Petasos: Festschrift für Hans Lohmann 3770555244, 9783770555246

Die Zwischenbilanz einer wissenschaftlichen Wanderung: Mit der Festschrift PETASOS wird mit Hans Lohmann ein internation

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PETASOS: Festschrift für Hans Lohmann
Inhaltsverzeichnis
VORWORT
PUBLIKATIONEN VON HANS LOHMANN
TABULA GRATULATORIA
Teil A. ANTIKENREZEPTION
Friedrich der Weise und Anna das Wunder. Zwei Kapselbildnisse von 1525 in der Wiener Kunstkammer
Reisen für die Antike. Richard Chandler in Alexandria Troas
Reisen für die Antike. Richard Chandler in Sigeion
Reisen für die Antike. Richard Chandler in Teos
Die Bundesfestung Ulm und ein vielleicht etwas ungewöhnlicher Blick auf das antike Befestigungswesen
Teil B. GESCHICHTE UND EPIGRAPHIK
Euböa in Sizilien – Apoikie oder Übersetzungsfehler?
›Kosmopolitische Vorstellungen‹ im 4. Jahrhundert v. Chr. und das Herrschaftsverständnis Alexanders des Großen in der Forschungsdiskussion
Aristophanes, Platon und der Tod des Sokrates. Didaktische Überlegungen zu einem klassischen Gegenstand in nachklassischer Zeit
Modelling long-term social change in the landscape: case studies from Greece
Archaische Vasengraffiti aus dem milesischen Aphrodite-Heiligtum in Oikus
Teil C. KUNST- UND FELDARCHÄOLOGIE, BAUFORSCHUNG
Mediterranes, Atlantisches und Kontinentales in der bronze- und ältereisenzeitlichen Stelenkunst der Iberischen Halbinsel
Von Hellas bis Hessen. Zu möglichen Importen gläserner Perlen während der spätesten Bronzezeit
Begegnung: Orientalische und griechische Ikonographie auf einem Krateriskos im Heraion von Samos
Eine ungewöhnliche frührotfigurige Schale
Der Zeus Nemeios des Lysipp und Alexander der Große
Hekatomnidische ›Dynastengräber‹. Abbild karischer Tradition oder Ausdruck einer hellenisierten Gesellschaft?
Ein Altar für zwei Tempel. Fallbeispiele aus Athen und Attika
Der Markttempel in Demetrias und die Gruppe der ›peripteralen Kleintempel‹
Die Westanlagen des Heiligtums von Yria auf Naxos
Die jüngsten Ausgrabungen in Magnesia am Maeander (2007–2011)
The terraces of Atene
Zwischen Caesar und Drusus. Das ›Uferkastell‹ von Lünen-Beckinghausen und seine Vorgängersiedlung
Sinope colonia sitiens. A note on Pliny, Epist. 10, 90–91 based on new evidence from the Sinop Regional Archaeological Project
Die Campi Macri. Örtliche Dynamik im zenturierten Norditalien
When, and of what reason, was the Panagia Gorgoepekoos built?
Zur Disposition des Schatzhauses IV in Olympia
Teil D. METHODIK
Methodische Anmerkungen zur Identifizierung mykenischer Gräber in Westanatolien
Überlegungen zu den spätbronze- und früheisenzeitlichen Landnutzungsstrategien im mittleren Dunajectal, Kleinpolen
Römisches Militärwesen aus der Vogelperspektive. Luftbildarchäologie in Nordrhein-Westfalen
The Aksu Çayı (Kestros River) coastal plain and the harbour of Perge. A palaeogeographic and geoarchaeologic study in ancient Pamphylia (SW Turkey)
Ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte geodätischer Arbeiten zu archäologischen Forschungsprojekten von Hans Lohmann
TAFELN
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Petasos: Festschrift für Hans Lohmann
 3770555244, 9783770555246

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PETASOS

MITTELMEERSTUDIEN

Herausgegeben von

Mihran Dabag, Dieter Haller, Nikolas Jaspert und Achim Lichtenberger

BAND 2

Georg Kalaitzoglou, Gundula Lüdorf (Hg.)

PETASOS Festschrift für Hans Lohmann

Wilhelm Fink I Ferdinand Schöningh

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de www.schoeningh.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn ISBN 978-3-7705-5524-6 (Fink) ISBN 978-3-506-77739-3 (Schöningh)

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

1

PUBLIKATIONEN VON HANS LOHMANN

5

TABULA GRATULATORIA

13

Teil A. ANTIKENREZEPTION

15

Erika Simon: Friedrich der Weise und Anna das Wunder. Zwei Kapselbildnisse von 1525 in der Wiener Kunstkammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Özge Yiğit Özgül: Reisen ür die Antike. Richard Chandler in Alexandria Troas . . . . . . .

25

Jan Henrik Hartung: Reisen ür die Antike. Richard Chandler in Sigeion . . . . . . . . . . .

35

Frank Hulek: Reisen ür die Antike. Richard Chandler in Teos . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Oliver Hülden: Die Bundesfestung Ulm und ein vielleicht etwas ungewöhnlicher Blick auf das antike Befestigungswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil B. GESCHICHTE UND EPIGRAPHIK

73

Linda-Marie Günther: Euböa in Sizilien – Apoikie oder Übersetzungsfehler? . . . . . . . . .

75

Karl-Wilhelm Welwei: ›Kosmopolitische Vorstellungen‹ im 4. Jahrhundert v. Chr. und das Herrschasverständnis Alexanders des Großen in der Forschungsdiskussion . . . . . . .

83

Justus Cobet: Aristophanes, Platon und der Tod des Sokrates. Didaktische Überlegungen zu einem klassischen Gegenstand in nachklassischer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

John Bintliff: Modelling long-term social change in the landscape: case studies from Greece . 111 Norbert Ehrhardt: Archaische Vasengraffiti aus dem milesischen Aphrodite-Heiligtum in Oikus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Teil C. KUNST- UND FELDARCHÄOLOGIE, BAUFORSCHUNG

129

Dirk Brandherm: Mediterranes, Atlantisches und Kontinentales in der bronze- und ältereisenzeitlichen Stelenkunst der Iberischen Halbinsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Leonie Carola Ko: Von Hellas bis Hessen. Zu möglichen Importen gläserner Perlen während der spätesten Bronzezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Bärbel Morstadt: Begegnung: Orientalische und griechische Ikonographie auf einem Krateriskos im Heraion von Samos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Norbert Kunis: Eine ungewöhnliche frührotfigurige Schale . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Aim Litenberger: Der Zeus Nemeios des Lysipp und Alexander der Große . . . . . . . . 179 Gundula Lüdorf: Hekatomnidische ›Dynastengräber‹. Abbild karischer Tradition oder Ausdruck einer hellenisierten Gesellscha? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Ulri-Walter Gans: Ein Altar ür zwei Tempel. Fallbeispiele aus Athen und Aika . . . . . 205 Torsten Mattern: Der Markempel in Demetrias und die Gruppe der ›peripteralen Kleintempel‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Aenne Ohnesorg: Die Westanlagen des Heiligtums von Yria auf Naxos . . . . . . . . . . . . 227 Orhan Bingöl: Die jüngsten Ausgrabungen in Magnesia am Maeander (2007–2011) . . . . . 241 Merle K. Langdon: e terraces of Atene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Wolfgang Ebel-Zepezauer: Zwischen Caesar und Drusus. Das ›Uferkastell‹ von LünenBeckinghausen und seine Vorgängersiedlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Owen Doonan: Sinope colonia sitiens. A note on Pliny, Epist. 10, 90–91 based on new evidence from the Sinop Regional Archaeological Project . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Patric Alexander Kreuz: Die Campi Macri. Örtliche Dynamik im zenturierten Norditalien . 267 Georgios Makris: When, and of what reason, was the Panagia Gorgoepekoos built? . . . . . 279 Bernd Lehnhoff: Zur Disposition des Schatzhauses IV in Olympia . . . . . . . . . . . . . . . 289

Teil D. METHODIK

301

Georg Kalaitzoglou: Methodische Anmerkungen zur Identifizierung mykenischer Gräber in Westanatolien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Tobias L. Kienlin – Klaus Cappenberg – Marta M. Korczyńska: Überlegungen zu den spätbronze- und früheisenzeitlichen Landnutzungsstrategien im mileren Dunajectal, Kleinpolen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Baoquan Song: Römisches Militärwesen aus der Vogelperspektive. Lubildarchäologie in Nordrhein-Westfalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

Helmut Brüner – Daniel Kelterbaum: e Aksu Çayı (Kestros River) coastal plain and the harbour of Perge. A palaeogeographic and geoarchaeologic study in ancient Pamphylia (SW Turkey) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Hanns-Severin Haase – Franz-Josef Heimes – Lothar Lenzmann – Franz Josef Lohmar – Alfred Miske: Ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte geodätischer Arbeiten zu archäologischen Forschungsprojekten von Hans Lohmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

TAFELN

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V Der vorliegende Sammelband ›Petasos – Festschri ür Hans Lohmann‹ wurde nicht als Würdigung eines Lebenswerks konzipiert. Allenfalls mag er als Zwischenbilanz durchgehen, in der Schüler, Kollegen und Freunde Bezug auf das bisher Erreichte nehmen und die Gelegenheit ergreifen, dem Jubilar herzlich zu seinem 65. Geburtstag zu gratulieren. Im günstigsten Falle mögen die hier gesammelten Beiträge den einen oder anderen Impuls zu weiteren, eigenen Forschungen geben. Hans Lohmann, geboren am 16. September 1947 in Berlin, nahm im Jahre 1966 sein Studium der Klassischen Archäologie kombiniert mit den Nebenächern Alte Geschichte und Ur- und Frühgeschichte an der Freien Universität in Berlin auf. Später wechselte er an die Universität Basel und promovierte schließlich im Jahre 1975 bei Erika Simon an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Bereits mit seiner Dissertation über »Grabmäler auf unteritalischen Vasen« erwarb er sich auf diesem Gebiet internationale Anerkennung. Wer nun meint, sein wissenschalicher Werdegang sei damit vorgezeichnet gewesen und er habe sich fortan ausschließlich auf die kunstwissenschaliche Ausrichtung des Faches fokussiert, sieht sich getäuscht. Denn so einfach ist Hans Lohmann kaum zu fassen. In der Rückschau dürften seine Reisestipendien – Stipendien des Deutschen Akademischen Austauschdienstes ür Griechenland (1970) und Italien (1971/72) sowie das Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts (1977) – zwar auch zu seiner äußerst umfangreichen Kenntnis des Denkmälerbestandes beigetragen, nicht zuletzt aber wichtige Impulse ür sein breit geächertes Interesse an nahezu allen ›Kernproblemen‹ der modernen Archäologie gegeben haben. Seine zahlreichen Publikationen zu den unterschiedlichsten emen (s. Publikationsliste) mögen hier als Beleg dienen. Doch insbesondere als Feldforscher hat sich Hans Lohmann auch über die Landesgrenzen hinaus Achtung und Respekt erworben. Und dies nicht etwa nur, weil sein Name im späteren Verlauf seines Werdegangs durch die Landesaufnahme in der Chora von Milet mit dem Namen eines der prestigeträchtigen Ausgrabungsplätze verbunden wäre. Vielmehr ist es sein persönliches Verdienst, stets rastlos, gleichsam auf der ›Wanderscha‹ – woür der Petasos ein sinnälliges Symbol sei –, die Survey- und Siedlungsarchäologie gleichermaßen im deutschsprachigen Raum wie auch international als ernstzunehmenden Forschungszweig der Klassischen Archäologie etabliert zu haben. Seine erste Beschäigung ührte ihn in die Schweiz, wo er in den Jahren 1976 und 1978 die Ausgrabungen von Augst und Kaiseraugst leitete. Es ist sicher Ausdruck einer besonderen geistigen und wissenschalichen Flexibilität, wenn Hans Lohmann sich dann auf dem von der Ur- und Frühgeschichte dominierten Feld der Landesarchäologie in Bonn betätigte (1979–1980), um sich anschließend als wissenschalicher Mitarbeiter bei Hans Lauter in Bochum (seit 1981) und gemeinsam mit ihm in Aika wieder zu finden. Parallel zu den Ausgrabungen der bronzezeitlichen Akropole von Kiapha iti, die von 1982–1988 unter der Leitung des späteren Ordinarius von

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Vorwort

Marburg stafanden, beschri er mit der Landesaufnahme des antiken Demos Atene (1981–1990) zudem eigene Wege. Und dort, in Aika, gewann er durch seine Ausdauer, den scharfen Blick ür Details wie ür den großen Zusammenhang neue, nicht immer willkommene oder bequeme Einsichten in die antike Lebensrealität auf dem Lande. Seine Forschungen mündeten in einer bis heute viel beachteten und noch immer maßgeblichen Monographie »Atene. Forschungen zur Siedlungs- und Wirtschastruktur des klassischen Aika«, mit der er im Jahre 1990 an der RuhrUniversität Bochum habilitiert wurde. Auauend auf diesen auch methodisch bedeutsamen Impulsen ür die Erforschung antiker Landschaen wanderte Hans Lohmann – und in seinem Gefolge die meisten seiner Schüler – nach Kleinasien an die ionischen Gestade. Wie einige der hier enthaltenen Beiträge zeigen, vermochte er auch dort, einmal gelandet, Standards zu setzen und außer seinen Schülern auch den forschenden Kollegen neue Blickwinkel auf die Hinterlassenschaen der Antike – doch nicht allein auf diese – zu eröffnen. Über fast ein Jahrzehnt (1990–1999) erforschte er mit seinem Team das Hinterland von Milet und im Jahre 2000 dann die südlich benachbarte Kazıklı-Halbinsel, bis er in einem weiteren Sprung, diesmal über den ehemaligen Latmischen Golf, das Mykale-Gebirge erreichte. Der extensive Survey in der Mykale gipfelte im Jahre 2004 in der Entdeckung der karischen Höhensiedlung Melia und dem in seinen Mauern befindlichen Panionion. Obwohl noch immer kontrovers diskutiert, sprechen die Befunde eindeutig ür seine Deutung. Nicht zuletzt zeichnet sich Hans Lohmann durch seine Kollegialität und seine hohe Bereitscha zu interdisziplinärer Zusammenarbeit aus. Um die optimale Lösung ür jedes Problem zu finden, stellt er zugunsten eines Erkenntnisgewinns seine Materialien uneigennützig auch anderen zur Verügung. Wenn es dazu notwendig und dienlich schien, war Hans Lohmann sofort bereit, auch neue, noch unerprobte Techniken einzusetzen. So hat er sich beispielsweise auch hinsichtlich der Vermessungsarbeiten freiwillig hohen Standards verpflichtet, die in der Klassischen Archäologie keinesfalls Allgemeingut waren. Bereits im Jahre 1993 setzte er im Rahmen seines Milet-Projekts erstmals das Navigations- und Differenzielle GPS ein – zu einer Zeit, als noch nicht einmal allgemein bekannt war, woür diese Abkürzung steht. Nicht unerwähnt seien aber auch der Einsatz des ›Rotometers‹ zur Aufnahme von Grabkammern sowie das 3D-Laserscanning zur Dokumentation des Grabungsbefundes im archaischen Panionion. Sein persönliches Engagement, das nicht selten jede Sorge um mögliche Gefahren vermissen lässt, nötigte nicht nur seinen deutlich jüngeren Schülern Respekt ab, sondern garantierte in zahllosen Fällen erst den erfolgreichen Abschluss der Unternehmungen. Angesichts dieser vielältigen Interessen und Fähigkeiten von Hans Lohmann, kommt es nicht von ungeähr, dass die vorliegenden Beiträge ein breit geächertes Spektrum an emen abdecken, vielmehr reflektieren sie in ihrer Gesamtheit die von ihm vorgegebene Bandbreite. Es ist sicher nicht nur ür seine Freunde und Schüler unverständlich, warum einem Wissenschaler vom Rang eines Hans Lohmann, der gerade auf dem Gebiet der Landesaufnahme Maßstäbe gesetzt hat, nie ein Lehrstuhl ür Siedlungsachäologie angetragen wurde. Sein Engagement blieb allerdings nicht auf die Arbeit im Felde beschränkt, sondern von ihm profitierten und profitieren weiterhin zahllose Studenten, doch insbesondere seine Schüler. An dieser Stelle seien auch seine alitäten als akademischer Lehrer entsprechend gewürdigt, denn Hans Lohmann versteht es wie kaum ein zweiter, Studierende ür die Archäologie zu begeistern. Wer einmal eine seiner flammenden Reden gehört hat, mit denen er auf bestehende Missstände oder Fehleinschätzungen hinweist, der ahnt, welch hohen Stellenwert die Archäologie in seinem Leben einnimmt. Bereits während der ersten Semester vermielt er seinen Studenten, wie wichtig es ist, Sachverhalte kritisch zu reflektieren und problemorientiert innovative Ansätze und Lösungswe-

Vorwort

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ge zu finden und liefert den Ansporn, sich nie mit vordergründigen Antworten oder gar einem Mielmaß zufrieden zu geben. Wie in der Feldforschung beitreibt Hans Lohmann auch die Lehre und besonders die intensive Betreuung seiner Schüler nicht selten bis zur eigenen Erschöpfung – gelegentlich aber auch der seiner Schüler und Mitarbeiter. Darüber hinaus ist es uns eine angenehme Pflicht, den zahlreichen Personen zu danken, die auf unterschiedlichste Weise zum Entstehen dieser Festschri beigetragen haben. An exponierter Stelle sei Gerhard Tuhas (Bochum) ür seine überaus großzügige finanzielle Unterstützung gedankt, ohne die das Projekt ›Petasos‹ von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Dank gebührt auch den Direktoren des Zentrums ür Mielmeerstudien (Bochum) ür die Aufnahme in ihre Publikationsreihe »Mielmeerstudien«. Unter ihnen ist Prof. Dr. Achim Lichtenberger gesondert hervorzuheben, von dem wir insgesamt äußerst vielältige Hilfe erfuhren. Selbstverständlich seien auch alle Autoren in den Dank eingeschlossen, deren zahlreiche spontane Zusagen uns ür den Geehrten gefreut haben. Jeder einzelne von ihnen hat mit seinem Beitrag maßgeblich zum Gelingen unseres gemeinsamen Vorhabens beigetragen. In diesem Kontext mögen auch all jene nicht unerwähnt bleiben, denen es aufgrund anderer dringlicher Verpflichtungen nicht möglich war, einen Textbeitrag zu leisten (s. Tabula gratulatoria). Doch ohne die tatkräige redaktionelle Unterstützung der Bochumer Doktoranden Linda Kolla, Jan-Henrik Hartung, Frank Hulek, Özge Özgül und Sophia Nomicos wäre das Arbeitspensum nicht innerhalb der gesetzten Frist zu bewältigen gewesen. Herausgehoben sei Bernd Lehnhoff (Bochum), der das Layout übernommen hat und selbst noch in der ›heißen‹ Phase der Endredaktion mit seiner souveränen Gelassenheit ein ›entspanntes‹ Arbeiten ermöglichte. Über all den Danksagungen sollte aber nicht vergessen werden, dass unser Dank vor allem Hans Lohmann selber gilt. Es ist uns ein tiefes Bedürfnis, ihm an dieser Stelle über seine Leistungen als akademischer Lehrer und Mentor hinaus auch ür seine langjährige Freundscha zu danken. Denn es ist keineswegs allein der Wissenschaler, den wir verehren, sondern der Mensch Hans Lohmann – herzlich, humorvoll, geradeheraus, hilfsbereit, bodenständig, tatkräig –, dem wir uns verbunden ühlen. Wir wünschen Dir, lieber Hans, dass Du die ersehnte Muße und Ruhe finden wirst, Deinen eigenen Forschungen nach Lust und Laune, endlich befreit von allen Verpflichtungen nachzugehen. Denn dass Du der Archäologie niemals den Rücken zukehren wirst, daran besteht wohl kein Zweifel. Georg Kalaitzoglou, Gundula Lüdorf

Bochum, im Oktober 2012

P  H L 1 Monographien 1. Grabmäler auf unteritalischen Vasen, AF 7 (Berlin 1979). 2. Atene. Ἀτήνη. Forschungen zur Siedlungs- und Wirtschasstruktur des klassischen Aika (Köln 1993). 3. Ein Survey bei Kazıklı (Muğla) (Möhnesee 2005).

2 Herausgeberscha 1. H. Lohmann – T. Maern (Hrsg.), Aika. Archäologie einer ›zentralen‹ Kulturlandscha. Philippika 37 (Wiesbaden 2010).

3 Aufsätze 1978

1. Beobachtungen zum Stadtplan von Timgad, in: Wohnungsbau im Altertum, DiskAB 3 (Berlin 1978) 167–187. 1979

2. Ein Canosiner Volutenkrater im Martin von Wagner Museum, AA 1979, 187–213. 1980

3. Der Stand der Denkmälererfassung, in: Ausgrabungen im Rheinland ’79 (Bonn 1980) 13–19. 1981

4. M. Groß – H. Lohmann, Die archäologischen Untersuchungen auf der Löwenburg, Stadt Bad Honnef, Rhein-Sieg-Kreis, in: Ausgrabungen im Rheinland 1979/80. Ausstellung Rheinisches Landesmuseum Bonn 19.2.–29.3.1981, Kunst und Alterum am Rhein 104 (Köln 1981) 193–200. 5. H. Lohmann – G. Collet, Archäologische Untersuchungen auf der Löwenburg, Allgemeine Forstzeitschri 25, 1981, 628–631.

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Publikationen von Hans Lohmann

1982

6. Zu technischen Besonderheiten apulischer Vasen, JdI 97, 1982, 191–249. 1983

7. Atene (Ἀτήνη), eine aische Landgemeinde klassischer Zeit, HellenikaJb 1983, 98–117. 1985

8. Landleben im klassischen Aika. Ergebnisse und Probleme einer archäologischen Landesaufnahme des Demos Atene, Jahrbuch der Ruhr-Universität Bochum 1985, 71–96. 1986

9. Der Mythos von Amphiaraos auf apulischen Vasen, Boreas 9, 1986, 65–82. 10. Eine apulische Amphora mit Gigantenkampf, in: E. Böhr – W. Martini (Hrsg.), Studien zur Mythologie und Vasenmalerei. Festschri Konrad Schauenburg (Mainz 1986) 149–157. 1988

11. Das Kastro von H. Giorgios (›Ereneia‹). Zum Verhältnis von Festungswesen und Siedlungsmorphologie im Koundoura-Tal, MarbWPr 1988, 34–66. 12. Aika – Archäologie einer klassischen Landscha. Ausstellung 19. November – 30. Dezember 1988, Siegerlandmuseum im Oberen Schloß zu Siegen (Siegen 1988). 1991

13. Zur Prosopographie und Demographie der aischen Landgemeinde Atene (Ἀτήνη), in: E. Olshausen – H. Sonnabend (Hrsg.), Raum und Bevölkerung in der antiken Stadtkultur, Stugarter Kolloquium zur historischen Geographie des Altertums 3, 6. bis 10. Mai 1987, Geographica Historica 5 (Bonn 1991) 203–265. 1992

14. Agriculture and Country Life in Classical Aica, in: B. Wells (Hrsg.), Agriculture in Ancient Greece. e Seventh International Symposium at the Swedish Institute at Athens, 16–17 May 1990 (Stockholm 1992) 29–60. 1993

15. Das Motiv der mors immatura in der griechischen Grabkunst, in: H. Froning – T. Hölscher – H. Mielsch (Hrsg.), Kotinos. Festschri ür Erika Simon (Mainz 1993) 103–113. 16. Ein Turmgehö klassischer Zeit in imari (Südaika), AM 108, 1993, 101–149. 1994

17. Flur- und Demengrenzen im klassischen Aika, in: E. Olshausen – H. Sonnabend (Hrsg.), Stugarter Kolloquium zur historischen Geographie des Altertums 4, 2. bis 6. Mai 1990, Geographica Historica 7 (Amsterdam 1994) 251–290.

Publikationen von Hans Lohmann

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18. Ein ›Alter Schafstall‹ in neuem Licht: Die Ruinen von Palaia Kopraisia bei Legrena (Aika), in: P. N. Doukellis – L. G. Mendoni (Hrsg.), Structures rurales et sociétés antiques. Actes du colloque de Corfou, 14–16 mai 1992, Centre de Recherche d’Histoire Ancienne 126 (Paris 1994) 81–132. 1995

19. Die Chora Athens im 4. Jh. v. Chr.: Festungswesen, Bergbau und Siedlungen, in: W. Eder (Hrsg.), Die athenische Demokratie im 4. Jh. v. Chr.: Krise oder Vollendung einer Staatsform? Akten eines Symposiums, Bellagio 3.–7. August 1992 (Stugart 1995) 515–548. 20. Survey in der Chora von Milet. Vorbericht über die Kampagnen der Jahre 1990, 1992 und 1993, AA 1995, 293–333. 21. Αγρόκτημα με πύργο κλασικής εποχής στην περιοχή Θυμάρι Παλαίας Φωκαίας, AAA 22, 1989 [1995], 189–195. 1996

22. Zur Siedlungsarchäologie der griechischen Polis, Geographische Rundschau 10, 1996, 562–567. 23. Ein neuer Befund zum Chremonideischen Krieg: Das sog. Atene Fort im Charaka-Tal (Attika), Boreas 19, 1996, 5–68. 1997

24. Antike Hirten in Westkleinasien und der Megaris: Zur Archäologie der mediterranen Weidewirtscha, in: K.-J. Hölkeskamp – W. Eder (Hrsg.), Volk und Verfassung im vorhellenistischen Griechenland. Beiträge auf dem Symposium zu Ehren von Karl-Wilhelm Welwei in Bochum, 1.–2. März 1996 (Stugart 1997) 63–88. 25. Survey in der Chora von Milet. Vorbericht über die Kampagnen der Jahre 1994 und 1995, AA 1997, 285–311. 1998

26. Zur baugeschichtlichen Entwicklung des antiken eaters: Ein Überblick, in: G. Binder – B. Effe (Hrsg.), Das antike eater. Aspekte seiner Geschichte, Rezeption und Aktualität, Bochumer Altertumswissenschaliches Colloquium 31 (Trier 1998) 191–249. 27. Die Santorin-Katastrophe – ein archäologischer Mythos? in: E. Olshausen – H. Sonnabend (Hrsg.), Naturkatastrophen in der Antiken Welt, Stugarter Kolloquium zur Historischen Geographie des Altertums 6, 8. bis 12. Mai 1996, Geographica Historica 10 (Stugart 1998) 337–363. 28. Survey auf der Halbinsel von Milet, AST 16, 2, 1998, 497–511. 1999

29. Survey in der Chora von Milet. Vorbericht über die Kampagnen der Jahre 1996 und 1997, AA 1999, 439–473.

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Publikationen von Hans Lohmann

30. Zwischen Kaunos und Telmessos: Reisenotizen aus dem karisch-lykischen Grenzgebiet, OrbTerr 5, 1999, 1–43. 2000

31. H. Lohmann – H. Schaefer, Wo lag das Herakleion der Salaminier ἐπὶ Πορθμῷ?, ZPE 133, 2000, 91–102. 32. Survey in der Chora von Milet 1999. Abschlußbericht, AST 18, 2, 2000, 11–22. 2001

33. Wo lag das antike Teichioussa?, OrbTerr 7, 2001, 145–174. 34. Zwischen Kaunos und Telmessos: Addenda et Corrigenda, OrbTerr 7, 2001, 217–222. 35. Das Ovriókastro bei Keratea (Aika), AA 2001, 487–523. 36. Survey bei Kazıklı (Muğla), AST 19, 1, 2001, 209–224. 2002

37. Ancient Roads in Aica and the Megaris, in: H. R. Goee (Hrsg.), Ancient Roads in Greece. Proceedings of a Symposium Organized by the Cultural Association Aigeas (Athens) and the German Archaeological Institute (Athens) with the Support of the German School at Athens, November 23, 1998 (Hamburg 2002) 73–91. 38. Antike Straßen und Saumpfade in Aika und der Megaris, in: E. Olshausen – H. Sonnabend (Hrsg.), Zu Wasser und zu Land. Verkehrswege in der antiken Welt. Stugarter Kolloquium zur Historischen Geographie des Altertums 7, 5.–9. Mai 1999, Geographica Historica 17 (Stugart 2002) 109–147. 39. Kalender und Zeitrechnung im Alten Rom: Wozu diente die sog. Sonnenuhr des Augustus?, in: W. Geerlings (Hrsg.), Der Kalender. Aspekte seiner Geschichte (Paderborn 2002) 43–60. 40. Ein endneolithisches Wehrdorf auf dem Megalo Rimbari (Aika) und verwandte Anlagen. Ein Beitrag zur Siedlungsarchäologie des endneolithischen Aika, Boreas 25, 2002, 1–48. 41. Survey in eben an der Mykale, 1. Kampagne 2001, AST 20, 2, 2002, 247–260. 2003

42. Survey in der Mykale, 2. Kampagne 2002, AST 21, 1, 2003, 251–264. 2004

43. Milet und die Milesia. Eine antike Großstadt und ihr Umland im Wandel der Zeiten, in: F. Kolb (Hrsg.), Chora und Polis, Schrien des Historischen Kollegs. Kolloquien 54 (München 2004) 325–360. 44. Mélia, le Panionion et le culte de Poséidon Héliconios, in: G. Labarre (Hrsg.), Les cultes locaux dans les mondes grec et romain, Actes du colloque de Lyon, 7–8 juin 2001 (Lyon 2004) 31–49.

Publikationen von Hans Lohmann

9

2005

45. Prähistorischer und antiker Blei-Silberbergbau im Laurion, in: Ü. Yalçın (Hrsg.), Anatolian Metal 3, Der Anschni Beih. 18 (Bochum 2005) 105–136. 46. Zur historischen Topographie des südlichen Ionien, OrbTerr 8, 2002 [2005], 163–272. 47. Melia, das Panionion und der Kult des Poseidon Helikonios, in: E. Schwertheim – E. Winter (Hrsg.), Neue Forschungen zu Ionien, AMS 54 (Bonn 2005) 57–91. 48. Der Ausbruch des Santorinvulkans und seine Folgen — kritisch betrachtet, in: Ü. Yalçın – R. Sloa – C. Pulak (Hrsg.), Das Schiff von Uluburun. Welthandel vor 3000 Jahren. Ausstellungskatalog Bochum, Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau–Museum Bochum 138 (Bochum 2005) 291–300. 49. Survey of Mycale (Dilek Dağları), 3ʳᵈ Campaign: e Discovery of the Archaic Panionion, AST 23, 1, 2005, 241–252. 2006

50. Zum Fundort der archaischen Nympheninschri Milet VI/3, 1298, in: R. Biering – V. Brinkmann – U. Schlotzhauer – B. F. Weber (Hrsg.), Maiandros. Festschri ür Volkmar von Graeve (München 2006) 201–204. 51. Risultati di una survey condoa nella penisola di Kazıklı, PP 60, 2006, 332–356. 52. e Discovery and Excavation of the Archaic Panionion in the Mycale (Dilek Dağları), KST 28, 2, 2006, 575–590. 2007

53. Wo lag das athenische Phrourion Boudoron? Ein Beitrag zur Historischen Geographie der Insel Salamis, in: U. Fellmeth – P. Gyot – H. Sonnabend (Hrsg.), Historische Geographie der Alten Welt. Grundlage, Erträge, Perspektiven. Festgabe ür Eckart Olshausen, Spudasmata 114 (Hildesheim 2007) 249–278. 54. N. Ehrhardt – H. Lohmann – B. F. Weber, Milet. Bibliographie vom Beginn der Forschungen im 19. Jh. bis zum Jahre 2006, in: J. Cobet – V. von Graeve – W.-D. Niemeier – K. Zimmermann (Hrsg.), Frühes Ionien. Eine Bestandsaufnahme. Panionion-Symposion Güzelçamlı 26. September – 1. Oktober 1999, MilForsch 5 (Mainz 2007) 745–788. 55. Die Chora Milets in archaischer Zeit, in: J. Cobet – V. von Graeve – W.-D. Niemeier – K. Zimmermann (Hrsg.), Frühes Ionien: Eine Bestandsaufnahme. Panionion-Symposion Güzelçamlı 26. September – 1. Oktober 1999, MilForsch 5 (Mainz 2007) 363–392. 56. H. Lohmann – H. Büsing – F. Hulek – G. Kalaitzoglou – G. Lüdorf – M. Müllenhoff – Ph. Niewöhner, Forschungen und Ausgrabungen in der Mykale 2001–2006, IstMi 57, 2007, 59–178. 57. Το Οβριόκαστρο της Κερατέας, in: Γ. Ιατρού (Hrsg.), Ο αρχαιολογικός χώρος του Οβριόκαστρου Κερατέας (Keratea 2007) 69–129. 58. Rescue Excavation of the Archaic Panionion in the Mycale (Dilek Dağları): 2ⁿᵈ Campaign, KST 29, 2, 2007, 265–280.

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Publikationen von Hans Lohmann

2008

59. Altfluren oder Pingenfelder?, in: E. Winter (Hrsg.), Vom Euphrat bis zum Bosporus. Kleinasien in der Antike. Festschri ür Elmar Schwertheim, AMS 65, 1 (Bonn 2008) 409–422. 60. H. Lohmann – G. Kalaitzoglou – G. Lüdorf, Survey in der Mykale (Dilek Dağları / Aydın) 2007, 6. Kampagne, AST 26, 2, 2008, 103–118. 61. H. Lohmann – G. Kalaitzoglou – G. Lüdorf, Rescue Excavation of the Archaic Panionion in the Mycale (Dilek Dağları): 3ʳᵈ Campaign 2007, KST 30, 2, 2008, 189–198. 2009

62. ellen, Methoden und Ziele der Siedlungsarchäologie, in: A. Vö – T. Maern (Hrsg.), Mensch und Umwelt im Spiegel der Zeit. Aspekte geoarchäologischer Forschungen im östlichen Mielmeer, Philippika 1 (Wiesbaden 2009) 27–74. 63. Die sog. Domitius-Ara, in: R. Einicke – St. Lehmann – H. Löhr – G. Mehnert – A. Mehnert – A. Slawisch (Hrsg.), Zurück zum Gegenstand. Festschri ür Andreas E. Furtwängler, Schrien des Zentrums ür Archäologie und Kulturgeschichte des Schwarzmeerraumes 16 (Langenweißbach 2009) 109–122. 2010

64. Kiapha iti und der Synoikismos des eseus, in: H. Lohmann – T. Maern (Hrsg.), Aika – Archäologie einer ›zentralen‹ Kulturlandscha, Philippika 37 (Wiesbaden 2010) 35–46. 65. Die preußischen »Karten von Aika«, in: H. Lohmann – T. Maern (Hrsg.), Aika – Archäologie einer ›zentralen‹ Kulturlandscha, Philippika 37 (Wiesbaden 2010) 259–275. 66. H. Lohmann – G. Kalaitzoglou – G. Lüdorf, Sondagen in der befestigten karischen Höhensiedlung von Melia in der Mykale (Dilek Dağları / Aydın), AA 2010, 2, 123–137. 67. H. Lohmann – K. Böhne, Survey in der Mykale (Dilek Dağları / Aydın) 2009, 7. Kampagne, AST 28, 2010, 137–153. 68. H. Lohmann – G. Kalaitzoglou – G. Lüdorf, Rescue Excavation at Melia in the Mycale (Dilek Dağları / Aydın), KST 32, 2, 2010, 333–349. 2011

69. H. Lohmann – G. Kalaitzoglou – G. Lüdorf, Die Kirche TH 16 in imari-Kolymvithra (Südaika) – ein frühbyzantinisches Eremiteion?, AA 2011, 171–200. 2012

70. Ionians and Carians in the Mycale: e Discovery of Carian Melia and the Archaic Panionion in the Mycale (Dilek Dağları), in: G. Cifani – S. Stoddart (Hrsg.), Landscape, Ethnicity and Identity in the Archaic Mediterranean Area (Oxford 2012) 32–50.

Publikationen von Hans Lohmann

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71. … und es blitzet von Erz der große Saal: zum Bankesaal des archaischen Panionion, in: L.-M. Günther (Hrsg.), Tryphe und Kultritual im archaischen Kleinasien – ex oriente luxuria? Akten des Bochumer Internationalen Kollegs ür Geisteswissenschaliche Forschung (IKGF) »Dynamiken der Religionsgeschichte zwischen Asien und Europa«, Bochum, Dezember 2009 (Wiesbaden 2012) 96–125. Im Dru

72. Der Diolkos von Korinth – eine antike Schiffsschleppe? in: N. Kissas (Hrsg.), e Corinthia and the Northeast Peloponnesus: Topography and History from Prehistory until the End of Antiquity. 73. Panionion und Melia: Die Archivalien der Grabung Kleiner – Hommel – Müller-Wiener in Güzelçamlı in den Jahren 1957, 1958 und 1960.

4 Rezensionen 1. H. Kalcyk, Untersuchungen zum aischen Silberbergbau. Gebietsstruktur, Geschichte, Technik (Frankfurt 1982), Gnomon 56, 1984, 407–414. 2. J. Ober, Fortress Aica. Defense of the Athenian Land Frontier 404–322 B. C. (Leiden 1985), Gymnasium 94, 1987, 270–274. 3. H. S. Georgiou, Keos VI. Ayia Irini. Specialized Domestic and Industrial Poery (Mainz 1986), Gnomon 58, 1986, 565–566. 4. N. B. Ashton, Siphnos. Ancient Towers B. C. (Athen 1991), Gnomon 68, 1996, 241–245. 5. G. Barker – J. Lloyd (Hrsg.): Roman Landscapes. Archaeological Survey in the Mediterranean Region, Archaeological Monographs of the British School at Rome 2 (London 1991), Germania 1996, 612–614. 6. H. Lauter, Die Fassade des Hauses IX 1, 20 in Prompeji: Gestalt und Bedeutung (Mainz 2009), Gnomon 83, 2011, 285–287.

T G Orhan Bingöl John Bintliff Dirk Brandherm Helmut Brückner Klaus Cappenberg Justus Cobet Achim Dombert Owen P. Doonan Wolfgang Ebel-Zepezauer Norbert Ehrhardt Peter Funke Ulrich-Walter Gans Dietmar Gansera Joachim Gehrke Linda-Marie Günther Hanns-Severin Haase Jan Henrik Hartung Andreas Hauptmann Franz-Josef Heimes Oliver Hülden Frank Hulek Georg Kalaitzoglou Daniel Kelterbaum Tobias Kienlin Leonie Carola Koch Frank Kolb Linda Kolla Martha M. Korczyńska Patric-Alexander Kreuz Norbert Kunisch

Merle P. Langdon Bernd Lehnhoff Lothar Lenzmann Achim Lichtenberger Franz-Josef Lohmar Gundula Lüdorf Georgios Makris Joseph Maran Hans Marg Torsten Maern Andrea Mersch Alfred Mischke Bärbel Morstadt Sophia Nomicos Özge Yiğit Ögül Aenne Ohnesorg Mine Özklinç Dieter Salzmann Martina Seifert Reinhard Senff Hans-Peter Schleer Elmar Schwertheim Erika Simon Baoquan Song Thomas Stöllner Gerhard Tuhas Cornelia Weber-Lehmann Karl-Wilhelm Welwei Engelbert Winter

Teil A

ANTIKENREZEPTION

Friedrich der Weise und Anna das Wunder Zwei Kapselbildnisse von 1525 in der Wiener Kunstkammer∗ Erika Simon

Noch nie gab es, lieber Hans Lohmann, so viele kunsthistorische Ausstellungen wie in unserer Zeit. Eine der interessantesten war ür mich die 2011 in Wien und dann in München gezeigte über das deutsche Porträt um 1500 (im Folgenden Ausstellung Wien/München). Daraus wollen wir zwei zusammen gehörende Werke betrachten, die seit dem mileren 17. Jahrhundert in Wien auewahrt werden1. Es handelt sich um geschnitzte Relieildnisse eines älteren Mannes und einer jungen Frau (Taf. 1, 1–2). Sie sind nach den Beischrien 1525 entstanden und zwar als Privatporträts, denn jedes von beiden ist mit einem Deckel verschließbar (Durchmesser rund 22 cm, Taf. 1, 3–4). Kunsthistoriker sprechen daher von Dosen- oder Kapselbildnissen. Das eine stellt Friedrich den Weisen dar (1463–1525) und zeigt auf dem Deckel einen Kentauren (Taf. 1, 1. 3). Ich sah es zuerst in der Ausstellung »Apelles am Fürstenhof« auf der Veste Coburg2 und dann im Jahr darauf in München zusammen mit seinem Gegenstück (Taf. 1, 1–4). Die beiden in Dreiviertelansicht geschnitzten Kapselporträts wenden sich einander zu. Sie bestehen aus Holz vom Birnbaum, das auf eine runde Unterlage aus Nussbaumholz geleimt ist. Die beiden in die Deckel geschnitzten Mischwesen, die sich ebenfalls einander zuwenden, sind in der Kunstgeschichte bisher nicht überzeugend erklärt. Da sollten wir Archäologen helfen. Die Technik des geschnitzten Porträts findet sich in der Renaissance auch an runden Spielsteinen, die in der Ausstellung Wien/München zu sehen waren3. Sie haben etwa ein Viertel des Durchmessers der Kapseln. Die Namen der Dargestellten stehen auf der anderen Seite des Spielsteins, während sie auf den Kapseln – ähnlich wie auf Münzen – rund um das Bildnis laufen. In einem späten Werk, dem Gemälde mit dem Porträt Johann Klebergers (1526), spielt Dürer auf diesen Typus des Kapselbildnisses an4. Damit wollte er sicher den privaten Charakter des Porträts betonen. Wie Angelika Dülberg schreibt5, kamen solche Kapseln »einem ureigenen menschlichen Bedürfnis entgegen, das Bildnis eines Angehörigen oder einer nahe stehenden Person als intimes Andenken an dessen oder deren äußere Erscheinung verschlossen aufzubewahren«. Das tri ür ∗ Mein herzlicher Dank gilt Elke Böhr (Wiesbaden), Klaus Dornisch und omas Eser (Nürnberg) sowie Ulrike

von Lyncker (Coburg), ohne deren Hilfe dieser Beitrag nicht zustande gekommen wäre. Ebenso sei der Verwaltung der Kunstkammer des Kunsthistorischen Museums in Wien ür die Vorlagen zu Taf. 1, 1–4 gedankt 1 Wien, Kunsthist. Mus. Kunstkammer Inv. 3878 (Deckel); Inv. 3879 (Dose) = Haag u. a. 2011/12, 207 f. Nr. 123

(Friedrich der Weise); Inv. 3894 (Deckel); Inv. 3893 (Dose) = Haag u. a. 2011/12, 298 f. Nr. 124 (Anna). Text in beiden Fällen von T. Kuster. 2 Müller u. a. 2010, 147 f. Nr. 1.1.16 (S. Hauschke). 3 Haag u. a. 2011/12, 210 f. Nr. 125 (T. Kuster). 4 Panofsky 1955, 241 Abb. 309; Strieder 1971, 298 Nr. 554 (P. Strieder); Haag u. a. 2011/12, 110 Nr. 57 (K. Schütz). 5 Dülberg 1990, 97 f.; Ritschel 2006, 338.

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Erika Simon

unser Paar, wie wir sehen werden, in besonderer Weise zu (Taf. 1, 1–2). Die jeweils links oben beginnenden Beischrien lauten (in heutiger Rechtschreibung): »Herzog Friedrich Kurürst in Sachsen 1525« und »Anna Rasper (= Kasper) Dornle(s) Stieochter 1525«. Auch ohne Beischri wäre Friedrich III. mit dem Beinamen »der Weise« zu erkennen, da er seitenverkehrt einem von Dürer 1524 geschaffenen Kupferstich entspricht (Taf. 1, 5)6. Er starb im Frühjahr darauf. Es ist bekannt, dass er mehrere Jahre zuvor schon an verschiedenen Krankheiten li7, weshalb er 1519, als ihm die Nachfolge des verstorbenen Kaisers Maximilian angetragen wurde, diese ablehnte. An Dürers Stich lässt sich erkennen, dass die Gesundheit des Dargestellten angegriffen ist, während solche Spuren an dem geschnitzten Porträt fehlen. Für Annas Bildnis (Taf. 1, 2) sind keine Vorlagen bekannt. Wenn sie jetzt im Katalog der Ausstellung Wien/München Anna Rasper heißt8, so ist aus einem (häufigen) Schreibfehler – R ür K – ein unzutreffender Name geworden. Im ›Nürnberger Archiv‹ ist nämlich ein Bürger und Handelsmann Caspar Dörnlein (Dornlein, Dürnlein) verzeichnet, der mit Annas Stiefvater aus der Kapselinschri überzeugend gleichgesetzt wird9. Er hae sich als Donator an dem berühmten Sebaldusgrab Peter Vischers d. Ä. (1507/19) beteiligt und verließ, in Schulden geraten, Nürnberg 1525. Friedrich der Weise, der zeitlebens keine öffentliche Ehe einging, hae ungeähr ein Dutzend Jahre mit Anna im Konkubinat gelebt10. Aus gesellschalichen Gründen konnte er sie nicht offiziell heiraten. Das Konkubinat war im Mielalter bis in die frühe Neuzeit verbreitet. »Erst im Jahre 1511 wurde es durch die Kirche verboten und bald darauf auch durch die weltlichen Gewalten unterdrückt« schreibt die Historikerin Ingetraut Ludolphy in ihrer Biographie Friedrichs des Weisen11. Das Paar trennte sich wohl bald nach 1512, denn damals kam das letzte Kind der beiden, eine Tochter, zur Welt. In seinem Testament, das im April 1525 auf dem Totenbe entstand, bedachte Friedrich der Weise seine drei lebenden Kinder – zwei Söhne und eine Tochter – reich12. Deren Muer kommt in jenem Testament zwar auch als Empängerin vor, aber ohne Nennung des Namens. Aus anderen ellen wissen wir, dass sie die Ehefrau eines Pastors geworden war. Er hieß wohl Wantzler oder Watzler wie aus Luthers Tischreden zu entnehmen ist13. Der Reformator spricht als einziger von der Verbindung des (inzwischen verstorbenen) Kurürsten, seines großen Schützers, mit der Wa(n)tzlerin. Dabei bedauert er14, dass Könige und Fürsten bei der Auswahl ihrer Ehefrauen im Gegensatz zu Bürgern und Bauern große Beschränkungen haen. 6 Panofsky 1955, 239 Abb. 302; Strieder 1971, 294. 296 Nr. 547 (P. Strieder); Ludolphy 1984, 497 Abb. 11; Haag u. a.

2011/12, 104 f. Nr. 53 (A. Riether). 7 Ludolphy 1984, 58–63. 8 Haag u. a. 2011/12, 208: »Anna Rasper oder Anna Dornle?« omas Kuster setzt sich nicht mit dem Vorschlag

von Dieter Koepplin (Ausstellung Basel 1974/76) auseinander, den Eser 1996, 297, positiv beurteilt. Demnach handle es sich um eine Frau namens Anna Weller, die als Vertraute des Kurürsten in einer elle des 18. Jahrhunderts genannt sei. Ludolphy 1984, 47 f., beurteilt diese Überlieferung allerdings sehr kritisch. Wie mir scheint, tri der Nachname Wa(n)tzler aus einer zeitgenössischen elle, den Tischreden Luthers eher zu: Ludolphy 1984, 48 f. 9 Für einen Auszug aus dem zum Teil unpublizierten Nürnberger Archiv danke ich omas Eser; vgl. auch Eser

1996, 297. – Sebaldusgrab: Weilandt 2007, 363–419. 10 Ludolphy 1984, 47–50; Ritschel 2006, 325–329. 11 Ludolphy 1984, 48 f. 12 Zu Friedrichs des Weisen Kindern und zu seinem Testament: Ludolphy 1984, 50–54; Ritschel 2006, 336–340. 13 Ludolphy 1984, 48 f. 14 Luther spricht allgemein von Königen und Fürsten, die es in Bezug auf die Ehe schwer haben. Aus der Weiner-

Familie war ein besonderes Schicksal bekannt: Die Ehefrau des Großvaters von Friedrich dem Weisen, eine Bürgerliche, wurde in dessen Abwesenheit von ihrem Schwiegervater hingerichtet, vgl. Ludolphy 1984, 48 f.

Friedrich der Weise und Anna das Wunder

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Für Anna verwendet er wohl deren späteren Ehenamen. Wir wissen nicht, wann Friedrich der Weise Anna kennen lernte. Vielleicht war es schon 1496 bei seinem Aufenthalt in Nürnberg, da sie die Stieochter eines Nürnberger Bürgers war. Damals schuf Dürer das Porträtgemälde des 33-jährigen Friedrich (heute in Berlin)15. Erwin Panofsky16 schreibt über den Nürnberger Besuch des Kurürsten: »He … was at once impressed by Dürer’s genius, and remained his admiring patron as long as he lived«. Man könnte vor dem Berliner Gemälde fragen, weshalb nicht dieses als Vorbild ür die Kapsel (Taf. 1, 1) gedient hat, zumal Anna ausgesprochen jung dargestellt ist. Sie war 1525 zweifellos schon in ihren reiferen Jahren. Diese Frage würde jedoch unseren Kapseln nicht gerecht. Sie sind zwar – verständlicherweise – in schrilichen ellen nicht genannt. Wegen des privaten Hintergrunds hat sie wohl der Kurürst Friedrich persönlich in Aurag gegeben. An der Schwelle des Todes blickt er auf das Antlitz der Lebensgeährtin. Er ist alt wie auf dem Kupferstich von 1524 (Taf. 1, 5), sie dagegen jung wie in seiner Erinnerung. Da er schon im Frühjahr 1525 verstarb, hielt er vielleicht die auf dieses Jahr datierten Kapseln gar nicht in der Hand. Als den Schnitzer dieser Kunstwerke nennt omas Kuster im Katalog der Ausstellung Wien/München fragend Hans Daucher in Augsburg17. Dagegen hat schon omas Eser in seinem Werk über Daucher festgestellt, dass sich der Stil der Kapseln von dessen gesicherten Werken unterscheidet18. Eser legt überzeugend dar, dass manches ür eine Herstellung in Nürnberg spreche. Ihm folgt Sven Hauschke im Katalog »Apelles am Fürstenhof« und weist darauf hin, dass das Wienberger Grabmonument mit dem Porträt Friedrichs des Weisen ebenfalls in Nürnberg (1525/27) entstanden ist19. Gießer war Peter Vischer d. Ä., der oben im Zusammenhang mit dem Sebaldusgrab und mit Caspar Dornlein, Annas Stiefvater, genannt wurde20. Hier folgen weitere Überlegungen, die ür die Herkun der Kapseln aus Nürnberg sprechen. Was Anna betri, so war sie mit dieser Stadt als Stieochter Dornleins verbunden. Wenn ein Jugendbildnis von ihr als Vorlage ür den Schnitzer existierte, so am ehesten in Nürnberg. Dort befand sich auch die Silberstizeichnung Dürers von Friedrich dem Weisen (heute in Paris)21. Auf ihr erscheint der Kurürst nicht seitenverkehrt wie in dem Stich. Jene Zeichnung könnte dem Schnitzer als Vorbild gedient haben. Es scheint mir möglich, dass sich Dürer selbst um die Ausührung der Kapseln kümmerte, im Aurag Friedrichs des Weisen. Dieser war und blieb, wie Panofsky schreibt22, »Dürer’s faithful patron«. Für eine so private Angelegenheit bedure es besonderen Vertrauens. Dazu kommt, dass Dürers Monogramm auf der Innenseite des einen Deckels steht – nicht von ihm selbst, sondern nach Expertenurteil um 1650 hinzugeügt, vom Kustos der Sammlung des Erzherzogs Leopold Wilhelm23. Dorthin waren die Kapseln schließlich gekommen. Vielleicht gab es im 17. Jahrhundert noch die Tradition ihrer Entstehung unter Dürers Autorität. Die Inschri-Tafel unter dem Porträt von 1524 (Taf. 1, 5) bezeugt die geistige 15 Panofsky 1955, 40 Abb. 65. 16 Panofsky 1955, 39. 17 Haag u. a. 2011/12,207–209. 18 Eser 1996, 297–299. 19 Müller u. a. 2010, 148 (S. Hauschke). 20 s. o. Anm. 9 21 Paris, École des Beaux-Arts (1658). Panofsky 239; Ausst. Kat. La Renaissance italienne et ses prolongement

europêens (Paris 1958) Nr. 99; Strieder 1971, 294 Nr. 456 (P. Strieder). 22 Panofsky 1955, 39. 23 Haag u. a.2011/12, 207–209 (T. Kuster).

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Erika Simon

Verbindung zwischen Dürer und dem Kurürsten. Er widmet seinen Kupferstich lebend dem Lebenden und spricht von der großen Frömmigkeit des Kurürsten, durch die er immer währender Verehrung würdig sei. Friedrich der Weise setzte sich ür Martin Luther ein, dessen sämtliche deutsche Schrien auch Dürer las24. Die Kurürsten-Familie der Weiner, der Friedrich angehörte, trug zur Reformation in Deutschland entscheidend bei. Mitregent Friedrichs war seit 1486 sein jüngerer Bruder Johann der Beständige (1468–1532). Ihm folgte dessen Sohn Johann Friedrich der Großmütige (1503–1554). Unter ihm erschien in Wienberg 1534 die erste vollständige Ausgabe von Martin Luthers Bibelübersetzung25. Die hier zitierten Beinamen waren ür die Weiner so typisch wie ihre Treue zu Luther. Damit kommen wir zu unserem eigentlichen ema, den Mischwesen auf den beiden Deckeln (Taf. 1, 3–4). Sie lassen sich, wie wir sehen werden, als Beinamen ür die Porträts (Taf. 1, 1–2) verstehen und im Falle des Kentauren (Taf. 1, 3) zugleich als Hinweis auf die Familie der Weiner. Wie dem Werk von Guy de Tervarent zu entnehmen ist26, kennt man in der Kunstgeschichte den Kentauren vor allem als Verkörperung des »instinct brutal«. So sieht Iris Ritschel27 ähnlich wie andere Gelehrte in dem Mischwesen des Deckels »eine symbolische Anspielung auf den mythischen Frauenraub«. Dass es auch einen ganz anderen Kentauren gab, Chiron, der z. B. als Erzieher des Achill im Winterpalais des Prinzen Eugen dargestellt war, zeigte die MischwesenAusstellung in Wien28. Vor fast einem halben Jahrhundert deutete ich den Kentauren auf einem Tondo im Fries des Palazzo Medici in Florenz als Chiron29. Da dieser weise Kentaur die Heroen auch in der Heilkunst unterwies30, passt er als Arzt (medicus) zur Medici-Familie, mit deren Wappen er dort verbunden ist. In meinem Beitrag zu der soeben erwähnten Wiener MischwesenAusstellung31 erhielt auch der Kentaur des Kapseldeckels den Namen Chiron. Er spielt m. E. in seiner Weisheit auf Friedrichs Beinamen an. Dagegen glaubt omas Kuster im gleichzeitigen Katalog zur Ausstellung Wien/München32, dieser Kentaur betone Friedrich des Weisen »politisches Ungestüm gegenüber dem Kaiser und dem Papst«. Ich möchte – auch wegen des privaten Charakters der Kapseln – bei meiner Chiron-Deutung bleiben und sie hier durch weitere Argumente stützen. Chiron war in der Renaissance vor allem durch die Kalender-Dichtung des Ovid bekannt, die Fasten (5, 379–414). Darin wird erzählt, wie sich der Kentaur Chiron – in Anwesenheit seines Schülers Achill – aus Versehen mit einem Pfeil des Herakles unheilbar verletzt. Er wird darauf als Gestirn Centaurus an den Himmel versetzt, sein Aufgang liegt im Mai. In der Bildkunst33 kann 24 Panofsky 1955, 222. 25 Abbildung des Titelblas: Brockhaus Encyklopädie 13 (Mannheim 1990) 632; Stammtafel der Weiner: Brock-

haus Encyklopädie 24 (Mannheim 1994) 126. 26 Tervarent 1958, 63 f. s. v. Centaure. 27 Ritschel 2006, 341. 28 Haag 2011, 83–93. Dort ist, 91 Nr. 57, das Gemälde des Bolognesers Crespi aus dem späten 17. Jahrhundert im

Palast des Prinzen Eugen erwähnt, in dem Chiron von manchen falsch gedeutet wurde. 29 Wester – Simon 1965, 15–91, mein Beitrag 49–91 = Simon 2003, 67–119 (danach hier zitiert) s. v. Chiron 80–91

Taf. 8, 1. 30 Hom. Il. 11, 832. Weitere ellen LIMC III (1986) 237 s. v. Cheiron (M. Gisler-Huwiler). 31 Haag 2011, 16 Abb. 8. 32 Haag u. a. 2011/12, 207–209 (T. Kuster). 33 So wahrscheinlich, wegen der Fackel, in dem Medici-Tondo vgl. Wester – Simon 1965, 80–91. Das Mai-Gestirn

Centaurus (Chiron) ist wohl auch in der silbernen Gruppe von 1602/06 aus Augsburg dargestellt, zumal hier

Friedrich der Weise und Anna das Wunder

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Chiron als astrale Gestalt erscheinen, doch auf der Kapsel (Taf. 1, 3) schwebt er nicht am Himmel. Es ist fester Boden unter ihm, ähnlich wie auf dem Boicelli-Gemälde in den Uffizien34. Dessen Kentaur wurde überzeugend mit der Lehre des neuplatonischen Philosophen Marsilio Ficino in Verbindung gebracht35, nach der wir Menschen – den Kentauren ähnlich – Zwierwesen aus tierischen und gölichen Bestandteilen sind. Da der Kentaur auf dem Gemälde einen Bogen hält, ist er mit dem ovidischen Chiron zu verbinden, der unbedacht die Waffe des Herakles berührte36. Neben ihm steht Minerva, die Verkörperung gölicher Weisheit. Das Ornament auf ihrem hellen Gewand spielt auf die Medici-Familie an, von der das Gemälde in Aurag gegeben war – wir werden darauf zurückkommen. Minerva packt Chiron am Haar, um ihn zur Vorsicht zu mahnen. Er reagiert melancholisch, ist sich seiner Fehler bewusst. Der Kentaur auf dem Deckel trägt am Kopf einen Helm, bei dem man – zusammen mit dem Pferdekörper – an einen Rier denkt. Zugleich aber schwingt er in der Linken eine Maske im Profil – ein großes Teufel- oder Faungesicht mit langem Bart37. Über den Kopf gesetzt, verdeckte es den rierlichen Helm. Die Maske besteht nach ihrem Rand aus ähnlichem Material wie der Lendenschurz, der zwischen den Körpern von Mann und Pferd flaert. Während an antiken Kentauren diese Teile nahtlos ineinander übergehen38, ist an nachantiken Kentauren – man vergleiche den oben erwähnten Chiron des Boicelli – der Gegensatz betont. Chiron hält in der Rechten, die er zurückstreckt, eine Geißel. Sie ist wie Maske und Lendenschurz kein antikes Kentauren-Aribut. Zwar kann sie ein Wagenlenker über den Pferden schwingen, aber hier gebraucht sie das Rosswesen gegen sich selbst. Es handelt sich um eine christlich-neuplatonische Allegorie. Christlich deshalb, weil Jesus gegeißelt wurde, um die Sünden der Menschheit zu sühnen, die hier durch die Maske angedeutet sind. Neuplatonisch deshalb, weil der Mensch nach Ficino ein Zwier aus Go und Tier ist, den der Kentaur verkörpert. Bei einem Christen ührt der »instinct brutal«, wie Tervarent die Symbolik des Kentauren umschreibt39, o zu Gewissensbissen und Selbstbeschuldigung. Da es sich auf dem Deckel um den weisen Chiron handelt, sieht er hier das Fehlverhalten ein und ührt die Geißel gegen sich. In einem gezeichneten Selbstporträt von 1522 (heute in Bremen), das Panofsky als Titelbla seines Buches über den Künstler gewählt hat, stellt Dürer sich entkleidet dar, Besen und Geißel in den Händen40. Der Gelehrte nennt ihn Schmerzensmann (Man of Sorrows). »He sensed that his days were counted«. Da Dürer das Marterwerkzeug selbst hält, sagt er zugleich melancholisch aus, dass er die eigenen Fehler kennt und sich selbst daür stra. Rechts von den erhobenen Pferdebeinen des Chiron ragt am Original und in guten Aufnahmen ein eckiges Stückchen aus dem Grund. Da die Schnitzerei ursprünglich zurückhaltend farbig gefasst war41, sah man es sicher besser. Dazu kommt, dass an zwei Stellen des Bodens, über den Diana/Luna auf dem mit dem Bogen schießenden Kentauren reitet: Haag 2011, 93 Nr. 63 (dort nicht als astrale Darstellung erkannt). 34 Vgl. Wester – Simon 1965, 86 Taf. 15, 2; Schumacher 2009, 83 Abb. 52; Haag 2011, 16 Abb. 7 (Verf.). 35 Gombrich 1945, 50–53 Taf. 14 a; Tervarent 1958, 63 f. s. v. Centaure. 36 Ein Gestirn-Kentaur mit Bogen ist auch der Zodiacus-Schütze. 37 Satyr/Faun und Teufel können in der Kunst von Renaissance und Barock ähnlich abgebildet werden; vgl. Haag

2011, 101 Nr. 69. 38 LIMC VIII (1997) 671–727 s. v. Kentauroi et Kentaurides Taf. 416–493. In farbigen Bildern haben antike Kentau-

ren o helles Fell bis hin zum Schimmel, um mit der menschlichen Haut zu harmonieren. 39 Tervarent 1958, 63 f. s. v.Centaure. 40 Bremen, Kunsthalle. Panofsky 1955, 241; Strieder 1971, 49 Nr. 72. 41 An beiden Kapseln erwähnt T. Kuster (vgl. Anm. 1) »Reste der Fassung«. Sie sind an Pupillen und an Lippen

festzustellen.

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Erika Simon

Chiron sprengt, ähnliche kleine Gebilde erscheinen. Ich möchte vorschlagen, sie als Edelsteine zu deuten, als Diamanten. Diese gehörten in der Renaissance zu den Wappen großer Familien, z. B. der Medici, der Este. Sie symbolisierten hohe Tugenden wie Tapferkeit, Weisheit, Beständigkeit42. So schreibt Tervarent zu den Diamantenringen auf dem Gewand der Minerva in dem oben erwähnten Boicelli-Gemälde: »Il faut y voir une allusion à la sagesse de Laurent de Médicis, à sa victoire sur lui-même e sur d’autres«. Die Diamantensymbole des Deckels umschreiben also zusammen mit Chiron sowohl den Beinamen, als auch die Familie Friedrichs des Weisen. Hae doch sein jüngerer Bruder und Mitregent Johann den Beinamen »der Beständige« – eine typische Eigenscha der Diamanten. So ist das Wort SEMPER o mit ihnen verbunden43. Die Ansammlung der Steine an zwei Stellen des Bodens weist wohl auf die beiden Brüder hin. Ein dries Häuflein ist rechts durch feine Striche angedeutet und sollte wohl später ausgeührt werden: 1532 folgte wie geplant der Neffe und Sohn des Brüderpaares, Johann Friedrich der Großmütige, unter dem die Lutherbibel erschien44. Das andere Mischwesen – mit weiblichem Kopf und Körper – ist deutlich größer als der Kentaur (Taf. 1, 4). Es üllt die runde, hier bodenlose Fläche. Sein langer, schuppenloser Schwanz45, der breit ansetzt und am Ende spitz wird, ringelt sich im Rücken nach oben. Anstelle von Armen erscheinen Flügel, anstelle von Beinen die erhobenen Pranken einer Löwin. Das Profil mit der kurzen Nase und der über die Wange fallenden Locke unterscheidet sich von Annas Porträt (Taf. 1, 2). In den Beschreibungen heißt das Wesen Harpyie oder Sirene46. Als letztere müsste sie singen oder ein Instrument spielen – dieser Name tri also nicht zu. Die Harpyien, in der antiken Kunst geflügelte Frauen47, sind pluralische Wesen, während die Figur auf dem Deckel eine ausgesprochene Einzelgestalt ist. Die zwei »Harpyien mit Füllhörnern« auf einer DürerZeichnung (heute in Hannover), die omas Eser vergleicht48, sind zwar ebenfalls Flügelwesen mit weiblichem Kopf und Busen. Doch die Schwänze, durch eine Schleife in der Mie ornamental verbunden, sind wie bei Drachen geschuppt. Der wichtigste Unterschied besteht jedoch darin, dass den Mischwesen in Hannover der weibliche Unterleib fehlt. Der Löwenkörper beginnt bei ihnen unmielbar unter den Brüsten, während an der Deckelfigur der gesamte Rumpf vorhanden ist. Den Unterleib flankieren zwei erhobene Löwenpranken als Rahmen und Schutz. In dieser Kombination sind Sexualität und Muerscha in gleicher Weise präsent. Anna hae Friedrich dem Weisen mehrere Kinder geboren49. Der Schnitzer des Deckels hae die Aufgabe, das Einzigartige der Lebensgeährtin darzustellen, weshalb ein neues Mischwesen erfunden wurde. Doch lassen wir das kunsthistorische Fachwort beiseite! Wir kennen an dessen Stelle eine viel bessere damalige Bezeichnung, die uns noch bei Goethe begegnet, sie lautet Wunder50. Dürer nennt die 42 Tervarent 1958, 147 f. s. v. Diamant; von dort das Zitat. 43 s. vorige Anm. 44 Brockhaus Enzyklopädie 24 (Mannheim 1994) 126. 45 Durch das Fehlen der Schuppen unterscheidet sich dieser von den üblichen Drachenschwänzen in der damali-

gen Kunst. Die weibliche Haut setzt sich an ihm fort, ist gleichsam streichelbar. 46 s. Anm. 1. Eser 1996, 297–299; Müller u. a. 2010, 148 (S. Hauschke); Haag u. a. 2011/12, 207–209 (T. Kuster); Haag

2011, 83–93. 47 Wir kennen sie vor allem von griechischen Vasen; vgl. LIMC IV (1988) 445–450 s. v. Harpyiai (L. Kahil – A. Jac-

quemin). In der Renaissance war ihre antike Gestalt nicht bekannt. 48 Hannover, Kestner-Museum (Winkler Nr. 718). Eser 1996, 299. 49 Ludolphy 1984, 50–57; Ritschel 2006, 336–339. 50 Dazu Haag 2011, 13 (Verf.); vgl. Goethe, Faust II Vers 6015 und Anweisung vor Vers 8044.

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Figur auf einem seiner Kupferstiche51, den Alten mit dem langen, geschuppten Hinterteil eines Fisches, Meerwunder. Die etymologische Herkun von Wunder ist unbekannt52: »Es bezeichnet zu Beginn seiner Bezeugung Erstaunen und was Erstaunen hervorru«. Die Deckel der Kapseln sollten also mit ihren Wundern im privaten Bereich Staunen erwecken. Dabei ist das weibliche Wesen das größere Wunder, nicht nur nach den Maßen. Die Kentaurengestalt war allgemeint bekannt, das andere Wunder ist einmalig. Mit ihm ist sowohl Annas Anziehungskra symbolisiert, als auch ihr Schicksal. Dieses verursachte bei Friedrich dem Weisen Selbstvorwürfe, weshalb sein Kentaur eine Geißel gegen sich selber schwingt. Aber ihn umglänzen zugleich Diamanten53, die SEMPER seine Geühle ür Anna symbolisieren.

Literatur Dülberg 1990: A. Dülberg, Privatporträts. Geschichte und Ikonologie einer Gaung im 15. und 16. Jahrhundert (Berlin 1990). Eser 1996: T. Eser, Hans Daucher. Augsburger Kleinplastik der Renaissance. Kunstwissenschaliche Studien 65 (Berlin 1996). Gombri 1945: E. H. Gombrich, Boicellis’s Mythology, JWCI 8, 1945, 7–60. Haag 2011: S. Haag (Hrsg.), Schaurig schön. Ungeheuerliches in der Kunst. Intermezzo U 3 Kunsthistorisches Museum Wien (Wien 2011). Haag u. a. 2011/12: S. Haag u. a. (Hrsg.), Dürer. Cranach. Holbein. Die Entdeckung des Menschen: das deutsche Porträt um 1500 (München 2011/12). Ludolphy 1984: I. Ludolphy, Friedrich der Weise Kurürst von Sachsen (Göingen 1984). Müller u. a. 2010: M. Müller u. a. (Hrsg.), Apelles am Fürstenhof. Faceen der Hounst um 1500 im Alten Reich (Berlin 2010). Panofsky 1955: E. Panofsky, e Life and Art of Albrecht Dürer 4(Princeton 1955). Pfeifer 2011: W. Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (Koblenz 2011). Ritsel 2006: I. Ritschel, Friedrich der Weise und seine Geährtin, in: A. Tacke (Hrsg.), » … wir wollen der Liebe Raum geben«. Konkubinate geistlicher und weltlicher Fürsten um 1500. Vorträge der 3. Moritzburg-Tagung (Halle/Saale 2006) 325–342. Sumaer 2009: A. Schumacher (Hrsg.), Boicelli: Bildnis. Mythos. Andacht, Katalog zur Ausstellung im Städel Museum, Frankfurt 2009/10 (Frankfurt a. M. 2009). Simon 2003: E. Simon, Schrien zur Kunstgeschichte (Stugart 2003) 67–119. Strieder 1971: P. Strieder (Hrsg.), Dürer 1471/1971 (München 1971). Tervarent 1958: G. de Tervarent, Aributes et Symboles dans l’Art profane I (Genf 1958). 51 Panofsky 1955, 72 f. Abb. 107; Strieder 1971, 273. 276 Nr. 516 (Verf.). 52 Pfeifer 2011, 1583 s. v. Wunder (von dort das Zitat). 53 s. Anm. 42.

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Weilandt 2007: G. Weilandt, Die Sebalduskirche in Nürnberg. Studien zur internationalen Architektur und Kunstgeschichte 47 (Petersberg 2007). Wester – Simon 1965: U. Wester – E. Simon, Die Reliefmedaillons im Hofe des Palazzo Medici zu Florenz, JbBerlMus N.F. 7, 1965, 15–91.

Reisen für die Antike Richard Chandler in Alexandria Troas∗ Özge Yiğit Özgül

Mit der italienischen Renaissance schlug die Wiederentdeckung der Antike in allen europäischen Ländern Funken. Besonders im 18. Jh. begann die abendländische Gesellscha nicht nur an die Antike wissenschalich heranzutreten. Die Kunstwerke, die sich bereits in diversen Sammlungen Europas befanden, wurden untersucht, mit ersten Datierungsversuchen klassifiziert und, um dieses Wissen zu erweitern, fanden Reisen in die Mielmeerländer sta. Als einer dieser Forschungsreisenden wurde Richard Chandler bekannt. Richard Chandler, geboren 1738 in Erlson (Hampshire), gehörte dem britischen Wissenschalerkreis der Society of Dileanti1 an. Er war Mitglied des Magdalenen-Collegiums in Oxford, wo er auch seine theologische Hochschulausbildung absolvierte. Schon in jungen Jahren machte er sich durch seine Erläuterungen zur ›Arundelschen Marmortafel‹ einen Namen. Mit 26 Jahren wurde er von der Society of Dileanti gebeten, zusammen mit dem Architekten Nicholas Reve und dem Künstler (»painter«) William Pars eine Reise nach Kleinasien und Griechenland zu unternehmen, die in den Jahren 1764–1766 stafand. Erst ein Jahrzehnt später, im Jahre 17752, entstanden die Reiseberichte »Travels in Asia Minor« und »Travels in Greece« und wurden umgehend ins Niederländische und Französische übersetzt. Die deutsche Fassung folgte 1776 durch den Literaten und Dichter Heinrich Christian Boie3. Chandlers Reisebericht ist sehr flüssig und in einer eher schlichten Sprache verfasst. Im Vorwort der deutschen Ausgabe aus dem Jahr 1976 bezeichnet L. Pigenot Chandler als ›Archäologen‹. Dem ist – unter Berücksichtigung der wissenschalichen Herangehensweise seiner Zeit – zuzustimmen, da Chandler wertvolle Informationen über die antiken Städte liefert. Er ist jedoch manchmal sehr ausschweifend, kommt leicht von den beobachteten Objekten ab und verliert sich in Geschichten und Anekdoten, was man durchaus dem Zeitgeist zuschreiben kann. Nichtsdestotrotz verdienen seine historischen Kenntnisse Anerkennung. Der Reisebericht ist glaubwürdig, da viele der von ihm beschrieben Objekte wieder gefunden werden können – wenn er sie denn ∗ Der folgende Text ist die überarbeitete Fassung meiner Facharbeit, die im Wintersemester 2005/06 von der Fa-

kultät ür Geschichtswissenscha der Ruhr-Universität Bochum angenommen wurde. Sie ist gleichzeitig meine erste Hausarbeit, die ich bei Hans Lohmann schreiben dure. Diese bescheidene Arbeit hat ür mich somit eine immaterielle Bedeutung und möge deswegen eine Kleinigkeit zu dieser Festschri beitragen. 1 Für ausührliche Informationen zu den Dileanti vgl. Kelly 2009. 2 Die erste Ausgabe erschien 1775 in Oxford. Den Reiseberichten ging die Publikation der architektonischen

Aufnahmen aus Kleinasien voraus: vgl. Chandler u. a. 1769. 3 Chandler 1976. Der Übersetzung von H. C. Boie liegt die erste Auflage des Reiseberichtes von 1775 zugrunde.

Diverse Korrekturen der zweiten Auflage sind dementsprechend nicht berücksichtigt.

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Özge Yiğit Özgül

präzise beschreibt. Von einem ›Schatz‹ ür die Archäologie kann dabei jedoch kaum die Rede sein, weil er vornehmlich Stäen besucht und beschreibt, die milerweile von der Archäologie breit erforscht wurden. Reiseberichte des 17. und 18. Jhs. sind ür die Archäologinnen und Archäologen, die Feldforschungen im großen Rahmen betreiben, von besonderem Interesse, da sie zur Rekonstruktion des Umfelds beitragen können. Aber auch ür die Ausgräberinnen und Ausgräber in den antiken Städten können Vergleiche mit diesen Berichten vieles erleichtern, wobei die Annäherung an diese Texte natürlich mit Kritik verbunden sein muss. Wichtig dabei ist festzustellen, ob diese Schrien heute im Vergleich mit dem erworbenen archäologischen Wissen glaubwürdig sind und somit ür die Arbeit der Archäologinnen und Archäologen als belangreiche ellen dienen können. In diesem Zusammenhang wird im Folgenden Kapitel IX. des Reiseberichts »Travels in Asia Minor« beispielha vorgestellt und in Anmerkungen kommentiert; die von Chandler gesichteten und beschriebenen Ruinen werden lokalisiert und mit dem heutigen Erhaltungszustand verglichen4. K A P. IX5

Die Politik Alexanders des Großen – Alexandria Troas – Ihre Lage – Die Häfen – Äußeres Erscheinungsbild – Die Überreste – Die Hauptruine – Die Inschrien – Der Aquädukt – Dessen Rechnung – Über Aicus Herodes – Keine sichtbaren Kirchen – Die Marmorstücke weggeschleppt6 Alexander der Große schuf – sta sein Voranschreiten durch Verwüstung zu kennzeichnen – klugerweise bei seinem Zug durch die Länder, die er unterwarf, dauerhaere und ehrenwerte Monumente; er veranlasste, dass Städte und Tempel gebaut wurden und entwarf Pläne ür ihre Verschönerung und ür ihren Wohlstand in der Zukun. Weil sein Aufenthalt ür gewöhnlich kurz war, übergab er die Ausührung seiner vornehmen Absichten den Stahaltern, die er beauragte; Männer mit großen Ideen, die äußerst ähig dazu waren, einem herausragenden Herren zu dienen. 4 Der Reisebericht von Chandler wurde durch die Jahre von verschiedenen Übersetzern und Verlegern in einer

Diversität publiziert, die leider nicht auf einen Nenner gebracht werden kann. Aus diesem Grund wurde ür diese Arbeit die Originalpublikation aus dem Jahr 1776 verwendet. Die Übersetzung aus dem Englischen erfolgte durch den Verf. Dabei wurde darauf Wert gelegt, den ursprünglichen Wortlaut des Textes auch im Deutschen beizubehalten. Eine neue Übersetzung schien deshalb wichtig, weil die Version von H. C. Boie den englischen Text in einer verbesserten Sprache überträgt, wobei die Authentizität verlorengeht. Die kommentierenden Fußnoten des Verf. sind fortlaufend arabisch nummeriert, die Fußnoten des Originaltextes sind im Folgenden mit »Ch« und fortlaufender arabischer Ziffer gekennzeichnet und in kursiver Schri gesetzt. 5 Chandler verwendet in der Regel ein Kapitel ür eine Stadt, so auch in Kapitel IX. Bei größeren Städten wie Ephe-

sos erstrecken sich seine Schilderungen allerdings über mehrere Kapitel. Im folgenden Kapitel wird lediglich erwähnt, dass sie kurz vor dem Verlassen der Stadt »a plan and two views of the principial ruin« aufgenommen häen, die nicht in der vom Verfasser benutzten Originalpublikation, aber in der Publikation »Ionian Antiquities« und von H. C. Boie übersetzten deutschen Fassung vorhanden sind: vgl. Chandler u. a. 1769 Tab. 52–54; Chandler 1776 Abb. »view of the principal ruin of Alexandreia Troas«. Eine Karte der Ägäis, welche die von Chandler besuchten Städte in Griechenland und Westkleinasien zeigt und in beiden Auflagen des Reiseberichts (1775/76) publiziert wurde, ist diesem Bericht als Übersichtskarte beigelegt (Taf. 2, 1). Diese Karte mit einem Ausschni der Troas sowie eine moderne Karte mit präzisen Ortsangaben von Alexandria Troas und Sigeion (Taf. 2, 2–3 oben) wurden von J.-H. Hartung bearbeitet, der in dieser Festschri das Sigeion-Kapitel des Reiseberichts behandelt. Außerdem hat F. Hulek den Abschni über Teos beigetragen. 6 Der Text verzichtet auf Zwischenüberschrien. Die Gliederung ist dennoch übersichtlich, da sich jede Über-

schri auf einen Absatz im Text bezieht.

Reisen ür die Antike. Richard Chandler in Alexandria Troas

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Alexandria Troas7 war eine von achtzehn Städten, die seinen Namen trug8. Diese Stadt wurde von Antigonos gegründet und von ihm erst Antigonia benannt; aber Lysimachos, dem sie als ein Nachfolger Alexanders zufiel, änderte die Benennung zu Ehren des verstorbenen Königs. Im Krieg mit Antiochos war sie berühmt ür ihre Treue zu den Römern, die ihr dieselben Privilegien verliehen, wie sie italische Städte besaßen. Unter Augustus wurde sie eine römische Kolonie und wuchs. Sie war damals der einzige bedeutende Ort zwischen Sigeum und Lectos und war keiner Stadt ihres Namens, außer Alexandria in Ägypten, unterlegen.Ch1 9 Alexandria Troas wurde auf einem Hügel platziert, der sich gegen das Meer senkt und von dem Berg Ida durch ein tiefes Tal getrennt wird. Auf jeder Seite ist eine ausgedehnte Ebene mit Flussbeen. Die Gründer waren sich wahrscheinlich bewusst, dass sie, wie Tenedos, viele Vorteile durch ihre Lage an der Küste, in der Nähe der Einfahrt des Hellesponts, ziehen würden10. Der Hafen von Troas11, nahe dem wir landeten, hat einen Hügel, der sich rund um ihn in einem Halbkreis erhebt und ist durch einen Steinhaufen geschützt. Viele kleine Granitpfeiler stehen noch halb begraben12 und sind durch Spritzwasser sehr korrodiert. Vermutlich wurden an ihnen Schiffe mit Seilen befestigt13. Eine Sandbank an der Einfahrt hat die Verbindung zum Meer abgeschnien und das kleinere Becken war trocken. Das größere hae Wasser, aber sichtbar seicht. Sein Rand war mit natürlichem Salz verkrustet. Beide waren künstlich und ür kleine Schiffe und 7 Alexandria Troas (Taf. 2, 2–3 oben) wurde kurz nach 310 v. Chr. unter dem Namen Antigoneia von Antigo-

nos Monophthalmos durch den Synoikismos mehrerer Städte wie Larisa, Colonae, Chrysa, Hamaxitus an einer Stelle gegründet, die zuvor Sigia geheißen haben soll, wie Strabon 13, 1, 26. 33 berichtet. Sie liegt ca. 30 km südlich von Troja auf einem Gelände, das stetig von Osten nach Westen zum Meer hin abällt. Antigonos, geboren 382 v. Chr., war unter Alexander d. Gr. Offizier und Satrap von Großphrygien. Nach dem Tod Alexanders teilten sich seine Offiziere die eroberten Länder und Antigonos behielt Phrygien. 301 v. Chr. fiel er während der Diadochenkämpfe in der Schlacht von Ipsos. Bereits in den Jahren 301/300 v. Chr. wurde Antigoneia aber von Lysimachos (360–281 v. Chr.), der nach Alexanders Tod rakien erhielt und durch den Sieg gegen Antigonos in der Schlacht von Ipsos Phrygien eroberte, in Alexandria Troas umbenannt. In hellenistischer Zeit nahm die Stadt einen raschen Umschwung. In den Kämpfen zwischen Seleukiden und Aaliden stellte sich Alexandria Troas auf die Seite der Aaliden. 188 v. Chr. wurde sie zur freien Stadt erklärt und später zur römischen Kolonie »Colonia Alexandreia Augusta Troas«. Wirtschaliche Grundlagen der Stadt waren neben den Salzquellen von Larisa, Bergwerke, Ackerland sowie Hafengebühren. Heute liegt unmielbar in der Nähe das Dorf Dalyanköy: vgl. RE I 1 (1893) 1396 s. v. Alexandria Troas (G. Hirschfeld); DNP I (1996) 465 f. s. v. Alexandria (2) (E. Schwertheim); Schwertheim 1999, 95–101; Tenger 1999, 103–108. Chandler schreibt über die Geschichte der Stadt nur knapp im zweiten Absatz. 8 Es sind 22 Städte mit dem Namen Alexanders in der RE aufgelistet: vgl. RE I 1 (1893) 452–466 s. v. Alexandria

(G Hirschfeld) Ch1 Strabo 593. 9 Diese Angaben hat Chandler Strabon 13, 1, 26. 33 entnommen. 10 Dieser Gedanke Chandlers ist berechtigt, da die Stadt ihrer Lage entsprechend durch den Seehandel in helle-

nistischer Zeit zu Reichtum gelangte. Angeblich überlegten sowohl Gaius Julius Caesar als auch Konstantin d. Gr., sie zur Hauptstadt ihrer Reiche zu machen: vgl. DNP I (1996) 465 f. s. v. Alexandria (2) (E. Schwertheim). 11 Eine ausührliche geophysikalische sowie unterwasserarchäologische Untersuchung des Hafengebiets fand in

den Jahren 2005/06 sta. Für eine gute Luaufnahme des Hafengebiets vgl. Feuser 2009 Taf. 1. 12 Feuser 2009, 60 f. Taf. 5, 2. 9, 2 (sowie den Buchumschlag »Hafeneinfahrt von Alexandria Troas« [Foto: For-

schungsstelle Asia Minor]). 13 Wie Feusers Untersuchungen gezeigt haben, besaßen einige dieser Säulen tatsächlich diese Funktion: vgl. Feuser

2009, 45 f. 106 Taf. 8, 3. 9, 1–2.

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Özge Yiğit Özgül

Galeeren vorgesehen; Transportschiffe ankerten in der Straße außerhalb der Mole14. Die Stadtmauer15 steht, außer in der Nähe des Weinbergs16, aber mit Breschen und ihre Zinnen sind zerfallen. Sie war breit und solide, hae quadratische Türme in regelmäßigen Abständen und betrug mehrere Meilen im Umfang17. Außer den Häusern umschloss sie viele prachtvolle Gebäude; aber jetzt erscheint sie wie die Grenze eines Waldes oder eines vernachlässigten Parks. Eine Karte, die Herrn Wood gehört und, wie wir vermuteten, von einem Franzosen im Jahr 1726 gefertigt wurde, diente uns als Reisebegleiter18. Es wird angenommen, dass der Autor glaubte, wie andere Reisende dies [ebenfalls] taten, dies sei der Standort von Troja oder von einer noch jüngeren Stadt namens Ilium19, sta Alexandria Troas. Es ist nicht leicht, eine Verwechslung mühelos zu beschreiben. Oberhalb der Küste, nahe der Pococke20 die Überreste eines Stadions oder einer Rennbahn21 sah, ist eine mit Bäumen überwucherte Höhle, die in den Boden versenkt ist; und noch weiter oben ist der gewölbte Unterbau oder 14 Chandlers Beobachtung der Verlandung und die Feststellung der Künstlichkeit der Hafenbecken sind bemer-

kenswert, weil diese, zumindest der heutigen Form nach, nicht gleich als solche zu erkennen sind. Die Überlegung, welche Schiffe wo geankert haben, erschließt sich – der Größe der Hafenbecken folgend – von selbst. Für eine schematische Rekonstruktion des Hafenbeckens vgl. Feuser 2009, 107 Abb. 28. 15 Schulz 2002 Taf. 11, 2. 16 Solche unpräzisen Angaben sind charakteristisch ür Chandler. Die Lage des Weinberges erschließt sich nur

denen, die bei der Reise tatsächlich dabei waren – heute ist er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu sehen. 17 Strabon Georg. 13, 1, 26, berichtet, dass Lysimachos die von ihm umbenannte Stadt Alexandria Troas mit einer

Stadtmauer befestigen ließ, die 40 Stadien, also rund 8 km lang war und eine durchschniliche Stärke von 2,5 m hae. Es handelt sich hierbei um ein Zweischalenmauerwerk mit Läufern und Bindern. Die 44 erkennbaren Türme der Stadtmauer sind alle rechteckig angelegt; bei 8 km Länge beträgt der durchschniliche Abstand zwischen diesen 182 m. Doch durch die Berücksichtigung der topographischen Eigenschaen tri das jedoch nicht immer zu. Insgesamt umfasst die Stadtmauer ein Gebiet von ca. 400 ha. Chandler erwähnt keines der vier Tore, die heute noch erhalten sind: vgl. Schulz 2002, 33–58. 18 Zum ersten Mal seit dem Mielalter wird die Stadt auf einer Karte des osmanischen Seemanns (und späteren

Admirals der Osmanischen Floe unter Suleiman dem Prächtigen) Piri Reis erwähnt, der 1521 das Mielmeer in mehreren Karten in seinem Buch »Kitab-ı Bahriye« (»Das Marinebuch«) darstellte. Den Kommentaren zu seiner Tenedos-Karte ist zu entnehmen, dass die Griechen die gegenüber der Insel Tenedos liegende Stadt, die damals Eski Istambulluk hieß und die er auf dieser Karte mit einigen umgefallenen Säulen kennzeichnet, »Toroya« nennen würden: vgl. Piri Re’is 1521, 4 f. Karte 1 Bozġe Ada (= Bozca Ada). Im 17. und 18. Jh. besuchten mehrere Reisende die antike Stadt und hielten sie aufgrund der Ruinen ebenfalls ür Troja. Einer dieser Reisenden war Robert Wood, der die Troas bereits vor Chandler bereist hae. Sein Werk »An Essay on the Original Genius of Homer« (Wood 1769) ist zwar mit einer Karte der Troas versehen, jedoch nicht, wie Chandler und seine Begleiter vermuteten, von einem Franzosen 1726 gefertigt, sondern erst im Jahr 1750: vgl. Wood 1769, Homer, Karte Troas. Die von Chandler erwähnte Karte » … made … by a Frenchman …« wird wahrscheinlich eine Karte des Chevalier Louis-André de La Mamie (oder Lamamie) de Clairac sein: vgl. Laporte 2011, 247–276 Faltbeil. 1. Ob es sich tatsächlich um diese Karte handelt und auf welchem Weg sie in das Buch von Wood gelangt ist, kann nicht mit Gewissheit festgestellt werden. 19 Chandler wusste damals anscheinend nicht, dass es sich dabei um dieselbe Stadt handelt: vgl. DNP XII, 1 (2002)

855 f. s. v. Troia (D. Mannsperger). 20 Robert Pococke gehört als früherer Reisender mit seinem Werk »A Description of the East and some other

Countries« zur Begleitliteratur Chandlers. In seinem Buch befindet sich ein Plan der Stadt Alexandria Troas, den Chandler bei seinem Rundgang nicht aus der Hand gelegt haben soll: vgl. Pococke 1743 Karte Alexandria Troas; Schulz 2002 Taf. 10, 2. 21 Das Stadion der Stadt, das von Pococke auf der Karte angegeben ist und ür Chandler gut zu verfolgen war,

wird von ihm nur hier erwähnt. Zur neusten Untersuchungen zum Stadion vgl. Mechikoff u. a. 2011, 181–192.

Reisen ür die Antike. Richard Chandler in Alexandria Troas

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das Fundament eines großen Tempels22. Man sagte uns, dass dieses später ein Versteck von Räuberbanden gewesen sei, die hier o verborgen lagerten und ihre Pferde in einer Reihe an hölzerne Pflöcke gebunden haen, von denen viele in der Mauer übrig geblieben sind. Es wimmelt jetzt von Fledermäusen, viel größer als die englischen, die bei unserem Eintri unzählig herumflaerten und als sie müde waren, sich niedersetzten und die Decke schwärzten23. In der Nähe davon ist ein Kellergewölbe24 und in einem gewissen Abstand finden sich Spuren eines eaters und eines Odeums oder Musiktheaters25. Die Gebäude lagen nahe dem Zentrum der Stadt. Der halbrunde Bogen, auf dem die Sitze angebracht waren, ist mit gewölbten Enden in den Hügel gesetzt. Unter dem Schu, der sich weit erstreckt, gibt es einige Marmor- und Skulpturreste mit vielen kleinen Granitpfeilern26. Die Hauptruine27, die aus der Ferne von den Seeleuten gesehen wird, bietet einen Ausblick auf die Inseln Tenedos und Lemnos, und, auf einer Seite, auf die Ebene Richtung Hellespont sowie auf die Berge in Europa28. Vor ihm gibt es ein sanes Geälle, uneben und bewaldet, das schätzungsweise drei Meilen vom Meer entfernt ist. Es war ein sehr geräumiges Gebäude, und, wie wir annahmen, einst das Gymnasion29, wo die Jugend im Lernen und in den [körperlichen] Übungen ausgebildet wurde. Es besteht aus drei offenen, massiven Bögen, die sich unter den Mauern und einem gewaltigen Haufen von riesigen Materialien auürmen. Diese sind mit einer Art von Stein konstruiert, der voll von versteinerten Muscheln und Aushöhlungen wie Honigwaben ist. Es ist wahrscheinlich, dass der Letztgenannte, wie Pococke berichtet, verursacht hat, dass die Bauern den Namen Baluke Serai, der Honigpalast, gebrauchten, der, wie er denkt, eventuell von Baal hergeleitet wurde30. Die Pfeiler haben Kapitelle und Gesims von weißem Marmor und das 22 Es könnte sich um die Schafstallthermen oder um das Halbsäulengebäude handeln, wobei Letzteres eventuell

ausgeschlossen werden kann, da Chandler keine Halbsäulen erwähnt. In der Nähe des Stadions sind nämlich m. W. keine Tempel aufzufinden. 23 Diese Passage ist exemplarisch ür Chandlers Schreibstil. Einerseits tri Chandler an das von ihm zu Doku-

mentierende überwiegend bemüht wissenschalich heran, andererseits schwei er durchaus ab, wenn ihm etwa weitere Informationen über das Beschriebene fehlen oder ihn eine von den Bauern erzählte Geschichte fasziniert. 24 Worum es sich hierbei handelt, wird nicht näher erläutert. 25 Was Chandler hier unter einem Musiktheater versteht, lässt sich nicht sicher definieren. Vielleicht erinnerte

ihn der Bau an die britischen Opernhäuser seiner Zeit. 26 Diese Gebäude sind eindeutig zu identifizieren. Die Beschreibung des halbrunden Bogens mit den gewölbten

Enden ordnet er keinem der beiden Gebäude zu und zwingt den Leser dadurch zu erraten, um welchen Bau es sich handeln könnte. Doch auf einem Stich, den Marijana Ricl in ihrem Buch abbildet – bedauerlicherweise ohne Angabe einer Jahreszahl – ist das eater mit den gewölbten Enden, die Chandler schildert, abgebildet: vgl. Ricl 1997, 232 Abb. »e eater at Alexandreia Troas«. 27 Chandler kommt nun auf das Bauwerk zu sprechen, das wohl zur seiner Zeit das besterhaltene Gebäude war,

das man in der antiken Stadt sehen konnte und das von ihm den Namen »Die Hauptruine« bekam. 28 Damit meint er die Halbinsel Gallipoli (= Gelibolu), im europäischen Teil der Türkei gelegen. 29 Die von ihm detailliert geschilderte Ruine ist jedoch kein Gymnasion, sondern die größte ermenanlage der

Stadt, die ermen des Aicus Herodes. Die Bögen des, im Vergleich zu einem alten Stich aus dem 18. Jh. doch etwas zerstörten, Baus können immer noch bewundert werden. Ein Stich der ermen ist bei Ricl 1997, 231 Abb. »Priam’s Palace« (= »e Baths of Herodes«) abgebildet. Heute sieht das Gebäude weitgehend so aus, wie bei Chandler beschrieben. 30 Auch wenn die Übersetzung Chandlers mit »Honigpalast« richtig sein sollte, so ist Woods Herleitung ür das

urzentralasiatische Wort Honig (bal) aus dem orientalischen Begriff Baal (= König oder königlich) sicherlich falsch.

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ganze Geüge scheint verkleidet gewesen zu sein31. Einige Überreste von Tontüllen oder Röhren sind sichtbar32. Eine Abbildung davon, welche Herrn Wood gehörte, wurde vor kurzem veröffentlichtCh2. Auf der einen Seite ist eine Ruine aus Ziegelsteinen33 und dahinter, außerhalb der Stadtmauer, sind Gräber34. Eines von ihnen ist aus dem Mauerwerk, das Reticulat oder genetzt genannt wird. Eine durch römische Gunst gekennzeichnete und florierende Stadt würde nicht zögern, ihren Wohltätern den Tribut ür die Schmeicheleien zu zahlen. Der Bauer zeigte mir einen Marmorsockel mit lateinischer Inschri mit großen Buchstaben, eben und gut bearbeitet. In der Nähe von diesem fanden wir zwei weitere Sockel, von denen einer über die Häle in Schu begraben war, aber die Türken säuberten die Front mit ihren Säbeln bis zur achten Zeile. Alle drei waren ähnlich und haen, außer einigen leichten Abweichungen, dieselbe Inschri. Sie wurden von verschiedenen Städten zu Ehren des Gaius Antonius Rufus aufgestellt, dem Flamen oder Hohen Priester des Goes Julius und des Augustus35. Ein verstümmelter Rumpf, den wir sahen, war vielleicht eine der Statuen; und es ist wahrscheinlich, dass die schon erwähnte Fundamentierung zu dem Tempel gehörte, der diesen Goheiten oder der Göin Roma geweiht war36. Die Marmorstücke befinden sich etwa in der Mie zwischen der Hauptruine und dem Strand. Ein venezianischer Offizier meldete uns später, dass er eines davon, während sie nahe Tenedos vor Anker lagen, auf Befehl des Kapitäns an Bord seines Schiffes, dann auf eins im Golf von Izmir schae, als sie auf Bailow, dessen Aufenthalt in Konstantinopel abgelaufen war, warteten37. Wir suchten fleißig nach Inschrien, entdeckten aber, außer den oben erwähnten, nur ein kleines Fragment eines Sockels, auf dem der Name Hadrians auaucht38. 31 Womit das Gebäude verkleidet gewesen sein könnte, sagt er nicht. Er könnte hier eine Marmorverkleidung

meinen, da er zuvor die Architekturelemente aus Marmor beschreibt. 32 Spätestens bei seiner Sichtung der Tonrohre häe Chandler drauf kommen können, dass es sich hierbei auch

um ermen handeln könnte. Ch2 s. Essay on Homer »Ancient Ruins near Troy, & c.« 33 Um welches Gebäude es sich hier handeln könnte, bleibt mit dieser knappen Angabe des Ziegelmauerwerks

sehr spekulativ. 34 Die Gräber werden von ihm nicht näher beschrieben. Die Angabe im folgenden Satz über das Mauerwerk eines

dieser Gräber zeigt nur sein architektonisches Wissen. 35 Eine der Inschrien, die von Chandler entdeckt wurden, untersucht Ricl 1996 in ihrer Publikation. Gaius An-

tonius Rufus, den Chandler als inschrilich Genannten erwähnt, stammte aus Philippi oder aus Apri. Er war Flamen des Goes Augustus in Apri und in Philippi und princeps coloniae in Apri, Philippi und Parium. In Alexandria Troas war er Flamen des Goes Iulius: vgl. Ricl 1997, 68–72 Nr. 36. 36 Der Gedanke Chandlers, die Statuenbasis gehöre wahrscheinlich zu einem Tempel, könnte zutreffen. Er meint

wohl die Fundamentierung, die er im Abschni »Die Überreste« erwähnt. Wie er auf die Goheit Roma kommt, erläutert er leider nicht. 37 Zu einer Zeit, in der die europäischen Herren nicht nur aus Kunstbegeisterung, sondern auch aus Prestige-

gründen aus den Mielmeerländern und aus dem Osmanischen Reich Kunstgegenstände in ihre Heimatländer schaen – was auch in einigen Fällen mit Erlaubnis dieser Länder geschah –, ist dies Chandler offenbar bekannt und über jede Kritik erhaben, da der Umstand anscheinend den Zeitgeist wiedergibt und somit auch ür Chandler ›normal‹ ist. 38 In einer römischen Kolonie war es üblich, dass Kaiser oder ihre Angehörigen der Stadt etwas spendeten. Um

welche Inschri es sich hierbei handeln könnte, lässt sich nicht feststellen, zumal Chandler seinen Fundort nicht nennt. Vielleicht ist sie mit einem von Mühlenbeck untersuchten Inschrifragment mit Hadrians Namen vergleichbar: vgl. Mühlenbeck 1994, 193–195.

