 22 BGHSt 39, 305, 306; BGH NStZ 2002, 555; a. A. (wohl irrtümlich) Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. § 249, 13 unter unzutreffender Bezugnahme auf BGHSt 39, 305. 23 BGHSt 39, 305, 306. 24 Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. § 250, 1; a. A. Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen. Strafverfahren, 1979, S. 186 ff. 25 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, 1979, S. 186 ff. verneint in Fällen der vorliegenden Art eine Ersetzung einer möglichen Aussage.
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etwa in Briefform oder durch Übergabe eines Schriftstücks vorgelegt werden. Würde ein solches Schriftstück durch das Gericht im Urkundenbeweis verlesen, würde über den Inhalt der Urkunde, also über die in ihr enthaltene Äußerung Beweis erhoben. Im Revisionsverfahren könnte dann, da der Inhalt der Urkunde mit den Mitteln des Revisionsrechts feststellbar ist, auf dies Einlassung zurückgegriffen und etwa gerügt werden, das Urteil habe sich mit wichtigem Entlastungsvorbringen nicht auseinandergesetzt. Bei einer Vorlesung durch den Angeklagten ist dies dagegen nicht der Fall, da diese prozessual wie eine mündliche Äußerung zu behandeln ist. Diese wird zwar zum Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO26. Auch wenn das Manuskript zu Protokoll gegeben worden ist, ist damit nicht bewiesen, wie der Angeklagte sich geäußert hat, schließlich kann er ja vom Manuskript abgewichen sein27. Aus diesen Gründen versuchen Verteidiger die Verlesung schriftlich übergebener Einlassungen durch das Gericht zu erreichen. Die Rechtsprechung ist gegenüber solchen Bestrebungen zurückhaltend. Sie betont den Grundsatz der Mündlichkeit der Hauptverhandlung. Nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO erfolge die Vernehmung eines Angeklagten zur Sache nach Maßgabe des § 136 Abs. 2 StPO, also grundsätzlich durch mündliche Befragung und mündliche Antworten28. Ob diese Begründung freilich trägt ist zweifelhaft. Die Verweisung in § 243 Abs. 4 StPO dürfte weniger die in § 136 Abs. 2 StPO angesprochene Form („Vernehmung“), als das dort angesprochene Ziel der Anhörung (Verteidigungsvorbringen) betreffen, zumal dieses Ziel ja auch für die in § 136 Abs. 1 Satz 4 StPO selbständig neben der Vernehmung stehende schriftliche Äußerung gilt. Unzweifelhaft wird aber die Hauptverhandlung vom Grundsatz der Mündlichkeit beherrscht. Deshalb dürfte es im Ergebnis richtig sein, grundsätzlich auf mündlichem Vortrag zu bestehen. Eine Verlesung im Rahmen der Hauptverhandlung vorgelegter schriftlichen Einlassungen im Urkundenbeweis gemäß § 249 StPO durch das Gericht kommt deshalb ausnahmsweise nur dann in Betracht, wenn dies nicht gegen den vorrangigen Grundsatz der Mündlichkeit der Hauptverhandlung verstößt. Eine Verlesung wird deshalb nur dann am Platze sein, wenn etwa bei einem im übrigen schweigenden Angeklagten29 die Aufklärungspflicht dazu zwingt30. Der Weg über das Beweisantragsrecht ist dem Verteidiger aber verbaut. Der Wunsch des Angeklagten, dem Gericht im Rahmen der Hauptverhandlung etwas vorzutragen, ist als solcher keine
__________ 26 Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. § 261, 6. 27 BGHR StPO § 243 Abs. 4 Äußerung 8; im Fall einer in russischer Sprache verfassten, dem Gericht übergebenen und vom Dolmetscher übertragenen Einlassung dürfte es sich um eine Verlesung nach § 249 StPO gehandelt haben, BGH StV 1993, 459. 28 Vgl. nur BGH NStZ 2004, 163 = BGHR StPO § 243 Abs. 4 Äußerung 8; NStZ 2004, 392. 29 Vgl. OLG Zweibrücken, StV 2001, 549 30 BGHR StPO § 243 Abs. 4 Äußerung 5, 6.
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den Schuld- oder Strafausspruch betreffende und damit einer Beweisbehauptung im Sinne des § 244 Abs. 3 StPO zugängliche Tatsache31. Angesichts der Möglichkeit, sich gemäß § 243 Abs. 4 StPO zur Sache mündlich einzulassen gilt dies auch für den Umstand, dass der Angeklagte sich in einer Urkunde mit dem Ziel einer Verwertung in der Hauptverhandlung schriftlich in dieser oder jener Richtung zur Sache geäußert hat. Entgegen verbreiteter Meinung32 ist es aber zulässig und widerspricht auch nicht dem Mündlichkeitsprinzip, dass der Angeklagte eine schriftlich vorbereitete Erklärung verliest. Es ist nicht ersichtlich, warum der Angeklagte sich nicht auf diese Weise soll verteidigen können. Die Fähigkeit zu freier Rede ist nur wenigen gegeben. Solange es Vorsitzende gibt, welche die Urteilsbegründung ablesen, muss dies auch dem Angeklagten zugestanden werden. Es ist schließlich seine Sache, zu bestimmen, in welchem Umfang er sich zur Sache einlassen will. Ob er seine Äußerung knapp fasst, auf Urkunden rekurrieren will, seinen Duktus der Darstellung durchsetzen will, muss er bestimmen können. Dies geschieht am besten, wenn er sich an ein vorbereitetes Manuskript halten kann und, obwohl er sich zur Sache erklärt, Zwischenfragen erst gar nicht zulässt. Soweit einer nicht tragenden Bemerkung in BGHSt 3, 368 anderes entnommen werden könnte33, wäre dies nicht mehr zeitgemäß34. Viele Verfahren haben eine derartige Komplexität, dass manche Angeklagte nicht mehr in der Lage sind, sich ohne unter Beratung durch den Verteidiger ausgearbeitete schriftliche Vorlage sachgerecht zu äußern und damit effektiv zu verteidigen. Dies ist in den Gerichtssälen unserer Landgerichte heute anerkannt35.
III. Einlassung durch den Verteidiger Die Praxis zeigt, dass das Bedürfnis vieler Beschuldigter, ihre Einlassung durch den Verteidiger schriftlich oder mündlich vorzutragen, groß ist. Dies gilt für das Ermittlungsverfahren, in dem der vielleicht inhaftierte, durch die Einleitung des Verfahrens jedenfalls häufig stark verunsicherte Mandant sich der Konfrontation mit den Ermittlungsbehörden bei einer Vernehmung nicht gewachsen fühlt, gleichwohl aber sich zur Sache äußern will. Dies gilt in vergleichbarer Weise aber auch im gerichtlichen Zwischenverfahren und aus
__________ 31 BGHR StPO § 243 Abs. 4 Äußerung 6. 32 S. nur Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. § 243, 30; LR-Gollwitzer, StPO 25. Aufl. § 243, 88; KK-Tolksdorf StPO, 5. Aufl. § 243, 44; BGHR StPO § 243 Abs. 4 Äußerung 8: „entgegen dieser gesetzlichen Regelung zunehmend praktiziert“. 33 Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. § 243, 30. 34 Offengelassen bei BGHR StPO § 243 Abs. 4 Äußerung 5; wie hier: Pfeiffer, StPO 4. Aufl. § 243, 10; Salditt, StV 1993 442, 444. 35 Im Mannesmann-Verfahren haben nach Presseberichten die Angeklagten wohl vorbereitete schriftliche Erklärungen verlesen, ohne dass dies von irgendeiner Seite beanstandet worden wäre.
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denselben Gründen erst recht für die Hauptverhandlung, wo es nicht nur wegen der mit der Öffentlichkeit verbunden Publizität auf jede Nuance ankommen kann und wo es nicht selten und keineswegs nur in Fällen der Verständigung ein Anliegen der Beschuldigten ist, den eigentlichen Vorwurf einzuräumen, aber darüber hinaus eine umfassende Aussage zu vermeiden. Die Bandbreite derartiger Erklärungen ist groß. Sie reicht von umfangreichen Schriftätzen des Verteidigers, in welchem „für den Mandanten“ detailliert zur Sache Stellung genommen und dessen Äußerung in direkter oder indirekter Rede oder mit eigenen Worten des Verteidigers wiedergegeben wird, bis zur schlichten Erklärung einer Verteidigerin in der Hauptverhandlung, „die Vorwürfe in der Anklageschrift würden von ihrem Mandanten in vollem Umfang eingeräumt, auf weitere Fragen würde der Angeklagte keine Auskunft geben“36. Die rechtliche Behandlung derartiger Sacheinlassungen durch die Hand oder den Mund des Verteidigers und ihre Verwertbarkeit sind aber alles andere als abschließend geklärt. 1. Die Rechtsprechung hat sich mit diesen Fragen wiederholt befasst. Dabei wird das Bemühen deutlich, dem Beschuldigten nur solche Äußerungen zuzurechnen, die von diesem auch so gewollt sind. Dem kann im Grundsatz natürlich nur gefolgt werden. Ob dies auch für die von der Rechtsprechung im Einzelnen gezogenen Konsequenzen gilt, ist aber fraglich a) Auszuscheiden aus der Erörterung sind zunächst alle Erklärungen des Verteidigers mit Bezug zum Sachverhalt, die keine Einlassung des Mandanten zur Sache sein können. Hierher gehören beim schweigenden oder sich einlassenden Beschuldigten im Schriftsatz oder in der Hauptverhandlung vorgetragene Überlegungen, welche alternativen Sachverhalte nach Sachlage auch möglich wären. Sind sie für den Angeklagten günstiger und kommen sie nach der Beweislage in Betracht, sind sie der Entscheidung zu Grunde zu legen. Nehmen wir an, ein Kraftfahrer sei aus noch nicht geklärten Gründen in einer Kurve von der Fahrbahn abgekommen und habe deshalb einen folgenschweren Unfall verursacht. Der Mandant schweigt zur Ursache oder kennt sie selbst nicht. Aufgabe des Verteidigers ist es, dem Mandanten günstige, mögliche Ursachen für das Abkommen von der Fahrbahn aufzuzeigen (Ölspur, Blendung, Reifendefekt), um das Gericht zu veranlassen, diesen Fallgestaltungen nachzugehen und letztlich im Zweifel zugunsten des Angeklagten zu entscheiden. Selbstverständlich hat damit der Angeklagte nicht zum Ausdruck gebracht, er sei durch eine dieser Ursachen oder gar durch alle von der Fahrbahn abgekommen.
__________ 36 BGH NStZ 1994, 352.
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Und natürlich kann auch aus Beweisanträgen kein Tatsachenvortrag im Sinne einer Sacheinlassung entnommen werden. Dass es zu dieser Erkenntnis einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs37 bedurfte ist traurig und zeigt, wie wenig manche Gerichte vom Prozessrecht verstehen. Natürlich bedarf jeder Beweisantrag der Behauptung einer bestimmten, zu beweisenden Tatsache38. Diese Beweisbehauptung wird auch regelmäßig, aber keineswegs in jedem Fall zwingend, wie das obige Beispiel „Verkehrsunfall“ zeigt, auf eine Information des Mandanten zurückgehen. Auch ist es unzulässig, Beweisanträge ohne jede tatsächliche Grundlage in Blaue zu stellen39. Der Antragsteller muss aber von der Wahrheit der behaupteten Tatsache nicht überzeugt sein. Er kann Beweis über Tatsachen verlangen, die er nur vermutet oder für möglich hält40. Mit einer Einlassung zur Sache hat deshalb ein Beweisantrag ebenso wenig zu tun, wie Fragen zum Sachverhalt, die ebenfalls schon als Einlassung behandelt wurden41. b) Es gibt aber auch eindeutige Formulierungen, die keinen Zweifel aufkommen lassen, dass der Verteidiger für seinen Mandanten dessen Einlassung zur Sache wiedergibt oder auch selbst formuliert. So finden sich Formulierungen in Verteidigerschriftsätzen wie „Für den Mandanten wird folgende Stellungnahme abgegeben“, „Mein Mandant erklärt“, „Aus der Sicht meines Mandanten hat sich folgendes ereignet“. Rechtlich unproblematisch sind solche Äußerungen dann, wenn der Verteidiger nach § 234 StPO zur Vertretung befugt ist. Dann kann er nach der zutreffenden herrschenden Meinung als Vertreter seines Mandanten auch Erklärungen zur Sache abgeben42. In der Praxis besteht aber gerade in den schwierigeren Verfahren in denen eine Vertretung nicht zulässig ist, ein Bedürfnis, die Einlassung durch den Verteidiger vorzubringen. Erklärungen des Verteidigers zu Sache können schriftlich in einem Schriftsatz außerhalb der Hauptverhandlung erfolgen oder in der Hauptverhandlung mündlich erklärt werden. Der Sache nach unterscheidet die Rechtsprechung zwischen diesen beiden Formen. aa) Außerhalb der Hauptverhandlung in einem Schriftsatz des Verteidigers vorgelegte Äußerungen des Angeklagten zur Sache sollen nach der einer Entscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs folgenden Rechtsprechung nicht im Urkundenbeweis verlesen werden können. In der Ausgangs-
__________ 37 NStZ 1990, 447; s. auch BGHR StPO § 243 Abs. 4 Äußerung 4; BGH NStZ 2000, 496. 38 Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. § 244, 20 mit Nachw. 39 St. Rspr; siehe nur BGH NStZ 1993, 667; StV 2003, 369; Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. § 244, 20 mit Nachw.. 40 St. Rspr; siehe nur BGH StV 2002, 182; 2003, 369; vgl. nur Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. § 244, 20. 41 BGHR StPO § 243 Abs. 4 Äußerung 4. 42 Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. § 243, 10; LR-Gollwitzer, StPO, 25. Aufl. § 234, 16.
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entscheidung ging es um eine „nach einer Sachbesprechung mit dem Beschuldigten“ vom Verteidiger verfasste Sachverhaltsschilderung. Der Senat sah einen Unterschied zur schriftlichen Erklärung, die der Angeklagte selbst abgegeben hatte. Der Verteidiger habe hier nur schriftlich wiedergegeben, was der Mandant ihm gegenüber geäußert habe. Der Beweis über die Wahrnehmung des Verteidigers könne nur durch dessen Vernehmung, nicht durch Verlesung einer schriftlichen Erklärung über das Wahrgenommene ersetzt werden43. In einer weiteren Entscheidung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs wird an der Rechtsprechung des 1. Strafsenats zwar ausdrücklich festgehalten, in der Sache aber eine Nuance angefügt44. Es heißt dort nach Wiedergabe der Grundsätze des 1. Strafsenats, es könne auch nicht festgestellt werden, „dass durch eine Erklärung des Angeklagten oder des Verteidigers klargestellt worden ist, dass der Angeklagte die in dem Schriftsatz vom 4. Februar 2000 enthaltenen Äußerungen zum Tatgeschehen als eigene Einlassung verstanden wissen wollte (vgl. BGH NStZ 1990, 447). Der Umstand, dass – wie das Landgericht ausführt – weder der Angeklagte noch der Verteidiger Einwendungen gegen die Sachverhaltsdarstellung in dem verlesenen Schriftsatz erhoben haben, genügt hierfür nicht.“ Was dieser Zusatz bedeutet, ist unklar. Die Grundsätze des § 250 StPO können schwerlich durch eine entsprechende Erklärung des Angeklagten oder des Verteidigers außer Kraft gesetzt werden. Soweit der Bundesgerichtshof sich in diesen beiden Entscheidungen auf § 250 StPO bezieht, sind der späteren Verwertung des Schriftsatzes enge Grenzen gesetzt. Der Bundesgerichtshof behandelt den Verteidiger als Zeugen im Sinne der StPO mit der Folge, dass der Verteidiger in der Hauptverhandlung über das von ihm Wahrgenommene als Zeuge zu vernehmen ist. Wird die Aussagegenehmigung verweigert, kann über das schriftlich als Einlassung des Mandanten Mitgeteilte Beweis nicht erhoben werden. Zwar greift das Verwertungsverbot des § 252 StPO deshalb nicht ein, weil der Verteidiger beim Erstellen des Verteidigerschriftsatzes ersichtlich von der Schweigepflicht entbunden war45. Eine Verlesung scheitert aber an § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO, weil nach der – allerdings bestrittenen- Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch bei rechtlichen Hindernissen wie die Zeugnisverweigerung nach § 52 StPO das Ersetzungsverbot greifen soll46. Ein Rückgriff auf die Vernehmung der Personen als Zeugen, welche den Verteidigerschriftsatz gelesen haben, wäre als offensichtliche Umgehung der §§ 250, 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO unzulässig.
__________ 43 44 45 46
BGHSt 39, 305. BGH StV 2002, 555 = NStZ 2002, 555. BGH StV 2002, 182 = NStZ 2002, 555. BGHSt 18, 146; StV 1997, 233. BGH NStZ 1996, 96 und öfters; Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. § 251, 11 mit Nachw.; a. A. G. Schäfer, Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl. 2000 Rz. 1116; ebenso D. Meyer, MDR 1977, 543; K. Meyer, JR 1987, 534; Mitsch, JZ 1992, 174.
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bb) Wesentlich großzügiger ist namentlich die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu mündlichen Äußerungen des Verteidigers in der Hauptverhandlung. Zwar wird in drei älteren Entscheidungen im Anschluss an Urteile von Oberlandesgerichten47, bei denen schon nicht klar ist, ob es sich um Vertretungsfälle im Sinne des § 234 StPO gehandelt hat, betont, wenn der Verteidiger Äußerungen zur Sache abgebe, dürften diese nur dann als Einlassung eines Angaben verweigernden Angeklagten verwertet werden, wenn durch Erklärung des Angeklagten oder des Verteidigers klargestellt sei, dass der Angeklagte diese Äußerungen als eigene Einlassung verstanden wissen wolle48. Darauf kam es aber in zwei Sachen gar nicht an, denn es ging in diesen Fällen um Beweisbehauptungen in einem Beweisantrag, Erklärungen und Fragen des Verteidigers. Dass diese keine Sacherklärungen sein können, wurde schon ausgeführt. Tragend waren diese Erwägungen aber in der dritten Sache49. Dort wurde ein Freispruch aufgehoben, weil das Gericht bei einem schweigenden Angeklagten einen Sachvortrag der Verteidigung zur Grundlage des Urteils gemacht hatte. Demgegenüber geht der Bundesgerichtshof in neueren Entscheidungen weiter und verzichtet auf die ausdrückliche Erklärung des Verteidigers oder des Angeklagten. Diese Rechtsprechung beginnt mit einer Entscheidung des 1. Strafsenats im Jahre 199450. Dort war als Verstoß gegen § 261 StPO gerügt worden, das Landgericht hätte die Einlassung eines Mitangeklagten nicht zur Überführung des Beschwerdeführers heranziehen dürfen. Nach Belehrung des Mitangeklagten, zur Sache nicht aussagen zu müssen, hatte dessen Verteidigerin in seiner Anwesenheit erklärt, „die Vorwürfe in der Anklageschrift würden von ihrem Mandanten in vollem Umfang eingeräumt, auf weitere Fragen würde der Angeklagte keine Auskunft geben“. Damit – so der Senat – hatte der Mitangeklagte nach Belehrung nicht die Einlassung verweigert, sondern seine Verteidigerin das vortragen lassen, was er zur Sache sagen wolle, und nur „weitere“ Fragen nicht beantwortet. Der Gesamtzusammenhang ergebe, dass es sich nicht um eine Erklärung der Verteidigerin handelte, sondern um eine solche des Mitangeklagten, die seine Verteidigerin für ihn abgab. In gleicher Weise hielt der 1. Strafsenat im Jahre 1997 Erklärungen des Verteidigers zur Sache in Anwesenheit des schweigenden Angeklagten „ohne weiteres für verwertbar“51. Diese Entscheidung bestätigte der Senat im Jahre 2000 für ein „ausdrücklich für den Angeklagten“ abgegebenes Geständnis, bei „weiteren konkret benannten Gelegenheiten Bestechungsgelder erhalten“ zu haben52. Und der 3. Strafsenat ließ im Jahre
__________ 47 BayObLG VRS 60, 120; OLG Hamm JR 1980, 82 m. Anm. Fezer. 48 BGH StV 1990, 394 = NStZ 1990, 447; BGHR StPO § 243 Abs. 4 Äußerung 4; BGH NJW 1993, 605, 607, insoweit in BGHSt 38, 381 nicht abgedruckt. 49 BGH NJW 1993, 605, 607, insoweit in BGHSt 38, 381 nicht abgedruckt. 50 BGH StV 1994, 467. 51 BGH StV 1998, 59 mit abl. Anm. Park. 52 NStZ-RR 2000, 210.
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1997 aus dem Umstand, dass der im Ermittlungsverfahren geständige Angeklagte in der Hauptverhandlung zunächst schwieg und nach der Beweisaufnahme der Verteidiger „für ihn“ eine detaillierte Erklärung „über die Umstände des Geständnisses und die von ihm nun geltend gemachte Version des Tatgeschehens“ abgab, Schlüsse für die Beweiswürdigung zu. Der Vollständigkeit halber sei noch kurz auf die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte eingegangen, die mit der des Bundesgerichtshofs nicht vereinbar ist und die deshalb längst zu Vorlageverfahren nach § 121 Abs. 2 GVG hätte führen müssen. Danach ist bei einer Sacherklärung des Verteidigers dieser vom Vorsitzenden zu befragen, ob die von ihm abgegebene Erklärung als Einlassung des Angeklagten anzusehen sei. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Erklärung in diesem Falle zum Gegenstand der Beweiswürdigung gemacht werde53. Weitergehend wird teilweise verlangt, dass der Angeklagte entweder durch ausdrückliche Erklärung oder durch Äußerungen, die jeden Zweifel hieran ausschließen, zum Ausdruck bringen muss, dass er die Angaben des Verteidigers als seine eigene Einlassung verstanden wissen will54. Ob diese Förmlichkeiten eingehalten sind, soll nur durch das Sitzungsprotokoll (§ 274 StPO) nachgewiesen werden können55. Nur bei Vorliegen der genannten Bedingungen könne die erforderliche Klarheit über Ausmaß und Inhalt der Sacheinlassungen des Angeklagten erreicht werden, wenn einerseits dieser erklärt, sich zur Sache nicht einlassen zu wollen, und andererseits der Verteidiger sachbezogene Äußerungen mache56. Zurückhaltender hat das BayObLG es zuletzt offengelassen, ob es „der sehr weitgehenden Auffassung des Bundesgerichtshofs“ in StV 1998, 59 folgen wolle57. 2. Die Literatur beschränkt sich im wesentlichen darauf, die Rechtsprechung mehr oder weniger vollständig zu referieren58. Allein Park hat in einer Anmerkung zu BGH StV 1998, 59 die Fragen vertiefter behandelt. Er lehnt die genannte Entscheidung ab. Eine Sachäußerung des Verteidigers bedürfe ausdrücklicher, nachgewiesener Vertretungsmacht oder einer ausdrücklichen Genehmigung des Angeklagten. 3. Die derzeitige Rechtslage kann nicht befriedigen. Sie ist von tiefem Misstrauen gegen den Verteidiger geprägt. Bei schriftlichen Äußerungen zur Sache wird er wie ein Zeuge behandelt, dem man nicht zutraut, die Sachdarstellung seines Mandanten richtig verstanden und wiedergegeben zu haben.
__________ 53 OLG Hamm JR 1980, 82 mit Anm. Fezer; OLG Düsseldorf NJW 2002, 2728. 54 BayObLGSt 1980, 111; OLG Düsseldorf NJW 2002, 2728. 55 OLG Hamm JR 1980, 82; NStZ-RR 2002, 14; BayObLGSt 1980, 111; OLG Düsseldorf NJW 2002, 2728. Davon war in keiner Entscheidung des Bundesgerichtshofs auch nur andeutungsweise die Rede. 56 OLG Düsseldorf NJW 2002, 2728. 57 StV 2003, 320. 58 KK-Tolksdorf, StPO, 5. Aufl. § 243, 45; Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. § 243, 27; Pfeiffer, StPO, 4. Aufl. § 243, 11; SK-Schlüchter, StPO, § 243, 48.
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Bei Erklärungen in der Hauptverhandlung soll es – jedenfalls nach der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte und der älteren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – der hochnotpeinlichen Befragung durch den Vorsitzenden bedürfen, ob der Verteidiger tatsächlich zu derartigen Äußerungen auch befugt sei. Geradezu peinlich ist es, wenn dazu der Angeklagte befragt werden soll. Er sieht im Verteidiger seinen Rechtsbeistand und nun wird ihm durch diese Rechtsprechung noch ein Oberbeistand in Gestalt des Vorsitzenden oktroyiert, der dafür sorgen soll, dass sein Beistand sich korrekt verhält. Im Handbuch heißt es bei Rdn. 29 zutreffend: „Dem Gericht obliegt nicht die Überwachung des Verteidigers, ob dieser ordnungsmäßig verteidigt. Ordnungswidrige Führung der Verteidigung ist auch kein Revisionsgrund“. Die Rechtsprechung ist dem unter Hinweis auf Hans Dahs gefolgt59. Warum sollen diese Grundsätze nicht auch bei Sacherklärungen des Verteidigers gelten? Erinnern wir uns: Der Verteidiger ist der Wahrheit verpflichtet. Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehört die Vorbereitung der Einlassung. Diese gilt zunächst der Frage, ob der Mandant von seinem Schweigerecht Gebrauch machen oder ob er sich einlassen soll. Hat man sich für die Einlassung entschieden, ist die weitere Frage zu beantworten, wie diese erfolgen soll: schriftlich, mündlich frei oder durch vorlesen. Und dieser Verteidiger soll nicht wissen und seinen Mandanten nicht darüber aufgeklärt haben, dass seine Sacherklärung das Schweigen seines Mandanten aufhebt? Dieser Verteidiger soll bei schriftlichen Äußerungen nicht sorgfältig der Information seines Mandanten folgend vorgetragen haben? Der Rechtsanwalt ist dem Gericht nicht untergeordnet, sondern in voller Gleichberechtigung tätig (Handbuch Rdn. 29). Wie er mit der Einlassung seines Mandanten umgeht, ist ausschließlich seine Sache und die seines Mandanten. Das Gericht hat sich insoweit jeglicher Kontrolle zu enthalten. Wenn er sich entschließt, nach Absprache mit seinem Mandanten dessen Sacheinlassung vorzutragen, wird er in seiner Rolle als Beistand tätig, weil er dies für das Beste für seinen Mandanten hält. Dies ist kein Fall der Vertretung: Der Verteidiger äußert sich, schriftlich oder mündlich, für seinen Mandanten, wie dies auch in der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Sacheinlassung in der Hauptverhandlung deutlich anklingt60. Die Konsequenzen dieser Auffassung sind einfach: Die Erklärungen des Verteidigers sind wie solche des Angeklagten zu behandeln. Schriftliche Äußerungen sind im Urkundenbeweis verlesbar, mündliche „ohne weiteres“ verwertbar. Alles andere ist mit der Aufgabe und der Würde des Verteidigers nicht vereinbar.
__________ 59 BGH Urteil v. 5. 4. 2001 – 5 StR 495/00; ebenso in der Sache BGHR StPO § 338 Nr. 5 Verteidiger 1; BGHSt 39, 310, 314. 60 BGH StV 1994, 467: „dass es sich nicht um eine Erklärung der Verteidigerin handelte, sondern um eine solche des Mitangeklagten, die seine Verteidigerin für ihn abgab“.
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Darf, sollte, muß sich ein Zeuge auf seine Vernehmung in der Hauptverhandlung vorbereiten?* Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Vorbereitung des Zeugen aus aussagepsychologischer und vernehmungstechnischer Sicht III. Vorbereitung des Zeugen aus rechtlicher Sicht 1. Vorbereitungsrecht des Zeugen? 2. Vorbereitungspflicht des Zeugen? a) Verfahrensrechtliche Verpflichtung
b) Materiell-rechtliche Verpflichtung c) Ergebnis IV. Vorbereitungspflicht des Zeugen de lege ferenda 1. Gegenstand und Voraussetzungen einer Vorbereitungspflicht 2. Strafrechtlich sanktionierte Vorbereitungspflicht 3. Verfahrensrechtlich begründete Vorbereitungspflicht
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I. Einleitung Den Zeugen trifft im Strafverfahren „grundsätzlich keine Pflicht, sich durch Studium von Akten und Unterlagen oder auf andere Weise auf die Vernehmung vorzubereiten und sein Gedächtnis aufzufrischen“, heißt es apodiktisch bei Hans Dahs1. Damit ist allerdings noch keine Aussage darüber getroffen, ob und ggf. in welchem Umfang eine derartige2 Vorbereitung eines Zeugen auf seine Vernehmung vornehmlich in einer gerichtlichen Hauptverhandlung3 sinnvoll oder gar schädlich ist. Dieser Frage soll zunächst vor dem Hintergrund der Funktion des Zeugen als dem wichtigsten, wenn auch problematischsten4 Beweismittel im strafgerichtlichen Alltag nachgegangen werden. In einem zweiten Schritt sind dann die mit der Vorbereitung des Zeugen auf seine Aussage in der Hauptverhandlung verbundenen Rechtsprobleme zu erörtern.
__________ * 1 2 3 4
Herrn cand. iur. Alexander Otto danke ich für die freundliche Unterstützung bei der Vorbereitung des Beitrags. Dahs, Festschrift für H.J. Rudolphi, 2004, S. 597, 600; ebenso schon in LR-Dahs, StPO, 25. Aufl., vor § 48 Rz. 7. Nur darauf beziehen sich die nachfolgenden Ausführungen. Auf andere Formen der Vernehmungsvorbereitung, beispielsweise durch Gespräche mit Verfahrensbeteiligten oder Dritten, kann hier nicht eingegangen werden. Darauf sollen sich die nachfolgenden Ausführungen beschränken. Siehe nur Barton, Fragwürdigkeiten des Zeugenbeweises, in: ders. (Hrsg.), Redlich aber falsch, Baden – Baden, 1995, S. 23 ff. m. w. N.
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II. Vorbereitung des Zeugen aus aussagepsychologischer und vernehmungstechnischer Sicht Aufgabe des Zeugen ist es, Auskunft über für die gerichtliche Entscheidung über die Schuld- und Rechtsfolgenfrage bedeutsame Wahrnehmungen zu geben5. Diese hat er ganz überwiegend in der Vergangenheit6 und in der Regel ohne die Intention gemacht, sie in einem künftigen Strafverfahren und insbesondere in einer Hauptverhandlung wiederzugeben7. Der Ertrag seiner Aussage für die Erfüllung des gerichtlichen Auftrags zur „Erforschung der Wahrheit“ (§ 244 Abs. 2 StPO) ist maßgeblich davon abhängig, ob der Zeuge im Zeitpunkt seiner Vernehmung willens und in der Lage ist, sich an seine Wahrnehmungen zu erinnern und diese zutreffend und vollständig dem Gericht mitzuteilen. Nur soweit eine Vorbereitung des Zeugen auf seine Vernehmung diesem Zweck dient, kann sie im Interesse der gerichtlichen Wahrheitsfindung liegen. Die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gedächtnisses ist von zahlreichen Faktoren abhängig8. Dazu gehört vorrangig die Zeitspanne zwischen dem Ereignis der Wahrnehmung und dem Zeitpunkt, zu dem diese aus dem Gedächtnis wieder abgerufen werden soll9. Eine weitere entscheidende Rolle spielt die Beschaffenheit des Vorganges, der Gegenstand der Wahrnehmung war10. Handelte es sich um ein flüchtiges Ereignis oder hatte der Zeuge ausreichende Gelegenheit, den Vorgang intensiv wahrzunehmen? In welcher emotionalen Verfassung befand sich der Zeuge im Zeitpunkt der Wahrnehmung11? Hat der Zeuge das wahrgenommene Geschehen aufmerksam verfolgt oder hat er es nur beiläufig registriert? Dabei wirkt sich sowohl auf die Wahrnehmung als auch auf die Erinnerung der Umstand aus, welche Bedeutung der Vorgang für den Zeugen im Zeitpunkt seiner Wahrnehmung hatte: Ereignisse, die der Zeuge als wichtig empfunden hat, werden intensiver wahrgenommen und besser im Gedächtnis gespeichert als solche, die für den Zeugen belanglos waren und dementsprechend flüchtig in der Erinnerung bleiben12.
__________ 5 LR-Dahs, (Fn. 1) vor § 48 Rz. 1. 6 Nur selten hat sich ein Zeuge zu Wahrnehmungen zu äußern, die er erst während seiner Vernehmung, z. B. im Gerichtssaal, macht. 7 Anders ist es bei für das Strafverfahren gewillkürten Zeugen wie beispielsweise amtlichen Ermittlungspersonen oder im Auftrag des Gerichts tätigen Augenscheinsgehilfen. 8 Vgl. dazu näher Northoff, Rechtspsychologie, Bonn, 1996, S. 26 ff. 9 Zum Ausmaß des Erinnerungsverlustes in Relation zum Zeitablauf siehe Bender/ Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht I, 2. Aufl., München 1995, Rz. 116 f. 10 Milne/Bull, Psychologie der Vernehmung, Bern, 2003, S. 26. 11 Vgl. hierzu Christianson, On emotional stress and memory, in: Greuel/Fabian/ Stadler (Hrsg.), Psychologie der Zeugenaussage, Weinheim 1997, S. 33 ff. 12 Northoff, a. a. O. (Fn. 8), S. 29.
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Ob ein Zeuge in der Lage ist, auch Vorgänge abzurufen, die er zwar wahrgenommen, aber nicht mehr (vollständig) in seinem aktuellen Gedächtnis hat13, ist maßgeblich davon abhängig, ob es ihm gelingt, die Erinnerung an seine früheren Wahrnehmungen zu reaktivieren. Dabei können ihm insbesondere verstandesmäßige oder emotionale Assoziationen im Zusammenhang mit dem seinerzeitigen Ereignis zur Hilfe kommen. Durch die Wiederherstellung der äußeren und inneren Bedingungen, unter denen die Wahrnehmung stattgefunden hat14, kann die Gedächtnisleistung verbessert werden. Der Kontext, in dem die Erinnerung abgespeichert wurde, gilt als eine der stärksten Abrufhilfen in Fällen „verschütteter“ Gedächtnisinhalte15. Ein besonders starker Reiz, um den assoziativen Hintergrund für weitere Erinnerungsleistungen zu schaffen, dürfte von solchen Gedächtnisstützen ausgehen, die im zeitlichen Zusammenhang mit den jetzt von dem Zeugen zu reproduzierenden Wahrnehmungen entstanden sind. Dies können Bilder und Tonaufzeichnungen von den seinerzeitigen Vorgängen sein, Gegenstände, die in dem betreffenden Kontext eine Rolle gespielt haben, aber auch Texte, die der Zeuge seinerzeit zur Kenntnis genommen oder gar selbst produziert hat. Durch die Konfrontation mit solchen Objekten kann sich der Zeuge möglicherweise in die seinerzeitige Situation zurückversetzen16 und dadurch seine Erinnerung an die von ihm wahrgenommenen Vorgänge zurückgewinnen17. Ob es einem Zeugen mit Hilfsmitteln dieser Art gelingt, ein schlummerndes Erinnerungsbild wieder lebendig werden zu lassen, hängt zunächst davon ab, daß er überhaupt weiß, woran er sich erinnern soll. Dazu muß er das Beweisthema kennen, zu dem er vernommen werden soll. Allein der Name des Beschuldigten und der Gegenstand der Beschuldigung, die ihm vor seiner Vernehmung mitgeteilt werden (§ 69 Abs. 1 StPO), werden nicht immer ausreichen, um den angestrebten Erfolg zu erzielen. Welche weiteren Informationen dem Zeugen unter vernehmungstaktischen Gesichtspunkten sinnvollerweise gegeben werden, hängt naturgemäß vom Einzelfall ab.
__________ 13 In vielen Fällen soll laut einschlägiger Forschungsarbeiten kein völliger Informationsverlust vorliegen; vielmehr liege im Abruf der Informationen das Problem: Milne/Bull, a. a. O. (Fn. 10), S. 22. 14 Beispielsweise Aufsuchen des Ortes, an dem sich das betreffende Ereignis zugetragen hat, Reaktivierung der seinerzeitigen Gedanken, Phantasien und Gefühle. 15 Milne/Bull, a. a. O. (Fn. 10), S. 30 f. 16 Zur Bedeutung siehe Nagler StV 1983, 211, 213. 17 Dabei besteht allerdings, wie bei anderen Erinnerungsleistungen auch, die Gefahr, daß Erinnerungslücken „konstruktiv“ geschlossen werden (zur sog. Anreicherungstendenz Bender/Nack, a. a. O. [Fn. 9] Rz. 119 ff.) und daß Kontextverschiebungen stattfinden, wenn der Zeuge frühere Wahrnehmungen im Lichte zwischenzeitlich erlangter zusätzlicher Informationen oder eines mittlerweile eingetretenen Wechsels der Bedeutung des betreffenden Sachverhalts unbewußt einer Neuinterpretation unterzieht (vgl. Barton, a. a. O. [Fn. 4] S. 37).
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Von nicht geringerer Bedeutung sind die Umstände, unter denen der Zeuge Gelegenheit hat, vorhandene Gedächtnisstützen zur Kenntnis zu nehmen und zu verarbeiten: Zwar kann der Zeuge in der Hauptverhandlung durch entsprechende Fragen und Vorhalte seitens der Verfahrensbeteiligten veranlaßt werden, den seinerzeitigen Wahrnehmungskontext zu rekonstruieren und mittels solcher „Brücken“ sich seine Erinnerungen wieder ins Gedächtnis zu rufen18. Jedoch erfordert der Vorgang des sich wieder Erinnerns innere Sammlung, Konzentration, Überlegung, Nachdenken und Anstrengung des Gedächtnisses. Die für den Zeugen ungewohnte und häufig unruhige Atmosphäre einer Hauptverhandlung, die Anspannung, unter der er vielfach steht, und der auf ihm lastende Erwartungsdruck, das Informationsbedürfnis der ihn vernehmenden Verfahrensbeteiligten schnellstmöglich zu befriedigen, sind für den Prozeß der Rückgewinnung der Erinnerung geradezu kontraproduktiv. Es liegt deshalb in vielen Fällen nahe, dem Zeugen Gelegenheit zu geben, außerhalb des Vernehmungstermins in ruhiger Vorbereitung sich gedanklich auf seine Aussage vorzubereiten und dabei ihm zur Verfügung stehende Erkenntnishilfen zu verwerten. Zwar ist es denkbar, zu diesem Zweck die Zeugenvernehmung zu unterbrechen; optimal dürfte dies jedoch nicht sein, insbesondere in solchen Fällen, in denen es für das Gericht von Bedeutung ist, die Erinnerung des Zeugen unbeeinflußt von vorangegangenen Fragen und Vorhalten zu (re-)aktivieren. Ist die Aufmerksamkeit des Zeugen bereits in eine bestimmte Richtung gelenkt worden, bleiben Erinnerungen möglicherweise verschüttet, die zurückgekehrt wären, wenn der Zeuge unbeeinflußt nur mit Hilfe der ihm zu Verfügung stehenden „Brücken“ in „freier“ Assoziation den seinerzeitigen Wahrnehmungskontext hätte rekonstruieren können. Wird dem Zeugen nicht schon vor Beginn, sondern erst in Unterbrechung seiner Vernehmung Gelegenheit gegeben, sein Gedächtnis mit Hilfe von Erinnerungsstützen aufzufrischen, kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß sich der Zeuge aufgrund falscher Erinnerung inhaltlich und innerlich bereits so festgelegt hat, daß ihm eine Korrektur seiner Aussage trotz jetzt zur Verfügung stehender Hilfsmittel nicht mehr möglich ist. Allerdings eignen sich nur solche Vorinformationen zur Vorbereitung einer Vernehmung, die dem Zeugen schon seinerzeit im Zusammenhang mit seinen Wahrnehmungen zur Verfügung standen. Informationen, die nicht von ihm, sondern von dritter Seite, z. B. von anderen an dem Vorgang beteiligten Zeugen stammen oder die erst nachträglich in Erfahrung gebracht wurden, können zwar auch dazu beitragen, das Erinnerungsvermögen des
__________ 18 Hier kann die Vernehmungslehre (vgl. Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht II, 2. Aufl., München 1995, Rz. 631 ff.) die Techniken des sog. kognitiven Interviews fruchtbar machen (vgl. dazu Milne/Bull, a. a. O. [Fn. 10] S. 43 ff.; Köhnken/Mantwill/Aschermann, Das kognitive Interview, in: Egg [Hrsg.], Brennpunkte der Rechtspsychologie, Bonn 1991, S. 247).
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Zeugen wieder aufzufrischen. Es besteht hierbei aber die Gefahr, daß er sich bei der Rekonstruktion seiner Erinnerung unbewußt oder gar bewußt an Fremdwahrnehmungen, -wertungen und -interpretationen orientiert und er nicht mehr zwischen Fremd- und Eigeninformationen zu differenzieren in der Lage ist. Allein die Möglichkeit, daß einem Vorgang von anderen eine bestimmte oder überhaupt eine Bedeutung beigemessen wird, kann zu Neuoder Uminterpretationen und damit Kontextverschiebungen bei der vermeintlich zurückgewonnenen Erinnerung an die seinerzeitige Wahrnehmung führen. Die Vorbereitung eines Zeugen auf seine Vernehmung in der Hauptverhandlung ist deshalb unter dem Gesichtspunkt der Wahrheitsfindung nur dann sinnvoll, wenn sie sich auf solche Informationen beschränkt, die von dem Zeugen selbst stammen bzw. ihm schon im Zusammenhang mit dem seinerzeit wahrgenommenen Ereignis zur Verfügung standen19. Mit Drittinformationen, die suggestive Wirkung haben könnten, sollte ein Zeuge idealerweise erst in der Hauptverhandlung im Rahmen des Verhörs (§ 69 Abs. 2 StPO), also im Anschluß an seine im Zusammenhang erfolgenden Angaben, konfrontiert werden. Ob die Vorbereitung eines Zeugen auf seine Aussage in der Hauptverhandlung im Sinne der „Erforschung der Wahrheit“ produktiv oder kontraproduktiv ist, hängt mithin davon ab, was sie zum Gegenstand hat.
III. Vorbereitung des Zeugen aus rechtlicher Sicht In rechtlicher Hinsicht stellt sich zunächst die Frage, ob eine Vorbereitung des Zeugen auf seine Vernehmung zulässig ist, und zwar insbesondere dann, wenn damit die Gefahr einer Erinnerungsverfälschung oder gar die Möglichkeit einer Falschaussage verbunden ist. Nur wenn überhaupt die Vorbereitung auf die Aussage zulässig ist, der Zeuge in diesem Sinne also ein Vorbereitungsrecht hat, kann sich daran die Frage nach einer Vorbereitungspflicht anschließen. 1. Vorbereitungsrecht des Zeugen? Eine Vorschrift, die es einem Zeugen ausdrücklich gestattet, sich auf seine Vernehmung vorzubereiten, findet sich in der StPO nicht. Da es aber auch
__________ 19 Es versteht sich von selbst, daß es eine Vielzahl von Fällen gibt, in denen eine Vorbereitung des Zeugen auf seine Vernehmung aus tatsächlichen Gründen ausscheidet oder sich aus vernehmungstaktischen Gründen verbietet. So kann es zur Überprüfung der Glaubwürdigkeit eines vor der Hauptverhandlung noch nicht vernommenen Zeugen und der Glaubhaftigkeit seiner Aussage beispielsweise geboten sein, diesen auch noch zu Beginn seiner Vernehmung in Unkenntnis über den Anklagevorwurf zu lassen, damit ihm verborgen bleibt, ob seine Antworten auf die ihm gestellten Fragen für den Angeklagten günstig bzw. ungünstig sind.
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keine Verbotsnorm gibt, wird die Vorbereitung des Zeugen auf seine Aussage, soweit die Frage überhaupt thematisiert wird, zutreffenderweise für zulässig gehalten20. Das gilt auch für die Fälle, in denen zu besorgen ist, daß die Vorbereitung auf die Zeugenaussage für die Wahrheitsfindung kontraproduktiv sein kann. Auch für solche Fälle kann der StPO ein Verbot nicht entnommen werden. Zwar kann die Verweigerung der Akteneinsicht gemäß §§ 406e Abs. 2 S. 2, 477 Abs. 2 StPO auch darauf gestützt werden, daß die Kenntnis vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt einer noch zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen und dadurch den Untersuchungszweck gefährden könnte21; der für die Entscheidung gemäß §§ 406e Abs. 4 bzw. 478 Abs. 1 StPO zuständigen Stelle ist aber ein weiter Beurteilungs- bzw. Ermessensspielraum eingeräumt, so daß die Interessenlage des Verletzten bzw. sonstiger, insbesondere auskunftsverweigerungsberechtigter Zeugen zu einer Akteneinsichtsgewährung führen kann22. Das Gesetz läßt es damit zu, daß sogar Zeugen, die mit ihrer Aussage möglicherweise eigene Interessen verfolgen, vor ihrer Vernehmung Fremdinformationen erhalten, die sich auf den Inhalt ihrer künftigen Aussage auswirken können. Ein absolutes Verbot, sich mit Hilfe des über ihre anwaltlichen Vertreter, Verteidiger bzw. Zeugenbeistände erlangten Aktenauszuges auf ihre Vernehmung vorzubereiten, kennt die StPO also nicht. Der Möglichkeit, daß auf diese Weise Widersprüche zwischen der Aussage des Zeugen und aus den Akten ersichtlichen Ermittlungsergebnissen vermieden, durch den Gang der Ermittlungen notwendig gewordene Korrekturen des Inhalts einer früheren Vernehmung erfolgen und relativierend erläutert bzw. Unstimmigkeiten zu anderen in der Akte enthaltenen Aussagen „geglättet“ werden und dem Gericht unter solchen Umständen eine ernsthafte Glaubhaftigkeitsprüfung unmöglich gemacht wird, kann nur mit dem Korrektiv besonders qualifizierter Anforderungen an die Beweiswürdigung begegnet werden23.