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Ein Aquädukt39 ängt hinter der Stadt an, nicht weit von den Gräbern, und man sieht ihn herabkommen und das Land auf der Seite, das dem Hellespont das Nächste ist, durchkreuzen und mehrere Meilen erstrecken. Die Pfeiler, die wir maßen, sind ünf Fuß neun Zoll breit, drei Fuß und zwei Zoll dick und der Raum zwischen ihnen misst zwölf Fuß und vier Zoll. Die Bögen sind alle zerstört40. Die Geschichte dieses prachtvollen und nützlichen Baus stellt ein berühmtes Beispiel ür die imperiale und private Freigiebigkeit dar41. Ein Athener, Tiberius Claudius Aicus Herodes, hae den Vorsitz über die freien Städte Asiens. Er sah, dass Troas verarmt an geräumigen Bädern und an Wasser war, nicht aber an solchen aus schmutzigen Brunnen oder aus Behältern, die als Sammelbecken ür Regenwasser gefertigt waren. Er schrieb an Kaiser Hadrian, er solle nicht darunter leiden, dass eine alte Seestadt durch Trockenheit zerstört werde, sondern ihr dreihundert Myriaden [i. e. 3 Mio.] Drachmen ür Wasser geben, besonders weil er weitaus größere Beträge sogar Dörfern gegeben häe. Hadrian willigte gern ein und ernannte ihn zum Oberaufseher des Baus. Die Kosten überstiegen siebenhundert MyriadenCh3 42 und es wurde dem Kaiser als Beschwerde vorgetragen, dass die Tribute von ünundert Städten auf einmal ür einen Aquädukt verschwendet wurden. Herodes bat ihn in seiner Antwort, er solle nicht verärgert sein, dass das Vorhaben über seine Schätzung hinausging, er habe den Überschuss der Summe seinem Sohn und dieser der Stadt geschenkt. Wir werden Gelegenheit haben, Aicus Herodes wieder zu erwähnen, und sein Name wird in dem Bericht unserer Reise in Griechenland vorkommen. Sein Großvater Hipparchos wurde wegen Tyrannei angeklagt, sein Gut wurde konfisziert und sein Sohn Julius Aicus in die Armut gezwungen. Julius entdeckte einen Schatz in einem der Häuser, die, beim eater von Athen gelegen, ihm gehörten. Die Menge war so groß, dass seine Furcht seine Freude übertraf und er schrieb an Kaiser Nerva, begierig danach seinen Wunsch dies betreffend zu wissen. Nerva erwiderte: »Benutze, was du gefunden hast«; und auf ein neues Gesuch sagte er: »Missbrauche, wenn du willst, was Merkur dir gegeben hat«. Julius, der auf diese Weise diesen unerwarteten Reichtum besaß, heiratete eine Frau mit einer beträchtlichen Mitgi. Seine Reichtümer erbte deren Sohn Aicus Herodes, der bei Marathon geboren und von den berühmtesten Lehrern erzogen wurde. Er wurde wegen seiner Gelehrsamkeit und Redegewandtheit so berühmt, dass vielleicht kein Sophist ihn an Glanz seines Rufes je übertraf. Er stieg zu den höchsten Würden von Athen und im Jahr unseres Herrn 143 zum Konsulat mit Torquatus in Rom auf. Seine Freigiebigkeit kam seinem Wohlstand gleich und war sowohl umfangreich als auch edel. Viele Tempel wur39 Der Aquädukt wurde m. W. von den Ausgräbern noch nicht untersucht oder publiziert. Es ist mir leider nicht

gelungen, an eine neuere Aufnahme des Bauwerks zu gelangen. Auf einem Stich ist jedoch der Aquädukt zu erkennen: vgl. Schulz 2002 Taf. 12, 1. 40 Auf dem erwähnten Stich sind die Bögen noch gut zu erkennen: vgl. Ricl 1997, 231 Abb. »Priam’s Palace«.

Dementsprechend wird er entweder einige Jahre vor Chandlers’ Ankun in Alexandreia Troas entstanden sein oder die Bögen sind eine freie Angabe des Künstlers, damit der Aquädukt als solcher zu erkennen ist. Wichtig zu erwähnen ist, dass Chandler in diesem Kapitel zum ersten Mal mit der Vermessung und Dokumentierung des Aquädukts seinen Fuß in die Archäologie setzt. 41 In den folgenden beiden Abschnien »Der Aquädukt« und »Über Aicus Herodes« kommt Chandler von der

Beschreibung der Stadt ab und schildert stadessen die Entstehungsgeschichte des Aquädukts und das Leben des Erbauers Aicus Herodes, der zwischen 101/2–177/8 n. Chr. lebte. Er war als der reichste Mann der Antike bekannt und hae Stiungen in den verschiedensten Städten des Römischen Reichs: vgl. DNP 5 (1998) 463 f. s. v. Herodes (16) (E. L. Bowie). Ch3 Fünfhundert Myriaden belaufen sich auf 161.458 Pfund, 6 Schilling, 8 Pence britischer Währung. 42 Die Grundlage ür Chandlers präzise Umrechnung auf damalige britische Pfund ist unbekannt.

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den durch seine herrlichen Geschenke bereichert. Seine kostbaren Gebäude schmückten Asien, Griechenland und Italien. Ihm wurden Statuen errichtet und die Städte weeiferten miteinander, ihren gemeinsamen Wohltäter zu preisen. Mehrere von diesen besitzen immer noch Monumente seiner Großartigkeit und berichten von seiner Freigebigkeit43. Die christliche Religion wurde Troas frühzeitig eingeimp. Anfang des 5. Jhs. wurde der Bischof Silvanus ersucht, ein Schiff von einem Dämon zu befreien, von dem geglaubt wurde, dass er das Schiff festhalte, als es nicht ins Meer gebracht werden konnte. Es war zum Transport von großen Säulen vorgesehen und war von beträchtlicher Größe. Als er zum Strand hinunterlaufend betete, hielt er an, um ein Seil zu nehmen, rief dann der Menge zu, sie möge ihm beistehen, während das Schiff ihm umgehend gehorchte und ins Meer eilteCh4. Aber die Kirchen sind schon seit so langer Zeit zerstört, dass ihre Grundrisse ungewiss sind44. Die Verödung dieses Orts begann vor der Vernichtung des Griechischen Imperiums und fand vermutlich noch vor ihr ein Ende. Viele Häuser und öffentliche Bauten wurden seitdem in Konstantinopel mit ihren Materialien errichtet45. Wir fanden nur einige unbedeutende Überreste von weißem Marmor in der Hauptruine, wo vorher eine gewaltige Menge davon war. Einige Stücke im Wasser am Hafen und zwei große Granitsäulen waren vielleicht ans Ufer gescha worden, um ür eine Einschiffung bereit zu sein46. Das Lager ist noch lange nicht erschöp. Der Name Troas war im Jahr 1389 noch gebräuchlich47.

Literatur Chandler u. a. 1769: R. Chandler – N. Reve – W. Pars, Ionian Antiquities (London 1769). Chandler 1776: H. C. Boie (Hrsg.), R. Chandler, Travels in Asia Minor: or an Account of a Tour Made at the Expense of the Society of Dileanti 2(London 1776). Chandler 1976: R. Chandler, Reisen in Klein-Asien (Leipzig 1776, Nachdruck Hildesheim 1976). Feuser 2009: S. Feuser, Der Hafen von Alexandria Troas, AMS 63 (Bonn 2009). Kelly 2009: J. M. Kelly, e Society of Dileanti. Archaeology and Identity in the British Enlightment (London 2009). Laporte 2011: J.-P. Laporte, Alexandria Troas According to Louis-André de Lamamie, Chevalier de Clairac (april 1726), in: E. Schwertheim (Hrsg.), Studien zum Antiken Kleinasien 7, AMS 66 (Bonn 2011) 247–276. Meikoff u. a. 2011: R. Mechikoff – B. Rieger – A. Trakadas, Alexandria Troas Stadium Survey: Report of the First Campaign, in: E. Schwertheim (Hrsg.), Studien zum Antiken Kleinasien 7, AMS 66 (Bonn 2011) 181–192. 43 Seine elle nennt Chandler nicht, aber der Text ist exakt so bei Philostratos soph. 2, 546–548, überliefert. Ch4 Sozomen vii. 37. Socrates 1. I. 44 Weil Chandler die Kirchen nicht beschreiben kann, ügt er an dieser Stelle diese Legende des Bischof Silvanus

ein. 45 Mit Sicherheit gehörte Alexandria Troas, aufgrund seiner günstigen Lage am Meer und der Nähe zur osma-

nischen Hauptstadt, zu den antiken Städten, die ür die Paläste der Paschas und der Oberschicht des Reiches, welche die Verschwendungssucht der ür sie vor allem ab dem Barock vorbildlichen europäischen Herrscher übernahmen, als willkommene Steinbrüche dienten. 46 Es könnten sich hierbei um jene Säulen handeln, die als Bild den Umschlag der Monographie Feusers schmü-

cken: Feuser 2009 Buchumschlag »Hafeneinfahrt von Alexandria Troas« (Foto: Forschungsstelle Asia Minor). 47 Woher Chandler diese Information bezieht, ist unklar.

Reisen ür die Antike. Richard Chandler in Alexandria Troas

Mühlenbe 1994: S. Mühlenbeck, Hadrian in Alexandria Troas? Eine neue Inschri, in: E. Schwertheim – H. Wiegartz (Hrsg.), Neue Forschungen zu Neandria und Alexandria Troas, AMS 11 (Bonn 1994) 193–195. Piri Re’is 1521: Piri Re’is, Bahrije. Das türkische Segelhandbuch ür das Mielländische Meer vom Jahre 1521. Herausgegeben, übersetzt und erklärt von Paul Kahle, Bd. I–III (Berlin 1926). Pocoe 1743: R. Pococke, A Description of the East and some other Countries, Bd. II (London 1743). Ricl 1997: M. Ricl (Hrsg.), e Inscriptions of Alexandreia Troas, in: Inschrien griechischer Städte aus Kleinasien 53 (Bonn 1997). Sulz 2002: A. J. P. H. Schulz, Die Befestigungsanlage von Alexandreia Troas, in: E. Schwertheim (Hrsg.), Studien zum Antiken Kleinasien 5, AMS 44 (Bonn 2002) 33–58. Swertheim 1999: E. Schwertheim, Zur Gründung der römischen Kolonie in Alexandria Troas, in: E. Schwertheim (Hrsg.), Die Troas. Neue Forschungen 3, AMS 33 (Bonn 1999) 95–101. Tenger 1999: B. Tenger, Zur Geographie und Geschichte der Troas, in: E. Schwertheim (Hrsg.), Die Troas. Neue Forschungen 3, AMS 33 (Bonn 1999) 103–180. Wood 1769: R. Wood, An Essay on the Original Genius of Homer (London 1769).

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Reisen für die Antike Richard Chandler in Sigeion∗ Jan Henrik Hartung

Von Juni 1764 bis November 1766 bereiste Richard Chandler (1738–1810), einer der bedeutendsten englischen Archäologen des 18. Jahrhunderts, gemeinsam mit dem Architekten Nicholas Reve (1720–1804) und dem Maler William Pars (1742–1782) Kleinasien und Griechenland. Den Aurag und die finanziellen Miel ür diese Unternehmung brachte die Society of Dileanti1 aus London auf, die der Reisegesellscha 800 Pfund pro Jahr zur Erforschung Griechenlands und Kleinasiens bereitstellte. Einen Überblick über die architektonischen Glanzlichter und Tempel an der kleinasiatischen Westküste boten bereits 1769 die »Ionian Antiquities«2, bevor die Society of Dileanti den vollständigen Reisebericht 1775 als »Travels in Asia Minor« veröffentlichte3. Beide Titel waren im Zuge der auommenden klassizistischen Antikenbegeisterung Europas äußerst erfolgreich und schon ein Jahr darauf wurden die »Travels in Asia Minor« 1776 in einer erweiterten englischen Ausgabe neu aufgelegt4 sowie ins Deutsche5 und Französische6 übersetzt. Dennoch haben die Reisen und Beschreibungen von Richard Chandler, der viele antike Stäen als einer der ersten Europäer ausührlich dokumentierte (und die durch die detaillierten Stiche und Zeichnungen von Bauteilen ergänzt wurden, die William Pars anfertigte), in der Rezeption der modernen Archäologie bislang unberechtigterweise kaum Beachtung gefunden. Insbesondere im Hinblick auf die teilweise unwiederbringlichen Schäden an der antiken Bausubstanz durch Naturkatastrophen, Raubgrabungen oder andere Zerstörungen, die in den letzten beiden Jahrhunderten stafanden, bilden die frühen Reiseberichte eine unschätzbare elle ür die archäologische Forschung. Unmielbar nach dem Beginn der Reise der Dileanti in Konstantinopel machte sich die kleine Gruppe auf den Weg durch die Troas. Dort dokumentierte man die Eigenheiten der Landscha und Reste der antiken menschlichen Besiedlung (Taf. 2, 1–3). Im Folgenden soll der Reisebericht ∗ Dieser Beitrag ist die komprimierte Fassung einer schrilichen Hausarbeit aus dem Wintersemester 2005/06,

in welchem der hier geehrte H. Lohmann durch das begleitende Hauptseminar einen wichtigen Grundstein ür mein Interesse an der Archäologie legte, woür ich ihm ebenso wie ür das mir stets entgegengebrachte Vertrauen während meines Studiums herzlich danke. 1 Zur Society of Dileanti ausührlich Kelly 2009. 2 Chandler u. a. 1769. 3 Chandler 1775. – Zur Entstehungsgeschichte und den anderen Publikationen siehe Cust 1898, 84–97. 4 Chandler 1776. 5 Chandler 1976. 6 Chandler 1806.

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Jan Henrik Hartung

zu einem dieser Orte, dem antiken Sigeion, in neuer deutscher Übersetzung und mit archäologischem Kommentar vorgelegt werden7. K A P. XII8.

Küste der Troas – Enekioi – Giaurkioi oder Sigéum – Altertümliches an der Kirche – Bericht von Sigéum – Der berühmte sigéische steinerne Pilasterteil – Die Anordnung der Zeilen darauf – Vom griechischen Alphabet – Alter der ersten Inschri – Alter der zweiten – Sie liegen unbeachtet. Von Chemali9 kehrten wir zu dem Weinberg zurück, in der Absicht, so bald wie möglich abzulegen; die Gefahr von bandii [Räubern, Anm. d. Verf.] vergrößerte sich mit unserem Aufenthalt in dieser Gegend, der bereits allgemeines Unbehagen geweckt hae; aber mit starkem Rückenwind kehrten wir mit unserem ermometer10 zu den heißen Bädern zurück. In der Zwischenzeit ließ uns der Aga11 von Chemali mieilen, dass er beabsichtigte, uns am Abend einen Besuch abzustaen und erbat von uns die Annahme einer jungen Ziege. Seine Männer jedoch brachten das angedachte Geschenk weg, da sie von dem Janitscharen12 hörten, dass wir unsere Abreise planten. Wir waren glücklich, dass wir es vermeiden konnten, ihn zu sehen, da wir erwarteten, dass er sich als lästiger Gast erweisen würde. Wir beeilten uns an Bord zu gehen und passierten in der Dämmerung die Küste bei Alexandreia Troas; und nachdem wir etwa ünf Meilen gerudert waren, legten wir an und schliefen am Strand. Die tiefe Nacht war noch schauderhaer durch das melancholische Heulen zahlreicher Schakale, die, wie wir annahmen, ihre Beute jagten. Wir stiegen drei Stunden vor Tagesanbruch wieder ins Boot und ruderten bis etwa sieben eine äußerst felsige Steilküste entlang. Dann legten wir bei Enekioi13, oder Neustadt, an, nun ein griechisches Dorf, so ärmlich, dass wir uns kaum ausreichend mit Trauben, Wein, Eiern und Öl, um sie zu braten, ür unser Frühstück versorgen konnten. Die Stadt liegt sehr hoch und war einst ansehnlicher. Bei der Kirchentür ist eine lateinische GrabinschriCh1 14 und Plinius erwähnt eine 7 Es existieren zahlreiche weitere frühe Beschreibungen von Sigeion, eine ausührliche Auflistung findet sich bei

Bieg – Aslan 2006, 142 Anm. 14. – In weiteren Beiträgen des vorliegenden Bandes widmen sich Ö. Özgül und F. Hulek Chandlers Beschreibung von Alexandreia Troas bzw. von Teos. 8 Die Übersetzung folgt der zweiten erweiterten Auflage der englischen Ausgabe Chandler 1776, 35–39 (auf Ab-

weichungen zur Erstausgabe [Chandler 1775, 35–39] wird an den entsprechenden Stellen in den Anmerkungen verwiesen). Fußnoten des Originaltextes sind im Folgenden mit »Ch« und fortlaufender arabischer Ziffer gekennzeichnet. Des Weiteren werden zur leichteren Orientierung die Maßangaben des angelsächsischen Systems in dahinter gestellten eckigen Klammern ins metrische System übertragen, wobei 1 Zoll = 2,54 cm und 1 Fuß = 30,48 cm betragen. 9 Das heutige Kemallı östlich des antiken Alexandreia Troas, vgl. Cook 1973, 209 f. bes. Anm. 3. 10 Man darf sich die Szene ähnlich der von Virchow etwa 100 Jahre später beschriebenen vorstellen, in der dieser

mithilfe eines ermometers die »wirklich heißen ellen« von ›Lidja Hamám‹ untersucht (Virchow 1879, 18). – Bei einem ersten Besuch der Stäe hae die Gruppe das ermometer vergessen, wie ein Zusatz in der ersten Auflage deutlich macht (Chandler 1775, 35). 11 Auch Agha: früherer Offizierstitel der Janitscharen-Armee. Für ausührlichere Informationen siehe Good-

win 1997. 12 Einührend Goodwin 1997. 13 Das heutige Yeniköy (»neues Dorf«), südlich von Sigeion; vgl. Cook 1973, 167 f. Ch1 Inscript. Ant. S. 4. 14 Chandler 1774, 4 Nr. 6; s. auch CIL II 393; ür weiterührende Literatur: Ricl 1997, 130 Nr. 120. – Die in die

römische Kaiserzeit datierte Inschri lautet: C(aius) Marcius Marsus / v(ivus) f(ecit) sibi et suis].

Reisen ür die Antike. Richard Chandler in Sigeion

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Stadt in der Troas, genannt Nea15, oder Neustadt, die vielleicht an dieser Stelle gelegen hat. Es gab dort ein Bildnis der Minerva, auf das niemals Regen gefallen war; man sagt, dass Opfer, die hier dargebracht wurden, nicht verfaulten16. Wir verließen Enekioi und landeten gegen Miag wiederum an einem Strand vor dem Hellespont an, nicht weit entfernt des sigéischen Vorgebirges, und stiegen auf einem steilen Pfad nach Giaurkioi17 hinauf, einem griechischen Dorf, einst die Stadt Sigéum18, hoch über dem Meer, nun 15 Plin. n. h. 5, 33, 124: Troadis primus locus Hamaxitus, dein Cebrenia ipsaque Troas, Antigonia dicta, nunc Alexandria

colonia Romana, oppidum Nee, Scamander amnis navigabilis et in promunturio quondam Sigeum oppidum … [»Der erste Ort der Troas ist Hamaxitos, ferner Kebrenia und Troas selbst, Antigoneia genannt, jetzt die römische Kolonie Alexandria, die Stadt Nee, der schiffbare Fluss Skamandria und auf dem Vorgebirge einst die Stadt Sigeion …« (Übers. G. Winkler – R. König)]. 16 Plin. n. h. 2, 97, 210: Celebre fanum habet Veneris Paphos, in cuius quandam aream non inpluit, item in Nea, oppido

Troadis, circa simulacrum Minervae; in eodem et relicta sacrificia non putrescunt [»Einen viel besuchten Tempel der Aphrodite besitzt Paphos und auf einen bestimmten Bezirke desselben ällt kein Regen; ebenso regnet es nicht zu Nea, einer Stadt in der Troas, um eine Statue der Athene herum; an der gleichen Stelle faulen auch die Kadaver von Opfertieren nicht« (Übers. G. Winkler – R. König)]. 17 Gâvur Köy (»Heidendorf«, da es zu Chandlers Zeiten hauptsächlich von Griechen – damals im islamischen

Sinne »Ungläubige« – besiedelt war), heute Yenişehir (»Neustadt«), vgl. Cook 1973, 153 f. 18 Der Name Sigeion erscheint in den Tributlisten des Aischen Seebunds, dem die Stadt jährlich die relativ gerin-

ge Summe von ¹⁄₆ Talent, also 1000 Drachmen, beisteuerte: siehe IG I³ 1, 17 mit weiterührender Literatur. – Zur Lage der Stadt in den antiken ellen: Sigeion wird in der Antike häufig erwähnt (erstmals Hdt. 5, 65: Σίγειον τὸ ἐπὶ τῷ Σκαμάνδρῳ (»Sigeion am Skamander«), doch erst Strabon liefert eine genauere Lagebeschreibung, wonach auf Rhoeteion Sigeion folgt, sowie die Mündung des Skamanders (heute Kara Menderes), das Lager der Achaier, der Stomalimne u. s. w. (Strab. Geogr. 13, 1, 31. 13, 1, 36). An anderer Stelle listet er – in der Reihenfolge von Nord nach Süd – Sigeion, Achilleion, die Peraia der Tenedier, Achaiion u. s. w. auf (Strab. Geogr. 13, 1, 46). Die Ausührungen bei Plin. n. h. 5, 124 f., sind dagegen offensichtlich aus Unkenntnis entstanden (vgl. Cook 1973, 181 f.). Allgemein lässt sich dennoch festhalten, dass die antiken Autoren Sigeion zu weit nördlich (nördlich von Achilleion) verorten. – Schliemann 1881, 85, setzt Sigeion mit Yenişehir gleich, wo er angeblich »eine 6 Fuß tiefe Anhäufung von altem Trümmerschu« sah; vgl. die überarbeitete Burnouf-Karte von 1879 (Schliemann 1881 Anhang); siehe auch Cook 1973, 175. Lehmann-Haupt 1918, 432 f., bleibt in seiner Aussage zur Lokalisierung eher unpräzise, er erwähnt lediglich, dass Sigeion von Yenişehir aus »in 20 Minuten zu Fuß zu erreichen« sei; aus den Bemerkungen bei Brückner 1925, 242, geht jedoch hervor, dass er wohl von Yenişehir nach Süden, zum ›Spra’s Plateau‹ (heute Subaşı Tepe oder Kızılkuyu Tepe), gegangen ist (vgl. Cook 1973, 177). Auch RE II A 2 (1923) 2276 f. s. v. Sigeion (2) (L. Bürchner), zweifelt an einer Lage der Stadt beim heutigen Yenişehir, wo Bürchner vielmehr das antike Achilleion vermutet, während er ür Sigeion einen Platz etwa 800 m weiter südlich, also ebenfalls ›Spra’s Plateau‹, beansprucht. Brückner 1925, 234 f., schließt sich der ese Bürchners an, wie auch aus der Karte Brückner 1925, 239 Abb. 2, ersichtlich ist. Bereits Sperling 1936, 122 f., legt jedoch aufgrund seiner Beobachtungen Yenişehir als einzig möglichen Siedlungsort fest (»at Yeni Shehir there are layers of habitation deposit two and three meters thick, including deep strata belonging to the classical era«). Cook 1973, 181 f., fasst erstmals die Forschungsgeschichte zur Lage der antiken Polis zusammen und kommt anhand der antiken Befunde (Münzen, Scherben etc.) und der topographischen Begebenheiten (fruchtbares Land und gleichzeitig strategisch günstige Lage) zum Ergebnis, dass »it is thus Yenişehir, and only Yenişehir, that corresponds to the historical image of Sigeum« (Cook 1973, 184). Der Kleine Pauly 5 (1975) 179 f. s. v. Sigeion (2) (A. M. Mansel), wiederholt schlicht die Worte Bürchners, wohingegen DNP 11 (2001) 535 f. s. v. Sigeion (E. Schwertheim), entgegen aller bisherigen Tendenzen vermutet, die Stadt habe »nördlich des heutigen Yenişehir bei Kumkale« gelegen. Da er sich hierbei auf Cook beru, kann es sich nur um ein Missverständnis handeln, denn Cook 1973, 150–159, betont deutlich, dass Kum Kale (die »Festung am Strand«), eine spätmittelalterliche Festung am »Kap« des sigeischen Vorgebirges, niemals mit Sigeion gleichzusetzen ist. Die Lage von Achilleion am heutigen Beşik-Yassıtepe konnte 1986 durch Grabungen archäologisch gesichert werden (Korfmann 1988, 394 f.; Kossatz 1988, 403). Die Siedlung war Anfang des 6. Jhs. v. Chr. als Gegenpol zu dem von den Athenern besetzten Sigeion entstanden, wurde jedoch, wie die Keramikfunde belegen, bereits vor Ende des 6. Jhs. v. Chr. wieder verlassen. – Um sich ein besseres Bild der Umgebung (mit der Verlandung der Skamanderebene) zu machen, siehe Kayan 2003, 215 Abb. 2; 221 Abb. 8. Wie verworren die Meinungen auch heute

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sowohl in Armseligkeit als auch Lage ähnlich Enekioi. Wir waren hier in einer kleinen Wohnung in einer der Hüen untergebracht, aber man musste vorsichtig sein, um nicht durch den Boden zu fallen. Die Familie, der es gehörte, war sowohl arm als auch unterdrückt. Die dünnstimmigen Frauen schimpen und heulten im Hof, wir fragten nach dem Grund und uns wurde erzählt, dass sie einen Piaster ür das Privileg gezahlt haen, sich ein Hausschwein zu halten; dass der Türke, der dieses Geld ür den Aga einsammelte, zehn pereaus19 als seinen Anteil forderte, dass sie außer Stande oder unwillig waren ihn zufrieden zu stellen, und dass er den Sohn ins Geängnis gebracht hae.

Die Stadt Sigéum stand seit alters her am Hang gegenüber dem Teil, an dem wir hinaufstiegen. Der hohe Hügel von Giaurkioi war die Akropolis oder Zitadelle; und eine schäbige Kirche auf der Kuppe in Richtung des Berges Ida20 nahm die Stelle des Athenéums oder Minervatempels ein21; von diesem ist verstreuter Marmor übrig geblieben. Die berühmte Sigéische Inschri22 liegt rechter Hand, wenn man die Kirche betri; auf der linken befindet sich ein Teil eines Sockels aus feinem weißem Marmor; beides dient als Sitz. In Letzteren ist ein Relief geschnienCh2 23. Die Griechen waren es gewohnt ihre Kleinkinder in die schützende Obhut einer Goheit zu geben; die Hebamme, in weiß gekleidet und barüßig, nahm das Kind an sich, um es am ünen Tag nach der Geburt [dort] zu zeigen. Die Römer haen denselben Aberglauben und es ist überliefert, dass noch sind, zeigt aktuell der Band Wagner u. a. 2003, in dem die verschiedenen Autoren die Stadt an den unterschiedlichsten Punkten lokalisieren, was besonders anhand der Karten des Buches deutlich wird. – In jüngster Zeit fassten Bieg – Aslan 2006, 135–137, die Forschungsthesen zur Lokalisierung zusammen. Bieg – Aslan 2006, 141 f., vermuten auf ›Spra’s Plateau‹ ein Proasteion peisistratidischer Zeit. Notgrabungen durch Reyhan Körpe aufgrund des Baus eines Radarturms zeigten 2001 Siedlungsspuren bei Yenişehir, vgl. Bieg – Aslan 2006, 137. 142. 19 Mit pereaus sind wahrscheinlich para gemeint; zu Chandlers Zeiten entsprach ein para 3 akçe / agče (dt. Asper),

40 para bilden einen Kuruş / Guruč (dt. Piaster). Vgl. hierzu das Kapitel Nominalgeschichte bei Schaendlinger 1973, 57–64. 20 RE IX 1 (1914) 862–864 s. v. Ida (2) (L. Bürchner). Da diese Hügelkee im Südosten liegt, stand die Kirche (St.

Demetrius) somit im Südosten der Akropolis; vgl. Cook 1973, 153. 21 Einen Tempel der Athena Glaukopis (der »eulenäugigen Athena«) in Sigeion erwähnen Hdt. 5, 95 und Strab.

Geogr. 13, 1, 38. – Die kultische Verehrung der Athena in Sigeion geht möglicherweise auf Hippias, den Sohn des Peisistratos, zurück, der nach seiner Flucht aus Athen 510/09 v. Chr. nach Sigeion auswanderte (Hdt. 5, 65. 5, 91). Daür könnte auch die bei Strabo genannte und aus Athen bekannte Epiklese Glaukopis sprechen. 22 s. Anm. 23. Ch2 Etwa ünf Fuß neun Zoll [1,75 m] lang. s. Lady Mary W. Montague, Brief XLIV und eine Tafel in den IONIAN ANTI-

QUITIES. 23 In der Erstausgabe »Leers of the Right Honourable Lady Mary Wortley Montague« von 1763, die Chandler

vorlag, ist der vierundvierzigste Brief ein Schreiben vom 31. Juli 1718 an den Abbé Conti; vgl. Halsband 1965, 417 f., wo Lady Montagu ihre Erlebnisse am »Cape Janizary« (der Ort Yenişehir hieß in damaliger Zeit Janitsari: Bieg – Aslan 2006, 134; RE II A 2 [1923] 2276 s. v. Sigeion (2) Σίγη [L. Bürchner], vgl. auch Cook 1973, 154) beschreibt: die Auffindung und den Abtransport der Tafel mit dem Erlass ür Antiochos, eine ausührliche Erläuterung des Bildteils des Sockelreliefs, sowie die berühmte Inschri; hierbei macht Lady Montagu ihrem Unmut Lu, dass man dieses schöne Stück aufgrund seiner Größe und der schlechten Ausrüstung leider nicht mitnehmen könne (ein Gedanke, den Chandler später wieder aufgrei; s. Anm. Ch7). Die Tafel in den ›Ionian Antiquities‹ bei Chandler u. a. 1769, 1; der kurze Kommentar Chandlers am Ende des Vorwortes (in einer Fußnote, S. 4) hat allerdings nahezu den gleichen Wortlaut wie die Beschreibung hier. – Das Relief befindet sich heute im British Museum, vgl. Pfuhl – Möbius 1977, 34 Nr. 86 Taf. 21.

Reisen ür die Antike. Richard Chandler in Sigeion

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Caligula seine Tochter Livia Drusilla in den Schoß der Minerva legteCh3 24. Dieser Brauch ist ema der Skulptur. Die Göin sitzt, wie bei Homer beschrieben, in ihrem Tempel in Troja25. Eine kleine Truhe, getragen von einer der Figuren, enthielt vermutlich Weihrauch26 oder Opfergaben, die während dieser Zeremonie üblich waren. Eine Marmortafel, einst im Tempelbezirk aufgestellt und nun in der Bibliothek des Trinity Colleges in Cambridge auewahrt, wurde im selben Gebäude gefunden27. Sie enthielt einen Beschluss, den die Sigéer 278 v. Chr. zu Ehren des Königs Antiochus erlassen haen; und beinhaltete, neben anderen Punkten, die Aufstellung einer goldenen Statue mit ihm zu Pferd im Tempel, auf einem Podest aus weißem Marmor; mit einer Inschri, die seiner Frömmigkeit gegenüber dem Tempel gedenkt und ihn als Reer des Volkes darstellt. Diese wurde im Jahr 1718 dem Papas oder griechischen Priester28 vom ehrenwerten Edward Wortley Montague29, damals amtierender Botschaer in Konstantinopel, abgekauCh4. Die Stelle in der Wand, von der sie entfernt wurde, ist noch immer sichtbar.

Die Stadt Sigéum stand auf einer Anhöhe, jetzt brach liegend, gegenüber des Teils, an dem wir aufgestiegen waren. Sie wurde von den Mitylenern von Lesbos gegründet30. Die Athener eroberten sie unter Phrynon31. Piacus32 segelte ihm nach und wurde in der Schlacht geschlagen. An diesem Punkt floh der Dichter Alcaenus, wobei er seinen Schild wegwarf, den die Athener im Tempel auängten. Periander von Korinth wurde als Schiedsrichter erwählt33. Die Mitylener erlangten später Sigéum zurück, aber es wurde ihnen wiederum von Peisistratus genommen, der seinen Sohn Hegesistratus dort zum Tyrannen machte34. Dann erlangten die Ilier Besitz von der Stadt und durch sie wurde sie zerstört, eventuell in der Zeit des Antiochus, als der Name der Bevölkerung von Sigéum absichtlich aus dem oben erwähnten Erlass entfernt wurde. Ch3 Suetonius Kap. 25. 24 Suet. Cal. 25, 4: infantem autem, Iuliam Drusillam appellatam, per omnium dearum templa circumferens Minervae

gremio imposuit alendamque et instituendam commendavit [»Das Kind erhielt den Namen Iulia Drusilla; er trug es durch die Tempel aller Göinnen und setzte es Minerva in den Schoß und vertraute ihr sein Gedeihen und seine Ausbildung an« (Übers. H. Martinet)]. 25 Hom. Il. 6, 92–95: »…ϑεῖναι Ἀϑηναίης ἐπὶ γούνασιν ἠυκόμοιο, καί οἱ ὑποσχέσϑαι δυοκαίδεκα βοῦς ἐνὶ νηῷ ἤνις

ἠκέστας ἱερευσέμεν, αἴ κ᾽ ἐλεήσῃ ἄστυ τε καὶ Τρώων ἀλόχους καὶ νήπια τέκνα, …« [»… lege sie hin auf die Knie der schöngelockten Athene und gelob’ in dem Tempel ihr zwölf untadelige Rinder, jährig und ausgewachsen, zu opfern, wenn sie der Stadt sich und der troischen Frauen und zarten Kinder erbarmte…« (Übers. H. Rupé)]. 26 Zur Verwendung von Weihrauch bei Opferzeremonien und Göerverehrung siehe RE S XV (1978) 700–777 s. v.

Weihrauch (W. W. Müller) bes. 753. 27 Frisch 1975, 84 Nr. 32 (mit weiterührender Literatur). 28 Bei Halsband 1965, 418, als »ignorant Fellow that could give no tolerable account of any thing« beschrieben. 29 Ehemann von Lady Mary Wortley Montagu, 1716–1718 als Botschaer in Konstantinopel tätig. Ch4 Chishull Antiq. Asiat. S. 49. 30 Strab. Geogr. 13, 1, 38; Hdt. 5, 94. 31 Zur Besiedlung Sigeions ausührlich Stahl 1987, 211–218. 32 Piakos von Mytilene, einer der sieben Weisen und Anfang des 6. Jhs. v. Chr. Tyrann von Mytilene (Strab. Geogr.

13, 2, 3). – Zur Schlacht um Sigeion s. Strab. Geogr. 13, 1, 38, sowie Stahl 1987, 211–218. 33 Bis hierher scheint Chandler, wenn auch mit einigen Kürzungen, die Angaben Strab. Geogr. 13, 1, 38 zu über-

nehmen, doch auch bei Hdt. 5, 94 f. werden Teile dieser Geschichte erwähnt. Herodot bringt jedoch, wie auch Jeffery 1976, 238 f., bemerkt, einige Daten durcheinander; dazu auch Toepffer 1894, 235–237. 34 Hdt. 5, 94.

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Der Tempel von Sigéum ist von ferner Zeit, wenn er nicht gar gleichzeitig mit der Stadt errichtet wurde, von der gesagt wird, dass sie aus den Ruinen Trojas erbaut wurde35. Die Ilier schonten dieses Gebäude möglicherweise aus Ehrfurcht vor der Goheit, sonst gäbe es heute keine Fragmente mehr. Die berühmte Inschri36 ist auf einer Seite eines Pilasters, etwa acht Fuß sieben Zoll [2,62 m] hoch; einen Fuß und etwas mehr als sechs Zoll [0,46 m] breit und über zehn Zoll [0,25 m] dick. Er ist an der Unterseite abgebrochen. An der Oberseite ist ein Loch, etwa dreieinhalb Zoll [0,09 m] hoch, drei [0,076 m] breit und über zwei [0,05 m] tief37. Dies dient dazu, sie fest mit dem oberen Teil oder dem Kapitell, zu verbinden, indem man einen Holz- oder Metallstab hineinsteckte; eine übliche Art der Konstruktion, welche die Struktur stabil machte, solange die Materialien haltbar waren. Der Stein wurde dem Tempel, wie aus der Inschri deutlich wird, von Phanodicus aus Proconnesus38, einer Stadt und Insel nicht weit von Sigéum und bekannt durch seine Marmorsteinbrüche, gestiet39. Solche Schenkungen waren alltäglich und wir werden Gelegenheit haben, noch einige weitere zu erwähnen. Die Zeilen beider Inschrien verlaufen abwechselnd von links nach rechts und von rechts nach links. Diese Art des Verlaufs wird Boustrophédon40 genannt, die Zeilen verlaufen auf dem Marmor wie Ochsen es beim Pflügen tun. Es war vor Periander gebräuchlich; und vor Solon41, dem athenischen Gesetzgeber, seinem Zeitgenossen. Das griechische Alphabet, wie es Cadmus aus PhönizienCh5 42 überlieferte, bestand aus sechzehn Buchstaben. Palamedes, der Gegenspieler des Odysseus, der im Lager der Griechen vor Troja zu Tode kam, ügte vier hinzu. Simonides von Ceos erhöhte die Zahl auf vierundzwanzig43. Er war 35 Strab. Geogr. 13, 1, 38: Ἀρχεάνακτα γοῦν ϕασι τὸν Μιτυληναῖον ἐκ τῶν έκεῖϑεν λίϑων τὸ Σίγειον τειχίσαι

[»Archeanax aus Mitylene jedenfalls soll mit den von dort [sc. Ilion] genommenen Steinen die Mauer um Sigeion gebaut haben« (Übers. S. Radt)]. 36 Die Stele wird von Guarducci 1961, 168, zwischen 550 und 540 v. Chr. datiert. IGA 492; ausührlichere Informa-

tionen: Elter 1911, 203–212; Richter 1961, 36 Nr. 53; Guarducci 1961, 165–168 Nr. 53; Stahl 1987, 218–220. 37 Diese Angaben stimmen in etwa mit denen von Richter 1961, 36, überein, auch wenn der Stein in seiner Länge

ür den Abtransport gekürzt zu sein worden scheint, da Richter nur eine Länge von 2,31 m angibt. 38 Insel in der Propontis, s. RE S XIV (1974) 560 f. s. v. Prokonnesos (C. M. Dano). 39 Hier irrt Chandler, da er den Pilaster als Teil einer Weihinschri ansieht. Es handelt sich jedoch um eine Grab-

inschri (vgl. Guarducci 1961, 165 f. Nr. 53). – Zum in der Inschri genannten Steinmetz siehe RE I 1 (1893) 1087 s. v. Aisopos (2) (C. Robert). 40 vgl. DNP 11 (2001) 238 s. v. Schri (R. Wachter). 41 RE III A 1 (1927) 946–978 s. v. Solon (1) (W. Aly). Ch5 s. Chishulls guten Kommentar. 42 Chishull 1728, 49–58, vgl. oben, Anm. Ch4. 43 Plin. n. h. 7, 57, 192: utrique in Graeciam aulisse e Phoenice Cadmum sedecim numero; quibus Troiano bello Pala-

meden adiecisse quauor hac figura ΖΥΦΧ, totidem post eum Simoniden melicum ΨΞΩΘ … [»So viel ist ür beide Teile gewiss, dass sie [sc. die Schri], sechzehn Buchstaben an der Zahl, Kadmos aus Phönikien nach Griechenland gebracht hat; zu diesen soll während des Trojanischen Krieges Palamedes vier, nämlich Ζ, Υ, Φ und Χ, und nach ihm der Liederdichter Simonides ebenso viele, nämlich Ψ, Ξ, Ω und Θ, hinzugeügt haben …« (Übers. G. Winkler – R. König)]. – Zu Palamedes siehe RE XVIII 2 (1942) 2500–2512 s. v. Palamedes (1) (E. Wüst), der in Sp. 2505 f. auch auf andere antike Überlieferungen hinweist, die von Palamedes erfindungsreicher oder zumindest übermielnder Rolle in der Entwicklung der griechischen Schri zeugen (die von Chandler genannten Buchstaben Ζ, Υ, Φ und Χ sind hierbei ein Indiz, dass die Stelle Plinius entlehnt sein muss, da die anderen antiken ellen, wie in Sp. 2506 deutlich wird, abweichende Buchstaben überliefern). – Zu Simonides siehe auch RE III A 1 (1929) 186–197 s. v. Simonides (2) (J. Geffcken), der in Sp. 192 zwar auf Plinius verweist, bei den Buchstabenhinzuügungen dann aber merkwürdigerweise Η sta Θ nennt.

Reisen ür die Antike. Richard Chandler in Sigeion

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ein Liebling des Hipparchus, dem Bruder von Hegesistratus44, dem Tyrannen von Sigéum, und lebte mit ihm in Athen. Wir können aus der ersten Inschri auf dem Pilaster schließen, dass Phanodicus und der Tempel, zu dem er beitrug, vor den Verbesserungen des Simonides bereits stand, da er nur Buchstaben des Cadmus und des Palamedes aufweist: und auch, dass der Bau unter den Mitylenern errichtet wurde, da sie in ihrem Dialekt oder dem Äolischen gehalten ist45. Die zweite Inschri verwendet die Buchstaben von Simonides und wurde unter den Athenern eingemeißelt, wie man aus den Aizismen46 schließen kann; und sie ist wahrscheinlich aus der Zeit des Hegesistratus; die Art der Zeilenanordnung wurde nicht geändert und auch nicht das Andenken an die Person, die sie aufzeichnete, falls sie auch nicht mehr lebte, wurde vergessen. Wir kopierten diese Inschrien sehr sorgältigCh6 47 und nicht ohne tiefes Bedauern, dass ein solch einzigartiger Stein, der uns eine Eigenart antiker Schreibweise über zweitausend Jahre erhalten hat, so vernachlässigt und bloß liegend li. Über ein halbes Jahrhundert ist verstrichen, seit er erstmals entdeckt wurde und er verblieb dennoch an der freien Lu, als Sitzplatz ür die Griechen, ohne einen Gönner, um ihn vor der Barbarei zu schützen und seinen Umzug in eine sicherere Umgebung wie etwa ein Privatmuseum übernehmen; oder, was noch wünschenswerter wäre, eine öffentliche AuewahrungCh7 48.

Literatur Bieg – Aslan 2006: G. Bieg – R. Aslan, Eine ellhöhle in Spra’s Plateau (Subaşı Tepe). Wo lag Sigeion?, StTroica 16, 2006, 133–145. Brüner 1925: A. Brückner, Forschungsaufgaben in der Troas, AA 1925, 229–248. Chandler u. a. 1769: R. Chandler – N. Reve – W. Pars, Ionian Antiquities (London 1769). 44 RE VI A 1 (1936) 164 f. s. v. essalos (3) (F. Schachmeyr); siehe auch Hdt. 5, 94. Zur Begleitung Hipparchos

durch Simonides nach Athen, vgl. Plat. Hipparch. 228b–c. 45 Hier irrt Chandler, es handelt sich um einen ionischen Dialekt, nicht um einen Äolischen, da, worauf Guar-

ducci 1961, 166, mit Recht hinweist, Prokonnesos zu dieser Zeit milesische Kolonie war (also den ionischen Dialekt verwendete), Sigeion allerdings in athenischer Hand lag (daher der aische Dialekt im zweiten Teil der Inschri). 46 vgl. Guarducci 1961, 168. Ch6 Inscript. Ant. Taf. 1. 47 Chandler 1774 Taf. 1. Ch7 Es bleibt zu hoffen, dass eine Prämie zur Verügung gestellt wird, und die Unternehmung den Kapitänen der Schiffe

im Levante-Handel angetragen wird. Sie haben sich allgemein ür Verhandlungen bereit erklärt, samt Männern, Hebebäumen, Seilen und anderen Materialien; außerdem Instrumente oder Werkzeug, um den Stein wenn nötig zu brechen. Mit der richtigen Anwendung des alles beherrschenden Goldes düren sie, wie man annehmen kann, eine Erlaubnis oder [zumindest] die stillschweigende Duldung des Papas oder anderer beteiligter Personen erlangen. Dies sollte unter Geheimhaltung geschehen. Der Versuch lässt sich leicht machen, wenn sie vor Tenedos, oder, durch den Wind gezwungen, nahe der Mündung des Hellesponts liegen. 48 Neben Lady Montagu und Richard Chandler gab es zahlreiche weitere Reisende, die zwar Interesse, allerdings

nicht das passende Gerät oder die Zustimmung der Einwohner bzw. Behörden besaßen, um den Stein fort zu schaffen; erst Lord Elgin konnte die Hoffnungen Chandlers erüllen, als er 1799 den Abtransport der Stele samt des Sockelreliefs veranlasste, die sich heute im British Museum befinden; vgl. Cook 1973, 155.

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Chandler 1774: R. Chandler, Inscriptiones antiques (Oxford 1774). Chandler 1775: R. Chandler, Travels in Asia Minor (Oxford 1775). Chandler 1776: R. Chandler, Travels in Asia Minor ²(London 1776). Chandler 1806: R. Chandler, Voyages dans l’Asie Mineure et en Grèce (Paris 1806). Chandler 1976: R. Chandler, Reisen in Klein-Asien (Leipzig 1776, Nachdruck Hildesheim 1976). Chishull 1728: E. Chishull, Antiquitates asiaticae christianam aeram antecedentes (London 1728). Cook 1973: J. M. Cook, e Troad. An Archaeological and Topographical Study (Oxford 1973). Cust 1898: L. Cust, History of the Society of Dileanti (London 1898). Elter 1911: A. Elter, Epigraphica, RhM 66, 1911, 199–225. Fris 1975: P. Frisch (Hrsg.), Die Inschrien von Ilion, Inschrien griechischer Städte aus Kleinasien 3 (Bonn 1975). Goodwin 1997: G. Goodwin, e Janissaries (London 1997). Guarducci 1961: M. Guarducci, Epigraphical Appendix, in: G. M. A. Richter, e Archaic Gravestones of Aica (London 1961) 155–172. Halsband 1965: R. Halsband (Hrsg.), e Complete Leers of Lady Mary Wortley Montagu, 3 Bde. (Oxford 1965). Jeffery 1976: L. H. Jeffery, Archaic Greece. e City-States c. 700–500 B. C. (London 1976). Kayan 1995: I. Kayan, e Troia Bay and Supposed Harbour Sites in the Bronze Age, StTroica 5, 1995, 211–235. Kelly 2009: J. M. Kelly, e Society of Dileanti. Archaeology and Identity in the British Enlightment (London 2009). Korfmann 1988: M. Korfmann, Beşik-Tepe. Vorbericht über die Ergebnisse der Grabungen von 1985 und 1986. Grabungen am Beşik-Yassıtepe und im Beşik-Gräberfeld, AA 1988, 391–398. Kossatz 1988: A.-U. Kossatz, Zur archaischen Keramik am Beşik-Yassıtepe, AA 1988, 398-404. Lehmann-Haupt 1918: C.-F. Lehmann-Haupt, Priapos – Troja – Sigeion, Klio 15, 1918, 429–434. Luce 2003: J. V. Luce, e Case for Historical Significance in Homer’s Landmarks at Troia, in: G. A. Wagner – E. Pernicka – H.-P. Uerpmann (Hrsg.), Troia and the Troad. Scientific Approaches (Berlin 2003) 9–30. Pfuhl – Möbius 1977: E. Pfuhl – H. Möbius, Die ostgriechischen Grabreliefs 1 (Mainz 1977). Riter 1961: G. M. A. Richter, e Archaic Gravestones of Aica (London 1961). Ricl 1997: M. Ricl (Hrsg.), e Inscriptions of Alexandreia Troas, Inschrien griechischer Städte aus Kleinasien 53 (Bonn 1997). Saendlinger 1973: A. C. Schaendlinger, Osmanische Numismatik. Von den Anängen des Osmanische Reiches bis zu seiner Auflösung 1922, Handbücher der mielalterlichen Numismatik 3 (Braunschweig 1973).

Reisen ür die Antike. Richard Chandler in Sigeion

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Sliemann 1881: H. Schliemann, Ilios. Stadt und Land der Trojaner (Leipzig 1881). Sperling 1936: J. Sperling, e Site of Sigeion, AJA 40, 1936, 122–123. Stahl 1987: M. Stahl, Aristokraten und Tyrannen im archaischen Athen (Wiesbaden 1987). Toepffer 1894: J. Toepffer, Zur Chronologie der älteren griechischen Geschichte, RhM 49, 1894, 225–246. Virow 1879: R. Virchow, Beiträge zur Landeskunde der Troas, in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaen zu Berlin 3. Abhandlungen der physikalischen Klasse (1879) 1–179. Wagner u. a. 2003: G. A. Wagner – E. Pernicka – H.-P. Uerpmann (Hrsg.), Troia and the Troad. Scientific Approaches (Berlin 2003).

Reisen für die Antike Richard Chandler in Teos∗ Frank Hulek

Ein Jahrzehnt nach der Rückkehr von einer mehrjährigen, von der Society of Dileanti finanzierten Reise, die den Hinterlassenschaen der Antike an der Westküste Kleinasiens galt, publizierte Richard Chandler 1775 einen Bericht darüber in den »Travels in Asia Minor«. Das Buch erlebte schnell weitere Auflagen und Übersetzungen in andere europäische Sprachen1. An einer modernen wissenschalichen Auseinandersetzung fehlt es bislang; die Ausgabe von Edith Clay zeichnet sich beispielsweise nur durch teils willkürliches Arrangieren des Textes und äußerst sparsamen Kommentar aus2. In deutscher Sprache erschien 1976 ein Nachdruck der 200 Jahre alten und auch sprachlich antiquierten Übersetzung3. Dabei ist der Text nicht bloß ein teilweise abenteuerlicher Bericht über das Reisen in der Türkei im 18. Jahrhundert und sein Wert ür den Archäologen erschöp sich nicht in der Nennung alter Toponyme und der Beschreibung der Ruinenstäen vor den zerstörerischen Veränderungen in der Moderne bzw. den Ausgrabungen: Dadurch, dass Chandler bei vielen Monumenten einer der ersten Europäer war, der sie in der Neuzeit besuchte und über sie schrieb, ist die Untersuchung seines Werkes und seines Einflusses auf spätere Forschungen wissenschashistorisch von Interesse. Vor diesem Hintergrund sollen hier das 27. und 28. Kapitel seines Buches, die sich mit den Überresten des antiken Teos (Taf. 2, 1–3) befassen, übersetzt und archäologisch kommentiert werden. Auch einzelne Aspekte der Stadtgeschichte sollen dabei, besonders wenn sie von Chandler angesprochen wurden, nicht unberücksichtigt bleiben. Da eine ausührliche Bearbeitung von Teos und eine Publikation der Erkenntnisse der neueren, von N. Tuna geleiteten Grabungen noch aussteht4, ∗ Der Beitrag ist die überarbeitete Fassung einer Hausarbeit, die im Wintersemester 2005/06 bei Hans Lohmann

entstand. Vom Anfang meines Studiums an dure ich bei Hans Lohmann den kritischen Umgang mit der Forschungsliteratur lernen. – In der kritischen Haltung gegenüber fremden und eigenen esen wie auch im begeisterten Arbeiten am Fortschri der Forschung ist er mir ein großes Vorbild. Die Anmerkungen des Originaltextes sind als Ch1 und Ch2 zitiert. Die von Chandler benutzte Abkürzung »Inscript. Ant.« steht dabei ür den von ihm herausgegebenen Inschrienband Chandler 1774, der mir nicht zur Verügung stand. 1 Chandler 1775; Chandler 1776a; Chandler 1817. – Die Übersetzung ins Deutsche erfolgte durch Heinrich Chris-

tian Boie unter Mithilfe von Johann Heinrich Voß; Chandler 1776b. 2 Clay 1971. 3 Chandler 1976. – Den archäologischen Kommentar zu den Kapiteln über Alexandria Troas und Sigeion bieten

Özge Yiğit Özgül und Jan-Henrik Hartung in diesem Band mit weiteren Informationen zu R. Chandler und seinem Werk. Zu Chandler s. auch Kreeb 2010, 254–256. 4 2010 wurden die Ausgrabungen in Teos nach langjähriger Unterbrechung durch Musa Kadıoğlu, Ankara, wieder

aufgenommen, s. (11.08.2012)

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Frank Hulek

sind die esen der älteren Forschungsliteratur dabei kritisch zu hinterfragen. Die von Chandler benutzten antiken ellen, deren Kenntnis er bei der zeitgenössischen Leserscha voraussetzen konnte und daher nicht zitiert hat, wurden soweit möglich ermielt. Die deutsche Übersetzung soll dabei durch die Verwendung eines modernen Wortschatzes und durch die Vermeidung der sprachlichen Härten, die sich bei einer allzu wörtlichen Übertragung vor allem auf dem Gebiet der Syntax ergäben, den Zugang zum Text erleichtern. Das Durchscheinen der sprachlichen Charakteristik des englischen Originaltextes wurde dabei absichtlich nicht unterdrückt. Namensformen wurden, auch wo die deutsche Konvention die griechische der lateinischen vorzieht, beibehalten; ebenso wurde Chandlers Transkription des osmanischen Türkisch im Text übernommen. K A P. XXVII

Lage von Teos – Überreste – Der Hafen usw. – Der Tempel des Bacchus – Teos verlassen – Ein venetianisches Schiff. Segigeck5 steht auf der Nordseite der Landenge einer kleinen, rauen Halbinsel, die sich nach Westen erstreckt und in einer scharfen, niedrigen Spitze ausläu. Dies war vielleicht das Kap, das einstmals Macria genannt wurde, bei dem die Bäder der Teier waren, einige an der Küste in einer Höhlung des Felsens oder natürlich, und einige künstlich gemacht und mit repräsentativem Charakter6. Teos war dreißig Stadien oder dreidreiviertel Meilen von Gerae und lag mit der Südseite zum Meer7. Es war von Erythrae und Chios gleich weit entfernt, jeweils einundsechzigeinhalb Meilen die Küste entlang8. 5 Moderne Schreibweise Sığacık (= Versteck). Dieser Name mag von der Funktion der auch von Chandler u. a.

1769, 2, beschriebenen Festung herrühren, die Müller-Wiener 1962, 97–104, wegen ihrer Bauweise, die ür den Einsatz von Kanonen konzipiert ist, und weil Pîri Re’is (Anfang 16. Jh.) in Sığacık keine Festung erwähnt, in das Vorfeld des osmanischen Angriffs auf Rhodos 1522 datiert; sie soll von Palak Mustafa Paşa »als Standlager ür Angriffstruppen und als Depotplatz ür Kriegs- und Belagerungsmaterial« (Müller-Wiener 1962, 104) geplant worden sein. Dies steht allerdings im Widerspruch zu Chandler u. a. 1769, 2, die Befestigung sei »erected, as we were informed, by the Genoese«. Das von Robert 1962, 6, angeührte Argument, dass, weil der Name eines unweit Seferihisar gelegenen Dorfes Hereke auf Griechisch χάρακα zurückzuühren sei, die Errichtung der Festung in byzantinische Zeit datiere, ist nicht stichhaltig, denn auch nach Ende der byzantinischen Herrscha wird es zur Entlehnung von Toponymen aus dem Griechischen gekommen sein. Schließlich lebten auch in dieser Gegend der Westküste Kleinasiens zahlreiche Griechen, wie auch Chandler feststellt (s. u.). Hereke / χάρακα ist vielleicht eher als griechische Entsprechung zur Benennung von Seferihisar (= Festung, »nach einem in der Nähe liegenden spitzen Felskegel«, Müller-Wiener 1962, 98 Anm. 112) zu deuten. Chandlers Bemerkungen zum Vorkommen von (wilden?) Weinstöcken und der Seltenheit von Weinanbau (s. u.) lassen gleichwohl auch eine Deutung in diese Richtung (vgl. Lohmann 1993, 299 f.) möglich erscheinen. Unter einem der Türme dieser Festung wurden die Überreste einer monumentalen antiken Hafenmole entdeckt, die auf einer Länge von 16,5 m bis zu 2,35 m hoch erhalten ist, Béquignon – Laumonier 1925, 290 f. 6 Chandler zitiert hier Paus. 7, 5, 11. Nach Ruge 1928 ist dieser Ort jedoch beim heutigen Ipsili Borun zu lokali-

sieren. 7 Strab. Geogr. 14, 30. 8 Plin. n. h. 5, 138. Die von Plinius d. Ä. angegebene Entfernung von 72,5 römischen Meilen (≈ 106 km) stimmt

nicht; die Lulinie beträgt nach Chios 60 km, nach Erythrai 35 km. Entlang der Küste – so ja auch Chandlers Interpretation – ergibt sich immerhin ür letzteres eine passende Entfernung von 105 km, nach Chios sind es dann 70 km, Ruge 1934, 567. Winkler – König 1993, 263, halten die Entfernungsangaben ür korrekt. – ales von Milet soll den Vorschlag gemacht haben, ein gemeinsames Bouleuterion in Teos anzulegen, da die Stadt sich in der Mie Ioniens befinde (Hdt. 1, 170, dahinter steht das zeitgenössische Ideal des mit Athen als

Reisen ür die Antike. Richard Chandler in Teos

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Am Morgen überquerten wir die Landenge nach Teos, nun Bodrun genannt. Wir fanden die Stadt ebenso verödet vor wie Erythrae und Clazomene. Die Mauern, von denen Spuren vorhanden waren, waren, so schätzten wir, von ungeähr ünf Meilen Umfang; das Mauerwerk hübsch9. Außerhalb von ihnen, am Weg, gibt es Grabgewölbe, die ihres Marmors beraubt sind, als wenn es Vorboten einer schwerer zu fassenden Zerstörung wären10. An Stelle des beachtlichen Häusermeeres, das einst Eindrücke von Größe und Luxus einflößte, sahen wir ein Marschland, ein Gerstenfeld, bei dem sich gerade die Ähren entwickelten, Büffel, die bei entstellten Schuhaufen und darniederliegenden Gebäuden schwerällig pflügten, hohe Bäume, die Stützen waren ür uralte Weinreben, und Mauern aus Steinen und Schu, mit nicht mehr lesbaren Inschrien, und von der Zeit gezeichnete Fragmente. Nicht ohne Probleme konnten wir den Tempel des Bacchus entdecken, aber ein eater im Abhang des Hügels ist beachtenswerter. Nur das Gewölbe, auf dem sich die Sitzplätze aufreihten, ist erhalten und zwei zerbrochene Sockel auf dem Gelände. Es war 15° West zu Süd ausgerichtet11. Hauptort geeinigten Aikas). Tatsächlich aber errichteten die Ionier ihr Bundesheiligtum auf der Mykale, wo es im Zuge des von Hans Lohmann geleiteten Mykale-Surveys entdeckt (Lohmann 2005, 80–89) und ausgegraben (Lohmann u. a. 2007) wurde. 9 Die Stadtmauern von Teos umschlossen das Stadtgebiet in fast rechteckiger Form. Die französischen Ausgräber

konnten sie bis zur Akropolis, d. h. bis etwa zur Mie des Isthmus, auf dem Teos lag, verfolgen. Sie stellten einige quadratische Türme fest und legten die Mauer in einem Schni nahe dem Dionysos-Tempel frei. Die Mauer war 3,30 m hoch und 4 m dick. Das Mauerwerk wird als isodom beschrieben. Es handelt sich um acht Schichten bis zu zwei Meter langer Kalksteinblöcke. Im Nordosten wurde eine Bastion beobachtet. Der größte Teil der Mauer wird in pergamenische Zeit datiert, Béquignon – Laumonier 1925, 285 f. McNicoll 1986, 312, ordnet die Stadtbefestigung von Teos dem Baukonzept der »direct line« zu, das im ausgehenden 3. Jahrhundert das des »great circuit« ablöse. Manche Teile der Mauer, die sich durch ihre polygonale Technik von den anderen abheben, werden in archaische Zeit datiert; als Argumente daür werden neben diesem Mauerstil Einzelfunde und Bauten gleicher Zeitstellung auf der Akropolis angeührt, Béquignon – Laumonier 1925, 284–286, 314 f. Koenigs 2007, 670 f., erwähnt Bauteile eines archaischen Tempels in Teos. Dieser Datierung entspricht, dass Herodot (1, 168) berichtet, Harpagos habe die Mauer der Teier mit Hilfe einer Erdrampe (χῶμα) bezwungen, was etwa 545 v. Chr. geschehen sein muss: Scichilone 1963, 265. Es bleibt zu überprüfen, ob es nicht vielleicht trotzdem in hellenistischer Zeit in Imitation der archaischen Technik errichtet wurde, wie dies z. B. in Aika beim emis-Tempel von Rhamnous und bei der erhaltenen Innenbebauung der heute Gyphtokastro genannten Festung der Fall gewesen ist (zum emis-Tempel: Zschietzschmann 1929, 448–451; Argumente dagegen bringen Wrede 1933, 9. 40. 58 f.; Petrakos 1982, 143–146. 153. – Zu Gyphtokastro: Stikas 1938, 47 f.; Vanderpool 1978, 243; Beschi 1970, 127–145; Beschi – Musti, 1982, 415 zu Paus. 38, 8). Allgemein zu Polygonalmauerwerk bei hellenistischen Befestigungen: Scranton 1979, 69; Lauter 1986, 71–73. 275, der besonders auf den repräsentativen Charakter archaistischer Stadtmauern aufmerksam macht. Texier 1882, 362 f., wies darauf hin, dass nach uk. 8, 18, 21, die mit den Spartanern verbündeten Teier ihre Stadt durch eine Mauer vom Kontinent getrennt haen, die allerdings von den (zunächst) siegreichen Athenern während des dekeleischen Krieges zerstört wurde. Die heute sichtbare wollte er als kurz darauf errichtete Erneuerung jener Mauer verstehen. 10 Diese wurden in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts von den Franzosen erforscht und in geringem Um-

fang publiziert, Béquignon – Laumonier 1925, 312–314. Die türkischen Ausgrabungen in den 1960er Jahren erbrachten Terracoa-Sarkophage, die teilweise den klazomenischen ähnlich sind, Mellink 1964, 163. 11 Chandlers Beobachtungen werden von späteren Forschern bestätigt. Über ein dort gefundenes Asyliedekret

wird das eater ins 2. Jh. v. Chr. datiert. Bulle 1928, 264, vermutet außerdem, dass es ähnlich aussah wie das etwa gleichzeitig errichtete eater im nicht weit entfernten Magnesia am Mäander. Die Skene, die zu Chandlers Zeiten noch verschüet war, wurde von türkischen Archäologen ebenfalls in den 1960er Jahren des vorigen Jahrhunderts ausgegraben, Mellink 1965, 146. Sie stammt aus der Zeit des Umbaus des eaters in römischer Zeit, vgl. Béquignon – Laumonier 1925, 286 f. »Merkwürdig ist die Tatsache, daß die vorragenden Blöcke des Proszeniums horizontal von Röhren durchbohrt

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Frank Hulek

Der Stadthafen ist teilweise ausgetrocknet und Sandbänke erheben sich über die Wasseroberfläche. Am Rand gibt es Spuren eines Walls12 und vor diesem zwei kleine Inselchen. Auf der linken Seite, beziehungsweise Richtung Festland, befindet sich ein Kanal, der künstlich angelegt zu sein scheint; das Wasser ist nicht tief. Ich sah, dass ein Junge hindurchwatete. Dieser, außer wenn es die Mündung eines Flusses sein sollte, wurde wahrscheinlich geschnien; denn es erscheint notwendig zur Vollendung von Alexanders Plan, dass eine Verbindung zwischen dem Meer hier und der Bucht von Gerae hergestellt wurde, wie auch zwischen dieser und dem Golf von Smyrna13; und es ist auffallend, dass Plinius Teos unter die Inseln zählt14. Jenseits davon, an der Küste von Sevri-hissar, das sich landeinwärts befindet, gibt es vier oder ünf hohe Hügelgräber15. Die Erhebung des Bacchus-Tempels, der vom eater aus rechts unterhalb sichtbar war, liegt inmien eines Getreidefeldes und ist mit Büschen und Olivenbäumen überwachsen. Er war eines der berühmtesten Bauwerke von Ionien. Seine Überreste wurden auf Kosten der Society of Dileanti in Kupferstichen abgebildet und mit seiner Geschichte in den ›Ionian Antiquities‹ publiziert; und seitdem ist eine schöne Porticus am Wohnsitz des Right Hon. Lord Le Despenser16 nahe High-Wykeham unter der Aufsicht von Mr. Reve errichtet worden, bei der die genauen Proportionen der Bauordnung beachtet wurden17. sind … Man hat vermutet, daß sie die Akustik verbessern sollten; doch ist diese Vermutung sehr unwahrscheinlich«, Bean 1985, 142. 12 Tatsächlich setzte sich die Stadtmauer als Mole oder Wellenbrecher auf einem Vorsprung des Landes 200 m

ins Meer hinein fort, wobei die dadurch geschützte Buch durch das Material, das der kleine Fluss, den auch Chandler beobachtet hat, transportierte, seit der Antike beinahe vollständig versandet ist, Lehmann-Hartleben 1923, 283 f.; Béquignon – Laumonier 1925, 290. Abb. 1. Taf. 7. Dort wurden Ankersteine zum Vertäuen der Schiffe gefunden, Lehmann-Hartleben 1923, 284; Bean 1985, 140. Taf. 11, die, da sie sich heute knapp über dem Wasserspiegel befinden, darauf hinweisen, dass hier eine Küstensenkung von etwa 1,8 m stagefunden hat. Da es sich bei der Bucht von Sığacık um den bei Livius 37, 27, 9, genannten Portus Geraesticus, der in Richtung Gerae lag, handelt, lautet der ür den Südhafen überlieferte Name Portus ante urbem, Béquignon – Laumonier 1925, 284; Lehmann-Hartleben 1923, 28; s. auch Strab. 14, 30. 13 Paus. 7, 3, 8, erwähnt einen von Alexander durchgeührten Landdurchstich bei Klazomenai. Für die Bodrun-

Halbinsel (heute amtlich Çeşme-Halbinsel) gibt es keine solche antike Nachricht; es handelt sich tatsächlich um einen Fluss, Béquignon – Laumonier 1925, Taf. 7; Bean 1985, 145 f. 14 Plin. n. h. 5,138; ebenso argumentiert noch Hirschfeld 1876, 24. Strab. 14, 30, eine elle, auf die sich Chandler

mehrfach bezieht, und Mela 1, 89, sprechen allerdings ausdrücklich von der Lage von Teos auf einer Halbinsel. 15 Chandler schreibt »barrows« (= Hügel, Hünengräber; Karren). An dieser Stelle wurden auch später Hügelgräber

beobachtet: Hirschfeld 1876, 30; Béquignon und Laumonier beschreiben »six ›tumuli‹ visibles de l’autre côté du ruisseau, et dont la moitié semblent avoir été violés«, Béquignon – Laumonier 1925, 291. Ohne reguläre Ausgrabungen erschöp sich damit unsere Kenntnis der ›Hügelgräber‹. 16 Francis Dashwood, ünfzehnter Baron le Despencer (1708–1781); Black 1985, 120. 17 Der Architekt Nicholas Reve (1720–1804) und der Maler William Pars (1742–1782) haben Chandler auf seinen

Reisen in Kleinasien begleitet. – Sie rekonstruierten aus den Funden von zwei Säulenfragmenten, einem sehr verwierten ionischen Kapitell, einem Löwenkopfwasserspeier und einem weiteren Bauornamentik-Fragment auf Grund der Angaben bei Vitruv den Bauplan und das Aussehen des gesamten Tempels. Sie entnahmen dem Werk über Architektur dieses Autors weiterhin, dass der Tempel von dem griechischen Architekten Hermogenes entworfen worden sei. Da dieser dort auch als Erfinder des eustylen Tempels (bei dem sich das Verhältnis von unterem Säulendurchmesser zum Interkolumnium wie 1 : 2¼ verhält und das milere Säulenjoch erweitert ist) und des Pseudodipteros dargestellt wird, basiert ihre Rekonstruktion auf diesen beiden Konstruktionsprinzipien. Sie mutmaßten außerdem, dass der Tempel rasch nach Zerstörung eines Vorgängerbaus durch die Perser errichtet worden sei, Chandler u. a. 1769, 4–14. Taf. 1–6; Dileanti 1829, Taf. 1–3. Die Datierung von Hermogenes und seinen Bauten in das 5. Jh. v. Chr. wird heute nicht mehr vertreten, sondern durch den Befund am ebenfalls auf Grund von Vitruv ihm zugeschriebenen Artemis-Tempels in Magnesia am Mäander entweder in die Zeit um 129 v. Chr. (zuerst Gerkan 1923/24, 342–348) oder eher 200 v. Chr. (Hahland

Reisen ür die Antike. Richard Chandler in Teos

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Die Stadt ist seit langem verlassen. Sie hat keine Kirchenruinen, was bewiese, dass sie unter den griechischen Kaisern existierte18; und auch keine von Moscheen oder Bädern, was zeigen würde, dass sie von Türken aufgesucht wurde. Zur Zeit Anacreons wanderten die Teier aus Freiheitsliebe nach rakien aus, kamen aber einige Zeit darauf wieder zurück und die Stadt blühte wieder auf19. Sie sind nun alle fort und kehren wohl niemals zurück. Die Stelle ist eine Wildnis; und die Niederungen, die feucht sind, bringen die Iris oder Schwertlilie hervor, blau und weiß. Diese Blume ist auf das Geld von Teos geprägt20. Wir sahen, dass Störche einzeln in Getreide und Gras herum stolzierten und Insekten und Reptilien aufpickten und herunterschluckten oder schwerällig mit langen Zweigen im Schnabel in die Baumwipfel flogen und zu den Dachfirsten und Schornsteinen der entfernt stehenden Häuser, auf denen sie übereinstimmend ihre Wohnsta errichteten. 1950, 99–101) angesetzt. »Heute spricht sich eine Mehrheit ür die Frühdatierung aus« (Hoepfner 1990, 30). Der zweite Ausgräber des Dionysos-Tempels, Pullan, äußerte sich folgendermaßen: »It is evident from the plan that this temple was not that erected by Hermogenes, and described by Vitruvius as being eustyle« (Society of Dileanti, Antiquities of Ionia 4, S. 39, zitiert nach Béquignon – Laumonier 1925, 294 Anm. 2). Davon abgesehen hat Chandlers Zuschreibung in der modernen Forschung breite Zustimmung erfahren, und das obwohl der Tempel tatsächlich nicht eustyl ist, denn das Verhältnis von Säulendurchmesser zu Interkolumnium ist 1 : 2¹⁄₆ und das Mieloch der Schmalseiten auch nicht erweitert, Hoepfner 1990, 13. Die französischen und später türkischen Ausgrabungen ergaben ferner, dass sich der Tempel über einer elfstufigen Treppe erhob. Er war in ionischer Ordnung mit 6 × 11 Säulen errichtet und 18,36 × 34,98 m groß. Das trapezörmige Temenos wurde im Norden, Süden und Westen von Stoen umfasst, Béquignon – Laumonier 1925, 291–297; Uz 1990, 51–55. Der Fries dieses Tempels wurde ebenfalls gefunden und nach seiner Rückgabe durch das Britische Museum in Izmir aufgestellt (h. im İzmir Tarih ve Sanat Müzesi). Die Plaen waren wahrscheinlich an den Langseiten des Tempels befestigt. Sie zeigen den Go, herrschalich gelagert, und menschliche Gestalten sowie Kentauren bei ausgelassenen Feierlichkeiten. Die Reliefs sind recht derb gearbeitet und die Beine der Figuren verkürzt dargestellt, was durch die durch die perspektivische Verkürzung bei einer Anbringung in einiger Höhe zu erklären ist (H. Bulle in Arndt – Amelung 1902, 58 f. Nr. 1345–1348; Hahland 1950, 66–109). Nachdem früher Zweifel an der Datierung des Frieses in den Hellenismus geäußert wurden (Hirschfeld 1876, 29; Hahland 1950, 67. 105 f.; Demangel 1933, 405 Anm. 2), wird sie heute als erwiesen hingenommen (»sicher aus hellenistischer Zeit«, Hoepfner 1990, 13). Dies ist überraschend, da die neueren Grabungen erbrachten, dass das Fundament des Tempels aus römischer Zeit stammt. Es wird allerdings eine Neuerrichtung auf dem hermogenischen Grundriss angenommen, die nach einem zerstörerischen Erdbeben 14 v. Chr. nötig geworden sein soll; eine weitere Restaurierung erfolgte im 2. Jh. n. Chr., Uz 1990, 58–61. Die Untersuchung der entsprechenden Stellen bei Vitruv durch Kreeb 1990, 109–111, hat gezeigt, dass die Urheberscha des Hermogenes ür den fraglichen Tempel nicht zwingend aus diesen folgt. Ein Vorgängerbau zu den Überresten aus römischer Zeit ist damit nicht mehr auf Grund der literarischen Überlieferung, sondern aus den zahlreichen Architekturfragmenten, die teilweise aus dem Hellenismus stammen sollen (Uz 1990, 55–59. Abb. 3–5. 7), zu erschließen, wohingegen Lauter dort »mehrfach vergeblich nach Resten hellenistischer Bauglieder gesucht« hat (Lauter 1986, 188). Eine umfassende Publikation der Funde aus Teos könnte zur Klärung der Frage beitragen, hat sich aber durch den frühen Tod des ehemaligen Ausgräbers D. M. Uz stark verzögert; seine Dissertation aus dem Jahr 1987 an der Dokuz Eylül Universitesi İzmir befasste sich mit der ematik, Uz 1990, 51 Anm. 1; Hoepfner 1990, 12. Die neuen von Musa Kadıoğlu geleiteten Forschungen haben neben der Anastilosis die Klärung der Chronologie des Dionysos-Tempel zum Ziel. 18 So auch Müller-Wiener 1962, 97 Anm. 109. 19 Strab. 14, 30, wird von Chandler fast wörtlich übernommen; ungenau wiedergegeben ist nur, dass die Teier dies

taten, weil die Hybris der über Teos herrschenden Perser ür sie unerträglich war. Dass die Stadt schon sehr bald wieder prosperierte, zeigt auch Hdt. 6, 8: Teos stellte ür die Seeschlacht bei Lade 496 siebzehn Schiffe, das nahe Erythrai z. B. acht. Ein Inschrienfund zeigt, dass die Verbindungen zwischen Abdera und seiner Muerstadt auch weiterhin sehr eng blieben: Herrmann 1981, 1–30; Youni 2007 mit Literatur. 20 Hier irrt Chandler. Teos’ Münzsymbol war der nach rechts schauende Greif, Herrmann 1971, 76; Balcer 1970,

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Frank Hulek

Der Kapitän einer venetianischen Snow im Hafen von Segigeck staete uns mit einer geringen Menge Wein aus, jedoch von minderer alität; andernfalls häen wir bloß Wasser trinken müssen an einem Ort, der einstmals dem Bacchus geweiht und in der Lage war, eine römische Floe zu versorgen21. Der dunkelhäutige Türke, sein heutiger Eigentümer, sieht die Trauben der wenigen Reben, die er heute trägt, ür sein Essen vor, wenn sie reif geworden sind; oder dass sie in der Sonne getrocknet werden, zum Verkauf als Rosinen. K A P. XXVIII

Nach Sevri-hissar – Marmorsteinbrüche – Die Stadt – Die Dionysiasten usw. Unsere Beürchtungen einer Gefahr von den Kara-bornioten waren nun vorüber. Wir entließen den Janitschar22, den wir in Vourla eingestellt haen und am Abend des zweiten Tages nach unserer Ankun begaben wir uns nach Sevri-hissar, eine Stunde entfernt südwestlich gelegen. Kurz nachdem wir Segigeck verlassen haen, kamen wir zwischen zwei kegelörmige Felsen, der eine von begrüntem Aussehen, der andere braun und kahl. Die hohen Bäume in Straßennähe waren von wuchernden Weinranken bedeckt und ein Brunnen war ein durchbohrter Marmorsockel, der als Ausfluss diente. Auf seiner Vorderseite ist eine Inschri aus großen BuchstabenCh1 und früher trug er die Statue einer bedeutenden und freigebigen Persönlichkeit, deren Name nicht erhalten ist23. Der graue Marmor, den die Teier verwendeten, kam in nicht großer Entfernung von der Stadt vor24. Die oben erwähnten Felsen sind wahrscheinlich Überreste des Steinbruchs, zu dem auch 21 Chandler spielt hier auf eine Begebenheit an, die Liv. 37, 27, 9–30, 10, überliefert: Im Vorfeld der Seeschlacht

von Myonessos (September 190 v. Chr.) hae der Praetor L. Aemilius Regillus erfahren, dass in Teos Proviant, darunter auch eine große Menge Wein, ür die gegnerische, syrisch-ätolische Floe bereitgehalten wurde. Er ging mit den Besatzungen seiner Schiffe im Portus Geraesticus an Land und erpresste durch Plünderungen im Umland der Stadt die Teier zur Herausgabe der Vorräte. Der gegnerische Admiral Polyxenidas wollte die römische Floe im Nordhafen einschließen. Die Gefahr, die durch die Enge der Zufahrt drohte, war allerdings, da zwei Schiffe kollidiert waren, bemerkt worden und die Floe war in den südlichen Portus ante urbem gesegelt. Dort konnte das Einladen auch leichter von Staen gehen, da er näher an der Stadt lag. Aus dieser Episode können wir zahlreiche Informationen über die antike Topographie der Bodrun-Halbinsel entnehmen: Nicht nur, dass Teos zwei Häfen hae, wie ja auch die Forschungen ergaben (s. o.), sondern auch die Namen der beiden, dass der nördliche sich in einiger Entfernung zur Stadt befand und wohl außerhalb der Stadtmauern etc. Der Bericht spricht außerdem gegen einen Verbindungskanal zwischen beiden Häfen (Bean 1985, 146). m. E. unterstreicht sie eher Teos’ Bedeutung als Handelsplatz als die seines Weinanbaus, die Chandlers Formulierung nahe zu legen scheint; sie ist aber durchaus doppeldeutig, wenn man bedenkt, dass bei den Treffen der Society of Dileanti ausgiebig dem Wein zugesprochen wurde, sie war im zeitgenössischen Urteil gar »ein Club mit zwei Voraussetzungen, zum einen einmal in Italien gewesen und zum anderen betrunken zu sein« (so Horace Walpool i. J. 1743, zitiert nach Black 1985, 120). 22 Zu diesen einührend Goodwin 1997. Ch1 Inscript. Ant. S. 7. 23 Es handelt sich wohl um die Inschri CIG 3080. 24 Zwischen Sığacık und Siferihisar gibt es mindestens vier antike Steinbrüche, die teilweise die Steine ür Teos

geliefert haben. In einem davon wurde in römischer Zeit der sog. marmo africano abgebaut, der in Rom, z. B. in Kaiserfora von augusteischer Zeit bis in die 2. Häle des 2. Jhs. n. Chr. Verwendung fand. Es handelt sich um ein Konglomeratgestein mit Einschlüssen von weißen, grauen oder rosafarbenen Marmor (Ballance 1966, 79–81). Laut Plin. n. h. 36, 49–50, war der antike Name marmor Luculleum, benannt nach dem ersten, der ihn in Rom verwendete. Diese Nachricht nennt Chios als Herkunsort des Gesteins, was entweder durch einen Überlieferungsfehler oder ein zweites, bisher unentdecktes Vorkommen zu erklären ist, Fant 1989, 206–218.

Reisen ür die Antike. Richard Chandler in Teos

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der hohe felsige Berg, ungeähr eine Meile nördlich von Teos gehörte, den man auf der Ansicht in den ›Ionian Antiquities‹ sieht25. Dieser, so berichtet Pococke26, hat auf der Westseite einen kleinen See in einer tiefen Talmulde, der, so denken die Leute, alle Brunnen im Umland versorgt; und im Süden des Sees ist eine eingetiee Stelle, wo fast zwanzig Marmorstücke sind, alle in einige Stufungen gesägt, von schwer zu bewegender Größe. Auf einem sah er die Aufschri LOCO IIII27. Sevri-hissar ist eine weit gestreute Stadt in einem Tal, zwei Stunden vom Meer; und man mag es ür das Vourla der Teier halten28. Das Umland ist angenehm und gut kultiviert. Die Griechen, obwohl sie zahlreich sind, haben keine Kirche. Wir waren in einem jämmerlichen, aus Lehm errichteten Khan untergebracht, bei dem sich ein lebhaer Bach befindet, der nach Westnordwesten verläu. Eine Steinbrücke wurde darüber gebaut, und einige Pfeiler sind davon übrig. Wir haen ihn mehr als einmal auf dem Weg von Segigeck überquert. Wir haen hier Grund zur Abneigung gegen und zur Besorgnis über das Betragen einiger unserer türkischen Besucher, aber der Janitschar war unser Schutz. Es gibt viele verstreute Überreste der alten Stadt in Sevri-hissarCh2 29. Einer, der in der Mauer eines Hauses eingebaut ist, erwähnt die zwei Vereinigungen, die Panathenisiasten und die Dionysiasten. Zur Zeit der ionischen Wanderung nahm eine Ansiedlung von Athenern Teos in Besitz30. Diese haben anscheinend die Panathenäen in Teos eingeührt, die großen Feierlichkeiten der Muerstadt. Ein Olivenkranz umschließt den Namen der Gemeinscha, die sich um diese Feier kümmerte; und einen aus Efeu den der Dionysiasten, die Künstler waren, oder bei den asiatischen eatern unter Vertrag standen, zusammengeührt und angesiedelt in Teos unter den Königen von Pergamon31. Ich schrieb einen langen Beschluss ab, den eine ihrer eatergruppen zu Ehren ihrer Vorsteher gemacht hae. Die Plae war als Grabstein auf einem türkischen Friedhof aufgestellt, wo sie der Mann, der sie mir zeigte, mit etwas Hilfe niederlegte und ein starker Regen, der gerade fiel, legte die Buchstaben frei, die, groß und unbeschädigt, einfach lesbar 25 Chandler u. a. 1769, 13 Taf. 1. 26 Pococke 1743, 44, zitiert nach Ballance 1966, 79 Anm. 3. 27 Dies ist der Steinbruch, der den marmor Luculleum lieferte, s. o. Die großen Marmorblöcke wurden so zum ›End-

kunden‹ transportiert; ein solcher Stein wurde auch im Portus Geraesticus gefunden (Bean 1985, 145; Béquignon – Laumonier 1925, 291). Die Beschriungen geben den Ort, an dem der Stein gebrochen wurde, den jeweiligen Konsul als Datumsangabe und den Besitzer (Bean 1985, 144) oder besser Pächter des Steinbruchs an, denn die Ausbeutung der Marmorvorkommen wurde von Rom gesteuert, der Gewinn floss an Teos vorbei (Fant 1989, 216 f.). Die vorhandenen Konsulsnamen legen ein Ende des Marmorabbaus im Jahr 165/166 n. Chr. nahe, Bean 1985, 145; s. auch Ballance 1966, 81. 28 Chandler meint anscheinend damit, dass Siferihisar zu Teos verhält wie Vourla (h. Urla) zu Klazomenai, es

also der Ort ist, an dem in dieser Gegend die Besiedlung fortgesetzt wurde, wozu zahlreiche Spolien aus den verlassenen Städten verwendet wurden. Ch2 Inscript. Ant. S. 8. 9. 10. 29 CIG Nr. 3066. 3073. 3084. 3090. 3096. 3102 f. 3105. 3111. 3115. 3120. 30 Strab. Geogr. 14, 3 berichtet, dass Teos zur Zeit der ionischen Wanderung von Aitolern unter der Führung von

Athamas besiedelt worden sei und dass diesem noch Athener und Boioter folgten. Ebenso äußert sich Pausanias und ügt hinzu, Teos sei vorher eine karische Niederlassung gewesen (Paus. 7, 3, 6). Die ältesten, südlich des eaters gefunden Scherben lassen eine griechische Besiedlung in protogeometrischer Zeit möglich erscheinen, s. Mellink, 1964, 163; Mellink 1966, 157. 31 Strab. Geogr. 14, 29. Dort erfahren wir weiter, dass die Teier am Benehmen der Künstler Anstoß nahmen und

diese nach Ephesos gehen mussten und sich dann in Myonessos ansiedelten. Die Teier, denen dies noch zu nahe war, baten die Römer um eine Umsiedlung, so dass die Dionysiasten schließlich in Lebedos ihren Hauptsitz haen. Poland 1909, 129–147, beschreibt sie als Zusammenschluss zur Förderung der Berufsausübung und sieht ein geringes Gewicht religiöser Gründe. Sie bildeten eine »Art Staatswesen im Staate« (Poland 1909, 139).

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waren. Der Dank der Gesellscha, mit einem Olivenkranz, wird als Belohnung ür Freigebigkeit und Verdruss im Amt erstaet; und um die Erinnerung an sie zu verewigen und Weeifer mit ihrem Verdienst zu erregen, ist es außerdem verügt, dass die Beschlüsse eingemeißelt werden sollen, aber zu ihren Kosten: so wünschenswert war dieses Zeugnis ür jeden Einzelnen und so sparsam die gebräuchliche Weise der Verleihung.

Schlussbemerkung Alle von Chandler erwähnten Bauwerke und Örtlichkeiten konnten identifiziert werden; zumeist fanden sie auch in späterer Zeit Beachtung und konnten daher hier genauer beschrieben werden. Zumindest bei einigen Denkmälern ist der langanhaltende Einfluß von Chandlers esen noch immer der Fachliteratur erkennbar. Insbesondere die Verknüpfungen mit antiken ellen fanden dankbare Aufnahme, wobei dies jedoch beispielsweise bei der Erforschung des DionysosTempels zu Lasten der unvoreingenommenen Interpretation des archäologischen Befundes ging. Eine Reihe der antiken ellen, die Chandlers Text zu Grunde liegen, konnte recherchiert werden. Auällig war dabei, dass Chandler selbst bei nahezu wörtlicher Übersetzung diese meist nicht kenntlich macht; ür den modernen Leser aber werden erst durch die Kenntnis der elle Anspielungen verständlich. Insbesondere sind die anschaulichen topographischen Beschreibungen Chandlers hervorzuheben, die wichtige Anstöße bei Fragen zur mielalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Topographie liefern.

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Die Bundesfestung Ulm und ein vielleicht etwas ungewöhnlicher Blick auf das antike Befestigungswesen Oliver Hülden

Auch wenn das vornehmliche Interesse des Altertumswissenschalers der Antike gilt, ist es bisweilen hilfreich, die Anbindung an das Hier und Jetzt oder zumindest an jüngere historische Epochen nicht aus den Augen zu verlieren. Archäologische Oberflächenuntersuchungen, wie sie Hans Lohmann so beispielha im aischen Demos Atene und andernorts durchgeührt hat, besitzen omals den Vorzug gegenüber Grabungen, dass man in ihrem Verlauf mit völlig heterogenen Überresten ganz unterschiedlicher Epochen konfrontiert ist. In Aika etwa erfasste Lohmann dann auch neben antiken Dörfern und Gehöen unter anderem mielalterliche Turmburgen sowie Geschützstellungen des zweiten Weltkriegs und hat sie in seine Landesaufnahme mit einbezogen1. Während der Kontakt mit nicht-antiken Überresten im Rahmen von Surveys ein unmielbarer ist und die Berücksichtigung der entsprechenden Epochen nicht zuletzt aus dem Antrieb resultiert, ein historisch weitgehend vollständiges Bild der jeweils untersuchten Region zu rekonstruieren, lassen sich Bauten oder Phänomene der jüngeren Geschichte bekanntermaßen durchaus auch dann zum Erkenntnisgewinn im Hinblick auf die Antike heranziehen, wenn kein so konkreter Bezugspunkt zu bestehen scheint. Ein gutes Beispiel daür bilden Befestigungsanlagen, die es seit dem Neolithikum in nahezu allen folgenden Epochen gegeben hat, weil Sicherheit, also insbesondere der Schutz der eigenen Gemeinscha und des Eigentums, offenbar ein starkes menschliches Grundbedürfnis darstellt. So unterliegen Verteidigungsanlagen wegen ihres trotz des stetigen Wandels der Kriegsührung prinzipiell gleichbleibenden funktionalen Hintergrundes über Jahrhunderte hinweg sehr ähnlichen Anforderungen. Vor diesem Hintergrund und wegen ihrer ebenso ausgezeichneten Erhaltung und Überlieferungssituation möchte ich mich im Folgenden exemplarisch einer Festungsanlage des 19. Jahrhunderts zuwenden, um im Anschluss anhand der daraus gewonnenen Erkenntnisse das Bewusstsein ür unsere deutlich eingeschränkteren Möglichkeiten bei der Beurteilung antiker Befestigungsanlagen zu schärfen2. Damit soll gegenüber einer auf einem bisweilen entwaffnenden Optimismus beruhenden Tendenz in der antiken Befestigungsforschung und einer damit verbundenen, kaum zu bedienenden Erwartungshaltung Position bezogen werden. 1 s. etwa Lohmann 1993, 71–73. 268 mit Anm. 1854. 2 Die folgenden Überlegungen gehen in Teilen auf einen Vortrag zurück, den ich zur Eröffnung eines Arbeits-

treffens des wissenschalichen DFG-Netzwerkes ›Fokus Fortifikation‹ am 18. März 2010 in Frankfurt am Main gehalten habe. Ausührlich beschäige ich mich mit der ematik überdies im Rahmen meines Münchener Habilitationsprojekts, das den Titel ›Entwicklungen – Formen – Funktionen. Untersuchungen zum griechischen Befestigungswesen von der archaischen bis in die hellenistische Zeit‹ trägt.

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Die Ulmer Bundesfestung Es ist weithin bekannt, dass Ulm den höchsten Kirchturm der Welt besitzt3. Weitaus weniger bekannt düre freilich sein, dass Ulm mit einem weiteren Superlativ aufwarten kann: Es verügt nämlich über eine der größten europäischen Festungsanlagen des 19. Jahrhunderts4. Die Festung, die sich zu beiden Seiten der Donau und damit zum größeren Teil auf würembergischen (Ulm) und zum kleineren Teil auf bayrischem Gebiet (Neu-Ulm) erstreckt (Taf. 3, 1), wurde von 1842 bis 1859 unter der Gesamtleitung des preußischen Festungsbaudirektors Oberst Moritz Karl Ernst von Priwitz und Gaffron erbaut5. Ihre Grundsteinlegung erfolgte am 18. Oktober 1844 gleichzeitig auf Ulmer wie Neu-Ulmer Seite. Die Errichtung der gewaltigen Anlage war eine Konsequenz aus dem Krieg gegen Napoleon und mithin ein unmielbares Ergebnis des Wiener Kongresses. Dort war 1815 der Deutsche Bund ins Leben gerufen worden, der unter anderem eine gemeinsame Verteidigung der deutschen Länder mit Bundestruppen vorsah. Darüber hinaus wurde das Konzept eines Gürtels aus landes- und bundeseigenen Festungen entworfen, das maßgeblich von den zuvor gemachten Kriegserfahrungen geleitet war und einen erneuten französischen Angriff verhindern sollte (Taf. 4, 1). Entlang des Rheins entstanden die preußischen Festungen Wesel, Köln und Koblenz. Nahe der französischen Grenze wurde das ebenfalls preußische Saarlouis zur Festung ausgebaut und als bayerische Landesfestungen dienten Germersheim in der Pfalz sowie das tief im Hinterland gelegene Ingolstadt. Hinzu traten insgesamt ünf Bundesfestungen, von denen Mainz, Luxemburg und Landau auf älteren Anlagen basierten und schnell umgesetzt wurden, wohingegen der Entscheidungsprozess zur Realisierung der neu zu schaffenden Festungen Rasta und Ulm etwas länger dauerte. Dem Bau der Festungen kam nicht nur ein rein militärischer Wert zu, sondern sogleich ein hoher symbolischer, handelte es sich doch um eine gemeinschaliche und mithin identitätsstiende Anstrengung aller Bundestaaten, was nicht zuletzt der Umstand bezeugt, dass die bundeseigenen Verteidigungsanlagen geradezu als Garanten der Einigkeit betrachtet wurden6. Während die an Rhein und Mosel gelegenen Anlagen in militärischer Hinsicht daür vorgesehen waren, den Feind bereits kurz nach Übertri der deutschen Grenze zu stoppen, resultierte der Ausbau von Ulm zur Festung vor allem aus dem Interesse Österreichs, den Donauraum und damit den Weg nach Wien sperren zu können. 1805 war das bei Ulm gelegene Elchingen zum Schauplatz von Kampandlungen geworden, als die Österreicher dort vergeblich versuchten, der französischen Okkupation Süddeutschlands entgegenzutreten. Nach der Niederlage auf freiem Feld haen sich die österreichischen Truppen zwar in den mielalterlichen Verteidigungsanlagen der Stadt Ulm verschanzt, mussten sich aber wenig später ergeben, was in der Folge zur vernichtenden Niederlage der Österreicher bei Austerlitz ührte. Ein solches Szenario sollte sich durch den speziellen Schutz von Ulm zukünig nicht noch einmal ereignen können, und außerdem sollte der Ort den Aufmarsch des Bundesheeres in Südwestdeutschland decken und gleichermaßen als Ausgangspunkt ür eigene offensive Operationen nach Westen dienen können. 1819 haen die 3 Nach ihrer ür das Jahr 2026 geplanten Fertigstellung soll jedoch die Sagrada Família von Antoni Gaudí in

Barcelona mit 170 m dem Ulmer Münster den Rang ablaufen und fortan die höchste Kirche der Welt sein. 4 Nach ihrer Fertigstellung 1859 erreichte die Hauptumwallung eine Länge von ca. 9 km und schloss eine Fläche

von über 300 ha ein, s. Burger 2006, 47. 5 Der folgende historische Abriss stützt sich im Wesentlichen auf Burger 2006, 8–71, wobei ich auf das Einügen

von Einzelbelegen ür die geschilderten Ereignisse oder Fakten weitgehend verzichtet habe. 6 Vgl. Burger 2006, 31.

Ein ungewöhnlicher Blick auf das antike Befestigungswesen

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konkreten Planungen ür den Festungsgürtel unter einer eigens daür eingesetzten Bundeskommission begonnen, aber es sollte im Hinblick auf Ulm ganze 23 Jahre dauern, bis diese endgültig abgeschlossen waren und in die Tat umgesetzt wurden. Verantwortlich ür den Aufschub waren nicht zuletzt die gigantischen Kosten der Anlage, die bei 20 Millionen Gulden ür die Festungen Ulm und Rasta gedeckelt waren, sich letztendlich aber schon im Falle von Ulm am Ende auf 16,5 Millionen Gulden beliefen und daher mehrfach zu Planänderungen ührten. Finanzier des Projekts war der Deutsche Bund, wobei die Miel daür aus den französischen Kriegsentschädigungen von 1815 stammten. Selbst ür die zukünige Instandhaltung hae man Sorge getragen: Für sie stand die sogenannte Bundesmatrikularkasse, die aus Einzahlungen der einzelnen Mitgliedstaaten und einem weiteren Teil der französischen Reparationszahlungen schöpfen konnte, zur Verügung. Im Jahr 1841 wurde der Preuße von Priwitz, der schon am Bau der Festung Koblenz beteiligt war, vom würembergischen König zum Festungsbaudirektor auf Ulmer Seite ernannt. Salopp könnte man sagen, er wurde von den Preußen ausgeliehen, weil die königlich würembergischen Truppen über kein eigenes Ingenieurkorps verügten. Obgleich die Gesamtleitung innehabend erstreckte sich sein ausührendes Kommando nur auf die würembergische Seite, während im bayerischen Neu-Ulm der Major eodor Rier von Hildebrandt federührend war. Bei dem am 18. Oktober 1842 mit dem ersten Spatenstich auf dem Ulmer Michelsberg begonnenen Bau der Festung setzten die Initiatoren auf neueste verteidigungstechnische Konzepte. So wurde etwa das vom 16. bis ins 19. Jahrhundert als maßgeblich betrachtete System des mehrfach gewinkelten und mit Bastionen versehenen Wallverlaufs aufgegeben. An seine Stelle trat eine weitgehend geradlinige Mauerührung, wobei die einzelnen Abschnie im stumpfen Winkel aufeinander trafen und eine Gesamtanlage in Form eines großen Polygons entstand. Darüber hinaus setzte von Priwitz auf mehrgeschossige, mit Geschützen bestückte Kasemaenbauten, mit denen die vorgelagerten Gräben bestrichen werden konnten. Die geschlossene Umwallung der Hauptanlage wurde zudem an wichtigen Geländepunkten durch eigenständige, rings um die Stadt verteilte Forts gesichert. Wegen des festen Kostenrahmens unterblieb jedoch die Realisierung einzelner dieser Außenwerke, was auch an deren nicht ganz durchgängiger Nummerierung erkennbar ist. Auf dem Höhepunkt der Arbeiten 1848 waren neben 2.000 Eisenbahnarbeitern ungeähr 8.000 weitere Männer an dem gewaltigen Bauprojekt beteiligt. Ihr Lohn betrug, soweit es sich nicht um Spezialisten handelte, zu dieser Zeit 90 Kreuzer am Tag, wobei ür artier und Verpflegung selbst aufzukommen war7. Allerdings hae der offensichtlich recht ürsorgliche von Priwitz ür eine Unfall- und Krankenversicherung seiner ›Schanzer in Ulm‹ gesorgt8. Eine solche Großbaustelle blieb zudem in wirtschalicher Hinsicht nicht folgenlos. Ausgelöst durch den Durst der Festungsarbeiter soll es in Ulm um 1850 mehr Gastwirtschaen gegeben haben als andernorts in Würemberg. Außerdem lebten die ortsansässigen Zementbetriebe auf und ebenso profitierten Ziegeleien und andere Zulieferbetriebe vom Bau. In diesem Zusammenhang ist ein bauliches Detail bemerkenswert: Die Trennung der Festung in einen würembergischen und einen bayrischen Teil ührte zu einem gravierenden Unterschied in der Ausührung der Befesti7 Ein 2,5 kg schweres Brot kostete damals 9 Kreuzer und eine Maß Bier war ür 8 Kreuzer zu haben, vgl. Burger

2006, 40. 8 ›Die Schanzer in Ulm‹ lautet der Titel eines Buches, das von Priwitz 1850 veröffentlicht hat (Priwitz 1850).

Es enthält detaillierte Angaben zu Arbeitsorganisation und -abläufen auf der Ulmer Großbaustelle, darunter Anweisungen ür Krankheits- und Unälle. Schon der Untertitel ›Nebst einer Abhandlung über die Noth der armen Classen und deren Abhilfe‹ lässt das ausgeprägte soziale Engagement des Festungsbauers erkennen.

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gungsmauern. Während auf dem nördlichen, mithin Ulmer Donauufer vorwiegend weißer Kalkstein aus dem nahegelegenen Blautal verbaut wurde, kam auf der südlichen Neu-Ulmer Seite vor allem roter Ziegelstein zur Anwendung (Taf. 4, 2–3). Darüber hinaus zeichneten diverse Bauoffiziere ür die Ausührung einzelner Werke verantwortlich, die zwar dem Gesamtplan verpflichtet waren, aber leichte Unterschiede im Detail erkennen lassen9. Ulm und Neu-Ulm blühten und gediehen im Schaen des Festungsbaus. Eine geradezu rasante Ausdehnung beider Orte war auch deshalb möglich, weil das bei Baubeginn noch weitgehend in seinem mielalterlichen Zustand verharrte Ulm gerade einmal 65 ha an der 300 ha messenden Innenfläche der Festung ausmachte und Neu-Ulm ohnehin eine dörfliche Struktur aufwies. Das Wachstum spiegeln die Einwohnerzahlen wider: Während bei Beginn der Bauarbeiten 16.231 Personen in Ulm lebten, schnellte diese Zahl bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auf 43.000 Personen hoch. Neu-Ulm erfuhr eine ähnliche Entwicklung, was schließlich dazu ührte, dass der Ort 1869 von Ludwig II. und damit 10 Jahre nach Vollendung der Festung das Stadtrecht erhielt. Angesichts einer solch raschen Bevölkerungszunahme mit all ihren Folgeerscheinungen waren vor allem auf Ulmer Seite die Grenzen allerdings dann doch schnell erreicht. Vor den Mauern der Festung dure aus Sicherheitsgründen nicht gebaut werden und so erwies sich die Umwallung bald als Korse, das weiterem Wachstum im Wege stand. Eine Folge davon war, dass die Preise ür Grundstücke vor den Wällen ins Bodenlose fielen, weshalb im Ulmer Gemeinderat im Zuge der 1866 erfolgten Auflösung des Deutschen Bundes und des folgenden Abzugs der österreichischen Truppen erstmalig Rufe nach einem Rückbau der Festung laut wurden. Den Gefallen hat man den Ulmern freilich zunächst nicht getan, denn letztendlich verdiente man auch gut an den stationierten Truppen. Nach der Fertigstellung der Festung im Jahr 1859 hae die Besatzung aus Soldaten aus Württemberg und Bayern sowie hauptsächlich aus Österreich bestanden. Die administrative Leitung oblag dem Festungsgouverneur, die militärische Führung dem Festungskommandanten. Beide Kommandos wurden in der Regel vom bayerischen bzw. würembergischen König, also den unmielbaren Landesherren, bestimmt. Eine eidliche Verpflichtung des Gouverneurs wie des Kommandanten bestand allerdings gegenüber dem Deutschen Bund und nicht gegenüber dem jeweiligen Herkunsland. In Friedenszeiten lag die Stärke der Garnison bei 5.000 Mann, ür den Verteidigungsfall waren aber 18.000 bzw. sogar bis zu 100.000 Mann vorgesehen. Das Kernstück der Anlage bildete im Sinne einer Zitadelle die auf dem Michelsberg gelegene Wilhelmsburg und das Vorfeld der Hauptumwallung war durch insgesamt 15 Außenforts geschützt. Die Festung war damit eine der modernsten Anlagen ihrer Art in Europa und zumindest zu diesem Zeitpunkt war sie auch die größte. Aber kaum gebaut, war sie bereits veraltet, denn im Bereich der Artillerietechnik haen sich bahnbrechende Neuerungen vollzogen. Geschütze verügten nunmehr über gezogene Rohre, wodurch sich ihre Schussweite verdreifacht und sich dazu ihre Zielgenauigkeit erheblich verbessert hae. Was in Ulm, aber auch bei den anderen Bundesfestungen vor der Mitte des 19. Jahrhunderts noch als innovatives Verteidigungskonzept gegolten hae, machte damit keinen Sinn mehr. Die Forts, die den Angreifer bereits vor der Hauptumwallung aualten und direkten Beschuss verhindern sollten, lagen nun nicht mehr weit genug vorgeschoben. Mit der bereits erwähnten Auflösung des Deutschen Bundes wurde die Festung Ulm im Zuge der Reichsgründung von 1871 von einer Bundes- zu einer Reichsfestung. Auf die fortschreitende Ent9 Bemerkenswerterweise sind die Namen dieser Offiziere auf dem Schlussstein der jeweils von ihnen erbauten

Werke samt Jahreszahl verzeichnet, vgl. Burger 2006, 39.

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wicklung der Geschütztechnik reagierte man in dieser Zeit mit diversen Verstärkungen der bestehenden Werke. So wurden etwa überwölbte Räume auf den Wällen angelegt, um einen besseren Schutz vor drohendem Beschuss feindlicher Langstreckenartillerie zu gewährleisten. Außerdem wurden zu hoch aufragende und daher aus weiter Entfernung anvisierbare Mauerstücke gekappt. Auf dem Oberen Eselsberg errichtete man zudem zwischen 1881 und 1887 zwei moderne Forts vom sogenannten ›Biehler- oder Einheitstypus‹, ein Bautyp, der vom königlichen Generalinspekteur der Festungen, Alexis von Biehler, an der ehemaligen Bundesfestung Mainz erstmals erprobt worden ist10. Das ›Deutsche Einheitsfort‹ bildete ein selbständiges Festungswerk, das sowohl die Miel des Fernkampfes, also weiragende Artillerie, wie diejenigen des Nahkampfes, also Infanterie und leichte Geschütze, in sich vereinigte und somit den Gegner auf Distanz halten sollte. Gegen Granaten mit chemischer Sprengladung waren jedoch auch solche Forts nicht gefeit, weshalb es in Ulm ab 1900 zu weiteren Umbauten kam. So wurden vor und zwischen den alten Forts fast völlig in die Erde eingesenkte Betonbunker als Schutzräume ür die Infanterie angelegt und außerdem die wichtigsten Außenwerke mit Beton verstärkt. An der Hauptumwallung kam es dagegen nicht mehr zu Veränderungen, denn diese war milerweile militärisch ohnehin wertlos geworden. Wegen der sich weiter abzeichnenden Nutzlosigkeit von Teilen der alten Festung verkaue das Deutsche Reich 1899 bzw. 1906 das Gelände der Hauptumwallung an die Städte Ulm und Neu-Ulm, wobei daür insgesamt rund 4,75 Millionen Mark in seine Kassen geflossen sind. Insbesondere Ulm begann sofort damit, Teile der Ummauerung niederzureißen, um sich aus der lange schon als bedrückend empfundenen Umklammerung zu lösen. Eine letzte Verstärkung erfuhr die Festung schließlich im Zuge der Mobilmachung bei Kriegsausbruch 1914, wobei ein nochmals weiter vorgeschobener Ring von Betonwerken nicht mehr zur vollständigen Ausührung kam. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel die Festung nicht unter die Bedingungen des Vertrags von Versailles und musste nicht – wie beispielsweise Rasta – geschlei werden. 1938 endete der Festungsstatus von Ulm dann endgültig. Während die Stadt selbst und die in ihr verschanzten Österreicher nach der Schlacht von Elchingen 1805 unmielbar bedroht und bei nicht erfolgter Kapitulation von Napoleon sicherlich auch angegriffen worden wären, ist die Festung Ulm zwar mehrmals armiert worden, sie war aber niemals einer vergleichbaren militärischen Bedrohung ausgesetzt. Schon vor 1938 hae die Zweckentfremdung der Festung begonnen und erste Teile der gewaltigen Anlage waren unwiederbringlich verloren gegangen. Im Fort Oberer Kuhberg war von November 1933 bis Juli 1935 eines der ersten Konzentrationslager ür Oppositionelle des Drien Reiches, darunter der SPD Politiker Kurt Schumacher, eingerichtet. Darüber hinaus dienten die geschützten Teile der Festung der Ulmer Bevölkerung als Luschutzbunker während der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg. Zudem verlagerte man Teile der industriellen Produktion unter Beschäftigung Tausender von Zwangsarbeitern dorthin. Nach dem Krieg dienten Werke und Kasernen als Auffanglager und Notunterkun ür zahllose Heimatvertriebene und Flüchtlinge aus Osteuropa und der DDR, und erst in den 1960er Jahren wurde das letzte der dortigen Flüchtlingslager aufgelöst. Heute unterliegen Teile der Festung immer noch einer militärischen Nutzung, da sie der Bundeswehr als Kaserne dienen. Weite Teile sind aber in zivilem Gebrauch. So wurde in dem als KZ genutzten Fort Oberer Kuhberg eine Gedenkstäe eingerichtet, und in einem anderen Außenwerk befindet sich seit 2000 das Donauschwäbische Zentralmuseum, das der Geschichte der Donauschwaben gewidmet ist. Der so genannte Glacispark dient mit Spazierwegen und Spiel10 Zum namensgebenden und ür weitere ca. 70 Anlagen im Deutschen Reich maßgeblichen Fort Biehler auf dem

Mainzer Petersberg s. Klein – Lacoste 2005.

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plätzen als Naherholungsgebiet und in einigen Außenwerken haben sich Vereine und Jugendclubs niedergelassen. Seit 1974 existiert schließlich der Förderkreis Bundesfestung Ulm e. V., der sich den Erhalt und die Pflege der Festung zur Aufgabe gemacht hat. Einen aktuellen Höhepunkt in der Geschichte der Festung Ulm wie des Vereins und der Stadt stellte 2009 die 150-Jahrfeier der Fertigstellung dar.

Die Ulmer Bundesfestung und das antike Befestigungswesen? Nach diesem Abriss der Geschichte und Entwicklung der Ulmer Festung stellt sich die Frage, wie man nun den Bogen von diesem neuzeitlichen Bauwerk zu seinen antiken Pendants schlägt. Die Antwort ist im Grunde ebenso einfach wie banal: Anhand des Beispiels Ulm lässt sich eindrucksvoll demonstrieren, welche Vielzahl von Aspekten einer Festungsanlage beleuchtet werden können, wenn eine entsprechende und offensichtlich weitgehend lückenlose historische Überlieferung vorliegt und die Anlage zudem einen sehr guten Erhaltungszustand aufweist. So kennen wir die genaue Bauzeit der Anlage. Wir kennen den bzw. sogar die ausührenden Architekten, die Planungen und Entwürfe, und wir können ihre Umsetzung am Bauwerk selbst überprüfen. Ferner finden sich genaue Angaben zur Zahl und Zusammensetzung der beteiligten Arbeiter sowie zur Höhe der Kosten. Wir kennen ebenso den genauen Grund ür den Bau und seine Intention. Wir können die einzelnen Ausbaustufen minutiös verfolgen und Gesamtkonzeption wie einzelne Elemente an die gleichzeitige Entwicklung der Militärtechnik koppeln. Wir wissen sogar, worauf die unterschiedliche Bauweise von Teilstücken der Befestigung zurückzuühren ist und welche konkrete Person daür jeweils verantwortlich zeichnete. Wir kennen die bestimmende Macht hinter der Festung ebenso wie den Feind, gegen den sie gerichtet war. Wir können die Anlage territorial wie national zuordnen und ebenso ihren symbolischen Wert und ihre Rolle als Prestigeobjekt bestimmen. Zudem können wir die Anlage militärhistorisch einordnen. Wir kennen ihre Bemannung, die Geschichte ihrer militärischen Nutzung und späteren teilweisen Zweckentfremdung. Schließlich könnten wir uns über die Umstände und Befindlichkeiten der stationierten Soldaten, aber auch der Bürger von Ulm und Neu-Ulm oder zuälliger Besucher ein konkretes Bild machen und ebenso über die wechselhae Beziehung der Städte Ulm und Neu-Ulm auf der einen und der Festung auf der anderen Seite bis hin zu Bezügen zwischen der ständigen militärischen Präsenz und späteren politischen Entwicklungen11. Sämtliche der genannten Aspekte interessieren uns nun auch im Hinblick auf antike Befestigungsanlagen, aber die fragmentarische ellenlage erlaubt es uns omals nicht, nur einen einzigen von ihnen befriedigend und abschließend zu klären. Um es anders auszudrücken: Die hier nur in ihren Grundzügen wiedergegebene Geschichte und Entwicklung der Festung Ulm ührt uns eindrucksvoll vor Augen, wie gering unser Wissen über das antike Festungswesen eigentlich ist. Und noch etwas anderes wird ersichtlich, was insbesondere dem Archäologen häufig schwer ällt einzugestehen: Es existiert ein allgemeiner Primat der Schriquellen, was allerdings nicht dahingehend misszuverstehen ist, dass archäologischen ellen grundsätzlich ein geringerer Wert 11 Die zuletzt genannten Aspekte habe ich zuvor weitgehend ausgeklammert. Ein Zusammenhang zwischen mili-

tärischer Präsenz in Ulm und bestimmten politischen Strömungen ließe sich beispielsweise anhand von Angehörigen des 5. Artillerie-Regiments untersuchen. Sie wurden im Oktober 1930 im so genannten Ulmer Reichswehrprozess einer nationalsozialistischen Verschwörung ür schuldig befunden und zu 18 Monaten Festungsha verurteilt. Zum Prozess s. Bucher 1967.

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einzuräumen ist und sie bisweilen den Eindruck, den die schrilichen ellen erwecken, nicht korrigieren können12. Und dennoch: Eine antike Befestigungsanlage und zumal in ruinösem Zustand bietet uns als bloßes Bauwerk nur verhältnismäßig wenige Informationen und lässt uns ohne entsprechende schriliche ellen eigentlich kaum an ihrer Geschichte, dem Hintergrund ihrer Erbauung oder dem Leben der Menschen in und mit ihr teilhaben. Schauen wir uns zur Verdeutlichung dieses Sachverhalts aber die gängige Herangehensweise an die Beurteilung antiker Befestigungen einmal genauer an, wobei gelegentlich auf das eine oder andere Details der Festung Ulm zurückzukommen sein wird. Bei der wissenschalichen Betrachtung antiker Verteidigungsanlagen wird deren Bauweise, also der Mauertechnik und dem Mauerstil, stets eine große, wenn auch milerweile zumeist kritisch beurteilte Bedeutung vor allem im Hinblick auf Datierungsfragen beigemessen13. Darüber hinaus bieten in unterschiedlicher Technik oder Sorgfalt ausgeührte Abschnie ein und derselben Mauer mitunter ein Spielfeld ür weitreichende Spekulationen über die Ursachen14. An der Ulmer Festung sind, wie zuvor geschildert, diverse Ausbauphasen zu unterscheiden, die mit Anpassungen an die militärtechnischen Entwicklungen im Verlauf der zweiten Häle des 19. und der ersten Häle des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang stehen. Dazu zählen etwa die von ihrem Grundriss her charakteristischen ›Biehler-Forts‹ sowie die Einbauten und Bunker aus Beton, die wir sicherlich auch ohne Kenntnis entsprechender Dokumente zu ihrer Planung und ihrem Bau als spätere Zutaten identifizieren und zumindest in die richtige relativchronologische Abfolge bringen würden. Etwas anders düre es indes mit der unterschiedlichen Bauweise auf beiden Seiten der Donau – hier weißer Kalkstein, dort rote Ziegel (Taf. 4, 2–3) – aussehen. Wie würden wir das wohl interpretieren, wenn wir nicht wüssten, dass es sich bei Ulm und Neu-Ulm um zwei getrennte und territorial unterschiedlich zuzuordnende Orte gehandelt hat (und immer noch handelt)? Würden wir tatsächlich darauf kommen, den offensichtlichen Unterschied in der Bauweise der diesseitigen und jenseitigen Festungsteile mit einer aus dieser Grenzlage resultierenden geteilten Bauleitung zu erklären? Vermutlich nicht. Vielmehr würden wir vielleicht eine chronologische Abfolge im Sinne einer auf das südliche Donauufer übergreifenden Erweiterungsphase in Erwägung ziehen (Taf. 3, 1). Das sind natürlich nur Gedankenspiele, aber sie illustrieren das Dilemma, das bei der Beurteilung antiker Verteidigungsanlagen eher die Regel denn die Ausnahme ist. Warum es sinnvoll und offenbar auch notwendig ist, sich dieses Dilemmas immer wieder unter den verschiedenen angesprochenen Aspekten zu vergegenwärtigen, soll der folgende Blick auf eine 12 Ein gutes Beispiel daür, dass die Rekonstruktion der Entwicklung eines antiken Siedlungsraumes mit archäolo-

gischen Mieln den aus den Schriquellen hervorgehenden Eindruck revidieren oder zumindest modifizieren kann, bildet die von Hans Lohmann so intensiv erforschte Chora Athens. Hier fanden sich keine Hinweise auf die insbesondere der literarischen Überlieferung entnommene Vorstellung eines auf allen Ebenen erfolgten Niedergangs der Stadt im 4. Jh. v. Chr.. Im Gegenteil: Das Umland von Athen scheint zu dieser Zeit seinen »höchsten infrastrukturellen Ausbau« erlangt zu haben, s. Lohmann 1995, 515–548 (das Zitat ist der S. 532 entnommen). 13 s. etwa Camp 2000, 41–43, oder in Bezug auf Mauerwerk archaischer Zeit Frederiksen 2011, 62–69. 14 Als Beispiel seien Unterschiede in der Mauergestaltung der hellenistischen Stadtbefestigungen von Ephesos

genannt. Sie werden teils mit großer Eile beim Bauvorgang, mit finanziellen Schwierigkeiten oder aber mit der Ansichtigkeit der Bauabschnie erklärt, vgl. Maier I 1959, 237–238; Kienast 1978, 71 Anm. 222; Marksteiner 1999, 415. Der teils zu beobachtende Wechsel von größerem Steinformat in der unteren Mauerzone zu kleinerem in der oberen, ist zudem einmal als Beleg ür eine angebliche Vorgängermauer des 5. Jhs. v. Chr. in Anspruch genommen worden, s. Özyiğit 1988, 95–96; Özyiğit 1991, 137–144. Dass tatsächlich an der grundsätzlichen Einheitlichkeit des erhaltenen Mauerrings und seiner hellenistische Datierung nicht zu zweifeln ist, hat dagegen Marksteiner 1999, 413–419, nochmals ausührlich dargelegt.

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mehr oder weniger willkürlich getroffene Auswahl von einzelnen antiken Befestigungen oder Gruppen von Befestigungsanlagen zeigen, mit denen sich die Forschung in jüngerer Zeit intensiver beschäigt hat. Beginnen wir mit einem Beispiel, das Hans Lohmann besonders vertraut ist. Im Jahr 1985 hat J. Ober unter dem plakativen und in gewisser Weise programmatischen Haupitel ›Fortress Attica‹ seine Sichtweise der Grundlinien athenischer Landesverteidigung in der Zeit zwischen dem Ende des Peloponnesischen Krieges und dem Verlust der athenischen Vorherrscha zur See im Zuge des Lamischen Krieges vorgelegt15. Seine freilich stark dahingehend verkürzte Hauphese, die Athener häen als Folge der vorausgegangenen Kriegserfahrungen eine Art defensive Mentalität entwickelt, welche ihr Verhalten im Hinblick auf die Landesverteidigung im 4. Jh. v. Chr. nachhaltig bestimmte, ist bekanntermaßen auf einigen Widerspruch gestoßen16 – und das auch bei Hans Lohmann. Lohmann hat unter anderem auf die Komplexität der Materie abgehoben, der hier mit zu einfachen Erklärungsmodellen und zudem auf der Grundlage eines völlig überschätzten antiken Signalwesens sowie einiger Fehlinterpretationen archäologischer Befunde versucht wurde zu begegnen17. Obgleich das 4. Jh. v. Chr. sicherlich als Höhepunkt des aischen Festungswesens zu betrachten ist und dieses sich als hochdifferenziert erweist, reichen seine Ansätze bis weit in das 5. Jh. v. Chr. hinauf, womit es sich um ein gewachsenes System handelt. An dieser Stelle lässt sich im Übrigen zwanglos auf die Bundesfestung von Ulm als eine Art neuzeitlicher Parallelfall verweisen, da sie zwar einen Neubau innerhalb eines im Jahr 1815 konzipierten Systems der Landesverteidigung darstellte, aber dieses System ebenfalls auf ein bereits bestehendes mit älteren Festungsbauten wie Mainz und Landau rekurrierte18. Das Grundproblem von Obers Studie reicht allerdings tiefer und findet sich auch in folgenden Untersuchungen wieder. Bemerkenswerterweise hat sich nämlich mit M. H. Munn einer der Kritiker Obers einige Jahre später selbst des emas angenommen, wobei er es mit der ›Dema-Mauer‹ und dem Boiotischen Krieg jedoch einerseits auf eine bestimmte Befestigungsanlage in Aika und andererseits auf ein bestimmtes kriegerisches Ereignis des 4. Jhs. v. Chr. fokussiert hat19. Die Reaktionen fielen – wenig überraschend – entsprechend aus20, wobei P. McKechnie das Problem auf den Punkt gebracht hat21: Munn habe in seinem Buch versucht, »to bridge the same gap that yawned before Ober’s feet (and earned him Harding’s misunderstanding) – the gap between stones in the Aic countryside and political history as it can be derived from literary sources«. Dann ährt McKechnie fort: »But the lack of any necessary connection between the two parts of Munn’s book [ein historischer Teil zum Boiotischen Krieg und ein archäologischer zur Dema-Mauer] is worrying, and gives rise to the suspicion that the problem of the relation between stones and policy has not fully been solved yet« und schließt mit den Worten: »Many readers will remain sceptical«. Die historische Überlieferung zu und die archäologischen Überreste in Aika lassen sich also bislang nur vereinzelt miteinander in Einklang bringen, wobei die Bringschuld in diesem Fall eindeutig auf Seiten 15 Ober 1985. Den gut 20 Jahre älteren Versuch von J. R. McCredie (McCredie 1966), sich dem aischen Festungs-

wesen anzunähern, lasse ich hier beiseite. 16 Harding 1988, 61–71 (vgl. dazu Ober 1989, 294–301); Munn 1989, 363–365. 17 Lohmann 1987, 270–274; vgl. ferner Lohmann 1988, 34–66; Lohmann 1995, bes. 516–523. 18 Burger 2006, 31. 19 Munn 1993. 20 Ober 1994, 374–375. 21 Hierzu und zum Folgenden s. McKechnie 1993.

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der Archäologie liegt. Genau darin liegt allerdings schon die nächste Schwierigkeit, denn wie Lohmann 1995 richtig angemerkt hat, ist »die Zahl derjenigen Wehranlagen, die in ihrer Zeitstellung und/oder ihrer Funktion bisher verkannt wurden oder umstrien sind« nach wie vor groß22, und an diesem Zustand hat sich seither nur wenig geändert. Bei vielen Anlagen mangelt es nach wie vor an zuverlässigen archäologischen Kriterien ür die Datierung und Interpretation. Dass dies nicht nur ür Aika gilt, soll jetzt kurz an zwei weiteren, aus Kleinasien stammenden Beispielen von Befestigungsanlagen demonstriert werden. Die hellenistische Königsresidenz Pergamon besitzt bekanntermaßen zwei Mauerringe, von denen der eine als ›Philetairische‹ und der andere als ›Eumenische Stadtmauer‹ angesprochen und insofern aufgrund historischer Erwägungen mit der jeweils entsprechenden Herrscherpersönlichkeit verbunden wird23. Die ältere, in die erste Häle des 3. Jhs. v. Chr. gehörende Mauer besteht aus einem zumeist isodomen adermauerwerk und bezieht streckenweise offenbar ältere Mauerzüge in ihren Verlauf mit ein. Die jüngere Mauer hingegen, die in einer Phase der Stadterweiterung etwa hundert Jahre später angelegt worden sein soll, ist vom Erscheinungsbild nicht unähnlich, zeigt aber ein größeres Steinformat und ist vor allem an geährdeten Stellen mit Türmen sowie teilweise sägezahnartigen Mauerabschnien ausgestaet. An beiden Datierungen sind zuletzt Zweifel oder zumindest der Bedarf an Bestätigung mit den Mieln der Archäologie angemeldet worden24. Insbesondere im Hinblick auf die ›Philetairische Mauer‹ ist dabei auf das ür eine Befestigung des frühen Hellenismus untypische Fehlen von Türmen und damit auf ihre nicht dem Stand der damaligen Wehrtechnik entsprechende Bauweise hingewiesen worden. Vielmehr könne Philetairos lediglich Ausbesserungen eines schon älteren Mauerringes vorgenommen haben, was den veralteten Zustand erklären würde. Die Reaktion auf die angemeldeten Zweifel blieb nicht aus, und so sind im Zuge einer seit 2005 erfolgten Neuaufnahme beider Mauerringe einige Sondagen zur Klärung angelegt worden. Auch wenn es die abschließende Bewertung dieser Arbeiten abzuwarten gilt25, dürfen die bisher vorgelegten Ergebnisse als ernüchternd bezeichnet werden26. Während im Falle der ›Eumenischen Mauer‹ der bisherige Datierungsansatz offenbar immerhin bestätigt werden konnte, fanden sich im Falle der ›Philetairischen Mauer‹ keinerlei Hinweise, die Aufschluss über das Datum ihrer Errichtung geben könnten. Was ür Konsequenzen ergeben sich aber nun daraus? Einerseits sind die Möglichkeiten, durch eine Ausgrabung die Datierung einer Befestigungsanlage zu klären, offensichtlich begrenzt27. Andererseits ist der Umstand, ob eine Befestigung von ihrer Ausstaung her als zeitgemäß zu gelten hat oder nicht, augenscheinlich nur bedingt tauglich ür eine sichere chronologische Einordnung. Gründe, warum es wie im vorliegenden Fall des philetairischen Pergamon zum Bau einer solch unmodernen 22 Lohmann 1995, 518–519. 23 Hierzu und zum Folgenden s. etwa Radt 1999, 53–61. 24 Raeck 2004, 27–30; Klinko 2004, 147–159. 25 Die Ergebnisse sollen von J. Lorentzen (vormals Haberkorn) im Rahmen einer Dissertation vorgelegt werden. 26 Zum Folgenden s. Pirson 2007, 27–34; Pirson 2009, 161–162. 27 Da aufgrund der Monumentalität von Befestigungsmauern eine vollständige Ausgrabung unmöglich ist, ist es

im Grunde dem Zufall überlassen, ob man miels einer Sondage einen aussagekräigen Befund antri oder eben nicht. Im Übrigen düre ebenso Skepsis gegenüber der Genauigkeit der absolutchronologischen Einordung der bei solchen Sondagen angetroffenen Keramikfragmente angebracht sein. In diesem Zusammenhang sei der unlängst vorgenommene Versuch erwähnt, die bisher mit Lysimachos verbundene Stadtmauer von Ilion wegen eines angeblich entsprechenden keramischen Befundes und damit gegen die historische Überlieferung in die Zeit des Antiochos Hierax zu datieren, s. Tekkök 2000, 85–96.

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Mauer kam, lassen sich nämlich viele finden28. Sie bewegen sich zwar im Bereich der Spekulation, aber schon allein die anzunehmenden langen Planungs- und Bauzeiten solcher großen Bauprojekte sollten davor warnen, wirklich jede Mauer bei ihrer Fertigstellung als auf der Höhe der Zeit zu betrachten29. Kommen wir vor diesem Hintergrund noch einmal auf Ulm zurück und lassen uns auf das Gedankenspiel ein, wir wüssten nicht, wann die Anlage innerhalb des 19. Jahrhunderts errichtet worden ist. Kenntnis häen wir allerdings über einige Details der militärtechnischen Entwicklung, so etwa, dass Artilleriegeschütze ab ca. 1850 über gezogene Rohre verügten. Würden wir dann nicht zu dem Ergebnis gelangen, dass die Festung Ulm in ihrer ersten Bauphase dieser neuen Waffentechnik nicht angepasst wäre? Wenn wir jetzt nicht darauf tippen würden, wie es sich ja wirklich verhält, dass die Festung zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung bereits veraltet war, würden wir dann nicht zu der Auffassung gelangen, der Bau der Anlage müsse – wie im übrigen derjenige der bei gleicher Ausgangslage zwischen 1815 und 1834 errichteten Festung Koblenz – früher innerhalb des 19. Jahrhunderts anzusetzen sein? Würde man nun – eine fragmentarische Überlieferung der napoleonischen Kriege und ihrer Folgen vorausgesetzt – nach einem passenden historischen Ereignis suchen, das zudem mit Ulm verknüp ist, würde man nicht auf die erwähnte Schlacht von Elchingen 1805 und die anschließende Verschanzung der Österreicher in Ulm kommen? Könnte Ulm daher nicht in der unmielbaren Folge der militärischen Bedrohung von 1805 befestigt worden sein? Damit lägen wir rund 50 Jahre früher als die tatsächliche Fertigstellung und ungeähr dieselbe Zeitspanne trennt beispielsweise die ür den Bau der Mauern von Ilion vorgeschlagenen Herrscher Lysimachos und Antiochos Hierax30. Ich will die Skepsis hier nicht weiter auf die Spitze treiben, obgleich durchaus und unter Berücksichtigung weiterer Aspekte nachgelegt werden könnte31. Vielmehr will ich zum Abschluss wenigstens auf eine antike Wehranlage zu sprechen kommen, bei der sich der bauliche Befund und eine vergleichsweise gute historische ellenlage besser ergänzen und damit die Grundlage ür deutlich belastbarere Aussagen bieten. Die dorische Kolonie Syrakusai soll 733 v. Chr. an der Südostküste Siziliens gegründet worden sein, wobei die Landnahme offenbar nicht gerade friedvoll verlaufen ist32. Auch die weitere Geschichte der Stadt, die nicht nur zu einer Großpolis heranwachsen sollte, sondern zum Zentrum des bis dahin mächtigsten Flächenstaats der griechischen Welt, ist von kriegerischen Ereignissen geprägt. Die beiden einschneidendsten sollen im Folgenden kurz betrachtet werden, da das 28 Überdies ist der Überlegung von Raeck 2004, 28, Philetairos häe einen älteren Mauerring vorgefunden und

diesen an wichtigen Stellen modernisiert, entgegenzuhalten, dass er dann gewissermaßen eine unmoderne Modernisierung vorgenommen häe. 29 In diesem Zusammenhang lässt sich zwanglos auf die Denkschri des Biton über den Bau von Katapulten wohl

ür Aalos I. hinweisen, s. Marsden II 1971, 68–76. Aus der Art der Formulierung gewinnt man nicht gerade den Eindruck, als gehörten Katapulte in der zweiten Häle des 3. Jhs. v. Chr. zur Standardausrüstung der pergamenischen Armee. Ob man jedem der hellenistischen Herrscher also ein Faible ür oder einen unbegrenzten Zugriff auf allerneueste Kriegstechnik nachsagen darf, sei dahingestellt. 30 Vgl. o. Anm. 27 31 Mit der Festung auf dem Berg Karasis im kleinasiatischen Kilikien sei lediglich ein Beispiel noch kurz erwähnt.

Es zeichnet sich dadurch aus, dass ausgehend von einer detaillierten Bauaufnahme zwar zahlreiche, teils problematische bautechnische, funktionale oder sogar darüber hinausgehende Überlegungen angestellt wurden (s. etwa Hoffmann – Sayar 2007, 365–468; Bachmann 2008, 67–81; Radt 2009, 269–294), dies aber weitgehend losgelöst vom historischen Hintergrund, der ohnehin bislang nur vage zu bestimmen ist. 32 uk. 6, 3–5. Zur Datierung s. etwa Drögemüller 1969, 33–34 mit Anm. 3.

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erste Ereignis – die athenische Belagerung in der letzten Phase des Peloponnesischen Krieges – unmielbare Folgen ür die Art und Weise der Befestigung der Stadt hae und das zweite – die römische Eroberung von 212 v. Chr. – die Funktionsweise und Wirkung dieser Wehranlagen ür uns weitgehend nachvollziehbar macht33. Syrakus ist am Fuß einer großen Hochfläche gelegen, die den Namen Epipolai trägt (Taf. 5, 1). Über sie erfolgte der athenische Angriff von 415 v. Chr., wobei erstmalig unter der Bezeichnung Euryalos eine Geländemarke erwähnt wird, die zu diesem Zeitpunkt offenbar noch unbefestigt war, der nach dem Peloponnesischen Krieg aber eine enorme Bedeutung zukommen sollte. Um die Stadt von ihrem Hinterland vollständig abzuschneiden, errichteten die Athener mit großem Aufwand einen Zernierungsring in Form einer Mauer aus Holz und Lehmziegeln, die sie quer über die Epipolai ührten. Beinahe wäre die Sache ür Athen auch erfolgreich verlaufen, wenn es nicht einem spartanischen Entsatzheer geglückt wäre, das von den Athenern auf der Epipolai erbaute, strategisch wichtige Fort Labdalon unter seine Kontrolle zu bringen. Miels einer ermauer, welche die Syrakusaner nun ihrerseits in Richtung auf dieses Fort vorantrieben, gelang es ihnen schließlich, die Belagerer selbst in einen Belagerungszustand zu versetzen, zum Abzug zu zwingen und zu vernichten. In unserem Kontext ist von Interesse, dass wir in der Folge durch Diodorus Siculus tatsächlich erfahren, dass dieses Ereignis ür Syrakus eine geradezu traumatische Auswirkung hae34. Allerdings hae sich mit Dionysios I. ein Mann zum Tyrann von Syrakus aufgeschwungen, der offenbar nach genauer Analyse Abhilfe schuf. 401 v. Chr. ließ er zunächst die Epipolai mit einer Mauer abriegeln, um sie wenig später auf ca. 20 km Länge vollständig einzufassen35. Wir haben hier demnach einen konkreten antiken Beleg vor uns, wie aus militärischen Fehlern der Vergangenheit gelernt worden ist. Sogar einige Details liefert Diodorus am Rande mit. So behauptet er, der erste, ca. 5,7 km lange Abschni des Mauerrings samt Türmen und Ausfallpforten sei unter Zuhilfenahme von 60.000 Arbeitern aus der Chora und 6.000 Ochsengespannen in nur 20 Tagen hochgezogen worden. Die angegebene Personenzahl ist sicherlich ebenso wenig realistisch wie die enorm kurze Bauzeit, sondern sie soll sicherlich die gewaltige Leistung des Dionysios noch gewaltiger erscheinen zu lassen. Andererseits unterstreicht sie aber auch, mit welchem Hochdruck die Arbeiten damals vonstaen gegangen sein müssen. An dieser Stelle bieten sich zwei Vergleiche an, die nicht weiter kommentiert werden sollen: Beim Bau der Festung von Ulm kamen maximal 10.000 Arbeiter zum Einsatz und die Arbeiten dauerten bis zur Fertigstellung 17 Jahre. Da die Verhältnisse auf einer Festungsbaustelle des 19. Jahrhunderts von denjenigen auf einer antiken zweifellos abweichen, sei ferner auf eine Hochrechnung des Arbeitsaufwandes ür den so genannten Bankebau der Festung auf dem Karasis, ein einzelnes Gebäude von ca. 67 m Länge, hingewiesen. Für seine Errichtung wird eine Bauzeit von 8 Monaten veranschlagt, wobei mit 50 Arbeitern eine vergleichsweise sehr geringe Personenzahl zugrunde gelegt wurde36. In die Ummauerung der Epipolai ist auch jener zuvor schon erwähnte Bereich namens Euryalos 33 Ich verzichte im Folgenden auf die Angabe von Belegstellen und verweise summarisch ür die athenische Be-

lagerung auf die Schilderung des ukydides und ür die römische Eroberung auf diejenige des Livius. Beide Ereignisse hat H.-P. Drögemüller in bis heute mustergültiger Weise aus den ellen, der topographischen Situation und den archäologischen Überresten nachgezeichnet, s. Drögemüller 1969. 34 Hierzu und zum Folgenden s. Diod. 14, 18. 35 Zur Epipolai-Mauer s. bislang Mertens 1999, 141–149. 36 Hoffmann – Sayar 2007, 441 mit Anm. 89.

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im Norden der Hochfläche mit einbezogen worden. Wann genau dies geschah und in welchen Schrien, ist hier lediglich in seinem Endergebnis relevant37. Als die Römer 212 v. Chr. vor Syrakus standen, war Euryalos jedenfalls zu einer monströsen Anlage aus Wällen und Gräben, überund hintereinandergestaffelten Geschützbaerien sowie unterirdischen Gängen und Ausfallpforten herangewachsen (Taf. 5, 2). Die abschreckende Wirkung war so groß, dass die Römer nicht einmal versuchten, die von griechischen Söldnern gehaltene Festung anzugreifen38. Was Waffengewalt nicht schae, vermochten schließlich Überredungskunst und Geld: Philodemos, der Kommandant der Söldnertruppe, räumte nach zähen Verhandlungen die Festung und der Bedrohung in seinem Rücken entledigt, eroberte der römische Feldherr Marcellus kurz darauf die Stadt. Der Fall von Syrakus könnte ein Anlass sein, darüber zu sinnieren, welchen Wert solche hochgerüsteten Festungen überhaupt haen (oder haben?), wenn sie durch menschliches Versagen nur allzu leicht in Feindeshand geraten konnten. Die Geschichte ist voll von ähnlichen Beispielen, man denke nur an die Maginot-Linie oder das belgische Fort Eben-Emael im Zweiten Weltkrieg. Ferner kann man sich die Frage stellen, ob die gigantischen Baukosten ür die Bundesfestung Ulm eine sinnvolle Investition gewesen sind. Weil damit aber ein völlig neues und stark von persönlichen Glaubensgrundsätzen bestimmtes Terrain betreten wird, komme ich lieber zum Schluss, um in wenigen Sätzen noch einmal zu bündeln, worauf ich mit der vorliegenden Volte abgezielt habe. Zum einen ging es darum, anhand dessen, was wir über eine neuzeitliche Befestigungsanlage wissen, die erhebliche Diskrepanz zu unserer zumeist nur verschwindend geringen Kenntnis antiker Festungswerke einmal mehr ins Bewusstsein zu rücken. Darüber hinaus kam es mir auf die Verdeutlichung von jenem ›gap‹, also jener Klu zwischen Baubefund und historischer Überlieferung, die McKechnie am Beispiel der aischen Festungen diagnostiziert hat. Beim letzten Beispiel Syrakus ist der ›gap‹ zwar immer noch groß, aber immerhin ist er wegen einer glücklichen Überlieferungssituation an einigen Stellen recht gut zu überbrücken. Das freilich gilt ür die wenigsten antiken Befestigungsanlagen. Sicherlich spielt dabei in Teilen der Forschungsstand eine Rolle, es sollte aber auch nicht der Eindruck erweckt werden, die Beschäigung mit antiker Wehrarchitektur sei gegenüber anderen Denkmälergruppen in den letzten Jahrzehnten von der Archäologie regelrecht vernachlässigt worden. Sie ist es tatsächlich nicht, aber die wirklich entscheidenden Fortschrie an den Steinen in der Landscha lassen – von einzelnen glücklichen Ausnahmeällen einmal abgesehen39 – nach wie vor auf sich warten. Eine solche Auffassung mag in gewisser Weise pessimistisch sein, ein Vorwurf, den sich auch F. G. Maier, der an den Mauern von Alt-Paphos immerhin selbst zum Spaten gegriffen und Erstaunliches zu Tage geördert hat, gefallen lassen musste40. Sie als »over-pessimistic « abzutun41, wird ihr dagegen gewiss nicht ge37 Zu Euryalos und seinen Ausbauphasen s. nach wie vor Beste 1999, 150–159 mit älterer Literatur. Die einzelnen

Bauphasen werden dabei wahlweise auf der Basis einer freilich chronologisch in ihren Schrien kaum so detailliert fassbaren militärtechnischen Entwicklung oder in Anlehnung an geeignete Herrscherpersönlichkeiten wie Agathokles oder Hieron II. datiert. 38 Liv. 25, 25, 1–5. 25, 26, 1. 39 Zwei miteinander gewissermaßen verwandte Beispiele aus der Peripherie der griechischen Welt seien hier ge-

nannt: Das eine ist die im Bereich eines von den Persern kurz nach 500 v. Chr. erstürmten Tores teilweise ausgegrabene Stadtmauer von Alt-Paphos, der wirklich erstaunliche Erkenntnisse abzugewinnen sind, s. Maier 2008. Das andere, gleichsam spektakuläre Beispiel ist die ür den ionischen Bereich nicht unwichtige gewaltige Umfassungsmauer des lydischen Sardis, von der ebenfalls ein Teilabschni inklusive dem persischen Zerstörungshorizont des mileren 6. Jhs. v. Chr. ergraben worden ist, s. Cahill 2011a, 75–105; Cahill 2011b, 339–361. 40 Maier II 1961, 93–94; Maier 1982, 304. Zum Befund von Alt-Paphos s. o. Anm. 39. 41 So etwa McNicoll 1997, 1–2.

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recht. Vielmehr düre sie vor dem mitunter überschwänglichen Optimismus diverser Versuche jüngster Zeit bewahren, einzelnen Mauern oder ganzen Gruppen von Befestigungsanlagen mehr Erkenntnisse abzuringen, als es die dürige ellenlage erlaubt42. Die Beschäigung mit antiken Befestigungsanlagen bedarf insofern eines langen Atems und die Forschung sollte sich davor hüten, in allzu optimistischer Manier eine zu große Erwartungshaltung zu wecken. Selbstverständlich gilt das auch ür andere Beschäigungsfelder der Altertumswissenschaen.

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Im ersten Fall sind die Langen Mauern Athens das ema, wobei sich D. H. Conwell auf der Basis einer Handvoll ellen in langatmigen Spekulationen über die hinter diesen Befestigungen stehenden strategischen Konzepte Athens ergeht. Im zweiten Fall versucht R. Frederiksen auf ebenso fragiler ellenbasis und somit wenig überzeugend zu belegen, dass die griechischen Städte der archaischen Zeit durchgängig befestigt waren.

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Teil B

GESCHICHTE UND EPIGRAPHIK

Euböa in Sizilien – Apoikie oder Übersetzungsfehler? Linda-Marie Günther

Es gibt noch viele archäologische Geheimnisse, die auf ihre Entdeckung warten, und wenn auch Hans Lohmann einige ans Tageslicht gebracht hat, so bleibt doch noch viel zu tun. Ob es jemals – dem mit diesem kleinen Text Geehrten oder wem auch immer – gelingen wird, die griechische Kolonie Euböa in Ostsizilien zu ergraben, muss naturgemäß offen bleiben, doch würde sich die Autorin freuen, wieder einmal nicht Recht behalten zu haben: Sie glaubt nämlich, dass es ein ›Euböa in Sizilien‹ nie gegeben hat. Die folgenden Überlegungen fokussieren nicht zuletzt auf die historische Geographie, der sich der Geehrte jahrelang mit bewundernswerter Energie gewidmet hat – gerade auch bei den Stugarter Kolloquien der Ernst-Kirsten-Gesellscha, wo die Autorin 1996 erstmals Hans Lohmann begegnet ist. Der spätarchaische Tyrann Gelon von Syrakus1 hat nach der Überlieferung bei Herodot und Diodor die südostsizilische Stadt bedeutsam gemacht, nämlich indem er ihre Einwohnerzahl nicht nur durch die Einbürgerung von Söldnern, sondern vor allem durch Zwangsumsiedlungen in großem Umfang »ins Riesenhae« vermehrt hae. Von den letztgenannten Maßnahmen waren in einer ersten Phase die an der sizilischen Südküste gelegenen Städte Kamarina und teilweise Gela, die Heimatstadt der Deinomeniden selbst, betroffen, in einer zweiten Phase dann Städte im Bereich der Ostküste, die Gelon gewaltsam eroberte und zerstörte: Megara Hyblaia und das ominöse Euböa. Die üblicherweise dem Zeitraum 485–481 v. Chr. zugerechneten Ereignisse im Kontext der Vereinnahmung von Megara Hyblaia stellt Herodot so dar, dass die Nachbarstadt, eine Gründung der dorischen Megarer aus den ersten Jahren der sogenannten Großen griechischen Kolonisation in Ostsizilien, nach einer langen Belagerung fiel. Die dortigen ›Reichen‹ sollen den Krieg mit Syrakus begonnen haben; als sie ihn verloren, wurden sie vom Sieger entgegen einem ›gesunden Rechtsempfinden‹ dergestalt geschont, dass sie nicht, wie sie wohl geürchtet haben mochten, hingerichtet oder als Kriegsgefangene in die Sklaverei verkau wurden, sondern nach Syrakus umgesiedelt wurden. Der Demos dagegen, der anders als die Führungselite, nach Herodot mit dem Konflikt nichts zu tun gehabt hae, erli die harte Strafe in die Sklaverei außerhalb Siziliens verkau zu werden. Der Grund ür diese grausame Behandlung des Demos soll darin gelegen haben, dass Gelon den Demos zynischerweise ür eine »höchst unerfreuliche Wohngemeinscha« gehalten habe. Unmielbar vor diesem statement heißt es bei dem Autor zudem, das gleiche Schicksal häen auch die ›Euboier in Sizilien‹ erlien. Der entsprechende Satz (Hdt. 7, 156, 3) lautet: »τὠυτὸ δὲ τοῦτο καὶ Εὐβοέας τοὺς ἐν Σικελίῃ ἐποίησε διακρίνας.« Die Übersetzung von Josef Feix formuliert es wie folgt: »Das gleiche tat er auch mit den Euboiern in Sizilien, die er aussonderte.« Die opinio communis geht davon aus, dass es sich bei diesem Euboia um eine kleine Polis namens Euboia handelte, die Gelon ebenso wie Megara Hyblaia erobert hae. Gestützt wird diese Annahme durch eine Bemerkung bei Strabon (10, 1, 15 = 449), nach der Chalkidier aus Leontinoi in 1 Vgl. Berve 1967, 142–147; Luraghi 1994, 273–304.

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Sizilien eine Siedlung dieses Namens gegründet häen, die von Gelon zerstört und danach ein befestigter Platz (phrourion) der Syrakusaner geworden wäre. Von dieser Polis, nach Strabon also eine Tochtergründung von Leontinoi und eine Enkelgründung von Naxos, fehlt freilich bis heute jede Spur. Deutsche Althistoriker vermuteten das sizilische Euboia indessen »irgendwo in den Bergen südlich von Leontinoi, also unweit von Syrakus«, wo diese Siedlung »ein unbeachtetes Dasein gefristet haben muß […]« 2. Selbst in einem noch druckfrischen Buch über die Archäologie der ›kolonialen‹ Westgriechen ist lediglich die Rede von einer leontinischen Tochtergründung »di nome Eubea […] di incerta ubicazione« 3. Nun hae aber bereits im frühen 17. Jh. Ph. Cluverius4 das sizilische Euböa mit dem Städtchen Licodia Eubea identifiziert; andere Forscher suchten das ›sizilische Euboia‹ vorwiegend im Raum zwischen Syrakus, Leontinoi und Megara Hyblaia5. Indessen favorisiert die jüngere italienische Forschung Monte San Mauro di Caltagirone. Die letztgenannte Lokalisierung bezieht sich auf eine Siedlung im westlichen hybläischen Bergland, wobei die nächstgelegene bekannte und sicher identifizierte antike Stäe das südöstlich gelegene Akrai wäre (heute Palazzolo Acreide), eine syrakusanische Kolonie bereits des 7. Jhs. v. Chr. Auch deren etwa gleichaltrige Schwesterstadt Kasmenai würde in der Nähe zu verorten sein, jedenfalls vermutet man sie bei Monte Casale, einer 910 m hoch gelegenen Siedlung, die von Akrai rund 10 km Lulinie entfernt ist6. Die bei den Ausgrabungen auf dem Monte San Mauro di Caltagirone zu Tage geörderten Siedlungsreste der archaischen Zeit sprechen ür eine griechisch-sikelische Bevölkerung, die hier seit der zweiten Häle des 7. Jhs. v. Chr. gelebt haben düre7. Bevor sich die ese, dass es sich hier um Euboia handeln könnte, durchsetzte, sind Identifizierungen mit Galaria, Omphake und Maktorion vorgeschlagen worden, sikelische Orte im Einflussbereich von Gela, nicht zuletzt deswegen, weil der Monte San Mauro über dem Tal des Flusses Maroglio liegt, eines Nebenflusses des Gelas, an dessen Mündung um 680 v. Chr. Rhodier und Kreter ihre Stadt gegründet haen8. Die Identifikation der Siedlung mit dem chalkidisch-leontinischen Euboia geht auf Giacomo Manganaro zurück, der schon 1968/69 eher beiläufig auf diese Möglichkeit verwiesen9 und seither seine Vermutung zur Gewissheit verstetigt hae10. Die epigraphischen Argumente zugunsten der Identifizierung von Monte San Mauro di Caltagirone sind die Bronzetäfelchen mit Gesetzestexten aus jenem Fundort, deren chalkidische Prägung – anstelle einer dorisch-geloischen, die man häe erwarten sollen aufgrund der geographischen Position im Hinterland von Gela – eben auf eine Stadt wie Leontinoi als Metropolis verweist11. Bei genauer Betrachtung wir die Annahme, dass mit ›Euboia‹ im westlichen Hybläischen Bergland eine ionisch-chalkidische Bevölkerungsgruppe existierte, die Frage auf, wie sich jene so lange in einem Gebiet halten konnte, das die Syrakusaner seit dem 7. Jh. v. Chr. ganz systematisch durch ›Militärkolonien‹ gesichert haen. 2 Stauffenberg 1963, 106. 190. 3 La Torre 2011, 82. 4 Ph. Cluverius, Sicilia antiqua cum minoribus insulis ei adiacentibus (Leiden 1619). 5 Vgl. Camassa 1989; Frasca 1997, 409. 6 Di Vita 1956, 186–196; früher hielt man Monte Casale ür das antike Herbessos, doch dies wird inzwischen

auf dem wenige km südlich vom Monte Casale gelegenen, nur 823 m hohen Monte Erbesso angenommen. Auf derselben Linie liegt übrigens in ca. 22 km Entfernung (Lulinie) von Akrai das Städtchen Licodia Eubea. 7 Frasca 1997, 413; vgl. Frisone 1992. 8 Frasca 1997, 411. 9 Manganaro 1968, 201 Anm. 24: »[…] che potrebbe identificarsi, per ragioni epigrafiche, con Euboia […].« 10 Manganaro 1974, 21; Manganaro 1990, 132 Anm. 12. 11 Vgl. Cordano 1986.

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Die Gründung von ›Euboia‹ von Leontinoi aus wäre zeitlich parallel zu derjenigen von Kasmenai, d. h. nach 644 v. Chr. Mit der Anlage dieser Siedlung setzten die Syrakusaner offenbar ihr Ausgreifen auf das Hybläische Bergland fort, das mit der Gründung von Akrai (nach uk. 6, 5, 2, im Jahr 664 v. Chr.) begonnen hae und dem auch die Gründung von Kamarina an der östlichen Südküste zuzurechnen ist. Mit dieser haen die Syrakusaner offenbar (nach uk. 6, 5, 3, im Jahr 599 v. Chr.) auf die Expansion der Polis Gela ins sikelische Hinterland reagiert12. Wenn man also ür die zweite Häle des 7. Jhs. v. Chr. mit einer Rivalität zwischen Leontinoi und Syrakus sowie auch Gela rechnen wollte, müsste man die herkömmliche Vorstellung revidieren, dass die Interessenzone der chalkidisch-euböischen Siedler – in Naxos, Katane mit Kallipolis im Tal des Alkantara-Flusses, in Leontinoi südlich der Symaithus-Ebene und schließlich nördlich der Ätnaregion in Zankle und Himera – sich gerade nicht weiter in das Hybläische Bergland erstreckte13. Die Region, der Leontinoi gleichsam nur vorgelagert war, nämlich das Hybläische Bergland, fungierte eindeutig als Rückzugsgebiet der Sikeler: Die indigenen Stämme waren seit dem Eintreffen der griechischen Siedler, d. h. im späten 8. und frühen 7. Jh. v. Chr., aus ihrem herkömmlichen Siedlungsgebiet verdrängt worden; bis dahin haen sie um den Ätna herum und in den Küstenregionen auch des Hybläischen Berglandes gelebt, doch nun wichen sie einerseits den Siedlern von der ionischen Insel Euböa, andererseits den dorischen Siedlern aus Korinth und Megara. Eine weitere Überlegung kommt ür das frühe 5. Jh. v. Chr. hinzu: Häe ein ›sizilisches Euboia‹ – zumal als Tochtersiedlung von Leontinoi – in den Hügeln des geloischen Hinterlandes existiert, wäre es höchstwahrscheinlich bereits bei der massiven Expansion des Tyrannen Hippokrates von Gela unterworfen worden, der ja nicht nur Leontinoi erobert hae, sondern auch Kallipolis und dann Naxos an der sizilischen Ostküste, bevor er nach Zankle ausgriff14. Da auch der Zerstörungshorizont der archaischen Siedlung auf dem Monte San Mauro offenbar in das erste Jahrzehnt des 5. Jhs. v. Chr., mithin in die Zeit der Herrscha des Hippokrates (498/7–492/1 v. Chr.) verweist, ist es ür Vertreter der Identifikation dieser Stäe mit einem ›sizilischen Euboia‹ auällig, dass bei Herodot nicht auch Euboia unter den von diesem geloischen Tyrannen eroberten Städten genannt ist, sondern erst als Eroberung Gelons begegnet. Man behil sich aber mit dem Gedanken, dass Hippokrates nach Herodot (7, 155, 1) bei einem Feldzug gegen Hyblaia den Tod gefunden hae und dann Gelon seine Politik wiederaufnahm15. Eine solche ›Brücke‹ kann indessen nicht überzeugen, denn wenn die geloische Oberherrscha über das Hybläische Bergland bis nach Leontinoi durch das Ableben des Hippokrates und die nachfolgenden – wenngleich kurzfristigen – innenpolitischen Spannungen in Gela bis zur definitiven Machtübernahme Gelons so geschwächt gewesen wäre, dass ausgerechnet die Siedlung 12 Drögemüller 1969, 96, meinte, die Gründung markiere den Abschluss der dorisch-syrakusanischen Expansion

in das südwestliche Hinterland; wollte man von einer geloisch-syrakusanischen Rivalität ausgehen, ließe sich ggf. die Gründung von Akragas durch Gela i. J. 580 v. Chr. als Ausweichen auf die westlich von Gela gelegene Küstenregion verstehen. 13 Frasca 1997, 412, sieht in der Gründung von Euboia auf dem Monte San Mauro di Caltagirone geradezu die

Vollendung eines weiträumigen Siedlungsplans: »[…] doveva certamente servire a completare il progeo iniziale, assicurando ai Calcidesi il controllo di altri punti strategici nei territori acquisiti.« Man könnte dieser Perspektive zustimmen, wenn sich nachweisen ließe, dass die intensive Hellenisierung der Sikeler im Gebiet zwischen der Ebene südlich des Ätna und dem Südrand des Hybläischen Berglandes von Leontinoi aus ›gesteuert‹ war und den Sicherheitsinteressen dieser Siedlung diente. 14 Vgl. Hdt. 7, 154 f.; eine Erzählung der Ereigniszusammenhänge, die in der italienischen Forschung gleichsam

kanonisch geworden ist, bietet Maddoli 1980, 30–34. 15 Frasca 1997, 415.

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auf dem Monte San Mauro ihre Unabhängigkeit zurückerhalten häe, dann ist kaum verständlich, warum Gelon nicht schon um 490/89 v. Chr. die abgefallenen Untertanen, eben auch in ›Euboia‹, zurückerobert häe. Dies häe deutlich vor 485/4 v. Chr. geschehen sein müssen, denn der entscheidende Punkt im Bericht Herodots ist ja, dass auch die ›sizilischen Euboier‹ von Gelon so behandelt worden seien wie die besiegten Megarer, wodurch jeweils lokale Aristokratie nach Syrakus umgesiedelt, der einfache Demos aber in die Sklaverei verkau worden sei. Ausgehend von der geographischen Lage derjenigen Orte, die bisher ür eine Identifizierung mit einem ›sizilischen Euboia‹ vorgeschlagen worden sind, insbesondere Monte San Mauro di Caltagirone, wäre tatsächlich am ehesten anzunehmen, dass Gelon militärisch dort in seiner Zeit als Machthaber Gelas vorgegangen war. Dass Herodot die Behandlung eines unterworfenen ›Euboia‹ überhaupt erst und zudem in enigmatischer Verkürzung im Zusammenhang mit dem Schicksal von Megara Hyblaia erwähnt, bleibt aus dem gesamten Kontext unerklärlich, ebenso wie eine bis auf Gelons Eroberung im Zeitraum 485/480 v. Chr. reichende Persistenz einer ionisch-euböischen Gründung im Westen des Hybläischen Berglandes. Dass Gelon in Fortsetzung der Politik seines Vorgängers Wert auf die Kontrolle des Sikelergebietes gelegt haben düre, liegt dagegen auf der Hand; nicht zuletzt mag er vom Aufenthalt der aus Syrakus geflohenen Aristokraten, der gamoroi, gewusst und daher eine Gelegenheit erwartet haben, sich endlich auch der großen dorischen Nachbarin im Südosten Siziliens zu bemächtigen16. Kurz: Es muss derzeit wohl tatsächlich offen bleiben, wo ein ›sizilisches Euboia‹ zu lokalisieren wäre. Vor diesem Hintergrund ist doch noch einmal die Textstelle bei Herodot zu betrachten, zu fragen, ob sie wirklich das aussagt, was man aus ihr herauslesen zu können meint, und nach einer alternativen Auslegung des Passus von der ›Aussonderung der sizilischen Euboier‹ zu suchen. In Herodots Formulierung (7, 156, 2–3) zum Schicksal der ›Euboier in Sizilien‹ ist der entscheidende Punkt, dass der Sieger Gelon auch diese ›ausgesondert‹, ›aussortiert‹ habe zum Zwecke der nämlichen Behandlung, wie sie dem Demos von Megara Hyblaia widerfuhr, nämlich ür den Verkauf in die Sklaverei: »τὸν δὲ δῆμον τῶν Μεγαρέων, οὐκ ἐόντα μεταίτιον τοῦ πολέμου τούτου οὐδὲ προσδεκόμενον κακὸν οὐδὲν πείσεσθαι, ἀγαγὼν καὶ τούτους ἐς τὰς Συρηκούσας ἀπέδοτο ἐπ’ ἐξαγογῇ ἐκ Σικηλίης. τὠυτὸ δὲ τοῦτο καὶ Εὐβοέας τοὺς ἐν Σικελίῃ ἐποίησε διακρίνας. ἐποίεε δὲ ταῦτα τούτους ἀμφοτέρους νομίσας δῆμον εἶναι συνοίκημα ἀχαριτώτατον.« Eine akzeptable Übersetzung lautet17: »Das Volk der Megarer aber, das keine Schuld an dem Kriege trug und keine Strafe erwartete, ührte er ebenfalls nach Syrakus und verkaue die Leute dort als Sklaven zur Verschleppung aus Sizilien. Das gleiche tat er auch mit den Euboiern in Sizilien, die er aussonderte. Der Grund ür diese Handlungsweise gegenüber beiden war seine Überzeugung, das Volk sei eine höchst unerfreuliche Wohngemeinscha.« Man müsste also annehmen, dass auch in ›Euboia‹ eine ›kriegstreibende‹ Aristokratie existiert hae, die lediglich mit der Umsiedlung nach Syrakus ›bestra‹ wurde, und einen schuldlosen Demos. Diesen Gedanken spitzt die Übersetzung von A. Horneffer 16 Instruktiv sind die Ausührungen von Di Vita 1956, 195 f., zu dem um 1925 ins Metropolitan Museum New York

gekommenen Bronzeblech mit einer Inschri in ionischem Dialekt und megarischer Schri, das angeblich aus Akrai, nach Di Vita aber eher vom Monte Casale (= Kasmenai) stammt; inhaltlich geht es in dem epigraphischen Dokument allem Anschein nach um die Aufnahme von Megarern in die Bürgerscha der Syrakusaner. Dem von Guarducci 1949, 111 f., publizierten Zeugnis ist hingegen kein Hinweis auf ein Bündnis zwischen Megara und Kasmenai vor der Herrscha Gelons in Syrakus zu entnehmen. 17 Feix 1963. – Maddoli 1980, 40, bietet folgende Übersetzung: »[…] mentre il popolo megarese, che non era responsa-

bile di questa guerra e non si aendeva di dover soffrire alcun male, lo condusse anch’ esso a Siracusa ma lo vendee perché fosse portato fuori dalla Sicilia; il medesimo traamento riservò anche agli Eubeesi di Sicilia, dopo averli divisi in due categorie. E questo fece ad entrambe le popolazioni giudicando il popolo l’elemento più spiacevole con cui convivere.«

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noch weiter zu: »[…] während er die Volkspartei von Megara […] durch Sklavenhändler ins Ausland verkaufen ließ. Nicht anders verfuhr er mit den beiden Parteien im sizilischen Euboia […]« 18. Ich möchte hingegen vorschlagen, das von Herodot verwendete Verb διακρίνειν (diakrínein) zwar auf die Selektion bestimmter Personen zu beziehen, nicht aber, wie in den bisherigen Übersetzungen üblich, auf den sozialen Status der Betroffenen, mithin auf die Zugehörigkeit dieser Euboier zum Demos ihrer Polis, sondern auf ihre Stammeszugehörigkeit, nämlich zu den Euboier in Sizilien. Damit wären in den von Gelon nach Syrakus gebrachten Leuten solche Menschen zu sehen, die zwar in Megara Hyblaia in seine Hand fielen, die aber aus Städten wie Naxos, Katane, Leontinoi oder auch Zankle/Messana und Himera stammten. Möglicherweise handelte es sich bei den in der eroberten Stadt ›aussortierten‹ Personen in erster Linie um Kombaanten, die eigens zur Verteidigung der von Syrakus bedrohten Stadt herbeigekommen waren, doch dann würde sich die Parallele zum Demos von Megara Hyblaia nicht auf die Schuldlosigkeit beziehen können. Daher ist es m. E. denkbar, dass in jener dorischen Stadt ein Anzahl von ansässigen Fremden aus der euböisch-chalkidischen Nachbarscha lebte, sei es als Handwerker oder als Kaufleute. In jedem Fall gehörten diese Leute weder zum Demos der besiegten Stadt noch zu deren Aristokratie, also zu den hier von Herodot παχεῖς genannten wohlhabenden Grundbesitzern. Dass Gelon diese Personengruppe dann ebenso behandelte wie die ›einfachen‹ Bürger von Megara Hyblaia und nicht einen ›drien Weg‹ beschri, etwa sie in ihre Heimatstädte zurückschickte, düre die Zeitgenossen in gleicher Weise schockiert haben wie seine rüde Versklavung des Demos – sofern diese überhaupt historisch ist19. Der Grund ür ihre ›Gleichstellung‹ mit dem mehr oder weniger besitzlosen Demos düre darin liegen, dass auch die euböischen Fremden in jener Stadt keinen Grundbesitz haen, den Gelon annektieren konnte. Dass der syrakusanische Machthaber so verfuhr, dass er die Bewohner von Megara Hyblaia aus ihren Häusern und von ihrem Land vertrieb, »um das Land selbst zu bebauen«, es also dem syrakusanischen Territorium einzuverleiben, berichtet ukydides (6, 4, 2), der auch eine Datierung dieser Ereignisse bietet, nämlich »245 Jahre nach der Gründung der Stadt«. Das absolute Datum der Gründung von Megara ist indessen unbekannt; es wird aufgrund von ukydides’ Angaben über eine längere Phase vergeblicher Ansiedlungsbemühungen der Megarer, die etwa gleichzeitig mit den euböischen Siedlern von Naxos und den korinthischen von Syrakus in Sizilien eingetroffen waren, im Zeitraum 729–726 v. Chr. angenommen. Dabei rechnet man aber in erster Linie von den Jahren 485–481 v. Chr. entsprechend 245 Jahre zurück, so dass das Gründungsdatum des sizilischen Megara ganz von der Chronologie der Kriegührung Gelons als syrakusanischer Machthaber abhängt. Da der Bericht Herodots chronologisch nicht belastbar ist, spricht prinzipiell nichts dagegen, die Zerstörung von Megara Hyblaia erst in die Zeit nach Gelons Sieg über die Karthager bei Himera anzusetzen; dadurch würde die definitive Gründung der einzigen dorischen Kolonie nördlich von Syrakus um etwa zwei Jahre auf ca. 724 v. Chr. herabrücken. Der Gedanke, der auszuschließen scheint, dass der Krieg gegen Megara Hyblaia erst nach 480 v. Chr. stagefunden haben könnte, ist die Behauptung Herodots, der Tyrann habe möglichst schnell ›sein‹ Syrakus volkreich und blühend machen wollen und habe dies durch die genannten Zwangsumsiedlungen auch erreicht, 18 Der zugehörige Kommentar von Haussig 1955, 738 Anm. 207, zeigt m. E., wie leicht Voreingenommenheit das

Verständnis einer Textstelle behindern kann: »Sizilien war schon damals das klassische Land des Großgrundbesitzes. Die sogenannte Volkspartei, die in den meisten griechischen Städten die Macht errungen hae, war in Sizilien gegen Gelon unterlegen.« 19 Es ist jedenfalls darauf zu verweisen, dass ukydides (7, 4, 2) in seiner Bemerkung über die Zerstörung von

Megara durch Gelon nichts von einem derartigen Schicksal des Demos äußert.

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bevor am Vorabend der Xerxes-Invasion in Hellas die Gesandten des Hellenenbundes bei ihm vorstellig wurden, um seine Waffenhilfe ür die Griechen zu gewinnen20. Dieselbe Vorstellung, nämlich dass allein durch die Einbürgerungsmaßnahmen im Zeitraum 485–481/0 v. Chr. Gelon die Stadt und sich so stark hae machen können, dass die karthagischen Barbaren bei Himera zu besiegen waren, dominiert auch die moderne Forschung21. Dagegen sei die Hypothese gestaet, dass der Feldzug gegen Megara Hyblaia erst eine Folge des Sieges von Himera war, durch welchen in erster Linie Gelons Schwiegervater eron von Akragas profitierte, da er im Besitz der bedeutenden Küsten- und Handelsstadt an der sizilischen Nordküste bleiben konnte. Da in die niedergerungene Allianz, das Bündnis zwischen dem gestürzten Machthaber von Himera, Terillos, und dem Karthager Hamilkar, auch Anaxilaos von Messana und Rhegion involviert war, lag ür Gelon der unmielbare Vorteil des Sieges von 480 v. Chr. darin, nunmehr die Vorherrscha des Anaxilaos über die Meerenge von Messina gebrochen zu haben und damit selbst den Weg ür eine namhae Rolle von Syrakus als Seemacht einschlagen zu können. Im Rahmen eines solchen Szenarios bleibt zu fragen, was sich zwischen Gelon und Megara wirklich abgespielt haben könnte. Die dorische Stadt wenige Kilometer nördlich von Syrakus – und notabene Muerstadt von Selinunt im Südwesten der Insel, das in Konfrontation zu Akragas im Konflikt um Himera mit jener euböischen Stadt verbündet gewesen war – düre sich als antisyrakusanisches Bollwerk gesehen und daher von sich aus den Konflikt mit Syrakus um die Beherrschung der Seeroute in die Adria respektive ins Tyrrhenische Meer aufgenommen haben. Tri diese Rekonstruktion der Ereigniszusammenhänge um 480 v. Chr. das Richtige, so würde sich auch von dieser Seite her der Aufenthalt vieler ›Euböer‹ in der bedrohten Stadt erklären, nicht zuletzt dann auch das harsche Vorgehen Gelons gegen diese Leute, die zumindest aus seiner Perspektive keine Nachsicht verdienten, galt es doch die euböisch-chalkidische Liga an der sizilischen Ostküste zu zerschlagen. Nimmt man, wie hier vorgeschlagen, an, dass die Eroberung von Megara Hyblaia in die Zeit unmielbar im Anschluss an den Sieg bei Himera gehört, dann hat sich Gelon kaum lange seines Erfolges freuen können, denn er starb bereits 478 v. Chr. Sein Bruder und Nachfolger Hieron gewann im Jahr 474 v. Chr. in tyrrhenischen Gewässern bei Kyme eine Seeschlacht gegen die Etrusker22, was zeigt, wie rasch sich Syrakus als Floenmacht entwickelte. Die politische Eliminierung von Katane, der nach Megaras Ende nächstgelegenen Stadt an der Ostküste, durch Hieron, ist entsprechend als Fortsetzung der Aggressionspolitik Gelons zu verstehen: 476 v. Chr. wurden die Bewohner von Katane – und dem schon von Hippokrates von Gela botmäßig gemachten Naxos – nach Leontinoi umgesiedelt und die Stadt am Fuß des Ätna mit 10.000 Neusiedlern als Aitna neu gegründet23. Mit dieser Maßnahme war die Herrscha der Deinomeniden über die sizilische Ostküste gefestigt, die syrakusanische Floe dominierte nun die Straße von Messina und damit den Seeverkehr zwischen dem mileren bzw. östlichen und dem westlichen Mielmeer. Abschließend sei betont, dass die vorgetragenen Überlegungen spekulativ sind. Die Frage, ob es überhaupt ein ›sizilisches Euboia‹ gab, nach dem archäologisch zu suchen bliebe, wird hier mit einer anderen Interpretation der entscheidenden Textstelle bei Herodot negativ beantwortet. Die ›Euböer‹ stellten um 480 v. Chr. allem Anschein nach aus Sicht Gelons eine Gefahr ür seine maritimen Ambitionen dar; nicht wenige Bürger euböischer Kolonien im östlichen Sizilien, mög20 Hdt. 7, 157–162. 21 Vgl. z. B. Stauffenberg 1949, 188–192; z. B. Berve 1967, 143; Maddoli 1980, 41–46. 22 Vgl. Berve 1967, 147–150. 23 Vgl. Berve 1967, 149.

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licherweise auch Flüchtlinge aus dem schon um 490 v. Chr. von Gela aus unterworfenen Naxos, lebten in Megara Hyblaia, das sie gegen Gelon zu verteidigen halfen. Beim Sieg des syrakusanischen Machthabers wurden sie ebenso wie der Demos von Megara ›aussortiert‹ und einem härteren Schicksal überlassen, als die ›Reichen‹ der eroberten Stadt, die eine neue Heimat (und neues Bürgerrecht) in Syrakus fanden.

Literatur Berve 1967: H. Berve, Die Tyrannis bei den Griechen (München 1967). Camassa 1989: Bibliografia topografica della colonizzazione greca in Italia e nelle isole tirreniche 7 (Pisa 1989) 391–397 s. v. Eubea di Sicilia (C. Camassa). Cordano 1986: F. Cordano, Le leggi Calcidesi di Monte San Mauro di Caltagirone, Miscellanea greca e romana 10 (Rom 1986) 33–60. Di Vita 1956: A. Di Vita, La Penetrazione siracusana nella Sicilia sud-orientale alla luce delle più recenti scoperte archeologiche, Kokalos 2, 1956, 177–205. Drögemüller 1969: Kl. Pauly 3 (1969) 96 f. s. v. Kamarina (H.-P. Drögemüller). Feix 1963: J. Feix (Hrsg.), Herodot Historien (München 1963). Frasca 1997: M. Frasca, È anonima la cià sicula-greca di Monte San Mauro di Caltagirone?, PP 52, 1997, 407–417. Frisone 1992: Bibliografia topografica della colonizzazione greca in Italia e nelle isole tirreniche 20 (Pisa, Rom 1992) 487–498 s. v. Monte S. Mauro (F. Frisone). Guarducci 1949: M. Guarducci, Note di epigrafia siceliota arcaica, ASAtene 27–29, 1949–1951, 103–116. Haussig 1955: W. Haussig (Hrsg.), Herodot Historien (Übersetzung A. Horneffer) (Stugart 1955). La Torre 2011: G. F. La Torre, Sicilia e Magna Grecia. Archeologia della colonizzazione greca d’Occidente (Rom, Bari 2011). Luraghi 1994: N. Luraghi, Tirannidi archaiche in Sicilia e Magna Grecia (Florenz 1994). Maddoli 1980: G. Maddoli, Il VI e V secolo a. C., in: E. Gabba – G. Vallet (Hrsg.), La Sicilia antica II, 1 (Neapel 1980) 1–102. Manganaro 1968: G. Manganaro, Segnalazioni di epigrafia greca, Kokalos 14/15, 1968/69, 195–202. Manganaro 1974: G. Manganaro, La caduta dei Dinomenidi e il politikon nomisma in Sicilia nella prima metà del V sec. a. C., AnnIstItNum 21/22, 1974/1975, 9–40. Manganaro 1990: G. Manganaro, Per una storia della ‚chora Katanaia’, Stugarter Kolloquium zur Historischen Geographie des Altertums 4 (Amsterdam 1990), 127–174. Stauffenberg 1963: A. Graf Schenk v. Stauffenberg, Trinakria (München 1963).

›Kosmopolitische Vorstellungen‹ im 4. Jahrhundert v. Chr. und das Herrschasverständnis Alexanders des Großen in der Forschungsdiskussion Karl-Wilhelm Welwei

In einer kürzlich publizierten Untersuchung zur Entstehung antiker Vorstellungen von einer Gemeinscha der Menschheit in der Antike hat Daniel S. Richter darauf hingewiesen, dass in wissenschalichen Stellungnahmen zu dieser ematik Alexander der Große sowie Aristoteles und Zenon von Kypros (Zypern), der Begründer der Stoa, im Mielpunkt der Debaen stehen1. Dass es sich um ein nach wie vor aktuelles Problem handelt, bestätigen mehrere neuere Abhandlungen. Alexander Demandt vertri in seinem Alexanderbuch unter dem Stichwort »Menschheitsidee« die Auffassung, dass Alexanders Absicht »nicht nur die Gleichstellung, sondern eine regelrechte Verschmelzung der Völker« war, die »Asien mit Europa verbinden« sollte2. Hans-Joachim Gehrke betont mit Nachdruck, dass Alexanders Eroberungszug große Wirkungen auf »die griechische Vorstellungswelt« hae und das Weltbild der Griechen »schlicht größer« wurde3. Gehrke akzentuiert, dass Alexander eine Einheit der Makedonen und Perser in der ›Regierung‹ seines Reiches intendiert habe. Für Alexander Schenk Graf von Stauffenberg hat Alexander der Große nach »Vollendung der Welteroberung« und nach seiner Rückkehr aus Indien »an seiner großartigen Konzeption der Verschmelzung zwischen West und Ost, zwischen Makedonen- und Iraniertum, der Vermählung seiner Reichsvölker festgehalten«4. Gregor Weber verbindet mit dem Alexanderzug eine »Globalisierung der Welt«5, und Helmut Berve glaubte bereits 1927, dass Alexander seit seinem Indienfeldzug durch Anlegung von Emporien und Gründung befestigter Städte die »Weltverschmelzung« zu ördern suchte6. Fritz Schachermeyr vermutete 1973 in der Neuauflage seines Alexanderbuches von 1949, dass Alexander nach seiner Rückkehr aus Indien in Susa begann, seine künigen Pläne umzusetzen, und zwar »den Verschmelzungsgedanken, die neue Griechenlandpolitik, die Heeresreform«7. Gleichwohl vertrat Schachermeyr die Auffassung, dass »die Vorstellung einer absoluten Gleichheit der Menschheit als eine a priori erfolgte Voraussetzung« dem Kö1 Richter 2011, 11. 2 Demandt 2009, 378. 3 Gehrke 2011, 52; vgl. auch bereits Gehrke 1990, 29, wo er den »inneren Antrieb« Alexanders und dessen »in-

härente Besessenheit, ihn zu realisieren«, als eigentliche Erklärung ür das Wirken und die Erfolge des Makedonenkönigs bezeichnet. 4 Schenk Graf von Stauffenberg 1972, 155, nahm an, dass Alexander der Große »durch das Übernationale, Oiku-

menische, das ihm im Geist und Blute lag, … den Lauf der antiken Welt zu Vereinheitlichung im Weltreich und in der Weltreligion gewiesen und bestimmt hat«. 5 Weber 2007, 8. 6 Berve 1927, 331. 7 Schachermeyr 1973, 525.

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nig ebenso »ganz ferne« lag wie eine einseitige Begünstigung des Orientes. Alexanders Wirken habe vielmehr einer »organischen Vereinigung der beiden Welthälen zu einem neuen, größeren Ganzen« gegolten. Ziel des Königs sei es gewesen, die Oikumene »zum Weltstaat« zu wandeln, in dem aber Makedonen, Griechen und Iranier bevorzugt werden sollten8. Großen Einfluss auf die Alexanderforschung hat zeitweise William Woodthorp Tarn ausgeübt, ür den Alexander der Schöpfer der Idee einer »Einheit der Menschheit« war, die der Herrscher durch ein aufgeklärtes Königtum zu schaffen suchte9. Tarn verstand das vermeintliche Verschmelzungsprogramm als mutige Konzeption, die aber schon in den ersten Anängen fehlgeschlagen sei. Eine Gegenposition zu Tarns ese von einer Verschmelzungstheorie nahm A. B. Bosworth ein10, der die negativen Folgen der Herrscha Alexanders und die ›imperialistischen‹ Ziele des Makedonenkönigs betont. J. R. Hamilton geht davon aus, dass Alexander vor allem eine Kooperation zwischen Makedonen und Iranern ür unumgänglich hielt, aber auch genau wusste, wie weit er in diesem Punkt gehen konnte. So vermutet Hamilton, dass ür Alexander erst in der nächsten Generation eine Regierung seines Reiches mit einer »gemischten Elite« möglich sein könnte11.

Insgesamt gesehen hat aber Linda-Marie Günther mit Recht darauf hingewiesen, dass die omals in der Forschung postulierte Verschmelzungstheorie Alexanders des Großen obsolet ist12. Franz Hampl war der Auffassung, dass Alexander gar nicht prinzipiell eine weitreichende Verschmelzungspolitik verfolgt hat, sondern beispielsweise durch sein Konzept der »Mischheiraten seiner Soldaten« mit Frauen aus asiatischen Regionen bestimmte Gegensätze zu überwinden trachtete. Hampl sah in Alexanders Aktionen keine Zeichen einer wirklichen Neuordnung. Auch sei es nicht Alexanders Ziel gewesen, die griechische Kultur im Osten zu verbreiten. Vom Hellenentum habe ihn eine Welt getrennt13. Gerhard Wirth geht davon aus, dass Alexanders ›Auruch gegen Persien‹ 334 v. Chr. eigentlich »nur aus seiner Ausweglosigkeit« infolge »einer nicht mehr zu bewältigenden Kräekonstellation zu erklären« ist14. Alexander hat nach Auffassung Wirths durch seinen Vorstoß in das Zentrum des Perserreiches einen Punkt erreicht, an dem es unmöglich wurde, östliche und westliche Interessen noch weiter »miteinander zu vereinen«15. In Persepolis habe Alexander klar erkannt, dass er nunmehr ins Ungewisse vorstoßen müsse16. Aus der neuen Konstellation habe sich mit Blick auf das westliche Mielmeer eine Weltreichspolitik ergeben. Hans-Ulrich Wiemer hält Alexanders »Eroberungsstreben« ür grenzenlos. Dies sei die Ursache ür sein Konzept der »Weltherrscha« gewesen. Der Makedonenkönig habe sich zudem als »einzigartig und gogleich« gesehen sowie sich keiner Tradition verpflichtet geühlt und auch die Iraner als »geügige Werkzeuge« seiner Herrscha betrachtet. Er sei vermutlich überzeugt gewesen, dass er »von jedermann Unterwerfung« zu verlangen habe. Wiemer ist überzeugt, dass Alexanders Handeln auf »gewaltsame Aneignung (Beute) und organisierte Abschöpfung (Tri8 Schachermeyr 1973, 479 f. 9 Tarn 1968, 748–822. 10 Bosworth 1980, 1–21; vgl. Bosworth 2002, 64–97. 11 Hamilton 1987, 467–486. 12 Günther 2008, 312 f. 13 Hampl 1954, 124–126; vgl. Hampl 1958, 67. 80. 14 Wirth 1971, 142. 15 Wirth 1971, 148. 16 Wirth 1971, 151; vgl. auch generell Wirth 1993, 250 f. zur Situation Alexanders nach dem Fall von Persepolis.

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bute) vorhandenen Reichtums« abzielte17. Johannes Engels vermag keine tragähigen Konzepte »einer dauerhaen, von den unterschiedlichen Untertanen akzeptierten Herrschasordnung« in den von Alexander eroberten Räumen zu erkennen. Für Engels ist die ese einer »systematisch betriebenen Verschmelzungspolitik« zwischen den makedonisch-griechischen und persischen Eliten seines Weltreiches unzutreffend, und von einer »Verschmelzungspolitik aller Völker und Kulturen im Alexanderreich« 324/23 v. Chr. könne erst recht keine Rede sein18. Ein eindeutiges Urteil ällt auch Wolfgang Will, der zu dem Schluss kommt, dass »originäre politische Ziele Alexanders … schwer zu erkennen« sind und ein Gesamtkonzept nicht zu sehen ist. Mit der Idee der »Weltherrscha« sei Alexander erst in Babylon bekannt geworden. Dass er sein Reich immer mehr erweitern wollte, hält Will als Indiz ür Größenwahn und innere Hilflosigkeit19. Robin Lane Fox erinnert daran, dass Alexander auf dem Marsch durch die Gedrosische Wüste »Tausende der Männer«, die seine Kombaanten waren, in den Tod geührt hat20. Christian Marek lässt die Frage offen, »wie der König ein Reich von Indien bis an die Adria organisiert häe«21. Malcolm Errington schließt nicht aus, dass die Makedonen in seinem neu entstehenden »Vielvölkerstaat« aufgehen konnten22. Paul Cartledge glaubt, dass Alexander die Jagd als Metapher ür unsterblichen Ruhm angesehen habe, um in der Verfolgung dieses Zieles bis an das Ende der Welt zu gelangen. Auf dem Weg dorthin habe er freilich »zigtausende Menschen und Tiere zur Strecke gebracht«23. Wichtige Beiträge zu der hier zu erörternden Problematik hat Josef Wiesehöfer geliefert, der in Betracht zieht, dass achaimenidische Vorstellungen von der gölichen Erwählung des Herrschers und des Anspruchs auf Weltherrscha und der herausragenden Stellung des Königs gegenüber der Aristokratie großen Eindruck auf Alexander gemacht habe und der Sieger über Dareios III. durch Respektierung einstiger Größe der Perser ihren Stammesadel und die weitere Bevölkerung zu gewinnen suchte24. Wiesehöfer hebt ferner hervor, dass Alexander bereits vor dem Tod des Dareios sich »achaimenidisch« gerierte und sich gegenüber den Persern als ›Großkönig‹ achaimenidischer Art vorstellte25. Peter J. Rhodes räumt ein, dass Alexanders Reich ein Gebilde war, in dem Lehren von einer »Bruderscha der Menschen« entstehen konnten. Es gebe aber keine Hinweise daür, dass Alexander an eine Mischkultur glaubte oder über seine Pläne philosophierte. Alexander habe zwar in seiner Armee eine gewisse Mischung von Europäern und Asiaten vorgenommen, aber keine Politik der Verschmelzung der Kulturen oder der Verbreitung griechischer Kultur verfolgt26. Ernst Badian wies ebenfalls die ese zurück, dass Alexander an eine »Bru17 Wiemer 2005, 172 f. 185. Dies bedeutet freilich keine Annäherung an das Urteil von Barthold Georg Niebuhr,

der Alexander als »Komödianten und Räuber großen Stiles« bezeichnete. Gerhard Wirth hat aber mit Recht bemerkt (Wirth 1979, 39), dass Alexander »immer mehr an seinem Glanze verloren« hat. 18 Engels 2006, 6 f. 12–16. Vgl. bereits Andreoi 1957, 154, der zu dem Schluss kam, dass »Verschmelzungsversu-

che« Alexanders keine bedeutende Aktion waren. 19 Will 1986, 189–190. 20 Fox 1974, 548 f. 21 Marek 2010, 227. 22 Errington 1986, 107. 23 Cartledge 2010, 372. 24 Wiesehöfer 2005, 150. 25 Wiesehöfer 2007, 26 f. 26 Rhodes 2006, 377; vgl. auch Rhodes 2006, 382.

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derscha der Menschheit« geglaubt habe27. Ein insgesamt negatives Urteil über Alexander ällte auch A. B. Bosworth, indem er beispielsweise die Griechenlandpolitik des Königs als Autokratie bezeichnete, die eine Stimmung des »nationalen Widerstandes« geschaffen habe28. Es gibt freilich auch Darstellungen, in denen Alexanders Wirken aus achaimenidischer Sicht unter dem Aspekt von ›Kontinuität und Bruch‹ betrachtet wird. P. Briant bezeichnete Alexander als letzten Achaimeniden, weil unter der Herrscha dieser Dynastie bereits eine Reihe von Ethnien gestanden habe29. Hingegen suchte Hans-Erich Stier den angeblichen Ursprung des »Verschmelzungsgedankens« Alexanders aus der griechischen Geistesgeschichte abzuleiten30. Er beru sich auf ein Eratosthenesfragment bei Strabon (1, 4, 9), wo es heißt, dass Alexander nicht die Meinung derer billigte, die eine Einteilung der Menschen in Griechen und ›Barbaren‹ vornehmen wollten, sondern denjenigen zustimmte, die eine Differenzierung zwischen guten und schlechten Menschen vorzogen. Stier betrachtete die genannte Textstelle als Zeugnis ür eine »Beschränkung des Verschmelzungsgedankens auf Makedonen und Iraner«31. Dies ist aber eine ebenso vage Annahme wie die Vermutung von Fritz Taeger, dass der Makedonenkönig bei seinem Lehrer Aristoteles Gedanken des Sokratesschülers Antisthenes gehört haben könnte, wonach die Menschheit »in einer einzigen Herde unter dem vollkommenen Herrscher und Philosophen geeint werden« müsse32. Aristoteles erwähnt zwar (pol. 1284 a 15–17) die von Antisthenes erzählte Fabel von der Antwort der Löwen auf einen Antrag einer Versammlung der Hasen, die Gleiches ür alle Tiere fordern. Wir erfahren aber hier nicht das Ende der Geschichte, die eher auf eine Gehorsamspflicht der Untertanen anspielt. Eine derartige politische Organisationsform unter einem Despoten war freilich kein Ideal ür Aristoteles, der im Kontext (pol. 1283 b 13) gegen die Herrscha eines Einzelnen Bedenken äußert, selbst wenn jener (fiktive) Herrscher überragende Fähigkeiten besitzt. Aristoteles vertri übrigens an anderer Stelle die Auffassung (pol. 1281 a 40–67), dass die »Vielen« sozusagen im Kollektiv besser entscheiden als die »Wenigen« oder ein Einzelner, d. h. ein Monarch33. Allerdings weist Aristoteles (pol. 1285 a 10–14) auch darauf hin, dass Agamemnon in der Ilias (2, 391–393) gesagt haben soll, er sei im Felde Herr über Leben und Tod. Bekanntlich waren die epischen Helden ür Alexander Vorbilder im Kampf. Es ist indes nicht bekannt, ob Aristoteles in seiner Zeit als Erzieher Alexanders (343–340 v. Chr.) mit seinem Schüler über die zuletzt genannte Textstelle in der Ilias diskutiert hat. Entgegen einer ese von Fritz Schachermeyr ist es auch nicht möglich, aus dem an Alexander gerichteten 5. Brief des Isokrates Rückschlüsse auf die Erziehung Alexanders durch Aristoteles zu ziehen34. Isokrates versichert hier, er habe gehört, dass Alexander, der damals 14 Jahre alt war, Freund der Menschheit, der Athener und der Philosophie sei (Isokr. Ep. 5, 2: philanthropos, philathenaios, philosophos). Schachermeyr berief sich zudem auf Isokrates (5, 154), der Philipp II. riet, den Hellenen ein Wohltäter, und den Makedonen kein Tyrann, sondern ein (wahrer) König zu sein sowie das übrige (Menschen-)Geschlecht von der barbarischen Despotie zu befreien und unter die Fürsorge der Hellenen zu stellen. Pierre 27 Badian 1958, 425–444. Zum Alexanderbild Badians vgl. auch DNP I (1996) 467–475 s. v. Alexander (E. Badian)

sowie Badian 1976, 279–303 (mit einem Forschungsüberblick). 28 Bosworth 1994, 859. 29 Briant 1979, 1375–1414; dazu Richter 2011, 15. 30 Stier 1950, 261–269. 31 Stier 1950, 263 f. 32 Taeger 1957, 212. 33 Vgl. auch Long 2005, 164–201, hier 177. 34 Schachermeyr 1976, 50 f.

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Briant hat 1979 in seinem schon erwähnten Artikel35 darauf hingewiesen, dass die persische Dynastie der Achaimeniden Strategien zur Kontrolle der ethnisch und kulturell unterschiedlichen Untertanen entwickelt hae, aber an der Entstehung eines ›melting-pot‹ in ihrem Machtbereich nicht interessiert war. Diese Organisationsform konnte Alexander in der relativ kurzen Zeit seiner Herrscha nicht neu strukturieren. Ebensowenig hat er geplant, eine dominierende Elite zu schaffen, die lediglich aus Makedonen und Griechen bestand. Wenig Beachtung hat in den Untersuchungen zum Alexanderreich indes das Problem der Sklaverei gefunden. Durch die sophistische Antithese von Nomos und Physis war eine neue Beurteilung der Sklaverei möglich geworden. Hinzu kam die Befreiung der messenischen Heloten von der Herrscha der Spartaner in ihrer Region 370/69 v. Chr. Nach dem Umsturz in Messenien hae der Gorgiasschüler Alkidamas aus Eleia (Aiolis) erklärt, dass die Goheit alle Menschen frei ins Leben geschickt habe und kein Mensch als Sklave geschaffen worden sei (schol. Aristot. rhet. 1373 b 18). Bereits Antiphon ›der Sophist‹, der wahrscheinlich mit dem athenischen Redner Antiphon (ca. 480–411 v. Chr.) identisch ist, war überzeugt, dass alle Menschen – Hellenen und ›Barbaren‹ – gleich sind36. Platon lässt zwar in seinem Dialog Politikos (262 c–e) einen Gesprächspartner des Sokrates die übliche Differenzierung zwischen Hellenen und ›Barbaren‹ kritisieren, aber zugleich auch die Annahme zurückweisen, dass die ›Barbaren‹ ein einziges genos bilden. Dies lässt aber keinesfalls auf einen ›kosmopolitischen‹ Standpunkt schließen, zumal jener Gesprächspartner in dem Dialog (Politikos 309 a) behauptet, dass unwissende Menschen, die in niedriger Denkungsweise beharren, in das Joch der Sklaverei gehören. Platon war aber in seinem Werk Politeia (435–436 a) überzeugt, dass die Bevölkerungen in anderen Regionen nicht die gleiche politische Gestaltungskra wie die Hellenen besitzen, die nach seiner Auffassung vor der Versklavung durch ›Barbaren‹ zu schützen sind (pol. 469 b–471 e). Aristoteles ist überzeugt, dass gewisse Menschen auch Sklaven von Natur sein können, sucht aber auch zu zeigen (pol. 1255 a 3–197), dass das allgemein geltende Siegerrecht gesetzwidrig sei, weil nicht akzeptiert werden könne, dass die Besiegten die Sklaven der Sieger werden. Er begründet dies mit dem Argument, dass Menschen, die von Natur aus Freie sind, in die Sklaverei gelangen können. Gleichwohl hält Aristoteles eine Freundscha zwischen einem Sklaven und seinem Herrn ür durchaus nützlich, wenn beide ihren rechtlichen Status von Natur aus verdienen (pol. 1255 b 5–15)37. Nach Aristoteles können Sklaven von Natur ihre größten Leistungen im Gebrauch des Körpers vollbringen (pol. 1252 b 5–9). Diese Menschen sind nach seiner Auffassung bei den ›Barbaren‹ zu finden. Er verweist hierzu auf Euripides (Iph. Aul. 1400 f.), wonach es richtig sei, dass Hellenen über ›Barbaren‹ herrschen. Auch Aristoteles rechtfertigt somit auf diese Weise die Herrscha über Sklaven und zieht hierdurch theoretisch die Konsequenzen ür politisches Handeln ebenso wie Isokrates (or. 5, 154), der Philipp II. auffordern wollte, möglichst viele ›Barbaren‹ politisch abhängig zu machen. Aristoteles erwähnt freilich auch, dass man im Barbarenland die Erfahrung macht, wie jeder Mensch dem anderen freundlich gesinnt sein kann (eth. Nik. 1155 a 21–22). Dennoch ist auch dies nicht als Ansatz oder als Vorstufe einer kosmopolitischen Betrachtungsweise zu verstehen. Der Mensch ist ür Aristoteles als Bürger ein »politisches Wesen« (zoon politikon) und kann als solcher nur in einer Polis, die eine Gemeinscha (koinonia) der Freien (pol. 1279 a 21) und der Gleichen (pol. 1328 a 36) ist, ein möglichst vollkommenes Leben ühren. Die Polis soll 35 Vgl. Anm. 29. 36 H. Diels – W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker II. Nachdruck der 6. Auflage 1952 (Zürich 1956), Antiphon

der Sophist fr. 44, 8, Col. 2, 10–12 (p. 353). Vgl. Timpe 2000, 218 f. 37 Klees 1975, 208.

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nach Aristoteles eine überschaubare Bürgerzahl haben (pol. 1327 a 18–19). Von den Völkern auf der bewohnten Erde stu er die Völker in den kalten Zonen zwar als mutig, nicht aber als verständig und als handwerklich bzw. künstlerisch geschickt ein, so dass sie gar nicht zur Gründung großer Herrschasverbände in der Lage sind (pol. 1327 b 23–29). Die Völkerschaen in Asien sind hingegen, so behauptet Aristoteles (pol. 1327 a 27–29), geistig geschickt und im handwerklichen und künstlerischen Bereich begabt, haben aber keinen Mut und werden fortwährend unterdrückt und versklavt. Auch Reflexionen dieser Art stimulierten zweifellos keine kosmopolitische Denkweise, die mit der Existenz der Sklaven ohnehin nicht zu vereinbaren war. Da die Sklaverei im Altertum nicht beseitigt wurde, hae in jedem ›Staat‹ der Antike von vornherein ein beträchtlicher Teil der Menschen keinen Anteil an der politischen Gemeinscha. Ebensowenig haen vermutlich Maßnahmen Alexanders in seinem Herrschasbereich Einfluss auf Zenon aus Kition und die frühe Stoa. Zenons Politeia liegt allerdings nur in Fragmenten vor. Daniel S. Richter weist aber wohl mit Recht darauf hin38, dass die genannte Schri ebenso wie Platons Politeia an der Polisordnung orientiert ist und eine idealisierte Form des griechischen ›Stadtstaates‹ darstellt. In der eorie soll der wahre Bürger (polites) nämlich ein tugendhaer Mensch sein39. Zenon, der um 333/32 v. Chr. geboren wurde, hat in Athen bekanntlich in der Stoà poikile seine esen vertreten. Nach Diogenes Laertios (7, 2–4) soll er sich zuerst den Lehren des Kynikers Krates angeschlossen haben, unter dessen Einfluss er offenbar seine Politeia konzipiert hat40. Oswyn Murray hat treffend hervorgehoben, dass Zenons Darstellung des Polisstaates zwar zugleich einen »Weltstaat« repräsentiert, weil die Bande der homonoia (»der gleichen Gesinnung«) die verstreuten individuellen Weisen so zusammenschließen, als wären sie in einem idealen Staat vereint41. Zenon stand aber nach Murrays ese in der Tradition griechischer politischer eorien, während Alexander Anspruch auf Weltherrscha erhob und dieses Ziel rücksichtslos zu erreichen suchte. Nach Plutarch sollen zwar die einzelnen Stadtstaaten (Poleis) oder Völker ihr eigenes Rechtssystem (idia dikaia) haben42, doch sollen die Menschen eine gemeinsame Ordnung (kosmos) bilden und gleichsam wie eine Herde unter einem Gesetz (Nomos) weiden. Plutarch behauptet, dass Alexander d. Gr. in seinen Aktionen dem Prinzip (Logos) Zenons folgte. Dieser Zusatz Plutarchs ist indes aus späterer Sicht geschrieben worden. Daher geht Murray davon aus, dass Zenon das Ideal einer Polis der Weisen beschreibt, die potentiell zwischen den real existierenden politischen Gemeinwesen der Oikumene besteht und insofern die wahre Polis darstellt43. Daniel Richter versteht demgegenüber Plutarchs Ausührungen zu diesem ema als universalen stoischen »cosmopolitanism«, der faktisch alle Menschen umfasst44. Hiervon unterscheidet er die Polis der Weisen bei Eratosthenes, zu der nur die moralisch vollkommenen Menschen zählen. Andere Vorstellungen von einer übergreifenden Gemeinscha hae Diogenes von Sinope, den bekanntlich Alexander in Korinth aufgesucht haben soll. Diogenes soll sich selbst als kosmopolites bezeichnet (Diog. Laert. 6, 63) und dementsprechend die wahre Politeia als Gemeinscha im 38 Richter 2011, 65. 39 Richter 2011, 64 f. 40 Vgl. DNP XII, 2 (2003) 744 s. v. Zenon von Kition (B. Inwood). 41 Murray 2005, 213. 42 Plut. Alex. Fort. 329 a–b. 43 Murray 2005, 212. 44 Richter 2011, 80.