__________ 20 Vgl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Teil II, 1957, § 69 Rz. 11; KMRPaulus, StPO, 7. Aufl., 1980, Vorb. vor § 48 Rz. 26 dd; Dietmar Krause, Die Polizei 1981, S. 119, 120. 21 Für Verletzte vgl. Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl., § 406e Rz. 6; OLG Düsseldorf StV 1991, 202, OLG Koblenz, StV 1988, 332 m. Anm. Schlothauer; AG Saalfeld StV 2005, 261 zur Anwendbarkeit des Akteneinsichtsrechts des § 475 StPO auf Zeugen vgl. OLG Hamburg NJW 2002, 1590 und zum Akteneinsichtsversagungsgrund entgegenstehender Zwecke des Strafverfahrens nach § 477 Abs. 2 StPO, zu denen auch eine mögliche Gefährdung des Untersuchungszwecks gehört, LR-Hilger, StPO, 25. Aufl., § 477 Rz. 3. 22 Vgl. KK-Senge, StPO, 5. Aufl., vor § 48 Rz. 18 a für auskunfts- und zeugnisverweigerungsberechtigte Zeugen. 23 Vgl. dazu näher Deckers, Der betreute Zeuge aus der Sicht der Verteidigung, in: Barton (Hrsg.) Verfahrensgerechtigkeit und Zeugenbeweis, 2002, S. 97, 103.
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Der Zulässigkeit einer Vorbereitung auf seine Vernehmung steht auch nicht die Vorschrift des § 69 StPO entgegen24, wenn sie nur anhand von solchen Unterlagen und Gegenständen erfolgt, von denen der Zeuge schon Kenntnis hatte, weil sie bereits anläßlich des von ihm wahrgenommenen Ereignisses vorhanden waren oder entstanden sind. Denn dann wird dem Zeugen die Aussage erleichtert und nicht erst ermöglicht. Nur letzteres soll nach § 69 Abs. 2 StPO dem sog. Verhör vorbehalten bleiben. Der zusammenhängende Bericht i. S. d. § 69 Abs. 1 StPO, zu dem der Zeuge anläßlich seiner Vernehmung veranlaßt werden soll, dient der Wiedergabe dessen, was der Zeuge aus seiner Erinnerung zu berichten weiß. Würden ihm schon zu Beginn seiner Aussage Fragen zur Aufklärung gestellt und Vorhalte gemacht, würde dies eine suggestionsfreie Rekonstruktion der Erinnerung gefährden. Nur dies soll durch den in § 69 Abs. 1 und 2 StPO geregelten Vernehmungsablauf verhindert werden25. Auch die im vorliegenden Zusammenhang häufig zitierte Entscheidung des BGH aus dem Jahre 195226 befaßt sich allein mit der Vereinbarkeit eines Vorhalts aus einer Vernehmungsniederschrift mit § 69 StPO. Die dabei verwendete Formulierung, ein Zeuge müsse zunächst Gelegenheit haben, über einen Vorgang „aus lebendiger Erinnerung zu berichten“, würde mißverstanden, wenn die „lebendige“ mit spontaner Erinnerung gleichgesetzt würde. 2. Vorbereitungspflicht des Zeugen? Kann es einem Zeugen mithin nicht verwehrt werden, sich auf seine Vernehmung vorzubereiten, stellt sich die Frage, ob diesem Recht auch eine entsprechende Pflicht korrespondiert. a) Verfahrensrechtliche Verpflichtung Die sich aus der StPO im Zusammenhang mit der Vernehmung eines Zeugen in der Hauptverhandlung für diesen ergebenden Pflichten bestehen darin, auf eine ordnungsgemäße Ladung hin in der Hauptverhandlung zu erscheinen (§ 51 StPO), auszusagen und die Aussage ggf. zu beeiden (§§ 68, 69, 59, 70 StPO). Darüber hinausgehende Handlungspflichten bestehen nicht27.
__________ 24 So generell Nöldeke NJW 1979, 1644, 1645; den von ihm geäußerten Vorbehalten gegen eine Vernehmungsvorbereitung zustimmend Dietmar Krause, Die Polizei 1981, 119, 121. 25 Dieser Zusammenhang wird nachdrücklich betont von Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Teil II, 1957, § 69 Rz. 1 und 9 ff.; ebenso LR-Tillmann, StPO, 20. Aufl., § 69 Anm. 4; Henkel, Strafverfahrensrecht, 1953, S. 259 f. 26 BGHSt 3, 281. 27 Die Pflicht zur Herausgabe von Beweismitteln nach § 95 StPO besteht außerhalb der Hauptverhandlung.
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Teil der Zeugnispflicht ist es allerdings, sich bei der Abgabe des Zeugnisses äußerer Hilfsmittel in Form von Unterlagen, Protokollen, Lichtbildern, Skizzen, Zeichnungen etc. zur Auffrischung des Gedächtnisses zu bedienen, wenn sie während der Vernehmung zur Verfügung stehen28. Kommt der Zeuge dieser Pflicht nicht nach, weigert er sich beispielsweise, ein Foto oder ein sonstiges Augenscheinsobjekt anzuschauen oder den Inhalt eines ihm vorgelegten Schriftstücks zur Kenntnis zu nehmen, liegt darin eine teilweise Verweigerung des Zeugnisses, die, wenn sie ohne gesetzlichen Grund erfolgt, Ungehorsamsfolgen gemäß § 70 StPO auslösen kann. Von einem Teil der Literatur wird die Auffassung vertreten, daß mit Beginn der Vernehmung für den Zeugen die Pflicht entstehe, während einer Unterbrechung seiner Vernehmung mögliche und zumutbare Nachforschungen auch bezüglich solcher Gedächtnisstützen anzustellen, die im Augenblick der Vernehmung nicht zur Verfügung stünden29. Diese Pflicht könne allerdings nur solche Beweisthemen betreffen, zu denen der Zeuge bereits eigene Wahrnehmungen gemacht habe. Nachforschungen bezüglich solcher Informationen, die nicht Gegenstand seiner ursprünglichen Wahrnehmungen gewesen seien, brauche er nicht anzustellen30. Verletze er die Pflicht, ihm mögliche und zumutbare Nachforschungen in Bezug auf im Zusammenhang mit seinen früheren Wahrnehmungen stehenden Gedächtnisstützen anzustellen, kämen Zwangsmaßnahmen nach § 70 StPO in Betracht31. Für eine solche Pflicht, in Unterbrechung der Vernehmung außerhalb der Hauptverhandlung Nachforschungen nach (möglicherweise) vorhandenen Gedächtnisstützen anzustellen, gibt es jedoch in der StPO keine gesetzliche Grundlage. Die von den Befürwortern einer solchen Nachforschungspflicht zitierte Entscheidung des OLG Köln vom 14. 6. 197332 betrifft den Zivilprozeß, in dem ein Zeuge verpflichtet werden kann, solche Aufzeichnungen und Unterlagen einzusehen und zum Vernehmungstermin mitzubringen, die geeignet sind, sein Gedächtnis bezüglich eigener Wahrnehmungen aufzufri-
__________ 28 Vgl. LR-Dahs, a. a. O., § 69 Rz. 9; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 3. Aufl., Rz. 1230; KMR-Neubeck, StPO, § 69 Rz. 8; SK StPO-Rogall (Nov./Dez. 2004), vor § 48 Rz. 134; BGHSt 1, 5, 8. 29 Krehl NStZ 1991, 416, 417; Eisenberg, a. a. O., Rz. 1230; SK StPO-Rogall, vor § 48 Rz. 134. 30 Krehl NStZ 1991, 416, 417; SK StPO-Rogall vor § 48 Rz. 132 u. 134; Eisenberg, a. a. O., Rz. 1230; KMR-Paulus, StPO, 8. Aufl., vor § 48 Rz. 28 a. 31 SK StPO-Rogall, vor § 48 Rz. 134; Krehl NStZ 1991, S. 416, 417; Eisenberg, a. a. O., Rz. 1231; a. A. KMR-Paulus, StPO, 8. Aufl., vor § 48 Rz. 28 a mit der Begründung, daß es sich nicht um eine prozessuale, sondern um eine materiell-rechtliche Pflicht handele (dazu unten unter b). 32 OLG Köln NJW 1973, 1983 = ZZP 87 (1974) 484 m. Anm. E. Peters.
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schen (§ 378 ZPO33). Die sich aus den §§ 68, 69 und 70 StPO ergebenden Pflichten eines Zeugen in der Hauptverhandlung auf behauptete Pflichten außerhalb der Hauptverhandlung zu „erstrecken“34 und auch auf deren Verletzung mit Zwangsmaßnahmen zu reagieren, überschreitet nicht nur den Normtext als Grenze zulässiger Gesetzeskonkretisierung, sondern verstößt auch gegen das Analogieverbot, das, auch wenn es sich bei Ordnungsgeld und Ordnungshaft nicht um Kriminalstrafen handelt35, für deren Anordnungsvoraussetzungen gilt36. Die von einigen Befürwortern einer für die Dauer der Vernehmung bestehenden Nachforschungspflicht gemachte Einschränkung, prozessuale Folgen nach § 70 StPO dürften nur dann ergriffen werden, wenn infolge der Verletzung der Nachforschungspflicht im Ergebnis eine Aussage nicht gemacht werde37, löst das Problem nicht. Denn auch hier wird an ein „Vorverschulden“ angeknüpft, für das es in der StPO keine Grundlage gibt. Erst recht kann der StPO keine Pflicht zur Vorbereitung des Zeugen auf seine bevorstehende Vernehmung entnommen werden38. Zwar bestimmt Nr. 64 Abs. 1 S. 2 RiStBV, daß der Gegenstand der Beschuldigung in der Zeugenladung angegeben werden kann, „wenn dies zur Vorbereitung der Aussage durch den Zeugen erforderlich ist“; eine Pflicht zur Vorbereitung der Aussage ist damit aber nicht verbunden und könnte durch „Richtlinien“ auch nicht begründet werden. Soweit Nr. 64 Abs. 2 RiStBV eine mit der Zeugenladung zu verbindende Aufforderung an den Zeugen anregt, in seinem Besitz befindliche Schriftstücke oder andere Beweismittel, die für die Untersuchung von Bedeutung sein können, bei der Vernehmung vorzulegen, ist dies eine Maßnahme, die es als milderes Mittel dem Zeugen bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen erspart, daß diese Beweismittel nach §§ 93, 94 StPO unter Androhung von Ordnungs- und Zwangsmitteln herausverlangt bzw. sogar beschlagnahmt werden. Eine Pflicht, sich bereits vor der Vernehmung anhand solcher Unterlagen auf die Aussage vorzubereiten, ergibt sich daraus aber ebenfalls nicht.
__________ 33 Das OLG Köln knüpfte in seiner Entscheidung vom 14. 6. 1973 noch an den seinerzeitigen § 377 Abs. 3 ZPO an, der die schriftliche Beantwortung der Beweisfrage zuließ, wenn der Zeuge voraussichtlich Angaben anhand seiner Bücher oder anderer Aufzeichnungen machen konnte. Die heutige Vorschrift des § 378 ZPO wurde erst später ins Gesetz eingefügt. 34 Krehl NStZ 1991, S. 416, 417. 35 LR-Dahs, a. a. O., Anhang zu § 51 Rz. 1. 36 KK-Bohnert, OWiG, 2. Aufl., Einleitung Rz. 115 m. w. N. 37 SK StPO-Rogall, vor § 48 Rz. 134. 38 So die wohl einhellige Meinung: Vgl. LR-Dahs, a. a. O., vor § 48 Rz. 7; Eisenberg, a. a. O., Rz. 1228; SK StPO-Rogall, vor § 48 Rz. 134 m. w. N.
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b) Materiell-rechtliche Verpflichtung Der Zeuge ist nach § 153 StGB verpflichtet, in der Hauptverhandlung wahrheitsgemäß und vollständig auszusagen. Wird er auf eine unwahre Aussage vereidigt, macht er sich wegen Meineids strafbar (§ 154 StGB), wird eine fahrlässig unwahre Aussage beschworen, begründet dies die Strafbarkeit nach § 163 Abs. 1 StGB. Letztere kommt insbesondere dann in Betracht, „wenn der Zeuge es schuldhaft versäumt hat, konkrete tatsächliche Anhaltspunkte und äußere Hilfsmittel zu benutzen, die sich ihm bei seiner Vernehmung darboten und geeignet waren, ihn von der Unrichtigkeit seines Erinnerungsbildes zu überzeugen oder doch wenigstens Zweifel an dessen Richtigkeit aufkommen zu lassen“39. Aus dieser materiell-rechtlichen Pflicht zu einer wahren und vollständigen Aussage wird von einer Mindermeinung in der Literatur eine Pflicht des Zeugen abgeleitet, sich etwa durch Einsichtnahme in seine früheren Wahrnehmungen zum Beweisthema betreffende Unterlagen auf seine Vernehmung in der Hauptverhandlung vorzubereiten40. Diese Auffassung könnte sich vordergründig auch auf die Vorschrift des § 64 Abs. 2 StPO stützen, wonach die von dem Zeugen zu beschwörende Eidesformel lautet, „nach bestem Wissen“ die Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen zu haben. Eine Aussage, deren Unwahrheit oder Unvollständigkeit darauf zurückzuführen ist, daß eine mögliche und zumutbare Vorbereitung anhand vorhandener Gedächtnishilfen unterblieb, wäre jedenfalls nicht „nach bestem Wissen“ gemacht worden. Jedoch lehnt die h. M. in Rechtsprechung und Literatur eine aus der Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aussage abzuleitende Vorbereitungspflicht zurecht ab41. Denn die Rechtspflicht, „sein Wissen und seine Erinnerung hervorzuholen und getreulich zu reproduzieren“ mit der Folge der Strafbarkeit im Falle ihrer Verletzung, beginnt erst mit der Aussage selbst42. Sagt ein Zeuge aus, er wisse eine Tatsache bestimmt, obwohl ihm bewußt ist, daß er sich irren kann, begeht er, wenn er sich in der Wahrheit irrt, eine vorsätzliche
__________ 39 BGH GA 1973, 376, 377; ebenso SK StGB-Rudolphi (August 1999) § 163 Rz. 6. 40 KMR-Paulus, StPO, 8. Aufl., Vorb. vor § 48 Rz. 28 a; KMR-Neubeck, StPO, Stand März 2003, vor § 48 Rz. 10; Dedes JR 1983, 99, 101, der dem Zeugen bei einer auf Verletzung dieser Vorbereitungspflicht beruhenden Falschaussage einen Fahrlässigkeitsvorwurf macht. Zur Annahme einer Strafbarkeit nach § 163 StGB, ggf. sogar nach §§ 153, 154 StGB kommen konsequenterweise auch die Vertreter der Auffassung, die nach Beginn der Vernehmung eine Erkundigungs- und Vergewisserungspflicht des Zeugen auch außerhalb der Hauptverhandlung befürworten: Eisenberg, a. a. O., Rz. 1231; Krehl NStZ 1991, 416, 418; SK StPO-Rogall, vor § 48 Rz. 134. 41 Vgl. LK-Ruß, StGB, 11. Aufl., § 163 Rz. 6; SK StGB-Rudolphi, § 163 Rz. 5; Tröndle/ Fischer, StGB, 52. Aufl., § 163 Rz. 6; Schönke/Schröder-Lenckner, StGB, 26. Aufl., § 163 Rz. 3. 42 LK-Ruß, StGB, 11. Aufl., § 163 Rz. 6.
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Muß sich ein Zeuge auf seine Vernehmung in der Hauptverhandlung vorbereiten?
uneidliche Falschaussage oder einen Meineid43. Beschwört er eine Aussage mit der Erklärung, sie sei nach bestem Wissen erstattet, obwohl der Zeuge weiß, daß eine ihm mögliche sorgfältige Prüfung und Erkundigung nicht stattgefunden hat, so begründet die Unrichtigkeit dieser eidlichen Versicherung eine Strafbarkeit wegen fahrlässigen Falscheides oder sogar wegen Meineides44. Die Strafbarkeit ergibt sich dann aber ausschließlich aus dem Verhalten bei der eidlichen Aussage selbst, nicht aber aus der Verletzung einer angeblichen Vorbereitungspflicht. Zurecht differenziert die Rechtsprechung deshalb auch zwischen Fällen, in denen ein Zeuge in der Hauptverhandlung zur Verfügung stehende Hilfsmittel zur Auffrischung des Gedächtnisses ungenutzt läßt und solchen, in denen ihm Hilfsmittel bei seiner Vernehmung nicht zur Verfügung standen45. Dementsprechend wird auch eine strafbare Fahrlässigkeit verneint, wenn Anknüpfungspunkt für eine Sorgfaltspflichtverletzung nur das wäre, was der Zeuge „vor der Erstattung seiner Aussage getan oder unterlassen hat“46. Eine Pflicht zur Vorbereitung der Vernehmung, deren Verletzung eine Strafbarkeit wegen eines Aussagedelikts zur Folge haben könnte, kann deshalb gerade nicht in der „materiell-rechtlichen Pflicht zu wahrer und vollständiger Aussage“47 ihre Rechtsgrundlage haben. Eine solche müßte außerhalb der strafbewehrten Wahrheitspflicht gefunden werden. Aus dem Strafverfahrensrecht ergibt sie sich aber gerade nicht. c) Ergebnis Danach besteht für einen Zeugen nach geltendem Recht weder eine verfahrensrechtliche noch eine materiell-rechtliche Verpflichtung, sich auf seine Aussage in der Hauptverhandlung vorzubereiten und insbesondere anhand von in seinem Besitz befindlichen Gedächtnishilfen sein Gedächtnis aufzufrischen48.
__________ 43 BGH bei Dallinger MDR 1953, 596, 597; Schönke/Schröder-Lenckner, StGB, 26. Aufl., § 163 Rz. 4. 44 RGSt 37, 395, 398. 45 BGH bei Dallinger MDR 1953, 596 f.; BGH GA 1973, 376. Der Zeuge ist allerdings verpflichtet, das Gericht auf die Existenz solcher Hilfsmittel hinzuweisen, wenn er es für möglich hält, daß er bei ihrer Verwendung als Erkenntnismittel ein zutreffendes oder besser Resterinnerungsbild reproduzieren würde: Nöldeke NJW 1979, 1644, 1645. 46 BGH bei Dallinger MDR 1953, 596, 597; ebenso schon RGSt 37, 395, 399. Die Formulierung in BGHSt 1, 5, 8, ein Zeuge habe unter Umständen die Pflicht, sich früherer Aufzeichnungen als Gedächtnisstütze zu bedienen, um sein Erinnerungsbild aufzufrischen, hat ersichtlich nur die Situation vor Augen, daß dem Zeugen diese Hilfsmittel während seiner Vernehmung auch zur Verfügung stehen. 47 KMR-Paulus, StPO, 8. Aufl., Vorb. vor § 48 Rz. 22 a. 48 Soweit von der h. M. in der Literatur für Polizeibeamte, Staatsanwälte und für sonstige Amtsträger mit vergleichbaren Funktionen eine Vorbereitungspflicht auf die Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung bejaht wird (vgl. Tröndle/
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IV. Vorbereitungspflicht des Zeugen de lege ferenda Kann aber die Vorbereitung eines Zeugen auf seine Vernehmung in der Hauptverhandlung unter bestimmten Voraussetzungen ein wesentlicher Beitrag zur „Erforschung der Wahrheit“ darstellen, stellt sich die Frage, wie de lege ferenda eine entsprechende Verpflichtung des Zeugen ausgestaltet werden könnte. 1. Gegenstand und Voraussetzungen einer Vorbereitungspflicht Zunächst ist der Gegenstand einer solchen Vorbereitungspflicht näher einzugrenzen: Zwar stellt die gedankliche Befassung mit dem Beweisthema, das Gegenstand der bevorstehenden Zeugenvernehmung sein soll, eine wesentliche Voraussetzung dafür dar, daß es dem Zeugen gelingt, sein Gedächtnis zu (re-)aktivieren und seine früheren Wahrnehmungen so vollständig und zutreffend wie möglich wiederzugeben. Anstrengung des Gedächtnisses und Konzentration sind aber ebenso wenig erzwingbar, wie es möglich wäre festzustellen, ob der Zeuge das ihm Mögliche an gedanklicher Vorarbeit tatsächlich geleistet hat. Gegenstand einer Verpflichtung zur Vorbereitung auf die Aussage, deren Mißachtung ggf. sanktioniert werden kann, kann nur die Vorbereitung des Zeugen anhand ihm zur Verfügung stehender äußerer Hilfsmittel sein. Nur die Frage, ob der Zeuge Nachforschungen nach solchen Objekten angestellt und sich mit ihrer Hilfe mit dem Gegenstand seiner Aussage befaßt, also Schriftstücke gelesen und Augenscheinsobjekte angeschaut und verarbeitet hat, kann einer gerichtlichen Überprüfung unterliegen. Dabei darf es sich allerdings immer nur um solche Hilfsmittel handeln, die dem Zeugen schon im Zusammenhang mit dem zu erinnernden Ereignis zur Verfügung standen. Eine Pflicht zur Vorbereitung anhand von erst nachträglich entstandenem oder bekanntgewordenem Informationsmaterial, insbesondere solchem aus dritter Hand ist abzulehnen. Damit versteht es sich auch von selbst, daß ein Zeuge nicht verpflichtet werden darf, Nachforschungen nach solchen Umständen anzustellen, die gar nicht Gegenstand bereits erfolgter Wahrnehmungen sind.
__________ Fischer, StGB, 52. Aufl. § 163 Rz. 4; Schönke/Schröder-Lenckner, StGB, 26. Aufl. § 163 Rz. 3; SK StGB-Rudolphi [August 1999] § 163 Rz. 5), kann insoweit nichts anderes gelten. Eine Vorbereitungspflicht bedürfte einer Rechtsgrundlage jenseits der sich für Zeugen aus StPO und StGB ergebenden Pflichten. Der Frage, ob sich diese allenfalls aus beamtenrechtlichen Vorschriften ergeben könnte bzw. sich aus der Pflicht zur Amtshilfe ableiten ließe und ob sie überhaupt mit den strafverfahrensrechtlichen Grundsätzen der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung kompatibel wäre (kritisch insoweit NK StGB-Vormbaum [30. 8. 2000] § 163 Rz. 28 m. w. N.), kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden.
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Muß sich ein Zeuge auf seine Vernehmung in der Hauptverhandlung vorbereiten?
Eine Vorbereitungspflicht müßte sich zudem auf solche Hilfsmittel beschränken, bezüglich derer der Zeuge eine Zugriffsmöglichkeit hat. Und auch insoweit dürften an ihn keine unmöglichen oder unzumutbaren Anforderungen gestellt werden. Selbst wenn der Zeuge wüßte, daß Gegenstände wie Photographien, Skizzen oder schriftliche Unterlagen bzw. elektronisch gespeicherte Daten vorhanden sind, die im Zusammenhang mit seiner früheren Wahrnehmung stehen, könnte von ihm nicht erwartet werden, unbegrenzte Nachforschungen nach ihrem Verbleib und ggf. aufwendige Bemühungen zu ihrer Beschaffung anzustellen. Bezüglich der in seinem Gewahrsam befindlichen Gegenstände hätte der Zeuge jedoch die faktische Möglichkeit, diese aufzufinden und sich inhaltlich mit ihnen im Hinblick auf seine Aussage vertraut zu machen. Konkret bedeutet dies, daß er entweder unmittelbarer Alleingewahrsamsinhaber oder im Falle des Mitgewahrsams entweder gleichrangiger Gewahrsamsinhaber oder als Inhaber einer Gewahrsamssphäre mittelbarer Mitgewahrsamsinhaber sein müßte49. Wäre er nur mittelbarer Gewahrsamsinhaber und übte ein Dritter außerhalb der Gewahrsamssphäre des Zeugen Mitgewahrsam aus, wie beispielweise der Steuerberater über die ihm vorübergehend überlassenen Buchhaltungsunterlagen50, hätte der Zeuge insoweit keine Verpflichtung, ggf. Nachfragen bezüglich einzelner Unterlagen bei diesem zu stellen, diesen zur Rückgabe aufzufordern oder sich zum Zwecke von Nachforschungen zu diesem zu begeben. Die Nachforschungs- und Vorbereitungspflicht würde sich damit allein auf solche Gegenstände und Schriftstücke beziehen, bezüglich derer den Zeugen ohnehin eine Vorlage- bzw. Herausgabepflicht i. S. d. § 95 StPO trifft. Denn würde der Zeuge anläßlich seiner Vernehmung offenbaren, daß er über Aufzeichnungen oder sonstige Unterlagen oder Gegenstände verfügt, die für seine Aussage und damit den Gegenstand der Untersuchung von Bedeutung sind, dürfte er direkt zu deren Herausgabe aufgefordert werden; würde er nur darauf hinweisen können, daß möglicherweise derartige Gegenstände in seinem Gewahrsam sind, würde dies zu einer Durchsuchung berechtigen mit der Folge, daß im Erfolgsfalle ebenfalls eine Herausgabepflicht bestünde. Die dem Zeugen obliegende Nachforschungs- und Vorbereitungstätigkeit müßte schließlich zumutbar sein. Von Bedeutung wären hier insbesondere deren Umfang und der dem Zeugen bis zu seiner Vernehmung zur Verfügung stehende Zeitraum. Der bloße Zeitaufwand könnte allerdings keine Rolle
__________ 49 Vgl. zu diesen Fragen im Zusammenhang mit der Herausgabepflicht des § 95 StPO LR-Schäfer, 25. Aufl., § 95 Rz. 7 ff. 50 So nach Auffassung eines Teils der Rechtsprechung und Literatur: vgl. LG Aachen MDR 1981, 603; LG Saarbrücken wistra 1984, 200; LG Darmstadt NStZ 1988, 286 und LG München I NJW 1989, 536; a. A. LG Stade NStZ 1987, 38; Amelung DNotZ 1984, 198.
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spielen, weil dieser dem Zeugen nach dem ZSEG zu ersetzen bzw. ein Verdienstausfall zu erstatten wäre. In rechtlicher Hinsicht müßte beachtet werden, daß den Zeugen keine Pflicht zum Nachforschen nach Gegenständen treffen würde, bezüglich derer ein Beschlagnahmeverbot besteht, das auch in der Person eines Mitgewahrsamsinhabers seinen Grund haben könnte51. Das Entstehen einer Nachforschungs- und Vorbereitungspflicht sollte von einer bestimmten Anordnung des Gerichts abhängig gemacht werden. Das Gericht muß unter vernehmungstaktischen Gesichtspunkten entscheiden können, ob und ggf. in welchem Umfang ein Zeuge über das Beweisthema, zu dem er vernommen werden soll, informiert und ihm aufgegeben wird, sich darauf anhand ihm zur Verfügung stehender Unterlagen vorzubereiten. Das Gericht müßte deshalb eine auf das Beweisthema bezogene Konkretisierung vornehmen und den Zeugen auffordern, bestimmte Unterlagen einzusehen oder sich mit bestimmten Gegenständen wieder vertraut zu machen, falls er diese in seinem Gewahrsam hat. Ein bloßer Hinweis oder Formulierungen allgemeiner Art52 würden nicht ausreichen, um auf ein Untätigbleiben mit der Verhängung von Sanktionen zu reagieren. In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll, wenn dem Zeugen mit auferlegt werden könnte, die fraglichen Unterlagen und Gegenstände zur Vernehmung mitzubringen, wenn dies möglich und zumutbar ist53. 2. Strafrechtlich sanktionierte Vorbereitungspflicht In einem Entwurf zur Reform der Aussagedelikte aus dem Jahre 1930 sollte an die Stelle der Fahrlässigkeitstatbestände des § 163 StGB ein Tatbestand der „Verletzung der Erkundigungspflicht“ treten54. Danach sollte derjenige mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bedroht werden, der „in einem behördlichen Verfahren gegen eine ihm vom Gesetz oder kraft Gesetzes von der Behörde auferlegte Pflicht zur Nachforschung oder Prüfung verstößt (…), wenn er infolge des Verstoßes unrichtige oder unvollständige Angaben macht und de-
__________ 51 Vgl. LR-Schäfer, 25. Aufl., § 95 Rz. 11. 52 Beispielsweise die Aufforderung, sich anhand etwa vorhandener Unterlagen vorzubereiten und diese ggf. zur Vernehmung mitzubringen. 53 Die gegenwärtige Praxis muß sich damit behelfen, daß ein Zeuge aufgefordert wird, dem Gericht Beweisgegenstände zur Verfügung zu stellen, wenn es von deren Existenz erst anläßlich der Zeugenvernehmung Kenntnis erhält. Ist abzusehen, daß der Zeuge hierzu ergänzend vernommen werden muß, muß die Vernehmung unterbrochen werden, was weder der Qualität der von dem Zeugen zu erlangenden Aussage noch der Prozeßökonomie dient. 54 Vgl. NK StGB-Vormbaum, 2. Aufl., § 163 Rz. 9; ausführlicher ders., Eid, Meineid und Falschaussage, Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870, 1990, S. 104 ff.
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Muß sich ein Zeuge auf seine Vernehmung in der Hauptverhandlung vorbereiten? ren Richtigkeit und Vollständigkeit unter Berufung auf die Pflicht zur Wahrheit versichert oder beeidigt“55.
Zu einer Realisierung dieses Gesetzesvorhabens ist es nicht gekommen. Auch die Ausfüllung dieses Blankettgesetzes durch die Prozeßgesetze, in denen es an einer grundsätzlichen Regelung einer Erkundigungspflicht fehlte, erfolgte im Zusammenhang mit dieser Eidesreform nicht. So blieb es bei dem Entwurf eines § 69 a StPO, der bestimmen sollte: „Bildet den Gegenstand der Vernehmung eine Auskunft, die der Zeuge voraussichtlich an der Hand seiner Bücher oder anderer Aufzeichnungen zu geben hat, so kann dem Zeugen die Pflicht auferlegt werden, die für die Auskunft erforderlichen Nachforschungen und Prüfungen vorher vorzunehmen. Ebenso kann, wenn den Gegenstand der Vernehmung eine Auskunft bildet, die sich auf eine Sache oder Örtlichkeit bezieht, dem Zeugen die Pflicht auferlegt werden, sich durch eine Besichtigung der Sache oder der Örtlichkeit auf die Aussage vorzubereiten (Mitteilung der Anordnung in der Ladung, evtl. auch im Termin)“56.
Unabhängig von der Ausgestaltung und dem Umfang dieser geplanten Erkundigungs- und Vorbereitungspflicht im einzelnen57 stellt sich vorrangig die Frage, ob es gerade einer Strafbestimmung bedurfte, um das Ziel der Verbesserung der Qualität einer Zeugenaussage zu erreichen. Schon die Tatsache, daß die Vorbereitung einer Vernehmung in der Hauptverhandlung nur der Herbeiführung einer wahrheitsgemäßen und vollständigen Aussage dienen soll, die Strafbarkeit wegen falscher uneidlicher Aussage oder wegen Meineides aber eine unwahre Aussage selbst voraussetzt, spricht gegen eine strafrechtliche Sanktionierung der Verletzung einer im Vorfeld der Deliktsverwirklichung zu begründenden Pflicht. Näher liegt es, eine Vorbereitungspflicht den anderen prozessualen Pflichten des Zeugen gleichzustellen, nämlich vor Gericht zu erscheinen, auszusagen und die Aussage ggf. zu beeiden. Einer Strafe als ultima ratio bedarf es zur Sanktionierung der Verletzung einer Vorbereitungspflicht nicht, weil kein Grund dafür ersichtlich ist, diese anders zu behandeln als die Verletzung der Erscheinens- und Aussagepflicht mit der Folge der in §§ 51 und 70 StPO vorgesehenen Maßnahmen. 3. Verfahrensrechtlich begründete Vorbereitungspflicht Eine verfahrensrechtliche Pflicht zur Vorbereitung einer Zeugenaussage mit Hilfe aussageerleichternder Unterlagen ist in Form des § 378 ZPO durch das Rechtspflege-VereinfachungsG vom 17. 12. 1990 für den Zivilprozeß einge-
__________ 55 Zitiert nach Engisch, Die Verletzung der Erkundigungspflicht, ZStW 52 (1931) S. 661, 666 f. 56 Zitiert nach Engisch, ibid., S. 685. 57 Hierzu ausführlich Engisch, ibid, der u. a. zu recht kritisch darauf hinweist, daß die dem Zeugen auferlegten Pflichten weit über die „Zwecke der Gedächtnisbelebung“ hinaus gehen und den Zeugen zu einem richterlichen Aufklärungsgehilfen machen (S. 686).
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führt worden. Diese Vorschrift macht es dem Zeugen zur Pflicht, auf gerichtliches Verlangen Aufzeichnungen und Unterlagen einzusehen und zu dem Vernehmungstermin mitzubringen, wenn ihm dies gestattet und zumutbar ist und ihm dies die Aussage über seine Wahrnehmungen erleichtert. Ordnungs- und Zwangsmittel können gegen ihn allerdings nur dann getroffen werden, wenn er dieser Verpflichtung trotz einer bestimmten Anordnung des Gerichts nicht nachkommt. Eine für die Zeugenvernehmung im Strafverfahren zu begründende Vorbereitungspflicht könnte sich an dieser Regelung orientieren. Da § 48 StPO im Gegensatz zu § 377 ZPO den Inhalt der Zeugenladung nicht näher konkretisiert, würde es sich anbieten, auch dies gesetzlich zu regeln und nicht nur Nr. 64 Abs. 1 RiStBV zu überlassen. § 48 StPO könnte deshalb um folgende weitere Absätze ergänzt werden: „(2) Der Name des Beschuldigten, der Gegenstand der Beschuldigung und das Beweisthema, zu dem der Zeuge vernommen werden soll, sind anzugeben, wenn der Zweck der Untersuchung es nicht verbietet und dies zur Vorbereitung der Vernehmung geboten erscheint. (3) Ist anzunehmen, daß der Zeuge Schriftstücke oder andere Beweisgegenstände in seinem Gewahrsam hat, die Informationen über das ihm mitgeteilte Beweisthema enthalten oder ihm sonst seine Aussage erleichtern, so kann er schon mit der Ladung aufgefordert werden, sich mit ihrer Hilfe auf seine Vernehmung vorzubereiten und sie im Termin vorzulegen, wenn ihm dies zumutbar ist und kein Zeugnisverweigerungsrecht oder Beschlagnahmeverbot besteht. (4) Der Zeuge kann unter Hinweis auf die gesetzlichen Folgen der Nichtbeachtung (§ 51 a) schon mit der Ladung aufgefordert werden, sich im Hinblick auf das ihm mitgeteilte Beweisthema anhand bestimmter Schriftstücke und Beweisgegenstände dieser Art auf seine Vernehmung vorzubereiten“.
Als § 51a könnte folgende neue Vorschrift in die StPO eingeführt werden: „Kommt ein Zeuge ohne genügende Entschuldigung einer Aufforderung gemäß § 48 Abs. 4 nicht nach, so kann das Gericht gegen ihn ein Ordnungsgeld festsetzen, wenn die Vorbereitung der Aussage anhand von in seinem Gewahrsam befindlichen Schriftstücken oder anderen Beweisgegenständen für seine Vernehmung erforderlich war“.
Die vorgeschlagene Regelung stellt es in das Ermessen des Gerichts, ob es den Zeugen über die Person des Beschuldigten und den beabsichtigten Vernehmungsgegenstand informiert und ihn auffordert, in seinem Gewahrsam befindliche Schriftstücke und andere Beweisgegenstände vorzulegen und sich mit ihrer Hilfe auf seine Aussage vorzubereiten. Dadurch soll es dem Gericht überlassen bleiben, seine Entscheidung unter vernehmungstaktischen Gesichtspunkten vor dem Hintergrund des konkreten Verfahrens zu treffen. Der Hinweis auf das Beweisthema, zu dem der Zeuge vernommen werden soll, läßt erwarten, daß er sich schon vor seiner Vernehmung gedanklich damit auseinandersetzt. Denn schon die Ladung als Zeuge zu seiner Verneh472
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mung in einer Hauptverhandlung wird die Frage auslösen, wozu er sich dort äußern soll. Die Möglichkeit, ihn zur Vorbereitung und zur Vorlage von für seine Aussage bedeutsamen Beweisgegenständen in der Hauptverhandlung aufzufordern, sollte er solche in seinem Gewahrsam haben und ihm dies zumutbar sein, dient nicht nur der Prozeßökonomie. Sie hilft auch zu vermeiden, daß der Zeuge erst mit ihnen konfrontiert wird, nachdem er sich schon im Zusammenhang zum Vernehmungsgegenstand geäußert hat und ihm von den Verfahrensbeteiligten Fragen gestellt und Vorhalte gemacht worden sind. Das Risiko einer suggestiven Beeinflussung seiner Aussage vor Befassung mit ihm zur Verfügung stehenden Erinnerungsstützen wird so reduziert. Vermutet das Gericht lediglich, daß der Zeuge aussageerleichternde Beweismittel in seinem Gewahrsam haben könnte, reicht dies nicht aus, um daran auch eine sanktionsbewehrte Vorlageverpflichtung zu knüpfen. Ist das Gericht demgegenüber in der Lage, bestimmte Beweismittel genau zu bezeichnen, kann er ohnehin nach § 95 StPO unter Androhung der Festsetzung von Ordnungs- und Zwangsmitteln dazu verpflichtet werden, diese an das Gericht herauszugeben. Die Regelung des § 48 Abs. 3 StPO-E beschränkt sich zusätzlich auf solche im Gewahrsam des Zeugen befindlichen Schriftstücke und Beweisgegenstände, die Informationen über das ihm mitgeteilte Beweisthema enthalten oder ihm sonst seine Aussage erleichtern. Dadurch ist klargestellt, daß er keine Nachforschungen anzustellen hat, um Informationen zu gewinnen, die ihm insbesondere eine Aussage erst ermöglichen würden. Eine sanktionsbewehrte Pflicht würde allein durch die Regelung des § 48 Abs. 4 StPO-E begründet, wonach sich der Zeuge anhand ihm tatsächlich zur Verfügung stehender entsprechender Schriftstücke und Beweisgegenstände auf seine Aussage vorzubereiten hätte. Voraussetzung hierfür wäre allerdings eine bestimmte Aufforderung unter Angabe eines konkreten Beweisthemas. Zusätzlich müßte der Zeuge auf die Möglichkeit der Festsetzung eines Ordnungsgeldes gem. § 51 a StPO-E für den Fall der schuldhaften Zuwiderhandlung hingewiesen werden. Der Zeuge muß wissen, worauf sich seine Vorbereitungspflicht bezieht und mit Hilfe welcher Schriftstücke, Fotografien, Skizzen etc. er ihr nachzukommen hat. Die entsprechende Aufforderung kann schon in der Ladung enthalten sein, aber auch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Die Vorschrift über die Festsetzung eines Ordnungsgeldes (§ 51a StPO-E) orientiert sich an § 51 StPO. Durch den Vorbehalt einer „genügenden Entschuldigung“ würde nicht nur dem Zumutbarkeitsgesichtspunkt, sondern auch einem etwaigen Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeverbot Rechnung getragen werden können.
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Die Entscheidung des Revisionsgerichts nach § 354 Abs. 1a und Abs. 1b StPO Inhaltsübersicht I. Einleitung und Entstehungsgeschichte 1. Einleitung 2. Entstehungsgeschichte II. Normzweck und Anwendungsbereich von § 354 Abs. 1a und 1b StPO 1. § 354 Abs. 1a S. 1 StPO 2. § 354 Abs. 1a S. 2 StPO a) Antragserfordernis b) Entscheidung durch Beschluss oder durch Urteil?
3. § 354 Abs. 1b StPO a) Fallgestaltungen b) Entscheidung nach § 354 Abs. 1b S. 1 StPO c) Zuständiger „Beschlussrichter“ und Rechtsmittel III. Auswahlermessen und gesetzlicher Richter
I. Einleitung und Entstehungsgeschichte 1. Einleitung Das Erste Gesetz zur Modernisierung der Justiz vom 24. August 2004 fügte durch seinen Artikel 3 Nr. 15c1 in § 3542 die Absätze 1a und 1b3 ein, die die Befugnis der Revisionsgerichte zur eigenen Sachentscheidung im Rechtsfolgenausspruch ausweiten und damit über die Entscheidungskompetenz hinausgehen, die sie sich in entsprechender bzw. analoger Anwendung des § 354 Abs. 1 in gefestigter Rechtsprechung zugebilligt haben4. Die vorliegende Be-
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BGBl. I S. 2198, 2203. Paragraphen ohne Gesetzesangaben sind solche der StPO. Die Vorschriften lauten: „(1a) Wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen kann das Revisionsgericht von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft kann es die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen. (1b) Hebt das Revisionsgericht das Urteil nur wegen Gesetzesverletzung bei Bildung einer Gesamtstrafe (§§ 53, 54, 55 des Strafgesetzbuches) auf, kann dies mit der Maßgabe geschehen, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach den §§ 460, 462 zu treffen ist. Entscheidet das Revisionsgericht nach Abs. 1 oder Abs. 1a hinsichtlich einer Einzelstrafe selbst, gilt Satz 1 entsprechend. Die Absätze 1 und 1a bleiben im Übrigen unberührt.“ Vgl. dazu im Einzelnen Bode, Die Entscheidung des Revisionsgerichts in der Sache selbst, 1958, S. 33 ff.; Steinmetz, Sachentscheidungskompetenzen des Revisionsgerichts in Strafsachen, 1997, S. 195 ff.; Junker, Die Ausdehnung der eigenen Sachentscheidung in der strafrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes,
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trachtung geht der Frage nach, inwiefern mit den beiden Neuregelungen Neuland betreten wird und ob es noch Fallgruppen gibt, bei denen sich eine eigene Entscheidungskompetenz des Revisionsgerichts im Rechtsfolgenausspruch nach wie vor nur mit einer analogen Anwendung von § 354 Abs. 1 rechtfertigen lässt. Es werden Verfahrensfragen, die die Neuregelungen aufwerfen, angesprochen und, soweit bereits vorhanden, die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu den Neuregelungen dargestellt5 (II). Als letztes soll der Frage Aufmerksamkeit geschenkt werden, ob die Regelung des § 354 Abs. 1b S. 1 im Hinblick auf das Prinzip des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verfassungsrechtlich unbedenklich ist. (III). Die von der Revisionsrechtsprechung praktizierte, vom Bundesverfassungsgericht6 und in der Literatur7 weitgehend gebilligte Schuldspruchberichtigung in analoger Anwendung des § 354 Abs. 1 ist nur insoweit Gegenstand der Arbeit, als sie Voraussetzung für einen Eingriff des Revisionsgerichts in die tatrichterliche Rechtsfolgenentscheidung durch eine eigene abschließende Sachentscheidung ist. 2. Entstehungsgeschichte Die Gesetz gewordene Fassung von § 354 Abs. 1a und 1b geht – auch hinsichtlich der ungewöhnlichen Absatzbezeichnungen – auf einen Vorschlag des Strafrechtsausschusses der Justizministerkonferenz zurück, der im Vorfeld der 65. Tagung dieses Gremiums im November 1994 in Hamburg im Rahmen der Arbeiten zur Vorbereitung eines weiteren Rechtspflegeentlastungsgesetzes unterbreitet wurde. Mit dem Vorschlag wurde das Ziel verfolgt, die Tatgerichte durch abschließende Sachentscheidungen der Revisionsgerichte zu entlasten; zugrunde lag die Erfahrung, „dass es bei unverändertem Schuldspruch und Zurückverweisung wegen der Strafzumessung häufig nicht zu wesentlich anderen Rechtsfolgenentscheidungen kommt“. Die vorgeschlagene Regelung des Abs. 1a ergänze § 354 Abs. 1; soweit die Rechtsprechung Abs. 1 extensiv auslege, werde dies von der Neuregelung nicht berührt. Für die auf der Ebene der Tatgerichte nachzuholende Gesamtstrafenbildung gebe es in § 460 ein bewährtes Verfahren, das auf eine Hauptverhandlung verzichte. Dieses in Abs. 1b vorgeschlagene Verfahren gelte so-
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2002, S. 101 ff.; Hanack in LR 25. Aufl. Rz. 35 ff.; Kuckein in KKStPO 5. Aufl. Rz. 19 ff.; Meyer-Goßner Rz. 24 ff., alle zu § 354 StPO; ders., GS Schlüchter S. 515 ff. Es konnten im Wesentlichen nur bis zum 31. 12. 2004 ergangene Entscheidungen berücksichtigt werden. Vgl. Beschl. v. 1. 3. 2000 – 2 BvR 2049/99; Beschl. v. 30. 11. 2000 – 2 BvR 1473/00 = NStZ 2001, 187, 188; Beschl. vom 1. 3. 2004 – 2 BvR 2251/03. Vgl. dazu Bode, a. a. O. S. 16 ff.; Batereau, Die Schuldspruchberichtigung, 1970; Steinmetz a. a. O. S. 119 ff.; Walbaum, Schuldspruch in der Revisionsinstanz nach freisprechendem Urteil des Tatgerichts, 1996, 25 ff.; Junker, a. a. O., S. 34 ff.; Hanack in LR a. a. O. Rz. 15; Kuckein in KKStPO a. a. O. Rz. 15 ff.; Meyer-Goßner, a. a. O., Rz. 12 ff.