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Kosmos, in der ganzen Welt, verstanden haben. Ob Diogenes den Begriff kosmopolites geprägt hat, muss allerdings dahingestellt bleiben. Mit den skizzierten eorien und Utopien ist Alexanders Weltherrschasanspruch – wie gesagt – nicht zu vergleichen. Alexander hat ein gewaltiges Gebiet erobert, und die Repräsentanten der von ihm beseitigten Dynastie der Achaimeniden haen sich als Herrscher »dieser Erde« oder »dieser großen Erde« verstanden. Sie bezeichneten sich auch als »Könige vieler Länder« oder sogar als »Könige aller Länder« und haen insofern ein universales Herrschasverständnis. Insofern betrachteten sie sich als Herren eines »Weltreiches«45. Spätestens nach dem Tod des Dareios wurde deutlich, dass Alexander die Nachfolge der Achaimeniden antreten wollte46. Zuvor war er bereits als Befreier der Griechen in Kleinasien und der Lyder aufgetreten, die anstelle der ›Tribute‹ an den Perserkönig freilich nunmehr ›Abgaben‹ an den makedonischen Herrscher zu zahlen haen. Wo Alexander es ür erforderlich hielt, wurden makedonische Besatzungen stationiert, und wo er auf Widerstand stieß, wurden seine Marschwege gewaltsam geebnet. So sah er sich gezwungen, Tyros sieben Monate zu belagern (332 v. Chr.). Zahlreiche Verteidiger fielen im Verlauf der Kämpfe und während der Eroberung der Stadt. Die Frauen und Kinder ließ Alexander in die Sklaverei verkaufen, etwa 2000 wehrähige Bewohner wurden gekreuzigt. Während der Kämpfe um Tyros lehnte Alexander einen Vorschlag des Dareios III. ab, das Perserreich zu teilen. In Ägypten trat Alexander als neuer Pharao auf. Nach der Entscheidungsschlacht bei Gaugamela (331 v. Chr.) hielt er einen triumphalen Einzug in Babylon (Curt. 5, 1, 17–23). Er bestätigte sodann einen Perser, den dortigen Satrapen Mazaios, in seinem Amt47. Dies war ein Präzedenzfall. Auch in Susa konnte der persische Satrap sein Amt behalten, musste aber ebenso wie Mazaios hinnehmen, dass Alexander ihm einen makedonischen Militärbefehlshaber zur Seite stellte48. Diese Maßnahmen bestätigen erneut, dass Alexander bestrebt war, das gesamte Perserreich zu okkupieren. Er war daher faktisch darauf angewiesen, erfahrene und zur Kooperation bereite indigene Führungskräe zu gewinnen und in sein Projekt einzubeziehen, da seine makedonischen und griechischen Helfer nicht ausreichten49. In der Satrapie Persis, dem Stammland der Achaimeniden, stieß Alexander indes auf starken Widerstand an den sogenannten ›Persischen Toren‹, bis es dem Makedonenkönig gelang, die Verteidigungslinien durch ein Umgehungsmanöver zu überwinden. Anfang 330 v. Chr. wurde ihm die Residenzstadt Persepolis von dem dortigen Festungskommandanten übergeben. Die in der literarischen Überlieferung beschriebene vollständige Niederbrennung des Königpalastes als Zeichen ür den Abschluss des Krieges, der ursprünglich als Rachefeldzug wegen der 480/79 v. Chr. in Griechenland von den Persern angerichteten Zerstörungen proklamiert wurde, ist freilich fraglich. Nach dem archäologischen Befund sind nur an bestimmten Stellen Brandspuren nachweisbar, so dass vermutlich eine geplante und begrenzte Brandstiung angeordnet wurde. Die Stadt war jedenfalls nach 330 v. Chr. weiterhin bewohnbar50. 45 Vgl. Heinrichs 1987, 487–540. 46 Kienast 1987, 320 f. 47 Klinko 2005, 454. 48 Klinko 2005, 429 Anm. 16; vgl. Diod. 17, 65, 5; 17, 107, 1; Curt. 5, 2, 8–10, 17. 49 Dies besagt nicht, dass in Makedonien keine Rekruten mehr zur Verügung standen; vgl. Fox 2011, 389. 50 DNP IX (2000) 604 s. v. Persepolis (H. J. Nissen). Vgl. Wiemer 2005, 114–116, zu den widersprüchlichen Angaben

bei Arr. an. 3, 18 und 6, 30 sowie ausührlich zu den Folgen Wirth 1993, 173–251.

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Nach der Einnahme von Ekbatana im Frühjahr 330 v. Chr. entließ Alexander die griechischen Kontingente in seinem Heer. Diejenigen Griechen, die bleiben wollten, konnten aber unter seinem Kommando als Söldner weiterhin dienen. Ein Einschni mit weitreichenden Folgen war die Ermordung des Dareios III., den Bessos, der Satrap von Baktrien, und seine Helfer etwa im Juli 330 v. Chr. töten ließen. Zahlreiche Makedonen und die noch verbliebenen Griechen hoen nunmehr auf ein Ende des Feldzuges, und im Frühjahr 329 v. Chr. sah sich Alexander gezwungen, makedonischen Veteranen und den thessalischen Reitern die Rückkehr in ihre Heimat zu gestaen (Arr. an. 3, 29, 5). Gleichwohl hat er aber seine inzwischen konzipierten Pläne neuer Eroberungszüge weiter verfolgt. Dies ührte zu schweren Kämpfen im Osten des ehemaligen Perserreiches. Vor allem in Baktrien und Sogdien stieß er auf hartnäckigen Widerstand. Das Problem ür Alexander und seine Armee lag dort vor allem darin, dass sie keine klare Vorstellung von den geographischen Verhältnissen in den Weiten des asiatischen Ostens haen und zum Beispiel nicht wussten, ob das Kaspische Meer ein Binnensee war oder zum östlichen Weltmeer gehörte51. Vor dem Indienfeldzug Alexanders glaubte man in der Umgebung des Makedonenkönigs, dass das Taurosgebirge eine Fortsetzung im Kaukasus finde und dann von dort in nicht allzu großer Entfernung der Indus und schließlich der östliche Ozean zu erreichen sei52. Vom Ganges hae man offensichtlich keine Kunde, und der Indus galt als Oberlauf des Nils. Alexander wusste sicherlich nicht, was ihn erwartete, als er 327 v. Chr. zum Feldzug gegen Indien aurach. Im Herbst jenes Jahres erreichte er den Indus, den er im Frühjahr 326 v. Chr. überquerte. Nach einer schweren Schlacht gegen den indischen Herrscher Poros erreichte er den Hyphasis, wo er dem Heer eine Pause gönnte, aber auch erfuhr, dass der Ozean noch weit entfernt sei und im Osten am Ganges ein Königreich existiere, dessen Herrscher ein starkes Heer und zahlreiche Elefanten ür einen Kampf zur Verügung habe (Arr. an. 9, 2, 3). Alexander wollte nunmehr auch dieses Ziel erreichen. Er soll davon ausgegangen sein (Arr. an. 5, 26), dass er von dort an den östlichen Ozean gelangen und sodann das Kaspische Meer ansteuern könne. Seine Truppen verweigerten jedoch den Übergang über den Hyphasis, und Alexander sah sich gezwungen, den Rückzug anzutreten, der über den Hydaspes, den Akesines und den Indus zum Ozean ührte. Den weiteren Zug ins ehemalige Zentrum des Perserreiches legten seine Streitkräe auf drei verschiedenen Wegen zurück. Ein Teil der Streitkräe und das Gros des Trosses zogen unter Führung des Krateros über die nördliche Route, die inzwischen erbaute Floe fuhr unter Nearchos auf dem Seeweg von Indien durch den Persischen Golf zum Tigris, und der größte Teil der Kombaanten durchquerte unter Alexander die Gedrosische Wüste und erli hierbei durch Hunger, Durst und körperliche Erschöpfung große Verluste (Plut. Alex. 66, 4–5). Im Frühjahr 324 v. Chr. trafen Alexander und Nearchos in Susa wieder zusammen. Im Osten hae Alexander sein Ziel nicht erreicht, und sein Heer war stark dezimiert (Plut. Alex. 66, 4–5). Vor seiner Rückkehr haen mehrere von ihm eingesetzte Satrapen eigene Interessen verfolgt. Sie wurden von Alexander rücksichtslos beseitigt. Der König selbst ließ in Susa prunkvolle Feste feiern. Spektakulär war die so genannte ›Massenhochzeit‹ in dieser Stadt. Alexander, der bereits mit Roxane vermählt war, heiratete eine Tochter des ermordeten Dareios III. sowie eine Tochter des früheren Perserkönigs Artaxerxes III. und zwang etwa 80 seiner engsten Gefolgsleute (Hetairoi), nach persischem Ritus Bräute aus den ›ersten Häusern‹ der Perser zu heiraten. Zudem mussten etwa 9000 makedonische Soldaten indigene Frauen heiraten, mit denen sie bereits während der Feldzüge Alexanders gelebt haen (Arr. an. 7, 4, 8; Plut. Alex. 70, 3). Noch während 51 Vgl. Wiemer 2005, 128. 52 Vgl. etwa Wiemer 2005, 127 Abb. 7.

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seines Aufenthaltes in Susa trafen dort etwa 30.000 junge Perser ein, die zuvor auf seine Weisung in der makedonischen Kampaktik trainiert worden waren53. Zudem gliederte er bewährte persische Reiter in seine Kavallerie ein. Diese Maßnahmen erregten den Unwillen seiner makedonischen Soldaten. Als Alexander im Sommer 324 v. Chr. etwa 10.000 makedonische Veteranen und Verletzte seiner Armee in Opis in ihre Heimat entlassen wollte, kam es zu einer Meuterei54. Er gab den Befehl, sofort 13 so genannte ›Rädelsührer‹ zu ergreifen und zu ertränken. Es gelang ihm, hierdurch die Meuterei zu unterdrücken. Durch eine Art Versöhnungsfeier suchte er dann die Soldaten zu beschwichtigen. Nach der Darstellung Arrians (7, 11, 8–9) soll er hierbei um göliche Hilfe ür Eintracht zwischen Makedonen und Persern gebeten haben. Da die anderen Völker in seinem Reich nicht erwähnt werden, wollte Alexander vermutlich zum Ausdruck bringen, dass seine Macht durch Eliten aus den beiden genannten Ethnien gesichert werden sollte55. Ferner gliederte er etwa 20.000 iranische Infanteristen (Bogenschützen und Schleuderer) in die makedonische Armee ein. In der Satrapie Persis regte sich freilich auch Widerstand gegen die als Errichtung einer Fremdherrscha geltende makedonische Okkupation (Arr. an. 6, 30, 1–2; Curt. 10, 1, 24–37). Inzwischen war Alexander mit der Vorbereitung einer neuen großen Aktion gegen die Arabische Halbinsel beschäigt. Zuvor hae er noch von Ekbatana aus ein Unternehmen gegen die Kossaier durchgeührt, die in schwer zugänglichem Gelände lebten und im Achaimenidenreich eine gewisse Selbständigkeit genossen und somit einen gewissen Handlungsspielraum besessen haen. Alexander wollte dies nicht mehr tolerieren und roete die Völkerscha regelrecht aus (Arr. an. 7, 15, 1–3; Plut. Alex. 72, 4). Der geplante Kriegszug gegen die Bewohner der Arabischen Halbinsel konnte indes nicht mehr stafinden. Alexander starb im Juni 323 v. Chr. Nach seinem Tod wurde nicht nur der schon weitgehend vorbereitete Feldzug gegen die Arabische Halbinsel nicht mehr durchgeührt. Auch alle weiteren Projekte Alexanders wurden storniert. Der neue ›Reichsverweser‹ Perdikkas ließ die Pläne vor der makedonischen Heeresversammlung vorlesen, die eine Durchührung der Unternehmungen ablehnte. Nach den Aufzeichnungen (Hypomnemata) Alexanders sollten 1.000 neue Kriegsschiffe gebaut und Feldzüge gegen alle Völker an den Küsten des westlichen Mielmeeres von Libyen bis Iberien sowie gegen die weiteren Küstengebiete bis Sizilien geührt werden (Diod. 18, 4). Es ist umstrien, ob oder inwieweit die diesbezüglichen Nachrichten bei Diodor zutreffend sind, doch sind die Projekte schwerlich allesamt völlig auszuschließen56. Als Zeugnis von zentraler Bedeutung zum Verständnis der Pläne Alexanders nach seinem Indienfeldzug gilt in der Forschung überwiegend das ›Gebet‹ des Königs nach der Niederschlagung der Meuterei seiner Soldaten in Opis. Der bei Arrian (7, 11, 9) überlieferte Text lautet: εὔχετο δὲ τά τε ἄλλα ἀγαθὰ καὶ ὁμονοίαν τε καὶ κοινωνίαν τῆς ἀρχῆς Μακεδόσι καὶ Πέρσαις. W. W. Tarn hat darauf hingewiesen, dass zwei Übersetzungen des Textes möglich sind57. Die erste Übersetzung würde lauten: Alexander »erbat die anderen Güter und Homonoia und Partnerscha in der 53 Diod. 17, 108, 1–3; Plut. Alex. 71, 1; Curt. 4, 7, 26. 54 Arr. an. 7, 8, 1–11, 9; Diod. 17, 108, 1–3; Plut. Alex. 71, 2–9; Iust. 12, 11, 4–12, 10. 55 Vgl. Wiemer 2005, 158 f. 56 Nicht berücksichtigt sind in diesem Konzept die Fiktion des Livius (9, 17–19) über den Ausgang eines möglichen

Krieges Alexanders mit Rom und die Gedankenspiele Toynbees (Toynbee 1969, 441–486) über einen anderen Verlauf der Geschichte, wenn Alexander länger gelebt häe. 57 Tarn 1968, 814.

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Regierung zwischen Makedonen und Persern«. Tarn betont, dass dies die übliche Wiedergabe des zitierten Textes ist. Er schlägt aber als zweite mögliche Version die folgende Übersetzung vor: Alexander »erbat die anderen Güter und Homonoia und ür Makedonen und Perser Partnerscha im Reiche«. In der ersten Version ist freilich der Terminus »Regierung« problematisch. Alexander häe schwerlich eine Partnerscha der Makedonen und Perser in der Herrscha toleriert. Im zweiten Vorschlag ergänzen sich Homonoia und Koinonia zweifellos, so dass »Eintracht und Gemeinsamkeit«, d. h. gemeinsames Handeln im asiatischen Herrschasbereich Alexanders angemahnt wird. Dass hiermit kosmopolitische Ideen zum Ausdruck gebracht wurden, bestreitet auch Tarn mit Recht. Er glaubt aber, es sei Alexanders Wunsch gewesen, »dass die verschiedenen Rassen miteinander in Einheit und Harmonie leben mögen« und »die gesamte Menschheit als ein Volk zu behandeln« sei. Dies sei nicht mit einem »kosmopolitischen Welt-Staat« zu vergleichen. Erst Plutarch (Alex. fort. 330 D) habe dem makedonischen König die Idee eines kosmopolitischen »Welt-Staates« zugeschrieben, in dem alle Menschen ein Volk bilden sollten58. Wir wissen indes nicht, ob Alexander seinen in einer Versöhnungszeremonie als Gebet geäußerten Wunsch als seine Zusage verstanden hat. Zu beachten ist zudem, dass Alexander nur vor einem Teil seiner Streitmacht gesprochen und offensichtlich keine näheren Einzelheiten zu einem angeblich von ihm konzipierten Plan erläutert hat. Die Ausührungen Diodors (18, 4, 4), wonach die beiden Kontinente Europa und Asien durch Mischehen und durch daraus sich entwickelnde Beziehungen zur Homonoia und zur gegenseitigen Zuneigung ühren sollten, können wohl kaum auf ein Projekt Alexanders zurückgeührt werden. Jene 9.000 asiatische Frauen, die sich während der Feldzüge Alexanders makedonischen Männern angeschlossen haen und auf seinen Befehl von den Soldaten geheiratet werden mussten, bildeten eine zu geringe Basis ür eine weitreichende Politik der ›Völkervermischung‹. In der Version des ›Gebetes‹ in Opis bei Plutarch (Alex. fort. I 330 E) heißt es zwar, dass allen Menschen Gemeinsamkeit, Frieden und Gemeinscha beschieden sein mögen. Dies ist aber ebenfalls kein Beleg ür kosmopolitisches Denken Alexanders, ür den die Menschen faktisch Untertanen in seiner Herrscha waren59. Die Aufnahmen iranischer Rekruten und anderer Soldaten aus Alexanders Herrschasbereich in die makedonische Armee war letztlich eine Notmaßnahme. Das Rekrutierungsreservoir in Makedonien war nicht erschöp, aber begrenzt und konnte ür den Dienst in Asien nicht weitgehend herangezogen werden, da auch Griechenland und Makedonien gesichert werden mussten. Die Zahl der asiatischen Soldaten in den Streitkräen Alexanders sollte freilich nicht überschätzt werden60. Im Übrigen duren die nach Makedonien entlassenen Veteranen ihre mit indigenen Frauen gezeugten Kinder und wahrscheinlich auch die Frauen selbst nicht nach Hause mitnehmen. Die ›Massenhochzeit‹ in Susa war somit aus verschiedenen Gründen schwerlich eine Aktion, mit der Alexander die griechisch-makedonische und die persische »Bevölkerung zu einer Einheit verschmelzen« wollte, wie einst Benedictus Niese angenommen hae, der zudem vermutete, dass Alexander »sich von den Makedonen ab und den Persern zuwenden« wollte61. 58 Tarn 1968, 782. 59 Tarn 1968, 815 f. 60 Hamilton 1987, 482–485. 61 Niese 1893, 165. 167. Vgl. auch Baltrusch 2008, 63, gegen die ese, dass eine ›Menschheitsverbrüderung‹ das

Ziel Alexanders gewesen sei.

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Es mag sein, dass Alexander aus besonderen Gründen unterscheiden wollte zwischen Makedonen und Persern einerseits und allen weiteren Völkern in seinem Herrschasbereich andererseits. Er war in Asien – wie gesagt – darauf angewiesen, Iraner als zusätzliche Elitetruppe in die makedonische Armee aufzunehmen, konnte aber auch ür die Bemannung seiner Floe nicht darauf verzichten, Griechen, Phoiniker, Karer und Ägypter anwerben zu lassen62. Dies kann aber nicht als ›Verschmelzungspolitik‹ bezeichnet werden, zumal Alexander gewissermaßen eine Art Rangordnung der Völker in seinem Machtbereich implizit voraussetzt, wenn das ›Gebet von Opis‹ sinngemäß überliefert ist. Gleichwohl ist dem ›Gebet‹ kein in die Zukun weisendes Programm zu entnehmen, da neben den Makedonen und Persern keine anderen Völkerschaen erwähnt sind. Insofern ist auch die 1939 von Hermann Bengtson vertretene ese verfehlt, Alexander habe ein öderalistisches Reich organisieren und die Struktur des Perserreiches übernehmen wollen63. Das Perserreich war kein öderativer Staat. Nach heutigem Sprachgebrauch ist als ›Föderalismus‹ eine Verbindung von politischen Personenverbänden zu verstehen, die durch einen Vertrag (foedus) sich zusammengeschlossen haben64. Aber auch von kosmopolitischen Vorstellungen Alexanders kann – wie gesagt – deshalb keine Rede sein, weil Diogenes von Sinope mit dem Terminus kosmopolites zum Ausdruck bringen wollte, dass er keiner Polis als Bürger angehören wollte. Mit dem Herrschasverständnis Alexanders, der göliche Verehrung seiner Person erwartete, ist diese Weltsicht selbstverständlich nicht zu vergleichen. Andererseits wissen wir nicht, ob Alexander überhaupt den Rat seines ehemaligen Lehrers Aristoteles zur Kenntnis genommen hat, er möge den Hellenen ein Hegemon (»Anührer«) sein, über die ›Barbaren‹ aber despotisch herrschen65. Alexander war jedenfalls darauf angewiesen, persische Eliten in die Organisation seines Herrschassystems einzubinden. Die Kehrseite der Medaille war freilich die rücksichtslose Überwindung jeglichen feindlichen Widerstandes im Verlauf der Kriegszüge Alexanders, die breite Blutspuren in den Kampfgebieten hinterlassen haen. Nicht weniger brutal war Alexanders Vorgehen gegen Widerstand in den eigenen Reihen. Die Beseitigung des (›schwarzen‹) Kleitos, der Alexander in der Schlacht am Granikos das Leben gereet hae, war eine schreckliche Tat im Rausche, die offenbar dadurch gerechtfertigt wurde, dass der König das Opfer im Nachhinein durch das Heer wegen Hochverrats verurteilen ließ. Besonders heimtückisch waren das Todesurteil gegen Philotas, den Führer der Hetairenkavallerie, und die Tötung des Parmenion, des Vaters des Philotas (Arr. an. 3, 26, 1–4). Unterlegene Feinde konnte Alexander mit unglaublicher Grausamkeit behandeln. Als Beispiel sei die ürchterliche Tötung des Batis genannt, der als Stadtkommandant von Gaza zwei Monate lang Alexander Widerstand geleistet hae66. In Griechenland war inzwischen ein ganz anderes Bild von einem idealen Herrscher entwickelt worden. Xenophon (mem. 4, 5) war überzeugt, dass Menschen, die sich nicht beherrschen, in der größten Knechtscha leben, und ür Isokrates (or. 2, 31–39) waren dikaiosyne (Gerechtigkeit) und sophrosyne (Selbstbeherrschung) die Grundlagen einer echten Herrscha. Die KleitosKatastrophe und die Philotas-Aäre sowie die Beseitigung des Kallisthenes, der die Proskynese 62 Wiemer 2005, 158 f. 63 Bengtson 1939, 172 (= 1974, 247). 64 Vgl. Siewert 2005, 18. 65 Aristot. Fr. 658 Rose; Plut. Alex. fort. 329 B. 66 Hegesias FgrHist 142 F 5. Vgl. DNP II (1997) 493 s. v. Batis (E. Badian).

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verweigert hae67, standen in krassem Gegensatz zu den Erwartungen der frühen so genannten ›Fürstenspiegel‹, und der gegen Alexanders Pläne vorgenommene Rückzug am Hyphasis war unumgänglich, weil die Soldaten nicht mehr ihrem König folgten, dessen geographische Kenntnisse sich als begrenzt erwiesen. Eine Folge dieses Defizits war die Katastrophe in der Gedrosischen Wüste. Auch nach der Rückkehr ins iranische Kernland gab Alexander seine weiteren Eroberungspläne nicht auf, obwohl ein großer Zug in den westlichen Mielmeerraum eine Überforderung des vorhandenen Kräepotentials bedeutet häe.

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Aristophanes, Platon und der Tod des Sokrates Didaktische Überlegungen zu einem klassischen Gegenstand in nachklassischer Zeit Justus Cobet

»Große geschichtliche Erscheinungen bleiben ein vager Besitz der Memoria, aber wo die Zun der Historiker sich ihrer annimmt, kommt ein Prozess des Forschens und Nachdenkens in Gang, der seiner eigenen Dialektik folgt und dabei durchkreuzt wird von den Impulsen immer neuer Gegenwarten. […] Aber das Erlöschen der Lebenskra eines geschichtlichen Phänomens und seine Chance, zum Objekt wissenschalichen Sezierens zu werden, stehen auch hier, wie so o, in einem direkten, kompensatorischen Verhältnis.«1

Im Jahr 399 v. Chr. verurteilte die Mehrheit eines Gerichtshofs von 501 Bürgern des demokratischen Athen den Sokrates zum Tode. Dieser schlug alle Möglichkeiten, sich der Situation zu entziehen und dem Tod zu entgehen, aus und trank den Schierlingsbecher. Die Anklage hae gelautet: »Sokrates handelt rechtswidrig, indem er die Göer, an die die Stadt ›glaubt‹ / die die Stadt ›anerkennt‹ [νομίζει], nicht anerkennt und andere, neuartige göliche / dämonische Wesen [δαιμόνια καινά] einzuühren sucht; darüber hinaus, indem er die Jugend verdirbt«2. Es sind die literarischen Zeugnisse Platons und in seinem Schaen die des Xenophon, deren Wirkung und Rezeption dieses Ereignis zu einem Schlüsseldatum der Philosophiegeschichte machten. Mit Aristophanes’ »Wolken« von 423 v. Chr. besitzen wir eine davon ganz unabhängige elle ür die historische Figur des Sokrates und ihr Wirken in der Öffentlichkeit Athens während der kritischen Zeit des Peloponnesischen Kriegs und der Entfaltung von Demokratie, Rhetorik und Sophistik. Platons Stilisierung seines Lehrers und Diogenes Laertios’ Philosophiegeschichte sind verantwortlich daür, dass wir seit dem Historismus periodisierend von »Vorsokratikern« sprechen3, weil erst Sokrates es gewesen sei, der an Stelle der Spekulation über die Natur (τὴν φυσικὴν θεωρίαν) über die Unterscheidung von schlecht und gut (κακόν τ’ α̉γαθόν) und die Fragen der Ethik philosophiert habe (τὰ η̉θικὰ φιλοσοφει̃ν: 2, 20 f.). Wie verhält sich dieser Umstand dazu, dass die Athener den Mann hinrichteten? Neben Homer gehören als »Figuren des Mythos« Aeneas und Antigone, allgemein als »Erbe der Antike«, nicht aber Sokrates oder Platon zu den soeben in drei Bänden vorgestellten 120 »Europäischen Erinnerungsorten«4. »Dennoch, Sokrates’ Tod steht als Erinnerungsort [sc. der 1 Timpe 2011, 127. 2 Zur Übersetzung aus Platon, Apologie 11/24b f., Xenophon, Apologie 10 und Memorabilien 1, 1, 1 und Diogenes

Laertios 2, 40 vgl. Fuhrmann 1986, 100; Hansen 1995, 16; Strothmann 2003. 3 Zur Geschichte des Begriffs knapp und klar Laks 2002 und Döring 2001, 683. 4 Den Boer u. a. 2012. Im griechischen Band der »Erinnerungsorte der Antike« gibt es einen Artikel »Platon und

Aristoteles – die Geburt der politischen Philosophie« (O. Höffe); vom Tod des Sokrates wird aber im Artikel

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westlichen Welt]: Für die Freiheit der Philosophie, des radikalen Denkens und Fragens, […] den Begründer der neuzeitlichen Philosophie«5. Wie und warum also sollen wir, die Leute von der Altertumswissenscha, über den Tod des Sokrates sprechen? Ohne Zweifel bildeten Sokrates und seine Hinrichtung lange Zeit einen klassisch leuchtenden Assoziationskern unter den von ihr verhandelten Gegenständen. Gehört Sokrates nun aber nicht mehr zu den Spitzen antiker Eisberge, die aus den Fluten der Zeit noch herausragen, zu den Bedeutung tragenden Gegenständen der kulturellen Tradition, die die kollektive Erinnerung im gesellschalichen Diskurs wach hält? Wenn das so ist, frage ich: Auf welche Weise, mit welchen Argumenten, unter welchen Perspektiven dürfen wir beanspruchen, ihn wieder auf die Bühne des kulturellen Gedächtnisses zu schieben? Im Hintergrund meiner Frage steht die Erfahrung des Wandels, den die Zugriffsweisen auf geschichtliche Gegenstände in der Lebens- und Wirkenszeit des hier zu Ehrenden durchgemacht haben. Während seiner Studienzeit wurde in der Altertumswissenscha viel über »Begriff und Sinn der Geschichte des Altertums« gesprochen6. Prominent waren dann der Ruf nach der »Geschichte als Sozialwissenscha« und nach »Strukturgeschichte« an Stelle von Ereignisgeschichte7, nach mehr eorie in der Geschichte8 und nach mehr Reflexion ihres Erkenntnisinteresses und Gesellschasbezugs9. Hinzu trat eine programmatische Öffnung der Fachwissenscha zur Didaktik. Jörn Rüsen hae in Bochum längst den Lehrstuhl »Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Fachdidaktik« besetzt, als unser hier Geehrter 1981 dort im Archäologischen Institut seinen Dienst antrat10. Rüsen formulierte eine »disziplinäre Matrix«11, die ich mir damals in einem produktiven Missverständnis12 als ein einfaches Dreiecksverhältnis in eigenen Begriffen zurechtlegte und aneignete: 1. die quellenkritisch angeleitete Rekonstruktionsarbeit der Fachwissenscha an historischen Sachverhalten; 2. die Epistemik des Rekonstruierens oder auch Reflexion von Methode und kognitiven Strategien; 3. die Didaktik als die Befassung mit der Einbeung in den gesellschalichen Diskurs und »Redekunst – zwischen Deklamation, Dialog und Dialektik« (F. Bücher) knapp berichtet: Stein-Hölkeskamp – Hölkeskamp 2010, 516–519. »Das europäische Geschichtsbuch« von Delouche spricht in einem Abschni »Die Sophisten und Sokrates« über den Prozess gegen den Philosophen (Delouche 2011, 71–73). 5 Breitbach 2005, 321; vgl. 341. 343. 6 Werner 1971 (Vortrag 1968); Meier 1970 (Vortrag 1966); Timpe 1973 (Vortrag 1971); Alöldi 1973; etwas früher

in der Klassischen Philologie: Hölscher 1965 (Vorträge1958–1964); Fuhrmann 1969 (Antrisvorlesung Konstanz 1968); ganz verspätet, vermutlich weil ohne Anteil an der Lehrerausbildung, auch wegen der Aura des Grabens im öffentlichen Diskurs ganz anders positioniert, die Klassische Archäologie: Altekamp u. a. 2001 (Kolloquium 1999). 7 Wehler 1973; Kocka 1977. 8 Faber 1971; Conze 1972; Baumgartner – Rüsen 1976. 9 W. J. Mommsen 1971. 10 Rüsen lehrte in Bochum seit 1974. Mit K. Bergmann, G. Schneider u. a. begründete er die Zeitschri »Geschichts-

didaktik. Probleme, Projekte, Perspektiven« (erschienen 1, 1976–12, 1987). 11 Rüsen 2002 sich selbst knapp zusammenfassend. Den Begriff übernahm er von Kuhn 1962: zuerst Rüsen 1976. 12 Und eher im Verständnis von Jeismann 1977: der »erweiterte Didaktikbegriff«, der auf den Gegenstand »Ge-

schichtsbewußtsein« ührt, bei Walz 1998, 699–705. Vgl. Pandel 1990.

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dessen institutionalisierte Lebenspraxis z. B. in Museen und dem öffentlichen Schulsystem13. Die Rezeptionsgeschichte der verhandelten Gegenstände verknüp als Forschungsgeschichte, die ein Problem offen hält, den ersten Punkt mit dem drien Punkt als der Befassung mit der Tradition des bedeutsamen Sprechens über den jeweiligen Gegenstand. Der sich in Darstellungen konkretisierende und objektivierende Historikerfleiß (historica diligentia)14 bringt diese Verhältnisse je in unterschiedlichem Maße in Anschlag. Inzwischen sind wir zu Spezialisten unter uns geworden; der notorische Ruf nach Interdisziplinarität ist eins der vielen Indizien daür. Im Alltag des Forschens gerät das Kontinuum der geschichtlichen Epochen aus dem Blick, so wie der traditionelle Zusammenhang der Disziplinen der Altertumswissenscha zur Forderung nach Interdisziplinarität mutiert. Den Zugang zu einem allgemeinen Publikum findet selbst die Archäologie nur noch, wenn sie Funde als Sensation oder das Lüen eines großen Geheimnisses ankündigt – oder wenn sie die Scherben des Schierlingsbechers findet, aus dem Sokrates trank15. Auch bei den ernst gemeinten Darstellungen bedeutender emen ür das allgemeine Publikum trennen große Verlage wie Beck oder KleCoa Text und Anmerkungen, weil der Blick auf die Belegstruktur einer Darstellung ür das Publikum zum Signal daür geworden sei, nicht gemeint zu sein. Die Didaktik ist aus ihrer Rolle als einer der drei Säulen der »disziplinären Matrix« wieder zurückgefallen in die isolierende Spezialisierung professionalisierter Vermilungsstrategien, die – von den Gegenständen abstrahierend – auf Kompetenzen ausgerichtet werden16. Auf ihre Wertigkeit verweist z. B. die aktuelle Entwissenschalichung der Lehrerausbildung aus dem Zusammenspiel gesellschalicher Entwicklungen und politischer Entscheidungen. Ich möchte dagegen an dieser Stelle festhalten an einem Verständnis von Didaktik, wie es in den 1970er Jahren aufleuchtete. Ich gehe also an der Figur des Sokrates der Frage nach: Wie verhalten sich methodenbewusste Rekonstruktionsarbeit und Bedeutungsgehalt des wissenschalich aufgesuchten und schließlich zur Geltung gebrachten Gegenstandes zueinander? Das Kapitel über »das kurze 4. Jahrhundert« beginnt der einschlägige Bochumer Altmeister KarlWilhelm Welwei in seiner neuen Griechischen Geschichte mit einem Abschni über den Sokratesprozess. »Das Todesurteil wird einerseits als Justizskandal oder sogar als Justizmord bezeichnet, andererseits aber aus dem Blickwinkel der damaligen Rechtsfindung als verständlich« oder sogar als »gerechtfertigt bewertet und dementsprechend nicht als ›Versündigung‹ der Athener an der Philosophie gesehen«17. »Überschaet wird das 4. Jahrhundert durch das Sterben des Sokrates von Athen«, hae Hermann Bengtsons Griechische Geschichte 1950 in den ersten Abschnien seines Kapitels über den »Niedergang der hellenischen Poliswelt« formuliert18. Noch 1986 sprach Manfred Fuhrmann, wie übrigens auch Welwei 1999, ohne Umschweifen von »Justiz13 Geschichtsdidaktik »als ein Wissen von Vermilungs- und Rezeptionsprozessen, deren spezifischer Gegenstand

Geschichte ist«, ihr ema also »Geschichtsbewußtsein«: die Herausgeber in der »Geschichtsdidaktik« 1, 1976, 1. 14 Augustinus, De civitate Dei 17, 1. 15 Lang 1978 zeigt Abb. 2 einen Plan der Athener Agora: »Sigma-marked locations indicate that ›Socrates was

here‹.« Im Text zeigt sie, in welchem der Räume im Plan Abb. 25 des (als solchem inzwischen unsicheren) Geängnisses Sokrates einsaß. 16 von Borries 2007. 17 Welwei 2011, 325, mit Angaben zur neueren Literatur in Anm. 1. 18 Bengtson 1950, 235 wie auch in der 5. Aufl. 1977, 254.

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mord«, Christian Meier von »Justizskandal«19. Paul Cartledge nimmt nun die entgegengesetzte Position ein und erklärt das Urteil gegen Sokrates gänzlich ür rechtens. Der Anklagepunkt Asebie, Golosigkeit20, sei nicht vorgeschoben, sondern angesichts der Untrennbarkeit von Religion und politischem Leben Ausdruck der ernsthaen und ehrlichen Besorgnis der Bürger um die Ordnung der Stadt und ihren Schutz durch die traditionellen Göer. Er geht so weit, von »einem Ritual der Reinigung und Wiedereingliederung« zu sprechen21. Einem solchen eindeutigen Urteil widerspricht Welwei mit dem Hinweis auf das knappe erste Abstimmungsverhältnis von 280 zu 220 Stimmen22. In der Bewertung des Urteils gegen Sokrates durch die Athener überwiegt in der neueren Literatur eine vermielnde Position, nach der zwar der Punkt der Asebie nicht gleichgültig war, doch in der besonderen Situation der Jahre seit 404 die politischen Hintergründe schließlich den Ausschlag gaben und die Entscheidung der Richter nachvollziehbar machen: die Erfahrung der Niederlage im Peloponnesischen Krieg 404, die folgende Anarchie und die äußerste Geährdung der Demokratie durch das blutige oligarchische Zwischenspiel der Dreißig Tyrannen 404–403, der anschließende Bürgerkrieg und die prekäre Amnestie von 403/401 durch die wieder hergestellte Demokratie. Darüber hinaus schien Sokrates den Kreisen der Dreißig nahe zu stehen, auch sich kritisch über das demokratische Erlosen der Ämter geäußert zu haben23. Doch auch Welwei zollt dem Gedanken des Fehlurteils seinen Tribut: »Die Laienrichter, die das Urteil zu ällen haen, besaßen zweifellos kein Verständnis ür die Dialektik und die subtilen Argumente, mit denen Sokrates seit Jahren die sophistischen Trugschlüsse zu widerlegen suchte und seine Vorstellung von einem tugendhaen Leben als höchster Daseinsform erläuterte.« Auch wussten Bürger und Richter »ohnehin mit seiner Berufung auf seine rätselhae innere Stimme (daimonion) wenig anzufangen«24. In der Sprache und den Koordinaten einer älteren Generation wurde Sokrates »in einer Zeit, in der sich die staatlichen, sozialen und ethischen Bindungen zusehends lockerten und auflösten, […] die Masse keine Ideale mehr kannte«, zum »Erzieher und Erwecker zur Wahrheit«, der »einen wenig zeitgemäßen ethischen Intellektualismus« lehrte25. Die Athener verstanden den Philosophen also nicht: Wir hören die Stimme des platonischen Sokrates und werden so zu dem quellenkritischen, auch, wie wir eben sahen, rezeptionsgeschichtlichen Problem geührt, das wir mit der Einordnung des historischen Sokrates haben. Den Sokrates vor 399 kennen wir authentisch nur – in einer etwas späteren, nicht vollendeten Neubearbeitung – als die Hauptfigur der in Aristophanes’ 423 in Athen aufgeührten Komödie »die Wolken«26. Dort repräsentiert er in der »weiser Seelen Denkfabrik« (φροντιστήριον 94) einen neuen Zugriff auf Natur und menschliche Gemeinscha: die Natur rational, ohne Göer, zu erklären und durch Redekunst das Recht zugunsten des überlegen Argumentierenden zu verdrehen; »nur drei Göer gelten, das Chaos, die Wolken, die Zungen« (423 f.). Im Streitgespräch zwischen dem gerechten und dem ungerechten Logos wird die gute alte gegen diese neue Erziehung ausgespielt. Der Plot endet in einer Katastrophe; der durch Sokrates irre geleitete Schüler zündet die Denkfabrik an: »Welch ein Wahnsinn (οἴμοι παρανοίας), die Göer warf ich weg ür 19 Fuhrmann 1986, 104. Welwei 1999, 256; Meier 1996, 29. 20 Dreßler 2010; Breitbach 2005, 333–338; Strothmann 2003. 21 Cartledge 2008, 61–87; Zitat 82. Vgl. Breitbach 2005. 22 Welwei 2011, 326. 23 Welwei 2011, 325–327; Cartledge 2008, 70 f.; Breitbach 2005, 325–329; Scholz 2000; Welwei 1999, 256 f.; Meier

1996, 28–30; Bleicken 1994, 295 f.; Fuhrmann 1986, 104–110. 24 Welwei 2011, 326 f. In derselben Richtung urteilt Günther 2008, 233. 25 Bengtson 1950, 235; Bengtson 1977, 254. 26 Dover 1968.

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Sokrates« (1476 f.). Wie weit wird hier Sokrates als die bekannte öffentliche Figur stellvertretend ür eine neue Intellektualität karikiert, dabei verzerrt, nicht verstanden? Es bleibt uns eine Unsicherheit in der Abgrenzung des historischen Sokrates von der Naturphilosophie eines Anaxagoras27 und den sophistischen Redelehrern, wie sie Aristophanes karikiert28. Gerne wird der französische Platoniker Léon Brunschvicg zitiert: »Tout contribue à faire de la connaissance de Socrate lui-même un thème d’ironie socratique. La seule chose que nous sachions sûrement de lui est que nous ne savions rien«29. Doch es charakterisieren die »Wolken« die als allgemeinen Hintergrund des Sokratesprozesses vorgestellte Umbruchzeit, die mit dem ür Athen katastrophalen Ende des Peloponnesischen Krieges 404 und seiner unmielbaren Nachgeschichte kulminierte, in großer sachlicher und zeitlicher Tiefe: »a manifestation of cultural change«30. Im weiteren Horizont einer »Kleinen Kulturgeschichte der Antike« leitet Klaus Bringmann das Kapitel »Sophistik, Rhetorik, Philosophie« ein mit dem Satz: »Demokratie und Geldwirtscha veränderten nicht nur die materielle, sondern auch die geistige Kultur«31. Auf dem Hintergrund von Krieg und Pest (6) und der Bedrohung durch Sparta (214–217) auf der einen, der Bedrohung durch Zins- und Tilgungstermine, Prozess und Pändung (13–23; 33–37 u. ö.) auf der anderen Seite entfalten Aristophanes’ Wolken eine ganze Kohorte von Gegensätzen: früher und heute, alt und jung (7 f.), Herr und Knecht (7), Land und Stadt, bäuerliche Genügsamkeit und städtischer Luxus, sparsam und verschwenderisch (41–55), einfach/arm und adlig/reich (48. 438), Mann und Frau (41–55), Vater und Sohn (passim), die Helden von Marathon und die verzärtelte Jugend (986 f.; 1010–1018), die Schule des Gymnasiums, der Palästra und das Herumtreiben auf der Agora und in den Bädern (991; 1002 f.; 1054 f.), züchtig gesenkte Blicke und schamloses Flirten (972–980), Selbstkontrolle und die Macht der Triebe (1071–1075); alte und neue Erziehung (die keine mehr ist: 916–919; 935–937; 961–986), der altmodisch-gewichtig-schwülstige Aischylos (1364–1366) und die heruntergekommenen Figuren des Euripides (921 f.; 1369–1372), die Materie von Vaters Brotkorb und der windige Geist der Denker (102–106), nützliche Praxis und graue eorie (169–173; 200–205; 239–246), nicht mehr die Göer legitimieren Recht und Gesetz (901–906), sie unterliegen der Willkür menschlicher Setzung (893–896; 1420–1455). Der Umgang mit Göern und Vätern, die beiden Anklagepunkte gegen Sokrates, bündeln all diese Gegensätze zum großen Bruch mit der Tradition32. Wenn Christian Meier in der Sprache seines Athenbuches von 1993 einen scharfen Strich zieht zwischen dem grenzenlosen Infragestellen der Tradition durch die Sophisten und Sokrates’ anspruchsvollem Fragen »nach objektiven Richtpunkten des Handelns« aus kritischer Distanz gegenüber dem überbordenden und dann gescheiterten ›Könnensbewußtsein‹ der Athener Demokraten33, folgt er Platon und übergeht er das quellenkritische Problem, das wir mit dem historischen Sokrates haben34. 27 Dover 1968, 149 f. zu den Wolken 368–411. 28 Breitbach 2005, 324 f.; Döring 1998, 141 f.; Bleicken 1994, 541 f.; Patzer 1993; Patzer 1987; Patzer 1975; Dover

1968, XLV–L. 29 Damit eröffnet Lang 1978. 30 Dover 1996, 164. Döring 1998, 157, verweist auf ukydides’ Darstellung der Destabilsierung aller moralischen

Traditionen anlässlich des Bürgerkriegs in Korkyra 427 v. Chr. als einen locus classicus (3, 82 f.). 31 Bringmann 2011, 90; zu »Demokratie und Geldwirtscha« prägnant 83–90. 32 Scholz 2000, 169–171. 33 Meier 1980. 34 Meier 1996, 25–28. Vgl. wie viele z. B. auch Bringmann 2011, 96.

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Scharf hebt Platon Sokrates von den Sophisten wie den Naturphilosophen ab. Er ist ihm Unterpfand seines Fragens nach Letztbegründungen von Wahrheit und Gerechtigkeit. Ausgangspunkt ür diese Rollenzuschreibung ist gewiss die Hinrichtung seines Lehrers durch die Athener. Platons »Verteidigung des Sokrates«, geschrieben etwa anderthalb Jahrzehnte nach dem Ereignis, ist daür das wirkmächtige ›Denk-mal‹35. Der Sokrates der Apologie stellt die Überlegenheit seines Wissens um das menschliche Nichtwissen der trügerischen Gewissheit seiner Mitbürger gegenüber und irritierte sie so (Kap. 5–10 / 20c–24a; Kap. 12 f. / 24d–26a). Der Vergleich mit den Fragmenten der Sokratesschüler Antisthenes, Aristipp und Aischines lässt Klaus Döring die Kontroverse darum, »wie es mit den menschlichen Erkenntnismöglichkeiten bestellt sei«, zum Ausgangspunkt ür Aussagen zum historischen Sokrates machen36. Der Sokrates der Apologie insistiert auf dem Nichtwissen, und wir können nicht wissen, wie weit seine dialektische Praxis im Leben darüber hinaus, wie dann bei Platon, davon ausging, sich und seine Gesprächspartner der Vorstellung einer verbindlichen Gewissheit annähern zu können und sie »so gut (βέλτιστος) und vernünig (φρονιμώτατος) wie möglich« zu machen (Kap. 26 / 36c)37; und ür sich zu wissen, was in der Lebenspraxis gerecht (δίκαιος) und was gut (ἀγαθός) sei (Kap. 16 / 28b). Als Übereinstimmung mit dem Sokrates der »Wolken« lassen sich immerhin benennen die elenktische Rhetorik, der durch sie allgemein ausgelöste Ärger und deren Faszination auf die Jüngeren – und die Zurückgezogenheit aus dem politischen Treiben der Stadt in die Philosophenwerksta. Platon zeigt uns in der Apologie einen Sokrates, der sein Selbstverständnis ohne Einschränkung dem Betrieb und den Institutionen der athenischen Demokratie gegenüber stellt, sie zwar gelten lässt und sich ihren Pflichten unterwir, sich aber im gleichen Atemzug ›philosophierend‹ unabhängig von ihnen erklärt (Kap. 17 / 28e); sein ›Standpunkt‹ liegt außerhalb der Politik, wenn auch mit dem Anspruch, von außen auf sie einzuwirken, und das unter Absehung der Lebensgefahr, die damit verbunden sein könne (Kap. 16–21 / 28b –32e). Mit dem Go in Delphi und dem persönlichen Daimonion gibt er zwei Instanzen an, die ihn, nicht aber die Athener, verpflichten38; solche Inspiration ist der Verallgemeinerung nicht zugänglich39. Der Sokrates der Apologie konstituiert seine Individualität prägnant als eine intellektuelle Instanz, die unabhängig ist von den Göern, die Allgemeinverbindlichkeit durch Tradition herstellten. Im Siebten Brief von 353 v. Chr. erzählt und erörtert Platon seine gescheiterten Versuche, mit den Tyrannen von Syrakus Politik zu gestalten40. Vor allem die Erfahrung der Wirren nach 404 v. Chr. und der Tod des Sokrates – »von dem ich mich fast nicht scheuen sollte zu sagen, dass er der gerechteste der damaligen Menschen war« (324e) – haen ihn zu der Meinung gebracht, frei sei die Stadt und lebte nach den besten Gesetzen (324a/b), durch Gerechtigkeit den Griechen zum Beispiel (335d), wenn Philosophen in die politischen Ämter gelangten oder die Machthaber selbst zu Philosophen würden (326a/b). Mit dem Siebten Brief hinterließ uns Platon das Zeugnis ür den endgültig enäuschten Rückzug der Philosophie aus der Politik41. 35 Heitsch 2004. 36 Döring 1998, 155 f. 37 Vgl. Döring 157 f. 38 Das Daimonion steht »in der Mie zwischen dem Äußerlichen der Orakel und dem rein Innerlichen des Geistes;

es ist etwas Innerliches, aber so, dass es als ein eigener Genius, als vom menschlichen Willen unterschieden vorgestellt wird«, definierte Hegel 1971, 495. 39 Der Jurist Breitbach markiert die dem entgegen gesetzte Perspektive der Institutionen durch die Gedankenfigur

der ›streitbaren Demokratie‹ (Breitbach 2005, 342 f.). 40 Knab 2006. 41 Trampedach 1994; Scholz 1998.

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Die Hinrichtung des Sokrates wurde durch Platon das Scheitern des Philosophen an der Gesellscha seiner Mitbürger. Er wurde zum Märtyrer um der Unbedingtheit der Wahrheitssuche willen. Durch den dramatischen Schluss der Wolken erscheint uns im Nachhinein diese Rolle vorbestimmt. Es sind frühchristliche Märtyrer und Apologeten, die uns die Spur zu einem typologischen Vergleich legen können: Wie die Athener einst den nach Wahrheit suchenden Sokrates als golos verurteilten, richteten die Römer die Christen, die in Christus den ganzen Logos erkannten, wie diesen teilweise schon Sokrates erkannt hae42. Wie schon die Gerechten und Philosophen vor ihm habe Jesus die Missgunst der Leute erregt, und wie die Athener Sokrates zu Unrecht verurteilten, häen einige Schurken auch ihren Heiland verurteilt43. Die Parallelen im Typus des Märtyrers, der zugleich der Stier einer unvergleichlichen Wahrheit ist, liegen auf der Hand44. Sokrates wie Jesus hinterließen keine Schrien. Die Überlieferung als die elle solcher Typisierung ist vermielt; Platon und die Schrien des Neuen Testaments interpretieren den Tod als die Beglaubigung und Erüllung eines Lebens, das zugleich die Lehre ist. Gegen den Anspruch dieser Lehre sind es auf dem Boden profaner politischer Beunruhigung Asebie und Blasphemie, die das Todesurteil herbeiührten. Wie beide Lehrer zwar in der Mie der Gesellscha wirkten, aber dies vom Rand gesellschalicher Geltung her taten, liegen die Instanzen ür den gelebten und gelehrten Gegenentwurf außerhalb des dieser Gesellscha traditionell Zugänglichen. Die christliche eologie, wie sie sich in der Antike seit den frühen Apologeten entwickelte, suchte den Anschluss an die nach Sokrates entfaltete Philosophie. Dennoch sind die Philosophie und, auch als (philosophisch inspirierte) eologie, die christliche Religion in der europäischen Tradition schließlich als Immanenz und Transzendenz die zwei konkurrierenden Instanzen ür den rechten Weg zur Wahrheit, die sich unabhängig verstehen von den kontingenten Vorgaben des praktischen, sagen wir, politischen Lebens. Seit dem 15. Jahrhundert machte der Vergleich Jesus – Sokrates immer wieder Schule45. Sokrates’ Vorbild, der Mitbürger »Nachdencken stutzig machen«46, lässt ihn zu einem Gewährsmann der Aulärung werden. Georg Friedrich Hegel verstand Sokrates als »welthistorische Person«, als den »Hauptwendepunkt des Geistes in sich selbst«. An die Stelle der »unbefangenen Silichkeit« des griechischen Volksgeistes habe er »die mit Reflexion verbundene Silichkeit«, d. h. »Moralität«, gesetzt. »Das Prinzip des Sokrates ist, dass der Mensch, was ihm Bestimmung [ist …], dass er dies aus sich zu finden habe«. Damit aber brachte er den Mitbürgern ins Wanken, »was der Vorstellung sonst fest war«. Die Athener waren also noch nicht so weit, so dass Sokrates’ Verurteilung aus ihrer Perspektive notwendig war. Doch habe sich durch ihn »der Weltgeist […] zu einem höheren Bewusstsein erhoben«47. Friedrich Nietzsche spielte dagegen den in Sokrates verkörperten Primat der Vernünigkeit gegen die Fülle des Lebens aus48, während Karl Raimund 42 Justins des Märtyrers zweite Apologie aus den 150ern n. Chr. Kap. 10 zitiert dabei aus Platons Apologie den

Anklagepunkt Asebie (Rauschen 1913). 43 Acta Apollonii 38–41 in der Übersetzung bei Baer 2007, 36: Apollonius wurde i. J. 184 in Rom hingerichtet. 44 Baer 2007 vermischt die typologische Betrachtung der Überlieferung mit der quellenkritischen Frage nach dem

historischen Sokrates, dem historischen Jesus. 45 Zugang zur ›Nachwirkung‹ verschaffen Spiegelberg 1964 und Döring 1998, 166–178. 337–341; vgl. Döring 2001. 46 Von Döring 1998, 173, zitiert aus dem Inhalt der Schri »Der teutsche Sokrates« von Nikolaus Ludwig Graf von

Zinzendorf (1732). 47 Döring 1998, 174 f. Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (1805–1830, veröffentlicht

1833–1836) zur »Philosophie des Sokrates« und zum »Schicksal des Sokrates«: Hegel 1971, 441–516 bzw. 496–516. Zitate 441. 443. 445. 480. 492 f.. 514. Vgl. oben Anm. 38. 48 Döring 1998, 175: »Socrates und die griechische Tragödie« (1869) war ein erster Entwurf zur »Geburt der

Tragödie aus dem Geist der Musik« (1872).

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Poppers Kritik an Platons autoritärem Dogmatismus Sokrates’ offenes Fragen als positive Folie nimmt49. Von Aristophanes über Sokrates’ Gespräche in Todeserwartung in Platons Dialogen Phaidon und Kriton zu Platons Siebtem Brief spannt der Dramaturg Friedrich Dürrenma die Motive seines Textes über den »Tod des Sokrates«. Darin übernahm Aristophanes auf Vorschlag Platons im Geängnis die Rolle des Sokrates und starb an dessen Stelle. Sokrates folgte mit Platon der Einladung des Tyrannen Dionys von Syrakus. Dieser ließ den Platon wegen seiner unpassenden Fragen gefangen setzen, mit Sokrates aber zechte er. Einst hae er geschworen, »jeder müsse sterben, der ihn unter den Tisch trinke«. Schweigend nahm Sokrates den Schierlingsbecher – als Spektakel im eater von Syrakus. Für ihn sprach dort seine Frau Xanthippe: »Vor allem verstand Sokrates, sich selber zu sein«50. »Die Erinnerung an den Prozess des Sokrates 399 v. Chr. schuf zwei Angeklagte: Sokrates, der sich vor seinen athenischen Richtern zu verantworten hae, und das athenische Gericht, das sich ür seinen Spruch vor der Weltgeschichte zu verantworten hat«51. Aus didaktischer Perspektive formulierte Bodo von Borries bündig: »In den letzten Jahrzehnten hat das Fach Geschichte seine Fachspezifik immer deutlicher herausgearbeitet. Diese liegt nicht im Gegenstand ›Vergangenheit‹, sondern in der Operation der ›historischen Sinnbildung‹« als einer spezifischen, nicht austauschbaren »Zugriffsweise auf Welt«52. Das Reflexionspotential der durch Platon in Gang gesetzten Rezeption des Ereignisses von 399 ist sowohl der Weiterarbeit am Gegenstand geschuldet, ür den die Philosophie einsteht, als auch es im besonderen zur Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Politik gehört. Ohne Zweifel haben wir es mit einem europäischen Erinnungsort erster Ordnung zu tun. Das inzwischen ›westliche‹ – früher häen wir gesagt: ›abendländische‹53 – Vernunprojekt54 steht in dieser Konstellation in Spannung zu den Kontingenzen des wirklichen Lebens. Dies hae der Philosoph Hegel den Athenern zugestanden. Der Jurist Breitbach brachte die Perspektive der »streitbaren Demokratie« in Anschlag. Die Kontingenzen überzeichnete der Dramaturg Dürenma mit poetischer Phantasie. Die von der kritischen Wissenscha aus Rezeption und Überlieferung angeeignete Frage nach dem historischen Sokrates bringt ellenkritik und Rekonstruktion der Umstände als ein spezifisches Medium in die Reflexion ein. Hinter solchen Zuwachs ällt Delouches neues »Europäisches Geschichtsbuch« weit zurück: »Die Anklage [gegen Sokrates] war haltlos«55. Die didaktische Reduktion geriet so zu einer dichotomisch reduzierenden Perspektive und schlägt das ganze Reflexionspotential in den Wind. Ob die Rückbindung des »Historikerfleißes« in einen durch den Status als ›Erinnerungsort‹ angezeigten oder auch evozierten Diskurs gelingt, entscheidet sich an der Kommunikationskunst des Elfenbeinturms, also daran, wie weit dessen Einwohner sich im Interesse seines Gesellschasbezugs ihrer Rolle in jenem Dreieck von Rekonstruktionsarbeit, Methodenreflexion und Didaktik bewusst sind und sich darin zu bewegen wissen.

49 Döring 1998, 178: »e Open Society and Its Enemies. e Spell of Plato« (1945). 50 Dürenma 1990, Stoffe VII: Das Haus 144–156, ein Text nach einem Dramenplan von 1973 und Ideen von 1984

niedergeschrieben 1990 (S. 268). Zitate 153. 154. 51 Breitbach 2005, 321. 52 Von Borries 2007a, 329. 53 Bengtson 1950, 236; Bengtson 1977, 254 f.: »Das Erlebnis des Sokrates aber lenkte [Platons] Streben in eine neue

Richtung, es formte ihn zu einem der größten Erzieher der Menschheit. […] es war die größte Umwälzung, die das abendländische Denken vor dem Aureten Jesu Christi erfahren hat.« 54 Gethmann 2006 spricht gleichsam ikonisch wie selbstverständlich von dem ›abendländischen Vernunprojekt‹. 55 Delouche 2011, 72.

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Modelling long-term social change in the landscape: case studies from Greece∗ John Bintliff

Hans Lohmann has been an immense inspiration for everyone who wishes to reconstruct the ancient landscapes of Greece and Turkey, with his pioneering explorations of rural Aica and the country hinterland of ancient Miletos. is paper in his honour will present a number of models for the relationship between long-term social changes and their mapping onto the landscape in the form of highly variable paerns in the size, function and distribution of selement forms. e case-studies will be drawn from the Southern Mainland Greek landscape over a time range from the Early Neolithic to the Post-Medieval era. I first met Hans through our mutual aendance at the conferences of the Ernst Kirsten Gesellscha for the Historical Geography of the Ancient World. Shortly aer, when Anthony Snodgrass and I were embarked on our Boeotia Regional Survey Project, Hans was busy with his remarkable innovative survey of the Classical village (deme) territory of Atene in Aica, and we went to visit him in his landscape. I was impressed by Hans’ intellectual scope and dynamism and the outstanding quality of his fieldwork in Atene1 something which continued to mark his subsequent work in the Aegean coastlands in the hinterland of Miletos2 and at Mycale3. For the purposes of this homage to Hans, I want to stress the way in which he aimed to deepen topographic research into past landscapes through hard calculations of land use and demography, and by evaluating the impact of political and historic processes on selement systems. In this paper I wish to review the long-term history of the Southern Mainland Greek landscape4. I shall focus on a cyclical paern in which rural communities fluctuate along three dimensions: 1. Social Organisation: along a scale from small face-to-face communities up to large, introverted ›corporate communities‹ of a city-state character 2. Political Order: along a scale from peasant communities with a high degree of autonomy to those locked into highly-exploited status by elite landowners 3. Economic Stability: along a scale from sustainable local community economy to a highly unsustainable form of inter-regional economics ∗ Financial support for the fieldwork incorporated into this paper came from the Belgian Fund for Scientific

Research. 1 For example Lohmann 1993a; Lohmann 1993b. 2 For example Lohmann 2004a. 3 Lohmann 2004b. 4 e empirical data for this paper are set out in Bintliff 2012.

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e exploitation of peasants needs no explanation, nor the concept of sustainable economy, but my Social Scale model (pl. 6, 1) needs a brief comment. Anthropologists studying recent preIndustrial societies have identified a cross-cultural tendency for human selements without social classes to break up or undergo ›fission‹ when they reach more than 200–300 individuals5. Below this figure, a ›face-to-face‹ community exists, where everyone knows everyone else at a personal level (pl. 6, 1, Phase A). Beyond 150 people, this social bonding becomes difficult to sustain, encouraging conflicts and factions, which disrupt the traditional resolution of intracommunal tensions through personal contacts. At this point a common solution is for part of the growing village to break off and found a daughter selement. If larger nucleated communities succeed in arising, three alternative mechanisms seem to account for almost all examples. e simplest, potentially operating even in Palaeolithic and Mesolithic times, would limit such large gatherings of people to seasonal camps, where many smaller bands agglomerated (gathered together) at times of peak animal or plant availability. e second mechanism is to subdivide the growing village into semi-autonomous neighborhoods, each of which stayed within the bounds of face-to-face population size. At a primary level households belonged to a largely self-managed social unit, the neighborhood, then at a secondary level there existed social institutions linking these units into the village as a whole (this probably operated in the remarkable early farming town at Çatal Hüyük in Turkey6). e third mechanism is that of a vertical rather than horizontal division of the village: management devolves on a social elite, whose influence reduces but need not abolish the role of the household and neighborhood in social relations. is elite might be one or more powerful households, or merely a council of the senior male heads of households or lineages. Renfrew’s pioneer application7 of ethnographic parallels highlighted two forms of elite power which might have occurred in later prehistoric Europe: a ›Big Man‹ system, where an elite family or lineage might dominate a community on the basis of acquired status, wealth or social power (being effective warleaders, or ritual specialists, having large economic surpluses, or controlling extensive social networks); and a ›Chiefdom‹ model, where status arises from inherited positions in a dynastic elite lineage or family.

As to why larger communities might arise, Wobst8 has argued that a healthy human population can only escape the long-term dangers of inbreeding if it reaches 500–600 people. In face-to-face societies this has to be met through constant exchange of marriage partners with several other nearby small communities, making the alternative, an expansion to a large village, more aractive in this respect. Before knowledge of genetics, the harsh experience of genetic mutations and accumulating levels of disease appear to have led through Darwinian adaptation to a worldwide cultural behavior in which small communities have out-married to survive in the long term. Our prediction for global social organization, based on these complementary insights, would be that the simplicity and efficiency of the face-to-face organization would favor cooperating units of less than 200 people at innumerable times and places in world prehistory and history. Such indeed proves to be the case, even with historic state societies, since many pre-Industrial and particularly precentralized states allowed rural communities wide scope for self-management in communal affairs. 5 Bintliff 1999; 2000. 6 Düring et al. 2006. 7 Renfrew 1973. 8 Wobst 1974.

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However, if a selement grows beyond the face-to-face parameters, to achieve 500–600 inhabitants or more, not only would there need to be novel mechanisms for the peaceful coordination of such communities (the commonest ways were outlined above), but ›emergent complexity‹9 occurs, where wholly new sociopolitical dimensions to such a society become apparent. Social anthropologists have documented in many diverse societies that when a village reaches a population of around 500, it oen appears to alter its sociopolitical and economic behavior, giving rise to a ›corporate community‹10. Arising from an agglomeration of independent households vying for status, and with strong links to surrounding villages, such novel communities begin to act more like towns or tiny states, centralizing much decision-making and creating stronger barriers to free movement of people and products toward its neighboring selements (small city-states). e key factor fostering this transformation is a realignment in marriage customs. Whereas a face-to-face community sends many of its men or women to neighboring communities in return for incoming marriage partners (exogamy), once a village rises to a population at or beyond the level of Wobst’s breeding network (500–600 people), it can largely provide its own marriage requirements (endogamy) (see pl. 6, 1, Phase B). Neolithic Greece is dominated (with very rare exceptions) by autonomous face-to-face, sustainable village selement. A dense network of socially-harmonious villages has been argued-for in our best-documented region, essaly, by Perlès11. In the Early Bronze Age small face-to-face selements explode across the landscape, mostly autonomous but now less sustainable. Populations indeed collapse in the last phase of this period. In the subsequent Middle Bronze Age12 reduced populations also mostly in face-to-face selements show sustainable land-use and perhaps more elite control in bounded village territories. In the Late Bronze Age, selement remains mostly nucleated and now under elite control, but much of the countryside shows low density face-to-face selement and sustainable land-use despite a palatial state system (for example in Boeotia13). In contrast a few Late Bronze Age landscapes are heavily populated and intensively exploited to the point of marginal long-term sustainability, such as the Plain of Argos14. In fact population collapse occurs in the final Late Bronze Age and is perhaps driven by stress in such high-population zones. In the Early Iron Age the preceding population crash leads to low density nucleated selement15 with strong elite control but sustainable economies. Elite longhouses dominate associated peasant huts16. In the Archaic era population rises dramatically but most selements remain at face-toface level. Sustainability is weakening in a strongly exploitative class situation17. By Classical times, from a minority of larger villages have arisen many hundreds of city-states, corporate communities with rising democratic constitutions, a numerous class of free peasants 9 Bentley – Maschner 2003. 10 Bintliff 1999; 2000. 11 Perlès 2001; cf. Bintliff 2007. 12 Bintliff 2010. 13 Bintliff et al. 2007; Bintliff 2012. 14 Bintliff 1989; Marzloff 2004. 15 Bintliff 1994 pl. 19–73; Dickinson 2006. 16 Morris 2000. 17 Bintliff 2006.

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and an economy gradually becoming less sustainable as population peaks18. Following Ruschenbusch and Hansen19, of the 700–800 minimum city-states of the Classical Aegean for which data are available, 80 % have populations of 2.000–4.000 people and maximal territories of 5–6 km radius. is creates a remarkable packing of nucleated communities into the relatively small landscapes of Southern Greece and the islands of the Aegean, where the polis or city-state is densest. e city and countryside of ancient espiae (Boeotia) in Greek Classical times provides a detailed case-study: rural and urban populations reach levels only surpassed in the 1990’s AD20. For the province of Boeotia as a whole, our estimate for population around 400 BC is more than 165,000; around 1570 AD at some 40,000; and for 1981 it was still only 125,848. Offsite poery of Classical Greek / Early Hellenistic date forms heavy carpets around this and all other Boeotian towns so far analysed by our team. It shows the need to increase crop yields through agricultural manuring. Wilkinson21 associated such offsite sherd carpets with overpopulation in the ancient Near East, and we are certain that the same crisis overtook parts of Southern Greece in later Classical and Hellenistic times. By Early Roman times population has indeed crashed and towns shrink or are abandoned, of which espiae is a dramatic example22. Corporate urban communities become highly exploited by elite landowners but the resultant villa economies are sustainable in low density rural landuse23. Late Roman times see towns remaining small, elite landowner dominated corporate communities. But extreme specialisation of land-use for commercial export (seen for example in Boeotia, Aica and the Argolid), threatens economic sustainability. Analysis of the location of the dominant villas suggests that a much narrower range of soils was in use compared to the wider spread of earlier Classical-Hellenistic estates with their more self-sufficient spectrum of crops and pastoral activities. Barbarian invasions and the retreat of wealthier landlords to the largest towns would eventually take away the basis for such an economy and the framework in which most peasants were now embedded. e city and countryside of espiae in Late Roman times shows a likely model with a small number of flourishing great estates but impoverished ›agro-towns‹ housing much of their workforce. In the Early Byzantine Empire from ca. 600–850 AD, population collapses, due to barbarian invasions causing elite withdrawal from the countryside, plague and perhaps climatic stress24. From ca. 850 AD however, land use and demography recover under the powerful Middle Byzantine Empire, manifested by a spread of small face-to-face villages with relative autonomy and sustainable economies25. e takeover of Southern Greece by knights of the Fourth Crusade (inaugurating the Frankish era of the 13ᵗʰ–14ᵗʰ centuries AD) reduces the peasants to feudal dependency, but population remains well below a full landscape and the economy is sustainable. Selements are usually still at face-toface scale. Peasant prosperity is reflected in the abundant evidence for dining ceramics from these 18 Bintliff 1997; Bintliff et al. 2007. 19 Ruschenbusch 1985; Hansen 2004. 20 Bintliff et al. 2007. 21 Wilkinson 1989. 22 Bintliff – Snodgrass 1988. 23 Bintliff et al. 2007; Lohmann 1993a. 24 Casana 2008; Hodges 2010. 25 Vionis 2008.

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villages26. However, incessant warfare and the Black Death cause a renewed population crash in the 14ᵗʰ century AD, and both Crusader rulers and their successors the arriving 15ᵗʰ century Ooman Turkish rulers invite Albanian selers to recolonize large parts of Southern Mainland Greece27. Villages are now recorded as mostly face-to-face size with a few large corporate Greek refuge communities28. Overall population is low and there is high peasant autonomy under the Early Ooman Empire and sustainable land use. Aer 150 years of Early Ooman rule, population has risen dramatically, but peasant autonomy remains high. Signs of prosperity through fine tableware imports such as 16ᵗʰ century Italian and Anatolian fineware imports to the large deserted village of Panaya, Central Greece29, match other evidence for relatively wealthy independent villagers in Greek selements of corporate community size, which can found monasteries and build elaborate water control systems. Although overall population is well below carrying-capacity of the landscape, especially compared with Classical Greek overpopulation, some exceptional villages like Panaya are probably approaching poor unsustainability due to their size. In Late Ooman times (17ᵗʰ – early 19ᵗʰ centuries AD), the Ooman state becomes weak and in the provinces elite landlords take over peasant villages. Greek Mainland rural communities become typified by semi-feudal estates or Ciliks, whilst the estate-owner’s home revives the Medieval Mainland tradition of towerhouses. Population collapses. Peasant poverty continues well into the 19ᵗʰ century due to problems of land ownership and insecurity. Villages are mostly face-to-face, population low but they have mostly become less economically sustainable due to commercial specialisation. Mainland peasants only begin to achieve prosperity two generations aer Greek Independence, in the late 19ᵗʰ century. Full rights over land and rising international commerce stimulate the rise of a new middle class of farmers. ey mark their social status, above the majority who still occupied the traditional longhouses, through elaboration of homes into a twostorey farmhouse with internal room divisions emulating Western townhouses30. Many villages oen grow into large corporate communities, elite land control weakens and peasant autonomy rises dramatically. Growing integration into international capitalist markets increases wealth but raises issues of economic sustainability that the Greek economy still suffers from today.

Frameworks of Time and Process e cycles we have rapidly reviewed fit into the Medium Term waves of history, of several centuries’ duration, in the parallel flows of time of the French Annales’ School of History31 (pl. 6, 2). Let us now summarize these phases along our three parallel axes. Firstly (pl. 7, 1): 1. Social Scale: along a scale from small face-to-face communities up to large, introverted ›corporate communities‹ of a city-state character 26 Vionis 2004/05. 27 Jochalas 1971. 28 Bintliff 1995; Kiel 1997. 29 Vroom 1999. 30 Bintliff 2012. 31 Braudel 1972; Bintliff 1991; Bintliff 2004.

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2. Political Order: along a scale from peasant communities with a high degree of autonomy to those locked into highly-exploited status by elite landowners. ese key factors will enable us to analyze how variable forms of society and economy are linked and what possible longer-term outcomes may be predicted. In this short article I shall merely focus on some examples of when and why cultural collapse occurred through referring to the third, sustainability index (pl. 7, 2). e sustainability factor shows a clear association with cultural decline and collapse, but note that a moderate position can also be followed by a collapse. Let us focus on relevant factors: the Early Bronze Age collapse links moderate risk of unsustainability with a likely period of extreme aridity (the ›4200 B. P. Event‹). e Late Bronze Age collapse may have been focussed on regions of high unsustainability which drew others into a wider fall, but military aack is also clearly central from unknown enemies. e Hellenistic collapse may well involve unsustainable overpopulation and agricultural decline, as well as the negative impact of Roman expansion. e Late Roman collapse marks an unsustainable highly specialised international economy collapsing from rural insecurity, demographic decline due to the Plague and a possible phase of extreme climatic aridity. e collapse between Early and Late Ooman times reflects political chaos, climatic stress (e Lile Ice Age) and in some areas unsustainable population levels. In concluding, we may note for further analysis that in most periods peasants lived in face-to-face scale communities, creating potential ›small worlds‹ of social intensity whether or not there exist state or elite structures operating on them from above. is agrees with Robert Adams’ thesis32 on the underlying persistence of village societies in the Mediterranean world. Sustainability may be achieved under both autonomous and elite-controlled rural economies, and the converse, unsustainability can be created by both extremes of society.

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Archaische Vasengraffiti aus dem milesischen Aphrodite-Heiligtum in Oikus∗ Norbert Ehrhardt

In dem 1990 auf dem Zeytintepe entdeckten und seitdem intensiv erforschten milesischen Aphrodite-Heiligtum in Oikus1 wurden bislang mehr als 300 beschriete Votive gefunden, darunter mehr als neunzig Prozent fragmentarisch bzw. sehr fragmentarisch erhaltene Vasen. Die Aufschrien – überwiegend Graffiti, aber auch Dipinti – sind inhaltlich stereotyp und folgen geläufigen Weihformeln (»N. N. weihte mich der Aphrodite« bzw. in erweiterter Form »N. N., Sohn / Tochter des N. N., weihte mich der Aphrodite in Oikus«). Die Gesamtpublikation dieser Weihinschrien ist in Vorbereitung. Da die Bearbeitung aber noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, sollen vorab Graffiti publiziert werden, die ür die Forschung von Interesse sein könnten2. Bei den formelhaen Texten sind es o ›nur‹ die Namen der Dedikanten, die eines Kommentars wert sind. Das gilt auch ür die hier zur Publikation ausgewählten Texte. Wenn im Folgenden nur männliche Dedikanten erscheinen, ist dies Zufall; innerhalb des Gesamtmaterials sind Frauen zu ungeähr einem Viertel als Dedikantinnen vertreten – so der derzeitige Befund.

1. Weihungen des Alsios (Taf. 8, 1) Im Jahr 2006 veröffentlichte U. Schlotzhauer im Rahmen eines Aufsatzes über Formen archaischer milesischer Keramik mehrere Tassen, von denen sich drei aufgrund von Weihinschrien als Dedikationen eines Mannes namens Alsios ausweisen3. Zwei dieser Tassen waren 2005 in Oikus gefunden worden. Die Inschrien – die eine gemalt auf der Außenseite der einen Tasse, die andere eingeritzt auf der Innenseite der anderen Tasse – sind nicht vollständig; es fehlt der Name der bedachten Goheit, aber wegen des Fundorts ist es sicher, dass die Aphrodite in Oikus als Empängerin genannt war. Schlotzhauer konnte zusätzlich eine weitere Alsios-Weihung auf einer Tasse vorstellen, die bereits 1957 bei den Ausgrabungen im Bereich des milesischen Athena-Tempels ∗ Volkmar von Graeve danke ich herzlich ür die Publikationserlaubnis, Wolfgang Günther ür die kritische

Durchsicht des Manuskripts. 1 Zu den Ausgrabungen und den Forschungsergebnissen von Graeve 1997/98, 83–87; Senff 2003; von Graeve

2006, 249–253; Senff 2006, 169 f.; Panteleon – Senff 2008. – Zum Aphroditekult in Milet s. auch Ehrhardt 2006a, 174–176 Nr. 1279. 2 Bereits veröffentlicht: Schlotzhauer 2007, mit epigraphischem Kommentar von N. Ehrhardt S. 287–289 (frag-

mentarisch erhaltenes Graffito wohl aus der ersten Häle des 6. Jahrhunderts; angezeigt SEG 57, 2007, 1129). Hinzu kommen die beiden Alsios-Weihungen: s. Schlotzhauer 2006, 138–142. Die beschrieten Votive aus hellenistisch-römischer Zeit sind – nach dem jetzigen Forschungsstand – von anderer Art: s. Ehrhardt u. a. 2009. 3 Schlotzhauer 2006, 138–142.

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gefunden worden war; in diesem Fall gilt die aufgemalte Weihinschri dem Apollon. Schließlich machte Schlotzhauer auf Fragmente einer jüngst in Didyma auf dem Taxiarchis-Hügel gefundenen Tasse4 aufmerksam, die dem eben genannten Stück vom Athena-Tempel sehr ähnlich sei. Von der Weihinschri sind zwar nur einige Buchstaben des Wortes ἀ]νέϑηκ[εν erhalten, aber auch diese Vase könnte von Alsios geweiht worden sein. Welche Goheit auf dem Hügel verehrt wurde, weiß man noch nicht. Gesichert ist damit, dass ein Alsios zwei Tassen in das Aphrodite-Heiligtum von Oikus und eine Tasse dem Apollon weihte. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um dieselbe Person, denn der Name Alsios scheint sonst nicht bezeugt zu sein und eben nur auf den hier vorgestellten Objekten vorzukommen. Er ist damit die einzige namentlich bekannte Persönlichkeit aus archaischer Zeit, die zwei Goheiten Milets und vielleicht auch ein Heiligtum in Didyma beschenkte. Die Motive des Alsios kennen wir nicht. Vielleicht war er einfach ›nur‹ fromm, aber möglicherweise gibt es eine andere Erklärung, die über den Namen ührt. Etymologisch ist er klar. P. Herrmann, der das Stück vom Athenatempel schon vor Jahren aufgenommen hae, verwies in einem Brief an Schlotzhauer5 auf ἄλσις, »Wachstum«, und ἀλδαίνω, »zum Wachsen bringen«6, und machte auf den Monatsnamen Alseios aufmerksam, der auf Kos und Kalymnos in Gebrauch war7. Es ist nun in der Tat gerade Kos, das weiteres Vergleichsmaterial bietet: Dort sind ein Priestertum des Zeus Alseios und das zugehörige Fest der Alseia bezeugt8, und es gibt Weihungen von Paidonomoi an Zeus Alseios und Athana Alseia ὑπὲρ τᾶς τῶν παίδων σωτηρίας (bzw. ὑγιείας) καὶ εὐταξίας9. Hinzu kommt ein sprachlich wohl in den selben Zusammenhang gehörendes Zeugnis von der westlichen Nachbarinsel von Kos, nämlich Amorgos: Für die Stadt Aigiale ist eine Phyle bezeugt, deren Nominativ wahrscheinlich Alsis lautete; die beiden hellenistischen Belege10 erscheinen aber nicht in den Inschrien, die von den »Milesiern, die Aigiale bewohnen« stammen11. In Anbetracht der Massierung koischer Belege (Monatsname, Fest, Epiklese) ist es recht wahrscheinlich, dass Alsios ursprünglich Koer war und später in Milet eingebürgert wurde. Warum er mehrere milesische Heiligtümer beschenkte, lässt sich nicht sagen. Es können sehr individuelle Gründe gewesen sein, aber vielleicht wollte er als Neubürger seine Loyalität gegenüber der neuen Heimat demonstrativ unter Beweis stellen12.

4 Erstedition: Bumke – Röver 2002, 98 Abb. 18. 99 Abb. 21. 5 Abgedruckt von Schlotzhauer 2006, 140. 6 Mit Hinweis auf Frisk 1960, 65 und Chantraine 1968, 55. 7 Samuel 1972, 112; Trümpy 1997, 183 § 149. Inzwischen kennt man alle Monatsnamen von Kos; zur Rekonstruk-

tion des Kalenders und zur Stellung des Alseios: Bosnakis – Hallof 2005, 233–240. 8 IG XII 4, 1, 328 (Kultgesetz aus dem 1. Jh. v. Chr. betreffend den Verkauf des Priestertums des Zeus Alseios);

Z. 15 Fest der Alseia; Z. 25/26 der Monatsname Alseios. Zum Zeus Alseios schon Sherwin-White 1978, 294 f. 9 Segre 1993, I, EV 1. EV 10; mit anderem Wortlaut, aber ür dieselben Goheiten EV 372 (SEG 43, 1993, 556). Eine

weitere Weihung von Paidonomoi gilt Hermes und Herakles, also den traditionellen Schützern des Gymnasions (EV 12). – Möglicherweise trugen auch anderswo Göer die Epiklese Alsios bzw. Alsia: vgl. SEG 39, 1989, 1726 (Lesung unsicher) und SEG 40, 1990, 1713 (eine Demeter Alsia; die Angabe konnte allerdings nicht verifiziert werden). 10 IG II 7, 386 und 389 (Bürger mit dem Zusatz Ἀλσίτης). Vgl. Ruppel 1927, 332; Jones 1987, 214. 11 IG XII 7, 395–410. 12 Grundlegend zum Zusammenhang zwischen Bürgerrecht und Teilnahme an den Poliskulten jetzt Krauter 2004.

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2. Weihung des Hipponax (Taf. 8, 2) Z 04.9.134. Schalenboden mit Rest des Standrings. Innerer Dm des Standrings (Schalenboden) 8,3 cm. Sauber eingeritzte Inschri umlaufend auf der Unterseite des Schalenbodens. BH 0,5– 0,8 cm. Die waagerechte Haste des Pi geht in eine Rundung über; Phi mit über den Kreis hinausragender Haste. Ἱππῶναξ. Ἀφροδίτης ἐμ[ί] Die Inschri bietet eine bemerkenswerte, sprachlich allerdings nicht ganz passende Kontamination von ›oggeo parlante‹ und Dedikantenname im Nominativ; letzterer müsste hinsichtlich der bedachten Goheit den Dativ nach sich ziehen (im Rahmen einer ἀνέϑηκεν-Formulierung). Der Gedankengang ist aber nachvollziehbar: Hipponax hat die Schale der Göin geschenkt, und nun gehört sie der Aphrodite13. Möglicherweise gab es derartige Formulierungen auch in anderen, nur noch fragmentarisch erhaltenen Weihungen in Oikus. Hipponax ist »fréquent en Ionie«14. Man kennt ihn unter anderem aus dem archaischen Ephesos (der Iambendichter)15, aus Kolophon, Smyrna16, Chios, Delos, asos17, aus der teischen Apoikie Abdera18, dem samischen Perinth19 und aus der milesischen Gründung Kyzikos20. In Milet war der Name noch nicht bezeugt, auch wenn es dort wie in vielen Gegenden der griechischen Welt zahlreiche Eigennamen mit dem Bestandteil -ιππος21 gibt; erinnert sei nur an den Architekten und Stadtplaner Hippodamos.

3. Weihung des Kratos (Taf. 8, 3) Z 05.19.126. Fragment einer ionischen Kleinmeisterschale mit einem Roseennetz im Schalentondo22. Auf der Außenseite Palmeen. Saubere Ritzinschri am Rande des Innenbildes auf schwarzem Grund. Vor und hinter der Inschri kein weiterer Text. H 6,3 cm; B 8,0 cm; BH 0,4–0,7 cm. Haste des Rho weiter nach unten gezogen, Kreisbogen endet miig. Κρατώς Analog zum übrigen Material in Oikus wird man auch auf dieser Scherbe einen Dedikantennamen erkennen dürfen, und zwar wiederum im Nominativ: Es müsste sich dann um einen der auf -ώς endenden Männernamen handeln, die relativ selten sind. Ein frühes und zugleich singuläres 13 Explizit erscheint dieser Gedankengang in einer archaischen Weihung aus Samos, allerdings in umgekehrter

Reihenfolge: τῆς Ἥρης ἱερός εἰμί. Ἡφαιστίωμ μʼ ἀνέϑηκεν (IG XII 6, 2, 541). 14 Masson 1984, 52 (= Masson 1990, 431). – Die Personennamen auf -ῶναξ, in denen ἄναξ steckt, hat Zucker

1951, 26–32 diskutiert, ohne zu einer klaren Einordnung zu gelangen. So könnten Namen wie Pythonax oder Mandronax theophorer Natur sein; ür Hipponax dagegen gilt das nicht. 15 Vgl. die namenskundlichen Bemerkungen Massons in seiner Hipponax-Ausgabe (Masson 1962). 16 LGPN V A s. v. Ἱππῶναξ (Belege ür Ephesos, Kolophon, Smyrna). 17 Belege ür Chios, Delos und asos im LGPN I s. v. Ἱππῶναξ. 18 Münzen mit der Legende ΕΠΙ ΙΠΠΩΝΑΚΤΟΣ: May 1966, 292 f. Nr. 543. 544. Vgl Masson 1977, 86 (= Masson

2000, 4); Masson 1984, 52 (= Masson 1990, 431). 19 Loukopoulou 1989, 322. 20 LGPN V A s. v. Ἱππῶναξ. 21 Zu den Namensbildungen und mit Überlegungen zum gesellschalichen Hintergrund Dubois 2000. 22 Zu ionischen Kleinmeisterschalen Kunze 1934; zum Roseennetz s. die Zusammenstellung bei Schlotzhauer

2007, 275 Anm. 81.

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Zeugnis ist Ἀραρώς, Name eines der Söhne des Aristophanes, Komödiendichter wie sein Vater23. Häufiger ist z. B. Ἀπολλώς, ein anscheinend vor allem im Bereich des östlichen Mielmeeres und der Ägäis verbreiteter Name24. Κρατώς hingegen scheint noch nicht bezeugt zu sein. Es irritiert, dass auf dem Vasenfragment hinter Κρατώς freier Raum gelassen wurde und kein weiterer Text folgt. Möglicherweise schrieb der Dedikant nur seinen Namen und ließ die übliche Weihformel weg. Vielleicht folgten aber doch nach dem Freiraum noch Buchstaben; ür eine derartige Textverteilung könnten ästhetische Gründe ausschlaggebend gewesen sein.

4. Weihung des Neomas (Taf. 8, 4) Z 05.19.75. Randfragment einer Kaloenschale, stark versintert. Ritzinschri innen, kopfständig. H 4,1 cm; B 7,2 cm; BH 0,7–1,1 cm. Die Hasten weisen durchgängig leichte Wölbungen auf. Νεομᾶς [(μʼ) ἀνέϑηκεν τῆι Ἀφροδίτηι] Den Namen Neomas trug der Vater des milesischen Stephanephoros Diogenes, der 478/77 v. Chr. das eponyme Amt bekleidete25. Schon Bechtel hat den Namen registriert und angemerkt »wohl zu Νεομήνιος«26, d. h. der an Neumond Geborene. Darauf zu beziehende Namen und ihre Varianten wurden dann von O. Masson untersucht, der ür Νεομᾶς noch einen samischen Beleg aus dem 4. Jh. v. Chr. anühren konnte und zudem auf einen Νευμᾶς wohl in der milesischen Apoikie Kyzikos hinwies27. Inzwischen gibt es ür Νεομᾶς und Νευμᾶς noch je einen Beleg aus Ephesos28. Wegen der relativen Seltenheit des Namens Neomas könnten der eben genannte Vater des Stephanephoros von 478/77 v. Chr., der noch im 6. Jahrhundert geboren sein muss, und der Dedikant dieser Weihung derselben Familie angehört haben oder sogar dieselbe Person gewesen sein.

5. Weihung des Yliamis (Taf. 8, 5) Unter den archaischen Votivgaben in Oikus befinden sich auch bronzene Omphalosschalen, die von H. Eiwanger-Donder publiziert werden29. Rund ünfzehn Schalen weisen Weihinschrien auf, die fast immer auf der Außenseite knapp unterhalb des Randes eingeritzt wurden. Eine Revision dieser Inschrien wurde 2010 von P. Weiß und N. Ehrhardt in Milet vorgenommen. Die Texte haben denselben Auau wie jene, die auf Vasen aus Ton angebracht wurden (Dedikantenname bzw. Dedikanten- und Vatersname, Weihformel); insofern weisen die Aufschrien auf Bronze unter sprachlichem Aspekt keine neuen Elemente auf. Die Weihinschri auf einer der 23 Suda α 3737 s. v. Ἀραρώς; IG II² 2318, 196 (Kassel, Austin 1991, 524–531). 24 Das LGPN I bietet Belege aus Syros, Delos, Zypern und der Cyrenaica. Im Band III A findet man einen Na-

mensträger aus Herakleia in Lukanien. – Ein alexandrinischer Jude namens Ἀπολλώς, der sich missionarisch betätigte, erscheint im Neuen Testament (1 Kor 1, 12. 3, 4. 4, 6; Apg 18, 24. 19, 1). 25 Kawerau u. a. 1914 (= Milet 1, 3), 122 I 49. 26 Bechtel 1917, 328. 27 Masson 1994 (= Masson 2000, 172–178). Der Beleg aus Samos jetzt IG XII 6, 2, 661 Z. 2. Kyzikos: LGPN V A

s. v. Νευμᾶς. Masson 1994, 170 wies zudem darauf hin, dass der milesische Stephanephoros Νεομήνιος (Milet 1, 3, 122 I 76; 451/50 v. Chr.) der älteste Namensträger sein könnte. – Im übrigen gewinnt man mit dem Neomas der obigen Weihung ein weiteres epigraphisches Zeugnis ür auf -ᾶς (Genitiv -ᾶδος) endende Namen im archaischen Ionien (Masson 1994, 171); zu diesen Formen schon Bechtel 1924, 129 § 113. 28 LGPN V A s. v. Νεομᾶς und Νευμᾶς. 29 Ein erster Bericht: Donder 2002.

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Schalen (Z 05.58.3), außen auf dem Rand sehr sorgältig eingeritzt, enthält allerdings einen bemerkenswerten Personennamen30: Υλιαμις ὁ Μανδρώνακτος μʼ ἀνέϑηκεν τῆφροδίτηι. Der Dedikant Yliamis (oder Hyliamis), Sohn des Mandronax, trägt einen sicher gelesenen31 karischen Namen. Damit wird in willkommener Weise die Zahl der karischen Personennamen, die in griechischen Inschrien enthalten sind32, vergrößert. Der Name enthält offenbar zwei Bestandteile, nämlich Υλια- und -μις. Erstgenanntes Element findet sich in dem karischen Namen Υλιατος33, letztgenanntes ist als Endung in verschiedenen karischen Namen belegt (Κυτβελημις, Λυγδαμις, Οριδηυμις, Παναβλημις, Παρμυμις, Πιρωμις, Σιδυλημις)34. Die epigraphische Bezeugung eines karischen Namens im archaischen Milet ist auch deshalb wertvoll, weil man ür das 6. Jahrhundert nur den in literarischen ellen genannten Examyes, Vater des Philosophen ales, als karischen Personennamen kannte. Für das 5. Jahrhundert ist ein weiterer karischer Name bezeugt, nämlich Massarabis, Vater des milesischen Stephanephoros Dionysios, der 462/61 v. Chr. amtierte35. Es ist beachtlich, dass in der Weihung aus Oikus der Vater Mandronax einen griechischen, in Milet übrigens seltenen Namen trägt36, der Sohn aber einen karischen. Bei den eben genannten anderen Vater / Sohn-Zeugnissen aus Milet ist es umgekehrt. In der Tat lässt sich die Hellenisierung Kleinasiens auch an der stetigen Zunahme griechischer Personennamen ablesen, aber dass dies keine geradlinige Entwicklung war, zeigt einmal mehr der Neufund aus Milet37. Warum der Sohn des Mandronax einen karischen und keinen griechischen Namen erhielt, wissen wir nicht. Dies könnte mit einem bewussten Festhalten an karischen Traditionen zu erklären sein38, hier möglicherweise über die Familie der Muer vermielt. Vielleicht war es aber auch nur persönliche Vorliebe, die die Eltern zu dieser Namengebung veranlasste. 30 Für die Publikationserlaubnis danke ich H. Eiwanger-Donder. Nähere Angaben zur Schale lasse ich hier weg,

um der Publikation durch Frau Eiwanger-Donder nicht vorzugreifen. 31 Vor dem ersten Buchstaben stand kein weiterer Text; ein Name auf ΟΥΛΙ- ist auszuschließen. 32 Alphabetische Aufstellung: Blümel 1992. In diesem Aufsatz sind auch die in milesischen Inschrien enthaltenen

karischen Namen verzeichnet. Für den Namen Idrieus (Blümel 1992, 14 f.), bislang nur durch den Stephanephoros von 28/29 n. Chr. bezeugt (Milet 1, 3, 128, 11–12), gibt es milerweile einen zweiten milesischen Beleg: Günther 2008 (Inschri 111, Z. 3; frühkaiserzeitlich). Vgl. auch Günther 2008, 112 mit Anm. 7 zum karischen Charakter des Namens. 33 Blümel 1992, 26. 34 Blümel 1992, 18. 20–23. 25. Zu Οριδηυμις, einem Kaunier, s. jetzt auch Marek 2006, 49 f. T 113. 35 Examyes: Suid. s. v. Θαλῆς; Steph. Byz. s. v. Μίλητος. Massarabis: Milet 1, 3, 122 I 65. Vgl. Ehrhardt 2006b, 83

(mit Rückgriff auf Blümel 1992 und ältere Literatur). 36 Sofern in der archaischen Weihung IvDidyma 15, 3 Μανδρώνα[κτος zu ergänzen ist, gäbe es in Milet / Didyma

zwei Belege. Denkbar ist aber auch die Ergänzung Μανδρωνα[κτίδεω: so schon Rehm, Apparat zur Inschri. Der Name Mandronaktides erscheint in der Inschri Milet 1, 3, 122 I 48 (Vater des Stephanephoros Charopinos, der 479/78 v. Chr. amtierte). 37 Es gibt einige inschriliche Zeugnisse aus archaischer und klassischer Zeit, in denen der Vater einen griechi-

schen, der Sohn aber einen einheimischen Namen trägt. Verwiesen sei nur auf eine Grabinschri aus Magnesia am Mäander, SEG 47, 1997, 1632: Παος Πυϑέω Τραλλεύς (frühes 4. Jh. v. Chr.). Der in Magnesia beigesetzte Bürger aus Tralleis trägt einen karischen Namen (Blümel 1992, 21). 38 Zum möglichen Selbstverständnis ›karischer‹ Milesier s. die Überlegungen von Ehrhardt 2006b, 86 und Herda

– Sauter 2009, 94. 104 f.

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6. Graffito unklarer Bedeutung (Taf. 8, 6) Z 93.32. Fragment eines Geäßbodens mit steiler Wandung. Linksläufige Ritzinschri außen; kopfständig. Vor und hinter den Buchstaben freier Raum. BH ca. 1,0 cm. ›Wagenrad‹-eta; Rho mit herab gezogenem Bogen; Sigma mit ovalen Formen und sehr schmal; Phi mit im Kreis eingeschlossener Haste. ΦΘΙΡΣ Die Inschri ist vollständig und klar lesbar. Sie ällt sprachlich erkennbar aus dem epigraphischen Befund von Oikus heraus, in dem so gut wie durchgängig nur Namen von Dedikanten beziehungsweise Vatersnamen sowie die Weihformel mit der Nennung der Aphrodite erscheinen. Ein Eigenname wäre also am ehesten zu erwarten, aber Passendes war nicht zu finden. Dennoch kommt man bei der Interpretation dieses zunächst rätselhaen Graffitos möglicherweise etwas weiter. Die Inschri erinnert nämlich an einen wohlbekannten literarischen Text, und zwar an die Nennung Milets innerhalb des Troerkatalogs der Ilias. Innerhalb der Aufzählung von Stätten, die die Karer besitzen, erscheint nach der Nennung Milets an zweiter Stelle das »waldige Phthirergebirge« (Il. 2, 868: Φϑιρῶν τʼ ὄρος ἀκριτόφυλλον). Die Scholiasten leiteten den Namen von φϑείρ einer Fichtenart, oder vom Namen Φϑείρ beziehungsweise Φϑίρων, dem Sohn des Endymion, ab39. Der Nominativ ist aber unklar; Stephanos von Byzanz bietet die Form Φϑίρ und spricht von Φϑῖρες als Bewohnern40. In der Zeit nach Homer wurde der Berg beziehungsweise das Gebirge auch von Hekataios genannt, und zwar deshalb, weil man darüber stri, ob Homer mit dem Phthirergebirge den Latmos oder den Grion gemeint hae: Laut Strabon plädierte Hekataios ür eine Gleichsetzung mit dem Latmos41. Wahrscheinlich war die homerische Bezeichnung des Gebirges in der Zeit des Hekataios schon nicht mehr gebräuchlich42. Möglicherweise steckt in dem bei Homer genannten Gebirgsnamen, den die griechischen Scholiasten nur mit Mühe erklären konnten, ein vorgriechisches, vielleicht sogar karisches Wort, denn nach der Vorstellung des Dichters waren es ja die Karer, die Milet besaßen43. Mit diesen Überlegungen ist der Charakter des milesischen Graffitos aus Oikus, das als letzten Buchstaben zudem noch ein hier gar nicht diskutiertes Sigma enthält, freilich nicht geklärt. Man wird wohl mit dem Ausfall eines Vokals zu rechnen haben, wahrscheinlich zwischen Rho und Sigma. Es ging aber hier vor allem darum, diesen Text nicht voreilig als sinnlos einzustufen. Auf jeden Fall ist die Übereinstimmung der Buchstabenfolge ΦΘΙΡ- in dem milesischen Graffito und dem homerischen Toponym, das ausgerechnet bei Milet lokalisiert wird, auällig.

39 Schol. A Il. B 686: τῆς Καρίας πρὸς Μίλητον, διὰ τὸ πολλὰς ἔχειν πίτυς … ἡ ἀπο Φϑειρὸς τοῦ Ἐνδυμίωνος.

Vgl. Ruge 1941; Kirk 1985, 261. Eine Erklärung von Φϑῖρες in der Bedeutung »Läuse« kommt bei den Scholiasten nicht vor. Insofern stellt es eine leichte Unterstellung dar, wenn Herda – Sauter 2009, 57 bei Homer ein sprachliches Doppelspiel vermuten. 40 Steph. Byz. s. v. Φϑίρ, ὄρος Καρίας. οἱ κατοικοῦντες Φϑῖρες καὶ Φϑιριάς ϑηλυκῶς. Vgl. auch Lohmann 2002,

238, der unter dem Stichwort »Phthiron« die hier zitierten ellenangaben anührt bzw. diskutiert. 41 Hekataios, FGrHist 1 F 239 ap. Strab. 14, 1, 8 (C 635/636). In den modernen Kommentaren zur Stelle wird meist

diese antike Diskussion zur Topographie erwähnt, so von Kirk 1985, 260 f. und Latacz 2003, 285. 42 So Wilamowitz 1906, 636 Anm. 1 (= Wilamowitz 1937, 371): »Merkwürdig, dass ein Eigenname zwischen der

Zeit des Schiffskatalogs und Hekataios verschwinden konnte«. 43 Page 1959, 142 f. (vorgriechisch). Wenn ich ihn richtig verstehe, hält Blümel 1998, 164 mit Anm. 2, das homeri-

sche Toponym ür möglicherweise karisch. Ähnlich Herda – Sauter 2009, 57 Anm. 38.

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Archaische Vasengraffiti aus dem Aphrodite-Heiligtum in Oikus

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Teil C

KUNST- UND FELDARCHÄOLOGIE, BAUFORSCHUNG

Mediterranes, Atlantisches und Kontinentales in der bronzeund ältereisenzeitlichen Stelenkunst der Iberischen Halbinsel Dirk Brandherm

Im Mielpunkt des vorliegenden Beitrages steht die Frage nach der kulturellen Zuordnung einzelner auf Grabdenkmälern der iberischen Bronze- und Früheisenzeit begegnender ikonographischer Elemente. Damit sei an dieser Stelle auf einen emenkreis Bezug genommen, mit welchem sich der hier Geehrte ganz zu Beginn seines wissenschalichen Werdeganges intensiv auseinandersetzte1. Geographisch liegt unser Gegenstand freilich fernab von jenen Landschaen zu beiden Seiten der Ägäis, deren Erforschung sich Hans Lohmann in den folgenden Jahrzehnten mit großem Erfolg widmete. Sowohl als Natur- wie auch als Kulturraum weist die Iberische Halbinsel jedoch deutliche strukturelle Ähnlichkeiten insbesondere zu Kleinasien auf. Beiden gemeinsam ist die Lage zwischen zwei Meeren sehr unterschiedlichen Charakters an einer Meerenge zum Nachbarkontinent. In beiden Fällen ist das Landesinnere durch unwegsame Randgebirge von den Küstenregionen getrennt. Dennoch erweisen sich beide als offen ür Einflüsse aus sehr unterschiedlichen Richtungen. Auf der Iberischen Halbinsel manifestieren sich diese Einflüsse nicht zuletzt in der Stelenkunst des zweiten und frühen 1. Jts. v. Chr., wobei die Herkun einiger der auf den betreffenden Stelen abgebildeten Objekte ein durchaus kontrovers diskutiertes ema darstellt. Je nach Autor finden sich entweder mediterrane, atlantische oder kontinentale Elemente in den Vordergrund gerückt. Im Folgenden sollen deshalb einige der fraglichen Probleme aufgegriffen und vor dem Hintergrund des aktuell verügbaren Denkmälerbestandes neu beleuchtet werden2. Hierbei wollen wir uns auf die Gruppe der nicht-anthropomorphen Stelen beschränken, da sich vor allem auf ihnen die fraglichen Motive abgebildet finden3. Ihren Verbreitungsschwerpunkt haben diese Denkmäler im Südwesten der Iberischen Halbinsel, im Umfeld jenes geographischen Raumes also, ür welchen uns die frühe griechische Geschichtsschreibung den Namen ›Tartessos‹ überliefert4. In 1 Lohmann 1979. 2 Zuletzt wurde der ematik mediterranen bzw. atlantischen Einflusses in der Stelenkunst der Iberischen Halb-

insel von Galán (2000) ein eigener Beitrag gewidmet. Aus nicht wirklich nachvollziehbaren Gründen hält dieser Autor zwar eine kulturelle Zuordnung der dargestellten Objekte ür methodisch staha, die Möglichkeit einer chronologischen Einordnung verneint er jedoch kategorisch und erklärt jede Frage nach der diachronen Entwicklung des Motivschatzes ür unzulässig. 3 Zu den anthropomorphen Stelen der Iberischen Halbinsel vgl. Schaner 2003; Santos 2009; Santos 2010; sowie

diverse Beiträge in Vilaça 2011. Der Gruppe der anthropomorphen Denkmäler schließen wir hier auch solche Stelen an, deren allgemeine Proportionen denen der menschlichen Gestalt entsprechen und bei welchen der Großteil der Bildfläche von der Darstellung einer menschlichen Figur eingenommen wird, ohne dass in jedem Fall der Umriss der betreffenden Stelen menschengestaltig geformt wäre. 4 vgl. Blech – Barceló 2002.

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funktionaler Hinsicht kann eine Verbindung dieser Denkmäler mit dem Totenkult als gesichert gelten, auch wenn es sich nicht in jedem Fall um eigentliche Grabstelen handeln düre5. Im Vordergrund des Bildprogrammes dieser Denkmälergruppe stehen vielfach Bewaffnungselemente, weshalb sie mitunter auch als Waffen- oder Kriegerstelen bezeichnet werden. Auf chronologisch jüngeren Exemplaren sind die bildlichen Darstellungen weitestgehend durch Inschrien abgelöst, deren Lesung allerdings nach wie vor erhebliche Probleme bereitet6. Auch die Deutung mancher Motive auf den älteren Bildstelen ist freilich alles andere als unproblematisch. Hieraus resultiert eine Reihe von Missverständnissen und Irrtümern nicht nur zur Einbindung der bronze- und eisenzeitlichen Gesellschaen im Südwesten der Iberischen Halbinsel in überregionale Kommunikationsnetzwerke, sondern ganz profan auch zur chronologischen Einordnung der betreffenden Denkmäler. Bei der Besprechung dieser Probleme folgen wir aus pragmatischen Gründen der durch M. Almagro und V. Pingel erarbeiteten Denkmälertypologie7. Erster gliederte die Bildstelen des iberischen Südwestens aufgrund von ikonographischen und herstellungstechnischen Unterschieden in zwei Hauptgruppen. Stelen der Gruppe I sind nach dieser Gliederung überwiegend in Relieechnik gearbeitet; nur ausnahmsweise finden sich geritzte Darstellungen. Bislang sind ca. 25 Exemplare dieser Gruppe bekannt. Ihr Verbreitungsschwerpunkt liegt im portugiesischen Alentejo (Taf. 9, 1)8. Insofern nähere Einzelheiten zu Fundstellen und -umständen von Denkmälern der Gruppe I bekannt sind, stammen diese stets aus bronzezeitlichen Nekropolen. Bei ihnen handelt es sich demnach wohl ohne Ausnahme um Grabmonumente im engeren Sinne (Taf. 9, 2). Almagro interpretierte sie als Abdeckplaen ür Steinkistengräber, und in der Tat deutet die Fundlage der seltenen in situ angetroffenen Exemplare sowie die geringe Stärke einiger der als Bildträger verwendeten Steinplaen auf solch eine Funktion9. Die Abmessungen anderer Stücke dieser Gruppe lassen sich indes nur schwer mit einer Verwendung als Grabplaen in Einklang bringen. Eine ursprüngliche Funktion als Stelen scheint in diesen Fällen naheliegend. Dass manche Exemplare offenbar sekundär in Steinkistengräbern verbaut wurden, macht die Bestimmung ihrer primären Funktion nicht eben einfacher. Wo die dargestellten Gegenstände, insbesondere Stabdolch-, Beil- und Schwertformen, eine nähere zeitliche Einordnung zulassen, legen sie mehrheitlich eine Datierung in die Iberische Mielbronzezeit nahe (ca. 1850–1550 v. Chr.) (Taf. 11, 1, 1–3)10. Ein Fortleben dieser Denkmäler bis in die Iberische Spätbronzezeit (ca. 1550–1300 v. Chr.) wird durch die Wiedergabe einzelner jüngerer Typen angezeigt. Dies betri etwa die Darstellung eines Schwertes mit augenscheinlich ostmediterran inspirierter Heform auf der Stele I von Mombeja (Taf. 9, 2, 1)11. Generell sind derartige Schwertgriffe mit konvexem Heabschluss in West- ebenso wie in Mieleuropa unbekannt. Gute Parallelen begegnen dagegen in der spätbronzezeitlichen Levante12. Insgesamt finden sich Objekte, deren Morphologie auf eine Herkun von außerhalb der Iberischen Halbinsel hindeutet, nur äußerst selten auf Stelen bzw. Grabplaen der Gruppe I darge5 Celestino 2001, 278–287. 6 Rodríguez 2002; Koch 2011; Zeidler 2011. 7 Almagro 1966; Pingel 1974; Pingel 1993. 8 Banha u. a. 2009 Abb. 7. 9 Almagro 1966, 199. 10 Brandherm 2003, 366–370. 11 Almagro 1966, 46 Abb. 11 Taf. 8. 12 Shalev 2004, 62 Taf. 22, 178. 179.

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stellt. Neben dem angeührten Schwerthe von Mombeja ist hier lediglich noch die Darstellung einer Schalochaxt auf der Stele von Assento zu nennen (Taf. 9, 2, 2)13. Von Almagro wurde sie als Wiedergabe einer Axt des Typs Ripoll angesprochen14. Damit ergäbe sich nicht nur eine Verbindung zum zentralen Mielmeerraum, sondern auch ein klarer Hinweis auf eine Datierung in das 10.–9. Jh. v. Chr., trotz des offenkundig deutlich höheren Alters der übrigen dargestellten Objekte15. Aufgrund des asymmetrischen Klingenumrisses der abgebildeten Axt sowie des Winkels ihrer Klinge gegenüber dem Scha erscheint es jedoch sehr viel naheliegender, dass es sich hierbei um einen südosteuropäischen oder ägäischen Typ des frühen bis mileren 2. Jts. v. Chr. handelt, auch wenn entsprechende Stücke aus Westeuropa bislang nicht als Bodenfunde belegt sind16. Zu anderen auf Denkmälern der Gruppe I gezeigten Gegenständen, die keine Parallelen unter den Bodenfunden der Iberischen Halbinsel besitzen und deren Vorbilder deshalb verschiedentlich andernorts gesucht wurden, fehlen wirklich überzeugende Entsprechungen. Zumeist düre es sich hierbei um Objekte handeln, die regelha aus organischem Material bestanden, mit entsprechend negativen Auswirkungen auf ihre Überlieferungswahrscheinlichkeit. Dies gilt insbesondere etwa ür die sog. ankerörmigen Gegenstände, deren Vergleich mit chalkolithischen Idolen von jenseits der Pyrenäen sicherlich in die Irre ührt (Taf. 9, 2)17. Insgesamt ügt sich der Eindruck von vor allem in den ostmediterran-ägäischen Raum weisenden Verbindungen, den die wenigen auf den Stelen und Grabplaen der Gruppe I sicher identifizierbaren Fremdformen vermieln, schlüssig in das Gesamtbild der Fernverbindungen des iberischen Südens während der ersten beiden Driel des 2. Jts. v. Chr.18. Eher auf Kontakte mit dem mieleuropäischen Raum deutende Elemente, etwa kerbschniverzierte Keramik und Typen der Hügelgräberkultur nachbildende Bronzen, bleiben weitgehend auf den Norden der Iberischen Halbinsel beschränkt. Verbindungen nach Italien sind in diesem Zeitraum ür die spanische Levanteküste belegt, nicht jedoch ür den Südwesten19. Auch atlantische Kontakte treten hier zwar in der Früh- und Endbronzezeit prominent hervor, sind ür die Miel- und Spätbronzezeit bislang allerdings kaum aufzuzeigen. Wendet man sich anschließend den Denkmälern der Gruppe II zu, so unterscheiden diese sich hinsichtlich ihres Verbreitungsgebietes und ihrer handwerklichen Ausührung sowie teilweise auch im Hinblick auf Bildprogramm und Funktion deutlich von den Stelen und Grabplaen der Gruppe I. Mit Ausnahme der Stele I von Baraçal (Taf. 10, 1, 1) sind die Denkmäler der Gruppe II nicht reliefiert, sondern überwiegend geritzt, teilweise auch gepickt. Ihr Hauptverbreitungsgebiet ist die spanische Extremadura, sie streuen jedoch auch nach Westen über die portugiesische Grenze sowie in das untere Guadalquivirbecken. Mit mehr als 100 Exemplaren sind sie zudem in deutlich größerer Zahl bekannt als die Denkmäler der Gruppe I20. Zum ihrem funktionalen Kontext 13 Almagro 1966, 97 Abb. 31. 14 Almagro 1966, 99. 15 Almagro 1966, 177–179; Monteagudo 1977, 267 Nr. 1794. 16 vgl. Vulpe 1970, 42–48; Maran 2001, 279. Äxte mit ähnlichem Klingenumriss und entsprechendem Winkel ge-

genüber dem Scha treten in Südosteuropa und der Ägäis bereits zu einem deutlich früheren Zeitpunkt auf. Das auf der Stele von Assento wiedergegebene Schwert spricht jedoch eindeutig gegen eine Datierung der Darstellung in das 3. Jt. 17 contra Almagro 1966, 133–137. 18 Blance 1971, 145–152; Schubart 1973, 260–263; Brandherm 2003, 337–338; Schumacher 2004, 164–174; Mederos

2009, 254–260. 19 López-Padilla – Hernández 2011, 57–59. 20 Celestino 2001; Harrison 2004; Dominguez u. a. 2005; Murillo u. a. 2005; García u. a. 2006; Sanabria 2011; Santos

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liegen nur wenige Informationen vor. Für manche Exemplare wurde auch hier eine Verwendung als Grabplaen verfochten21. In der Regel handelt es sich jedoch sicher um Stelen. Soweit eine chronologische Einordnung der auf ihnen dargestellten Objekte möglich erscheint, datieren diese in die Iberische Endbronze- und frühe Eisenzeit (ca. 1300–800 v. Chr.)22. Bestaungen sind aus diesem Zeitraum im Südwesten der Iberischen Halbinsel kaum bekannt. Dementsprechend liegen nur in wenigen Fällen Hinweise auf einen direkten Grabbezug von Stelen der Gruppe II vor. Die Dokumentation der entsprechenden Befunde lässt zudem sehr zu wünschen übrig23. Durch Pingel wurde ür die Denkmäler der Gruppe II eine weitere Untergliederung auf der Grundlage ikonographischer Unterschiede vorgeschlagen24. Zu seiner Gruppe II a zählen demnach jene Exemplare, deren Bildprogramm sich auf die Darstellung von Schwert, Schild und Lanze beschränkt, auf den Stelen der Gruppe II b treten hierzu noch andere Gegenstände, und die Stelen der Gruppe II c schließlich zeichnen sich durch die Einbeziehung menschlicher Figuren in das ikonographische Programm aus. Von anderen Autoren wurden teilweise noch kleinteiligere Klassifikationsschemata entwickelt25. Für die Zwecke unserer Betrachtung sind diese jedoch von untergeordneter Bedeutung. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass vieles ür die grundsätzliche Richtigkeit einer von Pingel verfochtenen zeitlichen Abfolge seiner Untergruppen II a, II b und II c spricht26. Wie S. Celestino zeigen konnte, scheinen dabei neben chronologischen allerdings auch regionale Unterschiede eine gewisse Rolle zu spielen27. Hinsichtlich der Darstellung fremden Formengutes im ikonographischen Repertoire der Gruppe II zeigen sich insgesamt deutliche Unterschiede gegenüber den älteren Denkmälern der Gruppe I. Im Folgenden sollen die auf den Stelen der Gruppe II dargestellten Objektgaungen jeweils gesondert besprochen werden.

Schwerter Unter den Schwertdarstellungen der Gruppe II a finden sich neben einer geringen Zahl eindeutig atlantischer Schwerter mit schillaörmiger Klinge (Typ Rosnoën) vor allem Formen mit weidenblaörmigem Klingenumriss, welche letztlich auf mieleuropäische Vorbilder der Stufe Ha A zurückgehen (Taf. 10, 1, 1. 2). Die beschränkte Detailwiedergabe gestaet jedoch zumeist kein genaues Urteil in der Frage, ob es sich hierbei um genuine Urnenfeldertypen oder um frühe atlantische Adaptionen handelt (Taf. 11, 1, 4. 5. 10). Nur in ein oder zwei Fällen finden sich auf Stelen der Gruppe II a daneben Klingenformen dargestellt, die möglicherweise bereits eine u. a. 2011; Vilaça u. a. 2011a; Vilaça u. a. 2011b; Zarzalejos u. a. 2011. 21 Celestino – López 2006, 90 22 vgl. Mederos 2012, 425–443. Zwar wurde etwa von Barceló (1992, 54) und Galán (1993, 51) eine mögliche Zeit-

gleichheit der Gruppen I und II propagiert, andererseits durch Alarcão (2001, 330–332) sowie Celestino und López (2006, 90–92) die Datierung zumindest eines großen Teils der Gruppe II bereits in die orientalisierende Epoche verfochten, einer näheren Überprüfung halten die jeweiligen Argumente jedoch in keinem Falle stand (Brandherm 2008, 482–484; Mederos 2012, 441–443). 23 vgl. Harrison 2004, 39–44; Murillo u. a. 2005, 25–27. 24 Pingel 1974; Pingel 1993. 25 z. B. Almagro Gorbea 1977, 163–174; Santos 2010, 42; Celestino – Salgado 2011, 423–431. 26 Brandherm 2007, 21–25. 27 Celestino 2001, 91–97.

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Zuordnung zur Typenfamilie der Karpfenzungenschwerter nahelegen könnten28. Ein ähnliches Bild bieten die Schwertdarstellungen auf Stelen der Gruppe II b. Die charakteristischen Schwerter des Typs Rosnoën sind hier jedoch nicht mehr vertreten, ebenso wenig wie andere eindeutig Bz D-zeitliche Formen mit schillaörmiger Klinge (Taf. 10, 1, 3. 5. 6). Vor allem auf diesem Umstand beruht die Annahme ihres gegenüber der Gruppe II a etwas späteren Beginns, was eine längerdauernde zeitliche Überschneidung beider Gruppen freilich nicht ausschließt29. Die auf Stelen der Gruppe II c wiedergegebenen Schwerter schließlich sind in vielen Fällen so stark schematisiert, dass selbst eine annähernde Typbestimmung schwerällt (Taf. 10, 1, 4. 7–10). Soweit erkennbar, handelt es sich bei den abgebildeten Stücken jedoch überwiegend um Karpfenzungenschwerter (Taf. 11, 1, 13). Nur eine Minderheit der Darstellungen zeigt hier noch einen weidenblaörmigen Klingenumriss30. Unklar bleibt, inwiefern es sich bei den angedeuteten Karpfenzungenschwertern um Vertreter der vor allem im atlantischen Raum verbreiteten Typen Huelva bzw. Nantes oder um den westmediterranen Typ Monte Sa Idda handelt31.

Schilde Wendet man sich den dargestellten Schildformen zu, so ergeben sich hier wesentlich weniger Differenzierungsmöglichkeiten. Bei den auf den meisten Stelen der Gruppe II wiedergegebenen Rundschilden mit U- oder V-Kerbe handelt es sich um eine Form mit nahezu paneuropäischer Verbreitung, deren bislang frühester Beleg aus dem insularen Westen stammt und wohl noch vor die Mie des 2. Jts. datiert (Taf. 10, 1, 1–3. 6; 11, 1, 6)32. Zu Recht weist demnach A. Mederos darauf hin, dass das Fehlen dieser Schildform auf den Stelen der Gruppe I nicht nur rein chronologischen Gründen geschuldet sein kann33. Vielmehr düre ihr Vorkommen auf Denkmälern der Gruppe II als weiterer Hinweis darauf zu deuten sein, dass mit Beginn der Endbronzezeit die mediterranen Verbindungen des iberischen Südwestens gegenüber Kontakten zum Raum nördlich der Pyrenäen zeitweise in den Hintergrund treten. Zwar liegen auch aus dem Mielmeerraum Vertreter dieser charakteristischen Schildform vor, diese datieren jedoch sämtlich bereits in das 1. Jt. und scheiden aufgrund der auf den Stelen der Gruppe II a vergesellschaeten, deutlich älteren 28 Brandherm 2007, 134–141; Mederos 2012, 441–443. Die vom Verf. seinerzeit vorgeschlagenen allgemeinen Zu-

weisungen der auf den Stelen anzutreffenden Schwertdarstellungen zu bestimmten Typenfamilien wurden von nachfolgenden Autoren teilweise im Sinne durchaus spezifischer Typbestimmungen ausgelegt (Mederos 2012, 428 Tab. 7; Pavón – Duque 2010, 117; Sperber 2011, Abb. 11). Auf die hiermit verbundenen methodischen Probleme wurde durch den Verf. bereits an anderer Stelle ausdrücklich hingewiesen (Brandherm 2007, 23). Es sei hier noch einmal mit Nachdruck betont, dass exakte Typzuweisungen der auf den Stelen dargestellten Schwerter – von wenigen Ausnahmen abgesehen – unseres Erachtens methodisch nicht gerechtfertigt erscheinen. 29 Brandherm 2007, 24. 135–143. Nach Ausweis der dargestellten Schwertformen datieren die ältesten Stelen der

Gruppe II a damit spätestens in die Mie, die ältesten Vertreter der Gruppe II b spätestens an das Ende des 12. Jhs. v. Chr. Ein Beginn der Laufzeit der Gruppe II noch im 13. Jh. ist keinesfalls auszuschließen und wäre unter Zugrundelegung des jüngsten Revisionsvorschlags der atlantischen Schwerterchronologie durch Mahews (2011, 89–91 Abb. 3) sogar zwingend vorauszusetzen. 30 Brandherm 2007, 24. 138–155. 31 vgl. Brandherm – Moskal-del Hoyo 2010, 432–443. 32 Uckelmann im Druck. 33 Mederos 2012, 437.

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Schwertformen als Vorbilder ür die auf ihnen dargestellten Schilde aus34. Einfache Rundschilde ohne das charakteristische Kerbmotiv, wie sie sich ausschließlich auf Stelen der Gruppe II c finden, bieten demgegenüber keinerlei Möglichkeit der Zuordnung entweder zur atlantischen, kontinentalen oder mediterranen Sphäre (Taf. 10, 1, 4. 7. 9).

Lanzen Auch das Fehlen von Lanzen oder Speeren im ikonographischen Repertoire der Gruppe I ist sicher nicht allein chronologisch zu erklären, da Tüllenlanzenspitzen auf der Iberischen Halbinsel bereits gegen Ende der ersten Häle des 2. Jts. v. Chr. belegt sind. Typologisch lassen sich diese frühen Vertreter überwiegend an ägäische Prototypen anschließen35. Allgemein durchzusetzen scheint sich ihr Gebrauch jedoch erst mit dem verbreiteten Aureten vor allem atlantischer, zum Teil aber auch kontinentaleuropäischer Lanzenspitzentypen seit Beginn der Iberischen Endbronzezeit. Leider entziehen sich die auf den Stelen nur recht schematisch wiedergegebenen Lanzenspitzen einer näheren typologischen Zuordnung nahezu vollständig, so dass einer Herkunsbestimmung ihrer Vorbilder die Grundlage fehlt (Taf. 10, 1, 1–3. 6. 10).

Helme Bei den beiden einzigen auf Stelen der Gruppe II b dargestellten Helmen handelt es sich nach Ausweis der wiedergegebenen Niete eindeutig um mehrteilig gefertigte Kammhelme mit konvex gewölbter Haube, d. h. um die Form C I nach G. v. Merhart (Taf. 10, 1, 5; 11, 1, 11)36. Die auf Stelen der Gruppe II c abgebildeten Helme zeichnen sich dagegen durch eher spitzkegelörmige Kaloen aus, wie sie ür Kammhelme der Form C II charakteristisch sind (Taf. 10, 1, 9; 11, 1, 14). Da die relative Detailarmut der Wiedergabe auf den Stelen der zuletzt genannten Gruppe eine nähere Typbestimmung erschwert, ist hier freilich nicht in allen Fällen eindeutig zu bestimmen, ob es sich tatsächlich um Kammhelme handelt. Teilweise erscheint ebenso eine Deutung als einfache Spitzkaloenhelme denkbar, wie sie in einem fragmentarischen Exemplar aus der Ría de Huelva zusammen mit Kammhelmfragmenten der Form C II belegt sind37. An einer gegenüber den Kammhelmen der Form C I jüngeren Zeitstellung ist aber auch ür jene kaum zu zweifeln38. 34 Uckelmann im Druck. Ungeachtet erdrückender Belege ür ein Aureten dieser Schildform bereits im 2. Jt.

v. Chr. findet sich auch in der jüngeren Literatur ür sie teilweise immer noch ein deutlich jüngerer Zeitansatz verfochten, in dessen Folge die Stelen der Gruppe II von den betreffenden Autoren in ihrer Gesamtheit – gänzlich unhaltbar – erst in das 1. Jt. v. Chr. datiert werden (vgl. Celestino – Salgado 2011, 431–433). 35 vgl. Mederos 2012, 440–441. 36 v. Merhart 1940, 16–19. 37 Schauer 1983, 185–187 Abb. 5. 38 Borchhardt 1972, 97; vgl. auch Brandherm 2011, 40. Mit nicht von der Hand zu weisenden Gründen verfocht

jüngst Sperber (2011, 24) einen gegenüber der zuletzt vom Verf. vertretenen Chronologie deutlich späteren Beginn der westeuropäischen Kammhelmentwicklung. Mit einem Aureten von Helmen der Form C I wäre demnach erst ab Ha A2 bzw. ab dem ausgehenden 12. Jh. v. Chr. zu rechnen. Gegen einen durch Sperber favorisierten noch späteren Beginn dieser Entwicklungsreihe erst in Ha B1 spricht die unmielbare Entlehnung der Herstellungstechnik dieser Schutzwaffen von den deutlich älteren mehrlappigen Kammhelmen des Alpenraumes (vgl. Egg – Tomedi 2002, 555–557). Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf die vom sonst üblichen Sprachgebrauch (vgl. Lanting – Van der Plicht 2001/02, 134; Roberts u. a. im Druck) abweichende Definition und absolutchronologische Fixierung der Phase Ha B1 bei Sperber (2011, 5).

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Bereits an anderer Stelle wurde ausührlich dargelegt, dass es sich bei den dargestellten Kammhelmen um Erzeugnisse einer Handwerkstradition handelt, deren Wurzeln eindeutig in der Toreutik des nordalpinen Raumes zu suchen sind39. Insbesondere die Helme der Form C I stellen nach Ausweis ihres Verbreitungsbildes zudem kaum Erzeugnisse atlantischer Werkstäen dar, sondern sind als charakteristische Schutzwaffen der westlichen Urnenfelderkultur anzusprechen. Im Gegensatz zu ihrer Herstellungstechnik erscheint die Formgebung dieser Helme maßgeblich von ostmediterranen Vorbildern beeinflusst. Von L. Sperber wurde als wahrscheinlicher Ort ür das Zusammenfließen dieser unterschiedlichen Traditionsstränge zuletzt der Raum der linksrheinischen Urnenfelderkultur vorgeschlagen40. Auch andere Regionen des kontinentalen Westeuropa kämen hierür in Frage. Auf jeden Fall aber ügt sich die Darstellung von Kammhelmen der Form C I auf Stelen der Gruppe II b nahtlos in den Kontext des Auretens weiterer Elemente der frühen bis mileren Urnenfelderzeit im Süden und Westen der Iberischen Halbinsel41. Kammhelme der Form C II sind demgegenüber nicht nur erkennbar jünger – mit ihrem Auftreten ist kaum vor dem späten 11. Jh. v. Chr. zu rechnen – sondern stellen zudem das Ergebnis einer wahrscheinlich unmielbar im iberischen Südwesten unter ostmediterranem Einfluss stafindenden Weiterentwicklung der Kammhelme mit konvex gewölbter Haube dar. Fraglos gehen auf diesen neuen Einflussstrom auch die auf der Iberischen Halbinsel gleichermaßen erstmals auf Stelen der Gruppe II c belegten Hörnerhelme zurück (Taf. 10, 1, 10)42. Ähnlich wie bereits im Falle der auf den Stelen wiedergegebenen Schwerter und Schilde zeigen somit die ältesten dargestellten Helmtypen eindeutige Einflüsse aus dem Raum nördlich der Pyrenäen an, wobei hier ein Ursprung im Gebiet der westlichen Urnenfelderkultur noch deutlicher erscheint als bei den teilweise eher auf den atlantischen Bereich verweisenden Schwert- und Schildformen. Wohl spätestens seit dem ausgehenden 11. Jh. v. Chr. manifestiert sich in den dargestellten Helmformen zunehmend mediterraner Einfluss.

Fibeln Eine Darstellung von Gewandspangen findet sich nahezu ausschließlich auf Stelen der Gruppe II c. Lediglich auf drei Denkmälern der Gruppe II b lassen sich daneben mit einiger Sicherheit Fibeln identifizieren, wobei die Fibel auf der Stele von Brozas gemeinsam mit dem daneben gezeigten Kamm augenscheinlich eine sekundäre Hinzuügung darstellt (Taf. 10, 1, 6)43. Bezeichnenderweise handelt es sich bei einer der beiden übrigen auf Stelen der Gruppe II b dargestellten Fibeln um eine einfache Bogenfibel (Taf. 10, 1, 5), während sich auf Denkmälern der Gruppe II c vor allem verschiedene Formen von Ellbogenfibeln finden (Taf. 10, 1, 10). Eine genaue Typbestimmung ällt in der Regel jedoch schwer. Nicht immer handelt es sich zudem um Formen, die auch als Bodenfunde aus dem Verbreitungsgebiet der Stelen belegt sind. Mögliche Vorbilder suchte die bisherige Forschung hierbei vor allem unter den mediterranen Fibelformen44. Gerade einfa39 Brandherm 2011, 41–44; Sperber 2011, 23–24. 40 Sperber 2011, 23–24. 41 Brandherm im Druck. 42 Brandherm 2011, 47–53. Ein ähnliches Zusammenfließen mieleuropäischer und ostmediterraner Einflüsse im

Metallhandwerk des atlantischen Westens der Iberischen Halbinsel gibt sich auch in den Kesselwagen aus der Höhensiedlung von Baiões (São Pedro do Sul, Viseu, Portugal) zu erkennen, die jedoch wohl bereits in einen jüngeren Zeithorizont zu stellen sind (Schaner 2011, 282–286). 43 Celestino 2001, 338–339; Sanabria 2011, 376 Taf. 4 (dort als Spiegel angesprochen). 44 Almagro 1966, 182–188; Celestino 2001, 186–197; Harrison 2004, 161–163.

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che Bogen- sowie frühe Formen der Ellbogenfibeln finden sich daneben aber durchaus auch in Fundzusammenhängen der norditalischen und westalpinen Urnenfelderkultur (Taf. 11, 1, 9. 12)45. Berücksichtigt man die Vergesellschaung der Bogenfibel auf Stele III von Valencia de Alcántara mit einem Kammhelm der Form C I, ist eine mögliche Herkun der ältesten auf den Stelen dargestellten Fibeln aus dem zuletzt genannten Raum keineswegs von der Hand zu weisen. Erst nachfolgend – wohl nicht vor der zweiten Häle des 11. Jhs. – werden diese durch Fibelformen mit eindeutigen Verbindungen zum zentralen und östlichen Mielmeerraum sowie durch autochthone Weiterentwicklungen abgelöst (Taf. 11, 1, 16)46. Einige verschiedentlich als deutlich jüngere Fibeltypen gedeutete Motive bleiben in ihrer Ansprache zweifelha47.

Toileegeräte Eine weitere auf den Stelen prominent vertretene Objektgaung sind Toileegeräte. Vor allem Kämme und Spiegel finden sich in etlichen Exemplaren dargestellt. Daneben treten vereinzelt auch Pinzeen auf, in zwei Fällen sind zudem Rasiermesser abgebildet (Taf. 10, 1, 8)48. Abgesehen von der bereits erwähnten, sekundär hinzugeügten Darstellung eines Kammes auf der Stele von Brozas (Taf. 10, 1, 6) bleiben Kämme, Pinzeen und Rasiermesser dabei auf die Gruppe II c beschränkt, wohingegen sich Spiegel auch auf Stelen der Gruppe II b in nennenswerter Anzahl vertreten finden (Taf. 10, 1, 3. 5. 6). Zu den dargestellten Kämmen, die im Original regelha aus organischem Material bestanden haben düren, sind gute Vergleichsstücke sowohl im kontinentalen Westeuropa als auch im atlantischen und mediterranen Raum zu rar gesät, um verlässliche Schlussfolgerungen ziehen zu können. Entsprechende Vorbilder düren einigermaßen ubiquitär vorhanden gewesen sein. Ebenso finden sich Pinzeen weit verbreitet im zentralen und östlichen Mielmeer, spätestens seit der Mie des 2. Jts. v. Chr. zudem gleichermaßen in Miel- und Nordeuropa sowie wenig später auch im atlantischen Raum49. Der durchbrochene Griff der auf den Stelen von Capilla III und Puerto de Honduras dargestellten Rasiermesser findet gute Parallelen im Westen der Iberischen Halbinsel, aber auch im zentralen Mielmeer; ür die Form der Klinge lassen sich die besten Entsprechungen im Raum nördlich der Pyrenäen benennen (Taf. 11, 1, 8. 15)50. Dagegen sind Spiegel zur Spät- und Endbronzezeit als Bodenfunde außerhalb der Mediterraneis bislang vollständig unbekannt. Sie stellen somit die einzige regelha auf Stelen der Gruppe II b dargestellte Objektkategorie eindeutig mediterraner Provenienz dar, wenn man nicht davon ausgehen möchte, dass sie auch in Europa nördlich von Alpen und Pyrenäen bekannt waren und ihr Fehlen im archäologischen Fundgut dort im Wesentlichen durch Überlieferungsfilter bedingt ist (Taf. 11, 1, 7)51.

45 vgl. Betzler 1974, 11–13; 65–73; v. Eles Masi 1986, 5–7; 14–40. 46 vgl. Giesen 2001, 179–207; Pare 2008, 87–94; Lo Schiavo 2010, 591–605. 47 vgl. Celestino 2001, 191–195; Harrison 2004, 228. 238. 48 Celestino 2001, 163–171. 49 Sprockhoff 1956, 119–129; O’Connor 1980, 221–222; 582–583; Gedl 1988, 2–30. 50 Celestino 2001, 374–375; vgl. Kalb 1976, 201–204; Jockenhövel 1980, 58–77. 51 vgl. Harrison 2004, 151–156. Gegen die dort vertretenen Datierung des als Vergleichsobjekt zu den Stelendarstel-

lungen herangezogenen Spiegels aus dem Hortfund von Lloseta in das 9.–8. Jh. v. Chr. sprechen die vergesellschaeten Schwerypen, welche vielmehr eine Einordnung in den Beginn der Endbronzezeit, wahrscheinlich bereits in das 13.–12. Jh. nahelegen (Brandherm 2007, 103).

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Musikinstrumente Ein ähnliches Problem wie im Falle der Kämme stellt sich ür die auf einigen Stelen der Gruppe II c dargestellten Leiern (Taf. 10, 1, 4)52. Da die Vorbilder vollständig aus organischem Material bestanden haben düren, ist mit ihrem Überdauern in Bodenlagerung kaum zu rechnen. Es überrascht daher nicht, dass Parallelen ausschließlich in Form bildlicher Darstellungen und somit nur aus Regionen vorliegen, in denen entsprechende ikonographische Traditionen fassbar sind. Dies sind vor allem Ägäis und östliches Mielmeer, wo Leierdarstellungen zumal in der geometrischen Vasenmalerei kein unübliches Motiv bilden53. Die Detailarmut sowohl der Stelen- wie auch der Vasendarstellungen gestaet dabei allerdings kaum einen Vergleich einzelner Merkmale. Zu Recht wurde jedoch von Mederos darauf hingewiesen, dass die Darstellung einer Leier auf der anthropomorphen Stele von Luna in Nordspanien – zusammen mit einem V-gekerbten Schild abgebildet bietet sie eine weitaus größere Detailtreue als die auf den südwestiberischen Stelen zu findenden Leierdarstellungen – deutlich engere Entsprechungen unter spätmykenischen Instrumenten als unter bildlichen Wiedergaben der geometrischen Phorminx findet. Dies betri nicht nur die Form des Resonanzkörpers, sondern insbesondere auch die Anzahl der Saiten54.

Wagen Ein weiteres prominentes Motiv, welches sich auf vier Stelen der Gruppe II b sowie mehr als 20 Exemplaren der Gruppe II c findet, ist die stark schematisierte Darstellung des zweirädrigen Wagens. Ausnahmslos handelt es bei dem auf den Stelen wiedergegebenen Fahrzeugtyp um ein leichtes, von zwei Pferden gezogenes Geährt, dessen Wagenkasten in den meisten Fällen eine gerundete Front sowie an seinem hinteren Abschluss zwei große seitliche Haltegriffe aufweist. Die Achse verläu stets auf halber Länge des Wagenkastens (Taf. 10, 3. 9)55. Mit diesen Merkmalen steht der fragliche Fahrzeugtypus mykenischen Wagendarstellungen, aber auch Felsbildern der nordischen Bronzezeit sehr viel näher als den aus dem Mielmeerraum verschiedentlich als Beigabe in Prunkgräbern orientalisierender Zeit überlieferten zweirädrigen Wagen, die sich durch einen rechteckigem Wagenkasten, durch eine nach hinten verschobene Achse sowie durch das Fehlen der charakteristischen Haltegriffe auszeichnen56. Obwohl somit einigermaßen gesichert erscheint, dass es sich bei den dargestellten Wagen kaum um einen Fahrzeugtyp handeln kann, der erst zu Beginn der Eisenzeit gemeinsam mit anderen Elementen ostmediterraner Herkun durch phönizische Vermilung in den äußersten Westen gelangte, genügen die genannten Merkmale jedoch nicht ür eine sichere Zuschreibung im Sinne entweder einer mieleuropäischen oder mediterranen Herkun. Zwar verweist Celestino zu Recht auf das weitgehende Fehlen von Belegen ür zweirädrige Wagen im Bereich der Urnenfelderkultur, wo im Grabbrauch ausschließlich vierrädrige Zeremonialgeährte Verwendung fanden, inwieweit dies vor allem dem Überlieferungsfilter der Grab- und Deponierungssien geschuldet sein mag, muss angesichts der Darstellung zweirädriger Wagen in den Felsbildern der Nordischen Bronzezeit jedoch fraglich bleiben57. 52 Celestino 2001, 172–177. 53 Wegner 1968, 2–18; Celestino 2001, 177–181. 54 Mederos 1996, 118–122. 55 Powell 1976, 166; Fernández-Miranda – Olmos 1986; Harrison 2004, 144–148. 56 Nebelsick 1992; esada 1994; Mederos 2008. 57 vgl. rane 1990, 167–174. Verwiesen sei an dieser Stelle zudem auf die Darstellung eines zweirädrigen Wagens

auf einem frühurnenfelderzeitlichen Geäß von Vel’ke Raškovce in der Slowakei (Vizdal 1972, 226 Abb. 1). Die

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Szenische Elemente Gelegentlich wurden in der Literatur auch einzelne szenische Elemente der südwestiberischen Stelenkunst als Belege weitreichender Fernbeziehungen gedeutet. Vor allem die Wiedergabe einer durch M. Bendala als Auahrung gedeuteten Szene auf der Stele von Ategua wurde verschiedentlich mit Darstellungen der Prothesis bzw. Ekphora in der geometrischen Kunst Griechenlands in Verbindung gebracht (Taf. 10, 9)58. Tatsächlich unterscheidet sich das fragliche Motiv auf der Stele von Ategua deutlich von der üblichen Darstellung von Begräbnisszenen in der geometrischen Vasenmalerei. Die Gemeinsamkeiten sind hier äußerst allgemeiner Natur und erschöpfen sich im Wesentlichen im Vorhandensein eines Wagens, einer Überdimensionierung der Hauptfigur sowie in der Anwesenheit eines Reigens untergeordneter menschlicher Gestalten59. Ebenfalls sehr allgemeiner Natur ist die Analogie zwischen der Darstellung von ›Zwillingspaaren‹ auf mehreren südwestiberischen Stelen und in Felsbildern der Nordischen Bronzezeit. Anders als im Falle der szenischen Komposition auf der Stele von Ategua bildet dieses Motiv in der Stelenkunst der Iberischen Halbinsel jedoch keinen Einzelfall, sondern ist auf mindestens acht Exemplaren der Gruppe II c belegt (Taf. 10, 7. 10)60. Es erscheint vielleicht nicht vollkommen abwegig, letztere in Anlehnung an die Interpretation ähnlicher Motive in der Nordischen Bronzezeit als Niederschlag des indoeuropäischen Dioskurenmythos zu deuten61. Hiermit soll jedoch keinesfalls eine direkte Anregung von Zwillingsdarstellungen in der Stelenkunst der Iberischen Endbronzezeit durch nordeuropäische Bildwerke verfochten werden. Angesichts der weiten Verbreitung des mythologischen Motivs der Dioskuren erscheint es kaum angezeigt, hier im Sinne einer konkreten geographischen Herkun bzw. Vermilung über entweder die atlantischen Seewege, durch kontinentale Kontakte oder mediterrane Verbindungen argumentieren zu wollen. Mit einiger Sicherheit ausschließen mag man allenfalls eine Verbindung zu religiösen Vorstellungen und Praktiken phönizischen Ursprungs, wie sie seit dem 8. Jh. v. Chr. im Süden der Iberischen Halbinsel zunehmend greiar werden62. Im Zusammenhang mit der Ausbildung einer ›orientalisierenden‹ Kultur im Südwesten der Iberischen Halbinsel zu Beginn der Eisenzeit ist letztlich auch das Ende der Bildstelen zu verstehen. Problematik eines Schlusses e silentio erhellt auch aus dem vollständigen Fehlen entsprechender Bodenfunde auf der Iberischen Halbinsel. Zwar wurden verschiedentlich Bronzen aus Fundzusammenhängen der Iberischen Endbronzezeit als Wagenbeschlagteile gedeutet, einer näheren Überprüfung hält eine solche Ansprache jedoch in keinem Falle stand (Brandherm 2007/08, 27–31). Ohne die bildliche Überlieferung der Stelen würde man hier fraglos ebenfalls schließen wollen, dass entsprechende Wagen vor Beginn der Eisenzeit im iberischen Südwesten unbekannt waren. 58 Bendala 1977, 191–193; Celestino 2001, 286. 59 Ahlberg-Cornell 1971, 29–30. 60 San Martinho I (Celestino 2001, 357); Zarza Capilla III (Celestino 2001, 383); Alamillo (Celestino 2001, 392); El

Viso III, IV und VI (Celestino 2001, 398; 399; 402); Los Palacios (Celestino 2001, 420); Capilla VII (Dominguez u. a. 2005, 50). Unberücksichtigt bleiben hierbei Fälle wie jener der Stele II von Almadén de la Plata (García u. a. 2006, 139–142), wo aufgrund unterschiedlicher Aribute eine Deutung als männliche ›Zwillinge‹ fragwürdig erscheint und man eher an eine Deutung der Dargestellten als Personen unterschiedlichen Geschlechts denken möchte (vgl. Galán 2011, 277–278). 61 Harrison 2004, 118–119; Kristiansen – Larsson 2005, 258–270. 62 In diesem Zusammenhang sei auch auf die Verbauung bronzezeitlicher Stelen in Durchgangsbereichen der

orientalisierenden Heiligtümer von Cancho Roano und Castro dos Ratinhos verwiesen (Celestino 1992, 29 Taf. 6, 3; Berrocal-Rangel – Silva 2010, 191 Abb. 89; 92). Offenkundig hat man hier nicht nur einen Funktionsverlust der älteren Denkmäler vor sich, sondern indem sie nun ›mit Füßen zu treten‹ waren, wurden sie ihrer früheren Funktion gezielt und symbolträchtig entkleidet (vgl. Díaz-Guardamino 2012, 405).

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Die ebenfalls in diesen Kontext zu stellende Entwicklung einer eigenen Schrilichkeit bildet in der Folge die Grundlage ür die Errichtung der bereits eingangs erwähnten, weitgehend bildlosen Inschrienstelen, die regelha als Grabmonumente in ältereisenzeitlichen Nekropolen aureten und welche wir hier als Gruppe III bezeichnen möchten. Über 50 dieser Inschrienstelen sind milerweile bekannt63. In den seltenen Fällen, in denen sich bildliche Darstellungen gemeinsam mit einer Inschri auf ein und derselben Stele finden, handelt es sich entweder um die eindeutige Sekundärverwendung eines älteren Denkmals als Inschrienträger oder aber um Bildmotive, die in stilistischen und ikonographischen Details deutlich aus dem üblichen Rahmen bildlicher Darstellungen herausfallen, wie sie ür die Stelen der Gruppe II charakteristisch sind64. Angesichts der sehr begrenzten Überschneidung ihrer Verbreitungsgebiete ist die Möglichkeit einer teilweisen zeitlichen Überlappung der Gruppen II und III damit zwar nicht auszuschließen, aus dem ikonographischen Repertoire der Bildstelen ergeben sich jedoch keinerlei zwingende Hinweise auf ein Fortdauern derselben über das 10. Jh. v. Chr. hinaus. Lediglich aufgrund der ikonographischen Variationen innerhalb der Gruppe II c, welche sich vielleicht als Hinweis auf eine länger dauernde Entwicklung deuten lassen, mag man ür letztere eine Laufzeit noch während des 9. Jhs. oder gar darüber hinaus vermuten65. Der schlagende Unterschied in den Ausdrucksformen beider Denkmälergruppen lässt sich somit kaum anders denn als Folge eines tiefgreifenden gesellschalichen Wandels verstehen, welcher mit der dauerhaen Etablierung phönizischer Niederlassungen im Süden der Iberischen Halbinsel spätestens seit dem ausgehenden 9. Jh. v. Chr. in Verbindung stehen düre. Die Herausbildung eigener Schrilichkeit unter Adaption des phönizischen Alphabets verrät dabei den Grad der Integration zumindest von Teilen der ansässigen Bevölkerung in neue, große Teile der Mediterraneis umspannende Kommunikationsnetzwerke. Nach paläographischen Kriterien ist davon auszugehen, dass diese Adaption noch vor Ende des 9. Jhs. v. Chr. erfolgte, womit ein Datum post quem ür die Denkmäler der Gruppe III gegeben ist (Taf. 11, 17)66. Nähere Datierungshinweise ür ihre Laufzeit sind spärlich und überschreiten kaum die Mie des 1. Jts. v. Chr.67. Zusammenfassend lässt sich somit eine Entwicklung der südwestiberischen Stelenkunst umreißen, die von dem vornehmlich autochthon geprägten Motivschatz der Miel- und Spätbronzezeit, in welchem sich lediglich einzelne Elemente mediterraner Provenienz ausmachen lassen, mit dem Übergang von der Spät- zur Endbronzezeit zu einer Ikonographie ührt, in welcher kontinentale und atlantische Formen in den Vordergrund treten. Höchstwahrscheinlich ist diese Entwicklung in den Zusammenhang der weiträumigen Verbreitung früh- und älterurnenfelderzeitlicher Sachkultur zu stellen, welche sich seit dem 13. Jh. v. Chr. in verschiedenen Landschaen des atlantischen Westeuropa fassen lässt und dort sehr bald zu lokalen Adaptionen ührt. In diesem Zusammenhang darf als bezeichnend gelten, dass die mutmaßlich ältesten Exemplare der Gruppe II am Nordrand ihres Verbreitungsgebietes aureten. Daneben finden sich wohl seit dem 11. Jh. verstärkt wieder mediterrane Elemente im Motivschatz der südwestiberischen Stelenkunst, wel63 Koch 2011, 4. 64 vgl. Celestino 2001, 441–442; 445–446. 65 Zur mutmaßlichen Entwicklung der Ikonographie auf Stelen der Gruppe II c vgl. Almagro Gorbea 1977,

171–173; Gomes – Monteiro 1977, 183–188; Harrison 2004, 99–104; Mederos 2012, 420–423. Eine deutlich jüngere Datierung der betreffenden Denkmäler vertraten zuletzt Celestino – López 2006, 92. Einer näheren Überprüfung hält ihre chronologische Einordnung jedoch in keinem Falle stand (Brandherm 2008, Díaz-Guardamino 2012, 400–409). 66 Rodríguez 2000, 27 Anm. 9; Koch 2009, 9. 67 Rodríguez 2002, 87.

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che mit der Integration der menschlichen Gestalt in das ikonographische Repertoire zugleich einen grundsätzlichen Wandel in ihrer Bildersprache erährt. Diese Entwicklung findet später ihre konsequente Fortsetzung in den Inschrienstelen der Gruppe III68. Inwiefern es dabei angebracht sein mag, die Inschrienstelen dezidiert als ›tartessische‹ Denkmäler anzusprechen, wie dies in der Literatur teilweise unreflektiert geschieht, bedarf sicherlich noch weiterer Diskussion69. Wir möchten uns hier der Sichtweise M. Kochs anschließen, der nachdrücklich darauf hinwies, dass die Bezugnahme auf ›Tartessos‹ im eigentlichen Sinne speziell die Phase direkter griechischer Berührung mit dem von den Phöniziern in einer Frühphase ›Tarschisch‹ genannten Raum bezeichnet, weshalb ihm die von Teilen der Forschung gepflegte generalisierende Verwendung des Begriffes ›Tartessos‹ methodisch bedenklich erschien70. Keinesfalls stellt sich die vorstehend umrissene Entwicklung als ein linearer Prozess dar. Hierauf deuten bereits die voneinander abweichenden Verbreitungsgebiete der verschiedenen Stelengruppen. Auch in ihrem Kontext – überwiegend ohne direkten Nekropolenbezug – unterscheiden sich die Stelen der Gruppe II von den übrigen hier besprochenen Denkmälern. Fraglos hat die Forschung der vergangenen beiden Jahrzehnte mit ihrer Fokussierung auf einerseits die Fundstellentopographie sowie andererseits die Symbolsprache der Stelen entscheidende Anstöße ür ein besseres Verständnis dieser Denkmäler geliefert71. Dies schmälert jedoch nicht die grundlegende Bedeutung einer chronologischen wie kulturgeographischen Verortung der dargestellten Motive. Erst sie eröffnet die Möglichkeit einer Deutung in historischer Perspektive.

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›tartessisch‹ auf die bronzezeitlichen Bildstelen (contra Celestino – López 2006). 71 Harrison 2004, 104–121; Díaz-Guardamino 2011, 74–78.

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Von Hellas bis Hessen Zu möglichen Importen gläserner Perlen während der spätesten Bronzezeit Leonie Carola Koch

Zur Einführung Vor nunmehr über hundert Jahren legte Paul Reinecke in vorbildlicher Weise Glasperlen aus Deutschland vor, die er mit einer kolorierten Tafel illustrierte und in ihren Fundkontexten beschrieb1. Auch an ihnen unterschied er hallsta- und latènezeitliches Material. Doch obwohl Reinecke Unterschiede zu mielmeerischen Funden und solchen der vorderorientalischen Hochkulturen aufzählte, konnte er sich nicht entschließen, darin lokale, zentraleuropäische Produkte zu erkennen. Ganz anders hielt ea Elisabeth Haevernick in der Publikation der Glasperlen des Hortfundes von Allendorf in Hessen eine Herstellung zumindest zum Teil in Mieleuropa ür möglich2. Die Antwort des Altmeisters folgte prompt: Schon wegen der Parallelen in Griechenland und Italien sei sicher, dass der Ort der Herstellung keinesfalls »nördlich der Alpen zu suchen ist oder gesucht werden dure«3. Reinecke selbst mag sich zwar auch nicht festlegen, aber sein Blick in den fernen Osten oder Ägypten wird deutlich, wenn er die Perlen als »… sei es als Rohmaterial oder als fertiges Erzeugnis um und bald nach 1000 v. Chr. auch nach Italien und in die Ägäis von anderen Gebieten der Mielmeerzone eingeührt«4 ansieht.

Die Glasperlen des Hortfundes von Allendorf Der späturnenfelderzeitliche Hortfund von Allendorf5 in Hessen ist aufgrund seiner Bernstein-, Gagat- sowie vielältigen Glasperlen bekannt und immer noch einmalig in Deutschland und Mitteleuropa. Die Glasperlen umfassen unverzierte blaue Perlen einfacher Ringform, über gedrücktkugelige bis konische Formen (Taf. 12, 1). Von blauer Grundfarbe sind auch mit vier geschichteten Augen versehene Perlen und zwei tönnchenörmige Perlen, die einen weißen Spiralfaden als Verzierung tragen. Die zuletzt genannten Perlensorten gehören zu den so genannten Pfahlbauperlen, die durch Haevernick auch als ›Pfahlbaunoppenperlen‹ und ›Pfahlbautönnchen‹ in die Literatur 1 Reinecke 1911. 2 Haevernick 1953. 3 Reinecke 1957, 22. 4 Reinecke 1957, 22. 5 Heute Stadtallendorf, Kr. Marburg-Biedenkopf; Entdeckung 1943; Erstvorlage Uenze 1953, darin Haevernick

1953; zuletzt Lorenz 2006; Farbabb. der Glasperlen: Kunter 1996.

150

Leonie Carola Koch

eingingen. Sie wurden in großer Zahl zunächst aus den Schweizer Seeufersiedlungen bekannt6. Gut zwei Dutzend Perlen des Allendorfer Hortfundes haben einen schwarzen Körper, sind von gedrückt-kugeliger Form und weisen verschiedene Dekors auf: Sie sind alle durch Auflagen andersfarbiger, meist heller Gläser verziert, die ringörmig als Augen oder als Linien aufgelegt und eingeschmolzen wurden (Taf. 13, 2). Daneben kommen mehrfarbige Tupfen bzw. eingerollte Glassplier vor und möglicherweise die Auflage eines zweifarbigen, tordierten ›Reticella‹-Fadens7. Besonders zu erwähnen sind zwei zylindrische Perlen, deren helle Fadendekoration zu einem welligen Muster verzogen wurde; diese finden seltene, aber weit gestreute Parallelen in Fundorten von Italien über Griechenland bis an die Levante (Taf. 12, 2)8. Dass sich Reinecke das Vorkommen der Allendorfer Perlen nur durch die Vermilung über Griechenland und Italien erklären konnte, wird durch die angeührten Parallelen leicht verständlich. Besonders der von ihm zitierte geometrische Grabfund aus Orchomenos wies die selben Formen und Verzierungstechniken auf: kugelige und zylindrische, schwarzgrundige Perlen mit Augen und Linien aus weißem Glas liegen zusammen vor mit Perlen, die weiße, gelbliche und rote Kleckse9 tragen (Taf. 13, 1). Die zylindrischen Perlen mit verzogenen Linien und kugelige Perlen mit einfacher Bauchlinie fehlen jedoch. Eine zylindrische Perle (Taf. 12, 2) und eine kugelige mit aufgelegten Linien sind auch aus Perati überliefert10.

Die Chemie der Allendorfer Glasperlen Der Allendorfer Hortfund war zuletzt Gegenstand der Bochumer Dissertation von Andrea Lorenz, die einen Schwerpunkt auf die Auswertung der chemischen Analysen der Gläser legte. Prähistorische Gläser setzen sich in etwa aus 70–75 % Silizium, 15–20 % Alkali und 10 % Kalzium zusammen. Diese Werte können jedoch je nach Herstellungsort und Zeit oder durch intentionelle Zusätze wie auch Färbemiel deutlich variieren. Als Alkali kamen Natrium (Natron) und Kalium (Poasche) zur Anwendung. Die Glasforschung der letzten Jahrzehnte hat vor allem anhand ihres anteiligen Vorkommens verschiedene Glassorten klassifiziert und mögliche Herstellungsmethoden sowie Rohstoffquellen beschrieben. Es scheint beispielsweise gesichert, dass Pflanzenasche ür die bronzezeitlichen Gläser Verwendung fand; hierbei spielen die salztoleranten und somit natriumreichen Halophyten als Alkalilieferanten eine Rolle11. Eine grundsätzliche Unterscheidung prähistorischer Gläser ist die in ›Natron-Kalk-Gläser‹ und in so genannte ›MischalkaliGläser‹. Kaliumreiche ›Poaschegläser‹ werden üblicherweise mit der europäischen mielalter6 Haevernick 1978; Rychner-Faraggi 1993. 7 ›Reticella‹ bezieht sich eigentlich auf eine römische Herstellungstechnik von Geäßen miels tordierter Fäden

(Lierke 2009, 40); da das Zusammendrehen zweier Glasfarben aber den selben Vorgang darstellt, ist auch hier die Bezeichnung Reticella benutzbar. Die Perlen selbst sind ohne Autopsie nicht eindeutig zu beurteilen und es fehlen immer noch gute Makro-Aufnahmen. Auf die Verzierungstechnik geht Lorenz (2006 Kat.-Nr. 96. 97) nicht ein, aber die beschriebenen parallelen Schräglinien und die zentrale Verdickung der ungewöhnlichen Perlenform (Taf. 13, 2, Ad 97) könnte ür die Auflage eines schwarz-gelben Reticellafadens sprechen. 8 Koch 2011, 71–73 Abb. 38. 39; Lorenz (2006, 79) verweist auf eine Parallele in Cumae, die um 800 v. Chr. datiert

wird. 9 Die unregelmäßige Form der Farbkleckse weist eher auf eingerollte Splier hin als auf aufgesetzte Tupfen

miels eines Glasstabes. Diese Verzierungstechnik ist wie die Fadenauflage quasi zu allen Zeiten und vielen Regionen zu finden (Spaer 2001, 127); gedrückt-kugelige und zylindrische, spätbronzezeitliche Parallelen auch an der Levante (Spaer 2001 Abb. 54). 10 Nightingale 2009, 498 Abb. 3 b–c. 11 z. B. Lorenz 2006, 53–56; Nikita – Henderson 2006, 107; Tite u. a. 2008, 106 f. Tab. 5.1.

Von Hellas bis Hessen

151

lichen Glasherstellung verbunden, sind aber kürzlich auch in eisenzeitlichen italischen Kontexten nachgewiesen worden12. Die Identifikation von Gläsern, die auf Pflanzenaschen basieren, scheint zunächst durch den natürlichen Eintrag von Magnesium, Kalium, Kalzium und Phosphat einfach; die uneindeutigen Analyseergebnisse verschiedener Gläser weisen jedoch darauf hin, dass mit der Nutzung und Mischung verschiedenartiger Rohstoffe und Alkaliquellen zu rechnen ist sowie mit der Verarbeitung der Pflanzenaschen, aus denen möglicherweise bestimmte Anteile herausgelöst wurden. Daher ist die Identifizierung der Rohstoffe und die Vorgehensweise bei der Rohglasschmelze nicht allein durch chemische Analysen zu klären13.

Perlen aus Mischalkali-Glas A. Lorenz unterschied chemisch zwei Gruppen von Gläsern, obwohl es eigentlich drei sind. Zunächst konnte sie ein Mischalkali-Glas nachweisen (›Gruppe 1‹), das in Zusammenhang mit den oben beschriebenen Pfahlbauperlen steht. Es handelt sich hierbei um eine durch Julian Henderson (1988) identifizierte Glassorte, die sich durch wirksame Anteile sowohl von Natron als auch Poasche auszeichnet. Sie wird außerdem durch einen relativ geringen Kalziumanteil (ca. 2–5 %) und geringen Magnesiumgehalt (unter 1 %) charakterisiert, daher auch die Bezeichnung LMHK (low Mg-high K-glass). Dieses Glas ist an den Pfahlbauperlen der spätbronzezeitlichen Schweizer Station Hauterive-Champréveyres nachgewiesen worden und vor allem an Glasfunden des endbronzezeitlichen Handwerkszentrums Fraesina bei Rovigo in Norditalien14. Da bereits bronzezeitliche Fayencen in Italien und Frankreich als auch spätbronzezeitliche Perlen aus Irland des 9.–7. Jhs. v. Chr. diese typische Zusammensetzung aufweisen15, wird von einer ›europäischen‹ Glassorte gesprochen – im Gegensatz zu ägyptischen, vorderorientalischen oder ägäischen Gläsern. Es ist vorstellbar, dass auf der Grundlage der in Europa zur Verügung stehenden Rohstoffe – die nach wie vor unbekannt sind16 – mehrfach die ›Rezeptur‹ der LMHK-Gläser ›erfunden‹ wurde. Der aktuelle Forschungsstand zeigt vor allem die Verarbeitung von LMHK-Glas in Fraesina, Mariconda und anderen Orten im Nordosten Italiens17. Flache Glasbarren, Arbeitsabälle, Glasreste in Schmelztiegeln sowie auf tönernen Arbeitsplaen, eine breite Farbpalee und sogar mit Glas verzierte Keramik belegen ein wahres Zentrum des Glashandwerks des 12. bis frühen 9. Jhs. v. Chr.18. Die Herstellung des Rohglases wird dort zwar ebenfalls vermutet, ist jedoch archäologisch nicht belegt. Die ca. zwei Liter fassenden Tiegel können auch zum Färben oder Aufschmelzen importierter Glasbarren gedient haben. Für die Rohglasschmelze am Ort könnte aber ein von Towle detektierter Befund sprechen: in drei Fällen der Proben aus Fraesina lag kein LMHKMischalkali-Glas vor, sondern eine Sorte, die vor allem Poasche als wirksames Alkali und nur 12 Towle – Henderson 2007, 51–55. 13 s. Rehren – Pusch 2007, 223–231. 14 Hauterive-Champréveyres: Henderson 1993; Fraesina: Brill 1992; Towle u. a. 2001. 15 Zur Forschungsgeschichte und Literatur s. Towle u. a. 2001, 7–10; Bellintani u. a. 2003; Lorenz 2006, 77 oder

Koch 2011, 19–21. 16 Nikita – Henderson 2006, 74; 109; vgl. die Überlegungen Brills (1992, 18–20) zu Alkali-Lieferanten und die ge-

gensätzlichen Schlüsse bei Lorenz (2006, 61) und Towle (2002, 208), die ür und gegen Pflanzenasche argumentieren. Towle schlägt noch die Verarbeitung (Lösen und Auskristallisieren) der Aschen vor, die den geringen Mg- und Ca-Gehalt erklären könnten. 17 Towle u. a. 2001, 11; Bellintani u. a. 2003, 326. 18 Zuletzt Bellintani – Stefan 2009.

152

Leonie Carola Koch

1–1,80 % Natriumoxyd aufwies. Dieses Glas ist aber nicht mit mielalterlichen Poaschegläsern zu vergleichen, da deren Kalziumanteil (10–20 %) und auch Magnesiumgehalt sehr viel höher liegt. Es ist vielmehr in die Herstellungs-Tradition der ür Fraesina typischen LMHK-Gläser zu stellen, auch wenn ihm der charakteristische Anteil von 5–6 % Natriumoxyd fehlt19. Es könnte demnach argumentiert werden, dass in seltenen Fällen die elle, die das Natrium lieferte, nicht zur Verügung stand und trotzdem in der bewährten Weise Rohglas erschmolzen wurde. So könnte zum einen auf die Mischung zweier Alkali-ellen ür das LMHK geschlossen werden, zum anderen zeigt sich, dass auch so dauerhae Produkte entstanden, darunter ein völlig ungewöhnliches kleines Glasgeäß20. Da auch eine Probe eines Schmelzrestes aus einem Tiegel vorliegt, scheint gesichert, dass dieses Kalium-Glas in Fraesina verarbeitet und eventuell hergestellt wurde. Die LMHK-Perlen des Allendorfer Hortfundes entsprechen in den Hauptbestandteilen Silizium, Natrium, Kalium und Calzium sehr gut den Werten, die in Fraesina ermielt wurden (Tab. 1). Auch die übrigen, charakterisierenden Elemente wie Magnesium, Mangan, Aluminium und Phosphat stimmen gut überein, ebenfalls das gleichzeitige Vorkommen geringer Mengen Kobalts in kupfergeärbten Gläsern21. Dennoch muss offen bleiben, ob die Allendorfer Perlen von Norditalien oder einem anderen Fundzentrum der ›Pfahlbauperlen‹ importiert wurden22. Lorenz scheint die Rohglasschmelze in Zentraleuropa nicht ausschließen zu wollen, und auch Towle rechnet mit vielen lokalen Werkstäen. Er argumentiert u. a. mit dem unterschiedlichen Gebrauch der ärbenden Ionen Kupfer (reines Kupfer oder Legierung) und Kobalt an verschiedenen Fundorten23. Die Vorstellung mehrerer Herstellungsorte scheint auch in Anbetracht der Laufzeit dieser ›typischen‹ Gläser vom 12. bis Anfang des 9. Jhs. v. Chr. nur vernünig. Es könnte zudem die Tatsache erklären, dass Julian Henderson und Kalliopi Nikita, die LMHK-Glas aus spätmykenischen bzw. protogeometrischen Gräbern in Elateia (Phokis) identifizierten, diese nicht gänzlich mit den Werten der LMHK-Gläser aus Fraesina in Übereinstimmung bringen konnten24. Der Vergleich der kobaltgeärbten Perlen aus Fraesina und Elateia zeigt, dass ür den größeren Teil der LMHK-Perlen aus Griechenland eine andere Kobaltquelle genutzt worden sein musste25. Die Autoren schlossen daher sogar auf eine lokale, also in Griechenland erfolgte Produktion von LMHK-Gläsern. Besonders das Aureten der Pfahlbaunoppenperle jedoch weist auf einen Import der Perlen aus 19 So Towle 2002, 207–209. 223. 20 Towle u. a. 2001, Abb. 4, 23. 21 Towle 2002, 211 und Lorenz 2006, 68 Diagr. 14. 22 Einen Hinweis könnte das dunkle, Co-geärbte Tönnchen (Lorenz 2006, Nr. 77) geben: der Co-Anteil von 0,21 %

und der Cu-Gehalt von 0,71 % finden Entsprechungen in Mariconda (Italien) und Hauterive-Champréveyres (Towle 2002, 228 Abb. 518). 23 Towle 2002, 228 f. mit Abb. 5. 18; nota bene die Streuung der Werte aus Hauterive-Champréveyres, die nur zum

Teil mit den oberitalischen Funden übereinstimmt. 24 Nikita – Henderson 2006. Die Perlenformen der LMHK-Gläser aus Elateia umfassen hauptsächlich Ringperlen,

aber auch eine Pfahlbaunoppenperle aus Grab 57 (Nikita – Henderson 2006, Tab. 3 Nr. Ela/86 und Ela/87). Außerdem treten in Elateia gesprenkelte Perlen, offenbar schwarzer Färbung auf sowie kugelige, mit Linien verzierte, als auch schmale zylindrische mit Spirale (leider mit sehr knapper Beschreibung: Nightingale 1996, 144 f. Abb. 2). 25 Die Proben ließen sich im Aurag von Cu und Ni zu Fe trennen (Nikita – Henderson 2006, 115, Abb. 24–26): die

Co-geärbten LMHK-Perlen aus Elateia weisen mehr Cu, Fe und Ni auf, von dem die Autoren annehmen, dass es durch die Co-elle eingetragen wurde (Nikita – Henderson 2006, 103. 115). Den konstatierten Unterschied im Plot von Ca und K (Nikita – Henderson 2006, 109 Abb. 17) sehe ich nicht; ca. ein Dutzend der Proben von Elateia bilden zwar ein Cluster, aber alle liegen noch im Steuungsbereich von Fraesina. Auällig bleiben die im Vergleich hohen Phosphatwerte (Nikita – Henderson 2006 Abb. 18); s. a. Nikita u. a. 2009, 41 mit Abb. 3.

Von Hellas bis Hessen

153

Sp. 1

2

3

4

5

6

7

8

Allendorf

Elateia

Frae. u. a.

Fraesina

Pella

Pozzuoli

Cumae

Allendorf

LMHK

LMHK

LMHK

›Poasche-

Schw. Per-

Schw. Per-

Schw. Per-

Schw. Per-

Matrix blau

Matrix blau

Matrix blau

glas‹

len Matrix

len Matrix

len Matrix

len Matrix

∅ (n = 7)

∅ (n = 18)

∅ (n = 57)

∅ (n = 3)

∅ (n = 23)

∅ (n = 46)

∅ (n = 13)

∅ (n = 10)

Si

78,02

74,30

74,55

72,47

66,20

65,62

67,70

65,12

Na

5,72

6,23

5,99

1,34

17,04

15,96

15,62

9,43a

K

9,69

9,10

9,67

16,50

1,34

1,12

1,51

1,28

Mg

0,75

0,85

0,82

0,74

1,48

1,66

1,21

2,41

Ca

2,53

2,26

1,94

2,85

2,26

2,68

2,22

3,31

Mn





0,03

0,06



0,03

0,05

0,03

Fe

0,84

1,05

0,74

0,55

9,72

11,28

10,56

10,59

Al

2,45

2,40

2,62

2,15

1,62

1,70

1,81

1,44

Cu





2,73

3,39



0,07

0,03

0,06

Co





0,05

0,02



0,02

0,03



Ni





0,07

0,01



0,02

0,02

0,03

Pb





0,02

0,04



0,02

0,04

0,11

Cl

0,08



0,08

0,01



0,59

0,49

0,56

P

0,18

0,22

0,15

0,20

0,17

0,22

0,13

0,17

a

Der Natriumwert liegt zu niedrig, da Natrium bei der Häle der Proben ausgelöst war (Na₂O 4,40 %–15,70 %; s. Lorenz 2006, 40).

Tabelle 1: Spalten 1–3: Vergleich der durchschnilichen Analysewerte der LMHK-Perlen aus Allendorf (nach Lorenz 2006, 61 Tab. 16) mit Werten aus Griechenland (Elateia, nach Nikita u. a. 2009, 40 Tab. 1) und Italien (Fraesina u. a., nach Towle 2002, 224 Tab. 5. 8 und 5. 2); Spalte 4: ungewöhnlich kaliumreiche Gläser (nach Towle – Henderson 2007); Spalten 5–8: Vergleich der durchschnilichen Analysewerte der schwarzgrundigen Perlen aus Allendorf (Mielwert aus den gemielten Rohdaten nach Lorenz 2006, Anhang 1 Analysen-Nr. 12–21) mit Werten aus Jordanien (Pella, nach Reade u. a. 2009, 48 Tab. 2) und Italien (Pozzuoli, Cumae, nach Towle 2002, 248 Tab. 5. 14; 5. 18). In der Stichprobe von Cumae sind zwei Exemplare ›echten‹ HM-Glases enthalten.

Die Elemente werden üblicherweise in ihren Oxyden gemessen und angegeben, darauf wurde hier aus Platzgründen verzichtet. Die Zahlen bezeichnen Gewichtsprozente der jeweiligen Oxyde. ∅ = Mielwert; Ew = Einzelwert; LMHK = gemischt-alkalisches Glas; ›LMG‹ = schwarzes Glas mit niedrigem Magnesiumgehalt; ›HMG‹ = schwarzes Glas mit hohem Magnesiumgehalt.

154

Leonie Carola Koch

dem norditalischen bzw. dem ›Pfahlbau-Gebiet‹26. Dass die beiden Stichproben von Elateia und Fraesina vom selben Herstellungsort oder sogar aus der selben Charge stammen, ist kaum zu erwarten. So können auch die LMHK-Perlen des Allendorfer Hortfundes nur der Gruppe dieser typisch spätbronzezeitlichen Gläser zugeordnet werden.

Pflanzenasche-Gläser Die zweite Gruppe der Gläser in Allendorf sind Natrium-Kalk-Gläser; der Alkali-Anteil wird also hauptsächlich von Natrium gestellt, Kalium ist zu einem Prozentsatz von 1–1,80 % anwesend. Lorenz unterteilt diese in LM- und HM-Gläser, eine auf dem Magnesium-Gehalt basierende, übliche Gliederung. Unter den ›HMG‹ (high magnesia glass) sind eigentlich (Salz-)Pflanzenaschegläser zu verstehen, die typisch sind ür die bronzezeitliche Ägäis, Ägypten und Vorderen Orient27. Unter den von Lorenz als HMG separierten Perlen finden sich transluzente blaue / blaugrüne und opake schwarze (›Gruppe 2a blau und 2a schwarz‹). Da letztere eine Besonderheit sind, sollen sie separat, zusammen mit der drien Gruppe, den schwarzen magnesium-armen Gläsern besprochen werden. Drei der vier Proben des blauen HM-Glases stammen von unspezifischen, unverzierten Perlen, eher gerollter, zylindrischer Form als kugeliger (Taf. 12, 1). Die vierte Probe stammt vom Fragment einer geriefelten Perle, auch ›Melonenperle‹ genannt, einer raren Form. Bereits Lorenz verwies auf die entsprechenden Werte publizierter HM-Gläser, wobei sie jedoch die Magnesiumwerte der Allendorfer Perlen nicht auf die Pflanzenaschen zurückühren möchte28. Die in sich kohärenten Werte der blauen Perlen entsprechen gut der Zusammensetzung von Perlen aus dem Mielmeerraum, etwa von Kreta oder aus eben – natürlich in einem gewissen Schwankungsbereich29. Die Zuordnung zur Gruppe der mit Kupfer oder Kobalt geärbten30 bronzezeitlichen Pflanzenaschegläser ist also gesichert. Lorenz zeigte bereits die Parallele zu einer einzigen HMG-Perle in spätbronzezeitlichem Kontext in der Seeufersiedlung Hauterive-Champréveyres auf31.

Schwarze Perlen Die schwarzen Perlen mit ihren Ringaugen, Linien und Klecksen als Verzierung teilt Lorenz chemisch in HMG und LMG ein, wie dies in der Literatur zur Unterscheidung der bronzezeitlichen Pflanzenasche- von (eher) eisenzeitlichen mineralischen Natrongläsern üblich ist. Dass die schwarzen Perlen jedoch einer ganz anderen Herstellungstradition angehören, zeigen die hohen Eisengehalte zwischen 4,5–15,7 %, die auch ür die Schwarzärbung verantwortlich sind. Sowohl 26 Vgl. Bellintani – Stefan 2009, Abb. 1. 27 z. B. Nikita – Henderson 2006, 73. 107; zur Forschungsgeschichte: Towle 2002, 77–80; Lorenz 2006, 35 f. 28 Lorenz 2006, 61–64 Diagr. 13; ür die blauen Perlen: Lorenz 2006, Diagr. 11. 12. 29 Vgl. Lorenz 2006, Anhang I Nr. 56. 58. 60. 71, mit Tite u. a. 2008, Tab. 5, 4 und Nikita – Henderson 2006, 81 und

Tab. 6. 7 (acht Perlen aus eben). 30 Tite u. a. 2008, 118 nehmen an, dass Cu-geärbtes Glas der Ägäis eher aus dem Vorderen Orient stammt, da die

minimale Menge von Zinn (Sn) auf eine Färbung durch Kupfererz wiese, in Ägypten aber eher Bronze benutzt worden sei (s. a. Rehren – Pusch 2007, 232 f. zu einem möglichen Netz von Herstellungsorten, die untereinander Material tauschten). Leider ist in den Allendorfer Perlen Zinn nicht analysiert worden, so dass keine weitere Aussage möglich ist. 31 Henderson 1993, Nr. 5640 Taf. 122, 9 (türkis, ringörmig).

Von Hellas bis Hessen

155

typographisch als auch chemisch finden diese Parallelen in schwarzgrundigen Perlen aus Pozzuoli und Cumae, Kampanien (Italien). Sie wurden von Andrew C. Towle im Rahmen seiner Dissertation 2002 an der University of Noingham untersucht, ihre vollständigen Datensätze 2011 im WWW zur Verügung gestellt32. Die schwarzen Perlen, hauptsächlich mit Augen-33, Linienund Fleckenverzierung (Taf. 13, 3) stammen alle aus der Universitätssammlung von Cambridge, die auf die Sammlung des Perlenforschers Horace C. Beck34 zurückgeht35. Sie werden zwar von ihm in das 7. Jh. v. Chr. datiert36, sind jedoch ohne überlieferte Fundkontexte. Die zeitliche Einordnung entspricht wahrscheinlich noch der Einschätzung Becks und muss wohl ür einen Teil der Perlen nach oben korrigiert werden. Der frühen italischen Eisenzeit können sie sicherlich zugeordnet werden. Die italischen Perlen sind ebenfalls durch Eisenoxyd geärbt worden, das mit 5,4–19 % vorliegt37. Wie auch Lorenz stellte Towle in der Gruppe der schwarzen Gläser solche mit hohem sowie niedrigem Magnesiumwert fest. Er schließt daraus jedoch, dass an dieser Perlengruppe durch Magnesium keine Unterteilung in die ›klassischen‹ HMG (Pflanzenascheglas) und LMG (Glas mit mineralischer Natronquelle) vorgenommen werden kann, da keine Korrelation zum Kalium besteht und daher nicht zwischen Natrium aus vegetabiler und mineralischer elle unterschieden werden kann38. Dass auch die schwarzen Perlen aus Allendorf nicht übereingehen mit anderen HMG und LMG (aus Europa) zeigt sich bereits im Aurag von Phosphat und Chlor39: Während Proben von LM-Gläsern ein Cluster mit niedrigem Phosphatwert40 bilden, streuen die schwarzen Gläser breit im Mielfeld – und zu trennen sind die ›HMG‹ und ›LMG‹ aus Allendorf nicht. Die Inhomogenität der schwarzen Gläser kommt auch im Vergleich mit den vier Proben blauen ›echten‹ HM-Glases zum Ausdruck41. Lorenz42 schloss bereits aus den P-, Cl- und K-Werten, dass es sich bei dem schwarzen, magnesiumarmen Glas in Allendorf nicht um ein mineralisches Natronglas handeln könne und man mit einer Asche einer unbekannten Pflanze rechnen müsse. Sie zieht jedoch aus dieser Erkenntnis keine Konsequenz und bezeichnet die Gläser weiterhin als LMG und HMG. Auch Towle lässt offen, ob und auf welcher Pflanzenasche die Mixtur des Rohglases basierte43. Er betont jedoch, dass alle Gläser aus der selben, eben Magnesium-variablen Herstellungstradition stammen, u. a. auch deshalb, weil die Perlen mit hohem oder niedrigem Magnesiumwert keine Unterschiede in Form und Verzierung aufweisen, sich also typographisch nicht trennen lassen. Als Alternative schlägt er vor, dass die Perlen aus wiedereingeschmolzenen Gläsern bestehen könnten, die nachträglich mit einem deutlichen Zuschlag von Eisen ge- und 32 Towle 2002 (diesen Hinweis verdanke ich Stephanie Mildner, Würzburg); daraus gingen zwei Publikationen zu

den Perlen von Fraesina (Towle u. a. 2001) und zu etruskischen Funden (Towle – Henderson 2007) hervor. 33 Anders als im Allendorfer Hortfund liegen hier vielfach Perlen mit drei Augen aus zwei konzentrischen Ringen

vor, die im Zusammenhang mit den sog. Dreikantperlen (zuletzt Koch 2011, 66–70) zu sehen sind. 34 Horace C. Beck (1873–1941). Weitere Informationen zu der Person unter Horace C Beck, e Bead Man, zuletzt

aktualisiert am 02.06.2008, (09.03.2012.). 35 Towle 2002, 247. 258. 36 Towle 2002, 258. 37 Towle 2002, Appendix 1 Nr. 50–97. 164–174. 38 Towle 2002, 247–251 mit Abb. 5. 27. 39 Lorenz 2006, 57 Diagr. 7. 40 Der Eintrag von Phophat wird auf die pflanzliche elle des Alkalis zurückgeührt. 41 Lorenz 2006, 64. 78 Diagr. 5. 42 Lorenz 2006, 64. 78 Diagr. 5. 43 Towle 2002, 249.

156

Leonie Carola Koch



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Tabelle 2: links: Vergleich der Einzelwerte von schwarzer Matrix und rot-opakem Dekorglas zweier Tupfenperlen aus Allendorf (nach Lorenz 2006, Anhang 1 Analysen-Nr. 19. 32) und Pozzuoli (nach Towle 2002, Appendix Analysen-Nr. 74. 75) (vgl. Taf. 13, 2 Ad 93 und Taf. 13, 3 74 und 79); rechts: Vergleich der chemischen Zusammensetzung von schwarzgrundigen bzw. dunkelgrünen Perlen mit Bauchlinie aus Allendorf (nach Lorenz 2006, Anhang 1 Analysen-Nr. 15), der Schweiz (Hauterive-Champréveyres, nach Henderson 1993, Anhang, Analysen-Nr. 37) und Italien (Pozzuoli, Cumae nach Towle 2002, Appendix I Analysen-Nr. 71. 72. 172. 173) (vgl. Taf. 13, 2 Ad 87; Haut.-C. und Taf. 13, 3. 72 und 173).

vielleicht überärbt worden sind. Man häe es also möglicherweise mit Recycling zu tun. Darauf könnten auch die Werte von Kobalt weisen, die in den meisten italischen Perlen in einer ür die Färbung ausreichenden Konzentration gemessen wurden (ür die schwarzen Allendorfer Perlen liegen leider keine Angaben zu Co vor). Bei der Vorstellung des Wiedereinschmelzens verschiedener Gläser wären auch die unspezifischen Mg-Werte zu erklären. Jedoch hat Towle, obwohl er die Wiederverwendungsthese zu favorisieren scheint, Bedenken, die in sich kohärente Gruppe von schwarzen Gläsern auf eine Mischung von ›Altglas‹ zurückzuühren44. Ein weiteres Ergebnis verbindet die Perlen aus Allendorf mit den italischen: während die Analyse des weißen Dekorglases der Perlen aus Pozzuoli misslang und daher nicht mit den Ergebnissen von Lorenz45 verglichen werden kann, konnte Towle vier opake rote Tupfen analysieren. Dabei war vor allem der hohe Eisenanteil bemerkenswert, der neben dem reduzierten Kupfer (Kyprit), das ür die Rotärbung verantwortlich sein muss, vorlag46. Dieses Nebeneinander von Kupfer und Eisen findet sich nun auch bei einem roten Glastupfen einer ›LMG‹-Perle in Allendorf (Tab. 2). Die gegenübergestellten Werte stammen von Perlen der gleichen Sorte: Beide sind von ca. 1,2 cm 44 Towle 2002, 254 f. 45 Lorenz 2006, 70. 46 Towle 2002, 256 f. Tab. 5. 17.

Von Hellas bis Hessen

157

Durchmesser und tragen rote zusammen mit hellen Tupfen. Der selben Sorte, der mit einfacher Bauchlinie, gehören auch die Perlen aus Allendorf, Pozzuoli sowie Cumae an, von denen in Tab. 2 (rechts) einige Beispiele zusammengestellt sind. Der hohe Eisengehalt und die schwarze Färbung als solche sind ür urgeschichtliche Perlen durchaus als ungewöhnlich anzusehen, auch wenn sich die Belege nun mehren47: Spätbronze- bzw. früheisenzeitliche Perlen aus Frankreich und der Schweiz sind mit 7–20 % Eisenoxyd geärbt48. Im villanovazeitlichen Etrurien sind schwarze Perlen nur selten und o als kleine Kugelperlen belegt49. Zu erwähnen sind auch Perlen in Gräbern der lazialen Nekropole Osteria dell’Osa des 10. und 9. Jhs. v. Chr., von wo außerdem Pfahlbaunoppenperlen stammen50. Ähnliche Formen wie in Allendorf lieferte Grab Colle Cardeto 7/1902 im Picenum, mit je einer schwarzgrundigen Perle mit Kreisaugen, einfacher Linie und roten Tupfen (Mus. Arch. Ancona). Völlig einmalig sind dagegen die jüngeren schwarzgrundigen, langgestreckten Perlen mit weißer Fischgrätenverzierung aus Verucchio des späten 8. und frühen 7. Jhs. v. Chr.51 Einige der Exemplare aus Kampanien werden von Towle auch als dunkelgrün beschrieben52, was sie mit einer einzelnen, ebenfalls eisengeärbten Perle aus der Pfahlbausiedlung HauteriveChampréveyres verbindet53: Die als ›HMG‹ klassifizierte Perle ist von der Sorte mit Bauchlinie, wie sie in Allendorf sowie Pozzuoli vielfach vorliegt und ür Frankreich erwähnt wird (Taf. 13, 2 r. u.; Tab. 2 r.). Als dunkelgrün bis schwarz werden auch kleine Perlen aus Pella in Jordanien beschrieben, die eisenzeitlich, zwischen das 11. und 9. Jh. v. Chr. datieren54. Auch diese sind mit ca. 6–16 % Eisenoxyd geärbt und zeigen einen niedrigen Magnesiumgehalt (Tab. 1 r.). Alle aufgeührten schwarzen Gläser gehen mit einem niedrigen Kalziumwert einher, der sich offenbar nicht negativ auf die Haltbarkeit auswirkte. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Art des Eisen-Zuschlags verweist Towle auf die SandAnalysen durch R. H. Brill55; dieser hat verschiedene, natürliche arz-Sande auf ihre Zusammensetzung untersucht. Darunter ist auch Flusssand von der Mündung des Volturno in Kampanien, der bis zu über 30 % Eisenoxyde enthalten kann. Der Volturno wird von Plinius als einer der Sandlieferanten erwähnt, die ür die Glasherstellung günstig seien56; er erwähnt daneben auch 47 Towle 2002, 251, mit Verweis auf wenige analysierte Beispiele bei Brill 1999. Hohe Eisengehalte sowohl in der

schwarzen Matrix als auch im roten Dekorglas fanden ebenfalls Angelini u. a. (im Druck) in Perlen des 9./8. Jhs. v. Chr. aus der Umgebung von Bologna. 48 Gratuze 2009, 10 f. mit Diagr. 1; eine Perle sogar mit über 25 % Fe-Oxyd. Auch Gratuze trennt wie Lorenz

zwischen Mg- und K-reichen Gläsern, die er auf Pflanzenaschen zurückührt und ›LMG‹-Natrongläser; die Rohdaten scheinen noch nicht publiziert, weshalb sie hier nicht mit Allendorf und Italien verglichen werden können. Die Formen umfassen neben Ringperlen auch kugelige Perlen mit Bauchlinie und Flecken. 49 z. B. Cerveteri, Nekropole Sorbo: Pohl 1972, Grab 92, Grab 159, Grab 232. Eine schwarzgrundige Perle mit ro-

ten und weißen Flecken stammt aus Vetulonia, Poggio alla Guardia pozzo III (Mie 8. Jh. v. Chr.), eine mit eingerollten gelben und weißen Spliern aus dem Brandgräberfeld Ca’ Borghese (Emilia-Romagna) (Autopsie). 50 z. B. Biei Sestieri – De Santis 2000, 54 Grab 508 mit Abb. 51 Zuletzt Koch 2011, Abb. 26 Taf. 2, 1. 52 Towle 2002, 254. 53 Auf die Parallele wiesen schon Lorenz und Towle hin. Sie ist jedoch im Gegensatz zu den schwarzen Perlen als

transluzent beschrieben. Ob Glas opak ist oder nur so wirkt, ist allerdings auch sehr von der Konzentration des Färbemiels abhängig. 54 Reade u. a. 2009, 48. 55 Towle 2002, 253. 56 Plin. n. h. 36, 190, 194, zählt daneben auch Sand aus gallischen und spanischen Provinzen auf; nach Sode – Kock

158

Leonie Carola Koch

die phönizische Küste. Dass die römische elle eine lange Überlieferung bewahrte, sollte also nicht ausgeschlossen werden. Die Folgerung aus dem konzentrierten Vorkommen der schwarzen Perlen aus Pozzuoli und Cumae und dem eisenhaltigen Sand des Volturno auf ein Glasproduktionszentrum in Kampanien ist natürlich verlockend. Aber die Diskussion der chemischen Ergebnisse hat auch gezeigt, wie unsicher der Rückschluss auf Herstellungstechniken und Rohstoffe ist. So schließt Towle aus der negativen Korrelation von Eisen und Silizium die Zugabe des Eisens über den Sand aus57. Nicht auszuschließen ist eine früheisenzeitliche kampanische Werktradition schwarzer Perlen, vielleicht nach vorderorientalischen oder griechischen Vorbildern, die unterschiedliche Rezepturen hervorbrachte. Die Herkun der schwarzen Perlen aus Pella vermuten die Autoren aufgrund der Spurenelemente, die sie auf den genutzten Sand zurückühren, nicht in Jordanien58. Entsprechende Sande seien in Nord-Syrien oder Anatolien aber auch auf Zypern, dem Balkan und Kroatien (!) zu finden. Weiterhelfen können hier vor allem eine umfassende archäologische Aufnahme der Funde, die Diskussion in ihren Fundkontexten und der Vergleich mit regionalem sowie überregionalem Material.

Resümee Die Glasperlen des Hortfundes aus Stadtallendorf setzen sich demnach aus drei Glassorten zusammen: einem blaugeärbten Pflanzenascheglas bronzezeitlicher, vorderorientalischer Tradition; es kann als importiert gelten und wurde vielleicht eingeschmolzen und neu geformt, da typographische Parallelen fehlen59. Mit mindestens sieben Exemplaren ist das ›europäische‹ LMHK-Glas der sog. Pfahlbauperlen vertreten. Beim derzeitigen Forschungsstand kann angenommen werden, dass diese Perlen in norditalischen Handwerkszentren wie Fraesina hergestellt wurden, vielleicht auch in Pfahlbausiedlungen nördlich der Alpen60, wie Haevernick vorschlug. Dass das LMHK-Glas vom 12.–10. Jh. v. Chr. in Europa auch produziert wurde, scheint möglich, der archäologische Beweis steht aber noch aus. Der größte Teil der Allendorfer Perlen ist mit ihrer schwarzen Grundfarbe als eine eigenständige Produktion, wahrscheinlich des beginnenden 1. Jts. v. Chr. zu sehen. Durch den Vergleich der Ergebnisse chemischer Analysen bestätigte sich, worauf bereits Reinecke 1957 verwies: die direkten Parallelen der Perlen aus Hessen in Italien, hier besonders Kampanien. Im Zusammenhang mit der schrilichen Überlieferung des als Glasrohstoff hervorragend geeigneten Sandes des Volturno ist der Schluss, dass die schwarzen Perlen auch in Kampanien hergestellt wurden, bestechend. Dass diese von Italien ihren Weg nach Griechenland, wie Orchomenos oder Perati fanden, ist angesichts des Vorkommens von ›europäischen‹ LMHKPerlen in spät- und submykenischen Elateia und von asos nicht generell abzulehnen. Ob eine mögliche europäische / italische Produktion eisengeärbter schwarzer Gläser auf Anregungen aus dem Vorderen Orient zurückzuühren ist, alle Stücke importiert sind – und Reinecke Recht behält –, oder umgekehrt die schwarzen, in der Bronzezeit unbekannten Gläser in Griechenland, Levante und darüber hinaus als seltene Importstücke begehrt waren, ist noch völlig offen. Die Kontakte über das östliche Mielmeer und die Ägäis können jedoch nicht von vorneherein auf eine unilineare Ost-West-Richtung reduziert werden. Gerade ür das ›dunkle‹ 1. Jt. v. Chr. bieten 2001, 155. 57 Towle 2002, 255; anders aber S. 262. 58 Reade u. a. 2009, 49 f. 59 Lorenz 2006, 79. 60 Vgl. Towle 2002, 211; Lorenz 2006, 68 Diagr. 14.

Von Hellas bis Hessen

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archäologisches Studium und anschließend chemische Analyse der Glasperlen einen neuen Zugang zum transmediterranen Kulturaustausch, der wie am Allendorfer Hortfund zu sehen, auch Mieleuropa betri. In den verschiedenen Gläsern und Perlenformen zeigt sich im Allendorfer Hortfund ein ähnliches Sammelsurium an Glasperlen wie bei den Bronzen: Bronzezeitliche Glassorten liegen neben der spezifisch spätbronzezeitlichen Glasproduktion und einer Glassorte vor, die in Italien und Griechenland bereits in die früheste Eisenzeit zu datieren ist.

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Begegnung: Orientalische und griechische Ikonographie auf einem Krateriskos im Heraion von Samos Bärbel Morstadt

Das Heiligtum der Hera auf Samos gehörte in der Antike zu den berühmtesten und überregional bedeutenden Kultorten. Dank der langjährigen, gut dokumentierten und publizierten Grabungen zählt es inzwischen auch zu den archäologisch wertvollsten Stäen. Gelegen in der östlichen Ägäis unmielbar vor der Westküste Kleinasiens partizipierte und profitierte die Insel in der Antike von den dort verlaufenden Handelswegen. Die bis heute bekannten Funde konzentrieren sich auf den Süd-/Südosten der Insel, im Bereich des Hera-Heiligtums und der antiken Stadt unter dem modernen Ort Pythagoreion. Sie reichen in dieser Gegend in spätneolithische und chalkolithische Zeit zurück1, und im Bereich des Heiligtums bis in das 3. und 2. Jt. v. Chr., womit auch die Teilhabe der Insel an dem bronzezeitlichen Handelsnetz der Ostägäis belegt ist2. Im 1. Jt. v. Chr. war Samos an der großen griechischen Kolonisation beteiligt und verügte über eine gut ausgestaete Floe3, Weihegaben aus zahlreichen Regionen der damals bekannten Welt gelangten in das Hera-Heiligtum (s. u.). Die eisenzeitliche Stadt entwickelte sich dort, wo der heutige Ort Pythagoreion liegt, wo gute Hafenbedingungen herrschten und fruchtbare Ebenen vorhanden sind. Von der eisenzeitlichen Stadt sind einige archäologische Funde und schriliche Nachrichten bekannt, die jedoch noch nicht umfassend und zusammenhängend erforscht sind4. Neben der Stadtmauer5 und einigen Wohngebieten sowie Tempeln und Nekropolen unterschiedlicher Epochen sind dies v. a. aber der mit dem Tyrannen Polykrates (538–522 v. Chr.) zu verbindende Bau des Eupalinos-Tunnels und die große Hafenmole, von denen uns der griechische Geschichtsschreiber Herodot in seinen Historien berichtet (Hdt. 3, 60)6. Von Polykrates weiß Herodot weiter zu berichten, dass er sich in einem Aufruhr zum Herrscher über Samos gemacht hae – zunächst gemeinsam mit seinen Brüdern – und zunehmend seine Macht auf weitere Inseln und Städte des kleinasiatischen Festlandes ausdehnen und Ruhm in ganz Ionien und Hellas erlangen konnte. Er war zudem mit Amasis, dem König von Ägypten, freundschalich verbunden, mit dem er Geschenke austauschte (Hdt. 3, 39). Ein Heiligtum der Hera von Samos war sogar in Naukratis unter Amasis installiert worden, wie etwa auch eines des äginetischen Zeus und des milesischen Apollon (Hdt. 2, 178). Amasis, so 1 Tölle-Kastenbein 1974; Felsch 1988. 2 Milojčić 1961. Ein seit 2009 laufendes Gemeinschasprojekt des Deutschen Archäologischen Instituts, Abtei-

lung Athen (W.-D. Niemeier) und der University of Cyprus, Nicosia (Ou. A. Kouka) ist der weiteren Erforschung der prähistorischen Siedlungsphasen gewidmet. 3 Bürchner 1920, Sp. 2202 f. 4 Tsakos 2007. 5 Kienast 1978. 6 Kienast 1995; Jantzen 2004.

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Herodot weiter (3, 40–43), warnte Polykrates schließlich vor dem Erfolg, den die Göer neiden. Und obwohl Polykrates auf die Warnung seines Freundes hörte, konnte er doch seinem Schicksal nicht entgehen (3, 124–125). Die Zeit vor und während der Herrscha des Polykrates stellt die Blütezeit von Samos dar7, während nach dem Tod des Polykrates nach Ausweis der schrilichen wie archäologischen ellen ein politischer und wirtschalicher Niedergang einsetzte. Etwa 6 km von der Stadt entfernt, nahe der Küste, und über eine Prozessionsstraße zu erreichen8, liegt das Heiligtum der Hera. Hier wurden jährlich im Frühjahr die Feierlichkeiten der ›Tonaia‹ begangen, die wohl mit dem Bringen des Kultbildes an das Meer, mit Waschen und mit dem Umbinden mit Lygoszweigen einhergingen, indem sie an den von Menodot bei Athenaios (15,672 C) überlieferten Mythos erinnern9. Kultgeschirr aus minoischer Zeit impliziert eine Nutzung dieses Ortes als Kultplatz seit dem mileren 2. Jt. v. Chr.10, und Funde wie auch Altarbauten aus protogeometrischer Zeit lassen eine Kultkontinuität vermuten11. Eine größere bauliche Ausstaung des Heraheiligtums fand indes erst ab dem 8. Jh. v. Chr. sta. In dieser Zeit wurde ein Hekatompedos, ein »hundertfuß«–großer Tempel, errichtet und in der Mie des 7. Jhs. v. Chr. erweitert. Kleinere Bauten um den Tempel und den Altar herum sowie Wasserbecken und ein Weihgeschenk im Südosten ergänzten das Bauensemble, eine im 3. Viertel des 7. Jhs. v. Chr. errichtete Stoa begleitete den zur Küste ührenden Prozessionsweg12. Schon im 2. Viertel des 6. Jhs. v. Chr. wurde dann eine räumliche Umgestaltung des Heiligtumareals vorgenommen, indem der Hekatompedos durch einen monumentalen Steintempel mit doppelter Ringhalle und die Südstoa durch einen Südbau ersetzt wurde13. Es setzte ein massiver Ausbau im Norden und Westen des Heiligtumareals ein, während das südöstliche Areal als Festwiese und zur Deponierung von Votiven frei von Bauten blieb14. In der klassischen und hellenistischen Epoche wurden dann lediglich einige Ergänzungen zum Bau- und Denkmäler-Bestand vorgenommen15, eine größere Bauaktivität ist schließlich erst wieder in römischer Zeit zu konstatieren16. Die sich bereits in den Bauaktivitäten des Heiligtums abzeichnende Blütezeit in archaischer Zeit wird durch die Funde bestätigt und näher präzisiert: Weihegaben ›aus aller Welt‹ fanden ihren Weg ins Hera-Heiligtum von Samos. I. Kilian-Dirlmeier stellte 1985 anhand des damaligen Forschungsstandes die Provenienz der Weihegaben statistisch zusammen und veranschaulichte, dass 7 Kienast 2004. – Zu den Berichten Herodots über Samos s. Tölle-Kastenbein 1976. 8 Kienast 2007; Mohr 2010. 9 Nilsson 1906, 46–49; Buschor 1930, 1–9; Kienast 1991; Kron 1988. 10 (05.06.2012). 11 Walter 1968; Jarosch 1994; Ohnesorg 2005, 142–145. 12 Buschor 1930, 10–42; Buschor – Schleif 1933, 146–169; Gruben 1957; Kuhn 1985, 296–307; Kienast 2001; Mehnert

2008. 13 Der erste Dipteros musste bereits um 530 v. Chr., demnach nicht lange nach seiner Fertigstellung, wohl beschä-

digt durch Erdabsenkungen, durch einen weiteren Monumentalbau ersetzt werden. Der zweite Dipteros wurde etwa 40 m nach Westen verschoben erbaut, indem so der Altarvorplatz erweitert wurde. In diese Zeit ällt die Errichtung des Monopteros zwischen Altar und zweitem Dipteros, in dem möglicherweise das Kultbild auewahrt wurde. Der Bau des zweiten Dipteros wird Polykrates zugeschrieben, wurde aber wohl nie fertiggestellt. – Erster Dipteros: Buschor 1930; Furtwängler 1984; Kienast 1998; Hendrich 2007. – Zweiter Dipteros: Reuther 1957; Gruben 1960; Hellner 2009. – Monopteros: Schleif 1933; Walter – Clemente 1986. – Südbau: Buschor 1930; Ziegenaus 1957a. 14 Nordbau, Nordhalle und Nordtor: Buschor 1930; Ziegenaus 1957b; Isler – Kalpaxis 1978; Kyrieleis 1978; Kyrieleis

1980; Kuhn 1985, 296–307; Furtwängler – Kienast 1989. 15 Schede 1929, 17 Nr. 3; Tiede 1990; Müller 1994. 16 Schulz 2002; Dörner – Gruben 1953.