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Entscheidung des Revisionsgerichts nach § 354 Abs. 1a und Abs. 1b StPO
wohl für den Fall, dass die Gesamtstrafenbildung des Tatrichters fehlerhaft sei, als auch für den Fall, dass Einzelstrafen durch Einstellung oder Freispruch zum Wegfall kämen oder dass das Revisionsgericht über Einzelstrafen selbst entscheide. Der Vorschlag des Strafrechtsausschusses der Justizministerkonferenz fand in der 13. und 14 Legislaturperidode in Gesetzesentwürfen8 seinen Niederschlag, die der Diskontinuität zum Opfer fielen. In der laufenden – 15. – Legislaturperiode tauchte der Vorschlag erneut im Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU für ein Erstes Justizbeschleunigungsgesetz vom 20. 5. 20039 auf und wurde, zusammengeführt mit dem Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Modernisierung der Justiz vom 2. 9. 200310, im Rechtsausschuss des Bundestages in die gemeinsame Ausschussfassung11 übernommen und als Teil des 1. Justizmodernisierungsgesetzes vom 24. 8. 2004 mit Wirkung vom 1. 9. 2004 Gesetz12. Die Erweiterung der Befugnisse der Revisionsgerichte zur eigenen abschließenden Sachentscheidung auch im Rechtsfolgenausspruch fand in der Fachöffentlichkeit von Beginn an ein überwiegend positives Echo, was zumindest für entsprechende Stellungnahmen aus Kreisen der Strafverteidiger nicht selbstverständlich erscheint, bedenkt man, dass eine insoweit ergehende abschließende Rechtsfolgenentscheidung des Revisionsgerichtes ihnen die Möglichkeit nimmt, in einem „zweiten tatrichterlichen Durchgang“ noch gestaltend auf die Rechtsfolgenentscheidung Einfluss nehmen zu können; auch begeben sie sich der Möglichkeit, diese nochmals einer rechtlichen Überprüfung im Revisionsverfahren zuzuführen. Hatte der 60. Deutsche Juristentag in Münster 1994 es noch mit großer Mehrheit abgelehnt, dem Revisionsgericht die Befugnis zur Änderung des Rechtsfolgenausspruchs einzuräumen13, wurde auf dem 63. Deutschen Juristentag Leipzig 2000 der Antrag, dem Revisionsgericht solle die Möglichkeit eingeräumt werden, bei rechtlich fehlerhafter Strafzumessung die Strafe selbst festzusetzen, wenn dies auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen und der Strafzumessungserwägungen des tatrichterlichen Urteils möglich sei, mit großer Mehrheit angenommen14. Der Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer ging in seiner unter Mitwirkung des durch die-
__________ 8 GesEntw. des BR für ein Zweites Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege (strafrechtlicher Bereich) vom 7. Mai 1996, BT-Drucks. 13/4541; Ges.Entw. der CDU/ CSU Fraktion für ein StrafverfahrensbeschleunigungsG vom 5. Oktober 1999, BTDrucks. 14/1714. 9 BT-Drucks. 15/999, allerdings als Abs. 2 und 3 des § 354 StPO. 10 BT-Drucks. 15/1508. 11 BT-Drucks. 15/3482 S. 8, nun wieder als Abs. 1a und 1b. 12 BGBl. I S. 2198, 2203. 13 Beschluss C VI 29.6, wobei er sich in Beschluss C VI 29. 5 allerdings für eine Erweiterung der Schuldspruchberichtigung aussprach. 14 Antrag Prof. Dr. Widmaier, Beschluss C III 10a; Abstimmungsergebnis: 71 : 9 : 3.
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se Festschrift zu ehrenden Jubilars erarbeiteten Stellungnahme zum Vorschlag des Strafrechtsausschusses der Justizministerkonferenz15 über dessen Vorstellungen hinaus und schlug vor, dem Revisionsgericht die Befugnis zur eigenen Sachentscheidung einzuräumen, wenn die endgültige Festsetzung einer (an sich aus Rechtsgründen aufzuhebenden) Strafe auf der Grundlage der Feststellungen und der Strafzumessungserwägungen des tatrichterlichen Urteils ohne weiteres möglich sei. Er hob die deutliche Entlastung der Instanzgerichte durch eine solche Regelung hervor, die nach seiner Vorstellung nicht an einen Antrag der Staatsanwaltschaft gebunden sein solle. Bemerkenswert ist auch, dass der Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltkammer für dieses Vorgehen das Beschlussverfahren nach § 349 Abs. 4 vorschlug, wobei hinsichtlich der konkret festzusetzenden Rechtsfolge Einstimmigkeit nicht für erforderlich erachtet wurde16. In demselben Sinne äußerte sich der Ausschuss in nachfolgenden Stellungnahmen17. Der Deutsche Anwaltverein stimmte der in Abs. 1a Gesetz gewordenen Regelung ebenfalls zu18. Schließlich schlug auch die Große Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes in ihrem Gutachten zur Reform der Rechtsmittel im Strafverfahren vom Juli 1999 eine § 354 Abs. 1a und 1b entsprechende Regelung mit einer Erweiterung der Sachentscheidungskompetenz des Revisionsgerichts bei der Rechtsfolgenentscheidung vor19. Lediglich die Strafverteidigervereinigungen lehnten die Regelung des § 354 Abs. 1a ab20, wobei sie allerdings unzutreffender Weise davon ausgingen, das Revisionsgericht könne bei der eigenen Strafzumessungsentscheidung nach § 354 Abs. 1a S. 2 Tatsachen verwerten, die sich nicht dem Urteil entnehmen ließen. Die Rechtswissenschaft stand dem jetzt Gesetz gewordenen Reformvorhaben gleichfalls nicht ablehnend gegenüber; bei entsprechend vorsichtigem Gebrauch bestünden deshalb keine Bedenken gegen die vorgeschlagene Regelung21. Im Schrifttum wurde die Gesetz gewordene Fassung von § 354 Abs. 1a und Abs. 1b unterschiedlich bewertet; nur zwei Stimmen seien genannt: für Junker22 reicht sie nicht weit genug, weil nach seiner Meinung Abs. 1a die Fälle einer Aufrechterhaltung bzw. Korrektur des Strafausspruchs nach erfolgter Schuldspruchänderung nicht erfasse23, während
__________ 15 Nur bezüglich der in § 354 Abs. 1a StPO vorgeschlagenen Erweiterung der eigenen Sachentscheidungskompetenz. 16 RS 38/95 vom Oktober 1995; weitere Stellungnahmen des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer sind abgedruckt bei Junker (Fn. 4), S. 139 – 141. 17 Z. B. RS 198/03 v. 31. 10. 2003 S. 5/6. 18 Stellungnahmen zu BR-Drucks. 633/95 und Stellungnahme Nr. 62/2003 zu BTDrucks. 15/1508, BT-Drucks. 15/99 und BT-Drucks. 15/1491. 19 S. 58, 59 des Gutachtens. 20 Stellungnahme v. 26. 9. 2003, S. 14/15; v. 31. 10. 2003 S. 5/6 = RS 198/03. 21 Freund, Bericht über eine Tagung von Strafrechtslehrern im März 1995, ZRP 1995, 268, 271. 22 Fn. 4 S. 145 ff. 23 Dazu näher unten II 1 b bb).
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Entscheidung des Revisionsgerichts nach § 354 Abs. 1a und Abs. 1b StPO
Meyer-Goßner der Auffassung ist, die Regelung des Abs. 1a „ginge natürlich viel zu weit, weil sie eine echte Befugnis des Revisionsgerichts zur Strafzumessung enthält“24. Dass nach den aufgezeigten mehrfachen Anläufen die Befugnis des Revisionsgerichts zur eigenen Sachentscheidung bezüglich der Rechtsfolgen in Teilbereichen25 nun endlich gesetzlich geregelt wurde, dürfte, nachdem eine entsprechende Regelung im Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Modernisierung der Justiz vom 2. 9. 200326 nicht enthalten war, eine Reaktion des Gesetzgebers auf den Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. 1. 200427 gewesen sein, mit dem eine Revisionsentscheidung des 2. Strafsenats des BGH als verfassungswidrig aufgehoben wurde28. Ohne ein Eingreifen des Gesetzgebers durch Einstellung der Regelung des Abs. 1a in § 354 hätte der Beschluss des BVerfG29 für die revisionsrechtliche Entscheidungspraxis weit reichende Konsequenzen gehabt30, zu einer großen Zahl von Zurückverweisungen aufgehobener Rechtsfolgenaussprüche und damit zu erheblichen Mehrbelastungen der Tatgerichte geführt. Um die Unbegründetheit des Vorwurfs willkürlicher Rechtsanwendung durch den Bundesgerichtshof deutlich zu machen, soll die BGH-Entscheidung und der ihr zugrunde liegende Sachverhalt kurz dargestellt werden: Für die vom Angeklagten begangenen 11 Straftaten hatte der Tatrichter Einzelstrafen verhängt, deren Summe sich auf 10 Jahre und 6 Monate belief; die Einsatzstrafe für die nach § 53 Abs. 1 StGB gebildete Gesamtfreiheitsstrafe in Höhne von 6 Jahren betrug 3 Jahre 6 Monate. Außerdem war in die Gesamtstrafe gemäß § 55 StGB eine Vorverurteilung mit zwei Einzelfreiheitsstrafen von je 8 Monaten einbezogen worden, so dass die Summe der dreizehn Einzelstrafen, aus der die Gesamtsfreiheitsstrafe durch Erhöhung der Einsatzstrafe gebildet worden war, 11 Jahre und 10 Monate betrug. Im Revisionsverfahren stellte sich heraus, dass zwei der abgeurteilten Straftaten, für die Einzelstrafen von 1 Jahr und 4 Monaten festgesetzt worden waren, infolge rechtsfehlerhafter Verbindung nach § 13 Abs. 2 StPO nicht beim Landgericht anhängig geworden, sondern noch bei einem Amtsgericht anhängig geblieben waren. Auf Antrag des Generalbundesanwalts hob der Bundes-
__________ 24 25 26 27
GS Schlüchter S. 523. Nicht für die unter II1 b cc) beschriebene Fallgestaltung. BT-Drucks. 15/1508. BVerfG, Beschl. v. 7. 1. 2004 – 2 BvR 1704/01, NJW 2004, 1790 = NStZ 2004, 273; Anm Junker StraFo 2004, 132. 28 Beschl. v. 25. 7. 2001 – 2 StR 290/01; mit der Aufrechterhaltung einer Gesamtstrafe trotz Wegfalls zweier Einzelstrafen habe der Bundesgerichtshof willkürlich eine nicht ihm, sondern dem Tatgericht zustehende Strafzumessungskompetenz wahrgenommen und damit die Bedeutung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verkannt. 29 Von Junker in StraFo 2004, 132 als „große Rolle rückwärts“ bezeichnet. 30 So zutreffend auch Junker, a. a. O., S. 133.
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gerichtshof die Verurteilung in diesen beiden Fällen auf und verwies die Sache insoweit an das Amtsgericht zurück; die weitergehende Revision des Angeklagten wurde verworfen31. Die Bezugnahme auf § 354 Abs. 1 StPO macht deutlich, dass der Bundesgerichtshof im Hinblick auf den Schuldgehalt der verbliebenen 9 Straftaten sowie der beiden nach § 55 Abs. 1 StGB einzubeziehenden Einzelstrafen von je 8 Monaten die vom Tatrichter verhängte Gesamtfreiheitsstrafe auch bei Wegfall der zwei Einzelstrafen, die für die beim Amtsgericht angeklagten und anhängig gebliebenen Taten verhängt worden waren, als die einzige in Betracht kommende gesetzlich niedrigste Strafe ansah und deshalb auch nur diese Rechtsfolge für rechtlich vertretbar hielt. Bei einer derartigen Fallgestaltung war die Aufrechterhaltung der Gesamtstrafe geboten32, jedenfalls aber sachgerecht33 und keinesfalls willkürlich, zumal der tatrichterlichen Begründung der Gesamtstrafe nicht entnommen werden kann, dass die weggefallenen beiden Einzelstrafen für ihre Bemessung bestimmend waren. Es bestand deshalb kein Grund, eine auf Richterrecht fußende bewährte Revisionsrechtsprechung zur eigenen Sachentscheidung im Rechtsfolgenbereich, die zudem breite Anerkennung auch bei Verteidigern gefunden hatte, als willkürlich und damit verfassungswidrig
__________
31 Die Aufrechterhaltung der Gesamtfreiheitsstrafe begründete der Bundesgerichtshof wie folgt: „Der Senat schließt im Hinblick darauf, dass die Einsatzstrafe (Fall II 10 der Urteilsgründe) drei Jahre und 6 Monate beträgt, im Falle II 11 der Urteilsgründe eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verhängt wurde, weitere Einzelstrafen eine Summe von zwei Jahren und fünf Monaten ergeben sowie zwei Einzelstrafen von je 8 Monaten einzubeziehen waren, aus, dass der Tatrichter ohne die in den Fällen II 8 und 9 der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen von einem Jahr bzw. von vier Monaten zu einer niedrigeren Gesamtfreiheitsstrafe als sechs Jahre gelangt wäre. In Übereinstimmung mit dem Antrag des Generalbundesanwalts (§ 354 Abs. 1 StPO) hat der Senat es daher bei dieser Gesamtfreiheitsstrafe belassen“. 32 Vgl. Meyer-Goßner in GS Schlüchter S. 517, 523; vgl. auch BGH, Beschl. v. 17. 8. 2001 – 2 StR 297/01: der Senat „trifft daher die allein in Betracht kommende Sachentscheidung selbst“. 33 Zur Aufrechterhaltung der Gesamtstrafe bei Wegfall von Einzelstrafen vgl. die Rechtsprechungsnachweise bei Junker (Fn. 3) S. 129 in Fn. 597 und in StraFo 2004, 133 Fn. 5; auch nach der Entscheidung des BVerfG v. 7. 1. 2004 ließen Strafsenate des BGH die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe trotz des Wegfalls von Einzelstrafen bestehen, so z. B.. BGH, Urt. v. 5. 2. 2004 – 5 StR 580/03; Beschl. v. 30. 6. 2004 – 1 StR 526/03 und Urt. v. 29. 7. 2004 – 3 StR 65/04 – „auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des BVerfG;“ informativ auch BGH, Beschl. v. 15. 9. 2002 – 2 StR 288/04: „Es kann – auch unter Berücksichtigung der Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. 1. 2004 (StV 2004, 189), relativiert durch Beschluss vom 1. 3. 2004 – 2 BvR 2251/103 – mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Wegfall der Einzelstrafe von acht Monaten, die für die Bildung der Gesamtfreiheitsstrafe nicht bestimmend war, zu einer dem Beschwerdeführer günstigeren Gesamtstrafe führen würde, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, dass sich die unter II 2 b festgestellte Tat (Anm.: es handelte sich um versuchte räuberische Erpressung, die nach § 154 Abs. 2 StPO in Wegfall kam) rechtlich als versuchter Diebstahl und Bedrohung darstellt und ebenfalls mit Freiheitsstrafe geahndet werden könnte“.
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Entscheidung des Revisionsgerichts nach § 354 Abs. 1a und Abs. 1b StPO
zu bewerten. Indessen ist nicht zu übersehen, dass auch dieser Entscheidung die neuen Absätze 1a und 1b des § 354 zu danken sein dürften, die die Mehrzahl abschließender revisionsgerichtlicher Sachentscheidungen im Rechtsfolgenbereich auf eine direkte Rechtsgrundlage stellen.
II. Normzweck und Anwendungsbereich von § 354 Abs. 1a und 1b StPO 1. § 354 Abs. 1a S. 1 StPO a) Die dem Revisionsgericht in § 354 Abs. 1a S. 1 StPO eingeräumte Möglichkeit, von der Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs abzusehen, obwohl es bei dessen sachlich-rechtlicher Überprüfung einen Rechtsfehler festgestellt hat, verfolgt erklärtermaßen das Ziel, Ressourcen der Justiz insgesamt sinnvoll einzusetzen und das Verfahren zu beschleunigen34. Klarer ausgedrückt: auf diese Weise sollen die Aufhebung und Zurückverweisung rechtsfehlerhafter Rechtsfolgenaussprüche vermieden und damit die Tatgerichte entlastet werden. b) Voraussetzung für die Verfahrensweise des Revisionsgerichts nach § 354 Abs. 1a S. 1 ist zunächst, dass das angefochtene Urteil an „einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen“ leidet. aa) Diese Voraussetzung ist unproblematisch bei „klassischen“ Strafzumessungsfehlern nach § 46 Abs. 2 und 3 StGB, also bei den eigentlichen Rechtsund Wertungsfehlern, die die Feststellungen, welche den Schuldspruch tragen, nicht in Frage stellen. Die hier in Betracht kommende Palette von Rechtsfehlern aufzuzählen, würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Nur beispielhaft seien deshalb einige der immer wieder vorkommenden Strafzumessungsfehler genannt: Strafschärfende Berücksichtigung der Ausländereigenschaft des Angeklagten mit der Erwägung, er habe mit der Straftat das ihm in Deutschland gewährte Gastrecht missbraucht35, strafschärfende Berücksichtigung des Prozessverhaltens des Angeklagten, welches nicht Ausdruck einer rechtsfeindlichen Gesinnung ist36, Strafschärfung wegen der Gefährlichkeit von Drogen, die zum Eigengebrauch bestimmt sind37, Vorwurf der mangelnden Reue oder Einsicht bei einem die Tat bestreitenden Angeklagten38, nachteilige Berücksichtigung des Bestrebens, sich der Strafverfol-
__________ 34 BT-Drucks. 15/3482 S. 21. 35 BGH StV 1991, 557; BGH, Beschl. v. 10. 9. 1991 – 2 StR 375/91; v. 13. 11. 1991 – 3 StR 384/91. 36 BGH, Beschl. v. 26. 4. 1994 – 1 StR 820/93 S. 4; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verteidigungsverhalten 11; BGH StV 1996, 88. 37 KG StV 1994, 244. 38 BGH NStZ 1987, 171; BGH, Beschl. v. 13. 7. 1994 – 2 StR 313/94; BGH StV 1996, 263.
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gung zu entziehen39, Bemühungen, die Spuren der Tat zu verdecken40 und strafschärfende Erwägungen, die an den Beruf des Angeklagten anknüpfen, wenn zwischen der Tat und dem Beruf kein innerer, das Maß der Pflichtwidrigkeit erhöhender Zusammenhang besteht41. Eine Gesetzesverletzung nur bei der Zumessung der Rechtsfolgen liegt auch vor bei der rechtsfehlerhaften Wahl des Strafrahmens, bei der unzutreffenden Bejahung oder Verneinung eines minder schweren oder besonders schweren Falles, bei Verstößen gegen das Verbot der Doppelverwertung aus § 46 Abs. 3 StGB sowie bei einem unterbliebenen Härteausgleich, weil mit einer an sich gesamtstrafenfähigen Vorverurteilung infolge vollständiger Vollstreckung keine Gesamtstrafe gebildet werden kann. Ein reiner Strafzumessungsfehler liegt ebenfalls vor, wenn es der Tatrichter trotz dazu drängender Feststellungen unterlässt, mögliche Strafrahmenverschiebungen, etwa nach §§ 28 Abs. 1, 49 Abs. 1 StGB, zu prüfen. Die nicht vollständige Reihe der Beispielsfälle soll abgeschlossen werden mit dem Rechtsfehler, der darin begründet liegt, dass der Tatrichter eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung nicht zugunsten des Angeklagten berücksichtigt hat42. bb) Problematisch ist aber, ob das Revisionsgericht auch dann nach § 354 Abs. 1a S. 1 entscheiden kann, wenn es den Schuldspruch in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 berichtigt und den Rechtsfolgenausspruch bestehen lassen (oder auf Antrag der Staatsanwaltschaft nach Abs. 1a S. 2 angemessen herabsetzen) will. Zu denken ist hier an den Austausch von Tatbeständen mit unterschiedlichen Strafrahmen43, an die Umstellung des Schuldspruchs von Vollendung in Versuch44, von Versuch in Vollendung45, von Täterschaft in Anstiftung46 sowie insbesondere an die sehr häufige Fallgestaltung der Umstellung des Schuldspruchs von Tatmehrheit auf Tateinheit mit der revisionsgerichtlichen, vom Bundesverfassungsgericht gebilligten47, eigenen Rechtsfolgenentscheidung, dass die vom Tatrichter erkannte Gesamtstrafe wegen des unveränderten Unrechtsgehalts der Gesamtheit der
__________ 39 BGH Beschl. v. 15. 2. 1984 – 2 StR 347/82; Beschl. v. 15. 11. 1995 – 2 StR 555/95; Beschl. v. 11. 8. 1995 – 2 StR 362/95; Beschl. v. 12. 1. 2000 – 1 StR 636/99. 40 BGH StV 1990, 259; 1995, 131, 132; NStZ-RR 1997, 99, 196. 41 BGH StV 2002, 540. 42 Zur Frage, wie die Berücksichtigung zu erfolgen hat, vgl. BVerfG NStZ 1997, 591; BGH NJW 1999, 1198; BGH, Beschl. v. 17. 6. 2003 – 3 StR 183/03 und v. 14. 1. 2004 – 2 StR 435/03 = BGHR StPO § 354 I Sachentscheidung 6 = wistra 2004, 184; nach BGH NJW 2005, 1813 ist § 354 Abs. 1a auch bei der feherhaften Berücksichtigung einer Verfahrensverzögerung anwendbar. 43 So z. B. geschehen im Fall BGHR StGB § 181 Abs. 1 Nr. 2 Anwerben 4. 44 So im Fall BGH, Beschl. v. 19. 4. 1993 – 5 StR 184/93. 45 So in den Fällen BGH Beschl. v. 28. 1. 1992 – 1 StR 761/91, v. 25. 6. 1992 – 1 StR 325/92, v. 15. 7. 1994 – 2 StR 300/94; v. 21. 3. 1995 – 5 StR 110/95; v. 9. 10. 1996 – 3 StR 413/96 und v. 1. 2. 2000 – 4 StR 564/99 = NStZ 2000, 531. 46 So BGH. Beschl. v. 2. 12. 2003 – 4 StR 477/03. 47 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 1. 3. 2004 – 2 BvR 2251/03 (3. Kammer des 2. Senats).
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Taten als Einzelstrafe bestehen bleibt48. Zu dieser Kategorie zählen auch Fälle der Beschränkung der Strafverfolgung nach §§ 154 Abs. 2, 154a Abs. 2, die zu einer Schuldspruchberichtigung führen. Gegen eine eigene, kombinierte Sachentscheidung des Revisionsgerichtes, die die Schuldspruchberichtigung auf eine entsprechende Anwendung des § 354 Abs. 1, die Bestätigung (oder Herabsetzung) der Rechtsfolgenentscheidung auf § 354 Abs. 1a49 stützt, spricht der Wortlaut der Bestimmung, wonach das Revisionsgericht trotz „Gesetzesverletzung nur bei der Zumessung der Rechtsfolgen“ von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen kann, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist. Aus der Gesetzesfassung könnte deshalb geschlossen werden, dass in den Anwendungsbereich von § 354 Abs. 1a nur Sachverhalte fallen, bei denen die Rechtsfolgenbemessung als solche rechtsfehlerhaft ist50 und nicht Folge einer vom Revisionsgericht vorgenommenen Schuldspruchberichtigung. Auch die Materialien weisen in diese Richtung; mit der Einfügung des § 354a Abs. 1a verfolgte der Gesetzgeber die Absicht, die Reaktionsmöglichkeiten des Revisionsgerichts bei Mängeln der Rechtsfolgenentscheidung behutsam zu erweitern51. Ziel der Einfügung des Abs. 1a war es nicht, die bisher in analoger Anwendung von § 354 Abs. 1 ergangenen Sachentscheidungen der Revisionsgerichte im Rechtsfolgenbereich in Abs. 1a und Abs. 1b abschließend zu regeln; bereits in der Begründung des Gesetzentwurfs des Bundesrates für ein Zweites Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege (strafrechtlicher Bereich), auf den die Materialien Bezug nehmen52, wurde ausdrücklich klargestellt, dass die von der Revisionsrechtsrechtsprechung praktizierte extensive Auslegung des § 354 Abs. 1 von der vorgeschlagenen Neuregelung nicht berührt werden solle53. Eigene Sachentscheidungen des Revisionsgerichts im Sanktionsbereich, die Folge einer Schuldspruchberichtigung in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 sind und nicht Folge eines Rechtsfehlers bei der Rechtsfolgenbemessung im eigentlichen Sinne, könnten deshalb auch nach Einfügung des Abs. 1a ihre Rechtsgrundlage noch in einer entsprechenden Anwendung des § 354 Abs. 1 haben. Die Anwendung von § 354 Abs. 1a auf Fälle der Schuldspruchberichtigung mit nachfolgender eigener Sachentscheidung zum Rechtsfolgenausspruch könnte zudem dazu führen, dass sich Re-
__________ 48 Std. Rspr., vgl. nur BGH NJW 2004, 2840, 2842; zul. BGH, Urt. v. 28. 10. 2004 – 3 StR 460/03 – S. 25; dazu auch Kalf NStZ 1997, 66; Basdorf NStZ 1997, 423. 49 Wenn Gegenstand der Entscheidung eine Gesamtstrafe ist, in Verbindung mit § 354 Abs. 1b S. 3. 50 So Junker Fn. 3 S. 147; das kann allerdings auch der Fall sein, wenn Rechtsfehler im Bereich der Feststellung von Strafzumessungstatsachen vorliegen und nicht nur im Bereich der ihrer Bewertung, vgl. OLG Celle, Urt. v. 2. 11. 2004 – 21 Ss 58/05 – S. 6 = StV 2005, 10 = StraFo 2005, 76 m. abl. Anm. Junker. 51 BT-Drucks. 15/3482 S. 21, 22. 52 BT-Drucks. 15/3482 S. 21. 53 BT-Drucks. 13/4541 S. 25; so auch die Begründung des Entwurfs des 1. Justizbeschleunigungsgesetzes v. 20. 5. 2003 – BT-Drucks. 15/999 S. 29.
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visionsgerichte die Voraussetzungen dafür selbst schaffen, eine eigene Strafzumessungsentscheidung zu treffen, zum Beispiel dadurch, das sie aus prozessökonomischen Gründen54 einzelne Taten gemäß § 154 Abs. 2 von der Strafverfolgung ausnehmen, den Schuldspruch entsprechend berichtigten und sodann – auf Antrag der Staatsanwaltschaft – die Gesamtstrafe nach § 354 Abs. 1b S. 3 i. V. m. § 354 Abs. 1a S. 2 angemessen herabsetzen. Dass der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 354 eine solche Verfahrensweise des Revisionsgerichts eröffnen wollte, lässt sich den Materialien nicht entnehmen. Für die Anwendung von § 354 Abs. 1a auch in Fällen der Schuldspruchberichtigung mit nachfolgender Bestätigung (Fall des Abs. 1a S. 1) oder angemessener Herabsetzung der Rechtsfolge (Fall des Abs. 1a S. 2) spricht dagegen, dass die Rechtsfolgenentscheidung nach der Schuldspruchkorrektur – beispielsweise infolge einer Teileinstellung nach § 154 Abs. 2 – nunmehr rechtsfehlerhaft ist, weil sie von einem zu großen Schuldumfang ausgeht55. Auch ist zu bedenken, dass der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters infolge eines rechtlich unzutreffenden Schuldspruchs von Anfang an mit einem Rechtsfehler bemakelt war, der erst mit der Schuldspruchberichtigung offenbar wurde. Für die Anwendung des § 354 Abs. 1a spricht schließlich noch ein weiteres Argument: mit der Einfügung der Bestimmung wollte der Gesetzgeber ersichtlich revisionsrechtliche Entscheidungen wie jene des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofes vom 25. 7. 200156, die zu der Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. 1. 200457 führte, dem Vorwurf des Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG entziehen. Diese gesetzgeberische Intention ist aber nur durch eine Auslegung des § 354 Abs. 1a, Abs. 1b S. 2 und 3 zu erreichen, die eigene Sachentscheidungen des Revisionsgerichts im Rechtsfolgenbereich als Folge einer Schuldspruchkorrektur zulässt. Erste Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zu § 354 Abs. 1a und Abs. 1b lassen erkennen, dass die Strafsenate diese Rechtsauffassung teilen;58 allerdings sind nach dem 1. 9. 2004 auch Beschlüsse zu verzeichnen, die bei Schuldspruchberichtigung und Bestätigung der Rechtsfolge von der Anwen-
__________ 54 Z. B. weil die ungeklärte Frage der Verjährung nur mit großem Aufwand zu klären ist oder weil nach Auslieferung eines Angeklagten die Frage des Umfangs der Auslieferungsbewilligung erst noch zeitaufwändig geklärt werden müsste. 55 So im Ergebnis, allerdings ohne nähere Begründung BGH, Urt. v. 16. 11. 2004 – 4 StR 392/04 = NJW 2005, 376 in einer zu § 354 Abs. 1b StPO ergangenen Entscheidung, deren Leitsatz lautet:“ § 354 Abs. 1b S. 1 StPO ist auch dann anwendbar, wenn im Revisionsverfahren eine Teileinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO erfolgt und deshalb über die Gesamtstrafe neu zu befinden ist.“ 56 2 StR 290/01. 57 Siehe Fn. 27. 58 BGH, Beschl. v. 19. 10. 320/04 – 3 StR 320/04; Beschl. v. 9. 11. 2004 – 3 StR 382/04; Beschl. v. 16. 11. 2004 – 4 StR 392/04 = NJW 2005, 376 und 3 StR 391/04.
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Entscheidung des Revisionsgerichts nach § 354 Abs. 1a und Abs. 1b StPO
dung des § 354 Abs. 1a S. 1 absehen und die Entscheidung mit dem herkömmlichen Argumentationsmuster (Beruhensausschluss nach § 337) begründen59. Endgültige Klarheit schaffte die Leitsatzentscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 2. 12. 200460. Nach ihr wollte der Gesetzgeber mit der in Abs. 1a enthaltenen Wendung „wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen“ dem Revisionsgericht die Möglichkeit eröffnen, abschließend in der Sache zu entscheiden, wenn eine Gesetzesverletzung nur zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs führen würde. Aus den Gesetzesmaterialien ergebe sich nicht, dass bei Rechtsfehlern, die zu einer Änderung des Schuldspruchs führen, die Revision zwar nach Maßgabe der Beruhensprüfung verworfen werden könne, für eine eigene Bewertung der Angemessenheit der tatrichterlichen Rechtsfolgenentscheidung durch das Revisionsgericht aber generell kein Raum sei. Die Schuldspruchberichtigung in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 mit abschließender Sachentscheidung des Revisionsgerichts im Sanktionsbereich nach § 354 Abs. 1a ist daher zulässig61. Sie wird aber bei gravierenden Änderungen des Schuldspruchs regelmäßig zu unterbleiben haben, weil in diesem Falle die verhängte Rechtsfolge nicht mehr als angemessen bewertet werden kann, so dass das Revisionsgericht nach § 354 Abs. 2 entscheiden wird62. cc) Fehlende Einzelstrafe. In das Regelungsgefüge des § 354 Abs. 1a, 1b lässt sich der häufig vorkommende Fall, dass Tatrichter es versehentlich unterlassen, für eine von mehreren festgestellten Straftaten eine Einzelstrafe festzusetzen, nicht einordnen. Nach der Rechtsprechung muss die Festsetzung dieser vergessenen Einzelstrafe auch auf Revision des Angeklagten nachgeholt werden; das Verschlechterungsverbot des § 358 Abs. 2 steht nicht entgegen63. Unter der Voraussetzung, dass der Tatrichter die Höhe der nachträglich festzusetzenden Einzelstrafe durch Strafen bei vergleichbaren Taten vorgegeben hatte, verfuhr der Bundesgerichtshof vor Einfügung von Abs. 1a und Abs. 1b in § 354 in der Weise, dass er von einer Zurückverweisung der Sache absah und die vergessene Einzelstrafe in analoger Anwendung des § 354 Abs. 1 selbst festsetzte64. Hieran hat sich bei der Revision eines Angeklagten
__________ 59 BGH, Beschl. v. 14. 9. 2004 – 4 StR 230/04; v. 15. 9. 2004 – 2 StR 288/04; v. 15. 10 2004 – 2 StR 316/04; v. 16. 11. 2004 – 3 StR 391/04; v. 7. 12. 2004 – 1 StR 487/04; v. 21. 12. 2004 – 3 StR 429/04. 60 BGH, Beschl. v. 2. 12. 2004 – 3 StR 273/04 = NJW 2005, 913. 61 Ebenso BGH, Beschl. v. 8. 12. 2004 – 1 StR 483/04 = NJW 2005, 912 62 BGH, Beschl. v. 2. 12. 2004 – 3 StR 273/04 = NJW 2005, 913 63 BGHSt. 4, 345, 346; BGHR StPO § 358 II S. 1 Einzelstrafe, fehlende 2; § 354 Abs. 1 Strafausspruch 10; BGH, Beschl. v. 3. 12. 2004 – 2 StR 490/04). 64 Z. B. BGH, Beschl. v. 14. 7. 1993 – 5 StR 401/93; Urt. v. 12. 12. 2000 – 1 StR 385/00; Beschl. v. 17. 12. 2002 – 1 StR 412/02; vgl. auch BGH, Beschl. v. 8. 12. 2004 – 1 StR 483/04, S. 6 = NJW 2005, 912
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nichts geändert;65 § 354 Abs. 1a ist nicht anwendbar, weil die Norm eine bereits verhängte Rechtsfolge voraussetzt, Abs. 1b deshalb nicht, weil es nicht um die Bildung einer Gesamtstrafe, sondern um die Nachholung einer vergessenen Einzelstrafe geht. c) Weitere Voraussetzung für das Verfahren nach Abs. 1a S. 1 ist, dass die tatrichterliche Rechtsfolgenentscheidung trotz eines Rechtsfehlers aus der Sicht des Revisionsgerichtes angemessen ist. Die Gesetzesverletzung muss nicht positiv festgestellt sein; das Revisionsgericht kann vielmehr, anders als im Falle des Abs. 1a S. 266, für die Anwendung des Abs. 1a S. 1 das Vorliegen eines Rechtsfehlers dahingestellt sein lassen, sofern es die verhängte Rechtsfolge auch unter Zugrundelegung der gerügten oder in Betracht kommenden Gesetzesverletzung für angemessen hält67. Die Neuregelung entbindet das Revisionsgericht von der so genannten Beruhensprüfung;68 das ist vom Gesetzgeber ausdrücklich gewollt und zu begrüßen, weil auf nur formelhafte Wendungen der in Fußnote 68 beispielhaft beschriebenen Art verzichtet werden kann. Auf die sich nach bisheriger Rechtslage stellende hypothetische Frage, ob der Tatrichter bei zutreffender rechtlicher oder tatsächlicher Bewertung ebenfalls auf die im angefochtenen Urteil verhängte Rechtsfolge erkannt hätte, braucht das Revisionsgericht keine Antwort mehr zu geben69. Eine Entscheidung nach § 354 Abs. 1a S. 1 setzt aber zwingend voraus, dass die vom Tatrichter festgestellten und im Urteil mitgeteilten Strafzumessungsumstände die Prüfung und Beantwortung der Frage überhaupt zulassen, ob die Rechtsfolge angemessen ist. Leidet das angefochtene Urteil insoweit an Darstellungslücken, Unklarheiten oder Widersprüchen, fehlt es an einer hinreichend sicheren Grundlage für die Prüfung der Angemessenheit der verhängten Rechtsfolge, so dass eine Entscheidung nach Abs. 1a S. 1 nicht in Betracht kommen kann; der Rechtsfolgenaus-
__________ 65 Setzt das Revisionsgericht die vergessene Einzelstrafe auf zuungunsten des Angeklagten eingelegter Revision der Staatsanwaltschaft fest, kann es die Gesamtstrafe gleichwohl als angemessen im Sinne von Abs. 1a S. 1 bestehen lassen, aber auch die Gesamtstrafe nach § 354 Abs. 2 aufheben und die Sache in diesem Umfang zurückverweisen oder aufheben und nach Abs. 1b S. 1 in des Beschlussverfahren nach §§ 460, 462 geben, vgl. dazu unten II 3 a. 66 Weil die Entscheidung des Revisionsgerichts nach Abs. 1a S. 2 in die tatrichterliche Rechtsfolgenentscheidung eingreift und sie nicht nur wie im Falle des Abs. 1a S. 1 bestätigt, bedarf es hier zur Legitimation des Eingriffs der positiven Feststellung eines den Beschwerdeführer belastenden Rechtsfehlers. 67 So im Ergebnis auch OLG Celle, Urt. v. 2. 11. 2004 – 21 Ss 58/04 = StV 2005, 10. 68 In bisherigen Revisionsentscheidungen der Strafsenate des BGH – wie auch in den Anträgen des Generalbundesanwalts – finden sich in diesem Zusammenhang oft formelhafte Wendungen wie: der Senat könne angesichts der milden (oder maßvollen) Rechtsfolgenentscheidung des angefochtenen Urteils ausschliessen, dass der Tatrichter ohne diese (oder jene) rechtsfehlerhafte (oder rechtlich bedenkliche) Strafzumessungserwägung eine dem Beschwerdeführer (noch) günstigere Strafe verhängt hätte. 69 BT-Drucks. 15/3482 S. 22.
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spruch muss in diesem Falle aufgehoben und die Sache insoweit nach § 354 Abs. 2 zurückverwiesen werden. Ein solcher Fall wäre beispielsweise gegeben, wenn die Urteilsgründe keine Feststellungen zum persönlichen Werdegang des Angeklagten enthalten und zudem nicht erkennen lassen, dass der Tatrichter sich angesichts des zu seinem Lebenslauf schweigenden Angeklagten anderweitig um Aufklärung bemüht hat70. Ist das Revisionsgericht, dem ein Rückgriff auf urteilsfremde Strafzumessungsumstände verwehrt ist, anhand des angefochtenen Urteils dagegen in der Lage, die Frage der Angemessenheit der verhängten Rechtsfolge trotz Schuldspruchberichtigung oder Wegfalls einer als rechtsfehlerhaft erkannten tatrichterlichen Strafzumessungserwägung bejahend zu beantworten, trifft es damit im Rahmen eines eigenen Strafzumessungsaktes eine Ermessensentscheidung, die bisher dem Tatrichter vorbehalten war. Obwohl Prüfungsgrundlage nur das angefochtene Urteil ohne den Rechtsfehler bei der Zumessung der Rechtsfolgen sein kann, wird in die revisionsgerichtliche Entscheidung nach Abs. 1a S. 1 auch das Erfahrungswissen der Revisionsrichter einfliessen, welches sich auf die Befassung mit zahlreichen anderen Revisionssachen mit vergleichbarem Sachverhalt gründet. Die Auffassung des Oberlandesgerichts Celle71, § 354 Abs. 1a S. 1 sei eng auszulegen; ob eine Strafe angemessen sei oder nicht, könne vom Revisionsgericht nur in eindeutigen Fällen beantwortet werden, nämlich dann, wenn zwar nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Tatrichter zu einer anderen Bewertung hätte kommen können, diese Möglichkeit aber eher fernliegend sei, ist zu eng, findet in den Gesetzesmaterialien keine Stütze und bietet mit der konturenlosen Formel „zwar nicht ausgeschlossen … aber eher fernliegend“ keine sicheren Abgrenzungskriterien. d) Eine Pflicht zur Begründung, weshalb die vom Tatrichter festgesetzte Rechtsfolge trotz des festgestellten – oder vom Beschwerdeführer auch nur behaupteten – Rechtsfehlers angemessen ist, trifft weder das Revisionsgericht, noch die Revisionsstaatsanwaltschaft, die einen Antrag nach Abs. 1a S. 1 stellt, doch kann sich eine Begründung nach den Umständen des Einzelfalles empfehlen. Der Bundesgerichtshof hat beispielsweise in einem sexuellen Missbrauchsfall, in dem dem Angeklagten das Alter des Tatopfers (12 Jahre und 2 Monate) rechtsfehlerhaft strafschärfend angelastet wurde, seine Entscheidung nach § 354 Abs. 1a S. 1 begründet72. Solche oder ähnliche Be-
__________ 70 Hierin liegt nach std. Rspr. ein sachlich-rechtlicher Fehler, vgl. BGHR StPO § 267 III S. 1 Strafzumessung 8, 9, 10, 12, 17; BGH StV 1998, 636. 71 OLG Celle, Urt. v. 2. 11. 2004 – 21 Ss 58/04 = StV 2005, 10 = StraFo 2005, 76 m. abl. Anm. Junker; gegen OLG Celle ausdrücklich BGH NJW 2005, 1813. 72 BGH, Beschl. v. 20. 10. 2004 – 2 StR 398/04: „Der Senat sieht aber gemäß § 354 Abs. 1a S. 1 StPO von der Aufhebung des angefochtenen Urteils im Strafausspruch ab, da die verhängte Rechtsfolge angemessen ist. Sowohl die ausgeworfenen Einzelstrafen von jeweils zwei Jahren und sechs Monaten als auch die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und drei Monaten rechtfertigen sich schon des-
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gründungen können die Akzeptanz der Revisionsentscheidung, den Rechtsfolgenausspruch trotz Vorliegens eines Rechtsfehlers zu bestätigen, beim Beschwerdeführer und seinem Verteidiger fördern73. e) Beantragt die Staatsanwaltschaft trotz Vorliegens eines Rechtsfehlers bei der Rechtsfolgenbemessung die Revision eines Angeklagten oder Nebenklägers durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 2 i. V. m. § 354 Abs. 1a S. 1 als unbegründet zu verwerfen, kann das Revisionsgericht, sofern Einstimmigkeit besteht, antragsgemäß entscheiden74. Eines speziellen Antrages der Staatsanwaltschaft, nach § 354 Abs. 1a S. 1 zu verfahren, bedarf es nicht74a . Bei einer zuungunsten des Angeklagten eingelegten Revision der Staatsanwaltschaft, bei der eine Entscheidung nach § 354 Abs. 1a S. 1 gleichfalls möglich ist75, entscheidet das Revisionsgericht üblicherweise aufgrund eines Terminsantrages der Revisionsstaatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung durch Urteil. 2. § 354 Abs. 1a S. 2 StPO Hinsichtlich Normzweck und Anwendungsbereich der Bestimmung, die es dem Revisionsgericht wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen76 ermöglicht, die erkannte Strafe auf Antrag der Staatsanwaltschaft angemessen herabzusetzen, gilt das zu II 1 Gesagte; hierauf wird Bezug genommen. Zu erörtern sind deshalb nur das Antragserfordernis und die Frage, ob die angemessene Herabsetzung der Rechtsfolge durch Beschluss oder durch Urteil zu erfolgen hat. a) Antragserfordernis Stellt das Revisionsgericht im angefochtenen Urteil einen Rechtsfehler fest, der die Angemessenheit der verhängten Rechtsfolge entfallen lässt, ermöglicht Abs. 1a S. 2 anstelle einer Aufhebung und Zurückverweisung nach
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halb ohne weiteres, weil die gegen den erkennbaren Willen des Opfers erfolgten Taten in den konkreten Fällen in die Nähe der Tatbestandsverwirklichung der Vergewaltigung … kamen“. 73 Darlegungen zur Angemessenheit der Rechtsfolge enthalten auch das Urt. v. 28. 10. 2004 – 3 StR 460/03 S. 25 und der Beschl. v. 2. 12. 2004 – 3 StR 273/04 = NJW 2005, 913, nicht aber das Urt. v. 2. 12. 2004 – 3 StR 348/04 und die Beschl. v. 19. 10. 2004 – 3 StR 320/04, v. 29. 10. 2004 – 2 StR 381/04; v. 9. 11. 2004 – 3 StR 382/04; v. 23. 11. 2004 – 1 StR 449/04 und v. 15. 12. 2004 – 3 StR 430/04; grunds. dazu ebenfalls BGH NJW 2005, 1813. 74 BT-Drucks. 15/3482 S. 22; krit. dazu Knauer/Wolf NJW 2004, 2932, 2936. 74a BGH, Beschl. v. 2. 12. 2004 – 3 StR 273/04 = NJW 2005, 913. 75 Antrag des Generalbundesanwalts in der Sache 5 StR 372/04; BGH, Urt. v. 28. 10. 2004 – 3 StR 460/03 S. 25. 76 Die Auslegung dieser Wendung durch BGH, Beschl. v. 2. 12. 2004 – 3 StR 273/04 = NJW 2005, 913 und Beschl. v. 8. 12. 2004 – 1 StR 483/04 = NJW 2005, 912 (vgl. oben II 1 bb) gilt auch hier.
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§ 354 Abs. 2 die angemessene Herabsetzung der Sanktion durch das Revisionsgericht. Diese eigene, das Verfahren abschließende Entscheidung setzt einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Herabsetzung der Rechtsfolge voraus. Bei dieser Entscheidung des Revisionsgerichts handelt es sich inhaltlich um eine Urteils(teil)aufhebung zugunsten des Angeklagten; für derartige Entscheidungen des Revisionsgerichts bedurfte es vor Einfügung des § 354 Abs. 1a S. 2 keines Antrages der Staatsanwaltschaft77. In der Begründung des Entwurfs des 1. Justizbeschleunigungsgesetzes vom 20. 5. 2003 wird das Antragserfordernis damit begründet, dass es zum Schutz des Angeklagten, aber auch zur Wahrung der Gleichbehandlung erforderlich erscheine78, während in der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages vom 30. 6. 200479 das Antragserfordernis nur noch mit dem Gesichtspunkt der Wahrung der Gleichbehandlung begründet wird80. Dieser Gesichtspunkt ist der maßgebliche; mit dem Antragserfordernis des § 349 Abs. 2 und den ihm zugrunde liegenden gesetzgeberischen Erwägungen81 ist jenes nach Abs. 1a S. 2 nicht vergleichbar. Der Staatsanwaltschaft bei dem Revisionsgericht kommt, da sie mit ihrem Antrag erst die Entscheidungsmöglichkeit nach Abs. 1a S. 2 erst eröffnet, insoweit eine wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe zu. Sie hat durch ihre Antragspraxis sicherzustellen, dass vergleichbare Sachverhalte nicht ungleich behandelt werden. Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf angemessene Herabsetzung der Rechtsfolge kann sich unter anderem auf eine Einzelstrafe oder auf die Gesamtstrafe beziehen. Er sollte einen „punktmäßigen“ Inhalt haben, also konkret benennen, in welchem Umfang die Rechtsfolge herabzusetzen ist82. Dies, um dem Angeklagten Gelegenheit zu geben, sich inhaltlich mit dem Antrag auseinanderzusetzen und Argumente vorzutragen, die aus seiner Sicht eine stärkere Herabsetzung als beantragt rechtfertigen. Der bloße Antrag, die Strafe angemessen herabzusetzen, versetzt ihn in diese Lage nicht. Der Herabsetzungsantrag ist für das Revisionsgericht eine Voraussetzung für das Verfahren nach Abs. 1a S. 2, bindet es in seiner Sachentscheidung aber nicht83. Es kann deshalb den Antrag über- oder unterbieten, wie auch gänzlich von einer angemessenen Herabsetzung der Rechtsfolge absehen84 oder
__________ 77 Vgl. § 349 Abs. 4 StPO. 78 BT-Drucks. 15/999 S. 29; so schon BR-Drucks. 633/95 S. 77; krit. dazu Rosenthal, StV 2004, 686. 687. 79 Zum Justizmodernisierungsgesetz – BT/Drucks. 15/1508 – und zum 1. JustizbeschleunigungsG – BT-Drucks. 15/999. 80 BT-Drucks. 15/3482 S. 22. 81 Vgl. Senge, FS Rieß S. 559, 560 mit Hinweisen auf die Materialien zu § 349 Abs. 2. 82 So geschehen im Antrag des Generalbundesanwalts in der Revisionssache 3 StR 422/04. 83 BT-Drucks. 15/3482 S. 22; OLG Karlsruhe wistra 2005, 71. 84 Allerdings nur durch Urteil, vgl. dazu unten II 2 b.