Orientalische und griechische Ikonographie auf einem Krateriskos aus Samos

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mindestens zwei Driel aus Gebieten außerhalb des griechischen Kulturraums stammen17. Darunter sind zyprische, assyrische, babylonische, skythische, westpersische, urartäische, syrische, nordsyrisch/späthethitische, phönizische, phrygische, ägyptische, etruskische und westphönizische Objekte vertreten. Die griechischen Weihegaben bilden nach ihrer Zusammenstellung vor allem Keramik aus Rhodos und von den Kykladen, weniger aus Korinth und Lakonien; mit Trachtbestandteilen und Schmuckgegenständen sind vor allem essalien und Makedonien vertreten. Die Adelsgesellscha von Samos selbst inszenierte sich offenbar in ihrem überregional so bedeutenden Heiligtum vielmehr mit statuarischen Aufstellungen18, darunter etwa die Präsentation einer ganzen Familie, geschaffen von dem Bildhauer Geneleos (›Geneleosgruppe‹)19, und der ›Große Kouros‹ des Isches, der einst beeindruckende 4,80 m in der Gesamthöhe maß20. Wer allerdings mit welcher Intention jeweils die vielen fremden Weihungen in das Heiligtum gestiet hat, muss im Einzelfall zumeist ungeklärt bleiben. Es können gleichermaßen Fremde wie Einheimische gewesen sein, wie uns auch die schrilichen Nachrichten informieren: Aus dem Erlös der Fahrt nach Tartessos durch den samischen Schiffsherrn Kolaios wurde ein Geäß aus Erz in der Art eines argolischen Mischkruges finanziert, das einen Kranz von Greifenköpfen auf einem Untersatz aus drei Kolossen aus Erz aufwies, die auf Knien liegen und sieben Ellen hoch sind (Hdt. 4, 152); ein Mischkrug aus Erz, rings am Rande mit Tiergestalten verziert und so groß, dass er dreihundert Amphoren fasst, häe eigentlich von den Lakedaimoniern nach Sardes gebracht werden sollen (Hdt. 1, 70); zwei hölzerne Porträtstatuen des Amasis (Hdt. 2, 182); ein Gemälde des Mandroklos (Hdt. 4, 88); Schmuck aus dem Andron des Polykrates (Hdt. 3, 123)21. Demzufolge auch scheint die religiöse Motivation nicht immer im Vordergrund gestanden zu haben, sondern Weihender, Anlass und Intention der Weihung sowie Objekt der Weihung können sehr variieren. Das Heraion von Samos nimmt mit dieser Fülle in Anzahl und Herkun von ›fremden‹ Weihgeschenken eine prominente, wenngleich nicht exklusive Stellung ein. Auch etwa das ZeusHeiligtum in Olympia von panhellenischem Status, die Hera-Heiligtümer in Perachora in der Korinthia, das Athena- und das Aphrodite-Heiligtum der in der Kolonisation so aktiven Polis Milet, das Artemis-Heiligtum in Ephesos, das Apollon-Heiligtum in Knidos und das Athena-Heiligtum in Lindos in Kleinasien sind mit zahlreichen ›fremden‹ Weihungen anzuühren, welche die hohe Frequentierung durch ›Fremde‹ selbst und/oder die weitreichenden Kontakte der lokalen Bevölkerung bezeugen22. Angesichts der mit dem Heraion von Samos zu verbindenden Superlative in Bezug auf Alter und Größe der Bauten sowie Anzahl, alität und Provenienzradius der Weihgeschenke nimmt sich ein kleines, im Heraion von Samos gefundenes Geäß recht bescheiden aus, auf das im Folgenden die Aufmerksamkeit gelenkt sei: Ein kleiner korinthischer Krater mit ungewöhnlicher Zusammenstellung von griechischer und orientalischer Ikonographie (Taf. 14–15). Aufgrund der geringen Anzahl korinthischer Keramik im Heraion von Samos wurde er aber schon 1959 von H. Walter als Glanzstück korinthischer Töpferkunst unter den dortigen Importen bezeichnet23 und diente ihm in einer späteren Publikation als Illustration von »erzählenden Darstellungen in 17 Kilian-Dirlmeier 1985, 235–243. s. außerdem: Mylonopoulos 2008, 368–370; Kyrieleis 2009; Bumke 2007. 18 Neumann 2008; Franssen 2011. 19 Löhr 2000, 14–17; Bumke 2004, 82–90. 20 Kyrieleis 1996. 21 Vgl. auch Bürchner 1920, Sp. 2197 f. 22 Kilian-Dirlmeier 1985; Braun-Holzinger – Rehm 2005; Mylonopoulos 2008; Kyrieleis 2009; Bumke 2007. 23 Walter 1959.

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der Miniaturmalerei, die die Korinther so meisterlich beherrschten«24. Das Geäß misst 9,6 cm in der Höhe, es konnte aus verschiedenen Fragmenten zusammengesetzt werden, doch verbleiben einige Fehlstellen. Der Form und Größe nach handelt es sich um eine Miniaturanfertigung eines Kraters, der also ür eine Weihung hergestellt worden ist. Die Geäßform weist einen niedrigen flachen Fußring und eine zunächst recht steil aufragende, doch leicht gewölbte Wandung auf; die horizontalen und unten gabelörmig sich teilenden Henkel verbinden die Schulter des Geäßes mit der sich über einer leichten Einziehung nach außen wölbenden Lippe. Der Bauch des Geäßes ist mit einem umlaufenden Bildfeld versehen, das von zwei horizontalen Linien begrenzt wird. Um den Fuß läu ein Strahlenkranz, während Schulter und Rand mit je einem Fries aus geometrischen Elementen, darunter Strichmuster und Rautenornamenten sowie Wellenbändern, versehen sind. Die Ornamente und Figuren sind in schwungvoller Pinselührung in Schwarz und mit sparsamer Ritzung von Details auf dem hellen gelblichen Ton aufgebracht. In dem umlaufenden Bildfeld sind – beginnend unter dem Henkel – in der Folge eine Athena Promachos, eine Sphinx, ein astschwingender Kentaur, ein Greifenkessel, ein äsender Hirsch, eine Kampfgruppe aus Mensch und Panther und ein Stier dargestellt. Dazwischen sind Ornamente eingestreut: vor der Athena-Sphinx-Gruppe ein mehrstrahlig hinterfangenes Kreuz und hinter dieser Gruppe ein Punktkreis mit je einem weiteren Punkt in der Mie des Kreises und schräg rechts unten sowie in nahezu in der Achse dazu schräg links oben. Anhand der Geäßform und des Dekors bestimmte H. Walter die Datierung in das erste Viertel des 7. Jhs. v. Chr., also in die protokorinthische, orientalisierende Epoche. Mit den Figuren »trägt der Tierfries alle Zeichen der gespenstischen Wildniswesen, mit denen die korinthischen Töpfer der ersten Häle des siebenten Jahrhunderts die Tiere der Wildnis und des Stalles in ihrer Unheimlichkeit empfunden haben«, so H. Walter25. Hierzu gehören vor allem die beliebten Darstellungen von Kentaur, Hirsch, Kampfgruppe und Stier. Ein Greifenkessel ist ebenfalls als zeiypisch anzusprechen – er ist eine Schöpfung der orientalisierenden Epoche und verdrängte den geometrischen Dreifußkessel26. Greifenkessel sind übrigens insbesondere vielfach im Heraion von Samos und im Zeus-Heiligtum von Olympia bezeugt, wo sich im Fundmaterial insgesamt die Kontakte in den Orient gut nachweisen lassen27. Doch, so schreibt H. Walter an anderer Stelle über die korinthische Keramik im Allgemeinen und den Krateriskos im Besonderen, »auch wenn sie einfache Tierreihen malen, schieben sie mit Poesie kleine Episoden ein (…): Ein Kentaur dringt mit einem Baumast vor, ein Panther ällt über einen Menschen her, die Sphinx ›klop‹ bei Athena an«28. Die Figuren des Bildbandes sind nämlich nicht in regelmäßiger Abfolge gereiht, wie es in den späteren Tierfriesen zu beobachten ist, sondern in unregelmäßigen Abständen und Größen: Den beiden Ornamenten ist viel Platz eingeräumt, während sich der Kentaur und der Greifenkessel überschneiden. Ebenso nehmen die Figuren fast alle die volle Höhe des Bildbandes ein, lediglich die Sphinx ist verkleinert dargestellt und zudem unmittelbar vor die Athena gerückt. So entsteht der von H. Walter formulierte Eindruck der Interaktion von Athena und Sphinx, indem die der Athena nur bis etwa zur Körpermie reichende Sphinx diese mit der einen erhobenen Pfote berühre. Über die schlichte Reihung hinaus erscheint also zumindest hier ein Sinnzusammenhang in der Wiedergabe intendiert, was sicherlich dann dazu ührte, dass H. Walter die Möglichkeit der Darstellung einer oder mehrerer mythologischen Be24 Walter 1990, 108 Abb. 122. 25 Walter 1959, 58. 26 Sakowski 1998. Der Krateriskos aus Samos dient hier als Beispiel, S. 67 Abb. 6. 27 Jantzen 1955; Herrmann 1966; Herrmann 1979; Gehrig 2004. 28 Walter 1990, 109 f.

Orientalische und griechische Ikonographie auf einem Krateriskos aus Samos

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gebenheiten im Bildfries des Geäßes diskutierte. Er kommt jedoch zu einem negativen Ergebnis und sieht darin vielmehr die Göer- und Glaubenswelt der frühen Griechen, deren Dämonen und Tiere des Waldes das zivilisierte Leben der Menschen geährden29: »Zu diesen Wildniswesen, die neben den olympischen Göern die Glaubenswelt der frühen Griechen ausmachen, gehört auch die Sphinx, das Wesen mit geflügeltem Löwenleib und menschlichem Kopf, das vor Athena hockt und mit der Pfote das Gewand der Göin berührt. Wo die Sphinx in der Kunst spätgeometrischer und frühorientalisierender Zeit auaucht, erscheint sie in Scharen oder im Verein mit den Tieren des Waldes als ein Wesen ihresgleichen. Und doch ist sie unter den Wildniswesen ein Dämon besonderer Art«30. Die Mischwesen, eingegliedert in Tierfriese, sind in Griechenland seit der spätgeometrischen Epoche bezeugt und finden ihren Höhepunkt vom 7. bis zum frühen 6. Jh. v. Chr. Sie sind ein beliebtes Motiv insbesondere in der korinthischen Vasenmalerei. Dort wurden jedoch keineswegs willkürlich Dämonen und Mischwesen wiedergegeben und gereiht. Vielmehr stellen sie Repräsentanten einer bekannten (Vögel, Eber) und einer fremden (Löwen, Mischwesen) Welt dar und ergänzen sich in ihren unterschiedlichen Graden an Vertrautheit und Fremdheit zu der sich entwickelnden Polis-Gesellscha, wie kürzlich von L. Winkler-Horaček ausgeührt wurde31. Somit sind die Figuren zwar nicht mit einem konkreten Mythos zu verbinden, doch ist ihre Darstellung auch keineswegs rein dekorativ und inhaltslos32. Folgt man diesen Interpretationen, so darf in der Sphinx auf diesem Geäß mehr als reines Beiwerk zur Athena vermutet werden33, wie dies L. Winkler-Horaček selbst an anderer Stelle34 und vor ihm P. Müller35 in Betracht zogen. Zudem darf nicht übersehen werden, dass die Sphinx nicht einfach vor der Athena steht oder sitzt, sondern eine Pfote erhoben hat, um, wie H. Walter es formuliert, bei »Athena anzuklopfen«36. Sphingen mit erhobenen Pfoten gehören insgesamt zu den selteneren Darstellungen in der griechischen Kunst und sind zumeist allein oder paarweise abgebildet37. Sphingen und andere Mischwesen sind bereits in der griechischen Bronzezeit abgebildet worden, doch schöpen Vasenmaler und Bildhauer insbesondere in der orientalisierenden Epoche Griechenlands mit den Darstellungen der Mischwesen und Tierfriese aus den zahlreichen Inspirationsquellen der altorientalischen Bilderwelt38. Dass die orientalischen Vorbilder, auch wenn unter Umständen unmielbar vorhanden, dabei nicht identisch übernommen, sondern abgewandelt wurden, kann am Beispiel der in Brunnen 17 im Zeusheiligtum von Olympia gefundenen orientalischen und griechischen Reliefs aufgezeigt werden39. Mit den orientalischen, präziser den nordsyrischen / späthethitischen Reliefs, die in Zweitverwendung mit den neu angefertigten griechischen zu einem neuen Bildwerk, zu Sphyrelata, zusammengeügt wurden, sind nun einmal die ikonographischen Übermilungswe29 Walter 1959, 58–61. 30 Walter 1959, 60. 31 Winkler-Horaček 2000; Winkler-Horaček 2008, bes. 507 f. 32 Winkler-Horaček 2000. 33 Zur Figur der Athena s. zusammenfassend: Sakowski 1998, 67 Anm. 50–53. 34 Winkler-Horaček 2011a, 108. 35 Müller 1978, 66. 36 s. Anm. 28. 37 Vgl. Kourou 1997, bes. Nr. 20. 21. 61–68. 86. 103–105. 137. 38 Eine Übersicht über die gängigen Darstellungen von Dämonen, Ungeheuern und Schutzgoheiten des Alten

Orients gibt: Black – Green 1992, 64 f. 39 Borell – Riig 1998.

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ge bezeugt, die wir sonst i. d. R. nur annehmen und erschließen können. Sie bezeugen außerdem die Auseinandersetzung der Handwerker der griechischen Reliefs mit den älteren orientalischen Bildmotiven, das Sehen, Aufnehmen, Nachempfinden, Umgestalten, Neuinterpretieren. Die einzelnen Bildmotive werden aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst, gegebenenfalls verändert und mit neuen Bildinhalten aufgeladen. Zugleich beeinträchtigten die orientalischen Motive aber nicht die Verwendung der Reliefs im Rahmen des neuen Bildwerks, wenngleich – da die orientalischen Reliefs größere Teile der Tracht vor allem im hinteren Teil des Rockes bildeten – hier eine dekorative Funktion der Einzelreliefs und die allgemeine Wiedergabe eines prunkvollen und mit reichen orientalischen Motiven geschmückten Gewandes anzunehmen ist. Welche ellen hae nun der Vasenmaler dieses Krateriskos aus Samos zur Verügung? Wie ist er mit den möglichen Vorbildern und Inspirationen umgegangen? Die erhobene Pfote der Sphinx verlangt geradezu nach einem motivischen Vorbild. Im Heraion von Samos und auch darüber hinaus finden wir kein direktes, passendes Vorbild, sondern müssen unseren Blick auf allgemein bekannte motivische Darstellungen lenken. In Frage kommen dabei zum einen die nordsyrischen Darstellungen von Sphingen zu beiden Seiten eines Heiligen Baumes, wie etwa auf einer Elfenbeinpyxis aus Nimrud des 9./8. Jhs. v. Chr.40, oder aber die ägyptischen Darstellungen der die Feinde niedertrampelnden Sphinx in Verkörperung des Pharao41. Keines der Motive ist auf dem Krateriskos vollständig übernommen worden: Es fehlen entweder der Heilige Baum und die gegenüberstehende Sphinx oder aber es fehlt der niedergetrampelte Feind. Der Vasenmaler des Krateriskos hat demzufolge hier vielmehr ein Motiv aus einem ursprünglichen Darstellungskontext herausgelöst und neu kombiniert – mit einer überragenden Athena Promachos. An diese Lösung lässt sich keine folgende Bildtradition anknüpfen, sondern es bleibt eine bislang singuläre Darstellung. Sie zeigt uns jedoch den bedeutenden und o so schwer fassbaren Schri in dem Umgang mit der altorientalischen Bilderwelt auf, der zu Beginn der orientalisierenden Epoche stagefunden hat. Der frühen Phase des Experimentierens mit diesen Bildmotiven folgte erst in einem weiteren Schri die Entwicklung von formelhaen Tierfriesen, die L. Winkler-Horaček erschlossen hat42. Wir wollen es einstweilen bei der Beobachtung des Umgangs mit der Form des Motivs belassen und keine inhaltlichen Deutungen anschließen. So reizvoll auch der Gedanke wäre, etwa eine Verkörperung des die Feinde niedertrampelnden Pharao gleichsam als nicht eben bedrohliches Kontakt aufnehmendes Begleiier einer Athena zu interpretieren und somit politische Satire oder politische Aussage des Herstellers und/oder des Weihenden anzunehmen, wird dieser doch zur haltlosen Spekulation. Zumal es sich bei dem Krateriskos nicht um ein monumentales, von reichem Stier stammendes, prestigereiches, weithin sichtbares usw. Votiv handelt, sondern um ein bescheidenes, gewöhnliches Objekt. Wer diesen Krateriskos hergestellt hat, und wer ihn mit welcher Intention geweiht hat, kann nicht beantwortet werden. Die Phase des frühen und geläufigen Kontakts mit der Bildwelt des Alten Orients bezeugt er uns jedoch recht gut. Die Begegnung damit kann sehr gut an Orten wie dem Hera-Heiligtum von Samos mit den vielen ›fremden‹ Weihungen ›aus aller Welt‹ stagefunden haben.

40 Barne 1975, 195. 41 Coche-Zivie 1984; Dubiel 2011, 12–14. 42 Winkler-Horaček 2000; Winkler-Horaček 2008; Winkler-Horaček 2011a; Winkler-Horaček 2011b.

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Eine ungewöhnliche frührotfigurige Schale Norbert Kunisch

Als Dank ür die über Jahre hin gewährte Hilfe zeige ich Ihnen, lieber Herr Lohmann, eine Schale, deren Hauptinteresse in einer rätselhaen Besonderheit besteht, ür die ich keine Parallelen kenne (Taf. 16. 17)1: I, Weitspringer nach rechts; erhalten sind der Hinterkopf mit Haar2 und Ohr, der obere Teil des Rückens sowie der Daumen der linken Hand, die eine haltere fasst3; dem Bildrahmen entlang zu beiden Seiten der Figur einige in Rot aufgemalte Buchstaben, die zusammen allerdings keinen Sinn ergeben. A, Kampf zweier Krieger gegen einen Gefallenen: Der Gefallene, bärtig, nackt, ist, am Boden sitzend, halb aufgerichtet, hat den Kopf mit dem auf die Stirn geschobenen korinthischen Helm4 zurückgewandt, stützt sich auf einen halb von innen gesehenen Schild5 (Schildzeichen: Dreifuß6); in der angewinkelt erhobenen Rechten hält er einen Speer; links ein heranstürmender, jugendlicher (unbärtiger) Krieger, ebenfalls nackt, auf dem Kopf einen sog. aischen Helm7 tragend; mit der Linken hält er einen Schild (Dreiviertelsicht, Schildzeichen: zwei Kreiskringel) und in der rückwärts angewinkelten Rechten einen nach unten gerichteten Speer; ein weiterer Krieger rechts, wiederum nackt, nach links angreifend, daher in Dreiviertelsicht von hinten gesehen, mit Schild (Schildzeichen: Außenprofil eines Stierkopfes en face) und zustoßendem Speer (jetzt verloren); B, eine ähnlich gebildete Dreiergruppe nackter Krieger; der milere, ein Mäntelchen um die Schultern geworfen, ist nach rechts hin ins Knie gesunken und wehrt sich mit Schild (Dreiviertelsicht von außen, Schildzeichen: Efeuranke) und Speer; der rechte hat ein Himation um die Hüe geschlungen, sein Schild trägt als Zeichen die (verballhornte) Häle eines Dreifußes; der linke entspricht seinem Pendant auf der Gegenseite8. 1 Kleine Schale Typus B; Privatbesitz Großbritannien. Erh. H (Fußscha fehlt teilweise) 10,9 cm; Dm 24,6 cm; Dm

des Fußes 10,7 cm; Dm des Innenbildes 13,3 cm; H der Außenbildzonen 9,3 cm. Die Zugehörigkeit des Fußtellers ist nicht absolut sicher. 2 Die Abgrenzung des Haarkonturs geschah miels einer Linie, die ohne Mithilfe zweier paralleler Relieflinien

tongrundig ausgespart wurde, vgl. Kunisch 1994, 86. 3 ἁλτῆρες σφαιροειδεῖς: Jüthner 1968, 172–175. 4 Zum Motiv des zurückgeschobenen Helms s. Knauer 1986, 122 mit Anm. 22. 5 Es handelt sich um die frührotfigurige Wiedergabe des schräg von innen gesehenen Schilds, wie sie bereits bei

Psiax (Schale München 2603: Wünsche – Knauß 2004 Kat. 10 Abb. 23, 20) und bei Hypsis (Hydria München 2423; Beazley 1963, 30, 1; Lullies 1961, 16–22 Taf. 222, 2) vorkommt; s. vor allem auch Kaeser 1976, 133–134. 6 Zu Schildzeichen s. Vaerst 1980 (mir in Oxford nicht zugänglich); Aula 2003, 133–135. 7 Snodgrass 1999, 69: »e name is a modern one, but it is probably justified.«; s. auch Beazley 1951, 91. 8 Kontur aller Figuren (auch im Innenbild) allein durch Pinselspur definiert, nur an den Beinen der beiden Mit-

telfiguren zusätzlich auch Relieflinien; in beiden Bildern sind alle Schildzeichen in Firnis gemalt, alle Speere (soweit erhalten) in Tonschlicker aufgetragen.

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Norbert Kunisch

Aufgrund der Zeichenweise ihrer Bilder lässt sich unsere Schale dem weiteren Umkreis des Nikosthenes-Malers zuweisen9. Man wird sich dabei an solchen Details wie den dicklichen Haarfransen, der Form der Helme, Chitone, Schild-Innenseiten und der Schildzeichen orientieren10. Als Datierung ergibt sich das letzte Jahrzehnt des 6. Jahrhunderts (510–500 v. Chr.). Der junge Mann des Innenbildes ist in vorgebeugter Haltung mit leicht auseinander stehenden Füßen und mit zwei vorgestreckten Armen, halteres in den Händen, zu ergänzen, eine Haltung, die in einer unbekannten elle vorgeprägt wurde und in dieser Form in einer Reihe anderer Schalen-Innenbilder dieser Zeit wiederholt wird11. Die leicht geöffnete Beinstellung ist eine Abänderung des ursprünglich wahrscheinlichen Bewegungsmodus, der als Wiedergabe eines oder mehrerer Standweitsprünge interpretiert worden ist12. Die Außenbilder unserer Schale gehen im Kern zurück auf Formulierungen eines alten, schwarzfigurigen emas, des Zweikampfes über einem Gefallenen13, das gelegentlich als Kampf zwischen Achill und Memnon über dem Leichnam des Antilochos verstanden worden ist14. Die hier vorliegende rotfigurige, offenere Formulierung geht wohl auf Dreifigurenbilder zurück, wie sie bereits der Andokides-Maler verwendet hat15, die in der Folgezeit von den spätarchaischen Schalenmalern aufgenommen werden16. Das Schema ist überall das gleiche: die Angreifer in verschiedenen Stellungen und unterschiedlich bewaffnet, der Gefallene in der Mie, mal sitzend, mal kniend, in heiger Gegenwehr. Die Tatsache, dass der Gefallene nicht tot und leblos am Boden liegt, macht die Deutung auf den Kampf um Antilochos in jedem Fall gegenstandslos. Ob die Beobachtung, dass die Zusammenbrechenden in der Bildmie jeweils den korinthischen, die Außenfiguren dagegen den ›aischen Helm‹ tragen, mehr als eine bloß oberflächliche Unterscheidung anzeigt, bleibt, obwohl erwähnenswert, im Be9 Beazley 1963, 132: »e wider circle of the Nikosthenes Painter«; Beazley 1963, 134 f.: »Somewhat more de-

veloped than the cups in the previous list, but in the same tradition are such cups … by various hands, as the following.« Die nächsten Verwandten des Innenbilds lassen sich dagegen beim Epeleios-Maler und in dessen Umkreis (Maler von Berlin 2268) finden; vgl. hier Anm. 11. 10 Beazley 1963, 134 o.: Villa Giulia-Heidelberg 46/47 (Haarfransen); Beazley 1963, 134, 5: Cambridge 29.24 (Schild-

zeichen: halber Stierkopf en face); Beazley 1963, 134, 9: Kunsthandel Basel (Rückenzeichnung); Beazley 1963, 134, 10: Philadelphia 3499 (zahlreiche Details). 11 Innenbilder, Springer nach rechts, beide Hände nach vorn: München 2605: Beazley 1963, 88, 11; Seki 1985 Taf. 8,

2 (Euergides-Maler); Cab. med. 511: Beazley 1963, 149, 10; de Ridder 1902 Taf. 21 (Art des Epeleios-Malers); Kopenhagen, orwaldsen 107: Beazley 1963, 149, 20; Gardiner 1904, 191 (Art des Epeleios-Malers); Neapel 2616: Beazley 1963, 149, 21; Cummings 1969 Taf. 30, 7–9 (Art des Epeleios-Malers); Graz 22: Beazley 1963, 151, 8; Ebert 1963 Taf. vor Abb. 9 (Art des Epeleios-Malers); Berlin F 2268: Beazley 1963, 153, 2; Carpenter u. a. 1989, 180; Wünsche – Knauß 2004 Abb. 14. 16 (Maler von Berlin 2268). 12 Ebert 1963, 46–54. 61–62; Jüthner 1968, 172–175; Wünsche – Knauß 2004, 118–127. 13 Vgl. Lung 1912; Mennenga 1976, bes. 27–33; von Bothmer – Moore 1976, 2–4 Taf. 3; Weiß 1990, 39 Taf. 12, 2.

13, 2. 14 s. Kossatz-Deißmann 1981, 835, ür die durch Beischrien gesicherten Darstellungen; die übrigen, anonymen,

bei Brommer 1973, 348–352. 15 Palermo, Museo Nazionale V 650: Beazley 1963, 5, 14; Mennenga 1976 Taf. 4; Cohen 1978, 55 B 3 Taf. 47, 2. – s.

auch Kunisch 1997, 87–90. 16 Zweikampilder, o in Gegenwart von Frauen (nach den Listen bei Mennenga 1976 und Brommer 1973): Ago-

ra P 24113: Beazley 1963, 213, 142 (Berliner Maler); Tarquinia RC 6846: Beazley 1963, 369, 4 (Brygos-Maler); BM E 67: Beazley 1963, 386, 3 (Castelgiorgio-Maler); Villa Giulia 3586: Beazley 1963, 417, 5 (Maler der Pariser Gigantomachie); Boston 00.338: Beazley 1963, 427, 4 (Duris); Palermo: Beazley 1963, 429, 23 (Duris); Neapel Astarita 48: Beazley 1963, 433, 63 (Duris); Berlin F 2268: Beazley 1963, 438, 130 (Maler von Berlin 2268); Tarquinia 689: Beazley 1963, 480, 3 (Makron); BM E 77: Beazley 1963, 837, 1 (Sabouroff-Maler); Tarquinia RC 2072: Beazley 1963, 837, 2 (Sabouroff-Maler); Ferrara, Valle Pega 18c: Beazley 1963, 882, 35 (Penthesilea-Maler). s. dazu Mennenga 1976, 27–28 Schema IV.

Eine ungewöhnliche frührotfigurige Schale

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reich der Spekulation. Im Übrigen entspricht die Komposition der Außenbilder jener der frühen Schalen des Makron17, die ich früher einmal wie folgt charakterisiert habe: In Hinsicht auf die vorgegebenen Relationen von Frieslänge zu Frieshöhe erährt die in der Bildmie erscheinende Figur »eine formale Bestätigung durch die Größe ihrer Erscheinung, in der sie den Seitenfiguren überlegen ist«18. Die Seitenfiguren schließen in ihrer Hinwendung zur Mielfigur das Bildganze nach außen hin ab, während zugleich die Mielfigur, in ihrer Ausbildung als »Scharnierfigur«19, den Zusammenhalt der Komposition als Dreifigurengruppe garantiert, indem im vorliegenden Fall der Krieger der A-Seite nach links hin am Boden sitzt, den Kopf aber nach rechts wendet und der Krieger der B-Seite nach rechts hin zusammenbricht und zum linken Angreifer zurückschaut. Dieses dem Bildauau geschuldete Arrangement ist allerdings der Plausibilität der Ereignisschilderung kaum dienlich, ja stellt in unserem Fall die inneren Zusammenhänge geradezu auf den Kopf, indem die Bezogenheiten der Figuren untereinander weitgehend verälscht werden und der Ursprung aus dem alten »Zweikampf über einem Gefallenen« eine ferne Erinnerung ist. Was diese Schale über das hinaushebt, was selbst in der großen Werkstaproduktion des Nikosthenes zu erwarten ist, zeigt sich darin, dass die Außenbilder mit Hilfe einer seltenen Mischtechnik entstanden sind: Während der gesamte Figurenapparat beider Szenen sich der rotfigurigen Malerei verdankt, sind die Speere aller Kontrahenten unter Verwendung eines rosafarbenen Tonschlickers angelegt worden, das heißt in einer Art von sopradipinto. Die Einührung dieser Technik ist dem Sappho-, vor allem aber dem Diosphos-Maler zugeschrieben worden20; im Rotfigurigen taucht sie erstmalig im Oeuvre des Psiax auf21, wo schmale, meist geradlinige Objekte zuweilen mit weißer Deckfarbe oder tonfarbenem Schlicker gemalt wurden. In der übrigen, spätarchaisch-rotfigurigen Vasenmalerei Athens und in den Bildern der Nikostheneswerksta werden Speere, soweit sie vorkommen, in der geläufigen Technik gemalt, das heißt tongrundig ausgespart und von Relieflinien begleitet, wobei die Speerspitzen der Realität entsprechend gebildet sind. In den Bildern der hier vorgestellten Schale werden dagegen die Speere dem Firnisgrund aufgemalt (zuweilen abgeplatzt), so fein dies eben möglich ist; die Speerspitzen erscheinen als langgezogene, spitze Dreiecke. Die speerhaltenden Hände sind, wenn sie denn sichtbar sind, in der üblichen Weise (rotfigurig) gezeichnet. Dieses Vorgehen ist am besten am rechten Krieger der B-Seite erkennbar (Taf. 17, 1); an der Mielfigur der A-Seite (Taf. 17, 2) reicht der Speer, aus dem schwarzen Hintergrund kommend, bis in die tongrundigen Partien am Schild seines Gegners. Es ist mir nicht gelungen, vergleichbare Verwendungen von sopradipinto in rotfigurigen Bildern dieses Zeitraums oder dieses Werkstakreises nachzuweisen (außer, wie erwähnt, bei dem viel früheren Psiax)22. Gewinnt diese Schale somit den (wahrscheinlichen) Status eines Unikums, so ist 17 s. v. a. das Bild der Schale Tarquinia 689: Kunisch 1997 Taf. 8. 18 Kunisch 1997, 88. 19 Kunisch 1997, 42. 88. 20 Boardman 1974, 178. 21 z. B. Schale München 2597: Beazley 1963, 7, 8 (Psiax); Cohen 1978, 209. – Schalenfragmente Florenz AB1: Beaz-

ley 1963, 37, 4 (AMA-Gruppe); Beazley 1928, 13; Cohen 1978, 274. – Schalenfragmente Cahn 695, 696: Mertens 1987, 173. Zum Problem überhaupt s. Smith 1929, 2; Cohen 1978, 272–274; Mertens 1979, 31 f.; Mertens 1987, 174 mit Anm. 32. 22 In meinen Notizen findet sich der Verweis auf die Schale Cambridge, Fitzwilliam Museum GR 19.1937 (Lamb

1936, 56 f. Taf. 7, 2. 8, 6. 9, 5; Beazley 1963, 135, 13), die ich durch die Güte von Lucilla Burns im Mai des Jahres noch einmal sehen konnte. Die im CVA verwendeten Bezeichnungen entsprechen nicht ganz der Realität: in den Außenbildern waren sämtliche zusätzlichen Details (Kränze, Tänien und Inschrien) in der herkömmlichen Weise in roter Deckfarbe ausgeührt, während im Innenbild – und dies hae zu meiner Notiz geührt – ebendieses Deckrot am Kranz, an der Tänie und am Leierband auf irgendeine Weise zu Grauweiß mutiert war.

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Norbert Kunisch

dies wohl Grund genug, sie bekannt zu machen. Auch innerhalb der Nikostheneswerksta, sonst durchaus reich an ungewöhnlichen Lösungen, stellt das hier verwendete sopradipinto durchaus kein gängiges oder gar übliches Verfahren dar, vielmehr erweist es sich als eine augenblicksbestimmte Verlegenheitslösung, ür die es nur eine Erklärung zu geben scheint: die Schale war fertig getöpfert und fertig bemalt, einschließlich des ›schwarzen‹ Hintergrunds, da erst bemerkt unserer Maler, dass er die Speere schlichtweg vergessen hat und sich der Bildgrund nachträglich nicht einfach entfernen lässt, also holt er die Zeichnung der Speere in dieser unorthodoxen Weise nach. Fehler kommen eben vor, und ein Vasenmaler des Athener Kerameikos wird es nicht so leicht übers Herz gebracht haben, eine im Übrigen fertige Schale in den Abfall zu geben.

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Eine ungewöhnliche frührotfigurige Schale

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Der Zeus Nemeios des Lysipp und Alexander der Große∗ Achim Lichtenberger

Im Zentrum meiner Überlegungen steht der bei Pausanias überlieferte Zeus Nemeios des Bildhauers Lysipp1. Lysipp stammte aus Sikyon auf der Peloponnes. Er wurde um 390 v. Chr. geboren, und seine Schaffenszeit erstreckte sich ungeähr auf die Jahre 370 bis 305 v. Chr. Plinius berichtet, Lysipp habe 1.500 Bronzestatuen geschaffen2. Von diesen sind uns heute einige aufgrund literarischer Erwähnungen und archäologischer Funde im gesamten Mielmeerraum bekannt, weshalb wir eine Vorstellung seines künstlerischen Wirkens haben. Lysipp hat sich intensiv mit dem kontrapostischen Standmotiv des hochklassischen Bildhauers Polyklet auseinandergesetzt3. Die Schristellung von Lysipps Werken entwickelt sich nicht wie bei Polyklet in die Tiefe, sondern, wie man an dem Apoxyomenos (Taf. 18, 1) des Lysipp sieht, zur Seite hin. Die spätklassische Tendenz, Skulpturen weiter in den Raum ausgreifen zu lassen, wird von Lysipp fortentwickelt. Auch die Wendung des Kopfes von der Standbeinseite weg (anders als bei Polyklet) dient im Standmotiv dieser Raumöffnung. Eine wichtige Neuerung Lysipps sind geänderte Körperproportionen; so sind seine vergleichsweise langen Beine und kleinen Köpfe eine Innovation. Lysipp ist ein Vertreter der späten Klassik, der den Hellenismus einläutet. Im Folgenden geht es um die Statue des Zeus Nemeios des Lysipp, die in der großplastischen Überlieferung nicht zu fassen ist, die aber aus der Kombination literarischer und numismatischer Zeugnisse rekonstruiert werden kann4. Die vermeintlich eindeutigsten Bildzeugnisse des Zeus Nemeios sind alexandrinische Tetradrachmen, die unter Nero geprägt wurden (Taf. 18, 2). Sie zeigen auf den Rückseiten die Büste des bärtigen und bekränzten Goes mit der Beischri Zeus Nemeios5. Der ikonographische Zeugniswert dieser Münzen ür das Aussehen der Statue des Lysipp ist allerdings begrenzt, da die Prägung in einer Reihe weiterer Münzen steht, die stark typisierte Büsten von Goheiten der bedeutenden griechischen Festspiele darstellten (Zeus Olympios, Hera Argeia, Poseidon Isthmios, Apollon Aktios, Apollon Pythios), die Nero auf seiner Griechenlandreise besuchte6. Auch die Darstellung des Zeus von Nemea auf einem apulisch-rotfigurigen ∗ Dieser Beitrag geht auf meine am 20.10.2008 an der Westälischen Wilhelms-Universität Münster gehaltene

Antrisvorlesung zurück. Das ema dure ich 2009 an der Universität Erlangen und 2011 an der HumboldtUniversität Berlin vorstellen. Von den anschließenden Diskussionen habe ich sehr profitiert. Der Beitrag verdankt außerdem viel den Diskussionen mit Josef Floren, Dieter Salzmann (beide Münster) und Patric Kreuz (Bochum). 1 Paus. 2, 20, 3. Zu Leben und Werk des Lysipp vgl. Johnson 1927; Moreno 1974; Moreno 1987; Moreno 2004a;

Moreno 1995a. 2 Plin. n. h. 34, 37. 3 Vgl. etwa Linfert 1966; Arnold 1969. 4 Zu der Rekonstruktion klassischer Bildwerke aus der Kombination numismatischer Zeugnisse mit Pausanias

vgl. Imhoof-Blumer – Gardner 1964. 5 Burne u. a. 1992, Nr. 5298. 5308. 5314. 6 Zu der Griechenlandreise Neros und dem Besuch der Festspiele vgl. Kennell 1988; Burne u. a. 1992, 706.

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Achim Lichtenberger

Volutenkrater aus Ruvo trägt nicht zum statuarischen Typus des lysippischen Zeus bei7. Daher müssen wir ür die Rekonstruktion dieses Bildwerks ein literarisches Zeugnis zum Ausgangspunkt nehmen. Der kaiserzeitliche Autor Pausanias beschreibt bei seinem Rundgang durch Argos nachdem er ein Relief von Kleobis und Biton passiert hat: τούτων δὲ ἀπαντικρὺ Νεμείου Διός ἐστιν ἱερόν, ἄγαλμα ὀρϑὸν χαλκοῦν, τέχνη Λυσίππου. – »Diesen gegenüber ist ein Heiligtum des nemeischen Zeus mit einer Bronzestatue stehend, Werk des Lysipp.« (Paus. 2, 20, 3)8. Argos war ein politisches und kulturelles Zentrum auf der Ostpeloponnes, das auf eine ehrwürdige Geschichte zurückblicken konnte und auch im 5. und 4. Jh. v. Chr. im Schaen von Sparta und Athen ein bedeutendes Zentrum blieb9. »Nemeisch« bezieht sich auf das Zeusheiligtum von Nemea nördlich von Argos, das zu den panhellenischen, also überregionalen gesamtgriechischen Heiligtümern gehörte, die sportliche und musische Wekämpfe austrugen10. Pausanias nennt also einen nemeischen Zeus des Lysipp in Argos. Friedrich Imhoof-Blumer war der erste, der einen Zeustypus auf den Münzen von Argos auf das bei Pausanias genannte Zeusbild des Lysipp bezog11. Münzen zwischen Antoninus Pius und Gallien zeigen auf den Rückseiten einen zur linken Seite gewendeten nackten Zeus, der mit seiner Rechten auf ein Szepter gestützt ist und seine Linke in die Seite gestemmt hat (Taf. 18, 3. 4)12. Der Kopf ist in einer energischen Drehung nach links gewendet, verbunden mit einer leichten Bewegung nach oben. Das rechte Bein ist Standbein, das linke Spielbein. Auf der Standbeinseite stützt er sich auf das Szepter, sein Kopf ist zur Spielbeinseite gerichtet. Auf einigen Prägungen wird die Gestalt durch einen Adler zu Füßen als Zeus ausgewiesen. Nach allem was wir über das künstlerische Schaffen des Lysipp wissen, ügt sich die Ponderation der Statue formgeschichtlich gut in das Werk des Lysipp ein, wie etwa der Vergleich mit gesicherten Bildwerken des Lysipp bezeugt, so der Apoxyomenos, dessen Standmotiv und Körperproportionen als beispielha ür das Werk Lysipps gelten können. Obgleich das Standmotiv gespiegelt ist, finden wir auch hier das Stand- und Spielbeinschema sowie die leichte Hinwendung des Kopfes zum Spielbein. Verwandt ist im Standmotiv auch der sogenannte Herakles Lenbach des Lysipp13. Ein Spezifikum griechischer Plastik klassischer Zeit ist, dass die Meisterwerke vor allem in der römischen Kaiserzeit kopiert wurden und in zum Teil umfangreichen Replikenreihen oder zumindest gleichen ikonographischen Typen auf uns gekommen sind. Einige Bildwerke Lysipps wie zum Beispiel der sogenannte Herakles Farnese sind in weit über 200 Kopien und Wiederholungen überliefert14. Daher stellt sich die Frage, ob dies auch ür unseren Zeus Nemeios gilt? Um es vorweg zu nehmen: Das ist in diesem Umfang nicht der Fall. Der statuarische Zeustypus, der 7 Das Stück in Neapel wird um 340 v. Chr. datiert (vgl. Pülhorn 1984, 474 Nr. 10 = Fracchia 1992, 732 Nr. 15). 8 Zu dem Zeus Nemeios in Argos vgl. Johnson 1927, 136–137; Moreno 1995a, 50. 9 Zur Geschichte und Archäologie von Argos vgl. Tomlinson 1972; Bearzot – Landucci 2006. 10 Zu dem Zeus-Heiligtum von Nemea vgl. Miller 1988; Miller 2004; Birge u. a. 1992; Miller 2001; Gutsfeld – Leh-

mann 2005; Knapp – Mac Isaac 2005. 11 Imhoof-Blumer – Gardner 1964, 36. Siehe auch Lippold 1950, 280 und Hundsalz 1985, 112, (die allerdings das

Motiv der Linken anders beschreiben, und zwar als auf den Rücken zurückgeührt). 12 British Museum, London, Inv. Nr. 1920-8-5-1355 (Antoninus Pius); Wien, Kunsthistorisches Museum Inv.

Nr. 14297 (Mark Aurel); Gardner 1981, 150 Nr. 163 (Septimius Severus); SNG Cop. 108 (Gallienus). 13 Vgl. zu dem Typus Kansteiner 2000, 25–45. 14 Zu dem Typus siehe Krull 1985; Kansteiner 2000, 99–102.

Der Zeus Nemeios des Lysipp und Alexander der Große

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auf den Münzen von Argos begegnet, ist nur in wenigen weiteren Wiederholungen bzw. Nachklängen belegt, und zwar den folgenden: 1. Alyzeia-Relief (Taf. 18, 5). Bereits frühhellenistisch ist ein recht bestoßenes Felsrelief in Alyzeia in Akarnanien15. Es zeigt eine männliche Gestalt in einem dem Zeus auf den Münzen von Argos entsprechendem Standmotiv zusammen mit einer stehenden Athena16. Vermutlich handelt es sich dabei um Zeus. 2. Ein weiteres Zeugnis ist ein tetrarchisches Figuralkapitell in essaloniki (Taf. 18, 6). Es zeigt ebenfalls den Zeus mit dem Adler zu Füßen, allerdings exakt gespiegelt17. Weitere Figuralkapitelle aus der Serie zeigen andere Idealplastik von städtischen Goheiten18. 3. Auch ein kaiserzeitliches Wandbild aus Bau 7 in Korinth zeigt Zeus in dem Typus, jetzt allerdings angereichert um einen Mantel, der über den linken Arm ällt (Taf. 19, 1)19. Das Bild, das an das Ende des 2. Jhs. n. Chr. datiert wird, gehört in eine Reihe von Göerbildern an der Wand des Gebäudes, die z. T. peloponnesische Idealplastik zeigen20. 4. Die Münzprägung von Pellene auf der Peloponnes bildet in severischer Zeit auf Rückseitenbildern einen vergleichbaren Zeus ab; auch dieser mit einem Mantel, der vom linken Arm herabällt21 (Taf. 19, 2). 5. Auf Bronzeserien der Stadt Nikopolis in Epirus begegnet unter Valerian und Gallienus derselbe Zeustypus22 (Taf. 19, 3). Soweit zu den Denkmälern, die am ehesten als Wiederholungen oder zumindest vergleichbare ikonographische Typen des Zeusbildes auf den Münzen von Argos angesehen werden können. Rundplastische Kopien oder Wiederholungen23 sind bislang nicht bekannt und die Bilder aus sehr unterschiedlichen Zeugnisgaungen können methodisch nicht ür eine Replikenrezension herangezogen werden24, sollen aber dennoch ür einen Vergleich betrachtet werden. Auällig sind die zahlenmäßig vergleichsweise geringe Verbreitung und die geographische Konzentration auf die Peloponnes und Griechenland. Ebenfalls bemerkenswert ist der Kontext der Wiederholungen. Die Darstellungen in essaloniki und in Korinth stehen im Zusammenhang mit weiterer Idealplastik, es ist also wahrscheinlich, dass auch unser Typus einen bekannten Typus wiedergab. Auch die numismatischen Zeugnisse könnten in diese Richtung interpretiert werden, bildeten sie doch häufig bekannte städtische Bildwerke ab, so dass zumindest damit zu rechnen ist, dass auch 15 Kovacsovics 1982, 204–210; Boyd 1985, 328–329. 16 Von Stewart 1993, 428 ebenfalls in Beziehung zu Werken des Lysipp gesetzt. 17 Despinis u. a. 1997, 189-194 Nr. 144; Karanastassi 1997, 351 Nr. 286. 18 Despinis u. a. 1997, 189–194 Nr. 142 f., 145–147. 19 Gadbery 1993, 60; Karanastassi 1997, 351 Nr. 289. 20 Gadbery 1993, 58–64. 21 Gardner 1982, 32 Nr. 17 (Caracalla); Dahmen – Lichtenberger 2004, 162 (Septimius Severus, Plautilla). 22 Karamesini-Oikonomidou 1975, 152 Nr. 4–6; Calomino 2011, 177 Serie 564; 181 Serie 579. 23 Zur Terminologie vgl. Lippold 1923. 24 Problematisch ist insbesondere, dass die Zeugnisse der unterschiedlichen Gaungen durch jeweils gaungs-

spezifische Darstellungsweisen geprägt sind und daher nicht zu vergleichen sind. So ist darauf hinzuweisen, dass etwa bei Münzbildern wegen des kleinen Formats und der Zweidimensionalität Bewegungen übertrieben und stärker schematisiert ausfallen können.

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sie Idealplastik wiedergaben25. Das Felsrelief in Alyzeia ist nicht so leicht einzuordnen, doch sei darauf hingewiesen, dass eine enge Beziehung zwischen der Stadt und Lysipp belegt ist und in der Nähe des Felsreliefs ein weiteres Relief mit einer Darstellung des Herakles Farnese gefunden wurde26. Typologisch ügt sich ein auf ein Szepter gestützter bärtiger nackter Mann gut in die statuarische Überlieferung klassischer Zeus-Statuen ein27. Zwei ungewöhnliche Darstellungscharakteristika fallen jedoch bei unserem Zeus auf. 1. Zunächst sei auf die Geste des in die Hüe gestützten Arms aufmerksam gemacht. Dieses scheinbar gewöhnliche Motiv findet sich jedoch nur selten bei männlichen Statuen der griechischen Plastik28. Am geläufigsten ist es ür den Meeresgo Poseidon, der bereits in der Vasenmalerei des 5. Jhs. v. Chr. mit eingestütztem Arm erscheint29 und so auch im Typus des hellenistischen Poseidon von Melos präsentiert wird30 (Taf. 19, 4). Belegt ist der eingestützte Arm auch ür heroische Gestalten wie den bis heute nicht sicher gedeuteten Jüngling von Mozia31 oder den seines vermeintlichen Sieges gewissen Oinomaos aus dem Ostgiebel des Zeustempels von Olympia32. Die Geste kann – auch wenn bei solchen Wertungen immer Vorsicht angebracht ist – als aktionsbereites Selbstbewusstsein und Selbstgewissheit gedeutet werden, was gerade ür einen unruhigen und aurausenden Go wie Poseidon passend erscheint. Von Poseidon-Typen ist der spätklassische Berliner Zeus von Dodona (Taf. 19, 5) abhängig, der mit dem Motiv der eingestützten Hand unserem nemeischen Zeus nahe kommt, auch wenn dort Stand- und Spielbeinseite im Verhältnis zu der Seite mit dem Standszepter umgekehrt sind und der Kopf zum Standbein gewendet ist33. Das gesamte Konzept des statuarischen Typus des Berliner Zeus ist noch polykletisch. Auch ein anderer Aspekt unterscheidet diesen Zeus von dem nemeischen, nämlich die nur leicht angedeutete Kopfwendung und der gesenkte Blick, womit wir zu der zweiten Auälligkeit kommen. 2. Der nemeische Zeus des Lysipp in Argos und die angeührten weiteren Wiederholungen und Nachklänge des Typus weisen ein Charakteristikum auf, welches ungewöhnlich ist: Die starke Kopfwendung zur linken Seite, die auf der Münze geradezu als Profilansicht gegeben ist. Diese abrupte Bewegung kennen wir von keinem anderen Göerbild des Lysipp 25 Vgl. zu dem Phänomen Imhoof-Blumer – Gardner 1964. Zu den klassisch-griechischen emen der Münzprä-

gung von Nikopolis siehe Calomino 2011, 335–337. 26 Kovacsovics 1982, 204–206; Boyd 1985, 327 f. Für Alyzeia hat Lysipp eine Statuengruppe der Zwölf-Taten des

Herakles geschaffen (Strab. 10, 2, 21.; vgl. zu der Gruppe Moreno 1995a, 266–277), die später nach Rom abtransportiert wurde. Die Stadt war also mit dem Schaffen Lysipps verbunden, doch wissen wir nichts über einen möglichen lokalen Hintergrund des Zeus. Zu Lysipp und Alyzeia vgl. Moreno 1995a, 43–44. 27 Zur Ikonographie des Zeus vgl. Tiverios u. a. 1997. 28 Zur Motivgeschichte vgl. Oliver-Smith 1975, 100–104. 29 Simon 1994, 469 Nr. 201. 30 Schäfer 1968. 31 Moreno 1995. 32 Lippold 1950, 120 (dort auch zu dem Motiv des eingestützen Arms). 33 Bronzestatuee aus Dodona, ehemals Staatliche Museen zu Berlin – Antikensammlung, Inv. Misc. 10581 (1945

kriegsbedingt verlagert, seitdem in Moskau, Museum Alexander Puschkin). Zum Berliner Zeus von Dodona s. Neugebauer 1934. Ein vergleichbares Standmotiv weisen außerdem ein Zeus / Poseidon aus Delos (Chamonard 1906, 556–558; Lippold 1950, 288) sowie ein Zeus ehemals im Kunsthandel (Volk 1984) auf.

Der Zeus Nemeios des Lysipp und Alexander der Große

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oder der vorangehenden klassischen Zeit. Das Motiv der energischen Kopfwendung zusammen mit dem statuarischen Typus begegnet später allerdings an einer Reihe von Statuen, die hellenistische Herrscher darstellen und auf ein nur in Grundzügen rekonstruierbares Standbild Alexanders des Großen, den sogenannten Alexander mit der Lanze zurückgehen34. Literarische ellen erwähnen dieses in der Antike offensichtlich berühmte Werk, das ebenfalls von Lysipp stammte. Die Pariser Kleinbronze Fouquet (Taf. 20, 1), die auf der Standbeinseite den Speer und die Wendung des Kopfes aufweist, gilt als eines der Werke, die dem Alexander mit der Lanze von Lysipp nahe kommen35. Ein anderer auf Alexander mit der Lanze bezogener Typus ist der Nelidow-Alexander36 (Taf. 20, 2), der zudem das Motiv des eingestützen Arms aufweist, ebenso eine Kleinbronze von der Expedition Sieglin in Ägypten37 (Taf. 20, 3). Alle drei Typen werden als Kopien oder zumindest Nachklänge des Alexander mit der Lanze des Lysipp diskutiert, wobei zu betonen ist, dass Lysipp wohl mehrere Statuen des Alexander mit der Lanze anfertigte, was erklären könnte, weshalb es der Forschung bis heute nicht gelungen ist, sich auf einen Typus zu einigen. Die Kleinbronzen geben die Kopfwendung leicht beruhigt wieder, doch kann ein Marmorkopf Alexanders in Warschau, bei dem die Kopfwendung am Halsansatz gut zu erkennen ist, den Eindruck des ursprünglichen Bildwerkes wiedergeben38. Den weiteren Siegeszug des Schemas in unterschiedlichen Varianten der Darstellung nach-alexanderzeitlicher hellenistischer Herrscher verdeutlichen etwa der sogenannte ermenherrscher in Rom39, ein Bronzetorso in Houston40 und der sogenannte Levy Ruler in New York41. Diese Herrscherbilder gehen im Grundtypus auf Darstellungen Alexanders mit der Lanze von Lysipp zurück. Mehrere antike Autoren, darunter Plutarch überliefern, dass Lysipp den König mit der Wendung des Kopfes nach links und zum Himmel gerichtet dargestellt habe42. Die energische Kopfwendung Alexanders zur Seite und nach oben soll den Blick zum Olymp zu dem Göervater Zeus ausdrücken. Die Kopfwendung ist also ein bereits in der Antike gut bekanntes Charakteristikum der Alexanderbildnisse von Lysipp. Diese Bildwerke wurden von Lysipp im Aurag Alexanders geschaffen. Lysipp war der Lieblingsbildhauer Alexanders43. Als Zwischenergebnis halten wir fest: Die ungewöhnliche Kopfwendung des Zeus auf den Münzen von Argos stimmt mit der Kopfwendung von Alexanderstatuen überein. Auch der ür Zeus nicht charakteristische, eingestützte Arm ist ein Element, welches wir in der Ikonographie Alexanders und späterer hellenistischer Herrscher wiederfinden44. 34 Zum Alexander mit der Lanze vgl. Hölscher 1971, 54–56; Hundsalz 1985; Stewart 1993, 161–171; Moreno 2004,

166–183. 35 Stewart 1993, 425. 36 Stewart 1993, 427 f. 37 Watzinger 1927, 5 Abb. 2; Moreno 2004, 177 Abb. 270. 38 Mikocki 1994, 108–109 Nr. 102. 39 s. dazu und zu der Einordnung des statuarischen Typus Himmelmann 1989, 126–149. 40 Oliver-Smith 1975, dort S. 104 auch Vergleich mit dem Zeus Nemeios. 41 Halle 2005, 145–148. 42 Plut. Mor. 335 A–B; Plut. Alex. 4, 2; Plut. Pyrr. 8, 1; Epitome de Caes. 21, 4; Anth. Graeca 16, 120; emistios,

Logoi politikoi 13, 175b; Tzetzes, Historiarum variorum: Chiliades 8, 200, 416–427; 11, 368, 97. Zu den antiken ellen über das Aussehen Alexanders vgl. Stewart 1993, 341–357. 43 Vgl. dazu Stewart 1993, 360–362. 44 Vgl. auch Moreno 2004, 178.

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Es ist wohlbekannt, dass unterschiedliche Elemente der Alexanderikonographie auf Göerikonographie zurückgehen. So ist etwa die charakteristische Frisur Alexanders mit aufgeworfenem Mittelhaar, die Anastole, zuvor ür Zeus belegt45. Auch die von Alexander bei einigen Statuen getragene Ägis oder das Blitzbündel sind eigentlich Aribute des Zeus. eomorphe Herrscherbilder, also Darstellungen von Herrschern mit gölichen Aributen, sind ein geläufiges Phänomen der antiken Herrscherikonographie und dienten der sakralen Überhöhung des Herrschers46. Daher stellt sich die Frage, ob auch das Alexanderporträt mit der Kopfwendung ein ikonographisches Element der Göerikonographie (genau genommen der Ikonographie des Zeus) übernommen hat? Dies wäre theoretisch denkbar. Allerdings kennen wir – abgesehen von dem nemeischen Zeus – keine Göerbilder mit einer solchen energischen Kopfwendung, so dass die Abhängigkeit umgekehrt sein könnte: Hat also das Alexanderbild das Zeusbild beeinflusst? Tonio Hölscher und im Anschluss daran Günther Schörner haben auf das Phänomen hingewiesen, dass Herrscherbilder auf Göerbilder Einfluss genommen haben47. Als aufschlussreiches Vergleichsbeispiel kann das Bild des Helios von Rhodos auf Münzen dienen, das nach der Alexanderzeit plötzlich eine Anastole trägt48. Hier wirkte ganz offensichtlich die Herrscherikonographie auf die Göerikonographie. Um also Licht in das Abhängigkeitsverhältnis der beiden Statuen zu bringen, ist es notwendig, sich der zeitlichen Einordnung der Alexanderbilder und des nemeischen Zeusbildes zuzuwenden. Eine genaue zeitliche Einordnung des Alexanders mit der Lanze lässt sich nicht gewinnen und, wie erwähnt, gab es wohl auch mehrere solche Statuen Lysipps. Zwei Aspekte helfen indes bei einer Einordnung: 1. Alexanders Lanze wird von einem Teil der Forschung als Hinweis auf ›Speer-gewonnenes Land‹ gesehen und entsprechend nach 334 v. Chr., den Beginn des Asienfeldzugs datiert49. Dieses Argument ist jedoch wegen der vielseitigen heroischen Konnotationen von Lanzen nicht wirklich stichhaltig. Eine andere Beobachtung kann aber bei der Chronologie weiterhelfen. 2. Aus literarischen ellen ist nämlich zu erschließen, dass Lysipp erst nach dem Tod von Alexanders Vater, Philipp II., den eindeutigen Vorzug als Hoünstler erhielt50. Wir können daher vermuten, dass der ›Alexander mit der Lanze‹ erst nach der Ermordung Philipps II. 336 v. Chr.geschaffen wurde. Erheblich schwieriger gestaltet sich die zeitliche Einordnung des Zeus Nemeios von Argos, der von der Forschung weitgehend vergessen ist und bislang kaum Beachtung gefunden hat. Aus Pausanias können wir keine direkten Schlüsse zu den Umständen seiner Entstehung ziehen. Paolo Moreno geht allerdings davon aus, dass der Zeus Nemeios in Argos am Anfang der Schaffenszeit des Lysipp steht51. Stillschweigend setzt er offenbar voraus, dass Lysipp als peloponnesischer 45 Hölscher 1971, 28. 46 Svenson 1995. 47 Hölscher 1971; Lauter 1988, 721–722; Schörner 2001. 48 Schörner 2001. 49 Vgl. etwa Stewart 1993, 161–171. 50 Vgl. Moreno 1995a, 157. 51 Dies sagt Moreno allerdings nirgends explizit. Allerdings bespricht er den Zeus Nemeios jeweils zu Beginn

der grob chronologisch sortierten Übersichten über das Werk des Lysipp. Vgl. etwa Moreno 1995a, 50; Moreno 2004a, 27.

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Künstler zunächst auf der Peloponnes Auräge erhielt. Folgen wir Moreno, so müssten wir von einer Entstehung des nemeischen Zeus in Argos etwa in den 60er oder 50er Jahren des 4. Jhs. v. Chr. ausgehen und stünden damit zeitlich vor dem ›Alexander mit der Lanze‹. William Coulson dagegen ordnet den Zeus Nemeios in die Jahre 340/325 v. Chr. ein, allerdings ohne Angabe von Gründen52. Bevor wir uns aber einer chronologischen Abfolge anschließen, müssen anhand des Pausaniastextes die verügbaren Informationen zu dem Standbild in Argos diskutiert werden. Bei Pausanias heißt es nach der Beschreibung anderer Bildwerke in Argos: τούτων δὲ ἀπαντικρὺ Νεμείου Διός ἐστιν ἱερόν, ἄγαλμα ὀρϑὸν χαλκοῦν, τέχνη Λυσίππου. – »Diesen gegenüber ist ein Heiligtum des nemeischen Zeus mit einer Bronzestatue stehend, Werk des Lysipp.« Der knappe Bericht wir Fragen auf. Zunächst wäre zu klären, um was ür eine Art von Heiligtum es sich handelt, und worauf sich »nemeisch« als Spezifizierung des Zeus bezieht. Daür gibt es zwei grundsätzliche Möglichkeiten. 1. Es ist eine Art Filialheiligtum, in dem der Zeus von Nemea in Argos einen Kult erhielt. Bedenkt man, dass Nemea als panhellenisches Heiligtum von überregionaler Bedeutung war, scheint es denkbar, dass in dem Nemea benachbarten Argos eine Filiale existierte. Dies ist umso wahrscheinlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Geschichte von Nemea eng mit der von Argos verwoben war. Auch von anderen Orten im Mielmeerraum kennen wir nemeische Filialen53. 2. Es ist allerdings auch denkbar, dass Pausanias, der ja in der mileren Kaiserzeit Argos besuchte, einen späteren Zustand beschrieb, der nicht auf die Entstehungszeit des Werks des Lysipp zu beziehen ist. Bei seinem Rundgang durch Nemea erwähnt Pausanias, dass der dortige Zeustempel (Taf. 20, 4) milerweile ohne Dach und ohne Kultbild sei54. Es ist also sehr gut vorstellbar, dass irgendwann vor der Lebenszeit des Pausanias im 2. Jh. n. Chr. der Zeustempel von Nemea so stark beschädigt wurde, dass man das lokale Kultbild nach Argos in Sicherheit brachte. Denkbar ür einen solchen Transfer wären insbesondere die 270er Jahre v. Chr., als die Spiele in Nemea aufgegeben und endgültig nach Argos verlegt wurden55. Nemea gehörte seit dem 5. Jh. v. Chr. zum Stadtgebiet von Argos, weshalb Argos eine solche Verügungsgewalt gehabt haben könnte56. Die Frage nach der Bedeutung von »nemeischer Zeus« ist deshalb von großem Interesse, weil damit der ursprüngliche Bezug zwischen Statue und Auraggeber geklärt werden kann. Ist es ein Bildwerk aus Nemea oder ist es eines, das sich auf die Goheit in Nemea bezieht. Wurde es nach Argos gebracht oder stand es schon immer dort? Dieser Bezug ist zum Verständnis und zur Datierung der Statue notwendig. Die Sache wird allerdings erheblich verkompliziert durch 52 Coulson 1971. 53 Vgl. Oineon / Lokris (uk. 3, 96, 1), Athen? (Lambert 2002, 373), Mylasa (IK Mylasa I Nr. 501), Antiochia (Li-

banios Or. 11, 51), eangela (Şahin – Engelmann 1979, 211 f.), Kos (IG XII 4, 1, 406) und Epidauros (IG² IV 417. 521). Nemeische Spiele sind belegt ür Aitna / Sizilien, Megara und Laodikeia Mare / Syrien (vgl. dazu Kruse 1935). 54 Paus. 2, 15, 2. 55 Miller 2004, 32. Vgl. aber Gutsfeld – Lehmann 2005, die davon ausgehen, dass die Spiele und das Heiligtum von

Nemea bis in die römische Kaiserzeit hinein funktionstüchtig waren. Vgl. aber Kennell 1988, 241 f. 56 Zeitweise gehörte Nemea auch zum Stadtgebiet von Kleonai; s. dazu Miller 1982; Perlman 2000, 138–149; Stras-

ser 2007; Stickler 2010, 159–167.

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die Geschichte Nemeas im 4. Jh. v. Chr. Gegen Ende des 5. Jhs. v. Chr. wurden das archaischklassische Heiligtum und der Zeustempel von Nemea zerstört. Grund ür die Zerstörung waren wohl innergriechische Streitigkeiten57. Der Tempel und der Kult in Nemea scheinen zunächst nicht wieder hergestellt worden zu sein. Man verlegte möglicherweise die nemeischen Spiele nach Argos und sie fanden von nun an dort sta oder aber sie wurden auf äußerst bescheidenem Niveau weiterhin in Nemea ausgetragen. Erst in der zweiten Häle des 4. Jhs. v. Chr. wurde das Zeusheiligtum von Nemea wieder aufgebaut. Die Baugeschichte des nemeischen Zeustempels ist bis heute nicht sicher geklärt58. So ist umstrien, ob der dorische Tempel in den 330er oder in den 320er Jahren neugebaut wurde59. Sichere epigraphische oder stratigraphische Daten liegen daür nicht vor; die Fundmünzen setzen allerdings mit Philipp II. wieder ein60. Es gibt Hinweise darauf, dass die Wiederbelebung des Kults in Nemea unter direktem makedonischem Einfluss stafand61, was sich gut in die politische Situation in den Jahren nach der Schlacht von Chaironeia 338 v. Chr. einügt. Die Schlacht von Chaironeia war einer der zentralen Einschnie der griechischen Geschichte im 4. Jh. v. Chr. In der Schlacht versuchten große Teile der Staaten Griechenlands der Expansion Makedoniens unter Philipp II. Einhalt zu gebieten. Die vereinigten Griechen stellten sich dem makedonischen Heer entgegen und unterlagen bei der boiotischen Stadt Chaironeia. Die Folge der Schlacht war die Herstellung eines ›Allgemeinen Friedens‹ und die Hegemonie Makedoniens in Griechenland62. Fast alle griechischen Staaten wurden im sogenannten Korinthischen Bund vereinigt, der sich in einer Mitgliederversammlung, dem Synhedrion, regelmäßig an wechselnden Orten traf. Nemea war einer der Orte, an denen das Synhedrion des ›Korinthischen Bunds‹ zusammentrat. Die panhellenischen Spiele in Olympia, Delphi, Isthmia und Nemea waren Anlass und Ort der Versammlungen des Bundes. Der ›Korinthische Bund‹ löste sich wohl bereits nach dem Tod Alexanders des Großen auf, doch düren mindestens bis dahin die Synhedrionsorte im Focus Makedoniens gestanden haben. Auch später können wir eine besondere Beziehung makedonischer Herrscher zu Nemea beobachten. So war Kassander 317 und 315 v. Chr. Vorsitzender der Spiele63. Archäologisch wird von den amerikanischen Ausgräbern von Nemea das gesamte spätklassischfrühhellenistische Neubauprogramm von Nemea mit Tempel, Stadion und ermen auf Makedonien (Philipp II. oder Alexander den Großen) zurückgeührt. Als archäologischer Beleg ür architektonischen Einfluss aus Makedonien wird etwa der Bau des Stadioneingangs in Nemea (Taf. 21, 1) angesehen64. Es handelt sich dabei um eines der frühesten echten Tonnengewölbe im griechischen Raum, wobei die Einührung des Tonnengewölbes einerseits mit makedonischen Kammergräbern verglichen, andererseits mit der Eroberung des Ostens durch Alexander und dem Bekanntwerden dieser im Osten bereits länger weit verbreiteten Technik erklärt wird. Auch konzeptionelle Besonderheiten in der Raum- und Gebäudeabfolge der Stadionkomplexe in Nemea, Olympia und Epidauros werden mit makedonischer Präsenz begründet65. 57 Miller 2004, 49 f.; 52 f. 58 Zum Tempel s. Hill 1966. 59 Zur Datierung vgl. Hill 1966, 44–46. 60 Miller 2004, 32 f.; vgl. auch Hill 1966, 46. 61 Vgl. dazu Miller 1979, 103; Miller 1988, 144–145. 62 Vgl. dazu im Folgenden Jehne 1994. 63 Diod. 19, 64, 1. 64 Miller 2001, 62–83. 65 Miller 2001, 173-224.

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Obgleich ein umfassender und programmatischer makedonischer Eingriff in panhellenische Heiligtümer mit weiteren Belegen zu untermauern wäre, kennen wir doch aus einem anderen panhellenischen Heiligtum auf der Peloponnes, aus Olympia, ein prominentes Gebäude, das daür ins Feld geührt werden kann: das Philippeion, der von Philipp II. und Alexander dem Großen errichtete Rundbau im heiligen Bezirk von Olympia (Taf. 21, 2)66. Von Pausanias erfahren wir in einer vieldiskutierten Passage, dass das Gebäude ür Philipp II. nach der Schlacht bei Chaironeia errichtet worden sei67. Darin haben Statuen Philipps, seines Vaters Amyntas sowie von deren Frauen Olympias und Eurydike zusammen mit einer Statue Alexanders gestanden68. Die Werke, angefertigt von dem aischen Bildhauer Leochares, seien in goldelfenbeinerner Technik ausgeührt worden. Das Gebäude in ionischer Ordnung ist archäologisch gut erforscht. Es stand am Rand der Altis von Olympia und erhob sich auf einem dreistufigen Unterbau mit ca. 15 m Durchmesser. Die Ringhalle hae 18 Säulen; in der Cella stand eine halbrunde Basis auf der die Einlassspuren der Familiengruppe noch erhalten sind (Taf. 21, 3). Es wurde wegen der großflächigen Einlassspuren ür Plinthen bestrien, dass die Gruppe wirklich aus Goldelfenbein war69. Sollte sie es aber gewesen sein, so wäre dies ein bemerkenswerter Vorgang. Denn das Material wurde eigentlich nur ür Göerbilder verwendet70, in Olympia selbst war das Zeusbild nebenan im Zeustempel so gefertigt. Die Statuen der Familiengruppe im Philippeion wären die ersten Nicht-Göerbilder in dieser Technik gewesen und häen entsprechend eine erhebliche sakrale Überhöhung der dargestellten Familie bedeutet. Diese war bereits gegeben durch die Wahl des Ortes, nämlich die Positionierung in dem heiligen Bezirk. Auch die Wahl des architektonischen Rahmens wirkte in diese Richtung: die umgebende geschlossene Peripteralarchitektur war ein Novum ür eine Familiengruppe in einem Heiligtum und hae architektursymbolisch sakrale Konnotationen. Damit ist das Philippeion in Olympia ein Beleg daür, dass das makedonische Königshaus nach der Schlacht von Chaironeia Interesse hae, sakral überhöhte Präsenz in einem panhellenischen Heiligtum zu zeigen, das zugleich Versammlungsort des ›Korinthischen Bundes‹ war. Doch zurück zu dem nemeischen Zeus. Als vorläufiges Ergebnis können wir rekapitulieren, dass der von Lysipp geschaffene Zeus Nemeios von Argos einen ungewöhnlichen statuarischen Typus aufweist, der in Beziehung zu Statuen Alexanders mit der Lanze des Lysipp steht. Letzterer wurde wohl nach 336 oder nach 334 v. Chr. konzipiert. Zugleich können wir festhalten, dass es zunächst nicht sicher zu ermieln ist, ob der Zeus Nemeios ür ein Heiligtum in Argos oder das in Nemea geschaffen wurde. Wenn es aber nicht zu sichern ist, so gilt es, Wahrscheinlichkeiten auszuleuchten. Daher seien die Optionen ür die Frage nach dem ›Zuerst‹ noch einmal formuliert: 1. Ist es wahrscheinlich, dass die Stadt Argos Lysipp beauragte, ein Zeusbild ür Argos zu schaffen, das vor dem Neubeginn in Nemea in den 330er Jahren und demnach wohl vor den lysippischen Alexanderstatuen mit der Lanze entstand? 2. Oder ist es wahrscheinlicher, dass das Zeusbild ür Nemea in Anlehnung an ein Alexanderbild geschaffen wurde? Das Zeusbild wurde dann zu einem späteren Zeitpunkt von Nemea 66 Zum Philippeion vgl. Kunze – Schleif 1944, 1–52; Seiler 1986, 89–103; Bringmann – von Steuben 1995, 404–406

KNr. 329. 67 Paus. 5, 20, 9 f. 68 Zu der Familiengruppe im Philippeion vgl. Schmidt-Dounas 2000, 102–107; Lapatin 2001, 115–119; Schultz 2007. 69 Schmidt-Dounas 2000, 102–107; Schultz 2007, 220. Siehe dagegen Lapatin 2001, 116, der keine Zweifel an der

Goldelfenbeintechnik hat. 70 Lapatin 2001, 118.

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nach Argos transferiert. 3. Eine Variante von (2) wäre, dass das Zeusbild nach der makedonischen Wiederbelebung der nemeischen Spiele in Nemea ür ein Filialheiligtum in Argos geschaffen wurde, der Zeus also gleichermaßen zeitlich von Alexander abhängig wäre. Beginnen wir mit der Möglichkeit, dass der nemeische Zeus von Argos vor der Wiederbegründung der Kultstäe in Nemea in den 30er Jahren geschaffen wurde. Dies kann theoretisch nicht, doch praktisch sehr wohl ausgeschlossen werden. Es ist eher unwahrscheinlich, dass von Lysipp insbesondere das Motiv der energischen Kopfwendung zur Seite und nach oben zunächst ür ein Göerbild und dann ür das Alexanderbild konzipiert wurde. Wäre es so gewesen, stellt sich die Frage, weshalb das Motiv bei späteren Göerfiguren so selten auri und insbesondere als Zeustypus in der weiteren Überlieferung praktisch keine Rolle spielt. Man müsste argumentieren, dass das Motiv aus der Überlieferung verschwindet, weil es ür Herrscher Verwendung fand, doch ist dies nicht schlüssig, da ür die Herrscherikonographie eine göliche Konnotation sicher kein Hinderungsgrund sondern ganz im Gegenteil sogar erwünscht gewesen wäre. Demgegenüber scheint es doch sehr viel wahrscheinlicher, dass der nemeische Zeus von Argos gewissermaßen ein Nebenzweig der Alexanderikonographie ist. Dabei düre sich – wie die statuarische Überlieferung des Zeustypus zeigt – der Nebenzweig als Sackgasse herausgestellt haben. Die statuarische Darstellungsform mit energischer Kopfwendung und in die Hüe gestemmter Hand entfaltete keine normative Wirkung; sie passte offenbar nicht zu dem Bild, welches die Griechen von Zeus, dem souverän über allem stehenden Weltenherrscher haen71. Folgen wir dieser Überlegung, können wir konstatieren, dass der Zeus von Nemea von dem Alexander-Bild abhängig ist. Dies ührt zu der Frage, ob die Stadt Argos das Bild ür Argos72 oder ob das nemeische Heiligtum das Standbild ür Nemea in Aurag gegeben hat. Letzte Gewissheit ist hier nicht zu erlangen, doch scheint die Indizienkee, dass unter makedonischem Einfluss das Heiligtum von Nemea wiederhergestellt wurde und ein nemeischer Zeus mit formal-kompositorischen Charakteristika des Makedonen Alexanders ungeähr zu dieser Zeit ür uns greiar wird, doch sehr daür zu sprechen, dass der nemeische Zeus des Lysipp unter makedonischer Dominanz ür Nemea konzipiert wurde und dort vermutlich das Kultbild im Zeus-Tempel war. Das bedeutet, dass das königlich-makedonische Herrscherhaus nach der Schlacht von Chaironeia eine Wiederbelebung des alten panhellenischen Kultorts beörderte und vermutlich sogar maßgeblich vorantrieb. Daraus folgt, dass die Alexanderhaigkeit des Zeus von Nemea in Argos sicher nicht zuällig war, sondern im Kontext makedonischer Präsenz auf der Peloponnes gesehen werden muss. Das nemeische Bildwerk ist also in seiner politischen Relevanz in eine Reihe mit dem Philippeion in Olympia zu stellen und diente der sakralen Überhöhung Alexanders des Großen zu Lebzeiten73. Offenbar wurde bei einem makedonischen Restaurationsprogramm in Nemea in der Folge der Schlacht bei Chaironeia als ein neues Kultbild ür Zeus geschaffen wurde, dieses bewusst mit Zügen Alexanders des Großen ausgestaet. 71 Vgl. auch Johnson 1927, 137. 72 Dies scheint Moreno 1987, 24 anzunehmen. 73 Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass ein einheitliches und stringent formuliertes politisches Programm

hinter diesen Zeugnissen makedonischer Präsenz in den Heiligtümern steht. Das Philippeion als dynastisches Monument hae eine andere programmatische Zielrichtung als der alexanderhae Zeus Nemeios. Auch die Zeitstellung der beiden lässt sich nicht zwingend synchronisieren. Gleichwohl sind beide Denkmäler Zeugnis makedonischer Präsenz in panhellenischen Heiligtümern nach Chaironeia und beide zielten auf eine sakrale Überhöhung der makedonischen Herrscher ab.

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Stiler 2010: T. Stickler, Korinth und seine Kolonien. Die Stadt am Isthmus im Mächtegeüge des klassischen Griechenland (Berlin 2010). Strasser 2007: J.-Y. Strasser, Argos, Kléonai et les Nemea. À propos de IG, II², 365, in: D. BerrangerAuserve (Hrsg.), Épire, Illyrie, Macédoine … Mélanges offerts au Professeur Pierre Cabanes (Clermont-Ferrand 2007) 329–347. Svenson 1995: D. Svenson, Darstellungen hellenistischer Könige mit Göeraributen, Archäologische Studien 10 (Frankfurt 1995). Tiverios u. a. 1997: LIMC VIII (1997) 310–374 s. v. Zeus (M. Tiverios u. a.). Tomlinson 1972: R. A. Tomlinson, Argos and the Argolid. From the End of the Bronze Age to the Roman Occupation (London 1972). Volk 1984: J. G. Volk, A Lysippan Zeus, ClAnt 3, 1984, 272–283. Watzinger 1927: C. Watzinger, Die griechisch-ägyptische Sammlung Ernst von Sieglin I. Malerei und Plastik II (B) (Leipzig 1927).

Hekatomnidische ›Dynastengräber‹ Abbild karischer Tradition oder Ausdruck einer hellenisierten Gesellscha?∗ Gundula Lüdorf

Grabarchitektur In jeder archäologischen Disziplin kommt der Analyse von Gräbern und Grabkontexten ein hoher Stellenwert zu, denn durch sie eröffnen sich gleichermaßen Einblicke in die Welt der Toten wie der Lebenden. Abgesehen von einer engmaschigen Datierbarkeit, die sich durch architektonische Details oder seltener durch Beigaben in ungestörten Gräbern ergeben können, liefern Grabkontexte auch wichtige Hinweise auf die vorherrschende Bestaungssie, die bevorzugten Grabtypen, aber auch auf die gängigen Bautechniken der Sepulkralkunst. Darüber hinaus kann die Lage der Nekropolen Aufschlüsse über die antike Siedlungsstruktur vermieln. Für das antike Karien gilt dies in besonderem Maße, denn die Zahl der bekannten Nekropolen und Gräber übersteigt die der erforschten Siedlungsplätze und Wohnbauten um ein Vielfaches. Da Bestattungsriten und Grabformen bei allen Völkern stets auf alten Traditionen beruhen und diese in der Regel langlebiger als die Gebräuche anderer Lebensbereiche sind, nehmen die Gräber eine Schlüsselrolle als Indikatoren potentieller autochthoner Kulturelemente ein. Allein schon aufgrund der Bestaungsart setzen sich die karischen Gräber von denen anderer ägäischer und anatolischer Völker ab, denn anders als bei jenen kommen bei den Karern zu allen Zeiten Körper- und Brandbestaungen nebeneinander vor – und dies völlig unabhängig vom jeweiligen Grabtypus. Auällig ist auch eine deutliche Tendenz zu Mehrfachbestaungen, die sich zahlreich in aufwendig gebauten Gräbern widerspiegelt, die als Familien- oder Sippengräber konzipiert waren. Zudem ist den karischen Gräbern eine möglichst erdnahe Beisetzung gemeinsam, durch die sie sich beispielsweise von der lykischen Bestaungssie unterscheiden, nach der die Toten in weit aufragenden Grabmonumenten so hoch wie möglich beigesetzt werden. Obschon die antike Landscha Karien mit einem variantenreichen Spektrum an Grabtypen aufwartet, handelt es sich keineswegs, wie gemeinhin angenommen, um ein inhomogenes Kompositum verschiedener Regionalformen. Alle Grabtypen, seien es nun einfache Erdbestaungen in Urnen, schlichte Steinkisten, Tumuli oder gebaute Kammergräber ohne Erdaufschüung, verweisen auf eine ungebrochene indigene Tradition, deren Wurzeln bis in die anatolische Bronzezeit zurückreichen. Wenn diese indigene Komponente auch bereits bei den frühesten vermeintlich ›karischen‹ Gräbern mit eklektizistischen Zügen gepaart ist, findet sich der Ausdruck der karischen Kulturausprägung stets in der Anpassung exogener Elemente an die eigenen Bedürfnisse. Dabei werden omals Details zu traditionsbildenden Elementen, die annähernd parallel oder auch zeitversetzt ∗ Dieser Beitrag resultiert aus den vorläufigen Ergebnissen meiner geplanten Habilitationsschri »Karer oder

Kariones? Identität und Akkulturation eines westkleinasiatischen Volkes«.

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in andersgestaltigen Gräbern aureten können. Diesbezüglich sei exemplarisch auf den immer wiederkehrenden Befund von Grünschieferplaen verweisen, die sowohl bei einfachen Steinkistengräbern und Felskistensarkophagen, als auch bei den gebauten Kammergräbern mit und ohne Tumulus, aber auch noch im Mausoleum von Halikarnassos den Zugang zum Grab verschlossen1. Eine weitere Gemeinsamkeit karischer Gräber ist das fast vollständige Fehlen von Grabinschriften oder Grabbeigaben, die bei der Identifizierung der Verstorbenen behilflich wären; nur in den allerseltensten Fällen ist uns der Grabinhaber bekannt. Allerdings verweist die meist aufwendig gebaute Grabarchitektur stets auf einen begüterten Grabinhaber aus der karischen Oberschicht. Es erweist sich als außerordentlicher Glücksfall, dass Entdeckungen und Forschungen der jüngeren Zeit uns in die Lage versetzen, wenigstens einige wenige Grabherren namentlich zu benennen. Bereits auf den ersten Blick heben sich deren Gräber miels gehobener Architektur mit reicher wie qualitätvoller Skulpturenausstaung, wertvollen Fresken sowie durch opulente und luxuriöse Beigaben aus der Masse der übrigen ›reichen‹ Gräber ab. Da sich die Grabmonumente dieses Personenkreises in den politischen wie sozialen Zentren Mylasa und Halikarnassos befinden und gemeinschalich in das 4. Jh. v. Chr. datieren, bieten sich die Mitglieder der Hekatomniden-Dynastie als Grabinhaber geradezu an, deren jeweiliges Oberhaupt Karien als Satrap des Achämenidenreichs verwaltete und gleichzeitig faktisch eigenständig als ›König der Karer‹ regierte. Und zumindest ür das Grabmal des Mausolos darf dies wohl als gesichert gelten. Neben dem Mausoleum von Halikarnassos werden in der Literatur drei weitere Gräber mit den Hekatomniden verbunden: Das ›Grab der karischen Prinzessin‹ sowie ein Tempelfassadengrab nahe Mylasa, das zumindest bis zur Entdeckung eines weiteren Kammergrabs innerhalb des Stadtgebiets als Grabmal des Hekatomnos favorisiert wurde. Anders als man vor einem möglichen gemeinsamen familiären Hintergrund erwarten würde, weisen diese Gräber keinerlei bauliche Gemeinsamkeiten auf, vielmehr reflektieren sie genau den Variantenreichtum, der ür die karischen Gräberlandscha des 4. Jhs. v. Chr. charakteristisch ist.

Das Grab der ›karischen Prinzessin‹ Die Entdeckung eines äußerst reich ausgestaeten Frauengrabes, das im April des Jahres 1989 von den Mitarbeitern des Museums ür Unterwasserarchäologie in Bodrum ausgegraben wurde, zählt sicher zu den Glücksällen der karischen Archäologie des 20. Jahrhunderts2. Dies um so mehr, als das Grab bis zu seiner Entdeckung in der hellenistischen Ost-Nekropole von Halikarnassos völlig unversehrt geblieben war, die benachbarten Grabstäen dagegen bereits vollständig geplündert und ausgeraubt waren. Das schlichte Steinkistengrab besteht aus drei Lagen von Kalksteinblöcken über einem rechteckigen Grundriss, der von sieben langen, außen unbearbeiteten Blöcken abgedeckt wird (Taf. 22, 1). Ohne weitere architektonische Ausstaung beherbergte die 1 Eine derartige Grünschieferplae fand sich auch unter den Resten zweier möglicherweise mykenischer Kam-

mergräber (S 180, S 351), die im Rahmen des Milet-Survey nahe Assesos entdeckt wurden. Auch diese ›protokarischen‹ Gräber verbinden mykenische Elemente (Grabtypus und Beigaben) mit einer eher anatolisch beeinflussten Brandbestaung. Hierzu s. Kalaitzoglou 2009, 180–182 (S 180); 228–230 (S 351); und seinen Beitrag in diesem Band. 2 Özet 1994, 88–96; Nearve – Prag 1994, 97–109; Carstens 1999, 90–94 Abb. 112–114; Carstens 2009, 385. Die Grab-

beigaben sowie der Sarkophag mit dem Skele der Verstorbenen sind heute in einer Nachbildung eines Androns von Labraunda in dem eigens eingerichteten ›Saal der karischen Prinzessin‹ des Museums ür Unterwasserarchäologie in Bodrum ausgestellt. Hierzu s. auch die entsprechende Seite auf der Homepage des Museums, zuletzt aktualisiert 2009 (28.11.2011).

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so gebildete Grabkammer einen ebenfalls schlichten Sarkophag aus grünlichem Andesit mit einem Giebeldeckel. Ob das Grab auch obertägig – sei es durch einen flachen Erdhügel oder eine Stele oder einen Rundaltar – kenntlich war, ist heute nicht mehr zu entscheiden. Zu dieser einfachen und prunklosen Grabarchitektur bilden die kostbaren Goldbeigaben einen deutlichen Gegensatz, denn die Verstorbene war mit einem kunstvollen Diadem aus Myrthenblättern und Blüten, mehreren Keen und Armreifen, Fibeln, verschiedenen Ringen sowie etlichen Schmuckroseen und anderen Applikationen reich geschmückt. Gemeinsam mit einer schwarz gefirnissten Oinochoe, die sich im südwestlichen Bereich der Grabkammer fand und sich typologisch problemlos in das drie Viertel des 4. Jhs. v. Chr. einordnen lässt, legen die Schmuckbeigaben eine Zeitstellung in der zweiten Häle des 4. Jhs. v. Chr. nahe. Dass es sich bei einer solchen Ausstaung um das Grab einer wohl situierten Dame der lokalen Aristokratie gehandelt haben muss, mag wohl niemand bezweifeln. Spekulationen um die Identität der Verstorbenen setzten mit den anthropologischen Untersuchungen ihres Skeles ein, wonach die Verstorbene ein Lebensalter von 44 (±6) Jahren erreichte und mehrere Kinder gebar, bevor sie zwischen 360–323 v. Chr. verstarb. Im Anschluss an eine forensische Schädelrekonstruktion an der Universität Manchester wurde diese mit einer Haartracht versehen, die der Darstellung auf einem beigegebenen Achatring entsprach. In diesem Stadium zeichneten sich nicht nur deutliche Ähnlichkeiten zwischen den beiden, sondern auch zu einer Büste aus dem Athena Polias Tempel in Priene ab, so dass die Aristokratin rasch zur ›karischen Prinzessin‹3 avancierte. Da die ermielten Merkmale und Eckdaten den bekannten historischen Fakten zu Königin Ada I. – deren Todesjahr nebenbei bemerkt noch immer nicht präzise zu fixieren ist – nicht widersprechen, wird weiterhin die Möglichkeit in Betracht gezogen, bei der Verstorbenen könne es sich tatsächlich um die Hekatomnos-Tochter und Gain des Idrieus handeln. Indes reicht die Indizienlage nicht aus, um diese Hypothese zweifelsfrei zu verifizieren, zumal Ada I. wohl kaum die einzige karische Adelige gewesen sein düre, auf welche die genannten Merkmale zutreffen. Und insbesondere in diesem Punkt erweist sich die Analogie zu der Büste aus Priene als problematisch, denn es ist keineswegs gesichert, dass die Büste aus Priene tatsächlich Ada I. darstellt. Ungeachtet einer Identifizierung handelt es sich zunächst einmal um das öffentliche Portrait einer wohlsituierten Dame des 4. Jhs. v. Chr. Wenn aber das Bildnis idealisierte Züge aufweist und die dargestellte Frisur mit Haarnetz auf den rekonstruierten Kopf übertragen wird, reduzieren sich die Übereinstimmungen auf physiognomische Grundformen und die zeiypische Haarmode. Auf die Annahme, bei der Verstorbenen handele es sich um eine Karerin, wird man sich verständigen können, zumal sie durch den bis in die Bronzezeit zurückreichenden Typus des Steinkistengrabes gestützt wird4. Die Beigabe eines Chalzedonringes mit der Darstellung eines persischen Kriegers in Kniehosen und mit spitzer Mütze5 schließt eine griechische Besitzerin zwar nicht völlig aus, düre ür eine karische Dame dieser Zeitstellung aber angemessener sein. Um den Grat 3 Für eine Abbildung des Achatring s. Özet 1994, 96 Abb. 9. Zur Büste s. Nearve – Prag 1994 Abb. 8–9 [BMC 1151]. 4 Exemplarisch sei hier auf die Steinkistengräber der frühbronzezeitlichen und geometrischen Nekropole von

Iasos, die protogeometrischen Steinkisten von Assarlık sowie die späthellenistische Nekropolen von Halikarnassos verwiesen. Bereits in Assarlık hat sich in karischen Nekropolen eine Gepflogenheit etabliert, nach der Steinkistengräber überaus häufig mit gebauten Kammergräbern mit oder ohne Tumulus vergesellschaet sind. Aus der umfangreichen Literatur seien die Folgenden herausgegriffen: Zur frühbronzezeitlichen Nekropole von Iasos: Pecorella 1977, 65–72; Pecorella 1987, 19–27; Carstens 1999, 14–16; Kalaitzoglou 2009, 36. – Zur geometrischen Nekropole von Iasos: Levi 1969, 461–532; Carstens 1999, 47–48. – Zur den Steinkisten in Assarlık: Paton 1887, 68 f.; Paton – Myres 1896, 243 f.; Radt 1970, 226 mit Anm. 47; Carstens 1999, 35 f. – Zur Nekropole von Halikarnassos: Newton 1862, 333 f. (Kap. XII); Carstens 1999, 92–94. 5 Özet 1994, 96 Abb. 7.

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der Wahrscheinlichkeit abzuschätzen, mit der es sich tatsächlich um das Grab von Königin Ada I. handelt, scheint es sinnvoll im Folgenden zu untersuchen, ob und in wieweit sich der Grabtypus in das Gesamtbild der übrigen mutmaßlich hekatomnidischen Gräber einügt.

Das Tempelfassadengrab von Berber İni Seit seiner Entdeckung durch L. Robert wurde das Tempelfassadengrab von Berber İni, das etwa 3 km außerhalb Mylasa südlich der Ausfallstraße Richtung Güllük gelegen ist, immer wieder als Grabmal des Hekatomnos favorisiert6. Jedoch konnte auch hier keine positive Beweisührung erbracht werden und mit der jüngsten Auffindung eines weiteren ›Hekatomnos-Grabes‹ im Zentrum des antiken Mylasa, auf das noch einzugehen ist, düre diese ese obsolet geworden sein. Dennoch wir das Grabmal von Berber İni weiterhin interessante Fragen auf, von denen sich die erste auf seine Stellung innerhalb der karischen Gräberlandscha richtet. Denn sollte dem Felsfassadengrab aufgrund seiner architektonischen Besonderheiten jene herausragende Bedeutung zukommen, die ihm in der Literatur immer wieder zugemessen wird, bestünde die Möglichkeit, den Grabherrn unter den übrigen Hekatomniden zu suchen. Darüber hinaus bietet sich der Grabtypus geradezu als Ausgangspunkt ür die übergeordnete Fragestellung an, inwieweit Tempelfassadengräber überhaupt noch als karisch zu bezeichnen sind oder ob es sich nicht um kulturfremde Elemente handelt, die bereits jeglichen autochthonen Kulturausdruck verdrängt haben. Entgegen der verbreiteten Sie einer Bestaung in Nekropolen, ist das Grab von Berber İni (Taf. 22, 2) nicht in einen größeren Gräberkontext eingebeet, sondern befindet sich isoliert in einer Felswand. Die Front ist als Distylos in antis gestaltet, dessen dorische Säulen ein ionisches Gebälk mit Zwei-Faszien-Architrav tragen. Die Scheintür zwischen den beiden Säulen ist blind; der Zugang erfolgt durch eine gerahmte Tür unter dem Säulenstylobat. Von dort gelangt man über eine großzügige Vorkammer in eine Grabkammer von bescheidenen Ausmaßen. In dieser knappen Beschreibung der Architektur sind zugleich auch all jene Besonderheiten enthalten, die das Grab scheinbar von anderen karischen Gräbern abheben: die isolierte Lage in einer ür Felsfassadengräber untypischen Region, die ›überdimensionierte‹ Vorkammer und eine Scheintür oberhalb der eigentlichen Grabkammer. Doch reichen diese Charakteristika aus, um das Monument zu einem dynastischen Grabmal zu erheben? Zunächst ist ganz allgemein zu konstatieren, dass sich im 4. Jh. v. Chr. verstärkt die Tendenz abzeichnet, Gräber aus ihrem ursprünglichen Kontext herauszuheben und diese – auch isoliert – an Straßen vor den Toren der Stadt zu errichten. Zwar konzentrieren sich die Parallelen des Grabes von Berber İni an der karisch-lykischen Grenze, wie aber spätestens seit dem Gräbersurvey von A. M. Carstens7 bekannt ist, bilden Tempelfassadengräber auch weiter im Norden, insonderheit nahe den Küsten der Bodrum-Halbinsel, keine Ausnahme. Diesbezüglich sei nur auf das ›Löwengrab‹ verwiesen, das sich in Turgutreis als ein an drei Seiten freistehender Antenbau mit einem Zwei-Faszien-Architrav über zwei dorischen Säulen in antis erhebt8. Als erster versuchte O. Henry die bis dato akzeptierte Datierung des Grabes von Berber İni in das 4. Jh. v. Chr. zu präzisieren und kam nach einer Analyse der Säulenordnung und mit dem Verweis auf die ebenfalls gemisch6 Robert 1935, 338 Abb. 5; Akarca 1971; Bean 1971, 43 Taf. 2 unten; Debord 1999, 375; Roos 2006, Taf. 34 ; Henry

2010, 103–121. 7 Carstens 1999. 8 Carstens 1999, 120–124 Abb. 174–192; Carstens 2009, 388 f. Abb. 19.

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te Ordnung der Andrones A und B in Labraunda auf eine Zeitstellung von 400–370/60 v. Chr.9 Doch anders als bei dem Grab von Berber İni sind die Andrones von Labraunda mit einem dorischen Gebälk über ionischen Säulen ausgestaet. Es ist wohl unbestrien, dass es sich bei dieser gemischten Ordnung um eine hekatomnidische Innovation der griechischen Tempelarchitektur handelt. Indes reicht das bloße Vorhandensein einer gemischten Ordnung nicht aus, um den Grabinhaber von Berber İni mit den Hekatomniden zu verbinden. Wie beispielsweise die Tempelfassadengräber von Kaunos, aber auch das eben erwähnte ›Löwengrab‹ von Turgutreis belegen, avanciert der neue Architekturstil rasch zu einem zeiypischen Phänomen, das in abgewandelter Form Eingang in die private Grabarchitektur findet. In gleicher Weise ist auch der Existenz einer Vorkammer weniger Gewicht beizumessen, als es auf den ersten Blick scheint. Wenn eine solche auch ür kein anderes Tempelfassadengrab belegt ist, findet sie doch variantenreiche Parallelen in den gebauten, meist unterirdischen Kammergräbern derselben Zeitstellung, die gerade im Raum Mylasa recht häufig sind10. Und eben dies scheint bei näherer Betrachtung ein wesentliches Charakteristikum karischen Kulturschaffens zu sein: die typen- bzw- gaungsübergreifende Verquickung unterschiedlicher Einzelelemente zu einer neuen Gesamtkomposition. Demgegenüber ist die Scheintür zwischen den Säulen nach derzeitigem Kenntnisstand in Karien anscheinend singulär. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, nämlich der Zugang zur Grabkammer unter der Säulenebene ist es jedoch nicht. Diese Konzeption, bei der die Grabkammer unter dem eigentlichen Grabmonument angeordnet ist, findet sich bei den Podiumgräbern in aderbautechnik mit monumentalem Grabbau darüber wieder. Als prominentester Vertreter dieses Typus ist das Mausoleum von Halikarnassos anzuühren, dem zwar weniger prunkvolle, aber ebenso eloquente Monumente in Alinda und Bargylia zur Seite stehen11. Demgegenüber könnten die beiden Frontsäulen einen Fingerzeig in eine ganz andere Richtung geben, denn – anders als bei den übrigen bekannten Tempelfassadengräbern – stehen diese nicht frei. Diesbezüglich bieten sich verschiedene Erklärungsmodelle an. Da sich alle anderen architektonischen Details aus karischen Grabkontexten herleiten und in dieser Konstellation reflektiert zu einer neuen Gesamtkonzeption zusammengeührt wurden, erscheint es wenig wahrscheinlich, dass die Ausgestaltung der Säulen keinen Bezug zur karischen Gräberlandscha haben sollte. Man könnte nun vermuten, die Dreiviertel-Säulen gehörten einer frühen Entwicklungsstufe an, bei der sich die Säulen noch nicht von der Wand gelöst haben. Doch es gibt noch eine weitere Deutungsmöglichkeit, die eng mit der Frage verknüp ist, von wem die Karer die Tempelarchitektur übernahmen. Dies umso mehr, als die Tempelarchitektur karischer Gräber zwar offensichtlich von der griechischen Sakralarchitektur geprägt ist, derartige Fassadengräber aber nicht zu den charakteristisch griechischen Grabformen zählen. Gemeinhin wird mit dem Verweis auf die Felsfassadengräber im karisch-lykischen Grenzgebiet sowie dem Nereidenmonument von Xanthos angenommen, dass die Lykier als erste die griechische Tempelarchitektur in die Grabarchitektur transferierten und die Karer diese Neuerung von den Lykiern adaptierten. Aber auch eine andere Herleitung läßt sich plausibel machen. Enge Analogien zu den karischen Tempelfassadengräbern allgemein und insbesondere zu dem Grab von Berber İni finden sich in den Gräbern der achäme9 Henry 2010, 105. 10 Hierzu vgl. die Zusammenstellung verschiedener Grundrisse von Kammergräbern mit und ohne Tumulus bei

Henry 2009, Abb. 28. 34. 11 Allein aus Alinda sind sechs Beispiele dieses Typus bezeugt: Lebas – Reinach 1888, Taf. 2, 6. 7; Paton – My-

res 1896, 259–260 (T01); Özkaya – San 2003, 114 Abb. 9–10. S. 114–117 Abb. 11–12; Henry 2009, 202 MM1 Abb. 40–42. 202 MM2 Abb. 36–37. S. 203–205 T01 Abb. 40–42. 48. 61. T02 Abb. 71. T03 Abb. 71. T04 Abb. 40–41. 62. – Zu Bargylia s. Waywell 1980, 7 f.; Henry 2009, 210.

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nidischen Großkönige von Naqš-i Rustam nahe Persepolis12. Von diesen vier Grabmonumenten von Naqš-i Rustam ist lediglich das ür Dareios I. (Taf. 23, 1) inschrilich gesichert, eine Zuweisung der übrigen drei an Xerxes I., Artaxerxes I. und Dareios II. scheint jedoch wahrscheinlich. Die persischen Königsgräber besitzen eine kreuzörmige Fassade, aus der sich eine Gliederung in drei Register ergibt, von denen das untere zwar gegläet, ansonsten entweder unbearbeitet oder lediglich mit Inschrien bedeckt ist. Der Zugang zum Grab erfolgt über das breitere Mielregister, das als Palast- bzw. Tempelfront mit vier Halb-Säulen gestaltet ist und zu einer personenreichen Reliefzone im oberen Register überleitet13. Besonders auällig ist die strenge Achsensymmetrie im Inneren, die sich am Beispiel des Dareios-Grabes besonders gut veranschaulichen lässt. In diesem erfolgt der Zugang zu den drei Grabkammern über einen langen, querliegenden Korridor, der ihnen in einem rechten Winkel vorgelagert ist. Die Kammern selbst sind exakt parallel zueinander angeordnet und beherbergen je drei hintereinander gestaffelte Sarkophage, die aus dem Fels herausgemeißelt sind14. Den Untertanen des persischen Großreichs, deren Abgesandte regelmäßig in die Reichshauptstadt Persepolis berufen wurden, düren diese Gräber bekannt gewesen sein. Daher ist es kaum verwunderlich, dass zumindest einige Wesenszüge Eingang in die karische Sepulkralarchitektur fanden. Zuvorderst düre den Karern der Gedanke eines Familiengrabes entgegengekommen sein, das sich in Karien spätestens seit archaischer Zeit großer Beliebtheit erfreute15. Es entspricht dem karischen Wesen, dass sich, ungeachtet ihrer Vorbildfunktion, keine exakten Kopien der achämenidischen Königsgräber in Karien finden. Vielmehr adaptieren die Karer lediglich Einzelelemente wie die Säulenfront im mileren Register und – wie im Fall von Berber İni – die Halb- bzw. Dreiviertel-Säulen. Innerhalb dieses thematischen Rahmens werden sodann die weiteren Komponenten variiert und die persische Architektur gegen die bekanntere griechische Säulenordung ihrer Nachbarn ausgetauscht – dies allerdings erneut in einer Abwandlung der herkömmlichen Säulenordnung. Dieses Zusammenspiel endogener Entwicklungen und exogener Impulse ist m. E. am ehesten als Ausdruck einer transkulturellen Gesellscha zu werten, die sich allein in dieser speziellen historischen Situation, also dem Wechselspiel der beiden Großmächte und ihrer Einflüsse auf die gesamte Region, herausbilden konnte. Da das Grab von Berber İni mit all seinen Eigenarten fest in der karischen Gräbertradition verankert ist und sich aus dem sozio-politischen Umfeld erklären lässt, mag das Monument als Paradebeispiel des karischen Eklektizismus gelten; ob es sich angesichts der großen Zahl an Felsfassadengräbern aber um ein Dynastengrab handelt, scheint weiterhin mehr als fraglich.

12 Schmidt 1970. s. aber auch die Dokumentation von E. Herzfeld, in: e Ernst Herzfeld Papers. Freer Gallery

of Art and Arthur M. Sackler Gallery Archives. Smithsonian Institution, Washington, D.C, zuletzt aktualisiert am 21.06.2011 (15.12.2011). 13 Exemplarisch sei die Darstellung auf dem Grab Dareios’ I. knapp charakteristisiert: Das Relief zeigt den Schöp-

fergo Ahura Mazda bei der Herrschasübergabe an Dareios I. in Gegenwart von 28 auch inschrilich benannten Völkern des persischen Großreiches. 14 Die streng symmetrische Anlage von Dromos und Grabkammern findet sich auch in dem Podiumgrab von

Orak Ada wieder: Paton – Myres 1896, 225 Abb. 31; Carstens 1999, 97–99 Abb. 132–133; Hülden 2006, 186 f. mit Anm. 857. 15 Diesbezüglich sei hier nur an die Podiumgräber bei Akbük in der Milesia erinnert. Hierzu s. besonders Voigt-

länder 2004, 236–253; Lohmann 2007, 370 f.

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Das ›Hekatomnos-Grab‹ in Mylasa Spätestens mit dem ›Sensationsfund‹ eines Kammergrabes in Mylasa, das im August des Jahres 2010 im Zuge einer Razzia gegen mutmaßliche Grabräuber entdeckt wurde, verstummten die Stimmen, die das Grab von Berber İni mit dem Begründer der Hekatomniden-Dynastie verbunden haen. Wenn auch die Grabkammer bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt war, handelt es sich keineswegs um eine völlige Neuentdeckung, denn der Sockelbau, in den das Grab integriert ist, war der Forschung seit langem bekannt. Das Podium selbst erhebt sich ekzentrisch über dem westlichen Teil einer 130 m × 90 m messenden Ausgleichsterrasse im Hang des Hisarbaşı Tepesi im modernen Milas und ist, in Anspielung an die einzige aufrecht stehende korinthische Säule auf dem Podium, im Volksmund als ›Unzun Yuva‹16 (Taf. 23, 2. 3; 24, 1) bekannt. Als erster erwähnte J. Spon17 die Säule mit einer Inschri im oberen Driel des kannelierten Säulenschas, in der R. Chandler18 folgerichtig ein Ehrenmonument erkannte, das ursprünglich eine Statue trug. Da diese Inschri bereits im 19. Jahrhundert ausradiert war, kam es in der Folgezeit immer wieder zu der Fehleinschätzung, Sockelbau und Säule gehörten als konzeptionelle Einheit ein und derselben Bauphase an und seien als Tempel zu interpretieren19. Wie F. Rumscheid überzeugend darlegen konnte, entstand die Ehrensäule über dem Sockelbau jedoch rund 350 Jahre nach dessen Errichtung und gehört somit nicht zum ursprünglichen Baukonzept20. Im Weiteren ordnet F. Rumscheid das Monument aufgrund der Bauornamentik sowie der technischen Details völlig plausibel in die spätklassische Phase ein und betont zudem die Nähe zu anderen hekatomnidischen Bauwerken. Nicht zuletzt aufgrund einiger Analogien zum Mausoleum von Halikarnassos folgert er, es müsse sich bei dem Podiumsbau um ein unvollendetes Grab bzw. einen Kenotaph handeln, der dem hekatomnidischen Herrscherkult diente. Doch obwohl sowohl W. Voigtländer als auch F. Rumscheid bekannt war, dass sich im Inneren der Plaform mindestens zwei aneinander angrenzende Räume befinden, zog keiner von ihnen den Schluss, es könne sich um ein echtes Grab handeln21. In seiner äußeren Gestalt erinnert der Podiumsbau ohne erkennbaren Zu- oder Aufgang (Taf. 23, 3; 24, 1) mit seinem Kern aus Kalksteinquadern und der aufwendig verklammerten Marmorverblendung mit lesbischem Kymation einmal mehr an das ebenso bekannte wie viel beschriebene Grabmal des Mausolos. Bislang mangelt es noch an detaillierten Beschreibungen des Grabinneren, doch die zahlreichen Fotos im Internet vermieln eine recht präzise Vorstellung von seiner Bauart, der Innengestaltung sowie der Lage der einzelnen Kammern bzw. Zugänge. Nach den 16 ›Unzun Yuva‹ = »Hohes Nest«, gemeint ist ein Storchennest, dem das Säulenkapitell alljährlich als Auflager

dient. 17 Zur Erstpublikation der Ehreninschri des Demos von Mylasa ür Menandros, Sohn des Ouliades und Enkel

des Euthydemos, s. Spon – Wheler 1679, 275 = Spon – Wheler 1724, 214 Taf. 3. Zur Inschri s. auch Rumscheid 2010, 69 f. 18 Chandler 1775, 188. 19 So beispielsweise A. Laumonier und L. Robert: Laumonier 1933, 42 Abb. 11 (Tempel ür Augustus und Roma);

Robert 1933, XIV f.; Robert 1953, 403–415. Wie zuvor Bean 1985, 41 und Önen 1986, 38, spricht sich auch Voigtländer 1991 ür eine Interpretation als Zeus Karios Tempel aus (Voigtländer 1991). 20 Rumscheid 2010. 21 W. Voigtländer berichtet, er habe zwei Räume mit einer Steinbalkendecke gesehen, die mit einer Leiter über

den Innenhof eines modernen Gebäudes zu erreichen waren (Voigtländer 1991, 248). F. Rumscheid notiert, er kenne zwar das Rauminnere nicht, habe aber die Decke von außen vermessen. Darüber hinaus vermerkt er, man habe ihm im Jahre 1995 von einer weiteren Kammer im Westen der Plaform berichtet, die von außen nicht sichtbar sei (Rumscheid 2010, 78).

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Bilddokumenten betri man das Grab über einen langen Dromos mit einem Gewölbe aus großen, fein gegläeten Blöcken, deren Konstruktionsweise sich auch bei den übrigen Räumen derselben Ebene wiederfindet22. Von dort gelangt man durch eine breit gerahmte Türöffnung in eine Vorkammer, die zur eigentlichen Grabkammer überleitet, deren ebenfalls gerahmter Zugang nach oben mit einer schlichten Gesimsleiste abschließt. Die Grabkammer selbst ist recht klein dimensioniert, denn der reich reliefierte Sarkophag, der quer zur Sichtachse aufgestellt ist, lässt lediglich einen schmalen Umgang frei. Eine horizontale Marmorplae, die regalartig in die Rückwand der Grabkammer eingelassen ist, düre als Ablage ür Beigaben zu deuten sein. Direkt oberhalb dieser Plae setzt ein gemalter Fries an, über dem in den Gewölbebereichen der Stirnseiten jeweils ein großfiguriges Gemälde mit der Darstellung des Grabherrn mit seiner Gain sowie weiteren Personen folgt. Die beiden von F. Rumscheid und W. Voigtländer beschriebenen kommunizierenden Räume mit einer Decke aus querliegenden Steinbalken düren in der darüber liegenden Ebene zu verorten sein und als Entlastungsräume fungiert haben23. Wenngleich die Gesamtkomposition des Grabes von Mylasa auf den ersten Blick singulär erscheint, so rekrutieren sich seine Einzelbestandteile ebenso wie bei den zuvor besprochenen aus bekannten wie charakteristischen architektonischen Details der karischen Gräberlandscha. Wie zahlreiche Gräber bei Akbük belegen, sind Podiumgräber mit integrierten, kragsteinüberwölbten Grabkammern seit archaischer Zeit in Karien bekannt. Was am Rande der Milesia zunächst noch als lokale Sonderform erscheint, entwickelt sich rasch zu einem gängigen, regional übergreifenden Allgemeingut, dessen Entwicklungslinie bis weit in den Hellenismus zu verfolgen ist. Für die Tradierung dieser Idee sind die Gräber von Knidos, deren hellenistische Vertreter einen bühnenartigen Auau besitzen, während auf ihren vorhellenistischen Vorgängern Stelen aufgestellt waren, ebenso beispielha wie das monumentale Terrassengrab von Orak Ada24. Obschon sich auf dem Podium keinerlei Hinweise auf mögliche Auauten erhalten haben25, stärken die angeührten Parallelen die Annahme, dass auf der Plaform zumindest ein Altar stand, an dem der Totenkult zelebriert werden konnte, und der vielleicht sogar von einer Π-örmigen Mauer gerahmt war. In Grundriss und Konstruktionsweise entspricht das Grab den bekannten gemauerten Kammergräbern mit und ohne Tumulus der Region. Auch bei ihnen betri man die Grabkammer in der Regel durch eine Vorkammer, die in einer zweiten, höheren Ebene durch ein pyramidales Kragsteingewölbe entlastet wird. Enge Analogien findet das ›Hekatomnos-Grab‹ in den Grabbauten von Yokuşbaşı26 (Taf. 24, 2) und Labraunda27. In allen drei Fällen wurden große 22 Da die beiden Blöcke der obersten Reihe deutlich kleiner ausfallen als die der vier unteren Lagen, scheint mit

der Gewölbekonstruktion bereits die Vorstufe eines echten Tonnengewölbes erreicht. 23 s. Anm. 21. 24 Zu Knidos s. Berges 1986, 12–26 Abb. 1–13 (mit weiterer Literatur in Anm. 50); Carstens 1999, 97; Berns 2003,

18 Anm. 65; Hülden 2006, 187 f. Taf. 132. Zum Grab von Orak Ada s. Anm. 14. Neuerdings sind aus Labraunda, Teke Kale und Ancinköy verwandte Gräber bekannt geworden, bei denen ein Felskistensarkophag von einem Π-örmigen Auau umrahmt wird. Hierzu s. Henry 2008. 25 Lediglich die Beschreibungen einiger Reisender des 18. Jhs. erwähnen ionische Säulen an der West- sowie an

der Nordecke der Plaform, die zu Stoen gehört haben mögen. Da Podiumgräber mit Säulenhallen nicht zum Kanon der karischen Grabtypen zählen, düren die Stoen jedoch – ebenso wie die ›Menandros-Säule‹ – eher einer späteren Nutzungsphase zuzurechnen sein. Zu den ionischen Säulen s. Rumscheid 2010, 81 Anm. 27 mit Angaben zur älteren Literatur. 26 Aus der reichhaltigen Literatur zum Grab von Yokuşbaşı seien die Folgenden angeührt: Bean – Cook 1955,

131; Carstens 1999, 67–70. Bd. 2 Appendix B 26; Carstens 2002, 91–409, bes. 398–402; Carstens 2009, 383 Abb. 9; Henry 2009, 261 Abb. 28. 27 Bean 1974, 68 f.; Carstens 1999 76 f. Bd. 2 Appendix B 26; Henry 2006, 3–22; Carstens 2009, 384 Abb. 10; Henry

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Blöcke in Kragsteintechnik zu einem Gewölbe zusammengeügt und abschließend so sorgältig zu einem Halbrund abgearbeitet, dass man geneigt ist, von einer Vorstufe zu einem echten Tonnengewölbe zu sprechen28. Hinsichtlich der Blockgröße ällt auf, dass die letzte Gewölbeschicht des ›Hekatomnos-Grabes‹ – anders als bei den Gräbern von Labraunda und Yokuşbaşı – noch deutlich niedriger ausällt, als in den Reihen darunter. Wahrscheinlich deutet dies ür das Grab in Mylasa auf eine etwas ältere Entwicklungsstufe als ür die beiden anderen Gräber, die sich am ehesten in die zweite Häle des 4. Jhs. v. Chr. einordnen lassen. Abgesehen von den augenälligen Gemeinsamkeiten mit den Podiumgräbern und den gebauten Kammergräbern verweist ein anderes architektonisches Detail auf einen weiteren Leiypus karischer Gräber: die Felskammergräber. Denn der Zugang zur Vorkammer des ›Hekatomnos-Grabes‹ ist breit gerahmt und zitiert die Eingänge einfacher Felskammergräber ohne architektonisch gestaltete Fassade wie sie im karischem Küstengebiet von Kaunos bis zur Bodrum-Halbinsel gehäu aureten. Etwas anders verhält es sich mit dem Bildprogramm der Grabkammer, das hier nur kurz umrissen und an anderer Stelle ausührlicher behandelt werden soll. Bei ihm stechen zunächst ausschließlich zeiypisch griechische Motive ins Auge. Dies gilt ür das Gemälde des thronenden Grabherrn im Gewölbebogen über dem Zugang ebenso wie ür die Gelageszene auf der Schauseite des Sarkophags, in begrenzterem Maße aber auch ür den Jagdfries auf der Rückseite. Die in der griechischen Grabkunst nahezu allgegenwärtige verschleierte Gemahlin im Trauergestus ist gleich zweimal vertreten. Allein die Darstellung des bärtigen Grabherrn in typisch persischer Langhaartracht, der dem mutmaßlichen Mausolos-Portrait nicht nur ikonographisch, sondern auch physiognomisch nahe steht, will sich nicht so recht in den griechischen Gesamteindruck einügen. Diese überdeutliche Anspielung auf eine persische Traditionslinie wird auf dem rückseitigen Jagdfries aufgenommen und durch weitere Details wie die kapuzenartigen Kopedeckungen seiner Begleiter verstärkt. Es ist wohl kein Zufall, dass der stärker persisch beeinflusste Jagdfries in dieser von der griechischen Kultur dominierten Region nicht als Schauseite konzipiert war. Diese vordergründige Zurschaustellung einer hellenisierten Persönlichkeit gepaart mit vereinzelten persischen Elementen, die auf eine multiple Identität verweist, welche sich aus ganz unterschiedlichen Traditionen speist, findet sich auch im Bildprogramm des Mausoleums von Halikarnassos wider. Exemplarisch sei hier nur an das persisch beeinflusste Motiv einer Audienzszene erinnert, das sich auällig von den übrigen, insgesamt griechischen Bildthemen wie Jagd-, Gelage-, Opferoder (mythischen) Kampfszenen abhebt. Ungeachtet aller Fremdeinflüsse, die vor allem in die Bildprogramme einflossen, stehen beide Mausolea in ihrer baulichen Konzeption zweifelsfrei in karischer Tradition. Zuvorderst findet sich bei ihnen eine ganz wesentliche karische Komponente wieder: das in den Fels oder in ein Podium eingetiee Grab. Darüber hinaus vereinen sie in zeiypischer Manier Elemente unterschiedlicher karischer Grabtypen, bei denen die charakteristische Raumabfolge von Vorkammer und Hauptkammer wie im Falle des ›Hekatomnos-Grabes‹ durch ein Entlastungsgewölbe, im Falle des Mausoleums von Halikarnassos durch einen Dromos variiert wird. Reduziert man Mausolos’ Grabmal auf seine einzelnen Baukörper, so bildet es durch die aufgesetzte Ringhalle mit Pyramidendach im Grunde nur eine monumental übersteigerte Weiterentwicklung des karischen Podiumgrabes, das 2009, 144–148. 235 BT Abb. 36–38. 45–47. 28 Wie bei dem Kammergrab von Yokuşbaşı steht auch der Sarkophag im ›Hekatomnos-Grab‹ quer zur Sichtachse.

Wenngleich sich beide Gräber in Konzeption und Bauweise nahestehen, ergibt sich doch ein auälliger Unterschied in der Ausrichtung der Grabkammer. Während das Grabkammergewölbe des ›Hekatomnos-Grabes‹ die Achse von Dromos und Vorkammer verlängert, folgt das Gewölbe in Yokuşbaşı der Ausrichtung des Sarkophags.

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mit dem Grabmal des Hekatomnos seine höchste Entwicklungsstufe erreicht hae. Beide Gräber sind beispielgebende Monumente des karischen Eklektizismus, in dem sich gleichermaßen indigene Traditionen und exogene Einflüsse, die aus dem Wechselspiel der persisch-griechischen Machtverhältnisse in dieser Region resultieren, zu einer Traditionslinie vereinen. Wie zahlreiche klassische und hellenistische Gräber sowie mindestens drei Konzentrationen spätgeometrischer Keramik in den Hügelflanken belegen, entstand die Grabanlage auf dem Hisarbaşı Tepesi mitnichten auf traditionslosem Boden29. Darüber hinaus verdichten sich die Anzeichen, dass ein eater die Ost-Flucht des Terrassenbaus nach Norden hin verlängerte. Damit korrespondiert auch ihr gänzlich unkarischer Lagebezug inmien der antiken Stadt mit der des Mausoleums von Halikarnassos. Mit dieser Entkoppelung des Grabes vom Bereich der Toten gehen beide Mausolea weit über den allgemein wirksamen Wandel von einem privaten hin zum einem öffentlichkeitswirksamen Totenkult hinaus, der sich an dem griechischen Trend orientiert und auch an zahlreichen karischen Gräbern des 4. Jhs. v. Chr. abzulesen ist. Allein aufgrund ihres urbanen Kontextes bilden die beiden Monumente unter den karischen Gräbern eine Ausnahme, die nicht anders zu interpretieren sein düre denn als eine Installation eines Gründer- bzw. Herrscherkultes, wie er in den griechischen Kolonien bereits seit archaischer Zeit bekannt ist30. So unterschiedlich die hier behandelten Gräber in ihrer äußerlichen architektonischen Form auch sein mögen, so repräsentieren sie in ihrer Gesamtheit doch charakteristische Leiypen des 4. Jhs. v. Chr., die sich gerade aufgrund des ›Kompositstils‹ aus fremden und eigenen Elementen nur Mitgliedern einer karischen Elite zuweisen lassen. Während die exponierte Lage des ›HekatomnosGrabes‹ sowie des Mausoleums von Halikarnassos inmien urbaner Zentren eindeutig ür eine Interpretation als Dynastengräber sprechen, düre es sich bei dem Grab der ›Karischen Prinzessin‹ sowie dem Tempelfassadengrab von Berber İni wohl eher um Adelsgräber handeln, jedoch nicht um die Ruhestäen hekatomnidischer Regenten.

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Ein Altar für zwei Tempel Fallbeispiele aus Athen und Aika Ulrich-Walter Gans

Die Funktion und Deutung des Parthenon auf der Athener Akropolis sind in der Forschung immer noch umstrien. Handelt es sich um einen Tempel und muss die Athena Parthenos des Phidias somit als Kultstatue interpretiert werden? Besaß der Parthenon einen eigenen Altar und wo lag dieser? Letzterer Doppelfrage soll im Folgenden nachgegangen werden. Zur ihrer Klärung ist ein Blick auf andere Heiligtümer in Athen und Aika notwendig. Bereits Homer nennt einen auf der Athener Akropolis ür die Stadtgöin Athena errichteten Tempel1. Aufgrund der starken Bautätigkeit auf dem Burgberg in der klassischen Zeit sind von diesem archäologisch keine Felsbeungen, Fundamente oder gar aufgehende Partien nachweisbar. Der älteste, durch seine Fundamentlage bekannte Bau ist der ›Alte Athena-Tempel‹, den die Perser 480 v. Chr. zerstörten. Diesen ersetze dann in den hochklassischen Jahrzehnten das Erechtheion. Bereits gleichzeitig mit dem ›Alten Athena-Tempel‹ hat es unter dem Parthenon spätestarchaische bzw. frühklassische Vorgängerbauten gegeben, deren Anzahl und präzise Datierungen aktuell stark in der Diskussion stehen. Die zuerst von . Wiegand zusammenhängend bearbeitete ›H-Architektur‹ verkompliziert die Sachlage außerdem2. Verschiedene Bearbeiter schreiben einige dieser ohne Bauzusammenhang auf der Akropolis geborgenen archaischen Architekturteile aufgrund ihrer Maße und ihrer Zeitstellung entweder dem ›Alten Athena-Tempel‹ selbst oder einem seiner Vorgängerbauten bzw. einem Vorgängerbau des Parthenon zu. Die in den letzten drei Jahrzehnten durchgeührten sorgältigen Restaurierungsarbeiten auf dem Burgberg und die damit verbundene Sichtung sämtlicher Bauglieder konnten in diesen Punkten (bislang) keine eindeutigen Aussagen erbringen. Im Gegenteil: Durch zahlreiche neue Erkenntnisse, durch die sorgältige Dokumentation des Baubefundes und die Neubewertung bereits längst bekannter Befunde und Architekturglieder traten viele zusätzliche Fragen auf3. Weiter herrscht Unklarheit über die Funktion des Parthenon und seiner Vorgängerbauten. Zwei Alternativen stehen hauptsächlich zur Diskussion. Handelt es sich neben dem ›Alten Athena-Tempel‹ bzw. seinem Nachfolgebau, dem Erechtheion, um einen zweiten Kultbau (= Tempel) ür Athena Polias oder ist der Parthenon als kolossales Schatzhaus aufzufassen, das die Kriegskasse des aisch-delischen Seebundes beherbergte? Und ist die Gold-Elfenbein-Statue der Athena Parthenos kein Kultbild4, 1 Hom. Il. 2, 546–551. 2 Wiegand 1904; zuletzt zusammenhängend zur ›H-Architektur‹: Kissas 2008. 3 Zur Diskussion: Korres 1997, 218–243; Gruben 2001, 166–172. 4 Diese Frage wird von Nick 1997, 22–24 und Nick 2002 passim ausührlichst diskutiert. Mit zutreffenden Argu-

menten kann Nick eindeutig belegen, dass es sich um ein Kultbild handelt und der Parthenon als Tempel zu interpretieren ist. Dagegen kam Preisshofen 1984 15–18, zum gegenteiligen Schluss.

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sondern aufgrund ihres Materialwerts als ein Teil dieser Kriegskasse zu interpretieren? Als wichtiger Grund ür die zweite ese wird immer wieder angeührt, dass der Parthenon über keinen eigenen Altar verüge und ihm deshalb der Status eines Tempels abzusprechen sei5. Dieses letzte Argument gilt es im Folgenden zu überprüfen. Da sämtliche Aspekte, die den archäologischen Befund auf der Akropolis selbst betreffen, in jeder Hinsicht aus allen möglichen Gesichtspunkten bereits vielfach diskutiert wurden, sollen Analogien ür die spezielle Situation auf der Athener Akropolis herangezogen werden. Und diese sind zunächst in Athen und in Aika zu suchen. Ein möglicher Altar des Parthenon wäre vor seiner östlichen Schmalseite anzunehmen (Taf. 25, 1)6. Insbesondere die Flucht der Längsachse bietet sich ür diese Position an. Aber im gesamten Bereich zwischen der östlichen Parthenonostfront und der östlichen Akropolismauer gibt es keinerlei Felsgläung oder gar Fundamentreste, die als Unterbau ür einen Altar einzustufen sind. Zwar liegt gut 20 m östlich des Gebäudes in der Längsachse eine annährend 11 m auf 12 m große Steinsetzung aus wiederverwendeten Porosquadern (Taf. 25, 1 Nr. 16). Sie wird allgemein dem kurz vor der Zeitenwende errichteten Tempel der Roma und des Augustus als Unterbau zugeordnet7. Allerdings konnte schon W. Binder überzeugend begründen, dass es sich bei der Steinsetzung nicht um ein Fundament, sondern um ein Plaenpflaster handelt und dieses aus statischen Gründen keinen steinernen Auau tragen konnte. Außerdem wurde es wahrscheinlich erst in nachantiker Zeit verlegt8. Auch ist weder der Altar des ›Alten Athena-Tempels‹ noch der seines Nachfolgebaues – des Erechtheion – sicher lokalisiert. Die Kulradition macht es wahrscheinlich, dass sich die Lage des Altars nicht verändert hat und der jüngere Athena-Tempel – das Erechtheion – den Altar des älteren und unmielbar benachbarten Vorgängerbaues übernahm. Dessen literarisch und durch Inschrien bezeugter Altar bildete den Endpunkt des Panathenäenzuges9. Hier fand die Opferung der Stiere (Hekatombe) sta, deren Fleisch anschließend an die aischen Phylen verteilt wurde. Zunächst noch auf der höchsten Stelle des Akropolisfelsens, etwa 50 m östlich des ›Alten Athena-Tempels‹ bzw. des Erechtheion vermutet10, sprach sich bereits W. Judeich ür dessen Lage an einer knapp 20 m östlich des ›Alten Athena-Tempels‹ liegenden Felsabarbeitung aus (Taf. 25, 1 Nr. 4)11. Diese auf einer Länge etwa 8 m in Ost-Westrichtung zu verfolgende Gläung soll die südliche Schmalseite des Altars bilden. Seine Breite wird mit gut 15 m angesetzt12. H. Möbius, der drei Anthemienfriesfragmente aus dem späten 5. Jh. v. Chr. versuchsweise diesem Altar zuschrieb, wagte eine schematische Grundrissrekonstruktion als breitgelagerten Monumental5 So z. B. Beyer 1977, 55 Anm. 34: »Der Parthenon besaß keinen Altar, demnach auch keinen Kult«. Es handele

sich also nicht um einen Tempel, sondern wohl eher um einen ›esauros des Aisch–Delischen Seebundes.‹« – Ähnlich Höcker 2000, 365: »Bis h. ist es indessen weder gelungen, einen Kult der Athena Parthenos noch einen dem Bau zugehörigen Altar nachzuweisen; es ist deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der P. ein kultloser Repräsentationsbau der Polis Athen, nicht jedoch ein Tempel in sakralrechtlichem bzw. kultpraktischem Sinne war.« – Außerdem Fehr 1979; Fehr 1980; Fehr 1981; Di Caesare 2010, 239; Holtzmann 2003, 105–107; Schneider – Höcker 2001, 117. 6 Walter 1929, 74 f.; Nick 2002, 127–131. 7 Baldassarri 1995, 69–84; Baldassarri 1998, 46–53; Dally 2008, 43 f. 8 Binder 1967, 21–24; Binder 1969, 22–32. 9 Zu den Inschrien und Schriquellen: Judeich 1931, 270 Anm. 1; Yavis 1949, 126 Anm. 54; Tracy 1991. 10 Cavvadias – Kawerau 1906, 91 f. Abb. 4. – Heute wird hier das Heiligtum des Zeus Polieus vermutet: Stevens

1946, 12–15; Travlos 1971, 71 Abb. 91 Nr. 118; Brouskari 1997, 16 f. Abb. 4–5 Nr. 9. 163–166; Hurwit 1999, 7 Nr. 14. 190–192. 11 Judeich 1931, 269 f. 12 So zuletzt Ohnesorg 2005, 18. 203. 214. 223.

Ein Altar ür zwei Tempel. Fallbeispiele aus Athen und Aika

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altar mit einem Stufenaufgang in antis13. M. Brousaki glaubt ein Reliefstück aus der römischen Kaiserzeit mit dem Altar verbinden zu können und geht von mehreren Reparaturmaßnahmen in den unterschiedlichen Epochen aus14. Geht man davon aus, dass der Parthenon nicht als ›kultloser Repräsentationsbau‹15 einzustufen ist, sondern er wie der ›Alte Athena-Tempel‹ bzw. das Erechtheion dem Kult der Athena Polias diente und somit mit dem Kolossalbild aus Gold und Elfenbein ein zweites und gegenüber dem Alten Athena-Tempel bzw. dem Erechtheion ein jüngeres und semantisch aktualisiertes Kultbild beherbergte, muss auch ein Altar auf den Parthenon bezogen gewesen sein. Nach den bisherigen archäologischen Erkenntnissen ist dessen Lage vor der Gebäudeostfront auszuschließen. Ebensowenig kann ein Altar in der Achse östlich des Erechtheion ausgemacht werden. Aufgrund von geringen Felsgläungen zeichnet sich die einzig mögliche Stelle des Altars ür Athena Polias östlich des ›Alten Athena-Tempels‹ ab. Der Altar lag in einer Längsachse des Tempels und verdeutlicht somit bereits seinen Bezug zum Gebäude. Nach der Perserzerstörung barg der provisorisch reparierte Tempel bis ans Ende des 5. Jhs. v. Chr. das alte Kultbild der Athena Polias. Erst nach der Fertigstellung des Erechtheion wurde es in diesen Neubau übertragen. Anschließend, auch der zweite Tempel der Athena Polias – der Parthenon – war milerweile längst fertiggestellt, wurde der alte Tempel bis auf seine Fundamente abgetragen. Der Altar hingegen blieb bestehen und behielt seine Funktion16. Er wurde nicht verlegt und auch nicht durch einen zweiten ergänzt und somit in seiner Bedeutung beeinträchtigt. Seine Wichtigkeit wurde durch die nachhaltig veränderte Topographie auf dem Burgberg sogar noch deutlich aufgewertet: Der Altar liegt in einer Achse mit dem Akropolisaufgang und dem Propyläendurchgang. Betrat man durch den monumentalen Torbau die Akropolis, so sah man – vorbei an der Kolassalstatue der Athena Promachos – direkt auf den Altar! Mit der Niederlegung des ›Alten Athena-Tempels‹ entstand vor dem Altar und zwischen den beiden neuen Athena-Tempeln – dem Erechtheion und dem Parthenon – eine freie Fläche, die ür Kulthandlungen intensiv genutzt werden konnte17. Insbesondere die nördliche Langseite des Parthenon mit ihrer mehrstufigen Krepis bot sich als ›Tribüne‹ ür die Teilnehmer an. Gleichzeitig bildeten die Längsseiten der beiden neuen Athena-Tempel eine hofartige Einfassung ür die Kulthandlungen. Der Altar als kultisches Zentrum der Athena Polias-Verehrung hat seine Position also nicht verändert. Ihm kommt mehr Bedeutung zu als allen anderen baulichen Einrichtungen des Heiligtums, einschließlich der Tempel. Das am Altar vollzogene Opfer stellt den Höhenpunkt der Kulthandlung dar. Daür waren durch die unveränderte Altarposition und Anlage der beiden hochklassischen Athena-Tempel in wahrsten Sinn des Wortes nun neue und repräsentative Rahmenbedingungen auf der Akropolis gegeben. Während sich im Süden auf den Stufenbau des Parthenon Zuschauer ansammeln konnten, schauten von Norden die Erechtheionkoren dem Kultakt zu. 13 Möbius 1927, 181–189 Abb. 7. – Yavis 1949, 126 Nr. 22; Ohnesorg 2005, 18, übernehmen diesen Vorschlag. 14 Brouskari 1997, 169 Abb. 116. – Den extrem hypothetischen Charakter dieser Zuweisung an den Altar der

Athena betont Hurwit 1999, 192. 15 Höcker 2000, 365. 16 Unabhängig ist davon die Frage, ob der Altar im Laufe des 5. Jhs. v. Chr. ausgebaut wurde. Für seine Neuge-

staltung am Ende dieses Jahrhunderts – und damit sowohl in die Jahre der Fertigstellung des Erechtheion als auch des Abschlusses des hochklassischen Akropolisausbaues insgesamt – könnten der Stil der Relieffragmente sprechen, die H. Möbius hypothetisch mit dem Altar verband; dazu s. Anm. 13 f. 17 Ob dies schon bei einer möglichen Gesamtplanung zum Ausbau der Akropolis in hochklassischer Zeit ange-

dacht war, lässt sich kaum mit Sicherheit entscheiden.

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Eine mit den beiden Athena-Tempeln auf der Akropolis vergleichbare Situation bezüglich der Altarlage liefert das Dionysos-Heiligtum (Taf. 26, 1) am Südwestfuß des Burgberges18. Dieses umfasst in seinem nördlichen Teil das Dionysos-eater und im südlichen das eigentliche Heiligtum mit dem Dionysos-Tempel als Kultbereich. Als um oder kurz nach der Mie des 4. Jhs. v. Chr. das eater ausgebaut wurde, errichtete man direkt nördlich des schlichten Antentempels eine Säulenhalle. Deren Rückwand bildet gleichzeitig auch die Rückwand der neuen eaterskene. Die Säulenhalle kaschierte somit zwar die leere und unschöne Fläche der Skenenrückwand zum Kultbereich hin, sie rückte daür aber bis an die nördliche Langseite des Dionysos-Tempels heran. Die Fundamente der Halle berühren nicht nur die des Tempels, sondern überschneiden sie sogar. Durch die Halle wird der ür Kulthandlungen bestimmten Raum vor (= östlich) des Tempels stark eingeschränkt. Dies düre mit der Grund ür den Bau eines zweiten Dionysos-Tempels gewesen sein. Dieser tetrastyle Prostylos besaß mit seiner gut 20 m auf 10,50 m messenden Grundfläche fast die doppelte Größe des älteren, stand nur wenige Meter südlich von ihm und übernahm dessen Ausrichtung. Daneben haben wahrscheinlich auch die bescheidenen Ausmaße des älteren Baues den gewachsenen Repräsentationsansprüchen der Spätklassik nicht mehr genügt. Trotzdem legte man den alten Tempel nicht nieder. Er bestand neben dem jüngeren weiter und wurde noch im 2. Jh. n. Chr. von Pausanias besucht19. Der Perieget spricht von zwei Kultbildern. Das ursprüngliche (= Xoanon?) befand sich im älteren Antentempel, das jüngere aus Gold-Elfenbein nahm der Neubau auf. Altäre lassen sich nicht in den West-Ostachsen vor den Tempelfronten nachweisen. Weit im Süden des Heiligtums, und im rechten Winkel zu den beiden Tempeln errichtet, kann er lokalisiert werden20. Er liegt etwa in der Nord-Südachse des gesamten Dionysos-Bezirkes, ist aus dem gleichen Material und in der gleichen Technik errichtet wie der jüngere Dionysostempel. Als einziger Altar hat er ür beide Tempel gedient. Diese Situation lässt sich auch ür das Nemesis-Heiligtum von Rhamnous belegen (Taf. 26, 2)21. Dachterrakoen bezeugen einen ersten Tempel aus dem frühen 6. Jh. v. Chr. Er wurde gegen Ende des Jahrhunderts durch einen Neubau ersetzt, den die Perser 480/479 v. Chr. zerstörten. Unmielbar südlich der Ruine errichtete man anschließend einen etwa 10,0 × 6,15 m großen Oikos mit Pronaos und Naos22. Über der älteren Tempelstelle entstand dann in den Jahren vor dem Peloponnesischen Krieg ein gut 21,4 m × 10,0 m großer Peripteraltempel. Die Feinarbeiten an diesem Bau wurden nicht abgeschlossen: Die Säulenschäe blieben unkanneliert und auf den adern der Krepis sind noch Bossenstreifen zu sehen23. Vom Kultbild der Nemesis haben sich genügend Fragmente erhalten, die eine sichere Rekonstruktion ermöglichen. Agorakritos hat es um 430 v. Chr. geschaffen24. Nur etwa 6 m vor der Tempelostfront liegt der Altar. Er ist auf die Tempelachse bezogen und aufgrund des stratigraphischen Befundes zeitgleich mit dem Tempel. Spuren eines älteren Altares, der mit den Vorgängerbauten in Verbindung zu bringen ist, existieren nicht. Wahrscheinlich sind diese bei der Anlage des klassischen Altars zerstört worden. Ein 18 Zum Dionysos-Heiligtum: Dörpfeld – Reisch 1896, 13–26; Travlos 1971, 538–552; Knell 2000, 132–137. 19 Paus. 1, 20, 3. 20 Nachgewiesen ist hier ein Fundament aus Brecciaquadern. Dörpfeld – Reisch 1896, 19 f., begründen ausührlich,

warum es sich um den Altar handeln muss. 21 Allgemein zum Nemesis-Heiligtum: Travlos 1988, 388 f. Abb. 487–501; Miles 1989; Petrakos 1999, 295–326; Pe-

trakos 1991, 14–33; Mersch 1996, 71 f. 182–184 Nr. 4. 22 In der älteren Forschung wird der ›Kleine Tempel‹ als Antenbau rekonstruiert: Orlandos 1924, 305–320. 23 Travlos 1988, 392–395 Abb. 489–494. 24 Zu Agorakritos: Neudecker 1996. – Zum Kultbild: Despinis 1970, 407–413; Knielmayr 1999, 1–18.

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zweiter Altar ür den ›Kleinen Tempel‹ ließ sich nicht nachweisen. Auch hier wurde nach Aussage des Fundguts Nemesis verehrt. In der spätklassischen Epoche tri auch emis hinzu25. Ihre erhaltene Kultstatue fertigte der einheimische Bildhauer Chairestratos an26. Beiden Kultbauten stand nur ein gemeinsamer Altar zu. Dieser befindet sich in der Langsachse unmielbar östlich des klassischen Tempels und ersetzt an dieser Stelle seinen archaischen Vorgänger. Im Athena-Heiligtum von Sounion liegen zwei Tempel (Taf. 26, 3): Außer dem ›großen‹ AthenaTempel mit seinem unkanonischen Grundriss – nur an der Ost- und an der Südseite existiert eine Säulenhalle – gibt es einen weiteren und kleineren Naiskos, der als Oikos oder als Antenbau zu rekonstruieren ist. Während letzterer lange Zeit übereinstimmend in die spätarchaische Epoche gesetzt wurde27, schlägt man nun auch eine Entstehung in den frühklassischen Jahrzehnten vor28. Direkt vor seiner Front liegt der Altar. Fraglich bleibt auch, wem dieser kleine Kultbau geweiht war. An den Nordwestbereich des Athena-Temenos schließt sich eine weitere Umfassungsmauer an, die das Heroon des Phrontis begrenzen soll. Dieses birgt den Steuermann des Menelaos, der auf der Rückfahrt von Troja hier zu Tode gekommen sein soll29. Neben der Athena30 wird ebenfalls dem Phrontis der kleine Tempel zugewiesen31. Dagegen spricht allerdings, dass der Tempel nicht im Temenos des Phrontis steht, sondern im Athena-Bezirk! Die Oberfläche des Phrontis-Temenos ist stark erodiert, allerdings zeichnet sich im südlichen Bereich eine kleine Fundamentsetzung ab, die als Altar gedeutet werden kann. Die Kultmale des Phrontis düren sich ausschließlich auf seinen Bezirk beschränken. Ob der ›große‹ Tempel im Athena-Bezirk einen eigenen Altar besaß, bleibt letztendlich ungewiss. Eine L-örmige adersetzung südlich des Tempels wird meist als Altarfundament angesprochen32. Das Fundament besteht aus ebenso großen adersteinen wie das Tempelfundament selbst. Aus diesem Grund ist es wohl eher einem weiteren oikosartigen Bau zuzuschreiben als einem Altar. Außerdem blieben direkt am Fundament Porosbasen in situ erhalten, die Stelen aufgenommen haben33. Diese Aufstellung häe bei Opferhandlung eine störende Wirkung. Der Gang durch Athen und Aika zeigt, dass hier die Altarsituation auf der Akropolis kein Sonderfall ist. Nicht allein auf dem Burgberg besitzen zwei unmielbar benachbarte Tempel derselben Goheit nur einen gemeinsamen Altar, sondern auch im städtischen Dionysos-Heiligtum und ebenso im Nemesis-Heiligtum von Rhamnous. Vielleicht liegt im Athena-Heiligtum von Sounion eine weitere Analogie vor. Der früheste dieser Sonderälle existiert mit dem Parthenon und dem ›Alten Athena-Tempel‹. Die anderen Beispiele folgen zeitlich unmielbar. Auch im unter 25 Im Vorraum des ›Kleinen Tempels‹ standen Kulhrone ür Nemesis und emis, die ein Sostrates im 4. Jh.

v. Chr. den Goheiten geweiht hat (IG II² 4638), dazu Travlos 1988, 399 Taf. 500–501. 26 Zu Chairestratos: DNP II (1997) 1083 s. v. Chairestatros (R. Neudecker). Zur emis: Travlos 1988, 398 Abb. 499;

Rigdway 1990, 55–57 Abb. 31; Moreno 1994, 168–172 Abb. 218. 220. 27 Stais 1900, 130 f. Taf. 8; Stais 1917, 178–181 Abb. 1 f; Dinsmoor 1974, 42.; Gruben 2001, 233; Antonaccio 1995,

166 f.; Mersch 1996, 73 f. 189 f. Nr. 15. – Ohne Datierungsangabe: Travlos 1988, 405. 28 Goee 2000, 36 f. Seine Datierung beruht auf den Annahmen, dass (a) Zerstörungen durch die Perser im Hei-

ligtum, aber nicht am Tempel selbst nachweisbar sind und dass (b) der Agrileza-Marmor, aus dem die Front des Baues besteht, erst seit der Frühklassik abgebaut worden ist. 29 Hom. Od. 3, 278 f. 30 Oikonomides 1957, 48. 31 Mersch 1996, 189 f.; Goee 2000, 36 f.; Gruben 2001, 233. 32 Goee 2000, 40. 33 Goee 2000, 40 Taf. 82.

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aischen Einfluss stehenden Apollon-Heiligtum auf der Insel Delos existiert über Jahrhunderte nur ein einziger Altar. Auf diesen richten sich drei zwischen dem 6. und dem späten 5. Jh. v. Chr. aneinander gereihte Tempel des Goes Apollon aus34. Wie in vielen anderen griechischen Heiligtümern, so hat auch in den genannten aischen Beispielen der Altar nie seinen Platz gewechselt. Besonders deutlich wird diese Konstante im Heraion von Samos: Der erste steinerne Tempel des 8. Jhs. sowie alle seine Nachfolger – die Riesenbauten der spätarchaischen Epoche und die sie später ersetzenden Kulthäuser der römischen Kaiserzeit – richten sich strikt auf den Altar aus. Zwar wird dieser im Laufe der Jahrhunderte mehrfach baulich verändert, sein Platz wird aber beibehalten35. Diese zentrale und unverrückbare Stellung des Altars allein weist dessen Wichtigkeit ür den gesamten Kultplatz aus. Ihm als kultischem Mielpunkt eines Heiligtums kommt mehr Bedeutung zu als allen anderen baulichen Einrichtungen, einschließlich des Tempels. Letzterer kann im Temenos sogar fehlen, ein Altar – an dem das Opfer an die Goheit durchgeührt wird – ist unverzichtbar. Wie in diesem Beitrag zu zeigen war, kann ein Altar auch ür zwei unmielbar benachbarte Tempel einer Goheit dienen. Athen und sein Einflussbereich liefern daür markante Beispiele.

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Der Markempel in Demetrias und die Gruppe der ›peripteralen Kleintempel‹ Torsten Maern

Der Peripteraltempel ist zweifellos der Haupypus griechischer Sakralarchitektur, er ist nicht nur ür unser Bild griechischer Tempel bestimmend, sondern war auch die semantisch wirkungsmächtigste Bauform. Haben andere Typen des Sakralbaus, wie Antentempel und Prostyloi, durchaus ihren Stellenwert, so bleibt doch der Peripteraltempel auch über die Klassik hinaus bestimmend. Peter Marzolff verdanken wir die Kenntnis eines ungewöhnlichen Peripteros, des Markttempels in Demetrias1. Er ist leider nur sehr schlecht erhalten, weswegen seine Rekonstruktion nur mit Unsicherheiten möglich ist. Es soll deswegen der Versuch eines alternativen Vorschlages gemacht werden, wichtiger aber noch ist der Versuch, den Markempel in den architekturgeschichtlichen Kontext einer Gruppe von Peripteroi einzuordnen, deren verbindendes Kriterium vor allem ihre absolute Dimensionierung ist: Die ›peripteralen Kleintempel‹.

Der Markempel in Demetrias Der Markt-Tempel in Demetrias ist nur im Fundament erhalten, Bauglieder fehlen vollständig. Seine Datierung ergibt sich im Wesentlichen aus der Beobachtung der Ausgräber, dass in dem Fundament Blöcke aus der Ausbauphase wiederverwendet worden sind. Da nicht davon auszugehen ist, dass solches verworfenes Material allzu lange zur Verügung stand, muss der Tempel bald nach der Stadtgründung 294 v. Chr. errichtet worden sein. Diese Datierung wird durch den Grundriss gestützt, der enge Parallelen zu dem des Aphrodite-Tempels in Kassope2 aufweist.

Grundlagen Grundlage der Planrekonstruktion (Taf. 27, 1) ist der Befundplan von P. Marzolff3. Aus ihm gehen die folgenden Angaben sicher hervor: 1 Marzolff 1976, 51–57. Weiterhin: von Hesberg 1994, 68. 2 Hoepfner – Schwandner 1994, 144 f.; Hoepfner 1999, 373; Tzouvara-Souli 1994; Hoepfner 1994, 435. Die Grün-

dung von Kassope in der Jahrhundertmie des 4. Jhs. v. Chr. setzt einen Terminus post quem. Die Identifizierung des Kultinhabers mit der Schutzherrin der Stadt ist zwar überzeugend, aber nicht gesichert. Das Fundament ist ca. 10,5 × 17,2 m groß. Für die Rekonstruktion nahmen Hoepfner – Schwandner einen uDm von 0,75 m an, hier setzt die Stylobatbreite eine Grenze. Die Rekonstruktion mit 6 × 10 Säulen ist stimmig und bindet auch die Cella ein, es ergibt sich ein Normaljoch von 1,80 m und ein Eckjoch von 1,62 m, was zu Interkolumnien von 0,95 m und 0,80 m ührt. Der Tempel wurde anlässlich des Synoikismos nach Nikopolis versetzt. 3 Marzolff 1976 Taf. 4.

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Torsten Maern

• die Stylobatkanten geben die inneren Maße des Stylobates an; • der Cella-Toichobat lässt die Innenkanten, mit Ausnahme der genauen Lage der Rückwand, zweifelsfrei erkennen; • außerdem ist die Außenkante des Toichobats der südlichen Cellawand gesichert und die Lage der Türwand gesichert; die Antenflucht ist bekannt. Nicht völlig gesichert sind hingegen die Lage der Antenstirn, die Lage der Rückwand und die äußere Begrenzung der nördlichen Cellawand. Unbekannt sind die Stylobatbreite, die Anzahl und Breiten der Stufen, der untere Säulendurchmesser und schließlich die Säulenordnung.

Rekonstruktion von Grundriss und Front Der Abstand der Stylobatinnenkanten kann durch die Lage der am weitesten voneinander entfernten Fundamentblöcke eingegrenzt werden. Er beträgt auf der Schmalseite ca. 7,10 m und auf der Langseite etwa 13,10 m. Die Lage der Cella ist, mit Ausnahme der Antenlängen und der Lage der Rückwand, gut aus dem Befundplan abzulesen. Der Abstand von der südlichen Cellawand zu der südlichen Stylobatinnenseite beträgt ca. 0,80 m. Da das Pteron auf beiden Seiten den gleichen Abstand zur Cella haben muss, ist dadurch die Lage der Cella bezogen auf die Schmalseiten bekannt. Gleiches gilt auch ür die Außenflucht der Cellarückwand, solange man nicht eine ungebundene Cella in der Peristase annimmt. Der untere Säulendurchmesser ist unbekannt, da keine Bauglieder erhalten sind. Bei dem Aphrodite-Tempel in Kassope konnte Hoepfner aufgrund der dort besser erhaltenen Stylobatbreite einen unteren Säulendurchmesser von etwa 0,75 m annehmen. Da der Tempel in Demetrias zwar die gleiche Größenordnung wie der Tempel in Kassope besitzt, aber etwas kleiner zu sein scheint, soll im Folgenden ein unterer Durchmesser von ca. 0,70–0,75 m geprü werden, sowie als Alternative noch ein kleinerer unterer Durchmesser von nur 0,60 m. Aus den unteren Durchmessern können nun die folgenden Maße ermielt werden (vgl. Tab. 1): Nimmt man den Abstand von den Säulenüßen bis zur Stylobatkante mit ca. 0,05 m an, dann ergibt sich aus den angenommenen unteren Säulendurchmessern eine Breite des Frontstylobats4 zwischen 8,4 und 8,7 m. Lage, Interkolumnium und Jochweiten der Frontsäulen ergeben sich daraus, dass die Anten jeweils auf die zweite Frontsäule fluchten; die Wandstärke der Cella beträgt aufgrund des südlichen Toichobats etwa 0,6 m. Weil die Stylobatinnenmaße aus dem Befund eingegrenzt werden konnten, ist damit auch die Lage der beiden äußeren Frontsäulen bekannt und das Eckinterkolumnium kann mit 0,80–0,725 m berechnet werden5. Der Abstand von dem Toichobat zu dem Stylobat sollte an allen drei Seiten übereinstimmend 0,80 m betragen. Bei Annahme eines unteren Säulendurchmessers von 0,60 m entsprechen sich das berechnete Eckinterkolumnium und der Abstand des Toichobats zur Innenkante des Stylobat mit jeweils 0,80 m, zudem entspricht ein unterer Säulendurchmesser von 0,6 m ungeähr der Antenstärke. Damit besitzt ein unterer Säulendurchmesser von 0,60 m die höchste Wahrscheinlichkeit. Die Lage der weiteren Frontsäulen und das Normalinterkolumnium können aus der Frontbreite – abzüglich der Eckinterkolumnien und der jeweils beiden äußern Säulendurchmesser – abgeleitet werden und betragen, bei 6 Frontsäulen, je nach angenommenen unteren Säulendurchmesser, 1,03–0,883 m. 4 (Innenmaß der Frontstylobatbreite = 7,10 m) + (2 × uDm der Ecksäulen) + (2 × Abstand von den Säulenüßen

zu den Stylobataußenkanten) = Frontstylobatbreite. 5 (Abstand Stylobat zu Toichobat = 0,80 m) + 0,30 m (½ Wandstärke) - (½ uDm) = Eckinterkolumnium.

Der Markempel in Demetrias und die Gruppe der ›peripteralen Kleintempel‹

Größe bei einem uDm von

0,60 m

0,70 m

0,75 m

Eckintercolumnium

0,80 m

0,75 m

0,725 m

Normalinterkolumnium

1,03 m

0,93 m

0,88 m

Eckjoch

1,40 m

1,45 m

1,475 m

Normaljoch

1,63 m

1,63 m

1,63 m

Frontstylobatbreite

8,40 m

8,60 m

8,70 m

Stylobatlänge der Langseite bei 10 Säulen

14,81 m

15,131 m

15,231 m

Stylobatlänge der Langseite bei 9 Säulen

13,18 m

14,198 m

14,348 m

215

Tab. 1: Markt-Tempel in Demetrias.

Das Eckinterkolumnium der Frontsäulen war gegenüber dem Normalinterkolumnium kontrahiert, der Tempel hat also eine dorische Ordnung besessen. Aus den angenommenen unteren Säulendurchmessern und den berechneten Interkolumnien können die jeweiligen Jochmaße bestimmt und die Eck- und Normalinterkolumnien der Frontseite auf die Langseiten übertragen werden. Die Anzahl der Langseitensäulen ist jedoch nicht bekannt. Marzolff nahm 10 Säulen an, tatsächlich kann eine Langseite mit nur 9 Säulen als zu kurz ausgeschlossen werden6, der Tempel hat folglich 6 × 10 Säulen besessen. In der Überprüfung aller Werte konnte ein unterer Säulendurchmesser von etwa 0,60 m wahrscheinlich gemacht werden, da nur so das Eckinterkolumnium den Pteronmaßen, die durch den Abstand von Toichobat zu Stylobat eingegrenzt werden konnten, entspricht. Außerdem entspricht der untere Säulendurchmesser auch der Wandstärke der Anten, die aus der Toichobatbreite ermielbar ist. Allerdings scheint der Kontraktionswert der Eckjoche etwas hoch zu sein, so dass an eine weitere Justierung der Werte gedacht werden kann. Eine Verringerung des Kontraktionsmaßes würde z. B. durch eine etwas geringere Cellabreite möglich. Doch wie man die Einzelmaß des Markempels von Demetrias auch im Detail rekonstruiert, es bleibt doch der Eindruck einer kleinen, baldachin- oder kioskartigen Architektur, die der üblichen Vorstellung monumentaler Sakralarchitektur nicht recht entsprechend mag. Dies wird noch eindrücklicher, wenn man versucht, trotz der fehlenden Bauglieder, eine Vorstellung von der Ansicht des Tempels zu gewinnen (Taf. 27, 2): Zur Rekonstruktion der Front wird man sich an Bauten orientieren, deren Dimensionierung etwa der des Markempels entspricht, in diesem Falle eignen sich dazu unter anderem ein dorischer Kunstbau in eisoa7 und der Demeter-Tempel in Aigai8. Unberücksichtigt bleibt die Frage, ob es in Entwurf und Proportionierung wesentliche Unterschiede zwischen unterschiedlichen Gebäudetypen gleicher Ordnung gegeben hat. Da der untere Säulendurchmesser des Markempels etwa 0,60 m betragen hat, kann aufgrund zeiypischer Proportionen9 des 6 (Anzahl der Säulen × uDm) + (2 × Eckinterkolumnium) + (Anzahl der Normalinterkolumnien) + (2 × Abstand

Säulenfuß zur äußeren Stylobatkante = 0,1 m) = Stylobatlänge. 7 Goester u. a. 2007; Maern 2012a. 8 Bohn 1889, 41–43; von Hesberg 1980, 32; Pohl 2002, 8. 9 eisoa, dorischer Bau: unterer Säulendurchmesser 0,51 m, die Säulenhöhe ist rekonstruiert und kann deswe-

216

Torsten Maern

unteren Durchmessers zur Säulenhöhe von 1 : 6 bis 1 : 7 eine Säulenhöhe von maximal 4,2 m angenommen werden10, die Höhe des Kapitells düre etwa 0,20 m betragen haben. Nimmt man das Normaljoch mit 1,63 m als Ausgangspunkt ür die Rekonstruktion des Triglyphons in einem Zweimetopenschema an, dann ist bei einem Friesachsmaß von 0,815 m eine Triglyphenbreite von etwa 0,326 m und ein Metopenbreite von 0,489 m glaubha11. Die Höhe des Frieses sollte ungeähr der Metopenbreite entsprechen und die Architravhöhe etwas niedriger als die Frieshöhe sein12. Bei beiden Werten besteht zwar eine große Unsicherheit, doch wird die Annahme einer Architravhöhe von etwa 0,40 m und einer Frieshöhe von 0,49 m sowie einer Geisonhöhe (bis Geisonstirn) von ca. 0,21 m realistisch sein. Auf jeden Fall entspricht die Größenordnung der Werte den zeiypischen Binnenproportionen dorischer Gebälke, auch in Beziehung zur Säulenhöhe und dem unteren Säulendurchmesser. Obgleich nur das Fundament des Markempels von Demetrias erhalten ist, kann eine gewisse Vorstellung von der ursprünglichen Gestalt des Baus wiedergewonnen werden, die sich in ihren absoluten Dimensionen deutlich von denen anderer Peripteroi, wie zum Beispiel dem AsklepiosTempel in Messene, absetzt und schreinartig klein wirkt. Sogar an der Funktionalität eines derartigen ›Schatzkästchenarchitektur‹ mag man zweifeln, angesichts von Interkolumnien, die im Bereich der Standardmaße moderner Zimmertüren liegen. Jedoch vermag ein kurzer Blick auf die griechische Architekturgeschichte zeigen, dass der Markt-Tempel in Demetrias nicht isoliert steht.

Klassische Traditionen Seit der Spätarchaik wurde eine Kombination von Frontpterontiefe und Verhältnis der Ringhallenseiten gefunden, deren prominenteste Umsetzung bei dem Zeus-Tempel in Olympia erfolgte. Sie kann wie folgt ausgedrückt werden: Die Anten fluchten auf die Mie des zweiten Interkolumniums der Langseite und die Anzahl der Säulen an den Langseiten entspricht der doppelten Anzahl der Frontsäulen zuzüglich einer weiteren Säule. Auf eine konventionelle, hexastyle Front kamen folglich 13 Säulen an der Langseite. Läßt man klassische Ringhallentempel Revue passieren, dann zeigt sich jedoch sehr bald, dass diese Kombination nur von begrenzter Gültigkeit war. Bereits kurz nach der Mie des 5. Jahrhunderts begann sich das Interesse der Architekten auf Probleme und Möglichkeiten der Gestaltung des Frontpterons zu richten. Eine Gruppe von sechs Tempeln13 aus der zweiten Häle des 5. Jahrhunderts wurde in der Forschung zum Teil bereits gen nicht berücksichtigt werden, Kapitellhöhe 0,205 m, Architravhöhe 0,43 m, Frieshöhe 0,55 m, Metopenbreite 0,63 m, Triglyphenbreite 0,46 m, Höhe Geison (bis Geisonstirn) 0,14 m. Aigai, Demeter-Tempel: unterer Säulendurchmesser 0,57 m, Säulenhöhe 4,33 m, Kapitellhöhe 0,188 m, Architravhöhe 0,308 m, Frieshöhe 0,436 m, Metopenbreite 0,312 m, Triglyphenbreite 0,212 m, Höhe Geison (bis Geisonstirn) 0,15 m. 10 Ein Problem bei der Rekonstruktion der Säule kann in regional differierenden proportionalen Vorlieben liegen.

So machte Hoepfner 1994, 435, auf die gedrungene Proportionierung epirotischer Säulenordnung aufmerksam, welche in der Spätklassik durchaus noch Verhältnisse von 1 : 5,3 bei dorischen Ordnungen in Kassope zuließ. Ob dies auch ür Tempelarchitektur galt, ist allerdings offen. 11 Verhältnis von Triglyphenbreite zu Metopenbreite etwa 1 : 1,5. 12 z. B.: Stratos, Zeus-Tempel: Architravhöhe zu Frieshöhe zu Geisonhöhe 1 : 1,15 : 0,36; Korinth, Asklepieion

1 : 1,25 : 0,5; Epidauros, Artemis-Tempel 1 : 1,16 : 0,49. Allg. Maern 2012b. 13 Aika: Athen, Hephaistos-Tempel; Sounion, Poseidon-Tempel; Athen, Ares-Tempel; Rhamnus, Nemesis-

Tempel. Arkadien: Bassai, Apollon-Tempel (allerdings mit gestreckter Peristase). Böotien: Kalapodi, ArtemisTempel (ebenfalls mit gestreckter Peristase).

Der Markempel in Demetrias und die Gruppe der ›peripteralen Kleintempel‹

217

zusammengestellt und auch über ihre Abhängigkeiten voneinander diskutiert14. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Frontptera erweitert wurden, indem die Anten auf die drie Langseitensäule fluchten. Dadurch wurde die Cella verkürzt und das Frontpteron gegenüber den seitlichen Ptera um ein halbes Jochmaß erweitert. Nach außen zeigte sich die Veränderung zwar nur, wenn die Cellawand durch die Säulenreihe der Langseiten hindurch verfolgt wurde, im Inneren aber wurde vor den Pronaos-Säulen in antis ein zweiter Vorraum gebildet. Dass die Interpretation als ›Vorraum‹ nicht nur auf der Betrachtung des Grundrisses beruht, sondern auch so empfunden wurde, beweist bekanntermaßen der querlaufende Vorhallenfries im Hephaisteion zu Athen, der als Element der Raumabgrenzung und -schöpfung zu verstehen ist. Nach außen wurde die Vorhalle des Hephaisteion sogar zusätzlich durch reliefierte Metopen betont. Im Verlaufe des 5. und 4. Jahrhunderts setzte sich diese Form der Vorhallenerweiterung im Tempelbau schließlich durch15. Eine bedeutende Unterstützung erhielt die Frontbetonung spätklassischer Peripteraltempel durch den Verzicht auf das Opisthodom. Dies hae wohl mehrere Gründe: Zum einen mag der Wunsch nach einer stärkeren Frontbetonung eine Rolle gespielt haben, sehr viel wahrscheinlicher ist aber die Einschränkung des ür die Cella zur Verügung stehenden Raumes innerhalb der Peristase ausschlaggebend gewesen, die sich aus der Verbreiterung des Frontpterons bei gleichzeitiger Verkürzung der Ringhallenlänge ergab. Diese Tendenz zur Verkürzung der Ringhalle begann noch im drien Viertel des 5. Jahrhunderts16 und zeigte sich erstmals am Nemesis-Tempel im Rhamnus und am Hera-Tempel II in Argos, wobei letzterer aber noch die traditionelle Antenfluchtung ohne Vorhallenerweiterung besaß. Selten kamen überlängte Ringhallen vor, so am Apollon-Tempel in Bassai, der mit 6 × 15 Säulen ganz bewusst entweder auf lokale kultische Besonderheiten Rücksicht nahm oder an archaische Proportionen erinnern wollte, während er sich durch die Innenraumgestaltung und die Erweiterung des Frontpterons innovativ zeigte. Bereits im 5. Jahrhundert sind damit Ansätze einer Entwicklung spürbar, die vor allem im 4. Jahrhundert zum Tragen kommen sollte.

Spätklassische Tendenzen Im 4. Jahrhundert bildete sich dagegen eine große und bedeutende Gruppe von Tempeln heraus, die in der Forschung die Bezeichnung ›spätklassische Kurztempel‹ erhielt. Neben der erweiterten Vorhalle, die sich im 4. Jahrhundert fast durchgesetzt hae, ist vor allem die Verkürzung der Ringhalle ein gruppenspezifisches Element, ein weiteres ist der Verzicht auf das Opisthodom, mit deren Hilfe sie von H. Knell in zwei Typen unterteilt wurden17. 14 Knell 1973; Knell 1979. 15 Konventionell in der Cellabindung blieben z. B. Argos, Heraion II; Delos, Apollon-Tempel II; Olympia, Metroon. 16 Zu den spätklassischen Ringhallentempeln vgl. Wurster 1973, 207–210; Knell 1983b; Østby 1992, 109; Roux 1961,

389–391. 17 Knell 1983b: Typus A mit 6 × 11 Säulen und Opisthodom, Typus B mit 6 × 11 Säulen, aber ohne Opisthodom.

Diese Aueilung ist zwar formal richtig, doch verkennt sie die Zwangsläufigkeit des Verzichtes auf das Opisthodom durch die Verkürzung der Langseiten. Der Typus A sollte daher nicht als eigener, alternativer Typus gesehen werden, sondern nur als Übergangsstadium, in welchem versucht wurde, die Innovation der verkürzten Ringhalle noch mit der traditionellen Cellagestaltung in Übereinstimmung zu bringen. Knell ührte auch nur drei Tempel des Typus A auf. Der Versuch, Opisthodom und verkürzte Langseite in Übereinstimmung zu bringen konnte aber, wie Knell betonte (S. 229) nur auf Kosten der Länge des Sekos gehen, was wiederum die Funktionalität des Bauwerkes zu beeinträchtigen drohte.

218

Torsten Maern

Datierung

Säulen

Frontpteron – Joche –

Opisthodom

Rückpteron – Joche –

zwischen 478–303

6 × 13







470–457

6 × 13







ab 460

6 × 13







430–426/um 400

6 × 14

2



2

Athen, Hephaistaion

nach 447

6 × 13

2





Sounion, Poseidon-Tempel

nach 447

6 × 13

2



2

(Athen), Ares-Tempel

440er Jahre

6 × 13

2





Rhamnus, Nemesis-Tempel

430er Jahre

6 × 13

2



< 1½

Bassai, Apollon-Tempel

gegen 430

6 × 15

2



2

Argos, Hera-Tempel II

ca. 420–400

6 × 12







gegen 390

6 × 11







Lepreon, Demeter-Tempel

1. Driel 4. Jh.

6 × 11

2



2

eben, Apollon Ismenios-T.

1. Driel 4. Jh.

6 × 12



✔a

1

Epidauros, Asklepios-Tempel

ab 390

6 × 11

2



1

Isthmia, Poseidon-Tempel II

2. H. 4. Jh.

6 × 13







Delphi, Apollon-Tempel VI

366–320

6 × 15







Kalydon, Artemis-Tempel

nach 360

6 × 13

2



2

nach Kalydon

6 × 13

2



2

Tegea, Athena Alea-Tempel

ab 352

6 × 14

2



2

Gortys, Asklepios-Hygeia-T.

Mie 4. Jh.

6 × 11

2



1

Nemea, Zeus-Tempel

ca. 340–320

6 × 12

2



1

2. H. 4. Jh. (?)

6 × 11

2 (?)

— (?)

1 (?)

Tempel Delos, Apollon-Tempel II Olympia, Zeus-Tempel Isthmia, Poseidon-Tempel II Kalapodi, Artemis-Tempel I/II

Olympia, Metroon

Molykreion, Poseidon-Tempel

Eretria, Dionysos-Tempel a

Doch ist die Tiefe des Opisthodoms nach der Rekonstruktion von Knell 1983b, 224 Abb. 8 auf etwas mehr als den unteren Durchmesser der beiden in antis stehenden Säulen reduziert.

Tab. 2: Grundrisscharakteristika ausgewählter klassischer Peripteraltempel. – Der Parthenon wurde nicht aufgenommen, weil er mit 8 × 17 Säulen, seinen prostylen Säulen mit jeweils einjochiger Tiefe von Frontund Rückpteron sowie dem Adyton eine meisterha ausgeührte architektonische Sackgasse darstellt. Weiterührend sind Einzelaspekte der Innenraumkonzeption, die eine der ersten wirklichen Raumschöpfungen darstellt, doch ist dies hier nicht thematisiert.

Der Markempel in Demetrias und die Gruppe der ›peripteralen Kleintempel‹

219

Datierung

Stylobat

Säulen

Sekos (lichte Maße)

Anten

Opisthodom

377–344 v. Chr.

13,87 × 18,71 m

6×8

6,57 × 6,57 m





Kassope, Aphrodite-T.

Mie 4. Jh.

≈ 9,60 × 16,55 m

6 × 10

4,60 × 6,20 m





Loutsa, Aphrodite–T.b

2. H. (?) 4. Jh.

12,20 × 19,30 m

6×9

7,0 × 13,0 m





Anf. 4. Jh.

9,60 × 16,00 m

6 × 10?

≈ 4,0 × 5,6 m





2. Jh.

8,05 × 9,60 m

6×7

4,46 × 4,87 m





4. V. 1. Jh. v. Chr.

?

6×9

?

?

?

Samos (Heraion), Röm. Peript.

augusteisch

20,35 × 18,96 m

6 × 4 / 5e

5,00 × 8,00 m





Mylasa, Augustus-Tempelf

12–2 v. Chr.

(14 × 18,7 m)

6×7

?





asos, Herakles-Tempelg

hellenistisch

20,07 × 23,39 m

6×8

≈ 7,67 × 11,14 m





Tempel Labraunda, Zeus-Tempela

Demetrias, Agora-Tempel Kourno, Kionia 2c Stratonikeia, eater-T.d

a

Hellström 1994, 37; Hellström – ieme 1982; Rumscheid 1994, 21 f. – Der Bau ist durch die Weihinschri des Idrieus datiert.

b

Knell 1983; Papadimitriou 1957, 45–47; Travlos 1976; Travlos 1988, 211–215. – In Fundamentschnien wurde Keramik gefunden, die nicht älter als das 4. Jh. datiert werden kann (Papadimitriou). Die Grundrissproportionierung und Gestalt der Cella legen die 2. Häle des Jhs. nahe.

c

Le Bas 1888; Lauter 1986, 195; Moschos 1988; Winter – Winter 1983. Der kleine Peripteros wurde zuletzt von Moschos rekonstruiert, der LeBas folgt. Bemerkenswert ist, dass in der Peristase an den Ecken Pfeilerhalbsäulen eingestellt sind, die mit der geraden Fläche zu den Schmalseiten weisen. Moschos gibt folgende Maße an: Fundament (gemessen) 8,4 × 9,95 m; Stylobat 8,05 x 9,60 m; Normaljoch 1,545 m; Eckjoch 1,425 m; DreiMetopenschema. Bei Autopsie des Baus konnten zusätzlich u. a. folgende Maße genommen werden: Regulabreite 0,215 m; Regulaviae 0,30 m; Triglyphenbreite 0,20 m; Metopenbreite 0,29–0,31 m. Aus letzteren folgt eine Varianz des Friesachses von 0,49–0,525 m, welche das von Moschos benutzte Friesachsmaß von 0,515 m (vgl. Normaljoch) gut abdeckt. Für die Front kann eine Friesbreite von 7,925 m berechnet werden, die Differenz von 0,125 m ergibt sich durch den beidseitigen Abstand der Pfeilerhalbsäulen zur Stylobatkante von ca. 6 cm. Gleiches gilt ür die Langseite mit einer Friesbreite von 9,47 m und einer Differenz zu der Stylobatbreite von 0,13 m. Damit ist keine andere Rekonstruktion als mit 6 x 7 Säulen im Drei-Metopenschema möglich. Moschos gibt ein Interkolumnium von ca. 1,05 m an. Dies deckt sich mit einem gemessenen uDm von 0,38 m (ohne Basis).

d

unpubliziert.

e

Der Bau besitzt an der Front nur vier Säulen. Dies ührt zu Problemen der Dachgestaltung, die nicht geklärt werden können.

f

Hänlein-Schäfer 1985, 177–179; von Hesberg 1978, 957. Der Tempel ist nur noch in Beschreibungen und Stichen des 17./18. Jhs. überliefert, die komposite Kapitelle zeigen. Einen höheren Wahrheitsgehalt kann man den Angaben über die Ringhalle zubilligen: Da es sich um eine kaum bekannte Gestaltung handelt, ist davon auszugehen, dass die Angaben auf der eigenen Anschauung beruhen. Gleiches mag auch ür das Podium mit der Freitreppe gelten. Die Angabe zur Gebäudegröße wurden von Hänlein-Schäfer aus den Zeichnungen umgerechnet, doch ist nicht klar, worauf sie sich beziehen.

g

Grandjean – Salviat 2000, 143 f. Nr. 77; Launey 1944, 67–76; Roux 1979, 202–205. Der spätarchaische Sekos wurde im Hellenismus mit einer Ringhalle umgeben, ein ganz ähnlicher Vorgang, wie bei dem Zeus-Tempel von Labraunda. Wann diese Veränderung vorgenommen wurde, ist unbekannt, vielleicht zeitgleich mit der Anlage der Treppe und des Propylons.

Tab. 3: Kleine Peripteroi und peripterale Naiskoi hellenistischer bis augusteischer Zeit.

220

Torsten Maern

»Im 4. Jh. und im Hellenismus nimmt die Idealform des Tempels wieder die Säulenzahl von 6 × 11 Säulen an, allerdings mit einer völlig veränderten Entwurfsidee, bei der die Tempelfront größeres Gewicht erhält und das Opisthodom an Bedeutung verliert« schrieb W. Wurster18, indem er versuchte, diesen Prozess als Rückgriff auf den archaischen Tempelbau zu verstehen, doch ist dies nicht recht überzeugend, denn zum einen kann eine Verengung auf formale Gliederungen durch Säulenzahlen nicht allein die Annahme eines bewussten Bezuges rechtfertigen und zum anderen ist die von ihm vorgelegte Liste von Beispielen zu ausschniha. In der Tat steht die Gruppe der opisthodomlosen Kurztempel im 4. Jahrhundert nämlich keineswegs allein dar, wie die Auflistung in Tab. 2 zeigt19. Es gab im 4. Jahrhundert durchaus auch Tempel, die in ihrer Grundrissgestaltung noch dem 5. Jahrhundert verhaet waren und daher als ›konservative Gruppe‹ bezeichnet werden können, Knell geht sogar soweit, in den Langseiten der Tempel von Tegea und Delphi den Beginn des Archaismus zu erkennen, worin er wenigstens insoweit recht hat, dass beide vermutlich auf lokale Besonderheiten Rücksicht nehmen und vor allem der Tempel in Delphi auf eine lange Reihe realer und mythischer Vorgänger verweisen konnte. Dennoch wird man zögern, den Tempel in Tegea mit seinen korinthischen Halbsäulenkapitellen im Sekos ür ›archaistisch‹ zu halten20.

Protohellenismus und ›peripterale Kleintempel‹ (Tab. 3) Im Hellenismus gibt es keinen Tempel mehr, dessen Langseite noch der hochklassischen Proportion entspricht. Vereinzelt wurden zwar noch Ringhallen mit 6 × 12 Säulen errichtet, doch geht die Tendenz zu einer weiteren Verkürzung der Langseiten, so dass Verhältnisse von 6 × 11 und 6 × 10 Säulen häufiger werden und so sind einige der spätklassischen Tempel, z. B. der des Zeus in Nemea, durch ihre weitere Verkürzung der Rückhalle besser als protohellenistisch anzusprechen. Die hellenistischen Tempel ühren damit Entwicklungen in der Architektur seit der zweiten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. konsequent weiter. Gleichzeitig wurden Gestaltungsprobleme thematisiert, die sich nicht allein auf den Typus des Peripteraltempels beschränken, sondern auch in anderen Gebäudetypen im Hellenismus akut werden. Eine Weiterentwicklung des Peripteros ührte schließlich zu einem Nebenstrang hellenistischer Tempelarchitektur, den ›peripteralen Kleintempeln‹, deren Wurzeln ebenfalls in der Spätklassik liegen und die bis in die Kaiserzeit fortleben. Die Bezeichnung ür diese Gruppe von Tempeln ist fraglos problematisch, doch soll mit ihr zum Ausdruck gebracht werden, dass sie zwar unterschiedliche Elemente miteinander kombinieren, aber in ihrer Synthese nicht etwas grundsätzlich Neues schaffen. Die ›peripteralen Kleintempel‹ sollen daher ausdrücklich nicht als ein eigener Typus oder Variante eines Typus verstanden werden. Zu ihnen gehört auch der Markempel von Demetrias. Die peripteralen Naiskoi sind eine Gruppe von Gebäuden, die sich durch gemeinsame Eigenschaften zusammenschließen, wobei sie aber typologisch auch zu den Peripteroi gerechnet werden können, denn bei ihnen handelt es sich prinzipiell um Peripteraltempel mit einer umlaufenden Ringhalle, die an allen Seiten von der Cellawand freigestellt ist. Im Kern dieser Gruppe befinden 18 Wurster 1973, 208. 19 Der Verzicht auf das Opisthodom ist also kein besonderes ema der ionischen Ordnung, wie Knell 1988, 8

meinte, sondern ein allgemeines Abliegen der Zeit. 20 Knell 1983b, 226 und Gruben 2001, 129, beziehen den klassischen Tempel in Bassae auf den spätarchaischen

Apollon-Tempel in Delphi.

Der Markempel in Demetrias und die Gruppe der ›peripteralen Kleintempel‹

221

sich der Tempel Kionia 2 in Kourno, der verlorene Augustus-Tempel in Mylasa und der unpublizierte Tempel in Stratonikeia. Alle Bauten dieser Kerngruppe sind in ihrer Dimensionierung stark eingeschränkt: Es handelt sich um ›kioskartige‹21 Bauten mit kurzrechteckigem Grundriss in der Größenordnung von Naiskoi. Dies bedingt ein Verhältnis der Langseitensäulen zu denen der Front, das gegenüber peripteralen Monumentalbauten deutlich verändert wurde und zwar über die Reduzierung der Langseiten bei den ›spätklassischen Kurztempeln‹ und ihren hellenistischen Nachfolgern hinaus. Peripterale Naiskoi unterschreiten 6 × 10 Säulen eher. Für die Cella bedeutet dies, dass der Sekos mit 4–6 m Länge und Breite kapellenartig klein wird und gleichzeitig auf das Opisthodom, häufig auch auf ein Pronaos, verzichtet wurde. Entgegen den ›echten‹ Naiskoi, also den Antentempeln und den Prostyloi, sind die peripteralen Naiskoi, ebenso wie die monumentalen Peripteroi, weiterhin potentiell autarke Baukörper, da sie keinen klar unterschiedenen Front- oder Rückseitenaspekt besitzen22. Im Gegensatz zu den großen Peripteroi hat ihre Ringhalle durch die geringe Größe aber den Charakter eines die Cella schützenden Baldachins. Die Ptera werden so eng, dass sie mit Interkolumnien von bis zu 0,80 m beinahe funktionslos werden und die Säulen nur eine Schicht vor der Cellawand darstellen23. Sie erinnern an malerische Blendarchitekturen späterer Zeitstellung und spielen eher mit der Staffelung von Wandschichten, als wirkliche architektonische Tiefe zu erzeugen. Es können zwei Stränge namha gemacht werden können, die eine solche ’Miniaturisierung’ des Peripteraltempels ermöglichten. Ein erster Strang liegt wohl in dem oben aufgezeigten Trend zur Verkürzung von Langseiten peripteraler Tempel, der seit der späten Klassik beobachtet werden konnte. An diese Tendenz knüpfen die Tempel in Kassope, Loutsa und Demetrias (Taf. 28, 1) an. Es handelt sich bei ihnen formal um echte Peripteroi, deren Säulenkränze mit 6 × 9 oder 6 × 10 Säulen langrechteckig war, deren Dimensionierung allerdings noch weiter verringert wurde. Die Tempel in Kassope und Demetrias sind sich so ähnlich, dass sogar Verbindungen zwischen beiden Orten denkbar sind, zumal beide im nördlichen, makedonischen Griechenland errichtet wurden. Das Ergebnis des Versuches einer Planrekonstruktion des Tempels in Demetrias zeigt, dass die Peristase aufgrund der sehr engen Ptera funktionslos wurde. Dennoch befindet sich die Ringhalle an ihrem ursprünglichen Platz, sie ist kein zeichenhaes Versatzstück, sondern ein integraler Bestandteil des Bauwerkes. Der Artemis-Tempels in Loutsa, nur wenig nördlich von Brauron in Aika gelegen, zeigt, dass es sich bei der starken Verkürzung der Langseite und gleichzeitiger Reduzierung der Dimensionierung nicht um ein landschalich gebundenes, sondern doch wohl allgemein griechisches Phänomen handelte. Dennoch ührt die Beobachtung, dass es in Kleinasien eine gewisse Häufung von peripteralen Naiskoi gegeben hat, zu der Vermutung, dass hier eine besondere Affinität zu dieser Form bestand, während sie in Griechenland nur in Kourno und als Umbau in asos vorkam. 21 Lauter 1986, 195 über Kionia 2 (Kourno): »An diesem Statuenkiosk ist das Motiv des Säulenringes bestenfalls

noch ein Zitat nach peripteralen Großtempeln; die Wirkung ist ganz die eines baldachinartigen Denkmals, das die Statue kostbar umgibt.« – vgl. hierzu auch den »Römischen Peripteros« auf Samos. Die Dimensionierung und die Anzahl der Säulen gehen teilweise etwas auseinander, so besitzen die Tempel auf asos und Samos eine beachtliche Größe ür die Anzahl der Säulen. Dies erklärt sich aber aus ihrer Funktion: Auf asos wurde ein bereits existierender Sekos neu ausgestaltet und auf Samos musste sich die Sekosgröße nach dem Kultbild richten, das ür die Cella des monumentalen Hera-Tempels geschaffen worden war. Der Römische Peripteros ist daher nicht mit den Maßstäben der Tempelarchitektur zu messen. 22 Bei dem Tempel Kionia 2 ist der Giebel, und damit ein Firstdach und kein Walmdach, durch einen Geisoneck-

block gesichert. 23 Hier ühlt man sich schon fast an die Disposition des Mausoleums von Ta Marmara erinnert.

222

Torsten Maern

Dies ist durchaus nicht selbstverständlich, denn die Bautätigkeit riss in Griechenland ja nicht ab. Offenbar konnten peripterale Naiskoi in Griechenland nicht überzeugen, obwohl hier der Boden durch die Kleintempel in Kassope, Loutsa und Demetrias durchaus vorbereitet war. Der Grund ür die mangelnde Durchsetzungsähigkeit mag darin erkannt werden, dass zur auctoritas eines Bauwerkes24 nicht nur Säulen, sondern auch die ihnen gemäße Dimensionierung gehört, während ein Missverhältnis zwischen beiden schnell obskur wirkt. Dagegen bot der Prostylos aufgrund seiner übergiebelten Front, auch unter Berücksichtigung noch weiterer Gesichtspunkte25, einen zukunsweisenden Ersatz ür den monumentalen Peripteros. Sollte diese Sicht zutreffend sein, dann muss also in Kleinasien die Wurzel eines weiteren Traditionsstranges zu finden sein. Möglicherweise ührt der Zeus-Tempel in Labraunda weiter: Hier findet sich in Kleinasien erstmals ein Peripteraltempel mit nur 6 × 8 Säulen und bescheidenen Dimensionen. Dies ist umso verwunderlicher, als er zeitlich eher vor den peripteralen Kleintempeln in Griechenland als gleichzeitig mit ihnen anzusetzen ist: Während der früheste muerländische Tempel in Kassope keinesfalls vor der Stadtgründung in der Mie des 4. Jahrhunderts v. Chr. stammen kann, wurde der Tempel in Labraunda sicher vor 344 v. Chr. eingeweiht. Die Bearbeiter des Zeus-Tempels ührten die ungewöhnliche Dimension auf einen Antentempel zurück, der auch die Cella des späteren Zeus-Tempels bildete und in einer Umbauphase nur von Säulen umgeben wurde26. Dies mag so gewesen sein, auch wenn die Argumente nicht völlig zu überzeugen vermögen, erklärt die erstaunliche Tatsache der geringen Dimensionierung des neuen Peripteros aber keineswegs. Ob es sich nun um einen Umbau oder einen Neubau gehandelt hat, immer muss die gedankliche Möglichkeit der kleinen Dimensionierung eines an sich monumentalen Bautypus bereits gegeben gewesen sein, ein bloßer planerischer ›Unfall‹ wird nicht anzunehmen sein. Auch die Beschränkung des Platzes in Labraunda ist nicht als Erklärung ausreichend, vielmehr konnte nur deswegen, weil es die Möglichkeit des peripteralen Naiskos schon gab, der zur Verügung stehende Platz auch mit einem solchen belegt werden und nicht nur mit einem neu gestalteten Antentempel oder Prostylos27. Sucht man nach einem geeigneten Traditionsstrang in der kleinasiatischen Architektur, der ebenfalls zum peripteralen Naiskos ührte, so liegt dieser möglicherweise in dem säulenumstandenen adrat- oder Rechteckbau. Hierbei handelt es sich um Bauten, die zunächst nicht als Tempel fungierten, ihn aber evozieren sollten. Dieser Bautypus tri zuerst in der Grabarchitektur auf und bleibt dort auch beheimatet, in der Forschung wird er zumeist als ›Mausoleumstypus‹ oder ›Turmgrab‹ bezeichnet28, wobei ersteres auf seinen prominentesten Vertreter verweist. Die Mitglieder der Gruppe dieser Grabmäler zeichnen sich dadurch aus, dass auf einen Sockel ein säulenumstandener, kurzrechteckigen Bau steht. Weitere typologische Eingrenzungen sind schwer zu finden, zu unterschiedlich sind die lokalen Variationen, aber auch die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten der Bauherren29. Allenfalls ist in unserem Zusammenhang interessant, dass diese 24 Vitr. 3, 3, 9: »Pteromatos enim ratio et columnarum circum aedem dispositio ideo est inventa, ut aspectus propter

asperitatem intercolumnariorum habeat auctoritatem, praeterea, si ex imbrium aquae vis occupaverit et intercluserit hominum multitudinem, ut habeat in aede circaque cellam cum laxamento liberam moram.« 25 Hierzu zählt vor allem die Fähigkeit des Prostylos, durch seinen gerichteten Baukörper Bezüge zu seiner Um-

gebung aufzunehmen und damit die Autonomie des peripteralen Baukörpers zu durchbrechen. 26 Hellström – ieme 1982, 40–43. 27 Dagegen Hornblower 1982, 310 f.: »[…] but at Labraunda there are striking barbarisms of detail, for instance

the almost square plan of the Ionic peripteral temple […]«. 28 vgl. Lauter 1986, 214–218. 29 Vgl. dazu beispielha die kurzen, aber treffenden Bemerkungen von Ganzert 1984, 173 f.

Der Markempel in Demetrias und die Gruppe der ›peripteralen Kleintempel‹

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Grabbauten sowohl peripterale30 als auch pseudoperipterale31 Auauten umfassen. Das Mausoleum von Halikarnassos mit 9 × 11 Säulen32 ist weder der erste Vertreter dieses Typus, erinnert sei nur an das Nereidenmonument in Xanthos, das als Cella einen Doppelantenbau mit 4 × 6 peripteralen Säulen besitzt33, noch aufgrund seiner Größe und Monumentalität typisch, doch ermöglicht es vielleicht eine Verbindung zu dem Tempel in Labraunda. Der Tempel in Labraunda ist nicht nur der erste unter den kleinasiatischen peripteralen Naiskoi, sondern auch einer der wenigen Tempel, die in Kleinasien in dieser Zeit überhaupt errichtet wurden. Eine Inschri nennt Idrieus, Sohn des Hekatomnos aus Mylasa als Stier, also den karischen Satrapen (351–344) und jüngeren Bruder des Mausolos (377–353 v. Chr.). Möglicherweise ist in der monumentalen Ausgestaltung des Typus des Turmgrabes in der neuen Hauptstadt von Karien, Halikarnassos, die entscheidende Anregung geschaffen worden, ihn nun auch erstmals am Tempel von Labraunda einzusetzen. Außerdem sei daran erinnert, dass auch der Augustus-Tempel in Mylasa in der alten hekatomnidischen Hauptstadt errichtet wurde. Diese lokale Tradition könnte die (bescheidene) Verbreitung peripteraler Naiskoi in Kleinasien geördert haben. Hier werden sie immerhin bis in die Kaiserzeit errichtet, wie der römische Peripteros auf Samos, der als baldachinartiger Bau zur Auewahrung des Kultbildes diente, und der antoninische Tempel C in Kos34 mit 6 × 9 Säulen zeigen. In Griechenland konnten peripterale Naiskoi dagegen im Hellenismus nicht Fuß fassen, der Tempel in Kourno blieb ein später Sonderfall35, während der Tempel im Herakleion von asos, ganz ähnlich dem Zeus-Tempel in Labraunda, um den bestehenden Sekos herum errichtet wurde. Ebenso wurden auch die ausgeprägten Kurztempel im Muerland nicht weiter errichtet. Allerdings wurde der Typus des peripteralen Naiskos in der Kaiserzeit auch in Griechenland mindestens zweimal verwendet: Ein Grabtempel bei Karystos36 (7 × 7 Säulen) und der Kronos-RheaTempel (6 × 9 Säulen) in Athen, beide aus der Mie des 2. Jahrhunderts n. Chr. Ob dies genügt, um von einer weiteren Verbreitung des Typus in der Kaiserzeit auszugehen, muss jedoch bezweifelt werden, es scheint sich eher um Einzelälle zu handeln, wobei sich der Grabtempel in Karystos in die Tradition der Turmgräber stellt.

30 Beispiele peripteraler Vertreter des Mausoleumstypus sind die Mausoleen von Belevi (8 × 8 Säulen;

290–270 v. Chr. Hoepfner 1993; Praschniker – euer 1979; Rumscheid 1994, Kat. 28) und Ta Marmara (6 × 6 bzw. 4 Säulen; 2. Jh. v. Chr.; Wiegand 1902, 149 f.). 31 Beispiele pseudoperipteraler Vetreter des Mausoleumstypus sind das Löwengrab in Knidos (4. Jh. v. Chr.; Lit.

bei Rumscheid 1994, Kat. 92) und das Kenotaph ür Gaius Caesar in Limyra (nach 4 n. Chr.: Ganzert 1984); vgl. auch Büsing 1970, Abb. 29–33. 32 Als Verweis sollen genügen: Rekonstruktion des Ausgräbers Jeppesen 2002 und Gegenvorschlag von Hoepfner

– Kose 2002. 33 Coupel – Demargne 1969; Bommelaer 1986. 34 Fundament 10,30 × 15,47 m; Schazmann 1932, 42–48 Taf. 23. 35 Freilich bleibt hier Bedarf ür Diskussionen, die aber wohl durch die schmale ellenlage behindert werden.

Ein Zweifel sei allerdings vorweggenommen: Wie können die durch die Translation des Typus verursachten sepulchralen Konnotationen im Sakralbau verstanden werden? – beide Sphären sind normalerweise scharf voneinander getrennt. Möglicherweise traten bei den Dynastengräbern die sepulchralen Konnotationen gegenüber den dynastischen in den Hintergrund, so dass die Übertragung auf Tempel des Göervaters oder des römischen Herrschers möglich wurden? 36 Goee 1994.

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Der Markempel in Demetrias und die Gruppe der ›peripteralen Kleintempel‹

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Die Westanlagen des Heiligtums von Yria auf Naxos∗ Aenne Ohnesorg

Bei der Ausgrabung des Heiligtums von Yria auf Naxos, die von 1986 bis 1999 stafand, kam ein Temenos mit vier in- und übereinanderliegenden Tempeln, die zwischen dem frühen 8. Jh. und dem mileren 6. Jh. v. Chr. errichtet wurden, zutage1 (Taf. 30). Im Laufe der Arbeiten wurde auch der westliche Zugang mit weiteren baulichen Anlagen freigelegt. Er bildete die günstigste Verbindung des Heiligtums zur 3 km entfernten Stadt, die vermutlich in einer Heiligen Straße bestand (Taf. 29). Sie verlief weitgehend eben durch eine Schwemmebene und ist dadurch insbesondere mit der Heiligen Straße vergleichbar, die die antike Stadt Samos »in fast schnurgeradem Verlauf« mit dem dortigen Heraion verband (knapp 7 km)2.

Topographie und Geologie Die Geschichte der »Westanlagen« von Yria ist eng mit der des ganzen Heiligtums verknüp, das in seiner Frühzeit vom Wasser geprägt war. Es liegt an der Westküste der Insel Naxos im Zentrum der etwa 20 km² großen Schwemmebene von Livadi(a) (Taf. 29). Nach Westen öffnet sich die Ebene zum Meer mit einem Hafen3, nach Norden wird sie von der antiken und modernen Hauptstadt Naxos begrenzt, nach Osten und Süden wird sie im Halbkreis von Granithügeln4 umschlossen. Das fruchtbare Ackerland diente bis ins 20. Jahrhundert hauptsächlich dem Weinanbau. So ist es nicht verwunderlich, dass das Heiligtum in der Antike dem Weingo Dionysos geweiht war5. Die Sumpf- und Flusslandscha des Heiligtums ließ sich durch Geländeschnie näherungsweise rekonstruieren (Taf. 29). Im Westen floss seit spätmykenischer Zeit der ›Westfluss‹ geradlinig von Süden nach Norden; im Südosten schlängelte sich ein weiterer Fluss um die ›Tempel-Insel‹, der sich wahrscheinlich nördlich des Heiligtums mit dem Westfluss vereinigte; gemeinsam entwässerten sie dann Richtung Nordwesten und Hafenbucht. Beide Flüsse konnten ∗ Die Grundlage dieses Beitrags bilden Ergebnisse der von V. Lambrinoudakis (Universität Athen) und G. Gru-

ben (Technische Universität München) geleiteten Grabungen in Yria. Sie sollen in ausührlicher Form in einer Publikationsreihe des DAI vorgelegt werden. 1 Lambrinoudakis u. a. 1987; Lambrinoudakis u. a. 1988; Gruben 1988; Gruben 1990; Gruben 1991; Lambrinoudakis

1991; Gruben 1991; Gruben 1991/92; Lambrinoudakis 1992; Gruben 1997; Ohnesorg 2005a. – Die Vorlage ür Taf. 31 wird M. Lambertz verdankt; sie wurde von diesem langjährigen Mitarbeiter der Yria-Grabung in enger Absprache mit G. Gruben erarbeitet. 2 Kyrieleis 1981, 9; Kyrieleis 1993, 103 f. – Zusammenfassend Hellmann 2006, 208-211. 3 Der seit dem frühen Miealter nachgewiesene Hafen existierte zweifelsohne bereits in der Antike. 4 Es handelt sich, soweit bisher untersucht, um Granodiorit, der in runden Formen verwiert. Dieses Gestein

bildet das überwiegende Baumaterial des Heiligtums von geometrischer bis in byzantinische Zeit; Spuren seines antiken Abbaus sind am Südrand der Ebene und westlich der Hafenbucht zu finden: Kanellopoulos 1988. 5 Ausührlich Lambrinoudakis u. a. 1987, 608–614; Lambrinoudakis u. a. 1988, 169–171.

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im Bereich des Heiligtums mit einer Furt überquert werden. Überall im Heiligtum wurde eine ›limnische Schicht‹ beobachtet, die durch eine große Überschwemmung des Heiligtums und der gesamten Ebene entstanden war und durch Beifunde auf die Zeit um 700 datiert werden konnte6.