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die Rechtsfolgenentscheidung aufheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung gemäß § 354 Abs. 2 zurückverweisen. b) Entscheidung durch Beschluss oder durch Urteil? In den Materialien zu § 354 Abs. 1a S. 2 findet sich dazu nur der Satz: „Die Entscheidung ergeht durch Urteil (349 Abs. 5 StPO).“85 Diese nicht näher begründete Aussage findet im Wortlaut des § 354 keine Stütze, was in der Natur der Sache liegt, weil hier nur Befugnisse des Revisionsgerichts bezüglich des Inhalts seiner Entscheidung geregelt sind, nicht aber der verfahrensmäßige Weg zu dieser Entscheidung. Die dafür maßgeblichen Regelungen finden sich ausschließlich in § 349. Nach Absatz 5 dieser Bestimmung entscheidet das Revisionsgericht über eine Revision durch Urteil, sofern es die Absätze 1, 2 oder 4 des § 349 nicht anwendet. Bei der angemessenen Herabsetzung einer Rechtsfolge nach § 354 Abs. 1a S. 2 handelt es sich inhaltlich um eine (Teil)Aufhebung des angefochtenen Urteils zugunsten des Angeklagten im Sinne des § 349 Abs. 4; erfolgt diese Entscheidung einstimmig, steht insoweit einer Entscheidung durch Beschluss nichts entgegen86. Verfolgt die Revision ein weitergehendes Ziel und ist sie insoweit unbegründet, verwirft das Revisionsgericht, sofern die Staatsanwaltschaft einen entsprechenden Antrag gestellt hat, das Rechtsmittel im Übrigen nach § 349 Abs. 2 StPO, wenn auch insoweit Einstimmigkeit besteht. Derartige kombinierte Beschlussentscheidungen nach § 349 Abs. 2 und Abs. 4 StPO in Verbindung mit § 35487 sind rechtlich zulässig und entsprechen ständiger Übung bei den Revisionsgerichten88. Ist im Senat bezüglich der beantragten Entscheidung nach 349 Abs. 4 i. V. m. § 354 Abs. 1a S. 1 oder bezüglich der nach § 349 Abs. 2 beantragten Verwerfung der weitergehenden Revision als unbegründet keine Einstimmigkeit zu erzielen, hat das Revisionsgericht durch Urteil zu entscheiden. Ebenso verhält es sich, wenn das Revisionsgericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf angemessene Herabsetzung der Rechtsfolge nicht entsprechen will, weil es diese trotz des Rechtsfehlers für angemessen im Sinne von Abs. 1a S. 1 hält. In diesem Falle fehlt der für eine Beschlussentscheidung nach § 349 Abs. 289 unerlässliche uneingeschränkte
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85 BT-Drucks. 15/3482 S. 22. 86 Das war nach bisheriger Herabsetzung der Rechtsfolge in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 nicht streitig, vgl. nur BGH, Beschl. v. 14. 1. 2004 – 2 StR 435/04 – = wistra 2004, 184. Hieran hat sich durch Einfügung des § 354 Abs. 1a S. 2 nichts geändert; so im Ergebnis auch Antrag des GBA v. 10. 12. 2004 in der Sache 3 StR 403/04 und – ohne Begründung – BGH, Beschl. v. 22. 12. 2004 – 3 StR 403/04 = StV 2005, 272; in BGH, Beschl. v. 4. 3. 2005 – 2 StR 552/04, wird die Zulässigkeit des Beschlussverfahrens dagegen ausdrücklich bejaht. 87 Bisher in analoger Anwendung. 88 Senge in FS Rieß S. 547, 548 mit Nw. in Fn. 6. 89 Bei der Entscheidung nach § 354 Abs. 1a S. 1 handelt es sich inhaltlich um eine Verwerfung der Revision nach § 349 Abs. 2, BGH, Beschl. v. 2. 12. 2004 – 3 StR 273/04 = NJW 2005, 913.
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Verwerfungsantrag der Staatsanwaltschaft90, so dass durch Urteil entschieden werden muss. Müsste dieses stets und nicht nur ausnahmsweise geschehen, wäre zu befürchten, dass das mit der Regelung angestrebte Ziel unterlaufen würde, weil die Entlastung der Tatgerichte mit einer Mehrbelastung der Revisionsinstanz erkauft würde. Mit einer Revisionshauptverhandlung ist nicht nur für das Revisionsgericht, sondern auch für die Revisionsstaatsanwaltschaft ein erheblicher Mehraufwand an Zeit und Arbeit verbunden, als das im Beschlussverfahren nach § 349 Abs. 4 der Fall ist. Das dürfte die Bereitschaft, von der Regelung des § 354 Abs. 1a S. 2 Gebrauch zu machen, wenn die Entscheidung immer durch Urteil ergehen müsste, erheblich dämpfen, so dass die Regelung letztlich ins Leere liefe. 3. § 354 Abs. 1b StPO a) Fallgestaltungen Bei einer rechtsfehlerhaften Gesamtstrafenbildung91 eröffnet die Vorschrift dem Revisionsgericht neben der immer statthaften Aufhebung der Gesamtstrafe und Zurückverweisung der Sache insoweit nach § 354 Abs. 2 mehrere Entscheidungsmöglichkeiten. Es kann trotz rechtsfehlerhaft zustande gekommener Gesamtstrafe92 von deren Aufhebung absehen, wenn die Gesamtstrafe angemessen ist, oder auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Gesamtstrafe angemessen herabsetzen. Es kann die Gesamtstrafe auch dann als angemessen bestätigen oder herabsetzen, wenn es eine rechtsfehlerhaft zustande gekommene Einzelstrafe, die Bestandteil der Gesamtstrafe ist, auf Antrag
__________ 90 BVerfGE 59, 98 = NJW 1982, 324; vgl. zu dieser Problematik Senge a. a. O. 91 Rechtsfehlerhafte Gesamtstrafen können mannigfache Ursachen haben; sie können sich beispielsweise ergeben aus: Zusammentreffen von Freiheits- und Geldstrafen ohne Begründung, warum von der Regel des § 53 Abs. 1 StGB abgewichen und die Geldstrafe gesondert neben der Freiheitsstrafe bestehen blieb, dem Überschreiten der Strafobergrenze des § 54 Abs. 1 StGB, dem außeracht lassen, dass – was häufig der Fall ist – verfahrensgegenständliche Taten mit einer früheren Vorverurteilung im Sinne von § 55 StGB gesamtstrafenfähig sind, der Bildung einer Gesamtstrafe nach § 55 StGB, obwohl die Vorverurteilungen vollständig verbüßt sind. Als weitere Rechtsfehler bei der Bildung der Gesamtstrafe kommen in Betracht: die rechtsfehlerhafte Bejahung oder Verneinung der Zäsurwirkung einer Vorverurteilung, der unterbliebene Härteausgleich infolge einer wegen Vollstreckung nicht mehr möglichen Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB, die unterbliebene Kompensation wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung, die auffallende Entfernung der Gesamtstrafe von der Einsatzstrafe91 oder der Umstand, dass die Gesamtstrafe der oberen oder unteren Grenze des Zulässigen ohne eingehende Begründung nahekommt. 92 Ein Rechtsfehler der Gesamtstrafe liegt nach BGH, Beschl. v. 2. 12. 2004 – 3 StR 273/04 – = NJW 2005, 913 und v. 8. 12. 2004 – 1 StR 483/04 = NJW 2005, 912 auch dann vor, wenn die Korrektur der Gesamtstrafe erst infolge einer Schuldspruchberichtigung erforderlich wird, vgl. oben II 1 b bb); so auch BGH, Beschl. v. 16. 11. 2004 – 4 StR 392/04 = NJW 2005, 376 bei Wegfall einer Einzelstrafe infolge Teileinstellung nach § 154 Abs. 2.
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der Staatsanwaltschaft angemessen herabgesetzt hat (Fälle des § 354 Abs. 1a S. 1, 2 i. V. m. Abs. 1b S. 3). Es kann aber auch, wenn die Gesamtstrafe an einem Rechtsfehler leidet oder wenn eine Einzelstrafe von ihm angemessen herabgesetzt wurde, die Gesamtstrafe mit der Maßgabe aufheben, dass die infolge der Aufhebung notwendig gewordene nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe im Beschlussverfahren nach §§ 460, 462 StPO zu treffen ist. Ein Anwendungsfall des Abs. 1b S. 1 ist schließlich auch bei der in Fußnote 65 beschriebenen Fallgestaltung – Revision der Staatsanwaltschaft – gegeben. Mit der Einfügung des § 354 Abs. 1b S. 1 verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, durch den Rückgriff auf das bewährte Beschlussverfahren nach §§ 460, 462 neue zeit- und kostenintensive Hauptverhandlungen zu ersparen93. b) Entscheidung nach § 354 Abs. 1b S. 1 StPO Sieht das Revisionsgericht nach Aufhebung der Gesamtstrafe von einer Zurückverweisung der Sache nach § 354 Abs. 2 ab, trifft es die Anordnung, dass die Gesamtstrafenbildung94 durch nachträgliche gerichtliche Entscheidung nach §§ 460, 462 im Beschlussverfahren zu erfolgen hat; diese Anordnung soll keine Zurückverweisung im revisionsrechtlichen Sinne sein95, ist es der Sache nach aber doch, weil die beim Revisionsgericht anhängige Strafsache wieder bei dem für die nachträgliche Entscheidung nach §§ 460, 462 zuständigen Richter anhängig gemacht werden muss. Üblicherweise geschieht das im Wege einer Zurückverweisung96. Abweichend von der bisherigen Rechtslage im Beschlussverfahren nach § 460 darf der Richter, dem nach Aufhebung der Gesamtstrafe durch das Revisionsgericht die nachträgliche Gesamtstrafenbildung auf der Grundlage des § 55 StGB obliegt, den Verurteilten, sofern nicht das Verbot der reformatio in peius aus § 358 Abs. 2 entgegensteht, zusätzlich mit Nebenstrafen, Nebenfolgen und Maßnahmen beschweren, was insbesondere gilt, wenn das Revisionsgericht aufgrund einer zu ungunsten des Angeklagten eingelegten Revision der Staatsanwaltschaft entschieden hatte. Insofern hat er dieselbe Entscheidungskompetenz wie der Tatrichter, an den die aufgehobene Sache nach § 354 Abs. 2 zurückverwiesen wird97.
__________ 93 BT-Drucks. 15/3482 S. 22. 94 Aus den rechtskräftigen Einzelstrafen der anhängigen Strafsache und ggf. aus Strafen aus gesamtstrafenfähigen Vorverurteilungen. 95 BGH, Beschl. v. 28. 10. 2004 – 5 StR 430/04 = NJW 2004, 3788 = StV 2005, 9. 96 So BGH, Beschl. v. 22. 12. 2004 – 2 StR 417/04. 97 Vgl. dazu Fischer in KKStPO § 460 Rz. 28 ff.
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c) Zuständiger „Beschlussrichter“ und Rechtsmittel Die nachträgliche Gesamtstrafenbildung obliegt nicht der Strafvollstreckungskammer, sondern gemäß § 462a Abs. 3 S. 1 dem Gericht des ersten Rechtszuges. Ist die Gesamtstrafe aus Einzelstrafen des anhängigen Verfahrens und Einzelstrafen aus Vorverurteilungen zu bilden, ist nach § 462a Abs. 3 S. 2 das Gericht des ersten Rechtszuges zuständig, welches die schwerste, bei gleich schweren die höchste Einzelstrafe verhängt hat. Sind danach mehrere Gerichte zuständig98, ist das Gericht zuständig, dessen Urteil zuletzt ergangen ist. Aufgrund dieser Zuständigkeitsregelung wird es oft vorkommen, wenn nicht die Regel sein, dass die Strafkammer, deren Gesamtstrafe vom Bundesgerichtshof als rechtsfehlerhaft aufgehoben wurde, in derselben Besetzung99 erneut über die Gesamtstrafe zu befinden hat. Das entspricht nicht der bisherigen Systematik des Revisionsverfahrens, nach der bis zur Einfügung des § 354 Abs. 1b S. 1 die Korrektur eines Rechtsfehlers, der zur Urteilsaufhebung führte, gemäß § 354 Abs. 2 durch einen anderen Tatrichter zu erfolgen hatte. Offenbar ließ sich der Gesetzgeber bei der Neufassung des § 354 noch von dieser Vorstellung leiten, denn in den Materialien findet sich der Hinweis, § 354 Abs. 1b S. 1 eröffne die Möglichkeit, „den neuen Tatrichter auf eine Entscheidung im Beschlusswege gemäß § 460, 462 zu verweisen100. Die sich aus §§ 460, 462a Abs. 3 ergebende Zuständigkeitsregelung ist indessen eindeutig und führt zu dem Ergebnis, dass unter Umständen in Person dieselben Richter zur Beschlussentscheidung berufen sind, deren Urteil vom Revisionsgericht im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben wurde. Der Gesetzgeber kehrt damit in einem revisionsrechtlichen Teilbereich zu dem Rechtszustand zurück, wie er bis 1964 bestand und im Bußgeldverfahren geltendes Recht ist101. Nach der bis 1964 geltenden Fassung des § 354 Abs. 2 hatte das Revisionsgericht die Möglichkeit, die Sache an den Spruchkörper, der das erfolgreich angefochtene Urteil gefällt hatte, zurückverweisen. Diese Möglichkeit wurde nicht zuletzt deshalb aufgegeben, um dem Anschein einer Voreingenommenheit vorzubeugen und die Besorgnis einer Befangenheit der Richter, deren Entscheidung aufgehoben worden war und die erneut in der Sache zu befinden hatten, auszuräumen102. Es bleibt abzuwarten, ob die Regelung des Abs. 1b S. 1 bei Angeklagten Zweifel an der Unvoreingenommenheit der „Beschlussrichter“ aufkommen lässt, wenn diese
__________ 98 99 100 101
Vgl. BGHSt. 11, 293; BGH NJW 1976, 1512. Freilich ohne Schöffen. BT-Drucks. 15/3482 S. 22. Nach § 79 Abs. 6 OWiG hat das Beschwerdegericht nach Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Möglichkeit, in der Sache selbst zu entscheiden, sie an den Richter, dessen Entscheidung aufgehoben wurde, oder an ein anders Amtsgericht deselben Landes zurückzuverweisen; zur Anwendung des § 354 Abs. 1a S. 1 im OWi-Verfahren vgl. Senge in KKOWiG 3. Aufl. § 79 Rz. 161a. 102 Vgl. Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren (2002) S. 760.
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bereits an dem aufgehobenen Urteil mitgewirkten, und ob sich diese Zweifel vermehrt in Befangenheitsanträgen niederschlagen werden. Die nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe ist gemäß §§ 462 Abs. 3 mit sofortiger Beschwerde anfechtbar. Dem Revisionsgericht ist damit eine Kontrolle über die erneute tatrichterliche Entscheidung zur Gesamtstrafe entzogen; sie obliegt nunmehr in Strafsachen, die in der Revisionsinstanz beim Bundesgerichtshof anhängig waren, den Oberlandesgerichten.
III. Auswahlermessen und gesetzlicher Richter Bereits nach bisheriger Rechtslage vor Einfügung von Abs. 1a und Abs. 1b in § 354 wurde im Schrifttum problematisiert, ob das dem Revisionsgericht in § 354 Abs. 2 eingeräumte Auswahlermessen, eine aufgehobene Sache an eine andere Abteilung oder Kammer des Gerichts, dessen Urteil aufgehoben wurde, oder an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung zurückverweisen zu können, mit dem Gebot des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG in Einklang zu bringen sei103. Nach MeyerGoßner sei die dem Revisionsrichter vom Gesetz überlassene freie Auswahl erstaunlich, wenn man die detaillierten Regelungen der §§ 21e, 21g GVG, in denen es um die Bestimmung des gesetzlichen Richters gehe, bedenke104. Die im Schrifttum gegen § 354 Abs. 2 geäußerten Bedenken werden vom Bundesverfassungsgericht nicht geteilt; danach gehört die Entscheidung darüber, an welches Gericht die Sache zurückverwiesen wird, zur Rechtsfindung, weil sie ein Mittel ist, die Rechtsauffassung des Revisionsgerichts durchzusetzen105. Die Bedenken gegen die dem Revisionsgericht in § 354 Abs. 2 eingeräumte Wahlmöglichkeit werden durch die Regelung des § 354 Abs. 1b S. 1 nicht bestärkt, weil die Vorschrift das revisionsrichterliche Auswahlermessen nicht ausweitet. Denn mit der Entscheidung nach § 354 Abs. 1b S. 1 bestimmt der Revisionsrichter nicht, welcher Tatrichter die nachträgliche Entscheidung über die Gesamtstrafe zu treffen hat. Er ordnet lediglich die verfahrensmäßige Art und Weise an, in der über die aufgehobene Gesamtstrafe erneut zu befinden ist. Welcher Richter dazu im Einzelfall berufen ist, entscheidet nicht das Revisionsgericht. Das ist vielmehr in § 462a Abs. 3 durch eine allgemeine Norm im Voraus für eine Vielzahl von Fällen objektiv geregelt. Damit ist dem Gebot des gesetzlichen Richters Genüge getan106. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 354 Abs. 1b S. 1 bestehen nicht.
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103 Dazu eingehend Sowada (Fn. 99) S. 760, 761 mit zahlr. Literaturnachweisen in Fn. 12; vgl. auch Steinmetz (Fn. 4) S. 336 ff. 104 GS Schlüchter, S. 524, 525. 105 BVerfGE 20, 336; krit. dazu Sowada (Fn. 99) S. 764. 106 Vgl. BVerfGE 6, 45, 50; 63, 77, 79; 82, 286, 289.
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Konfliktverteidigung, Konsensualverteidigung und die Strafrechtsdogmatik Inhaltsübersicht I. Der klassische Konflikt 1. Die gute alte StPO: Prozessmodell und Wahrheitsbegriff 2. Die aufgezwungene Konfliktverteidigung 3. Konfliktverteidigung und Missbrauchsklausel II. Der neue Prozess 1. Konflikt mit wem? a) Die pragmatischen Konflikte aa) Presse und Öffentlichkeit bb) Der Mandant
b) Die institutionellen Konflikte 2. Konflikt worüber? 3. Der Deal III. Das neue materielle Recht 1. Das simplifizierte Recht 2. Das verkomplizierte Recht 3. Das normativierte Merkmal IV. Die Globalisierung der Verteidigung 1. Verfahrensrecht 2. Verfahrensstruktur
Die Halbwertszeit strafprozessualer Probleme hat sich in den vergangenen Jahren drastisch verkürzt. Manche „Klassiker“ sind schon Geschichte, juristische Zeitgeschichte. Dazu zählt auch das Problem der „Konfliktverteidigung“ in seiner althergebrachten Erscheinungsform. Das ist die erste These dieses Beitrags. Die Fragen, mit wem man in Konflikt geraten kann, worüber und weshalb, stellen sich neu. Das Thema „Konsens“ hat die Diskussion über den Begriff der Wahrheit im Strafverfahren wieder aufleben lassen1. Aber auch die traditionelle Unterscheidung zwischen der „materiellen“ und der „formellen“ Wahrheit hat sich überlebt2. Wer Konsensualverteidigung betreibt, muss weder an eine Konsens- oder Diskurstheorie der Wahrheit glauben noch daran, dass es die Wahrheit überhaupt gibt oder dass sie, neben Fairness und Gerechtigkeit, eine überragend wichtige Rolle spielt. Von diesem anderen Verständnis des Konflikts handelt das zweite Kapitel. Bei der Antithese von Konflikt- und Konsensualverteidigung geht es nicht nur um die Strategie – oder gar Pathologie – des Einzelfalles, sondern vor allem, unabhängig von aller Wahrheitsphilosophie, um die Wandlungen der Institution „Strafprozess“. Die Europäisierung, wenn nicht „Globalisierung“ des Strafverfahrens führt dazu, dass sich diese vermeintliche Antithese allmählich auflöst. Das ist die dritte Behauptung dieses Beitrages.
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Tiefgreifend Duttge, ZStW 115 (2003), 539 ff.; H. Jung, in: Truth and Due Process, Oxford/Portland 2004, S. 147 ff. Vgl. Verf., in: Salger-FS, 1995, S. 411 ff.; H. Jung, in: The Trial on Trial (ed. A. Duff et al.), Oxford/Portland 2004, S. 147 ff.
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I. Der klassische Konflikt 1. Die gute alte StPO: Prozessmodell und Wahrheitsbegriff Sie, unsere gute alte StPO, glaubt allerdings an die Wahrheit, die es „gibt“ wie ein vergrabenes Goldstück. Allein das Gericht hat die Schürfrechte, und wer es bei seiner Arbeit stört, zwingt dazu, die Grenze zwischen legitimer und illegaler Verteidigung zu ziehen. Solange der Staat sich im Besitze eines „Strafanspruchs“ glaubt und meint, das Verfahren diene dazu, ihn „durchzusetzen“, gestützt auf sowohl ein materiellrechtliches Verständnis von „Schuldausgleich“ wie auch ein prozessuales Wahrheitsmonopol, ist er es, der den Konflikt zum Prinzip der Verteidigung macht3. 2. Die aufgezwungene Konfliktverteidigung Von dieser institutionellen Seite der Sache abgesehen, gibt es, ganz praktisch gesehen, auch eine andere Art der aufgezwungenen Konfliktverteidigung. Ein Richter, der das klassisch-inquisitorische Prozessmodell nach dem Buchstaben des Gesetzes praktiziert, keinerlei „Rechtsgespräch“ führt und jede Sondierung, ob denn eine kooperative Beschleunigung und Beendigung des Verfahrens denkbar sei, ungerührt ignoriert, zwingt den Verteidiger in die komplementäre Rolle dessen, der dagegenhält (oder zur bedingungslosen Kapitulation). Häufiger zu finden sind Staatsanwälte, die am Ende eines ebenfalls inquisitorisch geführten Ermittlungsverfahrens – schriftlich und geheim wie es im Prinzip noch immer ist – eine „Konfliktanklage“ präsentieren und in der Hauptverhandlung offensiv vertreten. Nun sind derartige, sozusagen provozierte Formen der Verteidigung allerdings nicht gemeint, wenn man von Konfliktverteidigung spricht. Damit sind vielmehr die Fälle angesprochen, in denen die Verteidigung selbst zur Provokation wird. 3. Konfliktverteidigung und Missbrauchsklausel Das ist die Verteidigung, die „alle Register zieht“ und damit, anders als beim Orgelspiel, dem diese Wendung entstammt, nicht die Fülle des Wohllauts erzeugt, sondern, um in Bilde zu bleiben, die „Stalinorgel“ des prozessualen Waffenarsenals zündet und damit den Prozess platt macht. Es gibt ihn, diesen Verteidiger, und wir kennen ihn alle. Er rühmt sich seiner Fähigkeiten: „Je mehr finanzielle Ressourcen ich habe, desto größer das Feuerwerk, das ich ablassen kann“4. Ob diese prozessuale Pyromanie noch von „Konflikt“
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„Verteidigung ist Kampf“; Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 6. Aufl. 1999 – der erste Satz. So der Verteidiger im Prozess vor dem LG Münster gegen die „Müllunternehmer“ Löbbert; zitiert aus SZ v. 7. 1. 2005, S. 3; 13 000 LO Beweismaterial.
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handelt oder schon von Obstruktion und Destruktion5, mag ebenso dahinstehen wie die feinsinnige Differenzierung dieser Verhaltensformen. Solche Verteidigung lebt in einer ökologischen (oder ökonomischen?) Nische, die von der guten alten StPO geschaffen, aber nicht durchnormiert worden ist. Unser Prozessrecht setzt den wohlerzogenen Verteidiger voraus, der sich als Organ der Rechtspflege dem staatlichen Ziel der Wahrheitsfindung verpflichtet fühlt. Sein Konfliktpotenzial wird begrenzt durch die ungeschriebene Maxime des „peace-keeping“, womit zuletzt der Rechtsfriede, zunächst aber der Friede vor Gericht gemeint ist. Wie soll man ihn, wenn er sich nicht daran hält, disziplinieren? Wie soll das Gericht, Herr des Verfahrens, der Flut der Anträge Herr werden, die stundenlangen Erklärungen zu Beweisergebnissen unterbrechen, Vertagung und Verjährung vermeiden? Ich will mich bei diesem bekannten Problem nicht lange aufhalten. Man sucht Zuflucht bei der allgemeinen Missbrauchsklausel. Missbrauch treibt, wer „verfahrensfremde Zwecke“ verfolgt6. Was aber sind die Zwecke des Verfahrens, aus welchen Gründen ist der Verteidiger an ihre Definition durch andere gebunden und woher stammt die Befugnis, die Zwecke der Verteidigung zu kontrollieren? Diese Fragen will ich nicht weiter verfolgen. Neue Antworten auf die alte Frage nach der Legitimation einer allgemeinen Missbrauchsklausel gibt es nicht, sofern man sich als Prämisse an das inquisitorische Verfahrensmodell hält. Vor allem aber soll es hier ohnehin nicht um den Ausnahmefall der pathologischen Konfliktverteidigung gehen, sondern um die sozusagen normalen, „systemimmanenten“ Konflikte, die den Gegenpol zum Konsens bilden7. Diese Normalfälle spielen sich Tag für Tag in dem großen Raum ab, der zwischen den hier angedeuteten Extremen der sturen Justiz und des rabiaten Verteidigers liegen.
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Zu „Prozesssabotage“ und „Konfliktverteidigung“ noch immer Maßstäbe setzend Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 6. Aufl. 1999, Rz. 66, 413. Jahn, Konfliktverteidigung und Inquisitionsmaxime, Baden-Baden (Nomos) 1998, S. 51 ff.; ders., ZRP 1998, 103 ff.; ders., NStZ 1988, 389 ff.; ders., JZ 2004, 207 ff. Aus der umfangreichen Literatur vgl. ferner Dahs, NJW 1994, 909 (verzweifelt polemisch kritisiert von Berg, DRiZ 1994, 380 ff.); Barton, StV 1995, 290 ff.; Herdegen, NStZ 2000, 1 ff. (zum Beweisantragsrecht); R. Hamm, NJW 1997, 1288 ff.; unübertroffen Kempf, StV 1996, 507 ff.; Kröpil, ZRP 1997, 9 ff. (steckt tief im Gestrüpp von Generalklauseln; erstaunliches Echo bei Kudlich, ZRP 1997, 295 f.); Kühne, NJW 1998, 3027 ff.; ders., StV 1996, 684 ff.; E. Müller, NJW 1981, 1801 ff.; Niemöller, StV 1996, 501 ff. (für ein „prozessuales Notstandsrecht“); Rüping, JZ 1997, 865 ff.; Senge, NStZ 2002, 225 ff. Ein Manko dieses Beitrags: Die Opferperspektive bleibt ausgeklammert. Zum „zarten Pflänzchen“ der Mediation H. Jung, in: GS Burmeister, 2005, S. 171 ff.
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II. Der neue Prozess 1. Konflikt mit wem? Diese alltäglichen Konflikte können auftreten zwischen dem Verteidiger und dem Gericht, der Staatsanwaltschaft, dem Mandanten, dem Opfer und der Öffentlichkeit. Man kann sie ihrem Grunde nach in zwei Gruppen aufteilen, in die vom Recht vorprogrammierten, gewissermaßen institutionellen Konflikte, und die von der Lage des Falles abhängigen, sozusagen pragmatischen Konflikte. Ich behandle diese zweite Gruppe zuerst. a) Die pragmatischen Konflikte aa) Presse und Öffentlichkeit Ich kenne keinen Fall, in dem es dem Mandanten genützt hätte, „trial by newspaper“ zu führen. Über die Presse Einfluss nehmen zu wollen auf den Ausgang des Verfahrens, ist meist kontraproduktiv. Andererseits ist das Interesse des Mandanten verständlich und legitim, „gut dazustehen“. Dazu muss man Kontakt mit den Medien halten. Die aber wollen stets mehr erfahren als sie ohnehin schon aus der öffentlichen Hauptverhandlung oder den – auf welchem Wege auch immer – bekannt gewordenen Akten wissen. So entsteht die Versuchung, sie heute schon „anzufüttern“ mit den news von morgen. Die Grenze zu „contempt of court“ ist schnell überschritten. In Deutschland ist sie nicht gezogen. Der Konflikt, in den man hier gerät, existiert nur vor dem Hintergrund der Berufsethik. Niemand diszipliniert den Verteidiger, es sei denn er selbst oder der Misserfolg seines Tuns. Die Pressestellen der Justiz halten dagegen. Nicht selten – und immer häufiger – sind sie es sogar, die in die Offensive gehen und zu Reaktionen zwingen8. Diese Entwicklung (insgesamt gesehen) bedroht nicht nur die Unabhängigkeit der Richter und ihr Monopol der Wahrheitsfindung in einem autonom gestalteten Verfahren, sondern auch die Freiheit des Verteidigers bei der Wahl der Strategie und der Mittel seiner Verteidigung. Wer immer – und das gilt auch für Gericht und Staatsanwaltschaft – seine Meinung auf einen nicht regulierten Markt trägt, dereguliert den Prozess und löst nicht beherrschbare Konsequenzen aus. Die Abhilfe, den Markt für juristische Meinungen reglementieren zu wollen, ist in einer Informationsgesellschaft rechtlich zweifelhaft und praktisch wirkungslos. Es ist ein Konflikt, dessen Vermeidung oder Lösung auf akzeptierte sozialethische Maßstäbe angewiesen bleibt.
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Noch kann man allerdings sagen, dass die Staatsanwaltschaften und ihre Pressesprecher „beim Umgang mit den Medien regelmäßig ein hohes Maß an Professionalität“ zeigen, Böttcher, in: GS Schlüchter, 2002, 435 ff.
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bb) Der Mandant Ein Verteidiger, der zu seinem Mandaten die professionelle Distanz nicht wahrt und sich mit ihm identifiziert, gerät schnell in Konflikte nach außen. Davon abgesehen, gibt es einige mandatsinterne Konflikte, die schwer zu lösen sind. Vor allem in Wirtschaftsstrafsachen gilt: Ein Verfahren kommt selten allein. Der Mandant hat es nicht nur mit dem Staatsanwalt zu tun, sondern auch mit dem Finanzamt, seiner Berufsorganisation und vor allem mit denen, die zivilrechtliche Ansprüche stellen. Die Furcht vor Rückwirkungen auf den Zivilprozess verhindert nicht selten einen sachgerechten Deal im Strafverfahren. Aber auch im isoliert betrachteten Strafverfahren entwickeln sich manchmal Konflikte mit dem Mandanten, aus denen sich der Verteidiger kaum befreien kann. Wenn am Ende eines länger geführten Mandats der Verteidiger einen Lösungsvorschlag macht, mit dem der Mandant nicht einverstanden ist, wenn also dessen objektives Interesse (beurteilt vom Verteidiger) mit seinen subjektiven Vorstellungen kollidiert, dann ist der Verteidiger in der Zwickmühle. Entweder legt er das Mandat nieder, was er nicht (ohne weiteres) darf, oder er wechselt die Strategie nach außen, was er nicht will. Auch diese Art des Konflikts hat letztlich nur mit Ethik zu tun und nicht mit Recht9 – die Gründe des Konflikts liegen nicht in der rechtlichen Ausgestaltung des Mandatsverhältnisses. Das ist anders bei den „institutionellen“ Konflikten. b) Die institutionellen Konflikte Wir finden sie im Verhältnis zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung10. Sie sind ausgelöst und abhängig von der jeweiligen Verfassung des Rechts und sie wirken auf den Zustand des Rechts zurück. Davon handelt der nächste Abschnitt. Wenn hier (und im Folgenden) vom institutionellen Konflikt die Rede ist, sollte man, um Verwechslungen mit dem Extremfall zu vermeiden, eigentlich nicht mehr von Konfliktverteidigung sprechen. Der Deal hat die sprachliche Skala verändert. Wenn das Ziel der Konsensualverteidigung der Konsens ist11, dann sollte den Gegenpol die Dissensverteidigung bilden12. In diesem Sinne wird „Konfliktverteidigung“ nun verwendet.
__________ 9 Wenn auch einige Regeln der Berufsethik zu Standesrecht geworden sind. 10 Und, hier nicht behandelt, dem Opfer und – eventuell – dem Nebenkläger. 11 Die Vielfalt der prozessualen Situation lässt sich nicht in einer Dichotomie erfassen. Es gibt natürlich auch „konsensual“ geführte Verteidigungen (man stimmt mit dem Gericht und evtl. sogar der Staatsanwaltschaft im Prozessprogramm überein), die im Dissens über die Rechtsfolgen enden – und umgekehrt. 12 Man könnte es auch „Konfrontationsverteidigung“ nennen, wenn der Begriff Konfrontation nicht eine spezifisch beweisrechtliche Bedeutung hätte („right to be confronted“) und vor allem eben nicht international anders besetzt wäre.
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2. Konflikt worüber? Man kann sich über das materielle Recht streiten oder über prozessuale Fragen. Das Problem, wie konfliktträchtig das materielle Recht ist, verdient ein eigenes Kapitel (unten III.). Das Konfliktpotenzial des Prozessrechts ist in aller Regel höher. Das Prozessrecht, weit davon entfernt, nur „dienende“ Funktion bei der „Anwendung“ des materiellen Rechts zu haben13, ist für das Ergebnis des Verfahrens – um nicht zu sagen „die Wahrheit“ – meist wichtiger als das materielle Recht. Die Frage z. B., ob hearsay evidence zugelassen ist oder nicht, hat auf die „Strafbarkeit“ in gewissen Bereichen der Kriminalität mehr Einfluss als die Ausgestaltung des materiellen Rechts. Konflikte über das Prozessrecht finden nicht statt, wenn man sich über das Ergebnis des Verfahrens verständigt hat. 3. Der Deal Ich möchte nicht beschreiben, wie er zustande kommt und wann er sinnvoll ist, sondern welche Folgen er für unser Verständnis vom Recht hat14. Der Effekt jeder konsensualen Lösung ist, dass die korrekte Anwendung des materiellen Rechts entweder unterbleibt oder nicht dokumentiert wird. a) Kommt es bereits im Ermittlungsverfahren zu einer einverständlichen Lösung über den Abschluss des Verfahrens, bleibt meist offen, ob sich die Staatsanwaltschaft in einer Hauptverhandlung durchsetzen könnte. Das ist nicht selten geradezu der Sinn der Sache. Beim so genannten „offenen Deal“ wird die einverständliche Einstellung des Verfahrens (z. B.) damit begründet, dass die Staatsanwaltschaft angesichts legitimer Ermittlungsanregungen der Verteidigung noch so viel Stoff bewältigen müsste, dass die Relation zur Klärung der Vorwürfe in einer langen Hauptverhandlung nicht mehr gewahrt ist15. Auch ansonsten bleibt bei jeder Verständigung in einer Situation der vorläufigen Kenntnisse und Bewertungen im Unklaren, ob die Staatsanwaltschaft mit ihren Vorwürfen Recht hat oder nicht. Ich meine damit – hier und im Folgenden – nicht die Ungewissheit über Tatsachen und Geschehensabläufe, sondern nur deren rechtliche Einordnung. Dass die rechtliche Qualifikation angesichts offener Fragen zum Sachverhalt nicht exakt sein kann, versteht sich von selbst. Das ist aber nicht der Punkt. Über die Rechtsfrage wird Gewissheit durch eine Entscheidung unter Ungewissheit geschaffen.
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13 Eingehend Verf., Prozessvoraussetzungen im Strafrecht. Zum Verhältnis von materiellem Recht und Prozessrecht, 1978. 14 Überlegungen dieser Art habe ich vorgetragen auf dem Symposion zu Ehren von Detlef Krauß, Basel 2004. 15 Diese Form der Verständigung blockt alle zivilrechtlichen Konsequenzen ab, die sich bei einer Verständigung mit Geständnis oder geständnisgleichen Formulierungen ergeben könnten.
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Die Verständigung umfasst das Ergebnis der Subsumtion – welcher Tatbestand, welche Beteiligungsform, Vorsatz oder Fahrlässigkeit, etc. Die Subsumtion selbst aber unterbleibt. Es ist, genauer gesagt, meist so, dass Staatsanwaltschaft und Verteidigung ihre unterschiedlichen Hypothesen über die Subsumierbarkeit, also die rechtliche Beurteilung des Falles, so weit modifizieren, bis eine Einigung möglich ist. Aber diese Hypothesen werden eben nur modifiziert und in keiner Weise verifiziert. Man gleicht Prognosen über die Anwendbarkeit des Rechts miteinander ab. Diese Prognosen sind bei schmaler Tatsachenbasis oft ziemlich vage. Die Lage stellt sich für die zweite Situation der Verständigung – in der Hauptverhandlung – prinzipiell nicht anders dar. b) Hier fehlt, um es vorweg zu nehmen, vielleicht nicht die Subsumtion, jedenfalls aber deren Dokumentation. Nun begnügt sich zwar die StPO mit der Anweisung, „die für erwiesen erachteten Tatsachen“ anzugeben, „in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden“ (§ 267 Abs. 1 S. 1). Der entscheidende Unterschied zwischen dem „Normalfall“ und dem Urteil, das auf einer Verständigung beruht, liegt darin, dass im Normalfall „bottom up“ begründet wird, während nach einem Deal „top down“ argumentiert wird. Das soll heißen, dass im Normalfall die Beweiswürdigung umfassend dargestellt werden muss16. Der festgestellte Sachverhalt kann also in seiner Genese und seinem Wahrheitsgehalt zumindest auf Plausibilität überprüft werden. Wenn aber die Basis der Subsumtion nachvollziehbar begründet ist, dann kann auch die Subsumtion selbst in ihrem Ergebnis nachvollzogen werden. Bei einem Urteil nach Absprache ist das nicht möglich. Es ist, pointiert gesagt, „top down“ zustande gekommen, nämlich so, dass zu den angewandten Rechtsvorschriften die passenden Tatsachen gesucht wurden, die man außer Streit gestellt hat, wobei zumeist minimalistisch vorgegangen wird. Dem Buchstaben des Gesetzes wird das gerecht, denn das Gesetz ist ja genügsam, wenn auf Rechtsmittel verzichtet wurde (§ 267 Abs. 4 S. 1 StPO). Den Geist der StPO trifft es nicht, weil man den Inhalt der Urteilsgründe in dem guten Glauben geregelt hat, es werde immer „von unten nach oben“ gearbeitet. Fazit: Da man die Subsumtion nicht dokumentieren muss, kann man auch nicht wissen, wie sie vorgenommen wurde17. Das hat Rückwirkungen auf das materielle Recht.
__________ 16 Eine Anforderung, die der BGH bekanntlich praeter legem entwickelt hat. 17 Ein Beispiel nur: Die Staatsanwaltschaft hatte gegen viele Mitarbeiter eines Pharma-Unternehmens wegen Bestechung ermittelt. Es kam zu einer Verständigung über eine „Paket-Lösung“. Man einigte sich auf den Vorwurf der Vorteilsgewährung. Dementsprechend wurden die Akten gestaltet.
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c) Dogmatik versus Pragmatik? So scheint es, in der Tat, auf den ersten Blick so zu sein, dass man mit den dogmatischen Regeln locker umgeht, weil es in der Situation von Absprachen ja nur auf pragmatische Lösungen des Einzelfalles ankomme. Einmal ganz davon abgesehen, dass sich dieser Einwand ein angelsächsisches „so what?“ gefallen lassen müsste, trifft er zwar zu, aber nicht ins Schwarze. Zunächst einmal muss man einräumen, dass das dogmatische Räderwerk nicht in Gang gesetzt wird, wenn Absprachen produziert werden. Die Regeln, die zur Abarbeitung der Strafrechtsfälle (in ihrer „normalen“ Erscheinungsform) dienen, werden nicht der Reihe nach angewandt, weil der Fall eben nur „gelöst“, aber dazu nicht abgearbeitet wird. Ohne Bedeutung sind sie gleichwohl nicht. Sie bilden die Folie, auf der alles geordnet wird, bleiben zwar im Hintergrund, aber noch immer sichtbar. Sie gehören zur Subroutine der Akteure. Hier gibt es allerdings einen deutlichen Unterschied zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen Teil. Die Zuordnung zu den einzelnen Delikten geschieht sehr sorgfältig. Auch darüber wird manchmal verhandelt, gewiss (Was könnte man nach § 154 StPO behandeln? Wie vermeiden wir den besonders schweren Fall?, etc.). Aber für die Subsumtion unter die einzelnen Straftatbestände wird wesentlich mehr Aufwand betrieben als für Fragen des Allgemeinen Teils. Der Funktionsverlust der Dogmatik des Allgemeinen Teils ist nicht zu bestreiten. Seinen Grund hat er aber nicht in pragmatischem Desinteresse. Es ist vielmehr die Denkweise, die bei Absprachen nicht passt. Dogmatische Arbeit ist auf den Umgang mit Regeln begrenzt, die nur einen jeweils schmalen Ausschnitt des Geschehens erfassen können. Sie sind nicht oder nur sehr eng begrenzt folgenorientiert. Absprachen jedoch orientieren sich für alle Beteiligten erst einmal an den Folgen – hat man sich darauf geeinigt, wird man die Voraussetzungen schon schaffen und darstellen können. Das ist der erste Grund dafür, dass die Dogmatik bei Absprachen nur eine geringe Rolle spielt. Die Funktionsweise von Dogmatik ist bei Absprachen nicht gefragt; sie ist geradezu kontraproduktiv. Der wichtigste Grund für ihren Funktionsverlust ist damit vielleicht noch nicht einmal genannt. d) Die Enge des Straftatsystems Unser Straftatsystem, begrenzt auf das materielle Strafrecht, erfasst die Folgen nicht, die für die Beteiligten neben der Strafe nicht nur eine Nebenrolle, sondern vielfach eine Hauptrolle spielen: die zivilrechtlichen Konsequenzen (Schadensersatz), die steuerrechtliche Haftung, die sozialversicherungsrechtliche Seite, das Berufsrecht, etc. Der „integrierte Gesamtdeal“ umfasst all diese Aspekte – und degradiert damit die Dogmatik des materiellen Rechts ein weiteres Mal. Darüber braucht man sich als Strafrechtslehrer 502
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nicht zu wundern. Rette sie, wer kann, die Dogmatik. Sie selbst hat nicht die Kraft, sich vor der Auflösung in pragmatischen Ad-hoc-Lösungen zu schützen. Schon jetzt bekommt man, wenn man eine dogmatische Frage aufwirft, vor Gericht und vom Gericht zu hören, das sei ein Gesichtspunkt, der allenfalls in der Strafzumessung berücksichtigt werden könne. Die Strafzumessung ist von der Wissenschaft lange Zeit als unter ihrer Würde abgetan worden und deshalb zum Endlager für dogmatische Abfälle verkommen. Was wir brauchen, das ist eine Dogmatik, die den Durchlauf des materiellen Rechts durch den Prozess vorwegnimmt und verarbeitet18. Kehren wir aber zur Verteidigung zurück mit der Frage, wie viel Konfliktpotenzial das materielle Recht hat.
III. Das neue materielle Recht In den vergangenen 30 Jahren hat sich das Strafrecht mehr verändert als in den 100 Jahren zuvor. Ganz allgemein und pointiert gesagt: Der Bereich des „Beweisbaren“ hat sich drastisch verkleinert und der des „Argumentierbaren“ hat sich vergrößert. Diese Entwicklung hat die allgemeinen Lehren des Strafrechts und den Besonderen Teil ergriffen. Die Gesetzgebung zeigt die Tendenz, Versuch und Vollendung gleichzustellen, Täterschaft und Teilnahme auf eine Stufe zu heben19, die Grenzen zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit zu verwischen, und so fort. Diese Nivellierung sorgt dafür, dass die „beweisrelevanten“ Tatsachen weniger werden. Die (noch zu besprechende) Normativierung der Merkmale kommt hinzu. Andererseits sind die Rechtsprobleme diffiziler und damit „argumentierbarer“ geworden – Beispiele Produkthaftung (Kausalität), neutrale Beihilfe, Differenzierung der Fallgruppen des bedingten Vorsatzes, Untreue, Börsendelikte, etc. Bei den einzelnen Straftatbeständen (bzw. Voraussetzungen der Strafbarkeit) ist das Bild nicht einheitlich. 1. Das simplifizierte Recht Der Gesetzgeber hat die Tendenz, Beweisprobleme dadurch aus der Welt zu schaffen, dass er die schwierig zu beweisenden Tatbestandsmerkmale abschafft20. Das Paradebeispiel ist der Subventionsbetrug, der vom Betrug nur noch die Täuschungshandlung übrig gelassen und auch noch die Leichtfertigkeit unter Strafe gestellt hat. Was es nicht (mehr) gibt, darüber kann man
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18 Dieser Gedanke gerät in Mode; vgl. dazu schon früher Verf., in: Prozessvoraussetzungen im Strafrecht, 1978, S. 259 ff. 19 Ich habe das ausführlicher dargestellt in Roxin-FS, 2001, S. 563 ff. 20 Vgl. Verf., Wahrheit und materielles Recht im Strafprozess, 1980; Verf., JZ 1982, 85 ff.
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sich nicht (mehr) streiten. Andererseits enthalten diese vermehrt geschaffenen Gefährdungsdelikte in aller Regel ein rechtlich komplexes Merkmal, über das man rechtlich ausführlich debattieren kann. Was der Gesetzgeber vorhatte, „lean management“ der Kriminalität, funktioniert auch deshalb nicht, weil die aus dem Tatbestand verdrängten (oder in ihn gar nicht aufgenommenen) Charakteristika des Unrechts an anderer Stelle wieder auftauchen und sich Geltung verschaffen. Der Gesetzgeber hat mit seiner Tendenz, bereits das Vorfeld zu kriminalisieren und minimalistische abstrakte Gefährdungsdelikte flächendeckend einzusetzen, um jede krankhafte Wucherung zu erfassen, sozusagen im Gesunden geschnitten. Je weniger Merkmale ein Tatbestand enthält, desto mehr Verhaltensweisen erfasst er und desto drängender wird das Problem, ihn durch Auslegung auf das „Wesentliche“ zu begrenzen. Ein Beispiel, wieder aus dem Umkreis des Betrugs: Der ach so flott geschneiderte Kapitalanlagebetrug franst aus, weil die unrichtigen Angaben für die Anlageentscheidung „wesentlich“ sein müssen. Das gleiche Problem begegnet überall dort, wo der Gesetzgeber meint, die folgenlose Lüge im Wirtschaftsleben bestrafen zu müssen (Börsenstrafrecht, Aktienstrafrecht, etc.). Die Konsequenz: Es gibt immer weniger Tatsachen, über die man sich streiten könnte, aber immer mehr Rechtsfragen, über die man sich streiten muss. 2. Das verkomplizierte Recht Eine anders verlaufende Entwicklungslinie sorgt dafür, dass unverändert gebliebene Rechtsfiguren und Tatbestände des Strafrechts deshalb immer komplizierter und schwieriger anwendbar werden, weil sich ihr Substrat „verkompliziert“ hat. Beispiel Kausalität: Früher war die conditio-sine-qua-nonFormel ein Satz, den man nicht hinwegdenken konnte, ohne dass das Strafrecht zusammengebrochen wäre. Inzwischen weiß man längst, dass sie nur dort funktioniert, wo man sie ohnehin nicht braucht, weil der Ursachenzusammenhang evident ist. Heute muss man sie beiseite lassen, wenn man weiterkommen will. Die neuen Kausalitätsregeln, die der BGH in den Produkthaftungsfällen entwickelt hat21, führen, wenn man sie unbestritten lässt und als Prämisse hinnimmt, zu neuen Kontroversen über Art und Umfang der zu beweisenden Tatsachen. Aber nicht nur, wie in diesem Beispiel, das faktische Substrat von Rechtsbegriffen hat sich in einigen Bereichen breit aufgefächert, sondern vor allem das andere Recht, auf das Strafrecht verweist oder Bezug nimmt. Bei der Untreue, um einen markanten Anwendungsfall dieser Entwicklung aufzugreifen, sind an die Stelle der pauschalen „Sorgfalt des ordentlichen Kaufmanns“ zahlreiche fein differenzierte Kriterien getreten, die das jeweilige Recht der Materie (Gesellschaftsrecht z. B.) aufnehmen und in strafrechtliche
__________ 21 Verf., NStZ 1996, 105 ff.
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Sorgfaltsregeln übersetzen. Man wird immer darüber debattieren können, ob auf den hier zu entscheidenden Fall die für eine andere Materie entwickelten Elemente übertragbar sind. Die Rückwirkung dieser rechtlichen Parameter – wie z. B. innerbetriebliche Transparenz, sorgfältige Ermittlung aller Entscheidungsgrundlagen, Situation des Unternehmens, etc22. – auf den Umfang der Beweisaufnahme ist klar. Auch darüber, welche Fakten nun relevant sind, kann man verschiedener Ansicht sein. Ein derartiger Prozess hat viele Phasen, in denen sich ein latenter Konflikt oder angedachter Konsens im äußeren Ablauf kaum abbildet. 3. Das normativierte Merkmal Viel „Stoff“ ist dann von vornherein irrelevant, wenn man es mit normativierten Merkmalen zu tun hat, die letztlich nicht „bewiesen“, sondern „zugeschrieben“ werden. Das prominenteste Beispiel ist der Vorsatz. Dass er aus „äußeren Merkmalen“ erschlossen werden muss, ist eine seit Jahrhunderten bekannte Binsenweisheit23. Dieser indirekte Beweis kann zum „indirekten“ Streit über den objektiven Tatbestand führen. Der Vorsatz stellt, eben weil er normativiert ist, Drohpotential und Manövriermasse zugleich dar. Das Gericht gibt zu erkennen, dass es ihn „feststellen“ wird; der Verteidiger signalisiert, dass man ihn zugestehen könnte. Das Gericht deutet damit eine rechtliche Einordnung an, die Verteidigung hingegen ein Geständnis der Fakten. Dieses Spiel findet zwar auf zwei Ebenen statt, die man unterscheiden kann, die sich aber praktisch – und theoretisch! – deshalb vermischen, weil die Elemente austauschbar sind. Ob man, um nur ein Beispiel zu nennen, die erkannte Nähe der Gefahr als Begriffselement des bedingten Vorsatzes versteht oder als Indiz für seinen Beweis, macht keinen Unterschied24. Wenn man diesen Aspekt der Austauschbarkeit von Begriff und Beweis25 verallgemeinert, dann handelt es sich bei den „Absprachen“ (unter anderem auch) um eine Rechtsfigur, mit der die seit dem 19. Jahrhundert übliche, übersteigerte Trennung des materiellen Rechts vom Prozessrecht partiell zurückgenommen und korrigiert wird.
__________ 22 BGHSt 47, 187 („SSV Reutlingen“). 23 Vom wahrheitsgemäßen oder aus taktischen Gründen abgegebenen Geständnis einmal abgesehen. Vgl. näher Verf., schon 1980 (a. a. O., Fn. 18), und in Arthur Kaufmann-FS, 1993, S. 611 ff. 24 Außer natürlich für die Kontrollbefugnis des Revisionsgerichts, das in dem ersten Fall von einem verkannten Rechtsbegriff sprechen wird und im zweiten (nur?) von einer mangelhaften Beweiswürdigung bzw. ihrer Darstellung in den Gründen sprechen kann – so dass in der „Kontrolldichte“ am Ende doch wieder kein Unterschied besteht. 25 Verf., a. a. O. (Fn. 12) und schon in: Prozessvoraussetzungen im Strafrecht, 1978, S. 39 ff.
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IV. Die Globalisierung der Verteidigung 1. Verfahrensrecht Der Fortfall alter Grenzen schafft neue Konflikte. Die Europäisierung des Strafverfahrens verschärft zunächst einmal alte innerdeutsche Probleme. In unseren Prozessen wird nicht selten deshalb über das Verfahrensrecht gestritten, weil in der Hauptverhandlung die Beweise nicht produziert, sondern reproduziert werden. Dieser Streit über die Einführung von früher gewonnenen Beweisergebnissen ist eine Konsequenz des nicht-partizipatorischen Ermittlungsverfahrens26; es erzeugt Konfliktstau. Er muss durch eine (innerdeutsche) Reform abgebaut werden. Davon ganz unabhängig ist das Konfliktpotential, das durch europäisches Recht zu entstehen oder auch verhindert zu werden droht. Bereits das Grünbuch der Kommission27 favorisiert das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Soweit damit Entscheidungen gemeint sind, die ein Verfahren abschließen, ist gegen deren „Verkehrsfähigkeit“ als Konsequenz des ne-bis-in-idem-Grundsatzes nichts einzuwenden28. Die Absprache mit dem Ergebnis einer Einstellung unter Auflagen wirkt nun europaweit. Der nationale Konsens lässt Konfliktverteidigungen, die in der gleichen Sache in anderen Staaten gefahren werden, ganz einfach als gegenstandslos zusammenbrechen. Damit muss man leben. Womit man aber nicht leben kann, das ist die eingeforderte europaweite Verkehrsfähigkeit von Beweisen (dem Ergebnis von Beweiserhebungen)29. Sie sollen überall unangreifbar verwertbar sein – auch dort, wo sie nicht hätten erhoben werden dürfen oder sonst mit nationalem Recht nicht vereinbar sind. Beweisergebnisse sind aber nur innerprozessuale Halbfertigprodukte, die gerade nicht verkehrsfähig sind und die man nicht unter Verzicht auf nationale Grenzkontrollen einschleusen darf. Der Konflikt, der auf diese übermäßig „effiziente“ Weise verhindert werden soll, lebt an anderer Stelle verschärft wieder auf, bei der Beweiswürdigung im innerstaatlichen Verfahren nämlich30.
__________ 26 Aus der umfangreichen Literatur zur Reform vgl. nur Meier, GA 2004, 241 ff.; Satzger, Chancen und Risiken einer Reform des Ermittlungsverfahrens, Gutachten C zum 65. Deutschen Juristentag, 2004; Vogel, JZ 2004, 827 ff.; Wohlers, GA 2005, 12 ff. 27 Fortgeführt vom Verfassungskonvent, vgl. Weigend, ZStW 116 (2004), 275 ff. (292 ff.). 28 Art. 54 SDÜ; EuGH v. 11. 2. 2002, NStZ 2003, 332; dazu Kühne, JZ 2003, 303 ff.; Radtke/Busch, NStZ 2003, 281 ff.; Schomburg, NJW 1995, 1931 ff.; ders., StV 1997, 383; ders., NJW 2000, 1833 ff. 29 Treffend Gleß, ZStW 115 (2003), 131, 136; vgl. ferner Bendler, StV 2003, 133; Braum, ZRP 2002, 508, 513; Kempf, StV 2003, 128, 129 f.; Salditt, StV 2003, 126; Satzger, StV 2003, 136; Schünemann, StV 2003, 116 ff.; Sommer, StV 2003, 126. 30 Womit ich die Beweiswürdigungslösung der Rechtsprechung nicht befürwortet haben will.
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Konfliktverteidigung, Konsensualverteidigung und die Strafrechtsdogmatik
2. Verfahrensstruktur Bis zu einem einheitlichen europäischen Verfahrensrecht ist es noch weit. Die Frage ist, welches Modell ihm zugrunde liegen wird. Das klassischinquisitorische deutscher Prägung wird es sicher nicht sein31. Ein (demnächst) partizipatorisch ausgestaltetes Ermittlungsverfahren mit konsensualen Elementen verlängert sich gewissermaßen zwangsläufig bis in die Hauptverhandlung. Davon ganz abgesehen, ist dieses Modell ohnehin, quantitativ gesehen, schon heute nur noch eine selten angewandte Praxis. Weitaus die meisten Verfahren werden durch Unterwerfung oder Vereinbarung beendet, in einem Procedere also, das man einen „eher administrativen als justiziellen Weg“ nennen könnte32. „Formelle Konfrontation und richterliche (Streit-) Entscheidung erscheinen geradezu veraltet“33. Die Verschiebung der Machtbalance zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht spielt der Verteidigung neue Aufgaben zu, eröffnet neue Chancen und errichtet neue Barrieren, führt insgesamt zu einer neuartigen Verantwortung. Die Konfrontation wird immer seltener die richtige Methode, um ihr gerecht zu werden. Überdies entfalten die Verfahrensordnungen der europäischen Nachbarländer eine Sog- und Spiralwirkung, der sich Deutschland nicht entziehen kann. Nun findet man dort allerdings meist anstelle eines Systems, das adversatorische und inquisitorische Strukturen sinnvoll integriert, ein „patchwork“. Aufs Ganze gesehen, steht uns zunächst eine Periode des „fishing“ und „shopping“ bevor. Der europäische Staatsanwalt, den es bald gibt, wird das Prinzip der Verkehrsfähigkeit von Beweisen virtuos nutzen können, und der europäische Verteidiger, den es noch nicht gibt34, wird sich ohne klare Vorgaben durch das patchwork lavieren müssen. Die Frage, ob er das konfrontativ oder konsensual tut, lässt sich nicht vor dem Hintergrund eines allseits akzeptierten Prozessmodells beantworten. Sie bleibt auf einige Zeit der Pragmatik des Einzelfalls überlassen. Schöne Aussichten? Das hängt davon ab, wie man als Verteidiger seinen Beruf versteht.
__________ 31 Einen guten rechtsvergleichenden Überblick bieten die Beiträge in Eser/ Rabenstein (Hrsg.), Strafjustiz im Spannungsfeld von Effizienz und Fairness, Berlin 2004; vgl. ferner Nelles, in: Crime and Crime Control in an Integrating Europe (ed. Kauko Aaroma and Sami Nevala), Helsinki 2004, S. 75 ff. 32 Susanne Walther, in: Eser/Rabenstein, a. a. O., S. 377. 33 Susanne Walther, a. a. O. 34 Waffengleichheit? Der nationale Verteidiger muss sich gegen Europa, die auf dem Stier daherkommt, mit seinen Mitteln, also den bloßen Händen, verteidigen; vgl. auch Nestler, ZStW 116 (2004), 332 ff., 349. Zum „Eurodefensor“ Schünemann, ZStW 116 (2004), 376 ff., 388 ff.; zur mangelhaften Integration der „Gegenseite“ (Verteidigung) Vogel, ZStW 116 (2004), 400 ff., 404.
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Rechtsschutz gegen die Akteneinsicht des ”Verletzten“ Inhaltsübersicht I. Rechtsschutz durch Anhörung II. Rechtsschutz durch den Richter
IV. Sonstige Fortwirkungen V. Schlussbemerkung
III. Rechtsschutz gegen den Richter
Es ist möglich, „weite Teile des traditionellen Strafprozeßrechts als ‚Datenübermittlungsrecht‘ zu interpretieren und das Strafverfahren als komplexes System des Informationsaustauschs zu verstehen.“1 Akten der Staatsanwaltschaft bilden also zwar weiterhin Dokumente zum Nachweis behördlicher Tätigkeit unter dem Zweck, „den Sachverhalt zu erforschen“2. Ermittlungsakten der strafrechtlichen Verfolgungsbehörde gelten heute allerdings auch als Sammlungen personenbezogener Daten3. In ähnlicher Perspektive können beispielsweise Durchsuchungen oder Beschlagnahmen – sofern sie ohne zustimmenden Willen des Betroffenen erfolgen – (auch) als zwangsweise vollzogene Erhebung personenbezogener Daten beschrieben werden. Bei solcher Sicht begründet dann die zwangsweise vollzogene Weitergabe personenbezogener Daten durch Gewährung der Akteneinsicht an den ”Verletzten“ nach § 406e StPO einen Eingriff in garantierte Rechte. Dies jedenfalls insofern, als hiermit stets eine rechtlich relevante Zweckänderung einhergeht4. Die Gewährung der Akteneinsicht an ”Verletzte“ nach § 406e StPO berührt mit anderen Worten regelmäßig Rechte des Beschuldigten zumindest in Gestalt seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG5. Denn hieraus wird ganz allgemein ein Anspruch auf Schutz der Privatsphäre des einzelnen vor allen denkbaren Formen von Informationseingriffen gefolgert6. Grundgesetzlich garantierte Rechte von Nicht-Beschuldigten können durch eine aus ihrer Sicht unfreiwillige Datenweitergabe ebenfalls tangiert werden7; die Minimalposition des ”natürlichen“ Dritten bildet dabei das Recht auf informationelle Selbstbe-
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Rieß, Festgabe Hilger, 171 (173); vgl. auch Dembowski in: Roßnagel, Handbuch Datenschutzrecht, 2003, 1396. § 160 Abs. 1 StPO. Schäfer wistra 1988, 216 (217). Schäfer NStZ 1985, 198 (202). Fundierung des sog. Rechts auf informationelle Selbstbestimmung durch BVerfGE 65, 1 ff. BVerfGE 78, 77 (84). Dies hat in § 406e Abs. 2 S. 1 StPO auch folgerichtig Ausdruck gefunden.
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stimmung in dem oben skizzierten Umfang. Einer juristischen Person, mögliche Nebenbeteiligte in einem Strafverfahren nach § 444 StPO oder selbständig verfolgbares Rechtssubjekt nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, wird derselbe Garantiegehalt über Art. 12 bzw. Art. 14 GG zugesprochen8. Das Bundesverfassungsgericht hat – nicht zuletzt „wegen der Irreversibilität eines Eingriffs“9 – als Struktur der Entscheidung nach § 406e Abs. 4 S. 1 StPO eine „sorgfältige Abwägung aller entscheidungserheblichen Umstände“10 angemahnt und damit insbesondere also die Entscheidungserheblichkeit der subjektiven Rechte der von einer Akteneinsicht Betroffenen in Erinnerung gebracht. Mit besonderem Nachdruck hat das Verfassungsgericht damit die Entscheidung über die Akteneinsicht des ”Verletzten“ als Moment des Primärrechtsschutzes reformuliert. Allgemeinen Grundsätzen entsprechend geht mit der praktischen Anerkennung einer Rechtsposition, die über die bloße Idee eines (subjektiven) Rechts hinausreicht, die Notwendigkeit geeigneter, nicht zuletzt auch verfahrensrechtlicher Formen der Verwirklichung einher11. Die Idee einer (solchen Vorwirkung bzw.) Fortwirkung von Rechten zählt zum dogmatischen Traditionsbestand der klassischen Rechtsgebiete. Für das zivilrechtliche Schadensersatzrecht ist früh erkannt worden, daß sich das verletzte Gut im Anspruch auf Schadensersatz fortsetzt: In Anwendung des Surrogationsprinzips tritt der Anspruch an die Stelle des verletzten Guts12. Die richtige Idee, daß Rechte u. a. über ihre Fortwirkung Garantie erfahren, ist allerdings nicht alleine auf die Dogmatik des zivilrechtlichen Schadensersatzrechts13 zu beschränken. So heterogene Gegenstände wie beispielsweise die strafrechtliche Dogmatik der Rettungspflichten14 oder neuere öffentlich-rechtliche Bemühungen um eine Rückführung von Rechts-
__________ 8 Dazu etwa Cosack/Tomerius NVwZ 1993, 841 (843) m. w. N. Teilweise wird angenommen, juristischen Personen des Privatrechts komme ebenfalls das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG zu: OLG Koblenz NJW 1986, 3093 (3094). 9 BVerfG wistra 2002, 335 (336). 10 BVerfG NJW 2003, 501 (503). 11 Sehr klar BVerwGE 94, 100 (114), wo es beispielhaft für Art. 19 Abs. 4 GG heißt, der „effektive Rechtsschutz“ sei keine „rechtspolitische Forderung“, sondern vielmehr ein „Grundsatz geltenden Rechts“. 12 Neuner AcP 133 (1931), 277 (291 ff.). 13 Vgl. Soergel-Lange, BGB, 12. Aufl. 1990, Vor § 249 Rz. 26: „In der Schadensersatzpflicht setzt sich das vom Schuldner verletzte Recht fort; diese dient insoweit der Aufrechterhaltung der Rechtslage.“ 14 Vgl. Jakobs, BGH-FS IV, 29 f. „Wenn es um die Besorgung von Hilfe für das Opfer geht, also um eine sogenannte Rettungspflicht, (…) hat sich an der Haftungsgrundlage nichts geändert: Dem Täter wird zugeschrieben, fremde Organisation als eigene ursurpiert zu haben (…) und was phänotypisch als Rettung erscheint ist der Sache nach Sicherung vor zeitlichen und sonstigen Weiterungen der Usurpation.“
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schutzansprüchen aus den Grundrechten15 haben hier ebenfalls ihre Wurzel. Der strafprozeßrechtlichen Dogmatik vertraut ist das gleichsinnige Bemühen, bestimmte sogenannte Beweisverwertungsverbote als Fortwirkungen subjektiv-rechtlicher Positionen zu reformulieren16. ”Rechtsschutz“ meint in einem weit verstandenen materialen Sinn also Rechtsverwirklichung auch durch ”Vorwirkung“ und/oder „Fortwirkung“17: Sowohl im Vorfeld einer Rechtsverletzung als auch im Anschluß an eine solche stellt die Rechtsordnung Möglichkeiten bereit, damit das jeweilige (subjektive) Recht materielle und/oder verfahrensmäßige Geltung erfährt18. Selbst rund 20 Jahre nach Einführung der gesetzlichen Grundlagen scheint sich ein allgemeines Bewußtsein für die ”richtige Form“ und das ”rechte Maß“ und also eine ”einheitliche Linie“ für Entscheidungen über die Akteneinsicht zugunsten ”Verletzter“ noch nicht entwickelt zu haben. Die zu einschlägigen Rechtsfragen etwa aus neuerer Zeit ergangenen Judikate geben Zeugnis von offenbar grundverschiedenen Auffassungen über den Inhalt und die Reichweite des Akteneinsichtsrechts von ”Verletzten“19. Daher ist ganz im Sinne von Hans Dahs nicht zuletzt dem Strafverteidiger auch in diesem Bereich aufgegeben, die Rechte und Interessen von Betroffenen gegen die Akteneinsicht von ”Verletzten“ mit Nachdruck zu behaupten, „indem er (…) im Rahmen seiner Aufgabe, den Klienten zu schützen, über die Gesetzlichkeit des Verfahrens wacht“20.
__________ 15 Vgl. Wolfram Höfling, Primär- und Sekundärrechtsschutz im öffentlichen Recht, VVDStRL 61, 261 (272 f.). 16 Vgl. beispielhaft die ”radikale“ Position von Burhoff, StraFO 2005, 140 (146 f.) zu den Folgen von Verstößen gegen §§ 102,105 StPO. 17 Zur stückweise eigenständigen Perspektive, Kategorisierung und Terminologie im Öffentlichen Recht s. Erbguth und Höfling, Primär- und Sekundärrechtsschutz im Öffentlichen Recht, VVDStRL 61, 221 ff. u. 260 ff. 18 Zu der im Öffentlichen Recht angenommenen Variationsbreite der gesetzgeberischen Realisierungsmöglichkeiten, die also wieder zu einer Abwägung führen sollen, Weyreuther, DVBL 1980, 389 (390 Fn. 15): „Sanktionierungsspielraum“. – Dogmatisch lassen sich als Entfaltungen des Begriffs materiell-rechtliche Vorbzw. Fortwirkungen und prozessuale Vor- bzw. Fortwirkungen unterscheiden. 19 Vgl. auf der einen Seite etwa LG Stade StV 2001, 159 ff., das – ebenso wie LG Köln, StraFo 2005, 78 f. – ersichtlich um Restriktionen bei der Anwendung der Vorschrift bemüht ist, und auf der anderen Seite LG Düsseldorf wistra 2003, 239 ff. Dort wird ohne Berücksichtigung vom Verfassungsgericht gezogener grundgesetzlicher Grenzen der ”Wille des Gesetzgebers“ als alleinige Grundlage extensiver Auslegung herangezogen und ein ”zivilprozessual unzulässiges Ausforschen“ als berechtigtes Interesse im Rahmen der Verfolgung zivilrechtlicher Interessen (Sic!) und damit als Grundlage für eine Akteneinsicht anerkannt. 20 Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 6. Aufl. 1999, Rz. 3.
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I. Rechtsschutz durch Anhörung Im Vorfeld der Entscheidung über eine Akteneinsicht an ”Verletzte“ besteht Rechtsschutz durch Verfahren in Gestalt eines Anhörungsrechts. Die materielle Rechtsposition der von einer Akteineinsicht potentiell Betroffenen wirkt verfahrensmäßig vor, indem ihnen ein selbständiges Recht auf Gehör vor der Entscheidung nach § 406e Abs. 4 S. 1 StPO und damit eine verfahrensrechtliche Position zuwächst. Bereits das Reichsgericht hatte die Bedeutung der Gewährung von Gehör im Rahmen eines vorgängigen Verfahrens prononciert und ganz in diesem Sinne gefordert, es müsse „als allgemeiner Grundsatz anerkannt werden, daß … Entscheidungen nicht getroffen werden dürfen, ohne daß dem unmittelbar Betroffenen die Möglichkeit gewährt ist, in dem vorausgegangenen Verfahren mit seinen Einreden gehört zu werden.“21 Mit dem anzuerkennenden Recht auf Gehör ist notwendig ein Recht auf Information – insbesondere auf Unterrichtung vom eventuell preiszugebenden Akteninhalt, aber auch vom Inhalt des Antrags auf Akteneinsicht – verknüpft. Denn „die Gewährung der Gelegenheit zur Äußerung ist nur sinnvoll, wenn den Verfahrensbeteiligten der Sachverhalt bekannt ist, zu dem sie sich äußern sollen“22. Sollte die Staatsanwaltschaft also beispielsweise unter Hinweis auf § 147 Abs. 2 StPO zuungunsten des Beschuldigten bislang dessen Einsicht in die (gegebenenfalls preiszugebenden) Aktenteile verweigert haben, steht dies auch einer Gewährung der Akteneinsicht an ”Verletzte“ entgegen. Für die Durchführung eines (echten) in-camera-Verfahrens23 besteht weder eine praktische Notwendigkeit noch irgendeine gesetzliche Grundlage. Soweit nicht durch eine, unter Umständen mühselige, Austrennung von Aktenteilen, deren Schwärzung o. ä. eine rechtliche Beeinträchtigung ausgeschlossen werden kann24, steht – unabhängig vom Wortlaut des § 33 StPO bzw. des Art. 103 Abs. 1 GG – jedem von einer Akteneinsicht an ”Verletzte“ dann noch potentiell Betroffenen selbstverständlich auch vor einer Entscheidung der Staatsanwaltschaft ein Anhörungs- und Informationsrecht zu. Wenn und soweit teilweise angenommen wird, es müsse nicht der Beschuldigte25, zumindest müsse aber nicht „jeder“26 (?) sonstige Betroffene vor einer Akteneinsicht der Staatsanwaltschaft an ”Verletzte“ gehört werden, kann dem keinesfalls gefolgt werden. Als Folge dieser Sicht ergäbe sich die
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RGSt 5, 371 (375). Dahs, Das rechtliche Gehör im Strafprozeß, 1965, S. 23. Zur Legitimation solcher in-camera-Verfahren Mayen, AnwBl 2002, 495 ff. Eine im Hinblick auch auf Datenweitergabe „vorbeugende“ Aktenführung empfehlen Groß/Fünfsinn NStZ 1992, 105 (106). 25 So AK-Schöch, 1996, § 406e Rz. 22. 26 So Schäfer wistra 1988, 216 (219 f.). Für Anhörung nur des Beschuldigten auch HKKurth, StPO, 2. Aufl. 1999, § 406e Rz. 14.
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Möglichkeit ”heimlicher“ und irreversibler, unter Umständen schwerwiegender Eingriffe in subjektive Rechte. Die Möglichkeit der Anrufung des Richters nach § 406e Abs. 4 S. 2 StPO wäre keine rechtliche Verbürgung, sondern eine bloß papierne Garantie27. Zur Legitimation einer solchen Position vermögen insbesondere nicht ansonsten zu befürchtende, gewiß erhebliche praktische Auswirkungen, merkliche Belastungen des Dezernats, Verfahrensverzögerungen usw. angeführt zu werden. Vorbeugenden Rechtsschutz durch Anhörung erklärt das Bundesverfassungsgericht mit gutem Grund zum aktuellen Garantiebestand der Rechtsstaatlichkeit, der jedenfalls nicht unter dem einfachen Vorbehalt praktischer Beschwernis steht: „Auch außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 103 Abs. 1 GG darf der Einzelne deshalb nicht zum bloßen Objekt staatlicher Entscheidung werden; ihm muß insbesondere die Möglichkeit eingeräumt werden, vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort zu kommen, um Einfluß auf das Verfahren und dessen Ergebnis nehmen zu können.“28 Auf die Frage nach einer Anhörungspflicht im Rahmen von § 406e StPO gewendet ist die Staatsanwaltschaft also zweifelsfrei „jedenfalls dann regelmäßig zu einer Anhörung der von einem Einsichtsersuchen betroffenen Beschuldigten oder Dritten verpflichtet, wenn mit der Gewährung von Akteneinsicht ein Eingriff in die Grundrechtsposition des Betroffenen (…) verbunden wäre.“29 Keinen effektiven Rechtsschutz verheißt die mitunter praktizierte Gewähr von Akteneinsicht unter Auflagen. Der Sache nach soll durch diese Auflagen entweder erreicht werden, daß der ”Verletzte“ von seinem anwaltlichen Vertreter lediglich beschränkten Zugriff auf Informationen aus den Akten erhält, oder daß einer mißbräuchlichen Verwendung des Akteninhalts durch den ”Verletzten“ oder dessen anwaltlichen Vertreter vorgebeugt wird30. Auflagen, die dieses Ziel der Mißbrauchsvorbeugung (meist in Form von ”Werbeverboten“) verfolgen, wiederholen freilich bloß den Regelungsgehalt von §§ 406e Abs. 6, 477 Abs. 5 StPO und sind bereits deswegen ohne irgendeine selbständige Bedeutung. Das darin enthaltene Zweckbindungsgebot ist zudem nicht dauernd erzwingbar. Ebenso wie bei einer unzulässigen Zweckentfremdung besteht auch bei einem Verstoß gegen eine entsprechende Auflage regelmäßig nur die Möglichkeit von Sekundärrechtsschutz31. Auflagen dieser Art sind zur Rechtswahrung also nur bedingt geeignet. Das Bundesverfassungsgericht hat auch dem Verbot an den Verletztenvertreter, seinem Mandanten einen Aktenauszug auszuhändigen usw. mit gutem Grund wenig Eignung zugesprochen, da dem ”Verletzten“ spätestens bei Er-
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LR-Hilger, 25. Aufl. 2001, § 406e Rz. 16. BVerfGE 101, 397 (405). BVerfG, 2 BvR 465/05, Beschl. v. 15. 4. 2005, Bl. 4 d. amtl. Umbruchs. Vgl. die Beispielsfälle bei Riedel/Wallau, NStZ 2003, 392 (398). Es bleibt abzuwarten, ob die Praxis auf solche Rechtsverletzungen § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB überhaupt anwendet.
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stellung einer zivilrechtlichen Klageschrift der Akteninhalt bekannt würde32. Ohne qualifizierte rechtliche Eignung und zudem noch aus einem anderen Grund unzulässig sind also Auflagen, soweit sie den Informationsfluß zwischen ”Verletztem“ und dessen anwaltlichem Vertreter zu regeln trachten. Eine Auflage solchen Inhalts könnte zwar als beschränkte Leistungsgewährung gegenüber dem ”Verletzten“ gerechtfertigt werden33, bedürfte allerdings als selbständige Beschwer gegenüber dem anwaltlichen Vertreter einer rechtlichen Grundlage34. Die materielle Rechtsposition der potentiell von einer Akteneinsicht Betroffenen wirkt fort in einer zu ihren Gunsten bestehenden Hinweispflicht der Behörde, wenn dort beabsichtigt ist, trotz der vorgebrachten Gründe Akteneinsicht zu gewähren35. Ebenfalls systematisch als Fortwirkung des verletzten subjektiven Rechts ist eine objektiv-rechtliche Fehlerfolge für den Fall einer unzulässigen Gewährung der Akteneinsicht anzunehmen: Die beispielsweise ohne Anhörung eines der Betroffenen gewährte Akteneinsicht ist grundsätzlich rechtswidrig36. Insbesondere vermag eine nachträgliche Anhörung, wie sie nunmehr der neuformulierte § 33a StPO vorsieht, die einmal geschehene Rechtsverletzung allerhöchstens in einem formalen Sinne zu ”heilen“. Denn die mit der Gewährung des Gehörs garantierte Möglichkeit der Einflußnahme auf den Gang der Sache37 ist stets nur dann vorstellbar, wenn zwischenzeitlich keine Fakten geschaffen, eine geschehene Rechtsverletzung also gegebenenfalls noch revoziert werden kann: Da durch den Vollzug der rechtswidrigen Entscheidung in Gestalt der Gewährung der Akteneinsicht allerdings prozessuale Überholung eintritt, geht die nachträgliche Anhörung der durch eine rechtswidrige Entscheidung nun tatsächlich Verletzten regelmäßig ins Leere: Das Recht, vor einer beabsichtigten Entscheidung Gehör zu finden, hat nichts gemein mit der Befugnis, eine ergangene Entscheidung kommentieren zu dürfen.
__________ 32 BVerfG NJW 2003, 501 ff. Damit könnte das Verfassungsgericht auch ausgeschlossen haben, daß Verstöße gegen diese Auflage strafrechtlich, beispielsweise über § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB, relevant werden. 33 So Neuhaus StraFO 1996, 27 (29). 34 Dies wird spätestens dann deutlich, wenn rechtliche, insbesondere strafrechtliche Folgen – etwa nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB – an einen Auflagenverstoß geknüpft werden sollten. 35 Schlothauer StV 1987, 356 (359); LR-Hilger, 25. Aufl. 2001, § 406e Rz. 17. 36 Setzt man selbständige Garantien von subjektiven Rechten auch durch Verfahrensrechte, kann deren Verletzung nicht folgenlos bleiben (auch für den Fall, daß die ”sonstigen“ Voraussetzungen der Akteneinsicht ”an sich“ gegeben sind). – Für das Verwaltungsverfahrensgesetz ist beispielhaft dargetan worden, daß Einschränkungen des Rechts auf Gehör durch ”Heilungsvorschriften“, die nicht zwingend aus Gründen der Verfahrenseffektivität oder Gründen vergleichbaren Gewichts folgen, als rechtswidrig zu gelten haben: Bracher DVBL 1997, 534 ff. 37 Dahs, Das rechtliche Gehör im Strafprozeß, 1965, 15.
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Rechtsschutz gegen die Akteneinsicht des ”Verletzten“
II. Rechtsschutz durch den Richter Im Rahmen einer jeden Entscheidung nach § 406e Abs. 4 S. 2 StPO ist das Gericht zur selbständigen Entscheidung über das Akteneinsichtsgesuch berufen. Die Idee einer Bindung des Gerichts an vorherige Bewertungen des Akteninhalts durch die Staatsanwaltschaft ist zu verwerfen:38 Mit der Annahme einer Bindungswirkung entstünde ein kontrollfreier, weil nicht justiziabler Bereich staatsanwaltschaftlicher Eingriffs- bzw. Entscheidungsbefugnisse, für dessen Errichtung keine sachliche Notwendigkeit und keine gesetzliche Grundlage besteht39. Das Gericht hat – ebenso wie die Staatsanwaltschaft – im Rahmen seiner Entscheidung die gesetzlichen Voraussetzungen einer Gewährung von Akteneinsicht insbesondere unter Berücksichtigung der vom Verfassungsgericht erkannten Vorgaben, im Regelfall also restriktiv auszulegen40. Während nämlich zugunsten der Positionen des Beschuldigten bzw. sonstiger Betroffener regelmäßig grundgesetzliche Garantien anzuführen sind, trifft dies für das Einsicht begehrende Interesse in der Mehrzahl der Fälle nicht zu. Insbesondere das praktisch überwiegend anzutreffende Interesse an einer Akteneinsicht zur Durchsetzung vermeintlicher zivilrechtlicher Ansprüche ist (verfassungs-)rechtlich regelmäßig ungeschützt. Derjenige, der Stoff für seine zivilrechtlichen Zwecke sucht, hat nach einem Urteil des Verfassungsgerichts keinen grundgesetzlich verbürgten Anspruch darauf, daß „ihn der Staat durch Überlassen von Informationen, die im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens beschafft wurden, bei der Durchsetzung zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche unterstützt.“41 Es kann auch nicht annähernd widerspruchsfrei angenommen werden, daß der ”sachnahe“ Teil der Rechtsordnung, die Zivilprozeßordnung, einem solchen Interesse die rechtliche Anerkennung versagt und dieses dann gleichwohl im Strafprozeßrecht die Form eines subjektiven Rechts – für die Zwecke eines Zivilprozesses (!) – erhalten soll42. Dem steht der bisweilen in Frontstellung gebrachte, angeblich anderslautende ”Wille des Gesetzgebers“43 nicht entgegen, weil selbstverständlich auch hier gilt, daß „der Wille des historischen Gesetzgebers eine systematische Gesetzesinterpreta-
__________ 38 Für eine Beschränkung aber OLG Koblenz StV 1988 332 (333) im Rahmen eines heute nicht mehr vorgesehenen Verfahrens der Anfechtung einer Akteneinsichtsgewährung durch den Beschuldigten nach §§ 23 ff. GVG. Für eine solche Beschränkung auch noch HK-Kurth, StPO, 2. Aufl. 1999, § 406e Rz. 16. 39 Vgl. Maunz/Dürig-Schmidt-Aßmann, Lfg. 42 Februar 2003, Art. 19 IV Rz. 180 ff. zur sog. richterlichen Kontrolldichte und ausnahmsweisen administrativen Letztentscheidungsermächtigungen. 40 Wegen der Einzelheiten vgl. Riedel/Wallau NStZ 2003, 392 ff. Zum Steuergeheimnis als regelmäßigem Hinderungsgrund von Briel wistra 2002, 213. 41 BVerfG NJW 1988, 405. 42 Völlig verkannt von SK-Velten, StPO, 35. Aufbau-Lfg. Januar 2004, § 406e Rz. 8. 43 Vgl. etwa OLG Koblenz StV 1988, 333; LG Düsseldorf wistra 2003, 239 ff.
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tion nicht hindern kann“44. Für die Verfolgung ”einfacher“ zivilrechtlicher Zwecke ist demzufolge anzunehmen: „Das schutzwürdige Interesse des Beschuldigten im Hinblick auf sein informationelles Selbstbestimmungsrecht überwiegt jedenfalls dann, wenn die bisherigen Ermittlungsergebnisse den hinreichenden Tatverdacht einer strafrechtlich relevanten Verletzung des die Einsicht Begehrenden nicht ergeben haben.“45 Ist in solchen Fällen das Begehren auf eine Einsicht in besonders sensible Daten, Beweisunterlagen o. ä. gerichtet, muß der ”Verletzte“ in aller Regel weitergehend die rechtskräftige Verurteilung des ”Verletzers“ abwarten46. Grundsätzlich keine anderen Maßstäbe gelten, falls Akteneinsicht zur Prüfung einer Einstellungsbeschwerde oder zum Betreiben des Klageerzwingungsverfahrens beantragt wird. Auch hier ist im Einzelfall sorgfältig und gesondert zu prüfen, ob die Akteneinsicht tatsächlich auf besonders sensible Daten zu erstrecken ist47. Im Rahmen der Entscheidung über die Akteneinsicht ist insbesondere an die Position von dritten Personen zu erinnern, die einer Tatbeteiligung nicht verdächtig sind. Bereits ein Blick auf das Zwangsmittelrecht der Strafprozeßordnung macht deutlich, daß in die Rechte Dritter selbst zur Verfolgung des gewichtigen öffentlichen Interesses an einer effektiven Strafrechtspflege nur ausnahmsweise, unter engen Voraussetzungen eingegriffen werden darf (Sonderopfer). Die Verfolgung zivilrechtlicher Interessen von ”Verletzten“ gegen den einer Verletzung Beschuldigten gibt grundsätzlich keinen Rechtstitel für informatorische Eingriffe in die Rechte unbeteiligter Dritter48. Dies gilt im Grundsatz auch noch, wenn eine juristische Person Verfallsbeteiligte nach § 442 StPO oder Nebenbeteiligte nach § 444 StPO werden kann. Hier steht freilich zu erwarten, daß Teile der Praxis geneigt sein werden, die betroffene juristische Person – in Anlehnung beispielsweise an die Grundsätze für die Durchführung von Zwangsmaßnahmen gegenüber Organen von juristischen Personen49 – ”wie“ einen Beschuldigten zu behandeln. Den Betroffenen ist gegen eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft auch dann die Möglichkeit der Anrufung des Richters eröffnet, wenn sich die Maßnahme bereits erledigt hat, also sogenannte prozessuale Überholung eingetreten ist. Denn dem anzunehmenden Anspruch auf effektiven Rechtsschutz ist nur dann Genüge getan, wenn auch die Möglichkeit der (nachträglichen) Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Entscheidung eröffnet ist.
__________ 44 Stratenwerth, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2000, § 10 Rz. 104. Eingehende methodenkritische Darlegungen zur Validität historischer bzw. genetischer Auslegung bei Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S. 44 ff. 45 LG Köln StraFo 2005, 78 (79); vgl. auch LG Stade StV 2001, 159 (160). 46 Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 3. Aufl. 2002, Rz. 114 f. 47 Groß/Fünfsinn NStZ 1992, 105 (112). 48 Otto GA 1989, 289 (304). 49 Vgl. für das Recht der Durchsuchung etwa LR-Schäfer, 25. Aufl. 2004, § 103 Rz. 5.
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Rechtsschutz gegen die Akteneinsicht des ”Verletzten“
Das Bundesverfassungsgericht hat dies beispielhaft für den Rechtsschutz gegen sogenannte erledigte strafprozessuale Grundrechtseingriffe entschieden und die Beschwerde auch gegen solche Maßnahmen in breitem Umfang zugelassen50. Das Gericht hat seine Entscheidung dabei bekanntlich auf zwei Argumente gestützt: Art. 19 Abs. 4 GG fordere zwar nicht die Einrichtung eines mehrstufigen gerichtlichen Instanzenzuges, verlange aber, falls das Prozeßrecht eine weitere gerichtliche Instanz vorsehe, daß dem Bürger dann auch effektiver Rechtsschutz gewährt wird51. Bei sog. „tiefgreifenden Grundrechtseingriffen“, die der Betroffene regelmäßig erst nach deren Vollzug angreifen kann, geht das Gericht von einem zu typisierenden Rechtsschutzinteresse aus, ohne daß ein konkret fortwirkender Nachteil aufzuweisen wäre. Der offene Wortlaut des § 406e Abs. 4 S. 2 StPO steht einer Berücksichtigung der vom Verfassungsgericht formulierten Grundsätze auch in diesem Bereich nicht entgegen. Das Gesuch auf richterliche Entscheidung kann demnach nicht bereits mit Hinweis auf ein fehlendes Rechtsschutzbedürfnis zurückgewiesen werden, falls ein Betroffener nach vollzogener Gewährung der Akteinsicht die Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit begehrt. Ob es zur Begründung allerdings tatsächlich eines Rückgriffs auf die wenig klare Figur des „tiefgreifenden Grundrechtseingriffs“ bedarf, muß an dieser Stelle nicht vertieft werden. Jedenfalls liegt dem nicht besonders randscharfen Begriff die zutreffende Vorstellung zugrunde, daß eine materielle Rechtsposition auch im Fall ihrer tatsächlichen Verletzung nicht endet, sondern unter anderem (symbolische) Bestätigung durch ein fortwirkendes Recht auf Feststellung der Verletzung, also der Rechtswidrigkeit des Eingriffs, erfahren kann. Neben der Notwendigkeit nachträglicher verfahrensmäßiger Garantie besteht bisweilen auch das Bedürfnis nach vorbeugendem Rechtsschutz: Nach § 406e Abs. 4 S. 2 StPO analog kann der von einer Akteneinsicht Betroffene bereits zur Sicherung seines Anhörungsrechts vorbeugenden gerichtlichen Rechtsschutz beantragen. Vertritt nämlich die Staatsanwaltschaft beispielsweise die Auffassung, sie sei bereits zur Anhörung des Betroffenen gar nicht verpflichtet, weil dessen Rechte durch eine Einsicht an den ”Verletzten“ nicht berührt würden, muß eine Sicherung des Anhörungsrechts durch vorbeugenden gerichtlichen Rechtsschutz möglich sein. Entsprechend § 406e Abs. 2 S. 2 StPO ist bei der Entscheidung über die Gewährung der Akteneinsicht von Staatsanwaltschaft und Gericht nicht zuletzt auch zu berücksichtigen, daß die Akteneinsicht zugunsten des ”Ver-
__________ 50 BVerfGE 96, 27 ff. 51 Die Schwäche dieser Argumentation liegt einigermaßen klar auf der Hand: Nimmt der Gesetzgeber eine Instanz, entfällt damit auch der Anspruch auf gerichtliche Feststellung des geschehenen richterlichen Unrechts. Zutreffende Kritik bei Amelung, BGH-FS IV, 911 (919).
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Rochus Wallau
letzten“ das gehörige Verfahren selbst beeinträchtigen kann. Dabei geht es durchaus auch um Rechtsschutz im hier verstandenen Sinn, nicht selten allerdings um die Verwirklichung von Verfahrensnormen, die in erster Linie dem objektiven Recht angehören:52 Der Untersuchungszweck erscheint i. S. des 2. Halbsatzes der Vorschrift gefährdet, wenn eine Beeinträchtigung der Sachaufklärung durch eine Akteneinsicht an den ”Verletzten“ nicht ausgeschlossen werden kann53. Der Anschein einer Gefährdung ist grundsätzlich bereits dann anzunehmen, wenn die Kenntnis des ”Verletzten“ vom Akteninhalt Auswirkungen auf den Wahrheitsgehalt und die Zuverlässigkeit seine zeugenschaftlichen Bekundungen haben könnte. Eine Akteneinsicht zugunsten des ”Verletzten“, der als Zeuge in Betracht kommt, wird daher bis zur Vernehmung in der Hauptverhandlung regelmäßig ausscheiden54. Keinesfalls ist weitergehend etwa notwendig, daß Anhaltspunkte für die Annahme vorliegen, ein Zeuge solle durch die Akteneinsicht sachfremd für die Hauptverhandlung ”präpariert“ werden55: Für die Annahme der Gefährdung eines Guts muß bereits die Möglichkeit seiner Beeinträchtigung ausreichen, wenn das geschützte Gut von besonders hoher Bedeutung ist. Der Sinn und Zweck von § 58 Abs. 1 StPO liegt darin, bereits die abstrakte Möglichkeit einer Beeinträchtigung der prozessualen Wahrheitsfindung durch aktenkundige Zeugen auszuschließen. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, daß dieses im allgemeinen Interesse liegende Gewährleistungsniveau im Bereich von § 406e StPO durch ein gegenläufiges individuelles Interesse auf Akteneinsicht abgesenkt werden könnte: Die Forderung nach ”Anhaltspunkten“ für eine konkrete Gefährdung des Untersuchungszwecks ordnet der Sache nach einen – allenfalls – Nebenzweck des Strafverfahrens über dessen rechtsstaatliche Kernaufgabe. Dem individuellen Verletzteninteresse kommt aber kein Vorrang vor dem hohen Gut der strafprozessualen Wahrheitsfindung zu56. Nicht anders als im Fall einer Verletzung von § 58 Abs. 1 StPO findet auch eine dieses Gewährleistungsniveau mißachtende Gewährung der Akteneinsicht per se keine revisible Fortwirkung57. Freilich sind in diesem Bereich ebenfalls Fälle denkbar, in denen das Gericht bei der Vernehmung eines
__________ 52 Zum Aspekt der Verfahrensverzögerung durch Akteneinsicht LR-Hilger, 25. Aufl. 2001, § 406e Rz. 14. 53 Vgl. nur KK-Engelhardt, StPO 5. Aufl. 2004, § 406e Rz. 3. 54 Vgl. nur HK-Kurth, StPO, 2. Aufl. 1999, § 406e Rz. 10. LR-Hilger, 25. Aufl. 2001, § 406e Rz. 13 will eine Ausnahme machen für den Fall, daß die Aussage des Verletzten von untergeordneter Bedeutung ist oder die Wahrheitsfindung aus anderen Gründen nicht wesentlich beeinflußt werden kann. Dafür HK-Kurth, StPO, 2. Aufl. 1999, § 406e Rz. 10; dagegen KMR-Stöckel, 25. Erg. lfg. Oktober 2000, § 406e Rz. 15. 55 So OLG Düsseldorf StV 1991, 202; LG Bielefeld wistra 1995, 120. 56 KMR-Stöckel, 25. Erg. lfg. Oktober 2000, § 406e Rz. 17. 57 Zur mangelnden Revisibilität eines Verstoßes gegen § 58 Abs. 1 StPO LR-Dahs, 24. Aufl., § 58 Rz. 18; Dahs/Dahs, Die Revision im Strafprozeß, 6. Aufl., Rz. 272 jew. m. w. N.