Das Zentrum des Heiligtums mit den Tempeln Ein erstes Heiligtum entstand in (spät-)mykenischer Zeit auf einer Insel innerhalb dieser Sumpflandscha. Das Haupt-Relikt war ein ›Libationsbecken‹ aus Gneis unmielbar unter den geometrischen Opferstäen. Eine Rinne im Becken weist nach Süden. Diese Richtung und die Lage zwischen den Flussarmen blieben ür die geometrische und archaische Zeit verbindlich. An derselben Stelle wurde im frühen 8. Jh. v. Chr. Tempel I errichtet7. Er war eine einfache ›Kiste‹ von ca. 5 × 10 m mit einer Tür auf der Süd(!)-Seite und drei Innenstützen ür das flache Erddach. Die Wände bestanden, über einem Steinsockel, aus Lehmziegeln wohl mit hölzerner Armierung. Tempel I hae im Inneren eine Feuerstelle (Eschara), über der Stelle des alten, mykenischen Kultzentrums. Ein zweiter, größerer Opferplatz existierte vor der Front des Tempels, am Südrand der ›Insel‹. Tempel II, der nach der Mie des 8. Jhs. v. Chr. entstand, sah von außen nicht sehr viel anders aus, war aber mit ca. 11 × 15 m fast viermal so groß8. Sein Innenraum war in vier Schiffe unterteilt, nachzuweisen durch drei Reihen von plaenörmigen marmornen Säulenbasen, von denen sich zwölf – der ursprünglich 15 – erhalten haben. Eine Eschara befand sich an etwa derselben Stelle wie die erste. Entlang der Wände lief eine Bank ür die Teilnehmer an den kultischen Ritualen, die im Gebäude abgehalten wurden. Tempel III, der in das frühe 7. Jh. v. Chr. datiert, bezeichnet einen weiteren, bedeutenden Entwicklungsschri9. Der Bau übernimmt zwar teilweise die Außenwände von Tempel II, wurde aber im Inneren auf die kanonischen drei Schiffe reduziert, wobei das Mielschiff schmaler als die seitlichen Schiffe ist. Die nun ausgeprägten marmornen Säulenbasen trugen hölzerne Säulen 6 Diese katastrophale Überschwemmung verwandelte das ganze Temenos – mindestens ein Jahr lang! – in einen

stehenden See; danach hat man offenbar durch Regulierungen das Gelände zurückgewonnen. Bei der Untersuchung der Schwemm- und Flussschichten stand uns der Geologe Prof. Dr. Chr. Hemleben, Universität Tübingen, zur Seite. 7 Die durch die vier Tempel I bis IV bezeichneten Bauphasen (erste und zweite geometrische, früharchaische und

archaische Epoche) und die darauffolgenden Phasen IV a (spätarchaisch) und V (kaiserzeitlich) werden auch ür die Westanlagen verwendet, wo es allerdings die Phase I nicht gibt; vgl. Gruben 1991, Abb. 5 (= Gruben 2007, Abb. 144, nicht farbig); Gruben 1991/92, Abb. 38. − Grundriss des Tempels I: Gruben 1991, Abb. 1 (= Gruben 2007, 227 Abb. 145); Ohnesorg 2005b, Abb. 7; Innenperspektive des Tempels I (Zeichnung M. Korres): Gruben 1994, Abb. 6; Gruben 1997, Abb. 2 a (= Gruben 2007, Abb. 35); Gruben 2001, Abb. 283; Außenperspektive des Tempels I (Zeichnung M. Korres): Ohnesorg 2005a, Abb. 1. 8 Grundriss des Tempels II: Gruben 1991, Abb. 2 (= Gruben 2007, Abb. 146); Ohnesorg 2005b, Abb. 7; Innenper-

spektive des Tempels II: Gruben 1994, Abb. 6: Gruben 1997, Abb. 2 a (= Gruben 2007, Abb. 35); Gruben 2001, Abb. 283; Außenperspektive des Tempels II: Ohnesorg 2005a, Abb. 1. 9 Die erste Außenperspektive mit nur zwei Gebälkzonen (Lambrinoudakis 1996, 59 Abb. 7, Zeichnung I. Ring)

wurde verbessert in eine mit drei Gebälkzonen: (Lambrinoudakis 1996, 57 Abb. 5, Zeichnung M. Korres); Gruben 1997, Abb. 2 b oben = Gruben 2001, Abb. 284 oben = Ohnesorg 2005a, Abb. 1; das Friesfragment in Lambrinoudakis 1996, 58 Abb. 6 und Gruben 2001, 377 Abb. 284 unten (Zeichnung E. Simantoni-Bournia). − Grundriss des Tempels III: Gruben 1991, Abb. 3 (= Gruben 2007, Abb. 148); Gruben 1991/92, Abb. 39; Ohnesorg 2005b, Abb. 7; Innenperspektive des Tempels III: Gruben 1994, Abb. 6; Gruben 1997, Abb. 2 a (= Gruben 2007, Abb. 35); Gruben 2001, Abb. 283.

Die Westanlagen des Heiligtums von Yria auf Naxos

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mit vielleicht schon einfachen ionischen Kapitellen. Am erstaunlichsten ist die prostyle Front, eine der ersten der griechisch-antiken Welt. Deren Gebälk war vermutlich mit einem figürlichen Terrakoafries dekoriert. Über der inneren Eschara, jetzt in der Mielachse des Tempels, lag wahrscheinlich eine Laterne. Mit Tempel IV wurde dann, kurz vor der Mie des 6. Jhs. v. Chr., monumentales Format erreicht (Taf. 30). Er umschloss mit seinen ca. 13 m × 29 m die älteren Bauten. Abgesehen von den Seitenwänden und der Rückwand aus Granit und von Decke und Dachstuhl aus Holz bestand der ganze Bau aus Marmor: die Prostase mit ihren vier kanonisierten ionischen Säulen, die Frontwand mit der ersten typisch kykladischen Tür mit monolithen Laibungen10, die Innensäulen, die unfertig blieben, und nicht zuletzt die Dachdeckung11.

Die Westanlagen Über 40 m westlich des Kultzentrums verläu der erwähnte ›Westfluss‹. In seinem 4,5–5 m breiten Be wurde eine prähistorische Schwemmschicht entdeckt. Die mykenische Epoche ist durch den Fund einer Wanne am Ostufer gesichert, die wahrscheinlich als Pferde-Tränke – in der Nähe der Furt – diente. Das sind dort die ältesten Spuren menschlichen Wirkens. Auch noch zur Zeit des Tempels I war das Zentrum des Heiligtums nur über Furten zu erreichen. Erst etwa eine Generation nach Errichtung des Tempels II wurde eine erste, spätgeometrische Brücke angelegt (Taf. 31f.). Sie bestand aus zwei Mauerscheiben von 50–60 cm Stärke, die am Rand des Flussbes errichtet wurden. Ihr (lichter) Abstand betrug nur ca. 2 m, so dass der Flusslauf stark eingeengt wurde und dadurch eine größere Fließgeschwindigkeit bekam. Die Mauern wurden mit großen Steinplaen aus Gneis und Marmor überdeckt, von denen einige noch fast in situ, andere in Sturzlage, im ehemaligen Flussbe, liegen. Die Breite der Brücke (ca. 5 m) ergibt sich durch die östliche Mauerscheibe, die noch fast vollständig erhalten ist. Spuren von der Herrichtung ür Balkenauflager auf dieser Mauer lassen eine Unterkonstruktion aus einfachen Holzbohlen erschließen12. Die zugehörige Straße ist auf dem gleichen Niveau zu vermuten. Auf dieser ungewöhnlich breiten ›Plaform‹ änden zwei Gespanne, wie sie auf dem Tonfries des Tempels III dargestellt sind, leicht nebeneinander Platz (Taf. 31). Die Brückenmauern schneiden die ›limnische Schicht‹(s. o.), folglich wurden sie wohl unmielbar danach, am Anfang des 7. Jhs., erbaut, vielleicht in Zusammenhang mit der Wiederherstellung des Heiligtums nach der Überschwemmung. Die Brücke stürzte einige Jahre oder Jahrzehnte später ein oder wurde aufgegeben. Der Fluss wurde durch zwei quer ins Flussbe gestellte Flankenmauern aus Granit und Marmor abgeriegelt, mit Schu und Erde aufgeüllt und wahrscheinlich nach Westen umgeleitet. Beide etwa in WestOst-Richtung laufende Mauern sind noch in vollständiger Länge von ca. 5,50 m erhalten. Diese 10 Gruben 1972, 15 f.; Büsing-Kolbe 1978. – Zur Türwand auch: Lambertz 2001. 11 Grundriss des Tempels IV: Lambrinoudakis u. a. 1988, Zeichnung 2; Gruben 1990, Abb. 5 (= Gruben 2007,

Abb. 133); Innenperspektive des Tempels IV: Gruben 1990, Abb. 4 (= Gruben 2007, Abb. 132); Gruben 1991, Taf. 17, 1; Gruben 1991/92, Abb. 41; Gruben 1994, Abb. 7 (= Gruben 2007, Abb. 35); Gruben 1997, Abb. 2 a; Gruben 2001, Abb. 283; Ohnesorg 2005b, 9–12 mit Abb. 7; Außenperspektive des Tempels IV: Gruben 1990, Abb. 3; Gruben 1991, Taf. 16, 3; Gruben 1991/92, Abb. 40; Gruben 1994, Abb. 8; Gruben 1997, Abb. 2 b unten; Gruben 2001, Abb. 284 (= Gruben 2007, Abb. 54). 12 Vgl. die Brücke beim Wesor von Eretria: Ducrey u. a. 2004, 177–185, nach Krause 1972, bes. 34–36: die Brücke

des mileren 6. Jhs. – nach Krause erst 5. Jh. –, die (wie in Yria) eine Furt ersetzte, sei aus Holz gewesen; um 500 v. Chr. ist sie durch eine 6,9 m lange Brücke auf neun Steinpfeilern ersetzt worden, die alle, wenigstens in Resten, gefunden wurden.

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Mauern flankierten das erste, früharchaische Propylon, das man sich als ein einfaches Holztor vorzustellen hat (Taf. 31f.). Seine Breite ergibt sich aus dem lichten Abstand der Mauern von ca. 5,20 m. Seine Schwelle, die durch eine Raubgrube nachzuweisen ist, befindet sich genau zwischen dem Ostende der marmornen ›Randsteine‹, die in spätarchaischer Zeit vor die Flankenmauern des Propylon gesetzt wurden, und der West-Flucht der drei kaiserzeitlichen Torpfosten-Basen aus Poros (s. u.). Der Boden des Propylon bestand wenigstens im Bereich der ehemaligen Brücke aus kleineren Marmor- und Gneisplaen, die über die Auüllung gelegt wurden. Der Marmorspli westlich und östlich davon, der auf demselben Niveau lag, bildete die Straße. Das Propylon ist auf den ›Altarplatz‹ vor dem Tempel ausgerichtet. Seine Errichtung ist in die 1. Häle des 7. Jhs. v. Chr. zu datieren (Bauphase III). Unmielbar auf dem Plaenbelag des Propylon, südwestlich vom mileren Poros-Angelstein der römischen Propylon-Phase, wurde eine Feuerstelle (pyra) aufgedeckt, die knapp 2 m Durchmesser hat. Eine solche Brandopferstelle kann nicht lange bestanden haben, denn sie behinderte den Verkehr. Sie ist wohl mit einem einmaligen Festessen bei der Gründung oder der ›Einweihung‹ des Propylon zu erklären. Bald nach Errichtung des ersten Propylon wurden weitere Baumaßnahmen ergriffen, die der Konsolidierung der Anlage dienten (u. a. zwei ›Stützstufen‹ an der Südmauer des Propylon). Ebenfalls noch in der Nutzungszeit des ersten Propylon wurden nördlich davon, auf dem aufgeüllten Flussbe, Feuerstellen (pyres) und Speiseplätze angelegt; sie sind in vielen Schichten übereinander, auf einer Höhe von 65 cm, erhalten. Über diesen Feuer- und Speiseplätzen errichtete man zwei Räume, das erste, früharchaische Hestiatorion (Bauphase III a)13. Der südliche Raum hae im Westen einen halbkreisörmigen Abschluss; der südlichste Stein dieser ›Apsis‹ ist in die Nordmauer des Propylon eingeklinkt. Auch Bodenplaen des Apsidenraums reichen bis über die nördliche Propylonmauer. Der nördliche Raum ist rechteckig. In ihm sind noch Reste des weißen Fußboden-Estrichs erhalten. Dieses Niveau ist gleichzeitig der ›Bauhorizont‹ ür den Apsidenraum, der flach bzw. gar nicht fundamentiert ist. Darunter befindet sich eine Schicht mit Asche und Knochen, wohl Opferschu, die vielleicht zur Heiligung des Bodens ausgebreitet wurde. Im Rechteckraum ist ein bewegter Schichtenverlauf mit Gruben und Mulden zu beobachten; in einigen von ihnen könnten Pithoi gestanden haben. Das West-Ende des Apsidenraums ist durch eine in diversen Schnien beobachtete scharfe Westgrenze der ›limnischen Schicht‹ zu erkennen. Rötlicher Lehm in einem Graben westlich davon könnte von Lehmziegel-Resten des aufgehenden Mauerwerks stammen. Beide Räume des ›Apsisbaus‹ haen offenbar keine Mauern im Osten. Bei dem großen Abstand der Wände in Nord-Süd-Richtung, der beim Rechteckraum ca. 4,70 m, beim Apsidenraum immerhin ca. 2,80 m beträgt, sind Stützen erforderlich: es wurden eine Säule in der Front des Apsidenraums und zwei in der Front des Rechteckraums angenommen (Taf. 31)14; der Schichtbefund an diesen Stellen widerspricht dieser Rekonstruktion nicht. Die Datierung um 630/20 v. Chr. ist durch Keramikfunde gegeben. Südlich der ersten Propylonmauer und östlich der ›Stützstufen‹ beginnt eine Mauer (»Spliermauer«), die wir über etwa ²⁄₃ der Breite des Südraums des spätarchaischen Westbaus und südlich dessen Südwand fassen konnten (Taf. 31. 32). Durch ihre Lage ist sie als der südlich des Propylon liegende Teil der Temenosmauer (III a) zu verstehen. Im und beim Westbau besteht sie großenteils aus Marmorabschlägen. Auf dem im Durchschni 60 cm breiten Steinsockel könnte eine 13 vgl. Anm. 7; mit ›Phase IIIa‹ wird eine Zwischenperiode in der 2. Häle des 7. Jhs. v. Chr. bezeichnet. – Ver-

gleichbar sind die archaischen Reste unter dem Herakleion von asos, die Bergquist 1998, 57 als Speiseeinrichtungen interpretiert, die im Laufe der Geschichte des Heiligtums anwachsen. 14 Die Front des ›Apsisbaus‹ auch angedeutet in Gruben 1997, Abb. 2 b oben = Gruben 2001, Abb. 284 oben.

Die Westanlagen des Heiligtums von Yria auf Naxos

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Lehmziegelwand gelegen haben. Der nördliche Teil der Temenosmauer wurde in dem Mauerzug erkannt, der nördlich an den Nordraum des Apsisbaus anschließt. Er ist im Westen vom Flussbe flankiert und verläu in weniger als 1 m Abstand genau parallel zur jüngeren Westmauer des Temenos V. Er ließ sich über deren Nordwest-Ecke hinaus auf eine Länge von 40 m verfolgen (Taf. 32). Obwohl der südliche Teil mit 2 bis ca. 4 m einen deutlich größeren Abstand von der Ostmauer des Südraums bzw. der Temenosmauer V hat, gehören die beiden Mauerzüge zusammen. Als chronologisches Indiz gibt es einzig die Beobachtung, dass die Temenosmauer III a samt Bauund Raubgrube die ›limnische Schicht‹ schneidet, also nach ca. 700 v. Chr. erbaut sein muss. Sie schließt so sauber an den früharchaischen Apsisbau und das beibehaltene, etwas ältere Propylon an, dass sie wahrscheinlich gleichzeitig mit dem Apsisbau, um 630/20 v. Chr., als früharchaische Temenosbegrenzung im Westen, errichtet wurde. Noch in der Nutzungszeit des früharchaischen Propylon wurden auf seiner Innenseite, parallel zu den Flankenmauern, marmorne ›Randsteine‹, offenbar zu deren Schutz, verlegt (Taf. 32). Sie bestehen aus halbierten, unbenutzten Flachziegeln und einem unvollständigen Deckziegel des archaischen Tempels, wurden also um die Mie des 6. Jhs. hergestellt15. Da sie aber z. T. unter die Mauern des spätarchaischen Westbaus (s. das Folgende) reichen, ist ihre Verwendung zwischen diesen beiden Bauten zu datieren, ins 3. Viertel des 6. Jhs. v. Chr. (Bauphase IV). Als nächstes wurde das Hestiatorion zum spätarchaischen Westbau (IV a) mit Vorhalle, Propylon und zugehöriger Straße umgestaltet. Nördlich und südlich des früharchaischen Propylon III und mit jeweils einer Wand auf seinen Flankenmauern wurden zwei große quadratische Räume errichtet; der nördliche legt sich über den früharchaischen Apsisbau III a, der südliche überbaut einen Teil der Temenosmauer III a und die ›Stützstufen‹ ür die südliche Flankenmauer III. Von den Außenmauern sind nur mehr die Fundamente aus Granit und Marmor erhalten, die in gleicher Flucht vom kaiserzeitlichen Nachfolger überbaut wurden (s. u.). Die Mauerstärke kann mit 70 cm rekonstruiert werden, die lichten Weiten in Nord-Süd-Richtung betragen ca. 6,20 m, in West-OstRichtung beim Südraum 6,32 m, beim Nordraum 6,48 m (Taf. 32)16. Die Tür des Südraums liegt etwas außermiig in der Ostwand, was in der Anordnung von Klinen begründet ist, von denen sich zwei Klinenbasen erhalten haben. Es lassen sich elf Klinen rekonstruieren (Taf. 31)17. Im Inneren des Südraums, über dem ›Unterboden‹, liegen noch drei der ursprünglich vier Säulenbasen18. Sie sind nicht fundamentiert, sondern einfach auf das Erdreich gestellt, genauso wie die Basen der Tempel einschließlich des Tempels IV19. Die kleineren und viel weniger belasteten Basen des Westbaus senkten sich aber nur um wenige Zentimeter. Sie haben eine quadratische, z. T. abgeschlagene ›Plinthe‹ von 10–15 cm Höhe mit groberer Bosse an der Außenseite und darüber einen Zylinder von 51–55 cm Durchmesser und 6–9 cm Höhe. Darauf liegt die noch einmal ca. 1 cm hohe kreisörmige und gut ebene Standfläche von 25–27 cm Durchmesser, mit deutlichem Zirkelloch. Die Basen wurden mit dem (mielfeinen) 15 Abbildung in Gruben 1991 Taf. 17, 2. 16 Der Bau wurde bei Gruben 1997, 394. 397 Abb. 70 bereits summarisch vorgestellt. ›Phase IVa‹ bezeichnet das

späte 6. und frühe 5. Jh. v. Chr. 17 Goldstein 1978, 356 (»couch dimensiones«); Bookidis 1993, 58 f. Tab. 3. 1 (Klinenlängen 1,45–2,27 m, häufig

1,65 m: Heiligtum von Demeter und Kore in Korinth). Die Möblierung hat man sich in etwa so vorzustellen wie auf der bekannten Rekonstruktion eines Klinenraums der Süd-Stoa in Athen von P. de Jong, die erstmals in ompson 1954, 44 Abb. 4, veröffentlicht wurde; danach u. a. Camp 1990, 171 Abb. 115. Eine weitere ähnliche Rekonstruktion (Aquarell wohl von Berard Reymond) in: Ducrey u. a. 2004, 101. 18 Foto der einen bei Gruben 1997, 297 Abb. 70 b. 19 Gruben 1988.

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Spitzeisen bearbeitet, stellenweise auch mit dem Flacheisen, aber nirgends mit dem Zahneisen, was ihnen ein archaisches Gepräge verleiht20. Der zugehörige Boden lag am Übergang zur feiner gespitzten eigentlichen Rundbasis. Keramik in und auf diesem Boden liefert einen DatierungsSpielraum von ca. 600 v. Chr. bis ins 5./4. Jh. Es ist jedoch anzunehmen, dass die relativ wenigen klassischen Scherben bei Reinigung oder Ausbesserung in Löcher des Bodens geraten sind. Auch während der hellenistischen Restaurierung (s. u.), wurde der Boden teilweise erneuert. Typologisch ist der Bau, ausgehend hauptsächlich von den Basen, früher anzusetzen als im 5./4. Jh., u. E. im späten 6. Jh. v. Chr. Vom Inneren des Nordraums ist sehr wenig aus der archaischen Phase erhalten, z. B. keine Spur mehr von den Basen ür die Innensäulen. Eine in der Nähe gefundene, den Basen des Südraums ähnliche Säulenbasis gehört wahrscheinlich wegen ihrer geringeren Größe zu einer der drei Frontstützen des früharchaischen Hestiatorion, bei dem Holzsäulen mit 20 cm unterem Durchmesser zu vertreten sind21. Vor der Ostwand des Nordraums wurde eine Klinenbasis gefunden, allerdings ohne stratigraphischen Zusammenhang. Gleich nördlich davon muss die Tür gelegen haben, wieder leicht außermiig wegen der Klinen (Taf. 31). In der Südwestecke ist, auf dem gleichen Niveau wie im Südraum, ein kleiner Rest des »archaischen« Fußbodens stehengeblieben. Die im Südraum erhaltenen drei der ehemals vier marmornen Basen von Innensäulen haben in Nord-Süd-Richtung einen etwas größeren Abstand (2,85 m) als in West-Ost-Richtung (2,37 m). Die Hauptbalken lagen folglich in West-Ost-Richtung und waren eventuell über den Säulen gestoßen; die ür eine Laternen-Konstruktion notwendigen Nord-Süd-Balken lagen dann darüber. Mit dem durch die Standflächen bekannten unteren Durchmesser (uDm) von 25–27 cm kommen nur hölzerne Säulenschäe in Frage, was erklärt, warum nichts davon übrig ist. Proportionen von Holzsäulen sind naturgemäß nicht bekannt. Als Anhalt können die besonders dünnen und schlanken marmornen Innensäulen des Naxieroikos (uDm ≤ 39 cm) und die Säulen der Naxierstoa (uDm ca. 34,8 cm) in Delos dienen. Die zugehörigen Säulen sind 13,322 bzw. knapp 9 uDm23 hoch. Die hölzernen Innensäulen des Westbaus waren also mindestens 10 uDm hoch, d. h. ≥ 2,50 m (Taf. 31). Es sind keine archaischen Dachziegel-Fragmente gefunden worden, weder tönerne noch gar marmorne, sondern nur hellenistische Tondachziegel. Das ührt zu der Vermutung, dass die Räume des spätarchaischen Hestiatorion flachgedeckt und mit einer flachen Laterne versehen waren24, ähnlich der Laterne über der Eschara von Tempel II. 20 Das Zahneisen wurde gegen die Mie des 6. Jh. v. Chr.»inventé sans doute par les tailleurs de pierre des Cy-

clades«: Hansen 2000, 206 mit Abb. 11; Daux-Hansen 1987, 223 Anm. 1 (»les plus anciennes traces connues de ciseau à dents … 560 av. J. C.«); Lambrinoudakis u. a. 1987, 606; Lambrinoudakis u. a. 1988, 168; Gruben 1997, 338 vor Anm. 204 und Anm. 206 (Bezug auf den »wahrscheinlich parischen« Sphinxkopf in München); Ohnesorg 2007, 128 Anm. 824, mit weiterer Literatur. – Zur Form vgl. die Basis des Hexagon-Baus in Delos: Gruben 1997, 392 f. mit Abb. 70. 21 Derartige Säulenbasen sind offenbar in der ganzen Archaik wenig verändert: Die Innensäulen-Basen des Tem-

pels III, sicher ins frühere 7. Jh. zu datieren, unterscheiden sich nicht wesentlich. – Die beschriebene kleinere Basis könnte auch von der archaischen Stoa vor dem Westbau stammen, wenn deren Existenz besser gesichert wäre, s. u. im Folgenden. 22 Kaster 1963 mit Abb. 47; Courbin 1980, 47–50; Ohnesorg 1993, 56 mit Anm. 571; Gruben 1994, 70 f. mit Anm. 26

und Abb. 18; s. a. Gruben 1991/92, 51. Gruben 1997, 344 (13,0–13,5 uDm). – Eine Höhe von 13(,3) uDm erreicht auch die milere der Innensäulen des Tempels von Sangri auf Naxos: Gruben 1994 wie vor; Lambrinoudakis u. a. 2002, 393. 23 Hellmann – Fraisse 1979, 102 f.: uDm 34,8 cm, SH ca. 3,11 m. 24 Angedeutet in Ohnesorg 2005a, Abb. 1.

Die Westanlagen des Heiligtums von Yria auf Naxos

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An den Westbau IV a schließt deutlich die zweitunterste Straße, die wir feststellen konnten, an. Ihr oberes Niveau, stellenweise mit Marmorspli, lässt sich z. T. nicht von dem der ersten Straße scheiden. Die stratigraphischen Befunde reichen bis ins 5. oder sogar 4. Jh. v. Chr., was sich durch die lange Funktionszeit erklären lässt. Von der ursprünglichen Bausubstanz des Propylon, das nun zwischen den zwei quadratischen Räumen lag, ist nicht viel erhalten. Sie wurde großteils in römischer Zeit ersetzt, aber weitgehend in denselben Formen, so dass eine Vorstellung vom Aussehen in spätarchaischer Zeit zu gewinnen ist (Taf. 31). Die lichte Breite zwischen den beiden Räumen beträgt knapp 5,50 m. Die genaue Lage des Tors ist durch die drei Porosbasen ür die Torpfosten gegeben, die zwar erst die kaiserzeitlichen Nachfolger sind, aber Vorgänger haen, wie die Beobachtung von Baugruben zeigte25. Die Lage der zugehörigen Schwelle könnte durch einige hochkant stehende Marmorplaen bezeichnet sein, die östlich der Pfostenbasen aus Poros quer über die Straße laufen. Wahrscheinlich auch schon in spätarchaischer Zeit (IV a) wurde dem Komplex aus Hestiatorion und Propylon auf der Ostseite eine Halle vorgelegt26, von der insgesamt zehn Stützenbasen verschiedenen Typs, Materials und wohl auch unterschiedlicher Zeitstellung erhalten blieben27. Drei marmorne Rundbasen sind archaische Spolien, des weiteren gibt es einen Marmorblock, Gneisplaen und Granit- und Porosblöcke. Die Stratigraphie von wenigstens zwei der Marmor-Basen würde einen Ansatz in der Zeit des Fußbodens IV a, d. h. des Hestiatorion IV a erlauben, wobei die Halle natürlich erst nach dessen Errichtung im späten 6. Jh. angelegt worden sein kann. Ihre Säulen bestanden wegen des auf der einen Marmorbasis eingeritzten Durchmessers von 25 cm aus Holz, das Gebälk wahrscheinlich ebenso. Darüber lag in der spätarchaischen Phase vermutlich ein Flachdach, genauso wie über Süd- und Nordraum des Hestiatorion; erst bei der hellenistischen Erneuerung erhielten alle Bauten geneigte Tondächer. Offenbar auch schon im späten 6. Jh. wurde eine neue westliche Temenosmauer angelegt; der zweite, kleinere Eingang im Nordwesten (›NW-Türe‹) ist anscheinend erst hellenistisch. Die vielen Dachziegel-Fragmente im Bereich des Westbaus wurden relativ hoch, also in späten Schichten, gefunden; sie zeugen von der hellenistischen Erneuerung des Westbaus. In dieser Zeit düre das spätarchaische Flachdach, das ür die erste Phase des Westbaus angenommen wurde, durch ein ›moderneres‹ geneigtes Ziegeldach ersetzt worden sein (Taf. 31). Dabei sind sowohl die nordöstliche als auch die nordwestliche Innensäulen-Basis des Südraums neu unterpackt worden. Die Datierung dieser hellenistischen Erneuerung hängt an der Datierung des Tondachs, besonders der Palmeen- und Gorgoneion-Antefixe, die in früh- bis hochhellenistische Zeit gesetzt werden können. Die Antefixe mit Palmeen könnten die Traufen beider Räume des Hestiatorion von Yria geschmückt haben, die mit Gorgoneia die Traufen der kleinen Walme über den Laternen von Südund Nord-Raum. In der Kaiserzeit erfolgte eine tiefgreifende ›Renovierung‹ des spätarchaischen Westbaus. Die ursprüngliche Bausubstanz des zwischen den zwei Räumen liegenden Propylon wurde großteils in römischer Zeit ersetzt, offenbar in denselben Formen, so dass eine Vorstellung vom Aussehen in 25 Lichte Breite der Durchfahrt zweimal ca. 1,80 m – immer noch ausreichend ür ein Fahrzeug, wie Beispiele aus

Athen und Sounion lehren: Gruben 1964 mit Übersichtsplan; Gruben 1969 mit Abb. 2; Dinsmoor 1971, 26–28 mit Abb. 26 Archaische bzw. frühklassische Hestiatoria mit Vorhalle sind z. B. in asos (Herakleion und Aliki) anzutreffen;

Börker 1983, 15, ordnet sie der »Pastas-Hausform« zu; S. 24 Abb. 7 möblierte Börker m. W. als erster (graphisch) die jeweiligen Nordräume des N- und des S-Gebäudes im Heiligtum von Aliki mit 15 bzw. 11 Klinen. 27 Vgl. Basen im Heraion I von Delos oder die eine Stützenbasis des Apollontempels von Dreros (Mazarakis-Ainian

1997, 183. 217 f. mit älterer Lit.).

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spätarchaischer Zeit zu gewinnen ist. Als Basen ür die Torpfosten wurden nun drei große Blöcke aus Poros verlegt, einem Material, das in Yria erst in der Kaiserzeit verwendet wurde28. Die spätarchaischen nördlichen Marmor-›Randsteine‹, die ein leichtes Geälle von 3,3 % nach Westen haen, wurden als Boden eines Kanals genutzt. Dessen Südseite wurde aus größeren Porosblöcken, die zugleich das Auflager ür nicht mehr existente Deckplaen bildeten, neu aufgemauert. Die Funktion des Kanals war vermutlich die Entwässerung des Dachs des Nordraums. Über den ›Randsteinen‹ auf der Süd-Seite liegen feste Straßenschichten; dort gab es also keinen Kanal. Die Entwässerung des Südraum-Dachs bleibt somit unklar. Ebenso wie das Propylon wurde auch das Hestiatorion in der Kaiserzeit über gleichem Grundriss beibehalten, nur repariert. Schließlich wurde auch die Halle, deren erste Bauphase wohl der Spätarchaik angehört, erneuert. Die unterschiedlichen Basen ür die Stützen der Halle, deren Achsabstand ≈ 2,30 m beträgt, wurden beibehalten. Im Bereich der Durchfahrt waren die Hallenflügel allerdings unterbrochen, weshalb besonders stabile Fundamente aus Poros29, die wohl Pfeiler sta Säulen trugen, angeordnet wurden. Deren Achsabstand betrug 6,30 m ± 10 cm; das Mieljoch war also mehr als doppelt breit. Eine milere Basis ist wegen intakter Straßenschichten ausgeschlossen (Taf. 32). Die Säulenstellung der Halle setzte sich wahrscheinlich nach Norden, parallel zur Temenosmauer, fort, mindestens bis zur ›Nordwest-Türe‹30. Kein Fragment der Pfeiler und Säulen oder gar des Gebälks wurde gefunden; Säulen und Gebälk könnten − wieder − aus Holz gewesen sein; als Deckung kommen eventuell einige der späten Fragmente von Ton-Stroteren und -kalypteren in Frage, die nicht ür die Rekonstruktion des Hestiatorion-Daches verwendet wurden. Die Straße, die zu dieser letzten großen Erneuerung gehört, wurde auf entsprechend höherem Niveau gefunden. Für diese Zeit der römischen Wiederherstellung des Westbaus (V) ist die vollständige, annähernd rechtwinklige Ummauerung des ganzen Heiligtums nachgewiesen. Ob gleichzeitig ein weiterer Eingang im Osten – oder/und gar im Süden – angelegt wurde, ist ungeklärt.

Typologie Für das sehr frühe Hestiatorion mit dem Apsisbau sind keine Analogien zu finden. Unsere Vorstellung über die darin stafindenen Gelage kann auch deshalb nur vage sein31. Der Brauch, derartige Räume mit Klinen auszustaen, ist »gegen Ende des 7. Jhs. aus dem Orient übernommen worden«32. Dazu mussten die Räume dann auch größer sein. In Yria fand diese ›Monumentalisierung‹ frühestens im späten 6. Jh. v. Chr. sta. Die dort gewählte Größe der beiden Räume von ca. 6,20 m × 6,40 m (± 8 cm), in die elf Klinen passen, ist offenbar verbreitet. Allerdings sind die ebenso großen und ebenfalls mit elf Klinen bestückten Bankeräume in den Asklepieia von Athen und Korinth und im Heiligtum von Brauron klassisch, die Bankeräume im Gymna28 Geologisch wird das Material »Kalksandstein« genannt. 29 Diese Poros-Basen ersetzten vermutlich ältere und kleinere spätarchaische Basen. 30 Die Schwelle dieser Nordwest-Türe ist auf Taf. 32 oben (zwischen den Schnien g und n4) zu erkennen. 31 Die Höhlen beim Apollonheiligtum von Isthmia mit Resten der Klinen können einen Eindruck von der Möblie-

rung unregelmäßig geformter Räume geben: Goldstein 1978, 210–222 mit Taf. 44–48 und älterer Lit. 32 Börker 1983, 12, nach Fehr 1971.

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sium von Epidauros und das ›Hestiatorion‹ von Perachora sogar erst hellenistisch33. In dieser Zeit bewältigte man die Überdeckung von (quadratischen) Räumen mit gut 6 m Seitenlänge ohne Innenstützen34. Auch noch viel größere Spannweiten, mit einer entsprechend höheren Zahl von Klinen, wurden offensichtlich stützenfrei überdeckt; das zeigen Beispiele wie der Bankesaal in der Pinakothek der Athener Propyläen von 437–432 v. Chr., in dem 17 Klinen rekonstruiert wurden35, oder die beiden größten Bankeräume in dem um 400 v. Chr. errichteten Pompeion von Athen, die je 15 Klinen enthielten36. Diese Größe wird noch übertroffen von Räumen ür »ca. 20«37 und »23 bis 25« Klinen38. In den Bankeräumen von Yria jedenfalls wurden vier Innensäulen eingeührt, auch, um die Laterne zu unterstützen39. Damit zu vergleichen sind insbesondere vier Bauten auf Delos, die ebenfalls Bankeräume enthielten – und bis auf dem kleinsten auch Innenstützen haen: der ›Hexagonbau‹ oder Deliōn Oikos (?, GD 44), der benachbarte Andriōn Oikos (?, GD 43), das Gebäude mit Peristylhof oder ›Hestiatorion (sic !) von Keos‹ (?, GD 48) und das ›Gebäude J‹. Für den um 530/20 v. Chr. datierten40 Hexagonbau (Nord-Oikos) mit den beträchtlichen Innenmaßen von 10,40 m × 9,86 m wurden plausibel vier Innenstützen rekonstruiert, von denen sich eine Basis erhalten hat, die den Basen des Westbaus von Yria ähnelt41. Der banachbarte Süd-Oikos wurde »wohl im letzten Viertel des 6. Jhs.« an den Hexagonbau angeügt, woür der Westflügel der Naxier-Stoa gekürzt wurde; er könnte, bei Innenmaßen von ca. 11,80 m × 10,50 m, auch vier Innenstützen gehabt haben42. Das schon früh(est)klassische Gebäude mit Peristylhof liegt nordöstlich der »Zwillingsbauten« und besteht aus zwei annähernd quadratischen ›Sälen‹ (Außenmaße 14,75 m × 12,70 m) seitlich eines ebenfalls quadratischen Innenhofs mit dorischem Peristyl von zwölf Säulen. In den ›Sälen‹ sind noch die Fundamente der je vier Innensäulen erhalten, von deren 33 Roux 1973, 538 (Perachora 6,32 × 6,32 m / elf Klinen; Asklepieion / Athen und Asklepieion / Korinth 6,30 ×

6,30 m / elf Klinen; Gymnasium Epidauros 6,33 × 6,36 m / elf Klinen?; Brauron 6,10 × 6,10 m / 11 Klinen). – Die drei Bankeräume des archaischen (!) ›Westgebäudes‹ im Heraion von Argos haben eine ähnliche Größe, haen aber zwölf Klinen (Börker 1983, 16 Abb. 10), der Mielraum alternativ elf (Goldstein 1978, 233–245, mit älterer Lit., dazu Taf. 55–66, bes. Taf. 58: Rekonstruktion von A. Frickenhaus); zusammenfassend Billot 1997, 34 mit Anm. 212–216, die die Zwölfer-Zahl mit Phratrien begründet. 34 Die Spannweite von 10,00 m machte im 5. Jh. keine Probleme – im Gegensatz zum 6. Jh., vgl. Gruben 1997, 392. 35 Der Raum misst ca. 8,60 m × ca. 10,0 m: Travlos 1971, 482 (außerhalb der Achse liegende Tür »…aus dem

rein praktischen Grund, dass auf diese Weise Klinen darin aufgestellt werden konnten … ähnlich wie in den Speiseräumen [Andrones] privater Häuser …«); 491 Abb. 618 f. 36 Hoepfner 1976, 55. 111 f. 118 und Taf. 30: größte Bankeräume 8,15 × 8,15 m, danach Travlos 1971, 477 f. mit

Abb. 602 oder Börker 1983, 31 Abb. 16 oder Gruben 1982, 671 Abb. 32. 37 Andron B ›des Maussolos‹ in Labraunda (377–353/2 v. Chr., gemäß Hellström 2011 in den 370er-Jahren), 9,91

× 11,08 m: Hellström 2007, 85–91, mit isometrischer Rekonstruktion, in der die Klinen entgegen der Regel symmetrisch, nicht »im Uhrzeigersinn« (Börker 1983, 12) angeordnet sind. 38 Gruben 1997, 394 (Zitat) und 396 (Abb. 69: 24 Klinen dargestellt). – Noch größer sind die Bankeräume im früh-

hellenistischen Palast von Vergina, mit bis zu 16 m Seitenlänge: Börker 1983, 17. 28 Abb. 12, nach Andronikos u. a. 1961, 24 f. 39 In dieser Hinsicht ähnlich ist ein – früharchaisches! – Haus in Onythe bei Rhethymnon auf Kreta, ür dessen ca.

5,0 × 6–8 m große Räume, über deren Funktion nichts auszusagen war, vier – und einmal sechs – Innenstützen gesichert sind: Hellmann 2010, 30 mit Abb. 20, nach Platon 1956 Abb. 1 (Ende 7. / Anfang 6. Jh.). 40 Gruben 1997, 384. 398 f. (»verlockende« Benennung als der überlieferte ›Oikos der Parier‹ ausgeschlossen; Da-

tierung in Anschluss an das Letoon, das einhellig um 540 datiert wird); in Bruneau – Ducat 2005, 206, Datierung »wahrscheinlich gegen 500 v. Chr.«. – Der Bau auch in Gruben 1982, 671 Abb. 32; Börker 1983, 27 Abb. 11. 41 Gruben 1997, 392 f. mit Abb. 70 c (S. 397). 42 Gruben 1997, 394. 402–406 (mit älterer Lit.); eine vereinzelte Spira scheint von den Basen zu stammen.

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Porosbasen und -schäen und Marmorkapitellen Reste vorhanden sind43. Das kleinere ›Gebäude J‹ (Innenmaße ca. 6,10 m × 6,40 m), knapp südlich neben GD 48 gelegen, »ne semble pas antérieur à la seconde domination athénienne«, ist also erst nach 167 v. Chr. zu datieren, wird aber – auch – als Bankeraum gedeutet44.

Alle vier Bauten sind nach Gruben »widerspruchslos« mit Klinen zu möblieren45, GD 44 mit 18 Klinen, GD 43 mit 19 Klinen, GD 48 mit wohl 24 Klinen und das ›Gebäude J‹ mit 10 Klinen; die ungeraden Zahlen sind grundsätzlich plausibler46.

Das Gebäude mit Peristylhof (GD 48) ist besonders gut zu vergleichen, weil es aus zwei gleich großen, quadratischen Räumen seitlich einer mileren Anlage besteht – hier einem Peristylhof47, in Yria einem Torbau. In diesem Zusammenhang sind auch die – allerdings erst hellenistischen – Oikoi am Kynthos auf Delos anzuühren, zwei annähernd quadratische Räume mit einem mileren, gepflasterten Hof und je einem ›Prostoon‹ mit dem Zugang zu den Oikoi48. Auch der Nordund der Süd-Oikos (GD 44 und 43), wohl mit antik überlieferten Oikoi zu identifizieren, möglicherweise denen der Delier und der Andrier, dienten als Hestiatorion, der Nord-Oikos offenbar auch noch als esauros und Lesche. Letztere Funktionen sind ür den Westbau von Yria nicht zu belegen, aber er war sicher ein Hestiatorion ür zweimal elf Kuleilnehmer, das mit dem Hauptzugang zum Heiligtum kombiniert war.

Die Kombination einer Toranlage mit einer Brücke begegnet auch in Eretria; allerdings ist es dort ein Stador, das mindestens vier Bauphasen zwischen dem mileren 6. Jh. und der Zeit um 200 v. Chr. zeigt, und das mit einer Brücke, die aufs milere 6. Jh. zurückgeht, verbunden ist49. Eine vergleichbare Situation, wo das Propylon eines Heiligtums einen Bach überbaut, liegt aus allerdings viel späterer Zeit beim Propylon Ptolemaios’ II. in Samothrake vor: hier wird der Bach durch einen Tunnel im Fundament des Torbaus geleitet50. 43 Gruben 1997, 394. 396 Abb. 69; Bruneau – Ducat 2005, 210 f. 44 Bruneau – Ducat 2005, 207 (Zitat), nach Roux 1973, 544–548. – Gruben 1997, 396 Abb. 69, möbliert den Raum,

trotz seiner ›Normgröße‹ (vgl. o. mit Anm. 33) mit zehn und nicht elf Klinen, wozu die erhaltene Türschwelle zwingt (Gruben 1997, [nach] 378 Abb. 58, nach Vallois). 45 Gruben 1997, 400. 46 Börker 1983, 12 f. (antik überliefert sind »ἑπτάκλινος, ἐννεάκλινος, ἑνδεκάκλινος οἶκος»); auch Goldstein 1978,

102. – Für das – klassische – Pompeion in Athen wurden 7, 11 und 15 Klinen rekonstruiert, ür die ›Pinakothek‹ an den Athener Propyläen 17 Klinen. Unter diesem Aspekt sind die »ca.(!) 20 Klinen«, die in den – noch jüngeren – Andrones von Labraunda angenommen werden, in Frage zu stellen, zumal sie nicht systematisch im »Uhrzeigersinn« (Börker 1983, 12) angeordnet sind: Hellström 2007, 85–91 mit Isometrie. Die Innenmaße von 9,91 m × 11.08 m (Andron B) und ≈ 10,0 m × 11,50 m (Andron A) entsprechen ungeähr den delischen Hestiatoria. 47 Der Zugang zu den beiden Bankeräumen erfolgte logischerweise vom Peristylhof aus. 48 Roux 1973, 538 mit Abb. 9 (nach Plassart 1928 Taf. 3); die Räume messen ca. 6,50 m × 7,0 m und ca. 5,70 m ×

7,0 m und böten je zwölf Klinen und Tischen Platz; das ›Prostoon‹ sei »ionisch distyl in antis«; vgl. Bruneau – Ducat 2005, 286 f.; Sinn 2005, 42–44. 49 s. o. Anm. 12; weitere Bauphasen des Wesors liegen an der Wende vom 6. zum 5. Jh. und um 400 v. Chr. 50 Frazer 1990, bes. 24–39: Fundament einschließlich des Tunnels ür den Bach; der Bau 285–281 v. Chr. datiert. –

Für den Hinweis auf diese beiden Monumente bin ich P. Bougia zu Dank verpflichtet, vgl. Bougia 1996.

Die Westanlagen des Heiligtums von Yria auf Naxos

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Resümee Im Heiligtum von Yria konnte neben der Folge bedeutender Tempelbauten auch eine Abfolge wichtiger ›Nebenbauten‹, vor allem in dessen Weseil, rekonstruiert werden. Sie nehmen ihren Anfang mit der »ersten nachgewiesenen Brücke nachmykenischer Zeit« aus dem frühen 7. Jh.51, welche die Verbindung zur Polis und zur Meeresbucht herstellt. Etwa eine Generation später folgte ein erstes, schlichtes Propylon, das über dem zugeschüeten Westfluss errichtet wurde, und nun auch eine ›Heilige Straße‹ erwarten lässt. Im Zusammenhang mit dem Torbau stehen Brandopferstellen und Speiseplätze nördlich davon, die früharchaischen Vorgänger des ersten Hestiatorion. Darüber wurde an die Nordseite des Propylon der ›Apsisbau‹ angebaut, das früharchaische Hestiatorion. Nördlich an diese Anlage und südlich an die südliche Propylonmauer schloss eine erste westliche Temenosmauer an. Sie bildete zusammen mit diesem frühen Hestiatorion und dem Propylon ein bedeutendes früharchaisches Ensemble. In einem nächsten Schri wird die Anlage grundlegend umgestaltet und monumentalisiert zum spätarchaischen Westbau mit Vorhalle, Propylon und zugehöriger Straße. Zwei quadratische Speiseräume – der nördliche über dem früharchaischen Apsisbau – fassen jetzt je elf Klinen. Sie waren vermutlich flachgedeckt, und erhielten erst im Hellenismus ein Walmdach (mit Laterne). Zwischen den zwei Räumen lag nun ein entwickelteres Propylon, mit einem zweiflügeligen Tor. Die östlich vorgelagerte Halle war in der Breite der Durchfahrt unterbrochen. Diese Anlage blieb bis in die späte Kaiserzeit erhalten und wurde nur mehr modifiziert und modernisiert, durch ein neues hellenistisches Dach, durch eine Verlängerung der westlichen Temenosmauer und Halle nach Norden. Schließlich wurde das gesamte Temenos ummauert.

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Die jüngsten Ausgrabungen in Magnesia am Maeander (2007–2011) Orhan Bingöl

Magnesia am Mäander ist eine von den zahllosen antiken Städten in der Nähe der türkischen Westküste. Sie liegt ungeähr in der Mie des aus Ephesos, Tralleis und Priene gebildeten Dreiecks. Die Stadt ist von Izmir aus auf der Autobahn in knapp einer Stunde zu erreichen. Magnesia verdankt seinen Ruhm in antiker und moderner Zeit dem Architekten Hermogenes. In seinem drien Buch nennt Vitruv (3, 2, 6) Hermogenes als Erfinder des Tempeltypus ›Pseudodipteros‹. Er soll ihn erstmalig im Artemision von Magnesia am Mäander verwirklicht haben. Dies war der Anlass, die Stadt zu suchen und zu erforschen. Unser Wissen über das Artemision und den Tempel reicht etwa 200 Jahre zurück1. Leake, Rochee, Trémaux, Texier mit Clarget und Humann mit Heyne, Kern und andere waren die ersten, die bis zum 20. Jahrhundert den Tempel und das Heiligtum erforscht und dokumentiert haben. Die Arbeiten unter der Leitung von Carl Humann haben von 1891 bis 1893 insgesamt 21 Monate gedauert. Die Ergebnisse sind von Humann und seinen Mitarbeitern veröffentlicht worden. Kern hat die Inschrienfunde veröffentlicht. Unser Wissen über Magnesia basierte hauptsächlich auf diesen Publikationen. Um sich aber von der Stadt Magnesia ein Bild machen zu können, war man auf Museen angewiesen – ür die Skulpturen auf die Museen von Izmir und Istanbul, ür den Fries des Tempels auf den Louvre und Istanbul, ür Reliefs des Altares oder ür die Westfassade des Zeustempels und ür Säulen des Artemistempels mit Gebälk und Giebel darauf auf das Pergamonmuseum in Berlin. Dann wurde die antike Stadt Magnesia völlig vergessen. Dies war die Situation in der berühmten und bedeutenden antiken Stadt 90 Jahre nach Humanns Ausgrabungen. Obwohl eine Landstraße das Artemision zweiteilte und ein sehr dichter Autoverkehr durch Urlauber herrschte, machte kaum jemand dort Halt und niemand stieg aus, um zu sehen, worum es sich bei den Ruinen überhaupt handelte. Der geschilderte Zustand verdeutlicht ausreichend, dass sowohl wissenschaliche, als auch denkmalpflegerische Bedürfnisse zum Gewinn neuer archäologischer Erkenntnisse und zur Reung von Magnesia insgesamt einen neuen Anfang erforderten. Die Forschungen von Carl Humann, Oo Kern und den anderen haben unschätzbare und heute noch vielfach gültige Grundlagen ür die Erkundung von Magnesia geliefert. Aber Magnesia am Mäander hat darüber hinaus noch unendlich viel Neues zu bieten, das unsere Kenntnis der antiken Stadt in vielen Punkten ganz wesentlich erweitern wird. Von diesem Standpunkt ausgehend, hat mir das türkische Kultus-Ministerium auf mein Ersuchen nach zweijähriger Zusammenarbeit mit dem Museum von Aydın (1984 und 1985) 1986 eine neue Grabungsgenehmigung erteilt. Die darauf folgenden Ausgrabungen der letzten 27 Jahre haben unsere Kenntnis zu Magnesia in zweierlei Hinsicht bereichert. Einerseits haben wir durch die breite Palee von Kleinfunden bis zu neu entdeckten Bauten viel hinzugelernt, andererseits 1 Bingöl 2007 mit Lit.

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Orhan Bingöl

haben wir auch Gelegenheit erhalten, durch die neuerliche Wiederentdeckung der bekannten und berühmten Bauten Magnesias das bisherige Wissen zu überprüfen bzw. zu ergänzen und auch neue Hypothesen aufzustellen. Die Ergebnisse der Ausgrabungen bis zum Jahr 2007 sind als Reiseührer, ausührliche oder kurze Vorberichte oder aber als Aufsätze veröffentlicht. Hier wird kurz bekannt gemacht werden, was nach der Erscheinung der Reiseührer im Jahre 2007 in Magnesia geschehen ist. Bis dahin waren die berühmten Baureste der Artemistempel, Altar, Propylon und Agora nach dem Verfall der Stadt zum ersten Mal wieder durch die neuen Ausgrabungen vereinigt und miteinander nicht nur optisch, sondern auch in der Wirklichkeit verbunden worden. Durch diese Ausgrabungen wurden zwischen dem Altar und dem Propylon drei Anlagen entdeckt, dokumentiert und interpretiert, die ür den Artemiskult sehr wichtig und erwähnenswert sind: der ›Opferbindeplatz‹, die ›heilige elle‹ und der ›Versammlungsplatz‹2. Die Arbeiten an der ›heiligen elle‹ (Taf. 33, 1. 2) wurden in den letzten Jahren fortgesetzt. Sie liegt in der mileren, zur Tempelfront parallel liegenden Lücke der Pflasterung des Areals. Ihre Stufen ührten wahrscheinlich zu einer ür das Heiligtum sehr wichtigen Wasserquelle. Bei den letzten Arbeiten wurde an der nordwestlichen Frontseite der Stufen ein gepflasterter Bereich freigelegt. In der Mie dieses Bereiches befindet sich naturbelassener Fels, der als Baitylos gedeutet werden darf. In anderen Worten darf diese heilige Stelle mit Magna Mater oder Dindymene in Zusammenhang gebracht werden, die wir aus antiken ellen kennen. Wo die byzantinische Mauer im Norden des Artemisions einen Knick macht, wurden Reste von Räumen freigelegt. Die zwei östlichen Räume gehören bekanntlich zu einer Latrine ür 32 Personen. Der in den letzten Jahren freigelegte und im Reiseührer kurz erwähnte westliche Raum hat drei Türöffnungen zur Nordstoa (Taf. 33, 3). Er weist außerdem Podien- und Nischenarchitektur an den drei übrigen Wänden auf. Die Architekturteile des Raumes sind nach zwei Gruppen zu unterscheiden. Die erste Gruppe weist eine durchgehende Säulenarchitektur mit Drei-FaszienArchitraven, Pfeifenstabfries und Anthemion als Simaornament auf. Die zweite Gruppe hat ZweiFaszien-Architrave, Rankenfries und wiederum ein Anthemion als Simaornament. Sie gehört zur Nischenarchitektur. Daraus ergibt sich, dass der Innenraum unten auf Podien eine durchgehende Architektur und oben eine Tabernakel- oder Nischenarchitektur aufweist (Taf. 34, 1). Die Wände der Podien und der Boden waren mit Opus-sectile-Kompositionen dekoriert. Von diesem Befund ausgehend ist der Raum jetzt als nichts anderes als eine Bibliothek zu identifizieren. Vergleichsbeispiele aus Ephesos und Sagalassos bestätigen diese Identifizierung. Das Heiligtum war mindestens beidseitig von Hallen begrenzt. Auf der Nordseite wurde ein Teil der Stoa freigelegt. Die nordwestlichen Säulen sind dieses Jahr teilweise wiederaufgerichtet worden. Von dem Versammlungsplatz aus ging man durch das Propylon auf die Agora hinüber. Es ist ein doppelseitiger Torbau mit zwei erschiffen in ionischer Ordnung. Görkem Kökdemir hat in seiner Doktorarbeit dargelegt, dass die Rekonstruktion von Humann mit kleinen Korrekturen bestätigt werden kann. Er zeigte ganz deutlich, dass die östlichen Säulen mit Türpfosten verbunden sind. Das bedeutet, dass der Torbau wie der Giebel des Tempels mit drei Türen gestaltet gewesen war. Nach den letzten Ausgrabungen und deren Ergebnissen ermielte er, dass das Propylon zusammen mit den Nord- und Südhallen des Artemision in das 1. Jh. n. Chr. gehören3. Nach den letzten Ausgrabungen und deren Ergebnissen gehören die Nord- und Südhallen des Artemision ebenfalls in das 1. Jh. n. Chr. Die typologischen und stilistischen Kriterien ür diese 2 Bingöl 2007, 82–90. 3 Kökdemir 2009; Kökdemir 2011.

Die jüngsten Ausgrabungen in Magnesia am Maeander (2007–2011)

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Einordnung wurden jetzt durch eine neu gefundene, 3,12 m hohe Inschri unterstützt. Sie weist die Namen derjenigen auf, die Säulen, Epistylia und Bauschmuck der Tempelhallen gestiet haben. Diese 72 zeilige Inschri stammt aus der augusteischen Zeit, ist also gleichzeitig mit dem Propylon, der Osthalle der Agora und den beiden Hallen des Artemision. Magnesia liegt unter einer hohen Erdschicht. In der Stadt sind deshalb nur sechs große Baureste und Anlagen sichtbar. Der sechste von diesen ist das Stadion. Als wir die Stelle des Stadions zu Beginn der Ausgrabungen zum ersten Mal besucht haben, sahen wir nichts anderes als einen Dschungel und ürchteten, der Natur zu unterliegen (Taf. 34, 2). Der Bau war vollständig von Unkraut, Gebüsch und Bäumen überwuchert und darüber hinaus war die Sphendone im Süden durch einen Erdrutsch völlig verdeckt. Trotz dieser Situation und abgesehen von den Schäden, die Menschenhand und Pflanzenteppich verursacht haen, gewann man den Eindruck, dass das Stadion teilweise sehr gut erhalten ist. Dieser Eindruck bestätigte sich 2004 durch einen Schni. Es stellte sich heraus, dass man mit Neuigkeiten rechnen musste. Intensive Ausgrabungen in den letzten vier Jahren änderten das Aussehen und das Schicksal des Stadions. Die Ost- und Wesribüne wurden zu fast 70 Prozent freigelegt4 (Taf. 34, 3). Das Stadion besitzt an den beiden Längsseiten je eine und hinten an der Südseite mindestens zwei Säulengalerien übereinander, welche die Tribünen umgeben und auch als Stützmauer dienen. Es wird an der Südseite noch mit zwei weiteren Säulengalerien gerechnet. Wie beim eater hat ein Erdrutsch diesen Teil des Stadions vollständig begraben. Der Bau ist gerade unterhalb dieser gewaltigen Erdmasse am besten erhalten. Deshalb wird versucht, die Sphendone, soweit es möglich ist, von beiden Seiten freizulegen. Bei diesen Ausgrabungen wurde die Podiumswand der ersten Galerie in der dreizehnten Kerkis vollständig mit den in situ stehenden Postamenten und davor liegenden Säulen freigelegt. An beiden Seiten des Podiums sind Siegeskränze angebracht. Die erste Sitzreihe vor dem oberen Diazoma und den Podien weist hohe Rückenlehnen auf, die zusammen mit dem Sitzblock aus einem Marmorblock gehauen sind. Die Tribünen sind durch drei Diazomata in zwei Caveae unterteilt. Jede Cavea hat 13 Sitzreihen, wodurch sich insgesamt 26 Sitzreihen ergeben. Die Sitzreihen bestehen aus Marmorblöcken. Sie besitzen an beiden Seiten neben den Treppen Löwenpranken als Füße ür die Sitzblöcke. Von der oberen Diazoma bis zur Arena beträgt die Zahl der Treppenstufen 56. Die Tribüne hört vorne mit einem Podium auf. Auf den Zeichnungen von Clarget waren die unteren Sitzreihen nicht vorhanden und deswegen wusste man nicht, dass das Stadion ein Podium aufweist. Noch überraschender war es zu sehen, dass die die Arena umgebende Podiumswand mit Reliefs versehen ist. An der beidseitig durch Treppen begrenzten Podiumswand befinden sich Reliefs, so dass bei jeder Kerkis mit regelmäßigen Abständen ünf Darstellungen zu erwarten sind, abgesehen von den Kerkides an der Sphendone. Bis jetzt sind 23 Reliefs von sieben Kerkides freigelegt (Taf. 34, 4). Unter diesen Reliefs sind Göer wie Ares, Hermes und Nike, Siegesprämien wie Schilde, Palmen und Amphoren und andere Darstellungen, die mit verschiedenen Agonen und besonders mit Wagenund Pferderennen in Zusammenhang stehen wie Hermen und Trophäen, Reiter und Bigen.

4 Bingöl – Kökdemir – Oral 2008.

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Orhan Bingöl

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The terraces of Atene Merle K. Langdon

For anyone with an interest in the chora of ancient Greece, there is something of importance to be found in the large study of the ancient deme of Atene in southern Aica published by Hans Lohmann in 1993: »Atene. Forschungen zu Siedlungs- und Wirtschasstruktur des klassischen Aika Bd. 1–2«. e item that has especially aracted my own aention in this work is the abundant number of agricultural terraces encountered during the field research and the careful treatment given to them in the monograph. Lohmann concluded that the terraces and their support walls were ancient. ey seemed to cohere with other features, such as house, tower, threshing floor, enclosure walls and miscellaneous outbuildings, to constitute one type of complex found all over the Greek world, the ancient farm. Yet this picture of an ancient landscape is not so convincing to everyone, and the dating of the Atene terraces to antiquity has been challenged. I cannot add unassailable arguments to either side of the debate, but it is worth reviewing the maer in a volume put together to honor one who has done so much to further our understanding of the ancient Greek chora. Lohmann and his team documented terraces on practically every hillslope and mountainside of their survey area. e terraces added hundreds of hectares of level space suitable for arable to Atene’s agricultural profile. In dating them, Lohmann reasoned that the efforts to increase acreage for agriculture by building terrace must have reflected a period of high population. Since the findings of his survey clearly demonstrated that the Classical period, the 5ᵗʰ and 4ᵗʰ centuries B. C., was the time of greatest occupation of Atene, he concluded that this was the period to which the terraces should be assigned. Plenty of post-Classical remains were encountered, but they invariably consisted of a few simple huts, stone enclosures and sherd scaers that indicated a much lower level of activity than the Classical. It appeared that the area of Atene was given over to shepherds and flocks of grazing animals in Roman and Byzantine times and not agricultural tilling. us Lohmann concluded that there was no good reason aer the Classical period for farmers to maximize agricultural yields by creating vast terrace systems like those found in the area he was studying. As noted above, Lohmann’s chronological conclusions have not been accepted by all. Lin Foxhall1 has offered the most vigorous counterarguments, and they deserve close examination. I will concentrate on archaeological issues and leave aside those facets of the debate where the verdict appears to be a non liquet, such as the point made by Foxhall2 that there is no term in ancient Greek for »terrace«, countered by Price and Nixon3, answered by Foxhall4. 1 Foxhall 1996; Foxhall 2007. 2 Foxhall 1996, 45–52. 3 Price – Nixon 2005. 4 Foxhall 2007, 66–68.

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Ceramic evidence Since Lohmann was conducting a survey and not an excavation, he naturally used ceramic material found on the surface as the principal dating criterion for the sites he found. He identified a total of 48 farms5, 41 of which yielded datable material6. Finds of Classical date were preponderant among the finds at all the farm sites, and over half of them (22 of 41) saw some renewed activity in late antiquity, 4ᵗʰ to 7ᵗʰ centuries A. D. Most of the farms did not have any terraces preserved in their vicinity, or else, at most, only exiguous traces. At a few sites, however, terrace walls were well represented among the visible remains: CH 33, LE 16, PH 2, TH 1, TH 18, all of which are described in the catalogue7. At CH 33 and TH 1, nothing dating later than the Hellenistic period was found, while the other sites did yield later material, but in every case the numbers of earlier items is greater: 15 early / 4 late items catalogued at LE 16; 8 early / 3 late at PH 2; 3 early / 1 late at TH 18. TH 18 is perhaps not statistically important, but the numbers at LE 16 and PH 2 are revealing. Here the tallies of datable material serve as a guide to the chronology and use of the sites. ese two sites flourished as farms in the Classical period and witnessed a lesser degree of pastoral activity in late antiquity. ey, along with sites CH 33 and TH 1, which saw no presence beyond Classical / Hellenistic times, provide a datable picture of an ancient farm in the deme of Atene. Terraces are common to these four sites, and there seems no reason to leave them out of the picture.

Arrangement of terraces to farm buildings Lohmann’s analysis of the arrangement of built features at several sites lead him to conclude that they all formed a unit connected in time and function. Sites CH 33 and TH 18 / 42 are cited as the clearest examples of this unified layout, with the terraces planned to take account of the location and orientation of farm buildings, while LE 16 / 18 and PH 2 provide supporting evidence8. But Foxhall9 points out that even if the farm buildings were ancient, they provide only a terminus post quem for the neighboring terraces, which could have been established at any later time, even long aer the farm was given up as an inhabited site but while buildings were still standing or visible. Lohmann’s belief is that the evidence of later activity at these sites, consisting of huts and sheep folds, is incompatible with the puing in of terraces. So, it seemed valid to him to argue that Atene provides evidence that terraces and farm buildings were laid out with one another directly in mind, and thus were contemporary.

Physical features of terrace walls Lohmann provides a detailed description of the physical state of the walls supporting the terraces that he encountered. Preservation runs the full gamut, from intact walls up to 1.60 m in height, to 5 Lohmann 1993, 137 Tab. 4. 6 Lohmann 1993, 33–331 Tab. 19. 7 Lohmann 1993, 375–376. 513–515. 409–414. 459–461. 470–471 respectively. 8 Lohmann 1993, 203–204. 9 Foxhall 1996, 62–63.

e terraces of Atene

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mere lines on the ground surface. Material used in the wall construction varies from fresh looking stones with crisp edges to those smoothed by heavily weathering and variously encrusted. For Foxhall10 the preserved height of some walls and the fresh appearance of some stones are indications of recent date. She opines that such features are not what one would expect of walls that have been exposed for thousands of years, and so many Atene terrace walls should date well aer antiquity. Lohmann clearly did not believe that fresh appearing stones and well preserved walls indicated a more recent date for the Atene terraces. While studying the terrace walls, he may have had in mind the region just next door to Atene, the mining region of ancient Sounion, where there are scads of ancient structures with walls that look freshly built yet indisputably belong to the time of ancient Athens’ mining activity. And not only are there numerous fresh looking walls of dry stone construction, but they are also free standing, without any special reinforcement. Parts of the mining region of Lavreotiki could almost be characterized as a Pompeii of Aica. at terrace walls in Atene, solidly built and firmly embedded into earthen slopes, could also survive from antiquity in relatively good condition should not occasion surprise or denial. Lohmann reinforced his argument that the terrace walls he recorded are ancient by pointing to details such as the growth of stalagmitic deposits in interstices between blocks aer they were set in place, a development not of a few centuries but of many11.

Comparanda ere are good parallels to the Atene terraces rather close by. I am referring here to the extensive terrace systems of the slopes of Mt. Hymeos. A number of them have been investigated archaeologically as residential development of the coastal communities from Glyphada to Vouliagmeni onto the mountain slope has led to the excavation of numerous terrace walls by the Greek Archaeological Service. A. Kyriazopoulou12 provides the fullest description, and references to other explorations, but, unfortunately, evidence for dating the terraces on Hymeos is so far virtually nil. e investigation of only one terrace wall further north, on a foothill of Hymeos near Kaisariani, did yield sherds in association with it, and they are said to be of ancient date13. Despite the absence of datable ceramic material, the archaeologists who uncovered the Hymeos terraces believed that they were dealing with features built in antiquity. A previous investigator of Hymeos’ slopes came to similar conclusions. Aer the Second World War, but before the coastal communities began expanding onto the mountain, the British landscape archaeologist, John Bradford, inspected first hand some of the same areas later investigated by Greek archaeologists. He combined his field inspections with a study of aerial photographs of Hymeos taken by the RAF during the War, and in two frequently cited studies14 he argued that extensive terrace agriculture was practiced on the mountain previous to his own time, when only limited cultivation was being carried out on its western slopes. Like the later archaeologists, Bradford found no material to date the terraces that he studied, but his impression was that he was in the midst of ancient remains. e fact that some of the terraces were indicated on nineteenth century German maps as already then quite old bolstered his conclusion that at no time aer antiquity, either in 10 Foxhall 1996, 62–64. 11 Lohmann 1993, 356 on CH 4. 12 Kyriazopoulou 1983; Kyriazopoulou 1984. 13 Dekoulakou 1983. 14 Bradford 1956; Bradford 1957.

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the Middle Ages or the Turkokratia, was there a need to expand Aica’s agricultural capacity by creating so many terraces as Hymeos exhibited. A more recent study of Euonumon, an ancient deme on the western side of the mountain, offers interesting amplification of this careful research by calculating the cost, effort and added yield of one slice of Bradford’s study area15. e conclusion was that only ancient times provided the impulse and resources for terrace building in this Hymeian deme. It was thus understandable that Lohmann cited Hymeos as support for his own dating of the terraces of Atene. Foxhall writes without knowledge of the archaeological excavations of Hymeian terraces, and claims that none of the areas studied by Bradford have been explored since his time16. She simply dismisses the possibility that any of them are ancient and concludes that they and the similar field systems at Atene could date from any time period. We should, however, give some credit to both Bradford and the Greek field investigators for being able to distinguish walls that are thousands of years old from those that are hundreds of years old, even when the construction is a lowly terrace wall. In the absence of compelling evidence for downdating, there is no reason to question the antiquity of the terrace walls of Hymeos or Atene.

Future research Foxhall leaves a number of issues unresolved. She stresses17 the immensity of the task of building terraces, yet offers no plausible historical context to account for such labor-intensive activity on a large scale in southwestern Aica aer antiquity. As noted above, researchers have dated Aic terraces to ancient times primarily because of the belief that only then was the population large enough to explain the massive expansion of agriculture onto sloping ground. e best estimates put the population of pre-modern Aica at around 200.000 at its highest, in the fourth century B. C.18, and the district remained populous throughout the rest of antiquity. Although there were periods of prosperity well into the Middle Ages, a serious decline in the number of inhabitants began aer the end of Roman control. By the early nineteenth century A. D. the inhabitants of Aica could be counted as a mere 12.000 souls19. An uptick began only aer the middle of the century, then greatly accelerated aer the debacle of 1921–1922, by which time the terraces of Atene and Hymeos were long out of use. When, in all this, do terraces in Aica fit, if not to ancient times? To win the debate, Foxhall should offer a convincing alternative answer. One could start by consulting Ernst Kirsten20, an old but thorough review of the state of Aica aer antiquity. Were a later period identified when the populace needed to go on a binge of terracing slopes for agricultural purposes, then we might seriously contemplate other chronological seings for Aic terraces. Until then, the basic assumption that terrace building reflected pressure on the land from an expanding population in ancient times is the best conclusion. It is reassuring that this way of thinking meets with at least the qualified approval of experts of Mediterranean rural landscapes21. 15 Moreno 2007 chapter 2. 16 Foxhall 1996, 60. 17 Foxhall 1996, 53. 18 Moreno 2007, 28–31. 19 Sibthorp 1820, 144. 20 Kirsten 1952. 21 Grove – Rackham 2001, 115–117.

e terraces of Atene

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I do not wish to enter the debate about what was grown on Atene’s terraces. Lohmann advocated oleoculture as their raison d’etre, while Foxhall does not believe that the terraces were built for growing olives, whatever their date. She points to the rarity of olive processing equipment found during the survey and describes pocket terracing instead of strip terraces as the preferred procedure for establishing olive trees on sloping ground, using observations made on Methana and case studies on the use of terraces in early modern agriculture in other parts of Greece to inform her discussion. is contribution to the debate underscores the potential benefit of the approach championed by Grove and Rackham22, of using contemporary agricultural practices to extrapolate about the past. Projects focusing on terracing of Greek landscapes in the recent past have been undertaken, and various kinds of evidence used to help advance our understanding of the history and strategies of this activity. estionnaires and interviews were used on Lesbos23, archival source on Nisyros24, empirical findings and modelling methods on Antikythera25, and geoarchaeology on Kythera26. ese sources reveal a great deal, and we can hope for more research in other areas of Greece based on similar types of evidence. Collaborative efforts of archaeologists and geomorphologists, especially soil micromorphologists, perhaps hold out the greatest promise. One place to investigate might be the island of Ayios Yioryios, nine square kilometers of land rising up out of the sea, some twelve nautical miles southwest of Cape Sounion. Hans no doubt spent a great deal of time staring out at this island during rest breaks from the work in Atene. e now deserted island, which is frequently identified as the site of the small ancient polis of Belbina27, is completely terraced from seashore to summit on its long northeast side. Permission has recently been granted by the Regulatory Authority for Energy of the Greek Ministry of Environment, Energy and Climate Change for the construction of two large photovoltaic stations on the island (Permits 1527/2010 and 1528/2010). Before the bulldozers and work crews invade the place, an investigation of the island’s many terraces by a team of archaeologists and soil scientists could contribute to the debate over the existence and use of terraces in the landscape of ancient Greece. Our honorand is the logical choice to lead such an investigation. How about it, Hans?

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Zwischen Caesar und Drusus Das ›Uferkastell‹ von Lünen-Beckinghausen und seine Vorgängersiedlung Wolfgang Ebel-Zepezauer

Der Gegenstand dieses kleinen Beitrags ist auf doppelte Weise mit dem Jubilar verbunden. Er behandelt zum einen ein wichtiges ema der Archäologie seiner jahrzehntelangen Wahlheimat, zum anderen geht es um den Zustrom fremden Kulturguts, fremder Personen und neuer Ideen nach Westfalen. Sozusagen ein Spiegelbild der Tätigkeit von Hans Lohmann in den letzten drei Jahrzehnten. Das römische ›Uferkastell‹ von Lünen-Beckinghausen wurde schon 1906 entdeckt und erstmals beschrieben1. Die Dokumentation der Grabungen 1911–1914 und der Großteil der älteren Funde haben im Museum Dortmund den letzten Krieg nicht überstanden2. So sind wir über die Position der Grabungen und Sondagen der Zeit vor dem ersten Weltkrieg und der Jahre 1937–1938 im Wesentlichen nur über Befunde in den jüngeren Grabungsflächen der Jahre 1995–1998 unterrichtet. Die Existenz einer Vorgängersiedlung der späten Eisenzeit an gleicher Stelle und nach Osten über das Kastellareal hinausreichend war spätestens seit 1914 bekannt3. Aufgrund der 1995 entdeckten Reste eines Horreums düre es sich bei dem nur 1,6 ha großen ›Uferkastell‹ um einen Versorgungsstützpunkt der Drususzeit gehandelt haben. Einige hundert Meter westlich befindet sich ein natürlicher Flussübergang, dessen Überwachung möglichweise ebenfalls zu den Aufgaben der Besatzung des Uferkastells gehörte4. Die Umwehrung der Anlage bestand aus einer Holz-Erde-Mauer von 3 m Breite. Es gibt Indizien ür in die Mauer eingesetzte Türme ähnlich der Umwehrung in Rödgen, eine Überprüfung der Befunde steht jedoch noch aus. Vor der Mauer staffelten sich drei Spitzgräben auf 22 m Tiefe. Eine Torsituation wird ür den Westen der Anlage beschrieben, die Fortifikation im Osten weist entgegen älterer Rekonstruktionen keine Unterbrechung auf. Einige schlecht erhaltene Befunde innerhalb und außerhalb des ›Uferkastells‹ können als Indiz ür eine feste Vorbesiedlung des Geländes betrachtet werden. Keramik aus einer Grube unter der Holz-Erde-Mauer und unter den Fundamenten des Horreums lässt sich in die ausgehende vorrömische Eisenzeit datieren. Ob damit eine direkte Kontinuität zur römischen Nutzung des Platzes anzunehmen ist, ließ sich zunächst mangels feinchronologischer Auflösungsmöglichkeiten der einheimischen Keramik nicht entscheiden. Ein Schni durch die Gräben im Osten der Anlage 1996 sollte die Situation nachhaltig ändern. Neben der Erkenntnis, dass die Gräben relativ rasch und ohne erkennbaren stratigraphischen Befund verüllt wurden, war zu bemerken, dass dort unerwartet große Mengen archäologischer Funde auraten. In 1 Kühlborn 1995, 125–129. 2 Kühlborn 2008a, 22. 3 Eggenstein 2003, 40. 4 Kühlborn 2008b, 30–32.

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den Kampagnen 1997 und 1998 wurden daher weitere Profile angelegt und die Gräben schließlich auf einer Länge von mehr als 60 m ausgeräumt. Der gesamte Aushub wurde dann vor Ort in einer improvisierten Schlämmanlage untersucht. Neben mehreren Tausend Tierknochen mit deutlichen Schlacht- und Zerlegespuren konnten insgesamt etwa 1.200 Geäße vorgeschichtlicher Machart und 200 Stücke römischer Provenienz geborgen werden. Die Tatsache, dass kaum Anpassungen von Scherben zu verzeichnen waren, wir Fragen bezüglich des Entstehungsprozesses der Grabenüllungen auf, denen an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden soll. Aus der Schlämmanlage stammen – mit Ausnahme der Münzen – auch fast alle Kleinfunde der Grabungen 1995–1998. Seit Bekanntgabe erster kursorischer Grabungsergebnisse stehen zwei Fragen im Vordergrund. Zum einen geht es um den Beginn und die Laufzeit der einheimischen Vorbesiedlung sowie ihr chronologisches Verhältnis zum ›Uferkastell‹. Zum anderen bleiben Funktion und Charakter dieser Siedlung zu analysieren und damit verknüp Ansätze zu einer kulturgeschichtlichen Interpretation zu liefern. Zu beiden Bereichen kann vorerst nur ein Zwischenbericht anhand erster ausgewerteter Funde erfolgen5.

Münzen Von den 121 aus Beckinghausen bekannten Münzen stammen nur zehn aus archäologischen Befunden. Die übrigen 111 wurden von Sondengängern auf den Flächen südlich und südöstlich des römischen Lagers entdeckt. Das Spektrum unterscheidet sich signifikant von dem aller anderen römischen Stationen Westfalens und des Rheinlandes. Die aus den Grabungen stammenden Münzen verteilen sich auf vier Exemplare, die dem üblichen Münzumlauf des Drusushorizontes entsprechen, dazu vier Springmännchenquinare Forrer 351/Scheers 57 und zwei Regenbogenschüsselchen des Bochumer Typs6. Betrachtet man die Sondengängerfunde, ergibt sich ein ähnliches Bild. Von 111 Stücken gehören 35 dem römischen Münzumlauf an, daneben fanden sich 36 Regenbogenschüsselchen, 32 Springmännchenquinare und sechs weitere keltische Gepräge7. Sowohl die Regenbogenschüsselchen des Bochumer Typs als auch die inare Forrer 351/Scheers 57 stehen ganz am Ende der keltischen Geldwirtscha8. Bezeichnend bei den inaren ist u. a. der römische Münzfuß. Dennoch kommen sie in den Lagern an der Lippe nicht vor und waren beim römischen Militär wahrscheinlich auch nicht umlauähig. Es handelt sich um eine Münze aus dem Raum des rechtsrheinischen Schiefergebirges und der Kölner Bucht9. Die Bochumer Regenbogenschüsselchen finden sich gestreut – wie auch die inare – entlang des Hellwegs10. In Fundensembles des Haltern-Horizontes sind sie ebenso wenig präsent wie in der Drususzeit. Sie charakterisieren vielmehr eine ältere Phase, die der römischen Okkupation unmielbar vorausgeht11. 5 Eine Gesamtpublikation in Kooperation mit J.-S. Kühlborn und P. Ilisch ist nach langer Unterbrechung seit

Dezember 2011 in Arbeit. Das Manuskript soll noch 2012 abgeschlossen werden. 6 Schulze-Forster 2010, 275. 7 Zu den spätesteisenzeitlichen Münzen in Westfalen: Ilisch 2009, 249–256. 8 Schulze-Forster 2005, 171. 9 Schulze-Forster 2002, 121 Abb. 79. 10 Roymans 2007, 318 Abb. 15. 11 Nick 2006, 250 Tab. 50, weist keine Korrelation römischer Aktivitäten und solcher Münzen auf.

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Ähnliches gilt ür die inare, die jedoch mit ihrem Bezug auf den römischen Münzfuß den Verdacht nahelegen, dass hier eine Kompatibilität beabsichtigt war. Dies möchte man angesichts des bekannten Verbreitungsgebietes der Stücke ür die Zeit ab dem gallischen Krieg annehmen12. Für eine Vertiefung der Chronologiediskussion bieten die Beckinghauser Stücke leider keine neuen Ansatzpunkte13. Vor allem hinsichtlich der Frage nach einer möglichen Kontinuität von römischem Lager und einheimischer Vorbesiedlung ergeben sich keine neuen Argumente14. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass eine bisher zur Datierung genutzte Münze aus Oberaden dort durchaus nicht in den Kontext des römischen Lagers gehören muss15. Späteisenzeitliche Funde kommen in Oberaden immer wieder auch in römischen Gruben vor, lassen sich jedoch meist einer archäologisch belegten Vorbesiedlung des Platzes zuweisen. Unter ca. 500 bekannten Münzen aus Oberaden steht der 1992 publizierte inar bisher allein16. Jens Schulze-Forster lässt die inare zwar bis in spätaugusteische Zeit weiterlaufen, dem Nachweis in Kalkriese steht jedoch wiederum die völlige Absenz in Haltern entgegen17. Wichtig ür die Fundstelle Beckinghausen ist die Tatsache, dass hier fast die gesamte Prägereihe der inare Scheers 57 belegt werden kann. Damit wäre eine Gesamtlaufzeit während der Stufe Lt D2 denkbar18. Für einen frühen Beginn der Münzreihe in Beckinghausen am Übergang von Lt D1b nach Lt D2 spricht auch ein einzelner Büschelquinar, der den Münzumlauf der letzten Phase der Oppidazivilisation kennzeichnet19. Jenseits aller chronologischen Überlegungen stehen die keltischen Münzen in Beckinghausen ür einen Kultureinfluss aus dem Raum des rechtsrheinischen Schiefergebirges bzw. dem holländischen und deutschen Niederrhein20.

Fibeln Insgesamt liegen aus den Grabungen in Beckinghausen 44 Fibeln vor, zumeist Exemplare aus Eisen. Neben wenigen Stücken, die eindeutig mit der Anwesenheit römischen Militärs zu verbinden sind, gilt die Aufmerksamkeit vornehmlich den zahlreichen Stücken, die in anderen Lagern nicht zu beobachten sind. An erster Stelle sind hier 21 Exemplare des Typs Kostrzewski M zu nennen. Nach der von omas Völling etablierten Typologie handelt es sich ausnahmslos um seine Variante M-a21. Die etwas weitergehende Differenzierung von Ronald Bockius und Pjotr Łuczkiewicz erlaubt die Identifikation der Varianten a1 (7 Exemplare), a2 (2 Exemplare), a3 (2 Exemplare) und Schkopau (7 Exemplare) (Taf. 35, 1)22. Die drei verbleibenden Fibeln waren aufgrund der fortgeschrienen Korrosion nicht näher zu klassifizieren. Es sind also alle Varianten der Form M-a im Fundgut vertreten. Chronologisch wird damit der Zeitraum Lt D2 bis einschließlich der römischen Okkupation in Westfalen erfasst. Aufgrund von Zusammenfunden in Gräbern ist sicher, 12 Erdrich 2001, 75, mit Hinweisen auf römische Händler bei Ubiern und ›Sueben‹ rechts des Rheins. 13 Schulze-Forster 2005, 169–171. 14 Heinrichs 2005, 198–206. 15 Schulze-Forster 2005, 169–171, bes. 168 Tab. 5. 16 Kühlborn 1992, 200 Nr. 363. 17 Schulze-Forster 2005, 169 Tab. 5. 18 Schulze-Forster 2005, 168 f. Tab. 5. 19 Gruel 2005, 36. 20 Klages 2007, 86. 21 Völling 1994, 193–198 Abb. 22. 22 Bockius 2004, 50–58 Abb. 9.

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dass die Fibel Kostrzewski M-a noch den spätaugusteisch-tiberischen Horizont erreicht. Bezüglich der Chorologie der verschiedenen Varianten sind jedoch deutliche Unterschiede zu konstatieren. So wurden Fibeln M-a1 im gesamten Przeworsk-Raum einschließlich der elbgermanischen Gräberfelder entdeckt23. Die Variante a2 weist hingegen kein östliches Vorkommen auf, sondern beschränkt sich auf Mieldeutschland24. Fibeln der Unterform a3 sind als elbgermanisches Produkt zu identifizieren25, ähnliches gilt ür die Variante Schkopau, hier jedoch mit deutlichem Ausgreifen nach Westen und Süden26. Um hinsichtlich des Fundplatzes Beckinghausen zu einer adäquaten Beurteilung gelangen zu können, müssen auch die überlieferten Stückzahlen berücksichtigt werden. So stammen aus Beckinghausen insgesamt 21 Fibeln, davon sind 18 den diversen Varianten zuordenbar. Aus dem übrigen Nordrhein-Westfalen sind bisher 18 Exemplare bekannt27. Namentlich ür die Variante Schkopau stellt Beckinghausen nach dem eponymen Fundort und dem Gräberfeld von Großromstedt die bisher ergiebigste elle dar. Das Derivat einer Schüsselfibel entsprechend dem Typ SpF 3.1.1 (Taf. 35, 2) der Einteilung Hubert Leifelds steht eher ür Lt D2b und deckt damit einen etwas engeren Ausschni der spätesten Eisenzeit ab28. Solche Fibeln sind in Westfalen bisher nicht bekannt und düren aus dem linksrheinischen Raum stammen. Ähnliches gilt ür eine gut erhaltene Drahtfibel mit sehr flachem Bügel und vierschleifiger Spirale des Typs Feugère 2a1 (Taf. 35, 3), die der Spätphase der gallischen Oppida zuzurechnen ist29. Die beiden letztgenannten Stücke weisen im Gegensatz zu den Varianten der Kostrzewski M eindeutig nach Westen, jedoch nicht wie die Münzen und Glasarmringe in den Raum des südlichen Rheinmündungsgebietes. Eine ebenfalls gut erhaltene bronzene Cenisolafibel der Variante Ib1 nach Stefan Demetz (Taf. 35, 4) ergänzt dieses heterogene Ensemble30. Als Herkunsgebiet darf der oberitalische Raum betrachtet werden. Aufgrund dieser Provenienz liegt zunächst eine Verbindung mit dem römischen Militär nahe, zumal Cenisolafibeln bisher vorwiegend aus Männergräbern bekannt sind31. Dagegen spricht allerdings die frühe Zeitstellung des Stückes, das den frühaugusteischen Horizont gerade noch erreicht, wie auch das Fehlen analoger Funde in den bekannten frühen Militärlagern32. Beim aktuellen Forschungsstand ist also davon auszugehen, dass es sich auch bei der Cenisolafibel um einen Fund aus der Zeit der einheimischen Vorgängersiedlung des römischen Uferkastells handelt. Der Fund einer Fibel des Typs A 65d im Umfeld der Siedlung von Oelde-Weitkamp verdeutlicht33, dass es sich bei dem Stück aus Beckinghausen zwar um einen besonderen Fund aber keineswegs um eine exotische Einzelerscheinung handelt. Die Fibel aus Oelde weist aufgrund des kleinen birnenörmigen Bügelkopfes große Ähnlichkeit mit einem Exemplar aus Ornavasso San Bernardo Grab 6 auf34. 23 Bockius 2004, 57 Karte 18. 24 Bockius 2004, 57 Karte 19. 25 Bockius 2004, 57 Karte 20. 26 Bockius 2004, 59 Karte 21. 27 Bockius 2004, 165–173 Liste 10. Außerdem ein Exemplar der Variante Schkopau (?) aus Paderborn »Am Hop-

penhof«, vgl. Eggenstein 2003, 135 Taf. 114, 2. 28 Leifeld 2007, 51. 29 Feugère 1985, 188 f. 30 Demetz 1999, 60. 31 Demetz 1999, 63. 32 Demetz 1999, 64. 33 Rudnick 2004, 21; Demetz 1998, 137–148. 34 Demetz 1999, 30 Taf. 5, 2.

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Gürtel Gürtelteile aus Metall spielen in der Archäologie der jüngsten Eisenzeit eine prägnante Rolle. Entsprechende Funde wurden ür Westfalen zuletzt von Georg Eggenstein zusammengestellt35. Aus Beckinghausen liegen allerdings weder die markanten durchbrochenen noch die ebenfalls gut bekannten Ringgürtelhaken vor. Daür sieht man sich mit einem Fragment eines sehr frühen norisch-pannonischen Gürtels konfrontiert. Bei dem Lesefund von 1987 handelt es sich um das Endstück eines keltischen Gürtelhakens (Taf. 35, 5). Das trapezoide Stück besteht aus einem Eisenkern, der mit einem dünnen Bronzeblech umbördelt ist. Im Zentrum zieren sechs erhabene achtörmige Punzen das Fragment, das von einem leicht erhöhten Rand umrahmt wird. Am Ende sitzt ein bronzener Zierniet mit Rillenverzierung in Form eines rückwärtsgewandten, stark stilisierten Tierkopfes. Ein entsprechendes Stück mit analogem Tierkopf findet sich im böhmischen Gräberfeld von Dobřichov-Pičhora, Grab 536. Als Vorbilder sind die Entenkopfgürtelhaken sowie Lochgürtelhaken der Formen Voigt A und B zu nennen37. Andere Details, wie die Umrahmung und Punzverzierung, lassen sich an einem germanischen Gürtelhaken aus Pötrau, Kr. Herzogtum Lauenburg beobachten38. Für die zeitliche Einordnung gilt das oben ür die Fibeln gesagte. Auch hierzu fehlen Analogien aus anderen frühen Militärstandorten an Rhein und Lippe. Norisch-pannonisches Material ist dort bisher nur in Gestalt von zwei typologisch sehr frühen Fibeln A 237a präsent39. Der norischpannonische Horizont Mieldeutschlands, wie ihn Jan Bemmann beschrieben hat, ist deutlich jünger anzusetzen40.

Glasarmringe Wie aus einigen anderen Fundorten der Hellwegzone stammen auch aus Beckinghausen Fragmente zweier Glasarmringe der Form 641. Die in Süddeutschland seltene Form42 weist eine Fundkonzentration im südlichen Rheinmündungsgebiet auf, das möglicherweise auch als Ursprungsgebiet ür die westälischen Funde zu betrachten ist. Eine präzise chronologische Beurteilung des westälischen Materials stößt mangels auswertbarer geschlossener Funde auf große Schwierigkeiten. Eine gelegentlich postulierte Laufzeit bis ins erste nachchristliche Jahrhundert gründet sich auf Funde in kaiserzeitlichen Siedlungen wie etwa jüngst in Castrop-Rauxel, ›Ickern‹43. Überprüare Kontexte liegen aber bisher noch nicht vor. In den römischen Militärlagern sind solche Armringe vor allem aus Oberaden bekannt. Dort lassen sich allerdings auch Spuren einer einheimischen Vorgängersiedlung belegen, sodass daraus keine chronologisch verwertbare Information zu gewinnen ist. 35 Eggenstein 2003. 36 Pič 1907 Taf. 82, 6. 37 Voigt 1971, 236-290; Völling 1995, 47 Karte 7. 38 Hingst 1962 Abb. 3, 4. 39 Ebel-Zepezauer u. a. 2009, 55. 40 Bemmann 1999, 151–174. 41 Seidel 2005, 23–25. 39 Nr. 496. 497. 42 Wagner 2006, 58. 43 Gaffrey 2011, 44.

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Keramik Neben ca. 200 römischen Geäßen des Oberaden-Horizontes stammen aus Beckinghausen etwa 1.200 Geäße vorgeschichtlicher Machart. Eine erste Durchsicht der Formen ergab ein rein späteisenzeitliches Spektrum, das mit dem der Fibeln korrelieren düre. In geringem Umfang sind auch faceierte Ränder zu beobachten, x-örmige Henkel hingegen fehlen. Eine genauere Beurteilung stößt auf methodische Probleme. Der Fundort liefert ein Vielfaches der bisher publizierten Geäße der späten Eisenzeit der Region, ohne dass es sich um geschlossene Funde handelt. Insofern bedarf es zuerst einer Gesamtvorlage mit entsprechend ausührlicher Diskussion, was an dieser Stelle nicht zu leisten ist. Vorbehaltlich dieser Analyse ist festzuhalten, dass ein ausgewogenes Fundspektrum vorliegt, in dem gleichermaßen Wirtschasware wie auch Feinkeramik vertreten sind. Deutlich ältereisenzeitliche Keramik fehlt, daür sind unverkennbar Kontakte nach Osten zu erkennen. Ob es sich dabei um Direktimporte handelt oder ob vor Ort Ware nach mieldeutschen Vorbildern hergestellt wurde, lässt sich im Augenblick nicht entscheiden. Gleiches gilt ür das Mengenverhältnis einheimischer zu fremder Ware. Die Funde der vorrömischen Eisenzeit aus Lünen-Beckinghausen stehen ür einen Platz mit ausgeprägtem Austausch in Ost-West-Richtung. Die einheimische Vorbesiedlung des späteren römischen Uferkastells erbrachte bisher nur Funde der Stufe Lt D2. Das bedeutende mieldeutsche Element war ür diese Zeitstellung zu erwarten und spiegelt sich auch an anderen Fundorten der Hellwegzone wider. Wie neuere Belege ür Fibeln des Typs Kostrzewski M im Gräberfeld von Münster-Handorf erkennen lassen, beschränkt sich die Wirkung dieser Kontakte aber keineswegs auf den Hellweg, sondern reicht weit darüber hinaus in die Fläche44. Die noch bis zur Mie des ersten Jahrhunderts dominierenden Kontakte ins südliche Rheinmündungsgebiet sind in Beckinghausen nur anhand der Münzen und der Glasarmringe zu fassen und damit deutlich schwächer ausgeprägt. Da eine Differenzialdiagnostik der Münzen noch aussteht, wäre hier auch eine stärkere Anbindung an die Kölner Bucht vorstellbar. Besonders auällig sind die Funde aus Gallien bzw. der Belgica sowie die Gegenstände süd- und südostalpiner Provenienz. Sie sind eventuell ebenfalls nur Teil eines in der Fläche nachweisbaren Kontaktes. Die spezifische Zusammensetzung der Funde in Beckinghausen charakterisiert den in Westfalen so benannten Übergangshorizont. In historisch-archäologischer Argumentation legen die Funde südlicher Provenienz eine Verbindung mit der römischen Okkupation nahe – etwa durch Truppenkontingente die zunächst am Alpenfeldzug und später an der Besetzung der Germania Magna beteiligt waren, wie etwa die 19. Legion. Die fehlende Überlieferung an anderen Fundstellen weist jedoch eher auf die ältere einheimische Siedlung hin, deren Laufzeit nun durchaus bis zur Ankun des römischen Militärs angenommen werden darf45. Berücksichtigt man die übrigen ür Westfalen verügbaren Informationen, so ist zu konstatieren, dass spätestens in den dreißiger Jahren des letzten vorchristlichen Jahrhunderts das mieldeutsche Element dominiert46. Diese unerwartet starke Präsenz, die sich noch in der Prägung des ältesten kaiserzeitlichen Horizontes Mieldeutschlands wiederfindet47, 44 Neujahrsgruß 2008, 79. Einige der Funde wurden in der Landesausstellung 2011 im Museum Herne präsentiert,

sind im Ausstellungskatalog jedoch nicht enthalten. 45 Die Überlegungen von Heinrichs 2005, 198–206, werden dadurch keineswegs entwertet, sondern bedürfen bei

der in Arbeit befindlichen Gesamtpublikation gebührender Berücksichtigung und eventuell der Reinterpretation. 46 Zur weiteren Einordnung im Rahmen der Ausdehnung der Przeworskkultur vgl. Meyer 2008, 139–146. 47 Müller 2007, 282 Abb. 23.

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deutet jene Dynamik an, die dann zur Rechtfertigung der römischen Militärunternehmungen unter Drusus diente. Zuvor war Lünen-Beckinghausen ein Ort überregionalen Ost-West-Austauschs zwischen Lippe und Hellweg. Stäen mit vergleichbarer Bedeutung sind in der Region erst wieder im vierten Jahrhundert zu dokumentieren, dann jedoch mit dominanter Westausrichtung.

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Sinope colonia sitiens A note on Pliny, Epist. 10, 90–91 based on new evidence from the Sinop Regional Archaeological Project Owen Doonan

C. Plinius Traiano Imperatori 10, 90 Sinopenses, domine, aqua deficiuntur; quae videtur et bona et copiosa ab sexto decimo miliario posse perduci. Est tamen statim ab capite paulo amplius passus mille locus suspectur et mollis, quem ego interim explorari modico impendio iussi, an recipere et sustinere opus possit. Pecunia curantibus nobis contracta non deerit, si tu, domine, hoc genus operis et salubritati et amoenitati valde sitientis coloniae indulseris1. Traianus Plinio 10, 91 Ut coepisti, Secunde Carissime, explora diligenter, an locus ille quem suspectum habes sustinere opus aquae ductus possit. Neque dubitandum puto, quin aqua perducenda sit in coloniam Sinopensem, si modo et viribus suis adsequi potest, cum plurimum ea res et salubritati et voluptati sit2.

Introduction Hans Lohmann’s interdisciplinary work bridging archaeological survey and geo-archaeology has served as a welcome inspiration to many. He served as my sponsor during the tenure of a Humboldt Fellowship in 2005 during which we considered the colonial and post-colonial situation of the hinterland of the Milesian colony Sinope. e present paper is a testament to his warm and stimulating collegiality and is offered in the spirit of his many contributions to our understanding of the lands outside the great cities of antiquity. Pliny’s term as governor of Bithynia is well documented thanks to the extensive correspondence between himself and the Emperor Trajan3. Archaeological surveys in the Karasu river valley 1 »e town of Sinope, Sir, is in need of a water supply. I think there is plenty of good water which could be

brought from a source sixteen miles away, though there is a doubtful area of marshy ground stretching for more than a mile from the spring. For the moment I have only given orders for a survey to be made, to find out whether the ground can support the weight of an aqueduct. is will not cost much, and I will guarantee that there will be no lack of funds so long as you, Sir, will approve a scheme so conducive to the health and amenities of this very thirsty city.« (trans. Radice 1969). 2 »See that the survey you have begun is thoroughly carried out, my dear Pliny, and find out whether the ground

you suspect can support the weight of an aqueduct. ere can be no doubt, I think, that Sinope must be provided with a water supply, so long as the town can meet the expense out of its own resources. It will contribute a great deal to the health and happiness of the people.« (trans. Radice 1969). 3 Plin. epist. 10, see Sherwin-White 1966.

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Owen Doonan

10–15 km west of the port of Sinop (ancient Sinope), conducted by the Sinop Regional Archaeological Project (henceforth SRAP), have documented a feature that appears to correspond with an ambitious plan to build a sixteen-mile aqueduct as described in Plin. epist. 10, 90 to Trajan (pl. 36, 1)4. Most scholars have assumed that this leer justifies the conclusion that the proposed aqueduct was actually built in the form proposed5. is paper argues that on the contrary the aqueduct as proposed was never built because of limits imposed by the local topography. More practical water sources for the aqueduct include sources from the headland of Boz tepe overlooking the city and closer sources on the ridges defining the South and East flanks of the Karasu valley mouth. Rather than describing an aqueduct already built or under construction, the text »quem ego interim explorari modico impendio iussi, an recipere et sustinere opus posit« implies that Pliny has merely requested a survey to be made of the area. e first task was to determine if the water was of sufficient quality and quantity. Second, the marshy ground between the city and the source of water had to be tested to see if it could bear the weight of an aqueduct. Possible traces of preliminary work on this 16-mile aqueduct were discovered by SRAP at the site of Mağara in 1998, where we documented a series of man-made borings chiseled into a limestone outcrop overlooking the Sinop-Ayancik road (pl. 36, 3). ree borings were cut into the outcrop, expanding the size of natural fissures (pl. 36, 2). One of the borings was followed for a distance of 60 m into the outcrop until the diameter of the space became too small to continue. No traces of masonry or ceramics were found anywhere near the site, which took the form of a half-bowl beneath the outcrop. If there had been an aqueduct here, this would have been an ideal place to situate a collection tank. e siting and arrangement of the artificial cuings compares well with examples from Italy and other parts of the empire. e cross-sectional size and rough chiseling technique can be compared with Roman aqueducts elsewhere (pl. 36, 2). Hodge6 has pointed out that springs on hillsides were normally tapped by borings directly into the hill7. e purpose of such borings was to increase the water flow by increasing exposed rock surface. e topography of the site matches precisely with Pliny’s description. is is one of very few clean springs on the mainland that can be found at the distance approximately 16 Roman miles from the city. As the bird flies, the distance from Sinope to Mağara is about 11 km, but the Roman road almost certainly ran south along the coast, with a western branch running along one of the ridges overlooking the Karasu delta from the south, adding a considerable distance to the trip (see pl. 36, 1). e Mağara outcrop overlooks the marshy delta of the Karasu river and several minor tributaries (pl. 37, 1). e Karasu delta is the only marshy area in the province that could correspond to the description in Pliny.

4 Doonan et al. 1999; Doonan et al. 2000; Doonan et al. 2001; Doonan 2004. 5 Robinson 1906a; Bryer – Winfield 1985. 6 Hodge 1992, 79. 7 See Frontin. aqu. 10, 3, 4, on the building of the Aqua Virgo (19 B. C.), quoted by Leveau 1991, 157, as follows,

»as the soldiers were searching for water, a lile girl pointed out to them some springs, and when they followed their course back by digging they came upon an enormous volume of water.«

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Siting and feasibility e Mağara outcrop is presently used as a spring, although the excavated borings have run dry because the limestone mass has slipped along an internal fault8. At present the spring provides plentiful, clean water in accordance with the recommendations of Vitruvius9. e elevation (ca. 35 m asl) would have been sufficient to allow downward flow of water into the city, although the only above-ground route that is low enough passes over the marshy delta. Vitruvius suggested that a gradient of .005 would ensure sufficient flow10. According to these numbers, at 16 Roman miles from the city, a minimum elevational difference of 12 m would be required11. e city was located on the sandy isthmus connecting the Boz tepe headland to the mainland (elevation