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Rechtsschutz gegen die Akteneinsicht des ”Verletzten“
”aktenkundigen“ Zeugen und der Würdigung seiner Aussage zugleich andere Verfahrensvorschriften verletzt und dies dann die Revision begründet58.
III. Rechtsschutz gegen den Richter § 406e Abs. 4 S. 3 StPO erklärt die Entscheidung des Vorsitzenden für unanfechtbar. Die ganz überwiegende Auffassung nimmt insbesondere unter Berufung auf angebliche Belegstellen für den ”Willen des Gesetzgebers“ an, daß die richterliche Entscheidung in diesem Bereich generell nicht anfechtbar sei, und dies sowohl für die Einsicht gewährende als auch für die Einsicht versagende Entscheidung des Richters gelte59. Die Belegstellen, die zugunsten eines Ausschlusses der Beschwerdemöglichkeit auch des von einer Akteneinsicht Betroffenen angeführt werden, erscheinen bei genauer Betrachtung allerdings mindestens dunkel60. Dieser Befund überrascht zumindest deswegen, weil dem Beschuldigten vor der gesetzlichen Ausgestaltung des Akteneinsichtsrechts nach allgemeinen Regeln die Beschwerdemöglichkeit gegen eine Akteneinsichtsgewährung an Nichtverfahrensbeteiligte offenstand, es also nahegelegen hätte, daß der Gesetzgeber eine gewollte Änderung des status quo anzeigte61. Auch der Wortlaut und die Systematik – §§ 403 ff. StPO handeln von den Rechten des ”Verletzten“ – legen eher nahe, daß sich der Ausschluß des Beschwerderechts allein auf die (teilweise) Zurückweisung eines Gesuchs des ”Verletzten“ auf Gewährung der Akteneinsicht nach § 406e Abs. 4 S. 1 StPO bezieht62. Neben diesen Hinweisen lassen sich jedoch auch materielle Erwägungen für die Annahme eines Beschwerderechts ins Feld führen: Dem Grunde nach, im vorbreitenden Verfahren und nach rechtskräftigem Abschluß der Sache, ist zur Entscheidung über die Gewährung der Akteneinsicht die Staatsanwaltschaft berufen, § 406e Abs. 4 S. 1 1. HS StPO. Gerade darin, daß diese Entscheidung also auch bzw. in erster Linie von der Staatsanwaltschaft ausgefüllt werden kann, wird deren geringe richterliche Substanz deutlich. Bereits deswegen kann die ”Ansonsten-Zuständigkeit“ des Vorsitzenden nicht die einer Kontroll- oder distanzierten Entscheidungsinstanz sein, einer solchen also auch nicht entzogen werden. Der Vorsitzende wird in diesem Bereich – ebenso wie die Staatsanwaltschaft – erstentscheidend und rechtsgestaltend tätig, weshalb gegen seine Entscheidung zugunsten des Beschuldigten oder eines
__________ 58 A. A. SK-Velten, StPO, 35. Aufbau-Lfg. Januar 2004, § 406e Rz. 13, die von einem „Verwertungsverbot hinsichtlich der Zeugenaussage“ ausgeht; zutreffend hiergegen KMR-Stöckel, 25. Erg. lfg. Oktober 2000, § 406e Rz. 18. 59 KMR-Stöckel, 25. Erg. lfg. Oktober 2000, § 406e Rz. 23; Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. 2005, § 406e Rz. 11. 60 Vgl. BT-Dr 10/5305, S. 18, 33. 61 Schlothauer StV 1987,356 (359). 62 Darauf weisen zutreffend Schlothauer StV 1987, 356 (359 f.) und Otto GA 1989, 289 (307) hin. A. A. BGH NStZ 1991, 95 („eindeutiger Wortlaut“).
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Dritten das Recht der Beschwerde nach § 304 StPO bestehen muß. Es wäre axiologisch auch mindestens ungereimt, daß die Strafprozeßordnung gegen richterlich entschiedene zwangsweise Datenerhebungen im öffentlichen Interesse, etwa Beschlagnahmen oder Durchsuchungen, eine Beschwerdemöglichkeit eröffnet, gegen eine richterlich entschiedene zwangsweise Datenübertragung in privatem Interesse allerdings keine Anfechtungsmöglichkeit vorsähe. Normativ völlig anders gestaltet sich die Situation für den ”Verletzten“, dem das Gesetz nur ein ”unvollkommenes“ subjektiv-öffentliches Recht auf Akteneinsicht verleiht. Dem ”Verletzten“ ist nämlich keine unbedingte Rechtskreiserweiterung durch Akteneinsicht und damit auch kein richterlicher Rechtsschutz gegen die Verwerfung seines Interesses gewährleistet63.
IV. Sonstige Fortwirkungen Subjektive Rechte können für den Fall ihrer Verletzung in vielfältiger Form auch in anderen Rechtsbereichen fortwirken. Das Bedürfnis nach einer solchen Fortwirkung der beeinträchtigten Rechte ist groß: Die Erfahrung lehrt, daß rechtswidrig erlangte Informationen aus Ermittlungsakten beispielsweise nicht nur in Zivilprozessen Verwendung finden, sondern bisweilen zur Anschwärzung im privaten Umfeld dienstbar gemacht oder gezielt den Medien zugespielt werden. Eine rechtswidrige und deswegen unbefugte Gewährung der Akteneinsicht durch den Staatsanwalt oder Richter kann unter Umständen strafbarkeitsbegründend i. S. von §§ 203, 353 b StGB sein. An eine strafrechtliche Garantie ist zu denken insbesondere in Fällen handgreiflich falscher oder offensichtlich fehlender Abwägungsentscheidungen sowie grundloser Nichtgewährung rechtlichen Gehörs. Solange diese Taten noch nicht beendet sind, kann sich selbstverständlich auch ein Außenstehender am jeweiligen Unrecht noch beteiligen64. Darüber hinausgehend begründet ein Verstoß gegen die Zweckbindung der erhaltenen Informationen durch den ”Verletzten“ in aller Regel keine eigenständige „informationelle Untreue“65 im Sinne von § 203 StGB. Selbst wenn der ”Verletzte“ im Einzelfall tauglicher Täter i. S. der Vorschrift sein sollte, so erfolgt doch die Kenntnis vom Akteninhalt regelmäßig nicht über die institutionalisierte Rolle i. S. von § 203 Abs. 1 bzw. 266.
__________ 63 64 65 66
Insoweit richtig SK-Velten, StPO, 35. Aufbau-Lfg. Januar 2004, § 406e Rz. 20. Vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 51. Aufl. 2004, § 353 Rz. 14. Treffende Bezeichnung der Vorschrift bei MüKo-Cierniak, StGB, 2003, § 203 Rz. 5. Dembowski in: Roßnagel, Handbuch Datenschutzrecht, 2003, 1409, nimmt darüber hinausgehend noch an, in bestimmten Fällen könnte eine selbständige Strafbarkeit des Verletztenbeistands nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB wegen Verletzung der Zweckbindung nach §§ 406e Abs. 5, 477 Abs. 5 StPO in Frage kommen.
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Rechtsschutz gegen die Akteneinsicht des ”Verletzten“
Die rechtswidrige Gewährung der Akteneinsicht an ”Verletzte“ kann in bestimmten Fällen auch eine staatshaftungsrechtliche Verpflichtung zum Schadensersatz nach § 839 BGB, Art. 34 GG nach sich ziehen67. Deren Voraussetzungen richten sich nach den allgemeinen Regeln, insbesondere können etwa besondere Restriktionen bei der Annahme drittbezogener Amtspflichten von Staatsanwälten68 in diesem Zusammenhang keine Geltung beanspruchen. Denn in Rede steht nicht die in allgemeinem Interesse bestehende Verfolgungspflicht, sondern die eindeutig drittschützende Pflicht zur sachgerechten Abwägung kollidierender Interessen. Verstöße gegen die Zweckbindungspflicht der §§ 406e Abs. 6, 477 Abs. 5 StPO können schließlich auch im Rahmen von Zivilprozessen Bedeutung erlangen. Wer beispielsweise eine ablehnende Entscheidung der Staatsanwaltschaft zur Akteneinsicht durch den Vorwand zu umgehen versucht, ein Klageerzwingungsverfahren betreiben zu wollen, mißbraucht nicht nur sein Recht auf Akteneinsicht, sondern verletzt auch das Recht des Beschuldigten auf informationelle Selbstbestimmung. Die Zivilprozeßordnung kann die Zweckbindung der Einsichtsgewährung nach §§ 406e Abs. 6, 477 Abs. 5 StPO nicht ignorieren. Insbesondere kann nicht über eine ”Abwägung“ das „allgemeine Interesse an einer funktionstüchtigen Zivilrechtspflege“ gegen das verletzte Recht in die Waagschale geworfen werden69. Denn damit würde die bloß dienende Funktion des Zivilverfahrens in ihr Gegenteil verkehrt. Solche Fälle sind im Ergebnis genauso zu behandeln wie andere Formen der Gewinnung von Tatsachenmaterial bzw. Beweismitteln unter Verletzung verfassungskräftiger subjektiver Rechte anderer. Ob man in solchen Fällen bereits den rechtswidrig erlangten Tatsachenvortrag für prozessual nicht verwertbar70 hält oder – mit der wohl überwiegenden Auffassung – zwar
__________ 67 Daneben ist gegebenenfalls auch an eine Haftung der Behörde entsprechend § 7 BDSG zu denken. 68 Dazu Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, S. 67 f. Ausführlich zum Problem Krieger, Die Haftung des Staats nach § 839 BGB, Art. 34 GG für Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren, 2000, 116 ff. 69 BVerfG NJW 2002, 3619 (3621 ff.): besondere, ausnahmsweise Gründe des Einzelfalls sind notwendig, um beispielsweise die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts für die Verfolgung zivilrechtlicher Zwecke zu rechtfertigen. Kritisch hierzu etwa Musielak-Foerste, ZPO, 4. Aufl. 2005, § 286 Rz. 7 f. m. w. N. der anders pointierten fachgerichtlichen Rspr. 70 OLG Karlsruhe NJW 2000, 1577 (1578) ganz im Sinne der Idee einer Rechtsfortwirkung: „Das aus der Verfassung abgeleitete Beweisverwertungsverbot ist Ausprägung eines allgemeinen Rechtsprinzips, wonach die Verwertung einer rechtswidrig herbeigeführten Lage unzulässig ist. Das Verwertungsverbot stellt auch eine Sanktion gegenüber einer rechtswidrigen Handlung dar. Nach seinem Schutzzweck und seiner Funktion gilt es nicht nur für die Frage, ob Kenntnisse, die eine Partei unter Verletzung des grundrechtlich geschützten Persönlichkeitsrechts gewonnen hat, zum Gegenstand einer Beweisaufnahme gemacht werden dürfen, sondern bereits für die Frage, ob von der Partei beigebrachter Tatsachenstoff berücksichtigt werden darf.“
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nicht von einem solchen Behauptungs-71, wohl aber von einem Beweisverwertungsverbot mit der Folge ausgeht, daß der betroffene Gegner den rechtswidrig erlangten Tatsachenvortrag bestreiten darf72, ist eine Frage zivilprozessualer Technik.
V. Schlussbemerkung Damit sind einige Aspekte des Rechtsschutzes gegen die Akteneinsicht des ”Verletzten“ in groben Strichen skizziert. Ein Rechtsbereich, in dem angesichts der Gesetzeslage die Hauptlast der Entscheidungen auch weiterhin allein von der praktischen Vernunft der rechtlichen Akteure zu tragen sein wird. Hans Dahs hat solche deswegen „offenen Rechtsfragen“ immer auch als Chance begriffen und ermuntert, auf die Rechtsentwicklung Einfluß zu nehmen und dabei „jedem Versuch, einer Rechtsverkürzung oder Rechtseinengung in der Praxis Widerstand zu leisten.“73 Dazu soll auch hier, in Ehrung des Jubilars, ein bescheidener Beitrag erbracht worden sein.
__________ 71 Ablehnend Zöller-Greger, ZPO, 25. Aufl. 2005, § 138 Rz. 3; Heinemann MDR 2001, 137 (142). 72 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 63. Aufl. 2005, Übers § 371 Rz. 13; Thomas/Putzo, ZPO, 26. Aufl. 2004, § 286 Rz. 7 ff. 73 Dahs, Handbuch des Strafverfahrens, 6. Aufl. 1999, Rz. 25.
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Deutsches und Europäisches Strafrecht – Fragen und Widersprüche – Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Konsequenzen des Europäischen Verfassungsvertrages am Beispiel des Europäischen Haftbefehls
III. Mindestvorschriften für Strafverfahren und materielles Recht IV. Ausblick
I. Einleitung Mit großer Mehrheit hat das Europäische Parlament am 12. 1. 2005 den Europäischen Verfassungsvertrag1 angenommen. 500 Abgeordnete stimmten für den Antrag, 137 dagegen, 40 Parlamentarier enthielten sich. Die meisten Verfassungsgegner kommen aus den Reihen der Euroskeptiker, der extremen Rechten und der Kommunisten2. Aber man offenbart keine verfassungsfeindliche Gesinnung, wenn man zu der Feststellung kommt, dass der Vertrag über eine Verfassung für Europa hinsichtlich seiner Regelungen zum Straf- und Strafverfahrensrecht in einschneidender Weise Rechtsverluste und Rückschritte im geltenden nationalen Recht bewirkt. Aus Sicht der „großen“ europäischen Politik mögen diese Regelungen wenig bedeutsam und auf europäischer Ebene auch kaum umstritten sein3. Die im Verfassungsvertrag vorgesehenen Eingriffe werden – soweit es zu einer Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten kommt – jedoch zu drastischen Veränderungen des deutschen Straf- und Strafverfahrensrechts führen. In einem Interview der Süddeutschen Zeitung vom 19. 8. 2003 wurde von dem Präsidenten des BGH und ehemaligen Richter am EuGH Günter Hirsch die Frage: „Wo gehobelt wird, fallen Späne – und die Späne sind in diesem Falle die Grundrechte. Ist das der Preis für die europäische Einigung?“ wie folgt beantwortet: „Ein bisschen ist es so. Wir befinden uns gerade in einer Umstellungsphase. Wenn wir solche Schwierigkeiten nicht in Kauf nehmen, wenn wir also nicht in gewissem Sinn „Hobeln“, werden wir das Ziel nicht erreichen. Das Ziel ist aus meiner Sicht ein Europa, in dem es in den Rechtsbereichen mit grenzüberschreitender Wirkung keine Behinderung mehr gibt. Wir in Deutschland haben ein sehr ausgefeiltes
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ABl. C 310/1 v. 16. 12. 2004. Vgl. Nachrichten aus Brüssel, Bundesrechtsanwaltskammer, Ausgabe 1/2005 v. 13. 1. 2005. Vgl. Weigend, ZStW 116 (2004), 275.
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System des Rechtsschutzes. Wir werden unseren Standard so nicht ganz aufrecht erhalten können, andere Länder werden den nicht übernehmen. Man wird nicht auf Dauer zwei Rechtsschutz-Systeme etablieren können: Das eine für die nationalen Fälle, ausgefeilt und kompliziert, das andere für europäische Fälle ein wenig simpler.“ Nimmt man die Antwort des BGHPräsidenten beim Wort, wird die Europäisierung des Straf- und Strafprozessrechts nicht nur Auswirkungen auf Verfahren mit transnationalen Bezügen haben, sondern das gesamte Strafrecht beeinflussen. Zwar tritt der Vertrag über die Verfassung für Europa erst in Kraft, wenn er von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden ist. In einigen Mitgliedstaaten sind hierfür Volksentscheide mit ungewissem Ausgang erforderlich. Aber selbst wenn die Europäische Verfassung scheitern sollte, ändert dies nichts an dem Faktum, dass ihr wesentlicher Inhalt – soweit das Straf- und Strafprozessrecht betroffen ist – bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt durch die Europäischen Organe teilweise durch Rahmenbeschlüsse schon umgesetzt wurde oder im Begriff ist, umgesetzt zu werden (die Dinge sind ständig im Fluss. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit einigen Aspekten der Situation, die wir Anfang Februar 2005 vorfinden).
II. Konsequenzen des Europäischen Verfassungsvertrages am Beispiel des Europäischen Haftbefehls Das markanteste Beispiel dürfte das am 23. 8. 2004 in Kraft getretene Europäische Haftbefehlsgesetz (EuHbG) vom 21. 7. 20044 darstellen, das in Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. 6. 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten5 (RbEuHb) erging6. Unter Inaussichtstellung des – im Schrifttum bereits in den Stand eines „supranationalen Ordnungskonzepts“7 gehobenen – Ziels, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, wird das Auslieferungsrecht zwischen den Mitgliedstaaten abgeschafft und durch ein System der Übergabe zwischen den Justizbehörden ersetzt8. Man sollte annehmen, dass der Europäische Haftbefehl nur den Endpunkt eines erfolgreich harmonisierten Straf- und Strafprozessrechts in Europa markieren kann und nicht – so aber die Auffassung der Autoren des RbEuHb – „die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als „Eckstein“ der
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BGBl. I, 1748; zum Gesetzgebungsverfahren vgl. Ahlbrecht, StV 2005, 41 f. ABl. L 190 v. 18. 7. 2002. Eingehend zum RbEuHb sowie dem EuHbG Wehnert, StraFo 2003, 356 ff.; vgl. ferner Hackner/Lagodny/Schomburg/Wolf, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 2003, Rz. 92 ff.; v. Heintschel-Heinegg/Rohlff, GA 2003, 44 ff.; Zeder, ÖAnwBl. 2003, 376 ff.; Seitz, NStZ 2004, 546 ff.; siehe jüngst auch Ahlbrecht, StV 2005, 40 ff. Vgl. Vogel, GA 2002, 521. Vgl. RbEuHB, Erwägungsgrund 5.
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justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung“9 manifestieren soll. Diese Vorgehensweise hat das völlig falsche Signal für die Europäischen Integrationsbemühungen gesetzt, da ausgerechnet in den sensibelsten, die Grundrechte des Bürgers am stärksten betreffenden Bereich eingegriffen wurde. Bei dem RbEuHb handelt es sich um ein durch den Vertrag von Amsterdam neu eingeführtes Instrument innerhalb der intergouvernemental ausgestalteten sogenannten „3. Säule“ der EU, nämlich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen10, das – seinem Charakter als Rahmenbeschluss nach Art. 34 Abs. 2 lit. b) EUV entsprechend – für die Mitgliedstaaten verbindlich ist und wonach im Hinblick auf das zu erreichende Ziel lediglich die Wahl der Form und Mittel zur Umsetzung den Mitgliedstaaten überlassen bleibt11. Der Europäische Verfassungsvertrag sieht in Art. III-275 Abs. 2 die Ablösung des Rahmenbeschlusses durch Rahmengesetze für die polizeiliche Zusammenarbeit im Bereich der Prävention oder zur Aufdeckung von Straftaten vor. Nach dem Verfassungsvertrag geht die Rechtsetzungskompetenz für den Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auf den Rat über. Der RbEuHb stellt erstmals das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung12 als „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in den Vordergrund und hebt darauf ab, dass „Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls“ ein „hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten“13 sei. Nach diesem – treffend auch als „Turboprinzip“14 bezeichneten – Schema wurden in kürzester Zeit von der Europäischen Kommission weitere Grünbücher vorgelegt, die schließlich zu Rahmenbeschlüssen des Rates15 führten, die von den Mitgliedstaaten umzusetzen sind. In dem Verfassungsvertrag soll das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen nunmehr mit Verfassungsrang ausgestattet werden. Um einen Raum
__________ 9 Vgl. RbEuHB, Erwägungsgrund 6. 10 Eingehend dazu Röben, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Band I, Stand: September 2004, vor Art. 29 EUV, Rz. 1 ff.; Dannecker, in: Rengeling/ Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2003, § 38, Rz. 142 ff. 11 Allgemein zur Handlungsform des Rahmenbeschlusses Röben, a. a. O., Art. 34 EUV, Rz. 13 ff.; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 466; vgl. auch Vogel, GA 2003, 320 ff.; zur Diskussion um die demokratische Legitimation von Rahmenbeschlüssen (Stichwort: gubernative Rechtsetzung) vgl. Lüderssen, GA 2003, 71 ff.; Schünemann, GA 2004, 200 f. 12 Hierzu eingehend Vogel, in: Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl., Bd. I (IRG-Kommentar), Vorb. § 1, Rz. 171 ff.; Gleß, ZStW 116 (2004), 353 ff. 13 Vgl. RbEuHb, Erwägungsgrund 10. 14 Vgl. Schünemann, GA 2004, 202. 15 Vgl. zu Beispielen Vogel, JZ 2004, 836, Fn. 96; siehe auch Zypries, StraFo 2004, 224.
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der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu verwirklichen, werden weitreichende Eingriffe in die staatliche Souveränität und die verfassungsrechtlich garantierten Rechte des Einzelnen vorgenommen. Die Union wird darauf verpflichtet, ein hohes Maß an Sicherheit durch Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Kriminalität sowie durch die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und erforderlichenfalls durch die Angleichung der strafrechtlichen Bestimmungen zu gewährleisten (Art. III-257 Abs. 3 Europäischer Verfassungsvertrag). Die Kompetenz zur Harmonisierung des Straf- und Strafprozessrechts geht uferlos weit und trägt den verfassungsmäßig garantierten und in der EMRK auf europäischer Ebene vereinbarten Rechten des Beschuldigten nicht hinreichend Rechnung. Der Verfassungsgrundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seine Wurzeln in der Vergemeinschaftung der Regelungen des Warenverkehrs hat16 und dort seine Berechtigung haben mag, ist dem Straf- und Strafverfahrensrecht nicht überstülpbar;17 er führt zwangsläufig zu einer Herabsetzung der Grund- und Verfahrensrechte auf dem jeweils niedrigsten Niveau im Querschnitt aller Mitgliedstaaten („Prinzip der maximalen Punitivität“)18. Zwar wird diese Einschätzung von Vogel19 kritisiert und als ein schiefes Bild insoweit bewertet, als es lediglich darum gehe, die Ausübung einer einmal begründeten Strafgerichtsbarkeit – möge sie nun punitiv oder permissiv sein – auch dann zu ermöglichen, wenn sich der ihr Unterworfene nicht in ihrem unmittelbaren territorialen Zugriffsbereich befinde. Zudem werde vergessen, dass gegenseitige Anerkennung auch heiße, dem Verfolgten günstige Entscheidungen unionsweit anzuerkennen. Diese Betrachtungsweise verkennt jedoch, dass das im Verfassungsvertrag erklärte Ziel der gegenseitigen Anerkennung gerade nicht die Liberalisierung im strafrechtlichen Bereich, sondern – ausschließlich – die Effektivierung des Strafrechts auf europäischer Ebene unter dem alles beherrschenden Sicherheitsprimat anstrebt. Art. III-257 Abs. 3 lautet: „Die Union wirkt darauf hin, durch Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität sowie von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, zur Koordinierung und Zusammenarbeit von Polizeibehörden und Organen der Strafrechtspflege und den anderen zuständigen Behörden sowie durch die gegenseitige Anerkennung strafrechtlichter Entscheidungen und erforderlichenfalls durch die Angleichung der strafrechtlichen Bestimmungen ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten.“
__________ 16 Zur Entwicklung des Prinzips durch den EuGH vgl. Urt. v. 11. 7. 1974 – Rs. 8/74, Slg. 1974, 840 (Dassonville); Urt. v. 20. 2. 1979 – Rs 120/78, Slg. 1979, 651 ff. (Cassis de Dijon); vgl. ferner Gleß, ZStW 116 (2004), 353 f. 17 Zutreffend statt vieler Satzger, StV 2003, 141 f. 18 Vgl. Schünemann, ZRP 2003, 187 („Totengräber des fair trial“); ders., StV 2003, 119 f. („Das läuft eindeutig auf die europaweite Herrschaft des jeweils punitivsten Strafrechts und damit auf die Schaffung eines „Raumes der Unfreiheit und der Unsicherheit“ hinaus!“); ders., GA 2004, 202; vermittelnd Gleß, ZStW 116 (2004), 353 ff.; dies., StV 2004, 683. 19 Vgl. ders., ZStW 116 (2004), 411.
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Im Abschnitt 4 „Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“ heißt es an hervorgehobener Stelle in Art. III-270 Abs. 1: „Die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und umfasst die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in den in Abs. 2 und Art. III-271 genannten Bereichen.“
Sodann heißt es in Abs. 2 der Vorschrift: „Soweit dies zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension erforderlich ist, können durch europäische Rahmengesetze Mindestvorschriften festgelegt werden.“
Danach steht fest, dass die von Vogel angesprochene Möglichkeit der Anerkennung auch günstiger Entscheidungen sich lediglich auf den Bereich ne bis in idem20 konzentrieren dürfte, im übrigen aber – insbesondere was die angestrebte Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis anlangt – sich rechtsbeschränkend für den Betroffenen auswirken wird. Entgegen der Annahme des Verfassungsvertrags (Art. I-42 Abs. 1 lit. b)) trägt die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen in Strafsachen nicht zur Förderung des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei, vielmehr setzt die gegenseitige Anerkennung mehr oder weniger blindes Vertrauen voraus, eine in der Justiz allgemein und im Europäischen Strafrecht im besonderen ganz und gar deplatzierte Geisteshaltung. Das Europäische Haftbefehlsgesetz ist ein anschauliches Beispiel dafür, wohin es führt, wenn infolge auf Vertrauen beruhender gegenseitiger Anerkennung – ohne Eintritt in die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit durch den Vollstreckungsstaat – einem Auslieferungsersuchen stattgegeben und der Betroffene auf ungewissen Rechtsschutz im Anordnungsstaat verwiesen wird. Der ohnehin kärglich ausgestaltete Anspruch auf rechtliches Gehör im traditionellen Auslieferungsverfahren erfährt hierdurch eine weitere erhebliche Einschränkung. Wurde schon nach altem Recht der Schuldverdacht vom Vollstreckungsstaat nur in Ausnahmefällen nachgeprüft (vgl. § 10 Abs. 2 IRG), verbietet das Europäische Haftbefehlsgesetz nun gar die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit in Fällen der sogenannten Positivliste. Das dem Jubilar stets ein besonderes Anliegen gewesene rechtliche Gehör im Strafprozess ist damit entgegen dessen Hoffnungen und Erwartungen, wie er sie bereits 1965 in seiner Arbeit „Das rechtliche Gehör im Strafprozess“,
__________ 20 Zur insoweit „strafbegrenzenden Seite“ des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung ausdrücklich Vogel/Norouzi, JuS 2003, 1062; allgemein zur Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem in der Union Böse, GA 2003, 744 f.; Appl, in: GS Vogler, 2004, S. 109 ff.; vgl. aus der Rechtsprechung EuGH Urt. v. 11. 2. 2003 – verb. Rs. C-385/01 u. C-187/01, Slg. I-2003, 1345 (Gözütok/Brügge).
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die aus der Dissertation des Verfassers entstanden war, skizziert hat, weiter eingeschränkt worden. Im Vorwort führt Dahs dort aus: „Eine umfassende Anpassung der Strafprozessordnung an die Gehörmaxime steht noch aus. Sie wird in der Weise erfolgen müssen, dass jede Bestimmung in allen ihren Konsequenzen darauf überprüft wird, ob sie dem Verfassungsbefehl des Art. 103 Abs. 1 GG in vollem Umfang genügt. Diese Aufgabe bleibt der großen Strafprozessreform vorbehalten.“
Angesichts des Umstandes, dass dem Betroffenen eines europäischen Auslieferungsersuchens nach dem EuHbG kein Anspruch auf doppelte notwendige Verteidigung zuerkannt wurde21, die Bewilligungsentscheidung – entsprechend der bislang h. M.22 – nicht anfechtbar ist (klarstellend nunmehr § 74b IRG)23 und im Zulässigkeitsverfahren die Einwirkungsmöglichkeiten der Verteidigung sich im Wesentlichen darauf beschränken, bei dem OLG auf die Herbeiführung einer Vorlage an den EuGH z. B. zur Klärung des Vorliegens einer unter die Positivliste fallenden Straftat (§ 1 Abs. 2 EuHBG i. V. m. Art. 35 Abs. 1 EUV) hinzuwirken, oder selbst das Bundesverfassungsgericht anzurufen, ist der Anspruch auf rechtliches Gehör im Vollstreckungsstaat auf ein Minimum begrenzt. Mit einiger Bitternis lässt sich daher feststellen, dass das erfolgreiche Einfordern der „Gehörmaxime“ eher beim HNO-Arzt als im Verfahren hinsichtlich der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu erwarten ist. Der Grundsatz „vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör“, eine Maxime, die bereits bei Griechen und Römern bekannt war24, wird durch das Verbot der Prüfung beiderseitiger Strafbarkeit mehr denn je zurückgedrängt. Die ersten OLG-Entscheidungen zum Europäischen Haftbefehl bestätigen diese ernüchternde Analyse: Das OLG Braunschweig hat mit Beschluss vom 3. 11. 200425 die Auslieferung auf einen spanischen Haftbefehl gegen einen deutschen Staatsbürger für zulässig erklärt. Gegen den deutschen Betroffenen ist im Sommer 2000 wegen des Verdachts des Handels mit illegalen
__________ 21 Vgl. zu dieser Forderung sowie der ihr zugrunde liegenden Motive stellvertretend Salditt, StV 2003, 136 f.: „Derweil stößt der Europäische Haftbefehl alle Prinzipien effizienter (früher) Strafverteidigung um. Der Verteidiger im Verfahrensstaat ist zwar mit der dortigen Praxis vertraut, kennt vielleicht sogar Teile der Akten, hat aber Schwierigkeiten in der Kommunikation mit dem ihm fremden Mandanten. Dessen soziale Integration im Heimatstaat wird durch die schnelle „Übergabe“ erschüttert. Der anwaltliche Berater in Deutschland, sofern er noch vor der „Übergabe“ beauftragt werden konnte, kennt zwar den „verlorenen“ Mandanten und die Angehörigen, aber weder die Mechanismen der fremden Strafjustiz noch die dort angefallenen Verfahrensvorgänge.“ 22 Vgl. zum bisherigen Streitstand Vogel, in: Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. A., Bd. I (IRG-Kommentar), Vorb. § 1, Rz. 134 ff.; die Verfassungswidrigkeit des § 74b IRG erwägend Ahlbrecht, a. a. O., 43. 23 Vgl. BT-Drs. 15/1718, 14. 24 Vgl. Dahs, a. a. O. 25 OLG Braunschweig Beschl. v. 3. 11. 2004 – Ausl. 5/04, NStZ-RR 2005, 18.
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Drogen ermittelt worden. Er wurde von den spanischen Behörden im Jahre 2000 gegen Zahlung eines Geldbetrages außer Landes gelassen. Ein spanisches Landgericht erließ am 26. 4. 2004 Haftbefehl, der Verfolgte wurde nach Art. 95 SDÜ zur Festnahme ausgeschrieben. Seine Festnahme in Deutschland erfolgte am 9. 9. 2004. Die GStA erbat bei den spanischen Justizbehörden die Übersendung einer Erklärung, wonach die Rücküberstellung des Verfolgten in sein Heimatland im Falle der rechtskräftigen Verurteilung und eines entsprechenden Antrags des Beschuldigten zugesichert werde. Daraufhin erklärte die den Haftbefehl ausstellende Strafkammer des spanischen Landgerichts, dass „dieses Gericht“ die Rücküberstellung garantiere. § 80 Abs. 1 IRG verlangt für die Auslieferung deutscher Staatsangehöriger das von dem OLG zu prüfende Zulässigkeitskriterium der garantierten Rücküberstellung zur Vollstreckung im Falle rechtskräftiger Verurteilung auf Antrag des Betroffenen. Das Erfordernis der Rücküberstellung entspricht dem Grundsatz der Resozialisierung26. Gemäß § 80 Abs. 1 IRG ist die Auslieferung eines Deutschen zum Zwecke der Strafverfolgung nur zulässig, wenn gesichert ist, dass der ersuchende Mitgliedstaat nach Verhängung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe oder sonstigen Sanktion anbieten wird, den Verfolgten auf seinen Wunsch zur Vollstreckung in den Geltungsbereich dieses Gesetzes zurück zu überstellen. Es hat den Anschein, dass das OLG Braunschweig sich mit der Einhaltung von Formalien begnügt, ihm die Garantie der Rücküberstellung dagegen weniger am Herzen liegt. In der Entscheidung heißt es (a. a. O. S. 19): „Dass das LG nach innerstaatlichem spanischem Recht zur Abgabe einer solchen Erklärung befugt ist, hat der Senat nicht überprüft, sondern als gegeben hingenommen. Es obliegt derjenigen Stelle, die eine solche Erklärung abgibt, selbst ihre Zuständigkeit zu prüfen. In dem auf äußerste Beschleunigung angelegten Auslieferungsverfahren kann es nicht dem Senat obliegen, zeitraubende Nachforschungen zu innerstaatlichen Befugnissen in dem ersuchenden Mitgliedstaat der Europäischen Union anzustellen. Insoweit sind sowohl das Europäische Auslieferungsübereinkommen als auch das Europäische Haftbefehlsgesetz von dem Gedanken des Vertrauens in die unbedingte Rechts- und Gesetzmäßigkeit des Justiz- und Verwaltungshandelns in allen Mitgliedstaaten geprägt.“
Das Vertrauen in die unbedingte Rechts- und Gesetzmäßigkeit des Justizund Verwaltungshandelns in allen Mitgliedstaaten verleitet das OLG Braunschweig dazu, die Qualität der von der spanischen Strafkammer abgegebenen Rücküberstellungsgarantie keinerlei Prüfung zu unterziehen. Ob diese Garantie letzten Endes trägt, ist dem Senat gleichgültig. Aus Gründen des „auf äußerste Beschleunigung angelegten“ Auslieferungsverfahrens verzichtet er darauf, nahe liegende Erkundigungen – etwa durch Anfrage bei Eurojust27 – einzuholen, und dies, obwohl das Erfordernis der Beschleunigung der
__________ 26 Vgl. BT-Drs. 15/1718, 16. 27 Zur Funktions- und Arbeitsweise von Eurojust vgl. Esser, GA 2004, 713 ff.
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Auslieferung (eines deutschen Staatsangehörigen) im konkreten Fall (Haftbefehlsantrag 4 Jahre nach Außerlandelassens gegen Zahlung eines Geldbetrages) eher fern liegt. § 73 S. 2 IRG, der europäische ordre public, war von dem OLG Braunschweig ebenfalls im Zulässigkeitsverfahren zu prüfen. Die Prüfung ist wie folgt ausgefallen: „Ob der Erlass eines Haftbefehls nach mehreren Jahren rechtmäßig war, bestimmt sich ausschließlich nach spanischem Recht und ist nicht im Auslieferungsverfahren von einem deutschen Gericht zu prüfen. Der Senat hat vielmehr allein die Tatsache zu prüfen, ob überhaupt ein Haftbefehl besteht. Der Erlass eines Haftbefehls erst längere Zeit nach Begehung der Tat muss sich ohnehin nicht von vornherein als widersprüchliches staatliches Verhalten darstellen, da im Laufe der Zeit sich häufig die Umstände so ändern, dass neue Reaktionen von staatlicher Seite erforderlich sind.“
Ob und gegebenenfalls welche Umstände sich im Laufe von 4 Jahren derart drastisch geändert haben, dass die Verhältnismäßigkeit des Erlasses eines Haftbefehls gewahrt war, hat der Senat nicht zu erforschen versucht. Alsdann prüft der Senat nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fallende Bewilligungshindernisse gemäß § 83b Nr. 1 IRG. Er führt aus, dass im Falle der Ermessensreduzierung der Regierung auf Null der Senat „genötigt“ wäre, die Auslieferung insgesamt für unzulässig zu erklären. Mit der Systematik des EuHbG dürften diese Ausführungen jedoch unvereinbar sein. Der nationale Gesetzgeber hat sich vielmehr für Beibehaltung des klassischen zweispurigen Auslieferungsverfahrens entschieden28. Die Bewilligungshindernisse des § 83b IRG spielen daher für die Zulässigkeit der Auslieferung keine Rolle und sind im Zulässigkeitsverfahren nicht zu prüfen29. Der Senat befasst sich trotzdem damit und verneint eine Ermessensreduzierung der Regierung auf Null mit der Begründung, die Staatsanwaltschaft habe „definitiv erklärt“, sie werde im Falle der Bewilligung der Auslieferung das von ihr geführte Verfahren nach § 154b StPO einstellen, so dass die Gefahr einer Doppelverfolgung nicht bestehe. Das Argument trägt jedoch nicht. Eine Ermessensreduktion der Regierung tritt nicht durch von der Staatsanwaltschaft abgegebene Erklärungen ein. Nach § 83b IRG kann die Bewilligung der Auslieferung unter anderem abgelehnt werden, wenn gegen den Verfolgten wegen der selben Tat, die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegt, im ersuchten Staat ermittelt wird. Ein fakultatives Bewilligungshindernis lag demnach vor. Die sich aufdrängende Verfahrenseinstellung gemäß § 154b StPO im Falle der Bewilligung der Auslieferung hat mit der Prüfung des Bewilligungshindernisses nichts zu tun.
__________ 28 Vgl. BT-Drs. 15/1718, 15. 29 So ausdrücklich OLG Stuttgart Beschl. v. 7. 9. 2004 – 3 Ausl. 80/04, NJW 2004, 3439.
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Der Beschluss des OLG Braunschweig vom 3. 11. 2004 ist nach alledem in mehrfacher Hinsicht beredter Beleg für die Bereitschaft zur unbedingten Vollstreckung Europäischer Haftbefehle auch gegen deutsche Staatsangehörige, obwohl von dem Bewilligungshindernis des § 83b IRG hätte Gebrauch gemacht werden können. Ein Verzicht auf das Vorliegen beiderseitiger Strafbarkeit in den Fällen der Positivliste (§ 81 Nr. 4 IRG, Art. 2 Abs. 2 RbEuHb) wirkt besonders bedrohlich in der Erkenntnis, dass in der Positivliste unterschiedliche, verschiedenen Rechtsordnungen entstammende juristische Konzepte zusammengefasst sind und es daher ausweislich der Begründung des Regierungsentwurfs zum EuHbG der Praxis vorbehalten bleiben müsse, die deutschen Strafbestände unter die Listenkategorien im Wege der Rechtsfortbildung zu subsumieren30. Jedoch kann keine Rede davon sein, dass die 32 in der Positivliste aufgeführten Delikte angesichts ihrer Schwere in allen Mitgliedstaaten strafbewehrt sind31. Es scheint, dass auf europäischer Ebene die Vorstellung herrscht, mit der schlagwortartigen Bezeichnung von Kriminalitätsbereichen seien die Mitgliedstaaten der Notwendigkeit einer Subsumtion unter eine Norm enthoben. So spiegelt sich das selbe Missverständnis in Art. III-271 Abs. 1 des Verfassungsvertrags wieder: Durch europäisches Rahmengesetz können danach Mindestvorschriften „zur Festlegung von Straftaten und Strafen im Bereich besonders schwerer Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension festgelegt werden“. Ob tatsächlich Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftatbeständen oder aber Straftaten (Deliktsgruppen) gemeint sind, bleibt offen. Solange Straftatbestände höchst unterschiedlich in den Mietgliedstaaten ausgestaltet sind – dies gilt vor allem auch für den Allgemeinen Teil der nationalen Strafgesetzbücher (Irrtum, Versuch etc.) – verbietet es sich, sie über einen Kamm zu scheren. Dies mag an einem Beispiel verdeutlicht werden: Ein italienischer Haftbefehl, der den Kriminalitätsbereich „Korruption“ zum Gegenstand hat, darf im ersuchten Staat auf das Vorliegen beiderseitiger Strafbarkeit nicht geprüft werden (§ 81 Nr. 4 IRG, Art. 2 Abs. 2 RbEuHb). Der im italienischen Strafrecht geltende Amtsträgerbegriff ist weiter, als der durch die Rechtsprechung des BGH konturierte Amtsträgerbegriff des § 11 Nr. 2 c StGB (sonstige Stelle). Einen der Angestelltenbestechung gemäß § 299 StGB entsprechenden Straftatbestand kennt hingegen das italienische Strafgesetzbuch nicht. Mangels staatlicher Steuerung scheidet eine Strafbarkeit gemäß §§ 331 ff. StGB nach deutschem Recht aus. Eine Strafbarkeit gemäß § 299 StGB scheitert am fehlenden deutschen Wettbewerb (vor Einführung der Auslandsklausel des § 299 Abs. 3 StGB). Bei einer solchen Konstellation würde die Abgabe einer Rücküberstellungsgarantie durch den Voll-
__________ 30 Vgl. BT-Drs. 15/1718, 18. 31 Insoweit verharmlosend Wasmeier (Mitglied der Europäischen Kommission, Generaldirektion Justiz und Inneres), ZStW 116 (2004), 322.
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streckungsstaat gemäß § 80 Abs. 1 IRG ins Leere gehen. Die Rücküberstellung zur Vollstreckung würde daran scheitern, dass die Vollstreckungshilfe unzulässig wäre. Hierauf weist zurecht – aber in merkwürdiger Widersprüchlichkeit32 zum übrigen Regelwerk – die Begründung zum Gesetzesvorschlag der Bundesregierung zum EuHbG hin. Es heißt dort:33 „Ob Deutschland eine entsprechende Forderung stellen kann, hängt davon ab, ob die Vollstreckungshilfe mutmaßlich zulässig ist und im Falle der Zulässigkeit bewilligt wird. In seltenen Fällen besteht die Möglichkeit, dass ein Angebot zur Vollstreckungshilfe rechtlich nicht angenommen werden kann. (…) Auch kann die beiderseitige Strafbarkeit nicht gegeben sein. Die Vollstreckung einer im Ausland verhängten Freiheitsstrafe in der Bundesrepublik Deutschland, ohne dass das Verhalten hier strafbar ist, verstößt nicht nur gegen die Regeln über die internationale Vollstreckungshilfe, sondern verstößt auch gegen wesentliche deutsche Rechtsgrundsätze.“
Der Widerspruch kann nur dahin aufgelöst werden, dass – zur Vermeidung der vom Gesetzgeber offensichtlich in Kauf genommenen „Kollateralschäden“34 – die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit auch im Falle der Positivliste im Zulässigkeitsverfahren erfolgt. Das gebietet schon die Fürsorgepflicht des Staates35. Dies gilt zumal, da europäische Verfahrensgarantien hinsichtlich des Schweigerechts, des Akteneinsichtsrechts, der Unschuldsvermutung, der Außervollzugsetzung des Haftbefehls gegen Kaution und des Rechts auf faire Beweiserhebung und -verwertung derzeit nicht in Sicht sind. Diese essentiellen Verfahrensgarantien haben insbesondere nicht Eingang in das Grünbuch der Kommission zu Verfahrensgarantien in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union vom 19. 2. 200336 gefunden, da sie entweder nicht als „vorrangig“ angesehen wurden oder als derart „wesentlich“ und „komplex“ bewertet wurden, dass hierzu zunächst „gesonderte Maßnahmen“ eingeleitet werden sollen. Ungeachtet der vielfach gegen das Grünbuch „Verfahrensgarantien“ geäußerten Kritik37, hält die Kommission in ihrem Vorschlag für einen Rahmenbeschluss „über bestimmte Verfahrensrechte in Strafverfahren innerhalb der EU“ vom 28. 4. 200438 an seinem mageren Regelungsinhalt fest. Mahnend wird in dem Stellungnahmeentwurf des Rechtsausschusses für den Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments vom 22. 12. 200439 darauf hingewiesen, dass dieser Vorschlag eher als Ausgangspunkt denn als Endpunkt betrachtet werden sollte, von dem aus die Schaffung eines europäischen
__________ 32 33 34 35 36 37
Vgl. zur Kritik bereits Wehnert, a. a. O., 359. Vgl. BT-Drs. 15/1718, 16. Ahlbrecht, StV 2005, 45. Vgl. bereits Wehnert, a. a. O., 359. KOM (2003) 75 endg. Vgl. etwa die an die Kommission gerichtete, vom Strafrechtsausschuss vorbereitete Stellungnahme der BRAK v. 13. 5. 2003 (www.brak.de/seiten/pdf/ Stellungnahmen/GBStrauda.de). 38 KOM (2004) 328 endg. 39 2004-0113 (CNS) vorl.
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Rechtsraums verfolgt wird. Der Vorschlag für einen Rahmenbeschluss betreffend Verfahrensgarantien wird als augenscheinlich unzureichend gekennzeichnet und dem Wunsch Ausdruck verliehen, dass die Kommission so bald wie möglich neue Maßnahmen vorlegt, die darauf abzielen, weitere Grundrechte zu regeln, wie z. B. das Prinzip ne bis in idem, das Aussageverweigerungsrecht, die Unschuldsvermutung, die Rechte in Bezug auf die Untersuchungshaft und die Strafhaft, das Recht, Rechtsmittel gegen Beschlüsse einzulegen, sowie das Recht auf Prüfung der Zulässigkeit von Beweisen. Dass die Kommission nicht dazu in der Lage ist, diese essentiellen Verfahrensgarantien in den Vorschlag zu einem Rahmenbeschluss aufzunehmen, ist nachhaltiger Beleg dafür, dass wir von einem echten gemeinsamen Rechtsraum noch weit entfernt und die bereits beschlossenen Regelungen über den Europäischen Haftbefehl verfrüht sind. In Erkenntnis dieser Tatsache erscheint es leichtfertig, in blindem Vertrauen alle mitgliedstaatlichen justiziellen Entscheidungen gegenseitig anzuerkennen. Wie wenig der Boden für die gegenseitige Anerkennung bereitet ist, lässt auch die Rechtsprechung des BGH zu § 51 Abs. 4 S. 2 StGB erahnen, wonach im Hinblick auf die erheblich abweichenden Haftbedingungen innerhalb der EU – wenn auch vereinzelt – Umrechnungsfaktoren von 2 (Portugal) oder gar 3 (Spanien) auch heute noch vorkommen40. Am 17. 8. 2004 hat die Kommission ein Grünbuch über die gegenseitige Anerkennung von Überwachungsmaßnahmen ohne Freiheitsentzug im Ermittlungsverfahren vorgelegt41. Darin wird zutreffend darauf hingewiesen, dass die übermäßige Anwendung (Dauer) der Untersuchungshaft einen der Hauptgründe für die Überlastung der Gefängnisse darstelle und aufgrund von Fluchtgefahr gebietsfremde Beschuldigte oftmals in Untersuchungshaft genommen werden, wohingegen für Gebietsansässige alternative Maßnahmen verfügt werden. Die Einführung eines Rechtsakts, der den EU-Mitgliedstaaten die Möglichkeit zur gegenseitigen Anerkennung von Überwachungsmaßnahmen ohne Freiheitsentzug im Ermittlungsverfahren biete, könne dazu beitragen, die Zahl gebietsfremder Untersuchungshäftlinge in der EU zu verringern. Das Anliegen erscheint auf den ersten Blick plausibel und unterstützungswürdig, führt es doch zu der Reduzierung von vollstreckter Untersuchungshaft. Aufmerken lässt allerdings der Hinweis der Kommission darauf, dass eine solche Regelung nicht von dem generell für die Untersuchungshaft geltenden rechtlichen Rahmen getrennt werden dürfe, d. h. nach Maßgabe des RbEuHb zu bewerten sei. Alsdann wird die verräterische Frage gestellt, ob dieses Verfahren auch für weniger schwere Straftaten (d. h. unter dem Strafmaß nach Art. 2 Abs. 1 RbEuHb) gelten solle. Zur Erinnerung: Art. 2 Abs. 1 RbEuHb sieht eine Mindesthöchststrafe von 12 Monaten
__________ 40 Vgl. die Rechtsprechungsübersicht bei Tröndle/Fischer, 52. Aufl. 2004, § 51 StGB, Rz. 19. 41 KOM (2004) 562 endg.
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vor. Hier lauert die Gefahr, dass dem EU-Bürger Überwachungsmaßnahmen auch dort drohen, wo im Bereich der Bagatellkriminalität mangels Verhältnismäßigkeit der Erlass eines Haftbefehls ausscheidet. Zudem: Die Kommission beklagt die negativen Auswirkungen der derzeitigen rechtlichen Regelungen über die Behandlung gebietsfremder Beschuldigter, die soeben durch den RbEuHb bewusst verschärft wurden. Dass Überwachungsmaßnahmen ohne Freiheitsentzug ausgerechnet im Bereich europäischer Auslieferungshaftbefehle zum Einsatz kommen sollen, erscheint daher wenig wahrscheinlich. Welche Wechselwirkungen sich mit dem Europäischen Haftbefehl ergeben werden, ist unklar.
III. Mindestvorschriften für Strafverfahren und materielles Recht Der Europäische Verfassungsvertrag sieht in Art. III-270 Abs. 2 vor, dass zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlichter Urteile und Entscheidungen sowie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension durch europäisches Rahmengesetz Mindestvorschriften für folgende strafverfahrensrechtliche Bereiche festgelegt werden können: a) Die Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis zwischen den Mitgliedstaaten. b) Die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren. c) Die Rechte der Opfer von Straftaten. d) Sonstige spezifische Aspekte des Strafverfahrens, die zuvor vom Rat durch einen europäischen Beschluss bestimmt worden sind. Damit dürften sämtliche Bereiche des Strafverfahrensrechts von der gesetzgeberischen Kompetenz der EU erfasst sein. Wenig beruhigend – eher unverständlich – ist in diesem Zusammenhang der Hinweis in Art. III-270 Abs. 2 des Verfassungsvertrages darauf, dass der Erlass von Mindestvorschriften die Mitgliedstaaten nicht daran hindere, ein höheres Schutzniveau für den Einzelnen beizubehalten oder einzuführen. Denn die Schaffung von Mindestvorschriften soll zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung von Urteilen und Entscheidungen sowie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit bei grenzüberschreitendem Bezug (Stichwort: Effizienzsteigerung) dienen. Durch höhere nationale Schutzniveaus würde dieses Ziel jedoch konterkariert. Es entstünde eine zweispurige Verfahrensordnung, eine mit transnationalem und eine mit ausschließlich nationalem Bezug. Eine solche Entwicklung erscheint unwahrscheinlich und unerwünscht. Ich verweise auf das eingangs zitierte Interview mit Herrn Präsidenten des BGH Hirsch, der nüchtern darauf hingewiesen hat, dass man auf Dauer zwei RechtsschutzSysteme nicht etablieren könne: Das eine für die nationalen Fälle, ausgefeilt und kompliziert, das andere für europäische Fälle, ein wenig simpler. 534
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Was bedeutet diese Situation für das deutsche Strafrecht? Die Schaffung von Mindestvorschriften für die „Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis“ wird, wie es zutreffend Weigend bewertet42, zu einem unpraktikablen Hybridprozess aus unterschiedlichen Beweissystemen führen, die jeweils in sich stimmig, deren Grundsätze aber untereinander nicht kompatibel sind. Diese Forderung stößt daher zu Recht auf massive Kritik43. Einen ersten Vorstoß in Richtung auf die Verkehrsfähigkeit von Beweismitteln hat die Kommission in 2001 mit der Vorlage des „Grünbuchs zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft“44 vorgenommen. Dort bemängelt die Kommission, dass die fehlende automatische Anerkennung von Beweisen, die rechtmäßig in einem Mitgliedstaat erhoben worden sind, in der gesamten Union viel zu oft eine wirksame Strafverfolgung in grenzüberschreitenden Fällen vereitele. Die Kommission schlägt daher vor, dass jedes nationale Gericht, das mit einem Strafverfahren befasst werde, dem eine Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Gemeinschaft zugrunde liege, verpflichtet sei, jedes Beweismittel zuzulassen, das nach dem nationalen Recht eines anderen Mitgliedstaates rechtmäßig erhoben wurde45. Dagegen hält die Kommission die Angleichung in Form umfassender Beweisregeln für unverhältnismäßig. Darüber hinaus bestünde die Gefahr einer großen Komplexität, wenn zugleich zwei Beweissysteme, eines auf gemeinschaftlicher und eines auf nationaler Ebene, vorhanden seien. Die Kommission lässt sich erkennbar von der berechtigten Sorge leiten, dass eine Harmonisierung des Beweiserhebungs- und -verwertungsrechts innerhalb der Mitgliedstaaten auf erheblichen Widerstand stoßen wird. Daher liegt dem Grünbuch der Kommission zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft noch der Gedanke des vollständigen Verzichts auf Harmonisierung zugunsten einer freien Verkehrsfähigkeit von Beweismitteln nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung zugrunde. Eine gewisse Abkehr von ihren Vorstellungen zu der „Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis“ nimmt die Kommission in ihrem Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafverfahren vom 14. 11. 2003 vor46. Allerdings heißt es in der Be-
__________ 42 Vgl. ders., ZStW 116 (2004), 293. 43 Vgl. Gleß, ZStW 115 (2003), 131; Kempf, StV 2003, 128; Salditt, a. a. O., 136. 44 KOM (2001) 715 endg.; vgl. hierzu aus dem Schrifttum einerseits Kempf, StV 2003, 128 ff.; Satzger, StV 2003, 137 ff.; Radtke, GA 2004, 1 ff. und Sommer, AnwBl. 2003, 61 ff. sowie andererseits Brüner/Spitzer, NStZ 2002, 393 ff. 45 Vgl. Grünbuch, S. 64. 46 KOM (2003) 688 endg.
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gründung47, der Vorschlag befasse sich zwar nicht unmittelbar mit der Frage der gegenseitigen Zulassung von Beweismitteln. Dies sei darauf zurückzuführen, dass sich aus den Beratungen mit Sachverständigen insoweit Bedarf nach weiteren Vorbereitungsarbeiten ergeben habe. Dessen ungeachtet solle jedoch mit dem Vorschlag die Zulassung von Beweismitteln aus dem Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates erleichtert werden. Dies solle u. a. dadurch geschehen, dass zum Schutz der Grundrechte „gewisse Verfahrensgarantien“ berücksichtigt werden48 und dass das – noch nicht ratifizierte – Konzept von Art. 4 des Übereinkommens vom 29. 5. 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen beibehalten und präzisiert werde49. Die Europäische Verfassung (Art. III-270 Abs. 2) sieht nunmehr tatsächlich die Festlegung von Mindestvorschriften für die Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis vor. Damit dürfte eine Abkehr von der ursprünglichen Vorstellung des freien Verkehrs von Beweismitteln (auf Basis gegenseitigen Vertrauens ohne Harmonisierung) und somit ein weiterer Schritt in Richtung auf ein zweispuriges Strafverfahrensrecht vollzogen worden sein. Der Vorschlag der Kommission zu einem Rahmenbeschluss über die Europäische Beweisanordnung vom 14. 11. 200350, dessen erklärtes Ziel die Erlangung von Beweismitteln auf einheitliche, schnelle und effektive Weise darstellt und der in seiner Mechanik den Prinzipien des RbEuHb folgt (gemäß Art. 16 Abs. 2 – E „darf unter keinen Umständen“ das Vorliegen der beiderseitigen Strafbarkeit der – nunmehr – 39 Deliktsgruppen nachgeprüft werden), lässt zudem erwarten, dass in transnationalen Ermittlungsverfahren die Einhaltung der Mindestanforderungen, die nach Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts an einen stets einen schweren Grundrechtseingriff bewirkenden Durchsuchungsbeschluss zu stellen sind51, weniger denn je gewährleistet sein wird. Die geplante Abschaffung des Europarat-Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen52 einschließlich seiner Zusatzprotokolle53 und des Schengen-Durchführungsübereinkommens54 zum Zwecke der „Effizienzsteigerung“ durch eine Europäische Beweisanordnung unterläuft die derzeitigen Reformvorhaben zum Recht der Durchsuchung und Beschlagnahme auf nationaler Ebene und wird zwangsläufig die Anzahl von
__________ 47 48 49 50 51
Vgl. ebenda, Tz. 58. Vgl. ebenda, Tz. 59. Vgl. ebenda, Tz. 60. KOM (2003) 688 endg. Vgl. exemplarisch BVerfG Beschl. v. 6. 3. 2002 – 2 BvR 1619/00, StV 2002, 345 ff. m. Anm. Wehnert/Mosiek. 52 Europarat, European Treaty Series Nr. 30. 53 Europarat, European Treaty Series Nr. 99 und 182. 54 Übereinkommen v. 19. 6. 1990 zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen v. 14. 6. 1985 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, ABl. L 239 v. 22. 9. 2000, 19.
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zu vollstreckenden Durchsuchungsanordnungen erhöhen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird auch hier empfindlich eingeschränkt. Art. 19 Abs. 2 des Kommissionsvorschlags sieht zwar die Möglichkeit der Einlegung von Rechtsmitteln gegen Zwangsmaßnahmen im Anordnungs- oder Vollstreckungsstaat vor. Eine Nachprüfung der sachlichen Gründe und der in Art. 6 – E genannten Voraussetzungen für den Erlass der Europäischen Beweisanordnung soll jedoch nur bei dem Gericht im Anordnungsstaat beantragt werden können. Auf diese Kritikpunkte55 hat der Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer in einem von dem Strafrechtsausschuss vorbereiteten Schreiben an die Bundesjustizministerin am 30. 6. 2004 hingewiesen56. Dort wurde auch bemängelt, dass die in Vorschlag gebrachte Europäische Beweisanordnung zu einem Zeitpunkt, da eine EU-einheitliche Regelung der Beweiserhebung und -verwertung in weiter Ferne liegt und das – auch auf die Erlangung von Beweismitteln in Echtzeit gerichtete – Übereinkommen vom 29. 5. 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der EU noch nicht einmal ratifiziert ist, den zweiten vor dem unerlässlich ersten Schritt darstellen würde. Auf die Gefahr, dass wesentliche Verfahrensgarantien, wie etwa der Schutz privilegierter Unterlagen gemäß § 97 StPO dem vorrangigen Ziel der Europäischen Beweisanordnung, nämlich der Effizienzsteigerung, geopfert werden könnten, wurde ausdrücklich hingewiesen. In ihrem Antwortschreiben vom 20. 7. 200457 verteidigt Frau Zypries die Mechanik des Europäischen Haftbefehls und betont, dass es keine ernsthafte Alternative zu dem gewollten Ziel gebe, nämlich der konsequenten Umsetzung des Willens aller politisch Verantwortlichen, die unterschiedlichen strafrechtlichen und strafprozessualen Regelungen in den Mitgliedstaaten der EU anzugleichen und die internationale Zusammenarbeit durch die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu verbessern. Dagegen geht die Ministerin zu dem Vorschlag eines Rahmenbeschlusses über die Europäische Beweisanordnung auf Distanz und verweist auf einen in Arbeit befindlichen, erhebliche kritische Einwände enthaltenden Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag, der unter Federführung des BMJ erstellt werde58. Tatsächlich – vielleicht auch durch die Überzeugungsarbeit der BRAK beeinflusst? – hat der Deutsche Bundestag erstmals von seinem Recht gemäß Art. 23 Abs. 3 GG im Bereich des europäischen Strafrechts Gebrauch gemacht59 und eine Stellungnahme zur Europäischen Beweisanordnung am
__________ 55 56 57 58
Zu weiteren Kritikpunkten vgl. Gleß, StV 2004, 679 ff. BRAK-Nr. 338/2004 (unveröffentlicht). BRAK-Nr. 385/2004 (unveröffentlicht). Insoweit unzutreffend Gazeas, ZRP 2005, 20, der bemerkt, die Kritik der Bundesrechtsanwaltskammer sei durch die Bundesjustizministerin „zurückgewiesen“ worden. 59 Vgl. BT-Drs. 15/3831, 7 f. („wohl zum ersten Mal“, „Neuland“).
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30. 9. 2004 abgegeben. Er kritisiert darin insbesondere die rechtssystematische Zersplitterung und die fehlende Kompatibilität mit den bisherigen Rechtsakten, die diffusen Deliktsgruppen, die fehlenden Verweigerungsgründe und das Fehlen effektiver Rechtsschutzmöglichkeiten. Zudem wird gefordert, dass der Rahmenbeschluss dahin ergänzt wird, dass die Beweismittelverwertung nach den Grundsätzen eines fairen Verfahrens erfolge, die grundlegenden Verfahrensprinzipien des Vollstreckungsstaates und die Belange des Datenschutzes beachtet werden. Schließlich fordert der Deutsche Bundestag die Festlegung gemeinsamer Mindeststandards im Hinblick auf die Erhebung und Verwertung von Beweisen60. Im Bereich des materiellen Rechts wird in Art. III-271 des Europäischen Verfassungsvertrags dem Rat die Kompetenz zugeschrieben, Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen im Bereich besonders schwerer Kriminalität festzulegen, die aufgrund der Art und der Auswirkung der Straftaten oder aufgrund der besonderen Notwendigkeit, sie von gemeinsamen Grundlagen ausgehend zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben. Als derartige Kriminalitätsbereiche werden bezeichnet: Terrorismus, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität. Eine Öffnungsklausel enthält Art. III-271 dahin, dass je nach den Entwicklungen der Kriminalität der Rat einen europäischen Beschluss erlassen kann, in dem andere Kriminalitätsbereiche bestimmt werden, die die o. g. Kriterien erfüllen. Wenn für die wirksame Durchführung der Politik der Union auf einem Gebiet, auf dem Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind, die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten sich als unerlässlich erweist, so können auch hier durch europäisches Rahmengesetz Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen festgelegt werden (Art. III-271 Abs. 2 Europäischer Verfassungsvertrag). Ist die Regelungskompetenz materiellen Strafrechts durch Festlegung von Mindestvorschriften mittels Rahmengesetzes bereits extrem weitreichend, so dürfte die in Abs. 2 der Norm enthaltene Regelungskompetenz mit dem ultima ratioGrundsatz des Strafrechts nicht mehr vereinbar sein. Der EU wird eine Regelungskompetenz hinsichtlich der Einführung von Straftatbeständen im Bereich von Verstößen Privater gegen Vorschriften des freien Warenverkehrs eingeräumt. Damit geht die Kompetenzzuweisung an den Unionsstrafgesetzgeber uferlos weit. Eine Konzentration erfolgt weder auf Straftaten im Bereich „besonders schwerer Kriminalität“ (was heißt das? – die Kennzeichnung besonders schwerer Kriminalität erfolgt doch durch die Zuordnung zu Deliktsbereichen), noch dadurch, dass die Straftaten „grenzüberschreitende
__________ 60 Vgl. BT-Drs. 15/3831, 3 ff.
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Dimensionen“ aufweisen müssen. Denn – so Art. III-271 Abs. 1 des Verfassungsvertrags – es ergibt sich eine grenzüberschreitende Dimension bereits dadurch, dass eine besondere Notwendigkeit besteht, Straftaten von gemeinsamen Grundlagen ausgehend zu bekämpfen. Transnationalität bei der Tatausführung ist demzufolge kein Zuständigkeitskriterium für den europäischen Strafgesetzgeber. Zudem kann der Rat „je nach den Entwicklungen der Kriminalität“ durch einfachen europäischen Beschluss seine Kompetenz auf „andere Kriminalitätsbereiche“ ausweiten und – hiermit nicht genug – neue Straftatbestände schaffen, sofern sich dies „für die wirksame Durchführung der Politik der Union auf einem Gebiet, auf dem Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind“ als „unerlässlich“ erweist. Der Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Weite Teile des Wettbewerbsrechts, des Arbeitsrechts, des Umwelt- und Verkehrsrechts, mithin Bereiche, die bislang großenteils nur ordnungswidrigkeitenrechtlich sanktioniert wurden, stehen zur strafrechtlichen Disposition. Ein Blick auf das Büschel der bereits erfolgten Harmonisierungsmaßnahmen auf dem Gebiet des Strafrechts zeigt, in welch wahrhaft atemberaubender Weise61 der Unionsgesetzgeber bereits vorangeschritten ist62. Immerhin konstatiert auch Vogel, der grundsätzlich die gelegentlich zu hörende „alarmistische Fundamentalkritik“ an den intensiven Harmonisierungsaktivitäten der Union für bei weitem überzogen hält, dass es bei der Strafrechtsharmonisierung nahezu ausschließlich um „extensive“ Harmonisierung, um Kriminalisierung, Schließung von Strafbarkeitslücken und Mindeststrafniveaus geht und von Entkriminalisierung oder von Alternativen zum Strafrecht wenig die Rede sei63. Jedoch hält Vogel nüchtern dagegen, dass die europäischen Gesellschaften nun einmal punitiver werden. Wenn die im Rat vereinigten Regierungen dann tun, was ihre Gesellschaften wollen, so müsse das in Demokratien bis zur Grenze der Menschenrechts- und Rechtsstaatswidrigkeit anerkannt werden64. Hier sei die Bemerkung erlaubt, dass der ultima ratio-Gedanke des Strafrechts auf der Strecke bleibt. Offensichtlich sieht die Union ihre Aufgabe auf dem Gebiet des Strafrechts derzeit allein in der Verhinderung einer zu laschen nationalen Gesetzgebung und präsentiert sich deshalb „tough on crime“65. Auf diese Weise wird aber nicht der angepriesene „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ – der
__________ 61 62 63 64 65
Vgl. Weigend, ZStW 116 (2004), 282. Siehe hierzu den Überblick von Vogel, GA 2003, 320 ff. Vgl. ders., GA 2003, 332. Vgl. ders., GA 2003, 333. So zutreffend Schünemann, GA 2004, 197; kritisch auch Nitschmann, GA 2004, 655 („Zeit, in der die Effektivität der Verbrechensbekämpfung zum einzigen kriminalpolitischen Leitmotiv zu werden droht“); Albrecht, ZRP 2004, 1 ff.; zurückhaltender Gleß, StV 2004, 683 („Bisher hat die „Europäisierung des Strafverfahrens“ – jedenfalls faktisch – die Strafverfolgungsbehörden gestärkt.“).
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eben nicht nur Sicherheit „durch“, sondern auch Freiheit und Sicherheit „vor“ dem Strafrecht verlangt66 – verwirklicht, sondern ein – rechtsstaatlich bedenklicher – Polizei- und Überwachungsstaat.
IV. Ausblick Es kann als gesicherte Erkenntnis gelten, dass die Europäisierung des Strafund Strafprozessrechts fortschreiten wird. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung auf Basis gegenseitigen Vertrauens wird sich als Vehikel zur Erreichung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts durchsetzen. Ohne fortschreitende Harmonisierung des Straf- und Strafprozessrechts wird die gegenseitige Anerkennung jedoch nicht funktionieren. Vielmehr muss die gegenseitige Anerkennung das Ergebnis und nicht die Grundlage der Strafrechtsangleichung sein. Gegenseitige Anerkennung setzt nämlich eine weitgehende Vergleichbarkeit67 des mitgliedstaatlichen Straf- und Strafprozessrechts voraus, eine Vorbedingung, die in Europa derzeit (noch) nicht erfüllt ist68. Deshalb halte ich es für notwendig, dass bei Reformüberlegungen zum deutschen Straf- und Strafprozessrecht69 stets die europäischen Harmonisierungsbestrebungen in Bedacht genommen werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass reformerische Bemühungen auf nationaler Ebene alsbald zur Makulatur werden. Zutreffend fordert daher auch Vogel70, dass eine zukünftige Reform des Ermittlungsverfahrens – anders als Eckpunktepapier und Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens vom 18. 2. 200471 – die zunehmende Europäisierung des Straf- und Ermitt-
__________ 66 Vgl. Schünemann, GA 2004, 197; tendenziell a. A. Vogel, GA 2003, 318 (Strafrecht als „Sicherheits- und Schutzrecht“ mit dem Ziel der Beseitigung von „Inseln der Straflosigkeit [„save havens“]“); eingehend zur Problematik „einseitiger“ Effektivität von Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht sowie der daraus abgeleiteten Forderung nach dessen „rechtsstaatlicher“ Einhegung Mosiek, Effet utile und Rechtsgemeinschaft – Zugleich ein Beitrag zur Kompetenzordnung der Europäischen Gemeinschaft, Kölner Schriften zum internationalen und europäischen Recht, Band 7, 2003. 67 Vgl. auch Vogel, GA 2003, 333 („Allerdings wird sich das Klima gegenseitigen Vertrauens, das für eine wirksame gegenseitige Anerkennung erforderlich ist, nur einstellen, wenn die Unterschiede im materiellen Strafrecht der Mitgliedstaaten nicht tiefgreifend und unüberbrückbar sind.“). 68 So zutreffend Satzger, StV 2003, 138 f.; ähnlich Bacigalupo, ZStW 116 (2004), 331. 69 Vgl. hierzu das Eckpunktepapier des BMJ und der Fraktion der SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag (abgedruckt in StV 2001, 314 ff.), den Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens des Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schweizer Strafrechtslehrer, den Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens der Bundestagsfraktion der SPD und Bündnis 90/Die Grünen aus Februar 2004 sowie die Denkschrift des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Schriftenreihe der Bundesrechtsanwaltskammer, Band 13 (2004). 70 Vgl. ders., JZ 2004, 835 f. 71 Abgedruckt in StV 2004, 228 ff.
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lungsverfahrens berücksichtigen sollte. Vogel stellt in diesem Zusammenhang – leicht ketzerisch – die Frage zur Diskussion, ob dabei ein Ziel sein sollte, die „Anschlussfähigkeit“ des deutschen Rechts für eine europäische Institution sicherzustellen, die ggf. vor deutschen Gerichten als Ermittlungsund Anklagebehörde auftritt, oder ob für diesen Fall möglichst starke Sicherungen in das deutsche Recht eingebaut werden sollten72. Ich plädiere klar für letzteres und glaube, dass ich damit die Zustimmung des Jubilars finde. Hans Dahs hat die Einführung für die von dem Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer vorgelegte Denkschrift zur Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren73 geschrieben. Dort führt er auf S. 3 aus: „Gerade deshalb (scil: fehlende Initiativen des deutschen Gesetzgebers für die 14. und 15. Legislaturperiode) sehen sich Rechtspraxis und Wissenschaft in der Pflicht, initiativ zu werden, um die Legislative auf die Notwendigkeiten und Bedürfnisse aufmerksam zu machen, die der Diskussion und Umsetzung auf dem (nie endenden) Weg zu einem rechtsstaatlich vollkommenen „modernen“ Strafprozess hilfreich sein können (sollen).“
Es heißt weiter (a. a. O.): „…), dass die vorhandenen, nicht durchnormierten gesetzlichen Freiräume „beider Seiten“ in vielen Fällen groß genug sind, die angestrebte größere Ausgewogenheit von Strafverfolgung und Strafverteidigung zu erreichen.“
Der Terminus „Modernisierung“ wird zu einem gefährlichen Begriff, wenn man das Verständnis des europäischen Gesetzgebers zugrunde legt. Danach sind modern die europäischen „Instrumente“, die Institutionen Europol, Eurojust, EJN, OLAF74 und die im Verfassungsvertrag aufgenommene Möglichkeit zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (Art. III-274). Das Verständnis des europäischen Gesetzgebers von Modernisierung liegt vor allem in der Effizienzsteigerung der Strafverfolgung, nicht in der Fortentwicklung einer größeren Ausgewogenheit von Strafverfolgung und Strafverteidigung75. Die europäischen Institutionen wirken im wesentlichen im Geheimen, Akteneinsicht in Daten des Informationssystems von Europol steht gem. Art. 9 Abs. 1 Europol-Übereinkommen nicht einmal der Staatsanwaltschaft – geschweige denn dem Verteidiger – zu76. Der Zugang zu Eurojust
__________ 72 Vgl. ders., JZ 2004, 836. 73 Reform der Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Schriftenreihe der Bundesrechtsanwaltskammer, Band 13 (2004). 74 Vgl. hierzu den Überblick von Dieckmann, NStZ 2001, 617 ff. und Dannecker, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 2. Aufl. 2004, 2. Kapitel, Rz. 225 ff.; vgl. zu OLAF ferner Haus, EuZW 2000, 745 ff. 75 Letzteres fordert im Zusammenhang mit der Europäischen Beweisanordnung ein Gleß, StV 2004, 683. 76 Vgl. zur justiziellen Einbindung und Kontrolle von Europol Gleß, NStZ 2001, 623 ff.
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bleibt dem Strafverteidiger ebenfalls gänzlich verwehrt77. Zahlreiche – auch in der Denkschrift erhobene – Forderungen kollidieren mit den europäischen Aktivitäten zur Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Die frühzeitige Formalisierung der Beschuldigteneigenschaft, die Stärkung der Teilhabe des Verteidigers im Ermittlungsverfahren, die Verbesserung des Akteneinsichtsrechts, das Festhalten an der Leitungskompetenz der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren, die Kritik an der äußerst eingeschränkten Sachkompetenz des „nächsten Richters“ hinsichtlich der Befugnis zur Außervollzugssetzung des Haftbefehls – hier seien nur einige zentrale Reformanliegen skizziert. Sie alle verlangen „möglichst starke Sicherungen“ gegen die fortschreitende Europäisierung. Hassemer stellt fest, dass eine gerichtliche Vergewisserung darüber, wo die unverzichtbaren Bestandteile der nationalen Rechtsordnung liegen, bisher nicht häufig vonnöten gewesen sei. In einer Situation, in der ein einheitliches Vorgehen von Institutionen prozedural auch dort möglich ist, wo Vereinheitlichungen in der Sache (noch) nicht existieren, werde diese Vergewisserung mehr ins Zentrum des nationalen Rechts rücken müssen78. Die erste Gelegenheit hierfür bietet die dem 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts derzeit vorliegende Verfassungsbeschwerde gegen die auf einen spanischen Auslieferungshaftbefehl ergangene Auslieferungsentscheidung. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 24. 11. 2004 dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für die Dauer von 6 Monaten stattgegeben79. Damit steht das in Umsetzung des RbEuHb, nach dessen Mechanik zahlreiche weitere Rahmenbeschlüsse und Grünbücher konzipiert sind, erlassene Europäische Haftbefehlsgesetz vom 21. 7. 2004 erstmals auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand. Zu dem Mechanismus des Europäischen Haftbefehls führt Hassemer (ZStW 116 (2004), S. 304, 317) aus: „Vereinheitlichungen wie etwa der Europäische Haftbefehl setzen – und das ist ihr Problem – eine reale Vereinheitlichung in der Sache nicht voraus, sondern begnügen sich mit der Verordnung von Konsequenzen einer solchen realen Vereinheitlichung, die es als solche aber nicht gibt. Sie zäumen das Pferd vom Schwanze auf, substituieren Übereinstimmungen eines „europäischen“ Strafrechts statt sie zu fördern und Schritt für Schritt herzustellen.“
Mit Spannung bleibt abzuwarten, welche Konsequenzen das Bundesverfassungsgericht aus dieser – zutreffenden – Erkenntnis zieht.
__________ 77 Eingehend zu den rechtlichen Grundlagen von Eurojust Esser/Herbold, NJW 2004, 2421. 78 Vgl. ders., ZStW 116 (2004), 318. 79 Vgl. BVerfG Beschl. v. 24. 11. 2004 – 2 BvR 2236/04, EuGRZ 2004, 667 f.
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Zum Zeugnisverweigerungsrecht der Berufsgeheimnisträger Grenzen und Grenzüberschreitungen Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs sieht sich im Urteil vom 7. April 20051 in rechtsstaatlich vorbildlicher Weise dem Schutz des Zeugnisverweigerungsrechts der Berufsgeheimnisträger verpflichtet. Auf der anderen Seite muß er sich auf der Grundlage neuer gesetzlicher Vorschriften mit bedrohlichen Einschränkungen dieses Rechts auseinandersetzen. Der Jubilar, dem die meisterhafte Kommentierung der Vorschriften über Zeugen und Zeugnisverweigerungsrechte in der 25. Auflage des Löwe-Rosenberg zu danken ist, wird diese Entwicklung mit Befriedigung und zugleich mit Sorge betrachten.
I. Das Zeugnisverweigerungsrecht der Berufsgeheimnisträger nach §§ 53, 53a StPO erfährt einen flankierenden (Umgehungs-)Schutz durch die Beschlagnahmefreiheit nach § 97 StPO.2 Sie entfällt gemäß § 97 Abs. 2 Satz 3 StPO, wenn gegen den Zeugnisverweigerungsberechtigten der Verdacht der Teilnahme, Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei in Bezug auf die dem Beschuldigten vorgeworfene Straftat besteht. Wer die Interessen der Strafverfolgung in den Vordergrund stellt, könnte daraus ableiten, daß unter den Voraussetzungen des § 97 Abs. 2 Satz 3 StPO auch das Zeugnisverweigerungsrecht selbst entfalle. Für den Berufsgeheimnisträger würde sich dies im Ergebnis allerdings nicht auswirken, weil ihm unter solchen Umständen das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO zur Seite stünde. Wohl aber könnten dann seine Hilfspersonen (§ 53a StPO) zur Aussage veranlaßt werden; deren Zeugnisverweigerungsrecht ist gegenüber dem des Berufsgeheimnisträgers akzessorisch.3 Geriete also der Steuerberater in den Verdacht der Beihilfe zur Steuerhinterziehung seines Mandanten, so könnte nicht nur seine Handakte beschlagnahmt, sondern auch seine Sekretärin zeugenschaftlich befragt werden. Ein Zeugnisverweigerungsrecht stünde ihr nicht zu, und wenn sie gutgläubig ist (wovon im Regelfall auszugehen sein wird), würde in Bezug auf sie auch § 55 StPO nicht eingreifen.
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1 StR 326/04, NJW 2005, 2406 (zum Abdruck in BGHSt bestimmt). BVerfGE 20, 162, 188; 32, 373, 385. LR-Dahs, 25. Aufl. 1998, § 53a Rz. 8 m. Nachw.
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Zwar wird eine solche ausdehnende Auslegung des § 97 Abs. 2 Satz 3 StPO – soweit ersichtlich – nirgends vertreten. Die Auffassung von Schünemann4 in der Kommentierung der Strafvorschrift des § 203 StGB läuft aber auf dieses Ergebnis hinaus. Danach seien „beruflicher Natur“ nur solche Tätigkeiten, die „zum Berufsbild des Täters gehören und die er in erlaubter Weise ausübt“; dagegen sei strafbares Verhalten von vornherein als „berufsfremd“ anzusehen und werde deshalb weder vom Zeugnisverweigerungsrecht noch von der Verschwiegenheitspflicht umfaßt.5 Der 1. Strafsenat hat es demgegenüber abgelehnt, die Vorschrift des § 97 Abs. 2 Satz 3 StPO auf die §§ 53, 53a StPO zu erstrecken, und hat zugleich klargestellt, daß ein (möglicherweise6) strafbares Verhalten des Berufsgeheimnisträgers nicht automatisch als außerberuflich anzusehen ist: – „Auch die mögliche Einbindung eines Berufsgeheimnisträgers in kriminelle Machenschaften berührt die Verschwiegenheitspflicht und das umfassende Zeugnisverweigerungsrecht in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO im Grundsatz nicht, wie der Vergleich mit der eingeschränkten Beschlagnahmefreiheit gemäß § 97 Abs. 2 Satz 3 StPO (entspr. auch § 100 d Abs. 3 Satz 4 StPO) aufzeigt. Im Gegensatz zum Zeugnisverweigerungsrecht entfällt das Beschlagnahmeverbot, wenn der zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigte einer Teilnahme oder einer Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei verdächtig ist oder wenn es sich um Deliktsgegenstände handelt …“ – „Straftaten sind stets ‚berufsfremd‘ und ‚berufswidrig‘ … Für den Umfang des Zeugnisverweigerungsrechts gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO maßgebend ist aber allein der berufliche Bezug der Tätigkeit, unabhängig von deren disziplinar- oder strafrechtlicher Bewertung. Deshalb besagen auch Entscheidungen dazu, ob tatbestandsmäßiges Verteidigerverhalten im Einzelfall noch gerechtfertigt oder strafbar ist (…),7 nichts über die Reichweite des Zeugnisverweigerungsrechts gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO.“
__________ 4 5
6 7
LK, 11. Aufl. 2001, § 203 Rz. 35. In diesem Sinne auch OLG Frankfurt NJW 2002, 1135 für einen – auf den ersten Blick – ähnlich gelagerten Fall. Jener Notar hatte allerdings ausschließlich die Aufgabe, den auf ein von ihm gehaltenes Treuhandkonto überwiesenen Kaufpreis für den Grundstücksverkäufer zu verwahren; den Kaufvertrag hatte er nicht beurkundet und war auch sonst nicht in dessen Abwicklung einbezogen. Unter diesen Umständen ist die Auffassung des OLG Frankfurt, die bloße Verwahrung von Geld stelle weder eine notarielle noch eine anwaltliche Berufsausübung dar, jedenfalls vertretbar. Auch der 1. Strafsenat weist im Urteil vom 7. 4. 2005 auf die Unterschiedlichkeit der Sachverhalte hin. Man hat es grundsätzlich mit bloßen Verdachtssituationen zu tun. Der Senat verweist auf die Entscheidungen BGHSt 38, 345 (Vorlage einer gefälschten Urkunde zu Verteidigungszwecken) und BGHSt 46, 36 (Volksverhetzung im Schlußvortrag des Verteidigers).
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Zum Zeugnisverweigerungsrecht der Berufsgeheimnisträger
II. Der zugrunde liegende Fall betrifft einen Notar, der einen von ihm beurkundeten Grundstückskaufvertrag in pflichtwidriger und möglicherweise strafbarer Weise abgewickelt hat. Entgegen dem strikten Verbot der Bargeldannahme in § 54 a Abs. 1 BeurkG8 nahm er vom Grundstückskäufer den Kaufpreis von 800 000 DM als Bargeldbetrag (verpackt in zwei Plastiktüten) entgegen und bat sodann – ersichtlich weil er den Vorgang aus seinen der Dienstaufsicht unterliegenden Büchern heraushalten wollte – einen Bürogehilfen, den Bargeldbetrag auf dessen Privatkonto einzuzahlen und von dort auf das Konto des Grundstücksverkäufers zu überweisen. So geschah es (wobei der Bürogehilfe bei der Einzahlung des Geldes auf seiner Bank noch durch einen im Notariat tätigen Rechtsassessor begleitet war). Im späteren Strafverfahren gegen den Grundstückskäufer war die Bargeldeinzahlung als Indiz für dessen illegale Einkünfte aus Straftaten von erheblicher Beweisbedeutung. Dem als Zeugen vernommenen Notargehilfen versagte die Strafkammer das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53a StPO9 mit der Begründung, daß es sich bei der Zahlungsabwicklung nicht um notarielle Berufstätigkeit, sondern um ein Verhalten außerhalb des beruflichen Bereichs gehandelt habe. Dies beanstandete der Bundesgerichtshof zu Recht. Ob dem Berufsgeheimnisträger etwas „in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekannt geworden ist“, hängt allein davon ab, ob er die Kenntnis im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit erlangt hat; auf deren Bewertung als korrekt oder pflichtwidrig (oder gar strafbar) kommt es nicht an. Der hier in Frage stehende Zahlungsvorgang gehört zum Kernbereich der Berufsaufgaben eines Notars, die nicht nur die Beurkundung, sondern auch die Abwicklung von Grundstückskaufverträgen umfassen (vgl. §§ 20, 23, 24 BNotO). Zwar hat der Notar mit der Entgegennahme des Bargeldbetrages gegen die Vorschrift des § 54 a Abs. 1 BeurkG verstoßen und seine allgemeinen Berufspflichten (§ 14 Abs. 2 BNotO) veletzt. Aber der Wirkungsbereich des § 53 StPO ist erst überschritten, wenn das Verhalten des Berufsgeheimnisträgers schlechterdings nicht mehr als – sei es auch unkorrekte oder gesetzwidrige – Berufsausübung angesehen werden kann.10 Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat dies in der Entscheidung BGHSt 38, 7 für den damals bundesweit bekannt gewordenen Fall einer Hamburger Rechtsanwältin ausgesprochen, die ihrem Mandanten eine Pistole in die Untersuchungshaft brachte, mit der er sodann bei einer Verneh-
__________ 8 „Der Notar darf Bargeld zur Aufbewahrung oder zur Ablieferung an Dritte nicht entgegennehmen.“ 9 Der Notar war nicht von seiner Schweigepflicht entbunden worden. 10 Im Hinblick auf außerberuflich erlangte Kenntnisse ist der Berufsgeheimnisträger wie jede andere Person uneingeschränkt zeugnispflichtig.
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mung seine Ehefrau, den Staatsanwalt und sich selbst erschoß.11 Der hier zu entscheidende Notar-Fall lag weit entfernt von einer solchen Grenzüberschreitung. Das Verhalten des Notars war – trotz Pflichtwidrigkeit und vielleicht sogar Strafbarkeit – Teil seiner Berufstätigkeit mit der Folge, daß der Berufsgehilfe des Notars hinsichtlich seiner Beobachtungen ein Zeugnisverweigerungsrecht nach §§ 53, 53a StPO hatte.12 Für andere Berufsgeheimnisträger lassen sich etwa folgende Beispielsfälle bilden: (1) Rechtsanwalt R gerät in den Verdacht der Beihilfe zu einem Prozeßbetrug seines Mandanten (etwa durch Anstiftung eines Zeugen zur Falschaussage). Sein Büro darf durchsucht, seine Handakte beschlagnahmt werden. Auf sein und seiner Sekretärin Zeugnisverweigerungsrecht nach §§ 53, 53a StPO hat dieser Verdacht aber keinen Einfluß, weil sein Verhalten – unabhängig von der Bewertung – Teil seiner anwaltlichen Tätigkeit war. (2) Chirurg C nimmt bei seinem Patienten P eine Nasenkorrektur vor. Er weiß (oder nimmt billigend in Kauf), daß P wegen eines Verbrechens von der Polizei gesucht wird und sein Äußeres verändern will, um nicht wiedererkannt zu werden. C mag sich deshalb wegen Strafvereitelung strafbar machen. Das ändert nichts daran, daß die Operation zum Kernbereich seiner durch §§ 53, 53a StPO geschützten Berufstätigkeit gehört. Zwar können die Krankenunterlagen in seiner Praxis gemäß § 97 a Abs. 2 Satz 3 StPO beschlagnahmt werden. Angenommen, diese wären inhaltsarm oder gar nicht vorhanden: der (gutgläubigen) Arzthelferin A, die über die damalige Behandlung des P Auskunft geben könnte, steht das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53a StPO zu. Fälle, in denen der berufliche Bereich mit Eindeutigkeit verlassen wird, brauchen nicht gleich den dramatischen Charakter des Falles BGHSt 38, 7 aufzuweisen. Auf ähnlicher Ebene läge es, wenn der Verteidiger seinem Mandanten Rauschgift in die Haftanstalt mitbringt:13 seine gutgläubige Sekretärin, die im Büro gesehen hat, wie ein Besucher dem Verteidiger ein Päckchen mit der Bitte übergab, dies an den inhaftierten Beschuldigten weiterzuleiten, müßte hierüber als Zeugin aussagen, ohne sich auf § 53a StPO berufen zu können. Ebenso verhielte es sich, wenn der oben genannte Chirurg C dem Patienten P nach Abschluß der ärztlichen Behandlung noch für einige Zeit sein Ferienhaus als Versteck zur Verfügung stellt. Der 1. Strafsenat
__________ 11 Der 5. Strafsenat formuliert (a. a. O. S. 11): „Die Beschaffung einer scharfen Schußwaffe und von Betäubungsmitteln sowie deren Weitergabe an den inhaftierten Mandanten hängen mit keinem denkbaren Ziel einer Strafverteidigung sachlich zusammen.“ 12 Nicht anders verhielte es sich bei einem Notar, der sich in die steuerhinterzieherische Unterverbriefung des Grundstückskaufpreises einbinden läßt (und vielleicht sogar die Funktion der „Schaltstelle“ hinsichtlich des außerhalb des Vertrages zu zahlenden Bargeldbetrages übernimmt). 13 Auch dies war der Hamburger Rechtsanwältin im Fall BGHSt 38, 7 vorgeworfen; siehe oben Fn. 11.
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Zum Zeugnisverweigerungsrecht der Berufsgeheimnisträger
nennt im Urteil vom 7. April 2005 – unter Hinweis auf BGH, Beschluß vom 25. Juni 1976 (StB 18/76) – als weiteres Beispiel die Unterstützung des Kampfes einer kriminellen Vereinigung (der RAF) durch Mitwirkung an deren hierzu dienenden konspirativen Informationssystem.
III. Das Zeugnisverweigerungsrecht der §§ 53, 53a StPO dient in solchen Fällen nicht etwa dem Schutz pflichtwidrig oder gar strafbar handelnder Berufsgeheimnisträger, die mit ihrem kriminellen Mandanten oder Patienten gemeinsame Sache machen. Zum einen handelt es sich grundsätzlich um bloße Verdachtssituationen. Zum anderen ist das Zeugnisverweigerungsrecht des § 53 StPO die Kehrseite der durch § 203 StGB strafbewehrten Verschwiegenheitspflicht des Berufsgeheimnisträgers. Es wäre nicht hinnehmbar, wenn schon der bloße Verdacht der unredlichen Kollusion zwischen dem Berufsgeheimnisträger und seinem beschuldigten Klienten diese Verschwiegenheitspflicht aufheben würde. Dann kann aber auch das Zeugnisverweigerungsrecht keine Einschränkung erfahren. Zeugnisverweigerungsrecht und Verschwiegenheitspflicht gehen in ihrer Reichweite ohnehin weit über den Bereich des Strafverfahrens gegen den beschuldigten Klienten hinaus; sie wirken – anders als die auf diese Situation beschränkte Vorschrift des § 97 StPO – allseitig und erfassen jedwedes Verfahren, in dem der Berufsgeheimnisträger (oder sein Gehilfe) als Zeuge aussagen soll. Die Unterschiedlichkeit der „Schutztiefe“ der durch § 97 Abs. 2 Satz 3 StPO relativierten Beschlagnahmefreiheit auf der einen und des umfassenden Zeugnisverweigerungsrechts auf der anderen Seite rechtfertigt sich daraus, daß der Berufsgeheimnisträger im Strafverfahren gegen seinen Klienten grundsätzlich nicht zur aktiven Mitwirkung an der Strafverfolgung verpflichtet sein soll, während die Beschlagnahmefreiheit nach § 97 StPO nur den Bereich der passiven Duldung einer Beweissicherungsmaßnahme betrifft.14 Demgegenüber greift das Zeugnisverweigerungsrecht von vornherein nicht ein, wenn die im Raum stehende Kollusion des Berufsgeheimnisträgers mit seinem Klienten gänzlich außerhalb des beruflichen Bereichs liegt.15 Hier schützt den in Verdacht geratenen Berufsgeheimnisträger – wie auch sonst – nur das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO; für ein Zeugnisverweigerungsrecht nach §§ 53, 53a StPO ist kein Raum. Die Angestellten des Berufsgeheimnisträgers können ohne weiteres befragt werden.
__________ 14 Vgl. auch Görtz-Leible, Die Beschlagnahmeverbote des § 97 Abs. 1 StPO im Lichte der Zeugnisverweigerungsrechte, 2000, S. 204. 15 Auf die Bewertung des in Frage stehenden Geschehens kommt es nicht an: Was außerhalb des beruflichen Bereichs liegt, ist generell – ob gut oder böse – nicht vom Zeugnisverweigerungsrecht erfaßt.
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IV. 16
Ganz unbemerkt hat das Zeugnisverweigerungsrecht des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO eine erhebliche Einschränkung durch das Geldwäschebekämpfungsgesetz vom 8. August 200217 erfahren, das die Anzeigepflichten nach dem Geldwäschegesetz vom 25. Oktober 199318 auf Angehörige bestimmter freier Berufe erstreckt. Nach § 11 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 Satz 2 GwG n. F. müssen nunmehr auch Rechtsanwälte, Notare, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater, wenn sie „wissen, daß der Mandant ihre Rechtsberatung bewußt für den Zweck der Geldwäsche in Anspruch nimmt“, gegen ihren Mandanten unverzüglich eine Geldwäsche-Verdachtsanzeige bei der für sie zuständigen Bundesberufskammer (Bundesrechtsanwaltskammer, Bundesnotarkammer usw.) erstatten, die ihrerseits zur Weiterleitung der Anzeige an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden (und in Kopie an das Bundeskriminalamt) verpflichtet ist. Die gesetzliche Beschränkung auf den Bereich sicheren Wissens nimmt in gewisser Weise die einschränkenden Kriterien der Geldwäscheentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. April 200419 vorweg. Der „normale“ Mandats- und Vertrauensbereich bleibt nach § 11 Abs. 3 Satz 1 GWG n. F. verschont: Die Anzeigepflicht besteht nicht, wenn dem Geldwäscheverdacht „Informationen von dem oder über den Mandanten“ zugrunde liegen, die der Berufsgeheimnisträger „im Rahmen der Rechtsberatung20 oder der Prozeßvertretung dieses Mandanten erhalten“ hat. Der 1. Strafsenat ließ in dem zur Entscheidung anstehenden Fall keinen Zweifel daran, daß er die Voraussetzungen dieser Rückausnahme des § 11 Abs. 3 Satz 2 GwG – das Wissen des Notars, daß sein Klient ihn bewußt für Geldwäschezwecke einsetzte – für gegeben hielt. Es handelte sich allerdings um einen „altrechtlichen“ Fall,21 so daß sich die Frage einer rückwirkenden Anwendung der neuen Vorschriften stellte. Die Erörterung dieser – hier
__________ 16 Dies gilt jedenfalls für die nach August 2002 erschienenen Neuauflagen von Kommentaren zur StPO. 17 BGBl I S. 3105. Durch dieses Gesetz wird die EU-Richtlinie 2001/1997 vom 4. 12. 2002 umgesetzt (NJW 2002, 804). 18 BGBl I S. 1770. 19 BVerfGE 110, 246 = NJW 2004, 1305. 20 Dieser Begriff ist einem umfassenden Sinne zu verstehen. § 11 Abs. 3 Satz 1 GWG soll „dem rechtlich besonders geschützten und für eine effektive Rechtsberatung und Vertretung zentralen Vertrauensverhältnis zwischen Beratendem und Mandant hinreichend Rechnung tragen“ (so die Gesetzesbegründung; BT-Drs. 14/8739 S. 15). Wichtig ist, daß das vom Berufsgeheimnisträger erlangte sichere Wissen über eine Geldwäsche des Klienten für sich allein noch keine Anzeigepflicht begründet (wie sich etwa beim Strafverteidiger, dem sein Mandant darüber berichtet, von selbst versteht). Nur dann wird die Anzeigepflicht ausgelöst, wenn der Berufsgeheimnisträger im Sinne sicheren Wissens erkennt, daß der Klient ihn gezielt für den Zweck der Geldwäsche in Anspruch zu nehmen versucht. 21 Das Geldwäschebekämpfungsgesetz trat am 15. 8. 2002 in Kraft; die Bargeldübergabe an den Notar fand im August 2001 statt.
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Zum Zeugnisverweigerungsrecht der Berufsgeheimnisträger
nicht weiter interessierenden – Problematik nimmt in der Entscheidung des Senats breiten Raum ein. Zu Recht stellt der Senat letztlich bestimmend auf den Willen des Gesetzgebers22 ab, wonach die neuen Vorschriften „ausschließlich zukünftige Geldwäschehandlungen“ erfassen sollten.23 Für Vorgänge nach dem Inkrafttreten des Geldwäschebekämpfungsgesetzes wird der Schluß aus der erweiterten Anzeigepflicht auf eine entsprechende Einschränkung des Zeugnisverweigerungsrechts des Berufsgeheimnisträgers in der Tat unumgänglich sein. Ist der Berufsgeheimnisträger im konkreten Fall aufgrund seines sicheren Wissens nach § 11 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 Satz 2 GwG zur Verdachtsanzeige verpflichtet, so geht diese gesetzlich begründete Pflicht seinem an sich gegebenen Zeugnisverweigerungsrecht aus § 53 StPO begrifflich vor. Da nach § 11 Abs. 7 GwG der Inhalt seiner Anzeige auch für Strafverfahren wegen Geldwäsche und sonstiger gravierender Straftaten verwendet werden darf, ist der Berufsgeheimnisträger, der pflichtgemäß eine Verdachtsanzeige nach § 11 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 Satz 2 GwG erstattet hat, auch in einem sich hierauf beziehenden späteren Strafverfahren gegen seinen Klienten aussagepflichtig und kann sich nicht auf § 53 StPO berufen. Entscheidend hierfür ist allerdings nicht die faktische Erstattung der Geldwäscheanzeige, sondern das Vorliegen der Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 Satz 2 GwG, also das Bestehen einer Anzeigepflicht. Der 1. Strafsenat weist ausdrücklich darauf hin, daß das Zeugnisverweigerungsrecht der Berufsgeheimnisträger unabhängig davon entfällt, „ob diese ihrer Meldepflicht genügen oder nicht“.
V. Im Verfahren gegen den Beschuldigten stehen die Voraussetzungen der Geldwäsche-Anzeigepflicht nach § 11 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 Satz 2 GwG allerdings nur dann von vornherein außer Streit, wenn der Berufsgeheimnisträger eine solche Anzeige erstattet hat. Andernfalls wird grundsätzlich nur die Möglichkeit (oder der Verdacht) bestehen, der Berufsgeheimnisträger könne im Sinne der Rückausnahme des § 11 Abs. 3 Satz 2 GwG gewußt haben, „daß der Mandant seine Rechtsberatung bewußt für den Zweck der Geldwäsche in Anspruch nimmt“. Ein solcher Verdacht führt aber auch hier noch nicht zur Einschränkung des Zeugnisverweigerungsrechts (vgl. oben III.). Zwar genügt für den Wegfall der Beschlagnahmefreiheit nach § 97 Abs. 2 Satz 3 StPO der bloße Verdacht der Kollusion des Berufsgeheimnisträgers
__________ 22 Konkret auf die Beschlußempfehlung und den Bericht des Innenausschusses vom 5. 6. 2002, BT-Drs. 14/9263 S. 8. 23 Zwar fand die Vernehmung des Notargehilfen im Jahr 2004, lange nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes statt. Nachdem aber eine rückwirkende Anzeigepflicht nicht in Betracht kam, konnte auch das Zeugnisverweigerungsrecht keine rückwirkende Beschränkung erfahren.
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Gunter Widmaier
mit seinem beschuldigten Klienten. Auf die Einschränkung des Zeugnisverweigerungsrechts des Berufsgeheimnisträgers durch die Anzeigepflicht des § 11 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 Satz 2 GwG läßt sich das aber nicht übertragen. Eine Anzeigepflicht besteht nur dann, wenn ihre Voraussetzungen – nämlich das Wissen des Berufsgeheimnisträgers darum, „daß der Mandant seine Rechtsberatung bewußt für den Zweck der Geldwäsche in Anspruch nimmt“ – objektiv fest steht. Sowenig der Verdacht (also die bloße Möglichkeit), eine anzeigepflichtige Situation habe vorgelegen, die Annahme einer Anzeigepflicht rechtfertigt, sowenig führt deshalb die bloße Möglichkeit des Bestehens einer Anzeigepflicht zur Einschränkung des Zeugnisverweigerungsrechts des Berufsgeheimnisträgers. Es kommt hinzu, daß Beschränkungen der Rechte von Berufsgeheimnisträgern – insbesondere bei Rechtsanwälten und Verteidigern – schon im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 GG einer unmittelbaren gesetzlichen Legitimation bedürfen (vgl. BVerfGE 34, 293, 303). Auch dies schließt es aus, die Verdachtsmaßstäbe des § 97 Abs. 2 Satz 3 StPO in die § 53, 53a StPO „hineinzulesen“. Zu Recht betont der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs deshalb in der mehrfach angesprochenen Entscheidung BGHSt 38, 7, 13 für die dort gegebene Situation, daß das Zeugnisverweigerungsrecht „nicht schon bei bloßem Verdacht verteidigungsfremden Verhaltens“ wegfällt; dieses müsse „vielmehr bewiesen sein“: eine klare Absage an die Übernahme der Maßstäbe von § 97 Abs. 2 Satz 3 StPO.24 In jener Sache ging es – unter dem Aspekt des § 252 StPO – um die Verwertbarkeit der früheren Aussagen der Rechtsanwältin in deren eigenem Verfahren. Wäre sie wegen des Einschmuggelns des Revolvers in die Haftanstalt rechtskräftig verurteilt gewesen, so hätte sich der neue Tatrichter auf die Feststellungen dieses Urteils stützen können. Die Rechtsanwältin hatte das gegen sie ergangene Urteil allerdings mit der Revision angefochten, über die noch nicht entschieden war; deshalb konnte das Gericht im späteren Verfahren nur von einer Verdachtssituation ausgehen. Der 5. Strafsenat löste diese Situation mit der gebotenen Klarheit (BGHSt 38, 7, 13): „Ist der Verteidiger noch nicht wegen seines Verhaltens rechtskräftig verurteilt, so ist in dem Verfahren, in dem seine frühere Aussage verwertet werden soll, auf das Ergebnis der Beweisaufnahme abzustellen. Das Gericht hat sich von dem verteidigungsfremden Verhalten des Rechtsanwalts, dessen Aussage zur Einführung und Verwertung in Betracht kommt, zu überzeugen. Das folgt aus dem Gewicht des dem Verteidiger eingeräumten Zeugnisverweigerungsrechts.“
__________ 24 Dementsprechend hebt diese Entscheidung den Unterschied dieser Konstellation gegenüber Fällen hervor, „in denen die Eingriffsrechte der §§ 97, 100a, 138a ff. StPO bedeutsam werden“; dies komme im (ebenfalls bereits oben angesprochenen) Beschluß des 3. Strafsenats vom 25. 6. 1976 (StGB 18/76) „nicht hinreichend zum Ausdruck“.
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In jener Sache konnte in der Hauptverhandlung hinreichend geklärt werden, „daß die damalige Rechtsanwältin O. bei Gelegenheit der Verteidigung ihres Mandaten P. die oben genannten verteidigungsfremden Straftaten begangen“ hatte (a. a. O. S. 14); deshalb stand § 252 StPO dem Rückgriff auf ihre früheren Aussagen nicht entgegen. Außerhalb dieser – durch das Nacheinander mehrerer Verfahren geprägten – Sondersituation wird das Gericht nur ausnahmsweise schon im Zeitpunkt der Vernehmung des Berufsgeheimnisträgers oder (worauf es hier ankommt) seines Berufsgehilfen Gewißheit hinsichtlich des objektiven Bestehens einer (vom Berufsgeheimnisträger nicht erfüllten) Anzeigepflicht nach § 11 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 Satz 2 GwG gewinnen können. Das Zeugnisverweigerungsrecht nach §§ 53, 53a StPO bleibt deshalb grundsätzlich erhalten. Das Zeugnisverweigerungsrecht würde auch nicht etwa rückwirkend deshalb entfallen, weil die Aussage des Berufsgehilfen, dem dieses Recht vom Gericht (wie in dem vom 1. Strafsenat entschiedenen Fall) zu Unrecht versagt worden ist, den bisherigen Verdacht zur Gewißheit machen könnte. Vielmehr ist die Aussage des Berufsgehilfen ungeachtet dessen unverwertbar, daß ihr Inhalt die Voraussetzungen des Verwertungsverbotes zu Fall bringen würde.25 Entscheidend ist allein, wie sich die Situation bei rechtlich einwandfreiem Vorgehen des Gerichts gestaltet hätte.26
VI. Im Ergebnis erfährt das Zeugnisverweigerungsrecht der Berufsgeheimnisträger nach §§ 53, 53a StPO durch die in § 11 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 Satz 2 GwG statuierte Anzeigepflicht also keine wirklich gravierenden und rechtsstaatlich unerträglichen Einschränkungen. Maßgeblich hierfür ist vor allem, daß dies auf bloßer Verdachtsgrundlage – anders als nach § 97 Abs. 2 Satz 3 StPO – generell nicht in Betracht kommen kann. Mag ein solcher Befund für den Augenblick auch beruhigend sein, so ist im Blick auf dieses Beispiel einer sich fast unbemerkt einschleichenden gesetzlichen Einschränkung doch Wachsamkeit geboten.
__________ 25 Vgl. SK-Rogall § 53 Rz. 212. 26 In dem vom 1. Senat entschiedenen Fall hätten freilich auch ohne die Aussage des Notargehilfen hinreichende Anhaltspunkte für eine Anzeigepflicht des Notars nach den Grundsätzen der Rückausnahme des § 11 Abs. 3 Satz 2 GwG bestanden (wenn zum damaligen Zeitpunkt die neuen Vorschriften des GwG schon gegolten hätten).
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Verzeichnis der Schriften von Hans Dahs I. Bücher und selbständige Schriften Handbuch des Strafverteidigers, 7. Aufl., Köln 2005 Die Revision im Strafprozeß, 6. Aufl., München 2001 Handbuch des Strafverteidigers, 6. Aufl., Köln 1999 Kriminelle Kartelle: zur Entstehungsgeschichte des neuen § 298 StGB, Baden-Baden 1998 Die Revision im Strafprozeß, 5. Aufl., München 1993 Taschenbuch des Strafverteidigers, 4. Aufl., Köln 1990 Die Revision im Strafprozeß, 4. Aufl., München 1987 Die Revision im Strafprozeß, 3. Aufl., Köln 1984 Taschenbuch des Strafverteidigers, 3. Aufl., Köln 1984 Handbuch des Strafverteidigers, 5. Aufl., Köln 1983 Die Revision im Strafprozeß, 2. Aufl., München 1980 Taschenbuch des Strafverteidigers, 2. Aufl., Köln 1979 Handbuch des Strafverteidigers, 4. Aufl., Köln 1977 Die Revision im Strafprozeß, München 1972 Das rechtliche Gehör im Strafprozeß, München 1965
II. Kommentierungen Löwe-Rosenberg, Großkommentar zur StPO, §§ 48–71, 25. Aufl., Berlin 1998 Löwe-Rosenberg, Großkommentar zur StPO, §§ 72–93, 24. Aufl., Berlin 1987 Löwe-Rosenberg, Großkommentar zur StPO, §§ 48–71, 24. Aufl., Berlin 1986
III. Beiträge in Zeitschriften Ethische Aspekte im Strafverfahren? – Ein Denkanstoß, JR 2004, S. 96 ff. Anmerkung zu BVerfG, Urt. v. 30. 3. 2004 – 2 BvR 1520, 1521/01, NStZ 2004, S. 259 ff. Urteilsanmerkung: Umfang der Amtsaufklärungspflicht nach Zeugnisverweigerung. BGH, Urt. v. 24. 4. 2003 – 3 StR 181/02, NStZ 2004, S. 451 ff. Rezension: Rita Haverkamp, Elektronisch überwachter Hausarrestvollzug. Ein Zukunftsmodell für den Anstaltsvollzug? Freiburg 2002, GA 2004, S. 491 ff. 553
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StGB – Leipziger Kommentar. Großkommentar. 43. Lieferung: §§ 36–43a; 44. Lieferung: §§ 211–219b (Stand August 2002), NJW 2003, S. XVIII Nachruf Gerhard Hammerstein, NJW 2003, S. 2367 Wissenschaft(ler) in der Strafrechtsfalle? Zu den strafrechtlichen Auswirkungen des Stammzell-Gesetzes, MedR 2003, S. 617 ff. Peter Rieß zum 70. Geburtstag, NJW 2002, S. 1776–1777 § 266 StGB – allzu oft missverstanden, NJW 2002, S. 272 f. „Schriftliches Verfahren“ statt „offensichtlich unbegründet“ (§ 349 II StPO), Anmerkung zu: BGH, B. v. 12. 10. 2000 – 5 StR 414/99, NStZ 2001, S. 298–299 „Reformeifer“ – Zur Rechtsmittelreform in Strafsachen, NJW 2000, S. 1620– 1621 Urteilsanmerkung: Parteiverrat durch einen Rechtsanwalt. BGH, Urt. v. 21. 7. 1999 – 2 StR 24/99, NStZ 2000, S. 369–373 Buchbesprechung: Kramer, Bernhard: Grundbegriffe des Strafverfahrensrechts, 4. Aufl., Stuttgart 1999, NJW 2000, S. 1631–1632 Anmerkung zu BGH, Urt. v. 21. 7. 1999 – 2 StR 24/99 – (§ 356 StGB), NStZ 2000, S. 369 Das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO, immer wieder ein Problem, NJW 1999, S. 186 ff. Rechtsmittelreform im Strafprozeß, NStZ 1999, S. 321 ff. Im Banne der elektronischen Fußfessel, NJW 1999, S. 3469 Der Zeuge – zu Tode geschützt?, NJW 1998, S. 2332 ff. Buchbesprechung: Walbaum, Inga, Schuldspruch in der Revisionsinstanz nach freisprechendem Urteil des Tatgerichts, Frankfurt 1996, GA 1998, S. 98 Buchbesprechung: Baier, Helmut, Strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte außerhalb der Strafprozeßordnung als Ergänzung der §§ 52 ff. StPO, GA 1998, S. 354 § 153a StPO – ein Allheilmittel der Strafrechtspflege, NJW 1996, S. 1192 ff. Die gespaltene Hauptverhandlung, NJW 1996, S. 178 ff. Unterhaltungsautomaten ohne Gewinnmöglichkeit mit Ausgabe von Weiterspielmarken – unerlaubtes Glücksspiel?, GewArch 1996, S. 272 ff. Buchbesprechung: Kleinknecht/Meyer-Goßner: StPO, GVG und Nebengesetze, 42. Aufl., München 1995, NJW 1996, S. 980 Buchbesprechung: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. Lfg. 4, 5, 12, 15, 19–21, NJW 1996, S. 2642 Angeklagter und verdächtiger Zeuge – Parteien im Strafprozeß (§ 356 StGB), NStZ 1995, S. 16 554
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Das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. 10. 1994 – ein Produkt des Superwahljahres, NJW 1995, S. 553 ff. Die Revisionsbegründung – Puzzle oder Glücksspiel?, StraFo 1995, S. 41 ff. Anmerkung zu BGH, Urt. v. 21. 4. 1995 – 1 StR 700/94 – (§ 34 IV AWG), WIB 1995, S. 722 ff. Buchbesprechung: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. Lfg. 13, 14, 16– 18, NJW 1995, S. 2700 Stumpf gewordene StPO?, NJW 1994, S. 909 ff. Buchbesprechung: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl., Lfg 1–3, 8–11, NJW 1994, S. 2472 Buchbesprechung: Delventhal, Holger, Die strafprozessualen Verteidigungsverbote unter besonderer Berücksichtigung des offensichtlich falsch aussagenden Zeugen, München 1990, StV 1994, S. 53 Buchbesprechung: Schlüchter, Ellen, Weniger ist mehr, Aspekte zum Rechtspflegeentlastungsgesetz, Baden-Baden 1992, GA 1994, S. 236 Buchbesprechung: Eidam, Gerd, Unternehmen und Strafe, Köln 1993, GA 1994, S. 286 Das Schweigerecht des Beschuldigten und seine Auskunftsverweigerung als verdächtiger Zeuge (zu BGH, Urt. v. 26. 5. 1992 – 5 Str 122/92 LG Berlin), NStZ 1993, S. 213 Umweltstrafrecht im Unternehmen, HRV-Information 1993 Verständigung im Strafverfahren – eine Zwischenbilanz, NStZ 1993, S. 375 ff. Buchbesprechung: Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 46. Aufl. 1992, NJW 1993, S. 2921 Demontage des Zeugnisverweigerungsrechts, StV 1992, S. 492 ff. Anmerkung zu BGH, Urt. v. 29. 10. 1991 – 1 StR 334/90 – StV 1992, 51 (auch II 34), StV 1992, S. 494 ff. Buchbesprechung: Kleinknecht/Meyer/Meyer-Goßner, Strafprozeßordnung, GVG und Nebengesetze, 40. Aufl. 1991, NJW 1992, S. 1872 Buchbesprechung: Winter, Christoph, Die Reform der Informationsrechte des Strafverteidigers im Ermittlungsverfahren, Europäische Hochschulschriften, Reihe II Bd. 1092, 1991, GA 1992, S. 577 Buchbesprechung: Roxin, Claus, Strafverfahrensrecht, 22. Aufl. 1991, NJW 1992, S. 3029 Buchbesprechung: Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, Bd. III, NZWehrR 1992, S. 131 Buchbesprechung: Rudolphi/Horn/Samson, Systematischer Kommentar zum StGB, Allgemeiner Teil 5 (6. Aufl.), 16. Lfg., NJW 1992, S. 562 555
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Buchbesprechung: Schlothauer/Wieder, Untersuchungshaft, 1992, StV 1992, S. 541 Parteiverrat im Strafprozeß, NStZ 1991, S. 561 ff. Anmerkung zu BGH, B. v. 18. 9. 1990 – 5 StR 396/90 – (§ 60 Nr. 2 StPO), JR 1991, S. 246 ff. Anmerkung zu OLG Düsseldorf, B. v. 8. 1. 1990 – 2 Ws 608/89 (§ 464a II StPO), NStZ 1991, S. 353 ff. Buchbesprechung: Schubert/Regge/Rieß und Schmidt, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, Bd. 2.3, 1990, NZWehrR 1991, S. 87 Buchbesprechung: Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im Grundgesetz und in der MRK, Berlin 1990, StV 1991, S. 330 Buchbesprechung: Meinberg/Link, Umweltstrafrecht in der Praxis, Freiburg, 1988, GA 1990, S. 38 Buchbesprechung: Schubert/Regge/Rieß und Schmidt, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts. Bd. 1.2, Berlin 1990, NZWehrR 1990, S. 175 Buchbesprechung: Rudolphi/Horn/Samson, Systematischer Kommentar zum StGB, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. Lfg. 1 b. 5, NJW 1990, S. 562 Buchbesprechung: Schäfer, G., Praxis der Strafzumessung, NJW 1990, S. 3258 Buchbesprechung: Werner Sarstedt, Ausgewählte Schriften und Vorträge 1952–1985, 1987, GA 1989, S. 86 „Wahrheitserforschung“ contra Unmittelbarkeitsprinzip, StV 1988, S. 169 ff. Absprachen im Strafprozeß – Chancen und Risiken, NStZ 1988, S. 153 Die behördliche Duldung als Rechtfertigungsgrund im Gewässerstrafrecht, NStZ 1988, S. 393 ff. Empfehlen sich Änderungen im strafrechtlichen Umweltschutz, insbesondere in Verbindung mit dem Verwaltungsrecht?, DVBl. 1988, S. 803 Buchbesprechung: Schubert/Regge/Rieß und Schmidt, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, Bd. 2.1, 1988, NZWehrR 1988, S. 219 Der Überwachungswert im Strafrecht – ein untauglicher Versuch, NStZ 1987, S. 440 ff. Anmerkung zu OLG Hamburg, B. v. 17. 2. 1987 – (33) 28/86 Ns., 51 Js 85/84 (§ 138a StPO), BRAK-Mitteilungen 1987, S. 163 Anmerkung zu BGH, B. v. 14. 11. 1986 – 2 StR 577/86 – (§ 60 Nr. 2 StPO), NStZ 1987, S. 516 Anmerkung zu BGH, Urt. v. 7. 10. 1986 – 1 StR 519/86 – (§ 356 StGB), JR 1987, S. 475 ff. 556
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Buchbesprechung: Schmidt-Hieber, Verständigung im Strafverfahren – Möglichkeiten und Grenzen für die Beteiligten in den Verfahrensabschnitten, 1986, NJW 1987, S. 1318 Buchbesprechung: Steindorf, Umweltstrafrecht, 1986, GA 1987, S. 417 Zur strafrechtlichen Haftung des Gewässerschutzbeauftragten nach § 324 StGB, NStZ 1986, S. 97 ff. Anmerkung zu OLG München, B. v. 15. 7. 1985 – 2 WS 768/85 – (§§ 210, 209a, 390, 395 StPO, § 74e GVG), NStZ 1986, S. 183 ff. Anmerkung zu OLG Stuttgart, Urt. v. 14. 11. 1985 – Ss 609/85 (§ 356 StGB), JR 1986, S. 349 ff. Anmerkung zu BGH, Urt. v. 16. 1. 1986 – III ZR/784, Schadenersatz wegen unrichtiger Pressemitteilungen, NStZ 1986, S. 562 ff. Buchbesprechung: Roxin, Strafverfahrensrecht, 19. Aufl. 1985, NJW 1986, S. 906 Buchbesprechung: Alternativ-Entwurf, Novelle zur Strafprozeßordnung, Tübingen 1985, ZRP 1986, S. 181 Zur Verteidigung im Ermittlungsverfahren, NJW 1985, S. 1113 Anmerkung zu OLG Oldenburg, B. v. 17. 5. 1984 – 2 Ws 209/84 – (§ 140 I Nr. 5, II StPO), JR 1985, S. 256 ff. Buchbesprechung: Otto Rudolf Kissel, Die Justitia, 1984, NZA 1985, S. 319 Notwendige Verteidigung auch im Strafvollstreckungsverfahren, NStZ 1984, S. 66 ff. Zum Persönlichkeitsschutz des „Verletzten“ als Zeuge im Strafprozeß, NJW 1984, S. 1921 Offizialverteidigung auch im Strafvollstreckungsverfahren? (zu OLG Bremen, B. v. 16.2.1983 – Ws 9 und 10/83), NStZ 1984, S. 66 ff. Buchbesprechung: Schild, Der Strafrichter in der Hauptverhandlung, Heidelberg 1983, GA 1984, S. 339 Buchbesprechung: Hübner, Allgemeine Verfahrensgrundsätze Fürsorgepflicht oder fair trial?, Tübingen 1983, GA 1984, S. 525 Anmerkung zu OLG Oldenburg, B. v. 17. 5. 1984 – 2 Ws 209/84 – (§ 140 I Nr. 5, II StPO), JR 1984, S. 256 Der Haftgrund der Fluchtgefahr, AnwBl 1983, S. 418 ff. Anmerkung zu LG Hamburg, B. v. 15. 2. 1982 – (34) Qs 3/82 – (§§ 53 ff. StPO), NStZ 1983, S, 182 ff. Buchbesprechung: Rudolphi/Horn/Samson, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch. Bd. 1: Allgemeiner Teil (3. Aufl.), Bd. 1: Allgemeiner Teil (4. Aufl.), 1. Lfg., Frankfurt 1982, NJW 1983, S. 807 557
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Buchbesprechung: Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 21. Aufl. 1982, NJW 1983, S. 437 Buchbesprechung: Rudolphi/Horn/Samson, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. I Allgemeiner Teil, 3. Aufl.; Bd. I, 4. Aufl. (1. Lfg.), Frankfurt 1982, NJW 1983, S. 807 Anmerkung zu OLG Hamm, B. v. 5. 2. 1981 – 1 Ws 15/81 – (Die Begründung der Revision zu Protokoll gem. § 345 II Strafprozeßordnung – ein Fossil!), NStZ 1982, S. 345 ff. Buchbesprechung: Ellersiek, Die Beschwerde im Strafprozeß, Berlin 1980, NJW 1982, S. 1508 Disziplinierung des Tatrichters durch Beschlüsse nach § 349 Abs. 2 StPO, NStZ 1981, S. 205 Buchbesprechung: Tiedemann, Die Neuordnung des Umweltstrafrechtes, Berlin 1980, GA 1981, S. 330 Buchbesprechung: Rudolphi/Horn/Samson/Schreiber, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 2, Besonderer Teil, NJW 1980, S. 167 Buchbesprechung: Schubarth, Zur Tragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, Basel 1979, GA 1980, S. 397 Anmerkung zu OLG Hamburg, B. v. 29. 7. 1977 – 3 Ws 25/77 – (§§ 97 I 1 u. 2, 126 I 1 BRAGO), AnwBL 1979, S. 72 ff. Buchbesprechung: Kleinknecht, Strafprozeßordnung, 34. Aufl. 1979, NJW 1979, S. 2386 Die Urteilsrüge – ein Irrweg, NJW 1978, S. 140 ff. Verfassungsrechtliche Gewährleistung umfassender Verteidigung im Revisionsverfahren, NJW 1978, S. 140 ff. Der Standpunkt des Verteidigers zum Sachbeweis, BKA-Vortragsreihe Bd. 24, 1978, S. 19 ff. Buchbesprechung: Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, Berlin 1977, GA 1978, S. 89 Wehrhafter Rechtsstaat und freie Verteidigung – ein Widerspruch, ZRP 1977, S. 164 ff. Buchbesprechung: Rudolphi/Horn/Samson/Schreiber, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch Bd. 2 Besonderer Teil, Bd. 1 Allgemeiner Teil (2. Aufl.), NJW 1977, S. 942 und 1147 Buchbesprechung: Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl., Bielefeld 1977, NJW 1977, S. 2347 Referat: Wehrhafter Rechtsstaat und freie Verteidigung – ein Widerspruch?, ZRP 1977, S. 164 558
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Das „Anti-Terroristen-Gesetz“, NJW 1976, S. 2145 ff. Die Relativierung absoluter Revisionsgründe, GA 1976, S. 353 ff. Buchbesprechung: Kleinknecht, Strafprozeßordnung mit GVG und Nebengesetzen, 32. Aufl. 1975, NJW 1976, S. 30 Buchbesprechung: Käßer, Wahrheitsforschung im Strafprozeß – Methoden der Sachverhaltsaufklärung, GA 1976, S. 155 Buchbesprechung: Hahn, Die notwendige Verteidigung im Strafprozeß, Schriften zum Prozeßrecht, Bd. 40, Berlin 1975, ZRP 1976, S. 230 Buchbesprechung: Rüping, Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs und seine Bedeutung im Strafverfahren, Strafrechtliche Abhandlungen N. F., Bd. 26, Berlin 1976, NJW 1976, S. 2114 Buchbesprechung: Hahn, Die notwendige Verteidigung im Strafprozeß, Schriften z. Prozeßrecht, Bd. 40, Berlin 1975, ZRP 1976, S. 230 Ausschließung und Überwachung des Strafverteidigers – Bilanz und Vorschau, NJW 1975, S. 1385 Buchbesprechung: Robert, Der Augenschein im Strafprozeß, Züricher Schriften zum Verfahrensrecht, 1974, GA 1975, S. 343 Buchbesprechung: Kern/Roxin: Strafverfahrensrecht, 13. Aufl. 1975, NJW 1975, S. 1875 Buchbesprechung: Rudolphi/Horn/Samson/Schreiber, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, Allgemeiner Teil, NJW 1975, S. 2059 Bewältigung großer Strafprozesse – um welchen Preis?, NJW 1974, S. 1538 Anmerkung zu OLG Köln, Urt. v. 28. 8. 1973 – Ss 68/73 – (§ 329 I StPO), NJW 1974, S. 467 ff. Buchbesprechung: Baumann, Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Strafprozeßrechts. Eine Einführung an Hand von Fällen, 1972, GA 1974, S. 158 Buchbesprechung: Knapp, Der Verteidiger – ein Organ der Rechtspflege, 1974, NJW 1974, S. 2042 Die Wiedereinsetzung im Strafprozeß in der Krise, AnwBl 1973, S. 331 ff. Buchbesprechung: Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung, 1971, NZWehrR 1973, S. 95 Buchbesprechung: Löhr, Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, Berlin 1972, GA 1973, S. 317 ff. Der streikende Pflichtverteidiger, AnwBl 1972, S. 297 ff. Praktische Probleme des Schuldinterlokuts, GA 1971, S. 353 ff.
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Buchbesprechung: Schwenck, Strafgesetzbuch, Textausgabe mit Erläuterungen und Anmerkungen, 1970, NZWehrR 1971, S. 79 Zur Vorauswirkung von Rechtsreformen, ZRP 1970, S. 3 ff. Strafjustiz im Übergang, Varia Juridica, 1969, 69 Unzulässige Einbehaltung des Führerscheins durch die Polizei, NJW 1968, S. 632 ff. Anmerkung zu LG Mainz, B. v. 26. 5. 1967 – 2 Qs 111/67 – (§§ 33, 111a StPO), NJW 1968, S. 414 ff. Anmerkung zu LG Frankfurt, B. v. 22. 3. 1966 – 5/10 Qs 6/66 – (§§ 350, 467 StPO), NJW 1967, S. 66 ff. Ausnahmen für bestimmte Fahrzeugarten bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a Strafprozessordnung, NJW 1966, S. 239 ff. Verteidiger der Gehilfe des Gerichts?, AnwBl 1966, S. 371 ff. Anmerkung zu LG Bonn, B. v. 8. 11. 1965 – 13 Qs 501/65 – (§ 380 StPO), MDR 1966, S. 606 ff. Anmerkung zu OLG Koblenz, B. v. 5. 3. 1965 – 1 Ws 45/65 – (§ 467 II StPO), NJW 1965, S. 1289 ff. Anmerkung zu LG Schweinfurt, B. v. 3. 3. 1965 – Qs 44/65 – (§§ 303, 305, 411, 413 IV StPO), NJW 1965, S. 1872 ff. Vertretung des Angeklagten durch seinen Verteidiger bei Erklärungen gem. § 257 StPO, NJW 1962, S. 2238 ff. Rechtsgespräch im Strafverfahren?, NJW 1961, S. 1244 ff.
IV. Beiträge in Festschriften und Sammelwerken Als Zeuge vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, Festschrift für Hans-Joachim Rudolphi zum 70. Geburtstag. München 2004, S. 597 ff. Zur Bedeutung von Sachverständigengutachten im Strafprozeß – Das „Kieler Amalgam-Gutachten“ aus strafprozeßlicher Sicht, Materialreihe des Instituts der Deutschen Zahnärzte, Bd. 20, 1999 Strafverteidigung und Strafrechtspflege – eine Momentaufnahme, Festschrift für Professor Dr. Walter Odersky, 1996, S. 317 ff. Neue Aspekte zu § 344 II StPO, Festschrift für Hannskarl Salger, 1995 Strafrechtliche Haftung des „Zustandsstörers“ bei Altlasten, Festschrift für Konrad Redeker, 1993, S. 475 ff. Bestehenbleibende Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO) und ihre Probleme, Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege: Symposium für E. W. Hanack, 1990 560
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Die Beschlagnahme von Verteidigungsmaterial und die Ausforschung der Verteidigung, Festschrift für Karlheinz Meyer, 1990, S. 61 ff. Der Eid – noch ein zeitgemäßes Instrument zur Wahrheitsermittlung im Strafprozeß, Festschrift für Kurt Rebmann, 1989, S. 161 ff. Die Entbindung des Rechtsanwalts von der Schweigepflicht im Konkurs der Handelsgesellschaft, Festschrift für Theodor Kleinknecht, 1985, S. 63 Apokryphe Haftgründe – Erwartung einer hohen Strafe = Fluchtgefahr, Charakter der Straftat = Verdunkelungsgefahr, Festschrift für Hanns Dünnebier, 1982, S. 227 ff. Zur Rechtswirksamkeit des nach der Urteilsverkündung „herausgefragten“ Rechtsmittelverzichts, Festschrift für Erich Schmidt-Leichner, 1977, S. 17 ff.
V. Vorträge und Referate Rechtsmittelreform in Strafsachen – nicht ohne Reform des Ermittlungsverfahrens, Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer, 174. Tagung, Berlin 2000 Kartellstrafrecht, Submissionsbetrug und präventive Verteidigungsberatung in Deutschland, BDI-Anti-Trust-Seminar in Berlin 2000 Die Wahrheitspflicht des Strafverteidigers – AG Strafrecht des DAV 12. 11. 1999 in Berlin, Vortrag abgedruckt in StraFo 2000, S. 181 ff. Die Wahrheitspflicht des Strafverteidigers, Vortrag vor der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV anläßlich des Strafverteidiger-Kolloquiums 1999 in Berlin, abgedruckt in StraFo 2000, S. 181, 1999 Die Ausweitung des Widerspruchserfordernisses, VII. Strafverteidiger-Frühjahrssymposium 1998 der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV in Karlsruhe, abgedruckt in StraFo 1998, S. 253, 1998 Die Ausweitung des Widerspruchserfordernisses, Strafverteidiger Forum, 1998 Strafverteidiger, Strafjustiz, Strafgesetzgeber – Kampf aller gegen alle?, Vortrag vor der Gesellschaft Hamburger Juristen, 1996 Medizin und Jurisprudenz – trotz vieler Worte sprachlos, Referat für den Kongreß für Verbrennungsmedizin in Arosa, 1996 Strafverteidigung und Strafrechtspflege – auf dem Weg zur Dauerkonfrontation?, Vortrag vor der Münchener Juristischen Gesellschaft, 1995 Staatsanwälte in Redaktionen – Zwangsmaßnahmen gegen Medien, Vortrag vor der Gesellschaft zur Förderung des Medienrechts e. V. in Hamburg, 1995 561
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Die Revisionsbegründung – Puzzle oder Glücksspiel?, V. StrafverteidigerFrühjahrssymposium der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV am 6./7. 5. 1994 in Karlsruhe, abgedruckt in StraFo 1995, S. 41 ff. Der Bürger im Strafverfahren: Zwischen Vorverurteilung und Persönlichkeitsschutz, Vortrag im Rahmen der Vorträge zur Rechtsentwicklung der achtziger Jahre, abgedruckt in Osnabrücker Rechtswissenschaftliche Abhandlungen Bd. 27, 1991, S. 367 ff. Probleme des Wirtschaftsstrafrechts in der Praxis, Vortrag abgedruckt in Wirtschaftsethik-Wirtschaftsstrafrecht, Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Neue Folgen, Heft 67, 1991 Überspannung der Anforderungen an den Sachvortrag aus der Sicht des Revisionsführers, III. Strafverteidiger-Frühjahrssymposium 1990 der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV, Karlsruhe, 4./5. 5. 1990, abgedruckt in Grundprobleme des Revisionsverfahrens, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaften des DAV, 1990, S. 85 ff. Absprachen im Strafprozeß – Chancen und Risiken aus der Sicht eines Strafverteidigers, Vortrag vor der Akademie Sankelmark/Schleswig, 1989 Verwertungsverbote bei unzulässiger Beschlagnahme von Tagebuchaufzeichnungen, Verteidigungsunterlagen sowie bei unzulässiger Gesprächsaufzeichnung und Blutprobe, II. Strafverteidiger-Frühjahrssymposium der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV am 27./28.5.1988 in Karlsruhe, abgedruckt in Wahrheitsfindung und ihre Schranken, 1989, S. 122 ff. Abwasserbeseitigung und Umweltstrafrecht, Seminar Aktuelle Probleme der Abwasserbeseitigung in NRW, Deutsches Volksheimstättenwerk in Hamm, 1988 Sachverständigen-Hearing des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages – Genetischer Fingerabdruck – Vortrag für die Bundesrechtsanwaltskammer (Protokoll Nr. 31 des Deutschen Bundestages, 11. Wahlperiode 1987, 6. Ausschuß) 1988 Die Hauptverhandlung aus der Sicht des Strafverteidigers, Vortrag vor der Deutschen Richterakademie in Trier, 1988 Die Hauptverhandlung im Strafprozeß – Absprachen im Strafverfahren – Referat vor der Deutschen Richterakademie in Trier, 1987 Absprachen im Strafprozeß – ein Handel mit der Gerechtigkeit?, Symposium des Ministeriums der Justiz des Landes Baden-Württemberg am 20./21. 11. 1986, 1987 Juristische Probleme im Zusammenhang mit AIDS-Patienten, Referat vor der 117. Tagung der Vereinigung Rheinisch-westfälischer Dermatologen, Düsseldorf, am 11. 10. 1997, abgedruckt in Zeitschrift für Hautkrankheiten, 1987, S. 1623 ff.
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Der Verteidiger und die Polizei, Vortrag vor der 171. Strafrechtlich-kriminologischen Fachtagung des Justizministeriums NRW in Mühlheim/Ruhr, 1985 Zum Persönlichkeitsschutz des Zeugen im Strafverfahren, Antrittsvorlesung vor der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn, 1984 Richter und Polizei – Anmerkungen eines Verteidigers, Fortbildungstagung für Richter und Staatsanwälte des OLG Schleswig, 1983 Empfiehlt es sich, die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Strafverfahrens neu zu gestalten, insbesondere zur Verbesserung der Rechtsstellung des Beschuldigten weitere nichtöffentliche Verfahrensgänge zu entwickeln?, Referat zum 54. Deutschen Juristentag, abgedruckt in Sitzungsbericht K, 1982 Verteidigung und Strafverfolgung – widerstreitende Organe der Rechtspflege?, Vortrag vor dem Bundeskriminalamt in Bonn, 1980 Aussichtsreiche und aussichtslose Revisionsrügen (zum aktuellen Stand der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung), Vortrag vor der Vereinigung der Rechtsanwälte und Notare in Münster e. V., 1979 Die Revision aus der Sicht des Rechtsanwalts, Vortrag vor der Deutschen Richterakademie in Trier, 1979 Der Standpunkt des Verteidigers zum Sachbeweis, Referat auf der Arbeitstagung des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden, abgedruckt in BKA-Vortragsreihe Bd. 24, S. 19, 1978 Richterliches Verhalten aus der Sicht des Rechtsanwalts, Vortrag vor der Deutschen Richterakademie in Trier, 1978 Strafverteidigung und Standesrecht, Vortrag vor der Vereinigung Berliner Strafverteidiger e. V. in Berlin, 1977 Ausschließung und Überwachung des Strafverteidigers – Bilanz und Vorschau, Referat in der offenen Sitzung des Strafrechtsausschusses des DAV auf dem 38. Deutschen Anwalts-Tag in Berlin, abgedruckt in NJW 1975, S. 1385 ff. Sachverständigen-Hearing des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (§ 148 Strafprozeßordnung), Vortrag für den Deutschen Anwaltverein, 1974 Strafverteidigung in Theorie und Praxis, Vortrag vor den Referendararbeitsgemeinschaften des Landgerichts Bonn, 1974 Der Verteidiger im Strafprozeß und in der Gegenwart, Vortrag vor dem Gesprächskreis Justiz der Hermann-Ehlers-Akademie in Kiel, 1972 Zweiteinteilung des Strafprozesses nach angelsächsischem Vorbild – ein Reformanliegen, Vortrag vor der Neue Gesellschaft e. V. Bielefeld, 1972 563
Verzeichnis der Schriften von Hans Dahs
Die Neugestaltung des Strafverfahrens – Auswirkungen auf die Praxis, Wochenseminar der Rechtsanwaltskammer München, 1972 Sachverständigen-Hearing des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages – Gesetz zur Änderung des GVG – Gerichtsordnungsrecht, 1971 Zweiteilung der Hauptverhandlung durch ein Schuldinterlokut, Referat beim Deutschen Anwaltstag in Nürnberg, 1971 Der Übergang zum neuen Strafrecht in der Praxis, Bonner Anwaltverein, 1969
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Autorenverzeichnis BEULKE, Werner Prof. Dr., Universität Passau BÖTTCHER, Reinhard Prof. Dr., Präsident des Oberlandesgerichts a. D., Ebersberg GROß, Karl-Heinz Dr., Ministerialdirigent a. D., Wiesbaden HAMM, Rainer Prof. Dr., Rechtsanwalt, Frankfurt/Main IGNOR, Alexander Prof. Dr. Dr., Rechtsanwalt, Berlin JAKOBS, Günther Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn KINDHÄUSER, Urs Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn KNIERIM, Thomas C. Rechtsanwalt, Mainz KRAUSE, Daniel Dr., Rechtsanwalt, Berlin LESCH, Heiko Prof. Dr., Rechtsanwalt, Bonn MEHLE, Volkmar Prof. Dr., Rechtsanwalt, Bonn MÜLLER, Eckhart Dr., Rechtsanwalt, München MÜSSIG, Bernd Privatdozent Dr., Rechtsanwalt, Bonn ODENTHAL, Hans-Jörg Dr., Rechtsanwalt, Köln PAEFFGEN, Hans-Ullrich Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn PUPPE, Ingeborg Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn 565
Verzeichnis der Autoren
RIESS, Peter Prof. Dr., Ministerialdirektor a. D., Bonn SCHÄFER, Gerhard Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a. D., Stuttgart SCHLOTHAUER, Reinhold Prof. Dr., Rechtsanwalt, Bremen SCHNEIDER, Hartmut Dr., Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, Leipzig SENGE, Lothar Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe VOLK, Klaus Prof. Dr. Dr. h. c. , Ludwig-Maximilians-Universität, München WALLAU, Rochus Rechtsanwalt, Bonn WEHNERT, Anne Dr., Rechtsanwältin, Düsseldorf WEIHRAUCH, Matthias Justizrat Dr., Rechtsanwalt, Kaiserslautern WIDMAIER, Gunter Prof. Dr., Rechtsanwalt, Karlsruhe ZACZYK, Rainer Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn
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